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German Pages [220] Year 2014
RAINER HOFFMANN
IM ZWIELICHT ZU ALBRECHT DÜRERS MEISTERSTICH MELENCOLIA I
2014 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN
FÜR GERTRUD
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / portal.dnb.de abrufbar.
Umschlagabbildung: Albrecht Dürer Melencolia I, Detail © 2014 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D–50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Umschlaggestaltung: Satz + Layout Werkstatt Kluth, Erftstadt Druck und Bindung: Finidr, Cesky Tesin Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-412-22433-2
INHALT
7 EINFÜHRUNG 19
ERSTES KAPITEL: DER PUTTO
19
Putto melancholicus
30
Putto und Melencolia
51
ZWEITES KAPITEL: DIE MELENCOLIA
51
Alles steht still
60
Licht und Schatten
66
Im Zwielicht
79
DRITTES KAPITEL: GRENZERFAHRUNG
79
„… von Got begabt meyster“
93
„… jnwendig voller vigur“
100 „... daz weis jch nit“ 103 „… weyß Got allein“
115 ANMERKUNGEN 193 BIBLIOGRAPHIE 217 PERSONENREGISTER 219 ABBILDUNGSNACHWEISE
EINFÜHRUNG
hab acht awffs awg Albrecht Dürer1
A
m Anfang dieser Studie zu Albrecht Dürers geheimnisvollem Kupferstich Melencolia I soll jener Putto stehen, der im Bildgefüge des 1514 vom Künstler geschaffenen und signierten Meisterstiches als dramatis persona der denkwürdigen Stillleben-Szenerie im Zentrum zu sehen ist (Abb. 1; s. auch Ausfaltseite).2 Natürlich kann der geflügelte Putto, auch wenn ihm hier zunächst einmal alle Aufmerksamkeit gilt, nicht aus dem verwirrend vielfältigen bildprogrammatischen Kontext des Kupferstiches – seinem ChaosKosmos – herausgelöst betrachtet werden; vor allem ist er immer im konkreten Konfigurationszusammenhang mit seiner großen unmittelbaren ikonologischen Korrespondenzfigur, der allegorischen Zentralgestalt des Stiches, zu verstehen: der geflügelten Melencolia. Um ihre bedeutungsvolle Präsenz auf dem Kupferstich geht es; sie – diese Hohe Frau der Melancholie – ist das eigentliche Thema, die Hauptperson auch dieser Studie. ***
Was den Putto betrifft, so stellt sich die einmal ernsthaft zu bedenkende Frage, ob das auf einem Mühlstein sitzende geflügelte Kind, wie in der Melencolia I-Forschung – mit wohl nur einer Ausnahme3 – immer wieder behauptet wird, wirklich als ein eifrig beschäftigter – sei es kritzelnder, sich im Schreiben übender oder schreibender, sei es notierender, zeichnender oder rechnender – Putto beschrieben werden kann. Angesichts der kompakten Majorität kunsthistorisch ausgewiesener Dürer-Kenner und professioneller Melencolia I-Interpreten mag der Versuch, diese wohl noch nie in aller Ausführlichkeit thematisierte Frage zu formulieren und dann auch noch negativ zu beantworten, als durchaus mutig oder gar provozierend übermütig erscheinen. Immerhin haben die Dürer-Forscher in ihren so unterschiedlichen wie intensiven und extensiven, phantasievoll einfallsreichen und gedankenreich hochgelehrten Deutungen des rätselvollen Bildprogramms des Kupferstiches den Putto immer als eifrig tätigen, emsig beschäftigten Putto ins allegorische Deutungsspiel eingeführt. 7
Einführung
1 Albrecht Dürer Melencolia I, 1514
Als eine Art willkommener Kommentar zu dem präsentierten Versuch einer gegen alle bisherigen Putto-Interpretationen gerichteten Putto-Beschreibung und -Deutung kann vielleicht eine lebenskluge Bemerkung Dürers gelesen und verstanden werden, die er in den Entwürfen zur Einleitung in das Lehrbuch der Malerei formuliert hat: „Keiner gelawb jm selbs zw vill. Dan vill mercken mer dan einer. Wy woll daz auch müglich ist, das etwan einer mer 8
Einführung
verstett den ander hundert, so geschicht es doch selten.“4 Mit der Warnung vor Selbstüberschätzung verbindet Dürer den Hinweis auf die freilich seltene Möglichkeit, dass auch einmal ein Einzelner etwas mehr und besser versteht als die Mehrheit der Anderen. Sowohl die eindringliche Warnung vor Überheblichkeit als auch der optimistische Hinweis auf die seltene Möglichkeit einer Ausnahme werden hier sehr ernst genommen. So werden weder die Frage nach einer anderen Sicht der Putto-Figur noch die sich daraus ergebenden bedeutenden Konsequenzen für die Bildinterpretation aus bloßer Lust am reinen Widerspruch thematisiert, sondern um der Sache willen, wie sowohl die genaue Indizienbeweisaufnahme als auch die Kontexterörterungen zu zeigen versuchen.5 ***
„hab acht awffs awg“ – diese imperativische Ermahnung an sich selber und an andere Künstler soll Albrecht Dürer auf einer 1510 entstandenen Federzeichnung mit der Ansicht von Heroldsberg notiert haben. Ob sie wirklich einmal auf dem Dresdener Skizzenblatt gestanden hat und zu lesen war, ist wohl weiterhin umstritten und wird wohl auch umstritten bleiben.6 Wie auch immer es sich mit der Inschrift verhalten mag, es geht bei dem „Auge“, auf das besonders zu achten ist, primär um den sogenannten Zentral-, Hauptoder eben Augenpunkt bei der Perspektivkonstruktion eines Bildes. Auf einer Vorstudie zur Melencolia I hat Dürer 1514 diesen „punct des augs“7 einmal deutlich sichtbar als stilisiertes Auge eingezeichnet (Abb. 2).8 Das als Motto gewählte „hab acht awffs awg“ soll als eine Art Leitmotiv der Interpretation verstanden werden, also in gewisser Weise auch als perspektivischer Zentralpunkt der Deutung, auf den alles ausgerichtet ist und von dem aus alles adäquat zu sehen ist. Denn es ist das Gesicht, es sind die Augen und der Blick des Putto und der Melencolia, auf die ganz besonders aufmerksam zu achten ist und die als die entscheidenden Aspekte und Momente für das Verständnis des Meisterstiches gesehen und gedeutet werden. An ihren Gesichtern, Augen, Blicken sind Putto und Melencolia in ihrer ganzen individuellen Eigen- und Einzigartigkeit, aber dadurch auch in ihrer ganzen Andersartigkeit als Kontrastfiguren zu erkennen: Der Putto an seinen merkwürdig leblosen, blicklos-blinden, finster nach unten gerichteten Augen und die Melencolia an ihren offenen hellen Augen und an ihrem intensiv aufmerksamen und erhobenen Blick aus verschattetem Gesicht in weite Ferne. Augen und Blick der Melencolia sind auf Dürers Stich die Ausnahme-Erscheinung. Sie sind 9
Einführung
2 Albrecht Dürer Studie zum Polyeder, 1514
das einzige wirkliche Lebenszeichen in der vom Zwielicht beherrschten, wie gebannt niederliegenden, leblosen Welt der Melencolia, in der nichts geschieht, sich nichts ereignet, nur in der Sanduhr noch die Zeit verrinnt.9 ***
Die hier versuchte Sichtweise und Lesart des Dürerschen Stiches Melencolia I beschränkt sich beim Rückgriff auf Hilfsmittel für die Deutung des Werkes ganz bewusst auf das, was in diesem Zusammenhang als Primärtexte bezeichnet werden kann: auf Albrecht Dürers kunsttheoretische Schriften. Sie folgt somit der Einsicht, die Raymond Klibansky im Vorwort zur deutschen Ausgabe von Saturn und Melancholie so formuliert hat: „Eine Interpretation ist nur dann gerechtfertigt, wenn sie den Kontext, in dem das Werk geschaffen wurde […], in Betracht zieht.“10 Die Beschränkung auf die Dürer-Schriften als dem eigentlichen, weil nächsten Kontext zum Text des Meisterstiches hat nicht das Geringste mit Gleichgültigkeit oder gar Missachtung gegenüber der bishe10
Einführung
rigen Melencolia-Forschung zu tun. Es bleibt der Respekt vor den oft so bewunderns- wie beneidenswert, jedoch manchmal auch schwindelerregend gelehrten, enzyklopädisch ausschweifenden Studien sowohl zu Dürers Meisterstich als auch zum immens weitläufigen Thema „Melancholie“ in der europäischen Geistesgeschichte. Gemeint sind die kunst-, literatur-, medizin-, philosophie-, theologie-, theosophie-, psychologie-, frömmigkeits-, mythologie-, erziehungs-, rechtsoder religionsgeschichtlichen, natur- oder pseudonaturwissenschaftlichen Studien zu jenen Problemen und Aspekten, die von der Antike über das Mittelalter bis in die Renaissance-Zeit Albrecht Dürers zum Temperamenten-Thema „Melancholie“ sei es beiläufig, sei es umfassend in diversen Traktaten, ganzen Lehrbüchern und Dichtungen behandelt oder durch Kunstwerke dargestellt wurden. In immer neuen ikonographisch-ikonologisch orientierten oder anders intendierten Deutungsversuchen der Melencolia I wurden sie in den motivgeschichtlich weiträumigen Kontext unterschiedlichster Interpretationen des Kupferstiches aufgenommen und ausführlichst erörtert.11 All jene Fragen und Aspekte, die mit den Namen und Werken so zahlreicher bedeutender Geistesgrößen der Ideengeschichte des antik-christlichen Abendlandes verbunden sind – auch nur Einige zu nennen, wäre des Guten schon zuviel12 –, sollen einmal, wenn überhaupt, nur am Rande eine Rolle spielen. Neben der Konzentration auf eine in ausgesuchten Details möglichst genaue Bildanalyse und Ekphrasis des Stiches stehen hier als wichtigstes Interpretament Dürers theoretische Schriften im Zentrum dieses weiteren Versuches13 einer intensiven Annäherung an den mysteriösen Meisterstich Melencolia I14, der „wohl als eines der meistinterpretierten Werke der Weltkunstgeschichte gelten darf“15. Wie zutreffend es ist, bei dieser Studie nur von einem Versuch oder auch nur von Anmerkungen zu Dürers Meisterstich zu sprechen, zeigt sich nicht nur darin, dass all jene weiten geistesgeschichtlichen Kontexte nicht ins Spiel gebracht werden, sondern auch darin, dass es von Anfang an nicht um eine neue, schon gar nicht um eine neue umfassende und erst recht nicht um eine „totale“ Interpretation des Melencolia I-Meisterstiches ging16, sondern nur, beginnend beim Melencolia-Putto, um einige bedenkenswerte Akzente, erhellende Beobachtungen und insofern dann doch um neue und vielleicht auch bemerkenswert nachhaltige Einsichten zu Dürers Denkbild. Die Hauptaufmerksamkeit konzentriert sich auf die beiden zentralen allegorischen Gestalten des Stiches sowohl als Einzelfiguren als auch in ihrem problematischen Verhältnis zueinander: auf den geflügelten Putto, der als der 11
Einführung
eigentliche Initiator dieser Studie bezeichnet werden kann17, und auf die geflügelte Melencolia. Dass dabei auch andere Details der durch die Fülle der Objekte so unübersichtlich wirkenden Szenerie des Freilichtlabors der Melencolia – z. B. die Sand- und die Sonnenuhr – oder auch allgemeinere Aspekte – z. B. die Lichtverhältnisse oder die Gesamtstimmung des Kunstwerkes – ausführlich zur Sprache kommen, versteht sich von selbst. Doch werden sozusagen diverse Problemzonen des Stiches, der, wie Joachim von Sandrart in seiner Teutschen Academie (1675) bemerkt hat18, „mit so vielen Seltsamkeiten erfüllet“ ist, bewusst nicht thematisiert; z. B. die so kontrovers diskutierte Frage nach der Bedeutung des „I“-Zeichens im von der fledermausähnlichen Chimäre präsentierten hell erleuchteten Titulus; die mythologisch-astrologisch hintergründige Bedeutung des Magischen Quadrates an der Wand des turm artigen Bauwerkes, vor dem Putto und Melencolia Platz genommen haben; oder der gewaltige Polyeder oder vielseitig „eckichte Stein“, der „wegen seiner nach der Perspectiv-Kunst woleingerichteter Form viel Kunst in sich begreift“19 und der mit seiner ganzen imposanten Wucht als eine Art Grenzblockade oder Sichtschranke zwischen der so offenen wie engen Innenwelt der Melencolia und der weiten Außenwelt mit Landschaft, Himmel, Meer und Weltraumphänomenen in Szene gesetzt wirkt. ***
Mit der hier präsentierten Interpretation der Melencolia I Albrecht Dürers wird – wie schon angedeutet – der Versuch unternommen, die kunsttheoretischen Schriften des Künstlers als mit seinem Kunstwerk korrelierende Primärtexte oder als eine Art genauer Bildlegende zum so vieldeutigen wie vielgedeuteten Meisterstich einmal konsequent zu lesen und ausführlich darzustellen. So steht die Studie, was Lektüre und Deutung der MelencoliaPartitur betrifft, in der Tradition jener Interpretationen, die, wie pointiert, variiert oder kontextualisiert auch immer, in Dürers „bestürzendste(m) Stich […] in gewissem Sinne ein geistiges Selbstbildnis“20 oder „ein Selbstbekenntnis“21, eine „Selbst-Erkenntnis“22 oder „innere Selbstdarstellung“23 des Künstlers gesehen und erkannt haben.24 An einigen Beispielen soll dieser Aspekt einleitend illustriert werden. Schon 1835 stellt sich für Carl Gustav Carus in seinen Briefen über Goethes Faust die Melencolia I als so etwas wie das expressive Dokument einer fast schon explosiven Situation dar, aus der sich Dürer wie von dem enormen inneren Druck der Grenzerfahrung des quälenden Gegensatzes von Idee und 12
Einführung
Wirklichkeit, von Sehnsucht und Erfüllung unbedingt befreien musste. In Form rhetorischer Fragen an seinen Briefpartner beschreibt Carus, der das „Faustische“ als eminentes Thema in die Deutungsgeschichte des Meisterstiches eingeführt hat, die innere Hochspannung und die Lösung oder Erlösung durch einen energischen künstlerischen Befreiungsakt: „Vergegenwärtigen Sie sich nun auf einmal die Gesammtwirkung dieses sonderbaren Bildes, und ist es dann nicht die qualvolle Sehnsucht des alle Höhen und Tiefen erfassen wollenden Geistes, welche in demselben sich spiegelt? Tritt nicht die dämonische Kraft darin anschaulich hervor, welche, ihre Sehnsucht nach ihrem göttlichen Urquell tief in sich bewahrend, doch zugleich von der Gewalt ihrer eigenen Daseinsform gegen die Ergründung alles Seienden gezogen wird, und weil dieses Streben natürlich nie vollkommen erreicht wird, ja jenem innersten Zuge doch mehr oder weniger widerstreitet, eine verzweifelnde, sie selbst manchem Unheil entgegenführende Stimmung nicht ganz bemeistern kann? – Und ein solches Gefühl konnte selbst in der milden Seele des getreuen Alb. Dürer mit solcher Macht Platz greifen, daß er ihm durch eine so mühsame, vielfältigst durchgearbeitete Darstellung Luft machen mußte?“25 Max Allihn hat 1871 in seinem Versuch einer Erklärung schwer zu deutender Kupferstiche A. Dürers von culturhistorischem Standpunkte die Situation des Künstlers nicht so dramatisch als geradezu physisch-pneumatische Beengung bzw. Befreiung beschrieben. So resümiert er: „[…] seine [Dürers] Melancholie ist nicht allein eine Allegorie, sondern auch ein Stimmungsbild. Man kann sich dem Gedanken nicht verschließen, als habe hier Dürer einen Theil seines Innern preisgegeben, ähnlich wie wir hinter Hamlet seinen Dichter stehen zu sehen meinen.“ Zum „Gegenstande“ der Melancholie habe sich Dürer, der „sich selbst ohne Zweifel unter die Melancholiker gerechnet haben würde“, „am meisten hingezogen“ gefühlt. Und zwar „wegen seines sinnenden, speculierenden Temperaments, wegen seiner Neigung für theoretische Forschungen über Proportion, über Perspective, über die Gesetze des Schönen. Dürer ist der Philosoph unter den Malern, […]. So ist Dürers Melancholie aus seinem ernsten nachdenklichen Inneren hervorgegangen, ein treuerer Abdruck seines Charakters als manches andere Blatt, welches er auf äussere Veranlassung schuf, und bei dem er nur verstohlen den Forderungen seines Genius Rechung tragen konnte. Seine Melancholie ist, wie gesagt, ein Stimmungsbild, welches auch ohne Hieroglyphe und geschriebenes Wort zu reden vermag, und zwar durch jene contemplative Stille, die über dem Ganzen ausgebreitet liegt.“26
13
Einführung
„Aus eigenen inneren Erlebnissen“ habe Dürer, so Max J. Friedländer (1921), die Melencolia I geschaffen. Die Art der Erfahrungen, die sich in Dürers „zum Selbstbekenntnis“ gewordenen Meisterstich manifestieren, umschreibt Friedländer mit indirekten Hinweisen auf Goethes Faust und auf Dürers Hieronymus im Gehäus: „[…], und besonders damals, als er den Stich der Melancholie ausführte, wurde seine Seele von Zweifeln verdunkelt. Die Wissenschaft, die er als den sicheren Weg zum Ziele begrüßt hatte, mußte ihm Enttäuschungen bereiten. Zuweilen daran verzweifelnd, daß er der Natur mit ‚Hebeln und Schrauben‘ ihr Geheimnis abzuringen vermöchte – in seinem Falle mit Zirkel und Zahl –, mag er sehnsüchtig der schlichten Gläubigkeit gedacht haben, vor der aus göttlicher Offenbarung alles licht und klar liegt.“27 G. R. Heyer (1934) sieht den lebensgeschichtlichen Zusammenhang zwischen der Einsicht Dürers in die Fragwürdigkeit seines hochambitionierten Projektes der Kunst der Messung und dem Entstehen der drei Meisterstiche ähnlich wie Friedländer; doch qualifiziert er das „damals, als“, von dem Friedländer eher unbestimmt schreibt, speziell mit Blick auf die Melencolia I als „das Ende einer Epoche“: „Es ist auch das Ende einer Epoche, in der er [Dürer] an die geometrische Enträtselung der Gesetze der Schönheit geglaubt hatte; eine Resignation, wie sie aus seinen Sätzen klingt: ‚denn die Lügen ist in unserer Erkenntnis, und steckt die Finsternis so hart in uns, daß auch unser Nachdappen fehlt‘; […].Wir dürfen also wohl sagen, daß Dürer das Blatt nicht zuletzt sich selbst als hülfreiches Bild gestochen habe.“28 Max J. Friedländers Sicht der Dinge folgt auch Ian Białostocki in einem Aufsatz aus dem Jahre 1971 über Vernunft und Ingenium in Dürers kunsttheoretischen Schriften. Dürer habe „ursprünglich seinen ganzen künstlerischen Glauben auf Zirkel und Richtscheit gesetzt“, doch konnten ihm „die Erkenntnis der Vielartigkeit und Verschiedenheit der schönen Dinge und das Fehlen einer eindeutigen Definition für ‚das rechte Hübsche‘ [die rechte, die vollkommene Schönheit] nicht gleichgültig bleiben“. So geriet er in eine „konfliktvolle Lage“ eines „inneren Kampfes“, als dessen „Ausdruck“ der Melencolia-Stich gelten könne: „Unabhängig von den ikonographischen Motiven, die in der Überlieferung tief verwurzelt sind […], drückt der Kupferstich den melancholischen Gemütszustand Dürers selbst aus, der an der Möglichkeit zweifelt, die Probleme der Kunst und Schönheit mit Hilfe der Geometrie zu bewältigen.“29 Wie sehr Dürer gerade mit seinen wissenschaftlichen Erfahrungen durch mathematisch geometrische Untersuchungen und Konstruktionsversuche ganz persönlich in die Darstellung der Melencolia involviert ist, betont mehrfach 14
Einführung
Eberhard Schröder in seiner Studie Dürer – Kunst und Geometrie, mit der er – so der Untertitel – Dürers künstlerisches Schaffen aus der Sicht seiner „Underweysung“ (1980) darzustellen versucht. Am Ende des Kapitels mit einer detaillierten „Rekonstruktionsanalyse an dem Kupferstich ‚Melancholie‘“ heißt es: „Die vorgelegten geometrischen Analysen und Quellenstudien lassen die Folgerung zu, daß Dürer mit seiner ‚Melancholie‘ keinesfalls eine allgemeine und unpersönliche Darstellung von einem der vier menschlichen Temperamente geben wollte. Es lag ihm vielmehr daran, einen ihn ganz persönlich betreffenden seelischen Zustand bildhaft zu gestalten, dessen Wurzeln in dem geistigen Ringen um die konstruktiven Grundlagen seines künstlerischen Wirkens, für das er sich in erster Linie berufen fühlte, zu suchen sind.“30 Deutlicher noch betont Friedrich Wolfram Heubach (1997) das prekäre Verhältnis von allgemeingültigen und individuellen Aspekten bei der Deutung der Melencolia I, wobei er jedoch primär auf das Persönliche eines Tua res agitur bei der Entstehung des Stiches verweist: „Aber so viel ist immerhin gewiß, daß jeder Versuch zu bestimmen, wofür Dürers Melencolia I allgemeingültig steht, am ehesten eine Chance hat, sich vor Projektionen zu bewahren, wenn er von dem ausgeht, wofür der Stich in Dürers Leben stand: Alle Aussagen über Dürers Melencolia I als ‚das Zeugnis eines allgemein Menschlichen‘ bleiben ziemlich beliebig, wenn sie dieses Werk nicht zugleich auch als Zeugnis eines individuellen Lebens – als das Manifest einer Erfahrung Dürers und seiner Haltung zu ihr – transparent machen.“ Auch Heubach sieht den „Sitz im Leben“ des Melencolia I-Stiches in Albrecht Dürers lebensgeschichtlich bedeutendster Grenzerfahrung: „Es kann nach den Feststellungen der Kunstwissenschaft kaum mehr zweifelhaft sein, daß die Entstehung seiner Melencolia I in unmittelbarem Zusammenhang steht mit der endlichen Einsicht Dürers in die Vergeblichkeit seines Bemühens, ‚die eine, die wahre Schönheit‘ mithilfe der Meßkunst bestimmen und in seinem Werk verwirklichen zu können.“ 31 Um 1491 / 92 hat Dürer ein Selbstbildnis gezeichnet, das den zwanzigjährigen Künstler in skeptischer, konzentriert nachdenklicher, fast schon schwermütig ernster Pose zeigt: mit durchdringend festem, fixiert fixierendem Blick und finster intensivem Gesichtsausdruck (Abb. 3). Es ist vor allem die offene, nicht zur Faust geschlossene rechte Hand, die – an die rechte Seite des Kopfes gelegt und sie halb bedeckend – gleich an die Haltung der Melencolia denken lässt, die ihren Kopf auf ihre energisch zur Faust geballte linke Hand stützt. Dieses frühe Selbstporträt mache, so Robert W. Horst (1953), den „Gedanken“ durchaus wahrscheinlich, in der Melencolia I „ein persönliches Selbstbekenntnis“ Albrecht 15
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3 Albrecht Dürer Selbstbildnis, 1491 / 92
Dürers zu erkennen, erscheint doch „der junge, grübelnde Künstler“ auf der Federzeichnung „ganz offensichtlich als Melancholiker“: „So liegt auch der Gedanke nahe, in dieser frühen Federzeichnung schon eine erste, subjektive, bzw. ganz persönliche Darstellung eigener melancholischer Veranlagung zu sehen, zu der sich späterhin der gereifte Künstler mit seinem Meisterstich – nunmehr in objektivierter, vergeistigter Formulierung – bekannte; […].“32 Für Herbert von Einem (1976) liegt nicht nur der Gedanke nahe, in Dürers frühem Selbstporträt einen Hinweis auf die Melencolia zu erkennen; für ihn handelt es sich bei der Federzeichnung ganz entschieden um ein außerordentlich persönliches Dokument einer erstaunlichen Vorwegnahme: „The most surprising personal herald of this master engraving [Melencolia I] is 16
Einführung
the early self-portrait […]. It pictures the artist as given in melancholy.“ Mit dem Blick auf die frühe Federzeichnung und mit dem Hinweis sowohl auf Philipp Melanchthons Charakterisierung der Melancholie Dürers als „melancholia generosissima“33 als auch auf Dürers kunsttheoretische Schriften kommt von Einem zu der Feststellung: „This close relationship makes it clear that the engraving is not only the personification of a temperament, but in great measure a self-expression and self-appraisal, similar to the assertions in Dürers’s theoretical writings. His passion for self-analysis was coupled with his knowledge of the limitation of human understanding.“34 – Um diese „close relationship“ oder diesen Verweisungszusammenhang der kunsttheoretischen Schriften Dürers und seines großartigen Kunstwerks der Melencolia I geht es ganz speziell im dritten Kapitel dieser Studie. ***
Der vollständige, wohl von Dürer selber formulierte Titel seiner Proportionslehre, die 1528 kurz nach seinem Tod erscheinen konnte, lautet: „Hierinn sind begriffen vier bücher von menschlicher Proportion / durch Albrechten Dürer von Nürenberg erfunden vnd be / schriben / zu nutz allen denen / so zu diser kunst lieb tragen. M.D.XXViij.“35 Auch diese Studie möge in der einen oder anderen Hinsicht „zu nutz allen denen [seyn] / so zu diser kunst lieb tragen“: zur großen Kunst Albrecht Dürers, wie sie sich auf das Schönste auch in seinem mysteriösen Meisterstich Melencolia I offenbart, der vor 500 Jahren geschaffen wurde, immer noch zu bewundern ist und zu bedenken bleibt. Ein Wort des Dankes sei noch angefügt. Es gilt, auch wenn das hier im Einzelnen nicht ausführlich dargestellt werden kann, in voller Überzeugung jenen Autoren, die sich intensiv um ein Verständnis des Dürerschen Meisterstiches bemüht haben und deren Aufsätze oder umfangreiche Bücher – auch wenn man von ihren Darlegungen nicht immer en détail oder im Ganzen überzeugt war – mit großem Gewinn an Einsichten und Hinweisen studiert oder konsultiert werden konnten. Besonders dankbar erwähnt sei Berthold Hinz, der mit seiner in heutiges Deutsch übertragenen und kommentierten Ausgabe von Albrecht Dürers Schrift Vier bücher von menschlicher Proportion die Arbeit an dieser Studie ungemein erleichtert hat. Rainer Hoffmann
17
ERSTES KAPITEL: DER PUTTO
PUTTO MELANCHOLICUS
I
n der ins Immense angewachsenen Melencolia-Literatur wird der ausgesprochen wohlgenährt pummelige, mit – für seine Fülligkeit – doch eher dürftigen Flügelchen ausgestattete und fast schon vornehm in ein Kleidchen mit Rüschenärmeln gehüllte Putto allzu gern als eine emsig beschäftigte Figur beschrieben (Abb. 4). Aus Anlass des 200. Todestages des Künstlers hat Henrich Conrad Arend 1728 in einer Gedächtnisschrift zu Ehren Albrecht Dürers notiert: „[…]; vor ihr [der Melencolia] sitzt ein genius auf einen mühlstein und zeichnet etwas auf eine tafel, […].“36 Ein Jahrhundert später bezeichnet Joseph Heller in seinem zum dreihundertsten Todestag Düres erschienenen Buch Das Leben und die Werke Albrecht Dürer’s das Tun des Putto nicht als Zeichnen, sondern als Schreiben: „Der Melancholie zur Rechten gegen links sitzt auf dem oberen Rande eines Mühlsteines ein geflügelter Knabe, welcher mit scharfen Blicken auf eine Tafel sieht, die auf seinen Beinen liegt. Er hält dieselbe mit seiner linken Hand fest, und in der andern schreibt er mit einem stählernen Griffel auf derselben, dadurch wird die Schreibkunst und Gelehrsamkeit angedeutet, […].“37 In seiner anregenden Schrift Briefe über Goethes Faust von 1835 kommt Carl Gustav Carus auch einmal ein wenig ausführlicher auf Dürers Melencolia I zu sprechen; den Putto bezeichnet er als „kleinen Genius mit erst sprossendem Flügelpaare“ und als einen „eifrig schreibenden Kleinen“, der „ganz emsig und in seine Arbeit vertieft mit dem Griffel ein Täfelchen beschreibt“38. Ludwig Choulant kamen die eindeutigen Charakterisierungen der PuttoTätigkeit als Zeichnen resp. als Schreiben offensichtlich wohl ein wenig fragwürdig vor, hat er doch 1851 im Deutschen Kunstblatt die Beschäftigung des Putto folgendermaßen entschieden unentschieden gekennzeichnet: „Zur Rechten dieses Genius [der weiblichen geflügelten Melencolia-Gestalt] sitzt auf einem an dem einen Rande beschädigten Mühlsteine und einem darüber gebreiteten Teppich ein kleiner, ebenfalls geflügelter Genius in Knabentracht, emsig auf einem in seinem Schoosse ruhenden Täfelchen schreibend oder zeichnend.“39 In der Formulierung „schreibend oder zeichnend“ zeigt sich 19
ERSTES KAPITEL
4 Melencolia I, Detail
das Problem und die Sorge des Bildbetrachters, nicht genau sagen zu können, was denn der Putto mit seinem Instrument, das er in der Hand hält, auf dem Täfelchen eigentlich treibt und auf dem Stich zu sehen ist. 20
DER PUTTO
Zwar haben Melencolia-Interpreten auch weiterhin behauptet, dass der Putto eifrig etwas (ein)schreibe, einkratze, emsig zeichne oder auch nur „geschäftiges Geschreibsel“ praktiziere40; manche meinen gar erkennen zu können, dass er eine Rechentafel in der Hand halte und intensiv rechne bzw. nicht nur rechne, sondern auch zähle und messe.41 Doch so sicher waren sich die Interpreten nicht, und eindeutig entscheiden zwischen Rechnen, Zählen, Messen, Schreiben, Zeichnen konnten sie sich auch nicht. So wechselten sie ins Unbestimmte und übernahmen offensichtlich nur allzu gern die Charakterisierung des Putto-Wirkens, wie sie Heinrich Wölfflin 1905 durch seine Studie Die Kunst Albrecht Dürers in die Melencolia-Wissenschaft nachhaltig eingeführt hat: „Einen psychologischen Kontrast aber hat Dürer in die Komposition hineingesetzt: das ist das kleine Engelknäbchen, das oben auf dem Mühlstein Platz genommen hat und, unbehelligt von trüben Gedanken, höchst angelegentlich sein Täfelchen beschreibt, was indessen nicht ernsthaft zu nehmen ist. Es ist kein ‚Denker im Kleinen‘, sondern ein Kind das Kritze macht, den Griffel im Fäustchen haltend.“42 Zwar „beschreibt“ der Putto „höchst angelegentlich“ seine Tafel, doch ist dieses Beschreiben nicht ernstzunehmen, weil es eben nur Gekritzel ist. Mit dieser Umschreibung der Aktivität des Putto hat der „kritzelnde Putto“ eine Karriere begonnen, die noch nicht zu Ende ist. Der „emsig beschäftigte“, vor allem der „kritzelnde Putto“ darf als ikonologische Opinio communis in der Melencolia-Forschung bezeichnet werden.43 ***
Verantwortlich für die weitere Erfolgsgeschichte des kritzelnden Putto in der Geschichte der Melencolia I-Deutungen sind zweifellos die großen Melencolia / Melancholie-Studien sowohl von Raymond Klibansky, Erwin Panowsky und Fritz Saxl als auch von Peter-Klaus Schuster; auf sie soll hier stellvertretend für die zahlreichen anderen Arbeiten, in denen der kritzelnde Putto eine mal mehr, mal weniger bedeutsame Rolle spielt, ausführlicher eingegangen werden. Auch wenn in der 1923 publizierten quellen- und typengeschichtlichen Untersuchung Dürers ‚Melencolia I‘ von Erwin Panofsky und Fritz Saxl kein kritzelnder Putto auftritt, so sind die Bemerkungen zum Tun des geflügelten „Kindes“ im Kontext der Putto-Deutungen durchaus bedenkenswert. Immerhin wird ihm attestiert, dass es an der „intellektuellen Tätigkeit“ der geflügelten Melencolia-Frau Anteil habe: „[…]; fast in derselben Stellung wie die Frau sitzt der Putto da, auch er schon ein Denker im kleinen; noch aber weiß 21
ERSTES KAPITEL
er nichts von tatenloser Depression, mit kindlichem Ernst in seine wissenschaftliche Arbeit vertieft.“44 Zwar verweisen Panofsky / Saxl auf das intensive „Beschäftigtsein“ des Putto, doch müssen sie zugeben, dass die Art und Weise der Beschäftigung nicht eindeutig zu kennzeichnen sei – und dann wohl auch nicht mehr als „wissenschaftliche Arbeit“; es handele sich nur um „ein allgemeines, ein ‚Beschäftigtsein schlechthin‘“45. In einer Anmerkung ist jedoch von einem Putto, der schreibt, die Rede; nur ist „wegen der Haltung der Schreibtafel nicht einmal auszumachen, ob der Putto Ziffern oder Buchstaben schreibt“46. Diese Unsicherheiten bei der näheren Bestimmung der Tätigkeit des Putto dürften der Grund dafür sein, dass Erwin Panofsky zwanzig Jahre später in seiner 1943 zuerst auf Englisch publizierten Monographie Das Leben und die Kunst Albrecht Dürers allgemein vom „kritzelnden“ Putto spricht, von dem dann natürlich ebenfalls nicht mehr zu behaupten ist, mit kindlichem Ernst in wissenschaftliches Arbeiten vertieft und ein „Denker im Kleinen“ zu sein. Trotz seiner „angestrengten Bemühungen“ und seiner „emsigen Geschäftigkeit“ bringe der „grämliche putto“ bzw. „das unwissende Kind“ nur „bedeutungsloses Gekritzel auf seine Tafel“47. In den wieder zwanzig Jahre später erschienenen Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst Saturn und Melancholie von Raymond Klibansky, Erwin Panofsky und Fritz Saxl wird das Putto-Bild um einige Nuancen ergänzt. Zwar ist von einem „seine Tafel bekritzelnde(n) Putto“ ausdrücklich nur noch eher selten und nebenbei die Rede48, doch zeigen sich die Autoren – wie sie ebenso ausdrücklich in einer langen Anmerkung schreiben – „bekehrt“: bekehrt zu Heinrich Wölfflins Auffassung, dass es sich bei dem Putto nicht um einen „Denker im Kleinen“ handle, sondern um „ein Kind das Kritze macht“49. Zwar wird der „emsig beschäftigte“ Putto als „tätiges Kind“ verstanden und seine „sehr ernsthaft“ mit „Arbeitseifer“ ausgeführte Tätigkeit auch als Schreiben begriffen; doch wird dieser „schreibende Putto“, der das „so eifrig und gedankenlos gehandhabte Schreibinstrument […] auf höchst unpassende Weise verwendet“, letztlich dann doch wieder als kritzelnder Putto charakterisiert: nämlich als „ein Sinnbild gedankenlosen Tuns“50. Was sonst sollte Kritzeln anderes sein? Auch Peter-Klaus Schuster hat 1991 in seinem zweibändigen Werk Melencolia I – einer veritablen Enzyklopädie zum immensen Thema „Melancholie / Melencolia“ – den Putto auf dem Mühlstein als „geflügelte(s) Kind“ charakterisiert, das „emsig mit einem Griffel auf einer Tafel (kritzelt)“51. Doch 22
DER PUTTO
ist von diesem „Kritzeln“ des Putto wohl nur in der einleitenden detailliert ausführlichen Bildbeschreibung des Stiches dezidiert die Rede; im weiteren Verlauf der Abhandlung wird das Tun des Putto nicht nur näher „präzisiert“, sondern als etwas entscheidend Anderes beschrieben: als Schreiben. Der auf seine Tafel „schreibende Putto“ erscheint als „aufschreibender Schüler“-Assistent der als „Vertreterin“ oder „Personifikation der Astronomie“ verstandenen Melencolia.52 Freilich dürfte das Schreiben oder Aufschreiben des „emsig tätigen Kindes“53 mehr oder weniger mit einem Kritzeln zu vergleichen sein, soll der Putto, obwohl er die Melencolia sogar bei „ihren nächtlichen Studien begleitet“, sich doch erst noch „um die Anfangsgründe des Schreibens (mühen)“54. Dieses Changieren zwischen Kritzeln, Schreiben oder erst noch Schreibenlernen, das sich in der Beschäftigung des „noch unbeschwerten Putto“55 – „als dem Vertreter sich übender manueller Praxis“56 – sinnfällig manifestieren soll, kam Schuster wohl selber ein wenig bedenklich vor, charakterisiert er doch in einer späteren Publikation den Putto ganz entschieden eindeutig, mehrfach und ausschließlich als kindlich-emsig „kritzelnden Putto“57. ***
Es stellt sich aber die Frage, ob das auf einem Mühlstein sitzende geflügelte Kind überhaupt und wirklich als ein emsig beschäftigter – sei es kritzelnder oder schreibender, sei es zeichnender, rechnender oder sich im Schreiben übender – Putto beschrieben werden kann. Die Art und Weise, wie der korpulente Putto seine Tafel und sein Arbeitsinstrument buchstäblich handhabt (Abb. 5), lässt eigentlich kein Schreiben, kein Zeichnen und kein Kritzeln
5 Melencolia I, Detail
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ERSTES KAPITEL
zu.58 Der linke Unterarm, der sich mit ausgeprägten Babyspeckfalten präsentiert und bei dem der rüschenverzierte Ärmel des Kleidchens nur bis wenig unter den Ellbogen reicht, bedeckt die Hälfte einer kleinen Schreibtafel; sie liegt, durch das rechte Knie flankierend gestützt, auf dem linken Oberschenkel und wird von der wie zu einer Faust geballten linken Hand fest im Griff gehalten und ebenfalls teilweise verdeckt. Auch die rechte, bis zur Mitte vom weiten Rüschenärmel bekleidete Hand, die, ihn wohl auch berührend, bis an den linken Arm heranreicht und einen nicht gerade zierlichen Griffel / Stichel am unteren Ende robust handfest gegriffen hält, liegt schwer und platzgreifend quer auf der rechten, von ihr so gut wie vollständig bedeckten Hälfte der Tafel. Sinnvolles Schreiben oder Zeichnen ist bei solch beengten Verhältnissen einfach nicht möglich. Hinzukommt, dass der schwergewichtige Putto – man beachte seine ungemein stämmigen, fast schon unförmig wirkenden Unterschenkel, Waden und Füße (s. Abb. 4) – sich mit seinem Oberkörper und dem vor der Brust gebauschten Gewand auch noch so über seine Arbeits utensilien beugt, dass von der möglichen Schreibfläche der Tafel nichts zu sehen und mangels freiem Sichtraum nicht einmal ein korrektes, weder ein großzügig weiträumiges noch ein kleinteiliges Kritzeln möglich ist. Auch wer gedankenlos kritzelt, will etwas sehen, schaut hin und achtet mehr oder weniger genau auf das, was er da so zu Werke bringt. Über den ausgemusterten Mühlstein, der an ein wohl als Turm zu deutendes Gebäude lehnt, ist ein Fransenteppich ausgebreitet59; der auf ihm schwerfällig hockende Putto wirkt phlegmatisch schwermütig, wie stillgestellt in sich versunken, in reglos passivem Innehalten und Nichtstun.60 Und dann der Kopf, das Gesicht, die Augen und der Blick des so wunderschön lockenköpfigen, aber ansonsten alles andere als grazilen Putto, der wirklich nicht als eine „höchst anmutige Zierde des Dürerschen Blattes“61 angesehen werden kann (Abb. 6). Wie sein gewichtig nach vorn gebeugter Oberkörper mit dem weiten, am Kragen von einer Brosche gehaltenen Kleid, so neigt sich auch sein stattlicher Kopf mit der hohen Stirn nach vorn und nach unten. Der Ausdruck des pausbäckigen Gesichtes mit fast schon platter und unförmiger Stupsnase, fest geschlossenen, ein wenig vorgestülpten Lippen und markantem Kinngrübchen wirkt sehr nachdenklich ernst und konzentriert grüblerisch, ja verfinstert. Es sind vor allem die seltsamen Augen des Putto, die den Eindruck erwecken, in seinem Gesicht eine melancholische facies nigra erkennen zu können.
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DER PUTTO
6 Melencolia I, Detail
Studiert man die Augen des Putto einmal genauer, nimmt man sie einmal konkret unter die Lupe, dann sind dunkle waagrechte, aber auch senkrechte Schraffuren zu erkennen, die die mandelförmig schwarz eingefassten, aber auch weiß gerandeten Augen irgendwie kennzeichnen, dadurch aber als Augen mit hellem Augapfel, mit Iris und Pupille,Wimpern, Lidern und Brauen nicht erkennbar werden lassen.62 Seltsam unbestimmt wirken beim MelencoliaPutto auch sowohl jene markanten über dem linken Auge wie flüchtig sorglos hingezeichneten schrägen Schraffuren, die möglicherweise Augenbrauen andeuten sollen, als auch die zahlreichen leicht gebogenen Linien, die sich 25
ERSTES KAPITEL
7 Albrecht Dürer Studien zum Kopf des Putto, 1514
unter dem linken Auge wimpernförmig ausbreiten.Von „scharfen Blicken“ des Putto, mit denen er auf seine Tafel schauen soll63, kann nicht die Rede sein; auch nicht von einem Blick, der „gespannt auf die Tafel fixiert“64 ist. Die Augen des Putto sprechen eine ganz andere Sprache. Es sind die Schraffuren, durch die die auch hellgefleckten Augen des Putto so konturlos und merkwürdig verschattet, so uneindeutig, gleichsam uneinsichtig, wie dämonisch leer, leb- und blicklos, blind oder gar wie tot erscheinen. 65 Anders als bei den Augen und dem Gesicht der Melencolia (s. Abb. 25) kann bei Gesicht und Augen des Putto von jenem „alleredelste(n) Sinn“ nicht die Rede sein, als den Dürer das „Sehen“ bzw. das auch als „Spiegel“ bezeichnete „Gesicht“ des Menschen rühmt.66 So trüb und blind, wie sie aussehen, fehlt den Augen des Putto alles Edle, jeder Glanz, jedes – wie in den hellen und aufmerksam blickenden Augen der Melencolia – sich spiegelnde Licht. 26
DER PUTTO
Auf einer 1514 entstandenen Studie Albrecht Dürers zum Putto des Kupferstichs Melencolia I sind zwei leicht geneigte Kinder- oder Putten-Köpfe bzw. -Gesichter mit Augen zu sehen, deren Lider gesenkt sind (Abb. 7). Die Augen in den Gesichtern der Kinder unterscheiden sich wesentlich und speziell von den Augen des Melencolia-Putto mit ihren alle Konturen auflösenden Schraffuren durch die leicht flächigen, natürlich hellhäutigen Lider, die die Augen bedecken und die Kinder wie schlafend aussehen lassen67. Größer kann der Unterschied zu den Putto-Augen nicht sein. Dass der Putto „fast den Eindruck der Blindheit vermittelt“, hat schon Erwin Panofsky in seiner Studie Das Leben und die Kunst Albrecht Dürers konstatiert; so qualifiziert er das Tun des „unwissenden Kindes“ als „emsige Geschäftigkeit“, die freilich nur „bedeutungsloses Gekritzel“ auf der Tafel hervorbringe. 68 Für Patrik Reuterswärd hat der „geflügelte Knabe“ zwar nur „geschlossene Augen“, doch praktiziere er, der „schreibende Putto“, auch „blindes Kritzeln“69. Bei Peter-Klaus Schuster, der Erwin Panofskys vorsichtigen Hinweis auf den Eindruck der Blindheit beim Putto zitiert, ist von eventueller physischer Blindheit des Putto nichts zu lesen; er diagnostiziert nur „niedergeschlagene Lider, die die Augen des Kindes bedecken“ sollen70, und deutet sie sinnbildlich als „geistige Blindheit“ des Putto, die in seinen gesenkten Augenlidern „unmittelbar sinnfällig“71 werde. Ausführlicher interpretiert Schuster diese geistige Blindheit, dieses Unwissen und diese Unachtsamkeit, die dem auf einem Mühlstein „instabil“ sitzenden Putto attestiert werden, im weiten geistes- und kunstgeschichtlichen Kontext der traditionellen Virtus-Fortuna-, Weisheit-Torheit- und Tugend-Laster-Antithetik.72 Hartmut Böhme bemerkt sogar: „Die Augen des Putto sind nicht erkennbar, sie sind auf die Schreibtafel gerichtet, wirken aber – anders als auf den Vorskizzen – seltsam unkindlich, fast böse.“73 Martin Büchsel erkennt in dem „Genius auf dem Mühlstein“ einen „Dämon“: „Dessen Augen sind ohne Licht, er verdeckt mit der Hand, was er schreibt“74 – trotz Augen ohne Licht, was doch wohl blinde Augen meint, die Schreiben unmöglich machen. In Büchsels 2010 veröffentlichem Buch zu Melencolia I wird die „Aktivität des Puttos“ sowohl als „Gekritzel im Halbdunkel“ wie als Schreiben bzw. Notieren auf eine Tafel gesehen75 – was sich freilich widerspricht. Letztlich bleibt es beim Notieren. Seine Notizen werden zwar nicht mehr vom Putto mit der Hand verdeckt, doch ist von Notaten nichts zu sehen oder zu entziffern: „Was er auf seine Schreibtafel niederlegt, bleibt dem Betrachter verborgen.“76 So stellt sich für Büchsel die entscheidende Frage und ergibt sich die entsprechende 27
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Antwort: „Was notiert er? Wir wissen es nicht. Und kein Interpret wird das je erfahren – eine für das Verständnis des Stiches entscheidende Einsicht.“77 ***
In der Tat wird das kein Interpret je erfahren, weil es da nichts zu erfahren gibt und niemand etwas erfahren soll, sonst hätte Dürer die Notate des Putto auf dem Kupferstich wohl mindestens andeutungsweise als Notate sichtbar gemacht. Der Putto notiert nichts, schreibt nichts, zeichnet nichts, rechnet nichts, kritzelt nichts – das ist die für das adäquate Verständnis des Putto entscheidende Einsicht. Was sollte er in der Situation, in der sowohl er als auch die Melencolia sich befinden, auch schreiben, zeichnen, notieren, rechnen, kritzeln?78 Er repräsentiert den Zustand intensiver Melancholie auf seine ganz eigene Weise: Bei ihm hat „dy Melecoley über hant“ genommen. Er zeigt sich somit gewissermaßen genau als das, was Dürer in seinem Lehrbuch der Malerei als bei der Ausbildung unbedingt zu vermeiden postuliert; pädagogische Aufgabe sei es nämlich, darauf zu achten, dass der Lehr„jung“ oder -„knab“, der in der Kunst unterwiesen wird, die „lust zw lernen behalten“ möge, des Lernens, weil er „zw vill übte“ oder überanstrengt wurde, „nicht überdrüssig“ („nit vrtützig“) werde und bei ihm aufgrund von Überforderung eben nicht „dy Melecoley über hant mocht nemen“. Als probates Mittel zur Vermeidung melancholischer Versuchungen oder auch nur Anwandlungen empfiehlt Dürer das Musizieren, speziell „kurzweiliges Saitenspiel“ („kurtzwelich seiten spill“), durch das der Lehrjunge dazu gebracht werde, nicht immer nur „zw vill“ zu üben, sondern sich auch einmal zu entspannen und so „zw ergetzlikeit seins geblütz“ zu kommen, sich seines Lebens und Daseins zu freuen.79 Sicherlich weiß der kindliche Putto, der doch eher den Eindruck von Überdruss als von „lust zw lernen“ erweckt, noch nichts von lähmender tatenloser Depression80, aber Melancholie widerfährt ihm, sie hat ihn mehr oder weniger erfasst, er demonstriert sie unbewusst. In seiner Erscheinung als Putto melancholicus wird sie manifest. Auch wenn in der Haltung seiner Hände vielleicht noch eine gewisse zupackende Entschiedenheit gesehen werden kann, als initiativ gibt sich der Putto jedenfalls nicht zu erkennen. So kann er auch nicht aktiv „von neuem mit dem (beginnen), woran die von der Melancholie befallene Frau gescheitert ist“81. In wissenschaftliche Arbeit ist er nicht vertieft. Und spielerisch schon gar nicht.Von emsiger Geschäftigkeit oder gar von „pure(r) Aktivität“, die sich in seiner „kindischen Tätigkeit“ zeige82, kann nicht die Rede sein, auch nicht von „angestrengten Bemühungen des 28
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kritzelnden putto“83 oder vom „Arbeitseifer des schreibenden Putto“84.Wenn behauptet wird, die Hände des Putto seien nicht müßig und auch nicht geballt, sondern emsig beschäftigt85, dann erwecken die doch mehr oder weniger zu Fäusten geballten Hände, mit denen der Putto seine Arbeitsgeräte fest, fast schon krampfhaft gepackt hält und gegen seinen Körper drückt (s. Abb. 5), doch einen ganz anderen Eindruck. Der Putto ist nicht beschäftigt; er bewegt sich nicht, scheint wie gebannt, in tiefe Schwermut versunken.Von „ergetzlikeit seins geblütz“86 keine Spur. Sowohl seine merkwürdig blicklos verfinsterten wie augenlos wirkenden Augen als auch seine in sich gebannte Gestalt – eine Art corpus incurvatum in se87 –, seine passiv niedergedrückte Haltung und sein ganzer uninspirierter Auftritt im durch und durch melancholischen Ambiente des Kupferstiches lassen es nicht zu, im Putto eine Art hoheitliches Wesen zu sehen: „ein königliches Kind“ („un enfant royal“), das auch noch als „l’inspirateur des artistes“ und als „l’archétype du dessin“ zu begreifen sei.88 Von einer künstlerisch inspirierenden Erscheinung des Putto, in dem sich der „esprit du disegno“ manifestiere89, kann jedoch ebenso wenig die Rede sein wie von einem unbeschwerten oder unbelasteten Putto90, der „unbehelligt von trüben Gedanken“91 „arglos die Güter seiner Jugend (genießt)“92, „wie ein kleiner Neuanfang“93 oder gar wie ein Wesen wirke, das „noch aus ungetrübter Naturkraft heraus die Welt spielend entwirft“94. Selbst weniger anspruchsvoll weltentwerfend verstanden, bedeutet „das eifrig schreibende geflügelte Knäblein“ zweifellos nicht „den noch ungebrochenen Lerneifer der Jugend, die Elementarwissenschaft, deren Forschungsdrang noch keine Enttäuschung und daher noch keine seelische Depression erfahren hat, wie sie die Hauptfigur zur Schau trägt“95. Auch ist der „tiefere Grund“, aus dem heraus sich das Kind „in der Mitte des Bildes befindet“, nicht darin zu erkennen, dass der Putto, der „Unsichtbares schreibt oder zeichnet“, als einzige tätige Figur, als Repräsentant des „Nicht Nichts-Tuen(s)“ und somit als der „geheime Spiritus rector“ des Kupferstiches interpretiert wird, um dann zu resümieren: „Hier lebt der eigentliche prospektive Sinn des Bildes, die all der Müh und Melancholie entstammende neue Geburt.“96 Es ist abwegig, den schwermütig-schwerblütigen Melencolia-Putto als „putzigen Engel“ zu bezeichnen, der „nichts von trüben Gedanken (weiß)“ und „in selbstzufriedenem Eifer seine Bildchen (kritzelt)“, von denen dann sogar gesagt wird: „[…] und sie beglücken ihn.“97
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Es passt nicht zum Erscheinungsbild des Melencolia-Putto, in ihm ein in „glücklicher Unbefangenheit“ beschäftigtes Kind98, einen „allerliebsten Genius“99, einen mit Stummelflügelchen ausgestatteten drollig possierlichen kleinen Buben in „kindlicher Spielversunkenheit“ zu erkennen100 oder ein „von der Zerrissenheit, wie sie von der weiblichen Gestalt ausgeht“, unberührtes Knäblein, das auffallend selbstvergessen sich seiner Tätigkeit hingebe, „ganz aus seiner unmittelbaren Intuition heraus“ auf sein Täfelchen schreibe und auch noch „in seiner tiefen Versunkenheit Frieden und Trost wie eine Verheißung“ ausstrahle.101 Dieses allerliebste Beglücken, diese spielende Intuition und diese verheißende Ausstrahlung treffen jedoch auf den verdrießlich mürrisch wirkenden Putto ebenso wenig zu wie die Behauptung, dass es sich bei ihm um ein „junge(s) und quicklebendige(s) Wesen“ handelt, das sich in seiner „blutvollen Leibhaftigkeit“ und mit all seiner „Lieblichkeit, Unbekümmertheit, Rundheit“ sowohl in jenen „schönen Jahren des wirklichen Unbekümmertseins“ befindet als auch „in jenem Zustande, da Kinder die ungetrübteste Freude spenden und in dem sie schönes Ausgewogensein ausstrahlen“102. – Es ist schon verwunderlich, was dem Melencolia-Putto so alles zugemutet oder angedichtet wird.103
PUTTO UND MELENCOLIA
Die kritischen Beobachtungen und Bemerkungen zu diversen Beschreibungen und Deutungen der Figur des Putto in der wissenschaftlichen Melencolia-Literatur sind für sich bereits von erheblicher interpretativer Relevanz, weil sie in einigen, aber entscheidenden Aspekten das Erscheinungsbild des geflügelten Kindes ganz anders charakterisieren. Besondere Aufmerksamkeit verdienen sie jedoch, wenn sie – wie hier und da bereits angedeutet – mit Blick auf die zentrale Personen-Konfiguration des Meisterstiches gesehen werden: mit dem vergleichenden Blick auf das Unterschiede und Gemeinsamkeiten aufweisende Verhältnis von Putto-Figur und Melencolia-Gestalt. Entsprechend erweist sich dieses Kontrast- bzw. Korrespondenzverhältnis, in dem Melencolia und Putto sich voneinander unterscheiden, aber auch miteinander verbunden sind, für die Interpretation des letztlich nicht eindeutig, sondern immer nur vieldeutig zu verstehenden Kupferstiches von zentraler Bedeutung.
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DER PUTTO
8 Melencolia I, Detail
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Gemeinsam ist Putto und Melencolia, die auf Augenhöhe bei- und nebeneinander sitzen104, sich aber gegenseitig nicht beachten (Abb. 8), dass sie auf dem Bild die beiden einzigen menschlichen, doch geflügelten und insofern anders- oder übermenschlichen Lebewesen sind und allegorisch darstellen. Gemeinsamkeiten, die Putto und Melencolia wie verwandte Parallelfiguren erscheinen lassen, zeigen sich auch in ihrer eindrucksvollen Körperpräsenz „gesunder Stämmigkeit“105, in ihrer kompakten Haltung, ihrer mehr oder weniger solide sitzenden Position und im finsteren gesenkten Gesicht und Blick des Putto wie im verschatteten, ebenfalls leicht geneigten Gesicht der Melencolia; vor allem aber – obwohl sie einen Zeichen- oder Schreibstift bzw. ein Messinstrument mal fest, mal lässig in der Hand halten – in ihrer demonstrativen Untätigkeit, in ihrem Nichtstun. Unter diesem bedeutsamen Aspekt erweisen sie sich als Ebenbilder, nicht als Gegenbilder. Was die Gegensätze zwischen dem kindlichen Putto und der erwachsenen Melencolia betrifft, so bestehen sie zunächst einmal im beachtlichen Altersunterschied und in der signifikant anders inszenierten Beleuchtung der beiden Figuren. Der entscheidende Unterschied und Gegensatz offenbart sich jedoch in den Gesichtern als den auffälligsten Partien im Erscheinungsbild des Putto und der Melencolia: in den merkwürdig finster blicklosen, seltsam verschlossenen Augen, dem gesenkten Gesicht und dem auf eine Tafel gerichteten Nah„blick“106 des Putto bzw. in den auffallend hellen Augen und im aus leicht geneigtem Gesicht aufschauenden, denkwürdig offenen, ja hell- und weitsichtigen Fernblick der Melencolia.107 Hier zeigt sich ihre ganze gegenbildliche Bildpräsenz. ***
Aufgrund der dem Putto und der Melencolia gemeinsamen Untätigkeit, ihres aktuellen Nichtstuns, kann die Konfiguration Putto-Melencolia nicht als ein Kontrastverhältnis von Theorie und Praxis, Denken und Handeln gedeutet werden. Ludwig Choulant z. B. hat sich bereits 1851 in einem kurzen Aufsatz Ueber Albrecht Dürer’s Bild, die ‚Melancholie‘ genannt im Deutschen Kunstblatt ganz den an diversen Indizien zu verifizierenden Gegensätzen, die auf Dürers Kupferstich auszumachen sind, und ihrer Vermittlung gewidmet. Er kommt zu dem Ergebnis: „Des Bildes Inhalt ist einfach der Gegensatz und zugleich die Verbindung des theoretischen Nachsinnens, der ruhigen Beschaulichkeit, und des praktischen Handelns, des emsigen bedachtsamen Fleisses.“ Putto und Melencolia, die Choulant als Genien bezeichnet, erkennt er als Perso32
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nifikationen dieses Gegensatzes: „Dieser Gegensatz legt sich zunächst dar in der Zusammenstellung der beiden geflügelten Genien: der unbeschäftigt ruhenden, gedankenvollen, weiblichen, jugendlichen Figur mit Zirkel und Buch, des emsig schreibenden oder zeichnenden knabenhaften, kleinen Genius, der bedachtsam, wie der emsige Fleiss es ist, sich noch einen Teppich über den rauhen Mühlstein gebreitet hat, wobei sinnig der Jugend die gedankenvolle Beschaulichkeit, dem Knabenalter der emsige Fleiss zugewiesen ist.“108 Abgesehen von der negativ zu beantwortenden Frage, ob die Melencolia noch als Jugendliche anzusehen ist und ob sich denn Jugend durch „gedankenvolle Beschaulichkeit“ auszeichnet, bleibt zu konstatieren, dass dem Putto als kleinem Knaben „emsig bedachtsamer Fleiss“ beim Schreiben oder Zeichnen – wie in der Melencolia-Literatur gern behauptet wird – eben nicht attestiert werden kann. Da er gerade nicht als Personifikation „des praktischen Handelns“ in Frage kommt, kann er auch nicht als Gegenbild zur „unbeschäftigt ruhenden, gedankenvollen“ Melencolia verstanden werden. Beide, Putto und Melencolia, sind nicht aktiv. Sie sind – was freilich nur die Frage „Tun oder Nichtstun“ betrifft – keine Gegenspieler, sondern Parallelfiguren. So kann auch der Versuch nicht überzeugen, den Raymond Klibansky, Erwin Panofsky und Fritz Saxl in ihren so umfassenden wie profunden Studien Saturn und Melancholie unternommen haben, um die Melencolia und den Putto auf Dürers Meisterstich als „Kunst“ / „Brauch“- oder Theorie / PraxisKontrastfiguren zu deuten.109 Sie greifen bei ihrem Versuch auf Ausführungen zurück, mit denen Erwin Panofsky bereits in seiner Dürer-Monographie auf den „bemerkenswerten Gegensatz“ zwischen der „starren Untätigkeit“ der Melencolia und „der emsigen Geschäftigkeit des putto“ hingewiesen hatte: „Die reife und kluge Melancholia stellt typisch die theoretische Einsicht [„Theoretical Insight“] vor Augen, die denkt, aber nicht handeln kann. Das unwissende Kind, das bedeutungsloses Gekritzel auf seine Tafel bringt und fast den Eindruck von Blindheit vermittelt, stellt typisch die praktische Übung [„Practical Skill“] vor Augen, die handelt, aber nicht denken kann […].Theorie und Praxis sind also nicht ‚zusammen‘, wie Dürer verlangt, sondern durchaus getrennt; und das Ergebnis sind Unmacht und Trübsinn.“110 Als fragwürdig erweist sich diese Gegenüberstellung von untätiger Melencolia und emsig beschäftigtem Putto, weil bei der Melencolia, die alle Tätigkeiten suspendiert hat und gedankenvoll in die Ferne schaut, in ihrer aktuellen Situation der Gegensatz von intensivem Nachdenken, aber Nicht-(mehr)-handelnKönnen oder vielleicht auch Nicht-(mehr)-tätig-sein-Wollen anschaulich und 33
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überzeugend dargestellt erscheint. Beim Putto jedoch besteht der umgekehrte Gegensatz von Handeln und Nicht-denken-Können nicht. Denn der „fast den Eindruck von Blindheit“ erweckende, seinen Griffel und seine Tafel wie verkrampft festhaltende Putto, der sich wie in einem gebannten Stillstand befindet, handelt nicht. Nicht einmal mit „bedeutungslose(m) Gekritzel“ traktiert er seine Tafel. Ebenso wenig scheint er denken zu können, macht er doch den Eindruck, in schwermütig blindem Vor-sich-hin-Grübeln gefangen zu sein. So ist er auch nicht als personifizierte Typus-Gegenfigur zur denkenden, aber nicht handeln könnenden oder wollenden Melencolia zu begreifen. Selbst wenn er – wie Erwin Panofsky meint – „bedeutungsloses Gekritzel auf seine Tafel“ („meaningless scrawls on his slate“) produzieren sollte, könnte in dieser defizitären Tätigkeit nicht jene „praktische Übung“ („Practical Skill“) erkannt werden, „die handelt, aber nicht denken kann“, und die der Melencolia-Putto mit seiner „bustling activity“111 repräsentieren soll.112 Klibansky / Panofsky / Saxl versuchen erneut, die Melencolia-Putto-Konfiguration im Kontext kunsttheoretischer Überlegungen Albrecht Dürers zur Macht oder „Gewalt“ der Kunst bzw. zu „Kunst“ / „Brauch“, „Ars“ / „Usus“, Theorie / Praxis, Denken / Handeln zu verstehen; dabei spielt Dürers einzige Notiz zur „Melencolia“ auf einer Vorzeichnung zum Kupferstich (s. Abb. 9) als Motiv und Argument eine bedeutende Rolle: „schlüssel pewtell / betewt / gewalt reichtum“113. So fragen sich die Autoren: „Wenn nun die Gestalt der Melencolia die Gewalt erzeugende Kunst bedeutet, so stellt sich die Frage, ob denn nicht vielleicht auch ihr ungeistiges Gegenbild, der Gewalt offenbarende Brauch, auf Dürers Kupferstich zu seinem Recht gekommen ist?“ Leicht fällt ihnen die Antwort auf die Frage nach dem „ungeistigen Gegenbild“ zur Melencolia offensichtlich nicht, bemerken sie doch erst einmal vorsichtig: „Es scheint sich in der Tat so zu verhalten.“ Und auf mehr als auf eine Vermutung, bei der es dann jedoch nicht bleibt, können sich Klibansky / Panofsky / Saxl – bei allem „Zwang“ des auf dem Stich anschaulich Gegebenen – zunächst nicht verständigen: „Denn wenn uns schon die reine Anschauung dazu zwang, den schreibenden Putto als eine Kontrastfigur zur Melencolia zu interpretieren, so dürfen wir jetzt diesen Kontrast gewissermaßen benennen und vermuten, dass das Kind den ‚Brauch‘ bedeutet.“114 Klibansky / Panofsky / Saxl scheinen das doch Forcierte oder Konstruierte ihres Deutungsversuches zu spüren, wie sich auch in den weiteren entscheidenden Ausführungen zum Melencolia-Putto-Verhältnis zeigt: „Das Kind sitzt fast in derselben Haltung da wie die Frau, verkehrt dabei aber – in fast 34
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parodistischer Manier – jeden Zug ihrer Erscheinung ins Gegenteil: den Blick nicht ziellos in die Höhe gerichtet, sondern gespannt auf die Tafel fixiert, die Hände nicht müßig oder geballt, sondern emsig beschäftigt. Der Putto (ebenfalls geflügelt, aber dennoch nur ein kleiner Famulus, der der Kraft des Geistes nur die Tätigkeit der Hände gegenüberzustellen hat) dürfte ebenso ein Sinnbild des gedankenlosen Tuns sein, wie die Melencolia selbst ein Sinnbild des tatlosen Denkens ist. Er hat keinen Anteil an geistigem Schöpfertum, aber er hat auch keinen Anteil an der mit diesem Schöpfertum verbundenen Qual. Sieht sich die Kunst unüberwindlichen Schranken gegenüber, so nimmt der blinde Brauch keinerlei Begrenzung wahr. Selbst da, wo in der unheilvollsten Stunde Saturns ‚Ars‘ und ‚Usus‘ voneinander getrennt sind – und eine solche Stunde haben wir in dem Bild vor uns, denn die Hauptfigur ist zu sehr in Gedanken versunken, um sich um das Tun des Kindes zu kümmern –, selbst wenn die Kunst von Verzweiflung überwältigt ist, kann der Brauch immer noch der sinnlosen oder unverständigen Tätigkeit frönen.“115 Auch wenn hier Melencolia und Putto mit so markanten Charakterisierungen – „Sinnbild des tatlosen Denkens“, „Sinnbild des gedankenlosen Tuns“ – als Kontrastfiguren eindeutig gleichsam auf den allegorischen Begriff gebracht werden, so fällt doch auch wieder eine gewisse Vorsicht oder Ambivalenz der Argumentation auf.Vor allem in der Formulierung des einerseits konjunktivisch vermutenden „dürfte“ mit Blick auf den Putto als Sinnbild gedankenlosen Tuns und des andererseits indikativisch behauptenden „ist“ mit Blick auf die Melencolia als Sinnbild tatlosen Denkens manifestieren sich indirekt einmal mehr und sehr deutlich die Probleme bei den Versuchen, Dürers rätselvollen Kupferstich Melencolia I adäquat zu begreifen. Die hier sich zeigende Unsicherheit dürfte möglicherweise damit zusammenhängen, dass die „reine Anschauung“ des auf dem Bild konkret Gegebenen und zu Sehenden keineswegs, wie behauptet wird, so zwingend ist und wirklich davon zu überzeugen vermöchte, das Kind als emsig und gedankenlos beschäftigten – schreibenden oder auch nur kritzelnden – Putto und insofern als Kontrastfigur zur untätigen Melencolia zu identifizieren und zu interpretieren. Denn ein genauer Blick auf den Kupferstich widerlegt doch – wie bereits thematisiert116 – z. B. deutlich genug die Behauptung, dass „die Hände [des Putto] nicht müßig oder geballt, sondern emsig beschäftigt“ sind. Auch hat der Putto zwar in der Tat seinen „Blick nicht ziellos in die Höhe gerichtet“, doch bleibt – wie ebenfalls schon erörtert wurde117 – zu bedenken, um was für seltsame Augen und um was für einen merkwürdigen „Blick“ 35
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es sich handelt; und außerdem ist zu fragen, ob der Putto den „Blick“ seiner blicklos-blind wirkenden Augen wirklich „gespannt auf die Tafel fixiert“ haben kann – also doch wohl aufmerksam sein Schreiben oder Zeichnen beobachtend und genau kontrollierend. Als ein „typisch“ den „Brauch“, die praktische Kunstfertigkeit („Practical Skill“) darstellendes Vollgegenbild zur „typisch“ die „Kunst“ bzw. die „theoretische Einsicht“ („Theoretical Insight“) repräsentierenden Melencolia kann der untätige und blicklos in sich versunkene Putto des Kupferstiches nicht gesehen werden. Als das genaue Gegenbild zur Melencolia kann der Putto jedoch insofern gedeutet werden, als in ihm weder „Brauch“ noch „Kunst“, weder Theorie noch Praxis, weder Denken noch Handeln zur Anschauung kommen, während „Kunst“ und „Brauch“,Theorie und Praxis, Denken und Handeln in der durch Zirkel und Buch ausgezeichneten Melencolia „vereint“ sind118, auch wenn sie aktuell nicht tätig, sondern in Gedanken abwesend anwesend ist. Das bedeutet aber auch, dass die von Klibansky / Panofsky / Saxl auf Dürers Stich heraufbeschworene „unheilvollste Stunde“, die „wir in dem Bild vor uns (haben)“, sich gerade nicht ereignet und nicht manifestiert: Jene Stunde einer Situation in extremis, da die im Sinnbild der Melencolia-Figur präsente „Kunst von Verzweiflung überwältigt ist“ und der im Sinnbild der Putto-Gestalt präsente „Brauch immer noch der sinnlosen und unverständigen Tätigkeit frönen (kann)“. Die Melencolia ist nicht von heilloser Verzweiflung überwältigt119, und der Putto frönt keiner sinnlosen Tätigkeit.120 ***
9 Albrecht Dürer Studie zum Putto, 1514
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Eine Vorzeichnung Dürers zur Melencolia I (ebenfalls aus dem Jahre 1514) zeigt einen ganz anderen Putto: Einen geflügelten, konzentriert Maßarbeiten verrichtenden Putto, der stehend, mit beiden Händen so akkurat wie emsig agierend und zweifellos – auch wenn sie aufgrund des nach unten gerichteten Gesichtes nicht zu sehen sind – mit genau beobachtenden Augen kindlich (un)professionell mit einem Lot121 und mit einem nicht in die Höhe, sondern auf den Boden gerichteten Sextanten hantiert und spielerisch experimentiert (Abb. 9). Von diesem Putto der Skizze sind beim Melencolia-Putto außer dem – freilich aus ganz anderen Gründen – gesenkten Kopf und den Flügeln keine Parallelen geblieben. Da hat es sich Dürer offensichtlich allegorisch anders überlegt und einem wie in sich gebannt auf dem Mühlstein hockenden Melencolia-Putto eine Tafel und einen Griffel / Stichel als Utensilien eventueller Aktivitäten in die jedoch aktuell energisch geballten und fest zupackenden, aber reglosen Hände gelegt.122 Hätte Dürer einen „emsig beschäftigten“ – schreibenden, messenden, zeichnenden – Putto als Gegenbild zur all ihre Aktivitäten suspendierenden Melencolia-Figur in seinem Kupferstich allegorisch in Szene setzen wollen, dann wäre er, der Putto, doch anders in Erscheinung getreten; nämlich wenigstens andeutungsweise so wie sein aktives Vorbild aus der Vorzeichnung: wie der intensiv technisch-wissenschaftlich engagierte und alles andere als melancholisch inspirierte Putto.123 Das so ernsthaft konzentriert wie sorglos spielerisch mit Lot und Sextant beschäftigte Kind der Vorzeichnung mag man sich durchaus als einen glücklichen Putto vorstellen: als einen Putto, der auf seine naive Weise mit Freuden bei seiner experimentellen Arbeit ist. Bei dem schwermütigen Putto auf dem Stich Melencolia I ist eine solche Assoziation ausgeschlossen. So verwundert es, dass Peter-Klaus Schuster in seiner großen Studie zu „Dürers Denkbild“ den Putto als „kindlichen Sanguineus“124 qualifiziert und ihn unter diesem Aspekt als „offensichtliche Gegenfigur“125 zur Melencolia begreift: zur „geflügelten Personifikation des melancholischen Temperamentes“126. Dürer „konfrontiert“, so Schuster, seine Melancholiefigur durch ihren „Gestus des Denkens, der ja zugleich die Gebärde des Trauerns ist […], mit dem kindlichen Putto“: „Unter dem Blickwinkel der Temperamentenlehre gibt aber Dürer im Putto einen kindlichen Sanguineus und damit einen auffälligen und von den Interpreten auch stets vermerkten Gemütskontrast zum reflektierten Ernst der Melancholiefigur.“127 Schusters sanguinische Deutung des Putto stellt eine elaborierte Variante jener sozusagen 37
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kinderfreundlichen Kurzinterpretationen dar, bei denen der Putto als drollig possierlicher, unbekümmerter, unbeschwert lebendiger, von trüben Gedanken unbehelligter, in kindliches Spielen versunkener und allerliebst ungetrübteste Freude spendender Genius eine beglückende Rolle spielt.128 Den Kontrast oder die Konfrontation von sanguinem und melancholischem Temperament ordnet Schuster ein in eine Tradition, in der die Gegenüberstellung von Trauer und Freude, Desperatio und Gaudium thematisiert wird. Diese „Bildtradition der Gegenüberstellung von Trauer beziehungsweise Melancholie und Freude“ habe Dürer die Möglichkeit geboten, „im Kontrast zum ‚unbelasteten‘ Putto, einem eifrigen Denker im Kleinen, den Hang seiner Melancholiefigur zum Trübsinn deutlich werden zu lassen“129. Als ein solch „eifriger Denker im Kleinen“ korrespondierte der Putto zwar mit der Melancholiefigur, in der sich „das konzentrierte Denken des Erwachsenen“130 zeige, doch werde in seinem Verhalten „der noch spielerische Umgang der Jugend mit ernsten Dingen“131 sichtbar. Überhaupt manifestiere sich das speziell „Spielerische“, das es „gewiß auch auf Dürers Melancholieblatt (gibt)“, in der schauspielerischen Präsenz und Selbstdarstellung des Putto, nämlich in der „fast parodistische(n) Paraphrase des Puttos auf Haltung und Ernst der Melancholiefigur“132. Es ist jedoch die Frage, ob der Melencolia wirklich „ein Hang zum Trübsinn“ als Habitus attestiert werden kann und ob es nicht gerade der gar nicht so „unbelastet“ scheinende Putto ist, der im Gegensatz zur – wie noch ausführlicher erörtert wird – zwielichtig doppeldeutigen Melencolia eine doch eher eindeutig trübsinnige Figur abgibt. Als Frohsinn verbreitende Frohnatur gibt sich der vor sich hin grübelnde Putto jedenfalls nicht zu erkennen, ganz im Gegenteil. Nicht umsonst hat ihn Erwin Panowski einmal als „einen kleinen grämlichen putto“ – „a morose little putto“ – bezeichnet.133 Und auch das behauptete Kindlich-Spielerische, zu dem doch eine unbekümmert souveräne Unbeholfenheit, aber auch Leichtigkeit und reizende Spielfreude gehören, ist bei dem schwerfällig mit gesenktem Kopf auf dem Mühlstein hockenden, seine Utensilien verkrampft festhaltenden, in sich gebannten, schwermütig verschatteten und wie blind wirkenden Putto nicht zu diagnostizieren. Wird der Putto so gesehen und gedeutet, dann kann er – wie Peter-Klaus Schuster es gegen alle Bildevidenz versucht – eben auch nicht als Repräsentant des sanguinischen Temperamentes verstanden werden. Dürers drei Meisterstiche Ritter,Tod und Teufel, Melencolia I und Hieronymus im Gehäus bestimmt 38
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Schuster „als Darstellungen der drei Temperamente – cholerisch, melancholisch und phlegmatisch – […]“134. Da es nach der alten Temperamentenlehre jedoch vier Temperamente gibt und dann auch bei Dürer – wenn vielleicht auch nicht auf einem eigenen Meisterstich135 – geben muss, findet Schuster das vierte Temperament dargestellt in der vierten „menschlichen“ Person auf den drei Meisterstichen: im Putto. „Der Putto, der die Melancholiefigur begleitet, darf als Vertreter des glücklichen Lebensalters der Kindheit sehr wohl als ein Sanguineus, als Repräsentant des glücklichsten Temperamentes aufgefaßt werden. Indem der Putto bei Dürer mit kindlichem Ernst seinen noch unentwickelten Verstand schult, wird deutlich, daß der völlig unbeschwerte Zustand des Sanguineus am ehesten noch in der Kindheit oder der frühen Jugend kurzfristig möglich ist, im Leben des aus dem Paradies vertriebenen Menschen aber recht eigentlich keine Dauer haben kann. […] Einzig die Kinder, so zeigt es Dürer im Putto des Melancholiekupferstichs, rühren […] in ihrer Unschuld noch an die Harmonie des paradiesischen Zustandes.“136 Bei Schuster wird also aus dem melancholischen Putto ein Glückskind, dessen – wenn auch labiler – „Glückszustand“, „glückhaft unschuldige(s) Alter“ und „glückliche Einfalt des Kindes“137 ebenso auch noch beschworen werden wie schon sein „glücklichstes Temperament“ und „glückliches Lebensalter“. Doch um all diese Glückseligkeitsaspekte „völlig unbeschwerte(n)“ Daseins im Bild einigermaßen überzeugend sichtbar werden zu lassen, müsste der so schwergewichtig hockende und wie verfinstert blickende Putto doch einfach anders aussehen: eben irgendwie kindlich unbeschwerter, unschuldiger, leichter, freier, heller, vielleicht auch spielerisch musischer138 oder glücklicher und – wie auch immer – paradiesischer. So aber bleibt der Putto ein Putto melancholicus.139 ***
Im Kontext der Entfaltung seiner „Hauptthese“ – der tugendprogrammatischen Deutung des Melencolia I-Stiches als einer „humanistischen Tugendallegorie“ 140 – spielt Peter-Klaus Schusters entschieden dualistische Sicht des Kupferstiches eine entscheidende Rolle, durch die auch der Putto in ein anderes allegorisches Deutungsgefüge gerät. Schuster teilt Dürers Melencolia I in zwei eindeutig von einander abgegrenzte Hälften: in eine – die rechte – Virtus-Seite und in eine – die linke – Fortuna-Seite (Abb. 10). Die für die Zweiteilung des Blattes verantwortliche Trennlinie werde durch den linken Rand des turmartigen Gebäudes hinter der Melencolia und dem Putto sig39
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10 Melencolia I, Zweiteilung nach P.-K. Schuster
nalisiert. In diesem „optischen Grundmuster des Dürerschen Melancholieblattes“ manifestiere sich die „Vorbildlichkeit der Virtus-Fortuna-Gegenüberstellung“. Und, so Schuster exklusiv weiter, „nur auf der Folie und mit Kenntnis der allegorisch so geläufigen Virtus-Fortuna-Antithese“, wie sie in der „auffälligen Halbierung“ des Stiches sichtbar wird, „kann der Betrachter des Dürerschen Melancholieblattes die verwirrende Fülle inhaltlicher Bezüge sinnvoll ordnen“141. 40
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Der seit der Antike bekannte und vielfach thematisierte lebensphilosophische Gegensatz von Virtus und Fortuna, Einsicht und Blindheit, der auch in der Kunst auf unterschiedliche Weise reflektiert wurde, ist zu Beginn des 16. Jahrhunderts einmal ganz besonders eindrucksvoll dargestellt worden: auf dem Titelblatt des 1510 / 11 publizierten Liber de sapiente von Carolus Bovillus142 (Abb. 11). Auf dem wenige Jahre vor Dürers Melencolia I entstandenen Holzschnitt, auf den sich Schuster ausführlich beruft, sitzen sich zwei Frauen deutlich durch einen Leerraum und ein offenes Grab getrennt gegenüber: die Sapientia / Virtus auf einem stabilen und kunstvoll gestalteten Thronsitz, der Sedes virtutis quadrata, und die Fortuna auf einem Rad, der Sedes fortunae rotunda. Die Virtus / Sapientia hält als Attribut den Spiegel der Weisheit, das Speculum sapientiae, in den Händen; es handelt sich dabei um den Spiegel ihrer Wissenschaft – der Astronomie –, den sie mit seinen Sonne-, Mond- und Sterne-Symbolen studiert und in dem sie sich spiegelt, anschaut und erkennt. Die Fortuna, deren Augen verbunden sind, präsentiert dagegen in der linken Hand ein Glücks- oder eben ein Fortuna-Rad, mit dem vier Menschen kopfüber, kopfunter verbunden sind; einer von ihnen – ein Herrscher mit Zepter, Krone und Prunkmantel – meint hochmütig, hoch oben auf diesem Glücks- oder Unglücksrad so unbesorgt wie gedankenlos sein Leben lang thronen zu können und sich nicht einmal festhalten zu müssen; die anderen Personen klammern sich dagegen mit aller Kraft fest an das Lebensrad, um nicht – wenn es denn das Schicksal, die Fortuna oder auch die Vorsehung zufällig mal so wollen – in jenes Grab zu fallen, das sich zu Füßen der Fortuna öffnet und in das der so selbstbewusste wie seines irdischen Glückes selbstgewisse Herrscher bei der nächsten Drehung des Fortuna-Rades zweifellos als Erster stürzen wird. Nicht zufällig trägt auch Fortuna eine Krone. Sie ist die eigentliche Herrscherin, Herrin über Glück und Unglück, Leben und Tod. Diese Gegenüberstellung oder Konfrontation von „Weisheit gegen Torheit“, wie sie auf dem Titelholzschnitt für Bovillus’ Liber de sapiente zur Darstellung kommt, sieht Schuster auf Albrecht Dürers Melencolia-Stich analog in Szene gesetzt. In der Melencolia, die – ähnlich der Sapientia auf ihrer Sedes quadrata – fest auf einer Terrassenstufe vor dem als Turm der Weisheit – Turris sapientiae143 – gedeuteten Gebäude sitzt und durch ihre imposante Präsenz die rechte Seitenhälfte des Dürer-Stiches beherrscht, erkennt er die repräsentative Entsprechung zur Virtus / Sapientia-Figur auf dem Bovillus-Blattt: die Melencolia als Allegorie eines weisen, der göttlichen Kosmos-Astronomie-Wissenschaft gewidmeten und von der „tugenhaften Einsicht in die menschliche 41
ERSTES KAPITEL
11 Carolus Bovillus Liber de sapiente, 1510 / 11
Vergänglichkeit“ bestimmten Lebens.144 Als motivische Gegenbildlichkeit zu diesem Sapientia-Bereich mit der Melencolia als „Virtuspersonifikation“145 entspreche auf der linken Seite des Melencolia-Stiches die Fortuna- oder Vanitas-Sphäre, die sich jedoch nicht durch eine Personifikation, sondern 42
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durch diverse allegorische „Hinweise auf die Unsicherheit des menschlichen Lebens“ anschaulich zu erkennen gebe: durch die mobile Kugel, das immer unberechenbare Meer, die nur unter Gefahr des „stets drohenden Absturz(es) in die Tiefe“ zu besteigende Leiter und „das instabile Sitzen des Putto auf dem Mühlrad“ 146. Doch ist hier gleich anzumerken, dass sich auf der Fortuna-Seite auch das Massiv des Polyeders befindet, das mit seiner wuchtigen Imposanz die linke Seite zentral dominiert und mit seiner Stabilität und Immobilität die instabilmobile, weil runde, doch jetzt nicht rollende, sondern ruhende Kugel gewaltig überragt. Außerdem ist darauf aufmerksam zu machen, dass ähnliche, wenn nicht gar noch eindeutigere und bedeutendere „Hinweise auf die Unsicherheit des menschlichen Lebens“ auch auf der rechten, auf der sogenannten VirtusSeite des Melencolia-Stiches zu sehen sind; z. B. die Waage, die Sand- und Sonnenuhr, die Glocke, vielleicht auch das Magische Quadrat, unter denen die Melencolia hockt; und schließlich die Melencolia selber, deren „tugendhafte Einsicht in die menschliche Vergänglichkeit“ gerade als besondere Qualität hervorgehoben wurde und deren ganze Erscheinung in ihrer von Melancholie beherrschten Umwelt die existenzielle Fortuna-Abhängigkeit und Fortuna-Unsicherheit auch des von Virtus, Kunst und Wissen bestimmten menschlichen Lebens so anschaulich wie eindrucksvoll darstellt. Es bleibt bei den Analogieversuchen eines Vergleichs von Virtus / Sapientia-Figur und Melencolia-Gestalt auch zu bedenken, wie bedeutend unterschiedlich das Erscheinungsbild der beiden Frauen ist: Einerseits die erhaben aufrecht thronende, fürstlich gekleidete, ungemein, ja fast schon hochmütig selbstbewusst im Spiegel sich reflektierende, sich ihrer Kosmos-Wissenschaft so intensiv bewusste wie widmende und lichtvoll hell erscheinende Virtus / Sapientia, unter deren Füße sogar ein luxuriös mit Quasten verziertes Kissen gelegt ist und die ihr Speculum sapientiae gleich einer kostbaren Monstranz stolz sich selber und der Welt präsentiert. Und andererseits die trotz ihrer Flügel unten am Boden in ihrem Freilichtlabor vor dem Turm auf einer Steinstufe sitzende oder hockende, schwermütig gebeugte Melencolia, die zwar durch eine nicht genau zu identifizierende Lichtquelle von rechts unten hell angestrahlt, doch auch – wie speziell ihre facies nigra zeigt – tief verschattet wird, die aus diesem verdunkelten Gesicht mit hellen Augen in eine hohe Ferne blickt, die ihre Arbeitsutensilien achtlos auf dem Fußboden einigermaßen unordentlich beiseite gelegt hat und sowohl das verschlossene Buch als auch den über ihrem Schoß geöffneten und aufgerichteten Zirkel, 43
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ihre bedeutsamsten Attribute, eben nicht wie Triumphtrophäen demonstrativ vor sich her trägt147, sondern – das Buch – wie nebenbei unter ihrem Arm verborgen und – den Zirkel – nur lässig spielerisch mit der rechten Hand hält. Größer und bedeutender kann ein Unterschied nicht sein. Und es gibt da – was Peter-Klaus Schuster nicht übersieht, aber zu wenig bedenkt – noch einen weiteren entscheidenden Unterschied zwischen dem Bovillus-Holzschnitt und dem Dürer-Kupferstich, wodurch sich nicht nur der kompositorische, sondern auch der thematische Vergleich beider Kunstwerke als noch problematischer darstellt.148 Dürers Melencolia hat nämlich – anders als bei Bovillus die Virtus-Figur in der Fortuna-Gestalt – eben keine gleichwertige menschlich figürliche Gegenbildgestalt, die als durch eigene Attribute konkret ausgezeichnete Kontrast-Allegorie der Melencolia in Frage käme.149 Durch dieses Fehlen einer allegorisch kongenialen Beziehungsperson erscheint die konsequente ikonographisch komparatistische Parallelisierung von Melencolia-Stich und Virtus / Fortuna-Holzschnitt entschieden fragwürdig. Durch das signifikante Fehlen einer adäquaten Kontrast- oder Alternativfigur zur Melencolia erscheint vor allem auch die von Schuster behauptete scharfe Zweiteilung des Kupferstiches, die „die Darstellung in zwei genau gleich große Bildhälften (zerlegt)“150, als äußerst bedenklich. Dieses „Zerlegen“ des ganzen Bildes durch eine präzise Trennungslinie, die den Putto regelrecht halbiert und auch die Melencolia gleichsam beinamputiert, hat etwas Brutales. Der Hinweis, dass Melencolia und Putto „durch ihre Plazierung“ doch auch „an beiden Bereichen“ – am Bereich der Virtus / Sapientia wie am Bereich der Fortuna / Vanitas – „teilhaben“151 oder dass „Virtus- und Fortunabereich durch zahlreiche Bildmotive miteinander verbunden (sind)“152, hebt das Gewaltsame der Bildzerlegung nicht auf, relativiert es nicht einmal; vielmehr akzentuiert er das Bildinadäquate dieser Sezieraktion noch deutlicher und spricht somit gerade gegen die rücksichtslose Zweiteilung des Bildes und das „Zerlegen“ der allegorischen Figuren. ***
Den Sapientia / Fortuna-Gegensatz verbindet Schuster auch mit dem Tugend / Laster-Gegensatz, so dass Dürers Melencolia-Blatt auch noch „durch unsere Deutung in das Spannungsfeld eines umfassenden Tugend-LasterGegensatzes eingebettet (wird)“153. Zwar äußert Schuster auch einmal Bedenken, indem er nur von dem „Verdacht unserer Deutung nach einer durchgehenden allegorischen Tugend-Laster-Disposition des Dürerschen Melan44
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cholieblattes“154 schreibt; doch hindern ihn die Bedenken nicht, dass er in diesem ausgeweiteten tugendprogrammatischen Kontext den auf einem als Fortuna-Sinnbild gedeuteten Mühlstein sitzenden Putto „zum Lasterprotagonisten (erklärt)“155 – eine mehr als nur überraschende Volte in der Deutung des Putto, der ja auch als Sanguineus-Glückskind verstanden wird. Für eine Promotion zum Lasterrepräsentanten gibt es in Auftritt und Erscheinungsbild des Putto melancholicus, mag er auch noch so finster „blicken“, nicht das geringste Anzeichen. Im Unterschied zu seinem Künstlerkollegen, der den Titelholzschnitt für Carolus Bovillus’ Liber de sapiente mit den auffallend gegensätzlichen Sapientia / Fortuna- bzw.Tugend / Laster-Figuren geschaffen hat, „konfrontiert“ Dürer, wie Schuster notiert, auf dem Stich seine Melencolia-Virtuspersonifikation aber gerade nicht mit einem „gleichgewichtigen Lastervertreter“156, obwohl der sogar zum „Lasterprotagonisten“ avancierte Putto dafür eigentlich die Idealbesetzung wäre. Doch kam für eine solche gleichwertige Lasterrepräsentanten-Rolle der Putto als Gegenbild zur Virtus-Melencolia offensichtlich nicht in Frage. Denn der von Schuster gerade noch ausdrücklich zum „Lasterprotagonisten“ proklamierte Putto wird gleich darauf nicht weniger ausdrücklich mit Blick auf den Melencolia-Stich nicht als „Lasterprotagonist“ identifiziert, sondern als etwas ganz Anderes: als ein „sich übender Putto“, in dem sich „eine unverschuldete kindliche Unwissenheit im Zustande des Lernens zeigt“157. Vom Lasterprotagonisten zum in kindlicher Unschuld und Unwissenheit lernenden Putto – wieder so eine mehr als nur irritierende Deutungsvolte. Doch diesmal trifft sie zumindest mit dem Hinweis auf den lernenden, übenden und kindliches Unwissen demonstrierenden Putto einen Motiv-Aspekt, der das Verhältnis von Putto und Melencolia adäquat als Schüler-LehrerinVerhältnis bezeichnet. Es sind die Tafel und der Griffel / Stift, die der Putto als seine Attribute in den Händen hält und die ihn als potentiell „aufschreibenden“ oder sich vielleicht erst „um die Anfangsgründe des Schreibens“ mühenden „Schüler“ der von Schuster als „Lehrmeisterin der Jugend“ bezeichneten Melencolia ausweisen.158 Zur Zeit ist freilich der „Unterricht“ erst einmal unterbrochen. Lehren und Lernen befinden sich – wie es der Kupferstich auch sonst mit zahlreichen anderen Motiven zeigt – in suspensione actionis. So ist nicht nur das aktive Lehrund Lernverhältnis zwischen kindlichem Putto und erwachsener Melencolia temporär aufgehoben, sondern auch ihre persönlich zwischenmenschliche 45
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12 Melencolia I, Detail
Beziehung. Melencolia und Putto sind markant voneinander separiert, wie es der große rechte Flügel der Frauengestalt signalisiert. Auch wenn sich ihre Flügel möglicherweise leicht berühren, so haben Melencolia und Putto ganz offensichtlich nichts miteinander zu tun, sich nichts zu sagen.Vielmehr sitzen sie untätig nebeneinander in ihrer von Melancholie beherrschten Welt, in der sie auf je eigene, auf ähnliche, aber auch ganz unterschiedliche Weise wie gefangen sind (Abb. 12). ***
Handelt es sich beim Lehrerin-Schüler-Verhältnis von Melencolia und Putto weniger um eine gegensätzliche als vielmehr eher um eine komplementäre Beziehung, so verwandelt sich das Verhältnis der beiden Figuren auf Dürers Stich in ein eindeutiges Gegensatz- oder gar Konfrontationsverhältnis, wenn die Melencolia als „der Weise“ und der Putto als „der Nicht-Weise“ interpretiert werden. So bei Peter-Klaus Schuster, der den Traktat Liber de sapiente 46
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des französischen Theologen und Philosophen Carolus Bovillus (1479–1567) „als die erstaunlichste Parallele zum Dürerschen Melancholiekupferstich“ bezeichnet; und zwar sowohl was die systematische Entfaltung humanistischen Denkens angeht als auch seine sinnfällige Veranschaulichung „in didaktisch einprägsamen Holzschnitten“. In dieser Abhandlung werde „durchgängig dem tugendhaften Weisen [dem „Sapiens“] der fortunahörige Nicht-Weise, der Insipiens, gegenübergestellt“159. „Während das Bovillsche Titelblatt jedoch die Personifikationen der Sapientia und Fortuna einander gegenüberstellt, sind bei Dürer in der Melancholiefigur und im Putto, analog dem Text des Bovillschen ‚Liber de Sapiente‘, der Weise und der Nicht-Weise einander kontrastiert.“160 Dieses Kontrastprogramm, wie es sich sowohl bei Bovillus in seinem „illustrierten philosophischen System des ‚Liber de Sapiente‘“ als auch bei Dürer auf seinem Kupferstich Melencolia I manifestiere, entfaltet Schuster so gut wie in allen Einzelheiten, um „erstaunlich weitgehend(e)“ Übereinstimmungen zwischen dem philosophischen Traktat und dem Kupferstich zu verdeutlichen. Melencolia I erweise sich somit als ein Werk, in dem Dürers „humanistisches Weltbild gleichsam auf den Begriff gebracht“ werde und insofern „als ein philosophiegeschichtliches Dokument von besonderem Rang“ gelesen werden könne.161 Als ein solches geistesgeschichtliches Dokument liest und versteht Schuster Dürers Melencolia I, wobei er jedoch gern einmal den konkreten Kontakt zu dem auf dem Kunstwerk anschaulich Gegebenen verliert, also das, was man die Bildhaftung nennen könnte. So auch hier beim allzu pauschalen Vergleich zwischen dem Bovillus-Traktat und dem – wie bereits referiert – in eine Virtus- und eine Fortuna-Seite „zerlegten“ Dürer-Stich: „Gibt die Fortunaseite bei Dürer [speziell in der halbierten Putto-Figur] ein umfassendes Portrait des NichtWeisen, so sind in der Melancholiefigur auf der Virtusseite alle Eigenschaften des Bovillschen Weisen versammelt.“162 Zweifellos ist der Putto – um nur bei ihm zu bleiben – allein schon aufgrund seines Kindseins in bestimmter Weise als ein Nicht-Weiser, Unwissender oder eben als ein Lernender zu sehen; doch so problemlos, wie Schuster weitere Ähnlichkeiten, ja umfassend Gleichheiten zwischen Dürers Putto und Bovillus’ Nicht-Weisem diagnostiziert oder herstellt, geht es nicht. So wird der Putto als „noch unbelasteter Sanguineus“ – als was er, wie bereits erläutert, nicht gesehen werden kann – in einen „auffälligen temperamentischen Kontrast zum ernsten Tiefsinn“ der Melencolia gestellt. Diesen beiden Kontrastfiguren habe Dürer „all jene Eigenschaften beigelegt, die Bovillus seinem Gegensatzpaar 47
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von Weisen und Nicht-Weisen zuspricht“. So seien – wie in der Melencolia „alle Eigenschaften des Bovillschen Weisen versammelt (sind)“ – auch „alle Äußerungen des Bovillus über den Nicht-Weisen bei Dürer im Putto dargestellt“: „So hat Dürers Putto mit dem Nicht-Weisen des Bovillus nicht nur das sanguine Temperament gemeinsam. Sondern wie von diesem ausgesagt, weiß auch Dürers Putto seine Vernunft noch nicht zu gebrauchen und genießt arglos die Güter seiner Jugend: ‚(…) fruar ergo bonis in iuventute, (…)‘.“163 Dass Dürers Putto seine Vernunft noch nicht so recht zu gebrauchen weiß, ist so selbstverständlich, wie es in der Natur seines Kindseins liegt. Doch dass der Putto „arglos die Güter seiner Jugend (genießt)“, kann nun – allein schon aufgrund seiner tief melancholischen und knabenhaft kindlichen Erscheinung – wirklich nicht behauptet werden. Das ahnt auch Schuster. Und so verschiebt er, sich selber gewissermaßen korrigierend, einfach die Bedeutung des lateinischen Begriffs iuventus, der „für kräftiges Mannesalter bis zum 40. Lebensjahre“ stehen kann164, ins Kindliche: „Im Falle von Dürers Putto bedeutet ‚iuventus‘ nun allerdings wirklich die unschuldige Kindheit und impliziert noch nicht, wie bei den Vorwürfen des Bovillus an den NichtWeisen,Versäumnisse im besten Jünglings- und Mannesalter.“165 Schuster nimmt hier eine gravierende Wortbedeutungsveränderung vor, indem er, ohne Rücksicht auf die eigentliche Bedeutung von iuventus, wie sie für Bovillus’ Gegenüberstellung von Weisem und Nicht-Weisem entscheidend ist, das in iuventute gleichsam ins Kindliche verjüngt und als ein in pueritia liest und versteht: als „in der Kindheit, im Knabenalter“166. In Peter-Klaus Schusters Versuch, Bovillus’ Nicht-Weisen und Dürers Melencolia-Putto für sein Konzeptkorsett passabel zu machen, zeigt sich an einem sehr aufschlussreichen Detail die Fragwürdigkeit seiner parallelisierenden Anstrengungen. Denn wenn Bovillus, wie Schuster referiert, den Nicht-Weisen als einen Menschen in iuventute – „im besten Jünglings- und Mannesalter“ – charakterisiert, der für seine Situation, sein Handeln, seine „Versäumnisse“ oder Fehler verantwortlich ist, dem darum sogar auch „Vorwürfe“ gemacht werden können, der zur Rechenschaft gezogen und als veritabler Insipiens bezeichnet werden kann, so ist der kindlich-puerile Melencolia-Putto mit einer solchen auch noch arglos die Güter ihrer Jugend genießenden, „fortunahörigen“ jugendlich-erwachsenen Person nicht zu vergleichen. Der Putto ist ein Kind. Er ist unschuldig, noch nicht verantwortlich. Er ist weder ein Weiser noch ein Nicht-Weiser. Auch oder gerade als in pueritia gesehen, genießt der Putto weder die Güter seiner frühen Lebenszeit noch freut er 48
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sich arglos seines jungen Daseins. Wie schon einmal bemerkt:Von „ergetzlikeit seins geblütz“ ist beim alles andere als sanguinischen Melencolia-Putto keine Spur zu erkennen.167 Als noch zusätzlich zu diesem Befund besonders fragwürdig erweist sich das von Schuster mit Blick auf den Putto zitierte und ihm sogar in den Mund gelegte (…) fruar ergo bonis in iuventute (…); denn bei ihm handelt es sich, wie die Auslassungen zeigen, hier nur um den ersten Teil eines amputierten und dadurch sinnentstellten Satzes, der – aus dem komplexen Zusammenhang herausisoliert – Schuster zur Charakterisierung des Putto als abbreviatorisch bequeme Formel dient, um den wiederholt beschworenen Zustand des sanguinischen Glückskind-Putto erneut zu akzentuieren.168 Bei Bovillus jedoch lautet der Satz vollständig so: „Fruar ergo bonis in iuventute, comedam et bibam; cras enim moriar. – So werde ich mich an den Gütern der Jugend ergötzen, werde schlemmen und zechen; denn morgen bin ich tot.“169 Dieser als Resümee und als lebensprogrammatische Selbstaufforderung formulierte und zu verstehende Satz hat seinen bedenkenswerten Kontext im 2. Kapitel des Buches der Weisheit des Alten Testamentes. Auf ihn ist hier ein wenig ausführlicher aufmerksam zu machen, um deutlich aufzeigen zu können, in welchem philosophischtheologischen, religiös-moralischen Zusammenhang Bovillus seinen Insipiens, den Nicht-Weisen sieht. Im ersten Teil des 2. Kapitels des Buches der Weisheit, an dessen von Carolus Bovillus zwar als Zitat gekennzeichnete, aber nur paraphrasiert wiedergegebene Verse 1–7 dieses Zitat erinnert, geht es erst einmal um etwas ganz anderes als nur um jugendlich sorglosen Lebensgenuss. Sein Thema ist das radikalnihilistische Welt- und Menschenbild des Vanitas! Vanitatum vanitas!, wie es von den Frevlern („impii“) den Gerechten („iusti“) gegenüber propagiert wird. So heißt es gleich am Anfang: „Kurz und traurig ist unser Leben; / für das Ende des Menschen gibt es keine Arznei, / und man kennt keinen, der aus der Welt des Todes befreit. / / Durch Zufall sind wir geworden, / und danach werden wir sein, als wären wir nie gewesen.“ Und so geht das einige Verse lang weiter mit der vernichtenden Daseinsdiagnose, dass unser Leben „vorübergeht wie die Spur einer Wolke“, „wie ein Schatten“ oder wie durch die Strahlen der Sonne sich auflösender Nebel. Um dann in aller Entschiedenheit aus der heillosen Existenz-Analyse die einzig mögliche Konsequenz für den Menschen zu ziehen und in Vers 6, auf den sich Bovillus’ Fruar ergo…-Paraphrase bezieht, als Lebensdevise auszugeben: „Venite ergo, et fruamur bonis, quae sunt, / et utamur creatura tamquam 49
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in iuventute sollicite. – Auf, laßt uns [also] die Güter des Lebens genießen / und die Schöpfung auskosten, wie es der Jugend zusteht.“170 Der Venite ergo, et fruamur bonis…-Aufruf gilt jedoch – worauf hier hinzuweisen ist – nicht nur dem „Auskosten der Schöpfung“, dem Genießen „erlesener Weine“ und aller anderen „Güter des Lebens“; angesichts der „Alles ist nichts“-Erfahrung bleibt es nicht nur beim Pflücken von und beim Sich-Bekränzen mit Blumen, nicht nur bei „Zeichen der Fröhlichkeit“ und beim „ausgelassenen Treiben“ lebenstrunkener Jugend.171 In den Versen 2,10–20 des Buches der Weisheit geht es um ganz andere, um unheilvolle Zeichen.172 Schon der isolierte Halbsatz mit dem eher harmlosen Fruar ergo bonis in iuventute…, das Schuster dem Putto nicht nur zuschreibt, sondern den Putto selber als Offenbarung seiner Stimmung gleichsam als munteres Lebensmotto artikulieren lässt, kann nicht auf den Putto melancholicus und seine aktuelle Situation, in der ihm nicht gerade zu arglosem Genuss zu Mute ist, übertragen werden. Erst recht erwiese sich der Versuch als unmöglich, dem Putto den kompletten Satz zuzuordnen: das von Carolus Bovillus im biblischen Kontext verzweifelter Vanitas-Gedanken belassene, doch variierte und gleichzeitig verschärfte, weil radikaler als im Bibelvers formulierte und noch als IchAussage des Insipiens personalisierte Fruar ergo bonis in iuventute, – mit dem von Schuster weggelassenen – comedam et bibam; cras enim moriar. Wie schon in Schusters problematischer Umdeutung des in iuventute in ein in pueritia, so zeigt sich auch hier beim selektiven Zitieren ohne Rücksicht auf den Kontext, dass die Behauptung, „alle Äußerungen des Bovillus über den Nicht-Weisen bei Dürer im Putto dargestellt“ sehen zu können173, nicht zu verifizieren ist. Peter-Klaus Schusters extensiv Gleichheiten sehender oder Vergleichbarkeiten auflistender und dabei über bedeutende Indizien-Unterschiede souverän hinwegschauender Vergleich von Dürers Melencolia-Kupferstich und Bovillus’ Liber de Sapiente erweckt insgesamt den Eindruck, als habe Carolus Bovillus seinen Traktat bereits im Hinblick auf eine mögliche bildliche Darstellung durch Albrecht Dürer verfasst und als habe Dürer diese Intention des Bovillus dann auch entsprechend als Aufforderung begriffen und sie nur allzu gern so umfassend wie möglich und z. B. mit dem Blick auf den Putto auch „wortwörtlich“ realisiert.174
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ZWEITES KAPITEL: DIE MELENCOLIA
ALLES STEHT STILL
W
ill man unbedingt in dem Putto den „geheimen Spiritus rector“175 des Stiches erkennen, dann jedenfalls nicht in der Rolle eines Repräsentanten des sanguinischen Temperamentes und paradiesischen „Glückszustands“, auch nicht intensiver Aktivität und beglückender Schaffensfreude, sondern in der Rolle eines Repräsentanten bedrückender Passivität und Schwermut. So wie er „in sich verloren […] zusammengebückt“ auf dem Mühlstein sitzt, kann der Putto durchaus als „ein Dolmetscher der in der Umgebung herrschenden Stimmung“ angesehen werden176; vor allem auch mit Blick auf die zahlreichen Geräte und diversen Gegenstände, die wie verloren, unbrauchbar oder ausgemustert entweder einigermaßen unordentlich verstreut zu Füßen der Melencolia auf dem Boden liegen177 oder über ihr und dem Putto an der Wand des Gebäudes zwar ordentlich, aber nicht unbedingt sinnvoll positioniert lehnen bzw. hängen. Bei diesen Gerätschaften handelt es sich um: ein Feuerbecken mit einem dreieckigen Schmelztiegel auf züngelnden Flammen, eine Feuerzange, einen Hammer, ein Tintenfass mit Schreibzeugetui, eine Zange, eine Kugel, ein Modellholz, einen Hobel, eine Säge, ein Lineal, vier Nägel und einen Blasebalg, von dem nur die Spitze unter dem Gewand der Melencolia sichtbar ist; an den Wänden des Gebäudes lehnt eine Leiter178 und hängen eine Waage, eine Sand- und eine Sonnenuhr und über einem Magischen Quadrat, das in die Wand eingelassen ist, eine kleine Glocke mit nach außen geführtem Zugseil, das irgendwo befestigt ist. Zur Ausstattung – gewissermaßen zum Mobiliar – der von der Melencolia und dem Putto gleichsam bewohnten himmeloffenen Werkstatt gehören noch ein imposant dominanter, so vielseitig großflächig wie kunstvoll bearbeiteter Felsbrocken, der „wie ein Fremdkörper aus einer anderen Welt“179 wirkt, ein an das Bauwerk gelehnter Mühlstein, auf dem der Putto sitzt, und – neben dem Putto mit Griffel und Tafel und der Melencolia mit Buch und Zirkel, Schlüssel und Beutel – als das dritte Lebewesen ein eher unterernährt wirkender, in sich zusammengerollt ruhender oder schlafender Hund. 51
ZWEITES KAPITEL
13 Albrecht Dürer Hieronymus im Gehäus, 1514
Dieses unaufgeräumte „Atelier“ im Freien, das sich wesentlich vom geschlossenen „Gehäus“ der aufgeräumten und ganz anders illuminierten Studierstube des heiligen Hieronymus auf Dürers entsprechendem Kupferstich ebenfalls aus dem Jahr 1514 (Abb. 13) unterscheidet, scheint bei aller Offenheit doch so etwas wie ein Interieur bzw. ein Welt-Innenraum oder Mikrokosmos zu sein, der jedoch einen durch den wuchtigen polyedrischen Steinblock und 52
DIE MELENCHOLIA
14 Melencolia I, Detail
die hohe Leiter teilweise verstellten Ausblick auf ein Exterieur bzw. einen Welt-Außenraum oder Makrokosmos freigibt. Der Blick der Melencolia ginge, wollte sie ihn in diese Richtung denn wenden, sowohl auf ein fast schon beunruhigend ruhiges Meer samt besiedelter Küstenlandschaft mit stattlichen Bauwerken und Segelschiffen als auch auf den Himmel, an dem sich denkwürdige kosmische Phänomene ereignen: Ein alles überwölbender Regenbogen erscheint ebenso wie ein aus dem Weltraum herabstürzender und verglühender, doch im Verglühen noch unendlich raumfüllend seine Strahlen aussendender Komet mit einem grandiosen Feuerlichtschweif.180 Vor diesem kosmisch phänomenalen Hintergrund und über dem silbrig helldunkel schimmernden windstillen Meer erscheint außerdem noch – als ein ganz besonderes Phänomen – ein hybrides Flügelwesen: ein drachen-, fledermaus- oder flughundähnliches Tier, das den hell ausgeleuchteten Titulus des Kupferstiches wie ein Spruchband in seinen Krallen hält und der ganzen Welt unübersehbar präsentiert: Melencolia I (Abb. 14)181. Ob eventuell die Werkzeuge oder Objekte im Innenraum der Melencolia anders zu identifizieren, zu benennen oder wie sie bestimmten Aktivitäten der Melencolia oder auch des Putto allegorisch zuzuordnen wären182, ist eher sekundär von Bedeutung. Primär entscheidend ist, was ihnen allen – bis auf zwei Ausnahmen – gemeinsam ist: Sie sind außer Gebrauch, außer Dienst.183 53
ZWEITES KAPITEL
Mit oder an ihnen wird aktuell nicht gearbeitet. Dieses Außerbetrieb-, Beiseitegelegt- oder Abgestellt-Sein soll hier einmal in Einzelheiten anschaulich durchdekliniert werden, um die vorherrschende intensive Stimmung des Bildes konkret fassbar zu machen und zu charakterisieren: An der Kugel oder an dem so imposanten wie vielseitig interessanten Steinblock wird nichts (z. B. mit einem Zirkel) studiert, Hammer und Zange kommen nicht zum Einsatz, es wird mit dem Lineal nichts gemessen, nichts mit dem Modellholz geformt, nichts mit der Säge zerteilt, mit dem Hobel nichts geglättet, nichts mit den Schreibutensilien notiert, mit den Nägeln nichts fixiert, nichts mit dem Blasebalg an einer Feuerstelle entfacht, nichts auf der Leiter erreicht, mit der Waage nichts gewogen, die Sonnenuhr zeigt keine, die Sanduhr nur eine unbestimmte Zeit an, mit dem von einem Teppich bedeckten und zu einem Sitzplatz umfunktionierten Mühlstein wird nichts gemahlen, nichts durch Glockenschlag oder Glockengeläut verkündet; und auch die Zahlenreihen des Magischen Quadrates, das sich im Rücken der ihre Instrumente (Tafel und Griffel, Zirkel, Buch, Schlüssel und Beutel) aktuell nicht gebrauchenden Hauptpersonen des Stiches – des untätigen Putto und der innehaltenden Melencolia – in die Wand eingemauert befindet, führen, ob jeweils waagerecht, senkrecht oder diagonal summiert, zu nichts anderem als immer zum selben Resultat: zur Ziffer 34.184 ***
„Nichts geschieht mehr.“185 Alles steht still. Bis auf die züngelnden Flammen unter einem Topf auf dem Feuerkessel links neben dem massiven Steinblock; das Feuer wird freilich nur so lange weiter brennen, wie das Brennmaterial nicht aufgebraucht ist oder – von wem auch immer – rechtzeitig neues Brennmaterial nachgelegt wird (s. Abb. 17). Und bis auf den sekundenfeinen Sand in der Sanduhr über der Melencolia-Figur, der schon bis zur Hälfte aus der oberen in die untere Glasgefäßhälfte hindurchgerieselt ist und weiter und weiter verrinnen wird bis zum letzten Sandkorn, bis zum Zeitsandstillstand; es sei denn, dass das Stundenglas – durch wen auch immer – zum rechten Zeitpunkt erneut umgedreht wird, das Rinnen des Sandes von oben nach unten und somit das Verrinnen der Zeit, dem nicht zu entrinnen ist, wieder von vorn beginnen und mit dem erneuten Zeitmessen und Stundenzählen das Leben wie auch immer weitergehen kann (Abb. 15 und 16). Falls es sich denn – was vielleicht zu bedenken ist – wirklich um ein praktisch funktionstüchtiges Stundenglas handeln sollte. Bei genauerem Anschauen 54
DIE MELENCHOLIA
der Stundenglassanduhr stellt sich die Frage, wie denn nach Ablauf der Stundenzeit das Umdrehen oder „Aufziehen“ der so großen Uhr mit ihren beiden voluminös kelchförmigen Glasschalenhälften konkret zu bewerkstelligen wäre, um eine neue Stundenzeit anzeigen zu können. Um das auffallend übergroße Glasgefäß, das sich in ein kunstvoll gearbeitetes, gotisch anmutendes Gehäuse mit Säulchen wie Gitterstäben fest integriert befindet, seitwärts frei um 180 Grad drehen und den Sand wieder in Anfangsposition bringen zu können, reichte es sicherlich nicht, den umhüllenden Rahmen einfach nur auf die eine oder andere Seite auf- und umzuklappen; vielmehr müsste doch wohl das ganze die Glasschalen einfassende Schmuckgehäuse, das die Schalen wie ein kostbarer Schrein um- oder einschließt und die Sanduhr wie eine ZeitMonstranz erscheinen lässt, samt reich gestalteter Basis, den Säulen und dem verzierten Baldachin abgenommen und nach dem Umdrehen des Glasgefäßes wieder aufgesetzt werden. Keine einfache, eine zeitaufwändige Aktion. Solch praktisch funktionsorientierte Fragen erweisen sich hier nicht, wie es vielleicht scheinen mag, als unangebracht realistisch oder gegenstandslos. Denn sie können in aller Deutlichkeit auf einen wesentlichen Aspekt sowohl einiger Gegenstände, die auf dem Stich zu sehen sind, als auch der Welt der Melencolia im Ganzen aufmerksam machen: auf ihre konstitutive konkret-symbolische
15 Melencolia I, Detail
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ZWEITES KAPITEL
oder real-surreale Zweideutigkeit oder Zwielichtigkeit. So führt die so sachliche Frage nach der Praktikabilität der wie fest installierten spiegelglanzhellen Sanduhr im Atelier der Melencolia indirekt, doch mit Nachdruck zur Einsicht, sie eben nicht nur unter dem realistischen Aspekt des Gebrauches als Stundenuhr zu sehen, sondern – gerade weil bei der Frage nach der konkreten Funktionstüchtigkeit der Sanduhr Defizitprobleme sichtbar werden – ihren allegorisch-symbolischen Mehrwert oder ihre Anderswertigkeit zu erkennen und zu deuten; sie kann dann als eine Art Lebenszeituhr verstanden werden, die mit den eingeschlossenen und nicht mehr umkehrbaren, halb leer- bzw. halb vollgelaufenen großen Glaskelchehälften wie ein Memento mori oder Et respice finem auf die Hälfte des Lebens verweist, auf das Vergangensein und das definitiv unaufhaltsame Vergehen der Lebenszeit und ihr Ende.186 Im wie surrealistisch wirkenden Stillleben187 der Melencolia I gibt es unter der Fülle stillgelegter Gegenstände zwei weitere Objekte, die noch ganz speziell und unmittelbar funktionslos und unbrauchbar erscheinen; es sind – neben dem Stundenglas – die beiden anderen Zeitmessungs- oder ZeitanzeigeInstrumente, die – noch eindeutiger als das Stundenglas – nicht als praktische Utensilien, sondern als bedeutsame Memorabilien anzusehen sind: die Sonnenuhr und die Glocke. Die kleine Glocke (Abb. 15), die alles andere als freischwingend funktionstüchtig oder „leicht beweglich“188 am Gesims direkt an der Wand des Gebäudes hängt, taugt zu nichts, obwohl sie wie zum Geläutetwerden fest montiert ist. Sie kann mit dem zum Gebrauch angebrachen Zugseil, dessen Ende außerhalb des Bildes irgendwo befestigt ist, nur sehr bedingt, wenn überhaupt, in Bewegung gesetzt werden; entweder schlägt sie bei einem Versuch, sie ins Schwingen zu bringen und zu läuten, frontal an die Wand, oder sie schrammt so an der Mauer entlang, dass kein ordentlicher Stundenschlag und kein akzeptables Glockengeläut, das bestimmte Tageszeiten anzeigen oder Tagesereignisse verkünden soll, zustande kommen kann, sondern höchstens ein erbärmliches Gebimmel. Zum ordentlich vernehmbaren Glockengeläut und zum zeitpräzisen Glockenschlag fehlt ihr der funktionsadäquate Schwingungsfreiraum, den eine Glocke zur so schwung- wie klangvollen Entfaltung ihrer Bestimmung einfach braucht. Die MelencoliaGlocke dient konkret zu nichts.189 Sie ist – praktisch gesehen – fehl am Platz, doch – symbolisch gesehen – befindet sie sich am rechten Ort. So wird sie umso mehr zum Sinnbild, ist sie als Memento zu verstehen. Genau wie die Sanduhr und in ganz außergewöhnlicher Weise wie die über der Sanduhr zu sehende Sonnenuhr (Abb. 16).190 Auch sie taugt zu nichts. 56
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Auch sie ist fehl am Platz und doch am rechten Ort. Auch ihr, die direkt am und vor allem direkt unter dem vorspringenden, verschatteten und verschattenden Gesims des Bauwerkes deplatziert angebracht ist, fehlt der offene Freiraum, den sie benötigt, um ihre Aufgabe adäquat zu erfüllen. Außerdem ist der hervorragende Gnomon der Sonnenuhr, der durch seinen Schattenwurf Zeit und Stunden eigentlich anzeigen sollte, zwar vorhanden, doch wirft dieser kaum zu erkennende Zeiger oder Schattenstab – als sei er nicht vorhanden – hier gerade keinen Schatten und signalisiert er keine Zeitangabe.191 Die Sonnenuhr weist nicht nur – wie die Glocke – einen praktischen, einen technisch-funktionalen Installationsfehler auf, sondern auch noch einen essentiellen Defekt. Sie erfüllt merkwürdigerweise ihre letztlich kosmische Aufgabe nicht, obwohl sie doch auch – ihr 16 Melencolia I, Detail sichelförmiges Zifferblatt deutlich, ihr Gnomon eher schwach – vom Schein einer Lichtquelle192 erfasst wird, die die Szene des offenen Ateliers der Melencolia von rechts oben her illuminiert bzw. entsprechend viele Objekte markanten Schatten werfen lässt; z. B. die Sanduhr direkt unter der Sonnenuhr. Um es emphatisch zu sagen: Ein Naturgesetz ist suspendiert. Das hat etwas Unheimliches. Denn die Sonnenuhr empfängt zwar himmlisches Licht aus dem Universum, aber sie ignoriert es gleichsam; und so kann sie weder den Gang und Stand der Sonne noch den Lauf und Stand der Erdenzeit vermitteln, weil der Gnomon das Sonnenlicht nicht in ein Schattensignal zur Zeitanzeige für die Menschen umwandelt. Hier manifestiert sich auf besonders eklatante Weise das Zwielichtige von Irreal-Surrealem und Konkret-Realem des Dürerschen Kupferstichs, vor allem wenn man die Sonnenuhr in Konstellation mit der Sanduhr sieht. Die Sonnenuhr geht nicht. Ihr Zeiger wirft keinen Schatten. Die Zeit steht still. Und doch geht und vergeht sie weiter: Im Stundenglas der Sanduhr genau unter der in ihrer Funktion als Instrument der Zeitanzeige suspendierten Sonnenuhr rinnt der Sand und verrinnt die Zeit. ***
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ZWEITES KAPITEL
Der Strahl des durch den Engpass des Stundenglases rinnenden Sandes ist als Hinweis auf die verrinnende Zeit zwar mehr oder weniger deutlich zu erkennen; als eine Art Rinnsal bleibt er jedoch unauffällig und in seiner Signalwirkung marginal hintergründig. Denn der erste Gesamteindruck, der durch Dürers Melencolia I-Kupferstich vermittelt wird und der sich dem Betrachter dieses geheimnisvollen Denkbildes nach einer längeren Phase der versuchten Orientierung im Chaos des Kosmos’ der Melencolia aufdrängt, entspricht doch genau jenem Eindruck, den die in ihrer Funktion suspendierte Sonnenuhr und Glocke signalisieren: der Eindruck des Stillstehens der Zeit und – damit verbunden – der Eindruck eines An- oder Innehaltens, einer so intensiven wie extensiven Stille, gleichsam einer großen, einer sogar weltweiten Fermate.193 Denn der Stillstand der Ereignislosigkeit betrifft ja nicht nur die Innenwelt des mit sozusagen unbeschäftigtem Gerät angefüllten Freilichtateliers der Melencolia, in dem alles in aller Deutlichkeit den Eindruck des Stillstehens evoziert: die reglos dasitzende und innehaltend untätige Melencolia, der tief in sich versunkene und ebenfalls untätige Putto194, der schlafende, in sich zusammengekrochene Hund195, die ausbalancierte Waage, die stillgestellte Glocke, die nicht funktionierende Sonnenuhr, die ruhig liegende Kugel, der aus seinem Kreislauf entlassene Mühlstein und speziell der massige, unbeweglich daliegende, zu einem Polyeder kunstvoll geformte Steinblock oder Felsbrocken196, dem ein irritierend heller, als figürliches Gebilde bedenkenswerter oder fragwürdiger Fleck eingezeichnet ist, der verschiedentlich als Totenkopf gedeutet wird (Abb. 17).197 Auch die Außenwelt zeigt sich in großer, in fast schon unheimlicher Ruhe. Da ist das sich bis zum Horizont erstreckende weite windstille Meer; und da ist die Küstenlandschaft mit Städten, Häfen und vor Anker liegenden Segelschiffen, die wegen der herrschenden Flaute nicht auf die hohe See hinausfahren können. Alles ist von einer Ruhe erfasst, die sich – so darf man extrapolieren – über die ganze Erde ausgebreitet hat, auf ihr lähmend zu lasten und alle Lebewesen – wie stellvertretend den Hund, den geflügelten Putto, die geflügelte Melencolia – im Bann einer globalen Regungs- oder Leblosigkeit gefangenzuhalten, zu arretieren scheint. Nur im Weltall, am Firmament geschehen Zeichen und Wunder, werden – weder vom Putto noch von der Melencolia wahrgenommene – kosmische Großereignisse als außerordentlich grandiose, jedoch – und das ist bedeutsam – momentane, wieder schnell verschwindende oder verlöschende Lichtepipha58
DIE MELENCHOLIA
17 Melencolia I, Detail
nien sichtbar (s. Abb. 14). Ein aufglühend verglühender Komet leuchtet auf, der, einen gigantischen Feuerschweif produzierend, in seinem großartigen Fallen unendlich viele Lichtstrahlen wie ein Feuerwerk über den ganzen Himmel in alle Richtungen aussendet; und ein sich kosmisch weiträumig über Himmel, Meer und Erde wunderbar rundender Regenbogen entfaltet seine ganze schnell vergängliche Pracht und Herrlichkeit. Und selbst das vor diesem kosmischen Hintergrund – mit den flüchtigen Lichtphänomenen des Kometen und des Regenbogens – zu sehende fledermausähnliche Wesen 59
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mit dem überhellen Melencolia I-Titulus in den Krallen erscheint gleich einer ephemeren Chimäre. Ganz am linken Rand über dem weiten Meer scheint dieses ungeheuer zweideutige Mischwesen mit energisch zielgerichtetem Blick und mit wie zum Schreien geöffnetem Mund aus dem Weltraum des Bildes in eine ganz andere Sphäre zu fliehen und zu verschwinden. LICHT UND SCHATTEN
Als „doppelte Lichterscheinung“ gehören Komet und Regenbogen zu jenen drei „unterschiedlichen Lichtquellen“, die, wie Peter-Klaus Schuster dargelegt hat198, die gesamte Melencolia-Szenerie mehr oder weniger beherrschen und für die verwirrend vielfältigen oder unheimlichen Lichtverhältnisse des Meisterstiches verantwortlich sind.199 Komet und Regenbogen verbreiten, so Schuster weiter, über dem nächtlichen Himmel einen „silbrigen Schein“ und über der „weiten Küstenlandschaft […] ein geheimnisvolles Zwielicht“ 200. So dominant freilich die transitorischen Lichtepiphanien des Kometen und Regenbogens als imposante Augenblicksereignisse am Firmament auch erscheinen mögen, ihr Licht oder ihre Helligkeit bleibt doch eher kosmisch hintergründig; sie belichten oder beleuchten die irdisch-maritime Szenerie eigentlich nicht oder doch nur sehr indirekt; z. B. insofern speziell das glühende Licht oder das strahlende Leuchten des Kometen auf der Oberfläche des Meeres einen – wie auch immer – eher diffusen Widerschein zu finden scheint.201 Himmel und Meer erscheinen als zwei ganz unterschiedlich belichtete Flächen, die sowohl durch den scharf markierten Horizontschnitt als auch durch die gegenläufigen Schraffuren – radial-ausstrahlend und horizontal-parallel – markant getrennt sind. Außerdem bleibt zu bedenken, dass es sich beim Regenbogen – im Gegensatz zum freilich auch nur kurz glühend aufleuchtenden und den Himmel erleuchtenden Kometen – nicht um eine Licht produzierende Erscheinung handelt, sondern um ein durch Licht (welches?) produziertes optisch-atmosphärisches Phänomen, das zwar als wunderbare Lichtinszenierung grandios in Erscheinung zu treten vermag, aber als Lichtquelle für die ganze Szenerie nicht in Frage kommt. Ganz anders als die zweite „hell strahlende Lichtquelle“.Von diesem „Licht des Vordergrundes“ bemerkt Schuster, dass es „rechts vor dem Bild gedacht werden muß“ und dass es für das ungewöhnlich helle Licht der „von rechts vorne beleuchtete(n) Melancholiefigur“ verantwortlich ist.202 Und schließlich die „rätselhafte, weil unsichtbare dritte Lichtquelle, die zuweilen mit dem 60
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Mondlicht identifiziert wird“203; von ihr heißt es, dass auch sie „die Melancholiefigur in helles Licht hüllt“204. Dass diese rechts über der Szene zu denkende und von rechts oben ihr Licht aussendende Lichtquelle, die z. B. die Sanduhr eindeutig beleuchtet und einen markanten Schatten werfen lässt, ebenfalls die Melencolia-Figur in „helles Licht“ hüllen soll, dürfte kaum zu verifizieren sein. Doch wie dem im Einzelnen auch immer sein mag und wie die Lichtquellen genauer zu benennen wären: rätselhaft, weil unsichtbar, ist jedenfalls auch die zweite, die eigentliche Lichtquelle für die Melencolia-Figur, die rechts vorne vor dem Bild zu denken ist und die hier und da als Sonnenlicht bezeichnet wird.205 Wenn auch nicht unsichtbar, sondern überdeutlich sichtbar und mehr oder weniger eindeutig bestimmbar, so wirken Komet und Regenbogen – also, in Schusters Reihenfolge, die erste Lichtquelle –, die das Geheimnisvolle der insgesamt so zwielichtigen Szenerie durch ihre so auffällig doppellichtige Präsenz als „gleichzeitige Erscheinung“ noch steigern, doch auch „äußerst befremdlich“, also nicht weniger rätselhaft.206 Angesichts all dieser Licht-und-Schatten-Rätselhaftigkeiten kann es bei der Analyse und Interpretation des Dürerschen Kupferstichs nicht darum gehen, die auf ihm zu erkennenden Licht-Schatten-Phänomene jeweils einer entsprechenden bildimmanenten oder bildtranszendenten Lichtquelle eindeutig zuzuordnen, sondern nur darum, die diversen Helligkeitswerte einzelner Figuren bzw. Objekte aufmerksam zu beachten und zu benennen.207 Von sowohl rechts hoch oben als auch von rechts vorne unten – genauer lassen sich die Positionen der beiden entscheidenden Lichtquellen der Melencolia I wohl nicht bestimmen – fällt unterschiedlich helles Licht einerseits auf die so häuslich enge Szene des offenen Ateliers der Melencolia mit dem „seltsam zusammengedrängten Gewirr“208 im Vordergrund und andererseits auf die so weltweiträumige Ansicht des grenzenlosen Meeres und einer Küstenlandschaft im Hintergrund. Die von rechts unten einfallende „Hauptfülle des Lichtes“209 taucht die ganze linke Körperseite der imposant gewandeten Melencolia samt ihrem linken großen Flügel in sonnentaghelles, fast schon grelles Licht210; hinzukommen noch ein irritierend heller Lichtfleck über dem rechten Knie der Melencolia-Figur und exakte Lichtreflexe, die ihre rechte Hand und ihren Zirkel – als ihr bedeutsamstes Attribut – deutlich signieren. Nicht weniger illuminiert als die wie von einem Scheinwerfer seitlich angestrahlte, licht- und schattenkonturierte Melencolia präsentieren sich jeweils am linken Bildrand des Stiches auch noch die am Boden liegende Kugel (Abb. 18) und das über der Szene fliegende chimärische Fledermauswesen mit der so 61
ZWEITES KAPITEL
18 Melencolia I, Detail
hell wie möglich ausgeleuchteten Bildinschrift Melencolia I (s. Abb. 14).211 Aber auch die zahlreichen anderen Objekte und Lebewesen werden auf ihre Weise im Schein sei es des von rechts unten, sei es des von rechts oben leuchtenden Lichtes auf ganz unterschiedliche Weise sichtbar, werden von ihm berührt, erhalten schimmernden Glanz und werfen entsprechend mal mehr, mal weniger deutlich Schatten: das Gesims des turmartigen Bauwerkes im Hintergrund, die Glocke und ihr Zugseil, die Sonnen- und die Sanduhr, die Waage mit 62
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ihren metallen glänzenden Schalen, der Hobel, die Säge, das Schreibzeug, der Polyeder, der Hund und der Putto, dessen ebenfalls linke Körperseite – Kopf und Flügel, Arm und Hand, Bein und Fuß – vom Licht erfasst wird, wenn auch bedeutend weniger intensiv als bei der Melencolia. Und wie sogar das flammende Feuerbecken mit dem Schmelztiegel links hinter dem Steinblock im Licht erscheint, so auch das weite helldunkel silbern schimmernde Meer und die ferne besiedelte Küstenlandschaft mit kontrastreich hell leuchtend konturierten Hügeln und Bergen212, Landzungen oder Inseln, Bäumen und burgartig aufragendem Gebäude-Ensemble. ***
Bei so merkwürdig bedenkenswerten Lichtverhältnissen213 drängt sich gleich die Frage nach der Tages- oder Nachtzeit auf, in der die eigentliche Melencolia-Szene weniger spielt oder aufgeführt wird als vielmehr – gleich einem Stillleben oder emblematischen Sinnbild – wie festgehalten und ruhiggestellt erscheint. Leicht zu beantworten ist auch diese Frage nicht – wie die vielen anderen Fragen, mit denen Dürers geheimnisvoller Kupferstich seine Betrachter konfrontiert; vor allem deswegen, weil es der Künstler den Betrachtern seines Werkes außerordentlich – möglicherweise absichtlich214 – schwer gemacht hat, speziell „über die Beleuchtung ins Reine zu kommen“215, über die aporetischen Licht- und die entsprechend problematischen Zeitverhältnisse in seinem Meisterwerk zu einem Konsens zu finden. Da ist die Rede von einer „Stunde, die nicht mehr dem lichten Tag angehört“216, von „mondener Stunde“217, von „Dämmer- oder Nachtstunde“218, auch von „nächtlicher Szenerie“219, vom Nachthimmel220, den „gleißend ein fallender Komet und ein Regenbogen erleuchten“221, aber auch vom Dunkel des nächtlichen Himmels222, sogar von einem „schwarz gestrichenen Himmel“223. Außerdem fehlen auch nicht mehr oder weniger entschiedene Hinweise auf ein Mondlicht oder auf die „helle Mondnacht“224, in der der Regenbogen225 als ein „ungewöhnliches Zeichen der Astronomie“, nämlich als „Mond=Regenbogen“226, oder als Saturnring227 erscheint. Es ist, so heißt es, die Zeit der herrschenden Abenddämmerung, in der „die dem Licht entfliehende Fledermaus“, die „durch ihren phantastischen Drachenschwanz“ besonders unheimlich wirkt, ihren Flug beginnt und „wesentlich zum geheimnisvoll schaurigen Gesamteindruck des Dürerblattes beiträgt“228; vor allem auch durch ihre „schrillen Schreie“, die die Nachtstille „gespenstisch“ unterbrechen sollen.229 63
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Andererseits wird aber als Lichtquelle auch „eine rechts außerhalb stehende bedeckte Sonne“ entdeckt, die schwache Schatten werfe; die Sonnenuhr zeige unten „fast genau“ 12 Uhr an, woraus sich ergebe, dass eine „verhangene Vormittagssonne (herrscht)“, die sich freilich mit der „düsteren, verworrenen Gesamtstimmung“ der „Nachtszenerie“ bzw. mit dem „nächtlichen Himmel“ nicht vertrage, in den die mit kräftigen Tasthaaren auf der Nase ausgestattete Fledermaus als unheimliches „Nachttier“ hinausfliegt; so bleibt nur, eine „Tageszeitverwirrung“ zu diagnostizieren.230 Anderes als Tageszeitenverwirrung zu konstatieren, gelingt auch Ernst Rebel in seiner 1996 erschienenen Dürer-Biografie nicht; „offensichtlich Sonnenlicht“ beleuchte zwar als – im Gegensatz zum ganz „eigenen Licht“ des Kometen – „hellere, wärmere Lichtquelle“ den Melencolia-Schauplatz von vorne her teilweise; aber ob die „Sonne“ untergehe oder aufgehe, bleibt ebenso die Frage wie die nach der Bestimmung des Regenbogens, der möglicherweise als Mondregenbogen zu deuten sei. Insgesamt präsentiert sich die Szene als: „Eine nächtliche Szene, gewiß. Doch eine, deren Dunkelheit von verschiedenen Gestirnskräften und Himmelslichtern durchstrahlt ist […].“231 Ganz anders sieht es wiederum Wolf von Engelhardt; für ihn gibt es keine Tageszeitverwirrung, nur Tageszeiteindeutigkeit; nach seiner Sicht der Dinge präsentiert sich die Melencolia-Szene im Vordergrund letztlich am helllichten Tage: „Im Widerschein der mittäglichen Sonne im Süden und der am Nordhimmel niedergehenden Feuerkugel [des Kometen] ist auf dem irdischen Werkplatz alles tätige Leben erstarrt.“ Und noch deutlich eindeutiger: „Mitten am Tag – nicht in der Mondnacht – ist alles Arbeitszeug achtlos hingeworfen.“232 Auch für Martin Büchsel, der wie von Engelhardt das Fehlen des Zeigerschattens der Sonnenuhr nicht notiert, steht die Zeit fest, sogar fast minutengenau; doch es herrscht keine Tages-, keine Mittagszeit, sondern Nacht- oder genauer: Mitternachtzeit; nicht high noon wird diagnostiziert, sondern sozusagen high moon, denn – auch ohne Schattenwurf des Zeigers – die Sonnenuhr funktioniert der Nachtzeit entsprechend als Vollmonduhr: „Über dem Stundenglas ist eine Sonnenuhr angebracht. Die Sonnenuhr zeigt an, daß es Mitternacht ist. Es ist wohl kurz vor 24 Uhr. Das Seil der Glocke scheint gestrafft zu sein, um die mitternächtliche Stunde einzuläuten.“233 Raymond Klibansky, Erwin Panofsky und Fritz Saxl sprechen sich ganz entschieden gegen eine Sonne als Lichtquelle der Melencolia-Szenerie aus; sie plädieren für eine „Mondscheinbeleuchtung“ und für die entsprechende Tageszeitbestimmung.234 Für sie stellt sich die nicht von drei, sondern von 64
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zwei Lichtquellen beherrschte Situation folgendermaßen da: „Die Abenddämmerung, die durch eine Fledermaus bezeichnet wird, wird in diesem Bild magisch erhellt durch den Glanz der Himmelserscheinungen, der das Meer im Hintergrund phosphoreszierend aufleuchten läßt, während der Vordergrund von einem hoch am Himmel stehenden und scharfe Schatten werfenden Mond erleuchtet zu sein scheint.“235 Zwar wird auch der durch die Himmelserscheinungen produzierte Glanz, der die Abenddämmerung erhellt und das Meer aufleuchten lässt, eher unbestimmt als „magisch“ und „phosphoreszierend“ bezeichnet; doch ist seine Präsenz und seine Wirkung in keiner Weise fraglich, denn Komet und Himmelsbogen sind als eventuelle „Lichtquellen“ sichtbar. Ganz im Gegensatz zu der hoch am Himmel stehenden hellen, „scharfe Schatten“ produzierenden und den Vordergrund erleuchtenden anderen Lichtquelle: Sie ist nicht zu sehen. Aus diesem Grunde und aufgrund der gegebenen Lichtphänomene und Lichtverhältnisse ist sie auch nicht eindeutig zu identifizieren. So „scheint“ sie nur der Mond zu sein. Auch wenn Klibansky / Panofsky / Saxl einmal weniger vorsichtig formulieren und die Melencolia-Szene eindeutig als „in Mondscheinbeleuchtung gedacht“ bezeichnen und sie somit ausdrücklich in „einem bezeichnenden Gegensatz zu dem sonnendurchströmten Interieur des Hieronymus-Stiches“ (s. Abb. 13) begreifen, so schränken sie doch die behauptende Formulierung von der Mondscheinbeleuchtung gleich wieder ein, indem sie in Parenthese hinzufügen: „ – wenn man überhaupt so realistisch interpretieren will – “.236 Damit artikulieren sie ein zentrales hermeneutisches Problem, das sich bei der Identifizierung und Deutung des so ungemein mysteriösen Melencolia I-Stiches mit seiner „im Grunde völlig irrealen Bilderfindung“237 stellt.238 Auch und gerade bei dem Versuch, mit den irritierend mehrdeutigen Lichtverhältnissen klarzukommen, stellt sich dieses Problem, wie sich nicht nur bei Klibansky / Panofsky / Saxl deutlich manifestiert, wenn sie ihre entschieden realistische Identifizierung des Hauptlichtes der Melencolia-Szene als Mondlicht relativieren oder aufheben, indem sie die Lichtverhältnisse des Kupferstiches in einem ganz anderen Lichte sehen: „Die höchst phantastische, wahrhaft ‚zwielichtige‘ Gesamtbeleuchtung des Bildes ist nicht so sehr in den natürlichen Gegebenheiten einer bestimmten Tagesstunde begründet; vielmehr kennzeichnet sie das unheimliche Zwielicht eines Geistes, der seine Vorstellungen weder ins Dunkel zurückverweisen noch über sie ‚ins Klare kommen‘ kann.“239
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ZWEITES KAPITEL
IM ZWIELICHT
Hic tenebrae lucent, hic lux tenebrescit, ... Alanus ab Insulis240
Zwielicht. Das ist der Terminus, der am ehesten sowohl der schwarz-weißen, grau-hellen, clair-obscuren Gesamtgrundierung des Kupferstichs als auch seinen markanten bzw. undeutlichen Licht- und Schattenverhältnissen und somit auch der „zweifelhaftige(n) Vieldeutigkeit der Zeichen“241 entspricht, die Albrecht Dürer zur entsprechenden Illustration oder adäquaten Illumination seiner bildprogrammatisch inszenierten Melencolia-Gedanken gewählt hat.242 Und zwar durch den Einsatz diverser bildimmanenter und bildtranszendenter Lichtquellen für die Detaildarstellung des Himmels mit dem Kometen, Regenbogen, fliegenden Zwitterwesen und des ruhigen Meeres mit besiedelter Küstenlandschaft im Hintergrund; aber auch für die Beleuchtung des im Vordergrund zu sehenden imaginären Ortes auf Erden mit dem Turmgebäude und dem Freilichtatelier der Melencolia samt Werkzeugen, nützlichen Gerätschaften und Kunstgegenständen, das neben dem müde in sich eingerollten Hund zwei andere in sich ruhende Lebewesen gleichsam bewohnen: der Putto und die Melencolia. An einem meernahen Ort zur schönen weiten Aussicht haben sie sich eingefunden, haben, mehr schlecht als recht eingerichtet243, Platz genommen und sich auf ihre kindlich-naive oder professionelle Weise – wie auch immer – handwerklich-künstlerisch bzw. wissenschaftlich beschäftigt. Jetzt aber sind erst einmal alle Aktivitäten eingestellt. Und da sitzt sie nun im allumfassenden Zwielicht244 hoch über dem Meer in ihrem fernhin- wie himmeloffenen Studio-Interieur245 vor einem turmähnlichen Bauwerk am Boden auf einer Steinstufe, in die Dürer sein Monogramm und die Jahreszahl der Entstehung des Meisterstiches 1514 graviert hat: Melencolia, die allegorische Hauptperson des Kupferstiches (Abb. 19). Ganz anders ist sie dargestellt als eine Melancholiefigur, die Dürer, noch deutlich an traditionellen Melancholiebildern orientiert, in einer Vorstudie zur Melencolia I imaginiert und zeichnerisch konzipiert hat (Abb. 20). Da hat sozusagen ein ingeniöser allegorischer Paradigmenwechsel stattgefunden. Denn Dürer hat in der Melencolia „nicht eine bestimmte Erscheinungsform der Melancholie dargestellt, sondern ihr Wesen – ihr Wesen, dessen letzte Bestimmung eben in der ‚Polarität‘ beschlossen liegt, […]“246 oder, wie hier zu zeigen versucht 66
DIE MELENCHOLIA
19 Melencolia I, Detail
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20 Albrecht Dürer Studie zur Melencoliafigur, 1514
wird, in existenzieller Zwielichtigkeit, elementarer Zweideutigkeit. Durch diesen wesentlichen Paradigmenwechsel ist der Meisterstich Melencolia I zu jenem unausdenkbaren Denkbild geworden, als das er – sowohl mit seinem „neuen Ausdruckssinn“ als auch mit seinem „neuen Begriffsgehalt“ – in der Kunst-, Literatur- und Geistesgeschichte seit fünf Jahrhunderten provozierend präsent ist.247 Die Melencolia auf dem Meisterstich erscheint als stattliche, reich gekleidete Frau mit zwei imposanten, nicht angelegten, sondern deutlich geöffneten und präsentierten Flügeln248, mit offenem, erhobenem Blick aus dem verschatteten Gesicht, mit einem Zirkel in der rechten Hand, einem geschlossenen Buch unter dem rechten Arm, mit bekrönendem Blätterkranz auf dem Haupt und an ihrer linken Seite mit einem Schlüsselbund und einem voluminösen 68
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Beutel auf dem Fußboden249 (s. Abb. 8). Stünde sie einmal auf und entfaltete sie auch noch die großmächtigen Schwingen in ihrer ganzen Spannweite, dann wirkte sie wie eine überwältigende Nike-Erscheinung; dann sprengte sie buchstäblich nicht nur den Rahmen des Bildes, sondern in aller Evidenz alle perspektivischen Proportionen und räumlichen Dimensionen. Schon jetzt – in ihrer sitzenden Position – reicht sie mit ihren Flügeln bereits an die Sanduhr heran und in das Magische Quadrat hinein, das sie mit ihrem Kopf berührte, richtete sie sich nur mal ein wenig aus ihrer leicht vorgebeugten Haltung auf. Stünde sie wirklich auf, dann verkehrte sich gleichsam ihre Welt oder doch ihre und des Betrachters Bildwelt-Ansicht, denn dann veränderten sich die Raumverhältnisse, sie gerieten in Unordnung, und es entstünde eine andere Ordnung; dann befänden sich nämlich die an der Turmwand installierten Objekte – Waage, Glocke, Magisches Quadrat, Sandund Sonnenuhr – nicht mehr über der Melencolia-Figur, sondern – nicht gerade sinnvoll angebracht – tief unter ihr; und auch der geflügelte Putto, der über dem großen Mühlstein sitzend auf Augenhöhe mit der Melencolia zu sehen ist, müsste dann aus kindlich adäquater Position zur Melencolia, seiner überragenden Lehrmeisterin, aufschauen.250 Man muss sich einmal diese imposante Frauengestalt in ihrer erzengelhaften Statur aufrecht stehend und mit all ihren fast schon riesig zu nennenden Ausmaßen251 vorstellen, um ganz zu begreifen, wer da in dieser allein schon aufgrund der Größe der Melencolia himmeloffenen „Bauhütte“252 eigentlich sitzt; und um einigermaßen ermessen zu können, welch ein erhabenes Wesen sich an diesem denkwürdigen Ort eingefunden, seine gewaltigen Flügel gleichsam suspendiert oder stillgestellt, sich buchstäblich niedergedrückt niedergelassen und – in Gesellschaft von Putto und Hund und inmitten von Gebrauchs- oder Kunstgegenständen – auf eine Steinstufe am Boden hingehockt hat. So kann die schwer und regungslos auf dem Boden hockende Melencolia auch nicht als dominante „Figur über Gerät“ gesehen werden. Bei diesem Bildmotiv geht es um die allegorisierende Darstellung von Personen, die mit Objekten oder Gerätschaften als den sie kennzeichnenden Attributen zu sehen sind, die sie zum Teil in den Händen halten, herzeigen und bedienen, die aber vor allem ihnen zu Füßen liegen oder um sie herum bedeutungsvoll assortiert und arrangiert sind. Wenn Peter-Klaus Schuster meint, die schon in der Antike präsente Bildform „Figur über Gerät“ auch in Dürers Melencolia I erkennen zu können, dann übersieht er den entscheidenden Unterschied, der sich in der Tatsache zeigt, 69
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dass Dürers Melencolia gerade nicht jene Meisterschaft oder Souveränität in der Beherrschung der Künste und Wissenschaften demonstriert, die mit einer „Figur über Gerät“ verbunden ist und veranschaulicht werden soll. Die Melencolia steht in eklatantem Gegensatz zu den bei Schuster abgebildeten Figuren über Gerät; z. B. einer musizierenden Frau von Bartolomio di Bartoli aus dem Jahre 1355, eines Astronomen auf einem Holzschnitt (um 1492) von Michael Wolgemut, Dürers Lehrmeister (Abb. 21), und der Muse Erato aus einem Pariser Modellbuch (Anfang 16. Jh.). Aufrecht sitzend oder vor allem stehend inszenieren sich Musikerin, Muse 21 Michael Wolgemut Astronom, 1491 / 92 und Astronom mit und über ihren sie auszeichnenden Musikinstrumenten, Arbeits- oder wissenschaftlichen Forschungsgeräten ungemein selbstbewusst, fasst schon triumphalistisch mit entsprechenden Gesten als erhabene Figuren.253 Die Melencolia inszeniert sich nicht. Sie inszeniert sich nicht einmal als Kontrastfigur zu jenen stolz ihr Können oder Wissen demonstrierenden „Figuren über Gerät“, indem sie z. B. als eine eindeutig attribuierte und als Melancholie titulierte Figur-über-Gerät-Allegorie auftritt, wie sie Hans Sebald Beham 1589 einmal als Dürer-affine Melencolia, doch mit schwer gesenktem, in die linke offene Hand gestütztem Kopf und geschlossenen Augen, dargestellt hat (Abb. 22).254 Vielmehr erscheint Dürers Melencolia als Negation der „Figur über Gerät“, als ihr Gegenbild: als „Figur unter Gerät“; und zwar im doppelten Sinne: sowohl unter den über ihr an den Gebäudewänden installierten Geräten als auch unter, zwischen all den diversen Gegenständen oder inmitten all dieser Objekte samt Hund und Putto, die unordentlich um die Melencolia mit abgelegtem Buch und lässig gehaltenem Zirkel in ihrem Schoß auf dem Boden ihres Ateliers herumliegen.255 Wie sehr die Melencolia als eine „Figur unter / inmitten Gerät“ anzusehen ist, zeigt sich, wenn man sie sich – wie schon thematisiert – einmal auf70
DIE MELENCHOLIA
recht stehend und mit ihrem offenen, erhoben-erhebenden Blick an allem vorbei, über alles hinweg vorstellt. So aber sitzt oder kauert sie tief unten als „Figur unter Gerät“ auf derselben Fuß- oder Erdbodenebene wie die sie umgebenden, wie unwillig beiseitegelegt, achtlos weggeworfen und bedeutungslos wirkenden Gegenstände. Mit all ihrer Imposanz befindet sich die großartige geflügelte Melencolia – diese Hohe Frau der Melancholie – niedergedrückt auf tiefem Niveau vor dem aufragenden Turmgebäude. Auch in dieser Figuration und Konstellation wird die Zwielichtigkeit oder Ambivalenz ihrer Situation und Existenz deutlich sichtbar.
22 Hans Sebald Beham Melencolia, 1589 ***
Diese einerseits enorm große, durch ihre Flügel wie übermächtig, doch andererseits gleich einer besiegten und entmutigten Nike erschöpft schwermütig oder ohnmächtig wirkende Frauengestalt manifestiert sich in ihrer ganzen Erscheinung und ihrem Aussehen als merkwürdig zweideutig, zeigt sie sich doch zuerst einmal und demonstrativ als ein himmlisch-irdisches Wesen, als Mensch und Engel.256 Außerdem zeigt sich die Frauengestalt in ihrer depressiv-aufgelösten, aber auch angespannten Haltung seltsam ambivalent. Da ist zum einen die auffällig hell erleuchtete, wie angestrahlt sich präsentierende linke Seite der geflügelten Melencolia, an der ein – nicht nur äußeres – Angespanntsein abzulesen ist; wie das linke Bein dem auf dem Knie sich entschieden aufstützenden Arm genauen Halt gibt, so lehnt sich die linke, nicht offene, sondern zu einer Faust fest geformte Hand stützend an den leicht geneigten Kopf der mit hellen Augen aufblickenden Melencolia.257 Und da ist zum andern die so gut wie vollständig im durch einige helle Lichtreflexe noch pointierten Schatten liegende rechte Seite der Melencolia mit dem Flügel, mit Kopf und dunklem Gesicht, mit dem müde, fast lethargisch apathisch auf dem fest verschlossenen Buch abgelegten Arm und dem lässig gleichgültig 71
ZWEITES KAPITEL
in der rechten Hand gehaltenen Zirkel. So zeigt sich die Melencolia nicht nur „im Zwielicht eines Ortes, der auf den ersten Blick bedrückend unübersichtlich erscheint“258, sondern auch ganz konkret als sozusagen zweiseitigzwielichtig: als Licht- und als Schattengestalt.259 Es sind sowohl die ambivalente Haltung als auch die kontrastreichen Lichtund Schattenphänomene, die die Melencolia in ihrer ganzen Erscheinung als ein wesentlich zwielichtig-zweideutiges Wesen begreifen lassen. Und es sind – neben dem sie bekrönenden Blätterkranz – ihre sie gleichsam transzendierenden Attribute – ihre einerseits lichthellen, andererseits schattendunklen Flügel –, durch die diese zeitgemäß gekleidete Frauengestalt eine Metamorphose ins Metaphorische erlebt, eindeutig als Allegorie ausgezeichnet wird und so – im Wortsinn des Begriffes – etwas Anderes sagen, etwas Anderes bedeuten soll. Die Person ist nicht mehr einfach nur als eine melancholisch gewordene Frau wahrzunehmen, sondern als ein Genius, als Sinnbild, als Personifikation der Melancholie.260 Die Schattenseite der Melencolia verweist eindringlich auf ihre aktuelle Situation: ihre Passivität. Die flügelmächtige Melencolia tut nichts.261 Sie ist nicht aktiv beschäftigt. Zwar hält sie ihren Zirkel in der Hand, aber sie beachtet, sie gebraucht ihn im Augenblick nicht; sie misst oder zeichnet nichts mit ihm (Abb. 23). Genau wie der Putto mit seinem Griffel, Stichel oder Stift nichts schreibt, zeichnet oder kritzelt. Allein schon, wie Melencolia und Putto ihre Mess-, Schreib- oder Kritzelinstrumente in den Händen halten, demonstriert auf das Deutlichste ihr Nichtstun. Die Melencolia hält ihr bedeutendes Messinstrument in der Hand; doch nicht z. B. über einem Messblatt, an einer Kugel oder an einem Globus, sondern aufgerichtet über ihrem Schoß auf ihrem Gewand, und zwar entsprechend unprofessionell; sie führt den Zirkel nicht, wie er beim souveränen Maßnehmen z. B. auf Karten oder an Skulpturen adäquat zum Einsatz kommt, sondern hält ihn mit Daumen und Zeigefinger nicht oben ein wenig unter dem Scheitelpunkt, vielmehr unten an der rechten Nadelspitze, also – was den praxiskonformen Gebrauch angeht – an der denkbar falschesten, an der unmöglichsten Stelle262; sie hält ihn lässig nachlässig, gedankenlos in Gedanken, aber doch immerhin so fest und ausbalanciert, dass er sein labiles Gleichgewicht nicht verliert, nicht aus der Senkrechten in die Horizontale kippt und eventuell auch auf dem Fußboden landet – wie die anderen um die Melencolia herumliegenden, so derangiert wie ausrangiert wirkenden Geräte und Werkzeuge.263
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DIE MELENCHOLIA
23 Melencolia I, Detail
Demonstrativ, wenn auch sicherlich unbewusst, präsentiert die Melencolia den aufgerichteten Zirkel als ihr unübersehbar bedeutsamstes, sie auszeichnendes Attribut, aber eben dem situativen Kontext entsprechend auch als Nebensache oder Beiwerk, das zwar seine Schuldigkeit getan hat, sich aber immer noch in exklusiver Weise als präsentabel erweist. In ihrer gegenwärtigen Situation und Verfassung kann die Melencolia den Zirkel nur unaufmerksam, „nur lässig, wie überflüssig“264 halten, auch wenn er wie zum genauen Maßnehmen weit geöffnet ist. Sie, die mit ihren Gedanken woanders ist, braucht und gebraucht den Zirkel ebensowenig, wie jenes imposante und zweifellos bedeutsame Buch für sie von aktuellem Interesse ist, das verschlossen, ja wie fest verriegelt unter dem rechten Arm auf ihrem Oberschenkel liegt. Doch als so nutzlos wie die unordentlich am Boden liegenden Werkzeuge265, die teilweise auch noch (wie die Zange und der Blasebalg) unter dem Kleid der Frau verborgen sind bzw. auf die sie (wie auf den Griff der Säge) sogar achtlos ihren rechten Fuß gestellt hat (s. Abb. 18 und 24), werden Zirkel und Buch nicht angesehen und behandelt. Die Melencolia gibt ihre „vornehmsten Attribute“266 nicht aus der Hand. Sie behält sie als die wichtigsten 73
ZWEITES KAPITEL
24 Melencolia I, Detail
und bedeutendsten Utensilien ihrer Kunst und Wissenschaft in Theorie und Praxis – so gut es geht in ihrer Situation – ganz bei sich in ihrer Nähe: ihr Buch und ihren Zirkel.267 Es sind die deutlichen Schattenseiten der Melencolia, die für viele Interpreten den Grund oder den bildbestimmenden Hintergrund bilden, um die Melencolia als durch und durch negativ gestimmtes Wesen zu beschreiben und sie als in abgründiger Schwermut gefangen zu begreifen. „Völlige Apathie“ – mit dieser griffigen Formel hat Heinrich Wölfflin 1905 in der Studie Die Kunst Albrecht Dürers den Zustand der Melencolia aus seiner Sicht auf den Begriff gebracht.268 Sie kann als prägnante Zusammenfassung all jener psychosomatischen Interpretationen gelten, die bei der Melencolia-Figur mal mehr, mal weniger die Details oder das Ganze betreffend – im weiten Sinn des Wortes – Apathie diagnostizieren und ihr alles Mögliche an Negativa ihrer seelisch-geistigen Verfassung, aber auch ihres körperlichen Zustandes gegen alle Evidenz des anschaulich Gegebenen attestieren: Dumpfheit, innere Erstarrung, trübsinniges Ins-Leere-Starren, finster-stieren Blick, düster bohrendes Grübeln, tiefste Verlorenheit, trübste Selbstvergessenheit, bewusstloses Schauen,Verzweiflung, Scheitern. Selbst Vernunft-Verstopfung wird als adäquate Zustandsbeschreibung der Melencolia ebenso herbeizitiert269, wie das grüblerische Vor-sich-hin-Sinnen, das gedankenlose, geistverlorene In-dieFerne-Starren oder das nächtlich melancholische, dumpfe Vor-sich-Hinbrüten der geflügelten „düsteren Träumerin“270 beschworen werden.271 74
DIE MELENCHOLIA
So eindeutig negativ oder durch und durch – wie es oft so entschieden suggeriert wird und wozu ihr Name inspirieren könnte – „schwarzgallig“ ist die Melencolia jedoch nicht zu sehen, auch wenn sie mit ihrem verschatteten Gesicht an einem imaginären Ort in nächtlich wirkender Szenerie auf einer Steinstufe so passiv schwer wie müde reglos hockt und auf den ersten Blick wie deprimiert, niedergeschlagen, niedergedrückt erscheint. Denn sie hat – wie schon dargestellt – in ihrer ganzen Erscheinung sowohl eine deutlich sichtbare Lichtseite als auch eine deutlich sichtbare Schattenseite. Als Lichtund-Schatten-Gestalt zeigt sich die Melencolia auch noch auf andere, auf ganz außergewöhnlich eindrucksvolle Weise: im verschatteten Gesicht mit den kontrastreich gezeichneten, durch das Weiß der Augäpfel so auffallend hellen Augen wie durch das tiefe Schwarz von Iris und Pupillen, in denen sich leichte Lichtreflexe spiegeln, so auffallend dunklen Augen (Abb. 25).272 ***
Der helle offene Blick der Melencolia273 aus verschattetem Gesicht schweift nicht ziellos umher, er wirkt ruhig, wach und konzentriert zielgerichtet274; doch ist er weder auf das weite Meer mit der bergigen Küstenstadtlandschaft im Hintergrund oder auf die merkwürdigen Phänomene am Himmel mit dem Kometen, Regenbogen und hybriden Emblemtier gerichtet275; noch auf ihr offenes, aber bedrängend eng mit diversesten Geräten oder Studienobjekten sowie mit Hund und Putto vollgeräumtes Atelier am Fuße eines turm artigen Bauwerkes. So hat die Melencolia – genau wie der Putto – weder einen Blick für ihre irdisch nahe Mitwelt mit all dem verwirrend vielfältigen Zubehör, ihrem „zerstreuten Apparat“276, noch für ihre so meer- wie himmelweit ferne Umwelt mit den seltsamen und aufregenden, vielleicht beängstigenden oder verheißungsvollen kosmischen Erscheinungen. Doch in deutlichem Gegensatz zum in sich gebannten, untätigen und blicklosen Putto, der sein angespannt verdüstertes Gesicht nach unten wendet, zeigt die ebenfalls wie in sich gebannt auf einer Steinstufe tief unten hockende und schwermütig untätige Melencolia einen nach oben gerichteten Blick und einen konzentrierten, aber auch gelöst entspannten Gesichtsausdruck.277 Neben aller Erdschwere, die sich in dem wuchtigen Hocken der Melencolia unten auf einer Stufe zeigt, fällt ihre kompakte Körperhaltung auf, die sich gerade auch im resoluten Gestus des angewinkelten, auf dem linken Knie abgestützten Armes und des energischen Kopfstützens durch die zur Faust geballte linke Hand manifestiert. In signifikantem Gegensatz dazu wirken der 75
ZWEITES KAPITEL
25 Melencolia I, Detail
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DIE MELENCHOLIA
leicht zur Seite wie leicht nach unten geneigte Kopf der Melencolia und ihr Gesicht wie leicht erhoben. Der Grund für diesen erhebenden Effekt liegt in den hellwach blickenden Augen, die – von der Melencolia aus gesehen – leicht nach rechts oben bestimmt in eine unbestimmte Ferne schauen und so Kopf und Gesicht nur ein wenig, doch mit eminenter Wirkung aufzurichten scheinen.278 Die erhebend-erhobenen Augen der Melencolia mit dem aufmerkenden Blick sind die Ausnahme-Erscheinung auf dem Kupferstich. Denn sie sind das einzige Lebenszeichen, das einzige lebendige, belebend-erhebende Element in jener durch und durch deprimierten, wie gebannt leblos niederliegenden Welt der Melencolia, in der nichts geschieht, sich nichts ereignet, nur in der Sanduhr noch die Zeit verrinnt.279 Im Gesicht der Melencolia – in ihren Augen, ihrem Blick, ihrem Sehen – offenbart sich auf das Schönste, was Dürer in seinen Entwürfen zum „Lehrbuch der Malerei“ über den Adel des Gesichtssinnes geschrieben hat: „Der alleredelste Sinn der Menschen ist das Gesicht.“280 Und: „Der alleredelste Sinn der Menschen ist Sehen.“281 Dieses „Gesicht“ des Menschen, das – wie Dürer ebenfalls notiert – einem „Spiegel“ gleicht282, bildet als das konkrete Gesicht der Melencolia das Zentrum, den Ausgangs- und Endpunkt für das adäquate Verständnis des Meisterstiches. Im Zwielicht des leicht geneigten und verschatteten, aber auch anmutig wirkenden Gesichtes der Melencolia mit ihren erhobenen Augen und ihrem so hellen wie offen aufwärtsgerichten Blick ist Albrecht Dürers Melencolia I zu sehen und zu verstehen.283 Mag sie auch für ihre Mit- und Umwelt – als seien sie nicht vorhanden oder bedeutungslos – keinen Blick haben284, so hat die Melencolia doch etwas „im Blick“. Sie „sieht“ etwas, das sie sozusagen aufmerksam „wahrnimmt“, gleichsam im hellsichtig geistigen Blick behält und bedenkt. Sie ist „in Gedanken“: vultu severo, quasi in magna consideratione285. Ihr transzendierender Blick – an allem vorbei, über alles hinweg – weist nach außen ins Weite. Doch er geht nach innen.286 Es ist der Blick innehaltenden Nachdenkens, geistesgegenwärtiger Aufmerksamkeit.287 Der vultu severo meditativ erhobene Blick der Melencolia und ihr verschattetes Gesicht mit – anders als beim Putto – entspannt wirkenden und schöngeformten Lippen lassen jedoch auch einen ernst-fragenden, sinnend-suchenden oder skeptisch-kritischen Ausdruck erkennen.288 Ihrem offenen und hellen, aber aus einer facies nigra aufschauenden Blick nach innen ist ein denkwürdiger Schatten immanent: der tiefe Schatten der Melancholie. Der Gesichtsausdruck der Melencolia, in 77
ZWEITES KAPITEL
deren ganzer Erscheinung sich „Versenkung,Verlorenheit und Zuversicht“ manifestieren289, erweist sich als zwielichtig zweideutig und ihr Blick als Lichtund Schattenblick.290 Der innehaltend nachdenkliche Blick der Melencolia ist ein Blick zurück nach vorn.291 Ihr Blick zurück ist ein erinnernder Blick in die Vergangenheit, die in ihrem offenen Atelier so bedrängend gegenwärtig ist.292 Auch wenn die Melencolia ihn gerade nicht beachtet, so hat sie den Putto, mit dem sie sicherlich einmal wie auch immer spielerisch „zusammengearbeitet“ hat, im erinnernd vergegenwärtigenden „Blick“; genau so wie all jene alltäglichen Gegenstände und handwerklichen, künstlerischen und wissenschaftlichen Arbeitsgeräte, mit denen ihr Labor über und über angefüllt ist und mit denen sie sich auf unterschiedliche Weise einmal mehr oder weniger intensiv beschäftigt hat, doch jetzt nichts mehr anzufangen weiß – wie es der ratlos in ihrer rechten Hand gehaltene Zirkel und das unter dem rechten Arm abgelegte und verschlossene Buch deutlich signalisieren. Den Blick zurück der Melencolia hat Dürer in seiner berühmten Resümee-Bemerkung „… daz weis jch nit“ zusammengefasst.293 So gilt der zwielichtige Gedanken-Blick der Melencolia zunächst einmal ihrem unterbrochenen Tun, ihren suspendierten Aktivitäten.294 Mit ihrer professionellen Beschäftigung in Theorie und Praxis, mit ihrer Wissenschaft und Weisheit ist sie an ein Ende gekommen, an eine Grenze ihres Könnens, das ihr fragwürdig, „zweyfellhafftig“295 geworden ist. Die Melencolia ist am Ende ihrer Kunst, ihrer „grossen gewalt“296. Sie weiß nicht weiter. So hält sie notgedrungen inne, lässt alles – was nicht zu übersehen ist – stehen, hängen und liegen, kümmert sich um nichts mehr, nicht einmal mehr um den Putto, sondern nur noch um ihre ambivalenten Gefühle und Gedanken, die sie innerlich nicht zur Ruhe kommen lassen. Existenzielle Grenzerfahrungen haben sie deprimiert, haben sie melancholisch werden lassen und nötigen ihr im Zwielicht des Zweifels eine Auszeit auf, eine not-wendige Bedenkzeit für ein Zwiegespräch mit sich selber über sich selber, über ihre Kunst und ihr Können, über Gott und die Welt.297
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DRITTES KAPITEL: GRENZERFAHRUNG
Felix, qui potuit rerum cognoscere causas … P. Vergilius Maro298
„… VON GOT BEGABT MEYSTER“
W
elch eminente Grenzerfahrungen die Melencolia als Allegorie menschlichen Erkenntnisstrebens in Kunst, Philosophie und Wissenschaft auf das Schwermütigste niedergedrückt haben und ihr nun bei ihrem Selbstgespräch gründlich zu denken geben, lässt sich in einem der Entwürfe zur Einleitung in sein Lehrbuch der Malerei erkennen, in dem Albrecht Dürer so programmatisch wie umfassend formuliert: „Etwas künen ist fast [=sehr] gut. Dan dardurch werd wyr destmer vergleicht der pildnus gottes, der alle ding kan. Wir kunten gern fill. Dan es ist vns van natur ein gossen, daz wir geren vill westen, dordurch zw erkenen ein rechte warheit aller dyng. Aber vnser blötz gemüt kan zw solicher volkumenheit aller künsten, warheit vnd weisheit nit kumen. Doch sind wir nit gar awss geschlossen van aller weissenheit. Woll wir durch lernung vnser vernunft scherbffen vnd vns dos ein vben, so mügen wir woll etlich warheit durch recht weg suchen, lernen, erkennen, erlangen vnd dartzw kumen.“299 Dieser bedeutende Passus kann als kompaktes Resümee all jener Ausführungen der kunsttheoretischen Schriften gelesen werden, in denen sich „der frumm vnnd kunstreych Albrecht Dürer“300 seine gottgläubigen, aber auch menschlich selbstbewussten Gedanken macht sowohl über die condicio humana wie über die condicio divina, die in seinem Denken und Glauben auf das Innigste miteinander verbunden sind. Durch all sein hervorragendes Können301, sein Wissen, seine geistig schöpferischen Fähigkeiten, die ihm von Natur aus, also durch die Schöpfung, gegeben oder „ein gossen“ sind, kann der nach Gottes Ebenbild geschaffene Mensch dem Bildnis des allmächtigen Gottes, der – und das ist die condicio divina – „alle ding kan“, noch ähnlicher werden. Aber – und dieses bedeutungsvolle „aber“ verweist auf die condicio humana – zur Erkenntnis der vollen absoluten Wahrheit – der „rechte(n) warheit aller dyng“ – kann der 79
DRITTES KAPITEL
Mensch, der gerade nicht „alle ding kan“, in seiner Endlichkeit nicht gelangen. Sein „blötz gemüt“, sein beschränkter Geist, seine begrenzte Erkenntnisfähigkeit kann zur Vollkommenheit aller Künste oder allen Wissens, aller Wahrheit und Weisheit „nit kumen“. Doch – und dieses bedeutungsvolle „doch“ verweist ebenfalls auf die condicio humana – heißt das nicht, dass wir, die Menschen, „van aller weissenheit“ – von allen Künsten oder allem Wissen, von aller Erkenntnis der Wahrheit und von aller Weisheit – „awss geschlossen“ sind. Wissen und Erkenntnis,Wahrheit und Weisheit bleiben den Menschen nicht vollkommen verschlossen. Im unaufhebbaren Zwielicht seiner Existenz sind dem Menschen „etlich warheit“, d. h. gewisse Wahrheiten, in „etlicher mas“302, d. h. in gewisser Weise, zugänglich; er muss sie nur „durch recht weg“ zu lernen und zu erkennen suchen; dann wird er sie auch „erlangen vnd dartzw kumen“. Zu mehr aber nicht. Und was allgemein vom Menschen gilt, trifft in auszeichnender Weise auf den homo artifex, den schöpferischen Menschen zu.Vom Künstler und seiner Kunst, dem sich Albrecht Dürer aus eigener Künstlerlebenserfahrung in seinen Traktaten so intensiv wie enthusiastisch widmet, soll nun die Rede sein, wobei immer die Melencolia mit ihrem Zirkel – dem „Zirkel des Genies“303 – speziell als Genius der Künste im Blick behalten wird. Dürers hier ausführlich zitierte und konnotierte Texte aus den Schriften zur Kunst können als extensive wie detaillierte Bildlegende zu seinem meisterhaften Kupferstich Melencolia I gelesen und verstanden werden. Im enormen Spannungsfeld von Macht und Ohnmacht des Künstlers, das in ihnen zur Sprache und zum Ausdruck kommt und das mit seinen Extremen an Blaise Pascal und seine Pensées über „la grandeur“ und „la misère“ des Menschen erinnert304, ist die Melencolia in der ganzen Ambivalenz ihrer Condition humaine deutlich zu erkennen: als allegorische Repräsentantin existenzieller Grenzerfahrungen eines souveränen Künstlertums, das sich sogar noch oder gerade auch im Erleben größter Schwäche und tiefster Melancholie manifestiert. Ohne die Darstellung der souveränen Künstlerschaft, wie sie Dürer in seinen kunsttheoretischen Schriften auf oft geradezu überschwänglich euphorische Weise thematisiert und die sich in der Lichtseite der Melencolia-Gestalt des Meisterstiches so eklatant wie indirekt gleichsam als überheller Deutungshintergrund manifestiert305, ist die dunkle Schattenseite der Melancholie-Erfahrung der Melencolia, die das primär eigentliche Bild-Thema der Melencolia I ist, adäquat nicht zu erkennen und zu verstehen. ***
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GRENZERFAHRUNG
„Als erster Theoretiker der bildenden Kunst in Deutschland“306 hat sich Dürer – wie die imposante Fülle seiner kunsttheoretischen Texte auf das Eindruckvollste dokumentiert – unermüdlich in Theorie und Praxis um die Erkenntnis und das Wissen bemüht, was denn Schönheit, was vollkommene Schönheit sei und wie ein vollkommenes Kunstwerk geschafffen werden könne. „Dürers Beschäftigung mit dem Schönen“, schreibt Hans Rupprich, „ist so alt wie seine künstlerische Betätigung. Sie war anfangs wohl hauptsächlich spätgotisch praktischer und gefühlsmäßiger Art. Bei Beginn seiner theoretischen Studien und den näheren Kontakten mit humanistischen Freunden wurde sie in die Sphäre des Bewußten gehoben, und es setzt das Nachdenken ein über das Wesen des Schönen und die Gestaltungsmöglichkeiten besonders des schönen Menschen.“307 Wie sehr die Idee oder das Ideal der Vollkommenheit Dürer bis an das Ende seines Lebens intensiv beschäftigt, ja umgetrieben hat, zeigt sich ganz besonders in den Vier Büchern von menschlicher Proportion, die postum, doch noch in Dürers Todesjahr 1528 publiziert wurden. Gewidmet ist dieses Opus magnum „dem ehrbaren und wohlgeachteten Herren Willibald Pirckheimer […] meinem günstigen lieben Herren und großersprießlichen Freund“308. Schon in seinem Widmungstext benennt Dürer gleich zweimal Ziel und Zweck seines Werkes mit aller Deutlichkeit. Allen „Kunstliebhabenden und Lernbegierigen“ soll es überzeugend demonstrieren, wie die „kunst der malerey mit der zeyt wider wie vor alter [=wie früher] ir volkommenheit erlangen mög“309. Dabei kommt es entscheidend auf das Beherrschen „der Kunst der Messung, auch der Perspektive und anderem dergleichen“ an, denn „an [=ohne] rechte proportion kann ye kein bild volkommen sein“310. Eine so programmatische wie ungemein selbstbewusste Bemerkung Dürers in einem Entwurf zur Einleitung in das Lehrbuch der Malerei, der etwa in die Zeit der Entstehung des Melencolia-Stiches zu datieren ist, manifestiert die leidenschaftliche Entschlossenheit des Künstlers, alles zu unternehmen, um sein Ziel zu erreichen: „Vnd [jch] will aws mas, tzall vnd gewicht mein fürnemen anfohen.“311 Die außerordentliche Bedeutung erhält diese Erklärung zur Absicht, die Kunst der Messung immer genauer und gründlicher zu erforschen und täglich zu praktizieren312, durch ihre biblische Konnotation. Denn Dürer zitiert hier – mit Blick auf sich selber – aus dem Buch der Weisheit, in dem Gott, der Herr, dessen „allmächtige Hand aus ungeformtem Stoff die Welt gestaltet hat“, mit folgenden Worten gepriesen wird: „Omnia in mensura, et numero, et 81
DRITTES KAPITEL
pondere disposuisti – Du aber hast alles nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet.“313 Dürers „zentrales Verlangen“ erweist sich somit als das außerordentlich anspruchsvolle Bemühen, gleichsam Gottes Weltformel, seinem Schöpfungsordnungsplan oder seiner das Chaos überwindenden Weltgestaltungsidee auf die Spur zu kommen.314 Auch wenn Dürer in der Widmung zur Proportionslehre, in der er mit Nachdruck auf sein drei Jahre zuvor veröffentlichtes Buch Underweysung der Messung, mit dem zirckel und richtscheyt […] als notwendige Voraussetzung und Ergänzung für das gründliche Studium und Verständnis der Lehre von den Proportionen verweist315, expressis verbis von Malerei und von Bild oder Bildern spricht, so sind doch „nit alleyn [die] maleren“ im engeren oder auch im weiteren Sinn gemeint (z. B. Kupferstecher oder Holzschneider mit ihren Bildern), sondern mit ihren je eigenen Kunstwerken alle bildenden Künstler, „so sich“ bei ihrem Schaffen „des maß gebrauchen“ und denen Dürers theoretisches Bemühen um die Kunst der Messung mit dem Zirkel „dienstlich seyn mag“ (Abb. 26)316. So nennt Dürer in seinen Notizen und Entwürfen zum Lehrbuch der Malerei neben den Malern und „handwerkeren“ ausdrücklich auch Holz- und Steinbildhauer, Steinmetze, Metallgießer, Tonbildner, Schreiner, Goldschmiede und Seidensticker.317 Für sie „al, dy bilder fürnemen zu machen“318 und es mit Proportionsproblemen zu tun haben, gilt: „Awsserhalb der messung oder an [=ohne] einen ferstand einer guten mas kann kein gut bild gemacht werden, vnd ein gut bild mus mit grosser müe vnd arbeit gemacht werden. Dan es get nyt vnbesunen zw.“319
26 Albrecht Dürer Studien zu Melencolia I, 1514
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GRENZERFAHRUNG
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Bei Albrecht Dürer ging es nie „vnbesunen“ zu. Alles Sich-Besinnen oder Nachdenken Dürers, wie er es in seinen gründlichen kunsttheoretischen Studien „mit hohem fleiß, steter müe vnnd arbeit“ und – so betont er – mit nicht wenig Zeitaufwand praktiziert und demonstriert hat, soll durch ihre Publikation „zu gemeinem Nutzen aller Künstler an das Licht“ gebracht, „an den Tag“ gegeben werden320. Dürers Engagement – „hab jch mir fürgenomen“321 – ist ein entschieden pädagogisches Projekt der Aufklärung gegen „vnbesunen werck“ und „falscheyt im gemel“322. „Diß meyn fürnemen“323 dient dem Zweck, „vnverstand“ und „blindtheyt“ aus der Kunst zu entfernen, indem „solche maler“ oder Künstler, die, weil „sie die kunst der messung nit gelernet“, in ihrer Unmündigkeit oder Unbesonnenheit sogar „wolgefallen in jren yrthumben gehabt“ haben, die notwendigen Einsichten in die Grundlagen der rechten Kunst erhalten: Einsicht in „die kunst der messung […], an [=ohne] die keyn rechter werckmann werden oder seyn kan“ und die als „der recht grundt aller mallerey“, aller Künste, zu begreifen ist.Vor allem aber sind diese grundlegenden Einsichten „künstbegyrigen jungen“ in Theorie und Praxis zur Erkenntnis zu bringen und anschaulich zu vermitteln, so dass sie „darauß die rechten warheyt erkennen und vor augen sehen […], damit sie nit alleyn zu künsten begirig werden, sonder auch zu eynem rechten vnd grosseren verstant komen mögen“324. Die Künstler oder – wie sie bei Albrecht Dürer noch heißen – die „künstner“ sollen „rechte“, „geübte“, „verständige“, „gewaltige“ Künstler oder eben „künstliche“, „kunstreiche“, „gute“ Meister werden, die ihr Metier in jeder Hinsicht beherrschen: „Dann der gewalt der kunst […] meystert alle werck.“325 Um diese umfassende Meisterschaft, die im Kunstschaffen allen Aufgaben und Anforderungen gerecht zu werden vermag, geht es Dürer auf besondere Weise in seinem sogenannten Großen ästhetischen Exkurs, in dem er „seine grundsätzlichen Gedanken zur Kunst“326 ausformuliert hat und mit dem das dritte der Vier Bücher von menschlicher Proportion endet. Und die Grundbegriffe oder Grundbegriffpaare in Dürers grundsätzlichen kunsttheoretischen Gedanken, bei deren Ausformulierung er seine Leser und Künstlerkollegen oder eben die „künstbegyrigen jungen“ oft persönlich mit Du anredet, lauten: „Kunst“ und „Brauch“, „scientia cum usu“327,Verstehen und Gebrauch,Verstand und Hand, Einsicht und Können oder eben Theorie und Praxis.
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DRITTES KAPITEL
Immer wieder – auch im Ästhetischen Exkurs – macht Dürer mit Nachdruck auf die Notwendigkeit aufmerksam, diese Begriffe unbedingt als JunktimBegriffe seiner theoria-cum-praxi- oder praxis-cum-theoria-Forderung zu begreifen: „Dann der verstandt muß mit dem gebrauch anfahen zu wachsen, also das die hand kün thon, was der will im verstand haben will. Auß solchem wechst mit der zeyt die gewyßheit der kunst und des gebrauchs. Dann diese zwey müssen bei ein ander sein, dann eins on das ander sol nichtz.328 – Denn das Verstehen muß mit der Praxis („gebrauch“) anfangen zu wachsen, so daß die Hand verrichten kann, was der Verstand ihr befiehlt. Daraus wächst mit der Zeit die Sicherheit der Kunst und ihrer Praxis. Denn diese zwei gehören zusammen, eines ohne das andere nützt nämlich nichts.“329 Mit Blick auf den folgenden Passus hat Erwin Panofsky in seinem 1915 publizierten Buch Dürers Kunsttheorie geschrieben, dass Dürer „[…] wohl niemals dem Geist der Renaissance so nahe gewesen (ist), als in dem Augenblick, da er die in der Wortwahl so persönlichen Sätze konzipierte, in denen der Sinn des ästhetischen Exkurses gipfelt“330: „Aber so du kein rechten grund hast, so ist es nit müglich, das du etwas gerechtz vnnd gutz machst, vnd ob du gleych den grösten gebrauch der welt hettest in freyheyt der hand. Dann es ist mer ein gefencknus, so sie dich verfürt. Darumb sol kein freyheit on kunst, so ist die kunst verborgen on den gebrauch. Darumb muß es bey einander sein, wie oben gesagt. Darumb ist von nötten, das man recht künstlich messen lern. Wer das wol kann, der macht wunderperlich ding.331 – Wenn du aber keine richtigen Grundlagen hast, ist es nicht möglich, etwas Richtiges und Gutes zu verfertigen, selbst wenn du die größte Übung auf der Welt hättest, was die Freiheit der Hand angeht; denn, wenn sie dich in die Irre führt, ist sie eher ein Gefängnis. Folglich soll Freiheit nicht ohne Kunst sein, ebenso ist diese ohne das praktische Können verborgen. Darum gehört, wie gesagt, beides zusammen. Es ist darum nötig, daß man die Kunst des Messens richtig lerne. Wer sie beherrscht, bringt bewundernswürdige Dinge zustande.“332 Der Sinn des Ästhetischen Exkurses oder das, was Albrecht Dürer auf so engagierte wie bewundernswerte Weise zu initiieren und zu lehren versucht hat, offenbart sich darin, dass er am Ende des Exkurses wieder auf die Notwendigkeit der grundlegenden Kunst des Messens hinweist, durch die, wenn man sie denn beherrscht („wol kan“), wunderbare Werke geschaffen werden. So wie hier hat Dürer – die Intention seines Anliegens oder „fürnemens“ somit gleichsam umfassend – sowohl am Anfang der Unterweisung der Messung aus dem Jahre 1525 als auch noch ganz am Ende der Vier Bücher von menschli84
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cher Proportion aus dem Jahre 1528 mit fast denselben Worten formuliert. Am Anfang, in der Widmung der Unterweisung der Messung betont er, dass man „in vnsern Deuztschen landen“ viele begabte („geschickte“) junge Künstler „an [=ohne] allen grundt und alleyn auß einem täglichen brauch gelert“ habe. Diese Künstler hätten zwar auch „durch stetig übung eyn freye hand erlangt“ und sogar „gewaltigklich werck“ geschaffen; aber ihre Werke seien immer noch „in vnverstand“ und „vnbedechtlich vnd alleyn nach jrem [der Künstler] wolgefallen gemacht“ worden.333 Und am Ende der Vier Bücher von menschlicher Proportion äußert Dürer ganz ähnlich seine Hoffnung, wenn er – sich noch einmal an Willibald Pirckheimer wendend – schreibt: „Vnd damit wil ich günstiger herr auff diß mal meinem schreyben ein endt machen, vnnd so es Got gibt zu seiner zeyt was ferner zu dem malen gehört, weyter schreyben damit solsche kunst nit allein auff dem prauch rue, sonder auch mit der zeyt auß rechtem vnd ordenlichen grund gelernt, vnd verstanden mög werden Got zu lob vnd allen kunstliebenden zu nutz vnd gefallen.334 – Und damit will ich, geneigter Herr, für dieses Mal meinem Schreiben ein Ende machen und, so Gott es gibt, zu gegebener Zeit weiter schreiben, was ferner zum Malen gehört, damit diese Kunst nicht allein auf der Gewohnheit beruhe, sondern im Laufe der Zeit aus richtigen und ordentlichen Grundlagen gelernt und verstanden werden kann – Gott zum Lob und allen Kunstliebenden zu Nutz und Gefallen.“335 In den fundamentalen Fragen der Kunst ging es Dürer, wie sich in all seinem engagiert geforderten und praktizierten Suchen nach dem „rechten und ordentlichen Grund“ zeigt, um das rerum cognoscere causas. Dürer, bei dessen letzten Worten seiner letzten Publikation man an die berühmten Verse vom prodesse aut / et delectare der Poetik des Horaz denken mag336, war es jedoch von Gott nicht gegeben, an seinen großen Projekten weiter zu arbeiten und zu schreiben; nicht einmal mehr zur vollständigen Durchsicht und letzten Korrektur der Vier Bücher von menschlicher Proportion ist er gekommen, hat ihn doch – wie Willibald Pirckheimer in einem schönen Nachwort zum Druck der Proportionslehre geschrieben hat – „die schnelheyt des todes vbereylt“. Und er fügt hinzu: „Wo jme auch Got sein leben lenger gefrist het, würd er noch gar vil wunderlichs seltzams vnd künstlichs dings an tag gebracht vnd geben haben […].337 – […] wenn ihm Gott ein längeres Leben gegeben hätte, würde er noch viel Wunderbares, Neuartiges und Kunstreiches an den Tag gebracht und gegeben haben […].“338 ***
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Es gibt noch einen anderen Passus im Ästhetischen Exkurs, in dem sich Dürer „dem Geist der Renaissance“ wohl noch näher erweist, als in dem von Panofsky gemeinten. Es geht um den Passus, der unmittelbar vor dem von Panofsky ausgezeichneten zu lesen ist und mit diesem eine Einheit bildet. Wie sehr beide Textpassagen miteinander korrespondieren, zeigt sich darin, dass beide mit derselben konditionalen Formulierung beginnen, nur ihr Thema einmal negativ und das andere Mal positiv intonieren; beginnt der oben zitierte Passus mit dem Hinweis auf einen gravierenden Mangel – „Aber so du kein rechten grund hast…“ –, um dessen negative Konsequenzen deutlich aufzuzeigen, so der hier nun anzuführende mit dem Hinweis auf eine außerordentliche Fähigkeit – „Aber so du wol messen hast gelernt…“ –, um deren nur wunderbar zu nennende Folgen nicht nur ebenfalls deutlich aufzuzeigen, sondern ihre großartigen Möglichkeiten und Ergebnisse als Glücksfall künstlerischer Freiheit zu loben: „Aber so du wol messen hast gelernt, vnd den verstandt mit sambt dem brauch vber kumen, also das du ein ding auß freyer gwißheyt kanst machen vnd weyst einem yetlichen ding recht zu thon, als dann ist nit alweg not, ein ydlich ding alweg zu messen, dan dein vberkumne kunst macht dir ein gute augen maß, als dann ist die geübt hand gehorsam. Dann so vertreybt der gewalt der kunst den yrthumb von deinem werck vnnd weret dir die falscheit zu machen. Dann du kanst sie vnd würdest durch dein wissen vnuerzagt vnd gantz fertig deines wercks, also das du keinen vergeben strich oder schlag thust.Vnnd dise behendigkeyt macht, das du dich nit lang bedencken darffst, so dir der kopff vol kunst steckt.Vnd durch solichs erscheyndt dein werck künstlich, lieblich, gewaltig, frey vnnd gut, wirdet löblich von meniglich, dann die gerechtigkeyt ist mit eyn gemischt.339 – Wenn du jedoch wohl zu messen gelernt und den Verstand mitsamt dem Können erworben hast, daß du ein Ding frei und sicher verfertigen kannst und jeder Anforderung gerecht wirst, dann ist es nicht durchweg nötig, jegliches Ding zu messen. Denn deine erworbene Kunstfertigkeit verschafft dir ein gutes Augenmaß, und dann ist die geübte Hand gehorsam. Sodann vertreibt die Gewalt des künstlerischen Könnens den Irrtum aus deinem Werk und hindert dich, Falsches zu machen. Dann beherrscht du sie, wirst durch dein Wissen unverzagt und vollendest dein Werk, ohne einen Strich oder Schlag vergebens zu tun. Diese Behendigkeit macht, daß du dich nicht lange bedenken mußt, wenn dir der Kopf voller Kunst steckt. Und infolge solcher Fähigkeit erscheint dein Werk kunstvoll,
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lieblich, gewaltig, frei und gut, wird von allen gelobt; denn es waltet in ihm Richtigkeit.“340 In dieser Laudatio auf künstlerische Souveränität und Freiheit, die Albrecht Dürer so genau wie überzeugend als „freye gwißheit“ benennt, „gipfelt der Sinn des ästhetischen Exkurses“ noch mehr und kommt er noch deutlicher zur Sprache und zum Ausdruck als in jenem Passus, den Erwin Panofsky entsprechend ausgezeichnet hat; in diesem Passus war zwar auch die Rede von der „Freiheit der Hand“, aber einer Hand, die „Freiheit ohne Kunst“ praktiziert, dadurch die Künstler „in die Irre“ führen und sich letztlich als Unfreiheit, als „Gefängnis“, erweisen kann. Hier jedoch geht es gerade um
27 Albrecht Dürer Studien zu Melencolia I, 1514
die „Gewalt“, d. h. um die Kraft, Macht oder das Vermögen „künstlerischen Könnens“, die „Irrtum“ und „Falschheit“ beim Schaffen eines Kunstwerkes verhindern; und außerdem geht es um die „Behändigkeit“, die es dem bildenden Künstler erlaubt, sich „nicht lange bedenken“ zu müssen, also gleich an sein Hand-Werk gehen zu können, da ihm „der Kopf voller Kunst steckt“. Seine freie „gewyßheit der kunst und des gebrauchs“341 ermöglicht es ihm, sich bei Gelegenheit sogar von der als unbedingt notwendig geforderten 87
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Kunst der Messung, die er souverän beherrscht, nicht weniger souverän zu dispensieren, sich einfach auf seine „geübte Hand“ wie auf sein „gutes Augenmaß“ zu verlassen und nicht weniger „wunderperlich ding“, wenn nicht gar noch kunstvollere Kunstwerke „gantz fertig“ zu schaffen, zu vollenden. Dürers Bemerkung vom „Kopf voller Kunst“ erinnert an seine berühmte Formulierung aus dem Lehrbuch der Malerei: „Dan ein guter maler ist jnwendig voller vigur, vnd obs müglich wer, daz er ewiglich lebte, so het er aws den jnneren jdeen, do van Plato schreibt, albeg [=allweg] ettwas news durch die werck aws zw gissen.“342 Der Enthusiasmus, der sich in dieser überschwänglichen Auszeichnung der guten, unendlich ideenreichen Maler oder aller „gewaltigen künstner“343, d. h. der besten „künstlichen meyster“344 oder „künstreichen menschen“345 offenbart, zeigt sich in Dürers kunsttheoretischen Schriften. So auch im Großen Ästhetischen Exkurs, wo Dürer – ganz ähnlich wie im Lehrbuch der Malerei – auf die kunstreichen Meister verweist, die unzählig viele Einfälle haben und deren „Gemüt voller Bilder“ („jr gemüt voller bildnuß“) ist, die sie, von Natur aus entsprechend begabt, auch wenn sie viele hundert Jahre lebten, dank ihrer Einbildungskraft verständig ins Werk setzen können. „Alle tag“ seien sie in der Lage, Menschen und andere Kreaturen in vielfältig neuer Gestalt zu schaffen oder „auß zu giessen“, wie man sie noch nie „gesehen“ hat und sie noch nie „gedacht“ worden sind.346 ***
In die Reihe jener prominenten Formulierungen – „inwendig voller Figur“, „Kopf voller Kunst“ „Gemüt voller Bilder“ – fügt sich auf das Schönste eine Bemerkung Dürers vom „versamlet heymlich schatz des hertzen“. Gemeint ist der so selten erworbene und bewahrte „Schatz“ an Lebens- und Kunsterfahrung, den der Künstler bei all seinem unermüdlichen Bemühen um „Schönheit im Bilde“ („schoen bildnuß“) durch intensives (Natur-)Studium („auß vil abmachen“) für sich „vol gefast“ hat347 und der ihm eine ganz besondere künstlerische „Gewissheit“ oder souveräne Sicherheit verleiht: „Es geschicht auch, aber selten, das einer durch groß erfarung vnd lange zeyt in fleyssiger vbung so gwiß werd, das er auß eygnem verstand, den er mit grosser müe erlangt hat, ausserhalb eins gegen gesichtz, das er ab machen mög, etwas bessers zu werck zichen, dann der ander, der da vil lebendiger menschen zu ab machen für sich stellt, auß der vrsach, das es jm am verstand mangelt.348 – Es geschieht auch, aber selten, daß einer infolge großer Erfahrung und langer fleißiger Übung so sicher („gwiß“) wird, daß er aus eigenem Verstand, den 88
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er mit großer Mühe erlangt hat, ohne ein Modell, das er hätte abbilden können, etwas besseres verwirklicht als ein anderer, der da viele lebende Menschen als Modelle benutzt. Ursache dafür ist, daß es diesem an Verstand mangelt.“349 Durch – so lässt sich analog zu den anderen Formulierungen sagen – ein „Herz voller Schätze“ verfügt der Künstler über eine „Kunst“, über ein künstlerisches Vermögen und Können, das jedoch nicht im Herzen verborgen und heimlich im Inneren verbleibt, sondern das „sich besambt, erwechst vnnd seins geschlechtz frücht bringt – sich aussät, wächst und Früchte seiner Art bringt“. Denn diese Schätze werden „offenbar durch das werck und die newe creatur, die einer inn seinem hertzen schöpfft inn der gestalt eins dings“350. Wieder verweist Dürer im Ästhetischen Exkurs gleich mehrfach auf jene außerordentliche Souveränität freier Gewissheit der „geübten künstner“, die „auß rechtem verstand ein gutten gebrauch erlangt“ haben und darum „soweit es nur möglich ist“ („so vil unser vermügen ist“) auch ohne abzubildendes Modell, ohne jede Vorlage und ohne jedes lebendige Vorbild gute Kunstwerke zu schaffen vermögen351. Es ist der „versamlet heymlich schatz des hertzen“, der den „gewaltigen künstner“ in seine privilegierte Lage versetzt: „[…] dann er geust gnugsam herauß, was er lang zeyt von aussen hineyn gesamlet hat. Solicher hat gut machen in seinem werck, aber gar wenig kumen zu disem verstand.352 – Denn er gießt [aus sich] genügend heraus, was er über lange Zeit von außen [in sich] hinein gesammelt hat. Solcher hat gutes Schaffen in seinem Werk, aber sehr wenige kommen zu dieser Fähigkeit.“353 Und es ist der „versamlet heymlich schatz des hertzen“ mit seinen „jnneren jdeen“354, dem der Künstler nicht nur die Gabe der Souveränität „freier Gewissheit“ beim Schaffen seiner Werke verdankt, sondern auch die eminente Gabe unmittelbar intuitiven Erkennens großer Kunst und die schöne Gabe großer Liebe, die aus dem Erkennen und Verstehen kunstvoller Werke erwächst: „Vnd die rechten künstner erkennen im augenblick, welchs ein gewaltzam werck ist, vnnd sich gebirt ein grosse lieb darauß dem ders verstet.355 – Die rechten Künstler erkennen im Augenblick ein ingeniöses („gewaltzam“) Werk, und das versetzt die, die es verstehen, in große Liebe.“356 Schon im ausführlichen Titel der Vier Bücher von menschlicher Proportion hat Dürer darauf aufmerksam gemacht, dass er sein Werk geschrieben habe „zu nutz allen denen / so zu diser kunst lieb tragen“357. Sicherlich ist hier primär die Kunst-Wissenschaft oder Lehre von den Proportionen gemeint, die nicht nur mit „fleyß, müe vnnd arbeit“358 zu studieren ist, sondern der auch, um sie recht zu verstehen, Liebe entgegengebracht werden kann und soll. Doch ist mit dieser Liebe, 89
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28 Albrecht Dürer
Studie zu Melencolia I, Kopie
auf die Dürer sowohl im Titel als auch mit den letzten Worten seiner „allen kunstliebenden zu nutz vnd gefallen“359 publizierten Studie so demonstrativ hinweist, auch jene große, so elementare wie umfassende Liebe gemeint, die aus dem Erkennen und mit dem Verstehen großer Kunst entsteht. So versteht Dürer – wie er in der Widmung der Proportionslehre an Willibald Pirckheimer betont – sein „vorhaben“ oder „fürnemen“ denn auch als einen „Gefallen“, den er nicht nur mit seiner Schrift über menschliche Proportionen, sondern auch mit den anderen kunsttheoretischen Werken „allen Kunstliebhabenden und [Kunst-]Lernbegierigen“ erweisen will und ihnen – da hat er „keinen zweyffel“360 – auch erweisen wird: „zu nutz und gefallen“ des Erkennens der Kunst und der Liebe zu ihr. ***
Mag der wahre oder – wie es bei Dürer heißt – der rechte, verständige, geübte, gewaltige oder eben kunstreiche Künstler auch noch so sehr „mit hohem fleyß, steter müe vnnd arbeit“361 seine Werke schaffen und damit gleichzeitig zu zeigen in der Lage sein, dass in seinem aus der Souveränität freier Gewiss90
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heit sich entwickelnden Schaffen „Kunst und Brauch“ auf das Beste und Schönste „bei ein ander“362 sind oder „sich reymen“363, so wird er – wie „der frumm vnd kunstreich Albrecht Dürer“364 – nicht vergessen, dass sein ingeniöses Vermögen letztlich eine Gabe Gottes ist: „Gott (gibt) den künstreichen menschen […] vil gewaltz.“365 Dieser lakonische Satz folgt im Exkurs auf jenen Passus, in dem Dürer geradezu enthusiastisch von dem Künstler spricht, der „unzählig viele Einfälle“ hat, dessen „Gemüt“ oder Einbildungskraft „voller Bilder“ ist, der die Kunst, für die er „geschaffen“ ist, angemessen („schickerlich“) beherrscht und der, selbst wenn er „viele hundert Jahre“ lebte, „alle Tage Menschen und andere Kreaturen in vielfältig neuer Gestalt ausgießen und schaffen (könnte), wie man sie weder vorher gesehen noch wie sie ein anderer gedacht hätte“. Doch manifestiert sich das Ingenium eines solchen „künstlichen meysters“ in seinen Werken nur „durch die krafft, die Gott dem menschen geben hat“366. Ein solcher „von Got begabt meyster“367 braucht weder eminente mythologische noch großartige heilsgeschichtliche Erzählungen als Themen für seine Werke, um sein ganzes künstlerisches Können zu demonstrieren; er kann seine Meisterschaft auch an alltäglich einfachen, weniger bedeutsamen Motiven oder „geringen“ Figuren, Ereignissen und Objekten zeigen: „[…] ein verstendiger geübter künstner (kan) in grober bewrischer gestalt sein grossen gwalt vnd kunst mer erzeygen, etwan in geringen dingen, dann mancher in seinem grossen werck. Diese seltzame red werden allein die gewaltzamen künstner mögen vernemen, das ich war red.368 – […] ein verständiger, geübter Künstler (kann) seine künstlerische Stärke und sein Können mehr in einer groben bäurischen Gestalt erweisen, also in geringen Dingen, denn manch anderer in einem erhabenen Werk. Diese seltsame Rede werden allein die begnadeten Künstler verstehen können – und zwar, daß ich die Wahrheit sage.“369 Das souveräne Vermögen der „gewaltzamen künstner“ oder der „potentes intellectu et manu artifices“ 370, auch weniger bedeutsame, geringe bis sogar hässliche Wirklichkeit kunstvoll ins Werk zu setzen, ergänzt jene stattliche Liste von Aspekten künstlerischer Souveränität, von denen bereits ausführlich die Rede war. Erweitert wird diese Liste noch durch eine besondere, durch eine wunderbare Gabe, die mit dem Ingenium des „rechten Künstlers“ korrespondiert, „im Augenblick“ ein ingeniöses, ein „gewaltzam“ Werk zu erkennen und lieben zu lernen. Gemeint ist das von Gott gegebene schöpferische Vermögen eines genialen Künstlers, dank seines „immensen Könnens“371 („gewaltig brauch“) gleichsam im Augenblick eines Tages ein bedeutenderes 91
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Werk im Kleinformat zu schaffen, als es einem anderen mit einem thematisch erhabenen und vom Format her großen Werk gelingt, an dem er ein ganzes Jahr gearbeitet hat. So heißt es im Anschluss an die Bemerkungen über die Fähigkeit, auch „in geringen dingen“ große Kunst zu beweisen: „Darauß kumbt, das manicher etwas mit der federn in eim tag auff ein halben bogen bapirs reyst oder mit seim eysellein etwas in ein klein höltzlein versticht, daz würt künstlicher und besser dann eins andern grosses werck, daran der selb ein gantz jar mit höchstem fleyß macht.Vnd dise gab ist wunderlich. Dann Got gybt offt einen zu lernen vnd verstand, etwas gutz zu machen, des gleychen jm zu seinen zeytten keiner gleich erfunden wirdet vnd etwan lang keiner for jm gewest vnd nach jm nit bald einer kumbt.372 – Aus dieser Überlegung folgt, daß das, was jemand mit der Feder während eines Tages auf einen halben Bogen Papier reißt oder mit seinem Messerchen („eysellein“) in ein kleines Holz schneidet, kunstvoller und besser werden kann als eines anderen großes Werk, woran dieser ein ganzes Jahr mit höchstem Fleiß arbeitet. Diese Gabe ist ein Wunder. Denn Gott gibt es oft jemandem, zu lernen und zu verstehen, etwas Gutes zu machen, desgleichen kein anderer zu dieser Zeit erfindet, auch vielleicht lange Zeit vor ihm nicht und nach ihm auch nicht so bald.“373 Schon im Lehrbuch der Malerei hat Dürer auf Gott als das Summum bonum („Dan got ist das aller pest gut.“) verwiesen, der der Schöpfer „alle[r] kunst“ ist und „der vns all vnser künen mit teilet“: all unser Wissen, geistiges Vermögen, Erkennen und Verstehen, all unsere Weisheit und Wahrheit.374 Doch in ganz außergewöhnlicher Weise verdanken die „vürtrefflichen künstner“ oder „edlen jngenij“ – und davon war „gerade Dürer fest überzeugt“375 – ihre schöpferischen Fähigkeiten dem gnadenreichen Wirken Gottes. Ihre „grosse meisterschaft“, die sie freilich mit viel Mühe, Arbeit und auch mit großem Zeitaufwand erlangen, „(ist) allein van got verlihen“376. Durch diese von Gott geschenkte virtuose Kreativität und „Sinnreichigkeit“, die sich in ihren Werken manifestieren, erweisen sich die großen Künstler als gottähnliche Geschöpfe. Und dann folgt jener berühmte, hier schon einmal zitierte Satz vom guten Maler, der – „jnwendig voller vigur“ und „jdeen“ – als ein Gott „geleich formig geschopff“ „ewiglich“ aus dem Vollen schöpfen und immer wieder „etwas Neues“ schaffen kann: „Dan ein guter maler ist jnwendig voller vigur, vnd obs müglich wer, daz er ewiglich lebte, so het er aws den jnneren jdeen, do van Plato schreibt, albegg [=allweg] ettwas news durch dy werck aws zw gissen.“377 92
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„Auszugießen“ – dieses auch sonst, wenn es um das Schaffen neuer Kunstwerke geht, von Dürer gern gebrauchte Bildmotiv378 findet sein Korrespondenzmotiv in jenen „öberen ein gissungen“, die Dürer wenige Zeilen vor dem zitierten hochenthusiastischen, ja übermütig euphorischen – „ewiglich“(!) – Passus beschwört. Er erwähnt das Motiv von den göttlichen Eingießungen oder himmlischen Inspirationen, das in der Sprache der deutschen Mystik seinen Ursprung hat, im Kontext von Gedanken zur Kunst des rechten Malens, zu der nur schwer „zu kommen“ sei, „komme“ sie doch letztlich von höherem Einfluss, durch den man zur rechten Kunst „sich geschickt fint“, begabt oder begnadet sei.379 Die „oberen Eingießungen“, die den Künstlern als besondere Begabungen zuteil werden, können als eine höhere Form jenes allen Menschen „von Natur eingegossenen“ Dranges und Strebens oder des ihnen von Gott gegebenen Bedürfnisses verstanden werden, sowohl gern viel zu „wissen“, um „dordurch zw erkenen ein rechte warheit aller dyng“380, als auch gern viel und mehr zu „können“. Dieser Drang und diese nicht vergebliche Suche erscheinen im außergewöhnlichen Vermögen und Wirken des Künstlers nicht nur potenziert; dank der „oberen Eingießungen“, die ihm zuteil werden, finden sie auch in seinen Werken ihre Erfüllung. Aber eben immer nur in „etlicher mas“, immer nur in Grenzen.
„… JNWENDIG VOLLER VIGUR“
Sowohl als überragende Gestalt mit – auch unausgebreitet – großartigen Flügeln als auch durch die zahlreichen handwerklichen, wissenschaftlichtechnischen Geräte und die mit dem Zirkel meisterlich exakt konstruierten und geschaffenen Kunstwerke (Polyeder, Kugel)381, die sie umgeben und ihre so vielfältigen wie außerordentlichen Fähigkeiten bezeugen382, kann die Melencolia als das gesehen werden, was Dürer einen „gewaltigen Künstler“ nennt. In der Figur der Melencolia, die, von Schwermut erfasst, wie ohnmächtig niedergedrückt auf dem Boden ihres offenen Ateliers hockt, zeigt sich ex negativo, was nach Dürers Kunsttheorie unbedingt immer „bey einander“ sein muss, wenn durch große Künstler wunderbare Werke gelingen sollen: „Kunst“ und „Brauch“, scientia und usus, Theorie und Praxis. Souveräne Meisterschaft besteht in der Sicherheit „freyer gwißheyt“383 durch das für das künstlerische Schaffen notwendige Beieinandersein und Zusammenwirken von „Kunst“ und „Brauch“. Dass die Melencolia über diese Souveränität des 93
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Beieinanderseins und Zusammenwirkens von „rechtem Verstand“ und „freier Hand“ verfügt, also Theorie und Praxis, wie Peter-Klaus Schuster lakonisch vermerkt, „in ihr vereint sind“384, ist an ihren drei bedeutendsten Attributen abzulesen: am Buch als Zeichen ihres umfassenden Kunst-Wissens, am Zirkel als Zeichen ihrer souveränen Kunst-Praxis und an ihren Flügeln als Zeichen ihrer divinen Genialität.Von der Melencolia gilt uneingeschränkt: „Wer das wohl kann, der macht wunderbare Ding.“385 Mit dem Pronomen das in diesem begeistert begeisternden Resümee ist die von Dürer geforderte und gelobte „Kunst des Messens“ gemeint, die zu studieren und souverän zu beherrschen er in seiner 1525 publizierten Schrift propagiert hat: Underweysung der messung, mit dem zirckel vnd richtscheyt […]. So ist es vor allem der im Titel ausdrücklich genannte, auf dem Meisterstich von der Melencolia so auffallend nachlässig gehaltene, aber doch immer noch so demonstrativ präsentierte Zirkel, der ganz besondere Beachtung verdient. Mit ihm macht die Melencolia, die „den verstandt mit sambt dem brauch vber kumen“386 hat, auf sich als einen „gewaltzamen künstner“387 aufmerksam, der „alle werck meystert“388. Der Zirkel, der auf mittelalterlichen Darstellungen – mit Berufung auf einen Vers aus dem „Buch der Weisheit“ des Alten Testamentes389 – das eminente Attribut Gottes als creator mundi ist (Abb. 29), erweist sich bei Dürers Melencolia als „das Symbol des schöpferisch genialen Menschengeistes“390. In der Hand der Melencolia symbolisiert er „gewissermaßen die geistige Einheit in der Mannigfaltigkeit der um sie verstreut liegenden Dinge“391. Und er verweist auf die ingeniöse Melencolia als Allegorie oder Personifikation der Künste, speziell der Wissenschaft oder der „kunst der messung“392; und zwar – das ist zu beachten – in jenem offenen Sinn, in dem Dürer in der Widmung zu seinem Buch der Underweysung der Messung, mit zirckel vnd richtscheyt seine Hoffnung zum Ausdruck bringt, dass seine Unterweisung „allen den, so sich des maß gebrauchen, dienstlich seyn mag“393. ***
Die großmächtig geflügelte Melencolia beherrscht in diesem weiten Sinne – wie ihn Dürer auch in der Widmung seiner Proportionslehre notiert – „die Kunst der Messung, auch der Perspektive und anderem dergleichen“394 auf ingeniöse Weise. Ihr sind darum auch all jene Auszeichnungen zu attestieren, die Dürer den „über schwencklichen künstnern“395 zuspricht, indem er sie und ihre Kunst, Kreativität und Virtuosität mit entsprechend überschwänglichen Qualifizierungen nobilitiert: „inwendig voller Figur“, „Kopf voller 94
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29 Gott als Weltarchitekt, Ende 13. Jh.
Kunst“, „Gemüt voller Bilder“ und „Herz voller Schätze“. Dank all dieses inwendig künstlerischen Ideenreichtums und dieser Figuren- und Bilderfülle verfügt die durch Theorie „verständige“ und durch Praxis „geübte“ Melencolia in ihrer Souveränität über außerordentliche Fähigkeiten künstlerischen Könnens und Erkennens, aber auch über jene „grosse lieb“, die aus dem „erkennen im augenblick“ und dem so intuitiven wie intensiven Verstehen großer Kunst („gewaltzam werck“) erwächst. Deuten die nicht entfaltet ausgebreiteten, doch umfassend raumgreifenden und die am Boden hockende Melencolia gleichsam rahmenden oder einfassenden Flügel zunächst einmal ikonografisch darauf hin, dass die Melencolia als eine Allegorie-Figur zu sehen ist, so sind sie, die beim Anblick der Melencolia an eine himmlisch erhabene, aber niedergedrückt deprimierte Nike-Gestalt denken lassen, auch ein unübersehbarer Hinweis auf die außergewöhnliche „Begabung“, die Dürer im Wirken und in den großen Werken der „gewaltigen Künstler“ erkennt. Denn diese Künstler schaffen und wirken „durch die krafft, die Gott dem menschen geben hat“. Gott ist es, der „den künstreichen menschen […] vil gewaltz (gibt)“396 und sie als „von Got begabt meyster“397 95
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schöpferisch wirken lässt; z. B. indem er ihnen die nur als „ein Wunder“ anzusehende „Gabe“ schenkt, in nur „eim tag“ ein Werk zu schaffen, das „künstlicher vnd besser“ ist als „eins andern grosses werck“, an dem „ein gantz jar mit höchstem fleyß“ gearbeitet wurde.398 Es sind die Flügel, die die Melencolia als einen begnadeten Künstler auszeichnen: als ein Wesen nicht nur von dieser Welt. Sie verfügt über die „grosse meisterschaft“, die „allein van got verlihen“399 wird und durch die sie als ein Gott „geleich formig geschopff“400 aus dem „versamlet heymlich schatz des hertzen“401 „ettwas news durch dy werck aws zw gissen“402 vermag. Es sind die Flügel, die auch auf jene ganz besondere Begabung oder „Begnadung“ der Melencolia verweisen, die Dürer „obere Eingießungen“403 nennt und durch die das „ausgießende“ Schaffen inspirierter Künstler oder das „Offenbarwerden“ genialer Werke als „newe creatur“404 durch „fürtreffliche künstner“ und „edle jngenij“405 einzig und allein möglich scheint. Die Wundergabe, die den begnadeten Künstler mit der Kunst begabt, ein Wunderwerk an einem Tag schaffen zu können, evoziert Gedanken an die biblischen Schöpfungsgeschichten, die von den grandiosen Tagwerken der Welterschaffung durch den Allmächtigen erzählen, an deren Ende es heißt: „Gott sah, dass es gut war.“ Bei der Lektüre all dieser Passagen über den – so möchte man sagen – „Gewalten“-Reichtum der Künstler „inwendig voller Figur“ und ganz speziell über die durch die inspirierende Gnade der „oberen Eingießungen“ verliehene göttliche Wundergabe, ein Wunderwerk an einem Tag schaffen zu können, kann man den Eindruck gewinnen, als schreibe Albrecht Dürer – wie verhalten und verborgen auch immer – begeistert an einer Laudatio des „von Got begabt meysters“406. Man gewinnt den Eindruck, als klinge – bei aller wissenschaftlichen Nüchternheit der kunsttheoretischen Traktate – in Dürers Hinweisen auf die wunderbaren Fähigkeiten großer Künstler und ihre große Kunst hier und da etwas von jenem endgültigen Jubel an, in den der Chor in Joseph Haydns Wunderwerk Die Schöpfung ausbricht, wenn er zur Verherrlichung Gottes, des Creator mundi, einen Hymnus singt: „Vollendet ist das große Werk, / Der Schöpfer sieht’s und freuet sich.“ ***
Hier drängt sich die Frage auf, wie Dürer wohl die allegorische Figur einer Frau als Repräsentantin jener überragenden Künstlerschaft eines „von Got begabt meysters“ dargestellt hätte, die er in den kunsttheoretischen Schriften so ausführlich wie engagiert beschrieben hat; also jene Künstlerschaft, die 96
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30 Raffael Die Poesie, 1509
gleichsam als der Melencolia I eingeschriebenes Wahrzeichen bei der Interpretation der Melencolia als Melancholie-Allegorie gegenbildlich mitzusehen und hintergründig mitzudenken ist, um die Situation der Melencolia adäquat zu erfassen und zu erkennen. Möglicherweise hätte Dürer diese geniale Künstlerschaft ähnlich allegorisch inszeniert wie Raffael die Dichtkunst auf dem Fresko Die Poesie (Abb. 30), das in der Stanza della Segnatura des VatikanPalastes zu sehen ist: in der Konfiguration mit weiteren Personifikationen der vier „Fakultäten“, zu denen neben der Poesie auch noch Theologie, Jurisprudenz und Philosophie gehören.407 In Begleitung von zwei mit entfalteten Flügeln sich munter nackt, aber ansonsten doch eher ernst darstellenden Putten, von denen der linke Putto zu ihr auf- und der rechte gedankenvoll vor sich hinschaut, hockt die Poesie nicht wie die Melencolia unten auf der Erde, sondern thront als junge Frau 97
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in einer himmlisch hohen Sphäre souverän mit weit ausgebreiteten Flügeln und lorbeergekrönt auf Wolken. Mit erleuchtetem Gesicht und hellem wachen Blick schaut sie aufmerksam in die Ferne.Vor göttlich farbenprächtigem Mosaikgoldgrund präsentiert sie so selbstbewusst wie ungezwungen – man beachte die leger bis neckisch über Kreuz positionierten Füße – ihre Gedichte, Carmina, Hymnen, Epen, Oden, Dramen, Romane und ihre Ars poetica. Sie präsentiert ihre Opera omnia in einem aufgerichteten prachtvollen Folianten mit dem ausgestreckten rechten Arm auf ihrem von einem prunkvoll blauen Gewand bedeckten rechten Oberschenkel. Im Gegensatz zur Melencolia, die ihr verschlossenes Buch unter dem rechten Arm verdeckt und unter Gewandfalten abgelegt, fast versteckt hat und ihren Zirkel gedankenlos in Gedanken mit der rechten Hand greift, zeigt die Poesie ihr nicht ganz verriegeltes Buch als Zeugnis glorioser Dichtkunst einem Zepter gleich in herrscherlicher Geste wie Kaiser ihre Reichsinsignien als Hoheitszeichen ihrer Macht und Herrlichkeit von Gottes Gnaden. Und ganz anders als die Melencolia mit ihrer facies nigra, die ihren gedanken- und gefühleschweren Kopf an den auf dem linken Knie aufgestützten linken Arm und an die zu einer Faust geballte Hand lehnt, demonstriert die Poesie ihre Souveränität oder ihre facultas, indem sie ihr zweites bedeutendes Attribut – eine Lyra – ebenfalls wie eine Insignie ihrer erlesenen Kunst im angewinkelten linken Arm hält, der auf der Kopfbüste eines bärtigen Mannes ruht, in dem wohl ein bedeutender antiker Dichter zu sehen ist. Die Poesie präsentiert sich als triumphale Erscheinung: nicht wie die Melencolia im Zwielicht, sondern als selbstbewusste Lichtgestalt wie der „hohe Apollo“ („altus Apollo“ 408), der Gott der Poesie, lorbeergekrönt und mit goldener Lyra. NVMINE AFFLATVR – so lautet die in klassisch fein gezeichneten Versalien auf Tafeln eingravierte Bildinschrift, die die beiden Putten dem Betrachter entgegenhalten und zur Deutung von Raffaels Poesie-Allegorie zu lesen geben. In dem Bildmotto, das verkürzt und variiert Formulierungen in Versen aus der Aeneis des Vergil aufgreift409, wird das so große wie weite und uralte Thema himmlischer Inspiration der Dichter, Seher, Propheten oder Orakel durch göttliches Wirken evoziert.410 So ist die Poesie als ein von Gott oder den Göttern, von transzendenten oder numinosen Kräften, von übernatürlichen oder übermenschlichen Mächten „angehauchtes“ oder eben von göttlichem Geist „inspiriertes“ Wesen zu verstehen: „[…] adflata est numine […] dei“, heißt es in Vergils Aeneis von der Cumäischen Sibylle.411 Inschriftlich ausgezeichnet und beglaubigt, zeigt sich die Poesie des Raffael als Apotheose 98
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der Poesia gleichsam weltentrückt in der himmlischen Höhe ihrer Kunst und in der göttlichen Lichtfülle ihres poetischen Könnens. Oder in der Sprache Albrecht Dürers: Raffaels Poesie zeigt sich als „von Got begabt meyster“, dem durch „obere Eingießungen“ – „numine afflatur“ – „vil gewaltz“ gegeben ist und der somit „inwendig voller Figur [und] Ideen“ schöpferisch begnadet „newe creatur“ und wunderbare Werke zu schaffen vermag. Bei Dürers Melencolia geht es zwar nicht um die Kunst der Poesie, sondern vor allem um die bildenden, um die – in einem weiten Sinne – „messenden“ Künste und Wissenschaften412; wobei freilich gleich zu bedenken ist, dass das präzise Messen, Zählen oder „Zirkeln“ auch in der Poesie von eminenter Bedeutung ist, wie sich allein schon expressis verbis im Begriff „Versmaß“ oder bei den Reimen zeigt; aber auch in der Epik, im Drama und in ProsaTexten spielen – wollen sie denn Kunstwerke sein – Verhältnismäßigkeiten oder eben Proportionen eine spezifische, doch entscheidende Rolle. Auch Literatur ist Maßarbeit.413 Doch erweist sich der vergleichend deutende Blick von Dürers meisterlichem Kupferstich Melencolia I auf das Fresko Die Poesie seines genialen Zeitgenossen Raffael als sehr aufschlussreich. Ohne hier etwas bei der komparatistischen Anschauung und Interpretation forcieren zu wollen: Die „facultas“, „potentia“ und „virtus“, wie sie sich in Raffaels Fresko als himmlisch erhabene Kunst-Fähigkeiten der Poesie manifestieren, lassen sich auch in der niedergedrückt in Passivität verharrenden Figur der Melencolia gegenbildlich erkennen.414 Die Melencolia ist ein begnadetes Wesen, das in seiner Kunst über „vil gewalts“ verfügt.415 Aber eben auch – und das ist es, was Dürer bei allem Zwielicht, das seinem Meisterstich als Wahrzeichen eingezeichnet ist, in aller Deutlichkeit primär zur Anschauung bringen will416 – ein Wesen, das sowohl bei aller Kunst-„Gewalt“, über die es – „jnwendig voller vigur“ – verfügt, als auch bei allen „oberen Eingießungen“, die ihm zuteil werden, sich umso mehr immer wieder einmal seiner Grenzen schmerzhaft bewusst wird, in Situationen gerät und Augenblicke erlebt, da sie, die Mächtige, die Ohnmacht auch des „gewaltzamen künstners“ wie sogar des „von Got begabt meysters“ intensiv erfährt, von tiefer Depression heimgesucht und von schwerer Melancholie überwältigt wird.
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„... DAZ WEIS JCH NIT“
„Waß aber dy schonheit sey, daz weis jch nit.“417 Ergreifender als mit dieser berühmten lakonischen Bemerkung in seinem Lehrbuch der Malerei hat Albrecht Dürer, dieser artificiosissimus pictor418, seine existenzielle Grenzerfahrung als Künstler und als Erforscher wissenschaftlich methodischer Grundlagen der Kunst nicht in Worte gefasst.Vor dem Hintergrund der Ausführungen zu Dürers so hoher Meinung vom schöpferischen Menschen und zu seinem stellenweise geradezu glorios gezeichneten und gemalten Bild des wunderbar begabten Künstlers, wie es indirekt in der eminenten Gestalt der Melencolia zu erkennen und bei ihrer Interpretation mitzubedenken ist, wirkt diese Feststellung, die eine den Künstler umtreibende Frage als für ihn definitiv nicht zu beantworten erklärt, ausgesprochen ernüchternd. Es handelt sich bei dem Eingeständnis fundamentalen Nichtwissens, „waß aber dy schonheit sey“, um nichts anderes als um die den so kunstreichen wie „hoch verstendig(en)“419, nach Schönheit suchenden und forschenden Künstler ganz speziell betreffende Resümee-Einsicht in die Unvollkommenheit aller menschlichen Erkenntnis, wie sie Dürer mehrfach notiert hat: „Aber vnser blöd gemüt kan zw solcher volkumenheit aller künstn, warheit vnd weisheit nit kumen.“420 Der Kunsttheoretiker und Ästhetiker Albrecht Dürer weiß nicht zu sagen, was Schönheit ist, obwohl sie, wie es an anderer Stelle heißt, in vielfacher Weise auf Erden („awff ertrich“) anzutreffen ist: „Dy schönheit, was das ist, daz weis ich nit, wy woll sy vill dingen anhangt.“421 Oder besser und genauer: Gerade weil es so viel Schönheit auf Erden gibt, ist, was Schönheit ist, nicht zu sagen. Immer könnte ein Mensch, der alle Schönheit in sich vereinigte, doch noch schöner sein: „Dan es lebt kein mensch awff ertrich, der alle schön an jn hab, er möcht albeg (=allweg) noch vill schöner sein.“ Was „schön“ oder „schöner“ ist, „ist vns nit leicht zw erkennen“ und nicht zu beantworten. So bleibt die Frage nach dem Wesen der Schönheit offen; sie ist immer wieder neu zu bedenken: „Dy schön zw vrteilen, dofan ist zw rat schlagen.“ Schönheit – auch die Schönheit des Menschen, die zu ergründen Dürer sein Leben lang am Herzen lag – ist relativ, ein endgültig abschließendes Urteil ist über sie nicht möglich. So kann Dürer an dieser Stelle seiner Gedanken über die Schönheit im Lehrbuch der Malerei schreiben: „Es lebt awch kein mensch awff erden, der beschlislich sprechen möcht, wy dy aller schönest gestalt des menschen möcht sein.“422 100
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Ähnlich wie im Lehrbuch, doch deutlicher und entschiedener, pessimistisch negativer oder „melancholischer“ artikuliert Dürer seine Gedanken über die Schönheit im Großen ästhetischen Exkurs der Lehre von menschlicher Proportion. Vor allem was die Grenzen menschlichen Erkennens und künstlerischen Schaffens betrifft, so formuliert er seine Überlegungen gleichsam auch gründlicher, indem er die tief im Menschen selber zu findenden Gründe für das Unvermögen benennt, z. B. definitiv sagen zu können, „wy dy aller schönest gestalt des menschen möcht sein“. Diesen Gedanken aus dem Lehrbuch greift er im Exkurs wieder auf und ergänzt ihn: „Aber vnmöglich bedunckt mich, so einer spricht, er wisse die beste maß inn menschlicher gestalt anzuzeygen. Dann die lügen ist in vnsrer erkantnus, vnd steckt die finsternus so hart in vns, das auch vnser nach dappen fehlt.423 – Ich denke, es ist unmöglich zu sagen, man kenne die besten Maße für die menschliche Gestalt und könne sie anzeigen. Denn unsere Erkenntnis ist trügerisch, und die Finsternis ist so dicht in uns, daß auch unser tappendes Suchen („nach dappen“) [nach der Wahrheit] fehl geht.“424 Mit aller Entschiedenheit macht Dürer in seinem Exkurs auf diese „Unmöglichkeit“ aufmerksam. Wie ein Cantus firmus wiederholt sich der Hinweis auf das Unvermögen der Menschen, zu einem endgültigen Urteil über die Schönheit oder das Schöne zu kommen und entsprechend endgültig Schönes zu schaffen. Wie sehr Dürer diese Frage umtreibt, soll durch eine Reihe von ausführlichen Zitaten demonstriert werden, um einmal das fast schon Ostinatohafte der Art und Weise kenntlich zu machen, wie das bedrängende Problem in unterschiedlichen Kontexten thematisiert und direkt oder indirekt angesprochene Grenzerfahrungen zur Sprache gebracht werden: „Vnnd der verstand der menschen kan selten fassen das schön in creaturn recht ab zu machen.Vnd ob gleich wol wir nit sagen künnen von der grösten schonheyt einer leyblichen creatur, so find wir doch in den sichtigen creaturen ein soliche vbermessige schonheyt unserm verstand, also das soliche vnser keiner kan volkumen in sein werck brin[g]en.425 – Und der Verstand der Menschen kann das Schöne in den Kreaturen selten erfassen und angemessen wiedergeben. Denn obwohl wir nichts aussagen können über die größtmögliche Schönheit eines kreatürlichen Körpers, so finden wir doch in den sichtbaren Kreaturen eine sich über unseren Verstand so weit erhebende Schönheit, daß niemand sie vollkommen in sein Werk bringen kann.“426 „Nach solchen dingen rathschlagen die menschen vnd haben vnzelich vil vnderschidlicher vrteyl vnd suchen manicherley weg darnach, wie wol man 101
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daz heßlich eer bekumbt dann das hübsch. In solichem yrthumb, den wir yetzt zu mal bey vns habenn, weyß ich nit stadhafft zu beschreybenn entlich, was mas sich zu de[r] rechtenn hübsche nachnenn möchte.427 – Darüber [über die Frage nach der ‚schönsten Gestalt des Menschen‘] zerbrechen sich die Menschen den Kopf, haben unzählige unterschiedliche Meinungen dazu und suchen mancherlei Wege dorthin, [umsonst] denn man bekommt das Häßliche eher als das Hübsche. In diesem Zustand des Irrens („yrthumb“), den wir jetzt zumal bei uns haben, weiß ich nicht gültig („stadhafft“) anzugeben, welches Maß der rechten Schönheit („hübsche“) am nächsten kommt.“428 „Aber die hübscheyt ist also im menschen verfast vnd vnser vrteyl so zweyffelhafftig dorynn, so wir etwan finden zwen menschen, bede fast schön vnd lieblich, vnd ist doch keiner dem andern gleych inn keim eynigen stück oder teyl, weder in maß nach art, wir verstend auch nit, welcher schöner ist, so blind ist vnser erkantnus. Des halb, so wir daruber vrteyl geben, ist es vngewiß. Aber in etlichen teylen mag dannacht einer den andern vbertreffen, vnd obs vns gleich vnkantlich ist.“429 – Aber die Schönheit („hübscheyt“) ist so im Menschen verfaßt und unser Urteil über sie ist so zweifelhaft [daß es geschehen kann]: Wir finden vielleicht zwei Menschen, beide sehr schön und lieblich, von denen dennoch keiner dem anderen in einem einzigen Teil gleicht weder in den Maßen noch in der Beschaffenheit; uns ist auch nicht einsichtig, welcher [von beiden] schöner ist, so blind ist unsere Erkenntnis. Deshalb ist unser Urteil darüber unsicher. Aber in einigen Teilen kann dennoch („dannacht“) der eine den anderen übertreffen, auch wenn es uns unerkennbar ist.“430 „Dann die yrrung ist schier in allen meynungen. Darumb wie gut wir ein werck machen, noch möchte es allweg besser gemacht werden. Gleych wie mit den Menschen, wie hübsch man ein findt, so mag noch ein schöner gefunden werdenn.431 – Denn der Irrtum steckt schier in allen Meinungen. So gut wir also ein Werk machen, es könnte stets noch besser gemacht werden. Es ist wie mit den Menschen, wie hübsch man einen auch findet, es kann noch ein schönerer gefunden werden.“432 Gemeinsam ist den vier Passagen, aus denen zweifellos „die persönliche Erfahrung des schaffenden Künstlers spricht“433, dass sie auf die Grenzen menschlichen Erkennens und künstlerischen Könnens zu sprechen kommen. Ihr bedrängendes Thema ist die „so hart(e)“, so kompakte und mächtige Finsternis in uns. Sie ist Grund und Ursache dafür, dass wir, die Menschen, auch bei vorsichtig tastenden Versuchen in die Irre gehen und somit erfahren, wie 102
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unsicher unsere Erkenntnisbemühungen und wie trügerisch, zweifelhaft und sogar „blind“ unsere Erkenntnisse sind. Der Zustand des Irrens, in dem wir uns befinden, betrifft hier, da es um Künstler und ihr Schaffen geht, besonders die Frage nach der Schönheit, speziell nach der vollkommenen Schönheit. Von nicht zu lösenden Problemen und nicht zu beantwortenden Fragen ist die Rede: Sowohl von der Frage nach der die Schönheit adäquat erfassenden Erkenntnis als auch vom vergeblichen Bemühen, die immer wieder anders in Erscheinung tretenden, bei aller Vielfalt sich immer wieder übertreffenden Schönheiten der Schöpfung oder die „übermäßige“, über unsern Verstand sich erhebende und erst recht die vollkommene Schönheit maßgerecht ins „werck [zu] bringen“. Es geht – mit einem Wort – um Aporie, Ausweglosigkeit. Die Suche nach möglichen Antworten selbst auf „manicherley weg“ führt ins Ausweglose, zu Ratlosigkeit in Theorie wie Praxis. So lesen sich die Texte wie Variationen zu dem endgültigen oder – in Dürers Sprache – „beschlislichen“ Satz, in dem die Erfahrung der „finsternus so hart in uns“ auf fast schon apodiktische Weise zum Ausdruck kommt: „Waß aber die schonheit sey, daz weis jch nit.“434 Es ist die fundamentale „finsternus so hart in uns“, zu der die Suche des rerum cognoscere causas geführt hat, der sich die Melencolia durch AporieErfahrungen bewusst wird und die sich sowohl in ihrer Erscheinung – ihrer depressiv gebannten Haltung wie im tief verschatteten Gesicht – als auch in der ganzen Stillleben-, Zeitstillstand-Szenerie des Kupferstiches offenbart.435 „… WEYSS GOT ALLEIN“
Angesichts all dieser Grenzerfahrungen und Grenzeinsichten in die – selbst bei „von Got begabt meyster“436 – nicht zu leugnende Erkenntnisblindheit oder Wissensfinsternis des Menschen mit seinen zweifelhaft-fragwürdigen, „lügnerisch“-trügerischen und irrtümlichen Urteilen und mit seinem Unvermögen, weder über die höchste Schönheit etwas aussagen noch die großartigen Schönheiten der Schöpfung, die unbegreifbar sind, vollkommen in ein Kunstwerk übertragen zu können: Angesichts also dieses deprimierenden Zustands der Unsicherheit und des Irrens („yrrung“ „yrthumb“), in dem wir Menschen uns und auch „gewaltige künstner“437 sich befinden und in dem selbst unser tastendes Suchen nach der Wahrheit in die Irre führen kann, könnte man auf den Gedanken kommen, zu verzweifeln oder doch zu resignieren, alles Fragen, Suchen, Forschen einfach aufzugeben und ein Vanitas! 103
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Vanitatum Vanitas! definitiv als Resümee zu konstatieren. Doch eine solche endgültige Resignation oder gar Verzweiflung kommt für Dürer nicht einmal andeutungsweise in Frage: „So wir nun zu dem aller besten nit kumen mögen, sol wir nun gar von vnser lernung lassen? Den fihischen gedancken nem wir nit an. Dann die menschen haben args vnnd gutz for jn, darumb zimbt sich eim vernünfftigen menschen, das besser fürzunemen.438 – Nachdem [es ausgemacht ist, daß] wir nicht zum Optimum [in Sachen Maß und Schönheit] gelangen können, [stellt sich die Frage], ob wir von unserem Studium Abstand nehmen sollen. Diesen viehischen Gedanken nehmen wir nicht an. Denn den Menschen steht Schlechtes und Gutes zur Wahl, darum ziemt es einem vernünftigen Menschen, das Bessere in Angriff zu nehmen.“439 Energischer lässt sich ein als „viehisch“ oder – wie Joachim Camerarius den von Dürer gewählten Ausdruck ins Lateinische übersetzt und interpretiert440 – als „inhuman(us)“ erkannter Gedanke nicht zurückweisen. Ein solch menschenunwürdiges Ansinnen widerspricht entschieden Dürers optimistischem Humanismus, wie er sich speziell auch in den elementaren pädagogischen Absichten seiner zahlreichen, mehr oder weniger ausführlichen Texte zum Lehrbuch der Malerei und in den Vier Büchern von den menschlichen Proportionen offenbart. Allein schon die Titel, die Dürer für drei mit „Salus 1513“ überschriebene Entwürfe zum „Lehrbuch“ gewählt hat, verweisen auf seine nie aufgegebene Intention: Ein vndericht der malerey, Vnder weisung der ler jungen jn der molerey und Ein speis der maler knaben441. Die Titel sagen eigentlich alles, indem Dürer selber in ihnen auf sich als einen Lehrer aufmerksam macht, der seine „vnderweisung gutwilich mit teillen“442 oder eben sein Wissen und seine Kenntnisse als nahrhafte „Speise“ für Künstlerkollegen und angehende Künstler vermitteln möchte. Nie hätte Dürer jenes inhumane „Nichts zu wissen ist das glücklichste Leben!“ unterschrieben, das Agrippa von Nettesheim am Ende der Widmung zu seinem Werk Über die Fragwürdigkeit, ja Nichtigkeit der Wissenschaften, Künste und Gewerbe als Resümee formuliert hat.443 Auch signalisiert Dürers im Titel der Proportionen-Bücher formuliertes Bekenntnis, sie geschrieben zu haben „zu nutz allen denen / so zu diser kunst lieb tragen“444, deutlich genug, was das ganze Werk von der Widmung bis zum Ende intensiv zum Ausdruck bringt, nämlich allen Künstlern, Kunstliebenden, Lernbegierigen zu nutzen und ihnen einen Gefallen zu tun. Der pädagogisch aufklärerische Impetus, von dem der Exkurs getragen wird, zeigt sich sowohl direkt in einzelnen Bemerkungen Dürers; z. B., wenn er erklärt: 104
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„Aber gern wolt ich helffen, so vil ich künt, das die grobe vngestalt vnsers wercks abgeschnydten vnd vermiten blyb.445 – Aber gern möchte ich, so viel ich kann, dabei helfen, daß grobe Ungestalt in unseren Werken ausgeschieden und vermieden werde.“446 Es zeigt sich dieser Impuls, von dem die Texte gleichsam imprägniert scheinen, aber auch in der intensiven Art und Weise, wie sich Dürer persönlich an den Künstler und Leser wendet und ihn in vertrauter Zugewandtheit eindringlich mit Du anspricht, als wolle er ihm so etwas wie Privat„vnderweisung“ oder Einzel-„vndericht“ erteilen, aber auch einmal gleichsam ins Künstlergewissen reden; wie z. B. in jenen hier schon in extenso zitierten und thematisierten Passagen, in denen Dürer „dem Geist der Renaissance“ so nahe gewesen ist wie wohl niemals sonst und in denen der „Sinn des ästhetischen Exkurses gipfelt“447. So stehen diese emphatisch von der DuAnrede beherrschten Texte denn auch gleich einer Zusammenfassung kurz vor Ende des Exkurses; sie beginnen jeweils rhetorisch mit einer ähnlichen Anrede in Form eines einmal negativen, einmal positiven Konditionalsatzes: „Aber so du kein rechten grund hast…“ und „Aber so du wol messen hast gelernt…“; und sie enden mit dem enthusiastischen Hinweis auf das Wunderschaffen der Künstler und ihre herrlichen Werke: „Wer das wohl kann, der macht wunderbare Ding.“448 ***
Alles Forschen, Fragen und Suchen einfach aufzugeben oder gar angesichts aller Aporien, in die die Menschen bei ihren geistigen Anstrengungen oder bei künstlerisch schöpferischen Tätigkeiten geraten können, einfach zu resignieren, einfach nicht mehr wahrhaben zu wollen, dass trotz aller Grenzerfahrungen im Zwielicht der Condition humaine „wunderbar ding“ geschaffen werden können, darum einfach zu verzweifeln und in „völlige Apathie“449 zu verfallen, kommt für die geflügelte Melencolia nicht in Frage.Verzweifeln hieße für sie, ihre Flügel zu leugnen, Kopf und Blick zu senken, die Augen zu schließen und im lähmenden Zustand hoffnungsloser Leblosigkeit und finsterer Selbstaufgabe zu verharren. Aber die Melencolia hat ihre Flügel deutlich geöffnet, ihr Kopf ist leicht geneigt, doch nicht gesenkt, ihre Augen sind weit geöffnet und aus dem verschatteten Gesicht ist ihr heller, offener, erhobener und konzentrierter Blick bestimmt ins Ferne, Weite gerichtet. Es ist ein Blick nach vorn. Die Melencolia ist ganz Geist, ganz Aufmerksamkeit. Ihre wache Aufmerksamkeit gilt einer fundamentalen Einsicht, die Dürer in 105
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einem anderen bedeutenden Textpassus aus dem Großen ästhetischen Exkurs folgendermaßen formuliert hat: „Dann ich glaub, das kein mensch leb, der da inn der minsten creatur sein schönstes endt möchte bedencken, ich geschweyg dann in einem menschenn, der da ein besunder geschöpf Gottes ist, dem ander creaturen vnderworffen sind. Das gib ich nach, das einer ein hübschers bild bedracht vnd mach vnd des gut natürlich vrsach anzeygen der vernunfft eynfellig dann der ander. Aber nit pyß zu dem ende, das es nit noch hübscher möchte sein. Dann solchs steygt nit in des menschen gemüt. Aber Got weyß solichs allein, wem ers offenbarte, der west es auch. Die wahrheyt helt allein innen, welch der menschen schönste gestalt vnd maß kinde seyn vnd kein andre. […] Darumb nym dir nimer mer für, das du etwas besser mügest oder welest machen dann es Gott seiner erschaffnen natur zu würcken krafft gebenn hat. Dann dein vermügen ist krafftlaß gegen Gottes geschöff.450 – Denn ich glaube, daß es keinen Menschen gibt, der bei der geringsten Kreatur das Höchstmaß der Schönheit erdenken könnte, geschweige denn bei einem Menschen, der da ein besonderes Gottes-Geschöpf ist, dem die anderen Kreaturen untertan sind. Ich gebe es zu, daß jemand ein hübscheres Bild entwirft und realisiert und dessen gute natürliche Ursache der Vernunft verständlicher („eynfellig“) machen kann als ein anderer. Dieses aber nicht bis zu dem Schluß, daß es nicht noch ein hübscheres geben könnte. Denn dieses [Wissen um maximale Schönheit] gelangt nicht in des Menschen Geist („gemüt“). Das weiß Gott allein; wem er es offenbarte, der wüßte es auch. Gott, die Wahrheit, behält sich das Wissen über die schönste Gestalt des Menschen und seine Maße vor. […] Darum nimm es dir niemals vor, etwas besser machen zu können oder zu wollen, als es Gott der von ihm geschaffenen Natur zu bewirken gegeben hat. Denn dein Vermögen ist kraftlos gegenüber Gottes Schöpfung.“451 „Das weiß Gott allein“ – deutlicher kann die Antwort auf alle AporieErfahrungen menschlichen Erkennens nicht artikuliert werden. Deutlicher als mit „… weiß ich nicht“ und „… weiß Gott allein“, bei denen es keine Zwielichtigkeiten, keine Zweifel gibt, kann der Gegensatz zwischen menschlichem Unwissen und göttlichem Wissen nicht benannt werden. Selbst unter den durch „obere Eingießungen“ begnadeten Menschen oder Künstlern gibt es keinen, dem Gott sein ganzes Wissen offenbarte. Denn Gott allein, der die Wahrheit ist, kennt die schönste Gestalt des Menschen; aber er offenbart sie nicht. So „steygt“ oder gelangt sie auch in keines Menschen Geist. Doch mag das geistig künstlerische Vermögen und Wissen des Menschen noch so schwach 106
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und kraftlos im Verhältnis zu Gottes wunderbarer Schöpfung und zu seinem allmächtigen Wissen der Wahrheit sein, so weiß der Mensch, so weiß Albrecht Dürer ganz gewiß Eines: dass Gott allein es ist, der weiß, was vollkommene Schönheit ist. Das Mysterium der Schönheit bleibt Gottes Geheimnis. Solche transzendierenden Gedanken über Gott und Mensch dürften die Melencolia, die durch ihre mächtigen Flügel als „ein von Got begabt meyster“ ausgezeichnet ist, intensiv beschäftigen, wie es ihre hellen Augen und ihr offener, gleichsam beflügelter, aber auch skeptisch-kritischer Blick aus dem verschatteten Gesicht signalisieren. Wie weiter oben schon ausführlich erläutert, sind die erhoben-erhebenden Augen und der außerordentlich aufmerksame Blick der Melencolia die Ausnahmeerscheinung, das einzige intensive Lebenszeichen in der wie gebannt leblos niederliegenden Welt der Melancholie. Gesicht, Augen und Blick der Melencolia deuten durch ihre lebendige Präsenz die Richtung an, in der eine adäquate Interpretation des Meisterstiches möglich scheint.Vielleicht hilft dabei auch ein Blick von der Bildenden Kunst zur Poesie. ***
In T. S. Eliots Gedicht The Hollow Men / Die hohlen Männer sind einige Verse zu lesen, die wie mit Blick auf Albrecht Dürers Meisterwerk Melencolia I und ganz speziell mit Blick auf die Grenzerfahrung der Hauptfigur des Kupferstiches gedichtet sein könnten und darum wohl auch einmal so gelesen werden können.452 Wie auch immer The Hollow Men im Detail und im Ganzen zu verstehen sein mag, es soll hier einmal gewagt werden, die entsprechenden Verse aus ihrem literarischen Kontext herauszulösen und sie im Kontext eines ganz anderen Kunstwerkes zu verstehen: im bildlichen Kontext von Dürers Melencolia I, wie sie hier zu deuten versucht wird. Die Verse lauten453: Between the idea And the reality Between the motion And the act Falls the Shadow For Thine is the Kingdom
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Zwischen Idee Und Wirklichkeit Zwischen Regung Und Tat Fällt der Schatten Denn Dein ist das Reich Es ist das Bild von dem fallenden – bei T. S. Eliot mit Versal ausgezeichneten – Schatten, das gleich sowohl an die Melencolia I mit den in ihrer AllegorieGestalt versinnbildlichten als auch an Albrecht Dürer mit den in seinen Schriften theoretisch artikulierten Aporie- und Grenzerfahrungen denken lässt. Das Bild vom Schatten, der zwischen Idee und Wirklichkeit, zwischen Wollen und Vollbringen fällt, evoziert Assoziationen an all jene kunsttheoretischen Ausführungen zu Einsichten Dürers, die sich, was ihre negativen Aspekte betrifft, in seiner Bild-Formulierung von der „finsternus so hart in uns“ wie in seinem entschiedenen „daz weis jch nit“ zusammenfassen lassen.454 Es erinnert an all jene Schatten, die auf Dürers zwielichtigem Bild einer gleichsam wie von Schwermut niedergedrückt und gebannten Szenerie zu sehen sind, als deren ideelles Zentrum die an der rechten Bildseite tief unten auf einer Stufe hockende und ratlos untätig ihren Zirkel haltende Melencolia gleich einer besiegten Nike als ein Licht- und Schattenwesen erscheint.Vor allem erinnert das Bild vom fallenden Schatten an das leicht geneigte, deutlich verschattete Gesicht der geflügelten Melencolia, an ihre facies nigra, mit den umso heller blickenden erhobenen Augen.455 Die Grenzerfahrung des „fallenden Schattens“, die ein Künstler bei all seinem Schaffen immer wieder erlebt, hat Dürer auch einmal auf einem Kunstwerk indirekt in Worte gefasst und doch so genau wie eindrucksvoll und exemplarisch benannt (Abb. 31). In einer sich selber beim Namen nennenden, wie gemeißelt wirkenden Inschrift zu seinem 1526 datierten und mit seinem berühmten Monogramm gleichsam beglaubigten Kupferstich mit dem Porträt des Philipp Melanchton gibt Dürer zwei Jahre vor seinem Tod mit einem Distichon zu bedenken: „Viventis potuit Durerius ora Philippi / Mentem non potuit pingere docta manus. –Wohl vermochte Dürers gelehrte Hand ein Porträt Philipps so lebensnah zu zeichnen, nicht jedoch seinen Geist.“456 Ein Bild, mag es auch noch so überzeugend lebensnah und ergreifend wirklichkeitsgetreu gezeichnet, modelliert oder gemalt sein, ist eben nur ein 108
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31 Albrecht Dürer Philipp Melanchthon, 1526
Bild. Es ist eben doch etwas ganz anderes als die Wirklichkeit und das Wirken eines lebenden Menschen, der seinen lebendigen Geist in seinem Leben in all seinen Möglichkeiten zu vergegenwärtigen vermag. Ganz oder vollkommen ist ein Mensch bei aller Kunst in der Kunst nicht zu erfassen. Mögen die auf Dürers Kupferstich dargestellten Augen Philipp Melanchtons mit ihren wie kleine Fenster gebildeten Lichtreflexen auch noch so sehr auf Gedankenfülle und Geistesgegenwart des Gelehrten und Reformators aufmerksam machen457, die Person, der Mensch oder eben die Persönlichkeit Melanchthon und ihr so wirkmächtiger Geist ist auch auf diesem wunderbaren Porträt nur angedeutet, eben nur abgebildet, nur im Abglanz, in Abwesenheit präsent. Den fünf Versen der Strophe in Eliots Gedicht mit dem Falls the Shadow als Schlusszeile folgt nicht etwa als weiterer Vers das For Thine is the Kingdom; es bildet vielmehr so etwas wie eine eigene Strophe, die aus diesem einzigen und einzigartigen Vers Denn Dein ist das Reich besteht, der jedoch weder von der vorangehenden noch von der nachfolgenden Strophe durch eine 109
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zusätzliche Leerzeile distanziert ist; insofern verbleibt er formal im poetischen Rahmen des Gedichtes. Aber er geht markant gleichsam auf Distanz zu den anderen Strophen / Versen, unterscheidet er sich doch von ihnen nicht nur durch Kursivschrift, sondern auch durch seine so exklusive wie exzentrische Stellung innerhalb der Zeilenordnung und des Satzspiegels: Ganz an den rechten Rand gerückt, wird er zu einer außerordentlichen, zu einer geradezu immanent jenseitigen Größe, die seiner inhaltlichen Bedeutung entspricht. Denn: Denn Dein ist das Reich ist ein Lobpreis Gottes, mit dem heute das christlichste aller christlichen Gebete, das von Jesus selber in seiner Bergpredigt gelehrte Vaterunser, endet. Mit den ihm vorhergehenden fünf Versen, die von der fundamentalen Bedingtheit allen geistigen und praktischen Handelns des Menschen sprechen, steht dieser gleichsam entrückte Vers in einem Begründungszusammenhang: Falls the Shadow und For Thine is the Kingdom bilden ein kausal argumentatives Junktim, aber ein Junktim auf Distanz. Idee und Wirklichkeit, Regung und Tun werden immer überschattet von der Tatsache, dass sie letztlich und endgültig, mag sich der Mensch auch noch so bemühen, nie zusammenfinden, nie kongruieren. Die Realität bleibt immer hinter dem Ideal zurück. Ein Ideal, eine Idee lässt sich nie vollkommen verwirklichen. Der Mensch ist endlich, unvollkommen. Er lebt nicht in einer vollkommenen Welt, nicht im Paradies oder in einem so souveränen Zustand, da ihm alles glückt, alles gelingt – mag er sich auch noch so anstrengen und noch so sehr ins Gelingen verliebt sein. Immer bleibt noch etwas zu wünschen übrig. Und die Zeit, da das Wünschen geholfen hat, hat es nie gegeben. Der Schatten der Endlichkeit ist in der Welt des Menschen allgegenwärtig. Ohne den Schatten der Endlichkeit ist die Condition humaine nicht zu denken. Condition humaine heißt Grenzen erfahren, heißt endlich sein, heißt mit dem Schatten, im Schatten leben. Doch nicht in Finsternis. Kein Schatten ohne Licht. In der endlichen Welt oder im irdischen Reich der Menschen, wo immer der Schatten fällt zwischen Idee und Wirklichkeit, Regung und Tat, Wollen und Vollbringen, herrscht das Zwielicht. Die Menschen leben – und hier kann noch ein weiterer bedeutender Vers aus T. S. Eliots Gedicht zitiert werden – In the twilight kingdom / Im Reich des Zwielichts458. Nicht des Menschen, sondern Gottes ist das Reich des Lichtes. Er allein, der Allwissende, ist über jeden Schatten erhaben: For Thine is the Kingdom. ***
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Nicht anders oder doch ähnlich kann Dürers Denkbild gelesen werden. Dürers „das weiß ich nicht“, das die Frage nach der idealen, der vollkommenen Schönheit als Frage nach Wahrheit betrifft459, ist sein reales Fällt der Schatten. Es hat seinen Grund im „weiß Gott allein“, der die „wahrheyt“ ist, der sein Wissen „über die schönste Gestalt des Menschen“ für sich behält („allein innen helt“) und den Menschen nicht offenbart.460 So „steygt [es] nit in des menschen gemüt“461 und fällt immer der Schatten bei all seinem Denken und Tun. Doch wie – jetzt unabhängig von Eliots Gedicht betrachtet – ein aus Einsicht des Glaubens gesprochenes oder gar gebetetes For Thine is the Kingdom als ein Credo in Deum omnipotentem zu verstehen ist462, also als vertrauens- und hoffnungsvolles Bekenntnis und nicht als Zeugnis von Resignation oder gar von Depression und Verzweiflung, so sind auch weder Dürers „weyß Got allein“ noch seine Melencolia als Manifestation von Verzweiflung, Schwermut oder abgrundtiefer Melancholie zu begreifen463, die dem heillosen Gedanken des Vanitas! Vanitatum Vanitas! ausgeliefert ist464, sondern als Ausdruck nüchtern gläubiger Einsicht in das Verhältnis von condicio humana und condicio divina der Schöpfung.465 Bei Erwin Panofsky, der in der Melencolia eine Allegorie-Figur der Kunst der Geometrie erkennt, ist zur Grenzerfahrungssituation der Melencolia zu lesen: „[…] Menschen, die für die Geometrie begabt sind, sind dazu bestimmt, melancholisch zu sein, weil das Bewußtsein von einer Sphäre jenseits ihrer Reichweite sie an einem Gefühl von geistiger Eingeschränktheit und Ungenügen leiden läßt. – Ebendies ist es, was Dürers Melancholia zu erfahren scheint. Geflügelt zwar, doch auf dem Boden kauernd – bekränzt, doch von Schatten umwölkt –, versehen mit den Werkzeugen von Kunst und Wissenschaft, doch in Untätigkeit vor sich hinbrütend, macht sie den Eindruck eines schöpferischen Wesens, das durch Gewahrwerden unübersteigbarer Schranken, die es von einer höheren Gedankenwelt scheiden, in einen Zustand der Verzweiflung versetzt ist.“466 Wie auch immer es sich mit dem Zur-MelancholieBestimmtsein der zur Geometrie begabten Menschen verhalten mag, in dem dreifachen emphatischen „doch“ kommt das Zwielichtig-Zwiespältige der existenziellen Grenzerfahrungen der Melencolia und ihrer Situation genau zur Sprache und zum Ausdruck.467 Doch befindet sich die Melencolia nicht „vor sich hinbrütend“ in einem „Zustand der Verzweiflung“. Sie ist nicht nur „von Schatten umwölkt“, sie hat auch eine helle Lichtseite. Sie ist in der Tat „von einer höheren Gedankenwelt“ geschieden, doch sie hat diese Gedankenwelt sozusagen im Gedanken-Blick. 111
DRITTES KAPITEL
Sie, die zu jenen „hochferstendigen“ gehört, die „ein geleichheit zw got“ haben468, erfährt ihre Grenzen. Doch aufgrund dieser „geleichheit zw got“ überschreitet sie – wie auch immer – diese ihre Grenzen, indem sie erkennt, dass ihr jene „höhere Gedankenwelt“ unzugänglich ist. So erkennt sie, dass die hohe Kunst der Messung – symbolisiert im Zirkel, den die Melencolia so auffallend lässig und doch so auffallend präsent mit ihrer rechten Hand hält – nicht alles ist, nicht das Maß aller Dinge. Zwar „meystert“ die Melencolia, die „Kunst“ und „Brauch“ souverän beherrscht, dank ihrer „docta manus“ 469 „alle werck“, doch es gibt – wie sie erkennt und anerkennt470 – bei aller künstlerischen Meisterschaft ihrer sogar „divinae manus“, durch die sie „multa immortalia opera“ zu schaffen vermag471, auch eine Grenze. Es gibt noch eine andere Meisterschaft. Es gibt ein Jenseits der Messung, ein Jenseits aller menschlichen Wissenschaft, Kunst und Weisheit.472 Diesem Jenseits aller Vernunft gilt Dürers entschiedenes „… daz weis jch nit“-„… weyß Got allein“. In der zweifachen Einsicht hinsichtlich menschlichen Nicht-Wissens und göttlichen Wissens finden seine lebenslangen theoretischen und praktischen Bemühungen um das rerum cognoscere causas ihr Resümee. Doch das Glück definitiven Ergründens
32 Melencolia I, Detail
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und Erkennens der Gründe, von dem Vergil in seinem berühmten Vers aus den Georgica spricht, kennen Dürer und seine Melencolia nicht. Im „weyß Got allein“ des „frumm vnd kunstreych Albrecht Dürer“473 artikuliert sich sein Denn Dein / Sein ist das Reich.474 Der Weg der Selbst-, Welt- und Gotteserkenntnis führte ihn vom „… von Got begabt meyster“ über „… daz weis jch nit“ zum „… weyß Gott allein“. Diese Erfahrung und endgültige oder – mit Dürer – „beschlisliche“ Einsicht wird im Bild der Melencolia (Abb. 32) offenbar. Aufgrund all ihrer Grenzerfahrungen erscheint die Melencolia von Melancholie als einer Art tristitia metaphysica ergriffen, die sich sowohl im schwermütig gebannten, so reglosen wie leblosen Ambiente mit dem Putto melancholicus im Zentrum als auch in der deprimiert niedergedrückten Erscheinung dieses „gewaltigen künstner(s)“ mit verschattetem Gesicht deutlich manifestiert. Wie sich jedoch – hab acht auffs awg475 – im hellen, offenen, lebendig aufmerksam himmelwärts und gedankenvoll nach innen gerichteten Blick zeigt, die geflügelte Melencolia bleibt beflügelt. Sie bleibt Numine afflatur. Und sie weiß, sie ahnt es.
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Vgl. zu diesem Motto hier Anm. 6. Hartmut Böhme (1989, S. 20) bestimmt den Ort des Putto „direkt auf der Mittelachse, weniges über dem Bildmittelpunkt“. – Nach G. Werner Kilian (1961, S. 620, 633), für den „die zentrale Position des Kindes etwas Bezwingendes (hat)“, hat Dürer „dem Putto den beherrschenden Platz zugewiesen“. Weiter heißt es bei Kilian, der vom Putto auch als dem „Kind“ spricht und seine Bedeutung im Kontext des „ordoMitte“-Gedankens zu situieren versucht: „Das Kind nun ist es, das im Melencolia-Stich auf Grund des Goldenen Schnittes und auch sonst den Mittelpunkt einnimmt und zugleich den Waagepunkt bildet. In ihm sieht Dürer das zentral Beherrschende ‚aller menschlichen Sympathie‘“. – Auch für G. R. Heyer (1934, S. 256) wird das Kind „im Zentrum des Blattes sichtbar“ und befindet es sich „nicht ohne tieferen Grund in der Mitte des Blattes“. – Ernst Th. Mayer (2009, S. 8) befindet, „dass der fleißige Knabe auf dem zentralperspektivisch elliptisch dargestellten MühlsteinRund exakt im Fadenkreuz des GS [des Goldenen Schnittes] sitzt.“ – Bei Martin Büchsel (2010, S. 66) ist zu lesen: „Nach den Regeln des goldenen Schnittes befindet sich der Putto genau in dessen Fadenkreuz.“ Elfriede Scheil (2007, S. 203, 212) notiert in ihrem Aufsatz, in dem sie die Melencolia I als Justitia-Allegorie zu deuten versucht: „Selbst der auf dem Mühlstein sitzende Putto hält mit dem Schreiben auf seiner Schiefertafel inne!“ Und: „Zur Rechten Justitias sitzt ein kleiner Putto auf einem Mühlstein. Er hält eine Schiefertafel auf seinen Knien und einen Griffel in der rechten Hand. Das Köpfchen ist zwar wie zum Schreiben gesenkt, doch er schreibt nicht. Im Gegensatz zur herrschenden Meinung ist der Kleine nicht ‚aktiv‘.“ – Auch Karoline Feulner (2013, S. 178ff.) hat wohl ihre Zweifel, was die Aktivität des Putto betrifft, denn sie schreibt: „Auf ihrer [der Melencolia] rechten Seite sitzt auf einem Mühlstein ein kleiner Putto, der eifrig etwas in ein Buch zu notieren scheint.“ Doch nimmt sie dieses „scheint“ gleich wieder zurück, wenn sie – Klibansky / Panofsky / Saxl zustimmend – anmerkt: „Der beschäftigte Putto kann als Gegenbild zur untätigen Melancholia gedeutet werden.“ Falls denn der Putto wirklich eifrig etwas notierte, dann jedenfalls nicht „in ein Buch“, wie Feulner schreibt, sondern auf eine (Schiefer-?, 115
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Wachs-?)Tafel, die (s. auch „Hieronymus im Gehäus“) mit Griff, Öse und Schlaufe zum Aufhängen versehen ist. – Möglicherweise wurde – was bei den immens vielen Melencolia-Studien, die nicht alle studiert oder auch nur konsultiert werden können und konnten, vorkommen kann – doch noch ein Hinweis auf die Untätigkeit des Putto nicht berücksichtigt. 4 Vgl. Rupprich II, S. 115, Z. 1ff. 5 Es handelt sich hier nicht um einen „beliebigen Einfall“, der – wie Heinrich Wölfflin angemerkt hat – einfach so gedankenlos zum „Gedanken Dürers“ proklamiert wird; zitiert nach Klibansky / Panofsky / Saxl 1990, S. 20. 6 Karl Rapke (1902, S. 71) hatte eine Inschrift auf dem Blatt so entziffert. Heinrich Wölfflin (o. J., S. 39) hat Rapkes Lesart übernommen, doch verweist er darauf, dass es sich um „eine jetzt nur noch schwer lesbare Inschrift“ handelt, und stellt die Frage „(ob Original?)“. Schon Eduard Flechsig (1931, II, S. 77) notiert jedoch – und zwar „mit Recht“, wie Friedrich Winkler (1937, II, S. 140) zustimmt –, dass Rapkes Annahme „auf mangelhafter Beobachtung, auf Selbsttäuschung“ beruhe. Tietze / Tietze 1937, II, 1. Halbband, S. 62, diagnostizieren dagegen wie Rapke das „hab acht awffs awg“. Walter L. Strauss (1974, III, S. 1204) referiert nur Rapkes Position und Flechsigs Gegenposition und verweist – ohne sich selber zu entscheiden und ohne Namen zu nennen – auf „other commentators“, die „Rapke’s suggestion“ akzeptiert haben. Siegfried Rösch (1971, S. 163) zitiert die angebliche oder tatsächliche Inschrift auf der Federzeichnung als eine Art Leitgedanke für das Schaffen des Künstlers: „Dürer betont in seinen Schriften mehrmals: ‚Hab acht auff ’s Aug!‘“ 7 Vgl. Dürer 2000, „Unterweisung der Messung“,Viertes Buch, unter Seite „P“, wo es heißt: „Darumb muß zum ersten gesetzt werden der punct des augs.“ 8 Vgl. dazu Eberhard Schröder (1980, S. 68f.) mit Abbildung des Dresdner Skizzenblattes. – Solch stilisierte Augen(-Punkte) hat Dürer auch z. B. in den Abbildungen 56ff. am Ende der „Unterweisung der Messung“ eingezeichnet; vgl. Dürer 2000. 9 Auch das Feuer brennt noch in dem Kohlebecken mit wohl einem Schmelztiegel links neben dem Polyeder. 10 Vgl. Klibansky / Panofsky / Saxl 1990, S. 24. 11 Doch schon Paul Weber (1900, S. 45) hat in mehr als deutlichen Worten sein Unbehagen, seinen Unwillen und sein Missfallen angesichts der „Gelehrsamkeit“ geäußert, die Dürer und seinen Werken – speziell der Melencolia I – 116
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„aufgepackt“ wurde: „Mehr noch als beim Reiter [Ritter,Tod und Teufel] hat man aber von jeher gerade bei der Melancholie in schier unergründliche Tiefen der Phantasie hinabsteigen zu müssen geglaubt und hat einen solchen Berg gelehrten Schuttes über den klaren Quell Dürerischer Redeweise aufgeschüttet, dass man von seinem melodischen Rauschen fast nichts mehr vernimmt. Es ist der Melancholie so ergangen, wie Raffaels ‚Schule von Athen‘ und der ‚Disputa‘: Man hat dem Künstler so viel Gelehrsamkeit aufgepackt, dass man nun gar nicht mehr den Mut hat, an ganz einfaches und Naheliegendes zu denken.“ Wie auch immer es sich mit dem „klaren Quell Dürerischer Redeweise“ und „seinem melodischen Rauschen“ bzw. dem „gelehrten Schutt“ verhalten mag, mit durchaus respektabler Gelehrsamkeit hat sich Paul Weber nicht gerade zurückgehalten. Was hätte Paul Weber wohl angesichts der immensen Melencolia I-Gelehrsamkeit gesagt, die in den hundertdreizehn Jahren nach seiner Studie noch hinzugekommen ist? – 1988 hat Raymond Klibansky (vgl. Klibansky / Panofsky / Saxl 1990, S. 20) eher resigniert konstatiert: „Heutzutage haben wir die Wahl zwischen ausgefeilten Interpretationen astrologischer, psychoanalytischer, alchemistischer, soziologischer, theologischer, theosophischer, freimaurerischer, numerologischer, magischer und philosophischer Art.“ Zu ergänzen wäre dieser Interpretations-Leporello u. a. noch durch die Justitia-Deutung der Melencolia von Elfriede Scheil, 2007. 12 Trotzdem sollen wenigstens in einer Anmerkung doch einmal nur einige Namen jener abendländischen, zum „Ideenkreis“ (Ludwig Volkmann) von Dürers „Melencolia I“ gerechneten Geistesgrößen genannt werden, die nur für die Vor- oder Traditionsgeschichte des Meisterstiches Melencolia I als relevant für das Melancholie-Thema mehr oder weniger ausführlich herbeizitiert und für die weiträumige oder enge Deutung des Werkes mal mehr, mal weniger als repräsentativ angesehen werden: Hippokrates, Rufus von Ephesus, Aretaeus von Kappadokien, Platon, Aristoteles, Galenus, Avicenna, Averroes, Thomas von Aquin, Heinrich von Gent, Hildegard von Bingen, Dante, Boethius, Constantinus Africanus, Petrarca, Pico della Mirandola, Nikolaus Cusanus, Marsilio Ficino, Agrippa von Nettesheim, Gregor Reisch, Martin Luther, Erasmus von Rotterdam, Carolus Bovillus, Konrad Celtis, Ulrich Pinder, Philipp Melanchthon, Raffael, Leonardo, Michelangelo etc., etc., etc. 13 Wenn sogar Peter-Klaus Schuster (1991, S. 13f., 105) seine zweibändige, über 800 Seiten umfassende, mit 158 Bildtafeln illustrierte, ungemein weiträumig 117
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enzyklopädisch angelegte und als eine Summa Melancholiae zu begreifende Monographie zum Melencolia I-Stich – „Er soll hier neu gedeutet werden […] als die Bildsumme seines [Dürers] Denkens“– als „weitaus bescheideneren Versuch“ glaubt qualifizieren zu können – „und mehr als ein Versuch kann es nicht sein“(!), ein „Versuch zu einer neuen Dürermonographie“ –, dann trifft diese Vokabel mit vollem und noch mehr Recht ganz bestimmt auf diese im Vergleich doch wirklich eher als bescheiden und zurückhaltend zu qualifizierende Studie zu. 14 Im Vorwort zur deutschen Ausgabe von „Saturn und Melancholie“ schreibt Raymond Klibansky (vgl. Klibansky / Panofsky / Saxl 1990, S. 26) ein wenig allzu zurückhaltend: „Die Aufzeichnungen Dürers können zur Deutung seines Stiches [Melencolia I] einen wertvollen Beitrag leisten; zunächst in Hinsicht auf die Erklärung gewisser Details. Auf der Grundlage von Dürers Kunstauffassung läßt sich der Sinn vermuten, den er seiner Komposition zuerkannte.“ – Für Schuster 1991, S. 86, „zeigt sich“ hingegen fraglos selbstverständlich, „daß nicht nur die kunsttheoretischen Schriften Dürers, sondern auch seine Briefe und Dichtungen geradezu als fortlaufender Kommentar zu seinem Melancholieblatt gelesen werden können“. Doch dabei, was ja auch schon viel ist, belässt er es nicht, sondern er weitet seine Melencolia I-Studie aus ins enzyklopädisch uferlos Weite. 15 Vgl. Schuster 1991, S. 84. – Der hier unternommene Versuch ist in seinem Ansatz durchaus vergleichbar mit jenem „Vorhaben“ als das F. W. Heubach (1997, S. 24f.) seine Studie „Ein Bild und sein Schatten“ bezeichnet: „Das Vorhaben, Melencolia I ohne jeden Rekurs auf die zu seiner Zeit bestehenden Auffassungen der Melancholie und ihre Bildtradition zu lesen und ihn also nicht über seine ikonographische Aufschlüsselung, sondern in einer psychologischen Analyse inhaltlich bestimmen zu wollen, dürfte allerdings der Kunstwissenschaft fragwürdig bis unmöglich erscheinen. Denn sie erkennt in diesem Stich ein ausgesprochen kompliziertes und dichtes Gefüge gelehrter Anspielungen und allegorischer Formeln, und sie dürfte darum eher der Ansicht zuneigen, die Schuster in seiner Untersuchung der Wirkungsgeschichte dieses Stiches formuliert: Für den, der kein Wissen um die allegorischen Bezüge besitzt bzw. ‚der keine allegorischen Handbücher (…) gebraucht, löst sich Dürers allegorisches Bild in ein faszinierendes Sammelsurium völlig heterogener Einzelheiten auf.‘ – Die Bestimmtheit, mit der nicht nur in diesem Zusammenhang das Wissen um die fixe allegorische Funktion der Bildmotive einer Darstellung zur exklusiven Bedingung deren 118
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Verstehens erklärt wird, ist einigermaßen fragwürdig.“ – Ähnlich exklusiv wie Schuster hatte schon Aby Warburg (1920, S. 53f.) dekretiert: „Seine [Dürers] Schöpfungen wurzeln teilweise so tief in diesem Urmutterboden heidnisch-kosmologischer Gläubigkeit, daß uns ohne deren Kenntnis z. B. der innere Zugang zum Kupferstich der ‚Melencolia I‘, die man als die reifste, geheimnisvolle Frucht der maximilianeischen kosmologischen Kultur bezeichnen kann, verschlossen bleibt.“ – Und noch früher hatte Karl Giehlow (1904, S. 77f.), für den Dürers Melencolia I „den Wert einer hieroglyphisch geschriebenen Urkunde besitzt“, bereits konstatiert, daß man sowohl Marsilio Ficinos „von mystischer Astrologie so erfülltes Buch ‚vom gesunden Leben‘ über das Wesen des humor melancholicus […] und die darauf beruhenden Schilderungen eines Agrippa lesen muß, um den geistigen Gehalt der Komposition [von Dürers Meisterstich] zu erfassen“. Die Melencolia I erhalte dadurch eine „neue Beleuchtung, daß die Schrift Ficinos Dürers Absicht klarlegt, in den saturnischen Gesichtszügen auch die divinatorische Geisteskonzentration auszudrücken“. Pirckheimer und Dürer, die „vor allem Ficinos Bücher ‚de vita‘ ihrer Allegorie zugrunde gelegt haben“, kam es, so Giehlow, „darauf an, die Auffassung des Florentiner Philosophen, der aus dem Verhalten des saturnischen humor melancholicus ebensosehr die höchste, sibyllinische Geistestätigkeit, wie die traurigste Geistesentfremdung ableitet, in ein Bild zu fassen“. – Konkrete exklusive Verständnisbedingungen nennt aktuell auch Martin Büchsel (2010, S. 204) vom Betrachter des Dürer-Stiches, wenn er schreibt: „Der Stich verlangt nach einem gebildeten Betrachter, aber keineswegs nach einem geheimnisbündlerischen Wissen. Der Betrachter muß zwei geläufige Ovidzitate kennen, wissen, wie eine ars, vornehmlich die Geometrie, dargestellt wird, und er muß, was zu Dürers Zeit fast eine Selbstverständlichkeit ist, Zugang zur Passionsmeditation haben. Fast jeder war von dieser meditativen Gebetspraxis geprägt.“ 16 Robert W. Horst (1953, S. 412) glaubte, „zu einer totalen Interpretation der ‚Melencolia I‘ zu gelangen“. – Max Allihn (1871, S. 95ff.) meinte zu wissen, worauf es bei einer Interpretation des Melencolia-Stiches ankommt: „Es wird vor allen Dingen darauf ankommen, denjenigen Standpunkt zu finden, von dem aus der Stich zu erklären ist, oder vielmehr, von dem allein aus er erklärt werden kann.“ Er meinte: „Es muss doch ein gewisser einheitlicher Gedanke zu Grunde liegen, ein Gesichtspunkt, unter welchem die verschiedenartigsten Dinge mit der Melancholie verbunden werden können.“ Wenn sich in der Melencolia-Forschung in den fast schon 150 Jahren nach Max 119
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Allihn etwas gezeigt hat, dann dass dieser „gewisse einheitliche Gedanke“ offensichtlich nicht zu finden ist, so sehr sich die Wissenschaftler auch seriös um sein Auffinden bemüht haben und oft in gewisser Weise auch meinten und behaupteten, ihn gefunden zu haben. Dürers Melencolia-Putto präsentierte sich mir sozusagen als „Objekt der Begierde“ dank kunsthistorischer Kontextinteressen nach der Arbeit an zwei puttologischen Projekten, die in den letzten Jahren zu zwei Publikationen führten; zu „Im Himmel wie auf Erden – Die Putten von Venedig“ (Köln: Böhlau, 2007) und „Im Zeichen des Füllhorns – Schloss Benrath und seine Putten“ (Essen: Klartext, 2011). Vgl. Joachim von Sandrart „Teutsche Academie“ 1675, II, Buch 3, S. 223; in der Online-Edition 2012, S. 439. Vgl. ebd. Vgl. Panofsky 1995, S. 229; bzw. Panofsky 1948 / I, S. 171, wo die Rede ist von „Dürer’s most perplexing engraving”, bezeichnet als „in a sense a spiritual self-portrait of Albrecht Dürer“. – Fedja Anzelewsky (1988, S. 182) schließt sich dieser Deutung an: „Dürers Kupferstich ist also als allegorische Darstellung der schöpferischen Melancholie des Künstlers zu deuten und kann insofern als symbolisches Selbstbildnis gedeutet werden.“ – Auch Johann Konrad Eberlein (2011, S. 120) stimmt Panofskys Charakterisierung der „Melencolia I“ zu und erläutert: „In ihr steckt am meisten von Dürers eigenen Bestrebungen, seiner lebenslangen Sehnsucht nach Meisterung der Kunst durch gedankliche Klärung ihrer Voraussetzungen.“ – Bei Franz Winzinger (1971, S. 103f.), der davor warnt, „den vielen Gegenständen auf dem Stich einen zu spekulativen Sinn unterzulegen“, ist (S. 105) zu lesen: „Der Stich ist eine schwer deutbare Aussage Dürers; fast mutet er wie eine Art inneres Selbstbildnis an.“ So schon Max J. Friedländer 1921, S. 148. Dann auch Panofsky / Saxl 1923, S. 71–76; bzw. Klibansky / Panofsky / Saxl 1990, S. 512: „Es [das Bild der Melencolia I] ist auch ein Selbstbekenntnis und ein Ausdruck faustischen ‚Nichtwissenkönnens‘. Es ist das Antlitz Saturns, das uns anblickt, doch wir dürfen darin auch Dürers Züge wiedererkennen.“ Vgl. Heubach 1997, S. 84. Vgl. Georg Kauffmann in Dürer 1971, S. 154. Auch für Schuster 1991, S. 404, „erscheint (die Melancholiefigur) in der Tat als ein geistiges Selbstbildnis Dürers, als eine Idealfigur des schöpferischen Menschen und wurde so auch rezipiert“.
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25 Vgl. Carus 1937, S. 48. Carus fügt hinzu: „Kann uns Etwas von diesem tief in jedes Menschen Brust gelegenen schmerzlichen Geheimniß Zeugniß geben, so ist es, wie mir scheint, diese Wahrnehmung!“ 26 Vgl. Allihn 1871, S. 112f. – Dass freilich die Melencolia I dank ihrer „contemplativen Stille“ „ohne geschriebenes Wort zu reden vermag“, ist nur sehr bedingt anzunehmen, denn ohne das geschriebene Wort der kunsttheoretischen Schriften Dürers bliebe – wie hier demonstriert – sein Meisterstich doch eher sehr stumm und nur ein ausgesprochen unbestimmt vages Stimmungsbild. 27 Vgl. Friedländer 1921, S. 146ff. – Die „Hebeln und die Schrauben“ beziehen sich auf Goethes „Faust I“,VV 672ff.: „Geheimnisvoll am lichten Tag / Läßt sich Natur des Schleiers nicht berauben, / Und was sie deinem Geist nicht offenbaren mag, / Das zwingst du ihr nicht ab mit Hebeln und mit Schrauben.“ – Schon 1919 hat Leonardo Olschki (S. 422f. Anm. 2) im ersten Band seiner „Geschichte der neusprachlichen wissenschaftlichen Literatur“ mit Blick auf Dürers Satz „Die Schönheit, was das ist, das weiß ich nicht“ notiert: „Dieser berühmte Ausspruch kann nicht anders gedeutet werden als ein Geständnis von Dürers Agnostizismus in ästhetischen Dingen. […].“ Und wie Friedländer auf das Faustische verweisend bemerkt er zum MelencoliaStich: „Der Stich der ‚Melancholie‘ kann als Ausdruck eines allgemeinen ‚ignorabimus‘ aufgefasst werden und ohne Zwang nach irgendeiner Seite hin mit dem Faustmonolog gedeutet werden.“ 28 Vgl. G. R. Heyer 1934, S. 243. – Das Bild vom „hülfreichen Bild“ erinnert an Carus‘ drastisch deutlichen Hinweis auf den selbsttherapeutischen Aspekt, bei der Entstehung der Melencolia I habe sich Dürer durch den kreativen Akt „Luft machen“ müssen und können. 29 Vgl. Białostocki 1971, S. 109. „Was ich“, heißt es da weiter, „in Dürers Haltung als so bewunderungswürdig empfinde, ist seine Fähigkeit – nachdem er die größten Probleme und die Schwierigkeit, die Schönheit in ihrer absoluten Form zu finden, hellsichtig gesehen hatte – sich auf das zu beschränken, was ihm in menschlicher Macht zu stehen schien. Er wollte seine Bemühungen nur der Erforschung der Grenzen und Kriterien der relativen, ‚bedingten‘ Schönheit widmen.“ 30 Vgl. Schröder 1980, S. 73f. Schon zu Beginn des Kapitels (S. 64) ist zu lesen: „Mit Recht glaubt man allgemein, in dieser Personendarstellung ein geistiges Selbstbildnis von Albrecht Dürer zu erkennen.“ Und weiter (S. 68): „Ganz offensichtlich bestand Dürers Gesamtanliegen bei diesem Kunstwerk 121
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darin, eine einmalige, besonders tiefliegende Aussage über sein persönliches geistiges Ringen mit einer künstlerischen und geometrischen Glanzleistung zu verknüpfen.“ Vgl. Heubach 1997, S. 80f. Vgl. Horst 1953, S. 415f. Horst hat, wie er ebd. betont, wohl als Erster auf den Zusammenhang von frühem Selbstporträt und Melencolia-Stich aufmerksam gemacht. Er fügt präzisierend hinzu: „Ein ursächlicher Zusammenhang der beiden Darstellungen würde auch durch Melanchthons Äußerung von der ‚Melancholia generosissima Dureri‘ an Wahrscheinlichkeit gewinnen […].“ Doch habe Dürer, wie „gerade der vieldeutige Charakter dieser rätselvollen Bildkomposition erkennen“ lasse, „mehr als ein verschlüsseltes Selbstbekenntnis“ zur Darstellung bringen wollen, auch „weit mehr als nur eins der üblichen Temperamentsbilder […] oder lediglich eine saturnische Meßkunst“. Für Horst (S. 430) erscheint die Melencolia I „als einzigartiges, prismatisches Bilddokument für das magische Weltbild des intereuropäischen Humanismus am Vorabend der Reformation“. Vgl. dazu Rupprich I, S. 319, Nr. 27, Z. 4ff., mit dem Zitat aus Philipp Melanchthon „Commentarius de anima“ (Wittenberg 1548): „De Melancholicis ante dictum est, horum est mirifica varietas. Primum illa heroica Scipionis, vel Augusti, vel Pomponii Attici, aut Dureri generosissima est, et virtutibus excellit omnis generis, regitur enim crasi [?] temperata, et oritur a fausto positu syderum. – Über Melancholie ist vorher gesprochen worden, ihre Verschiedenartigkeit ist wundersam. Zunächst ist da jene heroische Melancholie des Scipio oder des Augustus oder des Pomponius Atticus, und dann ist da jene alleredelste Melancholie Dürers, sie übertrifft Tugenden aller Art, wird sie doch gleichsam gemäßigt gelenkt und entspringt sie einer günstigen Position der Sterne.“ – Aby Warburg (1920, S. 61f.) bemerkt zu dieser Melanchthon-Notiz: „Diese Auffassung von Dürers künstlerischem Genie könnte schlechthin als Unterschrift unter die ‚Melencolia. I‘ gesetzt werden.“ Zu einer anderen von Klibansky / Panofsky / Saxl erwähnten möglichen „Unterschrift“ des Stiches vgl. hier Anm. 423. Vgl. von Einem 1976, S. 39. Vgl. Dürer 1980,Titelseite. Schon die „Underweysung der messung“ (1525) ist, wie im Titel zu lesen, „zu nutz allen kunstlieb habenden“ gedacht; vgl. Dürer 2000, Titelseite. Vgl. Arend 1728, § 11; der Text ist nicht paginiert. – In seinem 50 Jahre später publizierten „Raisonnirenden Verzeichnis aller Kupfer- und Eisen-
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stiche Albrecht Dürers“ weist Heinrich Sebastian Hüsgen (1778, S. 58) dem „geflügelten Genius auf einem Mühlstein“ keine Tätigkeit zu. Vgl. Heller 1827, S. 471. Vgl. Carus 1937, S. 46f. Der kleine Genius mit seinen Flügeln bildet insofern das genaue Gegenbild zum Melencolia-Genius, dem (vgl. ebd.) „ein mächtiges, halb gehobenes Paar von Adlerflügeln den Schultern entsprießt“. Besonders bemerkenswert in Carus’ Ausführungen (vgl. ebd.) ist, dass er die „Melencolia“-Figur als „männlichen Genius“ versteht. – Rolf Vollmann (2011, S. 286) schreibt zum Gesicht der Melencolia, die er als „Engel“ bezeichnet: „[…] ein sehr schönes Gesicht, und wenn es das Gesicht eines jungen Mannes ist, so schön, dass es fast das eines Mädchens sein könnte, und beinahe eher noch so schön, dass, wenn es das Gesicht eines Mädchens ist, es fast das eines jungen Mannes sein könnte.“ Vgl. Choulant 1851, S. 156. Vgl. Eye 1860, S. 353; Allihn 1871, S. 96, 108; Springer 1892, S. 99; Konrad Lange (1892, S. 386) notiert: „Der kleine geflügelte Genius, der auf dem Mühlstein sitzt und auf einer, wie es scheint, metallnen Tafel eifrig etwas einschreibt oder einkratzt (kursiv, R.H.) ist ein Vertreter der Kupferstechkunst, vielleicht auch im allgemeinen des Zeichnens und Rechnens.“ Vgl. auch Weber 1900, S. 46, 70; Wustmann 1906, S. 57; Brandt 1928, S. 277; Strauß 1932, S. 8;Waldmann 1933, S.100; Bandmann 1960, S. 73; Knappe 1964, S. 27, sieht den Putto „in Schreibarbeit vertieft“; Kunstmuseum 1977, Legende zur Abbildung der Melencolia I; Bashir-Hecht 1985, S. 132, 135; Anzelewsky 1988, S. 182; Böhme 1989, S. 20, lässt den Putto „geschäftiges Geschreibsel“ praktizieren; Heubach 1997, S. 41: „[…] der Putto ganz von seinem Schreiben oder Zeichnen eingenommen“; Eichler 1999, S. 96, 99; Eberlein 2003, S. 189, und Eberlein 2011, S. 116; für Schauerte 2004, S. 128 „beschriftet ein Putto eine Tabula“; auch bei Vollmann 2011, S. 288, „schreibt“ der Putto mit einem Stift auf eine Schreibtafel. Wolf von Engelhardt (1993, S. 178, 185, 188, 191f.), der immer wieder die Bedeutung genauen Hinsehens betont, hält es zunächst noch für möglich, dass der Putto nicht nur schreibt, sondern „vielleicht“ auch rechnet; doch scheint er im Laufe seiner Ausführungen immer überzeugter zu sein, dass es sich um einen „rechnenden Putto“ handelt; immerhin ist von einer „Rechentafel des Putto“ die Rede, der „in rechnender Gebärde (verharrt)“. – Auch für den Philosophen Hermann Schwarz („Der Gottesgedanke in der Geschichte der Philosophie“) steht fest, dass der kleine Genius „auf seiner Tafel eifrig zählt 123
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und rechnet“, denn „das paßt auf die Philosophie des Kusaners“. Er zählt und rechnet jedoch nicht nur, sondern misst auch: „Der kleine in Zählen und Messen versunkene Genius ist das Symbol der Mathematik, […].“ Vgl. Schwarz 1913, S. 464. – Vgl. auch Konrad Lange (1892, S. 386), wie hier in Anm. 40. zitiert; oder auch H. Knackfuß (1896, S. 83), für den die Melencolia, „dieses mächtige Wesen“, das „im Gefühl seiner Unvollkommenheit in sich zusammen sinkt, […] dem Kinde (gleicht), das auf dem Mühlstein sitzt und auf einem Täfelchen Schreib- und Rechenübungen macht.“ – Zum „rechnenden Putto“ als Repräsentanten der Mathematik und der Proportionenlehre s. auch Karl Jung (1959, S. 1421f.); hier ausführlicher zitiert unter Anm. 77. 42 Vgl. Wölfflin 1984, S. 209; die von Wölfflin, dessen Werk schon 1926 in 5. Auflage erschienen war, in Anführungszeichen gesetzte und zurückgewiesene Charakterisierung des Putto als „Denker im Kleinen“ bezieht sich auf Panofsky / Saxl, die in ihrer 1923 publizierten Studie „Dürers Melencolia I“ den Putto als „Denker im kleinen“ bezeichnet haben (S. 70). – In seinem Aufsatz „Zur Interpretation von Dürers ‚Melancholie‘“ formuliert Wölfflin 1947, S. 99, seine Putto-Ansicht ähnlich: „Einen deutlichen Gegensatz aber bildet das geflügelte Knäbchen, das hoch auf dem Mühlstein thront und täppisch auf der quer gehaltenen Schreibtafel kritzelt. Hier hat die Melancholie nicht Platz gegriffen, aber die Tätigkeit des Kindes ist auch nicht ernst zu nehmen.“ – Ein Jahr nach Wölfflins Publikation bezeichnet Rudolf Wustmann (1906, S. 57) den Putto gegenbildlich zur Melencolia, einem ernsten Genius, als heiteren Genius der Kunst und als kleinen Engel, der auf einem Täfelchen kritzelt. 43 Zu neuesten und neueren Veröffentlichungen vgl. Karoline Feulner (Dürer 2013, S. 262), wo der Putto im Gegensatz zur Melancholie „eifrig schreibt“. – Grebe 2013, S. 122, hier „ritzt“ „ein geflügelter Knabe“ „mit einem Griffel in ein Wachstäfelchen“. – Schiener 2011, S. 85: „[…] ein feister geflügelter Knabe, der konzentriert auf eine Tafel schreibt.“ – Wolf 2010a, S. 182f., wo vom „kritzelnden Putto“ die Rede ist, „der allererste Schreibübungen unternimmt“. – Vom „Gekritzel des Puttos“ schreibt auch Büchsel 2010, S. 41, 52, 144, 189; gleichzeitig (S. 43, 201) heißt es aber, dass der Putto „auf einer Tafel schreibt“ und etwas „notiert“, wobei ja gleich zu fragen wäre, schreibt / notiert oder kritzelt er, was doch wohl ein Unterschied ist. – Auf eine Reihe schon älterer Melencolia-Studien, in denen die Auffassung vom kritzelnden und / oder schreibenden Putto tradiert wurde, sei hier in Auswahl 124
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und nur abbreviatorisch hingewiesen:Waetzold 1950, S. 106; Musper 1952, S. 205; Horst 1953, S. 419; Rossmann 1953, S. 130; Winkler 1957, S. 241, notiert einen Putto, „der irgend etwas auf ein Täfelchen kritzelt“; Reuterswärd 1967, S. 421f.; Herbert von Einem (1976, S. 39) verweist auf den Fleiß und Eifer des schreibenden Putto: „[…] the diligence of the writing putto“; Dürer 1971 / 1, S. 154; Heckscher 1978, S. 38: „[…] Dürer shows the putto busily scribbling on a slate characters whose fate it is to be erased to make place for characters whose fate it is to be erased“; Strieder 1981, S. 160; Schuster 1982, S. 83, 94; Böhme 1989, S. 23, wo das „versunkene Kritzeln“ des „spielerisch übende(n)“ Putto erwähnt wird, und S. 62, wo Böhme vom „krickelnde(n) Putto“ spricht; Schuster 1991, S. 17f.; Dürer 1995, S. 152f.; Rebel 1996, S. 289f.; Mende 2000, S. 296; Schoch / Mende / Scherbaum 2001, S. 180; Dürer 2003, S. 422; Ewald Lassnig, der Dürers Meisterstich Melencolia I konsequent im Lichte der Schriften und mystisch erkenntnistheoretischen Gedanken des Nürnberger „Stadtphysicus“ Ulrich Pinder (gest. 1519) zu sehen und zu interpretieren versucht, sieht den Putto als „arbeitend gezeigt“ und „über eine Schultafel gebeugt“ als „lernendes (Wesen) charakterisiert“; vgl. Lassnig 2008, S. 66. – Bei Flachsmeyer 2008, S. 174, handelt es sich um einen „schreibende(n) oder kritzelnde(n) Putto“. Vgl. Panofsky / Saxl 1923, S. 70; zum „Denker im Kleinen“ s. hier Anm. 42. Vgl. ebd. Vgl. ebd., Anm. 2. – Wenn einerseits nur ein „Beschäftigtsein schlechthin“ zu diagnostizieren und andererseits nicht einmal nähere Einsicht in die Art der Beschäftigung des Putto möglich ist – und sie ist in der Tat nicht möglich –, dann kann man sich wohl fragen, wie denn Panofsky / Saxl von der „wissenschaftlichen Arbeit“ sprechen können, in die der Putto „mit kindlichem Ernst vertieft“ sein soll. Vgl. Panofsky 1995, S. 209, 214, 220. Vgl. Klibansky / Panofsky / Saxl 1990, z. B. S. 446. Vgl. ebd., S. 482f. Anm. 203. Vgl. ebd., S. 453, 482f., 534 Anm. 22. Vgl. Schuster 1991, S. 16f., auch S. 385, wo vom „kritzelnden Dürerputto“ die Rede ist. Vgl. ebd. S. 116, 128, 136; Schuster verweist hier auf ein in der AstronomieIkonographie bekanntes Motiv. Vgl. ebd., S. 152.
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54 Vgl. ebd., S. 219. – In welcher Funktion, so bleibt zu fragen, soll solch ein kindlicher Schulanfänger, der ja noch nicht einmal recht zu schreiben weiß, die universalgelehrte Melencolia gerade bei ihren nächtlichen Studien begleiten? Doch sicherlich nicht, um Schreiben zu lernen. Da kann er doch eigentlich nur stören. – In Schuster 1974, S. 410, heißt es: „Im Putto hat sie [die Melencolia] die Dummheit zur Schule gesetzt, […].“ 55 Vgl. ebd., S. 90. 56 Vgl. ebd., S. 135. 57 Vgl. Schuster 2005, S. 90–96, in einem Beitrag über Dürers „Melencolia I“ für den Katalog zur Ausstellung „Melancholie – Genie und Wahnsinn in der Kunst“ (Paris / Berlin, 2005 / 2006). 58 Auch wenn es hier weniger darauf ankommt, das Arbeitsinstrument des Putto zu identifizieren, sondern entscheidend auf die Art und Weise, wie der Putto den Stift / Griffel / Stichel hält und einsetzt, soll dennoch auf einige Bezeichnungen des Gerätes, wie sie in der Melencolia-Forschung vorkommen, hingewiesen werden.Vgl. zur Technik des Kupferstiches ausführlich Panofsky 1995, S. 84ff., mit Abbildungen zum Grabstichel und zu seinem Gebrauch. Für Klibansky / Panofsky / Saxl 1990, S. 483, handelt es sich um einen „Stichel mit seinem bezeichnenden Griff und seiner zum Einlegen des dünnen Stahl-Vierkants bestimmten Nute“. – Spricht Heller 1827, S. 471, von „einem stählernen Griffel“, so Wölfflin 1947, S. 209, nur von einem nicht näher qualifizierten „Griffel im Fäustchen“ des Kindes. – Dagegen ist von einem „Grabstichel“ bei Knappe 1964, S. 28, die Rede. – Bei Heckscher 1978, S. 116, ist zu lesen: „The putto on the millstone personifying ‘Brauch‘ is shown scribbling (not: playing) with a stylus (not: a burin) on a slate – […].“ – Weber 1900, S. 63, identifiziert das „Täfelchen“, wie es „der kleine geflügelte Knabe auf Dürers Stich vor sich auf den Knien hat“ als „Schreibtafel, mit Wachs ausgelegt. Wir können das mit aller Bestimmtheit daraus entnehmen, dass der Griffel, mit welchem Dürers Knabe schreibt, am oberen Ende eine Schaufel hat, wie sie zum Wieder-Glattstreichen des in das Wachs Eingeritzten benutzt wurde. In verschiedenen Altertümer-Museen Deutschlands sind solche Wachs-Schreibtafeln aus städtischem Besitz erhalten. Auch die Schüler-Schreibtafeln waren damals der Art.“ – Die auf der Abbildung 1 in Friedrich Lippmanns „Der Kupferstich“ (1963) gezeigten „Werkzeuge des Kupferstechers“ zeigen kein Gerät, das dem des Putto entspräche.
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59 Rösch 1971, S. 161, bezeichnet den Teppich merkwürdigerweise als „Leichentuch, auf dem das geflügelte Kind (Seele?) sitzt“. 60 Mit Blick auf dieses Stillgestelltsein und den fehlenden Freiraum für eventuelles Zeichnen, Schreiben oder gar Kritzeln kann die Situation des Putto durchaus verglichen werden mit der „Situation“ speziell der Glocke und der Sonnenuhr auf dem Melencolia-Stich, die, was deren Funktionslosigkeit aufgrund fehlenden Freiraums betrifft, hier auf den Seiten 56f. ausführlich thematisiert wird. – Man könnte in dem untätigen Putto vielleicht noch eine Erinnerung an all jene volkstümlichen „dramatischen Darstellungen der Melancholie“ erkennen, auf denen eingeschlafene oder faule Personen in unterschiedlichen Lebenskontexten zu sehen sind, die vor Dürer im 15. Jahrhundert auf Holzschnitten und Miniaturen weit verbreitet waren und die „sowohl die grundlegende Kompositionsformel als auch die allgemeine Vorstellung von schwermütiger Untätigkeit (lieferten)“: „Diese hausgemachten Bilder müssen zur Ahnenschaft seines berühmten Stiches gerechnet werden.“ Vgl. Panofsky 1995, S. 214. 61 Vgl. Zucker 1900, S. 92. 62 Man beachte eine sehr anschauliche Ansicht der Augen des Putto auf einer besonders großen Vergrößerung des Melencolia-Stiches mit dem Ausschnitt, der die Melencolia und den Putto in extremer Nahaufnahme zeigt; vgl. Katalog zur Dürer-Ausstellung 2013 im Städel-Museum; Dürer 2013, S. 250. – Wie ganz anders Augen aussehen können und Dürer ungemein kunstvoll präzise Augen mit Augenpartien gezeichnet oder auch gemalt hat, ist – um nur beim Bild und Thema zu bleiben – z. B. an den Augen der Melencolia zu erkennen (vgl. Abb. 25), aber auch an den beiden Kinderköpfen, die als Vorstudien zum Melencolia-Putto gelten (vgl. Abb. 7). 63 Vgl. Heller 1827, 471. – Schon David Gottfried Schöber (1769, S. 88) hat mit Blick auf den Putto von einem „auf ein Buch (!) scharf sehenden Kind“ geschrieben. 64 Vgl. Klibansky / Panofsky / Saxl 1990, S. 482. 65 Der „Melencolia I“-Abzug (2. Zustand), der sich in der Graphischen Sammlung des Museum Kunstpalast, Düsseldorf, befindet, wurde mir freundlicherweise zum genauen Studium der Einzelheiten zur Verfügung gestellt. Die hier wiedergegebene Beschreibung der Augen des Putto entspricht den am Studienobjekt gemachten detaillierten Beobachtungen. – Leider geht Willi Reitsch in seiner augenärztlichen Studie „Das Dürerauge“ weder auf die Augen des Putto noch auf die Augen bzw. den Blick der Melencolia 127
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ein; doch lassen seine illustrierten Ausführungen sowohl zu offenen oder erhobenen Augen-Blicken als auch zu geschlossenen Augen und gesenkten Blicken bei Dürer und anderen Künstlern die Augen des Putto als besonders merkwürdig und seltsam anders erkennen; vgl. Reitsch 1928, S. 27ff. Vgl. Rupprich II, S. 109, Z. 32; S. 111, Z. 35; S. 112, Z. 32. Die Vorzeichnungen mit den beiden Kinderköpfen befinden sich im Britischen Museum. – Wie Ewald Lassnig (2008, S. 53 Anm. 7) zu entnehmen ist, soll Fritz Koreny in zwei Vorträgen (Wien 2004 und Rom 2007) nachgewiesen haben, dass diese Vorzeichnungen nicht von Dürer stammen. In den Sammelband der Tagung an der Bibliotheca Hertziana wurde der Vortrag nicht aufgenommen. Er scheint auch anderswo oder anderswie nicht publiziert worden zu sein. In neuerer Literatur (z. B. Wolf 2010, Büchsel 2010, Dürer 2013) ist er nicht erwähnt. Eine E-Mail-Anfrage bei Fritz Koreny blieb leider unbeantwortet. Vgl. Panofsky 1995, S. 209, 220. In der englischen Fassung heißt es mit Blick auf das bezeichnende Gegenüber von Melencolia und Putto: „[…] the significant contrast between her torpid inaction and the bustling activity of the putto.The mature and learned Melancholia typifies Theoretical Insight which thinks but cannot act. The ignorant infant, making meaningless scrawls on his slate and almost conveying the impression of blindness, typifies Practical Skill which acts but cannot think […].”Vgl. Panofsky 1948, S. 164. – Siegfried Rösch (1971, S. 164) sieht bei seinen Ausführungen zum Goldenen Schnitt das jeweils linke Auge der Melencolia und des Putto sozusagen in linear gleichgerichteter Beziehung, aber gleichzeitig in äußerstem Ausdruckskontrast: dem „blitzenden [linken Auge] des Genius“, der Melencolia, stellt er „das fast tot erscheinende [linke Auge] des Engelchens“, des Putto, gegenüber. – Mehr als solche bei aller Deutlichkeit doch eher zurückhaltend vorsichtigen „fast / wie blind / tot“-Formulierungen hinsichtlich der Augen des Putto (wie bei Panofsky, Rösch oder auch hier) scheinen (noch) nicht möglich. Es bedarf wohl noch des einen oder anderen überzeugenden Hinweises aus dem Kontext des Dürer-Werkes mit seinen ungemein zahlreichen Putten und der Dürer-Schriften, um einfach vom „blinden Putto“ sprechen und ihn dann der „sehenden / schauenden Melencolia“ eindeutig und konsequent kontrastieren zu können. Vgl. Reuterswärd 1967, S. 421f. Reuterswärd charakterisiert die Tätigkeit des Putto auch einmal als „leises Kritzeln“, das „einen unheimlichen Effekt haben kann“.
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70 Schuster 1991, S. 160, diagnostiziert seinen Befund freilich am falschen Objekt; die Abb. 7, auf die er als Beleg für seine Diagnose verweist, zeigt ja gerade nicht den Melencolia-Putto, bei dem keine „niedergeschlagenen Lider“ zu erkennen sind, sondern die beiden gerade erwähnten und abgebildeten Vorstudien-Kinderköpfe (Abb. 7) mit den eindeutig erkennbaren gesenkten Augenlidern. 71 Vgl. Schuster 1991, S. 160. – In einer Selbstanzeige seiner Dissertation zur „Melencolia. I“, aus der sich im Laufe der Jahre sein 1991 erschienenes Opus magnum entwickelte, wird die Blindheit des Putto von Peter-Klaus Schuster noch vieldeutig in Anführungszeichen gesetzt, indem auf „das instabile Sitzen des unbeschwerten, ‚blinden‘ Putto“ verwiesen wird, der „als Repräsentant eines kurz andauernden Glückszustandes“ charakterisiert wird; vgl. Schuster 1974, S. 409. 72 Vgl. ebd., S. 162ff.; 307ff. 73 Vgl. Böhme 1989, S. 16f. – G. F. Hartlaub (1937, S. 302) nimmt wohl geschlossene Augen an, wenn er anmerkt: „Das Kind ist, wie es mit seiner Schreibtafel hockt, nicht in spielender, sondern eher in meditierender oder auch einfach schläfriger Attitude gegeben.“ Auf S. 306 intensiviert Hartlaub die „schläfrige Attitude“ jedoch, indem er von der „Schlafstarre von Kind und Hund“ spricht. 74 Vgl. Büchsel 1983, S. 99f. Zweifellos haben die „fast bösen“ (H. Böhme) oder wie toten Augen des Putto auch etwas Dämonisches, doch ist er damit nicht gleich zu einem Dämon zu erklären. – Auch für Vollmann 2011, S. 288, verbirgt der Putto mit seinem linken Arm, was er auf seine Schreibtafel schreibt. 75 Vgl. Büchsel 2010, S. 41, 43, 52, 144, 189. 76 Vgl. ebd., S. 60. 77 Vgl. ebd., S. 201. – Bei Heyer 1934, S. 257, und Schoch / Mende / Scherbaum 2001, S. 180, wird festgestellt, dass der Putto „Unsichtbares“ schreibe, zeichne oder kritzele; was wohl heißen soll, dass der Betrachter, den es, wenn er das bemerkt, „in eine dunkle Rätseltiefe zieht“ (Heyer, ebd.), nicht sehen kann, was der Putto notiert. – Manche freilich wissen zweifellos, was auf der Tafel des Putto zu sehen und zu lesen wäre, wenn man nur einen Blick auf sie werfen könnte; so heißt es bei Paul Weber (1900, S. 65): „Würden wir einen Blick auf die Schreibfläche des Täfelchens bei Dürer thun können, wir würden zweifellos dort auch die Anfänge des ABC lesen. Ein oder mehrere lernende und schreibende Knaben sind in allen Jahrhunderten des Mittelalters auf den 129
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bildlichen Darstellungen die unzertrennlichen Begleiter der Grammatica.“ Der geflügelte Knabe wird nicht nur als Begleiter der Grammatica verstanden, sondern (ebd., S. 67) sogar als „Vertreter der Grammatik“. – Waetzold 1950, S. 106, übernimmt dieses Junktim Putto-Grammatik: „Das Knäblein, das auf dem Mühlstein sitzt und auf sein Täfelchen kritzelt, repräsentiert die Grammatik, die elementarste unter den freien Künsten. Schon in mittelalterlichen Darstellungen hat die Figur der grammatica den ABC-Schützen zum Begleiter.“ Ob ein auf sein Täfelchen kritzelndes Knäblein wirklich als Repräsentant der Grammatik, der elementarsten Kunst, in Frage kommen kann, bleibt die Frage oder auch gerade nicht. – Karl Jung (1959, S. 1421f.) sieht den Putto als Repräsentanten der Mathematik und Proportionenlehre: „Der Putto auf dem Schleifstein hat noch den kindlichen Glauben, durch Rechnen auf seiner Schiefertafel die richtigen Proportionen zu errechnen. Der Geniusengel hat sein Buch in seinem Schoß zugeklappt. Er versucht höchstens noch durch geometrische Konstruktion (Zirkel) das, was dem Putto nicht gelingt, probierend zu ertasten. […] Für den rechnenden Putto ist mißlich, daß die ganzen Zahlen nicht geeignet sind, die ‚Divina proportione‘ exakt wiederzugeben […] Daran denkt vielleicht unser Genius, daß nämlich durch Messen doch nie die als vollendet erahnbare Harmonie verwirklicht werden kann, daß stets etwas im Ungefähren bleibt. Auch das exakteste geistige Bemühen scheitert an einer rational nicht begreiflichen Grenze. Das ist die ‚Melencolia‘, die zugleich Trauer und Tiefsinn ist. – Nun kann die Glocke läuten, die Dürer über dem Zahlenquadrat aufgehängt hat, doch wohl, um anzuzeigen, daß hier die fundamentale Erklärung für die Melancholie des künstlerisch schauenden Menschen zu finden ist.“ Schwerer lassen sich Putto und Glocke an Bedeutung wahrlich nicht überfrachten. 78 Günter Bandmann (1960, S. 80) hält selber die von ihm skizzierte Situation für eher unwahrscheinlich: „[…] der große Genius der Melancholie erwartet aufblickenden Auges die Inspiration, während der assistierende Putto bereit ist, die göttliche Wahrheit niederzuschreiben. – Mag sein.“ Das kann nicht sein: Denn die Art und Weise, wie der alles andere als aufmerksame Putto und die Melencolia jeweils in sich versunken und – sich gegenseitig nicht beachtend – beziehungslos nebeneinander sitzen, schließt eine solche Situation aus. 79 Vgl. Rupprich II, S. 92, Nr. 2, Z. 12ff. – An der hier zitierten Stelle des Lehrbuchs der Malerei kommt in Dürers Schriften zum einzigen Mal das Wort Melancholie, Melencolia oder eben Melecoley vor. – In einer seiner Notizen, 130
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so Eberlein 2011, S. 120, zu diesem Putto-melancholicus-Kontext, habe Dürer davor gewarnt, „dass ein Lehrjunge bei zu viel Fleiß der Melancholie erliegen könne, die er auf dem Stich als drohende Gefährdung in die Darstellung der Kunst der Messung integrierte“. – Panofsky / Saxl 1923, S. 71, meinen freilich, dass es die Melencolia sei, die „zweifellos“ den Eindruck erwecken könne, dass bei ihr „tatsächlich die Melancholie ‚überhand genommen‘ habe“. Vgl. Panofsky / Saxl 1923, S. 70. Vgl. Rossmann 1953, S. 144. Vgl. Dürer 1971 / 1, S. 154, wo es heißt, diese kindische Tätigkeit oder eben „pure Aktivität“ stehe im Gegensatz zur „großartigen Ruhe des höheren Rätseln nachsinnenden Geistes“ der Melencolia. Vgl. Panofsky 1995, S. 214. Vgl. Klibansky / Panofsky / Saxl 1990, S. 453. Vgl. ebd., S. 482. Vgl. hier Anm. 79. Bei dieser Umschreibung handelt es sich um eine assoziative Umformulierung eines zunächst beim hl. Augustinus und dann beim Augustiner-EremitenMönch Martin Luther in der Sünden- und Gnadenlehre oft thematisierten theologischen Topos vom „homo incurvatus in se“ oder „cor incurvatum in se“. – G. F. Hartlaub (1937, S. 304f.) spricht von der „Einsamkeit“ und dem „Zusammengesunkensein des Knäbchens, das über seiner Schreibtafel fast eingeschlafen zu sein scheint“. – Bei Zucker 1900, S. 92, heißt es vom Putto / Genius: „Wie in sich verloren sitzt er zusammengebückt da […].“ – Wenn auch dieses In-sich-Zusammengebücktsein des Putto nicht so energisch in Erscheinung tritt wie das entschiedene In-sich-Zusammengerolltsein des schlafenden Hundes, so ist doch eine gewisse Ähnlichkeit und Vergleichbarkeit der Haltungen unverkennbar. Vgl. Rücklin 1995, S. 92ff. Dürer selber habe, so Rücklin, auf den Putto als „königliches Kind“ hingewiesen, indem er ihn auf einen Fransenteppich („sur un tapis frangé […] de velours pourpre, peut-être frangé d’or“) gesetzt habe, durch den der Sitzplatz als Thron ausgezeichnet werde; entsprechend weiter werden dann munter die Wand des Turmes mit Gesims und Waage, vor dem der Putto seinen Platz auf dem Mühlrad hat, „peut-être“ als hohe Thronrückwand samt krönendem Baldachin interpretiert und der Stichel („le burin“), den der Putto („curieusement inadéquate“) in der Hand hält, als hoheitliches Zepter. 131
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89 Bei ihrer Bezeichnung des Putto als „inspirateur des artistes“ beruft sich Rücklin 1995, S. 92ff., auf Robert Klein (1965, S. 593), der vom Putto behauptet: „Son attribut, le burin, le caractérise plus précisément comme esprit du disegno, inspirateur des artistes.“ 90 Vgl. z. B. Schuster 1991, S. 90, 118, oder Klibansky / Panofsky / Saxl 1990, S. 453. – Auch für Flachsmeyer 2008, S. 176, zeigt sich im Putto die „Lebenssphäre“ „unbeschwerter Jugend“. 91 Vgl. Wölfflin 1905, S. 209. 92 Vgl. Schuster 1991, S. 313. 93 Vgl. Musper 1952, S. 205. 94 Vgl. Rebel 1996, S. 291. – Eine geradezu monströse „Bäcker“-Aufgabe wurde dem Putto von A. v. Eye (1860, S. 353 ) zugetraut oder zugemutet, bei dem es, wenn auch mit einem vorsichtigen „scheint“ formuliert, heißt: „Wie bezeichnend ist ein Mühlstein, der neben ihr [der Melencolia] steht, für die zermalmende Dialektik, welche die Dinge in Atome mahlt, um sie zum Gedanken wieder zusammenzubacken. Mit dieser Arbeit scheint ein kleiner, krausköpfiger Genius beschäftigt, der mit einem Teppich unter sich auf dem Mühlsteine sitzt und eifrig auf eine Tafel schreibt.“ – Da hat es etwas sehr Erfrischendes, wenn Max Allihn (1871, S. 111) gesteht: „Was freilich der Mühlstein bedeuten soll, gestehe ich nicht zu ahnen. Phantasien von zermalmten Gedanken und dergleichen wird man nicht erwarten.“ 95 Vgl. Brandt 1928, S. 277. 96 Vgl. Heyer 1934, S. 256f. Zu den „einzig tätigen Figuren des ganzen Bildes“ zählt Heyer neben dem Putto auch das flammende Kohlebecken samt „alchimische(m) Kessel“ links hinter dem gewaltigen Rhomboeder. 97 Vgl. Rüchter 1910, S. 58. 98 Vgl. Klibansky / Panofsky / Saxl 1990, S. 453, resp. 1979, S. 321, wo die Rede ist von “the happy unselfconsciousness of the busy child”. – Schuster 1991, S. 152, übernimmt diese Charakterisierung des Putto. 99 Vgl. Zucker 1900, S. 92. 100 Vgl. Rebel 1996, S. 289. 101 Vgl. Bashir-Hecht 1985, S. 132f., 135. Bashir-Hecht ebd., S. 132, stellt, wenn auch unter Bedingungen, ein mögliches Junktim Putto-Amor fest: „Allerdings wäre hier auch eine Deutung als Amor möglich, vor allem dann, wenn man die über dem geflügelten Kind befindliche Waage, ein Tierkreiszeichen der Venus, dazu in Beziehung setzt. Da mit Amor auch die zu Gott zurückstrebenden Kräfte gemeint sind, kann er als Ausdruck höchster spiritueller 132
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Impulse und damit als Möglichkeit betrachtet werden, die niedere Form der Melancholie zu überwinden, um die schöpferische Intuition freizusetzen, die vonnöten wäre, das quälende Chaos um die Frauengestalt zu ordnen und in Kosmos zu verwandeln.“ Es dürfte schon die Frage sein, ob solch höchste Ausdrucks-, Ordnungs- oder Verwandlungskräfte einem Amor-Knaben zuzutrauen sind, doch für den Melencolia-Putto in dieser seiner – möchte man sagen – Performance kommen sie nicht in Frage. Ähnlich gründliche Bedenken bestehen, wenn Bashir-Hecht ebd., S. 133, „den Mythos des göttlichen Kindes in die Interpretation“ des Melencolia-Stiches einbringt. In diesem Zusammenhang erkennt Bashir-Hecht dann noch ebd., S. 134, neben der alchemistischen und astrologischen eine weitere, eine christlich-gläubige „Bedeutungsschicht“: „Der geflügelte Knabe umfaßt in der alten Vorstellung des ‚göttlichen Kindes‘ auch den Gedanken der Christusgeburt unter der Großen Konjunktion, eine Konstellation, die in dem Blatt vielleicht mit enthalten ist. Die auf dem Boden verstreuten Nägel sowie die Zange unter dem Gewand der Melancholie können auf die Passion Christi, d. h. auf seine Erlösungstat, hinweisen, die im alchimistischen Sinn auch durch das Große Werk symbolisiert werden kann. […].“ – Max Steck (1958, S. 246) nennt den Putto einfach: „Amor sitzt beschaulich auf dem Mühlstein […].“ – Dass man bei einem Putto immer an einen Amor denken kann, liegt sozusagen in der genetischen Natur der christlich-abendländischen Putten, stammen sie doch vom heidnisch-antiken Eros / Amor oder von den hellenistischrömischen Amoretten, Eroten, Cupidines ab; in jedem Putto steckt – wie fern auch immer – ein Amor; vgl. dazu Rainer Hoffmann (2007, S. 15ff.: „Nach Amors Bilde“). Doch sollte man den Putto nicht mit dem ungeheuer weitgefassten mythologischen Thema konnotieren, das sich beim Nennen der Namen Eros / Aphrodite,Venus / Amor öffnet. Der Melencolia-Putto ist zunächst ganz neutral und unabhängig als er selbst zu verstehen oder dann konkreter auch – wie auf ähnlichen Darstellungen vergleichbarer Allegorien zu sehen – als Begleit- oder Bezugsperson der Melencolia, als ihr „Schüler“ oder „Assistent“. Jedenfalls haben sie ein Verhältnis. 102 Vgl. Kilian 1961, S. 619 Anm. 2, 621, 625 Anm. 9. – Für Robert W. Horst (1953, S. 419f.) handelt es sich nicht um einen Putto, sondern um einen „Engel“ oder „schreibenden Engelknaben“; und dieses „eifrig auf seinem Schreibtäfelchen kritzelnde Geschöpf“ sei „das einzige Wesen innerhalb der Gesamtkomposition, das unbeirrt von der durch den herniederschwebenden Dämon verursachten äußeren Lähmung aller Dinge seine symbolische Tätig133
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keit weiterhin ausübt; als guter Geist und Schutzengel unmittelbar neben der in Kontemplation versunkenen Frauengestalt.“ Einmal abgesehen von dem eindeutig nicht „herniederschwebenden“, sondern in irgendwelche hohen Fernen entfliegenden Wesen mit der Melencolia I-Inschrift (ob Drache, wie bei Horst, oder fledermausähnliches Flugobjekt), auch hier bleibt sowohl die Frage, ob der Engel oder Putto wirklich unbeirrt (s)eine Tätigkeit ausübt, als auch das schon thematisierte Problem, ob er denn wirklich gleichzeitig schreiben und eifrig kritzeln kann. Entscheidend ist jedoch, dass Horst mit der Gegenüberstellung Dämon / Engel bzw. Guter Geist / Böser Geist einen Gegensatz konstruiert, der einfach nicht besteht, weil der wie gelähmt dasitzende Putto keine „Tätigkeit ausübt“; so kann die „Fixierung“ auf diesen Gegensatz als „Ausgangspunkt“ für seine Analysen auch ansatzweise nicht in Frage kommen. – Für Anzelewsky 1988, S. 182 Anm. 170, verabschaulicht der „eifrig schreibende Putto“ die positiven Kräfte der saturnischen Melancholie. 103 Und nicht nur ihm, dem Putto. Auch anderen Objekten wird Unmögliches oder sehr Fragwürdiges anspekuliert, worauf bereits Hartmut Böhme hingewiesen hat (vgl. Böhme 1989, S. 31). Z. B. was – vor allem – den „unfertigen“ oder „unvollendeten“ (Anzelewsky 1988, S. 182; Panofsky 1995, S. 208f.; Klibansky / Panofsky / Saxl 1990, S. 452; Feulner 2013, S. 179) bzw. als „Baustelle“ qualifizierten (Hoffmann, K. 1978, S. 254ff.) Zustand des Gebäudes auf dem Stich angeht, worauf die an das Gebäude gelehnte Leiter hinweisen soll (Panofsky 1995, a.a.O.; s. auch Panofsky / Saxl 1923, S. 60). – Dass, wenn es einmal vollendet sein sollte, aus dem sichtbaren kleinen Teil des turmartigen Bauwerkes nicht nur ein „Turm“, sondern gleich eine veritable „Turmbastion“ werden soll, weiß von Engelhardt 1993, S. 178, 181: „Rechts wird eine Turmbastion errichtet.“ Dabei soll die steile Leiter „zum Ersteigen höherer Stockwerke“ dienen, an denen „noch gearbeitet wird“. – Von einem unvollendeten Gebäude könne jedoch, so Horst 1953, S. 428, schon deshalb nicht gesprochen werden, „weil dieses Gebäude in keiner Weise als unvollendet gekennzeichnet ist“. – Gern wird (eine Art argumentum ex silentio) auch die Fensterlosigkeit des Bauwerkes oder einer „Häuserwand“ behauptet, von dem / der freilich nur ein ganz bescheidener Parterre-Ausschnitt zu sehen ist (Böhme 1989, S. 31; Bashir-Hecht 1985, S. 133; Dürer 2013; Feulner 2013). Man könnte ja, so gedacht, auch auf die Türlosigkeit des Bauwerkes verweisen. – Weil nur ein Teil des Gebäudes zu sehen ist, ist es noch lange nicht gerechtfertigt, dieses zweifellos als Bauwerk zu 134
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identifizierende Gebilde als ein „grosses Mauerstück“ bzw. als „Mauerblock“ wie Weber 1900, S. 70ff., oder einfach nur als eine Mauer zu identifizieren wie Winkler 1957, S. 242: „[…] hinten rechts ragt eine Mauer auf, an die eine Leiter gelegt ist.“ – Noch weniger kann das gemauerte Bauwerk nur als „ein hoher Steinblock“ bezeichnet werden wie bei Grebe 2013, S. 122. Zwischen einem Steinblock wie dem bearbeiteten Polyeder-Steinblock im Mittelgrund und dem sichtbaren Bauwerk mit Gesims, das sich eindeutig weiter nach oben erhebt, besteht ja wohl ein imposanter Unterschied. – Bei Choulant 1851, S.156, ist (wie schon bei Carus 1835 / 1937, S. 46f.; dann auch bei Springer 1892, S. 99, und bei Zucker 1900, S. 92) nur von einem „Pfeiler“ die Rede, an den „eine gewöhnliche Leiter angelehnt (ist)“; bei Allihn 1871, S. 96, von „einer Art Pilaster“. – Fragwürdigkeiten gibt es auch, was den philosophischen Inhalt und die Wirkung des Buches betrifft, auf dem der rechte Arm der Melencolia ruht und durch das die Melencolia in ihre düstere „Gemüthsstimmung“ gebracht worden ist (Heller 1827, S. 470). – Für Wölfflin 1984, S. 204, 207, liegt die Kugel nicht auf dem Boden, sondern (wie auch für Büchsel 2010, S. 201) sie rollt am Boden und ist außerdem dem Schoß der Frau „entrollt“ bzw. (Waldmann 1933, S. 100) der Frau „entglitten“. Zu solchen Beschreibungen heißt es bei Schuster 1991, S. 136: „Müßig erscheint es, die dargestellte Szene noch weiter auszugestalten, gar einen Handlungszusammenhang zwischen der Figur und einzelnen Geräten herstellen zu wollen. Etwa, die Kugel sei der Frau aus den Händen gerollt oder die Frau meditiere vor einer Baustelle.“ – Von der Glocke heißt es (Heller 1827, S. 471), dass sie „düsteren Klang“ hat, der „gewiß trefflich zu der Gemüthsstimmung paßt“. – Und vom Hund wird behauptet, dass er nicht nur ruht oder schläft, sondern krank (Hartlaub 1937, S. 302, 305) oder halbverhungert ist und fröstelt, was zur angeblich „frostigen, einsamen Stelle“ passt, an der sich die Melencolia aufhält (Panofsky 1995, S. 208f.); Martin Büchsel 2010, S. 62, 186, 201, 203 weiß, dass der – was zu sehen ist – abgemagerte Hund einen – was nicht zu sehen ist – „unruhigen Schlaf“ schläft, der „die Vorstellung von Angstträumen (evoziert)“ bzw. in dem „die Stimmung, es könnte sich Unheilvolles zusammenbrauen […], ihren Ausdruck (sucht)“. – Zu diesem ganzen bedeutenden Problem der Identifizierung dargestellter Gestalten und Gegenstände heißt es einmal bei von Engelhardt 1993, S. 177f.: „Auf einer ersten Ebene geht es einfach darum, genau hinzusehen und zu erkennen, ‚was‘ die Figuren des Bildes einzeln und miteinander abbilden, ohne eine Bedeutung des ganzen Bildes 135
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zu präjudizieren. […] Das Geschäft der Identifizierung einzelner Gegenstände ist nicht so einfach, wie es zunächst einmal erscheinen mag.“ Wie schwer es offensichtlich nicht nur scheint, sondern ist, zeigt sich, wenn das allgemein als Komet gedeutete (und nicht anders zu deutende) Himmels phänomen im Hintergrund des Bildes von Teddy Brunius (1983, S. 213f.) als Sonne bezeichnet wird; s. dazu hier Anm. 180. – Diese hier und auch noch in diversen anderen Anmerkungen (z. B. Anm. 106, 178, 189, 194, 195, 207, 211, 222) vorgelegten zahlreichen Hinweise auf so merkwürdige bis eindeutig falsche Beschreibungen, „Identifizierungen“ und frei deutend präjudizierende Projektionen in der Melencolia-Literatur sollten nicht als kleinliche Mäkeleien an Einzelfällen verstanden werden; dafür sind es zu viele; in ihrer irritierenden Fülle oder Quantität verweisen sie auf das so schwierige wie problematische, oft aber nur allzu leichtsinnig betriebene „Geschäft der Identifizierung“ mit – und das macht die Sache ja so fragwürdig – entsprechenden qualitativen Fehlleistungen bei Interpretationen. 104 Die Präsentation des Putto und der Melencolia entspricht der darstellenden Kompositionsweise der Isokephalie. 105 Vgl. Kilian 1961, S. 621. 106 Dass der Blick des Putto, der ja eigentlich gar kein Blick ist, „genauso in die Ferne (schweift) wie der seiner Herrin“ (der Melencolia), kann nicht behauptet werden, besonders dann nicht, wenn es gleichzeitig (bei Scheil 2007, S. 212) heißt, dass „das Köpfchen“ des Putto „wie zum Schreiben [auf seine Schiefertafel] gesenkt (ist)“. 107 Detaillierte Ausführungen zu Gesicht, Augen, Blick des Putto und der Melencolia vgl. hier oben S. 24ff. bzw. unten S. 75ff. 108 Vgl. Choulant 1851, S. 156. – Schon 1835 ist bei Carl Gustav Carus (1937, S. 47) von einem Gegensatz Putto-Melencolia zu lesen: „Der Gegensatz des eifrig schreibenden Kleinen mit dem müßig sinnend und traurend hinausblickenden Großen giebt zu mancherlei Betrachtungen Anlaß, […].“ Deutlich sichtbar hat Carus (ebd., S, 46f.) den Gegensatz zwischen dem Putto-Genius und dem Melencolia-Genius in den Flügeln der beiden Figuren erkannt: „Entsprießt den Schultern“ der Melencolia „ein mächtiges, halb gehobenes Paar von Adlerflügeln“, so sitzt „der kleine Genius“ mit einem „erst sprossenden Flügelpaare“ „auf dem mit einer Decke überbreiteten Mühlstein“. – Bei Winkler 1957, S. 241, heißt es zu dem Putto-Melencolia-Kontrast: „Man hat meist angenommen, daß er [der Putto] die Tätigkeit des Kindes als Seitenstück zu der Untätigkeit des reifen Menschen symbolisiere.“ – Ebenso spricht 136
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Bandmann 1960, S. 72f., von einem „Gegensatz“, der auf dem Melancholiestich anschaulich werde, „auf dem der emsig schreibende Putto auf dem Mühlstein der zaudernden und sinnenden Frauengestalt gegenübergestellt ist, unberührt von der gefährlichen Figuration von Fledermaus und kalt strahlendem Gestirn oben. Er ist nicht von der Depression betroffen, sondern in kindlicher Unschuld seiner Tätigkeit hingegeben.“ 109 Vgl. Klibansky / Panofsky / Saxl 1990, S. 477ff. „Saturn und Melancholie“ (1964) kann als Summe und Resümee der Melencolia / MelancholieForschungen der drei Autoren angesehen werden, wie sie z. B. bereits in Panofskys Arbeit zu „Dürers Kunsttheorie“ (1915), in der Panofsky / SaxlStudie „Dürers ‚Melencolia I‘“ (1923) und in Panofskys „Das Leben und die Kunst Albrecht Dürers“ (1943) publiziert worden sind. Das gilt auch für die hier thematisierte Frage nach dem Verhältnis von Melencolia und Putto: Wie weit sind sie Gegenbilder oder Parallelfiguren? – William S. Heckscher (1978, S. 38) schließt sich Panofskys Deutung an und betont ebenfalls „the conflict of separation between, on the one hand, ‚Kunst‘ […]; on the other ‚Brauch‘ […]. In Dürer’s engraving the two are personified by the winged yet earth-bound female (‚Kunst‘), the incarnation of the melancholy spirit, and by the putto, equally winged and perched on the millstone […], symbolizing the spirit of ‚Brauch‘.“ 110 Vgl. Panofsky 1995, S. 220. Hier sei noch einmal die englische Fassung dieser wichtigen Textstelle zum Gegenüber von Melencolia und Putto zitiert: „[…] the significant contrast between her torpid inaction and the bustling activity of the putto.The mature and learned Melancholia typifies Theoretical Insight which thinks but cannot act.The ignorant infant, making meaningless scrawls on his slate and almost conveying the impression of blindness, typifies Practical Skill which acts but cannot think […].Theory and practice are thus not ‚together‘, as Dürer demands, but thoroughly disunited; and the result is impotence and gloom.“ Vgl. Panofsky 1948, S. 164. 111 Vgl. hier Anm. 110. 112 „Praktische Übung“ steht für „Practical Skill“ im englischen Text (vgl. Panofsky 1948, S. 164), wohlgemerkt mit Versalien wie auch „Theoretical Insight“. Wenn man „skill“ nicht mit „Übung“, sondern mit „Können“, „Gewandtheit“, „Geschicklichkeit“ oder „Kunstfertigkeit“ übersetzt, erhält der hier erhobene Einwand gegen Panofskys Darstellung noch mehr Gewicht. Mit Handeln aus praktischem Können oder praktischer Geschicklichkeit,
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Kunstfertigkeit oder Gewandtheit hätte gedankenloses, bedeutungsloses „Gekritzel“ des Putto nichts zu tun. 113 Vgl. Rupprich I, S. 209, Nr. 65, zum „Kindergenius mit Bleilot und Sextant“. – Die Vorzeichnung, auf der der Putto mit Lot und Sextant tätig ist, wird hier im Text ein wenig weiter unten ausführlicher thematisiert. 114 Vgl. Klibansky / Panofsky / Saxl 1990, S. 482. – Zum kunsttheoretischen Thema „Kunst / Brauch“ s. die programmatischen Äußerungen Dürers in einem Widmungsbrief an Willibald Pirckheimer zur „Unterweisung der Messung“ und im „Ästhetischen Exkurs“ die Nummern 2, 9, 10, 11 und 12; vgl. Rupprich I, S. 114ff., und Rupprich III, S. 270ff. 115 Vgl. ebd. – Dass der im Putto symbolisierte „blinde Brauch keinerlei Begrenzung“ kennt und sich nicht wie „die Kunst unüberwindlichen Schranken gegenüber(sieht)“, geht an den Bildrealitäten vorbei; der Putto erweist sich, wie hier dargestellt, in seiner ganzen so gebannt-tatenlosen und augenlosblinden Erscheinung als ein Sinnbild umfassender „Begrenzung“. 116 Vgl. hier S. 29. 117 Vgl. hier S. 24ff. 118 Vgl. Schuster 1991, S. 136, wo es von Theorie und Praxis und der Melencolia lakonisch heißt: „In ihr sind sie vereint.“ 119 Wie überwältigende Verzweiflung aussehen kann, hat Dürer auf seiner Eisenradierung „Der Verzweifelte“ (1514 / 1515) in aller Drastik dargestellt. 120 Der Putto „veranschaulicht“ auch keine „naive, puppenhaft-mechanische Betriebsamkeit“, wie bei Heubach (1997, S. 41) zu lesen ist; vgl. dazu auch ebd., S. 85 Anm. 1. 121 Hartlaub 1937, S. 302f., deutet das Gerät, an dem sich der Putto zu schaffen macht, als „Uhr“ oder genauer als „Standuhr“, die „das Kind aufzieht“. 122 Die Tafel des Putto erinnert auffällig an jene Tafel, die auf Dürers Stich Hieronymus im Gehäus auf dem Boden liegt und in die das Monogramm des Künstlers mit der Jahreszahl 1514 eingeschrieben ist. 123 Wenn Klibansky / Panofsky / Saxl 1990, S. 482f. Anm. 203, anmerken, dass „das ursprünglich vorgesehene Motiv“ des mit Lot und Sextanten hantierenden Putto auf dem Melencolia-Stich „mehr als Parallele denn als Kontrast gewirkt (hätte)“, dann übersehen sie, dass der so tätige Putto doch gerade zur untätigen Melencolia gegenbildlich gewirkt hätte. 124 Vgl. Schuster 1991, S. 118, 332. 125 Vgl. ebd., S. 374. 126 Vgl. ebd., S. 16. 138
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127 Vgl. ebd., S. 118. 128 Dazu ausführlicher hier S. 28ff. 129 Vgl. Schuster 1991, S. 118. – Wenn der Putto als „eifriger Denker im Kleinen“ bezeichnet wird, stellt sich die Frage, wie dieser kleine eifrig denkende, also doch wohl auch – selbst als Sanguineus – ernsthaft reflektierende Putto in einem „auffälligen […] Gemütskontrast zum reflektierten Ernst der Melancholiefigur“ stehen und zu sehen sein soll, zumal er auch noch einen doch durchaus ernsten, wenn nicht gar trübsinnigen Eindruck macht; vgl. dazu ebd. S. 118. 130 Vgl. ebd., S. 152. 131 Vgl. ebd. – Auf das Spielerische im Verhalten des Putto wird auch verwiesen in Dürer 1995, S. 152, und bei Rebel 1996, S. 291. 132 Vgl. ebd., S. 99. Schuster greift die Formulierung von der „fast parodistische(n) Manier“ des Putto bei Klibansky / Panofsky / Saxl 1990, S. 482, auf, die hier in ihrem Kontext bereits zitiert wurde; s. hier S. 34f. – Ähnlich hat es schon Markus Zucker (1900, S. 92) gesehen: „Wie in sich verloren sitzt er [der Genius, Putto] zusammengebückt da und giebt in echt kindlich nachahmendem Gebahren auch seinerseits sich der ernstesten Beschäftigung hin […].“ 133 Vgl. Panofsky 1995, S. 209; bzw. Panofsky 1948, S. 156. 134 Vgl. Schuster 1991, S. 332. 135 Einen eigenen Stich, auf dem das sanguine Temperament zur Darstellung kommt, erkennt Schuster mit Berufung auf Erwin Panofsky in Dürers Adam und Eva-Kupferstich aus dem Jahre 1504 und konfiguriert ihn zusammen mit den sogenannten „Drei Meisterstichen“ sozusagen zu einem TemperamentenQuartett; vgl. ebd., S. 331ff. und Abb. 275a-d auf Tafel 119. – Ernst Rebel (1996, S. 296f.), für den „Sanguiniker […] jugendlich-schöne Paradieskinder (sind)“, stimmt Schusters Deutung des Adam-und-Eva-Stiches als idealtypische Veranschaulichung der Sanguinik zu. 136 Vgl. ebd., S. 332ff. 137 Vgl. ebd., S. 334. 138 Von den bei Schuster abgebildeten exemplarischen Sanguineus-Darstellungen (vgl.Tafel 10–16) aus der Zeit vor und nach Dürer zeigen die meisten musizierende, vor allem eine Laute spielende Allegorie-Figuren, die stehend, mit leichtem Schritt gehend oder aufrecht sitzend sich und ihre Kunst selbstbewusst zu inszenieren wissen.
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139 Eher schon als an einen Putto sanguinicus möchte man beim so rundum korpulenten Melencolia-Putto mit seinen so merkwürdig verdunkelten Augen an einen Putto flegmaticus denken, wenn man bei Karl Giehlow (1904, Nr. 4, S. 66) liest: „Aus jedem Königspergerschen Kalender konnte er [Dürer] schon entnehmen, daß ‚beim Colericus der oberteil seines leibs größer denn der unter ist‘, oder daß ‚der Flegmaticus vil Flaisch‘ und ‚kleine Augen‘ hat.“ 140 Vgl. Schuster 1991, S. 84ff. 141 Vgl. ebd., S. 163f. – Zu einer ähnlich exklusiven und entsprechend fragwürdigen Formulierung Schusters 1982, S. 108, dass sich nämlich ohne Kenntnis „allegorische(r) Handbücher […] Dürers allegorisches Bild in ein faszinierendes Sammelsurium völlig heterogener Einzelteile (auflöst)“, vgl. die deutlichen Bemerkungen bei Heubach 1997, S. 77. – Dazu hier auch Anm. 15. 142 Vgl. ebd., S. 312: Es war „dieser Holzschnitt aus Bovillus’ ‚Liber de Sapiente‘, der diesen Gegensatz von Virtus und Fortuna erstmals in rigide ausgeführter Antithetik in der Graphik zur Verfügung stellte.“ 143 Vgl. ebd., S. 164. 144 Vgl. ebd. 145 Vgl. ebd., S. 166. 146 Vgl. ebd., S. 165f. – Ausführlich zum Vanitas / Virtus- oder Vanitas / ScientiaMotiv vgl. bei Schuster 1991, S. 152ff. – Zur Leiter hatte schon Joseph Heller (1827, S. 472) bemerkt: „Neben dem geflügelten Knaben am Rande des Ufers lehnt eine Leiter, welche wahrscheinlich ausdrücken soll: daß man nur einen gewissen Grad des Wissens auf dieser Welt erreicht, und vielleicht soll auch dadurch angezeigt werden: je höher man steigt, desto tiefer fällt man.“ 147 Vgl. Engelhardt 1993, S. 192: „Es kündet also Dürers Blatt nicht von einem Triumph […].“ 148 Für J. A. Endres (1918 / 19, S. 141f.) hat sogar das Titelbild zum Liber de sapiente des Bovillus „mit den Dürerschen Kupfern [„Hieronymus“ und „Melencolia I“] nichts zu tun“; im Gegensatz zu einer anderen Holzschnitt-Illustration des Werkes. In Endres‘ Aufsatz „Dürers Melancholie und Hieronymus im Gehäus“ soll mit Hilfe der Schriften des Bovillus (vor allem des Liber de sapiente) „der Grundgedanke der beiden Dürerschen Stiche [...] schärfer beleuchtet und ihre Zusammengehörigkeit betont werden“ (vgl. ebd., S. 134). Es geht Endres vor allem um die bei Bovillus in Anlehnung an das theologische Denken des Nicolaus Cusanus thematisierte Frage nach der Möglichkeit von 140
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Gotteserkenntnis und um die in diesem Kontext außerordentlich bedeutsame Licht-Schatten-Metaphorik auch für die Interpretation der beiden Stiche Dürers. 149 Auch Klaus Herding (2009, S. 349) verweist mit Blick auf die BovillusIllustration auf das Fehlen der Fortuna-Figur bei Dürer: „Dieses ikonographische Verfahren [der Gegenüberstellung von virtus und fortuna] hat Dürer beeinflußt, sagt aber noch wenig über die Form des Stiches Melencolia I aus, in dem düstere und hoffnungsvolle Elemente einander durchdringen und eine leichtfertige Figur wie die Fortuna fehlt.“ 150 Vgl. Schuster 1991, S. 164. 151 Vgl. ebd., S. 86, 374. 152 Vgl. ebd., S. 176f. 153 Vgl. ebd., S. 171f. 154 Vgl. ebd., S. 172. 155 Vgl. ebd., S. 166 bzw. S. 474 Anm. 124. Schuster beruft sich bei dieser programmatischen Promotion des Melencolia-Putto zum Lasterprotagonisten auf andere Putten-Darstellungen bei Dürer; wieweit das plausibel, überzeugend oder nicht doch eher fraglich ist, kann hier durch nähere Analysen der genannten Dürer-Werke nicht erörtert werden. 156 Vgl. ebd., S. 166. 157 Vgl. ebd., S. 166. 158 Vgl. ebd., S. 116, 128, 219. Zu dem in der Astronomie-Ikonographie schon seit dem 13. Jahrhundert präsenten Motiv des notierenden Schülers vgl. bei Schuster die Abb. 81–83 auf Tafel 35. 159 Vgl. ebd., S. 307f. Einige Holzschnitte aus dem Bovillus-Traktat sind bei Schuster auf Tafel 113 abgebildet. 160 Vgl. ebd., S. 312. 161 Vgl. ebd., S. 322f. 162 Vgl. ebd., S. 314. 163 Vgl. ebd., S. 313f. – Kursiv, R.H. 164 Vgl. unter iuventus bzw. Jugend in Langenscheidts Großwörterbuch LateinischDeutsch bzw. Deutsch-Lateinisch, herausgegeben von Hermann Menge und Otto Güthling. 165 Vgl. Schuster 1991, S. 313. 166 Vgl. unter pueritia bei Stowasser 2004. 167 Vgl. hier S. 28f. 168 Vgl. hier z. B. S. 37ff. 141
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169 Vgl. Bovillus 1969, S. 318f. Mit Blick auf Sap 2,1–7 sinngemäß frei übersetzt von R.H. 170 Vgl. Sap 2,1–6; Bibel 1986, S. 1126 bzw. Bibel 2000, S. 922. 171 Vgl. Sap 2,7–8. 172 Angesichts des „Alles ist nichts“ sollen und werden nicht nur „Zeichen der Fröhlichkeit“, sondern noch ganz andere Zeichen, Zeichen des Vernichtens, gesetzt werden, zu denen die Verse Sap 2,10–20 in aller radikal-inhuman nihilistischen Deutlichkeit auffordern. Die Verse präsentieren sich als eine einzige fundamental-atheistische Suada, in der das Leben aus der Sicht blasphemischer Frevler („impii“) zur Sprache und zum Ausdruck kommt. In menschenverachtender Vehemenz und in – das grausame Recht des Stärkeren proklamierend – terrorristisch mörderischer Konsequenz wird gegen die Menschlichkeit polemisiert und vor allem gegen die Gläubigen, Frommen und Gerechten voll Verachtung zynisch gehetzt. Nur ein Vers (2,11) sei hier zitiert: „Sit autem fortitudo nostra lex iustitiae; / quod enim infirmum est, inutile invenitur. – Unsere Stärke soll bestimmen, was Gerechtigkeit ist; / denn das Schwache erweist sich als unnütz.“ Im „Venite ergo, et fruamur bonis…“ des biblischen Textes und im variierten Bovillschen „Fruar ergo bonis in iuventute…“ wird, wie das ergo / also signalisiert, letztlich sowohl das Resumee einer nihilistischen Weltanschauung als auch der programmatische Auftakt und Aufruf zu einem gesetzlos amoralischen Agieren ganz im konsequenten Sinn dieser Weltsicht artikuliert. 173 Vgl. Schuster 1991, S. 313. Kursiv, R.H. 174 Vgl. ebd., S. 323, wo es heißt: „Mit ihm [dem Putto] gibt Dürer eine wortwörtliche Illustration des Kindischen des Bovillschen Nicht-Weisen.“ Wie sehr Schuster Bovillus’Text als detaillierten Kommentar zu Dürers Stich liest bzw. Dürers Stich als detaillierte Illustration des Bovillus-Textes sieht, zeigt sich in seinen detailliert vergleichenden „Wie…-So…“-Ausführungen zu „bemerkenswerten“ Übereinstimmungen zwischen Dürers Melencolia-Bildprogramm und Bovillus’Textthematik; vgl. dazu ebd., S. 164 und besonders S. 315ff. – „Dürers mögliche Bekanntschaft mit Bovillus’ ‚Liber de Sapiente‘“ erscheint Schuster (S. 322) aufgrund bestimmter Indizien als „nicht mehr allzu ungewöhnlich“. – Zur Kritik an Schusters Arbeit vgl. auch Martin Büchsel (2010, S. 72ff.), der Schuster „abenteuerliche Beweisführung“ und „ästhetische Simplifizierung“ vorwirft, indem er „assoziative Ikonographie“ praktiziert und sie „über die Grammatik des Stiches (stellt)“. 175 Vgl. Heyer 1934, S. 257. 142
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176 Vgl. Zucker 1900, S. 92; das Bild von der „Dolmetscher“-Rolle des Putto wird hier gern übernommen, auch wenn Markus Zucker den Putto anders sieht und deutet. 177 Max J. Friedländer (1921, S. 146) vergleicht das „anarchische Beieinander“ der Gegenstände um die Melencolia mit einem „Trümmerfeld“. 178 Von dieser Leiter, die nach Camerarius „in die Wolken / Lüfte“ führt („in nubes eduxit“; s. Rupprich I, S. 319, Nr. 29, Z. 17f.), wird gern behauptet, dass man nicht wisse, wo sie beginnt und aufhört; so heißt es bei Martin Büchsel (2010, S. 59f., 65, 70, 144, 201f.) immer wieder, dass „weder ihr Anfang noch ihr Ende zu sehen (ist)“ oder „der Stich nicht verrät, wohin die Leiter führt“.Was ihren Standort angeht, mag das zutreffen, doch wo die Leiter endet, ist zwar nicht direkt zu sehen, doch ohne Weiteres auszumachen, nämlich ein wenig oder unmittelbar direkt über dem von ihr wohl sogar schon tangierten Gesims an der Wand eines gerade noch sichtbaren oberen Teils des Gebäudes, vor dem Melencolia und Putto sitzen. Entsprechende Deutungen, die von der Behauptung ausgehen, „daß das Ende der Leiter nicht zu sehen ist“, erweisen sich damit als sehr fragwürdig. – Schuster 1991, S. 19f., bezeichnet Camerarius’ „allegorische Deutung der Leiter als Sinnbild geistigen Aufstiegs und seiner Gefahren“ als „höchst bemerkenswert“; entsprechend interpretiert er auch (ebd., S. 165f.) die Leiter als „Fortunaattribut“ und als „Hinweis auf die Unsicherheit menschlichen Lebens“: „[…] der gefährliche Aufstieg auf der Leiter mit dem drohenden Absturz in die Tiefe […].“ – Bei Wolf 2010, S. 182, ist von „einer in unbestimmte Höhe ragenden Leiter“ zu lesen. 179 Schoch / Mende / Scherbaum 2001 / 04, Band I, S. 180. 180 Es gehört zu den Merkwürdigkeiten, denen man in der Melencolia-Literatur oft begegnet, dass das sogenannte „anschaulich Gegebene“, also das, was auf dem Stich offensichtlich zu sehen und eindeutig zu erkennen ist, mit aller Bestimmtheit als etwas offensichtlich ganz Anderes identifiziert wird. In extremer Weise demonstriert Teddy Brunius (1983, S. 213f.), der den Putto nicht einmal erwähnt, ein solch falsches Identifizieren, wenn er den Kometen – einen klassisch-etymologisch einwandfreien „Schweif- oder Haarstern“ –, der als glühend fallendes, einen Feuerlichtschweif produzierendes und hinter sich aufleuchten lassendes „Gestirn“ am Himmel unter dem Regenbogen über dem Meer erscheint und zu sehen ist, bedenkenlos und ausdrücklich gegen die Deutung als Komet als „Sonne“ bezeichnet; vom „starken Licht der Sonne über der Seelandschaft“ ist die Rede, das die 143
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Fledermaus vertreibe; und deutlicher noch: „Über dem starken Gestirn, oder lieber über der Sonne, wölbt sich ein Regenbogen […].“ – Für Herbert von Einem (1976, S. 39) handelt es sich um den Planeten Saturn, dessen Strahlen und Ring den dunklen Nachthimmel erleuchten: „The rays and ring of the planet Saturn, which brighten the dark night sky, […].“). – „Keinesfalls ist es der Saturn mit Saturnring“, so zum Kometen und Regenbogen bei Böhme 1989, S. 37, 78 Anm. 54. 181 Von der Inschrift wird behauptet, dass sie den Innenseiten der ausgefalteten Flügel der Fledermaus „einbeschrieben“ sei (vgl. z. B. Schuster 1991, S. 88); dann müsste sie, so wie sie sich präsentiert, jedoch auch teilweise auf dem Leib des Flugtieres notiert sein. Die „Spruchband“-Variante, wie sie Georg Kauffmann (Dürer 1971 / 1, S. 154) vertritt und Peter Strieder (2001, S. 63) vorträgt, ist überzeugender: „Dabei [beim Titulus] begnügt sich der Künstler jetzt nicht mehr mit einem schlichten cartellino als Träger der Inschrift. […] Die erklärende Aufschrift wird von einem fledermausähnlichen Phantasiegeschöpf getragen, das in schnellem Flug den vom Licht eines Kometen erhellten Himmel durchmißt. Mit den Fingern, von denen, der Natur entsprechend, der Daumen mit einer Kralle bewehrt ist, breitet das Tier ein Spruchband aus, dessen Ränder den Flughäuten der Fledermäuse angeglichen sind. Es bedeckt den Leib des Tieres […].“ – Für Henrich Conrad Arend (1728, § 11, unpaginiert) hätte der Titulus auch fehlen können: „Doch diesen umstand darff ich nicht vergessen, daß eine fledermaus als der melancholie offtmaliger geferte ihr zur seit fliege, auf deren ausgebreiteten flügeln das wort melencolia mit großen buchstaben stehet, welches aber meines ermeßens nicht nötig gewesen wäre hinzusetzen, weil ein kunstverständiger ohndem wol siehet was das stück bedeute.“ – Für Joseph Heller (1827, S. 472) ist die Fledermaus „die stäte Begleiterin der Melancholie“. 182 Z. B. ob es sich bei dem Mühlstein vielleicht um einen Schleifstein oder bei der Blasebalgspitze um eine Klistierspritze oder (bei Flachsmeyer 2008, S. 175) um ein „Punziereisen“ handelt. Hier werden die Geräte oder Objekte in Anlehnung an die Studien von Böhme 1989, Schuster 1991 und Schoch / Mende / Scherbaum 2001 benannt. 183 Schon Heinrich Wölfflin (1984, S. 208) hat auf diesen entscheidenden Aspekt aufmerksam gemacht: „Das Wesentliche ist“, heißt es in Bezug auf die Gerätschaften und Werkzeuge, „daß alles zerstreut am Boden liegt: nicht zerbrochen […], aber ungenützt.“ – Auch Klibansky / Panofsky / Saxl 1990,
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S. 447, bezeichnen mit Berufung auf Wölfflin diesen unnützen Zustand der Gerätschaften als das gerade „Charakteristische“ des Melencolia-Stiches. 184 Dass die mittleren Ziffern der untersten Zahlenreihe die Jahreszahl sowohl der Entstehung des Stiches als auch des Todes von Dürers Mutter signalisieren, ist als individuelle Reverenz und Signaturzugabe des Künstlers zu verstehen. – Choulant 1851, S. 156f., stellt dem „praktisch nutzlosen magischen Quadrat […] die täglich im Leben gebrauchte Glocke […]“ gegenüber, die er als „leicht beweglich“ bezeichnet; doch erweist sich die „mit Schnur zum Anziehen“ ausgestattete Glocke hier – wie weiter unten noch erläutert wird – nicht als leicht beweglich und somit auch nicht als funktionstüchtig: also ebenfalls als so „praktisch nutzlos“ wie das Quadrat, das mit „unbeugsamer Stetigkeit“ und „strenger Nothwendigkeit dieselbe Zahl als Summe giebt“. – Albert Ilg (1870, S. 154) sieht das Magische Quadrat im Kontext einer möglichen Lebenserfahrung Dürers: „Da mag, wenigstens momentan, ein bitterer Indifferentismus sich seiner [Dürers] bemächtigt haben und die Gleichgültigkeit alles Irdischen recht schauerlich vor seiner Seele gestanden sein. Darauf deutet, wie ich glaube, jenes Quadrat mit den 16 Feldern, deren Zahlen man addiren kann, wie man will, es gibt stets dieselbe Summe. Dies deutet auf das Einerlei, die Gleichgültigkeit des Lebens und seiner Ausfüllung; das Resultat, das wahre sichere Ende von Jedem, dem schlimmsten und dem besten, gleicht sich immerdar.“ – Für H. Knackfuß (1896, S. 83) handelt es sich ähnlich wie bei L. Choulant um ein Objekt „von zweckloser Spielerei des menschlichen Scharfsinns“. – Thomas Mann spricht im „Doktor Faustus“ mit Blick auf „die Magie – oder Kuriosität – […]“ des Melencolia-Quadrates, das als Reproduktion einen „prominenten Platz“ über Adrian Leverkühns Pianino „in seinem Logis“ in Halle hatte, von seiner „fatalen Stimmigkeit“; vgl. im ersten Abschnitt des 12. Kapitels. – Es mag ein gewagter Gedanke sein, aber man könnte, da sich hier beim variablen Zusammenzählen der Ziffern des Quadrates immer dieselbe Zahl als Summe ergibt, den Eindruck haben, sich irgendwie im Kreise zu bewegen und als sei das magische Quadrat der Melencolia somit als so etwas wie die Quadratur des Kreises oder als Kreis der Quadratur zu dechiffrieren. 185 So formuliert es Wolf von Engelhardt (1993, S. 192), und er konkretisiert seinen Befund: „auf dem irdischen Werkplatz“ mit den Lebewesen Hund, Putto, Melencolia und all den Instrumenten ist „alles tätige Leben erstarrt“. – Ähnlich wie hier hat schon Albert Ilg (1870, S. 153) auf all die ruhenden, unberührten, vernachlässigten, unbeschäftigt auf dem Boden „wie Ruinen“ 145
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herumliegenden Gegenstände und Werkzeuge aufmerksam gemacht. Freilich unterscheidet er sich deutlich durch seine radikal pessimistische „Vanitas!Vanitatum-Vanitas!“-Interpretation des Melencolia-Stiches. – Wie Wölfflin 1984, S. 204, schreiben kann „Aber ringsherum ist’s lebendig“, ist doch einigermaßen verwunderlich; er notiert dies mit Blick auf einen Gegensatz zwischen der Melencolia, bei der alles „Unmut, Dumpfheit, Erstarrung (scheint)“, und dem „Chaos von Dingen“, die „ungenützt, unordentlich zerstreut“ um die Melencolia-Gestalt herumliegen. 186 Bei der am Turmgebäude hängenden Waage verhält es sich (wie bei anderen Objekten, z. B. Hobel, Lineal oder Modellholz) anders; sie ist, was ihre Gebrauchsfähigkeit betrifft, nicht beeinträchtigt; von der Mauer des Turms einfach abgenommen (und das scheint möglich), könnte sie (anders als die Glocke, die Sand- und die Sonnenuhr) problemlos ihr entsprechende Aufgaben erfüllen. In keiner Weise sind damit jedoch ikonographisch bedeutsame Konnotationen und Interpretationen der Objekte tangiert. – Bei der links hinter dem hl. Hieronymus an der Wand in einer Ecke eingeengt hängenden und in einen ganz ähnlichen Behälter integrierten Sanduhr ohne bekrönende Sonnenuhr (s. Abb. 13) scheint die konkret-praktische Situation, die freilich eine ganz andere als bei der Melencolia ist, noch dramatischer; angesichts der wie zeitlos wirkenden Szenerie mit dem schon durch einen hellen Nimbus ausgezeichneten Heiligen kommt es auf Stundenzählen kaum mehr an, nur noch auf das sicherlich bereits gründlich interiorisierte Memento mori, wie es der Totenkopf auf der sonnenbeschienenen Fensterbank ebenfalls signalisiert. – Auch auf dem ersten, 1513 entstandenen der drei Meisterstiche Ritter,Tod und Teufel ist sowohl links unten über Dürers Signatur (einem S – für Salus – 1513 und dem berühmten Monogramm AD, das ja immer auch als Anno Domini gelesen werden kann) ein Totenkopf zu sehen und links oben neben dem Ritter – genau wie bei Hieronymus und der Melencolia – ein Sand- oder Stundenglas, das in ein (wohl damals so üblich) durch Säulchen gekennzeichnetes Rahmengefäß eingefasst ist. Es ist der Tod, der dieses Memento-mori-Symbol dem Ritter, der es jedoch nicht einmal zu ignorieren scheint, vor Augen führt. Über diesem Stundenglas-Instrument, das sehr mobil allseits einsatz- und demonstrierfähig gewesen zu sein scheint, befindet sich keine Sonnenuhr, sondern ein nur uhrähnliches Zifferblatt, dessen einziger Zeiger auf etwa fünf Uhr, den frühen Abend oder den frühen Morgen weisen dürfte. – Auf Heinrich Aldegrevers Stich Respice finem (1529) hält eine ungemein stattlich-stämmige nackte Frau, die noch ziemlich 146
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ungezwungen vor einem offenen Grab steht, auf dessen Rand eine Schaufel liegt, eine (wie bei Dürer) ganz ähnliche tragbar mobile Sanduhr mit aufmontierter Sonnenuhr in der linken Hand. Am Rande des möglicherweise für den nächsten Toten freigeschaufelten Grabes ist ein eventuell gerade ausgegrabener Totenkopf zu sehen und hinter der Frau eine Fortuna-Kugel samt Inschrift RESPICE FINEM. 187 Schuster 1991, S. 18, spricht vom „geradezu proto-surrealistischen Rätselcharakter des Dürerschen Melancholieblattes“, der sich „aus der Addition völlig disparat wirkender Bildmotive“ ergebe. – Bei Weber 1900, S. 62, ist von einem „seltsam zusammengedrängten Gewirr“ die Rede. – Schauerte 2004, S. 128, spricht von einer „im Grunde völlig irrealen Bilderfindung“. – Für Winzinger 1971, S. 102, befindet sich die Melencolia „inmitten des surrealistisch anmutenden Geräts“. – In diesen Kontext gehören auch die Ausführungen von Henrich Conrad Arend (1728, § 11f., unpaginiert), der von Dürers „scharffsinnigen“ oder „geistvollen erfindungen“ als von „phantasie stücken“ spricht, zu denen als „das sinnreichste“ er „allererst das stück (rechne), worauff die tieffsinnige melancholie vorgestellet wird […].“ Als andere Phantasiestücke werden z. B. auch die Kupferstiche „Adam und Eva“, „Herkules“, „Ritter, Tod und Teufel“ und „Der Traum des Doktors“ genannt. – Heinrich Sebastian Hüsgen subsummiert die meisten der von ihm katalogisierten Kupfer- und Eisenstiche unter der Bezeichnung „Fantasie-Stücke“; darunter auch „Ritter, Tod und Teufel“, „Melencolia I“ und „Der Traum des Doktors“; vgl. Hüsgen 1778, S. 42ff. Dazu merkt er in der Einleitung (ebd. S. 2f.) an: „Nichts hat mir ansonsten bey Verfertigung dieses Catalogi mehr Mühe gemacht, als unter den Dürerischen FantasieStücken dazu schickliche Nahmen auszutheilen, der Mann hat hier so gar wunderliche Gegenstände gewählt, daß man weder in den heidnischen noch christlichen Werken darüber nachzuschlagen im Stande ist. Das Geistund weltlich Historische höret hier ganz auf, und stellt dahero im Grunde jedesmahl dasjenige vor, was man sich in seinem Gehirn davon einbildet.“ 188 Vgl. Choulant 1851, S. 156. 189 Selbst als „Sterbeglocke“ kommt eine auf diese Weise installierte Glocke nicht in Frage; vgl. Steck 1958, S. 246. – Handelt es sich nach Dürer 2013, S. 262, um eine „Totenglocke“, so nach Dürer 2003, S. 422, um ein „Totenglöcklein“, mit dem Dürer auf das Ableben seiner Mutter Bezug nehme. – Als „Zeitglöcklein, das auch das Ableben eines Menschen verkündet“, identifiziert Karl Giehlow (1904, S. 65 Anm. 2) mit Hinweis auf ein Gedicht Dürers die 147
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Glocke über dem „Zauberquadrat“. Ihre Hauptaufgabe aber wird – ohne zu bedenken, wo und wie sie aufgehängt ist – so umschrieben: „Wie sie am Schwengel hängt, ist sie bestimmt, die sieben Tagzeiten zu läuten.“ – Ilg 1870, S. 154, sieht die Glocke in Konstellation mit der Sanduhr: „Die Glocke ist das Zügenglöckchen, welches noch schweigt und nur wartet bis aller Sand verrann.“ – Für Büchsel 2010, S. 42f. „(scheint) das Seil der Glocke gestrafft zu sein, um die mitternächtliche Stunde einzuläuten.“ – Nicht einmal als geheime, magische Geisterglocke („Electrum magicum“), mit der man – nach pansophisch-paracelsischer Weisheitslehre – gute Geister oder Engel zu „freundlichem Umgang“ und zur Erforschung „zukünftiger Sachen“ herbeizitieren kann, taugt die doch so verkehrt-unmöglich aufgehängte Glocke. R. W. Horst (1953, S. 428f.) glaubt mit dem Hinweis auf diesen Kontext die „richtige Deutung“ für die Melencolia-Glocke gefunden zu haben; Reuterswärd 1967, S. 415 Anm. 15, nennt Horsts Bestimmung der Glocke als Electrum magicum „einwandfrei“. 190 Merkwürdigerweise wird die Sonnenuhr in der Melencolia-Forschung vielfach nicht beachtet; z. B. bei Arend 1728; Hüsgen 1778; Choulant 1851; Eye 1860; Ilg 1870; Allihn 1871; Lange 1892; Brandt 1928; Hartlaub 1937; Carus 1937; Musper 1952; Reuterswärd 1967; Brunius 1983;Wölfflin 1984; Panofsky 1995; Klibansky / Panofsky / Saxl 1990; F.W. Heubach (1997, S. 30) nennt in der detaillierten „Liste“ der „auf dem Blatt dargestellten Dinge“ die Sonnenuhr nicht; Schoch / Mende / Scherbaum 2001; Wolf von Engelhardt (1993, S. 182), der auf dem genauen Hinsehen insistiert, widmet sich zwar intensiv der Sonnenuhr, registriert jedoch das Fehlen des Schattens nicht. – Wolf 2010a, S. 182, erwähnt bei der Aufzählung der am „turmartigen Bauwerk“ angebrachten Gegenstände weder die Sonnenuhr noch die Glocke. 191 Zur Sonnenuhr heißt es bei Böhme 1989, S. 27: „Verblüffend ist, daß der Zeiger der Sonnenuhr keinen, das Stundenglas an der Mauer jedoch einen scharfen Schatten wirft.“ – Auch Eberlein 2011, S. 118, konstatiert, dass die kleine Sonnenuhr „keine der aufgemalten Stunden von 8 bis 4 Uhr anzeigt“; genauer jedoch von 9 bis 4 Uhr. – Dass die Sonnenuhr keine Zeit anzeigt, wird auch bei Dürer 1995, S. 152, vermerkt. – Vollmann 2011, S. 284, erwähnt die „kleine Sonnenuhr“, aber nicht ihren defizitären Zustand. 192 Für Françoise Rücklin (1995, S. 83) ist die Nacht dafür verantwortlich, dass die Sonnenuhr keine Stunde anzeigt: „Il [le grand sablier] est surmonté d’un petit cadran solaire, qui, en raison de la nuit, n’indique aucune heure.“ 148
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193 Wilhelm Waetzold (1950, S. 105) schreibt: „An dem tief Unbehaglichen, ja Unheimlichen der Gesamtstimmung kann kein unbefangener Betrachter zweifeln.“ 194 Vom Putto behauptet Françoise Rücklin 1995, S. 142: „L’aile du Putto, soulevée, est prête à l’envol […].“ 195 Und vom Hund, dem sie „les oreilles dressées de l’animal“ attestiert, heißt es ebenda bei Françoise Rücklin: „[…] et le chien est prêt au bond.“ Doch weder macht der Putto den Eindruck, von einer Sekunde auf die andere auf- und davonfliegen zu wollen bzw. zu können, noch signalisiert der Hund, dessen Ohren nun wirklich nicht „gespitzt“ oder „aufgerichtet“ erscheinen, irgendwie eine Bereitschaft, im nächsten Augenblick aufspringen zu wollen bzw. zu können (s. Abb. 18). 196 Carus 1937, S. 46f., spricht von „einem Stück einer fünfseitigen, ungleich abgestutzten Säule“ bzw. von einem „fünfseitigen Säulenfragment“. 197 Diesem merkwürdigen Gebilde auf der der Melencolia zugewandten Seite des Steinblocks, das wohl kein Zufallsphänomen sein kann und hier und da als einem Totenkopf ähnlich angesehen wird, käme – wenn es denn als eine totenkopfähnliche Erscheinung eindeutig zu identifizieren wäre – in diesem Kontext noch eine ganz speziell intensivierende Memento-mori-Bedeutung zu. Näheres zu diesem „versteckten Tod“ bei Schuster 1991, z. B. S. 158. – Zu diesem amorphen, nebelhaften Gebilde oder „Vexierbild“, das – im Kontext der Melencolia-Motive – „nur [als] ein Totenkopf in Betracht kommen kann“, auch Reuterswärd 1967, S. 411ff, u. v. a. 198 Vgl. Schuster 1991, S. 16ff. 199 Thausing 1876, S. 450, registriert die „unheimliche Beleuchtung des Firmamentes durch einen Regenbogen und durch einen Kometen“. – Wie Paul Weber (1900, S. 46) gleich zu Beginn des Kapitels über „Melancholie und Hieronymus im Gehäus“ „die unheimliche unsichere Beleuchtung der ganzen Scene“ bemerkt, so Valentin Scherer den „geheimnisvollen Dämmerschein“ auf dem Melencolia-Blatt; vgl. in Winkler 1928, S. XXXII. – Von „unheimlicher Lichtführung“ ist bei Reuterswärd 1967, S. 423, vom „unheimlichen Zwielicht“ bei Klibansky / Panofsky / Saxl 1990, S. 452, und vom „geheimnisvollen Zwielicht“ bei Schuster 1991, S. 16f., zu lesen. – „Im Zwielicht eines Ortes, der auf den ersten Blick bedrückend unübersichtlich wirkt“, lässt Rebel 1996, S. 287, das „geflügelte Wesen“ der Melencolia sitzen. 200 Vgl. Schuster 1991, S. 16f.
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201 Müsste, wenn sich das Licht bzw. die Strahlen des Kometen auf dem Meer irgendwie spiegeln sollen, wie Wolf von Engelhardt (1993, S. 182) behauptet, das eigentlich nicht ganz anders aussehen? 202 Vgl. Schuster 1991, ebd. – Eduard Flechsig (1928, S. 245; 1931, S. 122) hat darauf aufmerksam gemacht, dass diese Lichtführung von rechts bei der Melencolia I (wie bei zwei anderen Stichen Maria an der Mauer, 1514; Von zwei Engeln gekrönte Maria, 1518) eine beachtenswerte Ausnahme darstellt, was sämtliche Grabstichelarbeiten Dürers von 1504 bis zu seinem Tode angeht, bei denen sonst immer das Licht von links kommt. 203 Vgl. Schuster 1991, S. 18. – Diese beiden Lichtquellen sind auch bei Françoise Rücklin (1995, S. 84) die entscheidenden Lichtquellen des von ihr als mondene Nachtszenerie gedeuteten Melencolia-Schauspiels, für das auch der Komet nicht lichtbestimmend sein kann: „Mais, bien que ses rais strient la voûte céleste tout entière, ce n’est pas cet astre qui éclaire la scène: la lumière, brutale comme celle du claire de lune, vient en fait, dans cette gravure, de l’opposé, de la ‚gauche‘ et du haut.“ Das „von links“ ist bildimmanent von der Melencolia aus gesehen zu verstehen. 204 Vgl. Schuster 1991, S. 18. 205 Vgl. z. B. Rösch 1971, S. 162; Rebel 1996, S. 287. 206 Vgl. Schuster 1991, S. 18. 207 Sehr detailliert hat sich Wolf von Engelhardt (1993, S. 181ff.), der – wie Klibansky / Panofsky / Saxl – für den Stich zwei Lichtquellen diagnostiziert, den Lichterscheinungen und Lichtverhältnissen bzw. den entsprechenden Tages / Nachtzeiten und sogar Himmelsrichtungen gewidmet, die seiner Meinung nach für Dürers Melencolia-Stich bestimmend sind. Die Licht- und Schattenrätselhaftigkeiten aber bleiben; es werden, auch wenn von Engelhardt oft sehr dezidiert formuliert, mehr Fragen aufgeworfen als überzeugende Antworten gegeben. Wie kompliziert sich die Lichtverhältnisse auf dem Stich darstellen und ein Versuch, sie zu benennen, gestalten kann, zeigt sich, wenn Engelhardt (ebd., S. 182) schreibt, dass das Licht der „Himmelserscheinung“ oder „Lichterscheinung“ (des Kometen) „Schatten“ produziert, „die die Bäume auf der Landzunge auf den Vordergrund zu auf das Wasser werfen“; denn einer der beiden Bäume (der hintere linke), die auf Inseln oder Landzungen deutlich zu sehen sind, scheint verschattet, der andere (der vordere rechte) ist jedoch – und sicherlich nicht vom Kometen – von vorn frontal hell angestrahlt wie das Gebäude-Ensemble rechts neben ihm; trotzdem scheint – wie auch immer – auch er wie der hintere so etwas wie 150
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einen Schatten nach vorne zu werfen; vgl. hierzu die Ansicht auf Abb. 1 oder näher detailliert auf Abb. 17. 208 Vgl. Weber 1900, S. 62. – H. v. Einem 1976, S. 38, spricht von „the tools scattered about in disarray“. 209 Vgl. Kilian 1961, S. 618, die „Hauptfülle des Lichtes“, die „von rechts her die Szene beleuchtet“. – Wölfflin 1984, S. 209, spricht von „Haupthelligkeiten“, die „tief unten sitzen“; vgl. auch Wölfflin 1947, S. 104. 210 Als „grell“ bezeichnet auch Herma Bashir-Hecht (1985, S. 135) das von rechts einfallende und „harte Kontraste“ schaffende Licht. – Musper 2003, S. 28, bezeichnet das von rechts kommende Licht als „fahles Licht“. – „Fahle Beleuchtung mit dem Kometen“ konstatiert auch Friedrich Winkler (1957, S. 240), der ebenfalls von „zwei Lichtquellen“ spricht; die „sichtbare Lichtquelle mit dem Kometen am dunklen Himmel“ habe Dürer „sich nicht stark auswirken lassen – nur auf der Wasserfläche“; das aber „war doch wohl der Grund, die andere [Lichtquelle] besonders kräftig in Erscheinung treten zu lassen“; und von diesem „von rechts herein(brechenden)“ Licht heißt es, dass es „das sitzende Flügelwesen scharf an(strahlt)“. 211 Von der Fledermaus heißt es immer einmal wieder, dass sie vor dem Kometen fliehe und „erregt schreiend bildauswärts“ fliege; vgl. Hoffmann, K. 1978, S. 251f. Gleichzeitig aber wird sie jedoch von einem Licht voll erfasst, dem sie vielleicht nicht entfliehen kann, nicht will oder auch nicht darf, weil sie sonst ihre Botschaft Melencolia I nicht sichtbar machen und aller Welt verkünden könnte. – Als „mit schreiend geöffnetem Maul“ sehen auch Schoch / Mende / Scherbaum 2001, S. 179, das „fledermausähnliche Fantasiewesen“, von dem sie dann behaupten, dass es „auf den Betrachter (zuschwebt)“. Das Flugtier fliegt / flieht jedoch gerade vom Betrachter weg und ganz entschieden aus dem Bild hinaus. Dass es als „ein teuflischer Dämon hereinschwebt“, meint auch von Engelhardt 1993, S. 192. – Die Inschrift mit der „Bezeichnung des Temperaments“, die die Fledermaus präsentiert und auf die die „mächtige geflügelte Frauengestalt“ „wohl“ ihre Augen gerichtet hat, kann, wie Peter Strieder (1981, S. 160) behauptet, von „einem Kometen“ (mit dem nur der hinter der Fledermaus am Himmel erscheinende stürzende Komet gemeint sein kann) nicht beleuchtet werden. 212 Für Françoise Rücklin (1995, S. 84) handelt es sich bei den hellen Höhenzügen um schneebedeckte Berge: „[…] et, à l’horizon, des montagnes enneigées.“
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213 Max J. Friedländer (1921, S. 146) konstatiert „ein irritierendes Licht, etwa wie bei Sonnenverfinsterung“. 214 Patrik Reuterswärd (1967, S. 411ff.; Zitat, S. 419) schreibt: „Schon die Wahl der dargestellten Objekte spricht von einer beabsichtigten Mehrdeutigkeit. […] Mit anderen Worten: Bildaufbau und Objektwahl deuten zusammengenommen auf so etwas wie eine gewollte Unerschöpflichkeit hin, und man bekommt den Eindruck, daß Dürer hier auch die extremsten und unerwartesten Interpretationen gutgeheißen hätte, wenn sie nur ernsthaft genug waren.“ – Man darf sicherlich auch an Goethes Verse (131f.) aus dem „Vorspiel auf dem Theater“ zum „Faust“ denken: „Sucht nur die Menschen zu verwirren, / Sie zu befriedigen ist schwer – – “ 215 Vgl. Zucker 1900, S. 92. 216 Vgl. Wölfflin 1947, S. 99 und 104. 217 Vgl. Böhme 1989, S. 28. 218 Vgl. z. B. Schuster 1982, S. 76, 95; Schuster 1991, S. 373, 386. 219 Vgl. Schauerte 2012, S. 195; Schuster 1991, S. 18. 220 Vgl. Schauerte 2004, S. 128. 221 Vgl. Schoch / Mende Scherbaum 2001, S. 179; Dürer 1995, S. 152. 222 Vgl. Panofsky / Saxl 1923, S. 50. – Klibansky / Panofsky / Saxl 1990, S. 453, sprechen von einem „dunkelnden Himmel“, vor dem „die Fledermaus ihren kreisenden Flug beginnt“; von einem kreisenden Flug der MelencoliaFledermaus kann hier wirklich nicht die Rede sein. 223 Vgl. Wölfflin 1947, S. 104. 224 Vgl. Reuterswärd 1967, S. 423. 225 In den meisten Publikationen wird der Himmelsbogen als Regenbogen identifiziert. 226 Vgl. Heller 1827, S. 472. – Schuster 1991, S. 18, bezeichnet den Regenbogen als „wohl ein Mondregenbogen, der nur sehr selten zu sehen ist“. 227 Robert W. Horst (1953, S. 426) schreibt: „Der Himmel (die oberste, himmlische Sphäre der Welt) ist verdüstert. Er wird nur von dem gefährlichen Schein des Saturn überstrahlt, der seinen Dämon – die Melancholie – in Gestalt des fliegenden Drachens ausgesendet hat. Daß es sich bei diesem kometenartig dargestellten Himmelszeichen um den Saturn handelt, wird astronomisch durch den halbkreisförmigen Ring belegt, den man immer für einen Regenbogen hielt, der aber einwandfrei als der charakteristische Saturnring erkannt werden muß. Sonne, Mond und Sterne sind verschwunden, der Saturn herrscht allein.“ – Wie wohl unbeantwortbar rätselhaft sich 152
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die Lichtverhältnisse auf Dürers Stich darstellen, manifestiert sich in einer Bemerkung Wolf von Engelhardts (1993, S. 184) sowohl zu der von ihm angenommenen zweiten Lichtquelle im Vordergrund (neben den Lichterscheinungen am Himmel) als auch zur Identifizierung des Regenbogens: „Die den Vordergrund beleuchtende Lichtquelle, sei es nun die Sonne oder der Mond, steht jedoch, wie die Schatten zeigen, hoch am Himmel. Der Bogen am Himmel des Bildes ist daher nicht ein wirklichkeitsgetreues Abbild eines Regenbogens, weist aber auf einen solchen hin.“ 228 Vgl. Schuster 1991, S. 18. 229 Vgl. Schuster ebd., mit Hinweisen auf Panofsky und Heckscher (S. 52), der es auch für möglich hält, dass der Putto mit seinem „stylus“ auf seiner Tafel einen „squeaking sound“ produziert; zum Schreien oder Quieken der Fledermaus s. auch Rebel 1996, S. 290 und 292; Böhme 1989, S. 12; Büchsel 2010, S. 189. 230 Vgl. Rösch 1971, S. 162. – Wilhelm Bühler (1925, S. 44) ist – was die Lichtquellen und die Tageszeiten dieses Melencolia-„Frühlingstages“, aber auch die Himmelsrichtungen angeht – offensichtlich voll im Bilde: „In der perlengeschwängerten Luft steht – der Sonne genau gegenüber – ein Regenbogen und unter ihm von Osten her ein Komet deutlich am geklärten Himmel. Auch eine Fledermaus mit phantastischem Schwanz zeigt den Abend an. Noch ist alle Beleuchtung der Sonne zu danken: sie steht – im Einklang mit der bald vier Uhr zeigenden Sanduhr – in Westsüdwest. Ihre Höhe zur Erde gleicht der Lichtverteilung auf der Kugel. An dem Frühlingstage stehen die Uferpappeln schon dünn belaubt und frisches Kraut ließ sich zum Kranze pflücken.“ 231 Vgl. Rebel 1996, S. 287. 232 Vgl. Engelhardt 1993, S. 192; im Verlauf seiner Studie heißt es immer einmal (S. 182, 184) von der hoch am Himmel stehenden Lichtquelle im Vordergrund „Mond oder Sonne“; erst am Ende überzeugt die Sonne als definitive Lichtquelle. 233 Vgl. Büchsel 2010, S. 42; Büchsel (ebd., Anm. 93) beruft sich bei dieser präzisen Zeitangabe fälschlicherweise auf von Engelhardt, der an der von Büchsel zitierten Stelle freilich nur hypothetische Überlegungen anstellt im Kontext der „vorherrschenden Meinung“, dass der Melencolia-Stich „ein Nachtbild“ und die Szene „von fahlem Mondlicht erhellt“ sei (vgl. Engelhardt 1993, S. 182). Seine definitive Melencolia-Zeitbestimmung formuliert von Engelhardt, wie hier (S. 64) zitiert, auf S. 192. 153
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234 Klibansky / Panofsky / Saxl 1990, S. 452 Anm. 120. – Böhme 1989, S. 13, 37, 39, spricht zwar von einer „mondenen Lichtquelle“, fragt aber gleich in Parenthese: „– oder ist es das Schräglicht der Abendsonne, was manche meinen – “. Als weitere Lichtquelle des Stiches benennt Böhme „die Himmelserscheinungen“, wobei freilich nur der Komet „mit seinem allseitigen Strahlenkranz“ in seiner Lichtwirkung etwas ausführlicher beschrieben wird; der Regenbogen kommt dagegen als wirksame Lichtquelle nicht vor, wird er doch gleich als das biblische Zeichen des Gottesbundes nach der Sintflut gedeutet: „Er erinnert an die Selbstbindung Gottes, nie wieder die Urwasser gegen den Menschen zu entfesseln. […]; der Regenbogen ist dagegen das Zeichen, gegenüber dieser archaischen [Sintflut-]Angst Vertrauen in den Bestand der Welt setzen zu können.“ – In welcher Weise diese göttlichmenschliche, himmlisch-irdische Deutung des Regenbogens auf dem Stich in den Kontext einer Interpretation der Melencolia von Relevanz ist, muss hier nicht entschieden werden. Aber sicher ist, dass der Regenbogen nicht, wie Friedrich Winkler (1957, S. 243) behauptet, ebenso wie der Komet als ein „unheilverkündende(s) Anzeichen“ zu deuten ist. 235 Vgl. Klibansky / Panofsky / Saxl, ebd. 236 Ebd. 237 Vgl. Schauerte 2004, S. 128. 238 Hartmut Böhme (1989, S. 8f.) hat das Problem folgendermaßen umschrieben: „Die Probleme beginnen mit der Identifizierung der Gegenstände auf dem Bild. Darum geht es zuerst. Doch kann man den Schwierigkeiten der Bildauslegung dadurch nicht entkommen. Das Geheimnis dieses Blattes besteht nicht darin, welche Gegenstände und Lebewesen im Bild versammelt sind, sondern was es bedeutet, daß es gerade diese sind, welcher Zusammenhang zwischen ihnen besteht, was also ihre Komposition meint. Alle Dinge des Blattes sind, was sie sind, Zirkel, Buch oder Waage, und ‚bedeuten‘ noch etwas anderes, das sich erst durch Entschlüsselung des ikonologischen, philosophischen, religiösen, medizinischen, naturwissenschaftlichen oder zeitgeschichtlichen Hintergrundes erschließt. Damit wird das Blatt zum Musterfall einer philologisch-ikonographischen Analyse. Man sucht den ‚Text‘ hinter dem Bild, der dessen geheimnisvolle Bedeutung enthält.“ 239 Vgl. Klibansky / Panofsky / Saxl 1990, S. 452.Vgl. zur „Zwielichtigkeit“ der Melencolia auch die Ausführungen zum völlig „neuen Ausdruckssinn“ des Stiches ebd. S. 448ff., wo es z. B. auf Seite 449 von der fundamentalen „Wandlung des Ausdruckssinnes“ heißt: „[…]: die Vorstellung einer ‚Melen154
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colia‘, in deren Wesen sich die geistige Bedeutung einer Freien Kunst mit der Leidensfähigkeit einer menschlichen Seele vereinigt hat, konnte nur die Form eines geflügelten Genius annehmen.“ 240 Vgl. hier Anm. 244. 241 Vgl. Böhme 1989, S. 72. 242 Auch Martin Büchsel (2010) verweist auf dieses bildbestimmende Element des Zwielichts auf dem Melencolia-Stich; z. B. wenn er auf S. 144 vom „Gekritzel des Puttos im Halbdunkel“ schreibt; auf S. 186: „Im Stich der Melancholie herrscht Zwielicht, das den Genius der Melancholie im Zwielicht läßt“; oder auf S. 43: „Die Strahlen eines Kometen erhellen den Himmel. Sein Schweif wendet sich als Strahlenbündel nach oben. Der Komet ist aber nicht die einzige Lichtquelle. Seitlich scheint ein anderes Gestirn, wohl der Mond, auf die geflügelte Personifikation und die Gerätschaften. So kommt das Zwielicht zustande. Trotz des Dunkels werden durch differenzierteste graphische Strukturen sorgsam die Gegenstände voneinander abgesetzt.Wie das Licht sich im Dunkeln mit den verschiedenen Materialien verbindet, wird in allen Schattierungen manifest.“ 243 Durch das Fehlen nützlich praktischen Mobiliars im Atelier der Melencolia (wie z. B. eines ordentlichen Arbeitsplatzes etwa in Form eines Zeichentisches mit Stuhl, eines Schreib- oder Lesepultes, einer Werkbank) wird wieder einmal das Phantastisch-Imaginäre, Irreal-Surreale oder Allegorische der ganzen Szenerie akzentuiert, gleichzeitig auch der Gegensatz zum konkret-realen, nicht nur aufgeräumten, sondern auch nützlich eingeräumten Wohn- und Studier„gehäus“ des heiligen Hieronymus. – Die „Anhäufung so verschiedener Gegenstände“ erinnert Max Allihn (1871, S. 112) „an das Aussehen von Curiositäten-Kammern“. 244 Joachim Camerarius (1500–1574), neben Erasmus von Rotterdam einer der einflussreichsten Humanisten und Pädagogen im 16. Jahrhundert, hat in seine 1541 publizierte Schrift „Elementa rhetoricae“ eine Ekphrasis der Dürerschen „Melencolia“-Stiches unter der Überschrift „Melancholia“ aufgenommen; vgl. Rupprich I, S. 319, Nr. 29. Unter den zum Teil extrem falschen Beschreibungen der Melencolia-Figur, die oft eigentlich auf den nicht erwähnten Putto zutreffen (z. B. das „mit gesenktem Kopf“: „demisso capite“), findet sich auch ein Hinweis auf die Lichtverhältnisse, die auf dem Bild rund um die Melencolia herrschen: „Omnia autem sunt circum illam obscura.“ William S. Heckscher (1978, S. 32f.), der dem Text des Camerarius eine eingehende Studie gewidmet hat, hat den Satz mit vollem Recht folgen155
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dermaßen übersetzt: „Everything about her is in twilight.“ Formulierungen wie „obscura luce“ für „in der Abenddämmerung“ und „obscuro lumine“ für „in der Morgendämmerung“, die also genau das Zwielichtige bezeichnen, sind in der lateinischen Literatur belegt; vgl. Stowasser 2004, S. 344. Heckscher selber betont noch einmal die Richtigkeit seiner Übersetzung, wenn er schreibt (ebd., S. 52): „I felt justified in using for Camerarius’ phrase ‚omnia autem sunt circum illam obscura‘ the term ‚twilight‘ in order to do justice to the nocturnal gloom cast over the entire scene which, nevertheless, allows the beholder to see the smallest detail sharply defined. […] Albrecht Dürer beautifully succeeded in making manifest the specific Saturnian light as we find it described, toward the end of the twelfth century, in the grandiose Anticlaudianus of Alanus ab Insulis: ‘Hic tenebrae lucent, hic lux tenebrescit …’ [here the shades engender lights, here light begets darkness …].” Zu den Alanus-Versen im Anticlaudianus (IV. Buch,VV 370f.) vgl. unter Alanus 1855, 1955 und 1966. – Ausführlich befasst sich auch Martin Büchsel (2010, S. 67ff.) vor allem mit dem Text des Camerarius, aber auch mit Heckschers Kommentar zu diesem Text. Neben dem Abdruck der lateinisch verfassten Ekphrasis, bietet Büchsel auch eine Übertragung ins Deutsche. Das Omnia autem sunt circum illam obscura übersetzt er mit: „Alles um sie liegt im Dunkeln.“ Falls man das Dunkel nicht als Finsternis oder als Dunkel der Nacht begreift und das Dämmrig-Zwielichtige als konnotiert mitdenkt, darf das so stehenbleiben. Doch „Alles um sie erscheint im Zwielicht“ wäre – wie bei Heckscher – die bildadäquatere Übersetzung, die auch Büchsels eigenen deutlichen Hinweisen auf das Zwielichtige des Stiches mehr entspräche; s. hier Anm. 242. – Jeroen Stumpel (Dürer 2013, S. 256f.) nennt als Autor der Melencholia-Beschreibung nicht Joachim Camerarius, sondern wieder Philipp Melanchthon, wobei es sich um eine falsche, mittlerweile korrigierte Zuschreibung handelt; vgl. dazu Rupprich I, S. 319; Klibansky / Panofsky / Saxl 1990, S. 451 Anm. 117; Heckscher 1978; Schuster 1991, S. 19f. 245 Carus 1937, S. 47, spricht von einer „wunderlich gedachte(n) offene(n) Halle“. – Für Hartmut Böhme (1989, S. 72) „bestimmt ein verwirrendes Gegeneinander von Licht und Dunkel die Atmosphäre des Offenraumes, der jeder Ferne ausgesetzt und in jeder Nähe unvertraut ist.“ 246 Vgl. Panofsky / Saxl 1923, S. 71f. – Wie Ewald Lassnig (2008, S. 53 Anm. 7) zu entnehmen ist, soll Fritz Koreny in zwei Vorträgen (Wien 2004 und Rom 2007) nachgewiesen haben, dass diese Vorstudie zur Melencolia I, die sich im Berliner Kupferstichkabinett befindet, nicht von Dürer stammt. 156
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In den Band zur Tagung an der Bibliotheca Hertziana wurde der Vortrag nicht aufgenommen. Er scheint auch anderswo, anderswie nicht publiziert worden zu sein. In neuerer Literatur (z. B. Wolf 2010, Büchsel 2010, Dürer 2013) ist er nicht erwähnt. Eine E-Mail-Anfrage bei Fritz Koreny blieb leider unbeantwortet. – Doch selbst wenn diese Melancholie-Darstellung nicht von Dürer sein sollte, sondern, wie Fritz Koreny bewiesen haben soll und von der Dürer-Wissenschaft anerkannt sein sollte, von Hans Brosamer (1495–1554) stammt, kann sie hier zur evidenten Illustration von Melancholie-Darstellungen dienen, von denen sich Dürers Melencolia grundsätzlich unterscheidet. 247 Vgl. dazu Klibansky / Panofsky / Saxl 1990, S. 448ff. – Hier zeigt sich das, was Herding 2009, S. 355f., mit Blick auf Dürers Melencholia I als „die Ablösung von einem nur negativen Melancholie-Begriff“ bezeichnet hat. – Vgl. hierzu auch die Ausführungen von Herbert von Einem (1976, S. 36f.): „Dürer’s master engraving Melencolia I of 1514 differs from calendar illustrations of the four temperaments – of which melancholy is one – and from representations of Saturn, the planet of melancholy, in one important respekt. For the first time in the illustrative art of the West, the representation is that of a personification of melancholy, rather than of a melancholic person. […] In this personification of melancholy, Dürer was the first creative artist to overcome the medieval concept of melancholy as an ignoble temperament that is awesome, morbid, passive, and detrimental to productive work. He replaced the older concept by the Neoaristotelean concept promulgated by Marsilio Ficino in his De Vita Triplici, and by the German humanists, especially by Agrippa von Nettesheim in De Occulta Philosophia.This new concept speaks of a ‘Melancholia generosa’ (Dürers Melencolia I), the unique, divine gift that would, under propitious circumstances, empower the human spirit to attain the greatest achievements. Like Agrippa von Nettesheim’s melancholia, it may be inferred that Dürer’s representation refers especially to the creative artist.This is indicated also by the reference to geometry.” – Mit der auf der Vorstudie zu sehenden einfachen Melancholiefigur anstatt des „singulären Komplexbildes der ‚Melencolia‘“ (Böhme 1989, S. 30) wäre Dürers Stich nie zu jenem rätselhaften Phänomen geworden, wie es sich in seiner ungeheuer vielfältigen und noch nicht abgeschlossenen fünfhundertjährigen Wirkungs-, Rezeptions- und Interpretationsgeschichte manifestiert. 248 Martin Büchsel (2010, S. 61) meint: „Die Flügel sind klein ausgefallen.“ – Vollmann 2011, S. 285, spricht von „zusammengeschlagenen Flügel[n] eines 157
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großen Engels“. – Für Rebel 1996, S. 288, 291, sind die Flügel „schwer wie Stein oder Blei“. – Bei Schauerte 2012, S. 195, handelt es sich um „angelegte Flügel“. – Und Hartmut Böhme (1989, S. 12) schreibt: „Die Flügel sind als Gegensatz zur Erdschwere des Körpers zu sehen. Mächtige Schwingen, die zum geistigen Aufschwung im Sinne der neoplatonischen ‚Himmelsreise der Seele‘ verhelfen, hier aber zusammengefaltet am Rücken haften.“ – Sicherlich wissen wir nicht genau, in welchen Stellungen solch mächtige engelgleiche Gestalten ihre großkräftigen Flügel an ihrem Körper zu positionieren in der Lage sind, aber angelegte Flügel dürften, soweit das bei anderen geflügelten, realen oder künstlerisch imaginierten Wesen zu beobachten ist, anders aussehen; die Flügel der Melencolia sind natürlich nicht entfaltet oder zum Fluge, vielleicht sogar einer „Himmelsreise“ weit ausgebreitet, aber sicherlich auch nicht eng angelegt, nicht geschlossen, nicht „zusammengefaltet am Rücken haften[d]“ und erst recht nicht „zusammengeschlagen“; vielmehr präsentieren sie sich, wie es der bedeutenden zwielichtigen Situation der Melencolia entspricht, deutlich sichtbar leicht geöffnet. 249 Vielleicht handelt es sich sogar um mehrere, eventuell um drei Beutel; Rücklin 1995, S. 82, spricht denn auch von „une triple bourse, manifestement lourde – elle est légèrement déformée – qui traîne par terre“. 250 Schon 1933 hat Richard Hamann (S. 457) auf diese bemerkenswerte, aber in ihrer ikonographischen und bildkonstitutiven Bedeutung kaum beachtete und ausführlicher bedachte Über-Größe der Melencolia hingewiesen: „[…] – würde sie aufstehen, der Bildraum würde sie nicht fassen – […].“ – Auch Friedrich Winkler (1957, S. 240f.) spricht zwar von der „riesige(n) geflügelte(n) Frau“ bzw. von der „Riesin“, aber auf die Konsequenzen, die sich daraus für die Konstruktion oder Gestaltung des Stiches und seine Deutung ergeben, geht er nicht näher ein. – Kilian 1961, S. 621, beschreibt die Melencolia (auf Richard Hamann verweisend) folgendermaßen: „Die Themafigur ist nicht zierlich und schlank wie ein junges Mädchen, sie ist kräftig und stattlich, beinahe breit und vielleicht an der Grenze des Üppigen, bestimmt ziemlich hochgewachsen und von festen Gliedern, so daß sie, erhöbe sie sich, groß und imponierend erschiene.“ – Zur außergewöhnlich „hochgewachsenen“ Melencolia schreibt Wolf von Engelhardt (1993, S. 176) nach einer Rekonstruktionsanalyse der „Gliederung des Bildraumes“ präzis maßnehmend u. a.: „Das Untergeschoß des Turmes bis zum Sims ist etwa zwei Meter hoch. Das abgestumpfte Rhomboeder hat die ansehnliche Größe von etwa 90 Zentimetern, und der Oberkörper der Flügelfrau 158
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mißt etwa 125 Zentimeter. Nach der Dürerschen Proportionslehre ergibt dies eine das menschliche Maß deutlich überschreitende Körpergröße von zweieinhalb Metern.“ Demzufolge überragte die Melencolia das Untergeschoss des Turmes um stattliche 50 Zentimeter. Wie auch immer es um diese rekonstruierenden Messungen, die hier nur referiert, nicht überprüft werden können, bestellt sein mag, sie verweisen nachdrücklich auf das nur enorm zu nennende Körpermaß der Melencolia-Figur. Man darf vielleicht annehmen, dass Dürer dadurch, dass er die im unmittelbaren Vordergrund erscheinende Melencolia-Gestalt zu einer wirklich alles überragenden allegorischen Figur sozusagen über-proportioniert hat, den Wissenschaften und Künsten eine potenziell „riesige“ Bedeutung attestieren wollte. – Das schon vielfach erwähnte Irreale oder Surreale des Stiches wird im Disproportionalen der Größenordnungen erneut und auffallend sichtbar. 251 Winkler 1957, S. 240f., vergleicht „die riesige Frau vorn“ auf dem MelencoliaStich mit „der kleinen Heiligengestalt [des hl. Hieronymus] im Hintergrunde des Wohnraumes“. Auch von einer „Riesin“ ist bei ihm zu lesen. – Rücklin 1995, S. 82, bezeichnet die Melencolia als „la géante“ oder (z. B. S. 190) „la Géante“ und notiert von ihr: „la géante en se levant sortirait très largement du cadre du burin“ (S. 142). – Als „riesiges Weib“ wird die Melencolia auch bei Knappe 1964, S. 28, gesehen. 252 So benennt Winkler 1957, S. 242, den Standort / Sitzplatz bzw. den wenn auch offenen Aufenthalts„raum“ der Melencolia. 253 Vgl. Schuster 1991, S. 115ff.; Tafel 18 und 19, Abb. 33–35. 254 Eine solche Melancholie-Allegorie in der Gestalt einer „Figur über Gerät“ zeigt auch die „Melancholie“ von Jost Amman aus dem Jahre 1589; vgl. Schuster 1991, Tafel 20, Abb. 36. 255 Vgl.Winzinger 1971, S. 102, wo es heißt, dass die Melencolia „inmitten des surrealistisch anmutenden Geräts“ sitze. – Für Georg Kauffmann (Dürer 1971 / / 1, S. 157) „kauert die Melancholie inmitten ihres verschobenen Geräts“. – Schon Aby Warburg (1920, S. 63) hat notiert: „Die tief in sich versunkene geflügelte Melancholia sitzt, den Kopf auf die Linke gestützt, einen Zirkel in der Rechten, inmitten technischer und mathematischer Geräte und Symbole; […].“ 256 Peter-Klaus Schuster (1982, S. 98) schreibt: „Mit Engelsflügeln schwer am Boden sitzend, irdisch und himmlisch zugleich, durch ihre intellektuellen Gaben vor allen erhoben und doch noch unendlich von ihrem himmlischen
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Ziel entfernt, ist Dürers anscheinend so reglos dasitzende Meditationsfigur tatsächlich einer Fülle seelischer Spannungen unterworfen […].“ 257 Vgl. z. B. zu dem Motiv der „uralten Ausdrucksgeste“ des Kopfaufstützens ausführlich Klibansky / Panofsky / Saxl 1990, S. 409ff., und zur detaillierten „Exploration“ der „Kopfstützgebärde“ Heubach 1997, S. 36ff. 258 Vgl. Rebel 1996, S. 287; Rebel (ebd., S. 290) verweist in diesem Kontext auch mit Nachdruck auf die im Bild präsente „Doppelwertigkeit der melancholischen Veranlagung zwischen Dunkelheit und Licht, Depression und Geistesblitz“; hier „regiert der saturnische Gestirnseinfluß den eigentümlich zwiespältigen Charakter der Lebewesen, der Dinge und des ganzen Weltraums“. 259 Bei der Melencolia handelt es sich eben nicht, wie Max J. Friedländer (1921, S. 146) meint, um eine „rätselhafte dunkle Frau“. Rätselhaft ist sie, weil sie so zwielichtig, so hell-dunkel ist. 260 Von Einem 1976, S. 38, weist darauf hin, das es sich bei der Melencolia, „the winged figure“, um „a personification and at the same time a living creature“ handelt; vgl. auch die hier in Anm. 247 zitierten wichtigen Ausführungen von Einems zur „personification of melancholy“. – Vgl. Allihn 1871, S. 112: „Die Flügel und der Cranz unserer Melancholie haben keine besondere Beziehung auf den speciellen Gegenstand, sondern sind das allgemeine Abzeichen für allegorische Figuren überhaupt.“ – So auch Weber 1900, S. 85: „Die Flügel trägt sie [die Melencolia], weil zu Dürers Zeit allegorische Begriffe regelmäßig geflügelt dargestellt werden.“ – Bei Wölfflin 1984, S. 208, heißt es zu Dürers geflügelter Melencolia: „Das will sagen, daß er [Dürer] nicht einen einzelnen melancholischen Menschen, sondern den Begriff der Melancholie darstellen wollte. Mit denselben Mitteln ist z .B. die Frau des Großen Glücks als allegorische Figur gekennzeichnet.“ Und eben auch der Putto neben der Melencolia. – Ernst Rebel (1996, S. 289) spricht von der „Personifikation eines schillernden Begriffs“. – Vgl. auch Parthey 1840, S. 56, wo es heißt, dass Flügel und Kranz „ganz gut (passen) für eine allegorische Person, für einen Genius, und finden sich oft auf gleichzeitigen Blättern“. 261 Vgl. Klibansky / Panofsky / Saxl 1990, S. 447, notieren: „[…] das Charakteristische für Dürers ,Melencolia‘ (ist) ja gerade, daß sie mit all den Werkzeugen des Geistes und der Hand nichts tut und daß die Dinge, auf denen ihr Auge ruhen könnte, für sie gar nicht vorhanden sind. […] und die Himmelsphänomene werden nicht wahrgenommen […].“ 160
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262 Um einen „von der Hand geführte(n) Zirkel“ (kursiv, R.H.), wie bei Schröder 1980, S. 64, zu lesen ist, kann es sich nicht handeln; wie das wohl kompetentere Führen eines Zirkels in der Kunst dargestellt wurde, ist hier auf Abb. 29 zu sehen, die „Gott als Weltarchitekt“ zeigt; vgl. auch die Abbildungen 27 und 28 bei Böhme 1989, wo sowohl Gott als Schöpfer als auch ein Astronom bei der Arbeit mit einem Zirkel zu sehen sind. – Auch Albert Giesecke (1955, S. 311, 313f.) weist darauf hin, dass die Melencolia ihr Instrument „gar nicht in normaler Weise [hält], wie man einen Zirkel faßt, um irgend eine Entfernung abzumessen“; doch fügt er hinzu, dass sie „den Zirkel nicht etwa spielerisch (hält) – nein ganz und gar unsinnig!“ Diese fragwürdige Deutung des Zirkelhaltens ist der äußerst entschiedenen „unausweichliche(n)“, religions- und medizingeschichtlichen, doch nicht minder fragwürdigen Deutung der Melencolia-Figur verpflichtet, die Giesecke als „dämonische Gestalt“ oder „als einen Kakodeimon“ versteht: als „eine jener Gewalten, die nach dem Glauben der christlichen Kirche die Welt zwischen Himmel und Erde beherrschen und gegen die in seinen Teufelsaustreibungen der neutestamentliche Jesus den Kampf durch die ihm gegebene Macht aufnimmt.“ Als ganz und gar unsinnig kann das Halten des Zirkels jedoch nicht gedeutet werden, wenn man die Melencolia ganz und gar anders versteht; dann hält sie in all ihrer demonstrativ schwermütigen Untätigkeit ihren Zirkel nämlich gerade bildprogrammatisch sinnvoll, spielerisch achtlos in Gedanken; dann darf sie den Zirkel eigentlich kaum anders halten, wenn sie ihn nicht wie die anderen um sie herum verstreuten und nicht benutzten Instrumente ebenfalls einfach beiseitelegen will. – Friedrich Wolfram Heubach (1997, S. 32 und 78) notiert, dass die Melencolia den Zirkel „nicht seiner Verwendung gemäß“, also „gebrauchswidrig“, hält. „Es wird aber“, so Heubach weiter auf S. 78, „in der ikonologischen Betrachtung keinerlei Augenmerk gerichtet auf die ausgesprochen merkwürdige Position, in welcher der Zirkel von der Figur gehalten wird und sich zu ihrem Körper befindet. […] Diese Position des Zirkels und die Art seiner Haltung sind auf der Ebene seiner konventionellen Handhabung so widersinnige und andererseits auf der Ebene von ‚Zufall‘ so unwahrscheinliche und ‚gesuchte‘, daß ihnen unbedingt ein eigener, besonderer Sinn zukommen muß.“ Dieser „eigene, besondere Sinn“ ergibt sich aus der „unkonventionellen“ Situation, der Ausnahmesituation, in der sich die Melencolia befindet.
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263 Eine gewisse Stabilität könnte der Zirkel dadurch erhalten, dass er möglicherweise mit seiner linken Spitze auf dem unteren festen Deckel des Buches aufruht. 264 Vgl. Horst 1953, S. 426. – Vgl. von Einem 1976, S. 38: „[…]; in her right hand, which rests on a closed book, she loosly holds a compass.“ 265 Man muss ja nicht gleich wie Günter Bandmann (1960, S. 73, 124) dramatisch von „verworfenem Gerät“ sprechen. 266 Vgl. Schuster 1991, S. 116. 267 In seiner „Rekonstruktionsanalyse an dem Kupferstich ‚Melancholie‘“ bemerkt Eberhard Schröder (1980, S. 73f.) zur Bedeutung des Zirkels und des Buches der Melencolia: „So ist wohl auch dem Buch, welches er [Dürer] der allegorischen Frauengestalt in den Schoß legte, ein tieferer Sinn beizumessen, der sich in Zusammenhang mit dem abgebildeten Zirkel und Lineal leicht ergründen läßt. Ohne Zweifel ist darin eine Anspielung auf Euklids ‚Elemente‘ zu sehen, in deren lateinischer Ausgabe sich der Meister oftmals Rat suchte. Keinesfalls handelt es sich bei dem dargestellten Objekt um irgendein Buch, welches nur einen dekorativen Zweck zu erfüllen hat. Für die Aussage des Kupferstiches ist dieses Buch von großer Bedeutung.“ 268 Vgl. Wölfflin 1984, S. 206.Von „völliger Apathie“ spricht Wölfflin 1947, S. 98, in seinem Aufsatz „Zur Interpretation von Dürers ‚Melancholie‘“ nicht mehr, doch von einem „tiefen Unbehagen“, in dem die Melencolia „steckt“; zwar „lebt (noch) ein Wollen in ihr […], aber es ist kein freudiges Wollen“. 269 Vgl.Wölfflin 1984, S. 207; auch Wölfflin 1947, S. 96ff., der sich auf Marsilio Ficino beruft. 270 Vgl. Rüchter 1910, S. 58. 271 Schon Henrich Conrad Arend (1728, § 11, unpaginiert) spricht vom starren Blick der Melencolia: „[…] die augen stehen starr und fürchterlig, weil sie [die Melencolia] aus allen was sie siehet, neue furcht schöpffet; bey dem allen hat sie noch hoffnung, welches der grüne krantz um ihr haupt anzeiget, doch ist sie mißtrauisch, deswegen trägt sie die schlüßel zu aller habseligkeit, und ihre geldbeutel, bey sich. Sie dencket vielen dingen gar zu tieff nach, deswegen sitzt sie als wäre sie sinnloß ohn empfindung, sie will alles ergrüblen, darum sind so mancherley werkzeuge um sie herum; in der rechten hand hält sie einen aufgesperreten zirkel unten bey der spitze und wenn ich nicht irre, soll die mathesis über haupt dadurch vorgebildet werden […].“ – Mit dieser finster-stieren Sicht des Augen-Blicks der Melencolia begann sozusa162
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gen eine immer noch lebendige Tradition, in der vom trübsinnig-düsteren, dumpf-depressiven, starr-reglosen Blick der Melencolia die Rede ist und aus der hier eine Reihe von Autoren als Zeugen aufgeführt werden soll: Heller 1827, S. 470; Ilg 1870, S. 152; Thausing 1876, S. 450; Springer 1892, S. 99; Knackfuß 1896, S. 83;Weber 1900, S. 46, 62, 79, 85; Endres 1918 / 19, S. 143; Panofsky / Saxl 1923, S. 50, 53;Winkler 1928, S. XXXII; Hamann 1933, S. 457; Musper 1952, S. 204; Rossmann 1953, S. 130, 138; Giesecke 1955, S. 311; Brunius 1983, S. 213;Wölfflin 1984, S. 207; Klibansky / Panofsky / Saxl 1990, S. 413, 451; Panofsky 1995, S. 209; Rebel 1996, S. 288; Dürer 2000, S. 296; Dürer 2003, S. 422; Musper 2003, S. 28; Schauerte 2004, S. 128; Schauerte 2012, S. 196. – Für Gerke 1965, S. 61, hat die Melencolia sogar „etwas von dem fragenden, fürchtenden, vom Tode getroffenen Blick seiner [Dürers] Mutter“, die im Jahr der Entstehung des Stiches gestorben ist. 272 Das auffallend Helle des Blicks benennt Erwin Panowsky, wenn er die Melencolia als „überwach“ („super-awake“) bezeichnet; vgl. Panofsky 1995, S. 214 resp. Panofsky 1948 / I, S. 160. Der „überwache“ Zustand der Melencolia kann nur von ihren hellen Augen abgelesen werden, deren offen konzentrierten Blick Panofsky aber auch als düsteres Starren qualifiziert; vgl. ebd. S. 209, 214. Für den „Ausdruckssinn des Stiches“ sei – so Klibansky / Panofsky / Saxl 1990, S. 413 – besonders das Motiv der facies nigra mit dem Blick der Melencolia bedeutsam: „Es ist das Motiv des beschatteten Antlitzes, aus dem der Blick der Melencolia beinahe gespenstisch hervorbricht.“ – Bei Friedrich Rüchter (1910, S. 58) heißt es: „Ihre [der Melencolia] Augen, die aus dem Dunkel herausblitzen, schauen ins Weite, suchend, sinnend, ohne festes Ziel.“ – Auch Siegfried Rösch (1971, S. 164) spricht vom „blitzenden [Auge] des Genius“, der Melencolia. – Für Ernst Rebel (1996, S. 287f.) „blitzt ein Augenpaar wach und scharf“ aus dem „abgedunkelten Gesicht“ der Melencolia heraus; auch von einem „stechenden Augenpaar“ ist die Rede oder vom „Starren der Melancholie“, das als „dumpf und stechend-scharf“ empfunden wird. – Die so berühmte wie hochbedeutsame „window-reflection“ in den Augen vieler Figuren in Dürers Werk weist (wie man vielleicht mit gutem Grund erwarten könnte) die Melencolia nicht auf; dass sie ja nicht in einem Raum mit einem Fenster sitze und darum ein Fenster sich in ihren Augen auch nicht spiegeln könne, wäre kein Argument dafür, dass im Falle der Melencolia eine solche symbolische „window-reflection“ gar nicht in Frage käme; Dürer hat auch Personen gezeichnet, die sowohl im Freien mit Himmelhintergrund wie auch vor neutralem Hintergrund zu sehen sind und die Dürer doch mit 163
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„window-reflection“ in den Augen sozusagen signiert oder ausgezeichnet hat: z. B. Philipp Melanchton, Willibald Pirckheimer; vgl. dazu Białostocki 1970, S. 159ff., hier speziell S. 168. 273 Bei Rücklin 1995, S. 82, ist von „l’éclat des yeux“ der Melencolia die Rede, deren Blick sich in der Ferne verliere: „Le regard perdu dans le lointain [...].“ – Der Melencolia einen „finsteren Blick“, der auch noch „ziellos ins Weite (schweift)“, zuzuschreiben, wie es Thomas Schauerte in seiner 2012 publizierten Dürer-Biografie wieder einmal unternimmt (S. 196), verfehlt oder – wie es Heinrich Wölfflin (1947, S. 98) formuliert hat – „ignoriert das anschaulich Gegebene“ des Melencolia-Stiches. Freilich ignoriert Wölfflin selber (ebd., S. 103) das anschaulich Gegebene, wenn er vom „starre(n) Blick“ der Melencolia spricht bzw. in Wölfflin 1984, S. 204, von ihren „düster-starr“ blickenden Augen „aus dem schattendunklen Antlitz“. Schon 2004 (S. 128) hatte Thomas Schauerte der Melencolia einen „stieren Blick“ und „düsteres Grübeln“ attestiert: „Mit stierem Blick hat sich eine geflügelte Frauengestalt vor einer sauber gequaderten [?] Mauer in düsterem Grübeln niedergelassen, ohne von der mystisch überstrahlten Weltlandschaft im Hintergrund oder der Fülle der sie dicht umgebenden Gegenstände, die größtenteils mathematische oder mechanische Disziplinen veranschaulichen, besondere Notiz zu nehmen.“ – Einen „offenen Blick“ attestiert der Melencolia auch Patrik Reuterswärd (1967, S. 422); damit muss er jedoch nicht gleich ein „seherischer Blick“ sein. 274 Wölfflin 1947, S. 98, notiert mit Blick auf die Melencolia: „die großen Augen blicken fest“. – Werner Kilian (1961, S. 622) beschreibt Augen und Blick nach genauer Nahbetrachtung mit Lupe und Ausschnittvergrößerung folgendermaßen: „Ohne Frage behalten die Augen das In-die-FerneGerichtetsein, in eine unendlich weit dünkende Ferne. Aber es ist nicht nebensächlich wahrzunehmen […], daß sie klar, fest, nicht unbedingt starr sind, daß sie endlich, bei erheblich nach rechts gelenkten Pupillen, keine Spur von Trübheit und Müdigkeit aufweisen.“ 275 Die – aus Sicht der Frau – ganz leicht nach rechts gerichteten Augen der Melencolia können nicht einmal die – aus Sicht des Betrachters – links hinten sichtbare Fledermaus im Blick haben, auf die er nach Martin Büchsel (2010, S. 44) „über den Putto“ hinweg führen soll. Das heißt jedoch nicht, dass die Fledermaus bei ihrem Flug nicht einmal in den Blick der Melencolia geraten könnte. Büchsel ebd., S. 43, 48, konstatiert sogar, dass „im Blickfeld“ der Melencolia – einer „engelhaften Gestalt“ – „der Horizont des offenen 164
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Meeres (liegt)“, und zwar jener Meereshorizont, an dem Dürer – aus welchem Grund auch immer – in äußerster Ferne unter dem Kometen ein fast schon verschwindendes Minimum von Segelschiff eingezeichnet habe und darum „ein winziges Segel zu erkennen ist“. (Zu diesem Segelschiff heißt es bei Schuster 1991, S. 17: „Auf der Horizontlinie der Wasserfläche glaubt man in einiger Entfernung von der Küste ein Schiff mit Segeln ausmachen zu können.“) Dass sich dieser Hintergrund-Horizont im „Blickfeld“ der Melencolia befinden soll, wie auch bei Strieder 1981, S. 260, zu lesen, kann nicht behauptet werden, denn dann müsste die Melencolia doch ihren Kopf um 45 Grad in eine ganz andere Richtung (eben zum Hintergrund des Bildes) gedreht, ihren Blick gewendet und ihre Augen gerichtet haben. – Zwar schreibt Ernst Rebel (1996, S. 287f.) zunächst mit Recht, dass der Blick der Melencolia „über allen Wirrwarr der unmittelbaren Situation hinweg in den unbestimmten Raum hinaus(geht)“; doch widerspricht er sich und deutet er den Blick der Melencolia einfach nur falsch, wenn er den „unbestimmten Raum“ im folgenden Satz detailliert und konkret ausführlichst bestimmt; der Blick gehe nämlich: „Dorthin, wo in Dunkelheit und den Lichtern der Ferne eine Stadt auftaucht, wo Wasser, Berge, Felsen, Bäume, Häuser und Schiffe die Grenzen der sichtbaren, von Menschen bewohnten Welt markieren. Und weiter noch. Nämlich zu den rätselhaften Himmelserscheinungen hinaus und hinauf, die über allem und jenseits von allem ihren Zauber entfalten …“ – Auch für Wolf 2010a, S. 182, geht der „nach links“ gerichtete Blick der Melencholia „dorthin, wo im Hintergrund ein Komet und ein Regenbogen den Nachthimmel über dem See bzw. Meer erhellen und wo ein fledermausartiges Tier den Titulus mit der Inschrift Melencolia I trägt“. – Schuster 2005, S. 90, formuliert ein wenig vorsichtiger; denn für ihn „scheint der Blick der Frau vielmehr über die unbegrenzte Wasserfläche in die Ferne nach links oben gerichtet“. – Aus Sicht der Frauengestalt kann der Blick nur nach rechts gerichtet sein; aus der Sicht des Betrachters des Stiches ist er nach links oben gerichtet. 276 Vgl. Parthey 1840, S. 52. 277 Markus Zucker (1900, S. 91f.) verweist mit Recht darauf, dass man die Absicht des Künstlers verkennen würde, wenn man im Gesichtsausdruck der Melencolia „quälendes Hinbrüten wahrzunehmen meint“: „Um den fein gezeichneten Mund spielt kein Zug, der seelische Pein verriete […].“ – Werner Kilian (1961, S. 622) erkennt – nicht ohne anschaulichen Grund – „sogar ein kleines liebliches Lächeln“, das „die schmalen [?] und wohlgeformten Lippen“ der 165
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Melencolia „umspielt“. Weder Müdigkeit, Unmut, Dumpfheit, Erstarrung noch Unwirsches, Mürrisches, Unzärtliches, üble Laune oder Unbehagen, starre Verdrossenheit oder abstoßende Trübheit zeigen sich für Kilian im Gesicht, in den Augen, im Blick der Melencolia, höchstens „sanfte Wehmut“ oder ein „leichtes Traurigsein“. – Auch für Böhme 1989, S. 18, drückt das Gesicht der Melencolia „keineswegs Verzweiflung oder tiefe Schwermut“ aus, wohl aber „eine zugleich ruhig-ernste wie offene Spannung“. – Dass die „Mimik“ der Melencolia „keine Emotion (verrät)“, wie Büchsel 2010, S. 61, mit Berufung auf die zitierte Böhme-Bemerkung schreibt, lässt sich nicht behaupten. Sicherlich zeigt die Melencolia keine dramatischen Emotionen, aber auch die so ruhig-ernste wie offene Spannung ihres Gesichtes und der konzentrierte Blick ihrer Augen zeigen, wie intensiv emotional bewegt sie ist. In ihrem Gesicht und Blick zeigen sich jene „Bewegungen der tiefen und gedankenvollen Seele, die melancholisch genannt werden“ und von denen Joachim Camerarius notiert hat, dass Dürer sie in seiner Melencolia I zum Ausdruck gebracht hat („profundi atque cogitantis animi motus, qui melancholici dicuntur“); vgl. Rupprich I, S. 319, Nr. 29, Z. 2ff.; zur Übersetzung s. Büchsel 2010, S. 68. 278 Auf diese gravierenden „Leichtigkeiten“ in der Haltung des Kopfes der Melencolia macht auch F. W. Heubach (1997, S. 40) aufmerksam. 279 Als „das einzig Lebendige“ neben der „Flamme in dem Tiegel“ erkennt auch Emil Waldmann (1933, S. 100) „die wachen Augen der Frau“. 280 Vgl. Rupprich II, S. 112, Z. 32; S. 132, Z. 72. Dürer schreibt: „Dan der aller edelst sin der menschen ist daz gesycht.“ 281 Vgl. ebd., S. 109, Z. 31 und S. 111, Z. 35f.: „Dan der aller edelst sin der menschen ist sehen.“ 282 Vgl. Rupprich II, S. 109, Z. 35ff.: „Vnser gesicht ist geleichförmig eim spigell. Dan es fast allerley gestalt, dy man im fürtregt.“ S. 111, Z. 40ff.: „Das gesicht der menschen ist etlicher mas [in gewisser Weise] geleich eim spigell, dan es fast allerley gestalt, dy man jm vür tregt.“ S. 113, Z. 38ff.: „Vnser gesicht ist in dem zw vergeleichen einem spigell. Dan es vürfelt [fällt, kommt vor] vnserem gesicht allerley gestalt, dy man uns fürtregt. Also felt in vnser gemüt durch die awgen allerley gestalt, dy wir sehen.“ 283 Gustav Parthey (1840, S. 50) lässt einen der drei Gesprächspartner in seinem an platonische Dialoge erinnernden Gedankenaustausch über Dürers Melencolia I die als entschiedene Antwort zu verstehende Frage formulieren: „[…] aber athmet in diesen ernsten beschatteten Zügen, im sanftgeneigten Haupte, 166
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im aufwärtsgerichteten Blicke nicht eine unbeschreibliche Anmuth?“ – Der Putto kommt übrigens in diesem Gespräch nicht vor. 284 „Die Welt scheint für die Figur [der Melencolia] eher ungegenwärtig zu sein“, so ist bei Heubach 1997, S. 32, zu lesen. Allen drei Lebenwesen – Hund, Putto, Melencolia – bescheinigt Heubach (S. 41), dass sie „drei Formen einunddesselben Zustandes, der sich als nicht-‚da‘-sein, als situative Indifferenz gegenüber der Außenwelt umschreiben ließe […].“ – Und bei Engelhardt 1993, S. 192: „Als ginge sie alles tätige Wirken nichts mehr an, blickt sie, den geneigten Kopf in die linke Hand gestützt, über das aufgeschlagene [?] Buch in ihrem Schoß hinweg, an Rhomboeder und Geräten vorbei, aus dem Bild heraus in das Unendliche der Horizontlinie, links vom Rahmen.“ – Schon bei Klibansky / Panofsky / Saxl 1990, S. 447, war zu lesen: „der Rhomboeder und die Himmelsphänomene werden nicht wahrgenommen“. 285 So Joachim Camerarius in seinen 1541 in Basel publizierten „Elementa rhetoricae“; vgl. Rupprich I, S. 319. – Bei Adam Bartsch (1970, Sp. 42) heißt es von der Melencolia: „Son attitude montre qu’elle est occupée à méditer profondément.“ – Die von Gustav Parthey (1840, S. 49–56) als Gespräch gestaltete Betrachtung zur Melencolia I, die sich auf Adam Bartsch „Le peintre graveur“ bezieht, schließt mit den Worten: „Die Dürer’sche Melancholie bleibt also – die Melancholie, d. h. der Genius des Nachdenkens.“ – Worum es der Melencolia bei ihrer tiefen Meditation geht, beschreibt Heubach 1997, S. 44, ganz dem Bild entsprechend folgendermaßen: „Was die sichtbaren Gegebenheiten dieses Blattes in der beschriebenen Weise ‚äußern‘, läßt allenfalls die Aussage zu, daß hier – verallgemeinernd gesprochen – eine einst zwischen dem Subjekt und der Welt bestehende Aktivität sich in das Subjekt selbst verlagert hat und nicht mehr die Welt ihr Gegenstand ist, – oder anders formuliert: daß hier ein Mensch sich in seinem ursprünglich auf die Welt gerichteten Verlangen unversehens selbst zum Gegenstand hat. So gesehen, wäre hier also nicht das Scheitern eines Handelns dargestellt, sondern seine Suspendierung, – die Aufhebung eines Handelns in einem Nachdenken. Und das allein stellt – ungeachtet der Frage, durch welche vorgängigen Erfahrungen dies befördert wurde – schon selbst eine bedeutsame Erfahrung dar: Daß das Verlangen, die Erscheinungen der Welt in Maß und Konstruktion zu beherrschen, nicht dahin geführt hat, schließlich souverän über der Welt, sondern nachdenklich vor sich selbst zu stehen.“ 286 Wilhelm Bühler (1925, S. 47) verweist auch auf das Junktim von Ferne und Innen im Blick der Melencolia: „Parallelachsig sind die Augen der 167
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Frau auf unendliche Ferne gerichtet: ein Beweis für ausschließlich innere Gedankenarbeit.“ – Kurt Rossmann (1953, S. 130) beschreibt und deutet die Situation der Melencolia folgendermaßen: „Die rechte Hand, auf dem Schoße über einem Buch ruhend, hält einen Zirkel. Aber die Frau mißt nichts mit dem Zirkel. Sie pausiert jedoch nicht etwa in ihrem Tun; auch hängt sie nicht einem fernen Gedanken nach. Sie hat vielmehr mit ihrem Tun aufgehört und starrt gedankenverloren mit verdüstertem Blick und Antlitz ins Leere.“ Es dürfte sich jedoch, wie hier dargelegt, anders verhalten: Die Melencolia „starrt“ nicht, auch nicht „gedankenverloren“; vielmehr ist sie „in Gedanken“; sie hängt „einem fernen Gedanken nach“, der sie beschäftigt, nachdem sie ihre Tätigkeiten unterbrochen, suspendiert hat; sie hat zwar ein verdüstertes, verschattetes Gesicht, aber keinen verdüsterten, sondern doch gerade einen hellen, einen aufmerksamen Gedanken-Blick, der umso heller und offener wirkt als er sich aus dem verschatteten Gesicht in Gedanken erhebt. – F.W. Heubach (1997, S. 41) notiert, „daß Dürer offensichtlich eine nicht auf die Außenwelt, sondern nach innen gerichtete Aufmerksamkeit darzustellen beabsichtigte“. – Franz Winzinger (1971, S. 102) schreibt: „Der gesammelt nach innen gerichtete Blick des sitzenden Weibes verrät trotz der bedrückenden Unbeweglichkeit der Gestalt inmitten des surrealistisch anmutenden Geräts höchste innere Anspannung.“ 287 Schon David Gottfried Schöber hat in seiner 1769 erschienenen Publikation über Dürers Leben, Schriften und Kunstwerke so sehr das „tiefe Nachdenken“ bzw. das „menschliche Nachsinnen“ in dem als „das große Kunststück“ bezeichneten Melencolia-Stich gesehen, dass er „dahero […] auch lieber diesem Stück den Titel des Nachdenkens, als der Melancholie beylegen (wolte)“; vgl. S. 87f. – „In tiefes Nachdenken versunken“ sieht auch Konrad Lange (1892, S. 384) die Melencolia und fragt sich: „Spricht sich in diesem Gesicht Trauer aus? Ich glaube nicht. Ich erkenne wenigstens nur ein tiefes Grübeln.“ – Ähnlich bemerkt auch Max Allihn (1871, S. 111ff.), der „über dem Ganzen“ eine „contemplative Stille“ ausgebreitet sieht, mit Blick auf die Melencolia: „Was die Figur selbst betrifft, so spricht die sinnende Haltung und der nachdenkliche Ausdruck für sich selbst.“ – Für Max Steck (1958, S. 246) ist die Melencolia eine „in tiefes Nachdenken versunkene Figur, die in andere Welten blickt […].“ – Vgl. auch Engelhardt 1993, S. 192: „Die Botschaft der Allegorie und die Einheit des Werks sind in dem Augenblick des Innehaltens genialischer Tätigkeit beschlossen, den der Künstler dem Anschauenden zeigt: das Bild ‚schwebt‘ – mit Worten Goethes – 168
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‚auf dem Übergange eines Zustandes in den andern‘, so daß ‚Streben und Leiden in einem Augenblick vereinigt sind‘.“ Der bemerkenswerte Hinweis auf Goethe bezieht sich auf den Text „Über Laokoon“ (vgl. Hamburger Ausgabe, Band XII, S. 62f.). Dass „das Bild ‚schwebt‘“, entspricht dem hier besonders pointierten Im-Zwielicht-Sein der ganzen hell-dunklen Szenerie und besonders der Melencolia. Was die Melencolia betrifft, so kann man zweifellos von ihrem „Leiden“ sprechen, doch wohl weniger von jenem „Streben“, das Goethe mit Blick auf die Laokoon-Gruppe als Befreiungskampf versteht, um sich vom Würgegriff der Schlangen „loszuwinden“; das „Streben“ der Melencolia, wie es sich indirekt in ihrem hellen erhebenderhobenen Blick zeigt, ist vielmehr als hoffende Einsicht und erkennendes Erwarten zu deuten, aber auch eines befreienden Los- oder Überwindens. Das Leiden der Melencolia, ihre schmerzende Grenzerfahrung des „das weiß ich nicht“ (wie weiter unten noch ausführlich zur Sprache kommen wird) und ihr „strebend“-erhobener Blick des befreienden „das weiß Gott allein“ sind auch hier „in einem Augenblick vereinigt“ und finden bei aller zurückhaltenden Intensität des Erscheinungsbildes und des Gesichtsausdrucks der Dürerschen Melencolia-Darstellung zu jenem, wie Goethe bemerkt, „höchsten pathetischen Ausdruck“, den „die bildende Kunst von Wichtigkeit […] darstellen kann“. Die Melencolia in ihrer Selbstdarstellung als verborgen geheime, aber umso eindrucksvollere „Pathosformel“. 288 Herbert von Einem (1976, S. 39) konstatiert: „Steeped in thought, the woman’s glance has a questioning, almost tormenting, quality.” Als „fast quälend“ kann der Blick der Melencolia nicht gesehen werden. 289 Vgl. Klaus Herding (2009, S. 350), der mit Blick auf Melencolia I von „Dürers komplexe(r) Gratwanderung zwischen Versenkung,Verlorenheit und Zuversicht“ spricht. 290 Ähnlich wie hier werden Gesicht, Augen und Blick der Melencolia von Hartmut Böhme (1989, S. 13ff.) beschrieben; vgl. auch ebd., S. 69f., wo Böhme schreibt: „Der Blick der Melancholia, von allem bildimmanent Sichtbaren abgelöst, ist das Zeichen des Denkens selbst. Alles auf dem Bild Sichtbare fällt in diesen Blick – als Gedachtes. Dieser Stich ist ein Denkbild – ein Paradox, weil Denken nicht zu sehen ist, so wie der Blick nichts sieht, weil er kein Sehen, sondern ein Denken bezeichnet. Und näher noch ist der Stich das Bild eines Denkens, das den Augenblick des Bewußtseins festhält. Das nun ist eine Ungeheuerlichkeit – Darstellung des schlechthin nicht Darzustellenden. Es gibt in der Kunstgeschichte kein anderes Bild, das nicht nur Themen oder 169
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Vermögen der Philosophie darstellt, sondern das, was die Philosophie trägt: Nachdenken und Bewußtsein.“ – Zu den Augen der Melencolia ausführlich und erhellend mit Hinweisen auf zahlreiche Interpreten auch Kilian 1961, S. 622f. 291 Um den „Blick nach vorn“ der Melencolia geht es später im Abschnitt „… weyß Got allein“. 292 Auch wenn Klaus Herding einmal (2009, S. 358) bemerkt, „daß ein Element der Melancholie auch aus Erinnerung besteht“, und von „nachsinnendem Verharren“ spricht, so übersieht er doch zu sehr den vergangenheitsgerichteten Erfahrungsaspekt im Blick oder in der Situation der Melencolia, der ja für ihren aktuellen schwermütig deprimierten Zustand verantwortlich ist, wenn er (ebd., S. 355f.) – die innere Verfassung der Melencolia genau beschreibend – anmerkt: „Dürer präsentiert seine Melencolia als freie, damit auch ungeschützte Reflexion des denkenden Menschen vor der Handlung. Nicht krank, nicht verzweifelnd, aber noch nicht schaffend, gibt Dürer die Melancholie wieder als Allegorie der Gelehrsamkeit und der künstlerischen Tätigkeit. Er gibt sie ernst, aber würdig, so, als trüge sie einen inneren Konflikt in sich aus. […] immer hat Melancholie noch etwas vor sich.“ Doch Dürer präsentiert seine sicherlich nicht kranke und auch nicht verzweifelnde, aber doch an schmerzender Grenzerfahrung leidende Melencolia auch nach einer Handlung, nach bestimmten Aktivitäten, wie all ihre zur Zeit nicht mehr gebrauchten Gerätschaften in ihrem Atelier und vor allem ihr untätiges Sitzen oder schweres Hocken unten auf einer Stufe signalisieren. Sicherlich hat Herding (vgl. ebd.) recht, wenn er schreibt, dass Dürer in seinem Meisterstich „die Ablösung von einem nur negativen Melancholie-Begriff“ zeige, doch bringt Dürer im Erscheinungsbild der Melencolia das gründlich Negative einer Melancholie-Erfahrungssituation, das immer mitzubedenken ist, sehr deutlich zum Ausdruck; die Melencolia befindet sich in einer Notlage, einer kritischen oder gefährlichen Situation, in der sie schwermütig wie gefangen ist. Melancholie hat vor allem immer etwas hinter sich, das als individuelle temperamentbedingte Konstitutions- oder Tätigkeits-, Lebens- und Reflexionserfahrung sie in ihre aktuelle schwierige Situation, in ihren konkreten Konflikt gebracht hat und das immer auch das, was die Melancholie als eventuelle Handlung noch vor sich hat, mitbestimmen und mitprägen wird. 293 Dazu ausführlicher hier im gleichnamigen Abschnitt. 294 Mit Recht bemerkt Friedrich Wolfram Heubach (1997, S. 82): „Und ebensowenig läßt sich in der Darstellung irgendein Anzeichen dafür finden, daß 170
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die Tätigkeit, für die das Ensemble der Gegenstände steht, nicht wieder aufgegriffen würde und also für immer aufgegeben worden wäre: Hier ist nicht die endgültige Aufgabe einer Anstrengung dargestellt, sondern deren Suspendierung in einem Moment des Innehaltens und Nachdenkens.“ So wendet sich Heubach (ebd., S. 82f.) auch ganz entschieden dagegen, die Melencolia in ihrem Bestreben und in ihren Aktivitäten als gescheitert anzusehen: „Gegen die Annahme der Erfahrung eines solchen, mit Resignation und Aufgabe gleichbedeutenden Scheiterns sprechen nicht nur Dürers Äußerungen in seinen Schriften, für sie gibt auch seine Melencolia I keinerlei anschaulichen Anhalt.“ 295 Vgl. Rupprich III, S. 296, Z. 502. – Den Zweifelzustand der Melencolia hebt auch Françoise Rücklin (1995, S. 138ff.) hervor, wenn sie „Melencolia I comme expression du doute et de la lassitude de l’artiste“ beschreibt. 296 Vgl. Rupprich III, S. 293, Z. 195. Mit „Gewalt“ (einem Zentralbegriff in Dürers kunsttheoretischen Überlegungen) meint Dürer das artistische Vermögen oder die künstlerische Kraft eines sowohl kunstverständigen als auch kunstgeübten bildenden Künstlers, seine „potentia“ oder „facultas“. 297 Zur „Bedenkzeit“ vgl. Herding 2009, S. 349: „In Melencolia I hat er [Dürer] den Gedanken gewagt, daß Melancholie im Innersten bedeutet, sich Bedenkzeit auszubedingen für die Gottes- und Welterkenntnis.“ Das scheint eine allzu positive Sicht melancholischer Erfahrungen, die den schwerwiegenden Aspekt der Melancholie als einer doch mehr oder weniger aufgezwungenen und ausweglosen Notsituation vernachlässigt, in der sich die Möglichkeiten, initiativ zu sein und sich etwas „auszubedingen“, wenn nicht als unmöglich, so doch als äußerst eingeschränkt oder eben sehr „bedingt“ erweisen. Kann eine melancholische Notlage noch als mögliche Bedenkzeit begriffen und ergriffen werden, wäre schon viel gewonnen. Das dürfte bei der zwielichtigen Melencolia gegeben sein, die ja bei aller offensichtlichen Deprimiertheit, d. h. Niedergedrücktheit – zu ihrem Glück – nicht „völliger Apathie“ (vgl. Wölfflin 1984, S. 206) und tiefster Schwermut- oder Verzweiflungsfinsternis ausgeliefert ist. – Auch Rücklin 1995, S. 141f., spricht von der „Melencolia I en tant que pause créatrice“. 298 In der Übersetzung von Otto Schönberger lautet dieser berühmte Vergil-Vers aus den „Georgica“ (2,490): „Glücklich, wer den Urgrund allen Geschehens zu ergründen vermochte […].“ 299 Vgl. Rupprich II, S. 106, Z. 6ff. Auch wenn der hier zitierte Passus einem Manuskript (aus der Zeit 1511 / 1513) entnommen ist, das von Dürer „wieder 171
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verworfen wurde“, so findet sich doch eine ganz ähnliche Textstelle in einer „sorgfältig geschriebene(n)“ und „von ihm nicht mehr durchgestrichen(en)“ Fassung einer mit Monogramm und Jahreszahl versehenen Niederschrift aus dem Jahr 1513, also aus der unmittelbaren Entstehungszeit der „Melencolia I“; vgl. dazu Rupprich II, S. 106, 112, 129 und 131f. 300 So Willibald Pirckheimer im Nachwort zum Druck der Proportionslehre in Dürers Todesjahr 1528; vgl. Rupprich I, S. 126, Z. 125. 301 Das „fast“ am Anfang des Zitats ist als „sehr“ zu lesen; Dürer bezeichnet das „künen“, also geistiges Vermögen, Wissen und Verstehen, als „sehr gut“; vgl. Rupprich II, S. 107, Nr. 1, Anm. 1 und 4. 302 Vgl. ebd., S. 111, Z. 41 resp. S. 112 Anm. 3. 303 Vgl. Warburg 1920, S. 64. 304 Der Hinweis auf Pascal ist hier nicht einfach nur so hingeschrieben. Es wäre zweifellos hoch interessant, die Gedanken Pascals zu „la grandeur et la misère de l’homme“ einmal mit Dürers Reflexionen zum „gottgleichen“ (s. hier Anm. 459) Künstler oder dem „von got begabt meyster“ mit seinen „höheren Eingießungen“ und zu den Lügen, der Finsternis, der Blindheit, dem Unverstand und den Irrtümern in uns Menschen zu vergleichen.Vgl. z. B. Pascal 1963, S. 512f., Fr. 116–398, wo es heißt: „Toutes ces misères-là même prouvent sa grandeur. Ce sont misères de grand seigneur. Misères d’un roi dépossédé.“ – Bei Schuster 1991, S. 175, heißt es: „Dürers Melancholiekupferstich, davon geht unsere Deutung aus, ist keineswegs die Darstellung einer vereinzelten und vorübergehenden Stimmung, sondern eine Bildsumme zu dem für Dürer gewiß naheliegenden Thema der Größe und Grenze menschlichen Wissens.“ 305 Von dieser Euphorie sprechen Klibansky / Panofsky / Saxl 1990, S. 510ff., wenn sie notieren: „Als Dreißigjähriger war er [Dürer] berauscht von der Aussicht in das ‚neue Königreich‘ der Kunsttheorie (kursiv, R.H.), die ihm Jacopo de’ Barbari eröffnete, und glaubte, die eine, große Schönheit mit Zirkel und Richtscheit bestimmen zu können; […].“ Zu diesem Kontext vgl. hier auch Anm. 474. 306 Vgl. Rupprich II, S. 99. 307 Vgl. Rupprich III, S. 267. – Dürers Gedanken,Vorstellungen,Wünsche und Experimente zum Thema „Schönheit“, „Vollkommenheit“ und „vollkommene Schönheit“ sind zweifellos dem mittelalterlichen mystisch christologischen Denken von der absoluten Schönheit und der höchsten Vollkommenheit Gottes und des Gott-Menschen Jesus Christus verpflichtet, 172
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wie sie, von pythagoräischer und neuplatonischer Philosophie inspiriert, vor allem Thomas von Aquin in seinem gewaltigen Werk richtungweisend ausformuliert hat; vgl. dazu z. B. Franz Winzinger (1954, S. 57ff.) in einem Aufsatz zu „Albrecht Dürers Münchener Selbstbildnis“. 308 Vgl. Rupprich I, S. 125, Z. 1; Hinz 2011, S. 20. 309 Vgl. Rupprich I, S. 125ff., Z. 25, 41ff., 60ff.; Hinz 2011, S. 20ff. 310 Ebd. S. 126, Z. 65ff. 311 Vgl. Rupprich II, S. 104, Z. 36f. – Das frühe „anfohen“ / „anfahen“ oder eben „anfangen“ kann hier durchaus als Intensivum verstanden werden, wie es im Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm (Band I, Sp. 325) umschrieben wird: im Sinne von capere, (an)fassen, (er)greifen, (an)packen, (an)rühren, in An-griff nehmen oder eben wie bei Dürer auch „für-ne(h) men“, „vor-haben“. – Auf die emphatische Intensität von Dürers „Vorhaben“ macht auch Franz Winzinger (1954, S. 45) aufmerksam, wenn er notiert: „[…], allein schon die schriftlichen Zeugnisse Dürers verraten, mit welcher Hingabe, ja Besessenheit Dürer danach strebte, hinter der flüchtigen Erscheinung das Dauernde, das Gesetz zu finden, das nach seiner Meinung durch Maß und Zahl auszudrücken war.“ – Zu diesem so programmatischen wie vielkommentierten Satz Dürers vgl. auch z. B. Panofsky / Saxl 1923, S. 66f.; Klibansky / Panofsky / Saxl 1990, S. 477ff. 312 Vgl. ebd. Z. 34f., wo die Absicht des Dürerschen Vorhabens angesprochen wird: „[…] vnd das man deglichs zw einem neheren vnd pesseren weg vnd grunt kümen müg.“ 313 Vgl. Buch der Weisheit, Kapitel 11,Verse 17 und 20. – Durch diesen biblisch-göttlichen Verweis erhält Dürers Bemerkung über sein künstlerisches „fürnemen“ auch eine ganz besondere Bedeutung im Kontext all jener Ausführungen, in denen Dürer von den Künstlern als „von Gott begabten Meistern“ und von ihrem gottähnlichen Schöpfertum spricht. 314 Vgl. Heubach 1997, S. 73: „Ganz im Sinne dieser Vorstellung von der Welt als von Gott in Maß, Zahl und Gewicht geschaffen, begründet Dürer sein eigenes, künstlerisches Schaffen […]. Für ihn ist Geometrie – bzw. in einem allgemeineren Sinne die Mathematik – die Wissenschaft, von der er sich die Erkenntnis eben des einen, wahren Maßes verspricht, in dem alle Erscheinungen dieser Welt durch Gott geschaffen worden. Dieses Maß zu erforschen, um schließlich dank seiner Erkenntnis ein wahres Bild von den Dingen und Lebewesen geben zu können, ist das zentrale Verlangen Dürers, wie dies seine Unterweisung der Messung, seine Vier Bücher von menschlicher 173
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Proportion und viele der Schriften aus seinem Nachlaß eindringlich belegen.“ – Was Heubach Dürers „zentrales Verlangen“ nennt, hat 1759 Georg Wolfgang Knorr auf S. 22 seiner „Künstler-Historie“ als Dürers „Hauptabsicht“ folgendermaßen ausführlich umschrieben: „Seine Hauptabsicht war, das Zeichnen und andere von ihr dependirende Künste, mit und nach den Regeln der Mathematic hervor zu bringen, daher er einen solchen Weg gebahnet, welcher vorher von niemand betretten worden. Er untersuchte nach den Regeln der Proportion die Werke der Natur, und des menschlichen Cörpers, und brachte es zur solchen Vollkommenheit, daß er hierinnen alle alte Authores, welche davon geschrieben haben, übertroffen; wie solches die von ihme verfertigten Bücher zur Genüge beweisen. Er war der erste, welcher die in Teutschland noch ganz unbekannten Regeln der Perspectiv-Kunst hervor suchte, und zur grossen Aufnahm dieser Wissenschafft, selbst einige am ersten angegebene Organa zur weiterer Ausübung der Kunst brachte, auch andere dahin gebracht, daß sie sowohl in Italien, als andern Orten, von den geschicktesten Männern approbiret, und selbst von ihnen mit grossen Nuzen appliciret worden sind.“ 315 Vgl. Rupprich I, S. 126, Z. 79ff. 316 So Dürer in der Widmung der „Unterweisung der Messung“ an Willibald Pirckheimer; vgl. Rupprich I, S. 115, Z. 55ff. 317 Vgl. Rupprich II, S. 142, Nr. 1, Z. 10ff.; S. 143, Z. 70ff.; S. 147, Z. 128ff.; S. 150, Z. 5ff. – Die „schreynerer“, die im Zusammenhang mit Blick auf den Hobel und Hammer, die Säge, Zange und Nägel auf dem „Melencolia“-Stich besonders bedeutsam sind, erwähnt Dürer in der Widmung der „Unterweisung der Messung“; vgl. Rupprich I, S. 115, Z. 57. 318 Vgl. Rupprich I, S. 101, Nr. 44, Z. 13ff., wo Dürer auch die diversen „Bild“Künstler nennt. 319 Vgl. Rupprich II, S. 145f., Z. 1ff.; auch S. 148, Z. 1ff. 320 Vgl. Rupprich I, S. 125, Z. 14ff.; Hinz 2011, S. 21. 321 Vgl. ebd., S. 115, Z. 26. 322 Vgl. ebd., S. 115, Z. 14, 17. 323 Vgl. Rupprich I, S. 125, Z. 7; S. 115, Z. 52. 324 Vgl. ebd. S. 114f., Z. 8ff. – Zum pädagogischen Zweck der Aus- und Weiterbildung von Dürers Lehrbuch der Malerei schreibt Hans Rupprich (II, S.83): „Der Zweck des Buches war ein praktischer. Dürer wollte alle Erfahrungen und alles Wissen, das er sich selbst bei der Ausübung seiner Kunst mühsam erworben hatte, weitergeben. Er ist nicht mehr darauf bedacht, sein Wissen 174
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und Können als Werkstättengeheimnisse zu behüten, sondern wünscht, daß jeder, der das Bestreben und das Talent dazu hat, über das Lehrbuch zu weiteren und höheren Erkenntnissen gelange als es ihm möglich war. Das Erkenntnisvermögen eines einzelnen reiche nicht hin, die ausgedehnte und unbegrenzte Kunst des richtigen Malens erschöpfend zu behandeln.“ 325 Vgl. Rupprich III, S. 296, Z. 530. 326 Vgl. Anzelewsky 1977, S. 70. 327 So übersetzt Joachim Camerarius das Dürersche „der verstandt mit dem gebrauch“ ins Lateinische; vgl. Rupprich III, S. 297, Z. 581 bzw. S. 305, Z. 520. 328 Vgl. Rupprich III, S. 297, Z. 581ff. 329 Vgl. Hinz 2011, S. 232. – Einfügungen in runden oder eckigen Klammern finden sich immer bei Hinz; Ausnahmen werden notiert. 330 Vgl. Panofsky 1915, S. 168. – Panofskys Bemerkung gilt auch von dem hier zuvor zitierten Passus, auf den Dürer mit seinem im jetzt folgenden Zitat formulierten „wie oben gesagt“ ja verweist. 331 Vgl. Rupprich III, S. 297, Z. 619ff. 332 Vgl. Hinz 2011, S. 233. 333 Vgl. Rupprich I, S. 114, Z. 4ff. 334 Vgl. Dürer 1980, Faksimile der Proportionslehre, unpaginiert. 335 Vgl. Hinz 2011, S. 267. 336 Vgl. Horaz 1992, S. 650 resp. 651: „Aut prodesse volunt aut delectare poetae / aut simul et iucunda et idonea dicere vitae. – Entweder nützen oder erfreuen wollen die Dichter oder zugleich, was erfreut und was nützlich fürs Leben ist, sagen.“ 337 Vgl. Dürer 1980, Faksimiledruck der Proportionslehre, unpaginiert. 338 Vgl. Hinz 2011, S. 268. 339 Vgl. Rupprich III, S. 297, Z. 600ff. 340 Vgl. Hinz 2011, S. 233. 341 Vgl. Rupprich III, S. 297, Z. 584f. 342 Vgl. Rupprich II, S. 113, Z. 71ff. 343 Vgl. Rupprich III, S. 296, Z. 512. 344 Vgl. ebd., S. 291, Z. 75. 345 Vgl. ebd., S. 291, Z. 89. 346 Vgl. ebd., S. 291, Z. 78ff.; Hinz 2011, S. 223. 347 Vgl. Rupprich III, S. 295f., Z. 451ff.; Hinz 2011, S. 230. 348 Vgl. ebd., S. 296, Z. 476ff. 175
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349 Vgl. Hinz 2011, S. 230f. 350 Vgl. Rupprich III, S. 296, Z. 456ff.; Hinz 2011, S. 230. 351 Da ist die zitierte sprachlich merkwürdige Stelle „ausserhalb eins gegen gesichtz“ (Rupprich III, S. 296, Z. 479f.) bzw. „an (=ohne) ein gegen gesicht“, die Rupprich III, S. 288 Anm. 44, und Hinz 2011, S. 231 Anm. 168, mit „ohne ein Modell“ deuten resp. übersetzen; bei Lange / Fuhse 1970, S. 227, heißt es: „außerhalb eins Gegengesichts“; und im unmittelbaren Kontext sind die Hinweise zu lesen, „das ein wol geübter künstner nit zu einem yetlichem bild darff lebendige bilder ab machen – daß ein geübter Künstler nicht für jedes Bild lebender Vorbilder bedarf“; und außerdem, dass es einem solchen Künstler „wol müglich (ist) an [=ohne] allen gegen wurff etwas gutz zu machenn – ohne jede Vorlage gute Ergebnisse zu erzielen“; vgl. Rupprich III, S. 296, Z. 462f. bzw. 470f.; Hinz 2011, S. 230. Dürer sind die Souveränität der Künstler und die Sicherheit freier Gewißheit in ihrem Tun und Werk offensichtlich von allergrößter Bedeutung. 352 Vgl. Rupprich III, S. 296, Z. 463f. 353 Vgl. Hinz 2011, S. 230. – Erwin Panofsky verweist in seiner 1924 publizierten Schrift „IDEA – Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte der älteren Kunsttheorie“ (vgl. Panofsky 1975, S. 32f.) auf die bemerkenswerte Ähnlichkeit der Ausführungen Dürers zum „schatz des hertzen“ mit Gedanken Raffaels, die dieser 1516 in einem „weltberühmten Brief“ an Graf Castiglione notiert hat und die sich – es geht um die Bedingungen der Möglichkeit, „eine schöne Frau zu malen“ – mit dem „Verhältnis zwischen ‚Idee‘ und ‚Erfahrung‘“ befassen bzw. mit „sinnlicher Erfahrung“, deren „Summe“ sich „irgendwie“ zu einer „inneren Vorstellung“ verdichtet und „zu einem inneren geistigen Bilde umgeformt habe“. Auf die Frage, woher denn diese innere Vorstellung, diese „certa idea“, eigentlich komme und wie sich dieses innere geistige Bild denn bilde und forme, wäre – so Panofsky – „seine [Raffaels] letzte Antwort auch hier gewesen: ‚Io non so.‘“ 354 Vgl. Rupprich II, S. 113, Z. 71ff. 355 Vgl. Rupprich III, S. 296, Z. 533. 356 Vgl. Hinz 2011, S. 231. 357 Der volle Titel lautet: „Hierinn sind begriffen vier bücher von menschlicher Proportion / durch Albrechten Dürer von Nürenberg erfunden vnd be / schriben / zu nutz allen denen / so zu di=ser kunst lieb tragen.“ Vgl. Dürer 1980, Titelblatt. 358 Vgl. Rupprich I, S. 126, Z. 93f. 176
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359 Vgl. Dürer 1980, Faksimiledruck der Proportionslehre, unpaginiert. 360 Vgl. Rupprich I, S. 125, Z. 24ff.; Hinz 2011, S. 21. 361 Vgl. ebd., S. 125, Z. 18f. 362 Vgl. Rupprich III, S. 297, Z. 581ff. 363 Der von Dürer im „Ästhetischen Exkurs“ (vgl. Rupprich III, S. 294, Z. 310, 333; S. 299 Anm. 39.) zweimal gebrauchte Ausdruck „sich reimen“ im Sinne von „proportional im richtigen Verhältnis stehen“, „zu einander passen“, „mit einander im Einklang sein“ passt auch sehr gut, um das Verhältnis von „Kunst“ und „Brauch“, von „rechtem ferstand“ und „gutem gebrawch“ (vgl. Rupprich III, S. 287, Z. 377f.), wie von Dürer gefordert, näher und adäquat zu kennzeichnen. 364 Vgl. Rupprich I, S. 126, Z. 125. 365 Vgl. Rupprich III, S. 291, Z. 89f. – Zu diesem Thema ist bei Raymond Klibansky (vgl. Klibansky / Panofsky / Saxl 1990, S. 28) zu lesen: „[…]; doch vor allem aus seinen [Dürers] eigenen Schriften geht hervor, welch entscheidende Bedeutung er Gott beimaß. Ihm verdankt der Künstler seine Schöpferkraft. Läßt eine Deutung, und sei sie noch so gelehrt, diese tiefe Überzeugung außer acht, so wird sie weder dem Künstler noch dem Werk gerecht.“ 366 Vgl. Hinz 2011, S. 223; Rupprich III, S. 291, Z. 75ff. – Wie „gewalt“, „gewaltz“ ist auch „krafft“ dem lateinischen „facultas“, „potentia“ entsprechend im Sinne von „Vermögen“ zu verstehen; vgl. Hinz 2011, S. 224 Anm. 120. 367 Vgl. Rupprich III, S. 293, Z. 268; Hinz 2011, S. 226, übersetzt: ein „von Gott beschenkter Meister“. – Dazu heißt es bei Raimond Klibansky (vgl. Klibansky / Panofsky / Saxl 1990, S. 27): „Im Unterschied zu all seinen Vorgängern vergleicht Dürer den Künstler mit Gott, weil ihm, wie Gott, die Fähigkeit eigen ist, ausgehend von den Ideen, die in seiner Seele sind, jeden Tag neue Gestalten von Menschen oder anderen Lebewesen zu erschaffen. Der Künstler ist nicht mehr bloß Nachahmer der Natur, sondern Schöpfer.“ 368 Vgl. Rupprich III, S. 293, Z. 193ff. 369 Vgl. Hinz 2011, S. 225f. 370 So übersetzt Joachim Camerarius Dürers „gewaltzame künstner“ ins Lateinische; vgl. Rupprich III, S. 301, Z. 168f. 371 Vgl. Hinz 2011, S. 226. 372 Vgl. Rupprich III, S. 293, Z. 200ff. 373 Vgl. Hinz 2011, S. 226. 374 Vgl. Rupprich II, S. 106, Z. 25ff. 177
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375 Vgl. Klibansky / Panofsky / Saxl 1990, S. 505: „[…] gerade er war ja […] fest davon überzeugt, daß auch das der Einbildungskraft verpflichtete Schaffen der Maler und Architekten auf höherer und letzten Endes göttlicher Inspiration beruht.“ 376 Vgl. Rupprich II, S. 113, Z. 69, 87, 92ff. 377 Vgl. ebd., S. 113, Z. 70f. 378 Vgl. z. B. Rupprich III, S. 291, Z. 86; S. 296, Z. 464. 379 Vgl. Rupprich II, S. 113, Z. 58ff.; zur Herkunft aus der Mystik s. S. 114 Anm. 4. 380 Vgl. ebd., S. 106, Z. 8ff.; auch S. 112, Z. 8ff. 381 Vgl. hierzu die „Rekonstruktionsanalyse an dem Kupferstich ‚Melancholie‘“ von Eberhard Schröder (1980, S. 64ff.). 382 Mit Recht verweist Schuster 1991, S. 115f., darauf, dass die zahlreichen Geräte, die als „unordentliches Arrangement“ um die Melencolia zu sehen sind, „gerade nicht, wie man für Dürers Melancholiestich fast immer gemeint hat, Achtlosigkeit und Unvermögen (illustrieren), sondern die Vielfalt der Fähigkeiten, die von der zugehörigen Personifikation beherrscht werden“. 383 Vgl. Rupprich III, S. 297, Z. 602. 384 Vgl. Schuster 1991, S. 136; und S. 403: „[…] Theorie und Praxis (werden) von der Melancholiefigur in gleichem Maße beherrscht.“ – Martin Büchsel (2010, S. 61) sieht das ganz anders: „Der Genius [die Melencolia] beherrscht weder die Prinzipien der Messung, noch sind ihm die handwerklichen Tätigkeiten untergeordnet.“ 385 Vgl. Rupprich III, S. 297, Z. 600ff. 386 Vgl. ebd. 387 Vgl. ebd., S. 293, Z. 198. 388 Vgl. ebd., S. 296, Z. 530f. 389 Vgl. dazu ausführlicher und mit Blick auf Dürers „fürnemen“ hier S. 83. 390 Vgl. dazu Panofsky / Saxl 1923, S. 66f.; ebd., S. 67 Anm. 3: „Die Darstellung des die Welt mit dem Zirkel einteilenden Gottvaters bezeichnet also den Schöpfungsakt in seiner Totalität.“ Die Bibelstelle im „Buch der Weisheit” (11,20) lautet: „Du aber hast alles nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet. – Omnia in mensura, et numero, et pondere disposuisti.“ Zur Bedeutung dieser Bibelstelle bei Dürer vgl. hier ausführlicher S. 81f. 391 Vgl. Panofsky / Saxl 1923, S. 63. Fast wortgleich auch bei Klibansky / Panofsky / Saxl 1990, S. 462. – Zur Bedeutung des Zirkels für Dürer und mit Blick auf Melencolia I heißt es bei von Einem (1976, S. 38): „[…] that for 178
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Dürer the compass has become the symbol of the human creative spirit. As Dürer once stated himself: ‚… and so I will base my understanding on measure, number, and weight.‘ According to Agrippa von Nettesheim, the compass is here the very essence of genius, guided by the intellect. Thus, the compass is not only the chief attribute of this contemplative woman but all the other objects in the engraving are subordinate to it.“ – Dass im Englischen wie auch im Französischen der deutsche „Zirkel“ als „compass“ bzw. „compas“ erscheint, also als das, was im Deutschen den Kompass als das räumliche Welt-Orientierungsinstrument meint, ist mit Blick auf Dürer und seine als richtungweisende Orientierungskunst zu verstehende „Kunst der Messung“ besonders bemerkenswert. Der Zirkel ist Dürers Kompass, sein Kunst-Kompass. 392 Vgl. Rupprich I, S. 115, Z. 21. 393 Vgl. ebd., S. 115, Z. 57f. – Die Bemerkung Dürers, dass seine Unterweisung der Messung „allen den, so sich des maß gebrauchen, dienstlich seyn mag“, und sein Hinweis, dass „die Kunst der Messung“ auch der Kunst „der Perspektive und anderem dergleichen“ gelte (kursiv, R.H.), weist zweifellos darauf hin, dass die Melencolia als allegorische Personifikation der Kunst der Messung oder der Wissenschaft der Messung in einem weiteren Sinne zu begreifen ist; ob freilich in einem so ausschweifenden Sinne, wie ihn Peter-Klaus Schuster (1991, S. 130f.) insinuiert, bleibt aber sehr die Frage: „Dürer hat in seiner Melancholie also nicht nur die Sternwissenschaft dargestellt, sondern unter der Personifikation der Astronomie als dem traditionell abschließenden Fach des Quadriviums hat er einen Mathematikbegriff anschaulich gemacht, der Astronomie, Geometrie und Arithmetik ebenso einschließt wie Perspektive, Optik, Stereometrie, Mechanik, Architektur, Steinmetzkunst, Schreinerei, Schiffahrt, Geographie, Kaufmannschaft, Medizin und Prognostik.“ – Entscheidender ist jedoch die Frage, ob die Melencolia, wie von Schuster (ebd., S. 123ff.) behauptet, wirklich so entschieden eindeutig als allegorische „Personifikation der Astronomie“ gesehen werden kann oder gar gesehen werden muss. Das Problem sind die ikonographiegeschichtlich sehr zahlreichen, vielfältigen und ungemein weithergeholten Assoziationen, die von Schuster mit Blick auf Dürers Melencolia I ausführlich zum Verständnis des Meisterstiches als argumentative und illustrierende Astronomie-Belege herbeizitiert werden, die aber mit Dürers Gedanken, wie er sie in seinen kunsttheoretischen Schriften artikuliert hat, eigentlich nichts zu tun haben. Was natürlich nicht bedeutet, dass bei der Deutung des Stiches Hinweise 179
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auf astronomisch-astrologische Aspekte als wie auch immer konnotiert nicht mitgedacht und mitthematisiert werden könnten, allein schon aufgrund der im Hintergrund auffallend präsenten Himmelsphänomene von Komet und Regenbogen. Doch ist Dürers Melencolia-Figur primär als Personifikation der „Kunst der Messung“ zu verstehen, der Kunst oder der Wissenschaft der Geometrie oder der Mathematik, wie sie Dürer sowohl im „Lehrbuch der Malerei“, in der „Lehre von menschlicher Proportion“ und der „Unterweisung der Messung“ in Hinsicht auf seine Kunst reflektiert und dargestellt hat. Bei Klibansky / Panofsky / Saxl 1990, S. 480 bzw. 477, für die die Melencolia „eindeutig als eine Personifikation der Geometrie auszumachen ist“, heißt es: „Für Dürer wie für sein Zeitalter ist die Geometrie die Wissenschaft par excellence.“ Und zwar für Dürer als Künstler. Dürer und der Melencolia geht es um des Künstlers ureigenstes Thema: um die „Kunst“ – das Wissen – der Kunst, nicht um die „Kunst“ – das Wissen – der Sternkunde. – So resümiert auch Johann Konrad Eberlein (2011, S. 118): „Insgesamt müssen aber alle Elemente des Stiches als Attribute der sitzenden Frauenfigur gelten, die daher am besten als Allegorie jenes Bereichs der Kunsttheorie, den Dürer die Kunst der Messung nannte, zu deuten ist.“ – Und bei E. Th. Mayer (2009, S. 16) heißt es: „Melencolia I (= divinatoria) ist also nicht etwa eine Allegorie der Astronomie, zu der sie von der zur Zeit herrschenden Meinung erklärt wird (Schuster, 1991), sondern sie ist die ins Bild gesetzte kreativ-kontemplative Menschenseele, die Dürer darzustellen vermag in ihrem höchst-erreichbaren Bewußtseins-Augenblick mit simultaner Doppel-Sichtigkeit.“ 394 Vgl. Rupprich I, S. 126, Z. 65f. 395 Vgl. Rupprich II, S. 91, Z. 50. 396 Vgl. Rupprich III, S. 291, Z. 84, 89f. 397 Vgl. ebd., S. 293, Z. 68. 398 Vgl. ebd., Z. 200ff. 399 Vgl. Rupprich II, S. 113, Z. 92ff. 400 Vgl. ebd., Z. 71. 401 Vgl. Rupprich III, S. 296, Z. 458ff. 402 Vgl. Rupprich II, S. 113, Z. 74f. 403 Vgl. ebd., Z. 61. 404 Vgl. Rupprich III, S. 296, Z. 458ff. 405 Vgl. Rupprich II, S. 113, Z. 69, 87. 406 Vgl. Rupprich III, S. 293, Z. 268.
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407 Vgl. De Vecchi 2002, S. 154f.; schöne Abbildung S. 158. – Bei Redig de Campos 1984, S. 24, heißt es: „Die Poesie – von Vasari Polyhymnia [aber auch Kalliope] genannt – ist als einzige geflügelt, und nur sie schaut weder auf das Fresko unter sich noch deutet sie darauf hin; ihr Buch und ihre Lyra vergessend, läßt sie den Blick in die Weite schweifen, ergriffen von göttlicher Inspiration.“ 408 Vgl.Vergil „Aeneis“, 6,9. 409 Vgl. ebd., 6,50f. 410 Vgl. dazu die große, unter Raffaels Poesie-Motto als Titel 2002 erschienene Studie von Christoph J. Steppich: „Numine afflatur – Die Inspiration des Dichters im Denken der Renaissance“. 411 Es geht im 6. Buch der „Aeneis“,Vers 50f., um die „von der jetzt schon recht nahen Wirkkraft ihres Gottes [des Phoebus Apollo] angehauchte“ Cumäische Sibylle; so übersetzen Edith und Gerhard Binder; vgl.Vergil 2008, S. 278. 412 Darauf hat schon Konrad Lange (1892, S. 385ff.) aufmerksam gemacht; in Anlehnung an eine Dürer-Notiz bezeichnet er die Melencolia als „die Vertreterin aller der Künste, die ‚der Maß erheischen‘. Und ganz besonders gehört zu diesen (nach derselben Notiz) die Malerei, die […] der Geometrie, der Arithmetik und der Perspektive bedarf […].“ Entsprechend untersucht und deutet Lange mit einigem Recht die Attribute der Melencolia auf ihre „Messung“-Qualitäten, wobei der Zirkel in der Hand der Melencolia „das natürlichste Symbol der ‚Messung‘“ genannt wird. Und kommt zu dem Ergebnis: „So fallen also fast sämtliche Attribute mit denjenigen Fächern zusammen, die in der Literatur jener Zeit als abhängig von der ‚Maß‘ oder ‚Messung‘ bezeichnet werden.“ 413 Mit diesem Hinweis auf die Maßgaben und Maßnahmen der Poesie oder Literatur soll die Melencolia nicht als Allegorie der Poesie interpretiert werden. 414 Nur als ein hier nicht ganz uninteressanter Hinweis sei erwähnt, dass bei Carl Gustav Carus, wie er in seinen „Lebenserinnerungen und Denkwürdigkeiten“ notiert hat, neben Dürers „Ritter, Tod und Teufel“ auch die „Melencolia I“ „[…] unter Raffaels Poesie und Philosophie über meinem Pulte eingerahmt sich fanden, mir und Geistesverwandten zu täglicher Betrachtung und Erhebung“.Vgl. Carus 1966, Erster Band, S. 233. 415 Vgl. Hinz 2011, S. 224 Anm. 120, wo das Dürerische „gewalt“ mit dem lateinischen „facultas“ und „potentia“ als „etwa im Sinne von ‚Vermögen‘“ übersetzt wird. 181
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416 Ernst Rebel (1996, S. 292) betont mit Blick auf den „augenfälligen Charakter des Bildes“: „Seiner anschaulichen Form nach ist und bleibt der Gesamtcharakter des Bildes durchaus ‚kritisch‘. Man wird die düster-bedrängende Schwermut daraus nicht wegreden können, das Depressive gibt zweifellos den ästhetischen Ton an.“ 417 Vgl. Rupprich II, S. 100, Z. 53f. 418 So schreibt Joachim Camerarius in seinen „Elementa rhetoricae“ (1541) an einer Stelle zu Dürers „Melencolia I“: „Albertus Durerus artificiosissimus pictor, cuius divinae manus multa immortalia opera extant, […].“ Die Bezeichnung „pictor“ ist hier nicht spezifisch als „Maler“ zu verstehen, sondern umfassend als Künstler; vgl. Rupprich I, S. 319, Nr. 29, Z. 1f. 419 Vgl. Rupprich II, S. 121, Z. 95. 420 Vgl. ebd., S. 112, Z. 11f. 421 Zu diesem Zitat und den folgenden Zitaten vgl. ebd., S. 120, Z. 20ff. 422 Vgl. ebd. 423 Vgl. Rupprich III, S. 293, Z. 260ff. – Von dem letzten Satz über „die Lügen in unserer Erkenntnis“ und der „Finsternis in uns“ haben Panofsky / Saxl 1923, S. 76, und dann wieder Klibansky / Panofsky / Saxl 1990, S. 512, bemerkt, dass man ihn sich „fast als Unterschrift des Kupferstiches Melencolia I denken könnte“. Mit dem „fast“ haben sie Recht, denn der Satz wäre nur ein Teil der Wahrheit einer Bildlegende für den Meisterstich. Zumindest wäre er zu ergänzen durch jene „Unterschrift“, die Aby Warburg in Melanchthons Bemerkung zu Dürers „Melancholia generosissima“ erkennt und sich als Bildlegende vorstellen kann; vgl. dazu hier Anm. 33. 424 Vgl. Hinz 2011, S. 226. 425 Vgl. Rupprich III, S. 295, Z. 394ff. 426 Vgl. Hinz 2011, S. 229. 427 Vgl. Rupprich III, S. 293, Z. 236ff. 428 Vgl. Hinz 2011, S. 226. Erste eckige Klammer eingefügt von R. H. 429 Vgl. Rupprich III, S. 296, Z. 501ff. 430 Vgl. Hinz 2011, S. 231. 431 Vgl. Rupprich III, S. 297, Z. 551ff. 432 Vgl. Hinz 2011, S. 231f. 433 Vgl. Klibansky / Panofsky / Saxl 1990, S. 507f. 434 Vgl. Rupprich II, S. 100, Z. 53f. 435 Klibansky / Panofsky / Saxl 1990, S. 510, haben die hier gemeinte Situation der Grenzerfahrung Dürers folgendermaßen umschrieben: „Gerade an der 182
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Mathematik, der er die Arbeit eines halben Lebens widmete, hat Dürer die Erfahrung machen müssen, daß sie dem Menschen nicht die Befriedigung gewähren kann, die er in metaphysisch-religiöser Erleuchtung zu finden vermag, und daß nicht einmal die Mathematik – oder vielmehr sie am wenigsten – den Menschen zur Entdeckung des Absoluten führt, jenes Absoluten, unter dem er naturgemäß in erster Linie absolute Schönheit verstand.“ Und sie fügen hinzu, indem sie auf den direkten Zusammenhang dieser Grenzerfahrung oder Grenzeinsicht mit der Entstehung des Meisterstiches hinweisen: „Nun sind es gerade die dem Kupferstich Melencolia I unmittelbar vorangehenden Jahre gewesen, in denen diese neue Einsicht zu völliger Klarheit gereift ist.“ 436 Vgl. Rupprich III, S. 293, Z. 268. 437 Vgl. ebd., S. 296, Z. 512f. 438 Vgl. ebd., S. 293, Z. 272ff. 439 Vgl. Hinz 2011, S. 227. 440 Vgl. Rupprich III, S. 302, Z. 238. 441 Vgl. Rupprich II, S. 129, Z. 2; S. 130. Z. 2f.; S. 131, Z. 2f.; zur „Speisemetapher“ in diesem pädagogischen Kontext vgl. Rupprich II, S. 133 Anm. 1. 442 Vgl. ebd., S. 132, Z. 65f. 443 Vgl. Agrippa 1993, S. 9. 444 Vgl. Dürer 1980, Titelseite des Faksimiledrucks. 445 Vgl. Rupprich III, S. 293, Z. 243ff. 446 Vgl. Hinz 2011, S. 226. 447 Vgl. hier S. 84 bzw. 86f. 448 Vgl. Rupprich III, S. 297, Z. 600ff. 449 Vgl. Wölfflin 1984, S. 206; ausführlicher zu – wie bei Wölfflin – extrem negativen Interpretationen der Melencolia hier S. 74. 450 Vgl. Rupprich III, S. 293, Z. 220ff. bzw. S. 295, Z. 446ff. 451 Vgl. Hinz 2011, S. 226; bzw. S. 229. 452 Bei T. S. Eliots Text handelt es sich jedoch nicht um eines jener Gedichte auf den Meisterstich Melencolia I, die sich lesen lassen wie ein versifizierter Kommentar oder eine poetische Interpretation des Stiches und auf die Raymond Klibansky (vgl. Klibansky / Panofsky / Saxl 1990, S. 21ff.) verweist: auf Gedichte von Théophile Gautier, Henri Cazalis, James Thompson und William Watson. In diesem Kontext ist auch noch Gottfried Kellers Gedicht Melancholie zu erwähnen, in dessen letzter Strophe der zweiten Fassung in den Gesammelten Gedichten Albrecht Dürer ausdrücklich genannt und seine 183
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Melencolia direkt angesprochen ist: „Noch fühl‘ ich dich so edel nicht, / Wie Albrecht Dürer dich geschaut: / Ein sinnend Weib, von innerm Licht / Erhellt, des Fleißes schönste Braut, / Umgeben reich von aller Werke Zeichen, / Mit milder Trauer angetan; / Sie sinnt – der Dämon muß entweichen / Vor des Vollbringens reifem Plan.“ Vgl. Keller 1995, S. 704f. – Zur literarischen und künstlerischen Rezeption von Dürers Melencolia I vgl. z. B. auch Finke 1976, Böhme 1988. 453 Vgl. Eliot 1988, S. 134f.; Übersetzung von Hans Magnus Enzensberger. 454 Das eminente Thema der Differenz von Idee und Wirklichkeit aufgreifend, schreibt Raymond Klibansky am Ende seines Vorwortes zur deutschen Ausgabe von Saturn und Melancholie (vgl. Klibansky / Panofsky / Saxl 1990, S. 28): „Es ist folglich legitim, davon auszugehen, daß Dürer, der sich des Abstands zwischen der Idee und ihrer Verwirklichung bewußt war, mit diesem Stich […] letztlich die Ohnmacht des Künstlers zum Ausdruck bringen wollte, der zwar über alle handwerklichen Mittel verfügt […], dem aber der Beistand Gottes versagt bleibt.“ Doch genau das stimmt nicht. Hier widerspricht Klibansky sich selber und Dürers Bild vom Künstler, denn – so schreibt Klibansky gleich im auf den zitierten Satz folgenden Abschnitt, Dürers Meinung exakt wiedergebend (ebd.) – „Gott verdankt der Künstler seine Schöpferkraft“. Wenn Dürer vom Künstler als „von Got begabt meyster“ spricht oder von den „oberen Eingießungen“, durch die dem Künstler „viel Gewalt“ gegeben wird, dann heißt das doch, dass ihm der Beistand Gottes gerade nicht versagt ist, sondern durchaus – freilich nur in „etlicher mas“ – zuteil wird und er durch diesen Beistand in seinem Schöpfertum ausgezeichnet wird. Es ist nicht „letztlich die Ohnmacht des Künstlers“, die Dürer mit der Melencolia I „zum Ausdruck bringen wollte“, sondern die Grenzen der Macht des „gewaltzamen künstners“ bei all seiner „geleichheit zw got“. 455 Zu diesem Kontrast ist bei Heubach 1997, S. 40f., zu lesen: „Das Detail der im Kontrast zu dem verschatteten Gesicht in auffällig klarem Weiß stehenden Augäpfel, deren Dunkel wiederum von einem Lichtreflex, einem Glanzlicht gebrochen wird, attribuiert der Figur vielmehr eine eigenartige ‚Hellsichtigkeit‘.“ 456 Die freie Übersetzung von R. H. – Die Inschrift bezieht sich, wie AnjaFranziska Eichler (1999, S. 111) zur Abbildung des Stiches anmerkt, auf die von Philipp Melanchthon initiierte humanistische Diskussion über die Darstellbarkeit der menschlichen Persönlichkeit. Sie übersetzt das Distichon 184
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so: „Dürer konnte die Züge des Philipp nach dem Leben zeichnen, doch die kundige Hand nicht seinen Geist.“ 457 Schauerte 2012, S. 232, meint jedoch, dass „die freundlichen Augen des Gelehrten […] fast gedankenlos ins Weite schweifen“. 458 Vgl. Eliot 1988, S. 132f.; von “kingdom” ist oft die Rede; „kingdom“ scheint ein Schlüsselwort des Gedichtes zu sein; ein anderer Vers spricht von einem „zwielichtigen Todesreich“: „… death’s twilight kingdom“; S. 134f. 459 Auf diesen bedeutenden Aspekt macht F.W. Heubach (1997, S. 81) aufmerksam. Für Dürer hatte Schönheit „etwas mit Erkenntnis zu tun“: „In dieser Sicht ist die Wahrnehmung einer Vollkommenheit gleichbedeutend mit der Erfahrung einer Evidenz und gilt die Schönheit als der Augenschein der Wahrheit.“ Es geht – pointiert gesprochen – um Wahr-nehmen. In diesem Kontext ist daran zu erinnern, dass es Dürer, wenn er von der Vollkommenheit der Künste spricht, auch um Wahrheit und Weisheit geht, um Vernunft und um „Erkennen rechter Wahrheit“; vgl. z. B. Rupprich II, S. 106, Z. 6ff. Dazu auch Dürer an einer hochbedeutsamen Stelle: „Denn dieses [Wissen um maximale Schönheit] gelangt nicht in des Menschen Geist („gemüt“). Das weiß Gott allein; wem er es offenbarte, der wüßte es auch. Gott, die Wahrheit, behält sich das Wissen über die schönste Gestalt des Menschen und seine Maße vor.“ Vgl. Hinz 2011, S. 226; kursiv, R.H. 460 Im „weiß Gott allein“ zeigt sich „Dürers religiös begründeter Verzicht auf ein verbindliches Schönheitsideal“, so Schuster 1991, S. 303. 461 Vgl. Rupprich III, S. 293, Z. 230ff. 462 Der Hinweis mag hier nicht ganz uninteressant sein, dass Joachim Camerarius Dürers am Ende der „Unterweisung der Messung“ formuliertes Gotteslob – „Gott dem herren sey lob vnd eer ewigklich.“ – folgendermaßen ins Lateinische übersetzt: „Deo omnipotenti sit laus, gloria et imperium.“ (Kursiv, R. H.) Vgl. Rupprich I, S. 115, Z. 88; bzw. S. 117, Z. 74. 463 Auch Schuster 1991, S. 98, resümiert, dass Melencolia I „kein Bild der Verzweiflung“ ist. – Dürers Stich, so auch Karl-Adolf Knappe (1964, S. 28), „gibt kein Bild der Verzweiflung an allem Wissen, abgrundtiefer Traurigkeit, vielmehr des inspirierten Lauschens auf die geheimnisvolle Sprache der Imagination, wobei alle Instrumente unwesentlich werden, nutzlos herumstehen.“ – Doch schon Moriz Thausing (1876, S. 450) hatte konstatiert, dass „das gefügelte Weib“ nichts „anderes bedeuten“ kann „als die menschliche Vernunft verzweifelnd am Rande ihrer Kraft!“ – Für Friedländer 1921, S. 146, „quält sich die brütende Frau mit unlösbaren Dingen“. – G. F. Hartlaub (1937, 185
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S. 304ff.) sieht ebenfalls „die Gestalt der Melancholie […] in einem Zustand von willenloser Erstarrtheit dargestellt“; von der „unheimlichen Ruhe, ja Erstarrung“, vom „allgemeinen melanchonischen Stillstand“ und „der allgemeinen Gelähmtheit“, die auf Dürers Blatt zu erkennen seien, ist es dann nicht weit bis zur „Verzweiflung“, in der sich „der Sinn des Dürer-Blattes“ offenbare. Dass Hartlaub bei seiner an alchemistischen Lehren orientierten Deutung zu einem solch entschieden negativen Resultat kommt, dürfte damit zusammenhängen, dass er dem Gesicht, den Augen und dem Blick der Melencolia einfach keine Beachtung schenkt. – Auch für Kurt Rossmann sind Grenzerfahrung, Scheitern und Verzweiflung die bestimmenden Elemente in Dürers Melencolia-Stich, wie es sich schon im Titel seines Aufsatzes andeutet „Wert und Grenze der Wissenschaft“. Mit Berufung auf die Philosophie Karl Jaspers’ heißt es (1953, S. 128f.): „Es ist das Problem der Verzweiflung und der Verlassenheit des Menschen, dem die Grenze jedes wissentlich gesuchten Wahrheitssinnes im Scheitern des Erkennens selber gewiß wird.“ Und mit Blick auf dieses existenzielle Problem fügt er gleich hinzu: „Für diese Verzweiflung und Verlassenheit des im Erkennen scheiternden Menschen besitzen wir aus der Zeit des Beginns der heutigen Wissenschaft ein mächtiges, in seinem übergeschichtlichen philosophischen Sinngehalt trotz vielfältiger und sorgsamer Deutungsversuche noch unerschlossen gebliebenes Symbol, das wie ein Janusbild, doppelgesichtig in Vergangenheit und Zukunft blickend, gerade jene Wissenschaftsproblematik repräsentiert, die in der Folge allgemeine Wirklichkeit geworden ist: unsere Wirklichkeit. Es ist Dürers Kupferstich ‚Melencolia. I‘“ Den ersten unmittelbaren Eindruck, den der Betrachter des Werkes gewinnen könne, beschreibt Rossmann dann so (ebd., S. 130f.): „Was sich Auge und Gefühl zunächst aufdrängt, ist das Empfinden, daß hier nichts zusammenstimmig ist. Alle Beziehungen von Subjekt zu Objekt haben aufgehört. Die dargestellten Dinge und Geräte sind in ihre Selbstigkeit zurückgekehrt, und die in melancholisches Vorsichhinbrüten verfallene Frau in ihrer Mitte drückt nicht nur Verdüsterung aus und, weil sie mit sich allein ist, Einsamkeit, sondern Verlassenheit und Verzweiflung. Sie hat sich von allem abgewandt, was sie anging. An dem Steinblock, dem Gegenstand ihrers früheren Messens, sieht sie vorbei. Das Buch in ihrem Schoß ist geschlossen. Den Himmelserscheinungen wendet sie den Rücken. Der Zusammenhang von Denken und Tun ist für sie auseinandergerissen. Was sie erheben sollte, drückt sie nieder wie ihre Flügel, die ihr zur Last geworden scheinen. Das Sinnverquere, Zweckwidrige herrscht vor. Die 186
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Welt ist sinnlos geworden, weil das auf ihr Erkennen bedachte Wesen, der Mensch, nicht mehr bei sich ist.“ Mag der allgemeine Eindruck, den Dürers Stich auf den ersten Blick erweckt, von Rossmann annähernd zutreffend umschrieben sein, so entsteht dann doch durch die permanente Betonung der Verzweiflung,Verdüsterung und des depressiven Vorsichhinbrütens der Melencolia ein ganz anderer Eindruck, ein ganz anderes, ein falsches Bild. Auch hier – wie bei G. F. Hartlaub und anderen Interpreten – dürfte der Grund dafür darin liegen, dass der ganz besondere Ausdruck der hellen Augen und des offenen Blickes der Melencolia übersehen oder in seiner Bedeutung nicht entsprechend beachtet wird. Hinzukommt, dass Rossmann zwar das für Dürers Philosophie so entscheidende „weyß Got allein“ zitiert (ebd., S. 132), aber nicht weiter in seine Überlegungen einbezieht, denn es gilt ihm „unabweislich, daß die Frauengestalt auf Dürers Melancholie-Stich gerade nicht mehr diviniert, sondern mit ihrem Divinieren aufgehört hat und in Untätigkeit und Trostlosigkeit, eben in Melancholie versunken ist“ (ebd., S. 134). 464 Wie die Melencolia I kein Bild der Verzweiflung ist, so stellt sie auch kein exklusives Vanitas-Memento dar. Dass Vanitas-Motive (vor allem in der Präsenz der Sand- und Sonnenuhr, der Kugel, dem totenkopfähnlichen PareidolieGebilde auf der Frontseite des Polyeders) auf dem Bild auszumachen sind, kann nicht geleugnet werden. Sie sind „tatsächlich sinnreich in das Ganze verwoben“, doch sind sie nicht das Hauptmotiv des Stiches. So betont denn auch Patrick Reuterswärt (1967, S. 419, 422 Anm. 36), der auf den Vanitas-Aspekt oder auch nur auf Vanitas-Allusionen des Werkes entschieden aufmerksam macht, „den Vanitas-Gedanken nur als ein Neben-Thema zu betrachten“. – Für Albert Ilg (1870, S. 154) ist er jedoch das Hauptthema: „[…] es ist alles dasselbe, vanitas vanitatum!“ – Auch für Max Steck (1958, S. 251) sind auf dem Stich die Attribute der Melencolia „alles Zeichen der Vergänglichkeit“: „Es ist alles umsonst […].“ – Dem totalen Vanitas-Gedanken als dem eigentlichen Thema der Melencolia I widerspricht in aller Deutlichkeit Dürers berühmte Formulierung vom „fihischen gedancken“ der in keiner Weise akzeptabel ist oder gedacht werden darf; hier sei sie noch einmal zitiert: „So wir nun zu dem aller besten nit kumen mögen, sol wir nun gar von vnser lernung lassen? Den fihischen gedancken nem wir nit an. Dann die menschen haben args vnnd gutz for jn, darumb zimbt sich eim vernünfftigen menschen, das besser fürzunemen. – Nachdem [es ausgemacht ist, daß] wir nicht zum Optimum [in Sachen Maß und Schönheit] gelangen können, 187
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[stellt sich die Frage], ob wir von unserem Studium Abstand nehmen sollen. Diesen viehischen Gedanken nehmen wir nicht an. Denn den Menschen steht Schlechtes und Gutes zur Wahl, darum ziemt es einem vernünftigen Menschen, das Bessere in Angriff zu nehmen.“ Vgl. dazu hier ausführlicher zu Beginn des Abschnitts „… weyß Got allein“. 465 Auch Friedrich Wolfram Heubach (1997, S. 84ff.) geht in seinen in vielen Aspekten überzeugenden Ausführungen zur Melencolia I nicht auf Dürers „weiß Gott allein“ ein und damit auch nicht auf das bedeutende zwielichtige Verhältnis von condicio humana und condicio divina, das sowohl in Dürers Schriften expressis verbis im Medium des Wortes als auch indirekt in seinem Meisterstich im Medium des Bildes thematisiert ist. Heubach konzentriert seine Überlegungen ganz auf das, was er die „Entdeckung des Eigensinnes“ nennt, die mit der Entdeckung der Dürerschen „Finsternis in uns“ bzw. der „Lügen in unserer Erkenntnis“ korrespondiert: „Jemandem, der ausgezogen war, die Welt in Maß und Zahl zu erkennen, widerfährt da in seiner Anstrengung, das Licht der Erkenntnis in das Dunkel der Erscheinungen zu tragen, unvermittelt die Entdeckung, daß die Finsternis in ihm steckt. – Und so sieht er sich in seinem Verlangen, das ursprünglich auf die Erkenntnis der Welt gerichtet war, unversehens vor sich selbst gestellt: zu einer SelbstErkenntnis geführt. […] Da ist jemand in seiner auf die Welt gerichteten Anstrengung zu der Einsicht gekommen, daß ihr Ziel unerreichbar und der Grund dafür in ihm selbst gegeben ist, – und fährt gleichwohl in dieser Anstrengung fort.“ Heubach übersieht jedoch, dass es bei Dürer nicht nur um Selbsterkenntnis oder um die „Entdeckung des Eigensinns“, also des in seinen Grenzen gefangenen Individuums, geht oder um die „Entzauberung“, d. h. um die „Säkularisierung der göttlichen bzw. der Gott gleichsetzenden Meßkunst“, die der „von Gott begabte Künstler“ beherrscht. Der „Grund“ für die Unerreichbarkeit des „Zieles“ aller wissenschaftlichen „Anstrengung“ des Menschen liegt sicherlich im Menschen selber und seiner „Finsternis in uns“, aber eben primär in der gottgegebenen Ordnung des Dürerschen „weiß ich nicht“ der condicio humana und des „weiß Gott allein“ der condicio divina. Die auch von Heubach diagnostizierte „auffallende, eigentümliche Helle des Blicks“ der Melencolia, ihres „klaren unverwandten Blicks, der, auf nichts Bestimmtes gerichtet, über den Horizont geht“ und der „nicht gerade dafür (spricht), daß sich hier ‚Trübsal‘ oder ein ‚dumpfes Brüten‘ (Panofsky / Saxl) über eine Enttäuschung ereignet“, betrifft als „‚innere‘ Hellsichtigkeit“ sowohl die Selbsterkenntnis des „das weiß ich nicht“ als auch die Einsicht in das 188
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„das weiß Gott allein“. Angesichts der auch ein wenig skeptisch-fragend blickenden Melencolia dürfte Heubach mit Recht schreiben: „Und ich glaube, daß es – um es auf eine Metapher zu bringen – dieses Erwachen des Eigensinns ist, von dem Dürers Melencolia I ein Bild gibt und worin sich die ausgeprägte Wirkung dieses Bildes über die nachfolgenden Jahrhunderte hinweg erklärt […].“ – Doch gehört zu dieser sozusagen anthropologischen Komponente des Meisterstiches auch sein wesentlich anderer, sein religiös-theologischer Aspekt, wie ihn der fromme und kunstreiche Albrecht Dürer in seinem entschiedenen „weiß Gott allein“ formuliert und in der Hellsicht der geflügelten Melencolia zum Ausdruck gebracht hat. Dieses religiös-theologische Element oder diesen gläubig-frommen Aspekt, wie er in Dürers Schriften dokumentiert ist, in die Interpretation des Meisterstiches mit einzubeziehen, heißt in keiner Weise, die Melencolia I als ein frommes oder gar frömmelndes Bekenntnisdokument überschwänglichen Glaubens zu verstehen. Aber dieses Element oder diesen Aspekt einfach bei einer Interpretation wegzulassen, hieße, das Verständnis der Melencolia I durch einseitige Betrachtung gründlich zu limitieren, um eine wesentliche Dimension zu amputieren. Dazu sei hier noch einmal Raymond Klibansky zitiert (vgl. Klibansky / Panofsky / Saxl 1990, S. 28): „[…]; doch vor allem aus seinen [Dürers] eigenen Schriften geht hervor, welch entscheidende Bedeutung er Gott beimaß. Ihm verdankt der Künstler seine Schöpferkraft. Läßt eine Deutung, und sei sie noch so gelehrt, diese tiefe Überzeugung außer acht, so wird sie weder dem Künstler noch dem Werk gerecht.“ Das gilt auch im negativen Sinne: nämlich auch mit dem Blick auf die – bei aller von Gott geschenkten Schöpferkraft – ebenfalls von Gott gesetzten, schöpfung- oder naturgegebenen Grenzen des Künstlers und seiner Kreativität. 466 Vgl. Panofsky 1995, S. 225. 467 Bei Klibansky / Panofsky / Saxl 1990, S. 505, heißt es von der Melencolia, dass sie „schöpferisch ist und doch in Schwermut versunken, divinatorisch und doch an ihre Grenzen gelangt“. 468 Vgl. Rupprich II, S. 109, Z. 60f. Anm. 9. Rupprich kommentiert diese „geleichheit der hochferstendigen zw got“, dass sie „vom Geiste Gottes erfüllt werden und daraus ihre Werke schaffen“. 469 Vgl. Inschrift zu Dürers Melanchthon-Porträt (s. Abb. 32). 470 Für Kurt Rossmann (1953, S. 138) repräsentiert die Melencolia „die Philosophie als ‚sapientia humana‘, als Inbegriff der Wissenschaften (oder nach dem Sprachgebrauch der Zeit als ‚Weltweisheit‘) […].“ Und er fügt hinzu: 189
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„Es ist die Weltweisheit, die mit den Mitteln des messenden Verstandes das zu enträtseln sich anmaßt, was gerade dem Messen sich entzieht: die ‚coelestia‘, das Übersinnliche.“ Von Anmaßung oder Hybris kann jedoch mit Blick weder auf die Melencolia noch auf Texte Dürers nicht die Rede sein; es geht um unermüdliche, nicht anmaßende Erkenntnisbemühungen und das Erkennen der Grenzen der „sapientia humana“, die sich in diesem Erkennen der grenzenlos allwissenden „sapientia divina“ bewusst wird. 471 Vgl. Joachim Camerarius zu Beginn seiner Ekphrasis des Melencolia-Stiches aus dem Jahre 1541: „Albertus Durerus artificiosissimus pictor, cuius divinae manus multa immortalia opera extant […].“ Rupprich I, S. 319, Nr. 29 Z. 1f. 472 Ähnlich hat diese Gedanken auch Karl Jung (1959, S. 1422f.) formuliert: „Daran denkt vielleicht unser Genius [die Melencolia], daß nämlich durch Messen doch nie die als vollendet erahnbare Harmonie verwirklicht werden kann, daß stets etwas im Ungefähren bleibt. Auch das exakteste geistige Bemühen scheitert an einer rational nicht begreiflichen Grenze. Das ist die ‚Melencolia‘, die zugleich Trauer und Tiefsinn ist.“ Und er fügt hinzu, „daß hier die fundamentale Erklärung für die Melancholie des künstlerisch schauenden Menschen zu finden ist“. – „Die geniale Melancholie“, schreibt Hoffmann, K. 1978, S. 262, „respektiert das nicht Meß- bzw. Wißbare in dem Bewußtsein ihrer Vergänglichkeit.“ – Was sie „als den Sinn des Dürerschen Stiches empfinden“, haben Erwin Panofsky und Fritz Saxl (1923, S. 73) folgendermaßen umschrieben: „[…]: das tragische Geschick eines Menschengeistes, der sich kraft seiner eigenen inneren Gesetzlichkeit in Schranken eingeschlossen sieht, die er nicht überfliegen kann und die er dennoch überfliegen möchte, – schwermütig grübelnd in dem Gefühl einer unheilbaren inneren Insuffizienz.“ – In Dürer 2013, S. 262, schreibt Karoline Feulner: „Dürers Melencolia I scheint innezuhalten und zu erkennen, dass man in der wissenschaftlichen und künstlerischen Arbeit an Grenzen stößt, dass nicht alles rational erfassbar ist.Vielleicht wartet sie auf die schöpferische Eingebung, das Ingenium, das sie aus der eigenen Misere erlöst und wieder zur Produktivität führt. Oder ist es die Gewissheit der eigenen Endlichkeit gegenüber dem unbestimmten Unendlichen, das sie umgibt?“ – Hartmut Böhme (1989, S. 51f.) benennt die Grenze deutlich, wenn er anmerkt, dass es, wie es aus Dürers Texten hervorgehe, bei der Melencolia I um das Nachdenken über „die Grenze zwischen Mensch und Gott“ geht: „Von den Schriften Dürers her heißt Reflexion: Nachdenken über die Grenzen und darin die Bestimmung des Vermögens. Deshalb befindet sich die Melancholia nicht 190
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im Zustand der melancholia generosa, sofern man darunter die wiedererlangte Einheit mit Gott versteht. Da es darum bei Dürer nicht geht, kann die Melancholia auch daran nicht scheitern. Sie befindet sich aber auch nicht im Zustand der Verzweiflung und der Verwerfung menschlicher Anstrengung; sonderm Melancholie heißt, daß vom Nutzen und Schaffen der Dinge übergegangen wird zum Befragen der Bedeutung des Könnens und der Dinge. Dabei werden zwangsläufig Grenzen bewußt, die eine Selbstbegrenzung des Subjekts zur Folge haben. Im Innewerden dessen, was die Grenze des subjektiven Vermögens ist, wird als Wahrheit des irdischen Menschen erfahren, daß die reine Sphäre des Göttlichen nicht die seine ist.“ – For Thine is the Kingdom. In der Sphäre des Menschen herrscht Zwielicht. 473 Vgl. Rupprich I, S. 126, Z. 125. 474 Im Kontext dieser Überlegungen zum For Thine is the Kingdom ist es erstaunlich – oder vielleicht auch gerade nicht –, dass Panofsky / Saxl (1923, S. 74ff.) und dann fast wortgleich Klibansky / Panofsky / Saxl (1990, S. 510ff.) mit Verweis auf Ludwig Justi (1902) zur „Wandlung in Dürers Kunstanschauung“ notieren: „Als Dreißigjähriger war er [Dürer] berauscht von der Aussicht in das ‚neue Königreich‘ der Kunsttheorie (kursiv, R.H.), die ihm Jacopo de’ Barbari eröffnete, und glaubte, die eine, große Schönheit mit Zirkel und Richtscheit bestimmen zu können; als Vierzigjähriger aber mußte er einsehen, daß ihn diese Hoffnung getrogen hatte.“ Mit Ludwig Justis Ausführungen (1902, S. 71) berühren sich diese Bemerkungen vom „neuen Königreich“ insofern, als er resümierend schreibt: „Wir verstehen also, wie Dürer mit vollem Ernst in der Wiedererlangung der Proportionsgesetze das Heil der Kunst (kursiv, R.H.) sehen konnte […].“ – Dürers Melencolia-Einsicht wäre also, dass das „Heil“ der Kunst nicht in seine Hände gelegt ist und nicht er, sondern ein Anderer der allein wissende Herrscher im „Königreich“ der Kunst, des Schönen und ihrer Wahrheit ist. Dazu (wie hier S. 106f. ausführlicher zitiert und erläutert) Dürer selber: „Dann solchs steygt nit in des menschen gemüt. Aber Got weyß solichs allein, wem ers offenbarte, der west es auch. Die wahrheyt helt allein innen, welch der menschen schönste gestalt vnd maß kinde seyn vnd kein andre. – Denn dieses [Wissen um maximale Schönheit] gelangt nicht in des Menschen Geist („gemüt“). Das weiß Gott allein; wem er es offenbarte, der wüßte es auch. Gott, die Wahrheit, behält sich das Wissen über die schönste Gestalt des Menschen und seine Maße vor.“ Vgl. Rupprich III, S. 293, Z. 220ff.; Hinz 2011, S. 226. 475 Vgl. hier S. 9 bzw. Anm. 6. 191
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PERSONENREGISTER
Agrippa von Nettesheim, Heinrich Cornelius: 104, 118f. Anm. 15, 157 Anm. 247, 178f. Anm. 391 Alanus ab Insulis (Alain de Lille): 66, 155f. Anm. 244 Aldegrever, Heinrich: 146f. Anm. 186 Amman, Jost: 159 Anm. 254 Arend, Henrich Conrad: 19, 144 Anm. 181, 147 Anm. 187, 162 Anm. 271 Augustinus: 131 Anm. 87 Beham, Hans Sebald: 70f., Abb. 22 Bovillus, Carolus (Charles de Bovelles): 41ff., 140f. Anm. 148 Camerarius, Joachim: 104, 143 Anm. 178, 155 Anm. 244, 165f. Anm. 277, 167 Anm. 285, 175 Anm. 327, 177 Anm. 370, 185 Anm. 462, 190 Anm. 471 Carus, Carl Gustav: 12f., 19, 121 Anm. 25, 123 Anm. 38, 134 Anm. 103, 136f. Anm. 108, 149 Anm. 196, 156 Anm. 245, 181 Anm. 414 Cusanus, Nicolaus: 140f. Anm. 148 Eliot, T. S.: 107ff. Ficino, Marsilio: 118f. Anm. 15, 157 Anm. 247
Goethe, Johann Wolfgang: 14, 121 Anm. 27, 152 Anm. 214, 168f. Anm. 287 Haydn, Joseph: 96 Horaz (Quintus Horatius Flaccus): 85, 175 Anm. 336 Hüsgen, Heinrich Sebastian: 122f. Anm. 36, 147 Anm. 187 Keller, Gottfried: 183f. Anm. 452 Knorr, Wolfgang: 173f. Anm. 314 Luther, Martin: 131 Anm. 87 Mann, Thomas: 145 Anm. 184 Parthey, Gustav: 169 Anm. 260, 165 Anm. 276, 166f. Anm. 283, 167 Anm. 285 Pinder, Ulrich: 124f. Anm. 43 Pirckheimer, Willibald: 81, 85, 118f. Anm. 15, 138 Anm. 114 Raffael (Raffaello Santi): 97ff., 176 Anm. 353 Sandrart, Joachim von: 12 Schöber, David Gottfried: 127 Anm. 63, 168 Anm. 287 Vergil (P.Vergilius Maro): 79, 98, 113 Wolgemut, Michael: 70, Abb. 21
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ABBILDUNGSNACHWEISE
bpk / kupferstichkabinett, SMB / Jörg P. Anders: Abb. 1 und Ausfaltseite (Albrecht Dürer Melencolia I, Kupferstich, 1514); alle Detailabbildungen im Buch von dieser Vorlage; Abb. 13 (Albrecht Dürer Heiliger Hieronymus im Gehäus, Kupferstich, 1514). bpk / Staatsbibliothek zu Berlin: Abb. 11 (Carolus Bovillus Liber de sapiente, Titelholzschnitt Sapientia und Fortuna, Paris/Amiens, 1510/11). Aus Klibansky/Panofsky/Saxl 1990: Abb. 2 (A.D.: Studie zum Polyeder, 1514. Dresden, Landesbibliothek. Abb. 8); Abb. 7 (A.D.: Studien zum Kopf des Putto, 1514. London British Museum. Abb. 5); Abb. 20 (A.D.: Studie zur Melencolia-Figur, 1514. Berlin, Kupferstichkabinett. Abb. 2); Abb. 22 (H. S. Beham Melencolia, 1539. Abb. 120); Abb. 26 (A.D.: Studie zu Zirkel und Profilholz, 1514. Dresden, Landesbibliothek. Abb. 7); Abb. 27 (A.D.: Studien zur Waage, 1514. Berlin, Kupferstichkabinett. Abb. 6); Abb. 28 (A.D.: Studie zum Hund, Kopie einer verschollenen Handzeichnung Dürers.Vormals Bayonne, Musée Bonnat. Abb. 3). Aus Schuster 1991: Abb. 9 (A.D.: Studie zum Putto, 1514. Putto mit Lot und Sextant. London, British Museum. Abb. 8); Abb. 21 (Michael Wolgemut Astronom, um 1491/1492. Abb. 35); Abb. 29 (Gott als Weltarchitekt, Bible moralisée, Ende 13. Jh. Wien, Nationalbibliothek. Abb. 91). Aus De Vecchi 2002: Abb. 30 (Raffael Poesie, 1509. Vatikan, Stanza della Segnatura. Abb. 159). Aus Eichler 1999: Abb. 3 (A.D.: Selbstbildnis, 1491/1492. Erlangen-Nürnberg, Universitätsbibliothek. Abb. 10); Abb. 31 (A.D.: Philipp Melanchthon, 1526. Karlsruhe, Kunsthalle. Abb. 110).
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