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German Pages 190 Year 2015
Frank Dirkopf, Insa Härte!, Christine Kirchhoff, Lars Lippmann, Katharina Rothe (Hg.) Aktualität der Anfänge
» Psych oa na Lyse« KARL-JOSEF PAZZINI, (LAUS-DIET ER RATH, MARIANNE S CHULLER
Editorial »Aus praktischen Gründen haben wir, auch für unsere Publikationen, die Gewohnheit angenommen, eine ärztliche Analyse von den Anwendungen der Analyse zu scheiden. Das ist nicht korrekt. In Wirklichkeit verläuft die Scheidungsgrenze zwischen der wissenschaftlichen Psychoanalyse und ihren Anwendungen auf medizinischem und nichtmedizinischem Gebiet.« (Sigmund Freud, Nachwort zur Laienana lyse, 1926, StA Erg. Bd., 348) Die Reihe >>Psychoanalysefertigen< Psychoanalyse in andere Gebiete, Disziplinen und Bereiche, sondern sie wendet sich auch an diese und wendet diese auf sich zurück. Ohne den eingehenden Blick auf die Naturwissenschaften, Kulturwissenschaften, Sozialwissenschaften, Mythologien, Literatur und bildenden Künste konnte die Psychoanalyse weder erfunden noch von Freud und seinen Schülern ausgebaut werden. Ein Forum dafür war die 1912 gegründete Zeitschrift und Buchreihe >>Imago«, die sich der Anwendung der Psychoanalyse auf die Natur und die Geisteswissenschaften gewidmet hat; später nannte sie sich allgemeiner >>Zeitschrift für psychoanalytische Psychologie, ihre Grenzgebiete und Anwendungen«. Die dort erschienenen Arbeiten sollten andere Disziplinen befruchten, der psychoanalytischen Forschung neue Gebiete erschließen, aber auch in jenen anderen Bereichen Modelle und Darstellungsmöglichkeiten für die psychoanalytische Forschung ausfindig machen. In der Hoffung auf ein ähnlich gelagertes Interesse von der anderen Seite her, also in der Hoffnung, daß >>Kulturhistoriker, Religionspsychologen, Sprachforscher usw. sich dazu verstehen werden, das ihnen zur Verfügung gestellte neue Forschungsmittel selbst zu handhaben« (Freud,
Frage der Laienanalyse, StA Erg. Bd., 339), wurde um 1920 sogar eine spezielle Art von Lehranalyse« eingerichtet denn: »Wenn die Vertreter der verschiedenen Geisteswissenschaften die Psychoanalyse erlernen sollen, um deren Methoden und Gesichtspunkte auf ihr Material anzuwenden, so reicht es nicht aus, daß sie sich an die Ergebnisse halten, die in der analytischen Literatur niedergelegt sind. Sie werden die Analyse verstehen lernen müssen auf dem einzigen Weg, der dazu offen steht, indem sie sich selbst einer Analyse unterziehen.« (Freud, ebd.)
Für Freud war klar, daß die Erforschung des Einzelmenschen eine Frage der Sozialpsychologie ist, denn >>im Seelenleben des Einzelnen kommt ganz regelmäßig der Andere als Vorbild, als Objekt, als Helfer und als Gegner in Betracht« (Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse, 1921, GW Bd. XIII, 73). Ihn interessierte auch, auf welche Fragen überlieferte und zeitgenössische Kulturphänomene wohl eine Antwort darstellen und wie derartige Kultursymptome sich bilden, oder welcher Illusionen Menschenwesen fähig sind, und auch, welche organisierten (neuen und alten) Bedrohungs- und Heilsphantasmen ihnen von Religion und Massenmedien aufgedrängt werden. Er befaßte sich also einerseits mit den Mechanismen und Funktionen, vermittels derer Kulturelles im Psychismus wirkt, und andererseits mit dem inneren Funktionieren kultureller Gebilde und Prozesse. (Zu letzterem gehören die Motive, die Ökonomien und die Überlieferungswege kultureller Vorgänge, die ja auch Bildungen des Unbewußten sind: kulturelle Zensur, Reaktionsbildungen, Symptombildungen, Regressionen, Sublimierungen usw.) Zugleich erkannte er, daß >>manche Äußerungen und Eigenschaften des Über-Ichs [ ... ]leichter bei seinem Verhalten in der Kulturgemeinschaft als beim Einzelnen>Aggressionen des Über-Ichs>gehörigen seelischen Vorgänge uns von der Seite der Masse vertrauter, dem Bewußtsein zugänglicher [... ] als sie es beim Einzelmenschen werden können> Spiegelung>der dynamischen Konflikte zwischen Ich, Es und Über-Ich>auf einer weiteren Bühne wiederholt>einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker>Totem und Tabuimmer >unerkennbar< bleibenAsozialität des Neurotiker s«, der >>Kulturfeindschaftfliegende Blatt< aus dem schließlich ein-seitig veröffentlichten Briefwechsel zwischen Fließ und Freud - es ist bei uns angekommen; wir werden offenbar, nach 111 Jahren, von ihm angemfen. Dieses Buch fragt: »Was will dieser Brief von uns?« Denn dieser Brief gibt Rätsel auf. Was will er mir, wo liegt das Begehren? Suchen wir vielleicht durch die Lektüre ein sich in den Briefen artikulierendes Begehren Freuds zurückzuerhalten, insofern etwa Freuds Feder, mit Wegener gesprochen, »Fließ gegenüber in besonderer Weise gelockert ist«? (Wegener 2004: 127). Suchen wir die Ränder eines Werkes, quasi das Subjektive im Sachlichen, insofern »das Sachliche«, wie es in einem anderen Brief Freuds von 1937 über den Briefwechsel heißt, »in diesem Falle auch recht persönlich« ist? Und: »bei der so intimen Natur unseres Verkehrs verbreiten sich diese Briefe natürlich über alles Mögliche [ ... ]«. 3- Was suchen wir an Möglichem? Was ist möglich mit diesem verbreiteten Brief? » [T]odmüde und geistig frisch«, wie es heißt, trägt Freud in dem Brief an Fließ vom 06.12.1896 versuchsweise »das letzte Stückehen Spekulation schlicht« vor (Freud 1985: 217) und schreibt sodann ebenso von annähernder Heiserkeit und Gipsen der Florentiner Statuen wie von Oberbau und Organgrundlage. Wir finden in diesem Brief ein mehrfach vorhandenes Gedächtnis, ein Umschrift erfahrendes Erinnerungsspurenmaterial, Übersetzungs-Versagung, gesonderte Niederschriften - und: weibliche Perioden. Wenn also zunächst von Nieder- oder Umschriften die Rede ist, dann klingt hier ein Sprach- bzw. Schriftbezug an, den wiedemm bestimmte, an- und aufregende - und in sich durchaus nicht konfliktfreie - Diskurse betonen. Nach Lacan etwa sind die Freud interessierenden Gedächtnisphänomene bei Freud stets Sprachphänomene; und mit den mehrfachen Registern wird Lacans »Mühle das Wasser« zugeführt (Lacan 1955-56: 186).
überließ. 1980 vermachte Anna Freud die Originale der Library of Congress, wo sie für die Öffentlichkeit gesperrt sind«. 1950 erschien »in London (bei Imago Publishing Company) eine deutsche Ausgabe unter dem Titel Sigmund Freud, Aus den Anfangen der Psychoanalyse. Briefe an Wilhelm Fließ, Abhandlungen und Notizen aus den Jahren 1887-1902 [... ]Als Herausgeber zeichneten Marie Bonaparte (Paris), Anna Freud (London) und Ernst Kris (New York).« In diese Edition wurden nicht alle verfügbaren Briefe und Papiere aufgenommen und auch Passagen ausgelassen. (In der Neuausgabe von 1985 wurden dann sämtliche Briefe ohne Streichungen abgedruckt) (Masson 1985: XXIIIf.). 3 Freud an Marie Bonaparte am I0. Januar 1937 (zit. n. Masson 1985: XX). 14
HÄRTEL: VORBEMERKUNG
Schreibt Freud mit >graphischen< Begriffen wie Um- und Niederschrift auch die Metapher einer nicht der Rede unterworfenen Schrifi, dann kann das nach Derrida wiederum bewirken, »daß das, was man mit dem Begriff der Schrift zu kennen glaubt, rätselhaft wird« (Derrida 1967: 305f.) - es findet womöglich eine unbekannte, Sicherheit unterbrechende Bewegung statt. Während nun Lacan etwa »die Reste physikalischer und biologischer Theorieelemente in der Freudschen Theorie« (Gondek 1998: 203) zu tilgen bestrebt ist, und während Derrida freudsche Begriffe der Schrift oder Spur radikalisieren und aus der »Metaphysik der Präsenz« (vgl. Derrida 1967) lösen will, so ist bei Freud nie sicher, »ob nicht doch ein als gegenwärtig gedachter Text in der Hinterhand gehalten wird« bzw. ob in einem Ausdruck wie Erinnerungsspur dieser nicht »immer noch ein materielles Substrat« u.ä. zugrunde gelegt ist (Gondek 1998: 200f.). Mit Freud, das zeigt die Leseerfahrung, ist man nie auf der sicheren Seite. Was fortdauernde Faszination, Spannung und auch gelegentliches Unbehagen zu wecken vermag, in dessen Genuss auch dieser Brief kommt: es wird in ihm gewissermaßen periodisch verstärkt. Niederschriften und Erinnerungsspuren treffen in diesem Brief nämlich auf Annahmen von 28tägigen weiblichen und 23tägigen männlichen Substanzen und Perioden. Die Periode haben wir zunächst einmal Fließ zu verdanken. Die >weiblichen< und >männlichen< Rhythmen, die Gleichungen der Differenz, determinieren im fließsehen System wesentliche Geschehnisse wie z.B. Geschlecht, Geburts- und Todesdaten, Krankheiten ebenso wie den psychischen Wandel der bisexuell gedachten Lebewesen. In der Folge von Porge lässt sich sagen: Das »sich nach dem Vorbild der normalen biologischen Phänomene« (Porge 1994: 82) gestaltende Gesetz der Perioden erklärt gewissermaßen alles. In dem Begriff der Periode verbindet sich etwas, das regelmäßig wiederkehrt, ein Umgang oder Umlauf, mit der Monatsblutung und so mit dem Körper >der Frau< - und es ist eben die Menstruation, die Fließ als ein Ausgangsptmkt dient: Soll sich in ihr doch die Periodizität sämtlicher Lebensäußerungen manifestieren. Fließ ist, wie er 1913 schreiben wird, eines Abends »geradezu plastisch vor Augen getreten«, dass »[g]ewisse monatlich wiederkehrende Schmerzen der Frau« jenen, die zu den Wehenschmerzen gehören, »dem Verlauf nach auf ein Haar gleichen« (wenn auch dort enorm gesteigert) - nicht nur wird in beiden Fällen u.a. »ein Keim aus dem Körper entfernt«, sondern auch »die Zeit, in der sie eintreten, ist eine, die man annähernd erwarten kann« ... aber eben >>nur annähernd und mit vielen Ausnahmen« (Fließ 1985: I f.). So wäre in dem Wort >annäherndAnnäherndBeinahe< beizukommen, das Frau und Forscher ebenso eint wie Körper und Sprache? »Unregelmäßig« kann nur heißen: die Regelmäßigkeit ist »verschleiert«, »wir kennen die Regel nicht. Also geh hin und suche sie!« (Fließ 1985: 2). Auch Freud beginnt zu zählen und zu rechnen ... was zunächst vielleicht erstaunen mag: Denn das, was er im Begriff ist zu entwickeln, scheint einem unpersönlich-absoluten Perioden-Determinismus (vgl. Porge 1994: 162f.) entgegenzustehen; und doch ist Freud zunächst Feuer und Flamme für Fließ' Periodenlehre und wirkt auch selber daran mit. Zeitweise hat Fließ, so scheint es, auch für Freud eine Formel gefunden. So lässt sich nicht nur nach der Bedeutung jener geradezu wahnhaften fließsehen Systembildung für die freudsche Theoriebildung fragen - hat sie vielleicht eine Art Gewissheit gegeben, von der er- im doppelten, also vielleicht auch mngenauen< Sinne - fort-schreiten konnte? Wenn Freud »sich immer wieder an Fließ [wendet] mit der Erwartung, bei ihm eine reale oder materiale Grundlage seiner Ideen zu finden«, wie Wegener (2004: 128f.) schreibt, mit welcher Erwartung lesen wir nun den freudschen, an Fließ adressierten Brief? Erreicht dieser Brief mit Schrift und Verzifferung heute einen Bestimmungsort, insofern für uns, so ließe sich spekulieren, vielleicht gerade die Grundlage des stets >Ungenauen< Symbolischen und der Status >natürlicher< oder >materialer Präsenz< einigermaßen prekär sind, die Formel fehlt? - Die Periode meiner Gedanken schließt sich nun mit einem Zitat des in dieser Vorbemerkung eigenartig wiederkehrenden Lacan, mit dem sie begann: »Das Gespräch Freuds mit Fließ, das grundlegende Sprechen« ist damals >mnbewußt«, weil »es unendlich über das hinausgeht, was alle beide als Individuen damals bewußt davon aufnehmen können. Schließlich sind das nur zwei gelehrte Wichte wie andere auch, die eher verrückte Ideen austauschen. Die Entdeckung des Unbewußten, so wie sie sich im Moment ihres historischen Auftaueheus mit ihrer vollen Dimension zeigt, das ist, daß die Reichweite des Sinns unendlich die vom Individuum gehandhabten Zeichen überbordet. Aus Zeichen treibt der Mensch immer sehr viel mehr hervor, als er glaubt.[ ... ]« (Lacan 1954-55: 158f).
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HÄRTEL: VORBEMERKUNG
Literatur Derrida, Jacques (1967): Die Schrift und die Differenz. Übers. von R. Gasche. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992 (5. Aufl.). Fließ, Wilhelm (1985): Von den Gesetzen des Lebens. Frankfurt am Main, New York: Edition Qumran im Campus Verlag. (Auswahl aus dem 1925 bei Eugen Diederichs in Jena erschienenen Band »Zur Periodenlehre«). Freud, Sigmund (1950a): Aus den Anfängen der Psychoanalyse. Briefe an Wilhelm Fließ. Abhandlungen und Notizen aus den Jahren 1887-1902. Hg. von Marie Bonaparte, Anna Freud und Ernst Kris. London: Imago Publishing. dt.: Frankfurt am Main: Fischer 1962. Freud, Sigmund (1985): Briefe an Wilhelm Fließ. 1887-1904.. Hg. von J.M. Masson. Frankfurt am Main: Fischer 1986. Gondek, Hans-Dieter (1998): >»La seance continueEntwurf< von 1895 in seinem Kontext«. In: Luz(fer Amor 33, S. 115137.
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POST, PUBLIKATION, POLITIK ANSTATT EINER EINLEITUNG
FRANK DIRKOPF
Die ursprüngliche Aufgabe dieses Textes war es, der Tagung eine inhaltliche Einleitung zu geben. Dem Umstand, dass die Klammer der Tagung nicht ein Thema, sondern ein Text war, versuchte er dadurch Rechnung zu tragen, dass in einem skizzenhaften Durchgang die verschiedenen Abschnitte des Briefes vorgestellt und kursorisch problematisiert wurden. In dieser Form ist der einleitende Text in diesem Band obsolet geworden, da der Brief mit abgedruckt wird und seine Lektüre wohl die beste Einleitung dieser Art für die folgenden Aufsätze ist. Die Wahl dieses Briefes als Thema durch die Bremer Tagungsgruppe kann, mit einer gewissen Distanz vielleicht auch uns selbst, überraschen. Eine der markantesten Eigenarten des in Bremen praktizierten Verständnisses der Psychoanalyse ist das Insistieren auf ihrem Zusammenhang mit der Politik, der Versuch, eine politische Psychoanalyse zu pflegen. Vor diesem Hintergrund kann die Konzeption der Tagung, die Wahl eines einzigen frühen Freud-Briefes als Thema, wie eine Abwendung von dieser Tradition erscheinen, wie die Hinwendung zu einem philologischen oder wissenschaftsgeschichtlichen Arbeiten. Im folgenden soll gezeigt werden, dass dieser Eindruck täuscht (und mit ihm wohl schon die Gegenüberstellung selbst). Schon der zunächst unternommene Durchgang durch den Brief führte zu Überlegungen, die gerade in politischer Hinsicht bemerkenswert erschienen. Die Aufgabe soll es im folgenden also sein, diese Dimensionen ausfindig zu machen und damit Orientierungspunkte zu gewinnen, mit deren Hilfe die Überlegungen zum Brief in ihrer politischen Bedeutung erkennbar werden können. Dabei wird insofern noch etwas vom Charakter einer Einleitung bewahrt, als diese Dimensionen eher in der Breite sichtbar gemacht als genauer analysiert werden sollen, v.a. in diesem Rahmen nicht über den engen Kontext des Briefes und seiner Geschichte hinaus, etwa bis in andere Schriften Freuds hinein, weiterverfolgt werden können. Das Politische eines Briefes, des Briefes Freuds, soll hier in drei Richtungen untersucht werden: Einmal anhand der Textform »Brief« (I),
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AKTUALITÄT DER ANFÄNGE
dann in seiner Publikationsgeschichte (li), die zu erzählen auch die Aufgabe einer Einleitung gewesen wäre, und schließlich natürlich im Text selbst, seinen Inhalten (III).
Freud selbst hat den Text dieses Briefes nie zur Publikation freigegeben, und diese Feststellung bietet den Referenzpunkt seiner Geschichtsschreibung und auf sie bezieht sich ein Großteil ihrer Brisanz. Aber dies stimmt gerraugenommen nur unter Rekurs auf eine bestimmte Auffassung davon, was »Publikation« sei. Denn Freud hat den Brief geschrieben, damit er gelesen wird, und er hat ihn dann auch tatsächlich unmittelbar nach seiner Abfassung an seinen Adressaten, an Fließ, abgeschickt. Dies unterscheidet den Brief etwa von einem Tagebucheintrag oder andersartigen persönlichen Notizen. Was damit gesagt werden soll geht auf die Annahme zurück, dass die Publikation selbst als der basale politische Akt des Schreibenden angesehen werden kann (vor aller Politik, die sich an seinem Inhalt festmacht). Die Publikation ist eine Intervention, mit ihr richtet sich der Autor an ein bestimmtes Publikum. 1 In diesem Sinne verweist die ungewöhnliche Textform des Briefes (ungewöhnlich im Verhältnis zu den Werken als Normalfall der Wissenschaft) auf eine mit dem Text ebenso verbundene spezifische Politik. In systematischer Hinsicht sind die wesentlichen Variablen dieses Vorgangs die Wahl der Adressaten und die des Zeitpunktes der Publikation. Ersteres bedeutet konkret v.a. die Wahl des Ortes der Veröffentlichung (ein bestimmter Verlag, eine bestimmte Zeitschrift usw.). Damit ist der Versuch verbunden, eine bestimmte »Zielgmppe« zu erreichen (vielleicht auch eine andere zu umgehen), wobei allerdings offensichtlich ist, dass dies nur ansatzweise kontrolliert werden kann. Bei einem Brief scheint gerrau dies anders zu sein, da man ihn in der Regel an eine bestimmte, selbst ausgewählte Person schickt und niemanden sonst. Freuds Briefe an Fließ zeigen aber, dass die Annahme einer solchen Kontrolle trügerisch sein kann. Der Unterschied, auf den sie sich stützen will, ist wohl weniger die schiere Größe der Zielgmppe, sondern bezieht sich auf den Gegensatz von »öffentlich« und »privat«: Entweder wird ein Text in
Außer acht gelassen wird hier die anders gelagerte Frage, inwieweit Schreiben immer mit einer spezifischen Phantasie eines Lesers oder Publikums verbunden ist, die mit den hier diskutierten Umständen der tatsächlichen Publikation wenig zu tun haben kann. (An dieser Stelle zweigt gleichsam eine originär psychoanalytisch-politische Fragestellung ab.)
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DIRKOPF: POST, PUBLIKATION, POLITIK
eine Öffentlichkeit entlassen, an ein »Publikum« gerichtet, das, wie groß oder klein auch immer, anonym, dem Autor grundsätzlich unbekannt ist, oder er wird an eine bestimmte Personengruppe oder Einzelperson adressiert. Üblicherweise will man daher nur im ersten Fall von »Veröffentlichung« und »Publikation« sprechen. Für Freud aber steht in seiner »Fließ-Periode« das eine für das andere ein, wenn er schreibt, dass der bestimmte Einzelne Fließ ihm die Öffentlichkeit ersetze, ihn als seinen »einzigen Publikum« (Freud 1985: 495) bezeichnet. 2 Die Frage des Zeitpunkts macht sich v.a. geltend in dem mehr oder weniger großen Abstand oder Aufschub, der zwischen Abfassung und Publikation liegt3 . Der Brief erweist sich so gesehen als eine in zweifachem Sinne »kleine« Fom1, die mit einer einzigen Person die kleinstmög2
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Es handelt sich hier nicht um eine originelle Fehlschreibung, sondern Freud variiert, worauf er selbst hinweist, einen Witz von Nestroy. - Vgl. auch die Bemerkungen von Klaus Theweleit anläßlich eines neuerschienenen Briefbandes von Gottfried Senn, die er ausdrücklich auch auf Freud und dessen Briefe an Fließ bezieht: »Das Big-Brother-Prinzip des Zusammenfallenlassens von »privatem« Leben und seiner gleichzeitigen medialen Aufzeichnung und Ve1wertung ist im Prinzip eine Erfindung der f1ühen Moderne, eine Erfindung gerade der »großen (Un)Heimlichen«. [ ... ]Nein, die Empfänger der Briefe, Frauen wie Männer, haben realisiert, dass diese Briefe nicht nur »an sie« gerichtet waren, als so oder so geliebte Personen. Sie haben sie gelesen als Dokumente eines weiterreichenden Umgangs mit Wirklichkeiten, als Ausdruck der Unwilligkeit dieser Autoren, ihr jeweils an »nahe Personen« Geschriebenes von ihren übrigen Aufzeichnungen und Veröffentlichungen abzukoppeln. [ ... ]Die gesellschaftspolitische Modemität dieser Autoren liegt zu einem nicht geringen Teil darin, in ihrer Schreibarbeit sich selbst abgehört zu haben; ihr eigenes Spionagesystem gewesen zu sein, auf der Grundlage von »Selbstbeobachtung«, plus ihren dokumentierten Obsessionen für Vorgänge der Post, des Telefonierens, für Grammofone und Kinoprojektionen. Die »PrivatheitIch hoffe, ich bringe Sie noch dahin, sie zu vernichtenverlegt< wie die von Fließ an ihn?) Daher vielleicht auch sein >halbes< Angebot an Marie Bonaparte bezüglich des Kaufpreises. - Für unsere Untersuchung ist bemerkenswert, dass sich hier ein geäußerter politischer Wille als etwas ganz anderes darstellt, als man gemeinhin darunter versteht: Nicht das Verhältnis zur Realisierung oder Erfüllung des Willens in der politischen (hier der >publikatorischenhalber< Versuch in dieser Richtung (sich mit der Hälfte des Kautpreises zu beteiligen) erfolgreich gewesen wäre, wären die Briefe nicht wieder privat geworden, sondern hättenzweiengemeinsam gehört (und die nicht die beiden Brietpartner sind). 16 Es ist für uns heute wichtig, diesen Punkt nicht zu übersehen, da uns die Vernichtung, gerade in der Form der Verbrennung, vor allem als politischethisch empörend, ja als legitime Form der Texttradierung ausgeschlossen erscheint. Dies darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie die vorgegebenen Ziele (die Tradierung zu unterbinden) nicht erreicht. Dies gilt in einem weiteren Sinne wohl sogar für die Fließ-Briefe, denn selbst wenn man hier die Texte selbst, da sie Unikate sind, unwiederbringlich zerstören kann, werden die Irrwege, die sich in ihnen Freud zufolge offenbaren, auch ohne diese Referenz wieder versucht werden. 30
DIRKOPF: POST, PUBLIKATION, POLITIK
III Eine erste Orientierung hinsichtlich der Frage, wo sich politische Implikationen im Inhalt unseres Briefes finden lassen, können die Kürzungen der ersten Brief-Ausgabe (Freud 1950a) bieten. Wir folgen damit der Annahme, dass die Funktion des Zensors, die ursprünglich dem politischen Feld zugehört, auch hier in dieser Hinsicht wirksam geworden ist. Die Herausgeber schreiben dazu in ihrem Vorwort: »Prinzip der Auswahl war, zu veröffentlichen, was sich auf die wissenschaftliche Arbeit und die wissenschaftlichen Interessen des Schreibers bezieht sowie auch auf die sozialen und politischen Verhältnisse, unter denen die Psychoanalyse entstanden ist. Gekürzt oder ausgelassen andererseits sind Stellen, die der ärztlichen oder persönlichen Diskretion zuwiderlaufen; Bemühungen des Schreibers, auf Fließ' wissenschaftliche Theorien und Periodenberechnungen einzugehen; ferner alle Briefe und Briefstellen, die Wiederholungen gleicher Gedankengänge enthalten, die sich auf die häufigen Verabredungen, geplante und zustandegekommene Begegnungen und auf manche Vorkommnisse im Familien- und Freundeskreis beziehen.« (Freud 1950a: 7; vgl. auch Jones 1960: 338f.) 17 Gehen wir den Brief nun der Reihe nach durch, erweisen sich sogleich die im engeren Sinne nicht-inhaltlichen, nicht-wissenschaftlichen Teile, die in diesem Brief ganz am Anfang und am Ende stehen, als für unser Thema relevant. In Freuds einleitenden Bemerkungen geht es, wenn man so will, indirekt um die »Berufspolitik« der Psychoanalyse. Sie stellen eine Art Ein- oder Hinleitung zu den folgenden theoretischen »Spekulationen« dar, in der Freud von der eigenen Situation ausgeht, in der er schreibt: »Nachdem ich heute einmal das Vollmaß von Arbeit und Er-
17 Paradoxerweise wird also alles das gekürzt, was die Briefe als Briefe ausmacht, was sie von Werken unterscheidet, so dass sie gleichsam zu solchen gemacht werden; so auch die Wiederholungen, die den Prozeß der Entstehung von Freuds Auffassungen in immer neuen Anläufen dokumentieren und auf ihren unfertigen, vorläufigen Charakter vervveisen. Versuchen die Kürzungen, Freuds Wunsch der Nicht-Veröffentlichung zumindest teilweise zu entsprechen, erreichen sie tatsächlich das Gegenteil, stellen sich genau der Art der von ihm vorgegebenen Lektüre in den Weg.- Umgekehrt eröffnet Masson, gerade indem er auf Freuds Ablehnung einer Veröffentlichung großen Wert legt und (im Gegensatz zur Ausgabe von 1950) die entsprechenden Quellen extensiv anführt, den Zugang zu diesen als Lektüreanweisungen im hier entwickelten Sinne.
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AKTUALITÄT DER ANFÄNGE
werb genossen habe, das ich zum Wohlbefinden brauche (zehn Stunden und f1 100), todmüde und geistig frisch bin, will ich versuchen, Dir das letzte Stückehen Spekulation schlicht vorzutragen.« (Freud 1985: 217) 18 Es scheint, dass Freuds Zustand am Abend, »todmüde und geistig frisch« zu sein, ironisch gemeint oder nicht, eine Art Voraussetzung dafür ist, einen solchen Brief schreiben zu können. Die hier beschriebene Struktur - klinische (»Lohn-«)Arbeit am Tage, wissenschaftliches Schreiben am Abend- ist ja auch nicht der zufällige Verlauf jenes Tages, sondern wurde von Freud während der meisten Zeit seines Lebens beibehalten und die beiden Komponenten bilden die Grundstruktur des Arbeitens des Analytikers. Das berufs- bzw. >arbeitspolitische< Modell ist hier der niedergelassene Arzt, nicht der universitäre Wissenschaftler. Man kann sich fragen, inwieweit die besondere Form seines Schreibens- »das letzte Stückehen Spekulation schlicht vorzutragen« - dies zur Bedingung hat; sie beinhaltet u.a. den Verzicht auf aufwändige Herleitungen und kommt zunächst ohne späteres Nach-Denken aus, wenn er das »letzte Stückchen« sogleich niederschreibt. 19 - Die zitierten Bemerkungen betreffen zudem auch das Verhältnis zu Fließ, wenn Freud, nachdem er reichlich verdient hat, es sich nun leisten kann, an seinen »teuren Wilhelm« zu schreiben, wie er ihn hier wie durchgehend im Briefwechsel anspricht. Der folgende Teil gilt als die Hauptsache des Briefes, er hat diesen berühmt gemacht. Hier entwirft Freud sein sprachliches Modell des psychischen Apparats, der »Zeichen« verarbeitet, »Umordnungen«, »Umschriften« (217) und »Übersetzungen« (218) herstellt. Freud nimmt hier den linguistic turn gleichsam vorweg, der sich in der Psychoanalyse dann auch zentral auf diesen Brief berufen hat. Sein Entwurf läßt sich weiter, noch zeitgemäßer, auch als mediales Modell bezeichnen, insofern der psychische Apparat Zeichen verarbeitet, die er in verschiedenen Systemen wie in verschiedenen Formaten aufschreibt, und wenn unter ihnen keine Kompatibilität hergestellt werden kann, kommt es zur Verdrängung. Indem er vor allem aufschreibt, ähnelt er einem Archiv, erscheint wie ein Tradierungsapparat. Tatsächlich benutzt Freud im Briefund auch dieser Passage aber eine ganze Reihe von Modellen: Er beginnt mit der »Annahme« der »Aufeinanderschichtung« (217), die an die Geologie 18 Freuds Brief wird im folgenden mit einfachen Seitenzahlen zitiert. 19 Dieser Punkt entspricht wohl der Maxime, die Freud am Ende seines Briefes erwähnt: »Am besten: Travailler sans raisonner, wie der alte Candide rät.« (225)- Sie betrifft aber vielleicht genauer das Verhältnis von Briefen und Werk, wenn man es als typisch ansieht, dass ein Gedanke in einem Brief zuerst niedergeschrieben, in einem Werk dann überdacht und wiederaufgenommen wird. Brief und Werk stünden dann für die beiden Punkte einer zweizeitigen Theorieentwicklung. 32
DIRKOPF: POST, PUBLIKATION, POLITIK
oder Archäologie angelehnt ist, und auch die neurologischen Begriffe des Arztes (»Bahnen«, »Erregungsvorgang« usw.) erhalten den Status eines Modells, wenn sie solchen aus anderen Feldern zur Seite gestellt werden. Freud praktiziert hier eine spezifische »Modellpolitik«, die er an anderer Stelle in Form der Mahnung formuliert, dass »wir die Vergleiche immer wieder wechseln müssen«, und zur Begründung hinzufugt »keiner hält uns lange genug aus« (1926e: 222). Bei zu langem Gebrauch läuft ein Modell Gefahr, diesen seinen Status zu verlieren und für die Sache selbst gehalten zu werden. Da es diese, eine unmittelbare Erkenntnis bietend, aber nicht werden kann, sind wir, halten wir zu lange daran fest, nicht mehr auszuhalten. Unter Freuds Vergleichen fällt noch der Begriff der »Fueros« (219) besonders auf, auf den und dessen Umfeld Freud später nicht wieder explizit zurückkommen wird. Er bezeichnet den Umstand, dass bei einer ausbleibenden »Übersetzung« in eine neue Phase der psychische Vorgang nach den »Gesetzen« der früheren Phase abläuft und so ein »Überlebsel«, ein »Anachronismus« zustande kommt: »in einer gewissen Provinz gelten noch >FuerosLiebste, Du bist großartig!< Die Briefe Gottfried Benns an seine (heimliche) Geliebte Ursula Ziebarth.« In: tageszeitung, 10.10.2001, Quelle (06.09.2007): http :1/www. taz.de!index. php? id=archivsei te&ressort=li&dig=200 1I 1Oll O/a0210; ohne Seitenangaben.
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SPUREN LESEN UND SCHREIBEN ZUR »SPRACHE DES ABWESENDEN« BEl fREUD
ELFRIEDE LÖCHEL
Thema dieser Tagung ist ein Brief. »Was will dieser Brief von uns?« fragen die Veranstalter und fordern durch diese Fragestellung dazu auf, sich mit einem Begehren auseinanderzusetzen. Die Frage nach dem Begehren eines Anderen aber - was will er mir? - stellt die Frage des Subjekts in der Übertragung dar, wie Lacan sie auffasst, die Frage des Subjekts, dessen Begehren ihm als »Begehren des Anderen«, dessen Unbewusstes als »Diskurs des Anderen« gilt (vgl. Lacan 1975: 190f.). Für Laplanche (1996) artikuliert diese Frage die anthropologische Grundsituation des mit rätselhaften Botschaften konfrontierten menschlichen infans, die in der analytischen Situation wiederbelebt wird. Auch einen Brief zu empfangen ist, folgt man Flusser, gleichbedeutend mit einem »Sich-öffuen für den anderen, der aus dem hermetischen Geheimnis auftaucht« - hermetisch mit Bezug auf den mythologischen Botschaftenübermittier Hermes (Flusser 1989: 106). Mit der Frage »Was will dieser Briefvon uns?« wird- so kann man sagen- der Übertragung ein Platz in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung eingeräumt, der Öffnung gegenüber dem Begehren des Anderen. Das ist für den universitären Diskurs alles andere als selbstverständlich. Im Gegensatz zu diesem ist es doch vielmehr die Hysterie, bei der »alles [... ] auf den Anderen berechnet« ist, wie Freud an einer Stelle des Briefes 112 schreibt (Freud 1985: 223; Hervorh. i.0.). 1 Doch auch der Brief als solcher, jeder Brief, stellt bereits einen Ort des- nicht anwesenden bzw. in seiner Abwesenheit anwesenden- Anderen dar. Der Adressat des Briefes ist während des Schreibens und im Geschriebenen als Abwesender anwesend, und der Schreibende setzt sich ins Verhältnis zum Abwesenden, konkret zur Person des Adressaten, der aber immer auch zum Repräsentanten und Platzhalter eines größeren Anderen und einer nicht aufhebbaren Abwesenheit wird. Darin gleicht er Wobei er hinzufiigt: »meist aber auf jenen prähistorischen unvergeßlichen Anderen, den kein Späterer mehr erreicht« (Freud 1985: 223 f.).
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AKTUALITÄT DER ANFÄNGE
dem Fort-Da-Spieler (vgl. Freud 1920g), der sich nicht nur die An- und Abwesenheit der Mutter symbolisch vergegenwärtigt, sondern darüber hinaus in Beziehung zu der grundsätzlichen Abwesenheit setzt, auf der die symbolisch vermittelte Welt beruht, in die er im Begriff ist sich einzufädeln (vgl. Löchel 1996, 2000a). Nicht zuletzt übrigens bringt der Schreibende in der Schrift auch sich selbst zum Verschwinden, macht sich selbst abwesend - und verewigt sich dadurch am Ort des Anderen. Indem diese Tagung einen Brief ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt, spricht sie auch vom Ort des Anderen. Denn ein Brief, so kann man sagen, ist ein Text, in dem der Andere, als abwesender, in privilegierter Weise enthalten, verkörpert ist. Im Grunde kann man jeden Text wie einen Brief lesen. 2 Vielleicht ist das sogar die höchste Würdigung, die man einem Text erweisen kann. Wissenschaftliche Texte werden normalerweise gerade nicht wie Briefe gelesen. Umgekehrt ist es natürlich auch möglich, einen Brief nicht als Brief, sondern als Dokument zu lesen. Wie sollen wir folglich diesen Brief lesen, der für uns zweifellos nur ein Dokument darstellen kann, ein Ausschnitt aus dem Briefwechsel zwischen Freud und Fließ, der uns aber vielleicht dennoch »anspricht«, den wir vielleicht sogar geneigt sind, so zu lesen, als wäre er- von Freud- an uns persönlich gerichtet. Könnte es darüber hinaus passieren, dass wir als Leser der Versuchung anheim fallen, uns an die Stelle von Fließ zu setzen, gleichsam ein »besserer« Fließ zu sein, der Freud anders als jener liest, ihn um- und weiterschreibt, ihn so in der Schrift weiterleben lässt? Nun kann man nicht sagen, dass der Brief 112 bisher nicht gelesen worden wäre, dass er von der Geschichte der Psychoanalyse etwa übergangen worden, gar unbeachtet als »Überlebsel« liegen geblieben wäre. Das Gegenteil ist der Fall. Es ist erstaunlich, welche Wirkungskraft er bis heute entfaltet. Freud selbst hat, wie ich weiter unten zeigen werde, durch sein ganzes Werk hindurch immer wieder auf das in diesem Brief erstmals entwickelte Schrift- und Umschriftmodell des psychischen Apparates zurückgegriffen. Darüber hinaus gehört der Brief, so wage ich ohne statistischen Beleg- zu behaupten, zu den am häufigsten bearbeiteten Freud-Textenjener Autoren, die sich etwa mit Fragen der Zeitlichkeit und Nachträglichkeit, dem Erinnern, dem Todestrieb oder der Schrift befassen. Mit der Aufnahme dieses Briefes tritt man in die Fußstapfen einer an der textnahen Freud-Lektüre, subjekt- und erkenntnistheoretisch 2 Wenn man sich etwa, im Sinne Gadamers, von einem überlieferten Text, gleich welcher Gattung, ansprechen, »aufrufen«, in ein Gespräch verwickeln lässt, sich persönlich gemeint ftihlt (Gadamer 1960/l990: 383f.).
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löCHEL: SPUREN LESEN UND SCHREIBEN
orientierten Psychoanalyse und reiht sich ein in eine Genealogie, die sich von einer eher empiristisch-positivistischen Psychoanalyse-Rezeption unterscheidet. Man reiht sich damit auch ein in eine gewisse FreudLegende, die es schwer macht, etwas N eues zu diesem Brief zu sagen. Was vor bloßer Wiederholung schützt, ist aber bekanntlich »lesen und wieder lesen«, wie Roland Barthes so treffend auf den Punkt gebracht hat. Wiederlesen allein rettet den Text vor der Wiederholung. 3 Ins Auge sprang mir bei der erneuten Lektüre vor allem, dass in dem Brief zwar viel vom Schreiben die Rede ist, nicht jedoch vom Lesen. Daraus ergab sich mir die Frage: Wie verhalten sich eigentlich das Schreiben/Umschreiben und das Lesen psychischer Texte zueinander? Diese Frage soll mich im Folgenden beschäftigen. Einen zweiten Eindruck dagegen möchte ich nur kurz erwähnen. Er betrifft die Anwesenheit des abwesenden Wilhelm Fließ, Freuds »Repräsentanten des >AnderenAnderenreproduzierenGenese et stmcture< et la phenomenologie«. In: ders.: L 'ecriture et la d!fference. Paris, Seuil. dt. in: ders.: Die Schrift und die Differenz . Frankfurt am Main : Suhrkamp 1972. - (1967d): De la Grammatologie. Paris: Minuit. - (1972): Positions. Paris: Minuit. - (1988): Memoires pour Paul de Man. Paris: Ga1ilee. - (1990): Le problerne de Ia genese dans Ia philosophie de Husserl. Paris: Presses Universitaires de France. - (1993): Spectres de Marx. Paris: Galilee. - (1995): Mal d 'archive. Paris: Galilee. Fink, Eugen (1933): »Die Phänomenologie Edmund Busserls in der gegenwärtigen Kritik«. In: ders.: Studien zur Phänomenologie 19301939, S. 79-156. Den Haag: Martinus Nijhoff 1966. Freud, Sigmund (1895): Entwurf einer Psychologie. Gesammelte Werke, Nachtragsband, S. 387-486. Frankfurt am Main: Fischer. - (1925a): Notiz über den >WunderblockWas will dieser Brief von uns?< -Das ist die Leitfrage, die diesem Essay vorauseilte. Eine erste Antwort ist: Von uns will dieser Brief gar nichts, im Gegenteil: er war nie für unsere Augen bestimmt. Dass wir ihn lesen, macht uns zu ungebetenen, ja unerwünschten Mitwissern, zu Voyeuren. Bekanntlich war es Freuds ausdrücklicher, an Marie Bonaparte adressierter Wunsch, die Briefe nach ihrem Erwerb zu vernichten ein Ansinnen, dem sie, aller Loyalität zum Trotz, nicht nachkam. Also überlebten die Briefe, auch dieser, und versetzen uns Heutige in die Zeugenschaft einer intellektuellen Urszene, deren rätselhafte Bedeutung wir zu entschlüsseln trachten. Und indem wir gebannt durchs Schlüsselloch schauen, entfaltet der Brief, ob er will oder nicht, eine Wirkung auf uns: er bringt uns zum Spekulieren, er bringt uns zum Denken, er verführt uns zum Assoziieren: faire travailler les voyeurs! In diesem Sinne begreife ich die Frage >was will dieser Brief von uns?< als Einladung, meinen ganz subjektiven Anmutungen bei der Lektüre des Briefes zu folgen und als Erlaubnis, aus einer strengen wissenschaftlichen Exegese herauszutreten und den Blick für vielleicht nebengeordnete, möglicherweise gar abseitige Aspekte zu öffnen, die sich einem vagabundierenden, spekulativen, assoziativen Denken eher entgegenneigen denn einem linearen. Ich werde hier nicht einmal ansatzweise auf alle Facetten und auch nicht im Entferntesten auf alle im Brief angesprochenen Themenfelder eingehen. Im Grunde beschäftigt sich meine Lektüre ausschließlich mit den Anfangs- und mit den Schluss-Sequenzen. Ein rascher Blick genügt 123
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um festzustellen, dass der Brief in mehrere disparate Teile zerfällt, die nicht nur Verschiedenes behandeln, sondern auch unterschiedlichen Intentionen folgen. Es ist wohl vor allem der erste Teil, in welchem Freud seine Gedanken über die Struktur von Erinnerung und Gedächtnis entfaltet, der am unmittelbarsten seiner aktuellen und genuinen Denkwelt entspringt. Kein Wunder, dass es auch genau diese Sequenz des Briefes ist, der in der nachfolgenden Freudrezeption die meiste Aufmerksamkeit zuteil wurde. Wie ich es sehe, überlässt sich Freud hier seinem intellektuellen Abenteuer, hier geht es um seinen ureigensten Erkenntniswunsch, hier ist libidinöses, auch riskantes Denken am Werk, ein Ausliefern an ein Denken, das sich einem gänzlich ungewissen Ausgang hingibt. Die anderen Teile des Briefes, insbesondere die Einlassungen zur Bisexualität und vor allem zu den Fließsehen Periodenberechnungen scheinen die Münze zu sein, mit der Freud Fließ' Aufmerksamkeit und dessen Funktion als Adressat und »einzigem Publikum« (Freud 1985: 495, Brief 271 v. 19.9.1901), wie er ihn in Anlehnung an eine Anekdote über Nestroy selbstironisch nannte, vergilt. Die Briefe dieser Zeit weisen nahezu alle diese Struktur auf: in einem Abschnitt teilt Freud seine aktuellen Überlegungen und deren Weiterentwicklungen mit, in einem anderen gibt er Fließ, was des Fließ ist: lange Zahlenkolonnen von Daten, Befindlichkeiten, Frequenzen und Perioden. 1 Im folgenden möchte ich aus dem infragestehenden Brief vor allem eine Dimension herausgreifen und einer Anmutung folgen, die mir bei der neuerlichen Lektüre besonders in die Augen gesprungen ist, nämlich Tatsächlich kommt Freud in den auf den Dezemberbrief folgenden Monaten immer wieder auf die Getrenntheit beider Arbeitsfelder zurück und beschwört deren Komplementarität. So heißt es gleich im darauf folgenden Neujahrs-Brief: »Gib mir noch zehn Jahre und ich mache die Neurosen und die neue Psychologie fertig, Du kommst mit weniger Zeit für Deine Organologie aus« (Freud 1985: 231, Brief 115 v. 3.1.1897), und in einem anderen: »Wir teilen uns wie die beiden Schnorrer, von denen einer die Provinz Posen bekommt; Du das Biologische, ich das Psychische« (Freud 1985: 271, Brief 131 v. 22.6.1897), dem er wenig später noch hinzufügt, er, Freud, nähere sich dem Ungelösten vom Seelenende der Welt und Fließ mithilfe seiner biologischen Periodenberechnungen vom Sternenende her (vgl. Freud 1985: 294, Brief 142 v. 15.10.1897). Wie ich an anderer Stelle zu zeigen versuchte, kam Fließ von Beginn beider Freundschaft an der Rang einer (gewiss nicht der) Möglichkeitsbedingung für Freuds >schonungslosesUrtextGedenkblattPhilipp< I >Philippson< ein, verweise aber auf die Arbeit von W. G. Niederland 1989. 8 Transkription aus: Davies/Fichtner 2006: 564, CD-Rom/Appendix 6. 128
GAST: »ICH HABE NUN EIN RECHT ENTWURZELTES GEFÜHL«
book) the vision I of the Almighty, thou hast heard willingly, thou I hast done and hast tried to fly high upon the I wings of the holy spirit. From this time I I have taken this book- the same Bible- to I keep it in my armoury, and as this Bible I was several volumes and in bad condition I I preserved them as they were - the broken I tables of Moses. In the thirty-fifth year ofyour age 1- on your birthday- I brought it out 1of its retirement; having reserved it I I send it to you, as a token o Iove, from I your o1d father.« 6/5 91 [=Jakob Freuds Handschrift] Es ergibt sich so das eigentümliche Bild eines hebräischen >Urtextes< und einer insbesondere im affektiven Subtext alles andere als restfreien Übertragung in eine weitere Fremdsprache, die Freud zwar lesen und verstehen kann, die er aber seinerseits in seine Muttersprache übersetzen muss. Die Übersetzung von Emanuel Freud ist, ebenso wie das Gedenkblatt, als lose Einlage dem Buch beigegeben. (Abb.3) Nur die Anrede und die Anmerkung, es handle sich um eine Übersetzung aus dem Hebräischen sowie die Datierung ganz am Ende, sind von Jakob Freuds eigener Hand. Der Widmungstext selbst ist von anderer Handschrift, möglicherweise Emanuels, doch das ist nicht verbürgt. In einer von K. E. Grötzinger (zit. nach Krüll 1979: 187 f.) vorgenommenen und eng am hebräischen Original angelehnten Übersetzung ins Deutsche, die noch dazu die Bibelfragmente ihren Quellen zuordnet, liest sich Jakob Freuds Widmungstext so: »Mein lieber Sohn, Sch1omo, Im siebten Jahr Deines Lebens begann der Geist der Herrn Dich zu treiben [vgl. Richter 13,25], und er sprach zu Dir: Gehe hin, lies in meinem Buche, das ich geschrieben, und es werden sich Dir auftun Quellen der Einsicht, des Wissens [Erkenntnis] und Verstehens. Sieh hier, das Buch der Bücher, aus ihm gruben die Weisen und lernten die Gesetzgeber Satzung und Recht [vgl. 4.Mose 21, 18]. Gesichte vom Allmächtigen hast Du geschaut [vgl. 4.Mose 24,4.16], hast gehört und versuchtest aufzusteigen und flogst sodann auf Flügeln des Geistes [vgl. Ps.18, 11]. Seit langem war das Buch verborgen [aufbewahrt] wie die Scherben der Bundestafeln im Schrein seines Knechtes, [jedoch] zum Tage, an dem Deine Jahre 35 vollenden, habe ich es mit einem neuen Ledereinband umhüllt und ihm den Namen gegeben: >Brunnen, steig auf1 Singet ihm zu!< [4.Mose 21, 17], und bringe es Dir dar zum Gedächtnis und Andenken der Liebe - von Deinem Vater, der Dich liebt, mit unendlicher Liebe - Jacob, Sohn des Rabbi Schlomo Freud. In der Hauptstadt Wien, 29. Nisan 5651 ,6. Mai 1891.«
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Abbildung 3
Dies also war das Geschenk, das Sigmund Freud von seinem Vater an seinem 35. Geburtstag erhielt. Auch wenn er sich von der väterlichen Tradition weit entfernt hatte, kann ihn diese Gabe nicht unberührt gelassen haben, denn die Philippson-Bibel war ihm, wie es in der Widmung ja auch anklingt, aus seinen Kindertagen wohlvertraut Seine eigentliche Bedeutung aber dürfte dieses Geburtstagsgeschenk erst fünf Jahre später, nachträglich also, mit dem Tod des Vaters erlangt haben, denn sie, die Bibel, war nicht nur, wie Jakob Freud im Widmungstext ja schrieb, ein Unterpfand der väterlichen Liebe, sondern auch ein Relikt, ja ein >Überlebsel< seiner Kindheit, in der er unter den Augen und der Anleitung des Vaters, der ihn anfangs selbst zu Hause unterrichtete,9 aber auch alleine und dann seinen Phantasiewelten hingegeben mit diesem Buch umging. In einer späten Ergänzung zur Selbstdarstellung bezieht er sich darauf, wenn er schreibt: »Frühzeitige Vertiefung in die biblische Geschichte, 9
Seine Schwester Anna Bemays gibt an, dass Freud erstmals ins Gymnasium eingeschult wurde, also nie die Volksschule besuchte, Freud selbst spricht davon, den ersten Unterricht vom Vater erhalten zu haben, dann aber in eine Privatvolksschule eingeschult worden zu sein (Krüll 1979: 186).
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kaum daß ich die Kunst des Lesens erlernt hatte hat, wie ich viel später erkannte, die Richtung meines Interesses nachhaltig bestimmt.« (Freud 1935a: 763) In der Tat ist die nicht nur für damalige Verhältnisse überaus moderne Philippson-Bibel weit mehr als ein reiner Bibeltext sie ist, ganz im Geist der Haskala 10, also der jüdischen Aufklärung der Zeit zwischen 1770 und 1880, ein kulturanthropologisches und kulturhistorisches Kompendium, in dem insbesondere die altägyptischen Mythen und Lebenswelten in allen Facetten, einschließlich der heimischen Flora und Fauna illustriert und erklärt sind - geeignet also als Bilderbuch, Fibel, Geschichtenbuch und Nachschlagewerk. (Abb. 4 und 5) Tatsächlich finden sich in der Traumdeutung einige Hinweise auf Freuds frühen Umgang mit der Philippson-Bibel: Neben dem Traum, den Freud im Alter von sieben oder acht Jahren träumte und in dem er in den Personen mit Vogelschnäbeln, die die Mutter ins Zimmer tragen und aufs Bett legen Illustrationen aus der Philippson-Bibel erkennt (vgl. Freud 1900a: 589), spielt auch der Name Josef in seinen Träumen eine große Rolle (etwa im Onkeltraum). »Hinter den Personen, die so heißen, kann sich mein Ich im Traume besondern leicht verbergen«, kommentiert er, »denn Josef heißt auch der aus der Bibel bekannte Traumdeuter.« (Freud 1900a: 488 ff.) Abbildung4
Abbildung 5
Marianne Krüll geht in ihrer Studie über Freuds Vaterbeziehung ausführlich auf die Bedeutung ein, die die biblische Geschichte von Jakob und seinem Lieblingssohn Josef, für Jakob Freud und seinen Sohn Sigmund hatte und vermutet, dass es eben diese Geschichte war, an der Jakob Freud seinem Sohn seine väterlichen Erwartungen und Wünsche, seinen >Auftragim Innem [sei] alles Frühere bei diesem Anlaß aufgewachtexemplarischen Fall des Erinnerns< wird, insofern der Traum erst dem Erwachen entspringt, ihm also nicht vorausgeht, was den »Moment des Erwachens identisch mit dem >Jetzt der ErkennbarkeitJetzt der Erkennbarkeit(An-) BahnungEntwurzelung< (sie), verdichtet in einem dialektischen Bild, das seine Kodifizierung in Sprache erfahrt.
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>Todmüde und geistig frisch< will Freud das >letzte Stückehen Spekulation schlicht vortragen< - müßig, auf die etymologische Abkunft des Begriffs Spekulation vom Sehen hinzuweisen. Eine Spekulation ist die Versprachlichung einer Vorstellung, eines inneren Bildes, dessen Realitätsmächtigkeit, dessen Triftigkeit und Tauglichkeit in der Ordnung des Realen sich noch nicht erwiesen hat. Eine Spekulation beruht auf einer Anmutung, die eine Gestalt plötzlich hervorbringt und sie einbruchsartig erkennt, im Kairos eines Jetzt, das der Spur eines längst vorübergegangenen Ereignisses oder eines verlorenen Objektes - nachträglich - Bedeutung verleiht und es damit in Existenz bringt. Es ist ebenso ein Erkennen wie ein Wiedererkennen - es ist Entdeckung und Hervorbringung in einem. Abbildung 7
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Welches innere, welches im Benjaminsehen Sinn >dialektische< Bild bringt Freuds Erwachen hervor? Es ist- und das möchte ich hier, meiner Anmutung folgend, als eine mögliche Antwort vorschlagen- das Modell einer mehrsprachigen und polysystemisch angeordneten Erinnerungslandschaft, es ist die Vorstellung, das innere Bild eines Gedächtnismodells, das Erinnerungsspuren in unterschiedlichen Registern und Verweisungssystemen, in unterschiedlichen Kodierungen und Chiffrierungen nicht lediglich verwaltet, sondern strukturiert und durch fortlaufende kontextabhängige Umschriften mit oszillierenden Bedeutungen anreichert und diese Bedeutungen immer wieder umschichtet. Im Brief
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schreibt Freud: »Das wesentlich Neue an meiner Theorie ist also die Behauptung, daß das Gedächtnis nicht einfach, sondern mehrfach vorhanden ist, in verschiedenen Arten von Zeichen niedergelegt. [ ... ] wie viele Niederschriften es gibt, weiß ich nicht. Mindestens drei, wahrscheinlich mehr.« (Freud 1985: 217 f., Brief112 v. 6.12.1896) Der Aufbau der Israelitischen Bibel nach Ludwig Philippson ist eine solche mehrfache Niederlegung von Erinnerung in verschiedenen Arten von Zeichen. (Abb.7) Hier gibt es sogar, anders als in Freuds späterer Ausarbeitung, einen veritablen, einen heiligen Urtext - zumindest wird ein solcher behauptet- in hebräischen Schriftzeichen. (Abb.8)
Abbildung 8
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Daneben findet sich die Übertragung in zeitgenössisches Deutsch und in deutsche Schriftzeichen. Unterhalb dieser beiden Register ist ein deutender und erläuternder Kommentar abgelegt, in den teils einfache Holzschnitt-Illustrationen, zum Teil aber auch hochkomplexe szenische Bilder eingelassen sind. (Abb.9) Es ist ein großes Gedächtnisbuch, ein Buch der Erinnerungen, die hier, zwar nicht zeitlich synchron, aber nebeneinander, - also in einem spezifischen Satzspiegel und in fortlaufender Paginierung angeordnet etc. - nicht nur in verschiedenen Sprachen und Zeichen präsentiert, repräsentiert werden, sondern auch je nach Repräsentationssystem unterschiedliche Erinnerungen hervorbringen, unterschiedliche Bilder erzeugen: »Die Sprache hat es unmißverständlich bedeutet, daß das Gedächt-
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nis nicht ein Instrument zur Erkundung der Vergangenheit ist, sondern deren Schauplatz«(Benjamin 1932: 40), schreibt Walter Benjamin in seiner Berliner Chronik und befindet sich damit in kongenialer, und, wie Sigrid Weigel in ihrer großartigen Studie über Walter Benjamin detektivisch nachweist, alles andere als zufälligen Nähe zu Freuds Vorstellung.12 Abbildung 9
In gewisser Weise verlängert Derrida diese Sentenz Benjamins über das Gedächtnis als Schauplatz der Vergangenheit und fuhrt sie, gleichsam kreisförmig, zurück zu Freuds Dezember-Brief von 1896, wenn er befindet, >das Gedächtnis sei keine psychische Eigenschaft unter anderenJetzt< im Sinne Benjamins und ordnet das zuvor Niedergelegte neu, lässt es in einem anderen Licht erscheinen, ist ein >Erwachenheilige Urtext< - ebenso wenig wie die Gesetzestafeln des Moses, die dieser im Zorn zerschlug, so dass Gott sie ein zweites Mal schreiben musste, was die in der Bundeslade aufbewahrten Steintafeln als Kopie eines nicht vorhandenen Originals qualifiziert - ist demnach kein unverbrüchlich wahrhaftiges Original im Sinne einer ersten, initialen und zuunterst liegenden Spur des Palimpsestes, sondern vielmehr eine verspätete, nachträgliche Niederlegung einer kollektiven Erinnerung oder besser: die nachträgliche, aufgeschobene Niederschrift eines aus endlos wiederholten und perspektivisch vervielfältigten Erinnerungsspuren gewebten Bedeutungsteppichs, in dem sich all die Variationen und Facetten einer wieder und wieder erzählten Geschichte- nur scheinbar- vereindeutigen. Mit den hier entfalteten Überlegungen nun möchte ich gewiss nicht nahe legen, in Freuds Gedächtnismodell ein originalgetreues Abbild der Philippson-Bibel im Maßstab 1: 1 zu sehen; dafür bürgt nicht zuletzt das 7. Kapitel der Traumdeutung. Dort konkretisiert und differenziert Freud
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AKTUALITÄT DER ANFÄNGE
jenes »letzte Stückehen Spekulation«, das er seinem Freund Fließ einst mitteilte, indem er die im Brief zunächst noch vorsichtig in Parenthese gesetzte Anmerkung, die einzelnen Niederschriften müssten nicht notwendig topisch, sondern könnten auch nach ihren Neuronträgem gesondert werden, zur Kernannahme werden lässt: »Wenn wir also sagen, ein unbewußter Gedanke strebe nach Übersetzung ins Vorbewußte, um dann zum Bewußtsein durchzudringen, so meinen wir nicht, daß ein zweiter, an neuer Stelle gelegener Gedanke gebildet werden soll, eine Umschrift gleichsam, neben der das Original fortbesteht; [... ] Für diese Gleichnisse setzen wir ein, was dem realen Sachverhalt besser zu entsprechen scheint [ ... ]« (Freud 1900a: 615 - Hervorh. von mir), nämlich anstelle der topischen Vorstellungsweise eine dynamische, wie sie ja in späteren Arbeiten noch weiter ausformuliert wurde. 13 Freud spricht also von >Gleichnissenpsychisches NachbildNachbildtodmüde und geistig frisch< macht sich Freud an die >Spekulation< -, mit dieser Metapher des Nachbildes betritt auch Walter Benjamins Topos des dialektischen Bildes erneut die Szenerie. Durch den Tod des Vater sei >Früheres aufgewachttodmüde< -keine direkte Erwähnung, auch wenn sich der Verweis auf die Überlebsei mit Freuds kurz zuvor beschriebenem Selbstverständnis als »Überlebender« (Freud 1985: 214, Brief 109 vom 2.11.1896) verknüpft und auch wenn die Anmerkung, die Übersetzung des psychischen Materials erfolge an der Grenze von zwei Lebensepochen (Freud 1985: 13 Vor allem in den Arbeiten Jenseits des Lustprinzips (l920g) und Notiz über den Wunderblock (1925a). 138
GAST: »ICH HABE NUN EIN RECHT ENTWURZELTES GEFÜHL«
218, Brief 112 v. 6.12.1896) an seine Wertung des väterlichen Todes als einschneidenstes Erlebnis denken lässt. Doch das wäre zu vordergründig, um zu befriedigen. Ich möchte daher das Todesmotiv noch einmal anhand der Bibel und auch anhand der Rede vom >Urtext< aufgreifen. Der hebräischen Bibel, also dem so genannten >heiligen Urtextmündliche Thora< also, die eine Anpassung an sich verändernde soziale und historische Gegebenheiten ermöglichte (vgl. ebd.: 61). Von Braun ordnet den beiden symbolischen Funktionen die Geschlechter zu und bringt sie in ein komplementäres Verhältnis der Angewiesenheit: der männliche Körper wird hier zum Symbolträger der (beschnittenen) Zeichen, während der weibliche Körper das >Lautwerden< der Zeichen bedeutet (vgl. ebd.: 62). Es ist also, wie von Braun es formuliert, die »aufgeschobene Physis« (ebd.: 62), die die Leerstellen des semitischen Alphabets schließt und, wie wir mit Freud fortfahren können, die niedergelegten Zeichen nachträglich mit Sinn versieht und erst dadurch in Erscheinung bringt. Mit anderen Worten: es obliegt den Nachkommenden, den Überlebenden, dem unvollständigen Text immer und immer wieder neue Bedeutungen-
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AKTUALITÄT DER ANFÄNGE
notabene: wieder und wieder Neues - abzuringen, ihn immer wieder zu erschaffen und ins Leben zu ziehen. Die Erinnerungsspur bringt sich so mit der Spur des Todes zur Deckung und es ist das Abwesende, das den Takt schlägt und zur Möglichkeitsbedingung des Lebens selbst wird. Freuds Vater, auch er ein Abwesender, auch er ein Verlorener, schrieb seine Widmung in biblischem Hebräisch, das sein Sohn nicht lesen kann. Und selbst wenn er es könnte, würde ihm die Stimme (die Vokale) fehlen: während Freud seinen Brief schreibt, ist er heiser: »Ich bin in vollster Arbeit 10-12 Stunden täglich und entsprechend wohl [das ist eine Wiederholung des ersten Satzes; LG], aber fast heiser [... ]« (Freud 1985: 225, Brief 112 v. 6.12.1896), schreibt er, und macht mit diesem Zusatz eine Mitteilung, die selbst für seine Korrespondenz mit Fließ, den er in diesen Jahren regelmäßig und in mitunter fast hypochondrisch anmutender Manier in hausärztlicher Funktion anspricht, in ihrer Banalität auffällig, ja lärmend trivial ist. Und er fährt fort: »Am besten: Travailler sans raisonner« (ebd.). Natürlich bezieht sich letztere Bemerkung auf sein Alltagsgeschäft, doch ist es genau das, was er, zumindest in jener ersten Briefsequenz, in der er Fließ »das letzte Stückehen Spekulation« anvertraut, tut - >arbeiten ohne nachzudenkendialektischen BilderAnachronismengewissen Materienin diesem Falle kannst Du meiner Meinung nach ebenso wenig für die Wiederkehr, wie allerdings auch für Deinen schnellen und glänzenden Erfolg. Denn ich habe oft beobachtet, dass dem Ausbruch bösartiger Geschwülste eine monatelange Euphorie vorangeht, in der auch neurotische Symptome zurücktreten. Später kommen sie mit verblüffender Plötzlichkeit wieder, zugleich mit den ersten Beschwerden des Neoplasmas'. Freud war über diese Mitteilung sehr erschreckt. Er meinte, ich wollte die Erfolge der Psychoanalyse überhaupt in Abrede stellen[ ... ]« (ebd.: 72). Was Freud noch um 1896 vorgeschwebt hatte, war eine dualistisch gedachte Arbeitsteilung. Die Vermittlung von deren Ergebnissen, daran lässt Freud keinen Zweifel, hätte allererst noch gefunden werden müssen. In dem Briefvom 17.12., der jenem vom 6.12. folgt, heißt es unmittelbar
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SCHNEIDER: DER VERWORFENE FREUND
nach jener Passage, die ich als Motto dieser Überlegungen gewählt habe: »Tatsachen sammeln kann ich ja nur aufpsychischem Gebiet wie Du auf organologischem, das Zwischengebiet wird mit einer Hypothese besetzt werden müssen« (Freud 1985: 226). Diese Hypothese scheint von Freud als Platzhalter für ein geradezu messianisches sujet suppose savoir gedacht zu sein, dessen Ankunft erhofft, dessen tatsächliches Erscheinen jedoch mit Fug und Recht bezweifelt werden kann. Freuds Erschrecken am Achensee möchte ich daher als das Erschrecken darüber auffassen, dass Fließ auf eine für Freud mit einem Mal unüberhörbare Weise beansprucht, dieser Messias, dieses sujet suppose savoir zu sein. Die Spannung zwischen subjektiver Wahrheit und objektivem Wissen, die in der Beziehung Freuds und Fließ auf fruchtbare Weise verkörpert war, ist mit Fließ' Bemerkung zusammengebrochen. Hinter der Maske Wissenschaft, an die sich Freud bis jetzt gewandt hatte, wenn er mit Fließ korrespondierte und diskutierte, ist unvermittelt die Fratze eines Wahns zum Vorschein gekommen, welcher beansprucht, die Sprache der göttlichen Natur dechiffriert zu haben und daher deutlich vernehmen zu können. Im »Vertrauen auf die Macht des Menschengeistes«, schreibt Freud später in »Totem und Tabu« (Freud 1912-13: 109; Hervorh. P.S.), »welcher mit den Gesetzen der Wirklichkeit rechnet, lebt ein Stück des primitiven Allmachtsglaubens weiter«. Man hört die Abrechnung mit Fließ in diesen Worten mit, zugleich aber die Ahnung, dass der fließsehe Zahlenzauber etwas an der Wissenschaft zur Kenntlichkeif entstellt, dessen Unsichtbarmachung ihren Charakter kennzeichnet. Schon in der »Traumdeutung« ist eine solche Abrechnung mit Fließ herauszuhören, wenn Freud dort schreibt: »Die Traumarbeit rechnet überhaupt nicht, weder richtig noch falsch; sie fügt nur Zahlen, die in den Traumgedanken vorkommen und als Anspielungen auf ein nicht darstellbares Material dienen können, in der Form einer Rechnung zusammen« (Freud 1900a: 421 ). Freud interessiert sich für die Zahlen als Ausdruck eines »nicht darstellbaren Materials«, nicht als Ausdruck eines Gesetzes der Natur, das in der Zahlendarstellung - als einer Art Weltformel - gleichsam zu sich selbst gekommen ist. »Fließ«, schreibt Porge (2005: 163), »blieb überzeugt von der Totalisierung eines natürlichen Wissens außerhalb der Problematik des Subjekts, während Freud die Notwendigkeit verteidigte [,] in jedem einzelnen Fall je besonderen Wahrheiten entgegenzugehen, denen es gemeinsam ist, dass sie ohne Wissen des Subjekts zu Tage treten und in einer bestimmten Unstimmigkeit mit dem Wissen auftauchen.«6 6 Vgl. dazu Sciacchitano (2002: 20f.): »Das Subjekt, verstanden als Selbstbezüglichkeit des Aussagens, muss von der Fremdbezüglichkeit der Aussage, 169
AKTUALITÄT DER ANFÄNGE
Fließ' Theorie, so Porge (2005: 164) weiter, »repräsentiert die paranoische Kehrseite des sujet suppose savoir, die monströse und karikaturhafte Hypertrophie eines sich mit der Vollständigkeit des Wissens vereinigenden Subjekts«. Aber Fließ ist dabei nicht einfach ein persönlicher Missgriff Freuds: »Die Psychoanalyse gelingt als Fehlleistung eines totalisierenden wissenschaftlichen Denkens« (ebd.: 164). Damit diese Fehlleistung fruchtbar misslingen kann, muss Freud die wissenschaftliche Leistung avisieren - und zugleich die Fundierung der Psychoanalyse in Wissenschaft als gelingender Wissensakkumulation in messianischer Feme halten. Dass ihr Wissen objektiv begrenzt ist, stellt für die Wissenschaft kein Problem dar: die Akkumulation des Wissens kann von ihr mühelos als eine unendliche Aufgabe akzeptiert werden, voller Irrungen und Wirrungen (zu denen Fließ einen ganz besonderen Beitrag geleistet hat). Was die »Human«wissenschaften, sofern sie Wissenschaftlichkeit beanspruchen wollen, jedoch unweigerlich irritieren muss, sind singuläre Wahrheiten, ist Wahrheit im Singulären. 7 »Ein Stückehen aus meiner alltäglichen Erfahrung« (Freud 1985: 224), eine Miniatur-Fallgeschichte, hat Freud in den Brief vom 6.12.1896 eingefügt. Das Bedeutsame an dieser Passage ist nicht, dass sie sich nicht ohne weiteres dem einfügt, was Freud zuvor in fließscher Periodensprache (ebd.: 221ff.) über den Zusammenhang von Perversion und Zwang geschrieben hatte. Es verhält sich weit schlimmer: Sie bedarf keinerlei Rechnerei, um plausibel zu sein. Die von Freud geschilderte Symptomgenese überzeugt gerade in ihrer Singularität, nicht als Exempel einer statistischen Verallgemeinerung. Der Freudsche »Überbau« ruht auf einem Fundament, das keines ist. Aber noch in »Die endliche und die unendliche Analyse« (Freud 1937c) wird Freud vom »gewachsenen die sich auf ein Objekt bezieht, unterschieden werden. Subjekt und Objekt sind einander entgegengesetzt: auf der einen Seite das Subjekt, das sich innerhalb der eigenen Rede in einem gleichsam flüchtigen Verhältnis zu sich selbst situiert, auf der anderen Seite das Objekt, das sich außerhalb beziehungsweise jenseits der Rede befindet, wenn es auch nicht notwendigerweise in einer festgesetzten Ontologieapriori gegeben ist. [...] Dabei gilt es zu beachten, dass der wissenschaftliche Diskurs, oder besser: seine technologische Weiterentwicklung, den Hinweis auf das Subjekt nicht mag. Für die wissenschaftliche Praxis, die heutzutage nicht mehr in der Theorie, sondern in der technischen Verwertung besteht, bedeutet das Subjekt reine Willkür: es bedeutet zugleich etwas Unreproduzierbares, da es sich nicht objektivieren lässt, und etwas Zufälliges und Ungewisses, weil es sich nicht intersubjektiv überprüfen lässt.« 7 Vgl. dazu Schneider (2001), darin insbesondere die Aufsätze »Erfliegen und erhinken« und »Die Löcher des Wissens«. 170
SCHNEIDER: DER VERWORFENE FREUND
Fels« sprechen, welchen das Biologische für das Psychische darstellt. Soll man den Schlafwandler aufwecken, der über den Oberbau des Dachfirst wandelt, als sei der schmale Grad sicherster Boden? Oder soll man dem Schlafwandler Freud - nicht ohne Bewunderung - dabei zusehen, wie er das Kunststück zu vollbringen versucht, das Paradox einer Wissenschaft des Singulären zu entwickeln? Wenn die Herausgeber der »Anfange« (Freud 1962) Freud von der Kontamination durch Fließ reinigen wollen, dann, weil sie sein Bild nicht beschmutzt haben wollten. Wenn mehr als drei Jahrzehnte später Fließ wieder aus der Versenkung auftauchen kann, dann dient dies nicht nur der Befriedigung der Neugier, welche Platitüden und Ungeheuerlichkeiten an die Stelle der drei Punkte der frühen Zensur treten würden. Fließ taucht in einem Moment bei Freud wieder auf, in dem er endlich ein für allemal obsolet geworden zu sein scheint. Sein neues Auftauchen ist nur die Bedingung der Möglichkeit für dessen endgültige Entsorgung. Denn endlich ist etwas Besseres gefunden, das an seine Stelle treten kann. Die neurowissenschaftliche »Rückkehr zu Freud« ist das Projekt einer Zeitreise, in der Fließ nicht nur ersetzt werden soll, sondern nach Meinung von deren Protagonisten auch ersetzt werden kann. Wie Sie sich denken können, bin ich nicht dieser Meinung: Wenn Freud nach 1900/1901 keinen Freund mehr wie Fließ findet, dann hängt das vielleicht nicht zuletzt damit zusammen, dass um der Psychoanalyse - der Erkenntnis des Subjekts - Willen die fließsehe Lücke offen, der fließsehe Überhang virulent erhalten bleiben muss: als Erinnerung an einen Rest nämlich, der nicht aufgeht, wenn man eine Wissenschaft vom Subjekt treibt, die nicht einfach eine Disziplin unter anderen ist.
Literatur Freud, Sigmund (1900a): Die Traumdeutung. Gesammelte Werke, Band 2/3. Frankfurt am Main: Fischer. - (1901b): Zur Psychopathologie des Alltagslebens. Gesammelte Werke, Band 4. Frankfurt am Main: Fischer. - (1912-13): Totem und Tabu. Gesammelte Werke, Band 9. Frankfurt am Main: Fischer. - (1918b): Aus der Geschichte einer infantilen Neurose. Gesammelte Werke, Band 12, S. 27-157. Frankfurt am Main: Fischer. - (1937c): Die endliche und die unendliche Analyse. Gesammelte Werke, Band 16, S. 57-99. Frankfurt am Main: Fischer.
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AKTUALITÄT DER ANFÄNGE
- (1962): Aus den Anfängen der Psychoanalyse. Briefe an Wilhelm Fließ. Abhandlungen und Notizen aus den Jahren 1887-1902. Hg. von Marie Bonaparte, Anna Freud und Ernst Kris. Frankfurt am Main: Fischer [1. Aufl. der englischen Ausgabe: London 1950]. - (1985): Briej"e an Wilhelm Fließ. 1887-1904. Hg. von J.M. Masson. Frankfurt am Main: Fischer 1986. - (1996): Tagebuch 1929-1939: Kürzeste Chronik. Hg. von Michael Molnar. Basel, Frankfurt am Main: Stroemfeld. Masson, Jeffrey M. (1984): Was hat man dir, du armes Kind, getan? Sigmund Freuds Unterdrückung der Verführungstheorie. Reinbek: Rowohlt. Porge, Erik (2005): Schöne Paranoia. Wilhelm Fließ, sein Plagiat und Freud. Gefolgt von: »In eigener Sache« von Wilhelrn Fließ. Wien: Turia & Kant. Schneider, Peter (200 l ): Erhinken und Erfliegen. Psychoanalytische Zweij"el an der Vernunft. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Schneider, Peter (2007): »Freud, mon amour oder Imitatio Sigmundi. Wie freudlos soll/kann/darf die Psychoanalyse werden? Über Wissenschafts-Begründung«. In: Knellessen, Olaf/Schneider, Peter (Hg.): Freudlose Psychoanalyse?, S. 9-30. Wien: Turia & Kant,. Sciacchitano, Antonello (2002): Wissenschaft als Hysterie. Das Subjekt der Wissenschaft von Descartes bis Freud und die Frage nach dem Unendlichen. Hg. von Rene Scheu. Wien: Turia & Karrt.
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BRIEF AN WILHELM FLIESS VOM
06.12.1896
SIGMUND FREUD
[Auszug aus: Freud, Sigmund (1985): Briefe an Wilhelm Fließ. 18871904. Hg. von J.M. Masson. Frankfurt am Main: Fischer 1986. © 1986 S.Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main] Brief 112 6. Dez. 96 Meinteurer Wilhelm! Nachdem ich heute einmal das Vollmaß von Arbeit und Erwerb genossen habe, das ich zum Wohlfühlen brauche (zehn Stunden und fl 100), todmüde und geistig frisch bin, will ich versuchen, Dir das letzte Stückehen Spekulation schlicht vorzutragen. Du weißt, ich arbeite mit der Annahme, daß unser psychischer Mechanismus durch Aufeinanderschichtungen entstanden ist, indem von Zeit zu Zeit das vorhandene Material von Erinnerungsspuren eine Umordnung nach neuen Beziehungen, eine Umschriji erfahrt. 1 Das wesentlich Neue an meiner Theorie ist also die Behauptung, daß das Gedächtnis nicht einfach, sondern mehrfach vorhanden ist, in verschiedenen Arten von Zeichen niedergelegt. Eine ähnliche Umordnung habe ich seinerzeit (Aphasie) für die von der Peripherie kommenden Bahnen behauptet. 2 Wie viele solcher Niederschriften es gibt, weiß ich nicht.
2
Die folgende Darstellung vermittelt zwischen den Annahmen über den psychischen Apparat, die im >EntwurfNotiz über den Wunderblock< (1925a) in eine Form gefaßt, die frühe und spätere Theorien verbindet. (K) Eine der seltenen Stellen, an denen Freud selbst auf die Ähnlichkeit zwischen seiner Aphasie-Studie (189lb; dort S.55) und seinen späteren Arbeiten hinweist. (K)
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AKTUALITÄT DER ANFÄNGE
Mindestens drei, wahrscheinlich mehr. Dazu folgendes Schema3, welches annimmt, daß die einzelnen Niederschriften auch nach ihren Neuronenträgern gesondert sind (nicht notwendig topisch). Die Annahme ist vielleicht nicht notwendig, aber doch die einfachste und vorläufig zulässig .
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W sind Neurone, in denen die Wahrnehmungen entstehen, woran sich Bewußtsein knüpft, die aber an sich keine Spur des Geschehenen bewahren. Bewußtsein und Gedächtnis schließen sich nämlich aus. Wz [Wahrnehmungszeichen] ist die erste Niederschrift der Wahrnehmung, des Bewußtseins ganz unfahig, nach Gleichzeitigkeitsassoziationen gefugt. Ub (Unbewußtsein) ist die zweite Niederschrift, nach anderen, etwa Kausalbeziehungeil angeordnet. Ub-Spuren würden etwa Begriffserinnerungen entsprechen, ebenfalls dem Bewußtsein unzugänglich . Vb (Vorbewußtsein) ist die dritte Umschrift, an Wortvorstellungen gebunden, unserem offiziellen Ich entsprechend. Aus diesem Vb werden die Besetzungen nach gewissen Regeln bewußt, und zwar ist dieses sekundäre Denkbewußtsein ein der Zeit nach nachträgliches, wahrscheinlich an die halluzinatorische Belebung von Wortvorstellungen geknüpft, so daß die Bewußtseinsneurone wieder Wahrnehmungsneurone und an sich ohne Gedächtnis wären. Wenn ich die psychologischen Charaktere der Wahrnehmung und der drei Niederschriften vollständig angeben könnte, hätte ich damit eine neue Psychologie beschrieben. Etwas Material hierfür liegt vor, aber es ist jetzt nicht meine Absicht. Ich will hervorheben, daß die aufeinanderfolgenden Niederschriften die psychische Leistung von sukzessiven Lebensepochen darstellen. 4 An der Grenze von zwei solchen Epochen muß die Übersetzung des psychischen Materials erfolgen. Die Eigentümlichkeiten der Psychoneurose erkläre ich mir dadurch, daß diese Übersetzung für gewisse Materiena nicht er3
4
Das vorliegende Schema leitet zu dem im 7. Kapitel der Traumdeutung (Freud !900a, S.542ff.) verwendeten Schema über, bei dem aber von der Beziehung aufNeurone abgesehen ist. (K) Den Gedanken, das Verständnis der Funktionsweise des psychischen Apparates genetisch zu begründen, hat Freud in seinen Schriften nicht unmittelbar fortgeführt, mittelbar freilich hat er in der Arbeit >Formulierungen über die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens< (19llb) gerade diese Betrachtung vertreten. (K)
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FREUD: BRIEF AN FLIES$ VOM 06. 12.1896
folgt ist, was gewisse Konsequenzen hat. Wir halten ja an der Tendenz zur quantitativen Ausgleichung fest. Jede spätere Überschrift hemmt die frühere und leitet den Erregungsvorgang von ihr ab. Wo die spätere Überschrift fehlt, wird die Erregung nach den psychologischen Grenzen erledigt, die für die frühere psychische Periode galten, und auf den Wegen, die damals zu Gebote standen. Es bleibt ein Anachronismus bestehen, in einer gewissen Provinz gelten noch '»Fueros«' 5 ; es kommen »Überlebsel« zustande. Die Versagung der Übersetzung, das ist das, was klinisch »Verdrängung« heißt. Motiv derselben ist stets eine Unlustentbindung, die durch Übersetzung entstehen würde, als ob diese Unlust eine Denkstörung hervorriefe, dieb Übersetzungsarbeit nicht gestattet. Innerhalb derselben psychischen Phase und unter Niederschriften derselben Art macht sich eine normale Abwehr wegen Unlustentwicklung geltend; pathologische Abwehr gibt es aber nur gegen eine noch nicht übersetzte Erinnerungsspur aus früherer Phase. Es kann nicht an der Größe der Unlustentbindung liegen, wenn der Abwehr die Verdrängung nicht gelingt. 6 Wir bemühen uns ja oft vergebens gerade gegen Erinnerungen mit großer Unlust. So ergibt sich folgende Darstellung. Wenn ein Ereignis A als aktuell eine gewisse Unlust erweckt hat, so enthält die Erinnerungsniederschrift A1 oder A11 ein Mittel, die Unlustentbindung bei Wiedererweckung zu hemmen. Je öfter erinnert, desto gehemmter schließlich diese Entbindung. Es gibt aber einen Fall, für welchen die Hemmung nicht ausreicht: WennAals aktuell eine gewisse Unlust entbunden hat und bei der Erweckung neuerlich Unlust entbindet, dann ist diese unhemmbar. Die Erinnerung benimmt sich dann wie etwas Aktuelles. Dieser Fall ist nur möglich bei sexuellen Ereignissen, weil die Erregungsgrößen, die diese entbinden, mit der Zeit (mit der sexuellen Entwicklung) an sich wachsen. Das sexuelle Ereignis in einer Phase wirkt also als aktuell und somit unhemmbar in einer nächsten. Die Bedingung der pathologischen Abwehr 5 6
(Span.) »fuero«: älteres Lokal- oder Sonderrecht vor der Durchsetzung einer zentralen Gesetzgebung (Strachey 1966, S.23Y). Die ökonomischen Überlegungen, die ein Jahr vorher (siehe >Entwurf