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German Pages [276] Year 2007
Schriften des Sigmund-Freud-Instituts
Herausgegeben von Marianne Leuzinger-Bohleber und Rolf Haubl
Reihe 3 Psychoanalytische Sozialpsychologie Herausgegeben von Rolf Haubl und Hans-Joachim Busch Band 2 Johann August Schülein Optimistischer Pessimismus Über Freuds Gesellschaftsbild
Johann August Schülein
Optimistischer Pessimismus Über Freuds Gesellschaftsbild
3., erweiterte Auflage 2007
Vandenhoeck & Ruprecht
Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar. ISBN 978-3-525-45409-1 © 2007, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen. Internet: www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Druck und Bindung: l Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Inhalt
Vorwort zur Neuauflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Freuds wissenschaftstheoretische Vorstellungen . . . . . . . 2.1. Zur Wissenschaftsgeschichte der Psychoanalyse . . . 2.2. Realität und Wissenschaftlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3. Gesellschaftstheoretische Konsequenzen . . . . . . . . . .
16 16 21 27
3. Therapie und Patient . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1. Freuds Einstellung zur Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2. Zur Frage der Ätiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3. Die Therapie und ihr Patient . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4. »Gesellschaftstherapie« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5. Die Beziehungen zwischen Therapie und Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
35 35 37 47 56 61
4. Der gesellschaftliche Wahrnehmungsbereich . . . . . . . . . . 66 4.1. Zur Erfassung der sozialen Wirklichkeit . . . . . . . . . . 66 4.2. Die Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 4.3. Das Kind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 4.4. Institutionen der Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 4.5. Klassenstruktur und Idealverhalten . . . . . . . . . . . . . . 86 4.6. Strukturen der Gesellschaftskritik . . . . . . . . . . . . . . . 93 4.7. Zur Ontologie des Sozialen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 4.8. Der gesellschaftliche Wahrnehmungsbereich . . . . . . 112 5. Der Beitrag der Psychoanalyse zur Entwicklung der Kulturtheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 5.1. Die Anfänge der Psychoanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . 118
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Inhalt
5.2. Die allgemeine Beziehung zwischen Sexualität und Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 5.3. Weitere Beiträge der Psychoanalyse . . . . . . . . . . . . . . 141 6. Die phylogenetische Kulturtheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1. Totem und Tabu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2. Die Theorie der Persönlichkeit und die Triebtheorie 6.3. Die letzte Fassung der Triebtheorie . . . . . . . . . . . . . . .
150 150 157 169
7. Die explizierte Kulturtheorie und ihre Aspekte . . . . . . . . 7.1. Die explizierte Kulturtheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2. Der kulturpolitische Standpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3. Probleme der »wissenschaftlichen Weltanschauung« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4. Die zweite Dimension der Kulturtheorie . . . . . . . . . . 7.5. Elitetheorie und Verantwortungsethik . . . . . . . . . . . . 7.6. Die Aporien der Kulturtheorie am Beispiel der »Armen« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
181 181 197
8. Zur Funktion von Freuds Gesellschaftsbild . . . . . . . . . . . 8.1. Was die Analyse von Freuds Gesellschaftsbild zeigt 8.2. Zur Logik von Gesellschaftsbildern . . . . . . . . . . . . . . 8.3. Zur Struktur von Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4. Aspekte der Institutionalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . 8.5. Leistungen und Risiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
202 216 224 233 243 243 247 253 259 267
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272
Vorwort zur Neuauflage
Diese Arbeit entstand aus einer Dissertation, die ich zwischen 1970 und 1972 geschrieben und bis 1975 überarbeitet und gekürzt habe. Sie ist dadurch lesbarer geworden, weil dadurch die vielen Redundanzen und Selbstvergewisserungen, die den Text belasteten, verschwunden sind. Was jedoch geblieben ist, sind zwei Probleme: der Zeitgeist, den man problemlos herauslesen kann, und der beschränkte Interpretationshorizont. Der Zeitgeist – das sind die besonderen Bedingungen der Jahre 1968 ff. Die damaligen Konfrontationen waren Ausdruck einer besonderen Konfiguration – eine ungewöhnliche Mischung aus Widersprüchen im Entwicklungsgrad von Ökonomie und Kultur, die sich aus der Nachkriegsmischung von rasantem, scheinbar unaufhaltsamem ökonomischem Fortschritt und eher restaurativer Kulturentwicklung ergab: einerseits Gewöhnung und Glaube an den permanenten Fortschritt, was entsprechende Hoffnungen und Anspruchshaltungen hervorbrachte, andererseits eklatante Konflikte zwischen den Modernisierungsgraden in unterschiedlichen Bereichen; einerseits Rückkehr zur Normalität nach Zusammenbruch und Wiederaufbau, andererseits Wachstumsschmerzen und Orientierungsdefizite. Die Studentenrevolte war entsprechend ein Resultat sowohl der Unzufriedenheit einer neuen Generation mit der Nachkriegsordnung als auch eine unvermeidliche Übergangskrise, die den Übergang zur Normalität wie auch erforderliche Anpassungsleistungen transportierte. In der Soziologie spiegelte sich dieses gesellschaftliche Geschehen in den heftigen, polarisierten Konfrontationen zwischen Positionen, die sich gegenseitig die Kompetenz absprachen. Die Vertreter einer »Kritischen Theorie« warfen den »Positivisten« vor, Wissenschaft affirmativ und konservativ zu betreiben, die »Positivisten« den »Kritischen Theoretikern«, sie betrieben überhaupt
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Vorwort zur Neuauflage
keine Wissenschaft. An beiden Vorwürfen ist etwas dran, das naturgemäß in Form von Vorwürfen nicht hinreichend ausgearbeitet wurde beziehungsweise werden konnte. Solange das Ganze als System von Gegenidentifikationen funktionierte, dominierte und verzerrte der Abgrenzungs- und Idealisierungsbedarf den sachlichen Gehalt der Auseinandersetzungen. – Im Nachhinein ist daher (wie immer bei zeitgebundenen Kontroversen) manches nicht mehr verständlich (und manches lächerlich). In der Situation selbst war der Sog der Polarisierungen aber so massiv, dass man sich zuordnete oder zugeordnet wurde (von besonnenen Ausnahmen abgesehen). Entsprechend ging es oft darum, dem Gegner eins überzuziehen, wurde oft Flagge gezeigt, gedroht, abgekanzelt. – Dieses Klima hat auch auf diesen Text abgefärbt. Obwohl ich mich gelegentlich gegen die daraus resultierenden Plattitüden abgrenze, merkt man dem Sprachgebrauch an, dass und wo er sich zuordnet. So tauchen denn gelegentlich auch militante Formeln auf – etwa wenn den »Widerständen gegen die Psychoanalyse« bescheinigt wird, »sie repräsentierten ohnehin nur die Manifestationen der gesellschaftlichen Widersprüche, deren Analyse und praktische Aufhebung erst mit Hilfe einer integrierten materialistischen Sozialwissenschaft möglich wird« (S. 13). – Ganz abgesehen davon, dass ich heute nicht mehr davon überzeugt bin, dass die Aufhebung gesellschaftlicher Widersprüche »erst mit Hilfe« von Theorien möglich sein wird, kann ich auch den Erklärungswert solcher Zuordnungen nicht mehr recht erkennen. Zumindest reichen sie nicht aus, um ein Phänomen systematisch zu begreifen. Und ob eine Theorie das, was man vom Materialismus lernen kann und muss, verstanden hat, zeigt sich sicher nicht im Etikett. So gesehen spräche einiges gegen eine Neuveröffentlichung. Andererseits sind die Auswirkungen des Zeitgeistes weitgehend auf die sprachliche Oberfläche beschränkt. In ihrem Kern ist die Arbeit ein seriöser Versuch, Freuds Gesellschaftsbild darzustellen und zu analysieren (und kein Zurechtstutzen nach vorab feststehenden politischen Maßstäben). – In der Zwischenzeit ist eine ganze Reihe von interessanten und klugen Arbeiten über Freud erschienen (die in dem Text nicht berücksichtigt werden). Da jedoch die meisten sich nicht oder nur am Rande mit Freuds Gesell-
Vorwort zur Neuauflage
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schaftsbild beschäftigen, dient eine Neuveröffentlichung nicht nur dem Narzissmus des Autors. Zum zweiten Punkt: Eine gründliche wissenssoziologische Interpretation war mir zum damaligen Zeitpunkt nicht möglich, teils aus Uninformiertheit, teils, weil mir die nötige Erfahrung für ein solches Projekt fehlte. – Eine gründliche Einarbeitung wissen(schafts)soziologischer Perspektiven in den vorhandenen Text wäre auf ein Neuschreiben hinausgelaufen. Ich habe mich daher entschlossen, den Text (bis auf die Druckfehler) so zu lassen, wie er war, und das abschließende Kapitel durch eine Skizze einer solchen Interpretation zu ersetzen. Daraus ergibt sich zwangsläufig ein stilistischer und argumentativer Bruch. Ich hoffe, dass die nachgetragenen Überlegungen dies rechtfertigen.
1. Einleitung
Auch die jüngste Freud-Renaissance – wenn man das Anwachsen der Literatur, die sich mit ihm und über ihn mit der Psychoanalyse beschäftigt, so bezeichnen will – hat bisher kaum dazu beigetragen, die traditionelle Misere der Auseinandersetzung mit seiner Arbeit aufzuheben. Nach wie vor orientieren sich die meisten Texte nicht an den immanenten Strukturen seines Denkens, sondern sind darauf aus, Freud mit Hilfe eklektizistischer Methoden in die Position zu manövrieren, in der er für die eigene Einstellung benötigt wird. Die Ursache für diese eigentümliche Form der Auseinandersetzung mit Freud – die dazu führt, dass weder der wesentliche Gehalt der Psychoanalyse realisiert noch ihre notwendige Aufhebung im Rahmen einer integrierten Sozialwissenschaft vorangetrieben werden kann – liegt darin, dass Psychoanalyse politisch ist im emphatischen Sinn. Gerade weil sie die verdinglichte Auseinandersetzung um »Subjektives« und »Objektives« virtuell transzendierte, verknöcherte sie in den Händen derer, die als Epigonen Freuds gesellschaftspolitischen Anspruch nicht einlösen konnten und wollten, und wurde auf der anderen Seite zum inzwischen unabdingbaren Prüfstein wissenschaftstheoretischer und politischer Couleur. Die Einschätzung des – wie es im verdinglichten Jargon heißt – »subjektiven Faktors« ist inzwischen zum zentralen Bestandteil der ritualisierten Etikettierungsprozesse vor allem innerhalb der »Neuen Linken« geworden. Unter diesen Umständen erschöpft sich die Diskussion um die Psychoanalyse nur allzu oft im Nachweis, die Psychoanalyse sei, wie ihr Schöpfer, »bürgerlich«. Dieser Begriff ist, abgesehen von der eigentümlichen Magie, die er durch seine spezifische pejorative Verwendung erhält, mindestens ebenso widersprüchlich wie die bürgerliche Gesellschaft selbst, welche als solche ohnehin nicht existiert. Er indiziert eine
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Einleitung
Form von Kritik, die selbst weitgehend »bürgerlich« ist, insofern sie nicht darauf aus ist, Vorhandenes weiterzuentwickeln, sondern eigene Schwierigkeiten möglichst flott zu erledigen. Soweit diese Arbeit »kritisch« ist, versteht sie sich als »solidarische« Kritik mit dem Ziel, ein Stück Selbstreflexion, welches Freud selbst nicht leisten konnte, nachzuvollziehen. Der Versuch der soziologischen Reflexion von Freuds Theorie der gesellschaftlichen Wirklichkeit ist dabei sinnhaft bezogen auf neuere metatheoretische Weiterentwicklung und sozialpsychologische Dialektisierungen der Psychoanalyse, zu denen sie einen Beitrag liefern will. Zu diesem Zweck wird Freuds Theorie des Sozialen aus ihrer Entstehung und deren Gründen heraus dargestellt. Es geht dabei weniger um eine logische Analyse der Widersprüche seiner expliziten gesellschaftstheoretischen Bemühungen, sondern hauptsächlich um die ihnen zugrunde liegenden Denkstrukturen und inhaltlichen Fixpunkte. Ein Großteil der Arbeit beschäftigt sich daher mit der Art und Weise, wie bestimmte Anschauungen und Denkweisen theoriestiftend in den verschiedenen Bereichen von Freuds Beschäftigung wirksam werden, wie sie in die Sprache der Psychoanalyse übersetzt werden und damit einer spezifischen Dynamik unterliegen. Psychoanalytische Theoreme werden allerdings nur soweit herangezogen, als sich in ihnen gesellschaftliches Denken ausdrückt beziehungsweise modifiziert wird; sie selbst werden nicht inhaltlich-systematisch diskutiert (dies wäre ein weiterer Schritt auf dem Weg der kritischen Aufhebung der Psychoanalyse). Bei der Arbeit ergaben sich technische und inhaltliche Schwierigkeiten. Technische insofern, als immer noch eine historisch-kritische Ausgabe von Freuds Werken fehlt, was gerade für eine entwicklungsorientierte Arbeit ungünstig ist. Des weiteren bestand das Problem der Sekundärliteratur; es wäre beinahe einfacher, aufzuzählen, wer nicht über Freud geschrieben hat, als eine vollständige Bibliographie der Texte, die sich mit ihm auseinandersetzen, aufzustellen, geschweige denn zu lesen. Da jedoch das meiste ohnehin recht oberflächlich ist und nur wenig Gemeinsamkeiten mit dem hier verwendeten Ansatz hat, habe ich auf eine systematische Verarbeitung von Sekundärliteratur verzichtet. Die inhaltlichen Schwierigkeiten liegen darin begründet, dass
Einleitung
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Freud gesellschaftstheoretische Interpretationen vorführt, ohne eine im engeren Sinn soziologische Terminologie zu verwenden, vor allem aber darin, dass er seine eigene theoretische Entwicklung »missverstand«. Er hatte zwar, wie er 1896 schrieb (Freud, 1962, S. 125), immer philosophische Neigungen gehabt, aber auch massive Abneigungen gegen das, was er im schlechten Sinne als »Spekulation« einschätzte. Sein umfangreicher Briefwechsel dokumentiert, dass er auch während seiner ausschließlich medizinischen Tätigkeit diese Neigungen nicht aufgab, gleichzeitig jedoch davon ausging, sie ließen sich nur über die Beschäftigung mit »exakten« Wissenschaften verwirklichen. Solange, bis er begann, die Psychoanalyse zu entwickeln, die von Anfang an metatheoretische Reflexionen erforderte, schienen ihm deshalb gesellschaftstheoretische Interessen und wissenschaftliche Praxis zwei Paar Schuhe zu sein; erst mit Hilfe der »objektiven« Einsichten der Psychoanalyse begann er dann allmählich mit der Entwicklung gesellschaftstheoretischer Modelle, die ihm dann ebenso objektive Dignität zu besitzen schienen. Die inhaltlichen Konsequenzen, die daraus resultierten, dass Freud die Vermitteltheit seiner wissenschaftlichen Arbeit mit seinen gesellschaftlichen Interpretationen, die ihr vorausgehen, nicht sah, sind hauptsächlich Gegenstand der Untersuchungen. Für die Struktur seiner theoretischen Entwicklung folgt daraus zunächst, dass – von Freud als solche nicht eingeschätzte – gesellschaftstheoretische Positionen unerkannt und chiffriert in seine früheren Begriffsbildungen eingehen, in die Terminologie der Psychoanalyse übersetzt werden und so die Erkenntnisse selbst und ihre Strukturierung erheblich beeinflussen. Das, was ihm selbst als objektive Materialsammlung erschien, ist deshalb immer schon gesellschaftstheoretische Argumentation, ohne als solche erkannt zu werden. Während Freud selbst die »Traumdeutung« für eine Arbeit hielt, welche »den Umkreis neuropathologischer Interessen nicht überschritten« (Freud, GW II/III, S. VII) habe, sind in ihm die grundlegenden Strukturen seiner gesellschaftstheoretischen Überlegungen bereits entwickelt oder zumindest angelegt. Eine Aufgabe der Arbeit ist deshalb der Versuch, zu zeigen, welche gesellschaftstheoretischen Vorstellungen in welcher Form der späteren »Kulturtheorie« vorausgegangen sind, welche davon in diese
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Einleitung
übersetzt werden und wie dies geschieht, welche Bedeutung die Interpretation der sozialen Wirklichkeit in Form einer Theorie der »Kultur« hat und welche Elemente und Strukturen dieser sozialen Wirklichkeit für jene erkenntnisstiftend sind. Unter diesen Umständen erscheint es wenig sinnvoll, sich nur auf explizite Äußerungen zu soziologischen Fragen zu beschränken. Das methodische Vorgehen musste sich deshalb vor allem daran orientieren, dass Freud bereits lange vor jeder konsistenten gesellschaftstheoretischen Analyse, wie sie sich in seinen späteren »kulturhermeneutischen« Schriften darstellt, gesellschaftstheoretische Positionen bezieht, ohne sie als solche zu kennzeichnen und zum Teil ohne sie als solche zu begreifen. Sie finden sich in seinen früheren Schriften und Briefen in den verschiedensten Zusammenhängen, ohne systematisch dargestellt zu werden, sind jedoch in sich in gewisser Weise systematisch. In ihrem späteren Zu-sich-selbst-Kommen in der entwickelten Kulturtheorie werden diese Theorieelemente durch ihre Systematisierung integriert und gewandelt und auch in andere Formen transformiert, ohne dass ihr Gehalt sich grundsätzlich ändert. Dazu erwies es sich als notwendig, den Aufbau der Arbeit weitgehend an der Anlage von Freuds Werk selbst zu orientieren; das Vorgehen nach allgemeinen Schemata und die Arbeit mit Begriffen, die den Dimensionen entstammen, welche für den Soziologen insgesamt eine Gesellschaftstheorie ausmachen, erwies sich als blind gegenüber den Besonderheiten des Gegenstandes. Aus praktischen Gründen ist es angebracht, zunächst die Inhalte und die Entwicklung von Freuds Vorstellungen aus den Bereichen darzustellen, in denen sich zuerst gesellschaftstheoretische Erörterungen manifestieren und die solche erfordern, bevor sie in der umfassenden Kulturtheorie integriert werden. Dabei handelt es sich um die Bereiche der praktischen und theoretischen Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit, psychoanalytische Therapie und Wissenschaftstheorie und deren gesellschaftstheoretische Implikationen. Parallel dazu soll versucht werden, die Bereiche der gesellschaftlichen Wirklichkeit, die von Freud ganz allgemein mehr oder weniger systematisch erfasst werden, deren innerer Zusammenhang sowie die darin sich äußernden Systeme vortheoretischer Gewissheit, beispielsweise in Bezug auf Ehe und
Einleitung
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Familie, zu vermitteln. Der nächste Schritt beschäftigt sich mit der Weiterentwicklung und -erweiterung der theoretischen Ansätze, ihre Problematisierung im Rahmen der psychoanalytischen Theorie sowie deren originären Beitrag zur Entwicklung der Kulturtheorie. Danach soll die phylogenetische Kulturtheorie selbst und ihre Entwicklung sowie die Dynamik, welche die gesellschaftstheoretischen Vorstellungen innerhalb der psychoanalytischen Theorie initiiert haben, dargestellt werden, wobei es darum gehen soll, die Grundstrukturen des soziologischen Denkens und der soziologischen Theorie zu systematisieren und sie auf die ihnen zu Grunde liegenden Elemente der sozialen Wirklichkeit zurück zu beziehen. Besonders zu Beginn wird dabei getrennt, was bei Freud selbst eng zusammenhängt. In seiner Theorie der Wissenschaft manifestieren sich sowohl Teile einer Theorie der Wirklichkeit und ihrer Erkenntnis, als auch Theorieelemente über den Zusammenhang von Gesellschaft und Wissenschaft, was wiederum Rückschlüsse auf das Verständnis der Gesellschaft zulässt. Ebenso wie die Theorie der Wissenschaft ist auch die theoretische Integration der Therapie in weitere gesellschaftliche Zusammenhänge Medium einer noch nicht explizierten Gesellschaftstheorie. Praktische und theoretische Vorstellungen über die psychoanalytische Therapie, ihre Zielvorstellungen und ihre Voraussetzungen gehören zu den bedeutsamsten Vorstudien zu einer umfassenden Theorie und sind schon früh der Ausdruck grundlegender gesellschaftstheoretischer Voraussetzungen und Konstruktionsprinzipien, ohne dass Freud selbst sein Vorgehen so einschätzt. Mit beiden in engem Zusammenhang steht die Systematik dessen, was hier der »gesellschaftliche Wahrnehmungsbereich« genannt wird und an dessen Darstellung alle weiteren Schritte der Untersuchung wieder anknüpfen. Das darin sich manifestierende Verständnis der Lebenswelt und die Elemente, aus denen diese in der Theorie sich zusammensetzt und rekonstruiert wird, sind der gesellschaftliche Bezugspunkt der in den Bereichen der Wissenschaftstheorie und der therapeutischen Praxis zum Ausdruck kommenden Annahmen und Interpretationen, während Wissenschaftsverständnis und Theorie der Therapie umgekehrt selbst spezifische Interpretationen der Lebenswelt sind.
2. Freuds wissenschaftstheoretische Vorstellungen
2.1. Zur Wissenschaftsgeschichte der Psychoanalyse In den letzten Jahren ist – glücklicherweise – die Diskussion über den erkenntnistheoretischen und wissenschaftslogischen Status der Psychoanalyse wieder in Gang gekommen. Es ist zu hoffen, dass dies dazu beiträgt, die Stagnation der metapsychologischen Theoriebildung ebenso wie die immer noch meist dilettantischen Versuche der Aufhebung der Psychoanalyse im Rahmen einer integrierten Sozialwissenschaft zu überwinden. Dass die Diskussion bisher mit schöner Regelmäßigkeit versandete, lag daran, dass sie sich stets in denselben Aporien verfing – ein Vorgang, der selbst noch einer wissenssoziologischen Analyse bedarf. Die frühe Auseinandersetzung um die Psychoanalyse (z. B. Allers, 1922; Dorer, 1932; Hartmann, 1927; Isserlin, 1910; Mittenzwey, 1912) beschränkte sich auf die Frage, ob sie Naturwissenschaft sei oder nicht, eine Frage, die, weil sie bereits falsch gestellt war, nur unzulänglich beantwortet werden konnte. Demgegenüber stellte die so genannte »freudo-marxistische« Auseinandersetzung der 1920er Jahre einen erheblichen Fortschritt dar, ohne allerdings das Problem systematisch lösen zu können (z. B. Fromm, 1932; Reich, 1929). Bei aller anzuerkennenden inhaltlichen Weiterentwicklung verdeutlicht die spätere theoretische Entwicklung der Diskutanten (Reich, Fromm) die immanenten Widersprüche einer Reflexion, der Erkenntnistheorie keine tragfähige Basis für die gewonnenen Einsichten darstellte. Es muss in diesem Zusammenhang allerdings darauf hingewiesen werden, dass es nicht allein die Widersprüche der Selbstreflexion waren, die den »FreudoMarxismus« zur irrelevanten Episode degradierten. Es war vor allem auch der politische Kampf der inzwischen etablierten Psychoanalyse, deren zunehmender Konservativismus selbst Resultat
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nicht durchschauter Abhängigkeiten war, und der verdinglichten Denkweise der stalinisierten Kommunistischen Partei, die dafür sorgten, dass Theorie und Praxis im Keim erstickten. Im Grunde hat sich in dieser Beziehung noch nicht allzu viel geändert. Beschwörungsformeln wie die von Stoljarov (1970) und Waelder (1970) besitzen nach wie vor eine traurige Aktualität; die »Widerstände gegen die Psychoanalyse« (Freud) und die der Psychoanalyse gegen eine Selbstreflexion bestehen immer noch; sie repräsentieren ohnehin nur die Manifestationen der gesellschaftlichen Widersprüche, deren Analyse und praktische Aufhebung erst mit Hilfe einer integrierten materialistischen Sozialwissenschaft möglich wird. Im Verlauf des offenkundigen Scheiterns der objektivistisch verzerrten Sozialwissenschaften an der Wirklichkeit ist bei einigen Fraktionen der »Linken« die Frage nach der Bedeutung psychischer Prozesse wieder aufgetaucht. Neben denen, die sich selbst mit Formeln wie: ›die Psychoanalyse ist bürgerliche Ideologie‹ narkotisieren, hat sich eine Diskussion herauskristallisiert, die vor allem durch zwei Arbeiten vorangetrieben wurde, beziehungsweise sich um sie gruppierte. Es handelt sich zum einen um die Arbeit von Habermas (1968), in der er zunächst das »szientistische Selbstmissverständnis« der Psychoanalyse kritisiert, um dann ihren erkenntnistheoretischen Status als »Tiefenhermeneutik« näher zu bestimmen, zum anderen um Lorenzers Versuch einer metatheoretischen Neubestimmung der Psychoanalyse (1970), in deren Rahmen er in einer neueren Arbeit (1973) die spezifische Gegenstandsproblematik der Psychoanalyse aus ihrer Geschichte heraus entwickelt. Die Plausibilität und Relevanz der genannten Arbeiten muss sich im Verlauf der Arbeit an einer »nichtsubjektivistischen Theorie des Subjekts« (Garaudy) herausstellen. Da in ihnen die erkenntnistheoretische Problematik jedoch bereits entwickelt wurde, kann hier darauf verzichtet werden, die Wissenschaftskonzeption von Freud ausführlich zu referieren. Es geht in dieser Arbeit ohnehin nicht zentral um deren Aufarbeitung, sondern – in Ergänzung der genannten Ansätze – um die Beschreibung denkstruktureller Besonderheiten, die jene »Verzerrung« des Gegenstandes zur Folge haben – als Teil einer historisch-genetischen Analyse von Freuds
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Theorie – sowie um die darin bereits zum Ausdruck kommenden inhaltlichen Fixpunkte, an denen sich dieses Denken bildet und orientiert. Es geht um die spezifischen Problemlösungsstrategien, deren sich Freud bei der Entwicklung eines allgemeinen Vergesellschaftungskonzeptes bedient. Um die Ansätze von gesellschaftstheoretischen beziehungsweise gesellschaftstheoretisch relevanteren Argumentationsstrukturen aus Freuds Wissenschaftsverständnis extrapolieren zu können, wird zunächst die Situation skizziert, in der es sich entwickelte. Freud erhielt seine wissenschaftliche Ausbildung während einer Phase, in der die wissenschaftlich-technische Revolution – wenn auch mit einiger Verzögerung – sich auch auf die Medizin auswirkte. Besonders der Siegeszug der so genannten »exakten« Forschung verhalf der medizinischen Wissenschaft zur Emanzipation aus dem Bannkreis der Naturphilosophie Schelling’scher Prägung, welche »die Natur« insgesamt, besonders aber den menschlichen Körper einem idealistischen Konzept unterwarf und damit in Theorie und Praxis der Spekulation und der Metaphysik Tür und Tor öffnete. So kam es, dass noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts quasi-mystische Leitvorstellungen die praktische Medizin und ihre Theoretiker beherrschten. Galls Kranioskopie, Mesmers Magnetismuslehre und Hahnemanns Homöopathie standen in krassem Gegensatz zu dem sonst erreichten Stand von Technik und Wissenschaft. Davon sich positiv zu unterscheiden und damit den Nachweis zu führen, dass die Medizin doch unter die »exakten« Wissenschaften zu rechnen sei, war deshalb eines der vorrangigen Ziele der im Laufe des 19. Jahrhunderts hervorgetretenen vorwiegend anatomisch und physiologisch ausgerichteten Forschungsrichtungen. Zu diesen zählte auch die so genannte »Jüngere Wiener medizinische Schule«, welche die Tradition der pathologisch-anatomischen Pariser Schule um Cruveilhier, Chomel, Andral und Louis fortzusetzen suchte. Ihre führenden Köpfe: Brücke, Billroth, Chroback, Nothnagel und Meynert waren Freuds akademische Lehrer. Was jedoch der allgemeinen medizinischen Forschung und Praxis zum Vorteil gereichte, war gerade durch die Allgemeinheit des Anspruchs auf dem Gebiet der Psychiatrie eine »Neuerung« mit verhängnisvollen Folgen. Billroth bezeichnete den allgemei-
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nen Umschwung innerhalb der Medizin folgendermaßen: »Kann es nun eine bessere Vorbildungsschule für den Arzt geben als die Naturwissenschaften? Gewiss nicht! … Die Naturwissenschaften sind nicht nur die Schule der Beobachtungen, sondern geradezu die Basis der Medizin und der ärztlichen Kunst« (zit. nach Dorer, 1932, S. 115). Diese empiristisch-materialistische Einstellung der Naturwissenschaften führte in der Psychiatrie dazu, dass, wie Freud später schrieb, alles Nicht-Physiologische der Psyche »unter Kuratel« gestellt wurde. Alle anderen Forschungsmethoden als die der exakten Naturwissenschaft wurden als unwissenschaftlich disqualifiziert und als Rückfall in die längst überwundenen Phasen der Naturphilosophie betrachtet. »Die für den Mediziner brauchbare Psychologie ist fast ganz in Physiologie und Pathologie aufgegangen« (zit. nach Dorer, 1932, S. 117). Der zu dieser Zeit nicht nur in Wien führende Psychiater, Meynert, war dementsprechend auch radikaler Vertreter der Lokalisationstheorie, die allem psychischen Geschehen einen anatomischen Sitz zuweisen und es aus seinen physiologischen Grundlagen heraus erklären wollte. Sein Kollege Flechsig schrieb dazu, »dass die Erforschung des Gehirns den Schlüssel zu einer wissenschaftlichen Erforschung des Seelenlebens erbringen werde, und die heutige medizinische Psychologie will in der Tat nichts anderes sein, als ein Abschnitt der Lehre von den Hirnfunktionen. Welche Hirnteile sind in Tätigkeit, wenn wir denken oder fühlen; welcherlei chemische und physikalische Vorgänge sind hierbei beteiligt?« (Flechsig 1896, S. 11). Der mechanistische Materialismus der Lokalisationstheorie gestand psychischen Phänomenen keine Eigenständigkeit und -dynamik zu; wer sich mit psychischen Erkrankungen beschäftigen wollte, war auf Anatomie und Physiologie verwiesen. Freud hat diese Situation, in der er seine wissenschaftliche Ausbildung erhielt, fünfzig Jahre später so charakterisiert: »Die Mediziner waren in der alleinigen Hochschätzung anatomischer, physikalischer und chemischer Momente erzogen worden. Für die Würdigung des Psychischen waren sie nicht vorbereitet, also brachten sie diesem Gleichgültigkeit und Ablehnung entgegen. Offenbar bezweifelten sie, dass psychische Dinge überhaupt eine wissenschaftliche Behandlung zulassen. In übermäßiger Reaktion auf eine überwundene Phase, in der die Medizin von den Anschauungen der so genannten Na-
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turphilosophie beherrscht wurde, erschienen ihnen Abstraktionen, wie die, mit denen die Psychologie arbeiten muß, als nebelhaft, phantastisch, mystisch; merkwürdigen Phänomenen aber, an welche die Forschung hätte anknüpfen können, versagten sie einfach den Glauben. Die Symptome der hysterischen Neurose galten als Erfolg der Simulation, die Erscheinungen des Hypnotismus als Schwindel. Selbst die Psychiater, zu deren Beobachtung sich doch die ungewöhnlichsten und verwunderlichsten seelischen Phänomene drängten, zeigten keine Neigung, deren Details zu beachten und ihren Zusammenhängen nachzuspüren. … In dieser materialistischen oder besser: mechanistischen Periode hat die Medizin großartige Fortschritte gemacht, aber auch das vornehmste und schwierigste unter den Problemen des Lebens in kurzsichtiger Weise verkannt« (Freud, GW XIV, S. 102 f.). Die Konsequenzen, die sich daraus ergaben, dass Freud sich den reduktionistischen und gegenstandsblinden Vorstellungen der Schulpsychiatrie nicht anschloss, sind bekannt. Als »Lustlümmel aus der Berggasse« oder als »reaktionärer Kleinbürger«, gelegentlich sogar als beides, verschrien, fand er sich über lange Jahre isoliert und verfemt; ein Schicksal, dass seine Schöpfung, die Psychoanalyse, deshalb teilen musste, weil sie quer zu den vorhandenen Institutionen und abgesicherten traditionellen Praxisstrukturen der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft und ihrer Kritiker lag, besonders wissenschaftstheoretisch und therapeutisch-praktisch nirgendwo in die Systeme von Gegenidentifikationen der gängigen politischen Auseinandersetzung passte. Die Psychoanalyse organisierte und institutionalisierte sich aus gleichem Grund quasi als »Subkultur«, die die Antinomien des bestehenden weitgehend reproduzierte, weil sie sich in undurchschauter Abhängigkeit befand und auch nicht imstande war, ihr eigentümliche Stellung: teils verschmähte Parteigängerin der bürgerlichen Gesellschaft, teils ihre sektiererische Kritikerin, adäquat zu reflektieren. All dies hat die Weiterentwicklung der Psychoanalyse bis heute entscheidend behindert.
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2.2. Realität und Wissenschaftlichkeit Die Überlegungen, mit deren Hilfe Freud für sich die Situation widerspruchsfrei interpretiert, sind vergleichsweise naiv und dem Gegenstand »objektiv« unangemessen, was heißen soll, dass er die tatsächlichen Probleme nicht realisierte. Sie waren jedoch der Situation, in der er sich realiter befand, sehr wohl angemessen, man kann sogar sagen, dass es ohne diese Hilfskonstruktionen Freud kaum möglich gewesen wäre, die Psychoanalyse überhaupt zu entwickeln. Deren Gegenstand entwickelte sich ja erst sukzessive im Verlauf von Freuds wissenschaftlicher Praxis, die zunächst nichts anderes war als die empirisch-analytische Vorgehensweise, wie sie für die damaligen nomothetischen Wissenschaften möglich und sinnvoll war. Deren Ansatz in Richtung einer faktisch praktizierten materialistischen Hermeneutik zu transzendieren war Freud dadurch möglich, dass er Nomothetik nicht mit logischem Positivismus oder objektblindem Agnostizismus gleichsetzte, also die Bereitschaft hatte, implizit »Sinnkriterien« zu entwickeln. Lorenzer (1973) beschreibt, wie er gleichwohl sich permanent bemüht, den Gegenstand der Psychoanalyse als »Naturgegenstand« zu bestimmen, ein Bemühen, welches sich mit Notwendigkeit später in die Inhalte der Metatheorie verlagern musste, als die Identifizierung mit den Naturwissenschaften und ihrem Gegenstand nicht mehr unmittelbar aufrechtzuerhalten war und Freud sich gezwungenermaßen in Analogien flüchtete. Noch in der Traumdeutung, die, an der Logik des Gegenstandes bereits weitgehend orientiert, sich darum bemühte, »Sinn« und »Bedeutung« psychischer Prozesse (Freud, GW II/III, S. 645 f.) zu ermitteln und mit Begriffen wie »Überdetermination« (S. 289) arbeitete, unterstellte Freud kontrafaktisch: »Indem ich hier die Darstellung der Traumdeutung versuche, glaube ich den Umkreis neuropathologischer Interessen nicht überschritten zu haben« (S. VII). Als dies – wegen der Reaktion der wissenschaftlichen Öffentlichkeit und der fortschreitenden Logik der Forschung: In der Traumdeutung versuchte Freud zum letzten Mal eine energetisch-quantitative Untermauerung seiner Theorie – nicht mehr zu halten war, versucht er erstmals systematische Interpretationen,
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die umso extensiver wurden, je sicherer er seiner selbst wurde, je institutionalisierter die Psychoanalyse wurde. Die Logik seiner Argumentation ist dabei strukturell stets dieselbe: a) Gegenstand der Wissenschaft ist die objektive Realität; b) es gibt nur eine Realität, ergo nur eine Wissenschaft; c) dabei richtet sich die Forschung nach der spezifischen Struktur des Gegenstandes; d) diesen Kriterien entspricht auch die Psychoanalyse. Da sich in der Explikation dieser Überlegungen jene gesellschaftstheoretischen Elemente manifestieren, um die es in diesem Zusammenhang geht, sollen sie hier kurz vorgeführt werden. (Auf die Unterschiede, die sich im Verlauf der Entwicklung der Psychoanalyse in Freuds eigener Argumentation ergeben, kann hier verzichtet werden. Es handelt sich im Wesentlichen darum, dass der »frühe« Freud sich eher an wissenschaftspraktischen Überlegungen orientiert und die Analogiebildung zwischen den »strengen« Naturwissenschaften und seinem Vorgehen daran ausrichtet – vgl. GW I, S. 74 f./311 –, während der »späte« Freud den Vorgang wissenschaftlicher Forschung insgesamt parallelisiert.) Sein frühes Wissenschaftsverständnis ging zunächst aus von einer Vorstellung des Forschungsgegenstandes, der objektiven Realität. Ganz in der Tradition der Aufklärung bestand für ihn die Wirklichkeit aus physischen, nicht aus metaphysischen Gegebenheiten, die untereinander in Zusammenhang und »Kausalverkettung« (S. 45) standen. Die Grundannahme war, dass der Kosmos der Vielfältigkeiten in sich zusammenhängend und strukturiert sei: Alles, was real ist, verläuft in »gesetzmäßigen und berechenbaren Bahnen« (GW IV, S. 6). Die Aufgabe der Wissenschaft sollte es sein, diese Realität und ihre Strukturen vorurteilslos, objektiv und neutral zu erforschen. Dies bedeutet: Verzicht auf politische Wunschvorstellungen und private Präferenzen; das Material der Forschung sollte durch nichts anderes als die aus ihm selbst hervorgehenden Kategorien erfasst werden. Der Prozess der Erkenntnis vollzieht sich dabei induktiv (»In der Wissenschaft muss man zuerst zerlegen, dann zusammensetzen«, Freud u. Pfister, 1963) und besteht darin, sich mehr und mehr der Wirklichkeit anzunähern (GW XIV, S. 100).
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Es kommt Freud dabei vor allem darauf an, dass der Prozess der Annäherung an den Gegenstand »wissenschaftlich« erfolgt: dass begrifflich auf ihn vorgegriffen wird, ohne ihm Gewalt anzutun. »In ihrer ewigen Unvollständigkeit und Unzulänglichkeit ist die Wissenschaft darauf angewiesen, ihr Heil von neuen Entdeckungen und neuen Auffassungen zu erhoffen. Um nicht leicht getäuscht zu werden, tut sie gut daran, sich mit Skepsis zu wappnen, nichts Neues anzunehmen, das nicht eine strenge Prüfung bestanden hat« (GW XIV, S. 100). Solange sie noch nicht fortgeschritten genug ist, muss sie sich mit, allerdings fundierten, Vorläufigkeiten begnügen und sich davor in Acht nehmen, die noch bestehenden Lücken mit Metaphysik stopfen zu wollen, andererseits darf sie jedoch auch nicht Halt machen, nur weil ihre Ergebnisse noch nicht hundertprozentig gesichert sind. »Es wäre ein Irrtum zu glauben, dass eine Wissenschaft aus lauter streng bewiesenen Lehrsätzen besteht und ein Unrecht, solches zu fordern. Diese Forderung erhebt nur ein autoritätssüchtiges Gemüt, welches das Bedürfnis hat, seinen religiösen Katechismus durch einen anderen, wenn auch wissenschaftlichen, zu ersetzen. Die Wissenschaft hat in ihrem Katechismus nur wenige apodiktische Sätze, sonst Behauptungen, die sie bis zu gewissen Stufengraden von Wahrscheinlichkeit gefördert hat. Es ist geradezu ein Zeichen von wissenschaftlicher Denkungsart, wenn man an diesen Annäherungen an die Gewissheit sein Genüge finden und die konstruktive Arbeit trotz der mangelnden letzten Bekräftigung fortsetzen kann« (GW XI, S. 44 f.). Faktisch beschreibt Freud damit den Vorgang des Begreifens im dialektischen Sinn. Begrifflich und erkenntnislogisch bleibt er jedoch in den überkommenen nomothetischen Kriterien von Wissenschaftlichkeit stecken, wie seine Ausführungen demonstrieren. Freuds heimlicher Kantianismus, der unterstellt, letzte und volle Erkenntnis sei unmöglich und seine Kritik an vorschnellen Harmonisierungen von Begriff und Gegenstand, die nur um den Preis der Ideologisierung ihr Ziel, die allumfassende Theorie erreicht – eine Strukturbesonderheit bürgerlichen Denkens, der auch Freud selbst zum Opfer fiel –, amalgieren sich an dieser Stelle zu einer erkenntnistheoretisch sicher unzulänglichen, erkenntnispraktisch für Freud selbst jedoch sehr hilfreichen Theorie. Ihr Dilemma, die Unvermitteltheit von Subjekt
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und Objekt, zwingt Freud allerdings dazu, eine systematische Schwerpunktverlagerung innerhalb seiner Vorstellungen vorzunehmen, in der sich sein subjektivistischer Objektivismus exemplarisch verdeutlicht. In einer relativ späten Überlegung führt Freud aus, worin für ihn die Garantie wissenschaftlichen Handelns zu sehen ist: Grundlage der Wissenschaft ist die Einstellung des Wissenschaftlers zur Wirklichkeit, welche in »wissenschaftlichem Denken« bestehen muss. Freud resümiert dessen Besonderheiten: »Das wissenschaftliche Denken ist in seinem Wesen nicht verschieden von der normalen Denktätigkeit, die wir alle, Gläubige wie Ungläubige, bei der Besorgung unserer Angelegenheiten im Leben verwenden. Es hat sich nur in einigen Zügen besonders gestaltet, es interessiert sich auch für Dinge, die keinen unmittelbaren, greifbaren Nutzen haben, es bemüht sich, individuelle Faktoren und affektive Beeinflussungen sorgfältig fernzuhalten, prüft die Sinneswahrnehmungen, auf die es seine Schlüsse baut, strenger auf ihre Zuverlässigkeit, schafft sich neue Wahrnehmungen, die mit den Mitteln des Alltags nicht zu erreichen sind, und isoliert die Bedingungen dieser Neuerfahrungen in absichtlich variierten Versuchen. Sein Bestreben ist, eine Übereinstimmung mit der Realität zu erreichen, d. h. mit dem, was außer uns, unabhängig von uns besteht und, wie uns die Erfahrung gelehrt hat, für die Erfüllung und Vereitelung unserer Wünsche maßgebend ist« (GW XV, S. 184). Der Schwerpunkt der Argumentation liegt hier schon deutlich auf der Wissenschaftlichkeit des Vorgehens: auf einer spezifischen praktischen Organisationsform des Denkens, nicht auf einer besonderen Forschungslogik. Freud beschreibt damit kein spezifisches Modell wissenschaftlicher Erkenntnis, sondern ganz allgemein das Programm wissenschaftlichen Handelns, die »Wissenschaftlichkeit«, welche Forscher und Forschung auszeichnen müssen, wenn sie ihr Ziel erreichen wollen. 1884 schrieb Freud an seine Braut: »Du weißt, das Temperament des Forschers braucht zwei Grundeigenschaften: Sanguinisch beim Versuch, kritisch bei der Arbeit« (Freud, 1968, S. 114). Ohne die Erfüllung der »Grundbedingungen der Wissenschaftlichkeit: Kritik und Gründlichkeit« (S. 67) kann keine Einsicht in die Wirklichkeit erreicht werden. Prototyp und Vorbild
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für diesen Begriff von Wissenschaft waren zu dieser Zeit und für Freud die so genannten exakten Naturwissenschaften. Indem er Wissenschaft einerseits auf die objektive Realität, andererseits auf die Wissenschaftlichkeit des Vorgehens des einzelnen Forschers bezieht, meint er die realen Widersprüche zwischen der Psychoanalyse und den nomothetischen Wissenschaften versöhnen zu können. Solange die Psychoanalytiker – zunächst Freud selbst – sich »wissenschaftlich« verhalten, und dessen ist Freud sich sicher: »Wir Psychoanalytiker sind im Grunde genommen unverbesserliche Mechanisten und Materialisten« (GW XVII, S. 29), ist die Psychoanalyse nicht nur als »Wissenschaft« zu betrachten, sie ist darüber hinaus die Fortsetzung von Wissenschaft auf den Gebieten, die bis dato von ihr sträflich vernachlässigt wurden (GW II/III, S. 45; XV, S. 104 u. a.). Der Prozess der »Versöhnung« von nomothetischen Wissenschaften und den »Besonderheiten« der Psychoanalyse in Freuds Konzept lässt sich exemplarisch am Wandel seiner Einschätzung des Experimentes demonstrieren. Er hält daran fest, dass experimentelles Vorgehen Kennzeichen wissenschaftlichen Verfahrens sei (vgl. GW XV, S. 184), konstatiert zugleich jedoch: »Die Hilfe, die das Experiment der Forschung leistet, muss man in der Analyse entbehren« (S. 188). Da sich experimentelles Vorgehen in der Psychologie eher als Hemmschuh erwies: »Die … experimentelle Psychologie (ist nicht) imstande, … über die Beziehungen zwischen Körperlichem und Seelischem etwas Brauchbares zu sagen« (GW XI, S. 13), stellt sich die Psychoanalyse als konsequente Strategie der Verwissenschaftlichung der Psychologie dar. »Während man in der Bewusstseinspsychologie nie über jene lückenhaften, offenbar von woandersher abhängigen Reihen hinauskam, hat die andere Auffassung, das Psychologische sei an sich unbewusst, gestattet, die Psychologie zu einer Naturwissenschaft wie jede andere auszugestalten« (GW XVII, S. 80). So kann er schließlich resümieren: »Wir haben die technischen Mittel gefunden, um die Lücken unserer Bewusstseinsphänomene auszufüllen, deren wir uns bedienen wie die Physiker des Experiments« (GW XVII, S. 126 f.). Der Preis für diese erzwungene Harmonie verdeutlicht sich im nächsten Zitat, auf dessen inhaltliche Konsequenzen noch weiter unten eingegangen wird.
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»Die Aufgabe (besteht) darin, hinter den unseren Wahrnehmungen direkt gegebenen Eigenschaften (Qualitäten) des Forschungsobjektes anderes aufzudecken, was von der besonderen Aufnahmefähigkeit unserer Sinnesorgane unabhängiger und dem vermuteten realen Sachverhalt besser angenähert ist. Diesen selbst hoffen wir nicht erreichen zu können, denn wir sehen, dass wir alles, was wir neu erschlossen haben, doch wieder in die Sprache unserer Wahrnehmungen übersetzen müssen, von der wir uns nun einmal nicht frei machen können. Aber dies ist eben die Natur und Begrenztheit unserer Wissenschaft. … Das Reale wird immer ›unerkennbar‹ bleiben. Der Gewinn, den unsere wissenschaftliche Arbeit an unseren primären Sinneswahrnehmungen zu Tage fördert, wird in der Einsicht in Zusammenhänge und Abhängigkeiten bestehen, die in der Außenwelt bestehen, in der Innenwelt unseres Denkens irgendwie zuverlässig reproduziert oder gespiegelt werden können, und deren Erkenntnis uns befähigt, etwas in der Außenwelt zu ›verstehen‹, es vorauszusehen und möglicherweise abzuändern. Ganz ähnlich verfahren wir in der Psychoanalyse« (GW XVII, S. 126 f.). Damit schien für Freud das Problem geklärt: die Psychoanalyse als wissenschaftlich ausgewiesen, weil sie sich der Methoden bedient, die denen der Naturwissenschaften entsprechen. Er sah nicht, dass seine Argumentation zirkulär war, dass er Wissenschaftlichkeit nach den Kriterien bestimmte, die er vorher aus der psychoanalytischen Forschung, wie sie sich quasi naturwüchsig herauskristallisierte, herausdestillierte. Da er deshalb das Scheinhafte dieser Versöhnung übersah, entwickelte er später die Kränkungstheorie (vgl. 7.3.), die zwar realistisch war, aber gerade die Besonderheiten, die sich durch eine spezifische wissenschaftstheoretische Struktur hindurch vermittelten, außer Acht ließ, wälzte also alle Widerstände auf den Inhalt seiner Forschung ab, wodurch seine eigene Wahrnehmung gegen Kritik regelrecht abgedichtet war. Weitaus folgenreicher ist jedoch, dass sich darin die Tendenz fortsetzt, gesellschaftlich bedingte Ablehnung, also interessenbedingte und/oder ideologische Formen der Auseinandersetzung mit seinen Befunden, mehr und mehr als »Widerstand« bestimmter Personen zu betrachten. Die Konsequenz ist eine weitreichende Personalisierung von gesellschaftlichen Widersprüchen;
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eine Wahrnehmungsweise, die als Pendant zur Tendenz der Ontologisierung bestimmter Strukturen angesehen werden muss. Deutlich wird die Personalisierungstendenz in einem Brief an Jung aus dem Jahre 1907, wo Freud schreibt: »Meine Neigung geht dahin, die im Widerstand befindlichen Kollegen nicht anders zu behandeln als die in der gleichen Lage befindlichen Kranken« (Freud u. Jung, 1974, S. 19). Über die Strukturähnlichkeiten neurotischen »Widerstands« und gesellschaftlicher Ideologien übersieht Freud qua Personalisierung deren spezifische Differenz und kommt zu einem Modell, in dem diese wie jener eingeschätzt werden. Folgerichtig schließt Freud dann, dass auch dem gesellschaftlichen »Widerstand« dasselbe Schicksal bevorstünde wie dem Neurotiker: Er werde irgendwann gebrochen. Mit diesem Konzept ist die Psychoanalyse nicht nur gegen Kritik abgeriegelt; sie ist nicht mehr imstande, ihre gesellschaftliche Situation zu realisieren.
2.3. Gesellschaftstheoretische Konsequenzen Die systematische Verzerrung des Gegenstandes der Psychoanalyse und die erkenntnistheoretischen Widersprüche, durch die jene sich vermittelt, sowie die gesellschaftstheoretischen Konsequenzen von Freuds wissenschaftstheoretischen Reflexionen sind als dialektische Einheit zu begreifen. Das Missverständnis des Gegenstandes (ebenso wie die Möglichkeit, den Anspruch der Aufklärung, wie er sich in den Naturwissenschaften sedimentierte, in die Psychologie hinein zu radikalisieren) ist die Konsequenz einer spezifischen sozialen Wahrnehmung, deren Strukturtypus hier, deren sozialer Ort im 4. Kapitel beschrieben werden soll. Die vulgärmaterialistische Interpretation von Realität, von der Freud ausgeht, hat vor allem folgende Implikate: a) sie unterstellte eine einheitliche Realität, nicht nur im Sinne von Kohärenz, sondern im Sinne von qualitativer Einheitlichkeit. Durch die zusätzliche Qualifizierung von Realität – sie existiere »außerhalb« und »unabhängig von uns« – gewinnt sie, als nicht produzierte, sondern a priori existierende weitgehende Überein-
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stimmung mit dem Begriff der Natur, äußerer und innerer. Dadurch bleibt im Realitätsbegriff kein Platz für gesellschaftliche Sachverhalte. Wo sie dennoch von Freud analysiert werden, erhalten sie dadurch einen seltsamen schimärenhaften Charakter. Sie erscheinen teils als zweite Natur im Sinne von Natur (etwa im Sinne phylogenetischen Niederschlags), teils als Produkt rationaler Übereinkunft, als Konvention und als solche immateriell. Freud, der wie kein zweiter dafür sorgte, dass die Wirklichkeit psychischer Faktoren ins Bewusstsein gelangte, verlor auf der anderen Seite die soziale Realität aus dem Blick. b) Dem entspricht auf der Seite des zu erkennenden Objektes die implizite Koppelung von Realität und Objektivität. Die Existenz allein der Dinge, dadurch, dass sie mit der Dignität von abstrakter Unabhängigkeit versehen sind, verleiht ihnen quasi einen Objektivitätsvorsprung. Dies bedeutete, dass Freud die Identität von Wirklichkeit und Objektivität im Realitätsbegriff und dessen Pendant, die Identität von Subjekt und Subjektivität auch für den ganz anders gelagerten Erkenntnisgegenstand voraussetzte. War dies für die »Natur« noch gerechtfertigt und ohne unmittelbare Konsequenzen, so hatte dies für die sozialen Sachverhalte, mit denen die Psychoanalyse sich auseinandersetzte, die Folge, dass gegenüber der Macht ihrer Faktizität der Aspekt ihres Produziertseins und damit ihrer Veränderbarkeit weitgehend zurücktrat. Dadurch, dass die soziale Wirklichkeit in ihrer Gleichsetzung mit der »Natur« den Schein der Objektivität bekam, wurde sie entpolitisiert, nicht mehr als Ergebnis der – reflektierten oder unreflektierten – Auseinandersetzung von Individuen und Klassen aufgefasst, mehr noch: in Bezug auf die soziale Wirklichkeit implizierte Objektivität immer auch Angemessenheit, womit tendenziell die Möglichkeiten politischer Reflexion reduziert wurden. c) Das gilt auch für die Möglichkeiten gesellschaftlicher Praxis, die systematisch nicht mehr reflektiert werden können, nachdem der erkenntnistheoretische Reduktionismus den Gegenstand in gewisser Weise »verdinglichte«, indem er die Spezifizität der Beziehungen zwischen Subjekt und Objekt verzerrte. In engem Zusammenhang mit diesen bisher angeführten An-
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nahmen und Implikationen in Bezug auf die soziale Wirklichkeit stehen die begrifflichen Konsequenzen des Einheitsbegriffes »Realität«. Sie bestehen darin, dass Freud die in den Naturwissenschaften seiner Zeit relativ unproblematisch linearen und einfachen Beziehungen zwischen Subjekt und Objekt, Forscher und Forschungsgegenstand sowie Begriff und Gegenstand auch auf die Erkenntnisvorgänge sozialer Sachverhalte überträgt. Dies führt einerseits dazu, dass Freud die ganze Problematik von Erkenntnis und Interesse nicht realisiert und davon ausgeht, die Forschung sei »objektiv«, unabhängig von den Interessen des Forschers, wenn dieser nur »wissenschaftlich« vorgehe, und dass er an der Illusion einer »wertfreien« Forschung festhält. Andererseits wird jedoch der Forschungsprozess insgesamt entproblematisiert und seine Komplexität auf einfache Beziehungen reduziert. Ihm selbst erscheint deshalb seine Begriffsbildung als unkompliziert und selbstverständlich, während sich tatsächlich von ihm unerkannt oder nicht so interpretiert spezifische gesellschaftstheoretische Elemente in den Begriffen durchsetzen und so das analysierte Material strukturieren. Einzelne Begriffe oder Begriffssysteme sind so unmittelbar der sozialen Anschauung entnommen, ohne dass ihr gesellschaftlicher Gehalt von Freud reflektiert würde. Gleichzeitig erscheint die Anwendung der aus klinischer Erfahrung gewonnenen Begriffe auf makrosoziologische Tatbestände und umgekehrt die Verwendung von Begriffen, die einen spezifischen sozialen Inhalt haben, auf klinische Sachverhalte als weit weniger problematisch, als sie in Wirklichkeit sind. d) Insofern Realität an sich »unerkennbar« bleibt, schleicht sich, neben der Unterstellung, die Wirklichkeit an sich sei letztlich theoretisch nie einzuholen, noch ein zusätzliches Moment von Distanz zwischen Subjekt und Objekt ein, erst recht zwischen Handelndem und Gegenstand. e) Die inhaltliche Reduktion von Realität auf Individuum und Natur – selbst Ausdruck gleichzeitig subjektivistischen und objektivistischen Denkens – führt zur Koinzidenz von Subjektivismus und Objektivismus, wobei beides identisch ist: Das Individuum erscheint als Naturwesen und Natur als die des Individuums. Soziales Geschehen wird so einerseits personalisiert,
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andererseits tendiert Freud dazu, gegen seine eigene Einsicht zum kausallogischen Regress, was sich dann im Schwanken zwischen psychologischer Dialektik und »naturwissenschaftlicher« Fundierung ausdrückt. Neben der gewonnenen Einsicht in die Unanwendbarkeit naturwissenschaftlicher Methoden hält sich trotz allem die Tendenz, an ihrem Vorbild auch in Bezug auf die Psychoanalyse selbst festzuhalten: »Die medulla oblongata ist ein sehr ernsthaftes und schönes Objekt. … Aber heute muß ich sagen, ich weiß nichts, was mir für das psychologische Verständnis der Angst gleichgültiger sein könnte als die Kenntnis der Nervenstränge, auf denen ihre Erregungen ablaufen« (GW XI, S. 408). »Das Lehrgebäude der Psychoanalyse, das wir geschaffen haben, ist in Wirklichkeit ein Überbau, der irgendeinmal auf sein organisches Fundament aufgesetzt werden soll« (S. 403). »Der ideale Fall, nach dem sich der Mediziner wahrscheinlich noch heute sehnt, wäre der Bazillus, der sich isolieren und reinzüchten läßt, und dessen Impfung bei jedem Individuum die nämliche Affektion hervorruft. Oder etwas weniger plastisch: die Darstellung von chemischen Stoffen, deren Verabreichung bestimmte Neurosen produziert und aufhebt. Aber die Wahrscheinlichkeit spricht nicht für solche Lösungen des Problems« (GW XIV, S. 184). »Bei dem innigen Zusammenhang zwischen den Dingen, die wir als körperlich und seelisch scheiden, darf man vorhersehen, dass der Tag kommen wird, an dem sich Wege der Erkenntnis und hoffentlich auch der Beeinflussung von der Biologie der Organe und der Chemie zu dem Erforschungsgebiet der Neurose eröffnen werden« (S. 264). Der Strukturierung der Wirklichkeit mit Hilfe des Einheitsbegriffs »Realität« entsprechen spezifische inhaltliche Bestimmungen von »Wissenschaft«: Dem Einheitsbegriff »Realität« entspricht der Einheitsbegriff »Wissenschaft«. Er enthält gesellschaftstheoretische Aspekte, die hier vorweggenommen zum Ausdruck kommen oder aber an anderer Stelle explizierte Überlegungen bestätigen. Als wichtigste sind vor allem zwei neue zu nennen: Einmal konstituiert der Einheitsbegriff »Wissenschaft« ein einheitliches erkennendes Subjekt; die Handlungen des Forschers vertreten die der ganzen Gattung und ihre Interessen. Die Wissenschaft
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zielt auf das, was »wir wollen« (GW XI, S. 97), und geht damit von einer einheitlichen Assoziation von Individuen aus, die demokratisch strukturiert ist. Zum anderen gehört zu »der« Wissenschaft »die« Gesellschaft. Auch ohne dass dies explizit formuliert wird, gehört zu den Voraussetzungen einer rationalen, objektiven Wissenschaft ein diesen Ansprüchen genügender Wirkungszusammenhang, auf den sich ihre Ergebnisse beziehen und aus dem heraus sie sich reproduzieren kann, worin bereits angelegt ist, dass Freud »Gesellschaft« nur als das Prinzip rationaler Organisation des interindividuellen Verkehrs verstand. Dazu passt, dass die Gesellschaft als eigentliches Forschungsobjekt nicht vorgesehen ist. Freuds spätere Einteilung der Wissenschaften, darum bemüht, der Psychoanalyse einen bedeutsamen Platz einzuräumen und am Vorbild der Naturwissenschaften festzuhalten, sieht Sozialwissenschaften zunächst überhaupt nicht vor. »Streng genommen gibt es ja nur zwei Wissenschaften, Psychologie, reine und angewandte, und Naturkunde« (GW XV, S. 194). Die Soziologie fungiert als Hilfswissenschaft der Psychologie, als Bestandsaufnahme des bestehenden (vgl. GW V, S. 121, Fußn. 1). In dieser Einteilung vollzieht sich, was sich in den methodischen Besonderheiten bereits andeutete: Forschungsobjekt ist, bei aller psychologischen Sensibilisierung, nur der Kosmos der Erscheinungen. Die Ausschaltung metatheoretischer Prinzipien makrosoziologischer Herkunft aus der Reflexion findet jedoch nur deshalb statt, weil Freud bereits voraussetzt, dass Gesellschaft kein eigenständiger Entwicklungsprozess ist, sondern eine an sich neutrale Form sei. Ebenso wie der Gegenstand der Wissenschaft als unpolitischer erscheint, stellt sich auch das Handeln des Wissenschaftlers als unpolitisch und, solange er sich an den Kriterien wissenschaftlicher Redlichkeit orientiert, insgesamt unproblematisch dar. Seine Exkurse in politische Bereiche unternimmt Freud deshalb auch als »Privatmann«, selbst wenn er ihnen indirekt objektive Angemessenheit zumisst. Die Annahme der »Neutralität« von Gegenstand, Forschung und Bezugsrahmen, das heißt Gesellschaft, ist in ihren Konsequenzen leicht anzusehen; für Wissenschaftslogik und Gegenstandsverständnis haben Habermas und Lorenzer dies vorgeführt. Die denkstrukturelle Besonderheit ist gesellschaftstheoretisch gleich-
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zeitig auch als inhaltliche zu begreifen: was sich als Folgeerscheinung durchsetzt, eine Tendenz zu naivem »Optimismus«, der später sein pendant im »Pessimismus«, der das begreift, was dem Optimismus an Wirklichkeit unzugänglich ist, weil er seine eigene Basis nicht zu reflektieren imstande ist, ist gleichzeitig bereits die Ursache der spezifischen Denkstruktur. Der Optimismus selbst ist wiederum letztlich wohl auf die vergleichsweise – das heißt für seine eigene Wahrnehmung – »heile« Welt des Bildungsbürgers, seinen für ihn widerspruchsfreien Mikrokosmos zurückzuführen, der Pessimismus auf dessen Kollision mit allgemeineren gesellschaftlichen Strukturen. Der »heile« Mikrokosmos wiederum erscheint – und das ist der Grund für die fehlende Problematisierung gesellschaftlicher Sachverhalte – als individualisierter zwischen den Polen Individuum und Natur als traditionell unproblematisch (vgl. Kap. 4). In diesen Problembereich gehört auch die Ausgrenzung von Metaphysik aus der Wissenschaft. An dieser Stelle folgt Freud dem logischen Positivismus, der das Kind mit dem Bade ausschüttet, indem er als Gegensatz zur Wissenschaft den Begriff »Spekulation« verwendet und darunter im Prinzip nur unsolides, nicht reflektiertes Denken begreifen will, in der Tat jedoch gleichzeitig metatheoretische Reflexion makrosoziologischer Strukturen – Strukturen, deren Realität ohnehin für ihn nicht erfassbar ist – verhindert (GW X, S. 142; XIV, S. 123; XIV, S. 84). Zu den inhaltlich und denkstrukturell vermittelten wissenschaftspraktischen Folgen von Freuds Vorstellungen wäre in diesem Zusammenhang vor allem zu nennen: zum einen die zunehmende Versteinerung der Methode (vgl. GW XVI, S. 403) und ihre Verselbständigung gegenüber dem Gegenstand, was schließlich Freuds Parforceritte durch die Weltgeschichte ermöglichte, bei denen er die einmal kodifizierte Psychoanalyse als Passepartout benutzte. Zum anderen ein zum Teil unkontrollierbarer Voluntarismus in der Verteilung des Attributs »wissenschaftlich«; die Konsequenz der Bindung der Wissenschaftlichkeit an die Redlichkeit des einzelnen Forschers. Ex post lässt sich sagen, dass Freud glücklicherweise alle seine Methoden, sogar das vorübergehend abgewandte »Handauflegen« (vgl. GW I, S. 243), als »wissenschaftlich« betrachtete, die Kehrseite ist jedoch eine
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gewisse Hermetik des Systems von Denken und Handeln in der Psychoanalyse. Es sind nicht die von Freud extrapolierten wissenschaftstheoretischen Vorstellungen, die Freuds Erkenntnisse in spezifischer Weise verzerren und seine Erkenntnisfähigkeiten einschränken, sondern die in ihnen liegenden gesellschaftstheoretischen Positionen. Diese wiederum haben ihren letzten Grund in der Widersprüchlichkeit der Gesellschaft selbst. Die Schwierigkeiten des Festhaltens am Prinzip der Aufklärung in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft Wiens um die Jahrhundertwende, in einer Gesellschaft, in der das Selbstverständnis des Bürgertums nicht mehr an aufklärerischen Zielen orientiert war, in der die politisch und ökonomisch herrschenden Klassen und Schichten kein Interesse am Fortschritt der Kritik – wie zum Beispiel der Psychoanalyse – hatten, weil sie die Grundlagen ihrer Herrschaft gefährdete, suchte Freud durch weitreichende Identifizierung von Aufklärung und Naturwissenschaft zu überwinden. Zwar konnte er so das aufklärerische Erkenntnisziel in die Psychologie fortsetzen und so die Möglichkeiten aufklärerischer Praxis bedeutend erweitern, verfiel aber dadurch nahezu wieder in die Fehler der »spekulativen« Theorie, gerade dadurch, dass er an der falschen Gegenüberstellung »Wissenschaft« und »Spekulation« festhielt, die eigentlich »Empirie« und »Metaphysik« meinte, aber so auch die kritische Reflexion behinderte. Als Spätaufklärer schwamm Freud gegen den Strom seiner Zeit und seiner Klasse, des Bürgertums. Der Gegensatz zwischen aufklärerischem Anspruch und gesellschaftlicher Wirklichkeit ließ dann sein Wissenschaftskonzept, nicht zuletzt dadurch, dass es keine Alternativen zuließ, zumindest teilweise zur »Gegenaufklärung« werden, weil die im Wissenschaftsbegriff angelegten gesellschaftstheoretischen Vorstellungen Freud zur Verlagerung der Realantinomien in die Anthropologie zwangen. Auf eine Konsequenz von Freuds Vorgehen und dessen inneren Widersprüchen soll noch hingewiesen werden. Er selbst hat nie für die Erklärung der allgemeinen Ablehnung, die seine Arbeit erfuhr, erkenntnistheoretische Gründe angeführt, was auch insofern berechtigt war, als es letzten Endes immer die Inhalte seiner Forschung waren, die auf erbitterten Widerstand stießen. Dennoch hat Freud sich faktisch mit seinem expliziten wissenschafts-
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theoretischen Selbstverständnis methodisch gewissermaßen zwischen zwei Stühle gesetzt und damit den formalen Anlass zur Kritik selbst geliefert. Es ist deshalb nicht weiter verwunderlich, dass die Naturwissenschaftler auf der einen, die dogmatischen Sozialwissenschaftler sowohl positivistischer als auch marxistischer Provenienz auf der anderen Seite bald das Haar in der (psychoanalytischen) Suppe fanden und erleichtert zur Tagesordnung übergingen. Darin ist auch die Grundlage dafür zu sehen, dass mit den Argumenten verschiedenster Art voluntaristisch Elemente aus Freuds Theorie regelrecht heraus gebrochen und in andere Zusammenhänge gestellt werden, was in den meisten Fällen nicht nur zur Verfälschung von Freuds eigenen Aussagen, sondern auch zur Einschränkung der Möglichkeit der Weiterentwicklung von Freuds Theorie geführt hat.
3. Therapie und Patient
3.1. Freuds Einstellung zur Therapie Die in Freuds Theorie der Wissenschaft in vermittelter Form zum Ausdruck gekommenen Annahmen über einige grundlegende Strukturelemente des Sozialen sind allgemein und abstrakt gefasst, weil sie im Rahmen eines abstrakten Reflexionszusammenhangs dargestellt wurden. Die konkrete Tätigkeit, auf die sich die allgemeinen Reflexionen bezogen, durch die sie erst erforderlich wurden, war seit dem Beginn von Freuds Beschäftigung mit Neurosen die Therapie. Neurosentherapie ist aber auch dann, wenn sie sich nur auf ein einzelnes Individuum bezieht, gesellschaftlich-praktische Tätigkeit, weil sie nichts mit dem Individuum »an sich« zu tun hat, sondern mit »konkreten« Individuen, deren Individualität und deren Krankheit auf eine bestimmte Gesellschaft bezogen ist. Selbst wenn, wie bei Freud, dieser Sachverhalt nicht systematisch problematisiert wird, stellen sich doch zumindest unmittelbar praktische Probleme, die mittelbar zu einem theoretischen Begriff führen müssen: zumindest Zielvorstellung, soziale Voraussetzung und sozialer Stellenwert der Therapie müssen bestimmt werden. Dies hat Freud getan und seine Ausführungen über die Theorie und Praxis der Therapie sowie deren Integration in weitere soziale Zusammenhänge führen wegen ihrer soziologischen Reichweite über die praktischen Bedürfnisse hinaus. Die Erfordernisse der Therapie sind von gesellschaftstheoretischen Vorstellungen nicht zu trennen, bringen diese zum großen Teil erst zur Verbalisierung, weil die Therapie selbst als gesellschaftliche Praxis eine umfassende theoretische Reflexion erforderlich macht. Die Theorie der Therapie ist deshalb gleichzeitig auch Gesellschaftstheorie oder zumindest eine Vorstudie, in der vorausgehende gesellschaftstheoretische Elemente dargestellt und weiterentwickelt werden.
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Freuds Einstellung zur Therapie wird jedoch zusätzlich durch einen aktuellen Anlass relevant. In jüngster Zeit gab es von einigen der weniger dogmatischen Positionen innerhalb der Linken einige Ansätze zu einer prinzipiellen Kritik beziehungsweise »Neubegründung« der Psychoanalyse. Die verzerrten Strukturen dieser Kritik, vor allem der im Kursbuch veröffentlichten Aufsätze und des eng daran anschließenden Buches von Michael Schneider, sind im Anti-Kursbuch (Dahmer et al., 1973) kritisiert worden. Aber selbst wenn die Kritik an der Psychoanalyse in dieser Form nicht ernst zu nehmen ist, weil sie durch Schwarzmalerei eine kaum zu differenzierende Amalgamierung von Kritik im Sinne von Aufhebung und Kritik als Produkt einer Berührungsphobie enthält, sind dort einige ernst zu nehmende Punkte vorgebracht worden, von denen in diesem Zusammenhang vor allem die Beschreibung der psychoanalytischen Therapie als »Gewaltsituation« von Interesse ist (Kursbuch, 1972; Schneider, 1973). Freuds Vorstellungen zu diesem Themenkomplex können dabei als exemplarische Möglichkeit zur Überprüfung dieses Vorwurfes dienen. Zunächst soll noch auf zwei strukturelle Aspekte hingewiesen werden, die als Konkretisierung der allgemeinen Theorie- und Praxisperspektiven Freuds, wie sie anhand seines Wissenschaftsverständnisses skizziert wurden, angesehen werden können. Der erste Punkt betrifft die ausgeprägte Prävalenz der Theorie vor der Therapie, die bei Freud gerade nicht in dem Sinne vermittelt werden können, den Habermas als die Einheit von Erkenntnis und Interesse in der Selbstreflexion bezeichnet hat. Je stärker Freud zu der Überzeugung kam, die Psychoanalyse sei weit mehr als eine Psychotherapie, desto mehr neigte sich sein Interesse der Theoriebildung zu; Individualtherapie war für ihn mehr und mehr nur noch von instrumenteller Relevanz. Andererseits war Theoriebildung ohne therapeutische Praxis ausgeschlossen. Da er zwar davon ausging, dass in der Psychoanalyse ein »Junktim zwischen Heilen und Forschen« (GW XIV, S. 293) bestehe, andererseits »Heilen« und »Forschen« deshalb nicht zusammen bringen konnte, weil er bei der Identität und im Praxisbegriff auf Grund seiner radikalen Trennung zwischen Subjekt und Objekt (s. o.) nicht realisieren konnte, erschien ihm dieses Junktim eher problematisch. Er empfahl daher dringend, streng
Zur Frage der Ätiologie
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zwischen Theorie und Praxis, Denken und Handeln zu trennen (GW VIII, S. 380). Darin ist bereits eine weitgehende Objektivierung des Patienten ebenso wie eine Verdinglichung des Theoriemodells und der Therapievorschläge angelegt. Der andere Punkt betrifft die oben beschriebene Tendenz zum kausallogischen Reduktionismus, der sich teils über das Missverständnis des Gegenstands, teils über objektivistische Denkstrukturen vermittelt. Diese im Ansatz bereits latenten Besonderheiten werden virulent, wenn Freud theoretisch sozusagen in die Sackgasse gerät. Sobald er mit den psychologischen Mitteln, die ihm zur Verfügung stehen, nicht imstande ist, die psychologischen Sachverhalte aufzuklären, greift er auf biologische Daten zurück. Die bekannte Vorstellung von der »Ergänzungsreihe« zwischen psychischen und biologischen Faktoren gewinnt unter solchen Umständen spezifische Funktionen: Sie dient zur Ex-post-Erklärung theoretisch noch nicht aufgelöster Probleme, verdeckte also eher Fragen als sie zu klären.
3.2. Zur Frage der Ätiologie Die psychoanalytische Therapie wurde erst möglich, als Freud eine genetische Methode in der Analyse zu verwenden begann und gleichzeitig die starre Unterscheidung zwischen Krankheit und Gesundheit dadurch überwand, dass er beide als nicht grundsätzlich geschieden betrachtete. Erst auf dem Hintergrund der Einsicht, dass »Krankheit« zunächst nicht definitiv, sondern nur als »praktischer Summationsbegriff« (GW VII, S. 377) aufzufassen sei, wurde die entwicklungsgeschichtliche Methode zum Zugang zur Analyse der »akzidentellen« Faktoren. »Der Anlaß zur Erkrankung ergibt sich für die hysterisch disponierte Person, wenn infolge der fortschreitenden eigenen Reife oder äußerer Lebensverhältnisse die reale Sexualanforderung ernsthaft an sie herantritt. Zwischen dem Drängen des Triebes und dem Widerstreben der Sexualablehnung stellt sich dann der Ausweg der Krankheit her, der den Konflikt nicht löst, sondern ihm durch die Verwandlung der libidinösen Bestrebungen in Symptome zu entgehen sucht«
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(GW V, S. 64). Die Krankheit hat also wesentlich Konfliktlösungscharakter, ohne dass dies einer bewussten Handlung entspringen muss. Der Konflikt selbst ist unvermeidlich, sein Ausgang in die Krankheit jedoch hängt von der Konstellation der endogenen und exogenen Faktoren ab. Als für die Therapie allein bedeutsame Elemente nimmt Freud jene »Lebenseindrücke« an. Diese sind gleichzeitig individuelles und soziales »Schicksal«, wobei letzteres kein spezifischer Faktor, sondern mehr oder weniger zufällige Hintergrundsbedingung ist, die dann ätiologisch allgemein, etwa als »Versagung«, relevant wird. »Das Individuum war gesund, solange seine Liebesfähigkeit durch ein reales Objekt der Außenwelt befriedigt wurde; es wird neurotisch, sobald ihm dieses Objekt entzogen wird, ohne daß sich ein Ersatz dafür findet« (GW VIII, S. 322 f.). Indirekt macht Freud dabei eine scharfe Unterscheidung zwischen dem konkreten Erleben und der »Außenwelt«, die selbst nicht unmittelbar wirksam werden kann, denn auf ihre Reize gibt es verschiedene Reaktionsmöglichkeiten, von denen nur der neurotisch disponierte die Krankheit wählt, während, wie noch ausgeführt wird, die Entstehung der Disposition für Freud selbst quasi im gesellschaftlichen Freiraum sich vollzieht. Deshalb kann Gesellschaftliches für ihn nie selbst pathogen wirksam sein, »Unglück«, das heißt gesellschaftliches Schicksal, und Neurose sind nicht identisch. Eine solche Identität würde jede Psychotherapie ad absurdum führen. Von daher ist Freuds Hinweis darauf, dass, wäre die Zivilisation an sich krankmachend, eigentlich alle Menschen krank sein müssten (»Übrigens erklärt dieses Moment in seiner Allgemeingültigkeit für die Mitglieder derselben Gesellschaft niemals die Tatsache der Auswahl bei der Erkrankung. Der nicht neurasthenische Arzt steht ja unter demselben Einflusse der angeblich unheilvollen Zivilisation wie der neurasthenische Kranke, den er behandeln soll.« – GW I, S. 501), gerechtfertigt. Die berechtigte Kritik am oberflächlichen Kulturpessimismus ist bei Freud mit einer strikten Trennung zwischen Gesellschaft und Krankheit verbunden, zumindest was die allgemeinen zivilisatorischen Voraussetzungen der sozialen Existenz, die für alle gleich sein sollen, betrifft. Dies führt zur schon in der Allgemeinheit des Begriffes »Versagung« angelegten Reduktion des komplexen gesellschaft-
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lichen Ganzen auf einen zunächst unbestimmten, aber einheitlichen Wirkungszusammenhang. Dabei unterscheidet Freud indirekt zwischen »Zivilisation« an sich und ihrer sozialen Organisationsform, der »Gesellschaft« (vgl. GW I, S. 501). Beide sind konstitutives Element neurotischer Erkrankung, wobei allerdings dafür nicht die Form, sondern der Inhalt verantwortlich ist. Sie sind jedoch kein spezifischer ätiologischer Faktor. Dass das Individuum in einer gesellschaftlich organisierten Zivilisation lebt, ist für Freud eine notwendige, aber keine hinreichende Bestimmung seines Krankseins. Die Notwendigkeit der Integration in den sozialen Zusammenhang, die stets »Versagung« impliziert, ist der allgemeine Hintergrund der neurotischen Erkrankung, innerhalb dessen dann das Moment des Zusätzlichen über den Ausgang des Konfliktes entscheidet. Das Individuum erkrankt nicht an der Gesellschaft, sondern an sich selbst, genauer: an seiner mangelnden Anpassungsfähigkeit an den gesellschaftlichen Reproduktionsprozess. Diese mangelnde Anpassungsfähigkeit ist für Freud selbst zwar, falls nicht konstitutionell bedingt, im Verlauf eines sozialen Schicksals entstanden, steht jedoch selbst zu den allgemeinen Grundstrukturen der gesellschaftlichen Organisation in keiner systematischen Beziehung: weder die spezifischen Besonderheiten des Vergesellschaftungsprozesses der bürgerlichen Gesellschaft noch das, was sich ihm als »zufälliges« ätiologisches Moment darstellte, wird von ihm in diesem Kontext als eigenständiger Wirkungszusammenhang mitreflektiert – in seinen allgemeinen Erörterungen fällt Freud immer wieder hinter das von ihm konkret erreichte Niveau zurück, was auch auf seine konkreten Einsichten abfärbt. Der Einheitsbegriff »Gesellschaft« und seine Bestimmung als Organisationsform eines Vorausgehenden, der »Zivilisation«, führen dazu, dass spezifische, genuin soziale Bedingungen nicht als ätiologisch relevant betrachtet werden und Besonderheiten und Gegensätze innerhalb der Gesellschaft selbst unberücksichtigt bleiben. Das Individuum wird zwar als gesellschaftliches, jedoch nicht als vergesellschaftetes Wesen begriffen. »Ich glaube zwar an äußeren (realen) Zufall, aber nicht an innere (psychische) Zufälligkeit« (GW IV, S. 186). Dadurch, dass die soziale Erscheinungswelt an sich als Kosmos von Zufällen aufgefasst wird, wird Freuds eigene Einsicht, dass das Individuum, welches er der Gesellschaft gegen-
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überstellt, historisch begriffen werden muss, weil es selbst eine Geschichte hat, welche sich als »Libidoschicksal« niederschlägt, entscheidend eingeschränkt. Das Libidoschicksal des Einzelnen wird von Freud als sein a priori privates aufgefasst. Demgegenüber hat die Gesellschaft im Allgemeinen insofern »Recht«, als ihre Ansprüche objektiv begründet sind und im Einzelnen nicht als pathogen wirksamer Faktor bezeichnet werden können. Auch da, wo Freud von dieser Einschätzung des gesellschaftlichen Ganzen abweicht und »Gesellschaftskritik« praktiziert (vgl. »die kulturelle Sexualmoral …«, GW VII), bezieht sich seine Argumentation auf spezifische soziale Zustände, ohne deren systematischen gesellschaftlichen Stellenwert zu ermitteln. Dem normativen Fehlverhalten eines hypostasierten Subjekts stellt er ein Sollen gegenüber (s. u.), ohne zu versuchen, die spezifischen sozialen Gründe der viktorianischen Sexualmoral zu ermitteln und ihren sozialen Ort zu bestimmen. Der Begriff der psychischen »Krankheit« und damit auch der psychischen Normalität ist nicht unmittelbar bestimmbar. Freud selbst hat (z. B. GW IV, S. 288) ihre historische Bedingtheit festgestellt und versucht, deren Grundlagen zu erfassen. Weil es ihm dabei nicht gelang, gesellschaftlich vermittelte Bestimmungselemente mitzureflektieren, verwechselte er dabei an bestimmten Stellen spezifische Normen der bürgerlichen Gesellschaft seiner Zeit sowie deren Organisationsstrukturen und Rollenverteilungen mit allgemeinen und unumgänglichen Erfordernissen jeder sozialen Existenz, was sich in Bezug auf mikrosoziale Zusammenhänge am Beispiel der Familie (s. u.) verdeutlicht. Die Rekonstruktion der sozialen Wirklichkeit auf eine dem frühen Naturrecht ähnliche Weise führt so dazu, dass in der Theorie bestimmte Elemente der bürgerlichen Gesellschaft die Qualität einer unausweichlichen zweiten Natur gewinnen, an denen sich die Psychotherapie in ihrer Zielsetzung unmittelbar orientieren kann und muss. Weil der im Kontext der Neurosenätiologie verwendete Gesellschaftsbegriff eine Interessendifferenz zwischen Einzelnem und Allgemeinem nicht vorsieht, andererseits klinische Begriffe nicht ausreichende Bestimmungen abgaben, ging Freud zunächst von einem funktional ausgerichteten Normalitätsbegriff aus und beschrieb das Ziel der psychoanalytischen Therapie als Versuch,
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die »Existenzfähigkeit« des Kranken wiederherzustellen (GW V, S. 20). Die Fähigkeit des Ich zur Realitätsprüfung (GW XIII, S. 363) soll wieder hergestellt werden. In dieser Vorstellung von »Realitätstüchtigkeit« fallen für Freud die Interessen von Individuum und Gesellschaft zusammen, denn der einzige Maßstab für den Heilerfolg ist für beide ein Fortschritt in der Fähigkeit, mit der vorgegebenen Realität zurechtzukommen. »Für die Genesung ist es nämlich recht gleichgültig, ob der Kranke in der Anstalt diese oder jene Angst oder Hemmung überwindet; es kommt vielmehr darauf an, dass er auch in der Realität seines Lebens davon frei kommt« (GW VIII, S. 372). Das Zurechtkommen mit dieser »Realität des Lebens« wird in der Neurose typischerweise von dem pathogenen Verdrängten gestört. In den »Fünf Vorlesungen« (GW VIII, S. 22 f.) hat Freud diese Beziehung zwischen pathogen Verdrängtem und Alltag bildhaft dargestellt. Das Beispiel handelt von einem »Störenfried«, der durch »ungezogenes Lachen, Schwätzen, Scharren« einen Vortrag stört, daraufhin von kräftigen Männern vor die Tür gesetzt wird, draußen noch mehr Spektakel verursacht und schließlich nach dem Versprechen, sich wieder »besser« zu verhalten, wieder hereingelassen wird. Damit will Freud den dysfunktionalen Charakter der Neurose darstellen. Die Wahl des Beispiels weist darauf hin, dass Freud nicht den Inhalt des Vorgangs: die Triebabwehr, sondern seine Form kritisiert, also dem inhaltlichen Prinzip der Verdrängung in gewisser Weise recht gibt. Die psychoanalytische Therapie will in diese Beziehung eingreifen, um einen modus vivendi zwischen Triebwünschen und Realität zu finden. Um die Möglichkeiten des Patienten in der Auseinandersetzung mit der Realität zu erweitern, ist ihre Strategie darauf ausgerichtet, ihm die Einsicht in die eigene interne Realität zu vermitteln. Ist dann das Unbewusste erst einmal bewusst, so soll der Patient entscheiden, was er damit anfängt. »Entweder wird die Persönlichkeit des Kranken überzeugt, dass sie den pathogenen Wunsch mit Unrecht abgewiesen hat und veranlasst, ihn ganz oder teilweise zu akzeptieren, oder dieser Wunsch selbst wird auf ein höheres und darum einwandfreies Ziel geleitet (was man Sublimierung heißt), oder man erkennt seine Verwerfung als zu Recht bestehend an, ersetzt aber den automatischen und darum unzureichenden Mechanismus der Verdrängung durch
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eine Verurteilung mit Hilfe der höchsten geistigen Leistungen des Menschen; man erreicht seine bewusste Beherrschung« (GW VII, S. 25 f.). Alle diese Alternativen, die Freud als möglichen Ausgang der Therapie aufzählt, setzen von Anfang an, also schon vor Beginn der Therapie, die vorhandene »Persönlichkeit« des Patienten voraus. Implizit wird dabei zwischen dem Patienten und seiner Erkrankung getrennt. Dies entspricht zwar insofern zumindest phänomenologisch der Wirklichkeit, als dem Individuum seine Krankheit tatsächlich »fremd« ist. Sie ist jedoch wesentlich ein Teil seiner persönlichen Geschichte, welche ihm verdinglicht im Symptom, als entfremdeter Teil seiner selbst, entgegentritt. Dieser Entfremdungsvorgang erscheint als zusätzliches individuelles Lebensschicksal; über dessen besonderen Anteil übersieht Freud seinen allgemeinen und damit den inneren Zusammenhang noch des »individuellsten« Schicksals mit gesellschaftlichen Identitätsforderungen. Durch die Gegenüberstellung von Persönlichkeit und Krankheit stellt sich dieser Zusammenhang in Freuds Vorstellungen nur als Prozess zwischen der Persönlichkeit des Patienten und dem Symptom und seine Auswirkungen dar. Die Krankheit ist nicht Teil der Persönlichkeit, sondern ein Defekt, der deren Integrität verletzt. Im Verlauf der psychoanalytischen Therapie verändert sich die Persönlichkeit des Patienten nur insoweit, als sie nachher auch über die Funktionen verfügen kann, die vorher durch die neurotische Erkrankung behindert waren. Die Persönlichkeit selbst wird als von der Neurose tangiert, aber intakt vorausgesetzt, eine »Erkrankung« der Persönlichkeit schließt aus noch zu beschreibenden Gründen die Anwendung der Psychoanalyse aus. In der Ausformulierung der alternativen Möglichkeiten des Ausgangs der psychoanalytischen Therapie zeigt sich, dass Freud eine von ihnen als Ergebnis besonders hervorhebt. Tatsächlich soll, wenn das Unbewusste bewusst geworden ist, im Allgemeinen am Prinzip der Unterdrückung nichts geändert werden, sondern nur deren Methode. Dagegen ist das Angebot, den »pathogenen Wunsch« zu akzeptieren, schon von der Wortwahl her, vor allem aber auf dem Hintergrund der weiteren Ausführungen nicht allzu erst gemeint. Die Psychoanalyse ist für ihn ein Instrument zur Ersetzung inadäquater Methoden der Triebunterdrückung durch
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bessere. »Die Analyse macht nämlich den Erfolg der Verdrängung nicht rückgängig; die Triebe, die damals unterdrückt wurden, bleiben die unterdrückten, aber sie erreicht diesen Erfolg auf anderem Weg, ersetzt den Prozess der Verdrängung, der ein automatischer und exzessiver ist, durch die maß- und zielvolle Bewältigung mit Hilfe der höchsten seelischen Instanzen, mit einem Wort: Sie ersetzt Verdrängung durch die Verurteilung« (GW VII, S. 375). Beherrschung der Triebe im doppelten Sinn des Wortes soll das typische Resultat der Psychoanalyse sein, wozu sie die Möglichkeit schafft, aber selbst keine Entscheidungskriterien anbieten kann. Auch deshalb muss die intakte Persönlichkeit des Patienten vorausgesetzt werden. Der Patient, der, um in der Gesellschaft wieder »existenzfähig« zu werden, mit einem »Störenfried« fertig werden muss, schafft dies durch die Ausdehnung der Integrität seiner Persönlichkeit auf vorher desintegrierte Teile seiner selbst. Die »höchsten seelischen Instanzen« müssen schon vorher da sein, das Individuum muss vorher über die »höchsten geistigen Leistungen« verfügen. Über deren gesellschaftliche Bedingtheit hat Freud keine Reflexionen angestellt. Stattdessen zitiert er an dieser Stelle T. Vischer: »Das Moralische versteht sich ja von selbst« (GW V, S. 25). Aus der Selbstverständlichkeit des Moralischen leitet sich seine Stellung als Erziehungs- und Nacherziehungsziel ab. »Als eine solche Nacherziehung zur Überwindung innerer Widerstände können sie die psychoanalytische Therapie ganz allgemein auffassen« (S. 25). Was von der »moralisch« ausgerichteten Persönlichkeit abweicht, soll erzogen werden. Aus dem Zusammenhang gerissen, könnte aus diesen und ähnlichen Zitaten abgeleitet werden, Freud sei ein Theoretiker der Anpassung gewesen. In gewisser Hinsicht ist dies sicher richtig, aber es bezeichnet nur den formalen Aspekt, denn auf dem Hintergrund der grundsätzlichen Annahme der Interessenidentität zwischen Individuum und Gesellschaft ist das Ziel nicht Anpassung, sondern die Herstellung der sozialen und persönlichen Identität des Patienten. Die »Höhe« der seelischen Leistungen ist – unausgesprochen – sowohl individuell als auch sozial bestimmt. Der Widerspruch von Freuds Annahme liegt da, wo der »Sinn« des Moralischen sozial unmittelbar einsichtig sein, für das Individuum jedoch nicht mit seinen primären Interessen übereinstimmen muss.
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»So wie Krankheit und Gesundheit nicht prinzipiell geschieden, sondern nur durch eine praktisch bestimmbare Summationsgrenze gesondert sind, so wird man sich auch nie etwas anderes zum Ziel der Behandlung setzen, als die praktische Genesung des Kranken, die Herstellung seiner Leistungs- und Genußfähigkeit« (GW V, S. 8). Aus der Einsicht, dass die Übergänge zwischen Krankheit und Gesundheit fließend sind, zieht Freud in Bezug auf die praktische Zielsetzung der Psychoanalyse den Schluss, es gäbe keine Kriterien außer der gesellschaftlichen Tätigkeit und der Fähigkeit zur individuellen Befriedigung. Er nennt also ein öffentliches und ein privates Kriterium, wobei die Tatsache, dass sie stets zusammen erwähnt werden, wiederum darauf schließen lässt, dass Freud sie als unmittelbar verbunden betrachtete, also von einer grundsätzlichen Interessenidentität zwischen Gesellschaft und Individuum ausgeht. Beide, sowohl das Individuum, welches privat »genießen« will, als auch die Gesellschaft, die arbeitsfähiger Individuen bedarf, sind auf eine nicht-neurotische Struktur der Individualpsyche angewiesen. Trotzdem bleiben die Kriterien unvermittelt und ebenso unterschieden, wie Freud auch zwischen Arbeit und Vergnügen unterscheidet. Weil Freud selbst die Begriffe »Leistung« und »Genuss« abstrakt verwendet, also ihre historische und gesellschaftliche Bestimmtheit nicht mitreflektiert, ergibt sich in seinen Schriften die Tendenz, darunter das zu verstehen, was die bestehende Gesellschaft durch die Macht ihrer Faktizität festlegt. Diese kann jedoch nur dann normative Kraft gewinnen, wenn vorher die Gesellschaft weitgehend als vernünftig akzeptiert wurde. Genauso kann die Psychoanalyse nur dann darauf verzichten, sich mit den konkreten Entscheidungsmöglichkeiten des therapierten Individuums auseinanderzusetzen, wenn sie davon ausgeht, dass diese selbst insgesamt sinnvoll strukturiert sind. Es sind deshalb mangelnde theoretische Vorstellungen über Gesellschaft dafür verantwortlich, dass Freud, statt die gesellschaftliche Vermitteltheit des Normalitätsbegriffs zu diskutieren, wobei gegenüber der gesellschaftlichen Norm durchaus auch klinische Begriffe kritische Objektivität besitzen könnten, sich mit einem praktischen Normalitätsbegriff begnügt, der sich auf seine Vorstellungen des ontogenetischen Entwicklungsziels stützt. Dieser Normalitätsbegriff ist dann wesent-
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lich durch die Reproduktionspraxis der vorhandenen Gesellschaft und das ihr entsprechende Normensystem geprägt. Auf diesem Hintergrund ist das Angebot der Psychoanalyse, dem Patienten die freie Entscheidung über sein Verhalten zu überlassen, dahingehend zu verstehen, dass es sich auf eine bereits vorausgehende Entscheidung bezieht und von daher eine spezifische Form der Entscheidung impliziert. Ausgewogenes produktives und konsumptives Verhalten der Gesellschaft gegenüber dem was man als Kennzeichen der gesellschaftlichen Praxis der »Persönlichkeit« betrachten kann, ist mit den Triebwünschen typischerweise inkommensurabel. Während so die grundlegende Struktur dessen, was der psychoanalytische Vorgang erreichen will, festlegt, überlässt Freud die konkrete Lösung, die die Persönlichkeit des Patienten auswählt, ganz ihm selbst, weil deren Integrität die der Konfliktlösung garantiert. Dem entspricht der von Freud angeführte Doppelcharakter der Psychoanalyse. Es ist deshalb kein Widerspruch, wenn er immer wieder die absolute Neutralität der Psychoanalyse gegenüber dem, was er als »Weltanschauung« bezeichnet, betont, die Psychoanalyse selbst mit dem Messer in der Hand des Chirurgen vergleicht, um so ihre Objektivität zu betonen, und auf der anderen Seite schreibt: »Die Psychoanalyse ist … keine tendenzlose, wissenschaftliche Untersuchung, sondern ein therapeutischer Eingriff; sie will an sich nichts beweisen, sondern nur etwas ändern« (GW VII, S. 339). Freud begreift die Psychoanalyse als wertneutrales Instrument der Veränderung, der der Sinnzusammenhang ihres Wirkens sicher vorgegeben ist. Mit dem Interesse des Einzelnen, wieder »existenzfähig« zu werden, verbindet sich das der Gesellschaft, aus arbeitsfähigen Individuen zu bestehen. Dieser Anspruch der Gesellschaft ist selbst so rational, dass die Psychoanalyse sich unmittelbar darauf beziehen kann. »Die Psychoanalyse ist ein Werkzeug, welches dem Ich die fortschreitende Eroberung des Es ermöglichen soll« (GW XIII, S. 28 f.). Darin stimmen Individuum und Gesellschaft überein. Der Unterschied zwischen ihnen liegt darin, dass das Individuum ursprünglich andere Interessen, eben Triebwünsche hat, während das der Gesellschaft eben rational ist, wie der Entschluss, überhaupt eine gesellschaftliche Organisation zu bilden (s. u.). Von daher ergibt sich die Konsequenz, dass innerhalb der Interessenidentität von
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Individuum und Gesellschaft letztere stets vorrangig ist und das Therapieziel wesentlich bestimmt, weil es die »objektiven« Interessen des Individuums gegen seine subjektiven verteidigt, zumal der gesellschaftstheoretische Gehalt der Begriffe »leistungsfähig« und »genussfähig« unproblematisiert bleibt. Das Therapieziel bezieht sich auf die Vorstellung einer integren, »innengeleiteten« Normalität, welche im Nacherziehungsprozess durch Einsicht in die Notwendigkeit vervollständigt werden soll. Ist dies erreicht, so kann sich der Einzelne im Konkreten durchaus wieder im Gegensatz zur Gesellschaft befinden, nur mit dem Unterschied, dass er jetzt im Recht ist gegenüber der Gesellschaft, die ihrem eigenen Anspruch (noch) nicht gerecht wird. »Wir sagen uns, wer die Erziehung zur Wahrheit gegen sich mit Erfolg durchgemacht hat, der ist gegen die Gefahr der Unsittlichkeit dauernd geschützt, mag sein Maßstab der Sittlichkeit auch von dem in der Gesellschaft gebräuchlichen irgendwie abweichen« (GW XI, S. 451). Diese Formulierung ist der Kompromiss zwischen dem, was bisher an Freuds Vorstellungen über das Verhältnis Patient – Gesellschaft vorgeführt wurde, und einem anderen Aspekt derselben Beziehung, der demonstriert, dass es sich dabei sicher nicht um eine naive Identifizierung mit dem Bestehenden handelt. Freud konfrontiert die bürgerliche Gesellschaft mit ihrem Anspruch. »(Wir) haben es unmöglich gefunden, für die konventionelle Sexualmoral Partei zu nehmen, die Art, wie die Gesellschaft die Probleme des Sexuallebens praktisch zu ordnen versucht, hoch einzuschätzen. Wir können es der Gesellschaft glatt vorrechnen, dass das was sie ihre Sittlichkeit nennt, mehr Opfer kostet, als es wert ist, und dass ihr Verfahren weder auf Wahrhaftigkeit beruht noch von Klugheit zeugt« (GW XI, S. 150). Wenn oben festgestellt wurde, dass »Gesellschaft« für Freud objektiv notwendige und vernünftige Funktionen erfüllt, so gilt dies für den allgemeinen Begriff und allgemeine Wirklichkeit. Er unterscheidet an dieser Stelle sehr deutlich zwischen »Gesellschaft« als objektiv notwendiger Organisationsform und bestimmten konkreten Erscheinungen, die, wie die Sexualmoral, irrational und dysfunktional sind. Fast könnte man sagen, dass Freud, gerade in Bezug auf die Sexualmoral, die Unterscheidung zwischen »notwendiger« und »zusätzlicher« Repression kennt und verwendet, die Marcuse später
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entwickelt, denn er kritisiert, ohne die Notwendigkeit des Triebverzichts zu bezweifeln, die weit über das Ziel hinaus schießenden Ansprüche der »Gesellschaft«. »In keinem Punkte … ist solche Nachbehandlung der Nervösen mehr vonnöten, als betreffs des seelischen Elements in ihrem Sexualleben. Nirgends haben ja Kultur und Erziehung so großen Schaden gestiftet wie gerade hier« (GW V, S. 25). Allerdings bleibt seine Kritik phänomenologisch. Der Einheitsbegriff erlaubt nur eine allgemeine Kritik an »der« Gesellschaft, selbst wenn spezifische soziale Erscheinungen aufgegriffen werden. Bei aller kritischen Distanz ist Freuds Diskussion von der Annahme geprägt, im Bestehenden seien die Ansprüche rationaler Regelung des interindividuellen Verkehrs grundlegend verwirklicht. Die gesellschaftlichen Ursachen der viktorianischen Sexualmoral und ihre Funktion bleiben deshalb verborgen. Die Trennung zwischen »objektiv notwendiger« und zusätzlicher, also überflüssiger Repression; unterstellt eine Gesellschaft, die als Ganzes den Anspruch der Rationalität vertritt, weil sie die Wirklichkeit unvermittelt dem Anspruch gegenüberstellt und damit nur ihren dysfunktionalen, nicht jedoch ihren funktionalen Aspekt begreift. Freuds Gesellschaftskritik ist wegen der Besonderheiten seiner Gesellschaftsvorstellung immer ambivalent: kompromisslos in der aufklärerischen Tradition, aber wegen ihrer soziologischen Undifferenziertheit teils affirmativ, teils unbestimmt. Ohne die fehlende gesellschaftstheoretische Vermittlung der Probleme kann sie lediglich einem abstrakten Subjekt, der Gesellschaft, von dem angenommen wird, es sei grundsätzlich der Rationalität verpflichtet, seine Irrationalität vorhalten, ohne deren Ursachen erklären zu können.
3.3. Die Therapie und ihr Patient Obwohl das Ziel der Therapie festliegt, will Freud nicht die Bedingungen bestimmen, unter denen man es erreicht. Der Patient muss sich schon vor Beginn der Therapie für die allgemeinen kulturellen Normen entschieden haben, um dann nach Abschluss der Therapie die sich ihm nun bietenden Möglichkeiten in deren
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Sinne auszunützen. Die Persönlichkeit des Patienten muss über die Fähigkeiten verfügen, die es ihm ermöglichen, das Therapieziel zu erreichen, während umgekehrt das Therapieziel durch den Inhalt dessen, was »Persönlichkeit« ausmacht, bestimmt wird. Diese Tendenz, das Verhältnis Therapie – Patient tautologisch zu bestimmen, ist der soziologischen Reflexion entgegengesetzt. Darin liegt die Gefahr, dass in die Diskussion darüber, was ein Patient idealiter mitbringen sollte, unvermittelt Kategorien der antinomischen Wirklichkeit in der Form objektiver klinischer Erfordernisse eingehen. Einer der wesentlichsten Aspekte des gesellschaftlichen Fortschritts den die Psychologie darstellte, war Freuds Versuch, die Patienten und ihre Erkrankungen ernst zu nehmen, was den Beginn ihrer Emanzipation aus privaten Ghettos und öffentlichen Heilanstalten darstellte. Freuds Formulierung der Voraussetzungen des Patientseins zeigen jedoch, dass dies nur unter bestimmten Bedingungen und nicht für alle galt. Eine dieser Bedingungen ist in dem Verhältnis Arzt – Patient zu sehen. Denn Freud hält nicht nur an dem traditionellen Verhältnis Wissender – Unwissender fest, sondern fordert für den Psychoanalytiker noch zusätzliche Autorität. »Es hat also seinen guten Sinn, wenn man vom Analytiker als Teil seines Befähigungsnachweises ein höheres Maß von seelischer Normalität und Korrektheit fordert; dazu kommt noch, dass er auch eine gewisse Überlegenheit benötigt, um auf den Patienten in gewissen analytischen Situationen als Vorbild, in anderen als Lehrer zu wirken« (GW XVI, S. 94). Die Definition der Psychoanalyse als »Nacherziehung« gilt also auch für den therapeutischen Vorgang, innerhalb dessen die Rollenverteilung zwischen »Lehrer« und »Schüler« eindeutig festgelegt ist. Der psychisch Erkrankte bleibt Patient, während die Überlegenheit des Arztes ihn zur dominierenden Person macht, wodurch kooperative Lernprozesse ausgeschlossen sind. Damit hängt unmittelbar der nächste, weit bedeutsamere Punkt zusammen. Der Überlegenheit des Arztes entspricht die »Schwäche« des Patienten. »Nicht alle Neurotiker bringen viel Talent zur Sublimierung mit; von vielen von ihnen kann man annehmen, dass sie überhaupt nicht erkrankt wären, wenn sie die Kunst, ihre Triebe zu sublimieren, besessen hätten. … Als Arzt muß man vor
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allem tolerant sein gegen die Schwächen des Kranken, muss sich bescheiden, auch einem nicht Vollwertigen ein Stück Leistungsund Genussfähigkeit wieder gewonnen zu haben« (GW VIII, S. 385). Damit wird die Gruppe der Kranken als Ganzes in eine Hierarchie von Bewertungen eingeordnet, innerhalb derer sie auf Grund ihrer Krankheit eine niedere Position einnimmt, gleichzeitig aber auch noch selbst unterteilt in solche, die »Talent zur Sublimierung« besitzen und solche, die »nicht vollwertig« sind, weil ihnen diese Fähigkeit abgeht. In dieser normativen Differenzierung löst affirmatives Denken analytische Reflexion ab; mit der Analyse der Ursachen dieser Unterschiede und der Herkunft der Kriterien kann Freud sich nicht beschäftigen, weil dies nur über systematische Selbstreflexion mit soziologischem Charakter zu leisten wäre. Zwar fordert Freud den Psychoanalytiker zur Toleranz gegenüber dem Patienten auf, aber gerade diese Aufforderung demonstriert, wie eng das autoritäre Verhältnis Arzt – Patient damit zusammenhängt, dass der Patient doch nicht als gleichberechtigt akzeptiert wird. Der Defekt seiner Persönlichkeit ist in Bezug auf die »höhere« Normalität des Arztes zumindest so gravierend, dass dieser ihn als »nicht vollwertig« bezeichnen kann. Es zeigt sich, dass die Kriterien von Krankheit und Gesundheit massiv wertende Maßstäbe sind, ohne dass diese Wertung anders als durch allgemeinen Bezug auf die »Gesellschaft« legitimiert wäre. Deren Ansprüche gewinnen gegenüber dem einzelnen Patienten in diesen Formulierungen vollends das Übergewicht: Vollwertig ist nur, wer ohne Schwäche diesen Ansprüchen genügt. Diese Bewertung der Patienten nach Kriterien, die Freud als objektives gesellschaftliches Interesse erscheinen, beginnt jedoch nicht erst in der Therapie, sondern schon vorher. Das Individuum wird schon vorher danach taxiert, ob sich eine Psychoanalyse überhaupt »lohnt«. Die Neutralität der Psychoanalyse als Heilinstrument, ihre neutrale Einstellung dem Patienten gegenüber, gilt nur für diejenigen, die nicht bereits aus ihrem Anwendungsbereich ausgeschlossen wurden. Wie der Ausgang der Therapie an der größtenteils intakten Persönlichkeit festgemacht wurde, so wird ihre Anwendbarkeit an deren Vorhandensein geknüpft. Entsprechen die Voraussetzungen des Patienten diesen Ansprüchen nicht, so hat er sich für Freud bereits gegen die Kultur entschieden
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und kann auch nicht mehr auf Toleranz rechnen. »Da die Psychoanalyse ein Maß von psychischer Plastizität in Anspruch nimmt, muss sie sich bei deren Auswahl an bestimmte Altersgrenzen halten, und da sie eine lange und intensive Beschäftigung mit dem einzelnen Kranken bedingt, wäre es unökonomisch, solchen Aufwand an völlig wertlosen Individuen, die nebenbei auch neurotisch sind, zu vergeuden« (GW XIII, S. 226). Jegliche Neutralität des Analytikers gegenüber dem Patienten verliert sich, wenn er nicht den Normalitätsbestimmungen der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft in den wesentlichen Punkten entspricht. Die Psychoanalyse beendete die pauschale Diffamierung der psychisch Kranken, errichtete jedoch gleichzeitig eine allgemeinere Bewertungsskala, die in gewisser Hinsicht sich von vorher verwendeten kaum unterscheidet. Indirekt geht Freud davon aus, dass diese Bewertungsskala das objektive Interesse der Gesellschaft widerspiegelt. Seine Identifizierung mit diesem führt dazu, dass oft objektive Erfordernisse der Psychoanalyse, wie zum Beispiel die Fähigkeit zur Reflexion, mit den Ansprüchen der Gesellschaft begrifflich vermengt werden, ohne dass die Genese dieser Voraussetzungen (die dann in diesem Fall »intellektuelle Leistungsfähigkeit« genannt wird), berücksichtigt wird. Die, oft ausgesprochen rigide, Bewertung der Patienten wird erst dadurch möglich, dass Freud radikal zwischen Krankheit und Gesundheit einerseits, gut und böse andererseits in concreto trennt, dagegen systematisch-allgemein nicht. »Man übersehe nicht über die Krankheit den sonstigen Wert einer Person und weise Kranke zurück, welche nicht einen gewissen Bildungsgrad und einen einigermaßen verläßlichen Charakter haben. Man darf nicht vergessen, daß es auch Gesunde gibt, die nichts taugen, und daß man nur allzu leicht geneigt ist, bei solchen minderwertigen Personen alles, was sie existenzunfähig macht, auf die Krankheit zu schieben. … Ich stehe auf dem Standpunkt, dass die Neurose ihren Träger keineswegs zum dégénéré stempelt, daß man sie aber häufig genug mit den Erscheinungen der Degeneration vergesellschaftet an demselben Individuum findet. Die analytische Psychotherapie ist nun kein Verfahren zur Behandlung der neuropathischen Degeneration, sie findet im Gegenteil an derselben ihre Schranke« (GW V, S. 20 f.). »Bildung« und »verlässlicher Charak-
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ter« sind die Eigenschaften, die das Individuum zur Psychoanalyse qualifizieren. Diejenigen, die sie nicht aufweisen, sind entweder gesund, »taugen« aber nichts, oder »minderwertige Personen«, die zusätzlich noch neurotisch sind. Im letzteren Fall sind Neurose und schlechter Charakter zwar »vergesellschaftet«. Das heißt, sie treten zusammen auf, aber dies Zusammentreffen ist zufällig. Zwischen Krankheit und schlechtem Charakter bestehen keine inhaltlichen Beziehungen und Vermittlungen, allenfalls ein reziprokes Verhältnis: Die Neurose ist zwar ein Zeichen von Schwäche, entsteht aber nur, weil der Charakter grundsätzlich »verlässlich« ist; die innere Beziehung zwischen dem, was gesellschaftlich als »guter« Charakter bestimmt ist und dem, was dementsprechend »schlechter« Charakter ist, und beider Verbundenheit dieser Bestimmungen mit gesellschaftlichen Strukturen und Sozialisationsformen bleiben verborgen. Die verblüffende Rigidität, mit der Freud an dieser Stelle Prädikate verteilt, entspricht der Entschiedenheit, mit der er zwischen der Dimension der Erkrankung und der des Charakters unterscheidet und damit auch hier zwischen Persönlichkeit und Krankheitssymptom eine scharfe Trennung macht. Die genetische Methode, mit deren Hilfe die Neurose verständlich gemacht wird, findet in Bezug auf die Qualitäten des Charakters keine Verwendung. Stattdessen wird er direkt mit »objektiven« Maßstäben gemessen, die nur eine Beurteilung, aber kein differenzierendes Verständnis zulassen. Die Unterscheidungen zwischen Persönlichkeit und (partieller) Erkrankung einerseits und andererseits zwischen Neurose und schlechtem Charakter bedingen sich gegenseitig. Sie sind das Ergebnis der gesellschaftspolitischen Vorstellungen Freuds, die sein Konzept der Therapie und des Patienten beeinflussen und in ihnen zum Ausdruck kommen. Die Einschränkung der Toleranz auf den »anständigen« Neurotiker und die Tendenz zur Disziplinierung des Patienten in der psychoanalytischen Therapie resultieren aus deren Ausrichtung an spezifische Normen der bürgerlichen Gesellschaft, die in sich widersprüchlich sind. Die Kehrseite des bürgerlichen Ideals der Realitätstüchtigkeit ist die Abqualifizierung der »Untauglichen«. Welche Bedeutungen die Anforderungen, die an den Patienten gestellt werden, für Freud haben, lässt sich daran ablesen, dass er
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an dieser Stelle sogar die ansonsten so zentrale Forderung der Neutralität des Analytikers dem Patienten gegenüber aufgibt. »An die Person, die man mit Vorteil der Psychoanalyse unterziehen soll, sind mehrfache Forderungen zu stellen. Sie muss erstens eines psychischen Normalzustandes fähig sein; … man darf ferner ein gewisses Maß an natürlicher Intelligenz und ethischer Entwicklung fordern; bei wertlosen Personen lässt den Arzt bald das Interesse im Stiche, welches ihm zur Vertiefung in das Seelenleben des Patienten befähigt. Ausgeprägte Charakterverbildungen, Züge von wirklicher degenerativer Konstitution äußern sich bei der Kur als Quelle von kaum zu überwindenden Widerständen« (GW V, S. 9). Die eigentlichen Grundlagen der Möglichkeit, die Symptome der Patienten zu »verstehen«, die in der Gemeinsamkeit der sozialen Erfahrungen und ihrer Verarbeitung im weitesten Sinne liegt, hat Freud nicht analysiert. Er ging stattdessen von einem einheitlichen ontogenetischen Modell aus, in dem die Struktur der individuellen Entwicklung, ihr Ziel und ihr Verlauf innerhalb einer gewissen Variationsbreite als für alle Individuen verbindlich betrachtet wurde. Daraus leitet sich ein Objektivierbarkeit des psychischen Geschehens ab, die es dem Analytiker ermöglicht, alles psychische Geschehen zu erfassen und innerhalb der Prämissen zu verstehen. Dieses Entwicklungskonzept ist formal wie inhaltlich auf eine Gesellschaftsvorstellung für ihn bezogen, die davon ausgeht, dass »Gesellschaft« stets rationale Organisation impliziert. Jener »psychische Normalzustand« ist jenseits seiner praktischen Konzipierung auf theoretischer Ebene bestimmbar und gesellschaftlich realisierbar. Nur wenn ontogenetisch abgeleitete Normalität und gesellschaftliche Norm grundsätzlich übereinstimmen, ist es möglich, beide sinnvoll aufeinander zu beziehen, tendenziell zu identifizieren. Dies taucht auf der Ebene der Beziehung zwischen Arzt und Patient darin auf, dass die Gemeinsamkeit der im weitesten Sinn sozialen Erfahrungen als (mehr oder weniger starke) Gemeinsamkeit ihrer individuellen und sozialen Normalität gesehen wird, was dann impliziert, dass jeder, der darüber nicht verfügt, nicht nur anders, sondern, weil normales Verhalten gleichzeitig notwendig und richtig ist, eine »wertlose Person« ist, die kein Interesse des Arztes erwecken kann. Dadurch, dass die Komplexität des sozi-
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alen Geschehens nicht realisiert wird und stattdessen relativ einfache Beziehungen zwischen Gesellschaft und Therapie, Arzt und Patient vorausgesetzt werden, ergibt sich in Freuds Theorie ein subjektivistisches Element, was sich für ihn allerdings nicht so darstellt. Das »Interesse« des Arztes ist ausschlaggebend dafür, ob die psychoanalytische Therapie anwendbar wird. An jeder anderen Stelle hätte Freud sich gegen Argumente dieser Art gewandt. Hier handelt es sich für ihn deshalb nicht um einen Widerspruch, weil er davon ausgeht, dass die Beurteilungskriterien objektiv vorgegeben sind und deshalb vom Arzt unmittelbar angewandt werden können. Diese Annahme ihrer Objektivität und ihre Identifizierung mit dem Interesse der Gesellschaft führen dazu, dass sich die Ambivalenz der bürgerlichen Normen in der Psychoanalyse fortsetzt, die sich dann »analytisch« nur mit dem Personenkreis auseinandersetzt, der ihren Ansprüchen genügt. Damit sind nicht nur alle anderen als »wertlos« deklariert, auch der Kreis der Kranken selbst wird durch das Anlegen von Normalitätsmaßstäben disqualifiziert. Die Konsequenz sind Formulierungen, in denen die Neurotiker insgesamt als »schwächliches Menschenmaterial« (GW VIII, S. 128) bezeichnet werden. Des Weiteren führt seine Argumentation dazu, dass Freud gezwungen war, entgegen seinem eigenen Ansatz, als naturwüchsig und zusammenhanglos das hinzunehmen, was an individuellen Faktoren die Anwendung der Psychoanalyse unmöglich machte; beziehungsweise die Fähigkeiten des Psychoanalytikers lähmte. Die gesellschaftlichen Ursachen der Entstehung des »Charakters« bleiben verhüllt, das Individuum wird auf sich selbst zurückgeworfen und auf ein weitgehend unbegreifbares und unangreifbares Schicksal verwiesen. Erst recht bleibt die gesellschaftliche Bedingtheit der als objektiv akzeptierten Normen unverständlich. Die Ursachen der individuellen Unterschiede verfolgt Freud nicht näher, sondern führt sie auf nicht weiter auflösbare biologische Gegebenheiten zurück. Er schreibt 1907 an Abraham: »Zu Ihrer Schilderung der Abnormität später neurotischer Kinder (quantitative Steigerung der Libido, Frühreife, Phantasiewuchern) möchte ich als wesentliches Stück die Existenz starker Verdrängungsneigungen hinzufügen, sonst bekommen wir ja Lumpen und nicht Neurotiker« (Freud u. Abraham, 1965, S. 27 f.).
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»Verdrängungsneigung« ist als individuelle Veranlagung begriffen nicht weiter ableitbar. Ihre Genese bleibt aber auch deshalb irrelevant, weil Bewertungskriterien des Resultats a priori feststehen. Die Hierarchie Mensch – Neurotiker – Lump ist die starre Orientierungsskala der Individualtherapie und wird von Freud als sicher gegeben vorausgesetzt. Zwischen Neurotiker und Lump liegt für Freud die Grenze, deren Überschreitung das Ende von Toleranz und Verständnis bedeutet. Sein einziger Ausflug in die Kriminologie (Tatbestandsdiagnostik und Psychoanalyse 1906, GW VII, S. 3 ff.) beschäftigte sich deshalb nicht mit der psychischen Grundlage »kriminellen« Verhaltens, sondern wollte den Juristen eine »Reihe von Detektivkünsten«, die die Psychoanalyse entwikkelt hat, empfehlen. Innerhalb dieser Beziehungen scheint das Ziel der Psychoanalyse mehr denn je nur noch erreichbar durch die Abwehr der Triebimpulse. Der unmittelbare Triebwunsch ist nicht nur »Störenfried«, im ungünstigen Fall macht er auch noch aus Menschen Lumpen. Dem entspricht es, wenn Freud betont, dass in der Psychoanalyse Veränderungen stattfinden, aber keine qualitativen, die die Persönlichkeit tangieren würden. »Der geheilte Nervöse ist wirklich ein anderer Mensch geworden, im Grunde ist er aber natürlich derselbe geblieben, d. h. er ist so geworden, wie er bestenfalls unter den günstigen Bedingungen hätte werden können« (GW XI, S. 452). Die Persönlichkeit des Patienten ändert sich nicht, sie verfügt nach der Therapie über mehr Fähigkeiten im Umgang mit dem Individuum und die Gesellschaft bedrohenden Triebimpulsen; überschreitet diese Dimension aber nicht. Eine qualitative Veränderung der Persönlichkeit ist nicht vorgesehen und vorstellbar. Es ist augenscheinlich, in welchem Ausmaß Freud die für ihn typische kühle Zurückhaltung aufgibt, wenn es um die Frage der Voraussetzungen und Bewertungskriterien der Psychoanalyse ging. Die in der Terminologie fast faschistoide Beurteilung derjenigen, die für die Analyse wie für die gesellschaftliche Reproduktion »nichts taugen«, die von jeder historisch-genetischen Begründung abstrahiert, ist die Kehrseite des Ideals, welches für Individuum und Gesellschaft aufgestellt und als objektiv vorausgesetzt wird. Praktisch jedoch ist von Freud selbst die Psychoanalyse
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auf den »Mittelstand« zugeschnitten. Nicht nur durch die Frage des Honorars, dessen Höhe Freud eloquent verteidigt, sondern auch durch die sonstigen »bildungsbürgerlichen« Normen ist die Anwendbarkeit der so konzipierten Analyse auf Teile des Bürgertums eingeschränkt. Da Freud diese in sich und zur Gesellschaft widersprüchlichen Normen für allgemein verbindlich erachtet, steht er »abweichendem« Verhalten und Charakteren ablehnend und mit Unverständnis gegenüber. Es ist unmöglich, im Rahmen dieser Arbeit den realen Problemhorizont psychoanalytischer Therapie, ihrer Voraussetzungen, ihrer Indikationsbedingungen sowie ihrer gesellschaftlichen Institutionalisierung auch nur zu umreißen. Es wurde lediglich versucht, die Art und Weise, wie die Situation für Freud sich darstellte und seine theoretische Problemlösungsstrategie mit ihren Konsequenzen darzustellen; dies ist selbstverständlich unmittelbar mit dem ersteren nicht identisch und auch nicht notwendig verbunden, mittelbar allerdings schon deswegen von Relevanz, weil mutatis mutandis bestimmte Argumentationsfiguren noch oder – vor allem im Bereich der »klinifizierten« Psychoanalyse – wieder populär sind. Eine materielle Analyse der Problematik müsste auf dem Hintergrund historischer Aufarbeitung der gesellschaftlichen Bedingungen und des gesellschaftlichen Verhältnisses von psychischer Krankheit und Psychotherapie Strategien der Therapie sowohl aus der Logik psychischer Krankheiten unter veränderten Reproduktionsbedingungen als auch aus den institutionellen Möglichkeiten und Grenzen von Psychotherapie unter diesen Umständen entwickelt werden. Erst auf diesem Hintergrund ließen sich die Pseudoentitäten, mit denen Freud noch hantieren musste, auflösen, ohne sie verschwinden zu lassen, und die konkrete Dialektik von Interaktionsformationen, -möglichkeiten und Konditionen der Therapie entwickeln. Ich möchte auf dem Hintergrund des bisher beschriebenen noch einmal auf die Frage der psychoanalytischen Situation als »Gewaltverhältnis« zu sprechen kommen. Die Analyse von Freuds Therapieverständnis scheint zunächst die These zu bestätigen: In der Tat manifestieren sich in seinen Vorstellungen autoritäre Strukturen. Doch ist die Kritik in der vorgebrachten Form (Kursbuch, 1972; Schneider, 1973) zu undifferenziert, ganz abgesehen
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davon, dass sie, wie Horn nachgewiesen hat, durch die Diffamierungsstrategien, deren sich die Autoren bedienen, völlig verzerrt wird (in: Dahmer et al., 1973). Der Begriff »Gewaltverhältnis« verdeckt die spezifische Differenz zwischen einer Situation, in der Herrschaft ausgeübt wird, weil sich in ihr ein gesellschaftliches Machtverhältnis unmittelbar reproduziert, und einer Situation, in der ein kommunikatives Kompetenzgefälle auftritt, weil einer der Beteiligten, der Patient, auf Grund einer zusätzlichen lebensgeschichtlichen Besonderheit an Wiederholungszwänge gebunden ist. Es gilt also, strukturelle Gewalt und notwendige Ungleichheit, die durch jene erst erzwungen wird, auseinander zu halten, denn die umstandslose Denunzierung der psychoanalytischen Situation verkennt die Strukturbedingungen emanzipativer Praxis, die bei asymmetrischen Beziehungen unausweichlich sind; ist von daher naiv idealistisch und verhindert gerade die Kritik, die notwendig wäre, um jene von »zusätzlicher Gewaltausübung« durch inkompetente und bornierte Praktiker zu befreien. Darüber hinaus müsste unterschieden werden zwischen den unterschiedlichen Strömungen innerhalb der Psychoanalyse; »die« Psychoanalyse ist eine eigens für diesen Zweck aufgebaute Fiktion. Es käme darauf an, die Grenzen von Therapie zu bestimmen, ohne dabei die Grenzen zwischen Psychoanalyse als Modell von Praxis und tatsächlich praktizierten Formen psychoanalytischer Praxis zu verwischen.
3.4. »Gesellschaftstherapie« Bei aller postulierten Distanz zum tagespolitischen Geschehen und zu parteipolitischen Auseinandersetzungen fühlte Freud sich von Anfang an dem gesellschaftlichen Ganzen verbunden. Dies äußerte sich darin, dass er von einem objektiven Gesamtinteresse, welches allen Bürgern gemeinsam sein sollte und welches nur gesellschaftlich zu verwirklichen war, ausging. Aus der Gegenüberstellung von hypostasiertem Gesamtinteresse und gesellschaftlichem Zustand ergab sich dann seine kritische Haltung dem Bestehenden gegenüber. »Überdenkt man alle die feineren und
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gröberen Schädigungen, die von der angeblich immer mehr um sich greifenden Neurasthenie ausgehen, so erkennt man geradezu ein Volksinteresse darin, daß die Männer mit voller Potenz in den Sexualverkehr eintreten. In Sachen der Prophylaxis aber ist der einzelne ziemlich ohnmächtig. Die Gesamtheit muß ein Interesse an dem Gegenstande gewinnen und ihre Zustimmung zur Schöpfung von gemeingültigen Einrichtungen geben. Vorläufig sind wir von einem solchen Zustande, der Abhilfe versprechen würde, noch weit entfernt, und darum kann man mit Recht auch unsere Zivilisation für die Verbreitung der Neurasthenie verantwortlich machen« (GW I, S. 508) »Gesellschaft« besteht dabei im Wesentlichen in einer rational die Interessen Aller vertretenden Öffentlichkeit, verändernde Praxis neben der Veränderung der Individuen in deren Umstrukturierung. »Es müßte sich vieles ändern. Der Widerstand einer Generation von Ärzten muß gebrochen werden …; der Hochmut der Väter ist zu überwinden, die unverständige Verschämtheit der Mütter ist zu bekämpfen. … Vor allem aber muß in der öffentlichen Meinung Raum geschaffen werden für die Diskussion der Probleme« (S. 508). Auch die Individualtherapie wird unter dem Gesichtspunkt ihrer gesellschaftlichen Relevanz betrachtet. Diese ergibt sich daraus, dass die individuelle Neurose auch für die Gesellschaft ungünstig ist, weil das individuelle Scheitern an den Anforderungen der Zivilisation auf sie zurückfällt. »Der Krankheitsgewinn der Neurose ist doch im Ganzen und am Ende eine Schädigung für den Einzelnen wie die Gesellschaft« (GW VIII, S. 115). Ein Aspekt gesellschaftspolitischer Praxis ist der psychoanalytischen Therapie deshalb stets immanent: Wenn sie dem Einzelnen die Chance gibt, sich seinem Ideal anzunähern, so bedeutet dies gleichzeitig seine Reintegration in den gesellschaftlichen Reproduktionsprozess. Den größten Wert der Psychoanalyse sah Freud, wie bereits erwähnt, jedoch nicht in der Individualtherapie, sondern in ihren allgemeinen Erkenntnismöglichkeiten. Zum anderen konnte, weil die Neurose massenhaft auftrat, die Individualtherapie nur ein Teil der gesellschaftlichen Praxis sein. Freud bedient sich zur Erläuterung des erweiterten Praxisbegriffes und der Vorstellung von gesellschaftlicher Veränderung, auf die dieser sich bezieht, einer Analogie, die nicht nur einiges über die für ihn typische Konstruk-
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tion gesellschaftlicher Zusammenhänge aussagt, sondern auch als ein Ausgangspunkt der phylogenetischen Kulturhermeneutik aufgefasst werden kann. Gleichzeitig verdeutlicht sich die Interdependenz von Praxisvorstellung und Gesellschaftsmodell. Er geht aus von einer systematischen Analogie zwischen dem Individuum und seiner psychischen Organisation und der Assoziation vieler gleichartiger Personen, die sich gesellschaftlich organisieren. Wenn es nahe liegend ist, statt nachträglich zu heilen, Neurosenprophylaxe zu betreiben und gleichzeitig eine solche Analogie denkbar ist, so stellt sich die Situation der Gesellschaft folgendermaßen dar: »Nun setzen sie an die Stelle des einzelnen Kranken die ganze, an den Neurosen krankende, aus kranken und gesunden Menschen bestehende Gesellschaft, an die Stelle der Annahme der Lösung dort die allgemeine Anerkennung hier, so wird ihnen eine kurze Überlegung zeigen, daß diese Ersetzung am Ergebnis nichts zu verändern vermag. Der Erfolg, den die Therapie beim einzelnen haben kann, muß auch bei der Masse eintreten. Die Kranken können ihre verschiedenen Neurosen, ihre ängstliche Überzärtlichkeit, ihre Agoraphobie, die von ihrem enttäuschten Ehrgeiz erzählt, ihre Zwangshandlungen, die Vorwürfe wegen und Sicherung gegen böse Vorstellungen darstellen, nicht bekannt werden lassen, wenn alle Angehörigen und Fremden, vor denen sie ihre Seelenvorgänge verbergen wollen, der allgemeine Sinn der Symptome bekannt ist, und wenn sie alle selbst wissen, daß sie in den Krankheitserscheinungen nichts produzieren, was die anderen nicht sofort zu deuten verstehen. Die Wirkung wird sich aber nicht auf das – übrigens häufig undurchführbare – Verbergen der Symptome beschränken; denn durch dieses Verbergenmüssen wird das Kranksein unverwendbar. Die Mitteilung des Geheimnisses hat die ›ätiologische Gleichung‹, aus welcher die Neurosen hervorgehen, an ihrem heikelsten Punkte angegriffen, sie hat den Krankheitsgewinn illusorisch gemacht, und darum kann nichts anderes als die Einstellung der Krankheitsproduktion die endliche Folge der durch die Indiskretion des Arztes veränderten Sachlage sein« (GW VIII, S. 112 f.). Freuds Ausgangspunkt ist ein Krankheitsbegriff, nach dem Krankheit im Wesentlichen darin besteht, dass das Individuum unter einem Triebimpuls leidet, welcher sowohl nach dessen eigenen als auch
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nach den moralischen Maßstäben der Gesellschaft der »Verurteilung« unterliegt. Weil jedoch das Individuum nicht in der Lage ist, dass Problem autonom rational zu lösen, kommt es zu einem »Kompromiss« zwischen Triebanspruch und moralischer Öffentlichkeit im Symptom, welches gleichzeitig die »bösen Wünsche« teilweise befriedigt und verdeckt. Vor dieser moralischen Öffentlichkeit verheimlicht der Patient im Symptom sein Abweichen, ohne dass dies ein bewusster Akt ist. Diese »Unaufrichtigkeit« sich selbst und der Gesellschaft gegenüber wird im psychoanalytischen Prozess in Angriff genommen. Der Kranke soll sich seine – asozialen – Wünsche eingestehen, die Realität ihrer Existenz akzeptieren und sich mit ihnen real auseinandersetzen, somit zur Wahrheit (im Sinne von Übereinstimmung mit der Realität) kommen. Dieser Prozess entzieht der Neurose ihre psychoökonomische Grundlage. »… die Psychoneurosen sind entstellte Ersatzbefriedigungen von Trieben, deren Existenz man vor sich selbst und den anderen verleugnen muß, ihre Existenzfähigkeit ruht auf dieser Entstellung und Verkennung. Mit der Lösung des Rätsels, das sie bieten, und der Annahme dieser Lösung durch den Kranken werden diese Krankheitszustände existenzunfähig« (GW VIII, S. 112 f.). Das neurotische Spiel ist dann aus, nolens volens wird der Kranke die Wahrheit erkennen und akzeptieren müssen. Dadurch transzendiert er sich selbst. Die rationale Einsicht ist mit der verändernden Praxis identisch. Freud überträgt diesen Vorgang mutatis mutandis auch auf die Gesellschaft. Für die Individualtherapie wird die Gesellschaft als rationaler und moralischer Bezugsrahmen vorausgesetzt. Wenn es sich wegen der gesellschaftlichen Relevanz darum handelt, diese als Ganzes in bestimmten Punkten zu verändern, dann ist sie selbst quasi der Patient, der analog reagiert, aber auch analog »behandelt« werden kann und muss. Gesellschaftliche Praxis besteht dann darin, die »Wahrheit« zur Anerkennung zu bringen. Was der Analytiker für die Psychotherapie ist, ist die Wissenschaft für die Gesellschaft. Wenn es ihr gelungen ist, ihre Erkenntnisse im Bewusstsein der Öffentlichkeit zu verankern, so bedeutet dies, dass das nun allgemein erreichte Bewusstseinsniveau für jedes einzelne Individuum verbindlich ist: Es gibt kein Zurück in die Neurose. Der Fortschritt des Ganzen lässt dem Individuum keine
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andere Wahl, als ebenfalls fortschrittlich zu sein. »Was werden die Menschen tun müssen, wenn ihnen die Flucht in die Krankheit durch die Indiskretion der Psychoanalyse versperrt wird? Sie werden ehrlich sein müssen, sich zu den in ihnen rege gewordenen Trieben bekennen, im Konflikt standhalten, werden kämpfen oder verzichten, und die Toleranz der Gesellschaft, die sich im Gefolge der psychoanalytischen Aufklärung unabwendbar einstellt, wird ihnen zu Hilfe kommen« (GW VIII, S. 114). Wie in der Individualtherapie der Patient in bestimmten Punkten durch die Einsicht in die Wahrheit ein neues Verhältnis zu sich selbst gewinnt, welches durch »Aufrichtigkeit« gekennzeichnet ist, so ändert sich mit dem fortschreitenden Wissen der gesellschaftlichen Öffentlichkeit deren Struktur. Im Gefolge der Veröffentlichung der Wahrheit ergibt sich mit der höheren Toleranz höhere Rationalität, der sich der Einzelne nicht mehr entziehen kann. Gesellschaftliche Veränderung vollzieht sich demnach nicht durch die des einzelnen Individuums, sondern durch die des für alle verbindlichen Kommunikationsniveaus. Allerdings ist der an dieser Stelle verwendete Gesellschaftsbegriff entscheidend durch die grundlegende Analogie geprägt. Durch die Übertragung bestimmter Aspekte der Individualtherapie auf gesellschaftliche Probleme erscheint die Gesellschaft selbst als »Patient«, als einheitliches Subjekt. Freud spricht dementsprechend später auch von Staaten als »Großindividuen«. Erst nach der Entwicklung der phylogenetischen Kulturtheorie hat er die Skala der Möglichkeiten, die sich aus der Analogiebildung ergeben, voll ausgeschöpft. Doch auch schon zu früheren Zeitpunkten sind die gesellschaftstheoretischen Voraussetzungen, auf denen die Analogiebildung beruht, mehr oder weniger deutlich ausgeprägt. Verändernde Praxis bezieht sich auf eine Gesellschaft, die objektiv Träger des Gesamtinteresses ist und von daher eine Affinität zum Fortschritt besitzt. Dieses Gesamtinteresse, welches der Ausdruck des objektiven Interesses jedes Einzelnen ist, korreliert als Ganzes mit der Struktur des Wahrheitsbegriffes, dem, entsprechend der Individualtherapie, Unausweichlichkeit immanent ist. Freuds Veränderungsvorstellung erweitert sich zur »Gesellschaftstherapie« an dem Punkt, wo er auch noch das »subjektive« Element des Ganzen analog zu dem der Individualtherapie gegenüber auftre-
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tenden Widerstand interpretiert. Zunächst jedoch ist durch den zuerst genannten Aspekt die Beziehung zwischen Gesellschaft und Fortschritt eindeutig bestimmt. Weil für Freud die Psychoanalyse »objektiv« auch das Interesse des Ganzen vertrat, zweifelte er nie an ihrer Durchsetzung. »… ich habe vor, Ihnen zu zeigen, daß wir mit unseren Hilfsmitteln zur Bekämpfung der Neurosen keineswegs am Ende sind, und daß wir von der näheren Zukunft noch eine erhebliche Verbesserung unserer therapeutischen Chancen erwarten dürfen. Von drei Seiten her, meine ich, wird uns die Verstärkung kommen: 1) durch inneren Fortschritt, 2) durch Zuwachs an Autorität, 3) durch die Allgemeinwirkung unserer Arbeit« (GW VIII, S. 104 f.). Diese drei Momente: wissenschaftlicher Fortschritt, gesellschaftliche Institutionalisierung und Verwissenschaftlichung der Öffentlichkeit erschienen ihm so eng verbunden, dass er ihre Beziehung als unproblematisch betrachtete.
3.5. Die Beziehungen zwischen Therapie und Gesellschaft Die bürgerliche Gesellschaft befreite das Individuum aus den Zwängen der feudalen Abhängigkeiten, rückte gleichzeitig das Individuum in den Mittelpunkt des sozialen Geschehens. Dieser historische Fortschritt war jedoch von den Besonderheiten der bürgerlich-kapitalistischen Organisationsform der Gesellschaft geprägt, so dass die postulierte Toleranz gegenüber dem Einzelnen einherging mit spezifischen inhaltlichen Einschränkungen und Ansprüchen. Darauf, dass die Psychoanalyse durch diesen Fortschritt ermöglicht, aber auch von diesem gesellschaftlichen Widerspruch geprägt wurde, ist des Öfteren hingewiesen worden, zum Beispiel von Erich Fromm. In Freuds Vorstellungen über die psychoanalytische Therapie und ihre Beziehung zur Gesellschaft kommt diese Besonderheit zum Ausdruck.
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Das Umwälzende an Freuds Unternehmungen lag darin, dass er den Anspruch allgemeiner Toleranz gegen die gesellschaftlich vorherrschenden Normen auch auf die psychisch Kranken ausdehnte und sie nicht als »Degenerierte« oder Simulanten von vornherein abqualifizierte. Stattdessen suchte er ihre Probleme lebensgeschichtlich aus dem Zusammenwirken organischer Voraussetzungen und individueller Erfahrungen zu erklären. Er interpretierte jedoch diese Lebensgeschichte vorrangig als privates Schicksal, welches keine spezifische gesellschaftliche Bedingtheit besaß. Im Allgemeinen betrachtete Freud den gesellschaftlichen Anspruch an das Individuum als notwendig und gerechtfertigt beziehungsweise unumgänglich, zusätzlich als für jeden gleich wirksam, weshalb die spezifische Ursache der Erkrankung im Individuum selbst zu suchen ist. Dadurch bleibt auf der anderen Seite Gesellschaftskritik ohne Bezug auf die spezifischen Organisationsformen, unsystematisiert, und die inkriminierten Tatbestände werden als »Versagen« in einem Punkte bei sonstiger Angemessenheit aufgefasst. Die Tendenz zur »Individualisierung« der psychischen Krankheit verstärkte sich in dem Ausmaß, wie Freud aus der Psychoanalyse einen Normalitätsbegriff zu entwickeln glaubte, dessen gesellschaftliche Determinierung ihm verborgen blieb. Dazu kam, dass Freud zwar den klassischen Krankheitsbegriff für die psychischen Erkrankungen aufhob und selbst die Möglichkeit zur historischen Bestimmung herstellte, auf der anderen Seite jedoch selbst an der Einschätzung des Patienten als »Kranken« in Bezug auf seine persönliche und soziale Identität festhielt und diese Einschätzung hierarchisierte. In Bezug auf die Radikalität mancher Formulierungen ist allerdings festzuhalten, dass sie nicht Ausdruck privater Vorurteile Freuds sind, sondern Freud nur konsequent die Implikationen der Antinomien der bürgerlichen Normen zu Ende denkt, ohne die irrationalen Aspekte bürgerlicher Rationalität zu realisieren. Insofern spiegelt sich in seiner Bestimmung dessen, was ein Patient sein sollte und was er ist, die Widersprüchlichkeit der bürgerlichen Gesellschaft, weil Freud ihren allgemeinen Anspruch für widerspruchsfrei hielt und davon ausging, dass er in der konkreten Wirklichkeit grundsätzlich realisierbar sei. Die Annahme, im Bestehenden sei allgemein eine sinnvolle
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Organisation des interindividuellen Verkehrs erreicht oder zumindest ein Zustand, der diese ermöglicht und anstrebt, hebt den Gegensatz zwischen Allgemeinem und Besonderem auf. Indem er die Gesellschaft stets nur als Ganzes betrachtet, geht Freud davon aus, sie vertrete, ihrem Anspruch gemäß, nur objektive Interessen, keine partikularen. Nur deshalb kann er aus der Analogie sein Konzept gesellschaftlicher Veränderung und später die Analyse ihres »Widerstandes« entwickeln. Auf diesem Hintergrund der Interessenidentität zwischen Individuum und Gesellschaft, welche ihm seine psychoanalytische Forschung zu bestätigen schien, weil das Entwicklungsziel der Psyche mit den Normen der Gesellschaft in wesentlichen Punkten korrelierte, ergibt sich dann in Freuds therapeutischer Praxis aus der Identifizierung bestimmter bürgerlicher Normen mit allgemeiner Objektivität über notwendige praktische Anforderungen hinaus die Tendenz, dem Einzelnen nur dann Beachtung zu schenken, wenn er den Prinzipien dieses Interessenzusammenhangs entspricht, das heißt nur im Rahmen einer bestimmten Erscheinungsform seiner Vergesellschaftung. Jedes qualitativ differierende Verhalten wurde, wie er in Bezug auf den Neurotiker einmal formulierte, als »Austritt aus der menschlichen Gemeinschaft« (GW IX, S. 85) betrachtet und entsprechend grundsätzlich abgelehnt. Für den eingeschränkten Personenkreis, den »Mittelstand« bedeutet psychische Erkrankung Widerspruch zu sich selbst und zur Gesellschaft. Die psychoanalytische Therapie will seine persönliche und soziale Identität, das, was Freud in anderem Zusammenhang »die Heimlichkeit der gleichen seelischen Konstruktion« (GW XVII, S. 52) nannte, wieder herstellen beziehungsweise vervollständigen. Die soziale Wirklichkeit, auf die sich das Postulat praktischer Leistungs- und Genussfähigkeit bezieht, ist die bürgerlich-kapitalistische Fin-de-siècle-Gesellschaft Wiens, die Normen, an denen sich die Therapie orientiert, sind die Ideale bürgerlicher Existenz. Die Forderung nach absoluter Neutralität der Therapie erstreckt sich nur auf die Variationsbreite dieses Therapieziels. Die Aufforderung, keine Motivationen zu vermitteln, sondern es lediglich der Persönlichkeit des Patienten zu ermöglichen, auch über den Teil seiner selbst, welcher ihm fremd ist, im Sinne der ansonsten verwirklichten persönlichen und sozialen Rationalität
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zu verfügen, stützt sich darauf, dass einerseits die soziale Rationalität vorgegeben ist, zum anderen das Individuum diese als seine eigene akzeptiert hat. Jede andere als eine instrumentelle Verwendung der Therapie würde die »Integrität« der Persönlichkeit tangieren. Einzig und allein für Teile des Bürgertums konnte die Interessenidentität zwischen Individuum und Gesellschaft, aus der sich die Freiwilligkeit, bestimmten Zwängen sich zu unterwerfen, ergab, vorausgesetzt werden. Daraus leitete sich auch die therapeutische Möglichkeit der Psychoanalyse ab. Die Widersprüchlichkeit der bürgerlichen Normen in sich und ihr Gegensatz zur gesellschaftlichen Wirklichkeit, auf den noch an anderer Stelle eingegangen wird, äußert sich jedoch nicht nur darin, dass große Teile der Bevölkerung von der Therapie ausgeschlossen werden, weil sie ihren Ansprüchen nicht genügen, sondern auch in Bezug auf diejenigen, für die sie gedacht ist. Der »höhere Grad von Normalität«, der für den Therapeuten gefordert wird, ist auch hierarchisch gemeint. Die Tendenz, Methode und Gegenstand zu trennen, macht sich hier darin bemerkbar, dass Freud davon ausgeht, dass der Arzt durch seine Verfügung über die psychoanalytische Technik dem Patienten, der ja seinen eigenen Ansprüchen und denen der Gesellschaft nicht genügt, in vieler Hinsicht überlegen ist. Die »Nacherziehung« vollzieht sich nicht kooperativ, sondern autoritativ. Dazu passt auch, dass Freud der Psychoanalyse »Detektivmethoden« zuschreibt, mit der sie dem Verheimlichten auf die Schliche kommt, und in der Analyse darauf »lauert« (GW XVII, S. 52), etwas nachweisen zu können. Das allgemeine Verhältnis zwischen Gesellschaft und Patient erscheint im Bereich der gesellschaftlichen und persönlichen Identität so unproblematisch, dass bei aller Schärfe der Kritik in bestimmten Punkten diese nicht zu diesem allgemeinen Verhältnis in Beziehung gesetzt werden. Der Entproblematisierung des gesellschaftlichen Bezugs des Individuums und der Individualtherapie entspricht die der gesellschaftlichen Veränderung, wie sie aus der grundlegenden Analogie heraus konzipiert wird. Mit der Annahme, die Gesellschaft sei dem Gesamtinteresse verpflichtet, vereinfacht sich die Veränderung des Ganzen zur »Gesellschaftstherapie«, wird so entpolitisiert, und die durch die entscheidende Qualität der Wahrheit bestimmte Bezie-
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hung innerhalb der Individualtherapie wird unmittelbar auf das »Großindividuum« übertragen. An den Punkten, wo die Gesellschaft nicht selbst Patient ist, sind ihre Ansprüche an das Individuum von Freud abstrakt formuliert und in ihrer Abstraktheit als richtig akzeptiert, wobei er nicht zwischen allgemeiner Notwendigkeit und spezifischer Organisationsform differenziert, weshalb dann die letzteren mit den ersteren »an sich« nicht als pathogen wirksam erachtet werden. »Es ist ganz richtig, daß jeder, der sich durch sexuelle Schädlichkeiten zur Neurasthenie disponiert hat, die intellektuelle Arbeit und die psychischen Mühen des Lebens schlecht verträgt, aber niemals wird jemand durch Arbeit und durch Aufregung allein neurotisch. Geistige Arbeit ist eher ein Schutzmittel gegen neurasthenische Erkrankung« (GW I, S. 501). »Äußere Lebensverhältnisse« (GW V, S. 64) sind lediglich der Anlass zur Erkrankung für die disponierte Person. In den Fällen jedoch, in denen die Neurose sich »in den Dienst äußerer Motive des Lebens« (S. 279) gestellt hat, kann dies auch an den Schwierigkeiten des Lebens liegen. »Erinnern wir uns …, daß man dem Leben nicht als fanatischer Hygieniker oder Therapeut entgegentreten darf. … Die Neurosen haben … ihre biologische Schutzvorrichtung und ihre soziale Berechtigung; ihr ›Krankheitsgewinn‹ ist nicht immer ein subjektiver. Wer von Ihnen hat nicht schon einmal hinter die Verursachung einer Neurose geblickt, die er als den mildesten Ausgang unter allen Möglichkeiten der Situation gelten lassen mußte? Und soll man wirklich gerade der Ausrottung der Neurose so schwere Opfer bringen, wenn doch die Welt voll ist von anderem unabwendbaren Elend?« (GW VIII, S. 114). Dass ganz allgemein soziale Konflikte Neurosen verursachen können, hat Freud gesehen, er macht jedoch dafür nicht »die« Gesellschaft oder Teile ihrer Organisation verantwortlich, sondern geht aus von einer quasi unabänderlichen Schicksalhaftigkeit menschlicher Existenz. Diese grundlegende Antinomie als »Schicksal« der Gattung Mensch spielt im Rahmen der entwickelten Kulturtheorie noch eine weit bedeutsamere Rolle.
4. Der gesellschaftliche Wahrnehmungsbereich
4.1. Zur Erfassung der sozialen Wirklichkeit Freuds Bemerkung, er sei erst über die Psychologie zur Erfüllung seines Jugendtraumes, der Philosophie, gekommen (Freud, 1962, S. 125), verweist darauf, dass zu Beginn seiner wissenschaftlichen Laufbahn kulturhermeneutisches Interesse und wissenschaftliche Bestätigung auseinander fielen. Dennoch finden sich zu diesem Zeitpunkt bereits theoretische Interpretationen von mehr oder weniger umfassenden Teilbereichen der sozialen Wirklichkeit, die einige wesentliche gesellschaftstheoretische Konstruktions- und Interpretationsprinzipien gemeinsam haben. Sie stehen teils in Zusammenhang mit Anstößen, die sich aus der unmittelbaren sozialen Wirklichkeit heraus ergeben, teils mit den Orientierungserfordernissen der frühen therapeutischen Arbeit. Die umfassende Kulturtheorie knüpft an sie an den Punkten an, die ihren eigentlichen Kern, die Psyche des Individuums, überschreiten, korrigiert sie in gewissen Punkten und integriert sie in eine systematische Theorie. Darüber hinaus sind diese Vorstellungen insofern bedeutsam, weil sie den systematisierten Erfahrungshintergrund darstellen, auf dem die psychoanalytische Wissenschaft aufbaut. Man könnte sie insgesamt als das »vortheoretische« Bild der sozialen Wirklichkeit bezeichnen, in das hinein und aus dem heraus sich die Theorie des Individuums, welche die Psychoanalyse unter gesellschaftstheoretischem Aspekt hauptsächlich ist, entwickelt. In seinen Vorstellungen über die Wissenschaft hatte Freud allgemein einen Begriff der objektiven Realität entwickelt und die Möglichkeiten und Formen ihrer Erkenntnis in ihrer historischen Dynamik zu bestimmen gesucht. Die Besonderheiten der psychoanalytischen Therapie hatten es jedoch erforderlich gemacht,
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zusätzlich zum allgemeinen Handlungshintergrund spezifische Modelle vorzuführen, aus denen sich die Zielbestimmungen der Therapie und so weiter ableiten ließen. Innerhalb dieser beiden Bereiche hatten sich allgemeine explizite und implizite Strukturelemente der noch relativ unentwickelten »Gesellschaftstheorie« ergeben. Neben diesen aus allgemeiner Anschauung und aus den Erfordernissen praktischer Tätigkeit heraus entwickelten Aspekten gesellschaftstheoretischer Interpretation besteht Freuds Auseinandersetzung mit der sozialen Wirklichkeit zu diesem frühen Zeitpunkt aus jenen »vortheoretischen« Bildern, welche zunächst noch relativ disparat sind. Ohne theoretisch integriert zu sein, sind diese vortheoretischen Interpretationen mit den bisher referierten Vorstellungen strukturell und inhaltlich eng verwandt, sie sind deren gesellschaftlicher Fixpunkt. Dabei stellt sich für Freud sein eigener Lebensprozess und das unmittelbar sozial Erfahrbare nicht als genuin soziologischer Reflexionszusammenhang dar. Er geht die theoretisch-praktischen Zusammenhänge gesellschaftlicher Art nicht mit einer expliziten Gesellschaftstheorie an, sehr wohl aber mit grundsätzlichen Perspektiven, die gesellschaftstheoretischer Art sind. Einige wesentliche dieser Positionen haben sich im Verlauf seiner gesamten Entwicklung zwar modifiziert, aber nicht grundlegend verändert, was sich aus ihrer Kontinuität von den frühen Briefen bis in die entfaltete Kulturtheorie ausdrückt. Innerhalb der Kulturtheorie als systematischer Theorie und durch deren innere Logik verlagern sich allerdings die Schwerpunkte, während gleichzeitig die Syndrome vortheoretischer Gewissheiten und sinnlich-praktischer Anschauungen in die metatheoretische Sprache der Kulturtheorie übersetzt werden, also nur noch in vermittelter Form in der Kulturtheorie auftreten. Es wird später noch zu zeigen sein, inwieweit daher die Kulturtheorie auf solche Positionen aufbaut, die selbst unmittelbare, aus der von Macht des Faktischen ausgehenden Faszination der Erscheinung hervorgehende Anschauung sind. Zunächst geht es darum, festzustellen, welche Aspekte des sozialen Geschehens, der sozialen Wirklichkeit insgesamt, für Freud bedeutsam sind, in welcher Weise sie dies sind und wie die einzelnen Aspekte zueinander in direkter und indirekter Beziehung stehen. Dabei ist es auch bedeutsam, neben der Relevanz dessen,
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was Freud gesellschaftlich wahrnimmt, zu sehen, welche Bereiche quasi ausgeklammert werden.
4.2. Die Familie Die Familie in einer spezifischen Organisationsform, als bürgerliche Kleinfamilie, ist der zentrale Fixpunkt der vortheoretischen Gewissheit, in der subjektive Erfahrung und erkenntnisleitendes Interesse zusammentreffen. Die Notwendigkeit ihrer Diskussion in soziologischer Hinsicht ergab sich deshalb für Freud nicht unmittelbar. Gleichwohl war er in der Therapie von Anfang an mit den familiären Verhältnissen der Patienten konfrontiert. »Aus der Natur der Dinge, welche das Material der Psychoanalyse bilden, folgt, daß wir in unseren Krankengeschichten den rein menschlichen und sozialen Verhältnissen der Kranken ebensoviel Aufmerksamkeit schuldig sind wie den somatischen Daten und den Krankheitssymptomen. Vor allem anderen wird sich unser Interesse den Familienverhältnissen der Kranken zuwenden, und zwar, wie sich ergeben wird, auch anderer Beziehungen wegen als nur mit Rücksicht auf die zu erforschende Heredität« (GW V, S. 176). Es lag deshalb nahe, relativ früh und in weitaus dezidierterer Weise als in Bezug auf andere Elemente der sozialen Wirklichkeit, ihre Erscheinungsformen und Veränderungen in einen weiteren theoretischen Kontext zu integrieren. Es handelte sich für ihn nicht darum, eine »Theorie der Familie« aufzustellen, sondern systematisch die Rahmenbedingungen sowohl der neurotischen Erkrankung als auch der individuellen Ontogenese zu ermitteln. Dabei ging er von bestimmten Daten und Positionen aus: »Familie« erscheint allgemein als die bedeutendste Organisationsform der Beziehungen zwischen den einzelnen Individuen, sowohl, was geschlechtsspezifische Unterschiede betrifft, als auch in Bezug auf verschiedene historische Entwicklungsstufen. Die jeweilige Identität von Mann, Frau und Kindern ergibt sich erst im Rahmen der Familie. Da Freud dabei nicht zwischen allgemeiner Strukturproblematik jeder sozialen Existenz und ihrer konkreten Erscheinungsform unterscheidet, ist Familie
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zunächst die bürgerliche Kleinfamilie, wie sie sich wohl auch in der Mehrzahl seiner »Fälle« und in der gesellschaftlichen Wirklichkeit überhaupt darstellte. Sie umfasst typischerweise unmittelbar nur zwei Generationen, ist als dauernd konzipiert und besteht aus relativ wenigen Personen. Familie erscheint also vergesellschaftet mit dem Organisationsprinzip Monogamie und der Institution Ehe. Dabei geht Freud keineswegs davon aus, dass die bürgerliche Kleinfamilie die einzige historische Organisationsform der Familie ist. In »Totem und Tabu« unternimmt er eine Entwicklungsgeschichte der familiären Organisationsformen, unterstellt dabei jedoch im Kontext der phylogenetischen Theorie einerseits eine bestimmte, stufenförmige Entwicklung, innerhalb derer durch die Abhängigkeit der »Kultur« von der Familie implizit deren aprioristische Adäquanz angenommen wird. Dieses Prinzip, welches mit der Adäquanz stets auch die objektive Richtigkeit impliziert, wird auch auf die bürgerliche Kleinfamilie übertragen, die damit als Teil dem neutralen Begriff des Ganzen entspricht. Auf der anderen Seite geht Freud indirekt von einem teleologischen Konzept des Verhältnisses Biologie-Gesellschaft aus, welches eine quasi organische Entwicklung zur bürgerlichen Kleinfamilie annimmt. »Es hat zwar auch in der Entwicklungsgeschichte der Familie Massenbeziehungen der sexuellen Liebe gegeben (Gruppenehe), aber je bedeutungsvoller die Geschlechtsliebe für das Ich wurde, je mehr Verliebtheit sie entwickelte, desto eindringlicher forderte sie die Einschränkung auf zwei Personen – una cum uno –, die durch die Natur des Genitalziels vorgezeichnet ist« (GW XIII, S. 157). Die Kleinfamilie korrespondiert eng mit dem individualpsychologischen Entwicklungsziel, welches noch weiter unten beschrieben wird, und erscheint auch von daher als unabdingbarer Bestandteil der »Kultur«. Gleichzeitig verdeutlicht sich, dass das, was für die sich in der Familie realisierende Beziehung zwischen Mann und Frau gesagt wurde, noch in verstärktem Maß für die Familie selbst gilt. Dieses Ich, um dessen Entwicklung die Familie gruppiert ist, ist das Ich des Mannes, des »Kulturträgers«. Umgekehrt ist dieses männliche Ich als Vater Kristallisationskern der Familie. »Die unverwüstliche Stärke der Familie als einer natürlichen Massenbildung beruht darauf, daß (die) notwendige Voraussetzung der gleichen Liebe des Vaters für sie wirklich zutreffen kann« (S. 139).
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Daraus ergibt sich auch die zentrale Rolle des Vaters für die geschichtliche Entwicklung der Gattung. Dass Freud, was die Strukturen intrafamilialer Rollenverteilung betraf, die Vorurteile seiner Zeit und seiner Klasse vertrat, ist bekannt. Es kann deshalb hier darauf verzichtet werden, sie im Einzelnen noch einmal vorzuführen (Fromm, 1961; Rieff, 1965; Riesman, 1965). Die Grundtendenzen seiner Argumentation und Beschreibungen, die immer wieder kritische Ansätze wie die Analyse der realen Gewaltverhältnisse der Familie (Freud, 1962, S. 95 f.) im Ansatz ersticken lassen, laufen darauf hinaus, die soziale Phänomenologie der Familie biologischteleologisch abzusichern, sie in Anthropologie zu übersetzen und gleichzeitig alles auszurichten auf die Reproduktion der privaten Identität des männlichen Individuums, die mit dessen öffentlichen (siehe 4.4.) korreliert. Auf den Begriff gebracht enthalten seine Äußerungen über die Frau in der Tat fast alle die Vorstellungen, die für die spezifisch bürgerliche Form kleinfamilialer Unterdrückung konstitutiv sind: das Heimchen am Herd (Freud, 1968, S. 81 f.), die Frau als antiintellektuelles Wesen, das wesentlich »intuitiv« ist (GW IV, S. 173, Fußn. 1; GW I, S. 202), der »Objektcharakter« der Frau für den Mann (paradigmatisch GW V, S. 187) und so weiter. Dabei bedingen sich die Identitätszuweisungen und die Rollenverteilung stets gegenseitig: Der direkte Hinweis, ein Haushalt erfordere schon eine ganze Frau (Freud, 1968, S. 81), korreliert mit der sozial normalen Passivität der Frau, die weitgehend biologisch determiniert erscheint. Von daher wird verständlich, dass Freud keine strukturellen intrafamilialen Konflikte zwischen Mann und Frau vorgesehen hat, sie deshalb auch keine systematische Bedeutung in seiner Theorie gewinnen konnten, wodurch reale Konflikte immer individualisiert beziehungsweise als Teil der unausweichlichen Konflikte der Kultur ontologisiert wurden. Aus den Strukturelementen der Kleinfamilie, Kontinuität der Rollenträger und eindeutige Rollendefinitionen und aus den Annahmen über die einzelnen Beteiligten soweit ihre Beziehungen untereinander konstruiert Freud die innere Dynamik der Familie aus den dadurch notwendig sich ergebenden Konflikten. »In der Beziehung zwischen Eltern und Kindern liegen mehr als nur ein Anlaß zur Feindseligkeit verborgen. … Verweilen wir zunächst bei der Relation zwischen Vater und Sohn. … Je unumschränkter der
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Vater in der alten Familie herrschte, desto mehr muß der Sohn als berufener Nachfolger in die Lage des Feindes gerückt, desto größer muß seine Ungeduld geworden sein, durch den Tod des Vaters selbst zur Herrschaft zu gelangen. Noch in unserer bürgerlichen Familie pflegt der Vater durch die Verweigerung der Selbstbestimmung und der dazu nötigen Mittel an den Sohn dem natürlichen Keim zur Feindschaft, der in den Verhältnissen liegt, zur Entwicklung zu verhelfen. … Die Anlässe zu Konflikten zwischen Mutter und Tochter ergeben sich, wenn die Tochter heranwächst, und in der Mutter die Wächterin findet, während sie nach sexueller Freiheit begehrt, die Mutter aber durch das Aufblühen der Tochter gemahnt wird, daß für sie die Zeit gekommen ist, sexuellen Ansprüchen zu entsagen« (GW II/III, S. 262 f.). Diese Ontologie des intrafamilialen Konflikts, die Freud mit Hilfe der vortheoretischen Gewissheit aus einer spezifischen Situation gewinnt, wird von ihm in Verbindung gebracht mit der ebenso natürlich vorgegebenen libidinösen Struktur innerhalb der Familie, die so aussieht, »daß die erste Neigung des Mädchens dem Vater, die ersten infantilen Begierden des Knaben der Mutter gelten. Der Vater wird somit für den Knaben, die Mutter für das Mädchen zum störenden Mitbewerber. … Ein natürlicher Zug sorgt dafür, daß der Mann die kleinen Töchter verzärtelt, die Frau den Söhnen die Stange hält« (GW, S. 264). Diese vorab zugeordneten Beziehungen zwischen Eltern und Kindern und das ihnen zugeschriebene ontologische Konfliktpotential münden dann in den Ödipuskomplex, so dass zwischen geschlechtsspezifischer Anlage, Familienorganisation und kultureller Entwicklung insgesamt eine sinnvolle Beziehung im Rahmen der Theorie besteht. Dadurch gewinnen die Konstruktionen und Interpretationen im weiteren Verlauf ihrer Entwicklung mehr und mehr den Charakter der Sinnhaftigkeit: »Wenn die Mutter die Sexualbetätigung der Tochter hemmt oder aufhält, so erfüllt sie eine normale Funktion, welche durch die Kindheitsentwicklung vorgezeichnet ist, starke, unbewußte Motivierung besitzt und die Sanktion der Gesellschaft gefunden hat« (GW X, S. 240) – so formuliert Freud später. Während die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern gleichzeitig gegensätzlich und nützlich in Bezug auf die Kulturentwicklung sind, sind die Beziehungen zwischen den Erwachse-
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nen harmonisch, zumindest insoweit, als »männlich« und »weiblich« aufeinander abgestimmt sind. Umso mehr ist das Verhältnis der Kinder untereinander problematisch. »Es ist nicht schwer zu sehen, daß auch der Charakter des braven Kindes anders ist, als wir ihn bei einem Erwachsenen zu finden wünschen. Das Kind ist absolut egoistisch, es empfindet seine Bedürfnisse intensiv und strebt rücksichtslos nach ihrer Befriedigung, insbesondere gegen seine Mitbewerber, andere Kinder und in erster Linie gegen seine Geschwister« (GW II/III, S. 256). – »Seine Geschwister liebt das Kind nicht notwendigerweise, oft offenkundig nicht. Es ist unzweifelhaft, daß es in ihnen seinen Konkurrenten haßt, und es ist bekannt, wie häufig diese Einstellung … anhält … Am leichtesten kann man sie an Kindern von 2 1/2 bis 4 und 5 Jahren beobachten, wenn ein neues Geschwisterchen dazu kommt. Das hat meist einen sehr unfreundlichen Empfang … In der Folge wird jede Gelegenheit benützt, um den Ankömmling herabzusetzen, und selbst Versuche, ihn zu schädigen, direkte Attentate, sind nichts Unerhörtes. Ist die Altersdifferenz geringer, so findet das Kind beim Erwachsenen intensiverer Seelentätigkeit den Konkurrenten bereits vor und richtet sich mit ihm ein« (GW XI, S. 208 f.). Der Konflikt der Kinder untereinander erscheint als unvermeidlich, weil jedes das andere als Konkurrenten bei der Befriedigung seiner asozialen Wünsche erfährt. Wieweit diese Beobachtung phänomenologisch stimmt, also Geschwisterhass im Bürgertum tatsächlich vorherrschte, ist hier nicht überprüfbar. Deutlich ist jedoch, dass Freud die Beziehungen der Kinder untereinander nach dem »Vorbild« der Erwachsenen darstellt, so dass die Struktur der Erwachsenenwelt auch für die Kinder zutrifft. Die ersten Sozialerfahrungen der Kinder ist die Konkurrenz, deren Grund liegt in ihrer primären Asozialität. Daraus ergibt sich auch die Kontinuität beider Erfahrungsbereiche, wie sie sich in Freuds Theorie dann darstellt. Die theoretische Ausformulierung, in der die einzelnen empirischen Daten integriert werden, erscheint dann als rein induktives Vorgehen, während der Vorgang der Begriffsbildung tatsächlich in wesentlichen Punkten deduktiv ist. In der Theorie scheint die Wirklichkeit aus aprioristischen Strukturbesonderheiten des Sozialen abgeleitet zu sein. Dagegen sind die theoretischen Begriffe selbst von
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bestimmten Strukturen der Wirklichkeit so geprägt, dass sie die empirischen Daten nach deren Prinzipien gruppieren. Die bisher geschilderte Ontologie des intrafamiliären Konflikts betraf die unmittelbar aus der individuellen Eigenart der Beteiligten sich ergebenden Interaktionsstrukturen. Ein weiterer Aspekt der familiären Dynamik ergibt sich aus der entwicklungsgeschichtlichen Beziehung der Kinder zu ihren Eltern, die Freud in seinem Aufsatz über den »Familienroman der Neurotiker« (GW VII, S. 227 f.) verdeutlicht. Ein Fixpunkt des familiären Geschehens ist der Wunsch der Kinder, den Eltern zu gleichen. »Für das kleine Kind sind die Eltern zunächst die einzige Autorität und die Quelle allen Glaubens. Ihnen, das heißt dem gleichgeschlechtlichen Teile, gleich zu werden, groß zu werden wie Vater und Mutter, ist der intensivste, folgenschwerste Wunsch dieser Kinderjahre« (S. 227). Dieser Wunsch ergibt sich aus der Vorstellung der Omnipotenz der Eltern, was nicht nur aus den faktischen Überlegenheiten, sondern auch aus der Projektion eigener Phantasien der Kinder auf die Eltern sich ergibt. Diese Einstellung der Kinder wird im Verlauf der Entwicklung getrübt. Einerseits führt die kognitive Entwicklung zur Desillusionierung über die tatsächliche soziale Stellung der Eltern, zum anderen ergibt sich zwangsläufig aus der sexuellen Rivalität und dem Anspruch auf die ausschließliche Zuneigung der Eltern zumindest eine Ambivalenz der Beziehung. »Die Empfindung, daß die eigenen Neigungen nicht voll erwidert werden, macht sich dann … in der Idee Luft, man sei ein Stiefkind oder ein angenommenes Kind« (S. 228). Daneben versucht das Kind die reale soziale Position der Eltern zu kompensieren. »Um die angegebene Zeit beschäftigt sich nun die Phantasie der Kinder mit der Aufgabe, die geringgeschätzten Eltern loszuwerden und durch in der Regel sozial höher stehende zu ersetzen. Dabei wird das zufällige Zusammentreffen mit wirklichen Erlebnissen (die Bekanntschaft des Schloßherrn oder Gutsbesitzer auf dem Lande, der Fürstlichkeit in der Stadt) ausgenützt. Solche zufälligen Erlebnisse erwecken den Neid des Kindes, der dann den Ausdruck in einer Phantasie findet, welche beide Eltern durch vornehmere ersetzt« (S. 229). Diese intrafamiliale Dynamik ist innerhalb eines bestimmten Rahmens »normal« in Bezug auf die durch sie auftretenden Kom-
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plikationen und deren Ergebnisse. Für den Neurotiker gewinnen sie innerhalb dessen Lebensgeschichte einen anderen Stellenwert und werden so zum »Familienroman«. Das Geschehen selbst scheint in Freuds Theorie als »naturwüchsig« angelegt. Erneut zeigt sich jedoch, dass die Begriffe, mit denen diese Ontologie der familiären Dynamik dargestellt wird, von spezifischen sozialen Verhältnissen ausgehen, ohne dass diese mitreflektiert würden. Dabei verdeutlicht sich die Relevanz der Familie und der Vorstellungen über sie als Vermittlungsinstanz zwischen gesellschaftlichen Strukturen und dem Bereich, in dem sie chiffriert zum Ausdruck kommen, der Anthropologie. Die Vorstellungen der Omnipotenz der eigenen Eltern und der intensive Wunsch ihnen zu gleichen, können diese Qualität nur dann gewinnen, wenn die Eltern den Kindern vermitteln, sie seien omnipotent und durch ihr Verhalten in den Kindern den Wunsch dadurch wecken, dass sie ihnen eine andere, erstrebenswerte Identität vorhalten und ihre faktische Überlegenheit in diesem Sinne benutzen. Noch klarer wird die soziale Bedingtheit dessen, was in der Theorie ontologisiert wird, am Beispiel der Phantasie, ein Stiefkind zu sein. Ohne die Kenntnis der begrifflichen Differenzierung zwischen Kind und Stiefkind und der sie begleitenden Einstellungsdifferenz, aber auch ohne die diesen zu Grunde liegende Fixierung des Kindes auf die Eltern wäre diese Phantasie gar nicht denkbar. Da Freud nicht die sozialstrukturellen Voraussetzungen (wie die Legalität der Ehe, die Isolation der einzelnen Familien, die individualistische Sozialisation usw.) sondern die (unbewussten) Strukturen des individuellen Verhaltens analysiert, ist seine Theorie tatsächlich eine »Naturgeschichte« der ontogenetischen Entwicklung unter den Bedingungen der bürgerlichen Gesellschaft seiner Zeit. So kommt es zu der Annahme, das Kind reagiere aus sich selbst heraus auf die – implizit als selbstverständlich vorausgesetzten – sozialen Verhältnisse, wenn es die »geringgeschätzten« Eltern durch »sozial höherstehende« ersetzt. Dabei geht Freud nicht nur davon aus, dass das Kind die (hierarchischen) Kriterien der sozialen Wirklichkeit unmittelbar lernt, sondern sie auch ohne weiteres für sich selbst übernimmt. Diese Übereinstimmung zwischen gesellschaftlicher Wirklichkeit und individueller Entwicklung wird möglich durch ein Konzept der Familie, welches zwischen beiden dadurch
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vermittelt, dass es die Ontogenese auf dem Hintergrund spezifischer sozialer Verhältnisse beschreibt und interpretiert. Dem entspricht es, wenn Freud allgemein davon ausgeht, dass eine Störung dieser »normalen« Verhältnisse pathogen wirksam ist: »Es ist leicht zu verstehen, daß jede Störung (der) Kindheitsbeziehungen die schwersten Folgen für das Sexualleben nach der Reifung zeitigt« (GW V, S. 130). Dasselbe gilt für Situationen, in denen bestimmte Strukturelemente fehlen oder die Beziehungen verändert sind: Ein vaterloses Kind verfällt leicht der Mutterfixierung (vgl. GW VIII, S. 187 ff.) und auch ein uneheliches Kind ist von Erkrankung bedroht (vgl. GW XI, S. 73). Dies entspricht sicher den tatsächlichen gesellschaftlichen Verhältnissen, aber Freud vernachlässigt in seiner Darstellung und Interpretation die soziale Vermittlung der Sachverhalte wie etwa die für das letztere konstitutive Diskriminierung der unehelichen Kinder und ihrer Mütter. In der weiteren Entwicklung der psychoanalytischen Theorie gewinnt die Familie besondere Bedeutung. Als »natürliche Masse« ist sie das Vorbild jeder »künstlichen« Massenbildung, welche sich in wesentlichen Punkten an den ihr immanenten Verhältnissen orientiert und an sie anknüpft (vgl. GW XIII, S. 101 ff.). Damit vollzieht sich in der Theorie, was im Kontext vortheoretischer Gewissheit bereits angelegt war. Für das Individuum ist die Familie von doppelter Bedeutung. Zum einen ist sie das Medium, in dem sich seine Identität zum großen Teil erfüllt, in dem beispielsweise die Beziehung Mann – Frau zum Tragen kommt. Auf der anderen Seite ist sie die Organisation, in der sich seiner Entwicklung und Identitätsfindung, etwa durch die Struktur der Vater-SohnBeziehung, vollzieht. Sie ist von Freud als quasi gesellschaftlicher Freiraum konzipiert und entspricht in ihrer »Neutralität« der des gesellschaftlichen Ganzen. Das Problem ihrer spezifischen gesellschaftlichen Bedingtheit wird von Freud nicht angesprochen. Stattdessen geht er davon aus, sie sei in ihrer Entwicklung nicht nur der Entwicklung des Ganzen angemessen, sondern in gewisser Weise deren Kern. Die tatsächlichen soziologischen Strukturen, von denen das Konzept der Familie ausgeht, erscheinen nicht als solche, ihre Antinomien tauchen jedoch in chiffrierter Form in der Ontologie familiären Geschehens auf. Da diese aus dem Individuum heraus konstruiert wird, verlagern sich die realen An-
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tinomien in die Anthropologie. Durch die »Naturwüchsigkeit« der bürgerlichen Kleinfamilie rückt das (männliche) Individuum mehr und mehr ins Zentrum des sozialen Geschehens, doch ist dieses Konzept selbst bereits Ergebnis einer spezifischen Vorstellung vom Individuum und von der Gesellschaft. Dies wird theoretisch auf eine heimliche Harmonie zwischen Biologischem und Sozialem aufgebaut, indem Freud aus der »natürlichen« Familie die Rationalität der Gesellschaft ableitet.
4.3. Das Kind Durch den Fortschritt der psychoanalytischen Forschung wurde die Lebensgeschichte des Patienten immer bedeutsamer für die Therapie der Neurosen. Vor allem das frühkindliche Schicksal entpuppte sich mehr und mehr als Mittelpunkt der neurotischen Komplikationen, so dass das Kind und seine Entwicklung bald zum Betätigungsfeld der Psychoanalyse wurde. Diese Entwicklung innerhalb der psychoanalytischen Theorie war auch für die mehr oder weniger direkten kulturtheoretischen Interessen Freuds von Bedeutung. Je mehr das Individuum als Ergebnis eines Entwicklungsprozesses erschien, desto mehr gewann die Ontogenese für seine Konstitution an Bedeutung. Die Dynamik der Familie, deren theoretische Beschreibung wiederum zur Konzentration auf das Individuum führte, ergab sich im Grunde einzig aus der psychischen Struktur der Kinder. Nicht die Organisationsform der Familie, sondern die sich aus der individuellen Psyche der Beteiligten ergebenden Konflikte erschienen Freud problematisch. Die Ontologie der intrafamilialen Konflikte war das Ergebnis spezifischer anthropologischer Theoreme, in denen sich aber auch zentrale gesellschaftstheoretische Positionen manifestierten. Eine Annahme in Bezug auf die ursprüngliche Qualität der infantilen Psyche war gewesen, dass das Kind den Erwachsenen gleichen wollte, gleichzeitig unersättlich in seinen asozialen Wünschen und in seiner eigenen Vorstellung omnipotent sei; Charakterzüge, die den Erwachsenen als Neurotiker ausweisen.
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»Auch das Große, Überreiche, Übermäßige und Übertriebene der Träume könnte ein Kindheitscharakter sein. Das Kind kennt keinen sehnlicheren Wunsch als groß zu werden, von allem so viel zu bekommen wie die Großen; es ist schwer zu befriedigen, kennt kein Genug, verlangt unersättlich nach der Wiederholung dessen, was ihm gefallen oder geschmeckt hat. Maß halten, sich bescheiden, resignieren lernt es erst durch die Kultur der Erziehung. Bekanntlich neigt auch der Neurotiker zu Maßlosigkeit und Unersättlichkeit« (GW II/III, S. 274, Fußn. 1). Weil in der intrapsychischen Struktur des Kindes die für die kulturelle Entwicklung wichtigen Instanzen wie Ekel und so weiter noch nicht errichtet sind (vgl. GW II/III, S. 609), sind die sexuellen Wünsche und Phantasien, die sie produzieren, der sexuellen Normalität (s. u.) diametral entgegen gesetzt. »Die infantilen Sexualszenen sind … nämlich arge Zumutungen für das Gefühl eines sexuell normalen Menschen; sie enthalten alle Ausschreitungen, die von Wüstlingen und Impotenten bekannt sind, bei denen Mundhöhle und Darmausgang mißbräuchlich zur sexuellen Verwendung gelangen« (GW I, S. 451 f.). Auch wenn das Verhalten des Kindes anderen Bewertungskriterien unterliegt, ist sein Bezugspunkt doch insgesamt die Erwachsenenwelt und die in ihr geltenden Normen. Daraus ergibt sich die allgemeine Beurteilung des Kindes und gleichzeitig auch das für Freud zentrale Problem, wie aus dem Kind ein Erwachsener wird. »Es ist nicht schwer zu sehen, dass … der Charakter des braven Kindes ein anderer ist, als wir ihn beim Erwachsenen zu finden wünschen. Das Kind ist absolut egoistisch, es empfindet seine Bedürfnisse intensiv und strebt rücksichtslos nach seiner Befriedigung, insbesondere gegen seine Mitbewerber, andere Kinder, und in erster Linie gegen seine Geschwister. Wir heißen das Kind aber darum nicht ›schlecht‹, wir heißen es ›schlimm‹; es ist unverantwortlich für seine bösen Taten vor unserem Urteil wie vor dem Strafgesetz. Und das mit Recht; wir dürfen erwarten, daß noch innerhalb von Lebenszeiten, die wir der Kindheit zurechnen, in dem kleinen Egoisten die altruistischen Regungen und die Moral erwachsen werden … Wohl entsteht die Moralität nicht gleichzeitig auf ganzer Linie, auch ist die Dauer der morallosen Kindheitsperiode bei den einzelnen Individuen verschieden lang. Wo die Entwicklung dieser Moralität
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ausbleibt, sprechen wir gerne von ›Degeneration‹; es handelt sich offenbar um eine Entwicklungshemmung« (GW II/III, S. 256). Auch wenn das Kind ausdrücklich aus dem objektiven Bewertungssystem, welches für die Erwachsenen verbindlich ist, suspendiert wird, so wird doch die Wirklichkeit des Kindes nicht nur mit Begriffen aus der Erwachsenenwelt dargestellt, sondern auch mit Hilfe von normativen Kategorien, wie sie an das erwachsene Individuum angelegt werden, erklärt. Durch diese Beschreibungsweise wird das Kind zum Negativbild des bürgerlichen Individuums; es hat alle Verhaltensweisen an sich, deren Überwindung erst »kulturfähig« macht. Da Freud auch hier nicht unterscheidet zwischen Allgemeinem und Besonderem in der infantilen Entwicklung, ist für ihn der Zusammenhang zwischen der Struktur der Wirklichkeit und der Begriffsbildung unproblematisch. Er geht davon aus, dass die psychosexuelle Entwicklung des Kindes phylogenetisch bedingt ist (man könnte auch umgekehrt sagen: Die phylogenetische Theorie ist die einzig adäquate Ergänzung der spezifischen theoretischen Verarbeitung seiner Erkenntnisse und der sozialen Wirklichkeit insgesamt) und übersieht dabei die dialektische Beziehung zwischen der psychosexuellen Entwicklung des menschlichen Individuums und deren sozialen Umgebung. Über weite Strecken verwechselt er deshalb die konkreten Erscheinungsweisen des infantilen Entwicklungsprozesses mit allgemeiner, im Verlauf der Phylogenese zur biologischen Notwendigkeit gewordenen Evolution. Dabei mussten die spezifischen Sozialisationsbedingungen theoretisch erheblich an Bedeutung einbüßen. Stattdessen entwickelte Freud aus den Ergebnissen der im Bürgertum vorherrschenden Sozialisationsprozesse, das heißt der spezifischen Art, in der die infantile Entwicklung im Bürgertum strukturiert und gesteuert wurde, allgemeine Evolutionsbegriffe, die Universalitätsansprüche erhoben. Dies verhinderte die Einsicht, dass unter anderen Sozialisationsbedingungen allgemeine Entwicklungsprobleme qualitativ verschiedene Formen annehmen können, zum Beispiel der Ödipuskomplex als spezifische Verarbeitung des allgemeinen Problems der Lösung von den primären Bezugspersonen aus der Rollenverteilung der bürgerlichen Kleinfamilie hervorgeht. Da der soziale Kontext nicht Gegenstand seiner Diskussion ist, bleibt die Beziehung zwischen bürgerlichem Individuum, bürger-
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lichen Sozialisationsmethoden und infantiler Entwicklung verschlossen. Die ontologische Bestimmung: »das Kind ist egoistisch« baut auf die Wirklichkeit, wie sie ist, auf, und spiegelt das Ergebnis der mit der individuellen Konkurrenz in Einklang stehenden und auf sie ausgerichteten Erziehung der Söhne des Bürgertums wider. Sie ist der theoretische Schluss aus der unmittelbaren Anschauung bürgerlicher Sozialisationspraktiken und setzt die allgemeine Sinnhaftigkeit und die Neutralität der sozialen Umgebung voraus. Dass beispielsweise der Wunsch des Kindes, groß zu werden, mit der Art und Weise, wie es behandelt wird, zusammenhängt (im obigen Zitat wäre er unmittelbar zu beziehen auf seinen Inhalt: »von allem so viel zu bekommen wie die Großen«, was darauf schließen lässt, dass das Kind faktisch in vielem zurückgesetzt wird), und dass zwischen der Erziehung des Kindes und dem gesellschaftlich produzierten Erziehungsziel eine bestimmte Beziehung besteht, realisiert Freud deshalb nicht. Seine Beschreibungen treffen deshalb zu, weil sie die bürgerliche Wirklichkeit widerspiegeln, die die Individuen in dieser Weise produziert. Dass sich die Kinder »egoistisch« verhalten, ist wahr, aber nicht die ganze Wahrheit, weil denkbar ist, dass andere Sozialisationsbedingungen, unter denen das Kind nicht zurückgesetzt wird und zu dieser Form der Individuation angehalten wird, »Egoismus« in dieser Form nicht auftreten wird. Mit der Unterstellung, die soziale Struktur der bürgerlichen Gesellschaft sei weitgehend unproblematisch, ontologisieren sich in der Theorie der Antinomien der bürgerlichen Sozialisation, welche sich einerseits am Toleranzbegriff orientiert, andererseits auf die Erfordernisse der Konkurrenz vorbereiten muss. Begrifflich kommt es zu dem, wovor Freud selbst oft gewarnt hat: zur Projektion der Vorstellungen der Erwachsenenwelt der bürgerlichen Gesellschaft in die der Kinder und damit zu deren Übersetzung in Anthropologie. Weil die Erwachsenenwelt von Konkurrenz und Besitzindividualismus, der Notwendigkeit entfremdeter Arbeit und der Einschätzung des anderen als Objekt gekennzeichnet ist und die Kinder nicht nur darauf vorbereitet, sondern danach formt, reproduzieren diese die gesellschaftlich bereits vorhandenen Verhaltensweisen. Dieser Zusammenhang wird von Freud genau umgekehrt dargestellt: Für ihn entsteht Konkurrenz, weil Egoismus eine primäre Triebqualität ist. Die nicht realisierte
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Widersprüchlichkeit der bürgerlichen Existenz spiegelt sich dann in den Kategorien der Psychoanalyse. Durch Freuds Erkenntnisse über die Entwicklung des Kindes wurde das Problem der Erziehung in den Vordergrund gerückt. Auch wenn er zu diesem Zeitpunkt davon ausging, dass die moralischen Schranken, die sich im Individuum errichten, von selbst entstehen, so hatte doch die psychoanalytische Forschung gezeigt, dass das Verhalten der Erzieher durchaus von Bedeutung für die Entwicklung des Kindes war. Sollte der Entwicklungsprozess in der Entstehung des reifen, autonomen, »genitalen« Individuums münden, so bedurfte es rationaler Erziehungspraktiken. Demgegenüber waren die herkömmlichen Methoden völlig inadäquat. »In der Kindererziehung wollen wir nichts anderes als in Ruhe gelassen werden, keine Schwierigkeiten erleben, kurz, das brave Kind züchten, und achten sehr wenig darauf, ob dieser Entwicklungsgang dem Kinde auch frommt« (GW VII, S. 374). Man kann die psychoanalytische Erziehungstheorie, soweit sie in Freuds Schriften angelegt ist, als Versuch, den Erziehungsprozess rational zu reflektieren, betrachten. Doch gilt auch hier, was bereits weiter oben in anderem Zusammenhang sich verdeutlichte: dass die psychoanalytische Kritik wegen ihrer gesellschaftstheoretischen Voraussetzungen wohl den Tatbestand bezeichnen kann, nicht aber den gesellschaftlichen Ort der inkriminierten Praktiken, ihre Protagonisten und ihre Funktion im gesellschaftlichen Reproduktionsprozess. Die Kritik kann sich deshalb nur an eine dem aufklärerischen Interesse verpflichtete, vorausgesetzte Öffentlichkeit wenden, ohne die Möglichkeiten der Veränderung und ihren Träger soziologisch bestimmen zu können. Dem entspricht es, wenn die für die Erziehung angenommene Rationalität selbst nicht problematisiert wird. Die sozialen Voraussetzungen, von denen sie ausgeht und die sozialen Strukturen, auf die sie sich bezieht, erscheinen nicht als solche. Stattdessen ergibt sich ein allgemeines Konzept rationaler Erziehung, deren Korrelation mit den Daten der Ontogenese Objektivität unterstellen. Die Rationalität der Erziehung entspricht der der Gesellschaft. Die Rationalität der Erziehung impliziert, dass die Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern als objektiv vorausgesetzt werden können. Nicht die Familie und ihre Infrastruktur erscheint
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problematisch, sondern nur die Antinomie zwischen dem Kind, später von Freud auch als »kleine Wilde« bezeichnet, und dem Erwachsenenvorbild, dessen spezifische Inhalte als individuelle und kollektive Kulturnormen a priori akzeptiert werden. Die Theorie der Ontogenese ist deshalb von dem gekennzeichnet, dass Freud versucht, die objektive Notwendigkeit einer besonderen Entwicklung nachzuweisen, während er auf der anderen Seite das Kind als zukünftigen Erwachsenen behandelt. Die mangelnde Distanz zur gesellschaftlichen Wirklichkeit des Bürgertums verdeckt dabei zwar in der Theorie die Differenz zwischen der allgemeinen Problematik und ihrer spezifischen Lösung im Bürgertum, damit auch der Widersprüche, überträgt jedoch die Realantinomien der bürgerlichen Existenz auf die Welt des Kindes und die Anthropologie.
4.4. Institutionen der Gesellschaft Diese Überschrift ist insofern irreführend, als Freud selbst natürlich keine »Institutionstheorie« aufgestellt hat und nicht im soziologischen Sinne zwischen Institution und Organisation und so weiter unterscheidet. Die hier zu behandelnde Problematik besteht darin, darzustellen, welche Bereiche und Strukturen der sozialen Wirklichkeit Freud in welcher Art und Weise erfasst und in welche Beziehungen er sie zueinander setzt, wobei es neben den inneren Zusammenhängen auch um die Gemeinsamkeiten in der Konstruktion der Wirklichkeit und die Beziehungen zwischen Konstruktionsprinzip und Wirklichkeit selbst geht. Kein anderer Bereich des Sozialen hat für Freuds eigene Erfahrungen wie für seine praktische Tätigkeit die Bedeutung, die der Familie zukommt. Denn gerade durch die Tendenz, die sich im Familienkonzept durchsetzt, durch die Identifizierung von Individuen und Rollen, die Entpolitisierung der Familie und die Anthropologisierung sozialen Verhaltens verlieren die »faits sociaux« durch die Personalisierung des sozialen Geschehens ihre Eigenständigkeit. Zusätzlich geht das Gewicht, welches Freud auf die Familie legt, auch dadurch auf Kosten anderer Elemente der
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Gesellschaft, weil in ihm das gesellschaftstheoretische Konstruktionsprinzip, dem Individuum und seinem unmittelbaren Aktionsrahmen das gesellschaftliche Ganze als integratives System aller Einzelindividuen direkt gegenüberzustellen, voll zum Ausdruck kommt. Gleichzeitig überträgt sich der ausdrückliche »nicht institutionelle« Charakter der Familie, der sich aus ihrer »Natürlichkeit« ergibt, auch auf die anderen Bereiche der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Zwischen der »mikrosoziologischen« Analyse sozialen Geschehens in der Familie und der »makrosoziologischen« Theorie klafft dadurch eine Lücke, mit der sich Freud nur gelegentlich, ohne jemals systematisch vorzugehen, beschäftigt. Unter dem Stichwort »Institutionen« findet sich im Gesamtregister der Gesammelten Werke (GW) der Verweis: siehe Kulturinstitutionen, womit vornehmlich die Topoi gemeint sind, die in der entwickelten Kulturtheorie auftauchen wie Mythen, Kunst, Religion und so weiter Unter diesen Umständen stellt sich die Frage nach der Systematik dieser mehr oder weniger oft erwähnten sozialen Sachverhalte und ihres Stellenwertes innerhalb des Gesamtkonzeptes der »vortheoretischen Gewissheit«. Das, was bei Freud als »Institutionen« bezeichnet werden könnte, sind in erster Linie die Stationen der Entwicklung des (männlichen) Kindes aus dem Bildungsbürgertum: Volksschule, Gymnasium, Universität, Militärdienst, bis dann die »unerbittliche Kausalverkettung des Lebens« (GW II/III, S. 281) das Handeln des nun erwachsenen Individuums bestimmt: Familie und Beruf. Dies genauer zu »belegen«, ist deshalb schwierig, weil Freud selbst konsistente Vorstellungen in dieser Beziehung nie formuliert hat, sondern von der Selbstverständlichkeit dieser Aspekte der individuellen Lebensgeschichte ausgegangen ist. Eine Zitatensammlung könnte deshalb nur demonstrieren, dass und in welcher Häufigkeit das Wort »Universität« beispielsweise auftaucht und wie sich die auf den einzelnen Stufen der Entwicklung ergebenden Probleme als mehr oder weniger unumgänglich darstellen. So bezieht er zwar Prüfungsangst auf Prüfungen, stellt aber deren Charakter nicht in Frage. »Jeder, der mit der Maturitätsprüfung seine Gymnasialstudien abgeschlossen hat, klagt über die Hartnäckigkeit, mit welcher der Angsttraum, daß er durchgefallen sei, die Klasse wiederholen
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müsse u. dgl. ihn verfolgt … Es sind die unauslöslichen Erinnerungen an die Strafen, die wir in der Kindheit für verübte Untaten erlitten haben, die sich an den Knotenpunkten unserer Studien, an dem ›dies irae, dies illae‹ der strengen Prüfungen in unserem Inneren wieder geregt haben« (GW II/III, S. 280). Den gesamten Entwicklungsgang, auch seine Bildungsinhalte, setzt Freud voraus, wenn er über einen 13-jährigen Schüler sagt: »Der Knabe wollte sich nicht an das erinnern, was er doch vor so viel kürzerer Zeit als ich gelernt haben mußte« (GW IV, S. 221). Dies hängt damit zusammen, dass Freud den Institutionen bestimmte, objektiv vorgegebene Funktionen zuweist, die sich im Rahmen eines sinnvollen Ganzen ergeben. Sie werden deshalb nur dann problematisch, wenn sie ihrer Funktion nicht gerecht werden: »Die Mittelschule soll … mehr leisten, als daß sie die jungen Leute nicht zum Selbstmord treibt; sie soll ihnen Lust zum Leben machen und ihnen Stütze und Anhalt bieten in einer Lebenszeit, da sie durch die Bedingungen ihrer Entwicklung genötigt werden, ihren Zusammenhang mit dem elterlichen Hause und ihrer Familie zu lockern. Es scheint mir unbestreitbar, daß sie dies nicht tut, und daß sie in vielen Punkten hinter ihrer Aufgabe zurückbleibt, Ersatz für die Familie zu bieten und Interesse für das Leben draußen in der Welt zu erwecken« (GW VIII, S. 62). Die Institutionen selbst werden nicht der Kritik unterzogen und das, was kritisiert wird, wird dem Sinn des Ganzen gegenübergestellt und nicht aus dessen Struktur abgeleitet. Im Allgemeinen geht Freud jedoch implizit von einer funktionalen und gleichzeitig sinnvollen Beziehung zwischen Institution und gesellschaftlichem Ganzen aus, so dass im Einzelnen die Normen der Institutionen wie zum Beispiel des Militärdienstes (vgl. GW IV, S. 170 f.) als selbstverständlich erscheinen. Die Beschäftigung mit Institutionen im Rahmen der entwickelten Kulturtheorie konzentriert sich noch mehr auf die (massenpsychologischen) Grundlagen institutioneller Zusammenhänge (z. B. Kap. V aus »Massenpsychologie und Ichanalyse«, GW XIII) und problematisiert deren gesellschaftlichen Sinn nur noch im phylogenetischen Kontext. Diese Entpolitisierung der organisatorischen Struktur der Gesellschaft entspricht dem allgemeinen Anspruch an die Wissenschaft, sich politisch neutral
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zu verhalten, welcher selbst schon eine gesellschaftstheoretische Entscheidung ist. Dem geht voraus, dass Freud in seinen unsystematischen und verstreuten vortheoretischen Bemerkungen die Arbeitswelt, besonders die Bereiche der materiellen Produktion, ausklammert: Sie haben weder für ihn selbst noch für die meisten seiner Patienten unmittelbare Relevanz und erscheinen als unproblematisch. Das implizite Argument, an Konflikten der Arbeitswelt erkranke nur, wer neurotische Disposition besitze, ist sicher nicht rein ideologisch, blendet jedoch systematische, durch ihre Struktur vermittelte Widersprüche aus. Von daher ist es konsequent, wenn, entsprechend seiner eigenen sozialen Wahrnehmung, auch in seinen Interpretationen mit der gesellschaftlichen Organisation der Arbeit auch Herrschaft als analytische Kategorie ausgegrenzt bleibt und materielle Aspekte der »Kultur« erst in der umfassenden Kulturtheorie, dort jedoch eher als Selbstverständlichkeit, als Residualkategorie, auftauchen, die als solche auch nicht mehr mit »Herrschaft« vermittelbar sind. Diese theoretische Leerstelle zwingt Freud, Soziales in seiner Kulturtheorie in noch zu beschreibender Form zu strukturieren (vgl. Kap. 6.1, 7). Was zunächst bleibt, ist lediglich eine in dieser Art durch das bildungsbürgerliche Wahrnehmungsraster bedingte Unterstellung einer funktionalen Hierarchie, die vom Bestehenden ausgeht, weil sie in ihm die »aufgeklärten« Verkehrsformen weitgehend realisiert sieht. Er geht zunächst phänomenologisch von der Struktur des Sozialen aus, wie sie unmittelbar im Status- und Normensystem vorzufinden ist. Die psychoanalytische Forschung macht zwar keinen Unterschied im Ansehen der Person, schließt sich jedoch an die für das Bürgertum unmittelbar erfahrungsstiftenden Differenzierungen zwischen »Großem«, »Erhabenen« und »Gewöhnlichen« an: »Es gehört wenig Beobachtung dazu, dass ich, wenn ich von den Erhabenen rede, meine Stimme anders innerviere, andere Mienen mache und meine ganze Körperhaltung gleichsam mit der Würde dessen in Einklang zu bringen suche, was ich vorstelle. Ich lege mir einen feierlichen Zwang auf, nicht viel anders, als wenn ich mich in der Gegenwart einer erhabenen Persönlichkeit, eines Monarchen, eines Fürsten der Wissenschaft begeben soll« (GW IV, S. 227). Diese Zusammenstellung lässt
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erkennen, dass Freud eine gewisse Parallelität zwischen sozialer Hierarchie, sozialer Rollenverteilung und einer Skala ethischer Normen sieht. Dass dies nicht für jeden Rollenträger per se gilt, lässt sich aus seiner Kritik an arroganten Adeligen und senilen Professoren ablesen (z. B. GW II/III, S. 678). Auf was Freud sich eigentlich bezieht, verdeutlicht sich, wenn man seine Kritik an der Rolle des Offiziers und ihres vollkommen formal definierten Status berücksichtigt (»ein Offizier ist ein jämmerliches Wesen … Es ist mir überhaupt zuwider, auf dem Kragen geschrieben zu haben, wieviel ich wert bin, als ob ich ein Stoffmuster wäre.« – Freud, 1968, S. 226 f.). Gemeint ist lediglich »Leistungsadel«, etwa dem Saint-Simonistischen: »A chacun selon sa capacité, à chaque capacité selon ses œuvres« entsprechend. Wortwahl und Darstellung unterstellen jedoch eine unmittelbare Beziehung zwischen Gesellschaft und Leistung, indem sie zur Illustration von »Erhabenheit« Beispiele benutzt, bei denen persönliche Würde und gesellschaftliche Position zusammenfallen (»Fürsten der Wissenschaft«) oder auch nur die gesellschaftliche Position Würde impliziert – wenn man sich darauf einlässt (»Monarch«). Dies ist allerdings keineswegs so zu verstehen, dass Freud »autoritätsgläubig« gewesen sei, sondern vielmehr als Tendenz, die gesellschaftlich gegebene Positionshierarchie als sachlich gerechtfertigt zu akzeptieren. Das hält ihn aber nicht davon ab, dort scharf zu kritisieren, wo Diskrepanzen zwischen Status und Qualifikation bestehen, wenn er auch keine systematische soziologische Kritik zulässt. Die Art und Weise, wie Freud bestimmte Sachverhalte moniert, die ihm als durch soziale Missstände verursacht sich darstellen, ist unter diesen Umständen ebenso naiv wie seine Identifizierung der hypostasierten allgemeinen Notwendigkeit gesellschaftlicher Hierarchien mit den besonderen, die er selbst vorfand. Auch da, wo er sarkastisch von der »hohen Obrigkeit« spricht (GW XIV, S. 270), bleibt seine Kritik oberflächlich und unsystematisch; er kontrastiert lediglich das implizite Modell einer harmonischen Einheit von mündigen und selbständigen Bürgern und eines funktionellen Staates mit bestehenden »Missständen«; in diesem Fall nach Freuds Vorstellung zu ausgeprägten Reglementierung. – Konsequenterweise neigen seine konkreten Veränderungsvorschläge – so er sich überhaupt mit im engeren Sinne politischen Proble-
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men beschäftigt – zu einem ausgeprägten Voluntarismus: Die zuständigen Personen müssten richtig informiert werden, die bürgerliche Öffentlichkeit wieder hergestellt werden. Es ist wohl kein Zufall, dass Freud selbst diese Überlegungen nicht weiterverfolgt und auch nur halbernst betreibt (vgl. Freud, 1968, S. 272). Dieser voluntaristische Zug des kaum entwickelten Begriffs gesellschaftlicher Praxis entspricht dem rein appellativ-moralischen Charakter der Kritik (vgl. 4.6.). Im Allgemeinen betrachtet Freud die gesellschaftliche Infrastruktur relativ undifferenziert und systematisiert sie später lediglich unter den spezifischen Bedingungen der Kulturtheorie (s. u. Kap. 7). Die grundsätzliche Notwendigkeit (rationaler) gesellschaftlicher Organisationen, die sich aus dem impliziten liberalen Gesellschaftsmodell herleiten, werden weitgehend mit den bestehenden Verhältnissen identifiziert. Da die funktionale Angemessenheit für Freud gewissermaßen das konstitutive Moment der Institutionen ist, werden sie von ihm nur sporadisch thematisiert. Kritisch angesprochen werden Institutionen nur dann, wenn sie in eklatanter Weise nicht mehr den Vorstellungen, die selbst noch weitgehend von den gegebenen Realitäten beeinflusst sind, entsprechen. Dabei geht Freud aus von einem allgemeinen Anspruch des Ganzen, der auch als für das Besondere als gültig erachtet wird: Funktionalität und Rationalität, die selbst nicht mehr hinterfragt werden. In ihrem Kern handelt es sich dabei um allgemeine, ihrer Struktur nach auf naturrechtlicher Basis entwickelte Normen (vgl. 4.5.), die unvermittelt als Sollen dem Sein entgegengehalten werden. Die Ursachen der inkriminierten Sachverhalte bleiben unerkannt und unerkennbar, genau wie ihre gesellschaftliche Funktion.
4.5. Klassenstruktur und Idealverhalten Der institutionelle Rahmen der Gesellschaft, soweit Freud ihn erfasst, bezieht sich auf die »normale« bürgerliche Existenz. Diese selbst erscheint ihm zu Beginn seiner wissenschaftlichen Arbeit auf dem Hintergrund der sozialen Ungleichheit und der Skala
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von sozialen Verhaltensmöglichkeiten problematisch. Der eigentliche Ausgangspunkt der kulturhermeneutischen Unternehmungen Freuds ist in dem Problem zu sehen, Sinn und Möglichkeit bürgerlichen Lebens zu bestimmen. Während Letzteres schon zu einem frühen Zeitpunkt theoretisch von Freud analysiert wird, liegt Ersteres zunächst noch im Dunkel. »Das Gesindel lebt sich aus und wir entbehren. Wir entbehren, um unsere Integrität zu erhalten, wir sparen mit unserer Gesundheit, unserer Genußfähigkeit, unseren Erregungen, wir heben uns für etwas auf, wissen selbst nicht für was – und diese Gewohnheit unserer beständigen Unterdrückung natürlicher Triebe gibt uns den Charakter der Verfeinerung. Wir empfinden auch tiefer und dürfen uns darum nur wenig zumuten; warum betrinken wir uns nicht? Weil uns die Unbehaglichkeit und Schande des Katzenjammers mehr Unlust als das Betrinken Lust verschafft; warum verlieben wir uns (nicht) jeden Monat aufs Neue? Weil bei jeder Trennung ein Stück unseres Herzens abgerissen würde, warum machen wir nicht jeden zum Freund? Weil uns sein Verlust oder sein Unglück bitter treffen würde. So geht unser Bestreben mehr dahin, Leid von uns abzuhalten, als uns Genuß zu verschaffen, und in höchster Potenz sind wir Menschen wie wir beide, die sich mit den Banden von Tod und Leben aneinander ketten, die jahrelang entbehren und sich sehnen, um einander nicht untreu zu sein, die gewiß einen schweren Schicksalsschlag, der uns des Treuesten beraubt, nicht überstehen würden … Unsere ganze Lebensführung hat zur Voraussetzung, daß wir vor dem groben Elend geschützt seien, daß uns die Möglichkeit offenstehe, uns immer mehr von den gesellschaftlichen Übeln freizuhalten. Die Armen, das Volk, sie könnten nicht bestehen ohne ihre dicke Haut und ihren leichten Sinn; wozu sollten sie Neigungen so intensiv nehmen, wenn sich alles Unglück, was die Natur und die Gesellschaft im Vorrat hat, gegen ihre Lieben richtet, wozu das augenblickliche Vergnügen verschmähen, wenn sie auf kein anderes warten können? Die Armen sind ohnmächtig, zu exponiert, um es uns gleichzutun. Wenn ich das Volk sich gütlich tun sehe mit Hintansetzung aller Besonnenheit, denke ich immer, das ist ihre Abfindung dafür, daß alle Steuern, Epidemien, Krankheiten, Überstände der sozialen Einrichtungen sie so schutzlos treffen« (Freud, 1968, S. 56 f.). Dieses Zitat stammt aus dem Jahr
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1883; Freud verfasste diese Zeilen zu einem Zeitpunkt, zu dem die Psychoanalyse noch auf ihre Entwicklung wartete und er selbst in verschiedensten Kliniken arbeitete. Dennoch findet sich bereits an dieser Stelle nicht nur die soziale Problematik, von der die gesellschaftstheoretische Analyse ausgeht und die Struktur der sozialen Erfahrung, mit der sie angegangen wird, sondern auch der theoretische Ansatz, mit Hilfe dessen Freud später diese Situation sinngebend interpretiert. Ausgangspunkt ist das Modell einer dichotomischen Klassenstruktur der Gesellschaft, wobei die Klassenzugehörigkeit bestimmt ist durch die ökonomische Sicherheit, den Besitz. Die den Klassenverhältnissen zugrunde liegenden ökonomischen Verhältnisse sind für Freud wesentlich eine Frage der Verteilung. So stellt sich die Gesellschaft dar als unterteilt in »Arme« und solche, deren ökonomische Situation gesichert ist. Dem »Volk«, welches den Schwierigkeiten des Lebens »schutzlos« ausgeliefert ist und deshalb auch keine Zukunftsperspektive entwickeln kann, bleibt nur der Genuss des Augenblicks. Demgegenüber baut die bürgerliche Existenz darauf, dass die »Not des Lebens« gemildert ist. Ihre Absicherung gegen »grobes Elend« ist nicht nur Grundlage bürgerlicher Verhaltensweisen, sondern auch Vorbild für die allgemeine Einstellung des Bürgertums zur Umwelt, welche grundsätzlich defensiv und nicht offensiv ist. Die differenzierte und reflektiertere Existenz ist nur möglich auf dem Hintergrund eines sicheren und kontinuierlichen, bruchlosen und harmonischen Lebens. Eine solche Vorstellung gesicherter Existenz setzt implizit »gesellschaftliches Übel« und »grobes Elend«, aber auch mit der Gefahr der ökonomischen Unsicherheit grundlegenden gesellschaftlichen Mangel voraus, gewissermaßen als Existentialontologie. Dieser Begriff der »Mangelgesellschaft«, mit dem Freud indirekt argumentiert, ist wahrscheinlich selbst Ausdruck unmittelbarer Erfahrung, denn die ökonomische Unsicherheit des Bürgertums hatte Freud schon zu diesem Zeitpunkt zur Genüge erfahren. Er bezieht sich jedoch auf eine weit umfassendere Diskrepanz zwischen Bedürfnis beziehungsweise Bedarf und Befriedigungsmöglichkeiten. Ebenso der eigenen klassenspezifischen Erfahrung entnommen scheint das erkenntnisleitende Konzept des identitätserhaltenden Triebverzichts. Ohne dass dieser Begriff hier verwendet würde, wird sein
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Inhalt hier als soziologisches Datum sicher vorausgesetzt, dessen psychologisches Pendant, der am Triebverzicht orientierte personale Identitätsbegriff von Freud akzeptiert wird, obwohl das »warum« noch ungeklärt ist. Aus diesen beiden Komponenten setzt sich die ambivalente Einstellung gegenüber nicht-bürgerlichem Verhalten zusammen. Gemessen am objektiv bestimmbaren Begriff der ökonomischen Lebensbedingungen ist das Verhalten der »Armen« eindeutig determiniert und von daher auch völlig verständlich. Auf der anderen Seite jedoch ist die »Integrität« des bürgerlichen Verhaltens für Freud ebenso objektives Kriterium der Verhaltensbeurteilung, wird, ohne dass die konkreten Zusammenhänge bekannt wären, als kulturkonform betrachtet. Deshalb ist, gemessen an den »Verfeinerungen« des bürgerlichen Charakters, das (angebliche) SichAusleben Verhaltensstil von »Gesindel«. Die Hierarchisierung des Verhaltens impliziert seine Beurteilung. Die dabei verwendeten Kriterien liegen in gewisser Weise a priori fest. Diese Zwiespältigkeit in der Beurteilung des Verhaltens der »Armen«: Mitleid wegen der Einsicht in die Ursachen, aber auch Beurteilung nach vorausgehenden Maßstäben erhält sich auch in der entwickelten Kulturtheorie. Dabei verstärkt sich allerdings in dem Moment, wo sich aus der Theorie eine Sinnstruktur der gesellschaftlichen und individuellen Praxis des Bürgertums ergab, die Tendenz zur Bewertung. Im Begriff der Verfeinerung ist bereits angelegt, was dann die psychoanalytische Theorie der Ontogenese bestätigt: dass das Verhalten des Bürgertums und dessen psychische Struktur Grundlage der kulturellen Reproduktion ist. Demgegenüber ist dann das Verhalten des »Volkes« objektiv kulturfeindlich, weshalb es bei allem Verständnis und Mitleid doch darum geht, es den Normen der Kultur anzupassen. Durch die »Mangelgesellschaft« ist die grundlegend defensive Einstellung des Bürgertums zur Umwelt festgelegt. Während diese aus den Erfordernissen der objektiv vorausgehenden Umstände sich notwendig ergebenden Strukturen der bürgerlichen Existenz logisch abgeleitet werden, stammen die »Verfeinerungen« des Verhaltens, die Freud aufzählt, aus dem Bereich der durch sich selbst evidenten Ethik des autonomen und humanistischen Individuums. Das, was Freud später als kulturtragendes Idealverhalten aus-
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gibt, ist als positive Verhaltensnorm, die allgemein und abstrakt definiert wird, bereits lange vor der Kulturtheorie vorhanden. Deshalb lässt sich hier kein expliziertes Normensystem vorführen, dessen gesellschaftlicher Stellenwert angegeben wäre, sondern nur aufzählen, mit welchen Begriffen das Selbstverständliche beschrieben wird. Das Ideal stammt insgesamt aus der Welt des Bildungsbürgertums, bezieht sich jedoch nur auf das einzelne Individuum, wobei implizit die Möglichkeit und Sinnhaftigkeit des idealen Verhaltens, damit auch eine diesem Ideal entsprechende Gesellschaftsstruktur vorausgesetzt wird. Das Prädikat »ausgezeichnet« erhält der Bürger, der »tadellose Charakterführung« und »zielbewusste Lebensführung« besitzt, den »sittlicher Ernst« in der Auffassung seiner Pflichten, Intelligenz und Energie, »hohe Bildung« und »zielbewusste Lebensführung« besitzt, den »sittlicher Ernst« in der Auffassung seiner Pflichten, Intelligenz und Energie, »hohe Bildung« und »Wahrheitsliebe« auszeichnen (als »Dame erachtenswert« dagegen erscheint jemand, der durch »gütige Fürsorge für alle ihr unterstehenden Personen«, »innere Bescheidenheit« sowie durch die »Feinheit ihrer Umgangsformen« besticht …) (vgl. GW I, S. 160 f.). Die Bildung des Bürgers soll »klassisch« sein, Literatur, Philosophie, Geschichte und Sprachen umfassen und so den engen Horizont bürgerlichen Lebens überschreiten (vgl. Freud, 1968, S. 104). Freuds Freund v. Fleischl schien in seiner universal gebildeten Autonomie die Inkarnation des Bürgers zu sein. »Er ist ein ganz ausgezeichneter Mensch, an dem Natur und Erziehung ihr Bestes getan haben. Reich, in allen Leibesübungen ausgebildet, mit dem Stempel des Genies in seinen energischen Zügen, schön, feinsinnig, mit allen Talenten begabt und fähig, in den allermeisten Dingen ein originelles Urteil zu schöpfen, war er immer mein Ideal« (S. 22). Hohe »persönliche Kultur« (GW VI, S. 112) kennzeichnen den idealen Bürger ebenso wie die intensive Liebesbeziehung zu einer Frau, die seinem Niveau entspricht (vgl. Freud, 1968, S. 40), zu der er eine Beziehung entwickelt, die hier als »heroische Liebe« bezeichnet werden soll. Mit ihr zusammen will er die Schwierigkeiten des Lebens meistern, wenn die Parzen »Unglück« und »Krankheit« sie verschonen sollten. »Dann erreichen wir gewiß, wonach wir streben, ein kleines Haus, in das die Sorge vielleicht Einlaß findet, aber nie die Not, ein Beisammen-
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sein in allem Wechsel des Geschicks, eine stille Zufriedenheit, die uns die Frage erspart, wozu wir eigentlich leben« (S. 77). Daraus lässt sich ablesen, dass Freud eine Identitätsfindung außerhalb des Privaten nicht für möglich hält, also Arbeit stets mit Entfremdung assoziiert ist. So soll die private Idylle entschädigen für die Last der öffentlichen Existenz, die »Zwang und Entsagung« von jedem fordert, die jedem eine »dienende und arbeitende Rolle« auferlegt (vgl. S. 127). Privates Glück soll jedoch nicht nur für eine arbeitsund entbehrungsreiche Existenz in der Öffentlichkeit entschädigen. Es ist auch ein starkes Motiv dazu, überhaupt öffentliche Aktivitäten zu entwickeln. Die (abstrakte) Öffentlichkeit, die von jedem entfremdete Arbeit fordert und die private Glücksvorstellung bedingen sich gegenseitig. »Denke ich mit aber, wie ich jetzt gewesen wäre, wenn ich Dich nicht gefunden hätte, ohne Ehrgeiz, ohne viel Freude an den leichteren Genüssen dieser Welt, ohne im Banne des Goldzaubers zu stehen, und dabei mit ganz mäßigen geistigen und ganz ohne materielle Mittel, ich wäre so elend umhergeirrt und verfallen. Du gibst mir jetzt nicht nur Ziel und Richtung, auch soviel Glück, daß ich mit der sonst armseligen Gegenwart nicht unzufrieden sein kann, Du gibst mir Hoffnung und Sicherheit des Erfolges« (S. 63 f.). Dies ist mehr als nur eine überschwängliche Liebeserklärung. Hierin offenbart sich das Leitmotiv der Beziehung zwischen Öffentlichem und Privatem in Freuds Vorstellungen von bürgerlicher Existenz. Erst das private, das asoziale Glück stiftet die Fähigkeit und das Motiv, im Rahmen des (in der vortheoretischen Gewissheit noch anonymen) gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses tätig zu werden, wobei nicht zuletzt das ökonomische Motiv, was sich aus dem Anspruch, eine Familie zu gründen und zu unterstützen, ergibt, eine gewichtige Rolle spielt. Umgekehrt ist die Anonymität der Öffentlichkeit der Grund dafür, das Glück allein im Privaten zu suchen. An dieser Stelle verdeutlicht sich erst die volle Relevanz der »heroischen Liebe«, welche nicht nur das Gleichgewicht zwischen den Vorstellungen über den Mann und die Frau herstellt, sondern auch den Erfüllungshintergrund signalisiert, welcher das bürgerliche Individuum zu ausdauernder entfremdeter Arbeit befähigt. Ohne dass dies inhaltlich über die individuell für verbindlich erachteten Normen hinausginge, wird die Gemeinsamkeit der je-
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des für sich Privatleben führenden Individuen als Übereinstimmung spezifischer Bewusstseinsinhalte aufgefasst, auf der auch die bürgerliche Öffentlichkeit insgesamt beruht. Freud spricht von »sittlichen Wahrheiten, die wir ahnen« (S. 86) und von »hoch hinauffliegenden Gedanken« (S. 104), die er nicht weiter expliziert, deren Existenz jedoch insofern von Bedeutung ist, als sie durch die Objektivität, die ihre »Höhe« ausdrückt, die Gemeinsamkeit der Denkenden bekunden. Aus der strikten Trennung zwischen Privatleben und Öffentlichkeit und der diffusen Selbstverständlichkeit der übergreifenden Verbindlichkeit der Normen wird auch der eigentümliche Gegensatz verständlich, dass Freud einerseits feststellt: »Man arbeitet doch wesentlich für die Geschichte« (S. 271) und damit dem Aspekt der objektiven Verbindlichkeit der Kulturnormen, an dem die Arbeit des Individuums ausgerichtet ist, Rechnung trägt, andererseits bemerkt: »Niemand schreibt, um zu Ruhm zu gelangen, der ohnehin etwas Vorübergehendes oder eine Illusion der Unsterblichkeit ist. Gewiss schreiben wir zuerst, um etwas in uns selbst zu befriedigen, nicht für andere« (Jones, 1960 ff., II, S. 465), was auf den privatistischen Charakter der öffentlichen Arbeit und ihre private Motivationsgrundlage verweist. Die Ansätze, die sich mit den Grundlagen bürgerlicher Existenz und bürgerlicher Verhaltensnormen sowie mit den allgemeinen Klassenverhältnissen der Gesellschaft beschäftigen, sind die Teile des gesamten Systems der vortheoretischen Gewissheit, die am wenigsten in »theoretisierter« Form vorgestellt werden; sie betreffen auch die Strukturen der Wirklichkeit, die für das bürgerliche Individuum von unmittelbarer Relevanz sind, in der deshalb die Wirklichkeit selbst und deren Interpretation am ehesten unmittelbare Evidenz besitzen. Der Punkt, auf den sich direkt oder indirekt alle unsystematischen Bruchstücke einer Theorie und verwendeten Begriffe beziehen, ist das (männliche) Individuum aus dem (Bildungs-)Bürgertum. Dabei verdeutlicht sich der innere Zusammenhang zwischen dem phänomenologischen Klassenbegriff, aus dem sich die Ambivalenz dem »Volk« gegenüber herleitet, und dem ontologischen Begriff der Mangelgesellschaft, welche wiederum mit der Vorstellung von der notwendigen Entfremdung der Arbeit und damit der strikten Trennung zwischen Öffentlichem und Privatem korreliert. Auf diesem Hintergrund ist Freuds
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theoretisches und praktisches Bemühen darauf ausgerichtet, gesellschaftliche Rationalität zu verwirklichen. Diese bedeutet für die oben angeführte Annahme der Gesellschaft als Konkurrenzzusammenhang, dass es vornehmlich Sinn des Normensystems ist, diese Konkurrenz zu harmonisieren, indem es verbindliche Richtlinien erstellt. Die Gemeinsamkeit der Individuen ermöglicht die Organisation der als unumgänglich akzeptierten Konkurrenz.
4.6. Strukturen der Gesellschaftskritik Es wurde darauf hingewiesen, dass Freuds Kritik am Bestehenden partikular bleibt, personalisiert; dies gilt vor allem in den Phasen seiner Entwicklung, in denen er noch keine Kulturtheorie im engeren Sinn formuliert hatte. Die aus dieser dann resultierende Kritik ist von Form und Inhalt her entscheidend durch die Strukturen jener früher kritischen Auseinandersetzungen Freuds mit bestimmten Aspekten gesellschaftlicher Wirklichkeit, ihrer spezifischen Ambivalenz und ihrem letztlichen Scheitern bestimmt. Am deutlichsten demonstriert sich dieses Scheitern an Freuds Versuchen, die Problematik sexueller Normen, die sich für ihn unausweichlich stellte, zu lösen. Die theoretische und praktische Problematik der Behandlung und Beurteilung sexuellen Verhaltens waren nur dann zu lösen, wenn adäquate Kriterien zur Verfügung standen. Freuds Versuch, im Bereich des sexuellen Verhaltens und der Sexualmoral zu Begriffen zu kommen, demonstriert exemplarisch, was im erweiterten Sinne für die gesamte Begriffsbildung gilt: dass sie zum einen geprägt sind vom Anspruch reflektierter Rationalität und damit die Absage an voreilige Urteile und offenkundige Vorurteile implizieren, weshalb direkt oder indirekt alles Verhalten auf eine sinnvolle Struktur des gesellschaftlichen Ganzen bezogen wird; zum anderen von Begriffen, deren ausdrücklich neutraler Charakter vorausgesetzt wird, in der sich jedoch die Inhalte der vortheoretischen Gewissheit durchsetzten. Dadurch wird das empirische Material selbst nach Kriterien geordnet, welche bestimmten Strukturen der Wirklichkeit so weit verpflichtet sind, dass sie
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deren antinomischen Charakter nicht realisieren. Die Theorie ist in dieser Hinsicht dann auch dadurch gekennzeichnet, dass sie die Inhalte der vortheoretischen Gewissheit in »rationalisierter« Weise zum Ausdruck bringt. Dazu gehört, dass Freud zunächst an den gesellschaftlich vorgegebenen Inhalten der Begriffe festhält. Der Briefwechsel mit Fließ, der unter dem Titel »Aus den Anfängen der Psychoanalyse« herausgegeben wurde, sowie die frühen Fallstudien und theoretischen Erörterungen demonstrieren, wie sehr Freud bei allem aufklärerischem Anspruch der kritisierten Sexualmoral verbunden ist, sich im Wesentlichen von ihr nur dadurch unterscheidet, dass er das Sexualleben der Patienten überhaupt thematisiert. Seine frühen Annahmen und Definitionen wiederholen nur alte Vorurteile (»Degeneration bedeutet das angeborene abnorme Verhalten der Sexualeffekte« – Freud 1962, S. 78; »Die Perversionen münden regelmäßig in Zoophilie ein und haben tierischen Charakter« – S. 160). Mit dem Fortschritt der psychoanalytischen Forschung gibt Freud diese Position allerdings auf; bis zur systematischen Beschreibung der Ontogenese in den »Drei Abhandlungen« (GW V) verwendet er den Begriff der Perversion in diesem Sinne überhaupt nicht mehr, sondern benutzt ihn lediglich an einer Stelle, um auf ein Abweichen von herkömmlichen Sinnstrukturen hinzuweisen (»Willensperversionen« – »Charakterperversionen« – GW I, S. 11/14). In den »Drei Abhandlungen« schließlich taucht der Begriff mit anderem Inhalt, der sich hauptsächlich aus dem Stellenwert der Phänomene innerhalb der Ontogenese ergibt, wieder auf (s. u.), wobei bestimmte Implikationen des Begriffs beibehalten werden. Dies hängt eng damit zusammen, dass Freud einerseits den Anspruch, ja die Notwendigkeit sexueller Betätigung geltend macht (VIII, S. 160), andererseits nicht alle Formen der sexuellen Betätigung zulassen will. Besonders die Masturbation entpuppt sich als »schädlich«. »Die Neurasthenie der Männer wird erworben im Pubertätsalter und tritt in den 1920er Jahren in Erscheinung. Ihre Quelle ist die Masturbation, deren Häufigkeit der Neurasthenie parallel läuft« (Freud, 1962, S. 63). Diese Annahme hängt vor allem damit zusammen, dass Freud bestimmte Sexualnormen seinerseits voraussetzt, deren volle gesellschaftstheoretische Relevanz sich erst im Rahmen der phylogenetischen Kulturtheorie ergibt.
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Zu diesem frühen Zeitpunkt orientiert sich die Therapie unmittelbar an den eingebrachten Begriffen. »Die Abgewöhnung der Masturbation ist nur eine der neuen therapeutischen Aufgaben, welche dem Arzte aus der Berücksichtigung der sexuellen Ätiologie erwachsen, und diese Aufgabe scheint wie jede andere Abgewöhnung nur in einer Krankenanstalt und unter ständiger Aufsicht des Arztes lösbar. Sich selbst überlassen, pflegt der Masturbant bei jeder verstimmenden Einwirkung auf die ihm bequeme Befriedigung zurückzugreifen. Die ärztliche Behandlung kann sich hier kein anderes Ziel stecken, als den wieder gekräftigten Neurastheniker dem normalen Geschlechtsverkehr zuzuführen, denn das einmal geweckte und durch geraume Zeit befriedigte Sexualbedürfnis läßt sich nicht mehr zum Schweigen bringen, sondern bloß auf einen anderen Weg verschieben« (GW I, S. 505 f.). Jedoch nicht nur die Masturbation, sondern alle anderen Formen sexueller Betätigung, die nicht »normal« sind, gilt es zu bekämpfen. »Die andere Aufgabe wird dem Arzte durch die Ätiologie der Angstneurose gestellt und besteht darin, den Kranken zum Verlassen aller schädlichen Arten des Sexualverkehrs und zur Aufnahme sexueller Beziehungen zu veranlassen« (S. 505). Praktisch sah dies zunächst so aus: »Ein scharfes Verhör deckte jetzt die Quelle auf, aus der ihr Schuldbewußtsein stammte: durch eine zufällige wollüstige Empfindung angeregt, hatte sie sich durch eine Freundin zur Masturbation verleiten lassen und betrieb diese seit Jahren mit dem vollen Bewußtsein ihres Unrechts und unter den heftigsten, aber wie gewöhnlich nutzlosen Selbstvorwürfen. Ein Exzeß nach dem Besuch eines Balles hatte die Steigerung zur Psychose hervorgerufen. – Das Mädchen heilte nach einigen Monaten Behandlung und strengster Überwachung« (S. 505). Auch diese rüden Behandlungsmethoden hat Freud recht bald aufgegeben. Aber auch nachdem die »Drei Abhandlungen« die »Normalität« der frühkindlichen Sexualität akzeptiert und beschrieben hatten, blieb die Notwendigkeit der Aufgabe der Masturbation als Therapieziel erhalten, weil das hinter dem Konzept »normaler«, später »genitaler« Sexualität stehende gesellschaftstheoretische Konzept des reifen, autonomen Individuums weiterhin erkenntnisleitend blieb. Diese Vorstellung von »normaler« Sexualität, welche nur die Beziehung zwischen zwei heterosexuellen Partnern umfasst, kor-
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reliert mit der Annahme der Rationalität dieser Normalität für den Einzelnen wie für das Ganze. Besonders dieser letzte Aspekt wird von Freud schon früh betont und diskutiert, er fällt für ihn zusammen mit dem allgemeinen Anspruch gesellschaftlicher Rationalität. Seine Kritik der bestehenden Sexualmoral bezieht sich deshalb auf ein für alle verbindliches Niveau. »Wir haben … alle ein Interesse daran, daß auch in sexuellen Dingen ein höherer Grad an Aufrichtigkeit unter den Menschen Pflicht werde, als er bis jetzt verlangt wird. Die sexuelle Sittlichkeit kann dabei nur gewinnen. Gegenwärtig sind wir samt und sonders in Sachen der Sexualität Heuchler, Kranke wie Gesunde. Es wird uns nur zugute kommen, wenn im Gefolge der allgemeinen Aufrichtigkeit ein gewisses Maß von Duldung in sexuellen Dingen zur Geltung kommt« (GW I, S. 495). Diese Argumentation setzt die weiter oben schon beschriebenen Annahmen über das gesellschaftliche Ganze und objektiver Verpflichtung sowie die Interessenidentität zwischen Individuum und Gesellschaft bereits voraus. Von diesem Standpunkt aus kritisiert Freud die Irrationalität der viktorianischen Sexualmoral und darin ihre gesellschaftliche Dysfunktionalität. Freuds scharfe Kritik an den herrschenden Zuständen macht sich daran fest, dass die »kulturelle« Sexualmoral ein zusätzliches, über die allgemeine Affinität von Kultur und Neurose hinausgehendes Moment von Deformierung des Sexualtriebes bedingt. »Es ist leicht, den Erfolg vorherzusagen, der sich einstellen wird, wenn man die Sexualfreiheit weiter einschränkt und die Kulturforderung auf das Niveau der dritten Stufe erhöht, also jede andere Sexualbetätigung als die in legitimer Ehe verpönt. Die Zahl der Starken, die sich in offenen Gegensatz zur Kulturforderung stellen, wird in außerordentlichem Maße vermehrt werden, und ebenso die Zahl der Schwächeren, die sich in ihrem Konflikte zwischen dem Drängen der kulturellen Einflüsse und dem Widerstande ihrer Konstitution in neurotisches Kranksein flüchten« (S. 155). Die »kulturelle« Sexualmoral ist jedoch nicht nur durch ihre Forderung der außerehelichen Abstinenz schädlich, sondern vor allem auch dadurch, dass sie sexuelle Befriedigung in der Ehe selbst behindert (S. 157). Die Konsequenzen der kulturellen Sexualmoral sind daher: Regression zur masturbatorischen Befriedigung, Perversion, verstärkte Homosexualität, welche allesamt dem
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Kulturziel entgegenwirken, weil sie das Individuum davon abhalten, »sich seinen Anteil und Platz in der Gesellschaft zu erobern« (S. 159). Sie sabotiert die Entstehung des autonomen Individuums ebenso wie die Funktionalität seines privaten Reproduktionszusammenhanges, der Ehe. »Ich weiß nicht, ob der Typus der anästhetischen Frau auch außerhalb der Kulturerziehung vorkommt. … Jedenfalls wird er durch die Erziehung geradezu gezüchtet, und diese Frauen, die ohne Lust empfangen, zeigen dann wenig Bereitwilligkeit, des öfteren mit Schmerzen zu gebären. So werden durch die Vorbereitung zur Ehe die Zwecke der Ehe selbst vereitelt; wenn dann die Entwicklungsverzögerung bei der Frau überwunden ist, und auf der Höhe ihrer weiblichen Existenz die volle Liebesfähigkeit erwacht, ist ihr Verhältnis zum Ehemanne längst verdorben; es bleibt ihr als Lohn für ihre bisherige Gefügigkeit die Wahl zwischen ungestillten Sehnen, Untreue oder Neurose« (S. 161). Dazu kommt, dass die Sexualmoral eine intrafamiliäre Dynamik verursacht, welche ebenfalls den Zielen der Kultur entgegenläuft (vgl. S. 164 f.): Die frustrierte Mutter weckt im Kind vorzeitige sexuelle Impulse, welche wiederum dem Verdikt der Sexualmoral verfallen und unterdrückt werden. Damit provoziert die kulturelle Sexualmoral das Problem erst selbst, welches sie darstellt. Der durch sie hervorgerufene Konflikt hat trotz äußerer Ähnlichkeit mit dem grundsätzlichen zwischen Kultur und Triebstruktur recht wenig zu tun, es handelt sich gewissermaßen um einen Fremdkörper innerhalb der Kultur, welcher sich selbst reproduziert. Es ist des Öfteren darauf verwiesen worden, dass Freud selbst bei aller Kritik seinerseits einer »viktorianischen« Sexualmoral das Wort geredet habe. Das empirisch wie normativ zu verstehende Entwicklungsziel der genitalen Sexualität sowie dessen Konsequenzen: Insistieren auf der monogam-dualistischen Partnerbeziehung sowie Verurteilung aller partialtriebhafter Sexualität scheinen dies auch zu bestätigen, zumal frühe, vortheoretische Bemerkungen diese grundsätzliche Einstellung vorwegzunehmen scheinen. Demgegenüber ist jedoch festzuhalten, dass Freuds Vorstellungen nicht aus irrationalen, unbegründbaren Vorstellungen stammen und moralisierender Natur sind, selbst wenn Terminologie und Argumentation dies an bestimmten Stellen nahe legen. Diese Identifizierung ist nicht unmittelbar und naiv, sondern
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rational und reflektiert. Freud sucht gerade »objektive« und objektivierbare Zusammenhänge und damit Entscheidungskriterien zu entwickeln, die rational sind und wirken sollen. Seine Vorstellung von Sexualmoral impliziert das Moment der Selbstbewusstheit, welches der herrschenden Sexualmoral seiner Zeit völlig fremd war. Freuds Einsicht besteht darin, dass er sieht, dass eine individuell und kollektiv sinnvolle Organisation des Sexuallebens langfristig nur dann möglich ist, wenn sie auf der nicht durch Repression erzeugten Freiwilligkeit der Beteiligten beruht. Auch hier suchte Freud die Ansprüche der Aufklärung ernst zu nehmen. Von daher ist der Gegensatz, in den Freud sich durch seine Theorien zu ihr setzte, viel bedeutsamer als seine Übereinstimmung mit seinen Zeitgenossen. Es ist ja gerade sein Versuch, an den Zielen der Aufklärung und den Idealen des Bürgertums gegen antiaufklärerische und reaktionäre Tendenzen festzuhalten und sie mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu vermitteln, die Freud an bestimmten Stellen dazu bringt, rigide Normen aufzustellen, weil seine gesellschaftstheoretische Position ihm nicht ermöglichte, alle Strukturen des Bestehenden zu erfassen. Nur aus dieser widersprüchlichen Situation heraus ist das spezifische Profil von Freuds Kritik zu verstehen. Seine normativen Explikationen werden, da sie den vortheoretisch gewonnenen Normalitätsbegriff in der Theorie beibehalten, kulturistisch rigide, gerade weil sie das Interesse des Einzelnen vertreten wollen, ohne diese Absicht theoretisch angemessen vermitteln zu können: Was in den Anfängen noch allgemein »Volksinteresse« (GW I, S. 508) war, an dem der einzelne Neurotiker und seine sexuelle Konstitution gemessen wurde, präzisiert sich auf dem Hintergrund der triebtheoretisch aufgehobenen Reflexion über die Grundlagen bürgerlicher Existenz zur Forderung nach »Verzicht auf eine naheliegende, aber sozial nicht eingeordnete Befriedigung zugunsten einer entfernten, vielleicht überhaupt unsicheren, aber psychologisch wie sozial untadeligen« (GW X, S. 319 f.). Gleichwohl bleiben die sich widersprechenden Momente seiner Überlegungen in den fortgeschrittensten Texten unversöhnt. Die Arbeit über »Die kulturelle Sexualmoral und die moderne Nervosität«, vielleicht Freuds luzideste sozialkritische Untersuchung, ist im Grunde außerstande, ihre Problemstellung zu lösen, weil sie
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ihr reflexives Ziel und ihre inhaltlichen Voraussetzungen nicht in Einklang bringen kann: Die Beziehungen zwischen Individuum und Sexualität, Institution Ehe und Gesellschaft bleiben offen, was den Vorteil hat, dass ihre Antinomien nicht – wie später in der Kulturtheorie – petrifiziert werden. Dadurch ergibt sich die Möglichkeit kulturtheoretisch »unbelasteter« Kritik: Die kritische Potenz des Freud’schen Ansatzes kann sich entfalten, ohne allerdings ihre Grenzen überwinden zu können. Im Steckenbleiben der Kritik, die gesellschaftliche Ursachen ausklammern muss, bahnt sich allerdings die weitere Theorieentwicklung bereits an. Die Widersprüchlichkeit von Freuds Gesellschaftskritik, die sich aus der vortheoretisch restringierten soziologischen Denkweise ergibt, lässt hier noch das Problem, die »Grundlagen des Ehelebens« (GW VII, S. 164) erhalten zu wollen und gleichzeitig ein Mindestmaß an sexueller Freizügigkeit für das männliche Individuum zu ermöglichen, ohne eine Regression auf »ethisch verwerfliche« (S. 163) Befriedigungsformen zu provozieren, ungelöst. Weil das Problem des Verhältnisses von sozialer und individueller Identität lediglich in der verdinglichten Dimension des »Ehelebens« und seiner Stabilität gesehen wird und spezifische Manifestationen als »ethisch verwerflich« abqualifiziert werden, anstatt sie, Freuds eigenem Anspruch gemäß, zunächst vorurteilslos zu bearbeiten, bleibt die Kritik in sich gespalten. Die Einführung normativer Kriterien, deren soziale Bedingtheit nicht mitreflektiert wird und deren Anwendung auf soziale Sachverhalte, die Konfrontation der Wirklichkeit mit Normensystemen, die durch sie selbst verzerrt sind, bringt Freud in theoretische Zugzwänge, die die inhaltliche Kompetenz der psychoanalytischen Kritik zurücknimmt. Unter diesen Bedingungen ist Freud nicht mehr imstande, die inkriminierten Sachverhalte sinnvoll aufzuschlüsseln, also die gesellschaftliche Bedingtheit der Sexualmoral – im Sinne von historischer Notwendigkeit und/oder Angemessenheit – anzugeben, was nur über eine soziologische Reflexion etwa der Institution Ehe möglich wäre. Diese theoretische Lücke wird nun normativ gefüllt.
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4.7. Zur Ontologie des Sozialen Bisher wurde dargestellt, wie Freud bestimmte Bereiche gesellschaftlicher Wirklichkeit wahrnimmt und sie vortheoretisch strukturiert. Ich möchte nun versuchen, die für seine spezifische Wahrnehmungsweise identitätsstiftenden Strukturen realer Interaktionsdialektik in der Form, wie sie bei ihm selbst auftauchen, darzustellen. Es geht dabei auch um die – bisher noch weitgehend ungeklärte – Frage, wie überhaupt Elemente des Lebenszusammenhangs gesellschaftliche Wahrnehmung produzieren und wie durch die personale Realität sozialen Geschehens; durch die Totalität von Denken und Handeln historische Prozesse sich in ihrer Reproduktion verändern. Denn es kann kein Zweifel daran bestehen, dass Freud aus bürgerlicher Wirklichkeit heraus die Voraussetzung ihrer Transzendierung schuf. Um es zu rekapitulieren: Fixpunkt des gesellschaftlichen Wahrnehmungsbereiches ist das erwachsene männliche bürgerliche Individuum, umgeben von Frau und Kindern. Die Kleinfamilie ist wiederum umgeben von der Welt der Anderen. Es geht nun darum, die Beziehungsstrukturen zu beschreiben, die von Freud selbst verdinglicht werden, indem, er sie in Personen hineinverlagert, um dann ex post daraus wieder, durch die vorausgesetzten Besonderheiten der Beteiligten gebrochene, Beziehungsstrukturen abzuleiten. Es ist nicht die gesellschaftliche Rollenverteilung zwischen Mann und Frau, die Freud als solche mit der Qualität von QuasiNatur ausstattet. Im Gegenteil: Die bekannte Briefstelle (Freud, 1968, S. 56 f.), die sich mit der Position der Frau auseinandersetzt, verdeutlicht implizit, dass er selbige zwar begrüßt, aber als gesellschaftlich produziert betrachtet. Die Ontologie sozialer Wirklichkeit in der Wahrnehmung, die sich durch die Dialektik von alltäglicher Erfahrung und lebensgeschichtlich sedimentierten Psychostrukturen herausbildet, kristallisiert sich gewissermaßen eine Stufe niedriger, auf der Ebene sozialer »Pseudoentitäten«, zu denen mikrosoziale Prozesse vor allem auf Grund undurchschauter Reproduktionszwänge und der sie ergänzenden und mitbedingenden Wahrnehmungsrestriktionen gerinnen. In Bezug auf die weibliche Identität verdeutlicht sich dies anhand einiger Zitate:
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»Das kleine Mädchen ist in der Regel weniger aggressiv, trotzig und selbstgenügsam, es scheint mehr Bedürfnis nach Zärtlichkeit zu haben, die man ihm erweisen soll, darum abhängiger und gefügiger zu sein« (GW XV, S. 125). – »Wir halten es für durchaus normal, daß das Mädchen von vier Jahren schmerzlich weint, wenn ihm eine Puppe zerbricht, mit sechs Jahren, wenn ihm die Lehrerin einen Verweis gibt, mit sechzehn Jahren, wenn der Geliebte sich nicht um sie bekümmert, mit fünfundzwanzig Jahren vielleicht, wenn sie ein Kind begräbt« (GW XIV, S. 178). – »… wie eine Frau, die erobert werden will, aber weiß, daß sie gering geachtet wird, wenn sie nicht Widerstand leistet« (Freud, 1968, 465). – »Nach mehr als zwei Dezennien, als sie beide gealtert waren, die Frau natürlich mehr als er« (GW XV, S. 48 f.). Allen vier Zitaten ist gemeinsam, dass in ihnen Zuordnungen nicht mehr hinterfragbar sind, weil ihr Wirkungszusammenhang (der sich zum Teil aus ihnen selbst zusammensetzt) nicht mehr hinterfragbar ist. Attributiv setzt sich so eine Wahrnehmungsweise durch, die ideologisch im strengen Sinn (also keine plumpe Rationalisierung) ist: Sie erkennt Wirkliches in verzerrter Weise. Eine Ursache der Verzerrung liegt darin, dass Freud die den konstatierten Sachverhalten zugrunde liegende reale Interaktionsdialektik, die im dritten und indirekt auch im vierten Zitat noch erwähnt werden, nicht realisieren kann. Es ist keineswegs »natürlich«, dass Frauen schneller beziehungsweise »mehr« altern als Männer – zu einer solchen Beschreibung gehört nicht nur eine Wirklichkeit, in der Frauen als sozial Deklassierte tatsächlich spezifische Lebensschicksale erleiden und in der dann dieser Zustand im gesellschaftlichen Bewusstsein reproduziert wird, sondern auch ein Bewusstsein, in dem diese Verhältnisse als Teil eigener Lebenspraxis im eigenen Orientierungskanon stratifiziert wurden. Die Orientierung an »Pseudoentitäten« ist untrennbar verbunden mit der Einschätzung von integrativen Sinnstrukturen. Die hier nur an einigen wenigen Beispielen demonstrierte Art und Weise, wie sich mosaikmäßig ein Stereotyp herausbildet, welches dann den wahrnehmungsstrukturellen Kontext, dem es entstammt, unterstützt, wäre unverständlich, wenn sie nicht gleichzeitig integriert wäre in eine Systematik von Inhalten und Beziehungen. Zu den mikroskopischen Aspekten des Weiblichkeitsbildes gehört die
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Behandlung sozialer Aktivitäten seitens der Frau. In einer frühen Fallstudie führt Freud aus, dass eine seiner hysterischen Patientinnen sich von dem »Ideal entfernte, welches man gerne in einem Mädchen verwirklicht sieht« (GW I, S. 202). Sie tat dies, indem sie »männliche« Neigungen entwickelte: »sie war von ehrgeizigen Plänen erfüllt, wollte studieren oder sich in Musik ausbilden lassen« und so weiter. Freud schätzte daraufhin ihren Charakter als »schroff« und ihren Charakter selbst als einen ätiologischen Faktor ein. Schon hier deutet sich an, dass es die herrschende männliche Normalität ist, um die herum sich die sozialen »Pseudoentitäten« gruppieren. Vollends deutlich wird die Beziehungsstruktur, die erkenntnisleitend und damit wahrnehmungsstiftend für Freuds Frauenbild ist, anhand einer Passage aus der Analyse von Dora. Als Dora von Herrn K. einfach geküsst wird und sich losreißt, ist dies für Freud Anlass zu folgender Überlegung: »Jede Person, bei welcher ein Anlaß zur sexuellen Erregung überwiegend oder ausschließlich Unlustgefühle hervorruft, würde ich unbedenklich für eine Hysterica halten. … Akzidentelle Ursachen hatte der Ekel Doras sicher nicht … Ich kenne Herrn K. zufällig; … ein noch jugendlicher Mann von einnehmenden Äußeren« (GW V, S. 187). Durch die Beschreibung der konkreten Beziehung zwischen Dora und Herrn K. mit Hilfe des abstrakten Begriffs »sexuelle Erregung« kommt, neben der im Kontext seiner Argumentation sicher richtigen Bestimmung einer hysterischen Reaktion ein zusätzliches Moment zum Vorschein: dass nämlich implizit unterstellt wird, ein Anlass zur sexuellen Erregung sei objektiv definierbar und ebenso, dass eine weibliche Person »normalerweise« darauf reagiere. Damit wird die allgemeine Beziehung zwischen Mann und Frau hypostasiert; es ließen sich viele ähnliche Beispiele bringen. Dies lässt nur den Schluss zu, dass es nicht die passiv-rezeptive Rolle der Frau ist, die per se ontologisiert wird; sie wird es in Bezug auf eine bestimmte männliche Position, die darauf angewiesen ist. Dieser Strukturtypus taucht in allen Entwicklungsstufen von Freuds Theoriebildung wieder auf: im Begriff der »heroischen Liebe« ebenso wie in den fast zynischen teleologischen Meditationen im Rahmen der Kulturtheorie. Dabei sind die verdinglichten »Pseudoentitäten« und die abstrakten Strukturtypen als dialektische Einheit zu betrachten, sie
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bedingen sich gegenseitig. In der sozialen Wahrnehmung werden reale Prozesse aufgespalten in scheinbare Fakten und scheinbare wesenslogische Strukturen, welche sich dann ständig gegenseitig bestätigen. Da beides anhand derselben lebensgeschichtlichen Erfahrung organisiert wird, bildet sich ein circulus vitiosus innerhalb der Wahrnehmung, durch den hindurch sich der hier so genannte subjektivistische Objektivismus realisiert. Die dann mit Hilfe der entdialektisierten Wahrnehmung entwickelten theoretischen Modelle gewinnen dadurch jenen eigentümlich schimärenhaften Charakter, sind wahr und falsch zugleich. Ähnliches gilt für das Kind; die von Freud in diesem Zusammenhang konstatierten Daten wurden größtenteils bereits vorgeführt: Der »kleine Wilde« ist egoistisch und will hauptsächlich das eine, »erwachsen« werden. Zwei weitere Momente kommen noch dazu. Zum einen will das Kind spezifische libidinöse Beziehung zu seiner heterosexuellen primären Bezugsperson, zum anderen impliziert die Persönlichkeitsentwicklung des Kleinkindes Entfremdung: »Die Sexualforschung dieser frühen Kinderjahre wird immer einsam betrieben; sie bedeutet einen ersten Schritt zur selbständigen Orientierung … und setzt eine starke Entfremdung des Kindes von den Personen seiner Umgebung« (GW V, S. 97). Dies entspricht auch der Voraussetzung aprioristischer Konkurrenz zwischen Kindern. Unter diesen Umständen erscheint es Freud quasi als Allgemeines des intrafamilialen Beziehungssystems, dass die Mutter Prototyp des Liebesobjektes (GW XVII, S. 115), der Vater »beneidetes Vorbild« (S. 116) ist; Erziehung stellt sich dar als das Problem, »Liebe auszuteilen« und dabei »ein wirksames Stück Autorität aufrecht« zu erhalten (GW XV, S. 161). Hinter diesem in sich geschlossenen Denksystem und den darin verwendeten Formulierungen verschwimmt die reale Dialektik, die beiden zugrunde liegt. Implizit ist mit dem Kind – zumindest in den allgemeinen Erörterungen – stets das männliche Kind gemeint. Dies verdeutlicht sich darin, dass Freud über die »zärtlichen Fixierungen des Kindes« reflektiert, um dann unmittelbar fort zu fahren: »Der Mann wird Vater und Mutter verlassen – nach der biblischen Vorschrift« (GW VIII, S. 80 f.). Dass die patrizentrische Sozialisation das komplexe Feld der Möglichkeiten von Eltern-Kind-Beziehungen in Richtung auf Konkurrenzdruck und Isolation struk-
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turiert, weitgehend so etwas wie ein infantiles »Leistungsprinzip« institutionalisiert, entgeht der Wahrnehmung, die Kindesverhalten in spezifischer Weise organisiert und daraus die Sinnstrukturen ableitet, anhand derer es bereits eingeschätzt wurde. Dies gilt auch für die »autoritären« Aspekte der Interaktionsstrukturen zwischen Eltern und Kind. Was Freud in der Traumdeutung eines Kindertraums zu dem Wunsch nach einer Schokolade, nach einem Ausflug auf den Dachstein bemerkt: »Die Mutter hatte mit Recht gemeint, jener Tag habe genug Wunscherfüllungen gebracht und diesen Wunsch für den Traum übrig gelassen« (GW II/III, S. 134), wird etwas anhand dieser Äußerung: »wenn das Kind die geballte Hand nicht aufmachen will, um zu zeigen, was es in ihr hat, dann ist es gewiß etwas Unrechtes, was es nicht haben soll« (GW XI, S. 114). Das Raster von Freuds Wahrnehmung parzelliert diesen Vorgang in zwei »Dinge«: das »unrechte« Verhalten des Kindes und die von daher »rechtmäßigen« und notwendigen Verhaltensweisen der Eltern. Das diese und die ihnen zugrunde liegenden Normen jenes begrifflich und praktisch erst herstellen, bleibt so unerkannt. Freuds Rekonstruktion der Grundstrukturen der Kinderwelt stellt sich für ihn selbst dar als Substrat verallgemeinerter beziehungsweise verallgemeinbarer empirischer Erfahrungen. In der Tat kann man davon ausgehen, dass jedes einzelne Element des Sozialen, welches er beschreibt, einem Teil der Wirklichkeit entspricht. Der Eindruck, den das »normale« Kind, seine Lebenssituation und seine Entwicklung sowie die familiären Verhältnisse hinterließen, muss intensiv genug gewesen sein, um eine zusammenhängende, integrierende Interpretation zu stiften, die den einzelnen Elementen ontologische Qualität zuschreibt. Die Beschreibung, die Freud gibt, bewegt sich meist schon auf metatheoretischer Ebene, weil ihm die theoretische Verarbeitung der Wirklichkeit als gesichert erscheint. Die einzelnen Strukturelemente erscheinen ihm als unbedingt und nur zum Teil als kausal verkettet. Dass das Kind ursprünglich asozial ist und sich gegen seine Umwelt entwickelt, dass weiterhin einschneidende Verbote seine Entwicklung erheblich beeinflussen, waren sicher Erkenntnisse, die der Wirklichkeit im Bürgertum entsprachen. Sie werden von Freud jedoch, ebenso wie die vollkommene Ausrichtung der infantilen Entwicklung auf
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die Erwachsenenwelt, ontologisiert, weil er sie nicht in dialektische Beziehung zu den übrigen von ihm konstatierten Teilen der Wirklichkeit bringt. Stattdessen werden diese ebenfalls gesetzt: Die Mutter ist zärtlich, der Vater, der Inbegriff von Autorität, streng, die Erziehung notwendig einschränkend. Freud selbst integriert die einzelnen Erfahrungen in einen Sinnzusammenhang, der sich aus den aprioristischen Qualitäten der Beteiligten ableitet. Die Erziehung ist notwendig streng, weil das Kind asozial ist, die Erwachsenen Vorbild, weil sie von allem mehr haben, der Vater Entwicklungsziel, weil er die Autorität besitzt. Das Erfahrene und Erfahrbare wird als Unbedingtes oder als einseitig kausal verknüpft interpretiert, weil es Positionen beinhaltet, die unabdingbarer Bestandteil der Rekonstruktion der Wirklichkeit sind. Dabei gerät die soziallogische Eigenständigkeit der Sachverhalte völlig aus dem Blickfeld, die Autorität des Vaters ist keine Frage der Rollendefinition, sondern quasi natürlich. Unter diesen Umständen ist es erklärlich, dass Freud zwischen der Position des Vaters und der »normalen« Entwicklung des (vornehmlich männlichen) Kindes keinen inhaltlichen Zusammenhang sieht und nicht realisiert, dass die Erziehungsform, die den Kindern vieles vorenthält und autoritär über sie bestimmt, einerseits Konkurrenzdruck unter den Kindern erzeugen muss, andererseits den Kindern nur zu deutlich vorführt, dass Bedürfnisbefriedigung ans Erwachsensein gebunden ist und deshalb den »heißen Wunsch, groß zu werden« wecken muss. Gleichzeitig ist die Vereinzelung und »Entfremdung« des Kindes größtenteils das Produkt der Sozialisation in der isolierten Kleinfamilie und der Fixierung auf den autoritären Vater, der wiederum selbst Ergebnis einer solchen Erziehung ist. Diese wechselseitige Bedingtheiten zerfallen in Freuds Darstellung in einzelne ontologische Elemente des Sozialen, weil für ihn die Familie und die intrafamiliäre Rollenverteilung im Bürgertum sowie deren sozioökonomische Grundlagen bereits Voraussetzung der Analyse sind. Damit sind Realität der Frau und des Kindes sinnhaft auf die des erwachsenen männlichen Individuums bezogen; in ihren Besonderheiten auf die Wirklichkeit des Mannes ausgerichtet. Die Darstellung ihrer Ontologien in Freuds Denken ist erschwert dadurch, dass hier die genannten Wahrnehmungsstrukturen, be-
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stimmte verallgemeinerte lebensgeschichtliche Erfahrungen und normative Vorstellungen viel intensiver vermittelt sind; nicht nur, weil das männliche Individuum Zentrum des Denkens überhaupt ist, sondern auch, weil unmittelbar eigenes Erleben Freuds zum Tragen kommt. Die wesentlichen Aspekte bürgerlicher Existenz, die sich Freud als aprioristische Qualitäten darstellen, sind bereits vorgeführt worden; sie gruppieren sich insgesamt um die Erfahrung der Vereinzelung. Dazu gehören vor allem das Erleben des »Anderen«, der immer fremd bleibt, Konkurrent ist. Der »Wettkampf mit dem Nebenmenschen« (GW X, S. 326) erscheint so als ebenso unabänderlich – wenn auch für Freund auch nicht unbedingt als antagonistisch – wie die Tatsache, dass die Beziehungen zu Anderen nur in der Familie durchbrochen werden: Nur dort scheint Beziehung als ungebrochene realisierbar. An seine Braut schrieb Freud: »Darum, mein Schatz, Zurückhaltung, Neutralität und Vorsicht und lerne von mir, gegen einen einzigen Menschen ganz aufrichtig zu sein, gegen die anderen nicht unaufrichtig, bloß reserviert« (Jones, 1960 ff., I, S. 230). Der Fremdheit des Anderen entspricht die Kontinuität des Selbst: Implizit geht Freud davon aus, dass mit dem Erreichen des Erwachsenenalters die individuelle Entwicklung abgeschlossen sei. Dies lässt sich direkt nicht belegen, geht aber indirekt zum Beispiel aus folgender Überlegung hervor: »Auch hat die Erziehbarkeit einer jugendlichen Person in der Regel eine Ende, wenn ihre Sexualbedürfnisse in endgültiger Stärke erwachen« (GW XI, S. 369). Weitere konstitutive Elemente sind die Grundstrukturen sozialer Existenz im weiteren Sinne, die sich für Freud vor allem in zwei Punkten verdichten: der Knappheit, aus der der Zwang zur entfremdeten Arbeit und ein intensives Sicherheitsbedürfnis ableiten (Jones, 1960 ff., II, S. 219/GW XIV, S. 474) und die Ohnmacht des Einzelnen gegenüber seinem individuellen Schicksal, der »unerbittlichen Kausalverkettung des Lebens« (GW II/III, S. 281), und der gesellschaftlichen Wirklichkeit: »Der Zustand unserer Zivilisation ist … für den Einzelnen etwas Unabänderliches« (GW I, S. 501). Von daher ergeben sich die Sinnstrukturen individueller Existenz. Das Individuum muss vor allem versuchen, so weit wie möglich autonom zu sein: »Selbständigkeit« ist für Freud eine Ei-
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genschaft, die »Stolz« hervorruft (Jones, 1960 ff., I, S. 357), »selbst der brave Mann zu sein« (S. 226), der seine Probleme allein bewältigt, löst das Problem der Fremdheit des Anderen. »Ein zärtliches Weib, ein prächtiges Kind, Arbeit, Erwerb und Freunde« (Freud, 1968, S. 356), also eine – von Standpunkt des Individuums widerspruchsfreie – für die öffentlichen Mühen entschädigende Privatwelt, sind die Voraussetzungen für die Realisierung der Autonomie. Die soziopsychische Identität des Individuums erfährt ihre Verwirklichung in den auf sie sinnhaft bezogenen Segmenten des Sozialen und impliziert, auf Grund der anderen konstatierten Aprioris seiner Existenz, dabei stets Defensive, nach innen wie nach außen. Dies wurde bereits beschrieben. Dazu kommt in diesem Kontext noch die aus der Abgeschlossenheit individueller Entwicklung mit der psychischen Reife sich ableitende Gleichfügigkeit der Bedingungen der Existenz. Sie muss »sparsam« sein, keine Extreme beinhalten und ist »konservativ«: orientiert sich an der eingeübten Lebenspraxis, zu der die »gewohnte Hochachtung« der Dienstboten (GW II/III, S. 245) ebenso wie die Korrektheit der Umgangsformen, die durch einen »Defekt der Toilette« (S. 248) zur Besonderheit wird, gehört. Nur von dieser Position ist es möglich, das Wesen der »Psychopathologie des Alltagslebens« so zu bestimmen: »Jede Veränderung des gewohnten Aufzuges, jede kleine Nachlässigkeit, jede Spur von Entblößung will etwas sagen, was der Eigentümer der Kleidung direkt nicht sagen will, meist gar nicht zu sagen weiß« (GW IV, S. 216). Der in spezifischer Weise solistischen Organisation von Freuds Wahrnehmung des Individuums entgeht so die ihr selbst noch zugrunde liegende historische Form der Interaktion. Dass der Andere im Gegensatz zum Ich steht, weil das Ich zu ihm im Gegensatz steht, bleibt als Verdinglichtes unerkennbar. Daher erscheint die Aufteilung in private und öffentliche Existenz als Konsequenz, nicht als integraler Bestandteil eines in sich widersprüchlichen historischen Prozesses. Dies gilt mutatis mutandis auch für die anderen genannten Aspekte der Lebenswelt des bürgerlichen Individuums. Auf dem Hintergrund der dialektischen Einheit von »Pseudoentitäten« und diese integrierenden Sinnstrukturen, die die realen Interaktionsstrukturen gleichzeitig verarbeiten und verdecken,
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entwickelt Freud Modi der Lebensorganisation, die gleichzeitig als Strategien der Bewältigung und Integration der trotz allem disparaten Pole der individuellen Existenz begriffen werden können. Die normativen Konsequenzen, die Freud aus der von ihm konstatierten Situation zieht, manifestieren sich vor allem in einem ausgeprägten Arbeitsethos (»Leben ohne Arbeiten kann ich mir nicht recht behaglich vorstellen, Phantasieren und Arbeiten fällt für mich zusammen, ich amüsiere mich bei nichts anderem«. – Freud u. Pfister, 1963, S. 32 f.). Er stellt nicht nur eine – wenngleich abstrakte – Verbindung, qua »Interessengemeinschaft«, zu Anderen her, sondern rehabilitiert auch für das Individuum selbst ein Stück weit die durch die Kapitulation vor der materiellen Gewalt, die von der Faktizität der Wirklichkeit ausgeht, in den Prinzipien der Anerkennung der Realität und ihrer konservativen Gleichförmigkeit eskamotierte Phantasie. Dazu gehört eine strikt kantische Organisation der eigenen Lebensführung, eben die genannten Elemente des bürgerlichen Idealverhaltens. Beides wird ergänzt und strukturiert durch eine spezifische Form der Ästhetisierung der eigenen Wahrnehmungskriterien. »(Wir) begrüßen es auch als kulturell, wenn wir sehen, daß sich die Sorgfalt der Menschen auch Dingen zuwendet, die ganz und gar nicht nützlich sind, eher unnütz erscheinen, zum Beispiel wenn die in einer Stadt als Spielplätze und Luftreservoirs notwendigen Gartenflächen auch Blumenbeete tragen, oder wenn die Fenster an den Wohnungen auch mit Blumentöpfen geschmückt sind. Wir merken bald, das Unnütze, dessen Schätzung wir von der Kultur erwarten, ist die Schönheit; wir fordern, daß der Kulturmensch die Schönheit verehre, wo sie ihm in der Natur begegnet, und sie herstelle an Gegenständen, soweit seiner Hände Arbeit es vermag … Wir verlangen noch die Zeichen von Reinlichkeit und Ordnung zu sehen … Wir sind ungehalten und schimpfen es »barbarisch«, was der Gegensatz zu kulturell ist, wenn wir die Wege des Wiener Waldes mit weggeworfenen Papieren bestreut finden. Unsauberkeit jeder Art scheint uns mit Kultur unvereinbar; auch auf den menschlichen Körper dehnen wir die Forderung nach Reinlichkeit aus … Ähnlich ist es mit der Ordnung, die ebenso wie die Reinlichkeit sich ganz auf Menschenwerk bezieht. … Die Ordnung ist eine Art Wiederholungszwang, die durch einmalige Einrichtung
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entscheidet, wann, wo und wie etwas getan werden soll, so daß man in jedem gleichen Falle Zögern und Schwanken erspart. Die Wohltat der Ordnung ist ganz unleugbar, sie ermöglicht dem Menschen die beste Ausnützung von Raum und Zeit, während sie seine psychischen Kräfte schont. … Schönheit, Reinlichkeit und Ordnung nehmen offenbar eine besondere Stellung unter den Kulturanforderungen ein« (GW XIV, S. 451 f.). In diesem Zitat ist die Ästhetisierung der Wahrnehmungskriterien bereits kulturtheoretisch gewendet; die Art und Weise, wie sich orientierende Funktion innerhalb der Theoriebildung übernimmt, lässt sich nur daraus bestimmen, wie sie inhaltlich durchgeführt wird. Was Freud unter Schönheit versteht, geht aus dem hervor, was er unter »Kunst« versteht, aber auch aus seiner Einstellung zur Sexualität. Kunst ist für ihn »klassische« Kunst und misst sich an den Maßstäben klassischer Ästhetik, was sich aus seinen eigenen Präferenzen und den Sujets der psychoanalytischen Kunstforschung ablesen lässt. Ihre Produktion ist eine Frage des individuellen Genies (GW VIII, S. 416). Demgegenüber ist moderne Kunst Scharlatanerie (Freud u. Abraham, 1965, S. 309), sind moderne Künstler »Narren« (Freud u. Pfister, 1963, S. 80). Dem entspricht es auch, wenn Freud der Kunst kompensatorische Funktion zuschreibt und sie selbst darauf festlegt, »keine Übergriffe ins Reich der Realität« (GW XV, S. 173) zu tun, sie also als wesentlich unpraktisch und kontemplativ auffasst. Der Inhalt dessen, was Freud unter Kunst versteht, und der gesellschaftliche Ort, den er ihr zuweist, sind das Ergebnis klassisch-konventioneller Betrachtungsweise. Die Gebundenheit dieser Ästhetik an die Wirklichkeit der bürgerlichen Gesellschaft tritt noch deutlicher in Freuds Anschauung des Sexuellen hervor: »Die Genitalien selbst haben die Entwicklung der menschlichen Körperformen zur Schönheit nicht mitgemacht, sie sind tierisch geblieben, und so ist die Liebe im Grunde heute ebenso animalisch, wie sie es von jeher war. Die Liebestriebe sind schwer erziehbar, ihre Erziehung gibt bald zuviel, bald zuwenig. Das, was Kultur machen will, scheint ohne fühlbare Einbußen an Lust nicht erreichbar, die Fortdauer der unverwertbaren Regungen gibt sich bei der Sexualtätigkeit als Unbefriedigung zu erkennen« (GW VIII, S. 90 f.) – »… die ganze Brutalität der Geschlechtslust … unfreiwillige Zeugenschaft bei sexuellen Akten der Eltern, die
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in einem ungeahntes Häßliches aufdecken und das Kindliche wie das moralische Gefühl verletzt« (GW I, S. 436). Die Einsicht, dass zwischen Triebstruktur und Gesellschaft eine enge Beziehung besteht, wird von Freud so untrennbar mit dem in der bürgerlichen Gesellschaft reziproken Verhältnis zwischen Sexualität und gesellschaftlichem Verhalten gekoppelt, dass daraus eine allgemeine Beziehung zwischen Sexualität und »Kultur« wird, zu der keine Alternative denkbar ist. Der gesellschaftlich vermittelte Eindruck, dass Sexualität »hässlich« ist, ist so intensiv, dass er nicht weiter reflektiert werden kann. Von dieser Einstellung zur Schönheit führt eine direkte Verbindungslinie zu der Reinlichkeit. Für beide gilt, dass sie Errungenschaften der Kultur sind und auch in Bezug auf die Reinlichkeit ist festzustellen, dass Freud den allgemeinen Begriff verwendet und ihn mit »Kultur« in Verbindung bringt, ohne die konkreten Gehalte, die sich hinter »Reinlichkeit« verbergen können, zu realisieren. »Da nun die Analerotik zu jenen Komponenten des Triebes gehört, die im Laufe der Entwicklung und im Sinne unserer heutigen Kulturerziehung für sexuelle Zwecke unverwendbar würden« (GW VIII, S. 205), werden sie von ihrem ursprünglichen Ziel getrennt und der Sublimierung zur Verfügung gestellt. Da Freud diese Beziehung als gesichert erscheint, spricht er selbst dann von »allerleit unziemlichen Beschäftigungen mit dem zutage geförderten Kote« (S. 204). Der Aufsatz über »Charakter und Analerotik« (1908) beschäftigt sich dementsprechend nur mit dem allgemeinen Verhältnis zwischen beiden, nicht jedoch mit der gesellschaftlichen Funktion von Reinlichkeit und Sparsamkeit und die qualitativen Unterschiede, die der allgemeine Begriff »Reinlichkeit« undifferenziert umfasst. Der spezifische Zusammenhang zwischen kapitalistischer Produktionsweise und Reinlichkeitserziehung im Bürgertum bleibt deshalb unerkannt. Wie im Begriff Reinlichkeit so ist auch in dem der Ordnung im Grunde deren Funktionalität und Rationalität gemeint. Dies setzt allerdings ihren Wirkungszusammenhang als gesichert voraus. Durch die allgemeinen gesellschaftstheoretischen Voraussetzungen kommt Freud dazu, einen homogenen Ordnungsbegriff zu verwenden, der eine Analyse von möglichen spezifischen Qualitäten der Ordnung nicht mehr zulässt. Mit der Berechenbarkeit
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von Vorgängen hat sich ihre Funktion bereits erfüllt. Damit bleibt der Inhalt der geordneten Vorgänge selbst unberücksichtigt. Auf der anderen Seite beinhaltet dieser Ordnungsbegriff individuelle Beurteilungskriterien, deren spezifischer Inhalt von Freud ontologisiert wird, wie etwa die oben beschriebene Gleichförmigkeit der individuellen Existenz und der Verkehrsformen. Arbeitsmoral, kantische Ethik und Ästhetik der Wahrnehmung bilden einen Kanon von orientierenden und interpretierenden Normen, mit deren Hilfe die von Freud konstatierten Daten und Sinnstrukturen bürgerlicher Existenz lebenspraktisch – sowohl unmittelbar als auch mittelbar – integriert und perspektivisch gewendet werden können. Es wäre allerdings falsch, anzunehmen, dass das spezifische »Syndrom« der Ontologie des Sozialen, welches sich durch Form und Inhalt der Wahrnehmung bildet, durch Ausgrenzung und Integration gewissermaßen gegen reale Prozesse abgedichtet sei. Es ist nicht nur die in der Arbeit tatsächlich sich realisierende »Phantasie«, die die Theorie nicht zur schlichten Verdoppelung oder Verklärung der Wirklichkeit verkommen lässt, es sind auch die inneren Widersprüche (z. B. Erfahrung der Ohnmacht vs. individuelle Autonomie) der inhaltlichen und formalen Organisation der Wahrnehmung sowie deren Konfrontation mit realen Vorgängen, die die Dynamik der Theorie initiieren. Aber sowohl das, was sie selbst hervorbringt, als auch das, was die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft erzeugt, überfordert die auf dieser Basis aufgebauten Denkstrukturen; deren Bemühungen münden in die in sich hermetische Kulturtheorie, die jedoch bei genauem Hinsehen die Widersprüche unversöhnt lässt und gerade deshalb immer noch Realität festhält. Als Freud schrieb: »Wenn ich mich frage, warum ich immer gestrebt habe, für den anderen schonungsbereit und womöglich gütig zu sein, und warum ich es nicht aufgegeben hatte, als ich merkte, daß man dadurch zu Schaden kommt, zum Amboß wird, weil die Anderen brutal und unzuverläßlich sind, dann weiß ich allerdings keine Antwort. Vernünftig war es natürlich nicht« (Freud, 1968, S. 321), protokollierte er für sich selbst das Ende der Illusion des autonomen, intelligiblen Individuums, ohne dessen Begriff aufzugeben. Weil aber gerade aus der Ontologie des Sozialen heraus dieser Begriff sich entwikkelte und zum nervus rerum der theoretischen Arbeit wurde, ist
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jene, obwohl sie selbst Politik eskamotiert, indem sie Gesellschaftliches ausgrenzt, immer schon politisch. Aus dieser Doppeldeutigkeit der Ontologie des Sozialen resultiert letztlich die der auf sie aufbauenden Theorie.
4.8. Der gesellschaftliche Wahrnehmungsbereich Die vortheoretische Gewissheit über spezifische Teile des Sozialen unterscheidet sich von dem, was man »Gesellschaftstheorie« nennen könnte, in Bezug auf die reflexive Distanz gegenüber diesen Teilen. Sie besteht wesentlich in der Sicherheit, dass bestimmte soziale Sachverhalte weniger sozialer Natur, vielmehr als natürlicher oder als notwendige »zweite Natur« vorgegeben sind. Die vortheoretische Gewissheit ist daher in gewisser Hinsicht nicht der Ansatz zur Interpretation sozialer Zusammenhänge, sondern bereits deren Ausdruck in vermittelter Art und Weise. In ihr kommen gesellschaftstheoretische Positionen zum Ausdruck, die demjenigen, der sie vertritt, nicht als solche bewusst sind. Insgesamt sind sie durch die Tendenz gezeichnet, das Soziale zu entqualifizieren und zu entproblematisieren, weil sich in ihnen, wie sich am Beispiel der Rollenverteilung zwischen Mann und Frau zeigt, die Wirklichkeit quasi in die Theorie ungebrochen fortsetzt, ohne dass dabei ihre Widersprüchlichkeit realisiert würde. Sie systematisieren Erfahrungen und Verhaltensnormen, ohne ihre immanenten Strukturen zu erfassen und bringen dann die sozialen Tatbestände in einer Sprache zum Ausdruck, die deren genuin sozialen Charakter verhüllen. Freuds »Theorie des Sozialen«, die dann auch später die Gestalt einer phylogenetischen Kulturtheorie annimmt, ist als Fortsetzung des Systems der vortheoretischen Gewissheit zwar eine Theorie, welche sich auf die gesellschaftliche Wirklichkeit als Ganzes bezieht, aber gleichzeitig auch eine Theorie, die wegen der Strukturen der vortheoretischen Gewissheiten, wegen dem ihnen implizit zugrunde liegenden Gesellschaftsbegriff, welcher mit den Vorstellungen über die Gesellschaft, die im Bereich der Therapie und der Wissenschaft entwickelt wurden, eng zusammenhängt und wegen
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der inhaltlichen Ausrichtung der vortheoretischen Gewissheiten Gesellschaftliches vernachlässigt. Dazu kommt, dass Freud selbst die Problematik der Begriffsbildung so wenig relevant erschien, dass ihm die Übertragung spezifischer vorausgehender Inhalte und Strukturen in Begriffe der Psychoanalyse nicht auffiel. Ihm schien die Theorie zu bestätigen, was auch mit seinen sonstigen Anschauungen übereinstimmte, beispielsweise die Inferiorität der Frau. Die begriffliche Tautologie, die ihm dieses Ergebnis brachte, wurde von der Sicherheit der vortheoretischen Gewissheit verdeckt, in welcher die Differenz zwischen Mann und Frau und ihrer Variationsmöglichkeiten sowie ihrer konkreten Ausgestaltungen im Bürgertum nicht mehr auffiel, weil die letztere ontologisiert wurde. Die Inhalte, welche dem System der vortheoretischen Gewissheiten zugrunde liegen und welche sie indirekt zum Ausdruck bringen, werden hier analytisch getrennt, obwohl sie sich gegenseitig bedingen und ergänzen. Zunächst ist der eine Pol, auf den der gesellschaftliche Wahrnehmungsbereich in dieser Weise zentriert ist, eine immanente Vorstellung vom gesellschaftlichen Ganzen. Von Gesellschaft ist stets nur als »die« Gesellschaft die Rede, womit nicht eine besondere, sondern Gesellschaft an sich als Organisationsform des Sozialen gemeint ist. Dieser funktionalistische Begriff unterstellt, dass »die« Gesellschaft niemals partikulare Interessen, sondern immer nur die aller in der sozialen Assoziation Vorhandenen vertreten kann. Die Gesellschaft an sich ist neutral und repräsentiert in der Regelung des Sozialen die objektiven Interessen jedes einzelnen, auch wenn sie im Einzelnen diesem Anspruch oft nicht genügt, ist sie doch allgemein der Rationalität verpflichtet. Diesem in aufklärerischer Tradition stehenden rationalistischfunktionalistischem Gesellschaftskonzept entspricht es, wenn auch die Teile des Ganzen, wenn auch in je verschiedener Art und Weise, als sinnhaft-funktional aufgefasst werden, ohne dass ihnen soziale Eigendynamik zugestanden würde. Entweder erscheinen sie als natürlich, wie etwa die Familie, wodurch dann die Differenz zwischen notwendiger Organisation (sexuelle Beziehungen, Sozialisation etc.) und Institution (Ehe) unberücksichtigt bleiben, oder sie erscheinen als notwendige Institutionen, deren Funktion rational bestimmt und sicher vorgegeben ist (Schule), wobei deren
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innere Struktur und immanenter Zweck unproblematisiert bleibt. Diese Vernachlässigung der Eigenständigkeit der »faits sociaux« und damit die Ent-Soziologisierung des Gesellschaftsbegriffs entsprechen der grundlegenden Tendenz zur Entpolitisierung des Gesellschaftsprozesses, die an die Annahme anschließt, die Ziele der Aufklärung seien wesentlich verwirklicht und die Wirklichkeit der bürgerlichen Gesellschaft in sich nicht antagonistisch. Was dem einzelnen Individuum zustößt, ist, soweit es nicht aus Verfehlungen »der« Gesellschaft, etwa im Bereich der Sexualmoral, resultiert, entweder »äußerer Zufall« oder aber persönliches »Schicksal« als Teil des Gattungsschicksals, welches nicht weiter hinterfragbar ist. Dieser Schicksalsbegriff spielt im Verlauf der Entwicklung der Theorie eine wichtige Rolle; innerhalb des frühen, kaum explizierten Gesellschaftsmodells erklärt er die Antinomien des Sozialen, deren soziale Ursachen unerkannt bleiben. Unter dem Begriff »Schicksal« fallen auch alle die Aspekte der sozialen Wirklichkeit, die nicht oder kaum wahrgenommen werden, genauer gesagt: weder in ihrer Bedeutung noch in ihrer gesellschaftlichen Bedingtheit realisiert werden. Dies gilt vor allem für die Bereiche des Sozialen, welche nicht unmittelbar mit der Lebenswelt des Bürgertums zu tun haben. Sowohl der Bereich der materiellen Produktion und Reproduktion, die Organisation der Arbeit als auch der der gesellschaftlichen Macht sind in Freuds sozialer Wahrnehmung nicht vertreten. In seinen Analysen tauchen auch später Begriffe wie Herrschaft und so weiter nicht auf. Diese Bereiche von objektiver gesellschaftlicher Relevanz spielen in seiner Vorstellung der Wirklichkeit keine besondere Rolle. In Bezug auf die Produktion und deren Organisation erklärt sich das wohl aus faktischen Entfernung, die zwischen Bildungsbürgertum bestand, aber auch daraus, dass Freud hauptsächlich die Notwendigkeit der Produktion überhaupt betonte, was mit dem späteren emphatischen Naturbegriff korrelierte, und diese mit ihrer tatsächlichen Organisationsform identifizierte. Die Irrelevanz der Politik für Freuds Gesellschaftsmodell resultiert wiederum aus dem allgemeinen aufklärerischen Anspruch an »die« Gesellschaft, deren wesentliche Aufgabe in der rationalen Organisation der Konkurrenz und des Verkehrs zwischen den einzelnen Individuen bestehen sollte. Rationale Konkurrenz sollte auch ein Set von
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Spielregeln beinhalten, die für den Einzelnen verbindlich sind. Erst durch diese Begrenzung der Konkurrenz wurde die gleichzeitige Verbundenheit der Konkurrierenden mit dem Ganzen denkbar. Freud selbst, das lässt sich aus vereinzelten privaten Äußerungen ablesen, verstand sich als Liberaler, weniger im konkreten politischen Sinn, als vielmehr im weitesten Sinn als Vertreter der Ansprüche und Ziele der Aufklärung. Ihn beschäftigte deshalb nicht die Regierungsform, sondern ganz allgemein die Rationalität des gesellschaftlichen Verkehrs. Diese war für ihn nicht mit irgendwelchen politischen Richtungen, deren Kampf ihm unsympathisch war, identisch. Die Rationalität des Ganzen bezieht sich auf den anderen Pol, um den die Bereiche der vortheoretischen Gewissheit gruppiert sind: auf das männliche bürgerliche Individuum. Die objektive Interessenidentität zwischen Gesellschaft und Individuum ist eine der entscheidenden Voraussetzungen, von denen Freud ausgeht und aus der sich die Rigidität des Anspruchs, den das Ganze an das Individuum stellt, legitimiert. Das reife, autonome (männliche) Individuum ist dadurch gekennzeichnet, dass es sich gegenüber der äußeren Realität und den anderen ebenso rational verhält wie gegenüber seiner inneren Realität. Doch ist diese persönliche und gleichzeitig soziale Identität nichts Selbstverständliches, sondern ein Zustand, der mühsam erreicht werden muss, weil die ursprüngliche psychische Struktur diesem kulturell angemessenen Ideal geradezu entgegengesetzt ist. Das Individuum muss erst seine asozialen, irrationalen und destruktiven Bedürfnisse beherrschen lernen, ehe es zu sich selbst kommen kann. Diese Annahme, dass Identität nur aus Verzicht entstehen könne und das anspruchsvolle, sich selbst legitimierende Ideal bedingen sich gegenseitig. Die Inhalte des Ideals stammen aus der Lebenswelt des Bildungsbürgers, nicht des Besitzbürgertums, es bezieht sich nicht auf aus außerhalb des Individuums liegende Zwecke wie etwa die der Kapitalakkumulation, sondern auf eine nicht-entfremdete, dem Interesse des Ganzen und seiner Geschichte verpflichteten Identität. Freud sucht dieses Individuum begrifflich in der Wirklichkeit zu verankern, ohne zu sehen, dass der Begriff und die Wirklichkeit des Individuums in sich widersprüchlich sind. Das bürgerliche Individuum ist wesentlich Produkt spezifischer gesellschaftlicher Bedin-
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gungen, gleichzeitig deren Voraussetzung: der autoritär strukturierten Kleinfamilie, der Erziehung, die nach Freuds Ansicht ruhig »streng« sein darf und der Notwendigkeit entfremdeter Arbeit – »travailler sans raisonner« war einer von Freuds Wahlsprüchen. Auf der anderen Seite ist die Autonomie des Individuums bezogen auf die als unumgänglich vorausgesetzte Konkurrenz, welche von Freud nicht inhaltlich bestimmt wird, jedoch offenkundig von ökonomischen Konnotationen frei ist – im Gegenteil: Spätere Reflexionen über Arbeit unterstellen stets ein einheitliches Subjekt, die Gattung Mensch, welche sich solidarisch mit der Natur auseinandersetzt. Dadurch jedoch bleiben Politik und Ökonomie disparat, während der Begriff des »autonomen Individuums« gleichzeitig die Dimensionen politischer Betätigung nicht enthält. Das bürgerliche Individuum wird letzten Endes nicht in dem Ausmaß als Zoon politikon begriffen, den die Psychoanalyse durch ihre Forschung enthüllt hat. Gesellschaft bleibt eine Assoziation von lediglich durch die Gemeinsamkeit des Kampfes gegen die Natur und das Interesse an der Fairness der Konkurrenz untereinander verbundenen Individuen, ansonsten stehen sich die Individuen fremd gegenüber. Umso bedeutsamer ist die Verbindlichkeit der Normen für die Herstellung eines rationalen und weitgehend harmonischen Interaktionssystems. Freud personalisiert nicht nur das gesellschaftliche Ganze, sondern er stellt auch die gesellschaftlichen Prozesse als Beziehung von Personen zu Personen dar. Auch hier vernachlässigt er diese, wenn man so will, umgekehrte Form des »Warenfetischismus« die Eigendynamik und die Relevanz der »faits sociaux«. Weil ihm die Wirklichkeit der bürgerlichen Gesellschaft allgemein nicht problematisch erschien, bleibt Freuds soziologisches Denken restringiert. An der Macht der Erscheinung, die er im Psychischen radikal gebrochen hatte, hält er im Sozialen an bestimmten Punkten an den durch die Erscheinung vermittelten Eindrücken fest. Dadurch, dass die Wahrnehmung der sozialen Wirklichkeit und das soziologische Denken auf das bürgerliche Individuum und die Gesellschaft als neutrale Organisationsinstanz der Interaktion konzentriert sind, ergibt sich nicht die Notwendigkeit, eine im engeren Sinn so zu bezeichnende »Gesellschaftstheorie« aufzustellen. Die Elemente der vortheoretischen Gewissheit sind
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Bruchstücke einer Theorie, welche schon vorab strukturiert ist. Je mehr die Psychoanalyse deren Inhalt zu bestätigen schien, desto stärker kristallisierte sich aus den vagen kulturhermeneutischen Interessen eine explizite Kulturtheorie heraus. Diese Kulturtheorie ist die Konsequenz aus dem, was bereits vorher angelegt war. In den gesellschaftstheoretisch relevanten Bereichen der Psychoanalyse übertrug sich, wie bisher an einzelnen Beispielen demonstriert wurde, die Widersprüchlichkeit der sozialen Wirklichkeit durch die Begriffsbildung auf das Individuum. Dadurch erschien erst recht nicht mehr die Organisationsform des Sozialen, sondern nur noch das Individuum und seine Psyche als Problem. Da die Psychoanalyse gleichzeitig als »objektive« Wissenschaft eine universale Entwicklung des Individuums darstellte, konnte auch die daran anschließende Theorie des Sozialen nur eine universale Theorie der Gattungsgeschichte sein. Die spezifische gesellschaftstheoretische Fragestellung nach den Sinnstrukturen bürgerlicher Existenz und die Art, wie sie behandelt wurde, führen zur Entwicklung einer umfassenden »Kulturtheorie«, in der die soziale Wirklichkeit aus dem Individuum heraus konstruiert wird. Sie bestätigt den Ausgangspunkt der vortheoretischen Gewissheit: dass die Vielfalt der sozialen Erscheinungen keine erkennbare Eigendynamik besitzt und dass ihr Ordnungsprinzip im Individuum zu suchen sei, weil die soziale Wirklichkeit wesentliche Interaktion und Konkurrenz autonomer Individuen ist.
5. Der Beitrag der Psychoanalyse zur Entwicklung der Kulturtheorie
5.1. Die Anfänge der Psychoanalyse Recht bald, nachdem er die ersten Versuche mit psychoanalytischen oder prä-analytischen Methoden unternommen hatte, begann Freud zu erkennen, dass sowohl die Methode als auch der Gegenstand den Rahmen ihrer Voraussetzungen sprengten. Was als Neurosentherapie begann, entwickelte sich sehr schnell zur umfassenden Theorie der psychischen Struktur des Individuums, seiner Entwicklung und seiner psychischen Struktur. Von daher ergab sich ihre Bedeutung für die gesellschaftstheoretischen Probleme, die sich Freud stellten. Der Forschungsgegenstand der Psychoanalyse war mit dem identisch, was sich im Kontext der vortheoretischen Gewissheiten als Mittelpunkt des Sozialen herauskristallisierte. Freud war nun in der Lage, seine wissenschaftlichen und seine kulturhermeneutischen Interessen, welche vorher disparat waren, gleichzeitig zu verfolgen. Von diesem Zeitpunkt an wandelt sich die Art und Weise, in der er seine gesellschaftstheoretischen Interessen und Vorstellungen expliziert und weiterentwickelt. Sie werden sprachlich und inhaltlich in psychoanalytische Termini übertragen; die Psychoanalyse wird zum Medium der Gesellschaftstheorie und zum Träger der kulturhermeneutischen Interessen. Dabei werden wesentliche Positionen der vortheoretischen Gewissheit, die ihrer Struktur nach sowohl Darstellung als auch Beurteilung der Wirklichkeit sind, in den Begriffsapparat der Psychoanalyse übernommen. Es wäre allerdings verfehlt, sich diesen Prozess als harmonisch prädestinierte Entwicklung vorzustellen. Freud selbst hat seine psychoanalytischen Studien und Schriften nicht mit dem Ziel begonnen, Argumentationsfiguren für eine Kulturtheorie zu finden; ihm wurde vielmehr eine Entwicklung aufgezwungen, deren
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Fortschritt gewissermaßen im Verlauf vieler Rückzugsgefechte theoretischer Art sich herauskristallisierte. Denn Freud war eher konservativ und vorsichtig; er gab Positionen nur dann auf, wenn ihr Scheitern offenkundig war. Dafür gibt es viele Beispiele: sein Festhalten an mechanisch-neurologischen Konzepten bis in die Phase der »Traumdeutung« hinein, sein Beharren auf der »Verführungstheorie« und so weiter. Was hier also zusammengetragen wird an Elementen, die sich durchhalten und an neuen Befunden, die durch neue Konzeptionen ermöglicht werden, ist das dürre Substrat eines langwierigen und auch schmerzhaften Kampfes Freuds um theoretische Stimmigkeit: ohne den Widerstand des Gegenstandes und die Widersprüche seiner Bearbeitung, die immer neue Reflexion und Umgestaltung der Theorie erforderlich machte, hätte Freud kaum den langen theoretischen und praktischen Marsch unternehmen müssen – und ohne die ihm eigene Hartnäckigkeit nicht unternehmen können. Zunächst suchte er an einem Selbstverständnis festzuhalten, welches sich an den geschilderten medizinisch-naturwissenschaftlichen Normen und Begriffen orientierte. In gewisser Hinsicht ist seine eigene Interpretation seines Vorgehens in der »Traumdeutung«, nach der er davon ausgeht, den Bereich der klassischen Physiologie und Psychiatrie nicht überschritten zu haben, richtig, zumindest insofern, als spezifische Annahmen über die Forschung, die Realität und einige Grundbegriffe des Psychischen viel Ähnlichkeit aufweisen. Auf die Strukturähnlichkeit des Begriffsapparates und inhaltliche Analogien haben Dorer (1932), Lorenzer (1972; 1973) und andere hingewiesen. Die weitgehende denkstrukturelle und konzeptuale Identität von Freud und seinen Zeitgenossen dürfte ihre Basis in gemeinsamer gesellschaftlicher Lebenspraxis und deren Konsequenzen haben. Während jedoch für die bornierte Schulpsychiatrie daraus keine Probleme entstanden, weil ihre Wahrnehmungsrestriktion beziehungsweise -verzerrung mit der Verdinglichung ihres Begriffsapparates übereinstimmte, war Freud gezwungen, seine Grundbegriffe zu explizieren und am Gegenstand abzuarbeiten. Die Vorstellungssyndrome, von denen er ausgeht, stehen in enger Verbindung zu den vorgeführten vortheoretischen Gewissheiten.
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Die Vorstellung von der »Not des Lebens«, welche überhaupt erst Entwicklung erzwingt und Weiterentwicklung provoziert, steht schon in den »Anfängen« an zentraler Stelle (Freud, 1962, S. 306). Zur gleichen Zeit geht Freud davon aus, dass der Organismus an sich »träge« ist und zur »Reizflucht« tendiert (S. 306). Dementsprechend ist Befriedigung nur als Reizaufhebung denkbar (S. 326); der Kontakt mit der reizspendenden Außenwelt, aber auch die intensiven Binnenreize sind permanente Quelle von Konflikten, »Die Normalvorbilder für das Pathologische geben« (S. 315). Die frühen Modelle psychopathologischer Vorgänge gehen von zwei Dingen aus: zum einen vom gesellschaftlichen Normensystem und der Beziehung der Einzelnen zu ihm; die Ubiquität dieses Zusammenhangs wird selbst nicht weiter hinterfragt und als substratunabhängige Realität vorausgesetzt (»Sie ersparte sich etwas; etwas wurde verdrängt. … Sie ersparte sich den Vorwurf: eine ›schlechte Person‹ zu sein« – S. 99), zum anderen von der daraus resultierenden spezifischen Struktur des Anlasses zur Erkrankung (»peinlicher Affekt«; »peinlichste Erinnerungen, welche notwendigerweise die größte Unlust erwecken müssen [Erinnerungen von Reue über schlechte Taten]« – S. 351 f.), der ganz allgemein in der Abweichung vom Normalen besteht (S. 356) und mit Unlust verbunden ist. Die ersten Vorstellungen über das Ich sprechen es als allein durch sich selbst produziertes, wenn auch von spezifischen Bedingungen abhängige Instanz an (S. 330 ff./326), welche, im Gegensatz zu den in den anderen Bereichen herrschenden »Primärvorgängen«, Träger der rationalen »Sekundärvorgänge« ist. Die Struktur dieser frühen Konzepte korreliert mit denen der vortheoretischen Gewissheit, innerhalb deren gleichzeitig die erkenntnisleitenden Vorstellungen über die Beziehung zwischen Trieb und Kultur, zwischen Lust- und Realitätsprinzip, über die Qualität des Triebes und der Sublimierung entwickelt werden (vgl. Freud, 1968, S. 56 f.). Die gesellschaftstheoretische Interpretation des Alltags und die Systematisierung der Alltagserfahrungen stehen so in enger Verbindung mit der psychoanalytischen Metatheorie. Die als vortheoretische Gewissheit sich herauskristallisierende Gesellschaftstheorie beeinflusst die Interpretation der zunächst im klinischen Bereich sich äußernden sozialen Phänomene. Dies führt deshalb
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zu keinen Komplikationen in Freuds Theorie, weil in wesentlichen Punkten der Bereich der Alltagserfahrungen und der der wissenschaftlichen Betätigung identisch waren, die Theorie der Alltagswelt daher Baustein der psychoanalytischen Theorie sein kann. Andererseits ist die Psychoanalyse deshalb gleichzeitig selbst immer schon Theorie der Alltagswelt, die neue Einsichten vermittelt und Schwerpunkte verlagert und faktisch die engen Grenzen der vortheoretischen Gewissheit weit überschreitet. So kann er sie zum Vehikel seiner nun neuen Gestalt annehmenden Theorie des Sozialen machen. Neben klinischen Schriften hat er in gewissen Abständen Themen behandelt, deren eigentliche Relevanz in ihrer Bedeutung für eine solche umfassende Theorie liegt, was sich auch in der Art und Weise der Behandlung der Themen ausdrückt. Später wurde dieses Interesse mehr und mehr auch zum expliziten Ziel seiner Schriften; seine Kulturtheorie beginnt jedoch nicht erst mit diesen späten Texten, sondern wird in ihnen nur systematisiert. Allerdings wäre der Versuch einer glatten Aufteilung seines Werkes in klinische und kulturhermeneutische Arbeiten durch die Interdependenz der Gegenstände und damit auch der Formen der Bearbeitungen sowie deren Ergebnisse unsinnig. Die jeweiligen Fragestellungen umfassen fast immer die gesamte Problematik, tragen zur Klärung von Teilaspekten bei und beziehen sich auf den Entwicklungsstand der umfassenden Theorie, die für die Systematisierung der klinischen ebenso wie für die Alltagserfahrungen relevant ist. In jeder Entwicklungsphase seiner Theorie, die dann in der umfassenden phylogenetischen Kulturtheorie gipfeln, versucht Freud die gesellschaftstheoretischen Implikationen der Ergebnisse der psychoanalytischen Forschung zu entwickeln und diese andererseits auf die bis dahin entwickelten gesellschaftstheoretischen Modelle und Ansichten zu beziehen. Nach der grundlegenden »Traumdeutung« unternahm Freud in den »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie« (1905) den ersten systematischen Versuch, eine Ontogenese des menschlichen Individuums darzustellen. Die ontogenetische Theorie ist zwar zunächst nur umfassende Darstellung der bisherigen entwicklungsgeschichtlichen Befunde der Psychoanalyse, sie ist jedoch gleichzeitig der systematische Ansatzpunkt einer Kulturtheorie, die sowohl ermöglicht als auch erforderlich macht, weil die Daten
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einer im Kern dialektischen Entwicklungstheorie nicht mehr nur mit Hilfe psychologischer Begriffe dargestellt werden kann und ihre Relevanz umgekehrt weit über die Psychologie hinausgeht. Ausgangspunkt ist die von ihm »entdeckte« frühkindliche Sexualität sowie der allgemein radikal neudefinierte Begriff von Sexualität, welche die Frage nach der Differenz zwischen Normalität und Pathologie neu aufwarfen. Freud konstatiert zunächst, dass phänomenologisch weder, was das Sexualobjekt, noch, was das Sexualziel betrifft, unmittelbar evidente Normalitätskriterien aufgestellt werden können. »Gerade auf dem Gebiete des Sexuallebens stößt man auf besondere, eigentlich derzeit unmögliche Schwierigkeiten, wenn man eine scharfe Grenze zwischen bloßer Variation innerhalb der physiologischen Breite und krankhaften Symptomen ziehen will« (GW V, S. 60). Eine Möglichkeit der Differenzierung ergibt sich erst durch einen umfassenden Reflexionsprozess, der die Fragestellung selbst verändert: »Wenn die Perversion nicht neben dem Normalen … auftritt, wo günstige Umstände dieselbe fördern und ungünstige das Normale verhindern, sondern wenn sie das Normale unter allen Umständen verdrängt und ersetzt hat; – in der Ausschließlichkeit und der Fixierung also der Perversion sehen wir zu allermeist die Berechtigung, sie als ein krankhaftes Symptom zu beurteilen« (S. 61). Die Starrheit der Begriffe löste sich so auf, Normalität und Perversion werden nicht als a priori qualitativ geschieden begriffen, ihre Differenz ergibt sich vielmehr erst aus der der Analyse des konkreten Zusammenhanges und ist bestimmt durch den Umschlag von Quantität in Qualität. Gleichwohl werden die inhaltlichen Grundstrukturen der Begriffe selbst und ihre Beziehungen zueinander auch in deren historischer Auflösung beibehalten, was dadurch möglich wird, dass Freud die Auflösung der Begriffe nur innerhalb eines rein psychologischen Bezugssystems vornimmt und deshalb die inhaltliche Bestimmung beispielsweise von »Perversion« aus rein psychischen Disproportionalitäten ableitete, nicht auf das soziale Normensystem bezieht. Dadurch werden psychoanalytische Erkenntnis und vortheoretische Gewissheit vermittelt, in der Theorie jedoch treten ihre Gegensätze an anderer Stelle wieder auf. »Das Höchste und das Niedrigste hängen in der Sexualität überall am innigsten aneinander« (S. 61). Ohne dass die Bewer-
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tungskriterien aufgegeben würden, leitet Freud den Ursprung von Normalität und Perversion aus einer ontologischen Struktur menschlicher Existenz ab, die gleichzeitig Normalität als immanentes Entwicklungsziel impliziert. In ihm treffen sich anthropologische Ausrüstung des Menschen und gesellschaftliche Möglichkeit, was sich zunächst allerdings nur auf das Konzept einer kulturkonformen Sexualitätsentwicklung bezieht. »Bei dem Studium der Perversionen hat sich uns die Einsicht ergeben, daß der Sexualtrieb gegen gewisse seelische Mächte als Widerstände anzukämpfen hat, unter denen Scham und Ekel am deutlichsten hervorgetreten sind. Es ist die Vermutung gestattet, daß diese Mächte daran beteiligt sind, den Trieb innerhalb der als normal geltenden Schranken zu bannen, und wenn sie sich im Individuum früher entwickelt haben, ehe der Sexualtrieb seine volle Stärke erlangte, so waren sie es wohl, die ihm die Richtung seiner Entwicklung gewiesen haben« (S. 61). Diese »Mächte« spielen im frühen, rein ontogenetisch konzipierten Modell eine wichtige Rolle, weil erst ihr Wirken die Integration von bio-psychischen Entwicklungen und gesellschaftlichen Erfordernissen ermöglicht. Ohne dass dies an dieser Stelle näher abgeleitet wird, geht Freud davon aus, dass sie rein intrapsychischer Herkunft, nicht aus spezifischen sozialen Umständen hervorgegangen sind. »Während (der Latenzzeit) werden die seelischen Mächte aufgebaut, die später dem Sexualtrieb als Hemmnisse in den Weg treten und gleich wie Dämme seine Richtung beengen werden (der Ekel, das Schamgefühl, die ästhetischen und moralischen Idealanforderungen). Man gewinnt beim Kulturkinde den Eindruck, daß der Aufbau dieser Dämme ein Werk der Erziehung ist, und sicherlich tut die Erziehung viel dazu. In Wirklichkeit ist diese Entwicklung eine organisch bedingte, hereditär fixierte und kann sich gelegentlich ganz ohne Mithilfe der Erziehung herstellen. Die Erziehung verbleibt durchaus in dem ihr angewiesenen Machtbereich, wenn sie sich darauf einschränkt, das organisch Vorgezeichnete nachzuziehen und es etwas sauberer und tiefer auszuprägen« (S. 78). Durch das universale Konzept der Entwicklung wird Erziehung zur Tautologie. Ihre Rationalität liegt darin, sich nach den sicher vorgegebenen Entwicklungstendenzen, die im Individuum selbst liegen, zu richten. Auf der anderen Seite sind diese selbst den Erfordernissen der Kultur entsprechend. In
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diesem Konzept bleibt allerdings das eigentliche Problem, die Entwicklung des autonomen Individuums aus dem »polymorph perversen« Kind unter Ausschaltung sozialer Faktoren darzustellen, ungelöst beziehungsweise es wird nur mit der Annahme, moralische Instanzen seien angeboren, verdeckt. Die eigentliche Grundannahme in diesem Zusammenhang ist die einer weitgehenden Korrespondenz zwischen bio-psychischer Entwicklungsmöglichkeit und der Struktur und den Erfordernissen der sozialen Organisation. Die Probleme der ersteren sind systematisch nach den Erfordernissen der letzteren lösbar und das Entwicklungsziel der Ontogenese harmoniert mit den gesellschaftlichen Erfordernissen. Darin wiederholt sich die zentrale Annahme der Interessenidentität zwischen Einzelnem und Allgemeinem im psychoanalytischen Entwicklungskonzept. Freud führt aus: »Mit welchen Mitteln werden diese, für die spätere persönliche Kultur und Normalität so bedeutsamen Konstruktionen aufgeführt? Wahrscheinlich auf Kosten der infantilen Sexualregungen selbst, deren Zufluß also auch in der Latenzperiode nicht aufgehört hat, deren Energie aber – ganz oder zum größten Teil – von der sexuellen Verwendung abgeleitet und anderen Zwecken zugeführt wird. Die Kulturhistoriker scheinen einig in der Annahme, daß durch solche Ablenkung sexueller Triebkräfte von sexuellen Zielen und Hinlenkung auf neue Ziele, ein Prozeß, der den Namen Sublimierung verdient, mächtige Komponenten für alle kulturellen Leistungen gewonnen werden.« Wir würden also hinzufügen, dass der nämliche Prozess in der Entwicklung des einzelnen Individuums spielt. »… Auch über den Mechanismus einer solchen Sublimierung kann man eine Vermutung wagen. Die sexuellen Regungen dieser Kinderjahre wären einerseits unverwendbar, da die Fortpflanzungsfunktionen aufgeschoben sind … andererseits wären sie an sich pervers, das heißt, von erogenen Zonen ausgehend und von Trieben getragen, welche bei der Entwicklungsrichtung des Individuums nur Unlustempfindungen hervorrufen können. Sie rufen daher seelische Gegenkräfte (Reaktionsregungen) wach, die zur wirksamen Unterdrückung solcher Unlust die erwähnten psychischen Dämme: Ekel, Scham und Moral, aufbauen« (S. 78 f.). Diese sich unter diesen Umständen anbietende Möglichkeit wird ausdrücklich als »Erzie-
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hungsideal« (S. 78) ausgegeben. Das »wir entbehren, um unsere Integrität zu erhalten« (Freud, 1968, S. 56 f.) ist nun in seinem Ablauf und seiner Herkunft geklärt. Auch die Sinnstrukturen des Vorgangs, den Freud als konstitutiv für die bürgerliche Wirklichkeit betrachtete, sind nun auch anthropologisch begründet, ihre individuelle und auch die gesellschaftliche Angemessenheit nachgewiesen. Die Begriffe, die bedeutende gesellschaftstheoretische Inhalte tragen, werden nun nur noch als anthropologische, der objektiven Forschung entstammend, behandelt, ihr gesellschaftlicher und ihr bio-psychischer Gehalt nicht getrennt. Das Problem, die Evolution, die die Psychoanalyse erschlossen hatte, mit den vorausgehenden Kriterien der Bewertung zu vereinen, löst Freud durch die Kombination von Begriff und Erkenntnis. »Nun bietet sich uns die Entscheidung, daß den Perversionen tatsächlich etwas Angeborenes zugrunde liegt, aber etwas, was allen Menschen angeboren ist, als Anlage in seiner Intensität schwanken mag und der Hervorhebung durch Lebenseinflüsse wartet« (S. 71). Implizit setzt dann eine »normale« Entwicklung eine »normale« Umgebung voraus; psychopathologische Prozesse ergeben sich aus abnormen Anlagen und abnormen Einflüssen. An einem Beispiel lässt sich demonstrieren, dass die Normalität, die vorausgesetzt wird, eine spezifische ist, innerhalb derer soziale Faktoren nicht als eigenständige Wirkungselemente verstanden werden. »Die so häufigen Darmstörungen sorgen dafür, daß es der Zone an intensiven Erregungen nicht fehle. Darmkatarrhe im zartesten Alter machen ›nervös‹, wie man sich ausdrückt … Es ist eine der besten Vorzeichen späterer Absonderlichkeit, wenn der Säugling sich hartnäckig weigert, den Darm zu entleeren, wenn er auf den Topf gesetzt wird, also wenn es dem Pfleger beliebt, sondern dieser Funktion seinem eigenen Belieben vorbehält. … Die Erzieher ahnen wiederum das Richtige, wenn sie solche Kinder, die sich diese Verrichtung ›aufheben‹, schlimm nennen« (S. 86 f.). Die »Lebenseinflüsse« erscheinen hier als quasi schicksalhaft: Die Darminfektion ist als ätiologischer Faktor kaum kontrollierbar, sie sind auch nicht speziell sozialer Natur, sondern stammen aus rein somatischen Zusammenhängen. Dagegen ist der Anspruch des Pflegers viel zu selbstverständlich, als dass er von Freud in Bezug auf das Verhal-
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ten des Kindes problematisiert würde. Seine Normalität ergibt sich aus der objektiven Notwendigkeit der Reinlichkeitserziehung, mit der er gleichgesetzt wird. Deshalb ist auch vom neutralen »Pfleger« die Rede, nicht von Bezugspersonen, zu denen das Kind affektive Beziehungen hat. Der als objektiv betrachtete Teil des Verhaltens wird von Freud nicht als spezifisches Moment des sozialen Wirkungszusammenhangs begriffen. Mit der übrig bleibenden Konzentrierung des Entwicklungsprozesses auf das Individuum wird das Wirken der Alltagswelt entpolitisiert. Die sozialen Voraussetzungen der Ontogenese, wie Freud sie darstellt, werden von ihm nicht als solche begriffen, sondern als mehr oder weniger zufälliges Accessoire vorausgesetzt, so dass der Vorgang selbst in seinem konkreten Ablauf als anthropologisch determiniert erscheint. Unter der Voraussetzung durchschnittlich biologischer und sozialer Bedingungen liegt das typische Libidoschicksal, welches darüber entscheidet, ob kulturkonforme Normalität entsteht, bereits fest. Das ursprünglich polymorphperverse Kind wird durch die allgemeinen Umstände: die eigene Hilflosigkeit, die Unzeitgemäßigkeit seiner sexuellen Impulse, die Tatsache der Konkurrenz und die Unmöglichkeit der vollen Befriedigung zur Entwicklung zur Kultur gezwungen. Jede Konstellation, die abnorme Wirkungsfaktoren enthält, führt nicht zu einer anderen, sondern zu einer abnormen Entwicklung, was stets mit Zurückbleiben hinter den Ansprüchen der Kultur identisch ist. Darin, dass Freud die ontogenetische Entwicklung und das ihr immanente Entwicklungsziel unmittelbar auf die objektiven Erfordernisse »der« Kultur bezieht, liegt eine der am weitesten reichenden Konsequenzen für die weitere Theoriebildung. Diese Identifizierung beinhaltet eine umfassende Schematisierung und Entqualifizierung sozialer Daten, was umgekehrt dazu führt, dass deren Gehalte sich hinter den als objektiv und neutral verstandenen Kategorien der Anthropologie in die Theorie durchsetzen, das heißt, die psychoanalytische Theorie verabsolutiert eine bestimmte Erscheinungsform der Ontogenese, ohne dies zu realisieren. Für Freud selbst ist in der Entwicklung deren Inhalt bereits festgelegt. Ihr Ziel wird in bio-psychischen Termini ausgedrückt; inhaltlich handelt es sich um den Variationsbereich dessen, was Freud als Ideal bürgerlichen Verhaltens und gesellschaftliche
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Notwendigkeit voraussetzt. Daraus den Vorwurf abzuleiten, die Freud’sche Theorie sei »bürgerliche Ideologie« ist allerdings unsinnig, nicht nur, weil die pauschale pejorative Verwendung des Attributs »bürgerlich« lediglich mangelndes Reflexionsvermögen ausdrückt, sondern auch, weil Freud die Wirklichkeit der bürgerlichen Gesellschaft seiner Zeit darstellt und gerade sein Festhalten an Positionen der Aufklärung ihr gegenüber ein transzendierendes Element seiner Theorie ist. Die Voraussetzung der Parallelität zwischen Anthropologie und Kultur und der Interessenidentität zwischen Gesellschaft und Individuum führen dazu, dass die Ontogenese insgesamt den Charakter der »Natürlichkeit« erhält, auch wenn das Entwicklungsziel nicht zwangsläufig erreicht werden muß (S. 58). Innerhalb des Gesamtprozesses unterscheidet Freud nicht zwischen den Aspekten biologischer Reifung, möglicher psychischer Konsequenzen und spezifischer sozialer Organisationsformen. Da er gleichzeitig die sich ihm darstellenden empirischen Daten mit Hilfe der Inhalte der vortheoretischen Gewissheit strukturiert, bleibt deren soziale Bedingtheit vollends unberücksichtigt. Die Zuordnung von Begriffen und Inhalten ist beispielsweise in Bezug auf die so genannte Theorie des »Penisneides«, welche die tatsächlich geschlechtsspezifische Rollenverteilung zur anthropologischen Konstante umfunktioniert und dabei aus einem Mechanismus der Vermittlung die Ursache macht, so sicher, dass sie nicht begründet, sondern als selbstverständlich vorausgesetzt wird. »Es ist dem männlichen Kinde selbstverständlich, ein Genitale wie das seinige bei allen Personen, die es kennt, vorauszusetzen, und unmöglich, den Mangel eines solchen mit seiner Vorstellung dieser anderen zu vereinbaren. … Das kleine Mädchen verfällt nicht in ähnliche Abweisungen, wenn es das anders gestaltete Genitale des Knaben erblickt. Es ist sofort bereit, es anzuerkennen, und es unterliegt dem Penisneide, der in dem für die Folge wichtigen Wunsch, auch ein Bub zu sein, gipfelt« (S. 95 f.). Diese Darstellung der Wirklichkeit und ihre Interpretation ist nur auf dem Hintergrund der vortheoretischen Gewissheit über die Beziehung zwischen Mann und Frau verständlich. Sie drückt sich in der Interpretation aus in dem, was Freud zur objektiven Struktur der Anthropologie rechnet. Die »Beweisführung« beschränkt sich deshalb auf eine Dar-
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stellung mit Hilfe spezifischer Begriffe, deren Evidenz für Freud gesichert ist. Diese Form der Darstellung und die Bedingungen ihrer Entstehung münden schließlich in ein immanentes Konzept eines vernünftigen Gesamtplanes, innerhalb dessen die einzelnen Elemente ineinander greifen. Die gesellschaftliche Rollenverteilung erscheint nun als anthropologische Zweckmäßigkeit. »Die Pubertät, welche dem Knaben jenen großen Vorstoß der Libido bringt, kennzeichnet sich für das Mädchen durch eine neuerliche Verdrängungswelle. … Es ist ein Stück männlichen Sexuallebens, was dabei der Verdrängung verfällt. Die bei dieser Pubertätsverdrängung des Weibes geschaffene Verstärkung der Sexualhemmnisse ergibt dann einen Reiz für die Libido des Mannes und nötigt dieselbe zur Steigerung ihrer Leistungen: mit der Höhe der Libido steigt dann auch die Sexualüberschätzung, die nur für das sich weigernde, seine Sexualität verleugnende Weib im vollen Maße zu haben ist« (S. 122). Die Interpretation der Vorgänge ist gesteuert von den Vorstellungen über das männliche Individuum, die Rolle der Frau und die Funktion der »heroischen Liebe«, deren Inhalte sie dann bestätigt. Auf dem Hintergrund der Interdependenz- und Identitätsvorstellungen dominiert innerhalb des kulturhermeneutischen Vorgehens dabei die Tendenz, die wesentlichen Strukturen des Bestehenden auch sinnvoll zu finden, gleichzeitig aber auch die Sinnhaftigkeit des Geschehens nicht mehr auf das Individuum, sondern auf dessen anthropologische Besonderheiten zu beziehen. Das eigentliche Subjekt des Gesamtbereiches der vortheoretischen Gewissheit wird mehr und mehr zum Agenten eines vorausbestimmten Geschehens. Dies verdeutlicht sich in Freuds Resümee: »Die Anlage zu den Perversionen (ist) die ursprünglichste allgemeine Anlage des menschlichen Geschlechtstriebes …, aus welcher das normale Sexualverhalten infolge organischer Veränderungen und psychischer Hemmungen im Laufe der Reifung (sich) entwickelt. … Die ursprünglichste Anlage hofften wir im Kindesalter aufzeigen zu können; unter den die Richtung des Sexualtriebes einschränkenden Mächten hoben wir Scham, Ekel, Mitleid und die sozialen Konstruktionen der Moral und Autorität hervor. So mußten wir in jeder fixierten Abirrung vom normalen Geschlechtsleben ein Stück Entwicklungshemmung und Infantilismus erblicken. Die
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Bedeutung der Variationen der ursprünglichen Anlagen mußten wir in den Vordergrund stellen, zwischen ihnen und den Einflüssen des Lebens aber ein Verhältnis von Kooperation und nicht von Gegensätzlichkeit annehmen« (S. 132 f.). Weil nicht zwischen den allgemeinen anthropologischen Besonderheiten, welche die Psychoanalyse aufdeckte, und ihrer historischen Organisation differenziert wird, weist die finalistische Argumentation Freuds die Quasi-Notwendigkeit einer besonderen nach, welche an Begriff und Wirklichkeit der herrschenden Normalität orientiert ist. Das Modell der »Kooperation« zwischen biologischen und sozialen Daten ist formal, »soziale Konstruktionen« sind schon begrifflich, erst recht aber ihrer Funktion nach im Rahmen der Theorie nach kein eigenständiger Wirkungszusammenhang. Die »Drei Abhandlungen« sind ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Konstruktion der Wirklichkeit aus dem Individuum heraus beziehungsweise der des Individuums nach grundlegenden Anschauungen des Bestehenden. In ihnen ist ein Kernstück der Kulturtheorie entwickelt. Mit ihnen ist die weitere Entwicklungsrichtung der Theorie festgelegt. Die entscheidende Ergänzung des ontogenetischen Konzeptes der sozialen Wirklichkeit ist in phylogenetischen Theorien zu suchen. Freud bezeichnet die entscheidenden Punkte selbst, die konsequent die einmal eingeschlagene Richtung weiterverfolgen. »Worauf (die) zeitliche Verwirklichung der Entwicklungsvorgänge rückführbar wird, vermögen wir auch nicht in Andeutungen anzugeben. Es eröffnet sich hier ein Ausblick auf eine tiefere Phalanx von biologischen, vielleicht auch historischen Problemen« (S. 143) – »Vielleicht liegt ein Stück der Aufklärung für (›die erhöhte Haftbarkeit oder Fixierbarkeit der Eindrücke des Sexuallebens‹). … in einem psychischen Moment, welches wir in der Verursachung der Neurosen nicht missen können, nämlich in dem Übergewicht, welches im Seelenleben den Erinnerungsspuren im Vergleich mit den rezenten Einflüssen zufällt. Dieses Moment ist offenbar von der intellektuellen Ausbildung abhängig und wächst mit der Höhe der persönlichen Kultur. Im Gegensatz hierzu ist der Wilde als das »unglückselige Kind des Augenblicks« charakterisiert worden. Wegen der gegensätzlichen Beziehungen zwischen Kultur und freier Sexualitätsentwicklung, deren Folgen weit in die Gestaltung unseres Lebens verfolgt wer-
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den können, ist es auf niedriger Kultur- oder Gesellschaftsstufe so wenig, auf höherer so sehr für spätere Leben bedeutsam, wie das sexuelle Leben des Kindes verlaufen ist« (S. 114). Diese Vorausschau enthält die beiden wesentlichen Aspekte der weiteren Entwicklung: die systematische Beziehung zwischen Sexualität und Kultur sowie der dynamische (phylogenetische) Verlauf der Entwicklung der Kultur, aber auch deren axiomatische Voraussetzungen. Viele Untersuchungen (z. B. von Erik H. Erikson, Paul Parin, Fritz Morgenthaler u. a. m.) haben nachgewiesen, dass die Annahme einer unmittelbaren Entwicklung von der Unspezifiziertheit der Psyche zur eindeutig vorgegebenen Spezifizierung nicht gerechtfertigt ist. Für Freuds spätere Rekonstruktion der Geschichte ist jedoch diese Annahme von entscheidender Bedeutung.
5.2. Die allgemeine Beziehung zwischen Sexualität und Kultur Freuds »Drei Abhandlungen« beschäftigten sich allgemein mit der individuellen Ontogenese, ihre Bedeutung für die Entwicklung einer umfassenden Theorie des Sozialen ist darin zu sehen, dass die empirischen Ergebnisse der Psychoanalyse mit den Inhalten und den Strukturen der vortheoretischen Gewissheit vermittelt. Dadurch rückte das Problem des Verhältnisses von Sexualität und Kultur in den Brennpunkt des Interesses. Freud benutzt ein spezielles Problem zur Erörterung allgemeiner Beziehungen, so dass der Aufsatz über »Die kulturelle Sexualmoral und die moderne Nervosität« zum ersten in der Reihe seiner explizit kulturtheoretischen Arbeit wird. Zum Thema Kultur und Sexualität referiert er zunächst einige Interpretationen, in denen der »kulturellen« Sexualmoral vieles zur Last gelegt wird, um dann zu ergänzen: »Unter den der kulturellen Sexualmoral zur Last gelegten Schädigungen vermißt nun der Arzt die eine, deren Bedeutung hier ausführlich erörtert werden soll. Ich meine die auf sie zurückführende Förderung der modernen, das heißt in unserer Gesellschaft sich rasch ausbreitenden Nervosität« (GW VII, S. 144 f.). Mit Hilfe der Unterschei-
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dung zwischen »konstitutionellem« und »kulturellem« Besitz eines Volkes bestimmt Freud die Differenz zwischen Neurosen und Psychoneurosen (was dem damaligen Stand seiner Theorie entsprach) dahingehend, dass die erstere »ohne die Mithilfe einer … erblichen Belastung durch gewisse schädliche Einflüsse des Sexuallebens erzeugt werden« (S. 148), somit Produkt der kulturellen Sexualmoral sein können. Ihre volle Relevanz gewinnen diese Unterscheidungen jedoch erst auf dem Hintergrund jener allgemeinen Vorstellungen über Kultur, die, aus dem Bereich der vortheoretischen Gewissheit stammend, hier erstmalig systematisch vorgetragen werden. »Unsere Kultur ist ganz allgemein auf der Unterdrückung von Trieben aufgebaut. Jeder einzelne hat ein Stück seines Besitzes, seiner Machtvollkommenheit, der aggressiven und vindikativen Neigungen seiner Persönlichkeit abgetreten; aus diesen Beiträgen ist der gemeinsame Kulturbesitz an materiellen und ideellen Gütern entstanden. Außer der Lebensnot sind es wohl die aus der Erotik abgeleiteten Familiengefühle, welche die einzelnen Individuen zu diesem Verzicht bewogen haben. Der Verzicht ist ein im Laufe der Kulturentwicklung ein progressiver gewesen; die einzelnen Fortschritte desselben wurden von der Religion sanktioniert; das Stück Triebbefriedigung, auf das man verzichtet hatte, wurde der Gottheit zum Opfer gebracht; das so erworbene Gemeingut für ›heilig‹ erklärt. Wer kraft seiner unbeugsamen Konstitution diese Triebunterdrückung nicht mitmachen kann, steht der Gesellschaft als ›Verbrecher‹ als ›outlaw‹ gegenüber, insofern nicht seine soziale Position und seine hervorragenden Fähigkeiten ihm gestatten, sich in ihr als großer Mann, als ›Held‹ durchzusetzen« (S. 149 f.). Gestützt auf die Ergebnisse der ontogenetischen Analyse konzipiert Freud ein allgemeines statisches und dynamisches Modell des Zusammenhangs zwischen Kultur und Sexualität beziehungsweise zwischen Trieb und Kultur. Dadurch, dass das Individuum als ursprünglich asozial begriffen wird, Kultur deshalb mit Triebverzicht und Triebablenkung identisch ist, erscheint allgemein jeder, der sich dieser Forderung nicht beugt, als Feind der Kultur, es sei denn, spezifische Umstände ermöglichten eine indirekt soziale konforme Verarbeitung seiner Abweichung. Wiederum liegt die Schwierigkeit seiner Vorstellung darin, dass Freud einen Einheits-
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begriff »Kultur« verwendet und diesen Begriff mit der objektiven und eindeutig bestimmten Notwendigkeit der Organisation des Sozialen identifiziert, ohne zu sehen, dass sein allgemeiner Begriff »Kultur« von einer besonderen ganz entscheidend geprägt ist. So jedoch erscheint ihm die Wirklichkeit der bürgerlichen Gesellschaft in Bezug auf das Problem des Zusammenhangs zwischen Triebstruktur und Gesellschaft als allgemeine und universale Tendenz »der« Kultur, jedes Abweichen durch seine antagonistische Stellung zu ihr als negativ. Die Einsichten der Psychoanalyse haben die Naivität der Ansichten über das bürgerliche Individuum und seine Gesellschaft destruiert, der Versuch, grundsätzlich seine Position beizubehalten, zwingt Freud eine ausgesprochen »kulturistische« – anthropologisch chiffrierte – Argumentation auf. Die Antinomien des Bestehenden, die sich für ihn wesentlich im Individuum darstellten, führten dazu, dass die Normen »der« Kultur sehr viel rigider wurden, ihre Ansprüche immer unvermittelter dem Individuum gegenübergestellt wurden. Unter diesen Bedingungen sieht Freud, wenn auch nur sehr schematisch, sehr wohl die Bedeutung sozialer Daten für das Schicksal des Einzelnen, ohne sie jemals systematisch zu analysieren. In gewisser Hinsicht stellt dieses Zitat eine Weiterentwicklung der o.a. Briefstelle (Freud, 1968, S. 56 f.) dar, die einmal dadurch gekennzeichnet ist, dass nun, wo der gesellschaftlich-historische Sinn des Triebverzichtes ermittelt ist, die Bewertungskriterien des Verhaltens sicher festliegen, zum anderen dadurch, dass hier das sozial bedingte Schicksal nur noch in seiner individuellen Erscheinungsform dargestellt wird. Nach wie vor sieht Freud die Relevanz sozialer Unterschiede, erfasst sie jedoch nur in ihren Auswirkungen, nicht in ihren sozialen Ursachen, erst recht nicht ihren systematischen gesellschaftlichen Stellenwert. Freud hat als erster das Problem der Interdependenz zwischen Gesellschaftsstruktur und psychosexueller Entwicklung, aber auch ganz allgemein der intrapsychischen Struktur aufgegriffen und der rationalen Analyse zugänglich gemacht. Allerdings sucht Freud »Kultur« und »Trieb« dort in unmittelbare Beziehung zu setzen, wo dialektische Vermittlung besteht. Seine Argumentation wird deshalb abwechselnd von idealistischen und vulgärmaterialistischen Zügen entstellt. Sein funktionstheoretisches Bild der Wirk-
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lichkeit, welches nur ein Teil derselben wahrnimmt, bedingt ein implizit teleologisches der Geschichte; Geschichte als Kulturgeschichte ist ein Entwicklungskonzept, in welchem für politische Faktoren kein Platz ist. Das eigentliche Thema des Aufsatzes, die kulturspezifische Prägung der Sexualität, wird auf dem Hintergrund dieser allgemeinen Vorstellung der Beziehung zwischen Kultur und Individuum erörtert und auf ihn bezogen. Es sind spezifische anthropologische Besonderheiten des Sexualtriebes, die überhaupt erst Kultur ermöglichen und deren besondere Entwicklung, aus denen sich der Verlauf der Kultur ableitet. »Der Sexualtrieb … stellt der Kulturarbeit außerordentlich große Kraftmengen zur Verfügung, und dies … infolge der … Fähigkeit zur Sublimierung« (S. 150). Die Phasenhaftigkeit des Sexualtriebes und seine Entwicklungsmöglichkeit ermöglichen zwar erst »Kultur«, diese stellt jedoch ihrerseits gehörige Ansprüche an ihn, ohne deren Erfüllung ihre Reproduktion und Progression unmöglich wären. Freud resümiert die in dieser Hinsicht relevanten Teile der in den »Drei Abhandlungen« entwickelten anthropologischen Vorstellungen. Danach entwickelt sich der Sexualtrieb »vom Autoerotismus zur Objektliebe und von der Autonomie der erogenen Zonen zur Unterordnung derselben unter das Primat der in den Dienst der Fortpflanzung gestellten Genitalien. Während dieser Entwicklung wird ein Anteil einer vom eigenen Körper gelieferten Sexualerregung als unbrauchbar für die Fortpflanzungsfunktion gehemmt und im günstigsten Falle der Sublimierung zugeführt. Die für die Kulturarbeit verwertbaren Kräfte werden so zum großen Teil durch die Unterdrückung der sogenannten perversen Anteile der Sexualerregung gewonnen« (S. 151). Die »kulturistische« Argumentation, die ihr eigentliches Subjekt, das Individuum, schon fast aus den Augen verloren hat, kann keine genuin sozialen Zusammenhänge als Grund des Sozialen, wie etwa die Arbeit und ihre Organisation, angeben und tendiert stattdessen zur theoretischen Regression auf biologischanthropologische Daten. Freud sieht die Möglichkeit der Kultur in der Diskrepanz zwischen dem, was biologisches Ziel ist, die Fortpflanzung, und dem durch die Besonderheiten des Sexualtriebes komplizierten Weg dorthin. »Mit Bezug auf diese Entwicklungsgeschichte des Sexualtriebes könnte man also drei Kulturstufen
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unterscheiden: Eine erste, auf welcher die Betätigung des Sexualtriebes auch über die Ziele der Fortpflanzung hinaus frei ist, eine zweite, auf welcher alles am Sexualtrieb unterdrückt ist, bis auf das, was der Fortpflanzung dient, und eine dritte, auf welcher nur die legitime Fortpflanzung als Sexualziel zugelassen wir. Dieser dritten Stufe entspricht unsere gegenwärtige ›kulturelle‹ Sexualmoral« (S. 152). Diese Differenzierungen sind für Freud der Ausgangspunkt für sowohl allgemeine Bestimmung »kultureller« Normalität als auch der daraus sich ergebenden Kritik der »kulturellen« Sexualmoral. In Bezug auf das erstere verdeutlicht sich die volle erkenntnistheoretische Bedeutung des Einheitsbegriffes »Kultur«, der umgekehrt durch die konkreten Formulierungen der Theorie anthropologisch abgesichert wird. Normalität ist das Erreichen des Entwicklungsziels. »Bei einer ganzen Reihe von Individuen hat sich die erwähnte Entwicklung des Sexualtriebes vom Autoerotismus zur Objektliebe nicht korrekt und nicht durchgreifend vollzogen, und aus diesen Entwicklungsstörungen ergeben sich … schädliche Abweichungen von der normalen, das heißt kulturfördernden Sexualität« (S. 152). In diesem Normalitätsbegriff reproduzieren sich die bereits in der vortheoretischen Gewissheit unvermittelt der Wirklichkeit entnommenen Normalitätskriterien, die nun vom Standpunkt der Kultur aus zwischen »kulturfördernd« und »schädlich« unterscheiden. Nachdem er zuvor unter Rückgriff auf die implizite Vorstellung der heimlichen Harmonie zwischen biologischer Ausrüstung und »kulturellen« Erfordernissen »normal« und »kulturfördernd« identifiziert hat und damit die anthropologische Besonderheit der Triebflexibilität mit ihrer spezifischen Organisationsform in der bürgerlichen Gesellschaft gleichgesetzt hat. Als »schädlich« sind dabei Perversionen und Homosexualität aufzufassen, wobei Freud bio-psychische, soziale und persönliche Identität gleichsetzt. »Stärkere und zumal exklusive Ausbildung der Perversionen und der Homosexualität machen … deren Träger sozial unbrauchbar und unglücklich« (S. 153). Die Tatsache, dass sexuelle Außenseiter in der bürgerlichen Gesellschaft eine Pariarolle trugen (und noch tragen), identifiziert Freud unmittelbar mit ihrer bio-psychischen Besonderheit, ohne die gesellschaftliche Vermitteltheit des Geschehens zu sehen. Der hypostasierte gesell-
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schaftliche Funktionszusammenhang und die personale Identitätsbildung werden gleichgesetzt. Die Identität von sozialer »Unbrauchbarkeit« und individueller Identitätsstörung als »Unglück« ersetzt die dialektische Beziehung zwischen beiden durch eine reine Tautologie. A priori ist Homosexualität »Schicksal«, welches notwendigerweise »Unglück« produziert. Freuds biologisch-anthropologische Argumentation setzt die Richtigkeit und den verbindlichen, identitätsstiftenden Charakter der gesellschaftlichen Norm bereits voraus. Das »Unglück« der Homosexuellen scheint dann aus ihrer Besonderheit, nicht aus der gesellschaftlichen Reaktion darauf, hervorzugehen. Der nun verwendete Begriff der Normalität geht von der Identität der rationalen gesellschaftlichen Normen und des psychischen Entwicklungsziels aus. Umso schwerer wiegt nun das Abweichen von dieser Normalität. »Bei intensiverem, aber perversem Sexualtrieb sind zwei Fälle des Ausgangs möglich. Der erste, nicht weiter zu beachtende, ist der, daß die Betroffenen pervers bleiben und die Konsequenzen ihrer Abweichung vom Kulturniveau zu tragen haben« (S. 153). Die Tendenz, individuelles Verhalten vornehmlich an seiner faktischen Erscheinung zu messen und mit den als objektiv hypostasierten Kulturnormen zu vergleichen, verstärkt sich unter diesen Bedingungen noch. An der »Mitwirkung an den Kulturwerken« (S. 154) scheiden sich die Geister. Wer den »Kulturanforderungen« nicht gewachsen ist beziehungsweise sich ihnen nicht fügt, stellt sich gegen die Interessen aller und auch gegen seine eigenen. Bleibt er auf dieser Position, so hat er als einzelner die »Konsequenzen« seines Verhaltens selbst zu tragen und verfällt dem Verdikt. Eine andere Möglichkeit des Ausgangs des Konfliktes ist die Neurose. »Die Neurotiker sind jene Klasse von Menschen, die es bei widerstrebender Organisation unter dem Einflusse der Kulturanforderungen zu einer nur scheinbaren und immer mehr mißglückenden Unterdrückung ihrer Triebe bringen, und die darum ihre Mitarbeiterschaft an den Kulturwerken nur mit großem Kräfteaufwand, unter innere Verarmung, aufrecht erhalten oder zeitweise als Kranke aussetzen müssen. … Die Erfahrung zeigt, daß es für die meisten Menschen eine Grenze gibt, über die hinaus ihre Konstitution der Kulturanforderung nicht folgen kann. Alle, die
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edler sein wollen, als ihre Konstitution es ihnen gestattet, verfallen der Neurose« (S. 154). Beide Formen der Abweichung, Perversionen und Neurosen, sind für Freud die unvermeidlichen Begleiterscheinungen der von ihm so bezeichneten »zweiten Kulturstufe«, »der zufolge jeder sogenannte perverse Sexualbetätigung verpönt, der normal genannte Sexualverkehr hingegen frei gelassen wird. Wir haben gefunden, daß auch bei dieser Verteilung von sexueller Freiheit und Einschränkung eine Anzahl von Individuen als pervers beiseite geschoben, eine andere, die sich bemüht, nicht pervers zu sein, während sie es konstitutiv sein sollte, in die Nervosität gedrängt wird« (S. 155). Was Freud empirisch festgestellt hatte: dass »Perversionen« und »Neurosen« weit verbreitet waren, interpretiert er nun, nachdem die Psychoanalyse die Korrelation zwischen objektiven Erfordernissen der Kultur und dem individuellen Entwicklungsziel nachgewiesen hatte, gleichzeitig die gesellschaftlichen Antinomien ins Individuum verlagert hatte, als notwendige Konsequenz von Kultur an sich. Eine gewisse Anzahl von Individuen ist aus Konstitutionsgründen immer überfordert. Kultur selbst verursacht in gewissem Umfang Anomie. An dieser Stelle zieht Freud erstmalig die Konsequenz aus den theoretischen Vorstellungen über den Charakter des Sozialen, die er bis zu diesem Zeitpunkt entwickelt hatte. Von nun an betont er immer stärker den ambivalenten Charakter der Kultur, genauer: den des Individuums. Zwischen den Einzelnen und der Kultur besteht zwar allgemein eine rationale Interessensidentität, aber keine grundsätzliche Harmonie, weil die ursprünglichen, jeweils verschiedenen Triebausrüstungen der Einzelnen mehr oder weniger asozial sind. Damit ist die grundlegende Struktur des Gesellschaftsmodells, mit Hilfe dessen Freud die Vorstellungen vom Individuum und der Gesellschaft mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit in Verbindung zu bringen sucht, entwickelt. Auf die Ambivalenz von Freuds Gesellschaftskritik, die sich einerseits aus der restringierten soziologischen Denkweise, zum anderen aus den hier erstmalig auf Theorieebene entwickelten Interpretationsschemen ergibt, wurde bereits eingegangen. Obwohl seine Kritik der Sexualmoral von einer gewissen Affinität zu ihr gekennzeichnet ist, macht sie deren Zusammenhang und Grundlage transparent, weil das gleichzeitige Festhalten an Vorstellung
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und Wirklichkeit die Realität seiner Zeit zum Ausdruck bringt, indem sie deren Widersprüche spiegelt. Ohne ihn genau zu erfassen, macht seine Analyse der gesellschaftlichen Relevanz der Sexualität dennoch »den intimen Zusammenhang aller unserer kulturellen Institutionen« (S. 159) zugänglich. Allerdings führt die Überlastung der Psychoanalyse mit kulturhermeneutischen Ansprüchen dazu, dass die Theorie der Sexualität gesellschaftstheoretische Funktionen übernehmen muss und deshalb ins Zentrum der Theorie gerückt wird. Gleichzeitig verstärkt sich mit zunehmender Einsicht in die Komplexität und Widersprüchlichkeit der Wirklichkeit die Schwierigkeit der Integration der globalen Theorie, während die Antinomien der Theoriebildung, vor allem die Verlagerung des sozialen Geschehens ins Individuum, wo es anthropologisiert wird, mehr und mehr dazu führen, dass Freuds Skeptizismus dominiert, weil die Widersprüchlichkeit der Wirklichkeit im Individuum als unabänderlich erscheint. Diese Tendenz verstärkt sich in dem Aufsatz »Über die allgemeinste Erniedrigung des Liebeslebens«, dem zweiten Text aus der Reihe »Beiträge zur Psychologie des Liebeslebens« (1910). Während er über die »kulturelle« Sexualmoral in ausgesprochen mutiger Form die Notwendigkeiten der rationalen Organisation des Sexuallebens behandelt, beschäftigt sich dieser mit der anderen, resignativen Seite, die Freuds Argumentation immanent ist. Von denselben Grundlagen ausgehend, verdeutlicht er die sie kennzeichnenden Antinomien, indem sie ihr eigentliches Thema, die psychisch bedingte Impotenz, in gewisser Weise in einer der Kritik der »kulturellen« Sexualmoral entgegen gesetzten Art und Weise und unter anderen Gesichtspunkten derselben Position behandelt. Anknüpfungspunkt ist der bisher erarbeitete Normalitätsbegriff. »Die Grundlage des Leidens ist hier wiederum – wie sehr wahrscheinlich bei allen neurotischen Störungen – eine Hemmung in der Entwicklungsgeschichte der Libido bis zu ihrer normal zu nennenden Endgestaltung. Es sind hier zwei Strömungen nicht zustande gekommen, deren Vereinigung erst ein völlig normales Liebesverhalten sichert, zwei Strömungen, die wir als die zärtliche und die sinnliche unterscheiden können« (GW VIII, S. 79). Der normale Entwicklungsverlauf ist nicht nur ontogenetisch sinnvoll, er entspricht auch den Strukturen der gesellschaftlichen Wirklichkeit wie der Kleinfamilie und
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der männlichen Dominanz. »Der Mann wird Vater und Mutter verlassen – nach der biblischen Vorschrift – und seinem Weibe nachgehen, Zärtlichkeit und Sinnlichkeit sind dann beisammen« (S. 80 f.). Die Individuen allerdings, denen dies nicht korrekt gelingt, werden impotent oder reagieren mit Herabsetzung ihres Sexualobjektes. »Da alle in Betracht kommenden ersichtlichen Momente, die starke Kindheitsfixierung, die Inzestschranke und die Versagung in den Jahren nach der Pubertät bei so ziemlich allen Kulturmenschen als vorhanden anzuerkennen sind, wäre die Erwartung berechtigt, daß die psychische Impotenz ein allgemeines Kulturleiden und nicht die Krankheit einzelner sind« (S. 80). Bis hierher folgt auch dieser Aufsatz der Argumentationsstruktur der Kritik der »kulturellen« Sexualmoral. Nun jedoch entwickelt Freud deren aus dem ontogenetischen Modell hervorgehendes Pendant. »Es läge nahe, sich dieser Folgerung dadurch zu entziehen, daß man auf den quantitativen Faktor der Krankheitsverursachung hinweist, auf jenes Mehr oder Minder im Beitrag der einzelnen Elemente, von dem es abhängt, ob ein kenntlicher Krankheitserfolg zustande kommt oder nicht. Aber obwohl ich diese Antwort als richtig anerkennen möchte, habe ich doch nicht die Absicht, die Folgerung hiermit abzuweisen. Ich will im Gegenteil die Behauptung aufstellen, daß die psychische Impotenz viel verbreiteter ist, als man glaubt, und daß ein gewisses Maß dieses Verhaltens tatsächlich das Liebesleben des Kulturmenschen kennzeichnet« (S. 84). Von Freud selbst noch als Spekulation aufgefasst, macht sich nun die Kehrseite des bürgerlichen Optimismus, der mit der Wirklichkeit der bürgerlichen Gesellschaft nicht in Kongruenz zu bringen war, der Pessimismus, breit. »Die zärtlichen und die sinnlichen Strömungen sind bei den wenigsten unter den Gebildeten gehörig miteinander verschmolzen; fast immer fühlt sich der Mann in seiner sexuellen Betätigung durch den Respekt vor dem Weibe beengt und entwickelt seine volle Potenz erst, wenn er ein erniedrigtes Sexualobjekt vor sich hat, was wiederum durch den Umstand mitbegründet ist, daß in seine Sexualziele perverse Komponenten eingehen, die er am geachteten Weib zu befriedigen sich nicht traut. Einen vollen sexuellen Genuß gewährt es ihm nur, wenn er sich ohne Rücksicht der Befriedigung hingeben darf, was er zum Beispiel bei seinem gesit-
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teten Weibe nicht wagt« (S. 85). Nun erscheint dieser Sachverhalt nicht oder nur noch zum geringen Teil durch soziale Faktoren wie etwa die Sexualmoral, die Beziehungen zwischen Mann und Frau und so weiter bedingt. Die Prostitution und die Doppelmoral resultieren nicht aus spezifischen sozialen Strukturen, sondern sind, wie Freud schon früher schrieb, »Rücksicht auf die natürliche Verschiedenheit der Geschlechter« (GW VII, S. 144). Es sind vor allem die Besonderheiten kulturfördernd organisierter Sexualität, die durch ihren antinomischen Charakter einen allgemeinen Konflikt konstituieren, den Gegensatz zwischen Befriedigung und der Notwendigkeit ihrer Behinderung. »Der Schaden der anfänglichen Versagung des Sexualgenusses äußert sich darin, daß dessen spätere Freigabe in der Ehe nicht mehr voll befriedigend wirkt. Aber auch die uneingeschränkte Sexualfreiheit von Anfang an führt zu keinem besser Ergebnis. Es ist leicht festzustellen, daß der psychische Wert des Liebesbedürfnisses sofort sinkt, sobald ihm die Befriedigung bequem gemacht wird. Es bedarf eines Hindernisses, um die Libido in die Höhe zu treiben, und wo die natürlichen Widerstände gegen die Befriedigung nicht ausreichen, haben die Menschen zu allen Zeiten künstliche eingeschaltet« (GW VIII, S. 88). Für die allzu »leichte« Befriedigung gilt dasselbe wie für ihr Vorbild, die Masturbation: Sie verhindert die »heroische Liebe« und damit die funktionale Identität des autonomen Kulturträgers. Nach Freud haben deshalb »die Menschen« schon immer dafür gesorgt, dass es keine akulturellen Befriedigungsmöglichkeiten gab; die Strukturen seiner Argumentation und die Ausformulierungen seiner ontogenetischen Theorie zwingen ihn dazu, die gesellschaftlichen Erscheinungen als Auswirkungen eines Gesamtplanes, den ein einheitliches Subjekt, die Gattung als solche, mit rationaler Handlung geplant und durchgeführt hat, anzusehen. Dementsprechend haben die tatsächlichen Schwierigkeiten ihre Ursache in der antinomischen anthropologischen Ausrüstung des Menschen. »Man müßte sich, so befremdend es klingt, mit der Möglichkeit beschäftigen, daß etwas in der Natur des Sexualtriebes selbst dem Zustandekommen der vollen Befriedigung nicht günstig ist … So müßte man sich denn vielleicht mit dem Gedanken befreunden, daß eine Ausgleichung der Ansprüche des Sexualtriebes mit den Anforderungen der Kultur überhaupt nicht möglich ist, daß Ver-
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zicht und Leiden, sowie in weitester Ferne die Gefahr des Erlöschens des Menschengeschlechts infolge seiner Kulturentwicklung nicht abgewendet werden können. Diese trübe Prognose ruht allerdings auf der einzigen Vermutung, daß die kulturelle Unbefriedigung die notwendige Folge gewisser Besonderheiten ist, welche der Sexualtrieb unter dem Drucke der Kultur angenommen hat. Die nämliche Unfähigkeit des Sexualtriebes, volle Befriedigung zu ergeben, sobald er den ersten Anforderungen der Kultur unterlegen ist, wird aber zur Quelle der großartigsten Kulturleistungen, welche durch immer weitergehende Sublimierung seiner Triebkomponenten bewerkstelligt werden. Denn welches Motiv hätten die Menschen, sexuelle Triebkräfte anderen Verwendungen zuzuführen, wenn sich aus denselben bei irgendeiner Verteilung volle Lustbefriedigung ergeben hätte? Sie kämen von dieser Lust nicht mehr los und brächten keinen weiteren Fortschritt mehr zustande. So scheint es, daß sie durch die unausgleichbare Differenz zwischen den Anforderungen der beiden Triebe – des sexuellen und des egoistischen – zu immer höheren Leistungen befähigt werden, allerdings unter einer beständigen Gefährdung, welcher die Schwächeren gegenwärtig in der Form der Neurose erliegen« (S. 89 ff.). Damit ist ein Wendepunkt der Entwicklung der Theorie erreicht: Da die Psychoanalyse scheinbar das verifizierte, was integraler Bestandteil vortheoretischer Gewissheit war, und damit die dort entwickelten kulturhermeneutischen Konzepte metatheoretisch Dignität gewinnen, wird spätestens von diesem Zeitpunkt an alles Wissen und jede Erkenntnis nach den Prinzipien strukturiert, durch die bereits in seiner Wahrnehmung in spezifischer Weise organisiert wurde. Die Integration vortheoretischer Gewissheiten zur entfalteten Kulturtheorie signalisiert somit gleichzeitig den Anfang des Endes von Freuds schöpferischer Arbeit, die von nun an wesentlich von der immanenten Dynamik der verselbständigten Kulturtheorie geprägt wird. Es ist auffällig, dass die einzige Alternative, die Freud sich langfristig zur kontinuierlichen Entwicklung der Kultur vorstellen kann, deren Untergang ist; utopisches Denken nur als negative Utopie auftritt. Zum Teil ist dies das Ergebnis der immanenten Entwicklungstendenzen der Kulturtheorie, welche zunächst das soziale Geschehen ins Individuum hineinverlagerte, dann aber vor
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dem Problem stand, aus den theoretischen Elementen der Persönlichkeitstheorie die Dynamik des Geschehens erklären zu müssen. Die Schwierigkeiten, die damit verbunden waren, mündeten dann in der Vorstellung einer anthropologisch begründeten Antinomie zwischen Sexualität und Kultur. Damit hat sich die Diskussion noch weiter von der konkreten Wirklichkeit zurückgezogen, während sich gleichzeitig die pessimistischen Züge der Theorie durch die Betonung der die realen Widersprüche erklärenden Anthropologie verstärken.
5.3. Weitere Beiträge der Psychoanalyse Gerade mit dieser letzten Vorstellung, nach der die Beziehung zwischen Kultur und Sexualität in gewisser Weise doch reziprok ist und ein Ausgleich unmöglich ist, andererseits das Verhältnis eine historische Dynamik beinhaltet, ist schon ein wichtiger Bestandteil der die ontogenetische Theorie ergänzenden phylogenetischen Vorstellung entwickelt. Die generelle Unmöglichkeit, volle Befriedigung zu erreichen, das triebtheoretische Pendant der Vorstellung von der »Mangelgesellschaft«, gibt erst für das von seinen Trieben und von der sozialen Notwendigkeit angetriebene Individuum und für die Gattung das Motiv ab, sich auf den steinigen Weg der Kultur zu begeben, deren Geschichte die der verschiedenen Lösungsversuche des grundlegenden Konfliktes ist. Der Vorgang der theoretischen Entwicklung vollzog sich begrifflich vornehmlich dadurch, dass Theorieelemente aus dem Bereich der vortheoretischen Gewissheit psychoanalytisch »aufbereitet« wurden, indem sie am Forschungsgegenstand der Psychoanalyse, der von Freud recht bald universal ausgeweitet wurde, expliziert und modifiziert wurden. Waren die Begriffe der Psychoanalyse durch die vortheoretische Gewissheit geprägt, so wird diese nun durch die Vermittlung mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit verändert. Dazu kommt, dass die klinischen Innovationen der psychoanalytischen Praxis auch gesellschaftstheoretisch relevante Aspekte enthielten, spätere Texte sogar ausdrücklich kulturtheoretischen Fragestellungen gewidmet sind, während andere
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kulturtheoretische Funktionen tragen, ohne dass dies so bezeichnet würde. Der Versuch, die Entwicklung der Theorie nachzuvollziehen, ist allerdings durch die oben angeführte Schwierigkeit des Fehlens einer textkritischen Ausgabe von Freuds Werken sehr erschwert. Die schon in den »Anfängen« vertretene Ansicht über die grundlegende Struktur der Beziehung zwischen dem psychischen Apparat und der Außenwelt wird von Freud ausgeweitet zu einer wichtigen Differenzierung innerhalb des Realitätsbegriffes. Freud geht im Rahmen einer Theorie der Traumvorgänge davon aus, »daß die Psyche des Säuglings ›zunächst‹ dem Bestreben folgt, sich möglichst reizlos zu erhalten. … Aber die Not des Lebens stört diese einfache Funktion [der unmittelbaren motorischen Reizabfuhr, der Verf.]; ihr verdankt der Apparat auch den Anstoß zur weiteren Entwicklung« (GW II/III, S. 570 f.). Das kleine Kind ist auf fremde Hilfe angewiesen, welche ihm erst zu einem Befriedigungserlebnis verhelfen kann. Dieses wird vom Kind mit einer bestimmten Wahrnehmung in Verbindung gebracht, und »die erste psychische Tätigkeit zielt … auf eine Wahrnehmungsidentität, nämlich auf die Wiederholung jener Wahrnehmung, welche mit der Befriedigung des Bedürfnisses verknüpft ist. Eine bittere Erfahrung muß diese primitive Denktätigkeit zu einer zweckmäßigeren … Verwendung der psychischen Kraft zu erreichen, wird es notwendig, die volle Regression [zur halluzinatorischen Befriedigung; der Verf.] aufzuhalten, so daß sie nicht über das Erinnerungsbild hinausgeht und von diesem aus andere Wege suchen kann, die schließlich zur Herstellung der gewünschten Identität von der Außenwelt her führen« (S. 571 f.). Diese erste Differenzierung, welche die Qualität der Beziehung zur Außenwelt zu bestimmen sucht, schließt an die – nun individualpsychologisch gewendeten – Vorstellungen von der Ontologie der Lebensnot und der Zwangsläufigkeit der »Entfremdung« des Triebes, welcher unmittelbare Befriedigung nicht erreichen kann und deshalb zur Weiterentwicklung gezwungen ist, an. Da diese Entwicklung, die Freud später als die vom Lustzum Realitätsprinzip bezeichnet, ihre Dynamik nur aus Zwängen gewinnt, ist es konsequent, wenn Freud schon hier einen Faktor betont, welcher erst viel später als universales Prinzip systematisiert wird, dann allerdings den Schlusspunkt der Kulturtheorie
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setzt: die Tendenz zur Regression, die der Psyche, die zur Entwicklung gezwungen wurde, innewohnt. Den letzten begrifflichen Schritt in diese Richtung hat Freud erst viel später, in den »Formulierungen über die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens« (1911) gezogen, in denen er dann dem ursprünglichen, asozialen Lust-Ich des Kleinkindes das mit den Fähigkeiten zur Rationalität ausgestattete Real-Ich des Erwachsenen gegenüberstellt. Ein weiterer Gedankengang, der sich unmittelbar hieran anschließt, jedoch erst später ausgeführt wird, betrifft die Qualität der Realität selbst. Der Neurotiker, der sich von der Realität zurückzieht, handelt nach den Bedingungen seiner inneren Strukturen. Der Begriff der Realität wird dadurch ausgeweitet auf intrapsychische Vorgänge, auf die »faits psychiques«, um Durkheims Wort abzuwandeln, nicht nur in Bezug auf die Relevanz von intrapsychischen Antrieben, sondern insgesamt auf alles innerpsychische Geschehen. Dessen Wahrnehmung und Erfassung gehört zu den wesentlichen Errungenschaften der Psychoanalyse, hier geht es jedoch lediglich um die Relevanz dieser Innovation für die Weiterentwicklung der Kulturtheorie. Denn durch die gesellschaftstheoretischen Positionen und deren Dynamik wird im Verlauf der Kulturtheorie mehr die externe Realität zur (unabänderlichen) Natur, während die interne Realität des Individuums Schauplatz und Knotenpunkt des sozialen Geschehens, später auch der Geschichte wird. Ein weiteres Element der Theorie, welches eine konstitutive Rolle bei der Entfaltung der Kulturtheorie spielt, ist die systematische Analogie zwischen Onto- und Phylogenese. Bereits in der »Traumdeutung« hatte Freud die Inhalte der Träume und den Traumvorgang an sich in einen allgemeinen Zusammenhang zwischen individuellem Geschehen und Gattungsgeschichte gestellt. »Der Traum, der seine Wünsche auf kurzem, regredienten Wege erfüllte, hat uns hiermit … eine Probe der primären, als unzweckmäßig verlassenen Arbeitsweise des psychischen Apparates aufbewahrt. In das Nachtleben scheint verbannt, was einst im Wachen herrschte, als das psychische Leben noch jung und untüchtig war, etwa wie wir in der Kinderstube die abgelegten primitiven Waffen der erwachsenen Menschheit, Pfeil und Bogen, wiederfinden. Das Träumen ist ein Stück des überwundenen Kinderseelenlebens«
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(GW II/III, S. 572 f.). Dieser Vergleich der ontogenetischen Regression mit einem früheren phylogenetischen Stadium enthält bereits ansatzweise die Vorstellungen, welche Freud dann in »Totem und Tabu« zur Rekonstruktion der Geschichte verwendet. Er enthält auch bereits die Prinzipien der individuellen Entwicklung zur Rationalität, welche dort auf die Geschichte übertragen werden. Freud konnte der Analogie noch weitere, kulturtheoretisch bedeutsame Aspekte abgewinnen. Einer davon betraf die Ähnlichkeit zwischen den Verhaltensweisen des Kindes, des erwachsenen Neurotikers und bestimmten (früheren) kollektiven Verhaltensweisen. Der erwachsene Neurotiker regrediert auf frühkindliche Reaktionsformen. »In der Psychose werden (die) sonst im Wachen unterdrückten Arbeitsweisen des psychischen Apparates sich wiederum Geltung erzwingen« (GW II/III, S. 572 f.). Eine spezifische Reaktion ist dabei die Verwischung der verschiedenen Dimensionen der Realität. »Ich glaube zwar an äußeren (realen) Zufall, aber nicht an innere (psychische) Zufälligkeit. Der Abergläubische umgekehrt: Er weiß nichts von der Motivierung seiner zufälligen Handlungen und Fehlleistungen, er glaubt, daß es psychische Zufälligkeiten gibt; dafür ist er geneigt, dem äußeren Zufall eine Bedeutung zuzuschreiben, die sich im realen Geschehen äußern wird, im Zufall ein Ausdruckmittel für etwas draußen ihm Verborgenes zu sehen. Die Unterschiede zwischen mir und dem Abergläubischen sind zwei: Erstens projiziert er seine Motivierung nach außen, die ich innen sehe; zweitens deutet er den Zufall durch ein Geschehen, den ich auf einen Gedanken zurückführe« (GW IV, S. 286 f.). Darauf, dass diese Äußerung systematischen Charakter hat, weil Freud in der Tat die mikrosoziologische Realität als einen Kosmos von allgemein bedingten Zufälligkeiten begreift, ist bereits verwiesen worden. Die Radikalität seiner Formulierung ermöglicht ihm einen weiteren Schritt. Aus den von ihm ermittelten strukturellen Ähnlichkeiten schließt er, dass die Analogie zwischen Onto- und Phylogenese weitgehend homologen Charakter habe. »Ich glaube in der Tat, daß ein großes Stück der mythologischen Weltauffassung, die weit bis in die modernsten Religionen hineinreicht, nichts anderes ist als projizierte Psychologie. Die dunkle Erkenntnis (sozusagen endopsychische Wahrnehmung)
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psychischer Faktoren und Verhältnisse des Unbewussten spiegelt sich – es ist schwer, es anders zu sagen, die Analogie mit der Paranoia muß hier zu Hilfe genommen werden – in der Konstruktion einer übersinnlichen Realität, welche von der Wissenschaft in Psychologie des Unbewussten zurückverwandelt werden soll. Man könnte sich getrauen, die Mythen vom Paradies und Sündenfall, von Gott, vom Guten und Bösen, von der Unsterblichkeit und dgl. in solcher Weise aufzulösen, die Metaphysik in Metapsychologie umzusetzen. … Als die Menschen zu denken begannen, waren sie bekanntlich genötigt, die Außenwelt anthropomorphisch in eine Vielfalt von Persönlichkeiten nach ihrem Gleichnis aufzulösen; die Zufälligkeiten, die sie abergläubisch deuteten, waren also Handlungen, Äußerungen von Personen, und sie haben sich demnach genau so benommen wie die Paranoiker, welche aus dem unscheinbaren Anzeichen, die ihnen die anderen geben, Schlüsse ziehen, und wie die Gesunden alle, welche mit Recht die zufälligen und unbeabsichtigten Handlungen ihrer Nebenmenschen zur Grundlage der Schätzung ihres Charakters machen. Der Aberglaube scheint nur so sehr deplaciert in unserer modernen, naturwissenschaftlichen, aber noch keineswegs abgerundeten Weltanschauung; in der Weltanschauung vorwissenschaftlicher Zeiten und Völker war er berechtigt und konsequent« (S. 287 f.). Bereits hier deutet sich an, dass Freud psychopathologische Zustände mit historischen Bewusstseinsformen vergleicht und dabei davon ausgeht, dass das, was ontogenetisch pathologisch ist, phylogenetisch einmal Normalzustand war. Damit ist nicht nur der Ontogenese des einzelnen Individuums eine Phylogenese der Gattung zur Seite gestellt, sondern gleichzeitig auch deren innerer Zusammenhang demonstriert, wodurch die Kriterien der individuellen Entwicklung auch geschichtlich relevant werden, was im Rahmen der Kulturtheorie bedeutet, dass Freud nun auch das Individuum in das Zentrum der geschichtlichen Statik und Dynamik stellen kann. Der nächste Punkt betrifft den oben zitierten Mechanismus der Projektion, genauer: dessen libidoökonomische Grundlage. Denn die kulturtheoretische Bedeutung der Projektion liegt nicht nur darin, dass sie eine Entwicklungsstufe des Realitätssinnes ist, sondern auch in ihrer Funktion als Verarbeitung eines spezifischen Konfliktes. »Am deutlichsten erkennt man oft bei sehr
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intelligenten, mit Zwangsdenken und Zwangszuständen behafteten Nervösen, daß der Aberglaube aus unterdrückten feindseligen und grausamen Regungen hervorgeht. Aberglaube ist zum großen Teil Unheilserwartung, und wer anderen häufig Böses gewünscht, aber infolge der Erziehung zur Güte solche Wünsche ins Unbewußte verdrängt hat, dem wird es besonders nahe liegen, die Strafe für solches Böse als ein ihm drohendes Unheil von außen zu erwarten« (S. 289). Was die psychoanalytische Forschung enthüllt hatte: den psychodynamischen Mechanismus der Projektion, wird auf dem Hintergrund der Strukturen der vortheoretischen Gewissheit in spezifischer Weise integriert und als ontologischer Zusammenhang dargestellt, der durch die Grundlagen der Persönlichkeitsentwicklung festgelegt ist. Die dem Individuum eigene Aggression und die durch die Bedingungen des Sozialen in ihm geweckte Schuld führen zu einer Form der Interpretation des sozialen Geschehens, die die externe Realität nach den Prinzipien der internen darstellt. Zumindest für frühe onto- wie phylogenetische Stadien gilt dabei, dass bestimmte Triebkonstellationen eine Entwicklung des Wirklichkeitssinnes provozieren, die die interne Realität dem Individuum als die ganze Wirklichkeit erscheinen lässt. Aus dieser konstitutiven Rolle der internen für die Interpretation der externen Realität und der oben erwähnten Materialität des psychischen Geschehens, von der Freud ausgeht, entwickelt sich ein weiterer, kulturtheoretisch bedeutsamer Faktor der psychoanalytischen Theorie. Freud gewann diese Einsicht, nachdem seine ursprüngliche »Verführungshypothese« sich nicht halten ließ, gleichwohl an der Relevanz der Phänomene, die sich als Phantasie entpuppten, kein Zweifel sein konnte. »Ein Zufall des damals noch spärlichen Materials hatte mir eine unverhältnismäßige Anzahl von Fällen zugeführt, in deren Kindergeschichten die sexuelle Verführung durch Erwachsene oder durch andere ältere Kinder eine Hauptrolle spielte. Ich überschätzte die Häufigkeit dieser (sonst nicht anzuzweifelnden) Vorkommnisse, da ich überdies zu jener Zeit nicht imstande war, die Erinnerungstäuschungen der Hysterischen über ihre Kindheit von den Spuren der wirklichen Vorgänge sicher zu scheiden, während ich seitdem gelernt habe, so manche Verführungsphantasie als Abwehrversuch gegen die Erinnerung der eigenen sexuellen Betätigung (Kindermasturbation)
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aufzulösen. Mit dieser Aufklärung entfiel die Betonung des ›traumatischen‹ Elements an den sexuellen Kindererlebnissen, und es blieb die Einsicht übrig, daß die infantile Sexualbetätigung (ob spontan oder provoziert) dem späteren Sexualleben nach der Reife die Richtung vorschreibt« (GW V, S. 153). Von Bedeutung ist hier die Annahme, dass intrapsychisches Geschehen unter bestimmten Bedingungen zur ganzen Realität, auf jeden Fall zur Handlungsmotivierung werden kann, die mit der tatsächlich angegebenen nicht identisch ist. Dies gilt wiederum onto- und phylogenetisch. Einige Arbeiten Freuds in dem Zeitraum zwischen den »Drei Abhandlungen« und »Totem und Tabu« beschäftigen sich allgemein mit den Inhalten der Analogie zwischen Onto- und Phylogenese. Zum Teil wird dabei die Richtung der Argumentation umgekehrt, indem historische Materialien zur Unterstützung der ontogenetischen Theorie herangezogen werden (»Die Wirkung der ›Kastrationsdrohung‹ ist im richtigen Verhältnisse zur Schätzung dieses Körperteils eine ganz außerordentlich tiefgreifende und nachhaltige. Sagen und Mythen zeugen von dem Aufruhr des kindlichen Gefühlslebens, von dem Entsetzen, das sich an den Kastrationskomplex knüpft, der dann später auch entsprechend widerwillig vom Bewußtsein erinnert wird.« – GW VII, S. 179), wodurch andererseits indirekt die phylogenetische Relevanz der Phänomene verstärkt wird, während sie gleichzeitig nach den Kriterien der vortheoretischen Gewissheit wie zum Beispiel der männlichen Dominanz strukturiert werden; Elemente der vortheoretischen Gewissheit werden dadurch in die Geschichte übertragen. – Zum anderen handelt es sich um Texte wie die Abhandlung über den »Gegensinn der Urworte« (1910), in welchen durch die Betonung der phylogenetischen Relevanz spezifischer Phänomene die Kulturtheorie schon vorbereitet wird. »In der Übereinstimmung der … hervorgehobenen Eigentümlichkeit der Traumarbeit und der von dem Sprachforscher aufgedeckten Praxis der ältesten Sprachen, dürfen wir eine Bestätigung von der Auffassung vom regressiven, archaischen Charakter des Gedankenaustausches im Traume erblicken. Und als unabweisbare Vermutung drängt sich uns Psychiatern auf, daß wir die Sprache des Traumes besser verstehen … würden, wenn wir von der Entwicklung der Sprache mehr wüßten« (GW VIII,
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S. 221). In einer Fußnote weist Freud dann auf die Möglichkeit hin, dass »mannigfache Tendenzen« mit diesem Problem in Verbindung stehen. In der phylogenetischen Theorie taucht dieser Gegensinn der Urworte wieder auf in der archaischen, universalen Ambivalenz der Gefühlsregungen. Die grundlegende Analogie enthält noch einen weiteren wichtigen Aspekt. Der unterschiedliche phylogenetische Bezugsrahmen hatte einen qualitativen Unterschied der analogen Phänomene bedingt: während die projektive Theoriebildung für das bürgerliche Individuum ein Durchgangsstadium auf dem Weg zur Normalität darstellt, oder aber als Regression interpretiert werden muß, war sie für die »junge Menschheit« (GW VII, S. 222) die adäquate Interpretationsform der Wirklichkeit. So bedeutet die individuelle Neurose den Rückfall auf von der Gattung längst überwundene Stadien der Problemlösung; andererseits stellen die der Individualneurose analogen historischen Erscheinungen die kollektive Lösung eines sozialen Problems dar, sie lassen sich daher aus deren Strukturen rekonstruieren. Am Beispiel von Zwangsneurosen und Religion lassen sich Unterschiede und Gemeinsamkeiten demonstrieren. Auffällig ist zunächst »die Ähnlichkeit der sogenannten Zwangshandlungen nervöser mit den Verrichtungen …, durch welche der Gläubige seine Frömmigkeit bezeugt. Der Name ›Zeremoniell‹ bürgt mir dafür, mit dem man gewisse Zwangshandlungen belegt hat« (GW VII, S. 127). Darüber hinaus ist die Funktion beider in der Tat dasselbe. »Nach diesen Übereinstimmungen und Analogien könnte man sich getrauen, die Zwangsneurose als pathologisches Gegenstück zur Religionsbildung aufzufassen, die Neurose als individuelle Religiosität, die Religion als universale Zwangsneurose zu bezeichnen. Die wesentlichste Übereinstimmung läge in dem zugrunde liegenden Verzicht auf die Betätigung von konstitutionell gegebenen Trieben« (S. 138 f.). Die Triebabwehr ist damit nicht nur in den Mittelpunkt der individuellen Entwicklungsproblematik, sondern auch in die geschichtliche gerückt, die Antinomien, welche sich in die Theorie des Individuums hineinsedimentiert hatten, übertragen sich nun auch auf die Geschichte, die nun wesentlich in der Lösung eines allen internen Problems besteht. Die implizite Annahme der rationalen Adäquanz der gesellschaftlichen Organisation äußert sich auch in
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der phylogenetischen Theorie, indem Freud davon ausgeht, dass das einheitliche Subjekt-Objekt des phylogenetischen Entwicklungsprozesses, die Gattung Mensch, insgesamt sich in einer dem Entwicklungsstadium entsprechenden Organisationsform des kollektiven Problems, das heißt in relativ rationaler Art und Weise organisiert. Dieses Konzept der geschichtlichen Entwicklung wird in »Totem und Tabu« wieder aufgegriffen; es ist jedoch schon hier von den Schwierigkeiten, die in seinem Voraussetzungen und in dem Gegensatz zwischen bewusster Rationalität und Zwangsläufigkeit phylogenetischer Entwicklung stecken, gekennzeichnet. Im selben Zusammenhang überträgt Freud auch die libidoökonomische Dynamik der Ontogenese auf die Gattungsgeschichte, die nicht nur in der fortschreitenden Rationalisierung des Triebverzichtes, sondern im Fortschreiten des Triebverzichtes überhaupt besteht. »Im fortschreitenden Verzicht auf konstitutionelle Triebe, deren Betätigung dem Ich primäre Lust gewähren könnte, scheint eine der Grundlagen der menschlichen Kulturentwicklung zu sein. Ein Stück dieser Triebverdrängung wird von den Religionen geleistet, indem sie den einzelnen seine Trieblust der Gottheit zum Opfer bringen lassen. … An der Entwicklung der alten Religionen … glaubt man zu erkennen, daß vieles, worauf der Mensch als ›Frevel‹ verzichtet hatte, dem Gotte abgetreten und noch im Namen des Gottes erlaubt war … auf welchem sich der Mensch von der Herrschaft böser, sozial schädlicher Triebe befreite« (GW VII, S. 127). Mit dieser umfassenden Systematisierung der Analogie, die nun dynamische und statische, triebökonomische und topische Aspekte umfasst und gleichzeitig die Notwendigkeit und den Verlauf von Entwicklung begründet, ist die die ontogenetische Theorie ergänzende phylogenetische aus den Materialien der Psychoanalyse vorbereitet.
6. Die phylogenetische Kulturtheorie
6.1. Totem und Tabu Sowohl die Entwicklung des psychoanalytischen Instrumentariums als auch die allgemeine kulturhermeneutischen Interessen drängten Freud dazu, sein bis zu diesem Zeitpunkt entwickeltes ontogenetisches Konzept durch eine Theorie der Geschichte zu ergänzen und zu erweitern. Vor allem aber war es die Dynamik der Gegensätze und Probleme dieser ontogenetischen Theorie selbst, die ihre geschichtstheoretische Absicherung erforderlich machten. Die Konstruktion der sozialen Wirklichkeit aus dem Individuum heraus und die Verlagerung des sozialen Geschehens ins Individuum hinein, setzen einen »an sich« neutralen, rational gestalteten sozialen Kontext voraus, dessen Genese es ebenso abzuleiten galt, wie die des bürgerlichen Individuums selbst, nicht zuletzt deswegen, weil beide Voraussetzungen eine systematische immanente Logik des Zusammenhangs unterstellen. Wegen der strukturellen Besonderheiten der ontogenetischen Theorie war für Freud die einzig konsequente Weiterentwicklung seiner Vorstellungen von »Kultur« ein »phylogenetisches« Konzept, welches die Entwicklung der Gattung analog zu der des Individuums darstellt und die Geschichte als einen kollektiv-psychologischen Prozess, der dadurch, dass er bei jedem Individuum zur gleichen Zeit in gleicher Weise verläuft, zum realhistorisch entscheidenden Geschehen wird, interpretiert. Den Versuch der phylogenetischen Ausweitung der Theorie unternimmt Freud in »Totem und Tabu«. Freuds theoretischer Ansatz ist von seiner Fragestellung her: von der Analyse kollektiver Vergesellschaftungsprozesse als Ausgangspunkt einer sozialpsychologisch-historischen Theorie nicht nur sinnvoll, sondern auch notwendig, um die konkreten Vermittlungsprozesse zwischen »Sein« und »Bewusstsein« nicht nur
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abstrakt zu bestimmen. Es ist gerade sein Beitrag zur Sozialisationstheorie, der es ermöglicht, die Interdependenzen und Widersprüche realer sozialer und historischer Totalitäten als durch Individuen hindurch vermittelte zu begreifen. Dass seine eigenen Versuche, eine solche Vermittlung zu leisten, in subjektivistischen Objektivismus münden, liegt an den spezifischen denkstrukturellen und inhaltlichen Verzerrungen seines Vorgehens, die es nicht ermöglichen, die Ansätze, die tatsächlich in seiner dialektischen Psychologie stecken, zu realisieren (vgl. seine Kritik an der Sexualmoral und die Gründe ihres Scheiterns, Kap. 4 und 5). Am Ziel einer – auch von Freud intendierten – historisch-materialistischen Psychologie als integraler Bestandteil einer integrierten Sozialwissenschaft ist festzuhalten; es bedürfte dazu einer in deren Rahmen aufgehobenen, quasi »gegen den Strich gebürsteten« Psychoanalyse (K. Horn). Die inhaltliche Kontroverse um »Totem und Tabu« und ihre Bedeutung ist bekannt; da in ihr die Positionen und ihre Konsequenzen hinreichend erörtert sind (zur Orientierung: Die prinzipiellen Unterschiede finden sich bei Roheim, 1941 und Fenichel, 1938), wird hier auf die inhaltliche Darstellung verzichtet. Es werden stattdessen nur die wesentlichen Aspekte von Freuds Argumentation auf ihre gesellschaftstheoretischen Konsequenzen hin untersucht. Dazu sei kurz noch einmal an die Hauptthesen der vier Aufsätze und die Konsequenzen, die Freud aus ihnen zieht, erinnert: 1. Das System des Totemismus dient – ähnlich den Abwehrformen der Neurotiker – der Abwehr unbewusster Inzestwünsche. 2. Der Ursprung des Tabus ist die »ambivalente« Einstellung zu Objekten; dies gilt historisch für die »Wilden«, systematisch für Kinder und Neurotiker, woraus sich prinzipielle Analogien ergeben, ebenso wie – aus den Differenzen – historische Perspektiven. 3. In der Projektion intrapsychischer Vorgänge auf die Außenwelt (wiederum bei »Wilden«, Kindern und Neurotikern in je unterschiedlicher Weise) hat der Animismus dieselbe Quelle wie das Tabu. Daraus ergeben sich für Freud Modelle der Entwicklung des Wirklichkeitssinnes (welcher sich, in Anlehnung an Turgot, vom Animismus über die Religion zur Wissenschaft,
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beständiger Zurückdrängung von Allmachtsphantasien, weiterentwickelt) und, parallel dazu, der Organisation der Libido: »Wenn wir im Nachweis der Allmacht der Gedanken bei den Primitiven ein Zeugnis für den Narzissmus erblicken dürfen, so können wir den Versuch wagen, die Entwicklungsstufen der menschlichen Weltanschauungen mit den Stadien der libidinösen Entwicklung des Einzelnen in Vergleich zu ziehen. Es entspricht dann zeitlich wie inhaltlich der animistischen Phase dem Narzißmus, die religiöse Phase jener Stufe der Objektfindung, welche durch die Bindung an die Eltern charakterisiert ist, und die wissenschaftliche Phase hat ihr volles Gegenstück in jenem Reifezustand des Individuums, welcher auf das Lustprinzip verzichtet hat und unter Anpassung an die Realität sein Objekt in der Außenwelt sucht« (GW IX, S. 102). 4. Daraus ergibt sich der Ursprung von »Kultur« aus einer realen, massenhaft erlebten und in spezifischer Art verarbeiteten ödipalen Situation. Die Theorie der Geschichte, welche aufzustellen Freud sich durch die Innovationen der Psychoanalyse in die Lage versetzt sah, ist im Wesentlichen geprägt durch die bereits vorausgehende gesellschaftstheoretische Position. Sowohl formal als auch inhaltlich ist die ontogenetische Theorie Vorbild des Geschichtsbildes. Schon die historisch relevante Begriffsbildung, mit deren Hilfe dann das historische Material dargestellt wird, vollzieht sich unter Orientierung an den Prinzipien der Ontogenese, wodurch die Einsichten der Psychoanalyse, etwa die in die Strukturverwandtschaft von Religion und Zwangsneurose, in spezifischer Weise verwertet werden. Umso angemessener erscheint dann die Gruppierung der Daten und ihre Interpretation nach den immanenten Strukturen der Vorstellungen über das Individuum und die Gesellschaft. Dabei steht die erkenntnisleitende Analogie zwischen der Entwicklung des Individuums und der der Gattung nur formal im Mittelpunkt der Geschichtstheorie. Ihr eigentlicher Kern liegt im Konzept des bürgerlichen Individuums und seiner Gesellschaft, welche im phylogenetischen Modell nur ihren adäquaten Ausdruck, ihre Fortsetzung und Ergänzung finden. Die der gesellschaftlich-statischen Beziehungen zwischen Individuum und sozialer Orga-
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nisation entsprechende Vorstellung von sozialer Dynamik muss deren Entstehung aus den ihr immanenten Strukturen erklären. Daraus resultiert ein Modell der Geschichte, welches nicht die Genese des Individuums aus einer sozialen Geschichte, sondern umgekehrt dessen soziale Geschichte aus ihm selbst ableitet. Die Strukturen des Gesellschaftsbildes beschränken die Dimensionen der geschichtlichen Dialektik, die Geschichte selbst wird unter Zuhilfenahme idealistischer Konstrukte aus einem zentralen, durch die Psychoanalyse erst zugänglichen Aspekt des Gesamtprozesses rekonstruiert. Der geschichtliche Prozess wird dadurch quasi unterteilt: Er verläuft einmal als wesentliches phylogenetisches Geschehen, welches der konkreten Wirklichkeit vorausgeht, zum anderen als davon abhängiger realgeschichtlicher Vorgang, dessen Form von spezifischen Umständen mitbestimmt wird. Als phylogenetischer Vorgang hat er die Gattung zum Subjekt, was jedoch nur dadurch ermöglicht wird, dass Freud implizit das Endergebnis der Entwicklung, das bürgerliche Individuum, bereits voraussetzt. Unter diesen Umständen kann Geschichte dann nur noch als Zwangsprozess, der über die Gattung abläuft, aufgefasst werden, als ein durch die Umstände der inneren und äußeren Natur erzwungenes Geschehen, dessen Verlauf durch die konstituierenden Elemente bereits vorausbestimmt war. Die Entwicklung der Gattung, welche der des Individuums entspricht, ist das Ergebnis der Interaktion der Natur mit den Entwicklungspotenzen der Gattung. Demgegenüber ist die konkrete soziale Ausgestaltung ephemeres Geschehen. Weil schon in der ontogenetischen Theorie das einzelne Individuum unvermittelt auf das gesellschaftliche Ganze bezogen wurde und umgekehrt das gesellschaftliche Ganze als Organisation und »Gemeinwille« aller Einzelindividuen betrachtet wurde, ist auch der geschichtliche Prozess in gleicher Weise auf alle einzelnen bezogen. Jedes geschichtliche Subjekt wird zunächst als Individuum, welches Teil hat an der allgemeinen Ausrüstung der Gattung, begriffen und dann unter diesem Aspekt, ohne Berücksichtigung spezifischer sozialer Besonderheiten wie Klassenzugehörigkeit und so weiter, dem Verlauf der Geschichte gegenübergestellt, der durch ihn, aber bis zu ihrem Abschluss ohne sein Dazutun abläuft.
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Für die ontogenetische Entwicklung hatte Freud ein (mögliches, wenn auch oft nicht erreichtes) optimales Entwicklungsziel festgestellt, welches sozial funktional war, ohne den natürlichen Möglichkeiten und den konstitutionellen Fähigkeiten, welche den Menschen kennzeichnen, zu widersprechen. Das erwachsene männliche Individuum steht optimalerweise vollkommen unter der Herrschaft des Realitätsprinzips, verwechselt nicht mehr Wunsch und Wirklichkeit, es ist von der Organisation seiner Psyche her zu Objektbeziehungen fähig und seine Partialtriebe sind teils unter dem Primat der Genitalität zusammengefasst, teils zur Sublimierung bereit. Es entspricht somit dem Ideal der Leistungs- und Genussfähigkeit. Über dieses, hier verkürzt resümierte Optimum der Entwicklung hinaus gibt es keine weiteren Entwicklungsmöglichkeiten mehr; der reife Erwachsene unterliegt keinerlei Veränderungen mehr. In ihm ist die ursprüngliche Veranlagung des Kindes gründlich umgekehrt worden und durch die allgemeine Entwicklung zur Rationalität hin ersetzt worden. Dies gilt nun auch für die phylogenetische Entwicklung der Gattung, die ebenfalls dann ihr Entwicklungsziel erreicht hat, wenn die einzelnen Individuen dem entsprechen. Auch die Geschichte ist insgesamt eine Entwicklung zur Rationalität, die dann ihren Abschluss findet, wenn dieses Ziel erreicht ist. Entsprechend des Individuums ist damit auch die Theorie der Geschichte entscheidend festgelegt: Sie muss zum Inhalt haben, dass Geschichte final ist, das heißt keine über die bürgerliche Gesellschaft hinausweisende Alternativen mehr anzubieten hat. Hatte das Gesellschaftskonzept, von dem Freud ausging und welches er auf die Geschichte übertrug, zur Folge gehabt, dass alle historischen Gesellschaftsformationen wie rudimentäre bürgerliche Gesellschaften aussahen, in der alle Individuen mit unzureichenden Mitteln und zeitweise ohne ihr bewusstes Handeln die soziale Problematik zu lösen versuchen, so erscheint nun die geschichtliche Entwicklung ebenso unausweichlich wie festgelegt. Ohne dass sie Probleme lösen könnte, ist die rationale Verarbeitung die bestmögliche; auf sie steuert die Geschichte zu. Sie besteht in einer allgemeinen Höherentwicklung, deren Abschluss die bürgerliche Gesellschaft und das bürgerliche Individuum sind. Mit der Theorie des Ursprungs der Geschichte aus den Antinomien der menschlichen Psyche, die sich aus der psychoanaly-
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tischen Vermittlung spezifischer gesellschaftstheoretischer Vorstellungen ergeben hatte, wird die Geschichte insgesamt zum notwendigen und auch in ihrem Verlauf unausweichlichen Prozess. Die konkrete Geschichte, die ex post feststellbar ist, gewinnt dadurch den Charakter der Unausweichlichkeit und Objektivität. Durch diese objektive Vorausbestimmtheit bleiben die spezifischen Faktoren der geschichtlichen Entwicklung nebensächlich, der gesamte geschichtliche Prozess wird systematisch entpolitisiert. Diese Entpolitisierung des geschichtlichen Prozesses entspricht der des gesellschaftlichen und setzt diese fort. Für die jetzt konstatierbare Wirklichkeit und Geschichte des Sozialen ist nur noch der allgemeine Oberbegriff »Kultur«, der allgemeine, von spezifischen Interessen unabhängige Verhältnisse beschreibt, verwendbar. Die Theorie des Sozialen hat sich durch die Implikationen ihrer Grundannahmen in eine Kulturtheorie verwandelt, die ihrem eigenen Anspruch nach sich mit den objektiven Gegebenheiten des besonderen Schicksals der Gattung Mensch beschäftigt. In der Kulturtheorie erscheinen nun die Realantinomien, die sich in den Begriffen der Psychoanalyse niedergeschlagen hatten, als objektive Daten einer Ontologie der menschlichen Psyche und des Sozialen; ihre Übertragung in die Termini der Psychoanalyse ist in ihrer metatheoretischen Verwendung innerhalb der Kulturtheorie nicht mehr im einzelnen zu erkennen; die gesellschaftstheoretischen Voraussetzungen der psychoanalytischen Begriffe werden als inhaltliche Einsichten der psychoanalytischen Forschung behandelt. Im Rahmen dieser auf das bürgerliche Individuum und die bürgerliche Gesellschaft zugeschnittenen Kulturtheorie gewinnt die »wissenschaftliche Weltanschauung« besondere Bedeutung. Im onto- wie im phylogenetischen Reifezustand organisiert sich der menschliche Wirklichkeitssinn in der Form der Wissenschaftlichkeit. Er wird nicht mehr vom Lust- sondern vom Realitätsprinzip beherrscht und erkennt die Realität an. Wissenschaftlichkeit bedeutet in der Absage an halluzinatorische Veränderungen der Wirklichkeit den Versuch, die weitaus geringeren Möglichkeiten realer Veränderung zu erschließen und Unterwerfung unter die, wenn man so will, »Allmacht« der Natur. Erst wer sich zur Wissenschaftlichkeit bekennt, hat die volle Höhe der Kultur erreicht.
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Die »wissenschaftliche Weltanschauung« ist die diesem Reifezustand entsprechende umfassende Interpretation der Kultur, weil sie das Ziel der Philosophen mit den Mitteln der Wissenschaft erreicht und dabei voraussetzungslos die objektive Wirklichkeit darstellt. Es kann deshalb, wie es auch nur eine Wissenschaftlichkeit gibt und nur eine Wirklichkeit objektiv ist, auch eine »wissenschaftliche Weltanschauung« geben, der allerdings eine besondere Stellung zukommt. Durch ihre Beziehung zur Realität hat sie mit dem oberflächlichen Streit der Schulmeinungen und den Querelen der Tagespolitik nichts gemein. Im Konstrukt der »wissenschaftlichen Weltanschauung« hat Freud damit den Kompromiss gefunden zwischen seinen kulturhermeneutischen Interesse und dem Anspruch der Wissenschaftlichkeit. Er sieht sich jetzt in die Lage versetzt, sich explizit mit Problemen des sozialen Zusammenhanges in allgemeiner Form auseinanderzusetzen und dabei metatheoretisch zu argumentieren, ohne in die von ihm kritisierte Metaphysik zu verfallen. Sie ermöglicht gleichzeitig kritische Distanz zur Kultur, Selbstreflexion, und entschiedene Identifizierung mit ihr und ist (kultur-)politische Theorie, ohne konkret engagiert zu sein. Sie ist also zugleich Erfassung, Darstellung und umfassende Theorie des Sozialen, welches nun als »Kultur« chiffriert ist. Mit ihrer Hilfe versucht Freud den Gegensatz zwischen der postulierten Neutralität der Wissenschaft und dem kulturpolitischen Anspruch aufzuheben; sie verkörpert gleichzeitig die allgemein unabänderliche objektive Realität als auch den Anspruch des reifen Individuums, zumindest partiell seine Interessen zu verwirklichen. Der Anspruch der Kausalität führt unter den Bedingungen der Kulturtheorie dazu, dass die Tendenz zur immer weiteren theoretischen Regression besteht, eine Tendenz, die sich im weiteren Verlauf der kulturhermeneutischen Diskussion eher noch verstärkt. Zwar ist das reife Individuum in der Lage, die Strukturen der Wirklichkeit zu erkennen, aber seine Fähigkeit ist, von einer weiter zurückgehenden logischen Ebene betrachtet, dem Widerstand der Natur und der Raffinesse des Triebes zu verdanken, die bei Freud in gewisse Weise die »List der Vernunft« abgelöst hat. In diesem Konzept gewinnt die äußere Realität als »unerbittliche« Natur eine neue Qualität. Es ist kein Zufall, wenn Freud von der
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Unterwerfung unter die Naturnotwendigkeit, von der Anpassung an die Realität und von Resignation spricht. Ihr Stellenwert innerhalb der theoretischen Konstruktion der Wirklichkeit lässt die Natur zur Ananke, zum unausweichlichen Menschenschicksal werden. Die Wirklichkeit der bürgerlichen Welt, welche Freud nicht aus ihrer Organisationsform ableiten kann, macht er stattdessen an den Strukturen der äußeren und der inneren Natur fest. Daraus leitet sich die zentrale Bedeutung der Triebstruktur und der Ananke für die entwickelte Kulturtheorie ab.
6.2. Die Theorie der Persönlichkeit und die Triebtheorie Für den Entwicklungsgang von Freuds theoretischer Arbeit stellt »Totem und Tabu« eine bedeutsame Zäsur dar. Die darin aus den Strukturen und Elementen von seinem Vorverständnis des Sozialen sowie den davon geprägten psychoanalytischen Einsichten entwickelte Geschichtstheorie ist zunächst Höhepunkt und Abschluss der bisherigen kulturtheoretischen Bemühungen Freuds. Sie dient von nun an als Fixpunkt, an dem die weiteren theoretischen Unternehmungen im weitesten Sinne orientiert sind oder von dem sie ausgehen. Auf der anderen Seite aktualisieren sich durch die Struktur und den Inhalt der phylogenetischen Kulturtheorie bisher noch nicht oder unbefriedigend gelöste Fragen der psychoanalytischen Theorie, weil sie auf deren Hintergrund neue Bedeutung gewann. Dazu kommt, dass, nachdem Freuds Versuche zum Verständnis des Sozialen in »Totem und Tabu« endgültig die ihnen adäquate Form gefunden haben, mehr denn je die psychoanalytische Theoriebildung direkt zum Träger kulturtheoretischer Interessen wird. Weil »Totem und Tabu« die von Freud aufgestellten Bedingungen der »wissenschaftlichen Weltanschauung« erfüllt beziehungsweise die Einsichten der Psychoanalyse zu einer »wissenschaftlichen Geschichtstheorie« systematisiert, ist nun erst recht jede Innovation der Psychoanalyse unmittelbar auch kulturtheoretische Argumentation. Noch weniger als zuvor realisiert er allerdings die seinem Vorgehen innewohnenden Gefahren, nach-
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dem sich die von ihm gewünschte Identität für ihn in der Psychoanalyse hergestellt hat. In der auf »Totem und Tabu« folgenden Phase, in der sich Freuds kulturtheoretische Bemühungen auf die Weiterentwicklung psychoanalytischer Theorie beschränken, stehen vor allem zwei Themen im Vordergrund: zum einen die Frage nach der Struktur der Gesamtpersönlichkeit und ihrer Entwicklung und zum anderen die nach deren »Motor«, nach der Triebstruktur. Persönlichkeitsstruktur und Trieborganisation sind verschiedene, sich gegenseitig bedingende Aspekte des bürgerlichen Individuums. Aus den vorhandenen Beobachtungen und ihre Interpretation, dem Rückzug der Objektlibido auf das Ich in der Schizophrenie und dem phylo- wie ontogenetisch konstatierbaren Stadium der »Allmacht der Gedanken« postuliert Freud, dass es einen »primären und normalen Narzißmus« (GW X, S. 139) gäbe, eine »ursprüngliche Libidobesetzung des Ich, von der später an die Objekte abgegeben wird, die aber, im Grunde genommen, verbleibt« (S. 141). Der Untergang des primären Narzissmus – der im Register zu Recht auch als »primitiver« Narzissmus bezeichnet wird – konstituiert gleichzeitig eine bedeutsame Entwicklung der Persönlichkeit, welche sich aus der »Hartnäckigkeit« der Libido ergibt. Auch wenn die narzisstische Besetzung des Ich aufgegeben und stattdessen Objekte in der Außenwelt gesucht werden, so bleibt doch Narzissmus teilweise real, teilweise im Typus der Objektwahl erhalten und kehrt in veränderter, für die Struktur des Sozialen von bedeutsamer Form wieder, in Form des Ich-Ideals oder Ideal-Ich. »Diesem Ideal-Ich gilt nun die Selbstliebe, welches in der Kindheit das wirkliche Ich genoss. Der Narzissmus erscheint auf dieses neue ideale Ich verschoben, welches sich wie das infantile im Besitz aller wertvollen Vollkommenheiten befindet. Der Mensch hat sich hier, wie jedesmal auf dem Gebiete der Libido, unfähig erwiesen, auf die einmal genossene Befriedigung zu verzichten. Er will die narzißtische Vollkommenheit seiner Kindheit nicht entbehren, und wenn er diese nicht festhalten konnte, durch die Mahnungen während seiner Entwicklungszeit gestört und in seinem Urteil geweckt, sucht er sie in der neuen Form des Ich-Ideals wieder zu gewinnen. Was er als sein Ideal vor sich hin projiziert, ist der Ersatz für den verlorenen Narzißmus seiner Kindheit, in der er sein eigenes Ideal war« (S. 161).
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Die Bedeutung des Narzissmus als der ursprünglichen, undifferenzierten Organisationsform des Individuums liegt darin, dass seine Strukturen in ihrer Interaktion mit den Bedingungen der vorgegebenen sozialen Umwelt dazu führen, dass das Individuum, um wenigstens einen Teil seiner Wünsche erreichen zu können, zur Entwicklung von der autistischen Asozialität zum rationalen und sozialen Verhalten gezwungen wird. An dieser Stelle verwendet Freud die ontogenetischen Möglichkeiten, die sich aus der Annahme des primären Narzissmus für seine Theorie ergeben, um ein Konzept der Sozialisierung des Individuums nur aus den Grundannahmen seiner Theorie heraus zu entwickeln. Auch die soziale Umwelt ist Teil der »Ananke«; gegenüber der Rationalität der Erwachsenenwelt ist »Allmacht der Gedanken« hilflos und muss sich anpassen. »Die Anregung zu Bildung des Ichideals war … von dem durch die Stimme vermittelten kritischen Einfluss der Eltern ausgegangen, an welche sich im Laufe der Zeiten die Erzieher, Lehrer und als unübersehbarer, unbestimmbarer Schwarm alle Personen des Milieus angeschlossen hatten. (Die Mitmenschen, die öffentliche Meinung.) Große Beiträge von wesentlich homosexueller Libido wurden so zur Bildung des narzisstischen Ich-Ideals herangezogen und finden in der Erhaltung desselben Ableitung. Die Institution des Gewissens war im Grunde eine Verkörperung zunächst der elterlichen Kritik, in weiterer Folge der Kritik der Gesellschaft, ein Vorgang, wie er sich bei der Entstehung einer Verdrängungsneigung aus einem zunächst äußerlichen Verbot oder Hindernis wiederholt« (S. 163). Der Narzissmus, die primäre Selbstliebe, bildet somit auch die libidoökonomische Grundlage kulturkonformen Verhaltens, weil er den Egoismus des Individuums zur Unterdrückung kulturfeindlicher Regungen zwingt. Mit Hilfe der Vorstellung vom Ich-Ideal kann Freud nun auch das Funktionieren des sozialen Zusammenhangs als auch die Verbindung der asozialen Einzelnen untereinander sowie die historische Kontinuität der Gesellschaft nur aus den Voraussetzungen der Libidotheorie erklären. »Vom Ichideal aus führt ein bedeutsamer Weg zum Verständnis der Massenpsychologie. Dies Ideal hat außer seinem individuellen einen sozialen Anteil, es ist auch das gemeinsame Ideal einer Familie, eines Standes, einer Nation. Es hat außer der narzißtischen Libido einen großen Betrag der homosexuellen
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Libido einer Person gebunden, welche auf diesem Wege ins Ich zurückgekehrt ist. Die Unbefriedigung durch Nichterfüllung dieses Ideals macht homosexuelle Libido frei, welche sich in Schuldbewußtsein (soziale Angst) verwandelt. Das Schuldbewußtsein war ursprünglich Angst vor der Strafe der Eltern, richtiger gesagt: vor dem Liebesverlust bei ihnen; an Stelle der Eltern ist später die unbestimmte Menge der Genossen getreten« (S. 169f). Die aus dem Narzissmus hervorgegangene Instanz des Ich-Ideals enthält nicht nur die allen Individuen gemeinsamen, kulturell bedeutsamen Normen, sondern garantiert auch deren Kontinuität, während seine unterschiedliche Ausgestaltung die soziale Vielfalt der Charaktere erklärt. Dieses Modell erlaubt Freud, sein allgemeines Konzept der Entstehung des bürgerlichen Individuums aus der notwendigen Entfremdung seiner ursprünglichen, asozialen Identität bedeutend zu erweitern und zu präzisieren. Er kann nun, lediglich auf ganz allgemeine und quasi natürliche soziale Bedingungen wie die Existenz von Eltern aufbauend, die Dynamik der individuellen Entwicklung wie die Möglichkeit des sozialen Zusammenhalts allein aus den intrapsychischen Strukturen heraus erklären, wobei er dabei allerdings von der reibungslosen Kontinuität des Sozialen von der Familie zu den anderen Agenten der Sozialisation ausgehen muss. Unter diesen, nach Freud für die bürgerliche Gesellschaft geltenden Bedingungen ist dann mit der Zwangsläufigkeit eines allgemeinen Entwicklungsganges auch deren Zusammenhalt erklärbar. Ideal-Ich wird zum alleinigen Medium historischer Kontinuität und gesellschaftlichen Zusammenhangs, die »faits sociaux« noch mehr zu für die wesentlichen Vorgänge irrelevanten Daten. Der in der Theorie des primären Narzissmus verarbeitete Aspekte der bürgerlichen Wirklichkeit verstärkt (und rechtfertigt) weiterhin die Tendenz der Kulturtheorie, das Soziale rational zu konstruieren und die Dynamik sowie die Antinomien des Geschehens ins Individuum zu verlagern: Das real beobachtbare Geschehen, welches sich für Freud als »Narzissmus« darstellt, hat seine Ursache in allgemein gattungsgeschichtlichen Vorgängen und nicht in dem in sich widersprüchlichen Konstitutionsprozess des bürgerlichen Individuums.
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Die Theorie des primären Narzissmus kann im weitesten Sinne als theoretischer Reflex der Wirklichkeit des primär egoistischen bürgerlichen Individuums unter den Bedingungen und Voraussetzungen der Kulturtheorie verstanden werden. Eine dieser Voraussetzungen, den Triebbegriff und die auf diesen aufbauenden Annahmen, untersucht Freud in systematischer Weise in dem Aufsatz »Triebe und Schicksal« (1915). Deren Analyse ist gleichzeitig eine Untersuchung der grundlegenden Beziehungen zwischen Individuum und Umwelt, wie sie sich aus auf dem Hintergrund der Kulturtheorie darstellt. Ausgangspunkt ist die Unterscheidung zwischen äußeren Reizen und inneren Trieben (GW X, S. 212). Äußeren Reizen kann der Organismus ausweichen, etwa durch motorische Reaktion, die inneren Triebe zwingen den Organismus zur Differenzierung und Entwicklung komplexer Verarbeitungsformen. Dieses Konzept stützt sich zum einen auf die allgemeine Bestimmung, nach welcher das Ziel des Organismus der Reizabbau sei, in welcher sich bereits in vermittelter Art und Weise der defensive Aspekt bürgerlicher Existenz ausdrückt, vor allem jedoch auch auf den Begriff des Reizes selbst und seine gesellschaftstheoretischen Implikationen. Die Gegenüberstellung von Reiz und Trieb, aus der der letztere seine Bedeutung gewinnt, ergibt sich daraus, dass Freud als Vorbild für den Einheitsbegriff »Reiz« den physikalischen Reiz verwendet, aber alle das Individuum betreffende Reize meint. Indirekt wird damit auch für die sozialen »Reize« unterstellt, ihre Beziehung zum Individuum sei eindeutig bestimmt, eine neutrale Einwirkung, welche als spezifische Reaktion nur Vermeidung hervorruft. Dazu kommt, dass die Wirkung des Reizes nur in Bezug auf das einzelne Individuum als Gattungswesen begriffen wird, nicht in seiner historischen Konkretion und erst recht nicht als spezifische Qualität, die auf Gruppen wirkt und von diesen produziert wird. Unter diesen Umständen bleibt als Movens des sozialen Geschehens nur noch der dem Individuum interne, unausweichliche Trieb. In der Kulturtheorie hat der Triebbegriff damit die Funktion übernommen, die Dynamik des sozialen Geschehens aus dem Individuum heraus zu erklären, während umgekehrt der Trieb in noch immer ungeklärter Weise lediglich phylogenetisch in allgemeiner Form durch die allgemeinen Bedingungen der sozialen Existenz geprägt ist. Auch
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jetzt, wo ihm an sich die Mittel zur Verfügung stehen, wenigstens ansatzweise historische Kontinuität zu erklären, ist er unter diesen Umständen gezwungen, an lamarckistischen Positionen festzuhalten, weil er die Dialektik zwischen Trieb und Lebenserfahrung auf eine immanente Triebentwicklung reduziert, die nur einige wenige, unausweichliche Sozialerfahrung voraussetzt. Es erscheint sinnvoll, in diesem Zusammenhang noch folgendes anzumerken: Mit der Kritik des Reizbegriffs und der damit verbundenen Kritik des Triebbegriffs soll nicht einem kulturistisch verkürzten Ansatz, erst recht nicht einem regressiven Verzicht auf den Triebbegriff entsprochen werden. Im Gegenteil; der Triebbegriff ist – wenn auch nicht in seiner anthropologischen Fassung bei Freud selbst, die körperlich-materielle Vorgänge zu monadologischen Entitäten verdinglicht – nach wie vor der Schlüsselbegriff einer Interaktionspsychologie, die die Dialektik von Körperlichen und Psychischem zu begreifen sucht (vgl. dazu Lorenzers Versuch der Begründung einer materialistischen Sozialisationstheorie, Lorenzer, 1972). Im Gegensatz dazu bilden die diversen revisionistischen Konzepte eine theoretische Sackgasse (vgl. die Kritik von Adorno [1962], Marcuse [1970] und Horn [1971]. Umso notwendiger scheint es, die bornierten Momente des Freud’schen Materialismus aufzuheben. Dazu ist es jedoch erforderlich, den physikalistischen Nivellierungstendenzen seines Reizbegriffs, wie den positivierenden und enthistorisierenden Aspekten seines Triebbegriffs nachzugehen. Die Beziehung des Individuums zu seiner Umwelt ist entscheidend geprägt von der Qualität der Triebe. Zu diesem Zeitpunkt hält Freud noch an der ursprünglichen dualistischen Triebtheorie fest und geht davon aus, dass deren Entwicklung in den grundlegenden Strukturverhältnissen des »seelischen Lebens« erfolgt. Diese bestehen aus »den Gegensätzen von: Subjekt (Ich) – Objekt (Außenwelt. Lust – Unlust, Aktiv – Passiv)« (S. 226). In der psychischen »Ursituation« fallen im Narzissmus Ich und Lust zusammen. Diesem »purifizierten Lust-Ich« steht eine Außenwelt gegenüber, deren Objekte mit Unlust identisch sind. Erst nach dem Tode des Narzissmus und dem Beginn der Ichentwicklung entdeckt dieses die Objekte als Quelle der Befriedigung und beginnt sie zu »lieben«. »Die Liebe stammt von der Fähigkeit des Ichs, einen
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Anteil seiner Triebregungen autoerotisch, durch die Gewinnung von Organlust, zu befriedigen. Sie ist ursprünglich narzisstisch, übergeht dann auf die Objekte, die dem erweiterten Ich einverleibt worden sind« (S. 231). Die ursprüngliche Einteilung des Ich zur Umwelt ist anders: »Das Ich haßt, verabscheut, verfolgt mit Zerstörungsabsichten alle Objekte, die ihm zur Quelle von Unlustempfindungen werden, gleichgültig, ob sie ihm eine Versagung sexueller Befriedigung oder die Befriedigung von Erhaltungsbedürfnissen bedeuten. Ja, man kann behaupten, daß die richtigen Vorbilder für die Haßrelation nicht aus dem Sexualleben, sondern aus dem Ringen des Ichs um seine Erhaltung und Behauptung stammen« (S. 230). Im Grunde ist damit ausgesprochen, dass die Herkunft der Aggression in einer spezifischen sozialen Situation zu suchen ist, einer Situation allerdings, die für Freud ontologischen Charakter hat. Mit der Ontologie der Existentialangst ist auch die Aggression als Einstellung zur Umwelt ontologisch: »Der Haß ist als Relation zum Objekt älter als die Liebe, er entspringt der uranfänglichen Ablehnung der reiz-spendenden Außenwelt von Seiten des narzißtischen Ichs« (S. 231). Schon in »Totem und Tabu« hatte sich angedeutet, dass die sexuellen Triebe zwar das Material, der Egoismus der Brüderhorde beziehungsweise jedes Einzelnen das Motiv der kulturellen Entwicklung darstellte. In der Theorie des primären Narzissmus und der diese ergänzende Vorstellung der frühen »Triebschicksale« verstärken sich diese Verhältnisse weiter; Egoismus und Selbsterhaltung (und deren psychisches Korrelat: Existenzangst) spielen eine zentrale Rolle bei der Konstituierung des bürgerlichen Individuums. Gleichzeitig verdeutlicht sich die Interdependenz zwischen diesen psychologischen Theorien und spezifischen Theorien über die Struktur der bürgerlichen Gesellschaft und über das bürgerliche Individuum. Die Annahme des a priori antinomischen Verhältnisses zwischen Ich und Außenwelt zieht nur die logischen Konsequenzen der bisherigen Kulturtheorie und stellt die Weichen für ihre Übersetzung in Anthropologie. Die Theorie des primären Narzissmus bedeutet im Rahmen des allgemeinen theoretischen Kontextes, dass Freud sein Konzept der Vergesellschaftung neu formuliert. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, auch die Persönlichkeitstheorie zu revidieren, denn die Strukturtheorie der Persönlichkeit hing von Anfang an aufs engste
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mit dem Konzept der Vergesellschaftung des Individuums zusammen, einem theoretischen Problem, welches mit dem Anwachsen der Theorie der individuellen Entwicklung und allgemein der Kulturtheorie immer bedeutsamer wurde. In den »Drei Abhandlungen« hatte Freud das Problem der Vergesellschaftung, welches schon damals davon geprägt war, dass ein aprioristischer Gegensatz zwischen Individuum und Gesellschaft, zumindest während dessen Entwicklungsphase, bestand, dadurch gelöst, dass er einerseits die Identität des Individuums voraussetzte, diese zum anderen biologisch begründete. Die Wendung der Individuen zur Kultur ergab sich, bei allen Komplikationen, die dabei möglich waren, aus dem Widerspruch zwischen der »Entwicklungsrichtung« (GW V, S. 79) des Individuums und dem polymorph-perversen Charakter seiner sexuellen Triebe, welche notwendig Unlustgefühle in ihm erwecken mussten und so die Bildung der »psychischen Dämme« (S. 79) provozieren. Der Aufbau dieser Hemmungen schien Freud organisch bedingt zu sein; Aufgabe der Erziehung sollte es sein, diese Vorgänge zu unterstützen. Die Kulturbefähigung des Individuums stellte sich dann dar als eine Frage der durch diesen Vorgang im Individuum hervorgerufenen Umwandlung der Libido, der Sublimierung; das Schwergewicht lag auf dem Umfang dieses Sublimierungsprozesses, während die vorausgehenden Vorgänge relativ unproblematisch zu sein schienen. Die Dynamik der Kulturtheorie hatte mit der Identität des Individuums auch dessen Entstehung problematisch erscheinen lassen, das Schwinden der Eigenständigkeit und der Selbststeuerung des Ich zwangen Freud, die Schwerpunkte der Analyse auf andere Aspekte zu legen und die Vergesellschaftung zwar noch aus ähnlichen Strukturelementen, jedoch nach anderen Prinzipien abzuleiten. Die Neubegründung des Konzeptes der Vergesellschaftung, welche in der Einführung des Ideal-Ichs oder des Ich-Ideals erfolgt, wird von Freud in dem Aufsatz »Massenpsychologie und Ichanalyse« (1921) fortgeführt, indem er sie auf konkrete soziale Sachverhalte anwendet und in die phylogenetische Kulturtheorie integriert. Zu diesem Anlass führt er seine Systematisierung der Psychologie vor, die den Ansprüchen der Kulturtheorie und den Fortschritten der psychoanalytischen Wissenschaft Rechnung trägt. Sie beginnt mit der Einsicht, dass die Psychoanalyse von
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Anfang an Sozialpsychologie war, interpretiert dies allerdings in spezifischer Weise. »Die Individualpsychologie ist zwar auf den einzelnen Menschen eingestellt und verfolgt, auf welchen Wegen derselbe die Befriedigung seiner Triebregungen zu erreichen sucht, allein sie kommt dabei nur selten, unter bestimmten Ausnahmebedingungen, in die Lage, von den Beziehungen dieses Einzelnen zu anderen Individuen abzusehen. Im Seelenleben des Einzelnen kommt ganz regelmäßig der Andere als Vorbild, als Objekt, als Helfer und als Gegner in Betracht und die Individualpsychologie ist daher von Anfang an auch Sozialpsychologie in diesem erweiterten aber durchaus berechtigten Sinne. Das Verhältnis des Einzelnen zu seinen Eltern und Geschwistern, zu seinem Liebesobjekt, zu seinem Lehrer und zu seinem Arzt, also alle die Beziehungen, welche bisher vorzugsweise Gegenstand der psychoanalytischen Untersuchung geworden sind, können den Anspruch erheben, als soziale Phänomene gewürdigt zu werden, und stellen sich dann in Gegensatz zu gewissen anderen, von uns narzißtisch genannten Vorgängen, bei dem die Triebbefriedigung sich dem Einfluß anderer Personen entzieht oder auf sie verzichtet. Der Gegenstand zwischen sozialen und narzißtischen … seelischen Akten fällt also durchaus innerhalb des Bereichs der Individualpsychologie und eignet sich nicht dazu, sie von einer Sozial- oder Massenpsychologie abzutrennen« (GW XIII, S. 73 f.). Der sozialpsychologische Charakter der Psychoanalyse, wie er sich für Freud darstellt, beruht auf dem Konzept des Sozialen, welches er hier, wie auch sonst in der Kulturtheorie, vertritt. Das soziale Ganze besteht aus einzelnen Individuen, welche zur Befriedigung ihrer (unausweichlichen) Triebansprüche auf einander angewiesen sind: Jeder Einzelne ist zugleich Objekt des Anderen, in je verschiedener Beziehung. Diese Gesamtheit von Beziehungen der Individuen untereinander hat zwar nach Freud Anspruch, »als soziale Phänomene gewürdigt zu werden«, doch geht aus diesem Kommentar ihr eigentlicher theoretischer Stellenwert bereits deutlich hervor. Sie äußern sich phänomenologisch sozial, sind ihrem Wesen nach jedoch Beziehungen des Einzelnen zu einem Objekt, deshalb der Individualpsychologie subsumierbar. Von dieser gesellschaftstheoretischen Position aus, die ein in spezifischer Weise konzipiertes Individuum in den Mittelpunkt
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des sozialen Geschehens stellt und, ganz abgesehen von der Vernachlässigung anderer sozialer Faktoren, Interaktion nur als psychologischen Vorgang begreift, betrachtet Freud Sozialpsychologie und Massenpsychologie als Synonyme. Während die Interaktionsprozesse der einzelnen Individuen einen hohen Grad von Natürlichkeit oder objektiver Notwendigkeit besitzen, weil sie zwischen Familienangehörigen und gesellschaftlichen Funktionsträgern spielen, ist Sozialpsychologie die Wissenschaft, die sich mit Massenerscheinungen beschäftigt. »Man hat sich nun gewöhnt, wenn man von Sozial- oder Massenpsychologie spricht … die gleichzeitige Beeinflussung des Einzelnen durch eine große Anzahl von Personen … als Gegenstand der Untersuchung abzusondern. Die Massenpsychologie behandelt also den einzelnen Menschen als Mitglied eines Volkes, einer Kaste, eines Standes, als Mitglied eines Stammes, einer Institution oder als Bestandteil eines Menschenhaufens, der sich zu einer gewissen Zeit zu einem bestimmten Zweck organisiert« (S. 74). Die weitere Untersuchung zeigt, dass die Massenpsychologie sich mit einer im Grunde pathologischen Vergesellschaftungsform beschäftigt, welche allerdings der kulturellen Entwicklung der Gattung immanent als Gefahr ist. Die Individuen in der Masse sind, jeder für sich, in der Form der Objektwahl regrediert und haben dabei ein einziges Objekt als Ich-Ideal angenommen: »eine … primäre Masse ist eine Anzahl von Individuen, die ein und dasselbe Objekt an die Stelle ihres Ichideals gesetzt und sich infolgedessen in ihrem Ich miteinander identifiziert haben« (S. 128). Zu diesem pathologischen Vergesellschaftungsvorgang gibt es einen Parallelvorgang, welcher ganz allgemein für die Struktur des Sozialen gültig ist. Die Beschreibung, die Freud von einer spezifischen Situation dazu liefert und die Interpretation, die ergibt, demonstrieren wiederum, wie stark er mit den Grundpositionen bürgerlicher Gesellschaftstheorie verbunden ist. Es handelt sich um die Herkunft dessen, was er noch zu früheren Zeitpunkten »sozialen Trieb« nannte. Bei dessen Analyse greift er zurück auf die Ontologie der Situation, wie sie sich aus dem Konzept des Individuums und der Familie ergibt. »(Man merkt) beim Kinde lange nichts von einem Herdeninstikt oder Massengefühl. Ein solches bildet sich zuerst in der mehrzähligen Kinder-
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stube aus dem Verhältnis der Kinder zu den Eltern, und zwar als Reaktion auf den anfänglichen Neid, mit dem das ältere Kind das jüngere aufnimmt. Das ältere Kind möchte gewiß das nachkommende eifersüchtig verdrängen, von den Eltern fernhalten und es aller Anrechte berauben, aber angesichts der Tatsache, daß auch dieses Kind – wie alle späteren – in gleicher Weise von den Eltern geliebt wird, und infolge der Unmöglichkeit, seine feindselige Einstellung ohne eigenen Schaden festzuhalten, wird es zur Identifizierung mit den anderen Kindern gezwungen, und es bildet sich in der Kinderschar ein Massen- oder Gemeinschaftsgefühl. … Die erste Forderung dieser Reaktionsbildung ist die nach Gerechtigkeit, gleicher Behandlung für alle. Es ist bekannt, wie laut und unbestechlich sich dieser Anspruch in der Schule äußert. Wenn man schon selbst nicht der Bevorzugte sein kann, so soll doch wenigstens keiner von allen bevorzugt werden. … Was man dann später in der Gesellschaft als Gemeingeist, esprit de corps und so weiter wirksam findet, verleugnet nicht seine Abkunft vom ursprünglichen Neid. Keiner soll sich hervortun sollen, jeder das gleiche tun und haben. Soziale Gerechtigkeit will bedeuten, daß man sich selbst vieles versagt, damit auch die anderen darauf verzichten müssen. Die Gleichheitsforderung ist die Wurzel des sozialen Gewissens und des Pflichtgefühls« (S. 132 ff.). Dadurch, dass der Andere für den Einzelnen im Wesentlichen Objektcharakter hat, ist im Grunde bereits festgelegt, dass er gegenüber Dritten oder Dingen nur Konkurrent, nicht Partner sein kann. Aus dem ursprünglichen Gegensatz zwischen den einzelnen Individuen entwickelt Freud ein Vergesellschaftungsmodell, dem ein quasi natürlicher formaler Demokratiebegriff immanent ist. Diese Ableitung formaldemokratischer Gleichheit ergänzt sich mit einer – später noch zu beschreibenden – Vorstellung natürlicher Unterschiede zur allgemeinen Beschreibung der Struktur des Sozialen. Es ist offenkundig, wie sehr diese auf den Voraussetzungen bürgerlicher Existenz beruhen, nicht nur deshalb, weil sie aus der Kontinuität der Entwicklung des bürgerlichen Individuums (Elternhaus – Schule) abgeleitet wird, sondern auch, weil, wie stets bei ähnlichen Konstruktionen, spezifische Elemente: die Rolle des Mädchens, klassenspezifische Unterschiede und so weiter beiseite gelassen werden, weil sie nicht
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integrabel wären, aber auch für die Konstitution von Freuds Gesellschaftsbild an dieser Stelle irrelevant sind. Sowohl dieser »demokratische« Aspekt der Ich-Ideal-Bildung als auch die pathologische soziale Integration des Ich-Ideals haben nicht nur einen gesellschaftlichen, sondern auch einen historischen Gehalt. Durch die Gleichheit der Voraussetzungen ist es für Freud keine besondere Schwierigkeit, die neuen Konzepte der Vergesellschaftung und ihre Anwendungen in die phylogenetische Kulturtheorie zu integrieren. »Die Psychologie dieser Masse, wie wir sie aus den oft erwähnten Beschreibungen kennen, – der Schwund der bewußten Einzelpersönlichkeit, die Orientierung von Gedanken und Gefühlen nach gleichen Richtungen, die Vorherrschaft der Affektivität und des unbewußten Seelischen, die Tendenz zur unverzüglichen Ausführung auftauchender Absichten, – das alles entspricht einem Zustand von Regression zu einer primitiven Seelentätigkeit, wie man sie gerade der Urhorde zuschreiben möchte. Die Masse erscheint uns so als ein Wiederaufleben der Urhorde. So wie der Urmensch in jedem Einzelnen virtuell erhalten ist, so kann sich aus einem beliebigen Menschenhaufen die Urhorde wieder herstellen; soweit die Massenbildung die Menschen habituell beherrscht, erkennen wir den Fortbestand der Urhorde in ihr« (S. 137). Während der Massenmensch auto- wie phylogentisch regrediert ist, hat das »reife« Individuum qua individuellem und stabilem Ich-Ideal sich von sich selbst emanzipiert und damit auch phylogenetisch den Zustand »Kultur« erreicht. Die Sozialpsychologie, welche Freud aus der Theorie des Ich-Ideals entwickelt, ist als Sozialpsychologie erheblich eingeschränkt, trägt aber, obwohl sie von Freud auf so genannte »Massenpsychologie« reduziert wurde, die gesamte Funktion und Bedeutung, die einer Sozialpsychologie zukäme. Dies ergibt sich aus der Stellung des Individuums im Rahmen der umfassenden Theorie und der des Ich-Ideals innerhalb der Persönlichkeitstheorie. Da das Ich-Ideal das einzige Medium der permanenten Verbindung des Ich mit der Außenwelt ist – anzumerken ist, dass zu diesem Zeitpunkt die Begriffe IchIdeal und Über-Ich von Freud noch synonym gebraucht werden und die spezifische Differenz beider von ihm nicht erkannt wird –, muss auch das daraus abgeleitete Konzept der Vergesellschaftung
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die ganze Last der Erklärung sozialer Interaktionsprozesse tragen. Indem Freud mit Hilfe dieses Konzeptes bestimmte soziale Erscheinungen beschreibt, kann er sie widerspruchsfrei in seine Kulturtheorie integrieren. Deren allgemeine Gesichtspunkte, welche keinerlei spezifische Differenzierungen zulassen und wiederum die »faits sociaux« außer Acht lassen, führt dazu, dass die großartigen sozialpsychologischen Einsichten, welche in Freuds Ansatz stecken, in einer Form vorgestellt werden, welche an vielen Stellen objektiv unangemessen ist und so deren wahren Gehalt verdeckt.
6.3. Die letzte Fassung der Triebtheorie Zu Beginn der 1920er Jahre hat Freud seine Theorie der Gesamtpersönlichkeit einer Revision unterzogen, die ihr dann die allgemein bekannte Form gab. Diese Revision betraf sowohl die Struktur- als auch die Triebtheorie, sie enthielt jedoch keine grundlegenden Neuerungen, sondern vollendete im Grunde nur die Entwicklungen, die innerhalb der Theorie längst vonstatten gegangen waren. Die eine Ursache dafür ist darin zu suchen, dass die Möglichkeiten der sozialen Erfahrbarkeit mit dem Instrumentarium, welches Freud zur Verfügung stand, weitgehend ausgeschöpft war, also keine qualitativ neuen Einsichten mehr auftreten konnten. Die andere Ursache ist in der inneren Dynamik zu suchen, der die Theorie vor allem auch durch ihre Funktion als Kulturtheorie unterlag. Dieser letzte Aspekt hatte innerhalb der psychoanalytischen Theorie eine Schwerpunktverlagerung eingeleitet, die die Psychoanalyse immer mehr von ihrem ursprünglichen Betätigungsfeld, den Neurosen und den ihnen zugrunde liegenden Libidoschicksalen, damit auch von ihrem konkreten Betätigungsfeld, wegführte in metapsychologische Überlegungen, die das empirische Material weitgehend nach kulturtheoretischen Gesichtspunkten und den Erfordernissen gesellschaftstheoretischer Vorstellungen gruppierten. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er eine dualistische Theorie vertreten, innerhalb derer er zwischen Sexual- und Ich-Trieben unterschied, abgesehen von monistischen Versuchen, die um den
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Begriff »Ich-Libido« konzentriert waren. Dabei waren es vor allem die Sexualtriebe, mit deren Entwicklung die Psychoanalyse sich beschäftigte, während die Ich-Triebe relativ unbeachtet blieben und lediglich die Funktionen der Erhaltung des Ich bezeichneten. Ihre Beziehung zur Entwicklung des Individuums blieb im Rahmen der Theorie relativ unproblematisch. An einer der wenigen Stellen, an denen Freud überhaupt auf sie hinweist, benutzt er zu ihrer Verdeutlichung das Bild »Hunger« (GW VIII, S. 97 f.). Dies ändert sich vollkommen nach der Entwicklung der Geschichtstheorie in »Totem und Tabu«, in der die bisherigen Ich-Triebe mit verändertem Inhalt eine gewichtige Rolle spielen. Für den sozialen Zusammenhang stellte in Freud phylogenetischen Konzept die Libido lediglich Material zur Verfügung, während der Egoismus als Prinzip der Ich-Triebe der heimliche Motor allen sozialen Geschehens war: »Das Sexualbedürfnis ist … nicht imstande, die Menschen in ähnlicher Weise wie die Anforderungen der Selbsterhaltung zu einigen; die Sexualbefriedigung ist zunächst die Privatsache des Individuums« (GW IX, S. 84 f.). Von nun an problematisiert die psychoanalytische Theorie nicht mehr die Umwandlung sexueller Impulse in sozial verwertbare Energien, sondern beschäftigt sich mehr und mehr mit dem Hervorgehen des bürgerlichen Individuums aus der notwendigen Entfremdung seiner ursprünglichen asozialen Gestalt, welche im Wesentlichen durch die Strukturen der – immer noch recht vage bestimmten – Ich-Triebe geprägt ist. Mit der Schwerpunktverlagerung von den Sexual- zu den IchTrieben ergab sich auch eine Schwerpunktverlagerung innerhalb der Ich-Triebe. Durch die allgemeinen Annahmen über die Grundstrukturen der sozialen Existenz rückte innerhalb der Ich-Triebe aggressives Verhalten gegen die Umwelt, noch ohne so bezeichnet zu werden, in den Vordergrund. Die Ich-Triebe umfassten auf dem Hintergrund der phylogenetischen Kulturtheorie immer weniger icherhaltende, physiologische Funktionen wie Hunger und Durst und immer mehr die gesellschaftstheoretisch relevanten Einstellungen und Beziehungen zur Umwelt, deren Qualität auf einem aprioristischen Gegensatz zwischen Individuum und Umwelt beruhte, welche dann zur Annahme einer primären Feindseiligkeit des ersteren der letzteren gegenüber führte. In den frühen Phasen der Theoriebildung, in denen sich Freud unmittelbar der Dar-
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stellung empirischer Phänomene widmete, spielte die Aggression weder eine eigenständige noch eine bedeutende Rolle. Sie tauchte zunächst lediglich in Verbindung mit sexuellen Verhalten auf (»sexuelle Aggression« – GW I, S. 386), um dann später in der ontogenetischen Entwicklungstheorie, welche sich auf die der sexuellen Triebe konzentriert, als natürliche Komponente »männlicher« Sexualität dargestellt zu werden. Ohne zunächst damit in Verbindung gebracht zu werden, fungiert daneben der so genannte »Bemächtigungstrieb« (GW V, S. 93/99) als Teil der Ich-Triebe. Der nächste Schritt der Entwicklung betraf dann die Interpretation der ödipalen Situation, in der sich eine ontologische Konkurrenz zwischen Vater und Sohn ergab, woraus sich im Zusammenwirken mit den sadistischen Komponenten der Liebe des Sohnes für die Mutter »aggressive Neigungen« (GW VII, S. 370) als konstitutives Element kindlichen Verhaltens hervorging. Erst in »Totem und Tabu« bringt Freud explizit »egoistische« und »aggressive« Verhaltensweisen unter dem Oberbegriff der Ich-Triebe zusammen, während sich gleichzeitig ihre Bedeutung für die Konstitution des bürgerlichen Individuums und ihr Stellenwert innerhalb der phylogenetischen Kulturtheorie herausstellten. Die verstärkte theoretische Relevanz fällt mit ihrer zunehmenden Identifizierung mit aggressiven oder Aggression erzeugenden Verhaltensweisen und der Entwicklung einer umfassenden Kulturtheorie zusammen. Für die letzte Revision der Triebtheorie sind neben diesem Bedeutungsgewinn der Aggression im weitesten Sinn noch einige weitere Elemente und Besonderheiten der psychoanalytischen Theorie und der Form, in welcher Freud seine Theorie auszudrücken pflegte, von Relevanz. Dies gilt in Bezug auf ihren Inhalt vor allem für eine frühere theoretische Bestimmung psychopathologischer Zustände, welche nun eine erweiterte Bedeutung gewinnt. Auf dem Hintergrund des »normalen« ontogenetischen Entwicklungszieles stellten sich alle psychopathologischen Reaktionen als Regression zu früheren psychischen Organisationsformen dar. Was sich im allgemeinen Verhalten des Neurotikers manifestierte, betrachtete Freud bald als in gewisser Weise normalen Vorgang der Rückkehr zu infantilen Entwicklungsstufen, mehr noch, als universale Tendenz, welche überhaupt der psychischen Entwicklung innewohnt. »Die … Gefahr einer so stufenweisen Entwick-
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lung liegt darin, daß auch die Anteile, die es weitergebracht haben, leicht in rückläufiger Bewegung auf eine dieser früheren Stufen zurückkehren können, was wir eine Regression nennen« (GW XI, S. 353). Ein weiteres inhaltliches Moment ergibt sich aus einer allgemeinen Tendenz, welche sich innerhalb der psychoanalytischen Theoriebildung in dem Maße, wie sie mit kulturtheoretischen Aufgaben beschäftigt war, ausgebildet hatte. Durch die gesellschaftstheoretischen Voraussetzungen und die Besonderheiten der Theorie selbst entwickelte sich, da Freud sich auf keinerlei spezifisch soziologische Argumente stützen konnte und wollte, ein immanenter Zwang zur theoretischen Regression auf das Individuum und im Individuum selbst auf anthropologische Zwänge. Nach »Totem und Tabu« neigte Freud dazu, zu deren Fundamentierung wiederum ganz auf psychologisch-anthropologische Argumentation zu verzichten und auf quasi biologische Gesetzmäßigkeit und Zusammenhänge zu rekurrieren. Formulierungen wie: »Das Individuum führt wirklich eine Doppelexistenz als sein Selbstzweck und als Glied einer Kette, der es gegen, jedenfalls ohne seinen Willen dienstbar ist. Es hält selbst seine Sexualität für eine seiner Absichten, während eine andere Betrachtung zeigt, daß es nur ein Anhängsel an sein Keimplasma ist, dem es seine Kräfte gegen eine Lustprämie zur Verfügung stellt, der sterbliche Träger einer – vielleicht – unsterblichen Substanz, wie ein Majoratsherr nur der jeweilige Inhaber einer ihn überdauernden Institution« (GW X, S. 143). Oder noch pointierter: »Die Biologie lehrt, daß die Sexualität nicht gleichzustellen ist mit den anderen Funktionen des Individuums, da ihre Tendenzen über das Individuum hinausgehen und die Produktion neuer Individuen, also die Erhaltung der Art, zum Inhalt haben. Sie zeigt uns ferner, daß zwei Auffassungen des Verhältnisses zwischen Ich und Sexualität wie gleichberechtigt nebeneinander stehen, die eine, nach welcher das Individuum die Hauptsache ist und die Sexualität als eine seiner Bedürfnisse wertet, und eine andere, der zu Folge das Individuum ein zeitweiliger und vergänglicher Anhang an das quasi unsterbliche Keimplasma ist, welches ihm von der Generation anvertraut wurde« (S. 218) – integrieren das Individuum, den Dreh- und Angelpunkt der Kulturtheorie, in noch größere, nicht mehr hinterfragbare Zusam-
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menhänge und haben somit auch Entlastungsfunktion. Gleichzeitig erfüllt diese theoretische Regression zur »Biohermeneutik«, mit deren Hilfe das soziale Geschehen letzten Endes aus allgemeinen biologischen Strukturen abgeleitet wird, noch einen anderen Anspruch Freuds: den auf das, was man die »große Vereinfachung« der Theorie nennen konnte. Bei aller Reflexion und Komplexität der Theorie hat Freud stets versucht, sie in der Darstellung auf einfache Polaritäten und populäre Bilder, oft aus dem klassischen Bildungsschatz stammend, zu reduzieren. In diesem Zusammenhang gehören auch »kulturpolitische« Erörterungen, die Freud in dem Aufsatz »Zeitgemäßes über Krieg und Tod« anstellt (1915). »Die Enttäuschung des Krieges« – das ist der Titel des ersten Abschnitts – besteht für den »Kulturweltbürger«, den onto- wie phylogenetisch in »Totem und Tabu« extrapolierten Menschen, darin, dass sich die bürgerliche Kultur als Illusion herausgestellt hat. Die »sittlichen Normen« von Individuen und »Großindividuen«, das heißt Staaten, zerfielen umstandslos, weil der Krieg die »späteren Kulturauflagerungen« abstreift und »den Urmenschen in uns wieder zum Vorschein kommen lässt«, das heißt jene oben beschriebene Konsequenz pathologischer Vergesellschaftungsformen, denen es nicht gelingt, den Urmenschen gründlich zu überwinden, aktualisiert: An die Stelle des von seinem Ich-Ideal autonom gesteuerten Individuums tritt der Massenmensch. »Die Enttäuschung des Krieges« liegt nach Freud weniger im Krieg selbst, sondern in dessen Erscheinungsform begründet. Der psychoanalytischen Kulturtheorie fällt es nicht schwer, diese zu erklären. Die Frage nach den Ursachen der individuellen Kulturlosigkeit wird von Freud durch den doppelten Rückgriff auf die Triebtheorie und die phylogenetische Theorie der Kultur beantwortet. Danach besteht die Ausstattung des Menschen aus »primitiven« Regungen, unter denen die egoistischen und aggressiven eine bedeutende Rolle spielen. Diese asozialen Triebe werden erst später entweder sozial integriert und verwandelt, oder aber unterdrückt. »Kultur ist durch Verzicht auf Triebbefriedigung gewonnen worden und fordert von jedem neu Ankommenden, daß er denselben Triebverzicht leiste. Während des individuellen Lebens findet eine ständige Umsetzung von äußerem Zwange in inneren
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Zwang statt. Die Kultureinflüsse leiten dazu an, daß immer mehr von den eigensüchtigen Strebungen durch erotische Zusätze in altruistische, soziale verwandelt werden. Man darf endlich annehmen, daß aller innere Zwang ursprünglich, d. h. in der Menschheitsgeschichte nur äußerer Zwang war« (S. 333). Äußerer Zwang ist jedoch insofern eine zweischneidige Sache, als er ebenso gut wie seine Internalisierung auch eine oberflächliche Anpassung zur Folge haben kann. Diese beiden Reaktionen sind phänomenologisch gleich und die »von praktischen Absichten geleitete Gesellschaft« interessiert sich nur für das Resultat der Anpassung, nicht für deren Grundlage. So kann es kommen, dass in besonderen Situationen sozusagen der kulturelle Putz bei vielen abbröckelt und ein anderes, immer noch egoistisches und aggressives Ich wieder zum Vorschein kommt. Diese Situation, welche sich jetzt im Krieg äußert, ist von der »Kulturgesellschaft« zumindest mitverursacht. Dadurch, dass Anpassung an ihre Gebote den einzelnen Erfolg versprach, hat sie »eine große Zahl von Menschen zum Kulturgehorsam gewonnen, die dabei nicht ihrer Natur folgen. Durch diesen Erfolg ermutigt, hat sie sich verleiten lassen, die sittlichen Anforderungen möglichst hoch zu spannen und so ihre Teilnehmer zu noch weiterer Entfernung von ihrer Triebveranlagung gezwungen« (S. 335). Auf dem Gebiet der Sexualität kommt es so zur Entstehung von Neurosen. »Der sonstige Druck der Kultur zeitigt zwar keine pathologischen Folgen, äußert sich aber in Charakterverbildungen und in der steten Bereitschaft der gehemmten Triebe, bei passender Gelegenheit zur Befriedigung durchzubrechen. Wer so genötigt wird, dauernd im Sinne von Vorschriften zu reagieren, die nicht der Ausdruck seiner Triebregungen sind, der lebt, psychologisch verstanden, über seine Mittel und darf objektiv als Heuchler bezeichnet werden, gleichgültig ob ihm diese Differenz klar bewußt ist oder nicht. Es ist unleugbar, daß unsere gegenwärtige Kultur die Ausbildung dieser Art von Heuchelei in außerordentlichem Umfang begünstigt« (S. 336). Unter diesen Umständen ist der kulturelle Zustand ausgesprochen ambivalent. Zum einen muss jeder Ausnahmezustand dazu führen, dass die große Masse der »Kulturheuchler« die Gelegenheit dazu benutzen, den bisher nur oberflächlich unterdrückten Trieben freien Lauf zu lassen. Auf der anderen Seite fragt sich, »ob ein gewisses Maß
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von Kulturheuchelei nicht zur Aufrechterhaltung der Kultur unerlässlich sei, weil die bereits organisierte Kultureignung der heute lebenden Menschen vielleicht für diese Leistung nicht zureichen würde« (S. 336). Zusätzlich »bietet die Aufrechterhaltung der Kultur auch auf so bedenklicher Grundlage die Aussicht, bei jeder neuen Generation eine weitergehende Triebumbildung als Trägerin einer besseren Kultur anzubahnen« (S. 336). Vom Standpunkt der phylogenetischen Kulturtheorie betrachtet ist daher der Krieg und alle die Erscheinungen, die er verursacht hat, keine Enttäuschung, sondern nur das offenkundige Ende der Illusion, die Kultur sei verwirklicht. Der durch ihn eingeleitete massenhafte individuelle Regressionsprozess ist nichts Rätselhaftes und Unerwartetes, aber auch kein Grund zur Verzweiflung. Es steht zu erwarten, dass nach Beendigung des Krieges sich beim Einzelnen wieder die kulturell notwendige »Triebveredelung« einstellt. Außerdem ist anzunehmen, dass auch die »Großindividuen«, die Völker, als Ganzes eine ähnliche Entwicklung durchmachen. Sie »wiederholen vielleicht die Entwicklung der Individuen und treten uns heute noch auf sehr primitiven Stufen der Organisation, der Bildung höherer Einheiten, entgegen. Dementsprechend ist das erziehliche Moment des äußeren Zwangs zur Sittlichkeit, welches wir beim Einzelnen so wirksam fanden, bei ihnen noch kaum nachweisbar« (S. 340). Freuds Interpretation des Geschehens im Ersten Weltkrieg mit Hilfe der entwickelten phylogenetischen Kulturtheorie demonstriert deren Aporien. Die Interpretationen verdeutlichen nicht nur die Konsequenzen von Freuds soziologischer Denkweise, sondern auch die theoretischen Zugzwänge, in die er durch sie gerät. Weil Freud im Zuge seiner idealistischen Rekonstruktion des Sozialen mit Hilfe von Einheitsbegriffen weder innerhalb der sozialen Organisationsform, von ihm zum Subjekt ernannt, noch innerhalb »der« Menschen und damit erst recht nicht innerhalb der Beziehungen der von ihm beschriebenen verdinglichten Pole des Sozialen differenzieren kann, kann er zwar noch den intrapsychischen Ausdruck allgemeiner Widersprüche festhalten, ist jedoch gleichzeitig gezwungen, im Rahmen reduktionistischer Kausallogik jenen zu ontologisieren. Der latente Geschichtsoptimismus von »Totem und Tabu« wird so zum pessimistischen Optimismus, zur
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Aufforderung, die Wahrheit nicht nur zu akzeptieren, sondern zu »fatieren« – die Unbegreifbarkeit des sozialen Geschehens zwingt zur Resignation. Diese theorieimmanenten Tendenzen und die aus ihnen resultierenden Konsequenzen der Rekonstruktion sozialen Geschehens werden von Freud in dem Aufsatz »Jenseits des Lustprinzips« metapsychologisch auf den Begriff gebracht. Die darin durchgeführte Neuformulierung der Triebtheorie ist, als Fluchtpunkt der soziologisch restringierten Theorie, ein letzter großangelegter Versuch, die Grundlagen kulturhermeneutischen Interpretierens zu legen und gleichzeitig den unterschiedlichen inhaltlichen und formalen Aspekten der Theorie, wie sie sich im Verlauf ihrer Entwicklung herausbildeten, gerecht zu werden. Dabei ergibt sich auf dem Hintergrund des aus der teleologischen »Biohermeneutik« – unter Zuhilfenahme des Wiederholungszwanges – abgeleiteten »konservativen« Charakters der Triebe ein Konzept, welches die Widersprüche der Wirklichkeit vor allem aus dem Doppelcharakter der Triebe selbst entwickelt: Sie sind zwar die Kräfte, die nach »Veränderung und Fortschritt« streben, doch gleichzeitig ist dies für sie nur – erzwungener – »Umweg zum Tod«. Nun erscheinen Ich- und Sexualtriebe nicht mehr getrennt, sondern als eine den Todestrieb gegenüberstehende Einheit. Der durch die theoretischen Entwicklungen seit »Totem und Tabu« entstandene Widerspruch zwischen der Entwicklung von Kultur aus dem Individuum heraus, ohne dass diese Entwicklung selbst und ihre spezifischen Erscheinungen, besonders der für den »Kulturweltbürger« Freud desillusionierenden, interpretiert werden konnten, ist nun aufgelöst, ohne dass die problemlösende Funktion des Modells für die Theorie insgesamt verloren gegangen wäre. Das Individuum, nach wie vor nervus rerum der gesamten Wirklichkeit, ist nun in einem Gesamtplan integriert, welcher beides, sowohl die Qualität der Sexual- und Ich-Triebe als Selbstbewusstsein und selbstbewusstes Handeln des Individuums, als auch dessen Fremdsteuerung durch die Liste des Keimplasmas erfasst, die Theorie nun soweit fundiert, dass ihre Zusammenhänge erhalten bleiben können und Freud gleichzeitig imstande ist, die Ambivalenz von Kultur, so wie sie sich für ihn darstellte, quasi durch unterschiedliche »Standpunkte« innerhalb derselben Theorie zu erklären.
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Die vortheoretische Gewissheit, welche sich in die psychoanalytische Forschung hinein fortgesetzt hatte und deren Orientierungspunkt war, hatte sich im Verlauf der Entwicklung der Psychoanalyse in Kulturtheorie transformiert und war von ihr abgelöst worden. Der Versuch, die Wirklichkeit mit Hilfe der psychoanalytischen Erkenntnisse zu interpretieren, ohne deren Beschränkung und begriffliche Widersprüchlichkeit zu berücksichtigen, führte zu einer Dynamik innerhalb der Theorie, welche formal wie inhaltlich die Theorie veränderte. Mehr und mehr wurde die Anthropologie zum Träger der gesellschaftstheoretischen Interessen und wurde zur Erklärung der in sich widersprüchlichen Wirklichkeit herangezogen. Die jeweiligen Entwicklungsstufen der Theorie entfernten sich mehr und mehr von der konkreten Realität. Nun, in der letzten Fassung der Triebtheorie ist sie nur noch in sehr abstrakter und vermittelter Form erkennbar. Was sich jedoch durch die gesellschaftstheoretischen Ausgangspositionen Freuds bedingt in der Theorie herauskristallisierte, erschien Freud Ergebnis objektiver Forschung zu sein. Was in der Tat durch die Widersprüchlichkeit der Wirklichkeit verursacht war, wurde von ihm deshalb theoretisch ontologisiert. Die Umstände, die die Ambivalenz von Individuum und Gesellschaft verursachten, schienen ihm durch das Individuum selbst verursacht. Selbst wenn deshalb die Theorie resignative Züge gewinnt und Formulierungen enthält, die dem Gesichtsfeld konservativer Kulturkritik entstammen, so ist doch festzuhalten, das Freud, wenn auch in anderer als der von ihm selbst konzipierten Form, die Wirklichkeit der bürgerlichen Gesellschaft theoretisch abbildete und sie nicht vorschnell harmonisierte. Bis zu diesem Zeitpunkt war Freud indirekt davon ausgegangen, dass die Begriffe »Ich« und »Individuum« mehr oder weniger identisch seien. Das Ich selbst hatte im Entwicklungsgang der Theorie einen regelrechten Schrumpfungsprozess durchgemacht: Als Motor seines Handelns hatten sich mehr und mehr die Triebe und die Ansprüche der Außenwelt entpuppt und die Funktion der Selbststeuerung war tendenziell auf das Ich-Ideal übergegangen. Auch der kulturtheoretische Aspekt des Individualbegriffs, nach dem jeder einzelne virtuell auch primitiver Urmensch ist, dem nur eine dünne kulturelle Schicht aufsitzt, hatte die Identität zwischen
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Ich und Individuum im Grunde längst revidiert. Er greift einen Ausdruck von Groddeck für das Unbewusste auf und formuliert nun: »Ein Individuum ist nun für uns eine psychisches Es, unerkannt und unbewußt, diesem sitzt das Ich oberflächlich auf« (S. 251). Der zunehmende Rekurs auf die Triebstruktur als eigentliche Quelle des sozialen Geschehens mündet in eine erhebliche Bedeutungsverringerung des eigentlichen Ichs für die Gesamtpersönlichkeit, während seine Funktionen weiterhin zentralen Stellenwert besitzen. »Das Ich repräsentiert, was man Vernunft und Besonnenheit nennen kann, im Gegensatz zum Es, welches die Leidenschaft enthält. … Die funktionelle Wichtigkeit des Ichs kommt darin zum Ausdruck, daß ihm normalerweise die Herrschaft über die Zugänge zur Mobilität eingeräumt ist. Es gleicht so im Verhältnis zum Es dem Reiter, der die überlegene Kraft des Pferdes zügeln soll, mit dem Unterschied, daß der Reiter dies mit eigenen Kräften versucht, das Ich mit geborgten. Dieses Gleichnis trägt noch ein Stück weiter. Wie dem Reiter, will er sich nicht vom Pferd trennen, oft nichts anderes übrig bleibt, als es dahin zu führen, wohin es gehen will, so pflegt auch das Ich den Willen des Es in Handlung umzusetzen, als ob es der eigene wäre« (S. 253). Das Gleichnis vom Reiter signalisiert das Ende der Reflexion über den Persönlichkeitsbegriff, die ihren Ausgangspunkt hatte in der Kollision zwischen der in der Vorstellung vom autonomen Individuum gipfelnden gesellschaftstheoretischen Positionen und der gesellschaftlichen Wirklichkeit und ihrer Erkenntnis. Die Versuche, diese Gegensätze zu versöhnen, führten unter den allgemeinen Bedingungen der Kulturtheorie zu einer Verselbständigung der Theorie gegenüber ihrem Ausgangspunkt und auch zur Entfernung von der konkreten Wirklichkeit. Ihr letztes Ergebnis ist wohl ein Kompromiss, aber auch eine Kapitulation vor den Antinomien der Wirklichkeit. Die Struktur der Theorie (und ihre Voraussetzungen), welche sich aufmachte, die Bedingungen der Verwirklichung des Ich zu finden, verhindern die Einsicht, dass sowohl das Verhältnis zwischen bürgerlicher Gesellschaft als auch der Begriff des »autonomen Individuums« selbst in sich widersprüchlich sind, weil ihre soziologische Dimension nicht tragfähig genug für ihre Einsicht war. Das Ernstnehmen des aufklärerischen Anspruchs, das Ich zu erkennen, um es zu verbes-
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sern, führte unter den Umständen seiner schlechten Verwirklichung zu Ergebnissen, die zwangsläufig im Gegensatz standen zu der vorausgehenden Annahme seiner, zumindest tendenziell, bestmöglichen Verwirklichung in der bürgerlichen Gesellschaft. Weil die Unmittelbarkeit dieser Voraussetzung die Einsicht in die historische Bedingtheit dieses Gegensatzes verhinderte, musste Freud sich in seiner Erklärung in eine pessimistisch gefärbte Anthropologie flüchten, die Anspruch und Wirklichkeit des bürgerlichen Individuums nur mit Hilfe von dessen theoretischer Negation vereinbaren konnte. Darin zeigt sich, wie Aufklärung ohne adäquate Reflexion der gesellschaftlichen Widersprüche zur Gegenaufklärung werden kann, wenn sie ihre eigenen Einsichten nicht verleugnen will. Aber noch in ihrer letzten, chiffrierten und metaphorischen Form enthält Freuds Theorie mehr Erkenntnisse über die Wirklichkeit als die der meisten seiner Kritiker und Nachfolger. Freud nimmt in diesem Aufsatz noch eine weitere Korrektur der Theorie der Persönlichkeit vor, die sich auf die Stellung des Ich-Ideals und seinen Inhalt bezieht (S. 262 f.): Die Genese der interpsychischen Steuerungsinstanz wird von Freud nun mit dem Ausgang des Ödipus-Komplexes in Verbindung gebracht, sie ist das Ergebnis einer bedeutsamen »Verdrängungsleistung«, die nur durch die Übernahme der väterlichen Normen und dessen, wofür sie stehen, zu leisten ist. Die nun Über-Ich genannte Instanz wird nicht mehr aus dem primären Narzissmus abgeleitet, den Freud auf dem Hintergrund der neuen dualistischen Triebtheorie als sekundäre Bildung (S. 275) betrachtet. Während die Ich-Ideal-Bildung, wie Freud sie aus dem primären Narzissmus ableitet, in gewisser Weise noch mit dem ureigensten Interesse des Ich in Verbindung stand, leitet sich das Über-Ich aus von Freud so bezeichneten biologischen Faktoren ab, »der langen kindlichen Hilflosigkeit und Abhängigkeit des Menschen und der Tatsache seines Ödipuskomplexes, den wir ja auf die Unterbrechung der Libidoentwicklung durch die Latenzzeit, somit auf den zweiseitigen Ansatz seines Sexuallebens zurückgeführt haben. Letztere, wie es scheint, spezifisch menschliche Eigentümlichkeit hat eine psychoanalytische Hypothese als Erbteil der durch die Eiszeit erzwungenen Entwicklung zur Kultur hingestellt. Somit ist die Sonderung des Über-Ichs
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von Ich nichts Zufälliges, sie vertritt die bedeutsamsten Züge der individuellen und der Artenentwicklung« (S. 263). In vermittelter Weise spiegeln sich in dieser letzten Fassung der Theorie der Persönlichkeit sowohl die allgemeine Antinomie bürgerlicher Existenz, das rationale Leben und das »gelebt werden«, als auch die konkreten Dimensionen bürgerlicher Existenz: asozialer Egoismus – Kontrolle, Reflexion, Leistung, Genuss –, Unterwerfung unter die Normen. Nach wie vor steht das Individuum im Mittelpunkt des sozialen Geschehens, von der sich die Diskussion im Übrigen längst entfernt hat, es ist doch jetzt unterteilt in das Ich und dessen biologisch vorgegebenen Partner und Widersacher Es und Über-Ich. Der Konstitutionsprozess der Kultur erscheint nun im Wesentlichen bedingt durch biologisch-physikalische Besonderheiten, sein Verlauf durch Triebstrukturen geprägt. Ohne diese seine Vorgeschichte ablegen zu können, taucht das Individuum als vorprogrammiertes Endprodukt der Entwicklung auf. Sein Ich ist seine Stärke, seine Abhängigkeit von Es und Über-Ich seine Schwäche. So ist es einerseits ein »armes Ding«, ein »unterwürfiger Knecht« des Es (S. 286 f.), aber: »Es entzieht dem Es Libido, bildet die Objektbesetzungen des Es zu Ichgestaltungen um« (S. 285). Die Theorie der Persönlichkeit ist so im inhaltlichen wie im formalen Sinn doppeldeutig. Inhaltlich entspricht sie dem optimistischen Pessimismus, gibt beiden Argumente und auch ein Motiv für das kulturpolitische Engagement der Psychoanalyse: »Die Psychoanalyse ist ein Instrument, welches dem Ich die fortschreitende Eroberung des Es ermöglichen soll« (S. 286). Formal trägt sie sowohl dem der Kulturtheorie immanenten Kausalitätsbedürfnis, welches in theoretischer Regression mündet, Rechnung, als auch dem psychologischen Charakter der psychoanalytischen Theorie.
7. Die explizierte Kulturtheorie und ihre Aspekte
7.1. Die explizierte Kulturtheorie Mit der letzten Revision der Metatheorie, in der »anthropologisierten« psychoanalytischen Trieb- und Persönlichkeitstheorie, sind sowohl Freuds psychologische Bemühungen als auch seine kulturhermeneutischen Interessen zu sich selbst gekommen. Sie werden identisch in dem Moment, wo sie in der beiden adäquaten Form ineinander aufgelöst werden. Die vortheoretischen Gewissheiten, von denen Freud ausging und welche sich über denkstrukturelle und inhaltliche Konstituentien in die Theorie hinein vermittelten, sind nun in jener aufgehoben, wodurch umgekehrt die Theorie das »Reifestadium« erreicht hat: Sie ist als nunmehr ubiquitäre der Totalität der Wirklichkeit angemessen. Die impliziten Voraussetzungen, die Wandlungen, welche sie im Verlauf der Theorieentwicklung erfuhren und die Konsequenzen, die sie, im dialektischen Prozess theoretischer Revisionen, auslösten, sind beschrieben worden. Was bleibt – und was Freud jetzt auch tut –, ist eine nochmalige umfassende Darstellung und »Anwendung« der in sich geschlossenen Theorie. Die Texte, in denen Freud dies unternimmt: »Die Zukunft einer Illusion« (1927), »Das Unbehagen in der Kultur« (1930) und »Warum Krieg?« (1933), sind jetzt allerdings keine psychoanalytische und auch keine Kulturtheorie im eigentlichen Sinne mehr. Sie verstehen sich, dem Selbstverständnis Freuds entsprechend, als umfassende Explikation des Zusammenhangs des Sozialen, in deren Rahmen die Ausgangspositionen nur noch als vermittelte, oft unerkennbar auftauchen, weil sie, als in psychoanalytischen Kategorien aufgehobene, »reine Wissenschaft« geworden sind. Wer ihre Entwicklung nicht begreift, fällt – so oder so – auf ihre verdinglichte Gestalt herein und kommt nicht darüber hinaus, sie als »ideologisch« abzuqua-
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lifizieren oder über die Inhalte der Theorie zu »philosophieren«, was Freud ja gerade verhindern wollte. Auf ein ausführliches Referat kann verzichtet werden, weil im Wesentlichen nur die Positionen, die bereits skizziert wurden, erneut im Zusammenhang beschrieben werden, zudem die genannten Texte hinreichend bekannt sind. Freud konstruiert einen Naturzustand à la Hobbes, den er mit der »Kultur« vergleicht, und kommt zu dem Schluss, dass mit der Aufgabe des ersteren zwar »Freiheit« verschwunden, dafür aber Sicherheit gewonnen sei. Indem die einzelnen in der Kultur sich jedoch quasi gegen ihre eigene Unmittelbarkeit solidarisieren, bleibt jedoch ein Stück »Unbehagen«: die Tatsache, »daß jede Kultur auf Arbeitszwang und Triebverzicht beruhe« (GW XIV, S. 331). Dazu kommt, dass die ursprüngliche Triebstruktur des Menschen in sich gespalten ist, sie ermöglicht Kultur durch die konstruktiven Leistungen der libidinösen und mit ihnen amalgierten aggressiven Impulse, sie gefährdet sie jedoch gleichzeitig: durch seinen Destruktionstrieb ist jeder zugleich auch, wie Freud schreibt, »virtuell ein Feind der Kultur« (GW XIV, S. 327). Das Verhältnis des Einzelnen zur Kultur ist aus diesem Grund doppelbödig: Ihre Rationalität vertritt seine eigenen rationalen Interessen und Fähigkeiten, kollidiert aber mit seinen ursprünglichen Triebimpulsen. Die Antinomie der Kultur ist in Wirklichkeit eine des Individuums, dessen »Unbehagen« aus seiner inneren Widersprüchlichkeit resultiert. Deshalb muss die Kultur zur Durchsetzung der rationalen Interessen der Einzelnen seine asozialen und kulturell dysfunktionalen abwehren. »Infolge dieser primären Feindseligkeit der Menschen gegeneinander, ist die Kulturgemeinschaft beständig vom Zerfall bedroht. Das Interesse der Arbeitsgemeinschaft würde sie nicht zusammenhalten, triebhafte Leidenschaften sind stärker als vernünftige Interessen. Die Kultur muß alles aufbieten, um den Aggressionstrieben der Menschen Einhalt zu bieten, ihre Äußerungen durch psychische Reaktionsbildungen niederzuhalten« (S. 471). Aber mit diesen »psychischen Reaktionsbildungen« allein ist es meist nicht getan. Neben diesen Formen der indirekten Abwehr tritt der unmittelbare Zwang. »Weil jeder Einzelne virtuell ein Feind der Kultur ist, … (muß sie) gegen den Einzelnen verteidigt werden und ihre Einrichtungen, Institutionen
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und Gebote stellen sich in den Dienst dieser Aufgabe; sie bezwecken nicht nur, eine gewisse Güterverteilung herzustellen, sondern auch diese aufrechtzuerhalten, ja sie müssen gegen die feindseligen Regungen der Menschen all das beschützen, was der Bezwingung der Natur und der Erzeugung von Gütern dient« (S. 326 f.). Innerhalb der zwei Aspekte von Kultur, die für Freud deren Wesen ausmachen: Beherrschung der äußeren und der inneren Natur ergibt sich so eine Schwerpunktverlagerung. »Man hat … mit der Tatsache zu rechnen, daß bei allen Menschen destruktive, also antisoziale und antikulturelle Tendenzen vorhanden sind und daß diese bei einer großen Anzahl von Personen stark genug sind, um ihr Verhalten in der Gesellschaft zu bestimmen. Dieser psychologischen Tatsache kommt eine entscheidende Bedeutung für die Beurteilung der menschlichen Kultur zu. Konnte man zunächst meinen, das Wesentliche an dieser sei die Beherrschung der Natur zur Gewinnung von Lebensgütern und die ihr drohenden Gefahren ließen sich durch eine zweckmäßige Verteilung derselben unter den Menschen beseitigen, so scheint jetzt das Schwergewicht vom Materiellen weg aufs Seelische verlegt. Es wird entscheidend, ob und inwieweit es gelingt, die Last der den Menschen auferlegten Triebopfer zu verringern, sie mit den notwendig verbleibenden zu versöhnen und dafür zu entschädigen« (S. 328). Der wichtigste Aspekt der kulturellen Entwicklung ist nicht die Auseinandersetzung mit der Natur, welche unter günstigen Bedingungen permanent fortschreitet, sondern die Veränderung der für die soziale Interaktion entscheidenden intrapsychischen Struktur der Individuen. Durch die, in Kapitel 5 beschriebene »objektivistische« Wendung der Kulturtheorie und die damit zusammenhängende dünne soziologische Basis von Freuds Argumentation kann sie dieses Postulat: die Versöhnung von Individuum und Gesellschaft theoretisch nicht mehr erfüllen. War früher mit dem Anspruch der »Leistungs- und Genussfähigkeit« noch ein prinzipiell individuell und soziales Kriterium von Identität des Einzelnen gegeben, so hat nun gerade dessen Uneinlösbarkeit; seine reale gesellschaftliche und seine intratheoretische Widersprüchlichkeit, auf eine Position gezwungen, deren Konsequenzen sich im o.a. Begriff der »psychischen Reaktionsbildung« andeutet. Die Versöhnung von
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Individuum und Gesellschaft qua Reaktionsbildung hat das noch explizit angegebene Ziel einer ichsyntonen psychosozialen Identität explizit bereits aufgeben müssen; innerer und äußerer Zwang treten an ihre Stelle. In diesem Zusammenhang erst entfaltet Freuds großartige Theorie der internalisierten Fremdsteuerung, des Über-Ich, seine volle kulturtheoretische Bedeutung. Denn sein denkstruktureller subjektivistischer Objektivismus, der Realdialektik verdinglicht und ins Subjekt verlagert, und sein inhaltlicher pessimistischer Optimismus, mit dessen Hilfe er die Einheit der Widersprüche des Sozialen zu erfassen sucht, werden integriert in einer monomedialen Theorie des Zusammenhangs von Individuum und Gesellschaft, die sowohl den Strukturbesonderheiten als auch den inhaltlichen Fixpunkten der Kulturtheorie entspricht. »Es ist nicht richtig, daß die menschliche Seele seit den ältesten Zeiten keine Entwicklung durchgemacht hat und im Gegensatz zu den Fortschritten der Wissenschaft und der Technik heute noch dieselbe ist wie zu Anfang der Geschichte. Einen dieser seelischen Fortschritte können wir hier nachweisen. Es liegt in der Richtung unserer Entwicklung, daß äußerer Zwang allmählich verinnerlicht wird, indem eine besondere seelische Instanz, das Über-Ich des Menschen, ihn unter seine Gebote aufnimmt. Jedes Kind führt uns den Vorgang einer solchen Umwandlung vor, wird erst durch sie moralisch und sozial. Die Erstarkung des Über-Ichs ist ein höchst wertvoller psychologischer Kulturbesitz. Die Personen, bei denen sie sich vollzogen hat, werden aus Kulturgegnern zu Kulturträger. Je größer ihre Anzahl in einem Kulturkreis ist, desto gesicherter ist diese Kultur, desto eher kann sie der äußeren Zwangsmittel entbehren« (S. 332). Allerdings kann nicht davon ausgegangen werden, dass in der Gegenwart die Stärke des Über-Ich allgemein verbreitet ist, selbst wenn die »ältesten Kulturforderungen« nicht mehr übertreten werden. Das Ausmaß der Verinnerlichung der Kulturvorschriften »ändert sich, wenn man sich zu den anderen Triebanforderungen wendet. Man merkt dann mit Überraschung und Besorgnis, daß eine Überzahl von Menschen den diesbezüglichen Kulturverboten nur unter dem Druck des äußeren Zwanges gehorcht, also nur dort, wo er sich geltend machen kann und solange er zu befürchten ist. Dies trifft auch auf jene so genannten moralischen Kultur-
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forderungen zu, die in gleicher Weise für alle bestimmt sind. Das meiste, was man von der moralischen Unzuverlässigkeit der Menschen erfährt, gehört hierher. Unendlich viele Kulturmenschen, die vor Mord oder Inzest zurückschrecken würden, versagen sich nicht die Befriedigung ihrer Habgier, ihrer Aggressionslust, ihrer sexuellen Gelüste, unterlassen es nicht, den Anderen durch Lüge, Betrug, Verleumdung zu schädigen, wenn sie dabei straflos bleiben können, und das war wohl seit vielen kulturellen Zeitaltern immer ebenso« (S. 332 f.). Weder rationale Einsicht noch die Stärke des Über-Ich sind in der Lage, der Kultur in der Masse der Einzelnen eine solide Grundlage zu verschaffen, so dass die Erhaltung der Kultur mit Notwendigkeit des Zwanges bedarf – dem Bedeutungszuwachs des individuellen Über-Ich entspricht der des sozialen, der institutionellen Autorität. Sie wird gerade im Namen des liberalen Ideals von gesellschaftlicher Rationalität restituiert, was für die politische Organisation bedeutet, dass die Abwesenheit des reflektierten und rationalen Individuums durch elitäre Führung ersetzt werden muss. »Ebenso wenig wie den Zwang zur Kulturarbeit, kann man die Beherrschung der Masse durch eine Minderzahl entbehren, denn die Massen sind träge und einsichtslos, sie lieben den Triebverzicht nicht, sind durch Argumente nicht von dessen Unvermeidlichkeit zu überzeugen und ihre Individuen bestärken einander im Gewährenlassen ihrer Zügellosigkeit. Nur durch den Einfluß vorbildlicher Individuen, die sie als ihre Führer anerkennen, sind sie zu den Arbeitsleistungen und Entsagungen zu bewegen, auf welche der Bestand der Kultur angewiesen ist. Es ist alles gut, wenn diese Führer Personen von überlegener Einsicht in die Notwendigkeit des Lebens sind, die sich zur Beherrschung ihrer eigenen Triebwünsche aufgeschwungen haben. Aber es besteht für sie die Gefahr, daß sie um ihren Einfluß nicht zu verlieren, der Masse mehr nachgeben als diese ihnen, und darum erscheint es notwendig, daß sie durch Verfügung über Machtmittel von der Masse unabhängig seien« (S. 328 f.). Auch wenn es gelingen sollte, die zusätzlichen Schwierigkeiten, die sich aus »fehlerhaften kulturellen Einrichtungen« (S. 329) ergeben, zu beheben, was zweifelhaft ist (vgl. S. 329), wäre es sehr unwahrscheinlich, dass die Utopie einer zwangfreien Kulturgemeinschaft erreicht würde. »Die Schranken der Erziehbarkeit set-
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zen … auch der Wirksamkeit einer solchen Kulturveränderung ihre Grenze. Man mag es bezweifeln, ob und in welchem Ausmaß ein anderes Kulturmilieu die beiden Eigenschaften menschlicher Massen, die die Führung der menschlichen Angelegenheiten so erschweren kann. Das Experiment ist nicht gemacht worden. Wahrscheinlich wird ein gewisser Prozentsatz der Menschheit – infolge krankhafter Anlage oder übergroßer Triebstärke – immer asozial bleiben, aber wenn man es nur zustande bringt, die kulturfeindliche Mehrheit von heute zu einer Minderheit herabzudrücken, hat man sehr viel erreicht, vielleicht alles, was sich erreichen läßt« (S. 330). Wie auch immer diese Akzentverlagerung innerhalb der Kultur aussehen mag, fest steht auf alle Fälle, »daß es keine Aussicht hat, die aggressiven Neigungen der Menschen abschaffen zu wollen« (GW XVI, S. 23). Dieser aprioristische Gegensatz zwischen der Kultur und dem Individuum ist nicht aufzuheben, sondern nur zu mildern. Damit sind die grundlegenden Elemente der entwickelten Theorie des Sozialen zusammengetragen und die Grundstrukturen der Kulturhermeneutik dargestellt. Von den ihr vorausgehenden Phasen der Kulturtheorie unterscheidet sich ihre letzte Ausgestaltung in formaler und zum Teil auch in inhaltlicher Hinsicht. Zum einen ist sie die erste alle Aspekte der sozialen Existenz der Gattung Mensch umfassende und explizit interpretierende Theorie, in der systematisch alle für Freud bedeutsamen Elemente aufgezählt und zueinander in Beziehung gesetzt werden. Zum anderen kommen, wie bereits erwähnt, die inhaltlichen Positionen in anderer Art und Weise zum Ausdruck oder ihr sinntragender Gehalt ist auf andere Bereiche der Theorie übergegangen. Zum dritten wäre noch von Bedeutung, dass nach Freuds eigenem Anspruch diese Fassung der Kulturtheorie nichts anderes mehr ist als die Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse auf das soziale Ganze, was ihm wegen seiner Vorstellungen über wissenschaftliche Erkenntnis im Allgemeinen wenig problematisch erscheint. Durch alle die Entwicklungsstufen der Theorie hindurch sind jedoch die Grundannahmen über die Voraussetzungen und Strukturelemente des Sozialen bei aller Reflexion dieselben geblieben. Dies gilt vor allem für das gesellschaftstheoretisch entscheidende System der Einheitsbegriffe, in dem Freuds Versuch der abstrakt-allgemeinen Erörte-
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rung des sozialen Zusammenhangs mündet. Während vorher auf dem Hintergrund jener »nebelhaft verschwindenden« Grundbegriffe Erfahrungen gesammelt wurden, geht Freud nun, nachdem diese systematisiert sind, stets vom Allgemeinen zum Speziellen, wobei damit auch die Richtung des kausalen Zusammenhangs angedeutet ist. Im Mittelpunkt steht »das« Individuum, genauer: das männliche Individuum, welches innerhalb »der« Kultur lebt. Die Theorie »des« Individuums erfasst dieses als bestehende Erscheinung, also in seiner gesellschaftlichen Wirklichkeit, und erklärt diese aus einer allgemeinen anthropologischen Struktur und der phylogenetischen Geschichte der Gattung. Die Entwicklung »der« Kultur ist von dieser Phylogenese abhängig, weil Kultur allgemein die Vertretung der rationalen Interessen aller ist, deren Ausgestaltung jedoch vom Entwicklungsstand der Gattung abhängt. Davon unabhängig ist die allgemeine Rationalität ihrer Funktion. Da aus diesem Grund »die« Kultur gar nicht für die Antinomien des Bestehenden verantwortlich sein kann, macht Freud sie am Individuum fest, an dem er sie auch am intensivsten wahrnimmt. Die Kultur, deren Herausbildung durch die Feindseligkeit der Natur, die die Entwicklungspotenzen der Gattung aktualisierte, verursacht wurde, ist gleichzeitig durch die destruktiven Tendenzen jedes Einzelnen permanent bedroht, muss deshalb gegen die Individuen verteidigt werden. Genau wie Hobbes leitet Freud aus dem Individuum und seinen Interessen die kollektive Organisationsform ab und stellt sie ihm unmittelbar gegenüber. Während jedoch Hobbes Theoretiker des naturrechtlichen Staatskonzeptes war, ist für Freud die naturrechtlich strukturierte Theorie des Sozialen und seiner Geschichte zusammen mit der Theorie des Individuums ein umfassender Versuch, die Wirklichkeit als Ganzes zu erkennen und gleichzeitig die Erkenntnisse der psychoanalytischen Forschung, so wie sie sich für ihn darstellen, darin zu integrieren. Er umfasst in chiffrierter Weise sowohl die Errungenschaft der bürgerlichen Gesellschaft, des demokratischen Anspruchs auf Selbstverwirklichung jedes Einzelnen, als auch die Wirklichkeit der schlechten und widersprüchlichen Verwirklichung des Individuums und sucht beides unter Einbeziehung der Vorgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft zu beschreiben, die, auf dem Hintergrund des Einheitsbegriffes, »Kultur« und ihrer
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Rekonstruktion aus dem Individuum heraus, nichts anderes sein konnte. Durch die Projektion des bürgerlichen Individuums und der bürgerlichen Gesellschaft (bzw. deren gesellschaftlichen Anspruchs) in die Geschichte, wurde eine echte Alternative zu beiden nicht mehr denkbar. Diese und die anderen metatheoretischen Konsequenzen und Weiterentwicklungen der Theorie führten dazu, dass die Theorie in ihrer letzten Fassung die Wirklichkeit nur noch festhalten, jedoch nicht mehr transzendieren kann. Das, was in diesen makrosoziologischen Konzepten zum Ausdruck kommt, ist im Grunde nur die allgemeine metatheoretische Zusammenfassung der Tendenzen, welche sich in den mehr konkreten soziologischen Vorstellungen, die Freud entwickelt, anbahnen. Die allgemeinen Polaritäten, von denen Freud ausgeht: der Gegensatz zwischen Gattung Mensch und Natur sowie der Gegensatz zwischen Gattungswesen Mensch und Kultur sind die auf den Begriff gebrachten Formen, in der sich die konkrete Wirklichkeit dem soziologisch restringierten, aber psychologisch sensibilisierten Denken darstellen. Auch in konkreteren Zusammenhängen ist es so, dass Freud die Wirklichkeit des Individuums so umfassend wie möglich darzustellen sucht, sich dabei aber begrifflich einschränkt auf eine Klassifizierung von dessen Verhalten, ohne die spezifischen Vergesellschaftungsformen und die spezifischen sozialen Zwänge dabei mit zu berücksichtigen. Stattdessen geht er von rationalistischen Konstruktionen aus, die allgemeinen Zwangscharakter besitzen, und analysiert auf deren Hintergrund das Bestehende mit Hilfe von daraus mit Verallgemeinerungen gewonnenen anthropologischen Kategorien, die erst dann historisiert werden. Dies führt dazu, dass die gegenseitige Bedingtheit dessen, was sich für Freud als die zwei Aspekte der Kultur darstellt, nur ganz formal behandelt wird. Freud führt aus: »Die beiden Richtungen der Kultur sind nicht unabhängig voneinander, erstens, weil die gegenseitige Beziehung der Menschen durch das Maß der Triebbefriedigung, das die vorhandenen Güter ermöglichen, tiefgreifend beeinflusst werden, zweitens, weil der einzelne Mensch selbst zu einem anderen in die Beziehung eines Gutes treten kann, insofern dieser seine Arbeitskraft benützt oder ihn zum Sexualobjekt nimmt, drittens aber, weil jeder Einzelne virtuell ein Feind der Kultur ist« (GW XIV, S. 326 f.). Es ist nicht nur die Tatsache,
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dass Freud diesem letzten Aspekt allein zentrale Bedeutung für den kulturellen Reproduktionsprozess zumisst, sondern im bedeutsamen Ausmaß auch die abstrakte Allgemeinheit der hier verwendeten Begriffe und deren Beziehung, durch welche sein Konzept gekennzeichnet wird. Weil der Begriff der Befriedigung darauf aufbaut, dass er inhaltlich nur subjektiv zu bestimmen ist (»Das Glück ist ein Problem der individuellen Libidoökonomie« – S. 442), also privatisiert wird, kann auch der Begriff des Gutes nicht weiter differenziert werden. Da beide Begriffe so nur abstrakt miteinander in Beziehung gesetzt werden und als ontologische Bestimmung fungieren, kann die Qualität beider sowie die gesellschaftliche Produktion von Bedürfnissen beispielsweise nicht erfasst werden. Auf der anderen Seite ist es kein Zufall, dass Freud sowohl die Ausbeutung der Arbeitskraft als auch die sexuellen Beziehungen vom handelnden Subjekt her betrachtet und beide unter dem Oberbegriff »Objektbeziehungen« zusammenfasst, eine Subsumierung, die vielleicht umgekehrt darauf schließen lässt, dass der Begriff »Objektbeziehung« selbst am Vorbild des Warencharakters der Objekte in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft gewonnen wurde. Unter diesen Bedingungen ist dann nur konsequent, wenn der Begriff der Arbeit als allgemeine Notwendigkeit, die sich aus den Strukturbedingungen der Kultur ergibt, vorausgesetzt und der Gattung als Ganzem zugeschrieben wird, welche sich mit der Natur auseinandersetzen muss. Danach wird erst wieder die Verteilung der produzierten Güter Gegenstand der Diskussion. Die gesellschaftliche Organisation der Arbeit in der Produktion erscheint als unproblematisch und wird als quasi naturwüchsig aus der Interaktion der Individuen hervorgehend und ohne eigenständige Bedeutung betrachtet. Die realen Antinomien der Organisation scheinen dann einerseits durch die Tendenzen, die jeder Objektbeziehung innewohnen, zum anderen durch den Zwang zur entfremdeten Arbeit begründet zu sein. Weil Freud, vom Individuum ausgehend, Arbeit und Befriedigung nur monokausal in Beziehung setzt, kann er auch die Qualität der Objektbeziehungen und die der Organisation der Arbeit nicht miteinander korrelieren. Die Auseinandersetzung mit der Natur scheint Freud von daher als Tätigkeit der Gattung wenig problematisch, wie allgemein
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die Beziehung zwischen Wissen und dessen Umsetzung. Daraus resultiert ein spezifisches Konzept der Interpretation realhistorischer Vorgänge, welches das phylogenetische ergänzt. »Der Einfluß (ist) unverkennbar, den die fortschreitende Beherrschung der Naturkräfte auf die sozialen Beziehungen der Menschen übt, indem sie die neugewonnenen Machtmittel immer auch in den Dienst ihrer Aggression stellen und gegeneinander verwenden. Die Einführung des Metalls, der Bronze, des Eisens hat ganzen Kulturepochen und ihren sozialen Institutionen ein Ende gemacht. Ich glaube wirklich, daß das Schießpulver, die Feuerwaffe Rittertum und Adelsherrschaft aufgehoben hat und daß der russische Despotismus bereits vor dem verlorenen Kriege verurteilt war, da keine Inzucht innerhalb der Europa beherrschenden Familien ein Geschlecht von Zaren hätte erzeugen können, fähig, der Sprengkraft des Dynamits zu widerstehen« (GW XV, S. 193). Freuds Ansicht über die Rolle technischen Fortschritts bei der historischen Veränderung ist vom mechanistischen Materialismus geprägt. Er geht davon aus, dass Wissen unmittelbar auch Macht im engeren Sinne des Wortes, Überlegenheit ist, eine Annahme, die offenkundig in der Tradition der Aufklärung steht. Damit erscheint ihm das, was auf Grund seiner Geschichtsbetrachtung »akzidentelle«, konkrete Geschichte im Gegensatz zu den wesentlichen phylogenetischen Vorgängen, als ein Kampf um die Macht, den stets der gewinnt, der die besseren Waffen besitzt. Diese allgemeine, ebenso strukturell immer richtige wie inhaltlich in dieser Form immer falsche Bestimmung, entspricht zwar dem traditionellen Geschichtsbild, ist aber mit dem an anderen Stellen verwendeten Einheitsbegriff »Gesellschaft« höchstens noch in dem Sinne zu vereinbaren, dass Gruppen um »die Gesellschaft« kämpfen. Darüber können jedoch nur Vermutungen angestellt werden, weil Freud selbst die verschiedenen Ebenen seiner Argumentation nicht zusammenbringt und wohl auch nicht zusammenbringen kann. Zum anderen sind mit diesem Modell Voraussetzungen gemacht, auf deren Hintergrund eine Analyse konkreter Vorgänge nicht mehr möglich ist, weil die Frage des gesellschaftlichen Ortes wissenschaftlicher und technischer Innovationen, die ihrer technischen Verwertung sowie allgemein die Frage der Beziehung von Herrschaft, Macht und Sozialstruktur nicht mehr problematisierbar sind. Die un-
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mittelbare Verknüpfung von technischem Fortschritt und gesellschaftlicher Veränderung impliziert jedoch bereits die Irrelevanz dieser Fragen; ein Ansatz, welcher letzten Endes wiederum vom Einheitsbegriff »Gesellschaft« ausgeht, zumindest jedoch von der in ihm angelegten Reduktion gesellschaftlicher Komplexität. Unter diesen Umständen allerdings bleibt der geschichtstheoretische Materialismus nicht nur oberflächlich, auch sein Erklärungswert bleibt gleich Null, weil er lediglich ex post einfache Kausalitätsbeziehungen herstellt, die beliebig sind: Ebenso gut hätte das Schießpulver auch die Macht des Adels stärken können; die wirklichen Gründe gesellschaftlichen Wandels bleiben diesem, die phylogenetische Theorie ergänzenden Modell verborgen. Die Abspaltung des konkreten historischen Geschehens von den wesentlichen phylogenetischen Vorgängen und der kurzschlüssige, mechanistische Geschichtsmaterialismus führen dazu, dass Freud an den wenigen Stellen, wo er sich mit historischen Zusammenhängen auseinandersetzt, nur noch die Aspekte thematisiert und in kausale Verbindung bringt, welche mit diesem Ansatz überhaupt noch erfassbar bleiben (vgl. GW XVI, S. 220). Je umfassender die historischen Sachverhalte werden, die Freud in dieser Art und Weise darzustellen sucht, desto weiter entfernt sich seine Darstellung von der Wirklichkeit und wird zur sektiererischen, voluntaristischen »Meinung«. Dabei besteht dann nicht zufällig eine hohe Korrelation zwischen Interpretation und persönlicher Präferenz, wie sich am Beispiel seiner Ursachendeutung des Ersten Weltkrieges zeigen lässt (vgl. GW XV, S. 192 f.). Dieser Interpretation entspricht Freuds eigenes irrationales Engagement für die Mittelmächte, die erst gegen Ende des Krieges etwas nachließ (Freud, 1965, S. 180, 184, 186, 232, 249, 259), aber auch den idealistischen Fehleinschätzungen, welche diese Geschichtsauffassung begleiten und ergänzen (»In einer Nation, die einen Goethe hervorgebracht hat, kann unmöglich das Böse siegen« – Jones, 1960 ff., III, S. 182 f. – »Der (Kaiser) Wilhelm ist ein unheilbar romantischer Herr … Er weiß nicht, daß das ritterliche Zeitalter mit dem Don Quijote beendigt ist« – Jones, 1960 ff., III, S. 241). Mit dem Abschluss der Kulturtheorie ist eine Interpretation des Sozialen entstanden, die zwar alle Aspekte umfasst, dies jedoch nur leisten kann, indem sie das praktiziert, was Ferenczi in
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anderem Zusammenhang eine »utraquistische« Betrachtungsweise nannte. Innerhalb der Kulturtheorie gibt es, bedingt durch die Dynamik der Theorie, verschiedene Betrachtungsweisen, die denselben Sachverhalt aus unterschiedlichem Blickwinkel darstellen. Jede für sich hat »Recht« gegenüber der anderen, aber insgesamt ist die Funktion der einzelnen Betrachtungsweisen darin zu sehen, dass sie dazu dienen, die Lücken der anderen zu schließen. Anhand der Triebtheorie ist vorgeführt worden, wie Freud sich einerseits auf einen (unterstellten) allgemeinen Entwicklungsplan der Natur beruft, andererseits von den Grundstrukturen des Sozialen ausgeht. Beide theoretischen Ansätze ergänzten sich dann zur umfassenden Triebtheorie. Was dort als Zwang zur theoretischen Regression interpretiert wurde und noch als Prozess aufgefasst werden konnte, ist nun allgemeines Strukturelement einer Theorie, die alle Voraussetzungen und Erkenntnisse integrieren will. Die Einheit der Widersprüche, die Anspruch und Wirklichkeit des bürgerlichen Individuums repräsentieren, kann Freud theoretisch nur dadurch herstellen, dass er jeweils von unterschiedlichen Standpunkten aus die sich widersprechenden Aspekte darzustellen sucht. Die Fremdgesteuertheit des Individuums wird aus seiner Funktion als »Anhängsel des Keimplasmas« oder als »treuer Diener des Es« abgeleitet, seine Selbststeuerung aus seiner Ich-Fähigkeit zur Rationalität geschlossen. Weil Freud die Antagonismen des Individuums nicht aus denen der Gesellschaft ableiten kann, bleibt ihm nichts anderes übrig, als ihre Einheit dadurch aufrechtzuerhalten, dass er das »kulturelle« Ganze logisch und inhaltlich aufspaltet in verschiedene Ebenen, von denen keine genuin sozialen Charakter besitzt: Sowohl Biologie als auch Anthropologie und Naturrecht gehen jeder konkreten gesellschaftlichen Organisation voraus. Die Theorie wird dadurch tautologisch, sie beweist ihre eigenen Voraussetzungen, deren Genese aus spezifischen, nun »übersetzten« soziologischen Interpretationen ist jetzt allerdings nicht mehr erkennbar. Unsichtbar bleibt beispielsweise, dass innertheoretisch die allgemeine Annahme über die defensive Grundstruktur des Organismus, damit des Individuums, sowie die Annahmen über den privatistischen Charakter von Befriedigung und die Notwendigkeit entfremdeter Arbeit der Entwicklung des Aggressionstriebs vorausgingen. Ebenso ging die grundlegende
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Annahme über die Beziehung von Trieb und Kultur der Erklärung der bestehenden Widersprüche der Kultur aus der Triebstruktur (statt aus Konflikten der Sozialisation) voraus. Der hermetische teleologische Panzer der Kulturtheorie lässt eine sinnvolle Reflexion dieser Topoi nicht mehr zu. Mutatis mutandis gilt dies auch für die einzelnen Dimensionen der »Kultur«, für Geschichte und Gesellschaft. Die Selbstkonstitution des rationalen Individuums ist – gerade auf dem Hintergrund der Relevanz psychoanalytischer Kategorien für die Analyse der Geschichte – nicht denkbar. Da die Rolle der Arbeit und ihrer Organisation auch nur als rationales Interesse der Gattung angesehen wird, muss deshalb die naturrechtliche Betrachtungsweise durch die phylogenetische ergänzt werden, nach der dann Geschichte letzten Endes ein natürlicher Entwicklungsprozess ist, dessen Endprodukt die rationalste Gestaltung seiner grundlegenden Problematik ist. Für die Gesellschaft gilt, dass sie zunächst aus den gemeinsamen Interessen aller hervorgeht, sie kann deshalb an sich nur demokratisch sein. »[Die] Ersetzung der Macht des Einzelnen durch die Gemeinschaft ist der entscheidende kulturelle Schritt. Ihr Wesen besteht darin, daß sich die Mitglieder der Gemeinschaft in ihren Befriedigungsmöglichkeiten beschränken, während der Einzelne keine solche Schranke kannte. Die nächste kulturelle Anforderung ist also die Gerechtigkeit, d. h. die Versicherung, daß die einmal gegebene Rechtsordnung nicht wieder zu Gunsten eines Einzelnen durchbrochen werde« (S. 455). Freud geht allerdings nicht davon aus, dass schon die ersten Rechtsordnungen vollständig demokratische waren, sondern sieht sehr wohl, »daß dieses Recht … der Willensausdruck einer kleinen Gemeinschaft« (S. 455) war, »welche sich zu anderen und vielleicht umfassenderen solcher Massen wieder wie ein gewalttätiges Individuum verhält« (S. 455). Recht ist für ihn jedoch an sich demokratisch, seine konkrete Ausgestaltung erklärt sich aus dem jeweiligen phylogenetischen Entwicklungsstand des »Großindividuums« Staat, welcher sich aus dem seiner einzelnen Mitglieder ableitet. Wiederum hindern die Rekonstruktionszwänge der Kulturtheorie Freud an der Realisierung seiner dialektischen Einsichten bezüglich des Verhältnisses Individuum – Gesellschaft, so dass auch andere Strukturen sich reproduzieren, zum Beispiel die rigiden objektivistischen Bewertungskriterien:
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Auch in der entwickelten Kulturtheorie bleibt alles, was nicht den Kriterien des bürgerlichen Individuums entspricht, desavouiert. Es sind dies die Gruppen, deren Beurteilung bereits lange vor der Entwicklung der Kulturtheorie negative Züge aufwies. In Bezug auf den Neurotiker ist dies bereits vorgeführt worden, die Argumentation hat sich nun noch weiter verhärtet. Zusätzlich wird nun der Neurotiker vom Standpunkt der Kultur aus als »ein Ärgernis« (S. 274) betrachtet. Für die kulturelle Reproduktion ist er objektiv eine »unerwünschte Ausnahme« (S. 332). Zu der bisherigen Disqualifizierung als zu den »Schwächlingen« (S. 465) gehörig muss der Neurotiker sich nun auch noch gefallen lassen, aus kultureller Sicht als Außenseiter beurteilt zu werden, auch wenn seine Erkrankung andererseits durch die zum Teil »extremen« (S. 465) und damit irrationalen Forderungen der »Kultur« bedingt sind. Der Gesamtzusammenhang neurotischer Erkrankungen, ihrer Genese und ihrer Wirkung und die dialektische Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaftsstruktur wird von Freud parzelliert, so dass verschiedene Ebenen der Behandlung des Themas entstehen, die letzten Endes nicht weiter miteinander vermittelbar sind. Ähnliches gilt für die zweite Gruppe, die Frauen. Alles das, was Freud bisher in diesem Kontext äußerte, kulminiert nun in seinen Überlegungen zum Verhältnis der Frauen zum Über-Ich. »Mit dem Wegfall der Kastrationsangst entfällt das Hauptmotiv, das den Knaben gedrängt hat, den Ödipuskomplex zu überwinden. Das Mädchen verbleibt in ihm unbestimmt lange, baut ihn nur spät und dann unvollkommen ab. Die Bildung des Über-Ichs muß unter diesen Verhältnissen leiden, es kann nicht die Stärke und die Unabhängigkeit erreichen, die ihm seine kulturelle Bedeutung verleihen und – Feministen hören es nicht gerne, wenn man auf die Auswirkungen dieses Momentes für den durchschnittlichen weiblichen Charakter hinweist« (S. 138 f.). Durch ihre Über-IchSchwäche ist also die Frau tendenziell nicht in der Lage, die Anforderungen der Kulturarbeit zu erfüllen. Was Freud vortheoretisch noch wenigstens ansatzweise sinnhaft aus Beziehungsstrukturen abzuleiten suchte, um es dann im Prinzip der »heroischen Liebe« zu vermitteln, erscheint nun als vorgesellschaftliches, unabänderliches Datum, als List des Keimplasmas. Dabei verdeutlicht sich wiederum der innere Zusam-
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menhang zwischen der allgemeinen theoretischen Interpretation und der Unmittelbarkeit der sozialen Anschauung, wenn Freud an anderer Stelle dieselbe Interpretation so beschreibt: »Ferner treten bald die Frauen in einen Gegensatz zur Kulturströmung und entfalten ihren verzögernden und zurückhaltenden Einfluß, dieselben, die anfangs durch die Forderungen ihrer Liebe das Fundament der Kultur gelegt hatten. Die Frauen vertreten das Interesse der Familie und des Sexuallebens; die Kulturarbeit ist immer mehr Sache der Männer geworden, stellt ihnen immer schwierigere Aufgaben, nötigt sie zu Triebsublimierungen, denen die Frauen wenig gewachsen sind. Da der Mensch nicht über unbegrenzte Quantitäten psychischer Energie verfügt, muß er seine Aufgaben durch zweckmäßige Verteilung der Libido erledigen. Was er für kulturelle Zwecke verbraucht, entzieht er großenteils den Frauen und dem Sexualleben: das beständige Zusammensein mit den Männern, seine Abhängigkeit von den Beziehungen zu ihnen entfremden ihn sogar seinen Aufgaben als Ehemann und Vater. So sieht sich die Frau durch die Ansprüche der Kultur in den Hintergrund gedrängt und tritt zu ihr in ein feindliches Verhältnis« (GW XIV, S. 463). Auch dieser geschichtliche Abriss ist kaum mehr als eine theoretische Rechtfertigung der Herrschaft der Männer über die Frauen, der die Entstehung dieser Situation nur deshalb als quasi natürlich hinstellen kann, weil er einerseits sich auf die unmittelbare Anschauung, andererseits auf die theoretische Gegenüberstellung von Kultur und (männlichen) Individuen stützt. Das konsequente Festhalten an diesen Positionen führt nicht nur zu massiven Widersprüchen (etwa wenn Freud eigens für diese Konstruktion die Frau das »Interesse des Sexuallebens« vertreten lässt, während ansonsten die sexuelle Aktivität ein ausgesprochen männliches Attribut ist), sondern auch zu geradezu grotesken Schlüssen, etwa, wenn er den Beitrag der Frau zur Kultur »würdigt« (vgl. GW XV, S. 142). Die dritte Gruppe von Menschen, die aus dem kulturbürgerlichen Rahmen fällt, unterscheidet sich in wesentlichen Punkten von den bisher angeführten. Galt für den Neurotiker und die Frau, dass, beide kraft ihrer individuellen Eigentümlichkeit zum NichtIndividuum wurden, so ist die Masse geradezu der allgemeinste Ausdruck der Widersprüchlichkeit des Individuums selbst. Schon
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1911 hatte Freud in dem Aufsatz über »Die zukünftigen Chancen der psychoanalytischen Therapie« geschrieben: »Über die Bedeutung der Autorität brauche ich Ihnen nicht viel zu sagen. Die wenigsten Kulturmenschen sind fähig, ohne Anlehnung an andere zu existieren oder auch nur ein selbständiges Urteil zu fällen. Die Autoritätssucht und innere Haltlosigkeit der Menschen können Sie sich nicht arg genug vorstellen« (GW VIII, S. 109). Diese trübe, dem Ideal des Kulturindividuums widersprechende Diagnose ändert sich nicht. Die umfassende Kulturtheorie muss in der »Trägheit und Feigheit der Menschenmassen« (GW XIV, S. 283) die Negation der Kultur und des Kulturbürgers innerhalb der Kultur selbst sehen. Versucht man, die Bedeutung dieses massenpsychologischen Konzeptes für die Kulturtheorie zu ermitteln, so steht an erster Stelle seine eigentliche Funktion, das Bestehende mit Hilfe der zur Verfügung stehenden Kategorien zu erfassen und zu interpretieren. Der massenpsychologische Ansatz erklärt die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit der bürgerlichen Gesellschaft, wiederum nur aus dem Individuum heraus. Darüber hinaus ist dieses Konzept jedoch auch der Ansatzpunkt einer praktisch-politischen Theorie, welche eine gesellschaftliche Strategie zur Erhaltung und Weiterentwicklung des Bestehenden liefert. Auf diese aus der massenpsychologischen Analyse hervorgehende praktisch-politische Theorie wird noch weiter unten eingegangen. An dieser Stelle wäre allerdings noch hervorzuheben, dass sich in dieser Interpretation im Grunde eine Revision des allgemeinen Modells der bürgerlichen Gesellschaft, aus der des bürgerlichen Individuums abgeleitet, anbahnt. Neben dem formaldemokratischen Konzept steht nun dessen inhaltliche Negation durch die, von Freud phylogenetisch interpretierte Aufteilung der Bürger in autonome Individuen, die durch die Situation in die Rolle von »Führern« gedrängt werden, nun in eine Mehrzahl von Massenindividuen, die geführt werden müssen. Damit hat sich der Schwerpunkt der Argumentation, der vorher auf der Frage nach der rationalen Organisation des Verkehrs der autonomen Individuen untereinander lag, verlagert auf die nach den Methoden, mit denen die Massenindividuen so organisiert werden können, dass sie sich in eine solche rationale Organisation
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einfügen. Auch wenn Freuds Analyse dadurch entscheidend eingeschränkt ist, dass ihre Begriffe phänomenologische Einsichten unmittelbar in abstrakte Kategorien übersetzen und damit unter den allgemeinen Bedingungen der Kulturtheorie wiederum die gesellschaftlichen Differenzierungen der Erscheinungen ebenso außer Acht lassen wie deren gesellschaftliche Bedingtheit, ist doch festzuhalten, dass sie tiefere Einsichten in die gesellschaftliche Wirklichkeit enthält als jedes formaldemokratische Ausgehen vom so genannten »mündigen Bürger«. Gleichzeitig lässt sie die Notwendigkeit erkennen, mit der der Demokrat Freud in seiner noch zu beschreibenden politischen Theorie zu antidemokratischen Vorstellungen kommen muss, die nicht »reaktionärer« Herkunft sind, also aus partikularen gesellschaftlichen Interessen hervorgehende Voraussetzung sind, sondern das konsequente Ergebnis der Untersuchung des Bestehenden mit den zur Verfügung stehenden Mitteln.
7.2. Der kulturpolitische Standpunkt Die Kulturtheorie in ihrer letzten, umfassenden Gestalt beschränkt sich, und dies geht schon aus dem bisher Vorgeführten hervor, nicht darauf, das Bestehende auf dem Hintergrund einer allgemeinen Diskussion der Grundlagen der Kultur darzustellen und zu interpretieren. Von ihrer Anlage her bedeutet sie nicht nur eine Reflexion über den eigenen Standpunkt innerhalb der kulturellen Entwicklung, sondern impliziert auch eine Analyse der theoretischen und praktischen Möglichkeiten der Weiterentwicklung der Kultur, dessen, was sie sein kann und wie man sich dorthin bewegen kann. Die Frage danach, »welches ferne Schicksal dieser Kultur bevorsteht und welche Wandlungen durchzumachen ihr bestimmt ist« (GW XIV, S. 325) bedeutet für Freud gleichzeitig eine Frage nach den praktischen Möglichkeiten der »Bewältigung« dieses Schicksals. Vom Standpunkt der Kultur aus ist deshalb seine Arbeit politisch zu verstehen; die Kulturtheorie impliziert einen kulturpolitischen Standpunkt. Dieser kulturpolitische Standpunkt, von dem aus im Sinne der
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Kultur und des bürgerlichen Individuums argumentiert wird, ist selbst – wie auch das Individuum im Lichte der Kulturtheorie – keine in sich einheitliche Theorie. Er umfasst zu einen die objektiven Entwicklungsmöglichkeiten der Gattung und die Art, in der diese sich verwirklichen kann, andererseits berücksichtigt er die grundlegenden Antinomien der Kultur und die Art und Weise, in der sie sich im Bestehenden manifestieren und beinhaltet von daher auch eine Theorie gesellschaftlicher Praxis. Der allgemeine Standpunkt der Kulturtheorie ist der der so genannten »wissenschaftlichen Weltanschauung«. Schon lange bevor Freud die Kulturtheorie entwickelte, spielte die Wissenschaft in seinen Vorstellungen eine bedeutsame Rolle (s. u.), ihre theoretische Darstellung war eines der wichtigsten Medien gewesen, in denen sich die noch nicht explizierte Theorie des Sozialen manifestierte. Die inhaltlichen Bestimmungen in Bezug auf die Wissenschaft und die Bedeutung, die Freud ihr zumisst, haben sich nicht verändert; im Rahmen der entwickelten Kulturtheorie erhält die Wissenschaft jedoch einen neuen, zentralen Stellenwert. Die Kulturtheorie selbst ist – nach Freuds Selbstverständnis – nichts anderes als die Anwendung der wissenschaftlichen Forschungsergebnisse auf die Kultur als Ganzes, sie wird also erst durch jene ermöglicht. Die Wissenschaft muss zwar die grundlegenden Antinomien der Kultur akzeptieren, ist aber andererseits in der Lage, die Bedingungen der Existenz im Rahmen des Möglichen zu verbessern. »Ganz ohne Hilfsmittel ist der Mensch nicht, seine Wissenschaft hat ihn seit den Zeiten des Diluviums viel gelehrt und wird seine Macht noch weiter vergrößern. Und was die großen Schicksalsnotwendigkeiten betrifft, gegen die es eine Abhilfe nicht gibt, die wird er eben mit Ergebung tragen lernen. Was soll ihm die Vorspiegelung eines Großgrundbesitzes auf dem Mond, von dessen Ertrag doch noch nie jemand was gesehen hat? Als ehrlicher Kleinbauer dieser Erde wird er seine Scholle zu bearbeiten wissen, so daß sie ihn nährt. Dadurch, daß er seine Erwartungen vom Jenseits abzieht und alle freigewordenen Kräfte auf das irdische Leben konzentriert, wird er wahrscheinlich erreichen können, daß das Leben für alle erträglich wird und die Kultur keinen mehr erdrückt« (GW XIV, S. 373 f.).
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Dieses programmatische Bild ist das in einen allgemeinen kulturpolitischen Zusammenhang gestellte Konzept der Wissenschaft: Absage an alle Illusionen und vorurteilsfreie Erforschung der Wirklichkeit, welches gleichzeitig mit den Ergebnissen der psychoanalytischen Kulturforschung in Verbindung gebracht wurde. Ursprünglich geht jedes Individuum und ging die Gattung vom Lustprinzip, welches den psychischen Apparat beherrschte, aus. In »Totem und Tabu« hatte Freud eine Vorstellung entwickelt, wie diese primäre psychische Organisation später modifiziert wurde, wobei sich gleichzeitig der Wirklichkeitssinn veränderte. Statt in die Wirklichkeit hineinzuprojizieren, begannen die Menschen, sie rational zu erforschen. Die wissenschaftliche Betrachtungsweise ist von daher die höchste Entwicklungsstufe dieses Wirklichkeitssinnes und die bestmögliche Einstellung der Gattung wie des Individuums zur Wirklichkeit. Sie ist »die vollkommenste Lossagung vom Lustprinzip, die unserer psychischen Arbeit möglich ist« (GW VIII, S. 67). Statt sich weiterhin Illusionen über die Wirklichkeit zu machen, erforscht der Mensch die Realität, bis er zur widerspruchsfreien Interpretation (GW XIII, S. 228 f.) gekommen ist, damit eine Übereinstimmung mit ihr erreicht hat, die als Wahrheit bezeichnet werden kann. Erst nachdem die Wahrheit akzeptiert wurde, kann man daran gehen, die übrig gebliebenen Möglichkeiten zu verwirklichen. Dabei allerdings ist Optimismus angebracht, weil sich der Wahrheit auf die Dauer keiner entziehen kann, denn von Anfang an war das Prinzip der Kultur die Rationalisierung. Die Wissenschaft verkörpert somit gewissermaßen den objektiven Geist der Kultur, der in der phylogenetischen Entwicklung letzten Endes doch zur Verwirklichung kommen muss. »Wir mögen noch so oft betonen, der menschliche Intellekt sei kraftlos im Vergleich zum menschlichen Triebleben, und damit Recht haben. Aber es ist doch etwas Besonderes um diese Schwäche; die Stimme des Intellekts ist leise, aber sie ruht nicht, ehe sie sich Gehör geschafft hat. Am Ende, nach unzählig oft wiederholten Anweisungen, findet sie es doch. Dies ist einer der wenigen Punkte, in denen man für die Zukunft der Menschen optimistisch sein darf, aber er bedeutet an sich nicht wenig. An ihn kann man noch andere Hoffnungen knüpfen. Der Primat des Intellekts liegt gewiß in weiter, weiter, aber wahrscheinlich
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doch nicht in unendlicher Ferne. … Er (wird) sich voraussichtlich dieselben Ziele setzen, deren Verwirklichung (der Christ sich von Gott verspricht) – in menschlicher Ermäßigung natürlich, soweit die äußere Realität, die Ananke, es gestattet –: die Menschenliebe und die Einschränkung des Leidens. … Unser Gott Logos wird von diesen Wünschen verwirklichen, was die Natur außer uns gestattet, aber sehr allmählich, erst in absehbarer Zukunft und für neue Menschenkinder« (GW XIV, S. 377 f., vgl. auch S. 379 f.). Die Wissenschaft ist demnach in jeder Beziehung die rationalste Organisationsform des Bewusstseins. Sie wird den Anforderungen der Realität ebenso gerecht wie den Erfordernissen des Individuums und der Kultur. Als höchste Entwicklungsstufe des Wirklichkeitssinnes des Individuums bedeutet sie gleichzeitig den Höhepunkt und Abschluss der phylogenetischen Entwicklung der Gattung. Aus den beiden Seiten der Wissenschaft, ihrer Fähigkeit zur rationalen Erkenntnis und partiellen Beherrschung der Wirklichkeit und ihren inhaltlichen Ergebnissen leitet sich der optimistische Pessimismus als Leitmotiv der wissenschaftlichen Weltanschauung, dem objektiven kulturpolitischen Standpunkt ab. Diese wissenschaftliche Weltanschauung umfasst nicht nur das Prinzip der Wissenschaftlichkeit, die Einsichten der Wissenschaften, sondern auch deren praktische und theoretische Konsequenzen. Da sie allgemein den Standpunkt der Kultur vertritt, ist die parteipolitisch neutral und voraussetzungslos. »Eine auf die Wissenschaft aufgebaute Weltanschauung hat außer der Betonung der realen Außenwelt wesentlich negative Züge, wie die Bescheidung zur Wahrheit, die Ablehnung der Illusionen« (GW XV, S. 197). Dafür nimmt sie Partei für die Rationalität, dem Interesse aller. Von daher ist die wissenschaftliche Weltanschauung gleichzeitig neutral und parteilich, objektiv und engagiert. Ihre Legitimation zieht sie aus dem objektiv rationalen Charakter der Entität Kultur. Eigentliches Subjekt der Wissenschaft sind, wenn man so will, die abstrakten Kategorien »Wahrheit« und »Wirklichkeit«. Es ist deshalb nur konsequent, wenn Freud davon ausgeht, dass die praktischen Handlungsstrategien, die sich aus der wissenschaftlichen Weltanschauung ableiten wie die Aufforderung einer »Erziehung zur Rationalität« (GW XIV, S. 373) und »eine rein rationelle Begründung der Kulturvorschriften, also … ihre Zurückführung auf soziale
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Notwendigkeit« (S. 365) allein durch ihren objektiven Charakter a priori verbindlich sind. Indem sich die wissenschaftliche Weltanschauung dabei an eine funktionierende bürgerliche Öffentlichkeit wendet, setzt sie allerdings bereits voraus, was sie erst erreichen will. Aus diesem Widerspruch entwickelt sich die Vorstellung praktischer Kulturpolitik, die die Theorie der wissenschaftlichen Weltanschauung ergänzt. Sie gipfelt im Begriff der »Kulturarbeit«, deren Möglichkeit sich wiederum – unexpliziert – auf die der Kultur immanente Tendenz zur Rationalität ableitet. Vom Standpunkt der wissenschaftlichen Weltanschauung, welcher die Interessen der Kultur mit den Notwendigkeiten der Wirklichkeit vereinbart, kritisiert Freud alle nicht-wissenschaftlichen Weltanschauungen beziehungsweise die Formen der Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit, die ihren Anforderungen nicht entsprechen. Darunter versteht Freud im Wesentlichen drei verschiedene Handlungs- und Denkformen: die Religion, die Kunst und die Philosophie. Allen dreien ist gemeinsam, dass sie nicht von den objektiven Strukturen der Wirklichkeit, sondern von ihren eigenen Voraussetzungen und Ansprüchen ausgehen und sich deshalb der Wirklichkeit gegenüber nicht adäquat verhalten. Die Religion hatte die Psychoanalyse als »Illusion« entlarvt (GW XIV, S. 330 ff.; XV, S. 173/181; passim) und als – notwendiges – phylogenetisches Durchgangsstadium der Gattung eingestuft. »Die Kunst … will nichts anderes sein als Illusion« (GW XV, S. 173) und kann, wenn sie dabei bleibt, wertvolle Dienste leisten im Sinne von Triebsublimierung und -kanalisation; die von ihr ausgehende Gefahr des Eskapismus ist gering. Die Philosophie fällt unter das oben dargestellte Verdikt der »Spekulation«, sie sucht mit untauglichen Mitteln das zu leisten, was nur die Wissenschaft erreichen kann und ist deshalb a priori zum Scheitern verurteilt. Unter dieser Rubrik subsumiert Freud auch den Marxismus (GW XV, S. 192 ff.), dessen Geschichtsmaterialismus er offenkundig missversteht und deshalb »akzeptiert« (S. 193), dessen sozialistisches Ideal und die Vorstellungen über den Weg dorthin er jedoch als »idealistisch« kritisiert. Die Ambivalenz der Kritik, die vom in sich vollkommen geschlossenen Konzept der »wissenschaftlichen Weltanschauung« ausgeht (und welche die weiter oben beschriebenen Antinomien
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von Freuds Kritik überhaupt reproduziert), liegt darin, dass sie berechtigte Einwände mit verzerrenden Undifferenziertheiten so verquickt, dass fast immer das Kind mit dem Bade ausgeschüttet wird – die Elemente der inkriminierten Denk- und Handlungsweisen, die für die Selbstreflexion der Psychoanalyse relevant sind, können so nicht mehr eingeholt werden. Vor allem das selbstdisziplinierende Utopieverbot verhindert auf diese Weise die Entwicklung »soziologischer Phantasie« und beeinträchtigt die Entfaltung der »psychischen Produktivkräfte« erheblich, während gleichzeitig der puritanischen Kritik das Sinnverständnis ihres Gegenstandes aus dem Blickfeld gerät, so dass sie wiederum ihre eigentlichen Potenzen nicht mehr realisieren kann.
7.3. Probleme der »wissenschaftlichen Weltanschauung« Von ihrem Anspruch her ist die wissenschaftliche Weltanschauung die Synthese der theoretischen und praktischen Bedürfnisse des Individuums und der Strukturen der Wirklichkeit. Sie ist die Fortsetzung der Philosophie mit neuen, besseren Mitteln, genügt also auch dem kulturhermeneutischen Interesse und bietet gleichzeitig vom Standpunkt der Kultur aus allgemeine Handlungsstrategien an, die eine Kritik aller anderer Verhaltensweisen impliziert. Obwohl oder vielleicht gerade weil sie somit den allgemeinen Ansprüchen, die Freud an eine umfassende Theorie des Sozialen stellt, genügt, indem sie deren verschiedene Aspekte integriert und vermittelt, ergeben sich innerhalb der wissenschaftlichen Weltanschauung selbst und bei ihrer Anwendung Konflikte, die Freud nicht mehr aufzuheben vermag. So ist das Problem der Neutralität bei gleichzeitigem kulturpolitischen Engagement in der wissenschaftlichen Weltanschauung zwar allgemein gelöst, taucht aber in spezifischen Zusammenhängen erneut auf. Zunächst verstärkt sich der alte Gegensatz zwischen der Annahme, die psychoanalytische Therapie sei ein neutrales Instrument, dem Messer des Chirurgen vergleichbar und dem gesellschaftspolitischen Ziel der Psychoanalyse (»Eine Psychoana-
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lyse ist eben keine tendenzlose, wissenschaftliche Untersuchung, sondern ein therapeutischer Eingriff; sie will an sich nichts beweisen, sondern nur etwas verändern.« – GW VII, S. 339). Auf dem Hintergrund der Kulturtheorie verstärkt sich noch die Bedeutung der Psychoanalyse als gesellschaftspolitische Praxis. Dabei hält Freud einerseits an dem instrumentellen Charakter der Psychoanalyse fest: »An sich ist die Psychoanalyse weder religiös noch das Gegenteil, sondern ein unparteiisches Instrument, dessen sich der Geistliche wie der Laie bedienen kann, wenn es nur im Dienste der Befreiung Leidender geschieht« (Freud u. Pfister, 1963, S. 13). Auf der anderen Seite scheint ihm die Anwendung der Psychoanalyse nur von dem Standpunkt der wissenschaftlichen Weltanschauung möglich: »In der (›Laienanalyse‹) will ich die Analyse vor den Ärzten, in (›Die Zukunft einer Illusion‹) vor den Priestern schützen. Ich möchte sie einem Stand übergeben, der noch nicht existiert, einem Stand von weltlichen Seelsorgern, die Ärzte nicht zu sein brauchen und Priester nicht sein dürfen« (S. 136). Auch in Bezug auf die von der Therapie abgespaltenen Theoriebildung gilt, dass die allgemeinen Bestimmungen mit den konkreten Aussagen nicht immer übereinstimmen. »Die psychoanalytische Forschung (kennt) Tendenzen ebenso wenig wie irgendeine andere« (GW VIII, S. 87 f.). Während die Forschung allgemein als neutral gilt, sind ihre Ergebnisse es nicht: »›Sublimierung‹ ist ein Begriff, der ein Werturteil enthält« (Jones, 1960 ff., III, S. 535). Dies stellt sich für Freud allerdings deshalb nicht als Gegensatz dar, weil er die Kriterien der Bewertung aus den Ergebnissen der Kulturtheorie als gesichert voraussetzt: »Eigentlich heißt es Anwendung auf ein solches Gebiet, in dem sozial wertvolle Leistungen möglich sind« (S. 535). Für Freud bedingen sich die objektive Forschung und die Parteinahme für die Kultur gegenseitig. Dies wird zunehmend schwieriger, je konkreter der Gegenstand ist, der zur Behandlung steht und je politischer er wird. Über »Die Zukunft einer Illusion« schreibt Freud an Pfister: »Halten wir fest, daß die Ansichten keine Bestandteile des analytischen Lehrgebäudes bilden. Es ist meine persönliche Einstellung, die mit der vieler Nicht- und Voranalytiker zusammentrifft und gewiß von vielen braven Analytikern nicht geteilt wird. Wenn ich gewisse Argumente, eigentlich nur ein Argument, aus der Analyse gezogen habe, so braucht dies nie-
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mand abzuhalten, die unparteiische Methodik der Analyse auch für eine gegenteilige Ansicht zu verwerten« (Freud u. Pfister, 1963, S. 126). An dieser Stelle sucht er sich durch die Argumentation mit »persönlicher Einstellung« und »unparteiischer Methodik« dem Konflikt zu entziehen, der durch die konkrete politische Relevanz der Problematik und damit auch der Methodik aus dem Postulat der Neutralität entsteht. An anderer Stelle führt er selbst vor, dass diese Argumentationsstruktur nicht haltbar ist, wenn er, nur Wochen später, an denselben Adressaten schreibt: »Recht haben Sie auch zu mahnen, daß die Analyse keine neue Weltanschauung gibt. Aber sie braucht es nicht, denn sie beruht auf der allgemeinen wissenschaftlichen Weltanschauung, welche mit der religiösen unverträglich bleibt« (S. 139). Aber selbst auf dieser Ebene ist der Konflikt nicht gelöst. Freud besteht zwar auf dem absoluten Anspruch, welcher sich aus der wissenschaftlichen Forschung ableitet: »Es ist nun einmal so, daß die Wahrheit nicht so tolerant sein kann, keine Kompromisse und Einschränkungen zuläßt« (GW XV, S. 173). Er gerät jedoch in Entscheidungsschwierigkeiten, wenn die Wahrheit konkret parteilich wird, wenn die wissenschaftliche Weltanschauung den Standpunkt einer spezifischen Weltanschauung vertreten müsste. Er kann sich nicht dazu durchringen, den allgemeinpolitischen Anspruch auch konkret zu formulieren, wie sich an der Beurteilung von Dostojewski ablesen lässt. »Dostojewski hat es versäumt, ein Lehrer und Befreier der Menschen zu werden, er hat sich zu ihren Kerkermeistern gesellt; die kulturelle Zukunft der Menschen wird ihm wenig zu danken haben« (GW XIV, S. 400). Diese vortheoretische Beurteilung ist für Freud nicht weiter problematisch, die Schwierigkeit tritt auf, wo er versucht, mit Hilfe der Psychoanalyse die Ursachen von Dostojewskis Verhalten zu untersuchen. »Wenn er es im Ganzen nicht zur Freiheit brachte und Reaktionär wurde, so kam es daher, daß die allgemein menschliche Sohnesschuld, auf der sich das religiöse Gefühl aufbaut, bei ihm eine unüberwindliche Stärke erreicht hatte und selbst seiner großen Intelligenz unüberwindlich blieb. Wir setzen uns hier dem Vorwurf aus, daß wir die Unparteilichkeit der Analyse aufgeben und Dostojewski Wertungen unterziehen, die nur vom Parteistandpunkt einer gewissen Weltanschauung berechtigt sind. Ein Konservativer würde die Partei des Großinquisitors nehmen
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und anders über Dostojewski urteilen. Der Vorwurf ist berechtigt, zu seiner Milderung kann man nur sagen, daß die Entscheidung Dostojewskis durch seine Denkhemmung infolge seiner Neurose bestimmt scheint« (S. 411 f.). Auch der Rekurs auf die besondere Qualität der Wahrheit kann die gesellschaftstheoretisch bedingten Probleme der Kulturtheorie in Bezug auf Objektivität, Neutralität und Parteilichkeit nicht aufheben. Dieselben Schwierigkeiten ergeben sich in Bezug auf die Gesellschaftskritik, die vom Standpunkt der »wissenschaftlichen Weltanschauung« geübt wird. Zwar radikalisiert sie sich zunehmend: Was von der Konstatierung der Irrationalität sexueller Prüderie ausging (GW I, S. 495), wird nun, auf kulturtheoretischer Basis, zur vernichtenden Beurteilung des gesamten Erziehungssystems: »Indem sie die Jugend mit so unrichtiger psychologischer Orientierung ins Leben entläßt, benimmt sich die Erziehung nicht anders, als wenn man Leute, die auf eine Polarexpedition gehen, mit Sommerkleidern und Karten der oberitalienischen Seen ausrüsten würde« (GW XIV, S. 494, Fußn. 1; vgl. auch XI, S. 450 f. u.v.a.m.) Die Dimensionen der Kritik bleiben jedoch weiterhin eingeschränkt. Das vortheoretische Modell der Gesellschaft und des Individuums ließen eine Kritik nur zu als Konstatierung von individuellem und institutionellem Fehlverhalten, welchem sie ein rationaleres Modell entgegenhielt. Dieser Ansatz der Kritik führt dazu, dass sie auch inhaltlich eingeschränkt bleibt auf die normative Beurteilung von individuellem und institutionell geregeltem »Verhalten«, wodurch einerseits bestimmte Bereiche des gesellschaftlichen Ganzen von der Kritik nicht erfasst wurden, andererseits die Ebene gesamtgesellschaftlicher Widersprüche nicht erreicht wurde. Man kann nicht sagen, dass Freuds Kritik nur isolierte Sachverhalte beträfe, er ist sich des inneren Zusammenhangs des gesellschaftlichen Ganzen durchaus bewusst und bezieht seine kritischen Anmerkungen auch darauf: »Ich halte es für den bedeutsamsten Fortschritt in der Kindererziehung, daß der französische Staat an die Stelle des Katechismus ein Elementarbuch eingeführt hat, welches dem Kinde die ersten Kenntnisse seiner staatsbürgerlichen Stellung und der ihm dereinst zufallenden ethischen Pflichten vermittelt. Aber dieser Elementarunterricht ist in arger Weise unvollständig, wenn er nicht das Gebiet des Ge-
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schlechtslebens mit umschließt. Hier ist die Lücke, deren Ausfüllung Erzieher und Reformer in Angriff nehmen sollten! In Staaten, welche die Kindererziehung ganz oder teilweise in den Händen der Geistlichkeit belassen haben, darf man allerdings eine solche Forderung nicht erheben. Der Geistliche wird die Wesensgleichheit von Mensch und Tier nie zugeben, da er auf die unsterbliche Seele nicht verzichten kann, die er braucht, um seine Moralforderungen zu begründen. So bewährt es sich dann wieder einmal, wie unklug es ist, einem zerlumpten Rock einen einzigen seidenen Lappen aufzunähen, wie unmöglich es ist, eine vereinzelte Reform durchzuführen, ohne an den Grundlagen des Systems zu ändern!« (GW VII, S. 27). Der soziale Zusammenhang, den Freud in diesem Beispiel herstellt, beschränkt sich auf die Gemeinsamkeiten der kritisierten Instanzen in Bezug auf ihre Irrationalität, ihr gemeinsames kausales Verhältnis zu Wirklichkeit, nicht auf ihren inneren Zusammenhang. Im Gegensatz zu der differenzierten Reflexion, deren sich Freud in der psychoanalytischen Forschung bedient, bleibt sein soziologisches Denken und damit seine soziale Kritik restringiert, weil sie nicht über die Positionen der vortheoretischen Gewissheit hinauskommt. Statt zu der Frage zu kommen, welchen Stellenwert eine spezifische Erziehung und spezifische Institutionen innerhalb eines gesellschaftlichen Ganzen haben, wo also ihr objektiver »Sinn« und damit Funktionalität zu suchen wäre, bleibt Freud, ausgehend von der allgemeinen Interessenidentität zwischen Gesellschaft und Individuum, bei der Feststellung der Dysfunktionalität einiger Sachverhalte stehen. Weil darin auch impliziert ist, dass gesellschaftliche Institutionen nicht Träger partikularer Interessen oder Funktionsträger spezifischer gesellschaftlicher Strukturen sind, also zum Beispiel keine Herrschaftsfunktion einer Klasse tragen, sind dabei Objekt der Kritik entweder »das« Individuum oder »die« Gesellschaft. Darauf, dass Freud die spezifische Ambivalenz der Beziehung des Bürgertums zum gesellschaftlichen Fortschritt nicht erkannt und als »Spätaufklärer« quer zu den vorhandenen politischen Strukturen lag, ist bereits hingewiesen worden. Sein allgemeines Fortschrittsmodell, welches Wissen an sich immer noch als Fortschritt betrachtete, und die Verwendung von Einheitsbegriffen bringen ihn in die Situation, dass er gleichzeitig mit der Partei der
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Kultur, die »der« Gesellschaft gegen »die« Gesellschaft ergreift, also begrifflich Objekt der Kritik und Subjekt, dessen Handlung das Kritisierte aufheben soll, identisch sind; ein Widerspruch, der mit Freuds begrifflichem Apparat und seiner soziologischen Denkweise nicht aufzuheben war (vgl. GW XI, S. 450 f.): Dem Missverständnis der Psychoanalyse als politisch »neutral« entspricht die mangelnde Fähigkeit, einen Adressaten ihrer Arbeit stringent zu entwickeln. Die Psychoanalyse rührte an den Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft, was er selbst wegen seiner gesellschaftstheoretischen Voraussetzungen nicht erkannte: Die viktorianische Sexualmoral war notwendiges Element der gesellschaftlichen Reproduktion während einer bestimmten Entwicklungsphase der bürgerlichen Gesellschaft. Auch deshalb stieß seine Kritik auf taube Ohren. Weil Freud nicht erkannte, dass seine Kritik sich gerade an jene Öffentlichkeit wendete, deren Existenz sich widerlegte und von einer Gesellschaft ausging, deren Grundlagen sie in Frage stellte, musste er Zuflucht nehmen zu einem quasi phylogenetischen Konzept gesellschaftlicher Entwicklung, welches ihm allein geeignet schien, Geschichte und Gegenwart, Anspruch und Wirklichkeit sinnvoll zu integrieren. Es sind nur die mit den Strukturen der Gesellschaftskritik: Ihre inhaltlichen Einschränkung, ihre impliziten Voraussetzungen und ihre eigentümliche Beziehung zu ihrer historischen Umgebung vermittelten Inhalte der Kulturtheorie, aus denen sich die Theorie des gesellschaftlichen Wandels ableitet. Eine ihrer wesentlichen gesellschaftstheoretischen Funktionen liegt in der Erklärung und Interpretation der inkriminierten Sachverhalte. Ihr Anknüpfungspunkt ist die Analogiebildung, mit Hilfe derer Freud, ausgehend vom Prinzip des therapeutischen Vorgangs, aus der Individualtherapie eine Art »Gesellschaftstherapie« ableitete, indem er annahm, der Prozess der Einsicht in die Wirklichkeit, das heißt Akzeptierung der Wahrheit müsse sich auch bei »Großindividuen« vollziehen. Die besondere Qualität, die der Wahrheit dabei zukommt, entspricht ihrer späteren Bedeutung innerhalb der entwickelten Kulturtheorie. In dieser Hinsicht ist die Wahrheit der allgemeinste Ausdruck des Prinzips Aufklärung, welches Freud auch in der Individualtherapie praktizierte. Analog zum therapeutischen Vorgang ließ sich dann auch der Vorgang gesellschaftlicher Verände-
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rung interpretieren, denn auch dort war es nicht die unmittelbare Wirkung der Aufklärung, welche zum Erfolg führte. »Die Mitteilung dessen, was der Kranke nicht weiß, weil er es verdrängt hat, ist nur eine der notwendigen Vorbereitungen für die Therapie. Wäre das Wissen des Unbewußten für den Kranken so wichtig, wie der in der Psychoanalyse Unerfahrene glaubt, so müßte es zur Heilung hinreichen, wenn der Kranke Vorlesungen hört oder Bücher liest. Diese Maßnahmen haben aber ebensoviel Einfluß auf die nervösen Leidenssymptome wie die Verteilung von Menükarten zur Zeit einer Hungersnot auf den Hunger« (GW VIII, S. 123). Genau wie in der Therapie erst die inneren Widerstände des Patienten gebrochen werden müssen, bis er die Einsicht in die Wahrheit und damit in sein wirkliches Interesse gewinnen kann, kann sich die volle Wirksamkeit der psychoanalytischen Aufklärungsarbeit erst dann entfalten, wenn hinter ihr die »Autorität« der Gesellschaft steht, d. h. wenn diese eingesehen hat, daß die psychoanalytischen Erkenntnisse ihrem eigenen Interesse entsprechen. Hat die Gesellschaft erst die Wahrheit akzeptiert, so bleibt dem einzelnen Individuum auch nichts anderes mehr übrig; der »enormen von ihr ausgehenden Suggestion« (GW VIII, S. 109) kann sich auf die Dauer keiner entziehen. Der »Widerstand«, den die Gesellschaft der Psychoanalyse entgegenbringt, stammt aus zwei Quellen. »Ihr kleinerer Anteil ist von der Art, wie er sich gegen die meisten wissenschaftlichen Neuerungen von einigem Belang zu erheben pflegt« (GW XIV, S. 109). Die Anerkennung der Psychoanalyse wird nur zum geringsten Teil durch eine allgemeine konservative Einstellung des Denkens verhindert. Dieses allgemeine Misstrauen gegen jede Innovation wird potenziert durch die Inhalte der psychoanalytischen Forschung. In einem kurzen Aufsatz (»Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse« – 1917) entwickelt Freud aus dem Instrumentarium der Kulturtheorie eine umfassende Interpretation des spezifischen Widerstandes gegen die Psychoanalyse. Er greift zurück auf die Vorstellung einer onto- wie phylogenetischen Entwicklung von Narzissmus zur »Objektliebe«, wobei ersterer der ursprüngliche, nur durch die Gewalt der Umstände aufgegebene Zustand ist. Geht man davon aus, dass die frühen Theorien über die Wirklichkeit dem narzisstischen Entwicklungsstadium des Wirklichkeitssinnes entsprechen, so lässt
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sich feststellen, »daß der allgemeine Narzißmus, die Eigenliebe der Menschheit, bis jetzt drei schwere Kränkungen von Seiten der wissenschaftlichen Forschung erfahren haben. a) Der Mensch glaubte zuerst in den Anfängen seiner Forschung, daß sich sein Wohnsitz, die Erde, ruhend im Mittelpunkt der Welt befinde. … Die Zerstörung dieser narzißtischen Illusion knüpft sich für uns an den Namen und das Werk von Nik. Kopernikus. b) Der Mensch warf sich im Laufe seiner Kulturentwicklung zum Herrn über seine tierischen Mitgeschöpfe auf. Aber mit dieser Vorherrschaft nicht zufrieden, begann er eine Kluft zwischen ihr und sein Wesen zu legen. Er sprach ihnen die Vernunft ab und legte sich eine unsterbliche Seele bei. … Wir wissen es alle, daß die Forschung Ch. Darwins, seiner Mitarbeiter und Vorgänger, vor wenig mehr als einem halben Jahrhundert dieser Überhebung der Menschen ein Ende bereitet hat. … Dies ist aber die zweite, biologische Kränkung des menschlichen Narzißmus. c) Am empfindlichsten trifft wohl die dritte Kränkung, die psychologischer Natur ist« (GW XII, S. 6 ff.). Sie folgt aus den Ergebnissen der psychoanalytischen Forschung, die, weil sie die letzte Bastion des kollektiven und individuellen Narzissmus angreift, auf solchen erbitterten Widerstand stoßen muss. »Die beiden Aufklärungen, daß das Triebleben der Sexualität in uns nicht voll zu bändigen ist, und daß die seelischen Vorgänge an sich unbewußt sind und nur durch unvollständige und unzuverlässige Wahrnehmung dem Ich zugänglich und ihm unterworfen werden, kommen der Behauptung gleich, daß das Ich nicht Herr sei im eigenen Haus. Sie stellen miteinander die dritte Kränkung der Eigenliebe dar, die ich die psychologische nennen möchte. Kein Wunder daher, daß das Ich der Psychoanalyse nicht seine Gunst zuwendet und ihr hartnäckig den Glauben verweigert« (S. 11). Der »Widerstand« gegen die Psychoanalyse hat noch eine weitere Ursache. Ihre Forschungsergebnisse »kränken« nicht nur den Narzissmus, sie implizieren auch Kritik am Bestehenden. »Die Gesellschaft wird sich nicht beeilen, uns Autorität einzuräumen. Sie muß sich im Widerstande gegen uns befinden, denn wir verhalten uns kritisch gegen sie; wir weisen ihr nach, daß sie an der Verursachung der Neurosen selbst einen großen Anteil hat. Wie wir den Einzelnen durch die Aufdeckung des in ihm Verdrängten
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zu unserem Feinde machen, so kann auch die Gesellschaft die rücksichtslose Bloßlegung ihrer Schäden und Unzulänglichkeiten nicht mit sympathischem Entgegenkommen beantworten« (GW VIII, S. 111). An anderer Stelle hat Freud diese Beziehung zwischen Psychoanalyse und Gesellschaft noch weiter ausgeführt und sie auf die zwischen Kultur und Gesellschaftsorganisation bezogen, gleichzeitig aber auch in die allgemeine Vorstellung phylogenetischer Entwicklung integriert. »Die menschliche Kultur ruht auf zwei Stützen, die eine ist die Beherrschung der Naturkräfte, die andere die Beschränkung unsere Triebkräfte. Gefesselte Sklaven tragen den Thron der Herrscherin. … Wehe, wenn sie befreit würden; der Thron würde umgeworfen, die Herrin mit Füßen getreten werden. Die Gesellschaft weiß dies und – will nicht, daß davon gesprochen wird. Aber warum nicht? Was könnte der Erörterung schaden? Die Psychoanalyse hat ja niemals der Entfesselung unserer gemeinschädlichen Triebe das Wort geredet; im Gegenteil gewarnt und zur Besserung geraten. Aber die Gesellschaft will von einer Aufdeckung dieser Verhältnisse nichts hören, weil sie nach mehr als einer Richtung ein schlechtes Gewissen hat. Sie hat erstens ein hohes Ideal von Sittlichkeit aufgestellt – Sittlichkeit ist Triebeinschränkung –, dessen Erfüllung sie von allen ihren Mitgliedern fordert, und kümmert sich nicht darum, wie schwer dem Einzelnen dieser Gehorsam fallen mag. Sie ist aber auch nicht so reich oder so gut organisiert, daß sie den Einzelnen für sein Ausmaß an Triebverzicht entsprechend entschädigen kann. Es bleibt also dem Individuum überlassen, auf welchem Wege es sich genügende Kompensation für das ihm auferlegte Opfer verschaffen kann, um sein seelisches Gleichgewicht zu bewahren. Im Ganzen ist er aber genötigt, psychologisch über seinen Stand zu leben, während ihn seine unbefriedigten Triebansprüche die Kulturanforderungen als ständigen Druck empfinden lassen. Somit unterhält die Gesellschaft einen Zustand von Kulturheuchelei, dem ein Gefühl von Unsicherheit und ein Bedürfnis zur Seite gehen muß, die unleugbare Labilität durch das Verbot der Kritik und Diskussion zu schützen. … Die Psychoanalyse deckt die Schwächen dieses Systems auf und rät zur Änderung desselben. Sie schlägt vor, mit der Strenge der Triebverdrängung nachzulassen und dafür der Wahrhaftigkeit mehr Raum zu geben. … Infolge dieser Kritik
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ist die Psychoanalyse als ›kulturfeindlich‹ empfunden und als ›soziale Gefahr‹ in den Bann getan worden. Diesem Widerstand kann keine ewige Dauer beschieden sein; auf die Länge kann sich keine menschliche Institution der Einwirkung gerechtfertigter kritischer Einsicht entziehen« (GW XIV, S. 106 f.). Diese Theorie des aus verschiedenen Gründen notwendigen »Widerstandes« der Gesellschaft gegen die Psychoanalyse und der Notwendigkeit seiner Überwindung leistet Verschiedenes. Zunächst gelingt es ihr, nur mit Hilfe der Inhalte und Strukturen der Kulturtheorie die geschichtliche Dimension der Beziehung zwischen Gesellschaft und Wissenschaft, so wie sie sich auf dem Hintergrund der Kulturtheorie darstellte, mit dem Schicksal Freuds und der Psychoanalyse zu einem theoretischen Ganzen zu systematisieren, welches den Grundzügen der wissenschaftlichen Weltanschauung entspricht. Darüber hinaus gelingt es mit ihrer Hilfe, die theoretischen Lücken der Voraussetzungen, die Freuds Gesellschaftstheorie machte, zu schließen. Nun, wo die Zwangsläufigkeit bestimmter Phänomene erklärt war, waren die psychoanalytische Theorie und die wissenschaftliche Weltanschauung nicht mehr an die Existenz einer bürgerlichen Öffentlichkeit als Voraussetzung ihres Wirkens gebunden, diese musste sich vielmehr im Gefolge ihres Wirkens erst einstellen. Gleichzeitig erlaubte die Theorie eine Identifizierung mit dem Bestehenden, auch wenn alles sich gegen die Psychoanalyse sträubte. Insgesamt ist sie jedoch gerade dadurch gekennzeichnet, dass sie ein Teil der umfassenden Kulturtheorie ist und deshalb von deren Besonderheiten geprägt wird. Dies gilt zum einen für die Beziehung zwischen Geschichte und Gegenwart. Dadurch, dass der Prozess, welcher sich zwischen Wissenschaft und Gesellschaft abspielt, ritualisiert und mit Unausweichlichkeitscharakter ausgestattet wird, erscheint er als ontologische Strukturbesonderheit menschlicher Entwicklung, in die auch die Gegenwart und die Zukunft einbezogen sind. Die Theorie fungiert damit auch als Option auf die Zukunft und bestätigt so indirekt den Optimismus der wissenschaftlichen Weltanschauung. Die Auffassung, das Geschehen sei als quasi institutionalisierter Konflikt zu interpretieren, hält am allgemeinen Geschichtskonzept auch unter Berücksichtigung der realen Vorgänge fest, allerdings um den Preis, dass die historischen Ereignisse den allgemeinen
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Prinzipien phylogenetischer Interpretation unterworfen werden: Das eigentliche Geschehen spielt sich jenseits der konkreten Geschichte ab und benutzt die beteiligten Subjekte als seine Objekte, deren es zu seiner Verwirklichung bedarf. Dazu gehört auch, dass das Ganze aufgespalten wird in zwei Teile, die untereinander nicht in Beziehung stehen, sondern nur jeder für sich kausal wirksam sind. Neben dem phylogenetischen Aspekt steht derjenige des Verhaltens »der« Gesellschaft; demgegenüber beschäftigt sich der erstere mit den Problemen »der Menschheit«. Beide können deshalb nicht vermittelt werden, weil sie die verschiedenen Dimensionen der Kulturtheorie vertreten, deren diese sich bedienen muss, um die ganze Wirklichkeit aus ihren Voraussetzungen und Ergebnissen heraus erklären zu können und die an sich unvereinbar sind. Der phylogenetische Ansatz erfasst die anthropologisch vorgegebene Reaktion der Gattung – der Summe aller Individuen – und damit die Seite allgemeiner Gesteuertheit menschlichen Verhaltens. Daraus jedoch lassen sich keine spezifischen gesellschaftlichen Konstellationen und Vorgänge, die Anlass zur spezifischen Kritik geben, ableiten. Um dies zu erklären, greift Freud seinen pragmatischen Gesellschaftsbegriff, nachdem Gesellschaft die allgemeine, dem rationalen Interesse aller verpflichtete Organisationsinstanz des interindividuellen Verkehrs ist, auf und stellt »die« Gesellschaft den Individuen gegenüber. Um nun nicht nur funktionales, sondern auch noch dysfunktionales Verhalten dieser Gesellschaft erfassen zu können, ist Freud nicht nur genötigt, die Gesellschaft mit der Fähigkeit zu rationalem Handeln auszustatten, sondern muss noch einen Schritt weitergehen in Richtung auf die ohnehin schon im phylogenetischen Konzept angelegte Tendenz zur Individualisierung der Gesellschaft und sie gleichzeitig, im Gegensatz zur Gattung, mit umfassendem Wissen über die fundamentalen Zusammenhänge zwischen Kultur und Psyche auszurüsten. Weil sie darüber Bescheid weiß, handelt die Gesellschaft entsprechend – in dieser impliziten Annahme verdeutlicht sich vielleicht am meisten die rationalistische Voraussetzung von Freuds Gesellschaftskonzept. Sie führt an dieser Stelle der Theorie dazu, dass Freud der Gesellschaft ganz individualistische Reaktionen unterstellen muss: Sie hat »Schuldbewusstsein«, ist »unsicher« und so weiter. Damit kann Freud zwar den Einheits-
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begriff »Gesellschaft« mit den Positionen der Kulturtheorie und seinen eigenen Erfahrungen beziehungsweise dem »Schicksal« der Psychoanalyse in Verbindung bringen, die eigentlichen Ursachen des dysfunktionalen »Verhaltens« der Gesellschaft bleiben jedoch weiterhin unerklärbar. Die Möglichkeit, weiterhin am Konzept der permanenten Höherentwicklung der Kultur festhalten zu können, wird erkauft durch eine idealistische Konzentration auf die besondere Qualität der Wahrheit und eine im Rahmen der Kulturtheorie selbst irreversible Tendenz zur Aufspaltung und Entpolitisierung der gesellschaftlichen und historischen Prozesse. Die wissenschaftliche Weltanschauung umfasst als kulturpolitischer Standpunkt auch die Dimension gesellschaftlicher Praxis, wie sie sich aus der Parteinahme für die Kultur unmittelbar ergibt. Für die Psychoanalyse sind dies primär die therapeutische Praxis als »Nacherziehung« und die rationalere Gestaltung der Erziehung durch Prophylaxe. Auf die inhaltlichen Strukturen des Verhältnisses von Patient und Gesellschaft ist bereits weiter unten eingegangen worden, es ändert sich nicht, rückt aber im Rahmen der Kulturtheorie aus dem Blickpunkt, weil diese sich mit allgemeinen Beziehungen zwischen »Kultur« und Individuum beschäftigt. In diesem Zusammenhang geht es nur darum, dass die Dimension der gesellschaftlichen Praxis, die sich aus der wissenschaftlichen Weltanschauung ergibt, durch die Struktur der Kulturtheorie entscheidend eingeengt ist auf Erziehung und Nacherziehung. Auch der Gesellschaft gegenüber kann sich der Psychoanalytiker nur als »Erzieher« oder »Therapeut« verhalten. Umfassende gesellschaftspolitische Praxis fällt bei Freud unter den Begriff »staatsmännische Experimente« (Freud, 1968, S. 398 f.), welche nur mit Härte und Blindheit durchführbar sind, was auch mit der impliziten Voraussetzung zusammenhängt, im Bestehenden seien die Grundstrukturen der rationalen bürgerlichen Gesellschaft verwirklicht, weshalb eine umfassende Veränderung unnötig und gefährlich sei, zumal sie vom Standpunkt der wissenschaftlichen Weltanschauung nicht zu rechtfertigen ist. Aber im Konzept der Erziehung reproduzieren sich die Schwierigkeiten, die sich innerhalb der Kulturtheorie zwischen Parteilichkeit und Neutralität ergaben. Solange Erziehung allgemein auf »Kultur« bezogen wird, bleibt sie relativ unproblematisch, weil die Ergebnisse der Kulturtheorie ihr ihre Aufgabe
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eindeutig vorschreiben. »Wir haben verstanden, die Schwierigkeit der Kindheit liegt darin, daß das Kind in einer kurzen Spanne Zeit sich die Resultate einer Kulturentwicklung aneignen soll, die sich über Jahrzehntausende erstreckt, Triebbeherrschung und soziale Anpassung, wenigstens die ersten Stücke von beiden« (GW XV, S. 158). Unproblematisch bleibt auch die therapeutische Praxis, wenn man, wie Freud, davon ausgeht, dass das autonome Individuum, nach seiner Wiederherstellung durch das neutrale Instrument »Psychoanalyse« seinen Weg selbst suchen könne, dass andererseits die Psychoanalyse als wissenschaftliche Praxis weltanschaulich nur neutral sein könne, wobei als »weltanschaulich« jeder spezifische Anspruch an die Gesellschaft klassifiziert wird. »Wir Analytiker setzen uns eine möglichst vollständige und tiefreichende Analyse des Patienten zum Ziel, wir wollen ihn nicht durch die Aufnahme in die katholische, protestantische oder sozialistische Gemeinschaft entlasten, sondern ihn aus seinem eigenen Inneren bereichern, indem wir seinem Ich die Energien zuführen, die durch Verdrängung unzugänglich in seinem Inneren gebunden sind, und jene anderen, die das Ich in unfruchtbarer Weise zur Aufrechterhaltung der Verdrängung verschwenden muß« (GW XIV, S. 293). Erziehung und Nacherziehung setzten dabei ihren Wirkungszusammenhang als gesichert voraus. Jede Differenzierung innerhalb des Einheitsbegriffes Kultur selbst und jeder Versuch, das allgemeine Konzept mit dem konkreten Prozess gesellschaftlicher Auseinandersetzung zu vereinbaren, muss deshalb zwangsläufig scheitern. Dies demonstriert die folgende Erörterung Freuds über die Beziehung zwischen Erziehung und Gesellschaft, die allgemein keine Lösung des Problems findet und dann konkret nur dazu kommt, sich indirekt dem Bestehenden anzupassen. »Es ist – und gewiß mit Recht – gesagt worden, jede Erziehung sei eine parteiisch gerichtete, strebe an, daß das Kind sich der bestehenden Gesellschaftsordnung einordne, ohne Rücksicht darauf, wie wertvoll oder wie haltbar diese an sich sei. Wenn man von den Mängeln unserer gegenwärtigen sozialen Einrichtungen überzeugt ist, kann man es nicht rechtfertigen, die psychoanalytisch gerichtete Erziehung noch in ihren Dienst zu stellen. Man muß ihr ein anderes, höheres Ziel setzen, das sich von den herrschenden sozialen Anforderungen frei gemacht hat. Ich meine aber, dieses Argument
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ist hier nicht am Platz. Die Forderung geht über die Funktionsberechtigung der Analyse hinaus. Auch der Arzt, der zur Behandlung einer Pneumonie gerufen wird, hat sich nicht darum zu kümmern, ob der Erkrankte ein braver Mann, ein Selbstmörder oder ein Verbrecher ist, ob er verdient am Leben zu bleiben und ob man es ihm wünschen soll. Auch dieses andere Ziel, welches man der Erziehung setzen will, wird ein parteiisches sein, und es ist nicht Sache des Analytikers, zwischen den Parteien zu entscheiden. Ich sehe ganz davon ab, daß man der Psychoanalyse jeden Einfluss auf die Erziehung verweigern wird, wenn sie sich zu Absichten bekennt, die mit der bestehenden Ordnung unvereinbar sind. Die psychoanalytische Erziehung nimmt eine ungebetene Verantwortung auf sich, wenn sie sich vorsetzt, ihren Zögling zum Aufrührer zu modeln. Sie hat das ihrige getan, wenn sie ihn möglichst gesund und leistungsfähig entläßt. In ihr selbst sind genug revolutionäre Momente enthalten, um zu versichern, daß der von ihr Erzogene im späteren Leben sich nicht auf die Seite des Rückschritts und der Unterdrückung stellen wird. Ich meine sogar, revolutionäre Kinder sind in keiner Hinsicht wünschenswert« (GW XV, S. 162). Freud kann Kritik und Neutralität auch an dieser Stelle nicht mehr vermitteln. Im konkreten Kontext kann er den kritischen Impetus der wissenschaftlichen Weltanschauung nicht mehr festhalten, weil er nicht mehr auf den Einheitsbegriff Kultur beziehbar ist, sondern »verschiedenen Seiten« innerhalb der Kultur gegenübersteht. Eine konkrete Parteinahme für das Ganze scheint nicht möglich, weil jede konkrete Parteinahme innerhalb dieser Interpretation »parteiisch« ist. Was bleibt, ist der theoretische Rekurs auf die angebliche Neutralität des Arztes und die Hoffnung auf die magische Qualität der Wahrheit. Ganz abgesehen davon, dass die Interpretation keine Klarheit über die verwendeten Begriffe und ihre Beziehung untereinander: »bestehende Gesellschaftsordnung«, »Parteien«, »man«, »Seite des Rückschritts« und so weiter bringt, bleibt das Problem des Verhältnissen von Gesellschaft, Engagement, Praxis und gesellschaftlicher Gegensätze auf der Ebene der Kulturtheorie ungelöst und unlösbar, weil deren antinomische gesellschaftstheoretischen Voraussetzungen in ihr nicht aufhebbar sind.
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7.4. Die zweite Dimension der Kulturtheorie Die eigentliche Problematik der wissenschaftlichen Weltanschauung liegt jedoch nicht in den bisher vorgeführten, aus den Strukturen der Kulturtheorie und ihrer gesellschaftstheoretischen Voraussetzungen hervorgehenden Widersprüche. Sie liegt vielmehr in der Tatsache, dass sie bei aller Bedeutung, die ihr im Rahmen der Theorie und in der Wirklichkeit zukommt, nur einen Teil des Ganzen repräsentiert. Sie stellt den Ausdruck der Entwicklung des Individuums und der Gattung zur Rationalität und deren höchste Entwicklungsstufe dar. Die andere Seite der Kultur ist die »virtuelle Kulturfeindlichkeit« des Einzelnen, die nicht zu beseitigen ist. Höchstes Ziel der wissenschaftlichen Weltanschauung kann deshalb lediglich das »Primat der Vernunft«, nicht die Rationalität selbst sein, weil zwischen Denkbarem und Verwirklichbaren ein Unterschied bleibt. Diese Diskrepanz fällt durchaus noch innerhalb des Rahmen der Kulturtheorie selbst, die ja mit Hilfe dieses Modells die Ambiguität der Kultur zu beschreiben und interpretieren suchte. Daneben ist jedoch noch ein weiterer Aspekt für die zweite Ebene der Theorie, aus der sich dann eine die wissenschaftliche Weltanschauung ergänzende Vorstellung von gesellschaftlicher Praxis ableitet, verantwortlich. Die Kulturtheorie beschäftigt sich mit »dem« Individuum und ist von daher ihrer Struktur nach eine allgemeine Psychologie, die allgemeine Grundlagen erforscht. Zur Erfassung der konkreten Vorgänge, an denen konkrete Individuen beteiligt sind, bedarf sie deshalb der Ergänzung durch eine differentielle Psychologie, die spezifische Unterschiede darzustellen sucht. Die Aufteilung der Psychologie in einem allgemeinen Teil, welcher sich mit Grundlagenforschung befasst, und einen differentiellen Teil, der individuelle Unterschiede beschreiben soll, ist in gewisser Hinsicht bereits eine gesellschaftstheoretische Voraussetzung. Sie geht davon aus, dass es bereits jenseits jeder Vergesellschaftung ein Individuum gibt, dessen je verschiedene Reaktion in der Gesellschaft dann aus individuellen Unterschieden zu erklären sei. Bei Freud hatte diese Unterscheidung in den frühen Phasen keine besondere Rolle gespielt. Er hatte sich allerdings schon während der frühen Stadien der psychoanalytischen Theoriebildung
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des bekannten Bildes von der »Ergänzungsreihe« und der Bedeutung aprioristischer Entwicklungsrichtungen der Libido sowie des Arguments ihrer individuellen Stärke bedient, um ex post die Lücken der Theorie zu füllen, die noch offen waren (vgl. 3.2.). In der entfalteten Kulturtheorie wurde die Situation dadurch verändert, dass Freuds gesellschaftstheoretische Argumentation sich auf die allgemeinen, als ontologische Qualität erscheinenden Ergebnisse seiner Forschung berief. Deren Pointierung und Bedeutung innerhalb der Kulturtheorie verstärkt auch die der differentiellen Psychologie, die sie ergänzt. Dieses Moment und die inhaltlichen Darstellungen der Kulturtheorie bedingen die Herausbildung einer zweiten Ebene innerhalb der Kulturtheorie selbst, mit deren Hilfe Freud versucht, nicht nur die Antinomien des Bestehenden, sondern auch den Kosmos der Vielfältigkeiten zu erklären. Sein Ansatz ist relativ einfach: Er baut die früheren Interpretationen zu einer umfassenden Theorie der Ungleichheiten aus. Diese umfasst zunächst angeborene individuelle Unterschiede. Wie bereits erwähnt, hatte Freud von Anfang an angenommen, dass es unterschiedliche Triebstärken gibt (vgl. GW VII, S. 150). Nun geht er davon aus, »daß das einzelne Ich von vornherein mit individuellen Dispositionen und Tendenzen ausgestattet ist« (GW XVI, S. 85 f.). Dies signalisiert gegenüber Freuds früheren konkreten Analysen, die eben jene Ichunterschiede aus unterschiedlichen »Libidoschicksalen«, aus spezifischen lebensgeschichtlichen Erfahrungen zu erklären suchten, eine erhebliche Strukturverschiebung. Während in den früheren Phasen seiner Arbeit nur eine mittelbare Beziehung zwischen vortheoretischer Gewissheit über gesellschaftliche Zusammenhänge und der psychoanalytischen Forschung bestand, so dass die letztere einige Bewegungsfreiheit gegenüber der ersteren hatte, brachte ihre gesellschaftstheoretische Verwendung die Psychoanalyse in kulturtheoretischen Zugzwang. Die relative Ausschöpfung ihrer Entwicklungsmöglichkeiten auf dem Hintergrund ihrer immanenten Voraussetzungen und die Dominanz kulturtheoretischer Aufgaben der Psychoanalyse führten zu einer Verschärfung der vorher eher latenten Antinomien, die letztlich Freud dazu zwangen, zugunsten der Kulturtheorie auf die Möglichkeiten und zum Teil auch auf bereits vorhandene Einsichten
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zu verzichten und theoretisch auf ein starres Modell differentieller Psychologie zu regredieren. Die Bedeutung der Theorie der Ungleichheit geht jedoch weit über die Erklärung von Unterschieden von Individuen und Gruppen hinaus. Die differentielle Psychologie ist gleichzeitig der Ansatz, mit dessen Hilfe Freud die faktischen Geschichtsvorgänge und den Zustand der Gesellschaftsorganisation erklärt. Aus den individuellen Unterschieden leiten sich die sozialen Unterschiede ab, die dann den allgemeinen phylogenetischen Vorgängen ihre konkrete Gestalt, die also aus zusätzlichen Ursachen stammt, geben. »Die Gemeinschaft muß permanent erhalten werden, sich organisieren, Vorschriften schaffen, die den gefürchteten Anlehnungen vorbeugen, Organe bestimmen, die über die Einhaltungen der Vorschriften – Gesetze – wachen und die Ausführung der rechtmäßigen Gewaltakte besorgen. In der Anerkennung einer solchen Interessengemeinschaft stellen sich unter den Mitgliedern einer geeigneten Menschengruppe Gefühlsbindungen her, Gemeinschaftsgefühle, in denen ihre eigentliche Stärke beruht. Damit, denke ich, ist alles Wesentliche bereits gegeben: die Überwindung der Gewalt durch Übertragung der Macht an eine größere Einheit, die durch Gefühlsbindungen ihrer Mitglieder zusammengehalten wird. … Die Verhältnisse sind einfach, solange die Gemeinschaft nur aus einer Anzahl gleich starker Individuen besteht. Die Gesetze dieser Vereinigung bestimmen dann, auf welches Maß von persönlicher Freiheit, seine Kraft als Gewalt anzuwenden, der Einzelne verzichten muß, um ein gesichertes Zusammenleben zu ermöglichen. Aber ein solcher Ruhezustand ist nur theoretisch denkbar, in Wirklichkeit kompliziert sich der Sachverhalt dadurch, daß die Gemeinschaft von Anfang an ungleich mächtige Elemente umfaßt, Männer und Frauen, Eltern und Kinder, und bald infolge von Krieg und Unterwerfung, Siegreiche und Besiegte, die sich in Herren und Sklaven umsetzen. Das Recht der Gemeinschaft wird dann zum Ausdruck der ungleichen Machtverhältnisse in ihrer Mitte« (GW XVI, S. 16). Während die allgemeine Psychologie in der Kulturtheorie den ursprünglichen demokratischen Anspruch aus dem Individuum ableitete, begründet nun die differentielle Psychologie die undemokratische Wirklichkeit aus den Menschen und erklärt damit die Gründe für und den Ursprung der jenseits
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der allgemeinen Organisation existierenden sozialen Strukturen. Die Kulturtheorie konzentrierte sich primär auf das Individuum und seine Antinomien, um daraus den allgemeinen Verlauf und die allgemeine Struktur der Geschichte und der Gesellschaft zu interpretieren. Nun gewinnt sie eine neue Dimension, aus der sich der »Rest« der Wirklichkeit, wie er sich auf ihrem Hintergrund darstellt, ableiten lässt. Der Verlauf der Geschichte ergibt sich nun zwanglos aus dieser ihrer zweiten Quelle, wobei Freud auf die von ihm gefundenen allgemein menschlichen Eigenschaften zurückgreift. »Von da an gibt es in der Gemeinschaft zwei Quellen von Rechtsunruhe, aber auch von Rechtsfortbildung. Erstens die Versuche Einzelner unter den Herren, sich über die für alle gültigen Einschränkungen zu erheben, also von der Rechtsherrschaft auf die Gewaltherrschaft zurückzugreifen, zweitens die ständigen Bestrebungen der Unterdrückten, sich mehr Macht zu verschaffen« (GW XVI, S. 16). Die Polemik gegen Marx oder das, was Freud als Marx’ Geschichtstheorie auffasste, wendete sich nicht gegen die Auffassung, die Geschichte sei eine Geschichte von Klassenkämpfen, sondern gegen die ökonomistische Bestimmung der Klassen. »Ich weiß nicht, wie ich von meiner Laienmeinung frei werden kann, die gewohnt ist, die Klassenbildung in der Gesellschaft auf die Kämpfe zurückzuführen, die ich seit dem Beginn der Geschichte zwischen den um ein Geringes verschiedenen Menschenhorden abspielten. Die sozialen Unterschiede, meinte ich, waren ursprünglich Stammes- oder Rassenunterschiede. Psychologische Faktoren, wie das Ausmaß der konstitutionellen Aggressionslust, aber auch die Festigkeit der Organisation innerhalb der Horde, und materielle, wie der Besitz der besseren Waffen, entschieden den Sieg. Im Zusammenleben auf demselben Boden wurden die Sieger die Herren, die Besiegten die Sklaven« (GW XV, S. 192). Die gesellschaftstheoretische Funktion der differentiellen Psychologie liegt nicht nur in der Ergänzung der phylogenetischen Geschichtstheorie, sie erklärt auch die sozialen Differenzierungen auf einer anderen logischen Ebene. Bisher hatte Freud konstatiert, dass die den Fortschritt oft so störende Massenbildung als Überrest der »Urhorde« zu verstehen sei, hatte aber diese Urhorde wiederum schon als soziale Organisation aufgefasst. Nun löst er dieses Problem radikal: »Ein Stück der angeborenen und nicht zu
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beseitigenden Ungleichheit [ist], daß sie in Führer und Abhängige zerfallen. Die letzteren sind die übergroße Mehrheit, sie bedürfen einer Autorität, welche für sie Entscheidungen fällt, denen sie sich meist bedingungslos unterwerfen« (GW XVI, S. 24). Damit ist, nach dem der konkreten Herkunft von Herrschaft und der sozialen Struktur, auch das Problem der vertikalen psychologischen Organisation der Gesellschaft gelöst. Ein weiteres theoretisches Element gehört, obwohl inhaltlich aus dem Bereich der allgemeinen Psychologie stammend, systematisch in diesem Zusammenhang. Nachdem die Herkunft und der Verlauf der Kultur allgemein aus dem Individuum, die spezifischen psychologischen und soziologischen Differenzierungen aus der Masse der Individuen abgeleitet wurde, steht noch die Frage offen, woher die Unterschiede und die sich daraus ableitenden Beziehungen zwischen den verschiedenen Gruppen und Staaten, die insgesamt der kulturellen Entwicklung unterliegen, stammen. Die Beantwortung der Frage nach der horizontalen Differenzierung innerhalb desselben Kulturkreises beantwortet auch gleichzeitig die nach der Herkunft und der sozialen Funktion von Vorurteilen und ähnlichen Mitteln der sozialen Abgrenzung. Freud greift dazu zurück auf seine Analyse der Funktion des Witzes (GW VI, S. 224 f.): Es ist vor allem die »lustvolle Differenz« zu anderen, die als Komik genossen wird. Dieser – von Freud nicht weiter auf gesellschaftliche Ursachen analysierte und schon zu diesem Zeitpunkt von daher als aprioristisch missverstandene – Unterschied des Ich zum Anderen, gewann im Verlauf der Entwicklung der psychoanalytischen Theorie die neue Qualität einer ontologischen Feindseligkeit, die sich aus der des Ich gegen jedes Nicht-Ich ergab. Deshalb spekulierte Freud bereits 1918: »Es wäre verlockend, dieser Idee nachzugehen und aus dem ›Narzißmus der kleinen Unterschiede‹ die Feindseligkeit abzuleiten, die wir in allen menschlichen Beziehungen erfolgreich gegen die Gefühle von Zusammengehörigkeit streiten und das Gebot der allgemeinen Menschenliebe überwältigen sehen« (GW XII, S. 169). Mit dem Umfang der Kulturtheorie, ihrer Verfestigung und dem Anwachsen des Anspruches an das, was sie alles erklären sollte, wurde diese Spekulation zur Gewissheit. Der »Narzißmus der kleinen Unterschiede« erklärte neben den interindividuellen Feindseligkeiten nun auch die zwi-
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schen »Großindividuen«. »Nach dem Zeugnis der Psychoanalyse enthält fast jedes intime Gefühlverhältnis zwischen zwei Personen von längerer Dauer – Ehebeziehung, Freundschaft, Eltern- und Kindschaft – einen Bodensatz von ablehnenden, feindseligen Beziehungen, der nur infolge von Verdrängung der Wahrnehmung entgeht. Unverhüllter ist es, wenn jeder Kompagnon mit seinem Gesellschafter hadert, jeder Untergebene gegen seinen Vorgesetzten murrt. Dasselbe geschieht dann, wenn die Menschen zu größeren Einheiten zusammentreten. Jedes Mal, wenn sich zwei Familien durch eine Eheschließung verbinden, hält sich jede von ihnen für die bessere oder vornehmere auf Kosten der anderen. Von zwei benachbarten Städten wird jede zur mißgünstigen Konkurrentin der anderen; jedes Kantönli sieht geringschätzig auf das andere herab. Nächstverwandte Völkerstämme stoßen einander ab, der Süddeutsche mag den Norddeutschen nicht leiden, der Engländer sagt dem Schotten alles Böse nach, der Spanier verachtet den Portugiesen. Dass bei größeren Differenzen sich eine schwer zu überwindende Abneigung ergibt, des Ariers gegen den Semiten, des Galliers gegen den Germanen, des Weißen gegen den Farbigen, hat aufgehört, uns zu verwundern« (GW XIII, S. 110 f.). Der »Narzißmus der kleinen Unterschiede« und seine negativen Folgen sind in gewisser Hinsicht auch der Preis dafür, dass überhaupt eine Identifizierung mit der Kultur stattfindet. »Die Befriedigung, die das Ideal den Kulturteilnehmern schenkt, ist also narzißtischer Natur, sie ruht auf dem Stolz auf die bereits geglückte Leistung. Zu ihrer Vervollständigung bedarf sie des Vergleichs mit anderen Kulturen, die sich auf andere Leistungen geworfen und andere Ideale entwickelt haben. Kraft dieser Differenzen spricht sich jede Kultur das Recht zu, die andere gering zu schätzen. Auf solche Weise werden die Kulturideale Anlaß zur Entzweiung und Verfeindung zwischen verschiedenen Kulturkreisen, wie es unter Nationen am deutlichsten wird« (GW XIV, S. 334). In den späteren, pointierteren Formulierungen der Kulturtheorie, in denen die Konsequenzen ihrer Anlage und Interpretation des Bestehenden schärfer herausgearbeitet beziehungsweise radikal zu Ende gedacht sind, drückt Freud sich dann so aus: »Das Gemeinschaftsgefühl der Massen braucht zu seiner Ergänzung die Feindseligkeit gegen eine außenstehende Minderzahl, und die numerische Schwäche dieser Ausgeschlos-
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senen fordert zu deren Unterdrückung auf« (GW XVI, S. 197). Mit Hilfe der Theorie des »Narzißmus der kleinen Unterschiede« ist es möglich, ohne den Rahmen des soziologischen Denkens, welchen die Kulturtheorie zulässt, zu überschreiten, die Aspekte der sozialen Wirklichkeit zu erfassen und auf eine hermeneutische Formel zu bringen, die bisher nicht in die Kulturtheorie integriert waren. Sie stellt gleichzeitig eine inhaltliche und begriffliche Erweiterung der Kulturtheorie dar. Dies gelingt ihr allerdings nur, indem sie die bereits vorhandenen Schwierigkeiten perpetuiert und noch weiter verdeckt. Im obigen Zitat (XIII, S. 110 f.) geht die Erklärung und Beschreibung auf Kosten der soziologischen Möglichkeiten der Begriffsbildung: Um den »Narzissmus« beschreiben zu können, muss Freud das ganze Spektrum sozialer Beziehungen auf eine Grundstruktur reduzieren und auf eine Grundform zurückführen, was ihrer systematischen Entqualifizierung gleichkommt. Der Unterschied zwischen freiwilligen und erzwungenen sozialen Beziehungen und zwischen deren unterschiedlichen inhaltlichen und formalen Strukturen kann mit Hilfe dieses Modells nicht mehr erfasst werden; Konkurrenz oder Unterdrückung als Ursachen von »Hader« oder »Murren« bleiben berücksichtigt. Diese differentialpsychologischen Bestimmungen von gesellschaftstheoretischer Relevanz werden auf der anderen Seite durch allgemeinpsychologische Argumentationen gestützt, die denselben kulturtheoretischen Stellenwert besitzen. Das Pendant zur »Theorie des Narzißmus der kleinen Unterschiede« ist die libidoökonomische Aussage, die Besetzungsenergien des Individuums reichten ohnehin nicht aus, sich mit allen seinen Mitmenschen zu identifizieren, so daß das Ideal der Nächstenliebe auch von daher illusionär sei: »Wenn ich (den Fremden) aber lieben soll, mit jener Weltliebe, bloß weil er auch ein Wesen dieser Erde ist, wie das Insekt, der Regenwurm, die Ringelnatter, dann wird, fürchte ich, ein geringer Betrag Liebe auf ihn entfallen« (GW XIV, S. 469). Beide Ansätze gehen bereits davon aus, dass der Andere ein Fremder ist und beziehen diese Tatsache nicht mehr in die Reflexion mit ein. Die differentielle Psychologie ist insgesamt eine Ergänzung und Erweiterung der Kulturtheorie. Freud selbst behandelt sie, ohne dies allerdings so zu bezeichnen, wie dies hier geschieht, als eine zweite Dimension der Kulturtheorie, in der zusätzliche Daten an-
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deren Ursprungs verwertet werden. Auch wenn er selbst die beiden Dimensionen, aus denen die Kulturtheorie nun besteht, nicht unmittelbar in Verbindung bringt, so besteht doch ein enger Zusammenhang zwischen ihnen. Dies beschränkt sich nicht darauf, dass die Struktur der einen die andere erforderlich machte, sondern bezieht sich vor allem auf gemeinsame inhaltliche und formale Grundlagen. Denn auch die differentielle Psychologie baut explizit auf die Vorstellungen vom bürgerlichen Individuum auf, indem sie beispielsweise als selbstverständlich voraussetzt, »natürliche« Reaktion sei das Ausnutzen von Vorteilen und schließt an die rationalistische Gesellschaftsvorstellung an, und deren Kehrseite vorzuführen. Auch ihr intratheoretischer Aufbau und die Struktur der Argumentation, welche sich aus ihr ergibt, entsprechen denen der allgemeinen Psychologie, deren sich die Kulturtheorie zunächst bediente. Wenn man so will, ist Freuds differentielle Psychologie ihrem Wesen nach auch allgemeine Psychologie, insofern ihre Ergebnisse denselben Stellenwert besitzen. Bedeutsam sind für Freud nur die allgemeinen Befunde, aus denen sich ontologische Strukturen des Sozialen ableiten; es geht ihm nicht um konkrete Ungleichheiten, die angeboren sind, sondern um eine allgemeine wesenslogische Bestimmung der Kultur, die sich aus der Tatsache angeborener Ungleichheit ergibt. Es sind die »späten« Schriften Freuds, in denen die differentielle Psychologie relevant wird. Dies mag auch dadurch bedingt sein, dass einerseits die allgemeine politische Lage genug Anlass zu trüben Prognosen gab, andererseits Freud ein wahres Martyrium an privatem und öffentlichem Schicksal hinter sich hatte, welche keinen Anlass für Optimismus boten. Ihre eigentliche Grundlage liegt jedoch sicher in der Dynamik der Theorie selbst. Die gesellschaftstheoretische Grundlage der psychoanalytischen Forschung war nicht tragfähig genug für die tiefgreifenden Einsichten der Psychoanalyse, während andererseits durch die so gewonnenen Erkenntnisse deren Schranken nicht aufgebrochen werden konnten. So musste paradoxerweise die fortschreitende Erkenntnis der Komplexität des Sozialen und der Schwierigkeit des Fortschritts dazu führen, dass im optimistischen Pessimismus die Resignation, in der Forschung, die »Wahrheit zu fatieren«, bereits angelegt, die Oberhand gewann.
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7.5. Elitetheorie und Verantwortungsethik Spätestens mit dem Bedeutungszuwachs der »zweiten Dimension« der Kulturtheorie stellte sich Freud erneut die Frage gesellschaftlicher Praxis. Mochte noch das Modell der gesellschaftlichen Adaptation von Fortschritt, also der »Widerstandsanalyse« der Gesellschaft, unproblematisch sein, so verschob sich mit der Diagnose des psychischen Zustandes der Massen und erst recht die Annahme, dies sei wesentlich auch genetisch verankert der Schwerpunkt der Argumentation. Ebenso wie es im Kontext der Kulturtheorie nicht mehr unmittelbar um die Erstarkung des Ich, sondern des Über-Ich ging, muss sich Freud nun, statt auf die Frage nach den Bedingungen der Genese ich-starker Individuen, auf die nach der der »Führer«, die die kulturfeindlichen Massen anleiten und in Schach halten, konzentrieren. Die einzige gesellschaftliche Praxis, die der wissenschaftlichen Weltanschauung ihrem Prinzip nach entsprach, war Aufklärung im direkten und indirekten Sinn; man könnte auch umgekehrt sagen, sie sei der Ausdruck aufklärerischen Bewusstseins. Aber auch Aufklärung setzt im gewissem Sinne Aufklärung beziehungsweise aufklärerisches Interesse voraus, weil ihre Erkenntnisse nur durch sich selbst wirken sollen: »Der Wert unserer Arbeit muß … darin liegen, daß sie nichts enthalten, was auf Grund von Autorität angenommen ist« (Freud u. Pfister, 1963, S. 19). Es war jedoch schon früh, noch bevor Freud, gezwungen durch das »Schicksal« der Psychoanalyse, sich daran machte, die Beziehung zwischen Gesellschaft und Fortschritt zu analysieren, als er feststellte, dass es in der Wirklichkeit mit den Voraussetzungen der Aufklärung nicht allzu weit her war. Er schrieb 1901 an Fließ: »Der Kontakt mit dem Volk wird doch sicher ein Mittel sein, den großen biologischen Dingen, die (wichtig) sind, eine gewisse Beachtung zu sichern. Die Leute gehen doch nur auf die Autorität, die man sich wiederum nur erwerben kann, wenn man etwas macht, was ihnen zugänglich ist« (Freud, 1962, S. 281). Die theoretische Vorstellung war mit der konkreten Wirklichkeit nicht identisch; neben dem aufklärerischen Anspruch stand bei Freud immer schon eine den praktischen Notwendigkeiten Rechnung tragende Einstellung. »Das Volk braucht ja doch mehr Respekt als Verständnis vor der Wissenschaft, we-
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nigstens wie die Dinge heute stehen« (Jones, 1960 ff., I, S. 229). Es ist bekannt, wie Freud in der Kulturtheorie diese Diskrepanz theoretisch interpretierte. Daraus entwickelte sich mit Notwendigkeit eine, das aufklärerische Modell überlagernde und es in concreto suspendierende Praxisvorstellung, mit deren Hilfe Freud versuchte, wenigstens das Ziel der Aufklärung unter den diagnostizierten Bedingungen zu verwirklichen, soweit dies möglich war. Die Umstände der Kulturtheorie ließen der Gestalt, die diese Vorstellung annehmen konnte, relativ wenig Spielraum. Auch wenn Freud in konkreten Zusammenhängen Kritik an gesellschaftlichen Institutionen übt, so ging er doch allgemein davon aus, dass »Gesellschaft« als Ganzes eine neutrale, dem Interesse Aller verpflichtete Einrichtung zur Regelung des Verkehrs der Individuen untereinander sei, welcher durch die allgemeinen psychischen Eigenschaften des Individuums erschwert wurde. Auf dem Hintergrund dieser systematischen Trennung von »Gesellschaft« als sozialer Organisationsform und interindividueller Interaktion konnte das Problem gesellschaftlicher Veränderung nur zum geringsten Teil eine Frage der Änderung von Institutionen sein; es musste vielmehr unmittelbar mit der Qualität der Beziehungen der Individuen untereinander zusammenhängen. Neben der Einsicht in die Komplexität der Beziehungen der Individuen untereinander und den Umständen der Kulturtheorie, ist noch die Bedeutung der vortheoretischen Gewissheit über die Beziehung von Individuum und Gesellschaft dafür verantwortlich zu machen, dass Freuds Konzept der Veränderung sich auf die Individuen konzentriert. Dem autonomen Individuum entspricht der liberale Staat, der sich aufs Notwendigste beschränkt und den Einzelnen genug Spielraum zur persönlichen Entfaltung lässt. Einige Bemerkungen von Freud aus dem Jahre 1926 belegen, dass Freud auch noch unter den Bedingungen der Kulturtheorie daran festgehalten hat. »Ich meine, daß ein Überfluß an Verordnung und Verboten der Autorität des Gesetzes schadet. Man kann beobachten: Wo nur wenige Verbote bestehen, da werden sie sorgfältig eingehalten; wo man auf Schritt und Tritt von Verboten begleitet wird, da fühlt man förmlich die Versuchung, sich über sie hinwegzusetzen. Ferner, man ist noch kein Anarchist, wenn man bereit ist einzusehen, dass Gesetze und Verordnungen nach ihrer Herkunft
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nicht den Anspruch auf den Charakter der Heiligkeit und Unverletzlichkeit haben können, daß sie oft inhaltlich unzulänglich und für unser Rechtsgefühl verletzend sind oder nach einiger Zeit so werden, und daß es bei der Schwerfälligkeit der die Gesellschaft leitenden Personen oft kein anderes Mittel zur Korrektur solch unzweckmäßiger Gesetze gibt, als sie herzhaft zu übertreten« (GW XIV, S. 269 f.). Es ist deutlich zu erkennen, wie eng der Zusammenhang zwischen der Vorstellung vom autonomen Individuum und dem liberalen Staatskonzept ist, denn beide bedingen sich gegenseitig. Weil Freud den Obrigkeitsstaat ablehnte, andererseits an der Trennung zwischen Staat und Bürgern festhielt, erschienen ihm konkrete staatliche Vorschriften als »Übergriff der polizeilichen Bevormundung zu Schaden der intellektuellen Freiheit« (S. 271). So konnte auch unter diesen Umständen gesellschaftliche Veränderung nicht durch die Eingriffe eines autoritären Staates vonstatten gehen. So blieb unter den von der Kulturtheorie konstatierten Bedingungen nur eine Möglichkeit: Die Individuen, die den Ansprüchen der Kultur genügten, mussten als Führer für die Massen fungieren. Freud hat dieses Konzept nicht systematisch entwickelt, sondern nur gelegentlich angesprochen. Es ist jedoch die einzige logische Konsequenz, welche in der umfassenden Kulturtheorie sich in dieser Hinsicht anbot. Sie hat in gewisser Hinsicht ihr Vorbild in der weiter oben geschilderten Auffassung von der therapeutischen Situation, welche Freud hatte. Danach bestand zwischen Arzt und Patient, trotz der Gemeinsamkeit ihrer allgemein-psychologischen Ausrüstung, der wesentliche Unterschied, dass der Arzt nur dann seine Rolle korrekt erfüllen konnte, wenn er jenen »höheren Grad von Normalität« besaß, aus dem sich seine Überlegenheit gegenüber dem Patienten, aber auch seine Fähigkeit zu heilen, ableitete. Durch die Strukturverwandtheiten zwischen Arzt und Führer einerseits, Patient und Masse andererseits wiederholt sich nun diese Beziehung auf gesellschaftspolitischer Ebene. Die Analogie endet jedoch da, wo der Patient nur partiell hinter die kulturellen Standards zurückfällt, die Masse jedoch quasi durch und durch kulturfeindlich ist; das Arzt-Patient-Verhältnis von daher nur in geringem Ausmaß, das zwischen Führer und Masse umfassend autoritär sein muss.
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Wesentliches Kennzeichen der Masse ist (neben ihrer Kulturfeindlichkeit) ihre Unmündigkeit, sie ist deshalb ganz auf die Anleitung ihrer Führer angewiesen, während diese wiederum im Interesse der Kultur gezwungen sind, die Masse zu halten. Offenkundig ist, dass, ebenso wenig wie diese Problematik von der gesellschaftlichen Organisation abhängig ist, Freud unter »Führer« irgendwelche gesellschaftlichen Rollenträger oder politisch Mächtigen verstanden hat. Es liegt die Vermutung nahe, dass er damit vielmehr Menschen meint, die das, was er »Geistesadel« nannte, auszeichnete: »erhabene Persönlichkeiten«, »Fürsten der Wissenschaft« (GW VI, S. 229), »Große« wie Goethe und Leonardo da Vinci. Diese Vermutung wird auch dadurch gestützt, dass sich im Index der »Gesammelten Werke« unter dem Stichwort »Führerpersönlichkeit« der Hinweis: siehe Große Männer findet, andererseits unter Heros (Held): siehe Führerpersönlichkeit angegeben ist. Dann aber ist verständlich, warum die Rolle des Führers keiner sozialen Institution entspricht, denn im Anschluss an die massenpsychologischen Modelle Freuds, aber auch an seine vortheoretische Gewissheit über das Verhältnis von Familie und Gesellschaft besteht über den Ursprung (phylo- wie ontogenetisch) der Beziehung von Führer und Heros zur Masse kein Zweifel. »Lassen wir also gelten, daß der große Mann seine Mitmenschen auf zwei Wegen beeinflußt, durch seine Persönlichkeit und durch seine Idee, für die er sich einsetzt. Diese Idee mag ein altes Wunschgebilde der Massen betonen oder ihnen ein neues Wunschziel zeigen oder in noch anderer Weise die Massen in ihren Bann ziehen. Mitunter – und dies ist gewiß der ursprünglichere Fall – wirkt die Persönlichkeit allein und die Idee spielt eine recht geringfügige Rolle. Warum der große Mann überhaupt zu einer Bedeutung kommen sollte, das ist uns keinen Augenblick unklar. Wir wissen, es besteht bei der Masse der Menschen ein starkes Bedürfnis, nach einer Autorität, die man bewundern kann, der man sich beugt, von der man beherrscht, eventuell sogar mißhandelt wird. Aus der Psychologie des Einzelmenschen haben wir erfahren, woher dies Bedürfnis der Massen kommt. Es ist die Sehnsucht nach seinem Vater, die jedem von seiner Kindheit her innewohnt, nach demselben Vater, den überwunden zu haben der Held der Sage sich rühmt. Und nun mag uns die Erkenntnis dämmern, daß alle Züge,
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mit denen wir den großen Mann ausstatten, Vaterzüge sind, daß in dieser Übereinstimmung das von uns vergeblich gesuchte Wesen des großen Mannes besteht. Die Entschiedenheit der Gedanken, die Stärke des Willens, die Wucht der Taten gehören dem Vaterbilde zu, vor allem aber die Selbständigkeit und Unabhängigkeit des großen Mannes. … Man muß ihn bewundern, darf ihm vertrauen, kann aber nicht umhin, ihn auch zu fürchten« (GW XVI, S. 216 f.). Die Führerpersönlichkeiten, die die Masse leiten und anleiten sollen und müssen, sind also im Grunde genommen Vaterfiguren, die intrafamiliären Verhältnisse reproduzieren sich auf gesellschaftlicher Ebene. Im Gegensatz zu den in »Massenpsychologie und Ich-Analyse« beschriebenen Vorgängen kommt es hierbei jedoch darauf an, dass die der Gattung und ihrer Geschichte unausweichlich immanenten Strukturbeziehungen zwischen den Einzelnen und dem Führer mit positivem Inhalt gefüllt werden, damit aus dem Schicksal der Gattung das Bestmögliche gemacht wird. Das eigentliche Problem verlagert sich aus diesem Grund von der Erziehung im weitesten Sinne auf die Erzieher: Alles ist gut, wie Freud sagt, wenn die Führer gut sind. Je breiter im Verlauf der Entwicklung der Kulturtheorie der Raum wurde, den die differentielle Psychologie einnahm, je mehr damit die Trennung der Individuen in Führer und Masse ontologisiert wurde, bis sie schließlich als »angeboren« erschien, desto geringer wurde die Bedeutung der Massenbeeinflussung selbst, desto mehr rückte die Reproduktion jener Elite von Führern in den Vordergrund, so dass Freud 1933 das eigentliche Problem der Entwicklung der Kultur schließlich so beschrieb: »Man müßte mehr Sorge als bisher aufwenden, um eine Oberschicht selbständig denkender, der Einschüchterung unzugänglicher, nach Wahrheit ringender Menschen zu erziehen, denen die Lenkung der unselbständigen Massen zufallen würde« (GW XVI, S. 24). Wer allerdings diese Erzieher erziehen soll, kann Freud nicht angeben, fest steht für ihn nur, »daß die Übergriffe der Staatsgewalten und das Denkverbot der Kirche einer solchen Aufzucht nicht günstig sind« (S. 24). Auch die Theorie der Elite vermag die Schwierigkeiten, die sich aus den gesellschaftstheoretischen Annahmen und den Befunden der Kulturtheorie ergeben, nicht zu beheben und zum realen Geschehen
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durchzudringen; die dialektische Beziehung zwischen Masse und Führer, obwohl gerade mit Hilfe der Psychoanalyse grundsätzlich interpretierbar, bleibt bei Freud unerkannt und wird auf wenige Aspekte reduziert. Das, was den Führer auszeichnet, ist seine »Persönlichkeit«, eine Eigenschaft, die ursprünglich aus dem Vorstellungsbereich des autonomen Individuums stammt. Schon darin deutet sich an, dass der Führer dessen Nachfolge unter den Bedingungen der polarisierten Gesellschaft angetreten hat und nun die Fähigkeiten und Möglichkeiten besitzt, die ursprünglich dem (männlichen) bürgerlichen Individuum allgemein zugeschrieben wurden, auf dem Hintergrund der Kulturtheorie jedoch eher die Ausnahme gegenüber der dem kulturellen Anspruch nicht genügenden Masse darstellen. In gewisser Hinsicht kann von daher die Position, welche Freud dem Führer zuschreibt, interpretiert werden als Residuum des bürgerlichen Individuums, dessen Verklärung zum Heros bedingt ist gerade durch die gesellschaftliche Wirklichkeit, in welcher der Faschismus sich zur Massenbewegung, die ihren Inhalt im Bürgertum hatte, zu entwickeln begann. Diese Führerpersönlichkeiten sind auch gleichzeitig die einzigen, die in ihrem sozialen Handeln den Erfordernissen der bürgerlichen Gesellschaft genügen; nur weil ihr Verhalten der Norm entspricht, billigt Freud ihm normativen Charakter zu. Sie erfüllen die, von Freud »ethisch« genannten, Ansprüche der Kultur. Darunter versteht er nicht aprioristische, metaphysisch begründete Sittlichkeit, sondern konkret die notwendigen Verhaltensnormen des Verkehrs zwischen Individuen. »Die Ethik ist auf die unvermeidlichen Anforderungen des menschlichen Zusammenlebens gegründet, nicht auf die Ordnung der außermenschlichen Welt« (Freud u. Pfister, S. 139 f.). Diese »materialistische« Bestimmung des Begriffs der Ethik und ihres Inhaltes wendet sich unter Berufung auf die, von der Kulturtheorie ermittelten, objektiven Notwendigkeiten jedes sozialen Zusammenlebens gegen eine idealistische, spekulative Begründung sozialer Normen. Dass Freud dafür den Begriff »Ethik« verwendet, mag wohl auch daran liegen, dass dem restringierten soziologischen Denken eine ebenso wenig spezifizierte Sprache zur Behandlung sozialer Sachverhalte zur Verfügung steht, vor allem aber daran, dass sowohl die Möglichkeit
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als auch die Behinderung ethischen Verhaltens am Individuum festmacht. »Sittlich ist jener, der schon auf die innerlich verspürte Versuchung reagiert, ohne ihr nachzugeben. … Das Wesentliche an der Sittlichkeit (ist) der Verzicht« (GW XIV, S. 399 f.). Nachdem die Antinomien der Kultur am Individuum festgestellt und in dieser Form ontologisiert worden waren, blieb nur noch die Möglichkeit, ethisches Verhalten ebenfalls nur auf das Individuum zu beziehen. Worin diese praktische bürgerliche Ethik bestand, hat Freud nicht systematisch vorgeführt; am Anfang seiner Entwicklung nicht, weil er es mit dem bereits zitierten Ausspruch von Th. Vischer hielt: »Das Moralische versteht sich immer von selbst«, was auch der Sicherheit seiner vortheoretischen Gewissheit entsprach, in der entwickelten Kulturtheorie nicht, weil es nicht die Aufgabe der wissenschaftlichen Weltanschauung sein konnte, einen Katalog sittlicher Normen aufzustellen. Freud hat jedoch in einem Brief an Putnam, sozusagen privat, aufgezählt, was für ihn unter ethischem Verhalten zu verstehen sei: »Ich glaube an Rechtssinn und Rücksicht für den Nebenmenschen; an Mißvergnügen, andere leiden zu machen oder zu übervorteilen, kann ich es mit den Besten, die ich kennengelernt habe, aufnehmen. Ich habe eigentlich nie etwas Gemeines oder Boshaftes getan und spüre auch keine Versuchung dazu, bin also gar nicht stolz darauf. Ich verstehe die Sittlichkeit, von der wir hier sprechen, nämlich im sozialen Sinne, nicht im sexuellen. Die sexuelle Moralität, wie die Gesellschaft, am extremsten die amerikanische, sie definiert, scheint mir sehr verächtlich. Ich vertrete ein ungleich freieres Sexualleben, wenngleich ich selbst sehr wenig von dieser Freiheit geübt habe. Gerade nur soweit, daß ich mir selbst bei der Begrenzung des auf diesem Gebiet Erlaubten geglaubt habe« (Freud, 1968, S. 321). Die einzelnen Topoi stammen aus der humanistischen Ethik des aufgeklärten Bürgertums und beziehen sich auch auf die Interaktionsformen bürgerlicher Existenz, auf eine geregelte Konkurrenz der Individuen untereinander und adäquaten Privatverkehr. Während sich in den frühen Phasen der Theorieentwicklung die Sittlichkeit noch unmittelbar darauf bezog, hatte sie in der Kulturtheorie ihren Ansatzpunkt in den dort festgestellten allgemeinpsychologischen Bedingungen; die Dynamik der Theorie verschob auch den Schwerpunkt der
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Ethik von seinem gesellschaftlichen Ursprung. »Der Menschenliebe (hänge) ich selbst an, nicht aus Motiven der Sentimentalität oder der Idealforderung, sondern aus nüchternen, ökonomischen Gründen, bei der Gegebenheit unserer Triebanlagen und unserer Umwelt, für die Erhaltung der Menschenart für ebenso unerlässlich erklären musste wie etwa die Technik« (GW XIV, S. 553, vgl. Freud, 1968, S. 359 f.). Im Handeln des Einzelnen gegenüber dem Anderen liegt zugleich seine Verantwortung für die ganze Kultur. Die Eindringlichkeit, mit der Freud auf die Bedeutung der Ethik hinweist, sowie deren inhaltliche Struktur erlauben die Anwendung des Begriffs von Max Weber: die Regelung der »menschlichen Angelegenheiten« steht und fällt mit dem Ausmaß an Verantwortungsethik, welches gesellschaftlich vorhanden ist. Ist sie nicht weit genug verbreitet, so muss diese Lücke eben von jenen hervorragenden Individuen gefüllt werden, die dann aber neben Verantwortungsethik auch über »väterliche« Macht und Durchsetzungsvermögen verfügen müssen. Die Verantwortungsethik bezieht sich nicht mehr unmittelbar auf die Interessen des Einzelnen, sie tut dies nur noch vermittelt über die objektiven Interessen aller. Es ist deshalb für das Individuum auch keine unmittelbare Motivation vorhanden, nach ihr zu handeln. Gilt dies bereits allgemein für »das« Individuum, so erst recht für die Masse, die nicht imstande ist, ihre objektiven Interessen zu erkennen, aber auch für die Führer, die die Last der Erhaltung der Kultur zu tragen haben. Der Grund dafür, nach den Prinzipien der Verantwortungsethik zu handeln, kann deshalb nicht der zufälligen Entscheidung des Einzelnen überlassen werden. Freud hat diese Konsequenz zwar nicht in diesem Zusammenhang gezogen, in einem anderen jedoch vorgeführt, dass die Kulturtheorie kulturkonformes Verhalten phylogenetisch verankern muss, um einen Halt ihrer Argumentation zu haben. In seiner Antwort an Einstein führt Freud über die Grundlagen des rationalen Verhaltens der wenigen »Kulturweltbürger« aus: »Ich glaube, der Hauptgrund, weshalb wir uns gegen den Krieg empören, ist, daß wir nicht anders können. Wir sind Pazifisten, weil wir es aus organischen Gründen sein müssen. … Seit unvordenklichen Zeiten zieht sich über die Menschheit der Prozeß der Kulturentwicklung hin. … Diesem Prozeß verdanken wir das Beste, was wir geworden
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sind, und ein gut Teil von dem, woran wir leiden. … Die mit dem Kulturprozeß einhergehenden Veränderungen sind auffällig und unzweideutig. Sie bestehen in einer fortschreitenden Verschiebung der Triebziele und Einschränkung der Triebregungen. … Von den psychologischen Charakteren der Kultur scheinen zwei die wichtigsten: die Erstarkung des Intellekts, der das Triebleben zu beherrschen beginnt, und die Verinnerlichung der Aggressionsneigungen mit all ihren vorteilhaften und gefährlichen Folgen. Den psychischen Einstellungen, die uns der Kulturprozeß aufnötigt, widerspricht nun der Krieg in der grellsten Weise, darum müssen wir uns gegen ihn empören, wir vertragen ihn einfach nicht mehr, es ist nicht bloß eine intellektuelle und affektive Ablehnung, es ist bei uns Pazifisten eine konstitutionelle Intoleranz, eine Idiosynkrasie gleichsam in äußerster Vergrößerung. Und zwar scheint es, daß die ästhetischen Erniedrigungen des Krieges nicht viel weniger Anteil an unserer Auflehnung haben als seine Grausamkeiten« (GW XVI, S. 25 f.). Auf dem Hintergrund der Kulturtheorie zerfällt das gesellschaftliche Ganze in ontologische, durch das Individuum bedingte Antinomien einerseits, und eine über die Gattung ablaufende Entwicklung andererseits. Das Festhalten am Individuum als Mittelpunkt der Kultur führt unter diesen Umständen zur Entsubjektivierung des Geschichtsprozesses in dem Sinn, dass das Geschehen nichts mehr mit dem Individuum selbst und seinen Interessen zu tun hat, sondern vielmehr mit objektiven Notwendigkeiten; gleichzeitig werden Gattung und Individuum weitgehend entmündigt, Agenten von unvermeidlichen Geschehen. Auf der Ebene konkreter gesellschaftlicher Vorgänge äußert sich dies darin, dass aus der Bedeutung, die dem Individuum in der Kulturtheorie zukommt, sich diejenige der Verantwortung ableitet, andererseits aber jene gesellschaftlichen Notwendigkeiten vielmehr aus der elitären Führung der Gesellschaft bestehen, welche im Grunde die Negation des Prinzips der Aufklärung, dem die Verantwortungsethik entspricht, darstellt. Terminologisch manifestiert sich diese Entwicklung so: Während die wissenschaftliche Weltanschauung zunächst sich das »Primat der Vernunft« zum Ziel gesetzt hatte, geht es nun darum, eine »Diktatur der Vernunft« (GW XVI, S. 25 f.) zu errichten.
Die Aporien der Kulturtheorie am Beispiel der »Armen«
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7.6. Die Aporien der Kulturtheorie am Beispiel der »Armen« Obwohl die Kulturtheorie ihrem Selbstverständnis nach den Anforderungen einer wissenschaftlichen Weltanschauung entspricht und deshalb nur einen objektiv richtigen Standpunkt kennt, führen ihre Strukturen und inhaltlichen Positionen doch dazu, dass sie in Bezug auf konkrete, spezifische Zusammenhänge die ihr immanenten verschiedenen, zum Teil sich widersprechenden Ansätze und die sich aus ihnen ergebenden praktischen Konsequenzen, nicht zu einer Einheit integrieren kann. Dies gilt besonders für die Beurteilung von gesellschaftlichen Gruppen, deren psychisches »Schicksal« die Psychoanalyse zugänglich macht, die andererseits vom Blickwinkel des bürgerlichen Individuums desavouiert werden. Die Gruppe von Individuen, bei denen dies besonders auffällig ist, sind die von Freud so bezeichneten »Armen«. Der Ausdruck »Gruppe« ist deshalb hier eher am Platz als der auch von Freud selbst verwendeten Begriffs »Klasse«, weil Freud wohl spezifische Ursachen der Armut nennt; aber bei ihrer phänomenalen Analyse stehen bleibt. Die erste Ebene von Freuds Ansatz betrifft die Ursachen für die Armut und liefert gleichzeitig einen Aspekt der praktischen Beurteilung des Problems. »Bei den Einschränkungen, die sich nur auf bestimmte Klassen der Gesellschaft beziehen, trifft man auf grobe und auch niemals verkannte Verhältnisse. Es steht zu erwarten, daß diese zurückgesetzten Klassen den Bevorzugten ihre Vorrechte beneiden und alles tun werden, um ihr eigenes Mehr von Entbehrung los zu werden. Wo dies nicht möglich ist, wird sich ein dauerndes Maß von Unzufriedenheit innerhalb dieser Kultur behaupten, das zu gefährlichen Auflehnungen führen mag. Wenn aber eine Kultur es nicht darüber hinaus gebracht hat, daß die Befriedigung einer Anzahl von Teilnehmern die Unterdrückung einer anderen, vielleicht der Mehrzahl, zur Voraussetzung hat, und dies ist bei allen gegenwärtigen Kulturen der Fall, so ist es begreiflich, daß diese Unterdrückten eine intensive Feindseligkeit gegen die Kultur entwickeln, die sie durch ihre Arbeit ermöglichen, an deren Gütern sie aber einen zu geringen Anteil haben. Eine Verinnerlichung der Kulturverbote darf man dann
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bei den Unterdrückten nicht erwarten, dieselben sind vielmehr nicht bereit, diese Verbote anzuerkennen, bestrebt, die Kultur selbst zu zerstören, eventuell selbst ihre Voraussetzungen aufzuheben. Die Kulturfeindschaft dieser Klassen ist so offenkundig, daß man über sie die eher latente Feindseligkeit der besser beteilten Gesellschaftsschichten übersehen hat. Es braucht nicht gesagt zu werden, daß eine Kultur, welche eine so große Zahl von Teilnehmern unbefriedigt läßt und zur Auflehnung treibt, weder Aussicht hat, sich dauernd zu erhalten, noch es verdient« (GW XIV, S. 333). Mit den Mitteln und Begriffen der Kulturtheorie dargestellt, präsentiert sich Armut als Ungerechtigkeit der Verteilung, die mit dem Anspruch der Gleichheit nicht zu vereinbaren ist, deren Ursprung jedoch nicht bestimmt werden kann, weil, wie bereits erwähnt, die Bereiche der Organisation der Arbeit und der Herrschaft von Freud nicht in Verbindung gebracht werden. Aus der ökonomischen Lage der »Armen« lässt sich ihr psychisches Verhalten und ihre psychische Konstitution verstehen. Schon früh, lange vor jeder psychoanalytischen Forschung, hatte Freud in dem bereits zitierten Brief geschrieben: »Die Armen sind zu ohnmächtig, zu exponiert, um es uns gleichzutun. Wenn ich das Volk sich gütlich tun sehe mit Hintansetzung aller Besonnenheit, denke ich immer, das ist ihre Abfindung dafür, daß alle Steuern, Epidemien, Krankheiten, Überstände der sozialen Einrichtungen sie schutzlos treffen. Ich will diese Gedanken nicht weiter verfolgen, aber man könnte darlegen, wie ›das Volk‹ ganz anders urteilt, glaubt, hofft und arbeitet als wir. Es gibt eine Psychologie des gemeinen Mannes, die von der unsrigen ziemlich unterschieden ist« (Freud, 1968, S. 57). Die Psychoanalyse bestätigt diese Annahme. Freud beschreibt in einem fingierten Beispiel die unterschiedlichen Entwicklungen des Ich, die durch die sozioökonomische Lage bedingt sind. »Zu ebener Erde wohnt der Hausbesorger, im ersten Stock der Hausherr, ein reicher und vornehmer Herr. Beide haben Kinder, und wir wollen annehmen, daß es dem Töchterchen des Hausherrn gestattet ist, unbeaufsichtigt mit dem Proletarierkind zu spielen. Dann kann es sehr leicht geschehen, daß die Spiele der Kinder einen ungezogenen, daß heißt sexuellen Charakter annehmen, daß sie ›Vater und Mutter‹ spielen, einander bei den intimen Verrichtungen beschauen und an den Genitalien reizen. Das Hausmeis-
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termädchen, das trotz seiner fünf oder sechs Jahre manches von der Sexualität der Erwachsenen beobachten konnte, mag dabei die Rolle der Verführerin übernehmen. Diese Erlebnisse reichen hin, auch wenn sie sich nicht über lange Zeit fortsetzen, um bei beiden Kindern gewisse sexuelle Regungen zu aktivieren, die sich nach dem Aufhören der gemeinsamen Spiele einige Jahre hindurch als Masturbation äußern. Soweit die Gemeinsamkeit; der endliche Erfolg wird bei beiden Kindern sehr verschieden sein. Die Tochter des Hausbesorgers wird die Masturbation etwa bis zum Auftreten der Periode fortsetzen, sie dann ohne Schwierigkeiten aufgeben, wenige Jahre später einen Geliebten nehmen, vielleicht auch ein Kind bekommen, diesen oder jenen Lebensweg einschlagen, der sie vielleicht zur populären Künstlerin führt, die als Aristokratin endigt. Wahrscheinlich wird ihr Schicksal minder glänzend ausfallen, aber jedenfalls wird sie ungeschädigt durch die vorzeitige Betätigung ihrer Sexualität, frei von Neurose, ihr Leben erfüllen. Anders das Töchterchen des Hausherrn. Dies wird frühzeitig und noch als Kind die Ahnung bekommen, daß es etwas Unrechtes getan habe. … In den Jahren, da sie einem Manne als Weib gefallen soll, wird die Neurose bei ihr losbrechen, die sie um Ehe und Lebenshoffnung betrügt. … Die Verschiedenheit der beiden Schicksale trotz gleichen Erlebens rührt daher, daß das Ich der einen eine Entwicklung erfahren hat, welche bei der anderen nicht eingetreten ist. Der Tochter des Hausbesorgers ist die Sexualbetätigung später ebenso natürlich und unbedenklich erschienen wie in der Kindheit. Die Tochter des Hausherrn hat die Einwirkung der Erziehung erfahren und deren Ansprüche angenommen. Ihr Ich hat aus den ihm dargebotenen Anregungen Ideale von weiblicher Reinheit und Unbedürftigkeit gebildet, mit denen sich die sexuelle Betätigung nicht verträgt; ihre intellektuelle Ausbildung hat ihr Interesse für die weibliche Rolle, zu der sie bestimmt ist, erniedrigt. Durch diese höhere moralische und intellektuelle Entwicklung des Ich ist sie in den Konflikt mit den Ansprüchen ihrer Sexualität gekommen« (GW XI, S. 366 f.). Bei diesem Zitat lässt sich aus den Argumenten die erste Ebene von Freuds Argumentation rekonstruieren und gleichzeitig auch die zweite aufzeigen. Er bestimmt die Lage der Armen aus ihrer Unterprivilegiertheit, so dass zu der proletarischen Klasse, wie
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er sie versteht, jeder gehört, der schlechter »beteilt« wurde. Ihr Gegensatz zur Kultur ist von daher berechtigt und verständlich; Freud selbst bringt seine Sympathie für den Kampf für eine gerechtere Verteilung der Güter deutlich zum Ausdruck, nicht ohne jedoch im gleichen Atemzug darauf aufmerksam zu machen, dass »Gleichheit« unmöglich ist: »Wer in seinen jungen Jahren das Elend der Armut verkostet hat, die Gleichgültigkeit und den Hochmut der Besitzenden erfahren hat, sollte vor dem Verdacht geschützt sein, dass er kein Verständnis und kein Wohlwollen für die Bestrebungen hat, die Besitzungsgleichheit der Menschen und was sich aus ihr ableitet, zu bekämpfen. Freilich, wenn sich dieser Kampf auf die abstrakte Gerechtigkeitsforderung der Gleichheit aller Menschen berufen will, liegt der Einwand nahe, daß die Natur durch die höchst ungleichmäßige körperliche Ausstattung und geistige Begabung der Einzelnen Ungerechtigkeiten eingesetzt hat, gegen die es keine Abhilfe gibt« (GW XIV, S. 472, Fußn. 1). Es ist dies also gewissermaßen eine Frage anteilsgemäßer Gerechtigkeit. Wendet sich jedoch die Aggression der Unterdrückten gegen die Kultur selbst oder ihre Grundlagen, so handelt es sich um »gefährliche Auflehnungen«, denn: »Wie undankbar, wie kurzsichtig überhaupt, eine Aufhebung der Kultur anzustreben! Was dann übrig bleibt, ist der Naturzustand und der ist weit schwerer zu ertragen« (GW XIV, S. 336). Bei aller berechtigten Kritik der Armen am Bestehenden ist doch ihrer Handlungsfreiheit zum Schutz der Kultur Grenzen gesetzt. Dazu kommt, dass Freuds scharfe Kritik, die allgemein Unterprivilegiertheit, so dass zu der proletarischen Klasse, wie er sie versteht, jeder gehört, der schlechter »beteilt« wurde. Ihr Gegensatz zur Kultur ist von daher berechtigt und verständlich; Freud selbst bringt seine Sympathie für den Kampf für eine gerechtere Verteilung der Güter deutlich zum Ausdruck, nicht ohne jedoch im gleichen Atemzug darauf aufmerksam zu machen, dass »Gleichheit« unmöglich ist: »Wer in seinen jungen Jahren das Elend der Armut verkostet hat, die Gleichgültigkeit und den Hochmut der Besitzenden erfahren hat, sollte vor dem Verdacht geschützt sein, daß er kein Verständnis und kein Wohlwollen für die Bestrebungen hat, die Besitzungleichheit der Menschen und was sich aus ihr ableitet, zu bekämpfen. Freilich, wenn sich dieser Kampf auf die abstrakte Gerechtigkeitsforderung der Gleichheit
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aller Menschen berufen will, liegt der Einwand nahe, daß die Natur durch die höchst ungleichmäßige körperliche Ausstattung und geistige Begabung der Einzelnen Ungerechtigkeiten eingesetzt hat, gegen die es keine Abhilfe gibt« (GW XIV, S. 472, Fußn. 1). Es ist dies also gewissermaßen eine Frage anteilsgemäßer Gerechtigkeit. Wendet sich jedoch die Aggression der Unterdrückten gegen die Kultur selbst oder ihre Grundlagen, so handelt es sich um »gefährliche Auflehnungen«, denn: »Wie undankbar, wie kurzsichtig überhaupt, eine Aufhebung der Kultur anzustreben! Was dann übrig bleibt, ist der Naturzustand und der ist weit schwerer zu ertragen« (GW XIV, S. 336). Bei aller berechtigten Kritik der Armen am Bestehenden ist doch ihrer Handlungsfreiheit zum Schutz der Kultur Grenzen gesetzt. Dazu kommt, dass Freuds scharfe Kritik, die allgemein Unterprivilegiertheit angreift, schon im nächsten Satz entscheidend relativiert wird. Der Nebensatz, der aussagt, dass in keiner der bestehenden Gesellschaften genug Güter produziert werden, um alle ihre Mitglieder adäquat zu versorgen, spricht einerseits die konkreten vorhandenen Gesellschaftsorganisationen und ihre Verteilungssysteme von konkreter Schuld frei, zum anderen erklärt er indirekt die Lage der Armen zum »Schicksal«. In dem frühen Brief, der sich mit der Lage der Armen und ihrer sich daraus ergebenden Konstitution beschäftigt, überwiegt noch das Motiv des Verständnisses: Freud interpretiert das (angebliche) Sich-Ausleben der Armen als Kompensation ihrer sozioökonomischen Lage. Freud erkennt, dass die Bedingungen der Armut kein »bürgerliches« Leben und damit auch nicht alle die bedeutsamen »psychischen Verfeinerungen« des Bürgertums ermöglichen, stellt jedoch nicht die Frage nach den gesellschaftlichen Ursachen des individuellen Schicksals »Armut«. So gewinnt im Verlauf der Entwicklung der Psychoanalyse und der Kulturtheorie das wertende Element der Unterscheidung von »bürgerlichem« und »nicht-bürgerlichem« Verhalten die Oberhand, je mehr Freud das fortschrittliche Bürgertum mit Kultur schlechthin identifiziert. Im fingierten Beispiel geht es um Qualitätsunterschiede, wobei die soziale Lage der Eltern allgemeine Grundlage, nicht jedoch Ursache der Entwicklung ist; so wichtig dabei Freuds Einsicht in die komplexen Vermittlungen von sozialer Lage und Ich-Entwicklung sind, so sehr geht er dabei unmittelbar von den Strukturen
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des Bestehenden aus, um auf ihrem Hintergrund die Kriterien zu entwickeln, die in der Kulturtheorie politische Bedeutung tragen. Die begriffliche Korrelation zwischen »reich« und »vornehm« und »höherer moralischer und intellektueller Entwicklung des Ich«, ist kein Zufall. Jenseits des Verständnisses für das Verhalten der Armen und der Erforschung seiner Ursachen entsteht nun die Ebene seiner Beurteilung als objektiv kulturfeindlich. Das restringierte soziologische Denken und die vortheoretische Gewissheit über die bürgerliche Gesellschaft sowie das bürgerliche Individuum und seine Beziehung zur Kultur lassen kaum eine andere Möglichkeit zu, als die Lage der einzelnen Armen als (bedauerliches) Schicksal zu erfassen. In der Dynamik der Kulturtheorie zerfällt diese Auffassung in zwei, relativ unvermittelt nebeneinander stehende Betrachtungsweisen: Zum einen müssen die Armen ob ihrer Kulturfeindlichkeit geleitet und auch unterdrückt werden, zum anderen erfordert ihre Lage Mitleid und Unterstützung. In Bezug auf den ersten Aspekt ist festzustellen, dass Freud diesen Übergang nicht expressis verbis macht, also nicht die Armen mit der Masse identifiziert. Der Übergang vollzieht sich vielmehr terminologisch in dem Moment, wo er sich aus der Dynamik der Kulturtheorie ergibt. Das folgende Zitat ist die einzige Stelle, an der Freud die verschiedenen Ebenen zwar nicht vermittelt, aber wenigstens das Problem bezeichnet, welches sich der Kulturtheorie darstellt. »Bei Völkern niedriger Kultur und in den unteren Schichten der Kulturvölker scheint die Sexualität der Kinder freigegeben zu sein. Damit ist wahrscheinlich ein starker Schutz gegen die spätere Erkrankung an individuellen Neurosen erzielt, aber nicht auch gleichzeitig eine außerordentliche Einbuße an der Eignung zu kulturellen Leistungen?« (GW XIV, S. 247). Die Ansprüche, welche sich aus den Ergebnissen der Kulturtheorie ergeben, sind für Freud nicht direkt mit dem Eintreten gegen die Unterprivilegierung der Armen in Einklang zu bringen; die Forderung, die Unterdrückten nochmals zu unterdrücken, wäre mit seinem gesellschaftspolitischen Anspruch auf formale Gleichheit nicht zu vereinbaren. Er löst diesen Widerspruch, der theorieimmanent nicht aufzuheben ist, begrifflich, indem er die Notwendigkeit der kulturellen Reproduktion in der Terminologie der Massenpsychologie und der differentiellen Psychologie beschreibt, so daß dann
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die Rede ist vom »modernen Staat, … in dem eine genuß- und zerstörungssüchtige Masse durch die Gewalt einer besonnenen Oberschicht niedergehalten werden muß« (GW XVI, S. 263). Die Attribute, die hier der Masse zugeschrieben werden und die die Unterdrückung erforderlich machen, sind aber genau jene Eigenschaften, die Freud lange vorher als (verständliches) Verhalten der Armen diagnostizierte; was Freud terminologisch vermied, vollzieht sich inhaltlich. Der zweite Aspekt der Kulturtheorie, der sich mit den Armen auseinandersetzt, betrifft Hilfeleistungen derjenigen, die dazu in der Lage sind und über die entsprechenden Mittel verfügen. Zunächst relativiert Freud in diesem Kontext seine Aussage, Armut und entsprechende Ich-Struktur schütze vor Neurosen. Stattdessen konstatiert er eine erhebliche Verbreitung neurotischer Erkrankung auch unter den Armen, ohne dass diese unmittelbar behoben werden könnte. »Außerdem sind wir durch die Bedingungen unserer Existenz auf die wohlhabenden Oberschichten unserer Gesellschaft beschränkt, die ihre Ärzte selbst zu wählen pflegen und bei dieser Wahl durch alle Vorurteile von der Psychoanalyse abgelenkt werden. Für die breiten Volksschichten, die ungeheuer schwer unter den Neurosen leiden, können wir derzeit nichts tun« (GW XII, S. 192). Dies ist jedoch nur die oberste Schicht des Problems. In der Tat ist der Analytiker auf die (gute) Bezahlung seiner Arbeit angewiesen und es mag, wie für Freud, für viele Ärzte, die zu den so genannten Selbständigen zu rechnen sind, »die Wirkung eines schweren traumatischen Unfalls« (GW VIII, S. 465) haben, wenn sie einen Teil der Behandlung kostenlos durchführen und deshalb auf einen Teil ihres Einkommens verzichten müssten. Der eigentliche Grund jedoch, und dies ist bereits weiter oben vorgeführt worden, ist, dass für die Armen der lebensgeschichtliche und soziale Sinnzusammenhang nicht gegeben ist, der eine Psychotherapie möglich und sinnvoll macht. Die Psychoanalyse ist nicht nur, was die ökonomischen Voraussetzungen betrifft, sondern auch, was ihre inhaltlichen Vorbedingungen angeht, auf das, was Freud »Mittelstand« nennt, das wohlhabende Bürgertum, zugeschnitten. Konsequenterweise müsste eine Therapie der Armen ganz anders aussehen. »Man kann der asketischen Verdammung des Geldes ganz ferne stehen und darf es doch bedauern, daß die analytische
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Therapie aus äußeren wie aus inneren Gründen den Armen fast unzugänglich ist. Es ist wenig dagegen zu tun. Vielleicht hat die viel verbreitete Behauptung recht, daß der weniger leicht der Neurose verfällt, wer durch die Not des Lebens zu harter Arbeit gezwungen ist. Aber ganz unbestreitbar steht die andere Erfahrung da, daß der Arme, der einmal eine Neurose zustande gebracht hat, sich dieselbe nur sehr schwer entreißen läßt. Sie leistet ihm zu gute Dienste im Kampf um die Selbstbehauptung; der sekundäre Krankheitsgewinn, den sie ihm bringt, ist allzu bedeutend. Das Erbarmen, das die Menschen seiner materiellen Not versagt haben, beansprucht er jetzt unter dem Titel seiner Neurose und kann sich von der Forderung, seine Armut durch Arbeit zu bekämpfen, selbst freisprechen. Wer die Neurose eines Armen mit den Mitteln der Psychotherapie angreift, macht also in der Regel die Erfahrung, daß in diesem Falle eigentlich eine Aktualtherapie ganz anderer Art von ihm gefordert wird, eine Therapie, wie sie nach der bei uns heimischen Sage Kaiser Josef II. zu üben pflegte. Natürlich findet man doch gelegentlich wertvolle und ohne ihre Schuld hilflose Menschen, bei denen die unentgeltliche Behandlung nicht auf die angeführten Hindernisse stößt und schöne Erfolge erzielt« (GW VIII, S. 466). Jene »wirksame Therapie, … wie sie nach der Wiener Volkssage Kaiser Josef geübt hat, (war) das wohltätige Eingreifen eines Mächtigen, vor dessen Willen Menschen sich beugen und Schwierigkeiten verschwinden« (GW XI, S. 448). Aus Freuds Argumentation kann wiederum nur der Schluss gezogen werden, dass, nach den Kriterien der Individualtherapie, die Armen im allgemeinen weniger »wertvolle« Menschen sind, weil ihre Charaktere nicht den Ansprüchen der Kultur genügen, dass sie ihre Neurose dazu benutzen, um sich vor der Arbeit zu drücken, sie also krank sind, gleichzeitig aber auch Drückeberger (vgl. analog dazu GW XIV, S. 251). Es ist allgemein die »Not des Lebens«, also Schicksal, welche die Lage der Armen bestimmt; spezifische gesellschaftliche Ursachen sind dafür nicht verantwortlich zu machen. Daraus ergibt sich einerseits die indirekte Aufforderung, das Schicksal hinzunehmen und zu versuchen, es individuell zu verbessern, »seine Armut durch Arbeit zu bekämpfen«, wobei Freud indirekt von der formalen Chancengleichheit in der bürgerlichen Gesellschaft ausgeht, wodurch die Armut erst recht als
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schicksalhaftes Pech des Einzelnen erscheinen muss. Andererseits leitet sich aus dieser Interpretation das Mitleid ab, welches die besser »Beteilten« den Armen entgegenbringen, beziehungsweise entgegenbringen sollten. Es ist eine Frage der Verantwortungsethik und gleichzeitig eine gesellschaftliche Notwendigkeit, dass »die Gesellschaft«, wenn schon das Problem nicht ganz zu lösen und die Armut ganz zu beheben ist, das Los der Armen wenigstens mildert. »Irgend einmal wird das Gewissen der Gesellschaft erwachen und sie mahnen, daß der Arme ein ebensolches Anrecht auf seelische Hilfeleistung hat wie bereits jetzt auf lebensrettende chirurgische. Und daß die Neurosen die Volksgesundheit nicht minder bedrohen als die Tuberkulose und ebensowenig wie diese der ohnmächtigen Fürsorge des Einzelnen aus dem Volke überlassen werden können. Dann werden also Anstalten oder Ordinationsinstitute errichtet werden, an denen psychoanalytisch ausgebildete Ärzte angestellt sind, um die Männer, die sich sonst dem Trunk ergeben würden, die Frauen, die unter der Last der Entsagungen zusammenzubrechen drohen, die Kinder, denen nur die Wahl zwischen Verwilderung und Neurose bevorsteht, durch Analyse Widerstands- und Leistungsfähigkeit zu erhalten. Diese Behandlungen werden unentgeltliche sein. Es mag lange dauern, bis der Staat diese Pflichten als dringend empfindet. Die gegenwärtigen Verhältnisse mögen den Termin noch länger hinausschieben, es ist wahrscheinlich, daß private Wohltätigkeit mit solchen Instituten den Anfang machen wird; aber irgend einmal wird es dazu kommen müssen. … Wir werden … wahrscheinlich in der Massenanwendung unserer Therapie das reine Gold der Analyse reichlich mit dem Kupfer der direkten Suggestion zu legieren, und auch die hypnotische Beeinflussung könnte dort wie bei der Behandlung der Kriegsneurotiker wieder eine Stelle finden. Aber wie immer sich auch diese Psychotherapie fürs Volk gestalten, aus welchen Elementen sie sich auch zusammensetzen mag, ihre wirksamsten und wichtigsten Bestandteile werden gewiß die bleiben, die von der strengen, der tendenzlosen Psychoanalyse entlehnt worden sind« (GW XII, S. 192 ff.). Es kann nur die Initiative der Elite sein, die, von ihrer Verantwortungsethik gesteuert, sich der Armen erbarmt und schließlich aus der karitativen Behandlung der Armen eine gesellschaftliche Institution macht. Da das Problem der Ar-
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mut selbst, zumindest in absehbarer Zeit, unlösbar ist, zielt diese Praxis darauf, ihre schlimmsten Folgen zu bekämpfen, doch kann es sich dabei nicht, wie in der Individualtherapie, um die Wiederherstellung der Leistungs- und Genussfähigkeit handeln. Es geht im Unterschied dazu hierbei um die Stärkung der Widerstandsund Leistungsfähigkeit, wobei die Poliklinik damit den Ansprüchen der Kultur, den objektiven Interessen der Armen und ihrer sozialen Lage gleichzeitig Rechnung trägt. Was an diesem Beispiel gezeigt werden sollte: dass die Psychoanalyse, selbst wenn ihre Begriffe bereits von spezifischen gesellschaftstheoretischen Voraussetzungen geprägt sind, den gesellschaftstheoretischen Rahmen der Kulturtheorie sprengt, wodurch Gegensätze entstehen, die nicht überwindbar, sondern nur durch eine Standpunkts-Entscheidung suspendierbar sind, hätte auch an anderen, strukturell ähnlichen Problemen vorgeführt werden können. Auch in Bezug auf die Frau gilt, dass Freud einerseits genau angeben kann, welche spezifischen Ursachen ihre normal erscheinende intellektuelle Inferiorität hat: »Sie wissen …, daß man den Frauen im allgemeinen den sogenannten ›physiologischen Schwachsinn‹ nachsagt, d. h. eine geringere Intelligenz als die des Mannes. Die Tatsache selbst ist strittig, ihre Auslegung zweifelhaft, aber ein Argument für die sekundäre Natur dieser intellektuellen Verkümmerung lautet, die Frauen litten unter der Härte des frühen Verbotes, ihr Denken an das zu wenden, was sie am meisten interessiert hätte, nämlich an die Probleme des Geschlechtslebens. Solange außer der sexuellen Denkhemmung die religiöse und die von ihr abgeleitete loyale auf die frühen Jahre des Menschen einwirken, können wir wirklich nicht sagen, wie er eigentlich ist« (GW XIV, S. 371). Aber auch hier wäre es falsch, aus den Formulierungen der entwickelten Kulturtheorie und der Tatsache, dass es Freud nicht gelingt, die beiden Ebenen seiner Arbeit miteinander in Verbindung zu bringen, zu schließen, Freud wäre ein »Frauenhasser« oder »Anpassungstheoretiker an den Kapitalismus«. Die Ursache für die Aporien der Kulturtheorie und ihre oft »reaktionär« wirkenden Äußerungen ist in den Widersprüchen von Freuds gesellschaftstheoretischen Voraussetzungen zu sehen.
8. Zur Funktion von Freuds Gesellschaftsbild
8.1. Was die Analyse von Freuds Gesellschaftsbild zeigt Freuds Gesellschaftsbild wirkt auf den ersten Blick eher konventionell und zeitgebunden, ist aber auf der anderen Seite dadurch originell, dass er im Zuge des Fortschritts seiner theoretischen Vorstellungen mehr und mehr Argumente verwendet, die sich aus seinen psychoanalytischen Konzepten ergeben. Man könnte daher zwischen einem »frühen« und einem »späten« Freud unterscheiden. Zugleich kann man aber auch feststellen, dass es deutliche Kontinuitäten gibt. Insofern zeigt sich in seinen Vorstellungen von Gesellschaft die Verbindung einer gleich bleibenden Welt von Überzeugungen mit einem theoretisch angelegten Argumentationsschema, wobei in die Vorstellungen des »späten« Freud auch die Lebenserfahrungen einer langen Biographie in Zeiten weltgeschichtlicher Umstürze eingehen. Dabei ist Freud inhaltlich in keiner Hinsicht ein militanter Ideologe, aber er vertritt ganz selbstverständlich viele Positionen des gebildeten Bürgertums seiner Zeit: Kinder sollen brav sein, Erziehung muss liebevoll, aber streng sein, Frauen sollen (im herkömmlichen Sinn) weiblich und passiv sein und ihre Männer unterstützen (statt aktiv zu sein und selbst Karrieren anzustreben), dann werden sie auch von ihnen als »Liebesobjekt« behandelt. Männer sind die »breadwinner« der Familie, sie müssen allein in der Welt zurechtkommen und selbständig ihren Weg konsequent gehen. Die Familie ist der Hort des Vertrauens, die Welt draußen gefährlich und oft unverständlich. Geschäftemacherei ist eigentlich würdelos; man hat genügend Geld zu haben, so dass es zu standesgemäßem Leben reicht und bescheidet sich in und mit seinen Möglichkeiten. Arbeit ist die unvermeidliche Bürde, die man (er)tragen muss, aber auch Lebenselixier. Geistig strebt man danach, sich die Kultur – das kulturelle Erbe der Menschheit aus der Sicht des gebildeten Mitteleuropäers – anzueignen und ein
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Zur Funktion von Freuds Gesellschaftsbild
Kulturweltbürger zu werden. Über Modetorheiten schüttelt man den Kopf und orientiert sich an den klassischen Maßstäben der Ästhetik sowie an den Normen, die sich von selbst verstehen – Selbstdisziplin, Engagement für das Projekt des gesellschaftlichen Fortschritts, Einhaltung der nötigen Regeln, wechselseitige Anerkennung unter Gleichen, Verachtung des Pöbels und stoisches Ertragen der Zumutungen des Lebens. Ungewöhnlich sind Freuds spätere kulturtheoretische Ausführungen, weil sie seine Vorstellungen in eine systematisierte Form bringen, um sie mit den Befunden der Psychoanalyse in Verbindung bringen zu können. Freud entwickelt nun eine Art theoretischen Unterbau: Der Mensch erscheint als kulturfähig, aber nur bedingt als kulturgeeignet – seine triebhafte Ausstattung ist egoistisch und in gewisser Weise sogar asozial. Daher bedarf es externer Steuerung und Kontrolle, die jedoch nur begrenzt auf reine Repression setzen kann, so dass interne (Selbst-)Kontrolle erforderlich ist. Um zu erklären, wie dies möglich wird, entwickelt Freud einen Ursprungsmythos, der eine Externalisierung psychischen Geschehens postuliert: Die Unterdrückten der Urhorde realisierten ihre Phantasien und ermordeten den Vater, danach errichteten sie aus Schuldgefühl bewusste und daher sozial wirksame Tabus, die der Nukleus sozialer Normen und Organisation sind. Den weiteren Verlauf der Geschichte interpretiert Freud als einen Prozess, in dem die einmal erreichten Niveaus psychischer Kontrolle den folgenden Generationen sowohl als externer wie interner Ausgangspunkt für weitere Entwicklungsschritte dient. Dabei erscheint Kultur als Hort der humanen Vernunft, als (schwacher, aber einzig möglicher) Schutz vor den Risiken des Zusammenlebens und als Basis für ein möglichst sinnvolles und autonomes Leben – von der Last des Schicksals kann sie nicht befreien. In dieser Konzeption wirkt Kultur als Kollektivagent, die die erforderlichen Regulationen gegen die potentiell bedrohlichen Intentionen Einzelner durchsetzt. Sie erscheint zugleich als Identifizierungsobjekt, welches Versöhnung mit den Zumutungen, die sie verlangt, bietet. In den frühen Phasen seiner psychoanalytischen Forschung beschäftigt sich Freud mit den Fehlern, die die Kultur dabei begeht – vor allem damit, dass sie mangels hinreichenden Verständnisses des Geschehens und aus übertriebener Angst vor
Was die Analyse von Freuds Gesellschaftsbild zeigt
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triebhaften Durchbrüchen dazu tendiert, die Repressionsschraube zu überdrehen und damit genau die Probleme zu erzeugen, die sie einzudämmen versucht. Auch später ging es ihm noch darum, untaugliche Mittel der kulturellen Integration durch tauglichere zu ersetzen, aber immer deutlicher wurde auch die Vorstellung, dass das Maß an kultureller Repression auf Dauer unvermeidlich hoch sein müsse. Betrachtet man den inneren Aufbau und die Funktionsweise von Freuds Vorstellungen, so zeigt sich, dass Freud in vieler Hinsicht von spezifischen Sachverhalten als Gegebenheiten ausgeht und sie ontologisiert, also als Dinge behandelt, die nicht kontingent sind, sondern so sind, weil sie so sein müssen. Daraus ergibt sich als Grundlage seiner Vorstellungen ein Konglomerat vortheoretischer Gewissheiten, die inhaltlich von den lebensweltlichen Bezügen und Orientierungen des gebildeten Bürgertums seiner Zeit bestimmt sind. Sie sind in mancher Hinsicht mehrdeutig und können in unterschiedliche Richtung »kippen«. Diese vortheoretischen Gewissheiten sind der Hintergrund, vor dem sich die Entwicklung des psychoanalytischen Denkens abspielt; sie werden umgekehrt durch die Mittel der Psychoanalyse systematisiert und in Richtung auf ein theoretisches Erklärungsmodell weiterentwickelt. Gesellschaft ergibt sich im Wesentlichen aus der Psychologie; sie ist deren Konsequenz und Bearbeitung. Gesellschaftliche Entwicklung ist daher auch vorrangig ein Prozess, der von Emanationen psychischen Geschehens, von deren Wahrnehmung und der Art ihrer Behandlung bestimmt ist. Immer geht es um die Steuerung eines zugleich produktiven und destruktiven Potentials; ein Unterfangen, welches für Freud historisch gesehen immer besser gelungen ist, aber die Risiken sind geblieben und verstärkt durch sekundäre Probleme, die sich aus den Formen der Steuerung ergeben. Die Geschichte der Kultur erscheint ähnlich wie bei vielen anderen Theoretikern (von Turgot bis Comte) als Fortschrittsgeschichte, die Gegenwart als höchster Entwicklungsstand, aber keineswegs als perfekt und zukunftslos. – In diesem Zusammenhang verwendet Freud in Bezug auf Kultur und Gesellschaft (die er als deren politisch-organisatorischen Teil versteht) eine grundlegend funktionalistische Sichtweise: Es gibt sie, weil sie als Beantwortung
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Zur Funktion von Freuds Gesellschaftsbild
der Problemlagen erforderlich sind. Sie sind also dazu da, Themen zu behandeln; ihre Leistungen haben ihren Sinn bezogen auf die Problemlagen des Menschen. Dabei werden Kultur und Gesellschaft als einheitliche Akteure adressiert. Es gibt nur die (eine) Kultur, die (eine) Gesellschaft, die in dieser Hinsicht vernünftig zu handeln versuchen – sie bemühen sich, ihre Funktion möglichst rational zu erfüllen, aber bei fehlender Information oder auf Grund von psychodynamischen Beeinträchtigungen wie etwa Angst, schlechtes Gewissen und Ähnliches neigen sie zu Fehlern und Fehlverhalten. Daher sind sie strukturell funktionale und rationale Akteure, empirisch dagegen fallibel. Freud verwendet also (teils explizit, teils implizit) einige wenige Konstruktionsmechanismen: – Ein psychologisches Gesellschaftskonzept; – Ein psycholamarckistisches Entwicklungskonzept, welches Fortschritt und Kontinuität der Probleme annimmt; – Einheitsbegriffe, die zumindest grundsätzliche Homogenität und Integration unterstellen; – Einen strukturellen Funktionalismus; – Ein Akteurskonzept für Makrostrukturen und die Unterstellung einer Art »bounded rationality« als Aktionsprinzip. Diese Konfiguration von Konstruktionsprinzipien ist in gewisser Weise pragmatisch sinnvoll. Sie erlaubt es, mit Analogieschlüssen die Funktionsweise der gesamten humanen Realität zu erfassen und insgesamt zu adressieren. Sie enthält sowohl ein basales Organisationsprinzip als auch ein Konzept für Abweichungen beziehungsweise Dysfunktionen und kann Entwicklungen als Fortschritt und Konstanz beschreiben. Es handelt sich also um ein pragmatisch integrierbares, funktionsfähiges Modell von Gesellschaft, welches aus soziologischer Sicht naturgemäß defizitär ist. Freuds Gesellschaftsbild ist anthropologisch-psychologisch begründet; Gesellschaft erscheint als Epiphänomen, von einer Art rationalistischer Psychodynamik (als unvollkommene kollektive psychische Vernunft) gesteuert. Hinter dem Netz der Institutionen erscheinen reale soziale Ereignisse mal schicksalhaft bestimmt, mal erratisch (das heißt nicht oder wenig sozial organisiert). – Im Kern also ein Gesellschaftsbild, wel-
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ches soziale Realität als Mischung aus steuernder Vernunft und menschlicher Unvernunft in ebenso allgemeiner wie einfacher Weise (ohne Vermittlung) verbindet. Wozu hat Freud dieses Gesellschaftsbild benutzt, wozu gebraucht? Ich möchte im Folgenden einige Überlegungen nachtragen, die sich auf die innere Logik seines Gesellschaftsbildes, ihre Funktion unter spezifischen Umständen, ihre innere Korrespondenz mit bestimmten Episoden in Freuds Entwicklung und schließlich ihre Interaktion mit Freuds psychoanalytischen Theorien beziehen.
8.2. Zur Logik von Gesellschaftsbildern Welche Funktionen haben Gesellschaftsbilder eigentlich und in welchem Verhältnis stehen sie zu anderen Formen der Thematisierung? Mit diesen Fragen haben sich als erste die klassische Ideologiekritik und die Wissenssoziologie beschäftigt. Die Ideologiekritik hat vor allem die objektive Unangemessenheit und die Frage der externen Konstitution und Determiniertheit des »notwendig falschen Bewusstseins« hervorgehoben. Hier ging und geht es also vor allem darum, zu erklären, in welcher Hinsicht die Formen und Inhalte des Denkens durch die gesellschaftlichen Bedingungen beeinflusst sind beziehungsweise deren Konflikte spiegeln. In nuce enthält Marx’ Religionskritik – Religion als »Opium des Volkes« – zwar auch den indirekten Hinweis auf Bedürfnisse, die hinter Ideologien stehen, aber es dominierte der Blick auf die Leistung, die die Religion für die Aufrechterhaltung von Herrschaftsverhältnissen erbringt. Außerdem fehlte der frühen Ideologiekritik ein näheres Verständnis über die Funktionsweise von Ideologien und ein Konzept für die Beziehung zwischen »wahrem« und »falschem« Denken. Daher blieb auch ungeklärt, wie das Verhältnis von objektivem Wissen und Ideologie zu verstehen ist. Wissenssoziologie und Phänomenologie haben sich hier um konzeptionelle Klärungen bemüht. Vertreter von beiden Denkrichtungen kommen zu einer Konzeption, die sowohl die Kontinuität als auch die Differenz von
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unterschiedlichen Denkformen unterstellt. Zu den Begründern der Wissenssoziologie gehört Karl Mannheim. Er hat sich ausführlich mit den verschiedenen Dimensionen von Vorstellungen (mit ihrem »objektiven Sinn«, ihrem »Ausdruckssinn« und ihrem »Dokumentationssinn«) beschäftigt und kam von dort sowohl auf die Frage der subjektiven Bedeutung (warum hat jemand eine Vorstellung?) als auch auf die des Zusammenhangs von Genese (wo kommen Vorstellungen her?) und ihrer Geltung (stimmen sie mit der Wirklichkeit überein?). Mannheim stellt – Marx mit Dilthey verbindend – fest, dass Genesis und Geltung von Aussagen nur in wenigen Ausnahmefällen wirklich zu trennen sind (und auch dann bestimmte Vorannahmen die Unabhängigkeit etwa rein formaler Operationen absichern müssen). Vorstellungen sind daher immer von ihrem Entstehungskontext imprägniert. Entsprechend sind sie primär »Innenblicke«, die die von den Verhältnissen nahegelegten Orientierungen übernehmen und reproduzieren. Es ist meistens erst der zeitliche Abstand, der eine distanziertere Blickweise erlaubt und so einen »Außenblick« auf die Wirklichkeit ermöglicht. In dieser Perspektive werden dann die Abhängigkeiten des Denkens von seinen genetischen Bedingungen erkennbar. Allerdings ist unabhängig davon eine Umstellung des Denkens erforderlich. »Hier steht hinter den verschiedenen Gesichtspunkten, als Bedingung des Möglichwerdens, ein vorangehendes Anders-Erleben und Anders-Eingestelltsein auf Ideengehalte« (Mannheim, 1970, S. 390). Die in der Innenperspektive möglichen Variationen der Sichtweise von Gegebenheiten unterscheiden sich systematisch von einer Blickweise, die die Sichtweisen selbst zum Thema macht: »Der Unterschied von Idee und Ideologie … ist also nicht Ergebnis einer bloßen Gesichtspunktdifferenz, sondern einer grundverschiedenen Betrachtungsweise oder Einstellung demselben geistigen Gehalte gegenüber« (S. 390). – Es geht also um die Rahmenbedingungen und um einen prinzipiell subjektiv möglichen Übergang zu einem anderen Modus. Ähnlich argumentiert Alfred Schütz, der sich auf Husserl und Weber bezieht und ebenfalls zunächst betont, dass jede Weltsicht prinzipiell gleich verfahre: Sie hebt aus der Fülle der Ereignisse einige hervor, verbinde sie und stelle die Einzelheiten in einen sinnvollen Zusammenhang. Es gibt jedoch Unterschiede in der Art der Typisierung
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von Welt. »Im habituellen Routinehandeln des Alltags wenden wir offensichtlich … Konstruktionen in Form von Rezepten und Faustregeln an, die die Probe bis dahin bestanden haben, oder wir verknüpfen häufig Mittel und Zwecke ohne eine klares ›Wissen von‹ ihrer wirklichen Verbindungen zu haben« (Schütz, 1971, S. 24). Diese Typisierungen sind auch bei Schütz abhängig von inneren und äußeren Umständen: »Es ist charakteristisch, daß sie nicht nur auf den selbstverständlich hingenommenem Wissensvorrat der Eigengruppe, … sondern auch auf den subjektiven Standpunkt des Handelnden verweisen, das heißt auf seinen verfügbaren Wissenszustand während des Vollzugs des Handelns« (S. 33). Schütz bindet die Vorstellungen von Wirklichkeit an die situativen Thematisierungsmöglichkeiten des Akteurs und an den Handlungsbedarf, der Festlegungen verlangt. »Wir kommen … zu dem Ergebnis, daß ›rationales Handeln‹ auf der Ebene des alltäglichen Denkens immer Handeln in einem nicht weiter in Frage gestellten und nicht weiter bestimmten Rahmen typischer Konstruktionen ist, nämlich Typisierungen der gegebenen Situationen, der Motive, der Mittel und Zwecke, der Handlungsabläufe und Persönlichkeiten, die betroffen sind und als selbstverständlich hingenommen werden« (S. 37). Auch bei ihm ist Theorie (genau wie diese Konstruktionen) Ergebnis einer Typisierung, aber ein Ergebnis, welches sich aus einer Einstellungsänderung ergibt: Die »Einstellung des Sozialwissenschaftlers ist die eines desinteressierten Beobachters der Sozialwelt. Er ist nicht in die beobachtete Situation einbezogen, die ihn nicht praktisch, sondern nur kognitiv interessiert. Sie ist nicht der Schauplatz seiner Tätigkeiten, sondern nur der Gegenstand seiner Kontemplation. Er handelt nicht in ihr und hat kein vitales Interesse am Ergebnis seines Handelns, keine Hoffnungen und Befürchtungen verknüpfen sich mit den Konsequenzen seines Handelns. Er schaut auf die Sozialwelt mit demselben kühlen Gleichmut, mit dem der Naturwissenschaftler die Ereignisse in seinem Laboratorium verfolgt« (S. 42). Durch die Verwandlung der Situation wird aus dem Alltagsmensch ein Wissenschaftler. »Nur innerhalb dieses Rahmens darf er sein besonderes wissenschaftliches Problem auswählen und seine wissenschaftliche Entscheidung fällen. Dieser Rahmen konstituiert sein ›In-einer-wissenschaftlichen-Situation-sein‹, das an die Stelle sei-
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ner biographischen Situation als menschliches Wesen in der Welt tritt« (S. 43). Der Wissenschaftler arbeitet also auch mit Konstruktionen, aber seine Konstruktionen sind gänzlich anderer Art: »Die vom Sozialwissenschaftler gebildeten Konstruktionen menschlicher Wirkensmuster sind von ganz anderer Art. Der Sozialwissenschaftler hat kein ›Hier‹ in der Sozialwelt, genauer gesagt, er betrachtet seine Position in der Sozialwelt und das daran geknüpfte Relevanzsystem als irrelevant … (Er) ordnet … auch nicht diese Welt in Schichten um sich herum. Er kann niemals mit einem in dieser Sozialwelt Handelnden in die mitmenschliche Wirkensbeziehung eintreten, ohne dabei zumindest vorübergehend seine wissenschaftliche Einstellung aufzugeben« (S. 45). Aus beiden Perspektiven ergibt sich, dass es unterschiedliche Funktionsweisen des Denkens gibt: – Das Alltagsbewusstsein, welches mit Fest-Stellungen arbeitet, die nicht weiter in Frage gestellt werden, die auf die situative Befindlichkeit des Subjekts zentriert sind und aus den biographischen Erfahrungen und den Vorstellungen der relevanten Bezugsgruppen stammen, sowie – den Modus der theoretischen Reflexion, der sich aus einer Neutralisierung der Situation und der subjektiven Intentionen – genauer gesagt: durch ihre Ersetzung durch eine praktisch desinteressierte Einstellung zur Welt – ergibt und zu einer objektiven Außensicht der Dinge führt. Mannheim wie Schütz gehen davon aus, dass diese Umstellung prinzipiell möglich ist. Dies ist zweifellos richtig, aber es bedarf einer genaueren Analyse der Motive, der Formen, der Umstellung und der Bedingungen ihrer Möglichkeit. Wenn es stimmt, dass die Vorstellungen des Alltagsbewusstsein auf die Aufrechterhaltung der Handlungsfähigkeit bezogen sind und aus dem subjektiv wie sozial formatierten (das heißt auch: programmierten und eingeschränkten) Erfahrungshorizont und den verfügbaren Thematisierungsmöglichkeiten stammen, so ist nicht einzusehen, dass der Modus der Reflexion sich ohne weiteres davon löst. Es ist sinnvoll, davon auszugehen, dass sich Reflexion in ihrer basalen Form zunächst ebenfalls auf die Aufrechterhaltung von Handlungsfähigkeit bezieht und vor allem dazu dient, Probleme, an
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denen Routinen scheitern – also Krisen des Alltagshandelns – zu bewältigen. Reflexion bedeutet daher nicht automatisch Herauslösung aus dem Funktionsmodus des Alltagsbewusstseins; sie ist in ihrer Primärform deren Adaptationsprinzip an Problemlagen. Es bedarf daher einer Konfiguration, in der diese Form der Reflexion nicht mehr ausreicht oder aber ein Ausmaß annimmt, die diesen Bedarf übersteigt, damit ein Niveau erreicht wird, welches den Bestimmungen von Mannheim und Schütz entspricht. Erst dann wird aus pragmatischer Reflexion systematische Reflexion. Sie hat nicht mehr die primäre Funktion der Aufrechterhaltung beziehungsweise Wiederherstellung von Handlungsfähigkeit, sondern zentriert sich auf Informationsgewinnung und Auswirkung des Interpretationshorizonts. Dazu bedarf es entsprechender Formen der Institutionalisierung: Man braucht Zeit und soziale Ressourcen, um in Ruhe Themen bedenken zu können. Solange dies im Rahmen subjektiver Aktivitäten verbleibt, ist auch systematische Reflexion beschränkt auf das, was die jeweiligen subjektiven Möglichkeiten zulassen. Das bedeutet zwar ein hohes Maß an Aktionsfreiheit, aber auch Kapazitätsgrenzen. Daher ergibt sich erst aus der sozialen Institutionalisierung von Reflexion die Möglichkeit der Akkumulation, abstrakte Formatierung und Zentrierung verschiedener subjektiver Leistungen – sozial institutionalisierte Reflexion kann sich (analytisch betrachtet) von den Begrenzungen subjektiver Aktivitäten lösen, kann Methoden und Symbolsysteme entwickeln, die kontrollierte Reflexion auf Dauer stellt und ihr Entwicklungsmöglichkeiten bietet. Sie steht andererseits in enger Verbindung mit den generellen Bedingungen der Reflexion sowie den speziellen Formen und Folgen der Institutionalisierung. Man kann also in Fortführung der Gedanken von Mannheim und Schütz vier Stufen unterscheiden: – Alltagsbewusstsein: selbstverständliche Routinen – Pragmatische Reflexion – Systematische Reflexion – Sozial institutionalisierte Reflexion Damit ist unmittelbar noch nichts über die Qualität gesagt (obwohl aus strukturellen Gründen die Reichweite der Reflexion mit
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der Zunahme an Möglichkeiten potentiell auch zunimmt). Ganz abgesehen davon, dass sich die unterschiedlichen Typen nicht substituieren können – wissenschaftliche Theorien sind ebenso wenig ein Ersatz für ein funktionierendes Alltagsbewusstsein wie umgekehrt –, können sozial institutionalisierte Formen der Reflexion unter dem Druck der Umweltbedingungen beeinträchtigt und restriktiv sein. Wichtiger ist jedoch, dass es sich nicht immer um empirisch völlig getrennte Ebenen handelt, sondern sich die Funktionslogiken auf vielfältige Weise vermischen können. Empirische Vorstellungen können entsprechend auf verschiedenen Niveaus zugleich operieren und sie auf spezifische Weise in Kontakt halten – auch (angebliche) Theorien können naive und unreflektierte Vorannahmen enthalten. Folgt man dieser Unterscheidung von Funktionstypen von Wissen, so lässt sich feststellen, dass Freuds Gesellschaftsbild in dem, was im Text als »vortheoretische Gewissheiten« bezeichnet wurde, formal wie inhaltlich starke Wurzeln im Alltagsbewusstsein hat – es handelt sich um empirisch verankerte Überzeugungen über die Welt, die handlungsleitend sind und als selbstverständliche und sichere lebensweltliche Orientierungen präsentiert werden. Zugleich versucht Freud aber von Anfang an, Anschluss an die (ihm) im Modus der systematischen Reflexion verfügbaren Formen der Darstellung und Analyse zu nutzen. Schon seine ersten logisch organisierten Aussagen über die Art und Weise, wie er sich Gesellschaft vorstellt, enthält in nuce einige inhaltliche Kernaussagen und einige Vorstellungen über Steuerungsmodalitäten, die er später verwendet. Auf der anderen Seite erfahren seine gesellschaftsbezogenen Vorstellungen eine Funktionsveränderung und eine inhaltliche Umstrukturierung in dem Maße, wie sie einerseits von psychoanalytischen Vorstellungen stimuliert, andererseits zu deren Anwendung gebraucht werden. Spätestens seit den groß angelegten und flächendeckend argumentierenden Arbeiten wie »Totem und Tabu« orientiert sich Freud am Niveau institutioneller – theoretisch wie methodisch formatierter, abgesicherter und begründeter – Reflexion. Allerdings sind die Referenzen dabei beschränkt: Er bezieht sich selten auf die zu dieser Zeit öffentlich diskutierten, elaborierten und überhaupt nicht auf wissenschaftsinterne Konzepte von Gesellschaft, sondern arbeitet weiter
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mit den schon verwendeten Modi, ergänzt und erweitert sie und bezieht sie vor allem auf den nunmehr erarbeiten Kernbestand psychoanalytischer Erkenntnisse. Freud initierte also eine Argumentation auf institutionellem Niveau, praktizierte dies jedoch auf eine Weise, die eher dem Niveau eines persönlichen Systematisierungsversuchs entsprach. Gerade dadurch entstanden Ansätze, die ihm die Verwendung seiner eigenen Erkenntnisse und ihrer Weiterentwicklung in Richtung institutionalisierte Reflexion ermöglichte. Freuds Gesellschaftsbild bleibt also insofern »unprofessionell«, als er sich nicht anschließt an inner- wie außerwissenschaftliche Gesellschaftsdiskurse; es wird »professionell«, weil und wo er versucht, es auf die Basis seiner psychologischen Theorie zu stellen und zugleich deren Reichweite mit seiner Hilfe auszubauen. Inhaltlich ergibt sich dabei ein integriertes, aber kein einheitliches und widerspruchsfreies Modell von Gesellschaft. An vielen Beispielen (etwa am Thema Armut oder an Freuds Äußerungen über Frauen) zeigt sich, dass seine inhaltlichen Vorstellungen gewissermaßen in Varianten zerfallen und seine Argumentationen hin und her kippen, je nach dem, welche Seite und welche Sichtweise er betont. Was sich dabei formal durchhält, ist der Synkretismus der Argumentation: Freuds gesellschaftsbezogenes Denken operiert zugleich auf allen Stufen der Reflexion, verbindet und vermischt sie in einem Hybridmodell, dessen verschiedene Seiten je nach Situation unterschiedlich hervorgehoben sind. Es handelt sich also nicht um säuberlich getrennte Niveaus des Denkens, sondern um ein ständiges Oszillieren, eine Vermischung von Formen und Ebenen.
8.3. Zur Struktur von Theorien Wieso konnte Freud überhaupt so vorgehen und welche Funktion hat das von ihm entwickelte Gesellschaftsbild? – Man könnte zunächst den Status seiner Vorstellungen in Verbindung bringen mit dem zu seiner Zeit erreichten Entwicklungsstand der Gesellschaftstheorie. Freuds wissenschaftliche Ausbildung fällt in eine Phase, in der es noch keine deutlich erkennbare Grenze zwischen
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»amateurhafter« und »professioneller« Gesellschaftstheorie gibt, in der die professionelle Soziologie wenig bis kaum entwickelt und institutionalisiert ist und in der Gesellschaftstheorie fast immer unmittelbar mit gesellschaftspolitischem Interesse vermengt ist. So gesehen stand Freud – vor allem angesichts der Tatsache, dass er vorrangig andere Interessen verfolgte – während und in seiner Ausbildung nichts und in seinem privaten Horizont wenig Fundiertes zur Verfügung. Das würde bedeuten, dass Freuds Gesellschaftsbild in gewisser Weise das intellektuelle Niveau seiner Zeit (auch) in der Reflexion von Gesellschaft spiegelt. Dies ist sicher der Fall. Doch damit ist das Thema noch nicht erschöpft. Denn die strukturelle Heterogenität von Freuds Gesellschaftsbild ist keine Besonderheit. Man braucht nicht weit zu schauen, um zu sehen, dass viele, die sich mit Gesellschaft beschäftigen, cum grano salis ähnlich operierten und noch operieren. Es gibt zwar eine erkennbare Professionalisierung der Soziologie, die zu einer Präzisierung und Differenzierung ihres methodischen wie theoretischen Repertoires geführt hat, aber es besteht kein Zweifel, dass dies nicht zu einem exklusiven, eindeutigen und unumstrittenen Korpus des Fachs, zu unumstrittenen Ergebnissen und Vorstellungen und so weiter geführt hat. Es reproduziert sich auf höherem Niveau ein spezifisches Profil, welches sowohl Eigenschaften der Thematisierung als auch die Interferenz der Thematisierung mit ihrem Gegenstand betrifft. Im späten 19. Jahrhundert sind im Rahmen der Auseinandersetzungen zwischen der positivistischen Wissenschaftstheorie und den Vertretern einer geisteswissenschaftlichen Hermeneutik zwei Dichotomien konstruiert worden (vgl. Dilthey, 1910; Rickert, 1929): – zwischen der Natur, die objektiv existiert, aber unzugänglich und unverständlich bleibt, und der humanen Wirklichkeit, die erzeugt und sinnhaft strukturiert ist und deshalb ein privilegiertes sinnhaftes Verstehen erlaubt sowie – zwischen einer Strategie, die Wirklichkeit als objektive Gegebenheit unter dem Gesichtspunkt von Mechanik und Funktion untersucht, und einer Strategie, die sie als Teil eines Sinnzusammenhangs thematisiert.
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Man diskutierte also sowohl Gegenstands- als auch Thematisierungsdifferenzen – ohne jedoch zu eindeutigen Klärungen zu kommen. In der Folge entwickelte sich eine in verschiedenen Formen immer wieder aufflammende (teils aus der Wissenschaftstheorie importierte, teils selbst generierte) Diskussion darüber, ob die Soziologie Teil der (einer) Wissenschaft sei und daher die gleichen Methoden und Theorien wie alle zu verwenden habe oder ob sie anders als (alle) anderen sei und daher auch eigene Methoden und Theorien verwenden müsse. Die meisten Diskussionen endeten wie das Hornberger Schießen: ohne erkennbares Ergebnis oder gar eine Verständigung. Jede(r) blieb bei seiner Position und bei der eigenen Wahrheit. Dies mag ein Stück weit das unvermeidbare Schicksal jeder wissenschaftspolitischen Kontroverse sein. Zum Teil hängen die Verständigungsprobleme jedoch auch mit den Ausgangsprämissen zusammen. Besonders problematisch erscheint, dass in den meisten Diskussionen mit binären Schematisierungen gearbeitet wird, was eine Entweder-Oder-Zuordnung erzwingt, die in vielen Fällen der Komplexität der Wirklichkeit nicht gerecht wird. Zudem wurde in vielen Diskussionen das Abstraktionsniveau nicht genügend berücksichtigt, was zur Folge hatte, dass sinnvolle logische Unterscheidungen viel zu direkt an empirische Gegebenheiten oder gar an empirische Wissenschaften gebunden wurden. Das führte ebenfalls zu Problemen der Bezugsebenen. Um diese Probleme zu vermeiden, empfiehlt sich, an dieser Stelle zunächst logisch zu argumentieren, also nur über Typen von Wirklichkeit zu sprechen und an die Stelle einer Dichotomie ein Spektrum von Möglichkeiten zu setzen (vgl. dazu ausführlicher Schülein, 2002). Dann erscheint Realität als ein Kontinuum von Kombinationen, in der Typen jeweils unterschiedlich verbunden sind (und nicht als ein Gegenüber von – nur – zwei völlig getrennten, empirisch verstandenen Alternativen). Dabei lassen sich, in terminologischer Anlehnung an die verschiedenen Diskurse, zwei Basistypen unterscheiden: – Nomologische Realität: Realität, die immer und überall homogen, gleich und unveränderbar ist beziehungsweise sich stets auf die gleiche Weise ändert, zu der es also keine Alternativen gibt und die genutzt, aber nicht beeinflusst werden kann, sowie
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– Autopoietische Realität: Realität, die immer heterogen und verschieden ist, die sich in Interaktion mit ihrem Kontext stets ändert und dabei Emergenz beziehungsweise unvorhersehbare Eigendynamik zeigt und entsprechend beeinflusst, aber nicht vorhergesagt werden kann. Empirische Realität ist dabei in vielen Fällen ein Mischtypus, an dem beide Typen in jeweils unterschiedlicher Konfiguration beteiligt sind. Folgt man dieser Unterteilung, so lassen sich den Realitätstypen auch jeweils spezifische Methoden und Theorien zuordnen, die sie ermöglichen beziehungsweise benötigen: – Nomologische Realität kann in methodischen Arrangements festgestellt, analytisch zerlegt und experimentell überprüft werden, ohne dabei die Logik des Gegenstands zu verändern. Sie kann dabei durch Abstraktion algorithmisch reduziert werden, das heißt, es werden alle Akzidenzien weggefiltert, bis cetris paribus das reine Kalkül, nach dem jede Realität dieses Typs funktioniert, übrig bleibt. Die so gewonnenen Kalküle gelten kontextunabhängig und sind jederzeit und an jedem Ort reproduzierbar. – Autopoietische Realität kann wegen ihrer Eigenschaften weder empirisch vollständig gefasst noch theoretisch vollständig formuliert werden, ohne dass damit Informationsverluste verbunden sind. Jedes Experiment erzeugt eine eigene (autopoietische) Realität, jede Theorie verwendet konstitutive und selektive Modi, zu denen es (ebenso wie zur thematisierten Realität selbst) Alternativen gibt. Entsprechend müssen Methoden wie Theorien mit unscharfen Mitteln operieren, um die Bewegung des Gegenstands mitvollziehen (bzw. seine Differenzen miterfassen) zu können. Sie sind und bleiben in gewisser Hinsicht prämissen- und kontextabhängig. Während also rein nomologische Realität in abschließbaren Kalkülen, das heißt denotativen Theorien erfassbar ist, bedarf es zur Erfassung autopoietischer Realität konnotativer Theorien, die es ermöglichen, Verbindungen herzustellen, ohne mögliche Alternativen zu negieren, deren Begriffe sich flexibel auf Differenzen ein-
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stellen können, ohne zugleich den Kontakt zur abstrakten Logik zu verlieren. Denotative Theorien haben den Vorteil, sich auf einen eindeutigen und begrenzbaren Sachverhalt beziehen und dabei eindeutig und kontextfrei formuliert sowie auch verwendet werden zu können. Sie bieten auch klare Kriterien zur Unterscheidung von Theorien von nicht-theoretischen Interpretationen beziehungsweise Verwendungen. Sie können zudem in instrumentelle Praxis übersetzt werden, die kontextfrei und berechenbar funktioniert. Anders dagegen konnotative Theorien: Ihr Gegenstand ist nicht ohne Risiko definierbar und isolierbar. Zu ihnen gibt es aus strukturellen Gründen stets Alternativen, sie entwickeln sich mit ihrem Gegenstand, ohne je abgeschlossen zu werden und ihre Verwendung lässt Spielräume für extern bestimmte Variation. Sie sind also multiparadigmatisch, chronisch unreif (so Max Weber) und in ihrem Kontext verstrickt. Und die Praxis, die sich aus ihnen ableitet, ist stets eine nicht restlos kalkulierbare, situativ spezifische Form der Intervention in autopoietische Realität. Übertragt man diesen Gesichtspunkt auf die Struktur von Freuds Gesellschaftsbild, so ist evident, dass Freud es vorrangig mit einem autopoietischen Sachverhalt – der humanen Psyche und dem menschlichen Zusammenleben – zu tun hatte. »Gelernt« hatte er den Umgang mit denotativen Theorien; sie hielt er (auf Grund seiner Identifikationen) als einzige für »wissenschaftlich«. Lernen musste er den Umgang mit konnotativer Theorie, was ihm in gewisser Weise gelang, in anderer allerdings nicht. Er schaffte es, Begriffe zu konzipieren, die konnotative Leistungen erbringen konnten (also den Begriff »Abwehr«, der die Fülle von Möglichkeiten logisch bündelt und zur Konkretisierung im Einzelfall anleitet), und verwendete dabei ohne zu Zögern die Mittel der Narration (die Prozess und Struktur zugleich thematisiert) und der Analogisierung (der bildlichen Beschreibung eines komplexen Sachverhalts). Er sah darin rein gegenstandsbedingte Notwendigkeiten (was im Kern stimmte). Die Konsequenzen der Verwendung konnotativer Modi ignorierte beziehungsweise verleugnete er (indem er sie kurzerhand zu denotativen Mitteln ernannte). Auf die Funktion dieser wissenschaftspraktischen Strategie komme ich noch zurück. Es gibt jedoch noch einen anderen As-
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pekt, der auf diesem Hintergrund verständlich wird. Für konnotative Theorien gilt, dass für sie die oben unterschiedenen Ebenen der Reflexion nicht systematisch getrennt sind, im Gegenteil: Alltagsbewusstsein und die Formen der Reflexion kommunizieren permanent. Dies hat zwei Seiten: Einerseits werden außertheoretische Mittel für konnotative Theorien zwingend gebraucht, weil keine konnotative Theorie voraussetzungslos beginnen kann, andererseits werden sie zum Problem, wo sie deren Möglichkeiten beschränken und beeinträchtigen. Anders als denotative Theorien können sie sich nicht von ihrer Genese lösen (bzw. diese Genese durch logische Prämissen neutralisieren). Vortheoretische Gewissheiten dienen hier also als Konstituenten der Theorien; Theorien können sich nur begrenzt von dieser Genese emanzipieren, das heißt, sie reproduzieren unter Umständen die vortheoretischen Gewissheiten, dienen zu ihrer Bestätigung oder werden dazu eingesetzt. Dieser »hermeneutische Zirkel« ist also sowohl ein produktiver Modus konnotativer Theorien als auch ein ständiges Problem. So gesehen handelt es sich bei der beschriebenen Struktur von Freuds Gesellschaftsbild also keineswegs um eine idiosynkratische Eigenheit seines Denkens, sondern um die unvermeidliche Konsequenz seiner Leistung und eine notwendige Bedingung seines Vorgehens: Gerade weil er methodisch wie theoretisch unvermeidliche Konsequenzen aus seinen Erkenntnissen zog, musste das Verhältnis von Theorie und Alltagsbewusstsein, von Psychoanalyse und bildungsbürgerlichem Gesellschaftsverständnis so sein, wie es sich darstellt – vermischt, schwer zu trennen, ineinander übersetzt. Und so gesehen wird verständlich, dass bei Freud die unterschiedlichen Niveaus von Reflexion in Auseinandersetzungen mit bestimmten Themen verbunden bleiben und sich gegenseitig bestimmen. Dass in vielen seiner Überlegungen (um Mannheims Unterscheidung zu zitieren) Ideen und Ideologien eng verbunden, sogar amalgamiert sind, ist deshalb nicht nur Ausdruck von Unzulänglichkeit oder Unterentwicklung – es spiegelt die Strukturproblematik konnotativer Theorien. Hätte Freud sich auf neurophysiologische Fragen beschränkt (die denotativ behandelbar sind), hätte er diese Probleme nicht gehabt. Insofern zeigen die Folgen, dass Freud die erforderlichen Konsequenzen seines
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Vorgehens gezogen hat – und sich die entsprechenden Risiken in seinen Vorstellungen zeigen.
8.4. Aspekte der Institutionalisierung Es gibt jedoch noch einen weiteren Aspekt, der das Profil von Freuds Gesellschaftsbild und seiner Funktion entscheidend mitbestimmt hat: die Tatsache, dass er sich in der Sondersituation eines Beginns befand. Auch wenn keine Rede davon sein kann, dass Freud bei Null anfing – Ellenberger (1973), Sulloway (1982) und andere haben akribisch die vorhandenen Anknüpfungspunkte beschrieben –, ist das Gesamtsystem von psychoanalytischer Therapie und Theorie in Grundstruktur und in der Ausführung seine Kreation. Das bedeutet nicht zuletzt, dass Freud keine institutionelle Struktur vorfand, die er unmittelbar hätte nutzen können, sondern die fachlichen wie sozialen Bedingungen der Institutionalisierung erst entwickeln musste. Institutionalisierung beginnt nicht bei Null, sondern stützt sich auf vorhandene Ressourcen und Referenzen. Aber wenn es sich um Neuentwicklungen handelt, treten zwangsläufig eine Reihe von Entwicklungs- und Übergangsthemen beziehungsweise -probleme auf. Die Phasen von Institutionalisierungen und ihre Besonderheiten lassen sich in Stichworten so beschreiben: – In der Pionierphase geht es zunächst darum, dem noch unentwickelten Thema inhaltlich Profil und Terrain zu erarbeiten und dies sozial abzusichern. Der »Pionier« als Sozialtyp braucht bestimmte Eigenschaften, die ihn dazu befähigen, gegen den Sog der herrschenden Normalität (und unter Umständen gegen den dezidierten Widerstand von Institutionen und Gruppen, die die Innovation – aus welchen Gründen auch immer – nicht gutheißen) eine abweichende Linie zu verfolgen, auch wenn sie zunächst noch unklar ist (also noch nicht als Alternative präzise definiert ist). Die Pioniersituation besteht im Grunde thematisch wie sozial aus unentwegtem Improvisieren, da noch keine fertigen und stabilen Resultate vorhanden sind. Entsprechend ist hier vor allem die Fähigkeit zu skrupellosem Ausprobieren,
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zur schnellen Umstellung (bei Sackgassen und Fehlern) und zum Aushalten von Disparitäten erforderlich. Der Typus des Pioniers ist entsprechend wenig diszipliniert (im Sinne seiner Herkunftszunft), seine Vorbildung hat oft wenig mit seinen Aktivitäten zu tun, im Umgang ist er nicht unbedingt angepasst. Sozial dominieren eher einfache Formen der Organisation, die eher auf persönlichen Beziehungen als auf gesicherten Rollenbeschreibungen basieren sowie ein breites Spektrum an individuellen Definitionen der Praxis. – Die Konsolidierungs- und Expansionsphase ist erreicht, wenn das inhaltliche Paradigma so weit entwickelt ist, dass die Konturen erkennbar und stabil sind, also von innen wie außen zugerechnet werden können. Dadurch hat sich auch die Praxis so weit stabilisiert, dass sie nicht mehr heftigen Schwankungen unterliegt. Auf dieser Basis kann es ausgeweitet und in potentielle Anwendungen übersetzt werden. Das Verhältnis zum Umfeld gewinnt Profil, weil eine Neuinstitutionalisierung (positiv wie negativ) Aufmerksamkeit auf sich (und Interessenten und Kritiker an-)zieht. Parallel dazu hat sich auch der reproduktive Prozess verselbständigt, das heißt, es gibt geordnete Formen der internen Kommunikation und der Darstellung nach außen. In dieser Phase wird der Pionier tendenziell abgelöst vom Typus des Funktionärs; die Zahl der über erratische Karrieren ins Feld gelangten Personen nimmt ab, die der mit standardisierter Tätigkeitsbiographie und -profil zu. Damit nehmen sowohl die internen Strukturierungskapazitäten als auch der Strukturierungsbedarf zu. Zugänge werden definiert, die Praxis wird kanonisiert und legitimiert, die Sozialstruktur formalisiert. – Expansion und Konsolidierung münden in einen Prozess der Normalisierung, wenn Leistungen und Grenzen erkennbar werden und sowohl die Praxis als auch der reproduktive Prozess sich auf differenziertem Niveau stabilisiert haben. Die Umgebung hat sich inzwischen (positiv wie negativ) mit der (nunmehr ehemaligen) Innovation arrangiert; die internen Abläufe sind gebahnt und routinisiert, kurz: Es entwickelt sich eine extern wie intern definierte institutionelle Normalität (was nicht unbedingt heißt: Konflikt- und Problemfreiheit. Auf dieser Basis kann es zu weiteren Entwicklungen im Sinne dieser Nor-
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malität kommen, was vor allem heißt, dass es zu Formen der Arbeitsteilung, der professionellen Vermittlung, der Festlegung von Standardkarrieren und so weiter kommt. Das typische Mitglied ist entsprechend fachlich wie sozial auf definierte Weise ausgewählt und ausgebildet. Der Betrieb läuft – bis er aus äußeren wie inneren Gründen in eine Krise gerät, die Anpassung und Umstellung verlangt und eine Rückkehr auf eine der früheren Entwicklungsstufen provoziert. Ein Punkt ist in diesem Zusammenhang von besonderer Bedeutung: Die Institutionalisierung hängt in zentralen Aspekten vom Thema und damit von der Art der Praxis und der Theorie ab. Institutionen, die nomologische Realität mit denotativen Theorien und instrumenteller Praxis zum Thema haben, können die Möglichkeiten von Arbeitsteilung, Routinebildung, formaler Organisation und so weiter zur Entwicklung und Stabilisierung nutzen. Daher gelingt es ihnen (mehr oder weniger gut), eine funktionsfähige institutionelle Normalität zu entwickeln. Anders liegen die Dinge bei der Institutionalisierung von Themen, die mit konnotativen Theorien und reflexiver Praxis verbunden sind. Die angesprochenen Merkmale verhindern die Herausbildung von Normalität: Die Theorie bleibt ständig umstritten und unabgeschlossen, die Praxis unsicher und riskant. Entsprechend verbleibt die Institution in einem Zustand dauernder Instabilität und »Unreife«. An Stelle einer reibungslos funktionierenden Normalität entwickeln sie eine »phantom normalcy« (wie Goffman, 1975, dies in einem anderen Zusammenhang nannte): Ein So-tun-als-ob, welches Normalität simuliert, dabei aber ständig von Krisen und Konflikten bedroht ist. Während also die Telekommunikation die Übermittlung von Nachrichten technisch lösen und sozial in festen Formen fassen kann, bleiben beispielsweise Pädagogik und Politik ein Dauerproblem, weil es weder definitive Lösungen noch optimale Organisationsformen gibt. Die Folge sind häufig sekundäre Stabilisierungsbemühungen (etwa Ideologien, rigide Grenzziehungen usw.), die ihrerseits problematisch sein können. Überträgt man diese Überlegungen auf Freuds Situation, so ist evident, dass sein Thema, seine Theorien und seine Art der Praxis zum zweiten Typ gehören: Es handelt sich um den Umgang mit
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autopoietischer Realität. Entsprechend brachte die Entwicklung der Psychoanalyse chronische Entwicklungs- und Stabilisierungsprobleme mit sich. Freud hat lang genug gelebt und gearbeitet, um ihre Entwicklung über die Pionierphase hinaus bestimmen zu können. Er hat also maßgeblich auch die Expansions- und Konsolidierungsphase mit bestimmt. Und das nicht nur direkt, durch seine Aktivitäten, sondern auch indirekt, durch seine Position: Das Vorhandensein einer singulären Gründerfigur hat für eine Sondersituation gesorgt. Freud diente lange als oberste sakrosankte Autorität, was zur Folge hatte (bzw. von den Folgegenerationen dafür genutzt wurde), den Status der Psychoanalyse falsch einzuschätzen, das Ausmaß der Eindeutigkeit von Theorie und Praxis zu überschätzen – eine, wie sich im Nachhinein (nicht nur hier) zeigt, zwiespältige Form von »phantom normalcy« und sekundärer Stabilisierung, die jedoch im Zusammenhang mit dem institutionellem »Normalisierungsbedarf« gesehen werden muss (vgl. dazu Schülein, 1996). Beides muss im Kontext der Problemlagen gesehen werden. Freuds Nachfolger versuchten mit Hilfe einer sakrosankten Führungsfigur einen sicheren thematischen und sozialen Halt zu gewinnen. Freuds eigene Situation war zu Beginn vor allem dadurch gekennzeichnet, dass er über wenig unmittelbar Verwendbares verfügte und zugleich ein hohes Maß an thematischem und sozialem Risiko einging beziehungsweise eingehen musste. In dieser Pioniersituation brauchte er Vereinfachungen, Orientierungen und Absicherungen. Betrachtet man seine Vorstellungen über Wissenschaft und Gesellschaft in diesem Zusammenhang, so wird ihre diesbezügliche Leistung deutlich. Dass er den wissenschaftlichen Status seiner Arbeit systematisch verkannte, hing nicht zuletzt damit zusammen, dass ihm die zu seiner Zeit zur Verfügung stehenden Konzepte nur zum Teil bekannt waren (die »geisteswissenschaftliche« Diskussion kannte er nicht), aber vor allem damit, dass er davon überzeugt war, dass es nur eine Form von wissenschaftlicher Erkenntnis gebe und dass deren Inkarnation die Naturwissenschaft seiner Zeit, sprich: der materialistische Positivismus war (ausführlich dazu: Schülein, 1999). Diese Überzeugung bot ihm sicheren Halt in der von ihm als Fortsetzung und Realisierung der Aufklä-
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rung idealisierten Wissenschaft; eine Identifikation mit (salopp gesagt) der Avantgarde und den Leistungsträgern des Weltgeistes. Entscheidend war jedoch, dass er diese Identifikation nicht mit einer Idealisierung des Ist-Bestands an Methoden und Theorien, sondern mit einer Kautele versah, die einen persönlichen Freibrief enthielt: Wer mit der Wissenschaft identifiziert ist und ihre Prinzipien (und nicht ihre empirischen Gegebenheiten) wahrt, erfüllt ihre Aufgabe. Damit konnte Freud beliebige Expeditionen unternehmen, ohne je den Kontakt mit seiner Basis zu verlieren; er konnte allen seinen Aktivitäten problemlos den absichernden Status »wissenschaftlich« zuweisen, ohne sich allzu sehr um die Buchstaben des gemeinten Bezugssystems kümmern zu müssen. Dies gilt auch da, wo Freud sich scheinbar am methodischen Repertoire seines Wissenschaftsideals orientierte. Er übernahm Methoden auf eine Weise, die nicht zum Gegenstand passten, die ihm jedoch in gewisser Weise weiterhalf. So würde beispielsweise niemand mehr auf die Idee kommen, einen Traum so zu behandeln, wie Freud dies bei seinen Versuchen einer »vollständigen« Traumdeutung tat, wo er buchstäblich jede Silbe in Kausalzusammenhänge stellte. Aber es war nicht zuletzt dieser Versuch mit der Leitannahme, Träume ließen sich auf diese Weise restlos klären, der ihm dabei half, überhaupt konsequente Strategien der Traumdeutung zu entwickeln, in der auch die zentralen und richtungsweisenden Aspekte enthalten waren. Ein weiterer Effekt von Freuds Wissenschafts-Identifikation erschließt sich, wenn man sie in Beziehung setzt zu der These von Devereux (1992), dass (fast alle) Themen unter Umständen psychisch problematisch und problemauslösend sind. Dies gilt für eine ganze Reihe von Freuds Themen. Sexualität, Neurosen, Kleinkindforschung – fast alle seiner Zugänge zur Psychodynamik waren mit (mehr oder weniger ausgeprägten) gesellschaftlichen Tabus verbunden und blieben auch im praktischen Kontakt heikel. Devereux leitet daraus ab, dass im Kontakt mit potentiell angsterregenden Themen auch und gerade die Methoden und Theorien der Wissenschaft Strategien der Angstbewältigung sind: Sie sorgen für Distanz und verhindern Kommunikation. Mit dieser Selbstdefinition – ich bin ein objektiv vorgehender, als Person unbeteiligter Wissenschaftler – ist, so könnte man
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folgern, bereits in die Rollendefinition eine Art Angstschutz eingebaut, der es dem Rolleninhaber ohne individuelle Leistungen ermöglicht, sich vor Überlastung durch Kontakt mit schwierigen Themen zu schützen. Auch in diesem Zusammenhang ist anzunehmen, dass gerade die Identifikation mit der distanzierenden, die Subjekt-Objekt-Trennung stark betonenden Position Freud dabei geholfen hat, sich auf massiv emotional aufgeladene Themen und heikle Aktivitäten einzulassen, weil sie deren Effekte gemildert und abgefedert haben. Freuds Vorstellung von Wissenschaft war also keine objektiv richtige Interpretation dessen, was er tat – insofern war die Habermas’sche Feststellung eines »szientistischen Selbstmissverständnisses« (1968) objektiv richtig. Ihre zentrale Funktion lag jedoch nicht in einer wissenschaftstheoretischen Begründung, sondern in der Absicherung dessen, was er tat. Freud konnte mit dieser Einschätzung die Eigenheiten seines Vorgehens sowohl entwickeln als auch verleugnen (oder zumindest massiv unterschätzen). Daher lag ihre besondere Leistung gerade in dem, was objektiv falsch und daher zu Recht kritisiert wurde: Das »Missverständnis« sicherte eine revolutionäre Vorgehensweise ab, die Freud – bei voller Realisierung dessen, was sich abspielte – als eklatanten Widerspruch hätte einstufen müssen. Es ist fraglich, ob er dann noch so locker gegen viele der Regeln seiner Zunft verstoßen hätte. Die eigentliche Pointe von Freuds Wissenschaftsverständnis liegt daher eher in ihrem heimlichen Anti-Positivismus: Dass Freud seinen zur damaligen Zeit exzentrischen Eingebungen folgte, und zugleich fast blauäugig annahm, im Reich der Wissenschaft, wie er es verstand, zu bleiben. In gewisser Weise hatte er damit auch Recht, aber er überschätzte die Identität seines Tuns mit den Regeln der (Natur-)Wissenschaft der Zeit erheblich – und so erfolgreich, dass er auf diese Weise unbekümmert voranschreiten konnte. In späteren Phasen der Entwicklung der Psychoanalyse – vor allem bei Bemühungen, sie zu kanonisieren und wissenschaftstheoretisch abzusichern – wurde dies naturgemäß zu einem gravierenden Problem. Hartmanns (1927) Festschreibungen haben für lange Zeit ein angemesseneres Verständnis psychoanalytischer Theorie und Praxis stark beeinträchtigt und dazu beigetragen,
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dass sich die Schere zwischen offizieller Selbstinterpretation und tatsächlichem Geschehen weit und weiter öffnete, was die interne Thematisierungsfähigkeit erheblich beeinträchtigte. Wäre Freud besser dran gewesen, wenn er Dilthey gelesen und sich als Hermeneutiker verstanden hätte? Lorenzer (1974) sagt dazu vehement nein, weil Freud damit aus seiner Sicht von wissenschaftstheoretischen Regen in die Traufe gekommen wäre – eine »idealistische« Hermeneutik sensu Dilthey hätte, so Lorenzer, den »materialistischen« Gehalt von Freuds Vorgehen (sein Insistieren auf realem, körpergebundenen Geschehen als Grundlage der Psychoanalyse) womöglich geschädigt und in Luft (Geist) aufgelöst. Aus der hier entwickelten Sicht ist ebenfalls Skepsis angebracht, aber aus anderen Gründen: Es ist fraglich, ob eine solche Identifikation Freud die vortheoretische Gewissheit geboten hätte, die er für seine Suchbewegungen, aber auch für die später entwickelten theoretischen Konstruktionen geboten hätte. Allein schon das Wissen um die Problematik des seit Schleiermacher deutlich gewordenen »hermeneutischen Zirkels« wäre Gift für jene Sicherheit des Vorgehens gewesen, die Freud suchte und brauchte – ganz abgesehen davon, dass er auch Probleme gehabt hätte, dort die Vorbilder für seine (wie auch immer problematischen) Modellkonstruktionen zu finden. Mutatis mutandis gilt dies für Freuds Gesellschaftsbild insgesamt. Bezieht man sie auf die Problemlage der Pioniersituation, so wird auch in dieser Beziehung deutlich, welche Leistung das selbstverständliche Übernehmen von Überzeugungen aus dem Alltagsbewusstsein als Hintergrundssicherung für die notwendigen Interpretationen sozialer Sachverhalte erbrachte. Gänzlich ohne Hintergrundsannahmen wäre überhaupt keine Expedition in die Psychodynamik möglich gewesen, weil dazu sowohl ein Normalitätskonzept als auch Annahmen über relevante Themen beziehungsweise Probleme vorhanden sein müssen. Eine elaborierte soziologische Theorie zu entwickeln war Freud nicht möglich – und wäre vermutlich auch nicht produktiv gewesen. Das gilt schon deshalb, weil zum damaligen Zeitpunkt das entsprechende Repertoire beschränkt war, vor allem aber, weil eine elaborierte Gesellschaftstheorie nicht mehr ohne weiteres als fraglose Hintergrundsannahme hätte fungieren können. Statt also orientierende
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thematische Fixpunkte zu bieten, hätte sie Kontingenz und Entwicklungsbedarf mit sich gebracht und Freuds eigentliche Arbeit nicht ent-, sondern belastet. In dieser Perspektive sind Freuds gesellschaftstheoretische Konstruktionen – die Einheitsbegriffe »Kultur« und »Gesellschaft«, die Betrachtung von Gesellschaft als eine Art menschlicher Akteur, der ziemlich direkte und teleologische Funktionalismus – problematische, aber erforderliche und unvermeidliche Mittel, Zusammenhänge zu erfassen, die anders nicht zugänglich waren. Freud brauchte Vorstellungen, die es ihm erlaubten, die soziale Bühne des psychischen Geschehens zu bestimmen. Seine vortheoretische Gewissheiten konnten vor allem in der Pioniersituation sowohl als inhaltliche Referenz als auch als sicherer Halt dienen, wobei die Durchlässigkeit konnotativer Theorien für externe Einflüsse den Zugang bot. Die Ontologie des Sozialen versorgte ihn auch mit den erforderlichen normativen Absicherungen. Tatsächlich versteht sich das Moralische nicht von selbst, aber es ist unter dem Druck einer Pioniersituation vorteilhaft, davon auszugehen, als ob es so wäre. Das tat Freud mit voller Überzeugung und hatte so durch die Gefühlssicherheit des Alltagsbewusstseins abgesicherte moralische Maßstäbe für die reflexive Begründung seiner Praxis zur Verfügung. Selbst Freuds viel kritisierte Theorie weiblicher Sexualität bekommt in dieser Sichtweise noch eine weitere Bedeutung. Sicher hat Freud vergleichsweise unkritisch zeitbedingte (vergleichsweise moderat ideologische) Vorstellungen übernommen und sie normativ genutzt, was zu den bekannten Folgen in Bezug auf seine Theorie der weiblichen Identität und Sexualität führte. Angesichts der fehlenden Verfügbarkeit von ausgearbeiteten Alternativen war dies jedoch nicht nur nahe liegend; es war zugleich auch unvermeidlich, weil Freud ein Ausgangs- und Bezugsmodell brauchte. Zugespitzt: Erst durch die Verwendung einer sicheren Folie konnte er seine Expeditionen ins Unbekannte unternehmen. Ein beschränktes, objektiv unzulängliches, aber (nicht zu rigides) sicher leitendes Bild war für Startzwecke besser geeignet als ein diffuses zu komplexes beziehungsweise relativistisches Konzept. Allerdings war der Preis dafür der gerade in dieser Hinsicht problematische und irreführende theoretische Entwurf, den Freud
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entwickelte. Er enthielt eine Gemengelage aus sinnvollen Annahmen und Feststellungen (etwa über Bisexualität und geschlechtsspezifische Differenzen des »Triebschicksals«) mit nunmehr ex cathedra formulierten Unzulänglichkeiten. Die Probleme ergaben sich jedoch vor allem dadurch, dass Freuds Vorstellungen in der Konsolidierungsphase insgesamt dogmatisiert wurden – und das vorrangig von Männern, die in dieser Hinsicht Freuds lebensweltlichen Horizont weitgehend teilten. Beides schränkte die Freiheitsgrade für Korrekturen der Theorien erheblich ein und führte zum Mittransport von unhinterfragten Vorurteilen.
8.5. Leistungen und Risiken Freuds Gesellschaftsbild, seine Vorstellungen von sozialer Wirklichkeit, von Wissenschaft und von seiner eigenen Tätigkeit sind also in vieler Hinsicht mehrdeutig. Er betrachtet die Welt aus der Sicht des gebildeten Bürgertums, sieht in Kultur und Wissenschaft die Realisierung dessen, was Menschen an produktiver Leistung möglich ist – und im Menschen selbst ein zwiespältiges Geschöpf, welches neben diesem Potential auch ein hohes Maß an Erratik und Destruktivität eigen ist. Gesellschaft sieht er als Produkt dieser Doppeldeutigkeit: als Resultat der Möglichkeiten der Selbststeuerung, aber auch als Notwendigkeit zur Kontrolle und Beherrschung der Problemlagen. Eine eigenständige Logik sozialer Realität sieht er nicht, stattdessen betrachtet er Gesellschaft als einheitliches Makrosubjekt, welches nicht nur aus der Psychologie stammt, sondern auch psychologische Eigenschaften hat – sie denkt, sie hat Schuldgefühle und so weiter. Insofern reproduziert sie die zwei Seiten der humanen Anlagen. Freud weist ihr im Rahmen seines teleologischen Funktionalismus vorrangig Aufgaben zu, die sich als sinnvoll und notwendig darstellen. Diese Konzeption hat nicht nur eine produktive Funktion für Freuds Versuche, Psychoanalyse als neue Sichtweise psychodynamischer Realität zu entwickeln. Man kann sogar bei entsprechender Interpretation feststellen, dass sein gesellschaftsbezogenes Denken in mindestens zwei Hinsichten sinnvolle und ausbaubare Ansätze enthält:
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– Er erweitert das psychodynamische Repertoire so, dass die Interferenz von Psychischem und Sozialem wesentlich differenzierter darstellbar ist, und – er begreift Gesellschaft als autopoietische Realität, die auf externe Referenzen bezogen ist. Allerdings sind diese Ansätze in der von ihm ausgearbeiteten Form problematisch bis irreführend. Sie münden fast immer in einen kurzschlüssigen psychologistischen Reduktionismus, da Freud weder die Autonomie und Eigendynamik der sozialen Realität sieht noch deren interne Differenzierung berücksichtigt. Der Mensch steht also im Mittelpunkt auch seines gesellschaftsbezogenen Denkens und bleibt ihr zentraler Bezugspunkt. Dadurch kommt es auch zu dem eigenartigen Nebeneinander von präzisen sozialen Beobachtungen und vereinfachendem allgemeinem Modell, welches dafür keinen systematischen Platz hat, so dass Freud immer wieder bei den Eigenschaften von Personen (und nicht bei den von sozialen Strukturen) landet. Die Dialektik von Identität und Sozialstruktur bleibt dadurch naturgemäß blass und wird zu einer Einbahnstraße; die Möglichkeiten des Verstehens von gesellschaftlichen Ereignissen beschränkt. Entsprechend schwanken Freuds Kommentare zwischen großflächigen (kulturtheoretischen) Interpretationen, in denen sich kluge Überlegungen mit hochspekulativen Eigenheiten mischen, und improvisierten, manchmal impulsiven Äußerungen, denen der nötige interpretative Kontext fehlt. Was sich weitgehend durchhält, ist die inhaltliche Ambivalenz. Freuds Überlegungen behandelten immer wieder (in unterschiedlichen Gewichtungen) die Janusköpfigkeit von Gesellschaft – die Mischung von Aufklärung und Destruktion, von Leistung und Qual, von Kontrolle und Schicksal, von Rationalität und Irrationalität. Diese tiefe Wurzel der Lebenserfahrung zeigt sich in allen Bereichen seines Denkens. Die Ambivalenz bleibt unversöhnt und führt an Grenzen der Verarbeitungskapazität, was sich auch in der Entwicklung der basalen Lebensphilosophie zeigt. Freud stellte seine (eigene Interpretation seiner) Weltsicht dar als hinund hergerissen zwischen Optimismus und Pessimismus, als »Optimistischen Pessimismus«, wobei – wenig verwunderlich – in den
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frühen Phasen Ersterer, in den späten Äußerungen Letzterer dominiert. Der »frühe« Freud ist voller Tatendurst und Forscherelan, sieht die Möglichkeit der Entwicklung und Verbesserung der Welt durch Erkenntnis und Aufklärung – zu diesem Zeitpunkt sind seine pessimistischen Überlegungen eher in Briefzitaten zu finden. Der »späte« Freud, von Weltkrieg und Faschismus erschüttert (wie begründet auch immer, vgl. Sulloway, 1982), mit der Resonanz der Psychoanalyse in der wissenschaftlichen Welt enttäuscht und von schwerer Krankheit gezeichnet, äußert sich skeptischer: »Ich kann nicht bestreiten, daß in dem fröhlichen Pessimismus, der mir eigen war, das zweite Moment gelegentlich dominiert. … Wir sind … keine Zuschauer, auch nicht Schauspieler oder auch nur Chor, sondern nur Opfer« (Jones 1960 ff., III, S. 19). Die Fröhlichkeit ist verschwunden. An Pfister schreibt er anlässlich der Einführung des »Todestriebs«: »Es handelt sich gar nicht darum, was anzunehmen erfreulicher oder fürs Leben bequemer oder vorteilhafter ist, sondern was jener rätselhaften Wirklichkeit, die es doch außer uns gibt, näher kommen mag. Der Todestrieb ist mir kein Herzensbedürfnis, er erscheint nur als unvermeidliche Annahme aus biologischen wie psychologischen Gründen. Davon leite ich das Übrige ab. Mein Pessimismus erscheint mir also als Resultat, der Optimismus meiner Gegner als eine Voraussetzung. Ich könnte auch sagen, ich habe mit meinen düsteren Theorien eine Vernunftehe geschlossen, die anderen leben mit den ihren in einer Neigungsehe« (Freud u. Pfister, S. 144). Auch diese Vernunftehe wird schließlich so strapaziert, dass Freud resigniert und verstummt: »Sie sollen keine Klagen hören. Ich stehe immer noch aufrecht und halte mich in keiner Hinsicht für das unsinnige Geschehen in der Welt verantwortlich« (Jones 1960 ff., III, S. 18). Man wird jedoch Freuds Gesellschaftsbild nicht gerecht, wenn man nur diese Seite der objektiven Unzulänglichkeit und der Resignation betrachtet. Man muss die Leistungen, die es erbringt und den Rahmen, in dem es sie erbringt, mit berücksichtigen. Wenn man bedenkt, dass Freud über weite Strecken sich auf vortheoretische Gewissheiten und Möglichkeiten des reflektierten Alltagsbewusstseins verließ und verlassen musste, wenn man berücksichtigt, dass er ohne es zu wollen, aber mit aller Konsequenz mit den Problemlagen konnotativer Theorien konfrontiert wurde
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und die Schwierigkeiten von Pioniersituationen, insbesondere der Institutionalisierung der Form von Theorie und Praxis, die er entwickelte, dann sind diese Leistungen bemerkenswert. Ganz abgesehen davon, dass es zu Freuds Zeiten auch elaboriertere Gesellschaftsbilder gab, die in Struktur und inhaltlich wesentlich restringierter und problematischer waren (man denke nur an seine Landsleute und Zeitgenossen Spann und Ratzenhofer), haben Freuds Vorstellungen ihre Funktion als Nährboden und Halt für die Entwicklung einer neuen Weltsicht und des dafür erforderlichen methodischen und theoretischen Repertoires erfüllt. Ohne diesen Hintergrund hätte er sich kaum so weit aus dem Fenster lehnen können; ohne feste Identifikationen und Idealisierungen wäre er nicht so weit gekommen. Erdheim (1991) hat in diesem Zusammenhang die These aufgestellt, dass erst der »soziale Tod«, sprich: das Herausfallen aus konventionellen Bindungen und Bezugssystemen den Weg für revolutionäre Neuerungen öffnet. Es sei dahingestellt, ob die Annahme, Freud sei mit seinen Aktivitäten überall auf Ablehnung gestoßen und habe daraufhin in völliger Isolation die Psychoanalyse entwickelt, im Sinne von Sulloway (1982) ein Stricken am »Heldenmythos« ist. Sicher war Freud mit dem, was er tat, streckenweise weitgehend allein und sicher hat er diese Situation zu einem Teil auch selbst gesucht. Aber ebenso sicher hat er dabei seine grundlegenden Überzeugungen nicht aufgegeben. Gerade weil er sich als wissenschaftliche Avantgarde verstand, konnte er auch gegen den Zeitgeist agieren; gerade weil er nie am Wert der Wissenschaft, wie er sie verstand, zweifelte, konnte er sie weiterentwickeln. Insofern muss man eher von einer Übergangskrise sprechen, die aus einer radikalen (und nicht konventionellen) Identifikation entstand. Die »Kosten«, die mit dieser engen Bindung an sein Gesellschaftsbild verbunden sind, liegen auf der Hand. Vieles hat indirekt, manches ganz direkt auf psychoanalytische Theorien abgefärbt; einige Konzepte sind erheblich imprägniert von den formalen und inhaltlichen Prämissen, die Freud ohne weitere Reflexion importiert. Die damit verbundenen Risiken wurden vor allem in den späteren Phasen der Konsolidierung und Normalisierung schlagend: Mangels hinreichender Problembehandlungskompetenz wurden einige Dinge, die Freud wichtig waren, still-
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schweigend fallen gelassen (nicht zuletzt auch sein Insistieren auf der sozialpsychologischen Relevanz der Psychoanalyse, ihr aufklärerisch-politischer Gehalt und das Projekt einer Allgemeinen Psychologie, die auf ihr aufbaut), andere dogmatisiert und dadurch der Reflexion entzogen. Gerade weil es sich im oben genannten Sinne um Pseudo-Sicherheiten handelte, bildeten sich – angesichts der enormen Schwierigkeiten, überhaupt so etwas wie institutionelle Normalität zu entwickeln – sekundäre Thematisierungstabus aus, die die Entwicklung der Psychoanalyse lange Zeit behindert haben. Freud selbst hatte nichts Anderes zur Verfügung und hat aus dem, was er zur Verfügung hatte, viel gemacht. Es gelang ihm der Durchbruch in eine neue Welt, er hat Zusammenhänge intelligibel gemacht, die bis dahin geahnt, aber nicht systematisch zugänglich waren. In seinem Denken (wie auch in der weiteren Entwicklung der Psychoanalyse) zeigt sich das Schicksal jeder Intervention in autopoietische Realität und konnotativer Theorien, ihre Verstricktheit in ihren Gegenstand und damit die Notwendigkeit von ständiger Reflexion und Weiterentwicklung. Dafür ist Freud selbst ein Vorbild.
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Schriften des Sigmund-Freud-Instituts Hans-Joachim Busch (Hg.) Spuren des Subjekts Positionen psychoanalytischer Sozialpsychologie Schriften des Sigmund-Freud-Instituts: Reihe 3: Psychoanalytische Sozialpsychologie, Band 1. 2007. 288 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-45404-6 Dem Subjekt kommt für die Auffassung des Individuums in der modernen Gesellschaft eine bedeutende Rolle zu. Nachdem es zunächst als kaum eingeschränkter Herr seiner Geschichte angesehen wurde, kamen im Verlauf des letzten Jahrhunderts immer mehr Zweifel auf. Der Kapitalismus nahm eine Entwicklung, die das Subjekt zum Statisten werden ließ oder, wie im Nationalsozialismus, seine destruktiven Potentiale entfesselte. In der Psychoanalyse war früh erkannt worden, dass das bürgerliche Ich nicht Herr im eigenen Haus ist. Die Autoren setzen diese Ansätze Freuds für die Bedingungen der späten Moderne fort. Sie suchen nach unbewussten Spuren gesellschaftlicher Verhältnisse im Subjekt und nach psychischen Kräften, mit denen sich das Subjekt heute behaupten und zur Geltung bringen kann.
Marianne Leuzinger-Bohleber / Stephan Hau / Heinrich Deserno (Hg.) Depression – Pluralismus in Praxis und Forschung Schriften des Sigmund-Freud-Instituts. Reihe 1: Klinische Psychoanalyse: Depression, Band 1. 2005. 353 Seiten mit 17 Abb. und 26 Tab., kartoniert ISBN 978-3-525-45164-9 Der Dialog zwischen Psychoanalytikern, Verhaltenstherapeuten, Psychiatern, Psychopharmakologen, Genetikern und Sozialwissenschaftlern erhöht die Chance professioneller Möglichkeiten, Menschen aus der Depression herauszuführen.
Stephan Hau / Hans-Joachim Busch / Heinrich Deserno (Hg.) Depression – zwischen Lebensgefühl und Krankheit Schriften des Sigmund-Freud-Instituts. Reihe 1: Klinische Psychoanalyse: Depression, Band 2. 2005. 254 Seiten mit 17 Abb., kartoniert. ISBN 978-3-525-45163-2 Die zunehmende Verbreitung von Depression spiegelt den Seelenzustand unserer Epoche. Das Spektrum reicht von depressiven Stimmungslagen bis zu lang anhaltenden Störungen mit Krankheitswert.
Schriften des Sigmund-Freud-Instituts Ulrich Moser Psychische Mikrowelten – Neuere Aufsätze Schriften des Sigmund-Freud-Instituts. Reihe 2: Psychoanalyse im interdisziplinären Dialog, Band 1. Herausgegeben von Marianne LeuzingerBohleber und Ilka von Zeppelin. 2005. 498 Seiten mit 10 Abb. und 2 Tab., kartoniert. ISBN 978-3-525-45165-6
Klaus Herding / Gerlinde Gehrig (Hg.) Orte des Unheimlichen Die Faszination verborgenen Grauens in Literatur und bildender Kunst Schriften des Sigmund-Freud-Instituts. Reihe 2: Psychoanalyse im interdisziplinären Dialog, Band 2. 2006. 300 Seiten mit 70 Abb., kartoniert. ISBN 978-3-525-45176-2
Marianne Leuzinger-Bohleber / Yvonne Brandl / Gerald Hüther (Hg.) ADHS – Frühprävention statt Medikalisierung Theorie, Forschung, Kontroversen Schriften des Sigmund-Freud-Instituts. Reihe 2: Psychoanalyse im interdisziplinären Dialog, Band 4. 2. Auflage 2006. 306 Seiten mit 14 Abb. und 3 Tab., kartoniert ISBN 978-3-525-45178-6 „Das Buch gehört ... zum Besten, was man zu ADHS heute lesen kann. Auch, weil es den naheliegenden Vereinfachungen entgeht und stattdessen dem Leser zutraut, den Forschungsstand verstehen zu wollen.“ Elisabeth von Thadden, Die Zeit
Marianne Leuzinger-Bohleber / Rolf Haubl / Micha Brumlik (Hg.) Bindung, Trauma und soziale Gewalt
Ralf Zwiebel / Annegret Mahler-Bungers (Hg.) Projektion und Wirklichkeit
Psychoanalyse, Sozial- und Neurowissenschaften im Dialog
Die unbewusste Botschaft des Films
Schriften des Sigmund-Freud-Instituts. Reihe 2: Psychoanalyse im interdisziplinären Dialog, Band 3. 2006. 295 Seiten mit 5 Abb. und 1 Tab., kartoniert ISBN 978-3-525-45177-9
Schriften des Sigmund-Freud-Instituts. Reihe 2: Psychoanalyse im interdisziplinären Dialog, Band 5. 2007. 235 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-45179-3
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