Ohne Nostalgie: Zur österreichischen Literatur der Zwischenkriegszeit 9783205113263, 3205770161, 9783205770169


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Ohne Nostalgie: Zur österreichischen Literatur der Zwischenkriegszeit
 9783205113263, 3205770161, 9783205770169

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böhlauWien

Literaturgeschichte in Studien und Quellen Band 7

Herausgegeben von Klaus Amann Hubert Lengauer und Karl Wagner

Wendelin Schmidt-Dengler

Ohne Nostalgie Zur österreichischen Literatur der Zwischenkriegszeit

Gedruckt mit der Unterstützung durch das Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur und der Forschungskommission der Universität Klagenfurt Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei Der Deutschen Bibliothek erhältlich ISBN 3-205-77016-1

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Ubersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf photomechanischem oder ähnlichem Wege, der Wiedergabe im Internet und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. © 2002 by Böhlau Verlag Ges. m. b. H und Co. KG, Wien • Köln • Weimar http://www.boehlau.at Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefreiem Papier Druck: Berger, Horn

Inhalt

Vorwort der Herausgeber 1.

7

Prolegomena zu einer Sozialgeschichte der österreichischen Literatur der Zeit zwischen 1918 und 1938

9

2.

Wien 1918: Glanzloses Finale

24

3.

Inflation der Werte und Gefühle. Zu Arthur Schnitzlers Fräulein Else

53

4.

Von Fahnen und Fanfaren. Zum Komplex ,Militär' in der österreichischen Literatur zwischen den beiden Weltkriegen

65

5.

Statistik und Roman. Uber Otto Neurath und Rudolf Brunngraber

82

6.

Bedürfnis nach Geschichte

92

7.

Von der Unfähigkeit zu feiern. Verpatzte Feste bei Horvath und seinen Zeitgenossen

111

8.

Franz Nabl und die Literaturgeschichte

124

9.

Hermann Brochs Roman Die Verzauberung {1935)

141

10.

„Wie schlafende Uhren blicken uns des Lebens Bilder an." Zu Ernst Kreneks Reisebuch aus den österreichischen Alpen und Gesänge des späten Jahres

158

Gedicht und Veränderung. Zur österreichischen Lyrik der Zwischenkriegszeit

169

11.

Drucknachweise und weitere Publikationen zur österreichischen Literatur der Zwischenkriegszeit Personenregister

Vorwort

Jahrzehntelang hat sich die Literaturwissenschaft der österreichischen Literatur der Zwischenkriegszeit genähert, wie der moderne Alpintourismus den Gipfeln des Himalaja: kurzer Hubschrauberflug ins Basislager, guided tour auf die attraktivsten Gipfel. Leichtes Gepäck, Sauerstoffmasken. Kaum Berührung mit Land und Leuten, keine Ahnung vom geologischen Aufbau, von Wind und Wetter, Flora und Fauna, von dem, was unterhalb des Basislagers liegt. Vom erhöhten Standpunkt aus war alles irgendwie eins. Einzelheiten waren nicht zu unterscheiden. Der Blick auf die umliegenden Gegenden, Täler und Hügel, mäßige Erhebungen, Ebenen, Schluchten und Abgründe, blieb unscharf und verschwommen. Warum sich den Mühen der Ebene aussetzen, wenn Ruhm allein mit der Bezwingung der höchsten Gipfel zu ernten ist. Immerhin gelangten auf diese Weise Hugo von Hofmannsthal und Arthur Schnitzler, Robert Musil und Hermann Broch, Karl Kraus, Joseph Roth und ein paar andere zu einiger Berühmtheit. Höhenkammliteratur eben. Daß manch einer der Gipfelstürmer Akklimatisierungsschwierigkeiten hatte, gehört zu diesem Sport und ist ohnehin nur den Einheimischen aufgefallen: die häufigsten Symptome: Sehstörungen, Bewußtseinstrübung, Halluzinationen, Verlust der Orientierung. Abkommen vom Weg, hin und wieder auch ein Absturz. Wendelin Schmidt-Dengler war einer der ersten, der für die umfassende Akklimatisierung der Akteure und für eine sorgfältige Vermessung und Sondierung des unsicheren und weitgehend unbekannten Geländes der österreichischen Literatur zwischen dem Ende der Habsburgermonarchie und der Wiedererrichtung der Republik 1945 geworben hat, um Sehstörungen und Abstürze, wie sie unter anderem in den renommiertesten deutschen Literaturgeschichten bis heute gang und gäbe sind, tunlichst zu vermeiden. Die Literaturgeschichtsschreibung habe, so sein Ausgangspunkt, mit diesem „Staat, den keiner wollte" letztlich noch einmal vollzogen, was ihm von der damaligen Realpolitik widerfahren sei - nur mit größerer Konsequenz, indem sie ihn als historisches, gesellschaftliches und politisches Gebilde (Erste Republik und Ständestaat/Austrofaschismus) gar nicht zur Kenntnis genommen habe, obwohl die Epoche zwischen 1918 und 1958/1945 für die historische und nationale Identität der österreichischen Autoren und Autorinnen ebenso wichtig sei wie die vorangehende der Habsburgermonarchie und als Voraus-

Setzung für die Zweite Republik ebenso unentbehrlich. Wendelin SchmidtDengler hat deshalb seit dem Beginn der siebziger Jahre in einem weithin weglosen Gelände als Scout und Sherpa zugleich jene Regionen erkundet, aus denen die literarischen Leistungen Roths, Werfeis, Brochs, Horvaths, Doderers und anderer Berühmtheiten herauswuchsen und von denen sie sich abheben. Nicht mit Blick auf eine nationalistisch verengte austriakische Literaturgeschichte hat er für die Wahrnehmung der Differenzen zwischen der Literaturentwicklung in Deutschland und in Osterreich plädiert, sondern mit dem Ziel, innerhalb der Gemeinsamkeiten das Besondere und je Eigene auf beiden Seiten besser zu erkennen und zu verstehen. Dafür war es freilich nötig, die gewohnten Verkehrswege zu verlassen und sich ins Unterholz der historischen und politischen Eigenheiten, der ökonomischen und soziologischen Spezifika und der damit verbundenen Mentalitäten zu schlagen. Die in diesem Band versammelten Arbeiten, die zum überwiegenden Teil in schwer zugänglichen Fachpublikationen erschienen sind, stellen nur eine kleine Auswahl aus den beinahe fünfzig Arbeiten Wendelin Schmidt-Denglers zur österreichischen Literatur der Zwischenkriegszeit dar. Sie zeigen auch in der aus Platzgründen erzwungenen quantitativen Beschränkung sein geradezu enzyklopädisches Interesse am literarischen Leben der Epoche, die Vielfalt seiner Fragestellungen und die Flexibilität der eingewendeten Methoden. Viele dieser Arbeiten sind modellhaft für die Beschäftigung mit der Epoche geworden und haben die Forschung durch Jahrzehnte angeregt, geprägt und bereichert. So hat er sich, um nur ein besonders eindrucksvolles und folgenreiches Beispiel zu nennen, als erster die literarisch einschlägigen bodenständigen Lustbarkeiten vorgenommen und in mehreren Arbeiten ein Feuilleton und historischem Roman, Satirezeitschriften und Wienroman gezeigt, wie die trivialliterarischen Massenprodukte der Zeit als Pflanzgärten jener Ideen und Vorurteile fungierten, die dem sogenannten autoritären Ständestaat und der österreichischen Variante des Nationalsozialismus das ideologische Unterfutter lieferten. In einer heute nicht mehr überblickbaren Zahl von Dissertationen, Forschungsprojekten, Symposien, Monographien und Aufsätzen sind die methodischen Postulate und thematischen Anregungen Wendelin Schmidt-Denglers aufgegriffen und weiterentwickelt worden. Der Nachdruck einiger seiner älteren Arbeiten führt somit gleichsam zu den Quellen zurück und dokumentiert einige wichtige Stationen der Forschungsgeschichte. Wendelin Schmidt-Denglers Arbeiten zur Zwischenkriegszeit erschöpfen sich jedoch nicht in thematischen, ideologie- und motivgeschichtlichen, theoretischen, methodologischen, textbezogenen, gattungsspezifischen

oder monographischen Einzeluntersuchungen. Es liegt bei ihm der seltene Fall vor, daß es ihm stets auch gelungen ist, das Postulat einer integrativen Lektüre von historischem Prozeß und literarischem Text einzulösen. In einer ganzen Reihe von Überblicksartikeln zur Epoche hat Wendelin Schmidt-D engler gezeigt, wie eine sozialgeschichtlich orientierte Literaturgeschichte, die diesen Namen verdient, auszusehen hat. Daß das Erscheinen dieses Bandes mit Wendelin Schmidt-Denglers sechzigstem Geburtstag zusammenfallt, heißt nicht, daß dies eine Festschrift ist oder die Herausgeber ihn für alt erachten, im Gegenteil: „nec senuisse sinunt", keine „leidvolle Klage" über frühzeitig eingetretenes Greisentum ist angebracht. Schmidt-Dengler ist das lebendige Gegenteil jener Erstarrung, die als Folge entbehrungsreichen Dienstes an der Wissenschaft oft zu beobachten ist. Temperamentlosigkeit ist ihm noch nie nachgesagt worden. Die Wut, mit der er auf die „artificiellen Vexationen" der jüngsten sogenannten „Universitätsreform" reagiert hat, belegt dies, wenngleich das Ergebnis dieser verständlichen Erregung, seine öffentliche Rede, schon mehrere „Wuthäuslein" zur „Verhebung" von „affektivem Geschehen auf eine sachliche Ebene" hinter sich hat. Sind solche Affekte angebracht oder sind sie nicht verpönt in der Branche? Lassen wir einen reden, der es wissen muß und der sie, unbezweifelt in seinem Status, doch rechtfertigt: „Allein die verpönten Affekte dienen einmal dem strebsamen Menschen als Leiter und Mahner auf der Fahrt zum Hafen der Weisheit, sind dann aber überhaupt bei jeder Probe seiner Tüchtigkeit unfehlbar zur Stelle und spornen und stacheln ihn an, sein Bestes zu geben." Ist dies eine Form von Torheit, wie Erasmus schreibt, dann besitzt sie Schmidt-Dengler in hohem Maße, und sie ist, wie in der von ihm herausgegebenen und kommentierten Schrift, zu loben. Es ist mit ihm kein Menschenbild aus Marmor zu errichten, kein „gefühlloser Götze" der Wissenschaft „ohne alles menschliche Empfinden": „Welches Weib wünschte sich einen so gearteten Gatten, welcher Wirt einen Gastfreund von diesem Schlage, welcher Knecht einen Herrn mit solchen Manieren? Oder wer hielte es aus bei ihm?" Man/frau hält es aus bei ihm, sei es im steirischen Sirmio, sei es in dem meistens umschwärmten Instituts-Arbeitszimmer. Wer ist je ohne kollegiale Aufmunterung, ohne eine tiefsinnige Anekdote, ohne eine beglückende Sottise über die gelehrte Welt von dannen gegangen? Diese Fähigkeit ist freilich nicht loszulösen von seiner Art, die Wissenschaft zu betrachten und zu betreiben. Vielleicht hat er dies bei Erasmus gelernt: den Prozeß des Wissens als ein schwebendes Verfahren zwischen „Weisheit" und „Torheit" zu verstehen, in dem Sinne nämlich, daß die bei-

den Pole nicht absolut sind, sondern eins ins andere umschlägt, Weisheit zur Torheit wird, Torheit zur Weisheit, Clowns („Alas, poor Yorick!") und Narren die Wahrheit sagen, sei es daß sie bei Shakespeare, bei Nestroy, bei Doderer oder bei Thomas Bernhard auftreten: als Übertreiber, als Groß- und Schnellsprecher, aber auch und in erster Linie: als Wahrheitsbringer. Keine Festschrift also, sondern ein Gruß und ein kleines Zeichen des Dankes, auch dafür, daß er uns manchmal ziemlich alt aussehen läßt. Mit uns danken gewiß viele, deren Karrieren er großzügig und selbstlos gefördert hat: Absolventen, Projektforscher, Assistenten und Kollegen, Erasmus-Stipendiaten: wer zählt die Völker, nennt die Namen? Und auch die Autoren - sonst nicht immer ohne Vorbehalt gegenüber den Germanisten, den „Parasiten" des Schöpfertums - haben allen Anlaß, ihm zu danken: er hat nicht nur die Gegenwartsliteratur kritisch gewürdigt, sondern immer auch ihre Interessen respektiert und vertreten. Als Gründer und Leiter des Österreichischen Literaturarchivs hat er sich in den Dienst der heutigen wie der vergangenen Gegenwartsliteratur gestellt und dafür sogar das Stationäre auf sich genommen, obwohl ihm nichts fremder ist als das Pathos der Immobilität und der Langsamkeit. Unser besonderer Dank gilt Johann Sonnleitner, der mit Sorgfalt und Kompetenz die Redaktion dieses Bandes übernommen hat und der sich mit unserem Gruß und Dank an Wendelin Schmidt-Dengler einig weiß.

Klaus Amann Hubert Lengauer Karl Wagner

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Prolegomena zu einer Sozialgeschichte der österreichischen Literatur der Zeit zwischen 1918 und 1938 I. R O H E

EMPIRIE

Der Literatur aus Osterreich Besonderheit zu attestieren, verrät - bei allem Wohlwollen - doch immer den Hintergedanken, diese als Abweichung von einer wie immer gearteten Norm zu fassen und sie - ob im Positiven oder Negativen - als Nichteinlösung eines Standards zu charakterisieren. Diese Differenzierung der österreichischen Literatur von einer deutschen im allgemeinen oder Weimarer oder bundesrepublikanischen Literatur im besonderen ist nicht von vornherein verwerflich; bedenklich stimmt es jedoch, wenn die Differenz nicht mehr wahrgenommen und zugunsten einer deutschen Literatur unterschlagen wird, die bei österreichischen wie deutschen Autoren auf gleichen Voraussetzungen beruhen soll. Dieses Problem wird akut, da Literaturgeschichten Konjunktur haben, besonders aber solche, die die jeweilige Produktion mit dem konkreten sozialhistorischen Hintergrund verrechnen wollen. In der jüngsten Vergangenheit überziehen Literaturgeschichten in einiger Dichte den Markt netzartig, haben trotz Jahre währender Fundamentalkritik am Prinzip Literaturgeschichte für die Wissenschaftler nichts an Attraktivität verloren und stehen bei einem nach Synthese verlangenden Publikum offenkundig hoch im Kurs, doch fehlt darin meist der für Osterreich spezifische Hintergrund. Dies ist nicht nur den Literaturgeschichtsschreibern anzulasten, sondern auch der Zurückhaltung, mit der Osterreich die Aufarbeitung seiner Gesellschaftsgeschichte (und nicht nur dieser) zwischen den beiden Weltkriegen betrieb. Was Wunder also, daß Österreichs Autoren in den derzeit im Umlauf befindlichen Literaturgeschichten als Akteure in einem Stück figurieren, dessen Regie aus Weimar kommt. Österreich mit seinen sieben Millionen Einwohnern erscheint in den Literaturgeschichten früher an das Deutsche Reich angeschlossen, als dies in der Realität der Fall war. Auf dem Umweg über einige Beispiele aus der literaturhistorischen Praxis sollen Grundlagen für eine Möglichkeit erörtert werden, die der Literatur aus Österreich im sozialgeschichtlichen Kontext einen

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Prolegomena zu einer Sozialgeschichte

Ort innerhalb der deutschen zuweist und die einzelnen Texte in diesem präziser lokalisiert. Eine fundamentale und dringlich zu fordernde Analyse dieser Praxis ist hierorts nicht möglich, doch mögen einige Aperçus einer solchen Vorschub leisten. Die Sichtung erfolgt in chronologischer Reihenfolge; dies in der Absicht, auch eine Entwicklung nachzuzeichnen. Nicht daß Autoren aus Osterreich der Platz für die Behandlung streitig gemacht oder ihr Rang verkannt würde, ganz im Gegenteil: Hofmannsthal, Schnitzler, Kraus, Roth, Musil, Broch, Werfel und Horväth werden in kritischen Ehren gehalten; fraglich ist nur, ob die Konstellationen, in die sie gebracht werden, auch den gesellschaftlichen Voraussetzungen entsprechen, die durch die Literaturgeschichte kenntlich werden sollen. Die nun folgende Kurzrevue befaßt sich vorwiegend mit vier Literaturgeschichten; dies nicht in polemischer Absicht, sondern in dem Versuch, durch Kritik eben jene Perspektiven freizugeben, die für eine zutreffende Wertung von Texten aus Osterreich erforderlich sind. Geschichte der deutschen Literatur von 1917 bis 1945 nennt sich die bislang umfänglichste Literaturgeschichte zu dieser Periode aus der DDR. 1 Sorgsam werden österreichische Autoren als solche bezeichnet, so als ob damit eine nicht näher definierbare Andersartigkeit angedeutet würde. Daß der Abschied von Habsburg sich anders vollzog als der von den Hohenzollern, daß die ökonomischen Voraussetzungen für Autoren im Deutschen Reich andere waren als in der Alpenrepublik, wird nicht einmal erwähnt. Von Magris' Stichwort vom ,habsburgischen Mythos' ist 1973 (!) noch keine Rede, doch wird den österreichischen Erzählern nachgesagt, daß sie „den geistigen und moralischen Krisen der zu Ende gegangenen Epoche" nachgegangen seien: „Die jahrzehntelange Agonie der k. u. k. Monarchie erleichterte ihnen die Einsicht in die geschichtliche Unhaltbarkeit der alten Ordnung." (GdL, S. 327) Die Österreicher - das sind die anderen, worin aber deren Andersartigkeit bestünde, wird nicht näher ausgeführt. Daß es in Österreich andere historische Zäsuren gab als in Deutschland, sollte den Verfassern jeder gesellschaftsbezogenen Literaturgeschichte zu denken geben. So fehlen Daten wie 1927, 1934 und 1938 so gut wie ganz; daß für Österreich das Jahr 1933 etwas anderes bedeutet als für Deutschland, wird ebenso unterschlagen. Die Peri1

Hans Kaufmann (Hg.): Geschichte der deutschen Literatur. 1917 bis 1945. Von einem Autorenkollektiv unter Leitung von Hans Kaufmann in Zusammenarbeit mit Dieter Schiller. Berlin 1973 (= Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart 10). [Zitate daraus im Text unter der Sigle GdL.]

Prolegomena zu einer Sozialgeschichte

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odisierung, die spröd-notwendige Tugend jeder Literaturgeschichte, gehorcht der Weimarer Zeit; daß die Uhren in Osterreich gewiß anders gingen, wird nicht zur Kenntnis genommen. Wie österreichische Autoren aus der zeitlichen Bedingtheit herausgenommen werden, bestätigt ein geradezu klassisches Hysteron-Proteron, das den Autoren in bezug auf Karl Kraus unterlaufen ist: „Der von Brecht beschworene ,Widerspruchsgeist' gegen verbreitete Anschauungen ließ Karl Kraus (1874-1936) zum Schöpfer eines in seiner Weise einzigartigen dramatischen Werks werden." (GdL, S. 102) Karl Kraus erscheint zwischen Sternheim und Brecht; daß es von ihm auch eine Dritte Walpurgisnacht gibt, verschweigt diese Literaturgeschichte und entschlägt sich damit auch der Probleme, die eine Charakteristik der politischen Schwierigkeiten österreichischer Autoren mit sich bringt. Österreich als Ständestaat ist so gut wie ganz vergessen, und damit auch dessen ambivalente Rolle als Staat, der Menschen verbannte und anderen Zuflucht bot. Dollfuß erscheint nur in vagem Bezug zu Brechts Aufhaltsamem Aufstieg des Arturo Ui. (GdL, S. 647) Vor allem aber ist bedenklich, daß auch die Bereiche, die zur Kennzeichnung der gesellschaftlichen Grundlagen der Literatur unentbehrlich sind, so gut wie ganz fehlen. Von der sogenannten Trivialliteratur (zwischen den Kriegen ist die Österreichs von der Deutschlands deutlich unterschieden) ist so gut wie keine Rede; die proletarisch-revolutionäre Tradition fehlt, also auch die Arbeiterliteratur - Alfons Petzold wird zum Statisten in einem nicht gerade bezeichnenden Zusammenhang (S. 120f.); weder die antifaschistischen noch die faschistischen Autoren werden zur Kenntnis genommen, ganz im Gegenteil zu der weitgestreuten Rezeption, die gerade solchen Schriftstellern aus Österreich im Reich widerfuhr (etwa Jelusich, Brehm, Hohlbaum, Strobl). Da der autoritäre Ständestaat keine Beachtung findet, fehlt auch die Satire, die diesen aufs Korn nahm, und damit auch deren bedeutendster Vertreter, nämlich Jura Soyfer. Auch die reiche Produktion an kulturhistorischen Schriften (Friedell) und das Feuilleton (Polgar, Blei u. a.) werden so gut wie gar nicht erwähnt, kurz: Literatur aus Österreich wird just in jenen Zonen vernachlässigt, in denen sich ihre gesellschaftlichen Konturen am deutlichsten zeichnen ließen. Es sei mit Nachdruck darauf hingewiesen, daß gerade die Germanistik der D D R in diesen Bereichen vieles nachgeholt hat; was indes in einer Literaturgeschichte festgeschrieben ist, ist so leicht nicht tilgbar.

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Prolegomena zu einer Sozialgeschichte

Die Symptome, die an der Literaturgeschichte aus der DDR festzustellen waren, wiederholen sich in auffallender Weise bei der 1981 in der BRD erschienenen Sozialgeschichte der deutschen Literatur von 1918 bis zur Gegenwart.2 Das reicht bis in die Wortwahl hinein; so wird z. B. in beiden Literaturgeschichten Musil und Broch die Fähigkeit der „Epochenbilanz" (GdL, S. 328f., SddL, S. 297) zugebilligt, womit der Sozialgeschichte, methodisch gesehen, nur insofern Genüge getan wird, als Schriftstellern die Rolle von Buchhaltern des Weltgeistes zugestanden wird. Nicht die oft verstörend unrichtigen Bagatellen sollen die Aufmerksamkeit auf sich ziehen3, sondern abermals die Form der Einbeziehung der österreichischen Literatur in den Gesamtkomplex der deutschen Literatur. Auch diese Sozialgeschichte ist den „großen" Autoren verpflichtet, verwendet ungeschaut Formulierungen wie „die großen Drei" (in diesem Fall Kafka, Musil, Broch) und leistet sich im Bestreben, ein klares Muster von Abhängigkeiten zu erstellen, wiederum ein kennzeichnendes Hysteron-Proteron: In Deutschland wurde diese Technik [i. e. der innere Monolog im interpunktionslosen „stream of consciousness"] allerdings gleichzeitig durch James Joyces „Ulysses" (Paris 1918/1921, dt. Zürich 1927) und Virginia Woolfs „Mrs. Dalloway" (1925, dt. 1928) bekannt und von Becher, Benn, Jung, Kesser, Schnitzler, Unruh, Waiden u. a. angewendet. (SddL, S. 212) Daß in dieses hier mitgedachte chronologische Schema Schnitzlers Leutnant Gustl (1900) und Fräulein Else (1924) nicht passen, ist wiederum Signal für die Nonchalance im Umgang mit der Chronologie gerade im Blick auf Osterreich. Daß Hofmannsthal und Schnitzler auch nach 1918 schrieben, zudem Werke, die bis heute im Bewußtsein der Leser wie der Forschung präsent sind, wird unterschlagen; dagegen erscheint Doderer als Autor der Ersten Republik und nicht der Zweiten, in die er durch den Hauptteil seiner Produktion und vor allem durch die Rezeption gehört. Daß exakte Chronologie zur Bestimmung des historischen Standorts literarischer Werke nicht ver-

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Jan Berg, Hartmut Böhme, Walter Fahnders u.a. (Hgg.): Sozialgeschichte der deutschen Literatur von 1918 bis zur Gegenwart. Frankfurt/Main 1981. [Im Text zitiert mit der Sigle SddL.] So stammt Canetti aus einer „jüdisch-spanischen" (!) Familie (S. 301); Ehrenstein soll in China gewesen sein (S. 216); die Faschisten hätten Karl Kraus' Nachlaß verschleppt (S. 297); Kraus ist ein „konsequenter Gegner der politischen, sozialen und ökonomischen Befreiung der Frau" (S. 296).

Prolegomena zu einer Sozialgeschichte

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nachlässigt werden darf, ist klar, vor allem dann, wenn es darum geht, Ungleichzeitigkeit herauszustellen. Zwar ist den Autoren die Chiffre vom ,habsburgischen Mythos' geläufig, allerdings nicht dessen ambivalente Struktur, wie sie Magris bereits in seiner Dissertation herausarbeiten konnte. Denn sonst könnte Musil - für Magris ein Kronzeuge eben dieses Mythos - ja nicht als dessen Zerstörer angesprochen werden. (SddL, S. 289) Der Kanon der für gültig erachteten Werke wirkt unumstößlich und liefert auch für diese Art von Sozialgeschichte der Literatur aus Osterreich das Anschauungsmaterial; in bezug auf das Reich verfahren die Verfasser genauer und beziehen denn auch die sogenannte Trivialliteratur ein. Das in einer Kapitelüberschrift enthaltene Programm {Österreichischer Mythos und Aufhebung von Geschichte) wird zum Urteil nicht nur über die österreichische Literatur, sondern auch über die österreichische Geschichte: Weil sich der Austritt Österreichs aus der Geschichte im Zeichen des habsburgischen Mythos nach den Worten der Autoren ja selbst vollzogen habe, braucht sich der Literaturhistoriker nicht um die reale Geschichte zu kümmern. Zwar wird Hugo Bettauer zur Kenntnis genommen (SddL, S. 142, S. 357f.), er erscheint jedoch als Parallele zum Fall Harden und wird zugleich aufgewertet als ein Schriftsteller, der „sehr früh die Funktion der Negativideologien wie Antisemitismus, Antikommunismus, Farbigenhaß, Fremdenhaß" diagnostizierte. Die massenhaft verbreitete wie auch ideologiegeschichtlich lange über den Zweiten Weltkrieg hinauswirkende national-völkische Literatur Österreichs bleibt ebenso unbeachtet, wie die liberal-sozialistische Tradition, der doch sonst das Augenmerk der Verfasser gilt, also etwa Petzold4, Kramer, Brunngraber 5 und Soyfer. Aufgesogen in die Literatur der Weimarer Republik scheint die österreichische Literatur auch in der von Viktor Zmegac herausgegebenen Literaturgeschichte Geschichte der deutschen Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart.6 Für die Literaturhistoriker gibt es in der österreichischen Literatur

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Petzolds Roman Das rauhe Leben wird nicht erwähnt, dafür sein eher marginales Werk Sevarinde. (S. 356) Brunngraber wird zwar erwähnt, in seiner sozialhistorischen Bedeutung aber so gut wie gar nicht gewürdigt. (S. 249) Viktor Zmegaz (Hg.): Geschichte der deutschen Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Bd. III.l u. 2. Königstein/Ts. 1984.

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Prolegomena zu einer Sozialgeschichte

des 20. Jahrhunderts einen Schwerpunkt: dies ist eindeutig die Jahrhundertwende. Dieses Gravitationszentrum scheint auch - für die Literaturhistoriker - das Spätwerk von Schnitzler, Kraus und Hofmannsthal so sehr anzuziehen, daß ihre Wirksamkeit in der Ersten Republik ganz vergessen wird; der Krieg als Zäsur wird gelöscht. So gibt es bei Zmegac keinen eigenen Abschnitt über die Erste Republik - ganz im Gegensatz zu Jung Wien und zur Zeit nach 1945, womit sich jeweils einläßliche Artikel mit einer Einführung in die sozialgeschichtlichen Grundlagen befassen. Auch der Ständestaat erscheint nur im Zusammenhang mit Zuckmayers Schelm von Bergen7; über die gesellschaftlichen Grundlagen der österreichischen Literatur erfährt man sehr wenig, die proletarisch-revolutionäre Tradition fehlt ebenso wie die nationalvölkische. 8 Von den Autoren bleiben nur Musil, Broch, Werfel, Zweig und Horväth übrig, allerdings scheinen sie so gut wie gar nicht eingebettet in den sozialhistorischen Kontext der Ersten Republik. 9 Die Literaturgeschichtsschreibung vollzieht mit diesem Staat, den keiner wollte, das, was ihm in der Realpolitik widerfuhr, nur mit noch größerer Konsequenz: indem sie ihn gar nicht zur Kenntnis nimmt und so vor seinem tatsächlichen Ende liquidiert zu haben scheint. An der untergehenden Habsburgermonarchie läßt sich nicht vorbeigehen, dem Osterreich der Zweiten Republik wird zumindest Respekt entgegengebracht; die Epoche zwischen 1918 und 1938 indes wird eskamotiert, obwohl sie für die historische Identität der österreichischen Autoren ebenso konstruktiv wurde wie die vorangehende und zugleich auch als Voraussetzung für die Zeit nach 1945 unentbehrlich ist. Die Brüchigkeit dieser Literaturgeschichten erweist sich im Hinblick auf Osterreich gerade dadurch, daß diese Epoche ausgespart wird und damit auch jenes Konfliktpotential, das nach dem Zusammenbruch der Monarchie akut wurde und das in der Zweiten Republik verdeckt oder abgebaut werden sollte und das doch wesentlich die Literatur zwischen den Kriegen bestimmte, mag es an der Oberfläche auch nicht so scheinen. Um es überspitzt zu formulieren: In dieser Art von Literaturgeschichten wird ein Missing link erzeugt, dessen Rekonstruktion vorerst nicht erforderlich scheint, weil die österreichische

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Ebd., S. 310. So fehlen Verweise auf Bettauer wie auf Soyfer; Jelusichs Cäsar-Roman dient bloß dazu, die Folie für Brechts Romanfragment abzugeben. (S. 266) Theodor Kramer erscheint erst im Zusammenhang der österreichischen Gegenwartsliteratur als „Emigrant" (S. 695, S. 702, S. 712f.), wobei sein Werk doch gerade für die Zwischenkriegszeit sozialhistorisch von außerordentlichem Quellenwert ist.

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Literatur dem Entwicklungsgang der deutschen gleichgeschaltet scheint. Gerade vor dem Postulat einer Literaturgeschichte auf sozialhistorischer Basis aber ist eine Harmonisierung von Weimar und Wien zwischen den Kriegen unzulässig. Daß eine eindringlichere Behandlung der Literatur der Ersten Republik auch auf dem engen Raum einer Literaturgeschichte nicht nur notwendig, sondern auch möglich ist, hat Friedrich Achberger im 9. Band des von Horst Albert Glaser herausgegebenen Sammelwerks Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte (1985) unter Beweis gestellt.10 Zwar beansprucht auch er für Broch und Musil das Schlagwort der „Epochenanalysen und -bilanzen" (DL, S. 518), doch kommt dafür auch anderes ins Bild. Eingebracht werden immerhin unter dem Untertitel Literarische Kontinuitäten Hofrnannsthal, Kraus, Schnitzler und Werfel (ohne allerdings ihr Verhältnis zur Republik zu bestimmen), ferner die massenhaft verbreitete Literatur unter Zeitgeschichte im Roman, die Bemühungen der Sozialdemokratie unter Literatur im Umkreis der Arbeiterbewegung, und zuletzt wird die widersprüchliche Struktur des Ständestaates zum Thema. Kennzeichnend ist aber auch, daß Autoren, für die die Erste Republik offenkundig ein zu beengendes Gewand abgegeben hätte, disloziert wurden, wie etwa Musil mit dem Roman Der Mann ohne Eigenschaften, der sein Heimatrecht in dem Kapitel Große Romane neben dem Zauberberg, den Aufzeichnungen des Malte Laurids Rrigge (beileibe kein Roman der Weimarer Republik!) und neben Rerlin Alexanderplatz und Perrudja erhält. Horväth und Soyfer werden beim Volksstück untergebracht', Joseph Roth wird in Achbergers Kapitel, das in nicht unpolemischer Distanz zum Begriff des ,habsburgischen Mythos' gelesen werden sollte, kaum berührt 11 , und zu kurz kommt im Gesamt des Bandes Hermann Broch. Immerhin ist mit dem Beitrag Achbergers der Beweis erbracht, daß im Rahmen einer Sozialgeschichte der Literatur die österreichische Literatur der Ersten Republik in einem eigens dafür hergestellten Kapitel zu behandeln ist, ein erreichter Standard, hinter den von nun ab kein ähnlicher Versuch zurückfallen dürfte.

10 Alexander von Bormann, Horst Albert Glaser (Hgg.): Weimarer Republik - Drittes Reich: Avantgardismus, Parteilichkeit, Exil. 1918-1945. Reinbek 1983 (= Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte Bd. 9). [Im Text mit der Sigle D L abgekürzt.] 11 Bezeichnend, daß Achberger die Kenntnis des Buches von Magris voraussetzt, ohne den Autor zu erwähnen. (S. 318)

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2. Z A R T E T H E O R I E

Mit Absicht wurde bis hierher nicht auf die in großer Zahl vorliegenden Einzeluntersuchungen zu bereits angeschnittenen Problemen eingegangen, sondern auf Kompendien, die jedoch als repräsentativ für den um Synthese bemühten Diskurs der Literaturgeschichte gelten können. Für die Grundlegung einer Sozialgeschichte ist im Bereich des institutionellen Rahmens der Literatur durch die umfassenden Studien von Amann, Aspetsberger, Fischer, Hall, Heydemann, Renner einiges geleistet worden, auch wenn es noch Lücken geben kann. 12 Ebenso ist in zahlreichen monographischen Studien zu Autoren, die lange Zeit in der Tabuzone der Literaturwissenschaft Schonzeit hatten oder als Quantité négligeable an den Rand geschoben worden waren, einiges ein überraschenden Ergebnissen zutage gefordert worden. 1 3 An den Resultaten dieser Arbeiten aus den letzten zehn Jahren etwa kann eine Sozialgeschichte der Literatur nicht vorbeigehen - einiges davon ist ja schon in Achbergers Kurzcharakteristik eingeflossen. Zu fragen ist indes, ob in einer solchen Sozialgeschichte nicht mehr zu leisten wäre als die exakte Auslotung eines Hintergrunds und die Rekonstruktion von Tatsachen, bei denen der Zusammenhang mit den produzierten Texten noch aussteht. Eine Literaturgeschichte kann der Namen (also: der Autorfiguren) nicht entraten, auch wenn sie sich um ein Verbindendes jenseits derselben sowie der einzelnen Texte bemüht. Eine Literaturgeschichte soll auch nicht, wie dies in der letzten Zeit immer häufiger der Fall zu sein scheint, mit einer Rollenzuweisung in den

12 Klaus Amann: P.E.N. Politik. Emigration. Nationalsozialismus. Ein österreichischer Schriftstellerclub. Wien, Köln, Graz 1984; Ders.: Der Anschluß der österreichischen Schriftsteller an das Dritte Reich. Institutionelle und bewußtseinsgeschichtliche Aspekte. Frankfurt/M. 1988; Friedbert Aspetsberger: Literarisches Leben im Austrofaschismus. Der Staatspreis. Königstein/Ts. 1980; Ernst Fischer: Literatur und Ideologie in Österreich 1918-1938. Forschungsstand und Forschungsperspektiven. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Literatur 1, Sonderheft 1985, S. 183-255; Murray G. Hall: Osterreichische Verlagsgeschichte. 1918-1938. Wien, Köln, Graz 1985; Alfred Pfoser: Literatur und Austromanismus. Wien 1980; Klaus Heydemann: Literatur und Markt. Werdegang und Durchsetzung eines kleinmeisterlichen Autors in Osterreich (1891 - 1938). Der Fall Karl Ginzkey. Habil.Schrift. Wien 1985; Gerhard Renner: Österreichische Schriftsteller und der Nationalsozialismus (19)3-1940) Frankfurt a. M. 1986. 13 Besonders zu verweisen ist auf Murray G. Hall: Der Fall Bettauer. Wien 1978; Johannes Sachslehner: Führerwort und Führerblick. Mirko Jelusich. Zur Strategie eines Bestsellerautors in den dreißiger Jahren. Königstein/Ts. 1985; sowie auf die Biographie Jura Soyfers von Horst Jarka (Wien 1987).

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politischen Konflikten sistiert werden. So notwendig die Klarlegung des in Osterreich nur zu oft raffiniert kaschierten Zickzackkurses ist, so problematisch wird dies, wenn es mit dieser Aufdeckungsarbeit sein Bewenden hat. In seinem umfassenden Forschungsbericht über Literatur und Ideologie in Osterreich 1918-1938 hat Ernst Fischer einige jener Themen aufgelistet, die sich mit „institutionellen Faktoren" des Literaturbetriebs befassen: Erst die Aufarbeitung der produktions-, distributions- und rezeptionslenkenden Faktoren des literarischen Lebens schafft eine solide Grundlage für die funktionsgeschichtliche Analyse literarischer Texte, ohne die eine sozialgeschichtliche Betrachtungsweise von Literatur platt und äußerlich bleibt.14 Schwierig ist jedoch der Schritt von der „Aufarbeitung" zur „Analyse", und es hat in der Praxis des literaturwissenschaftlichen Arbeitens den Anschein, als würden diejenigen, die die Aufarbeitung besorgen, den Schritt zur Analyse scheuen 15 , und diejenigen, die sich um die Analyse bemühen, den Weg zurück zur Aufarbeitung gar nicht erst gehen wollen. Daß beide nach dem Modell von Stalagmiten und Stalaktiten in einer Tropfsteinhöhle zusammenwachsen, ist ein Vergleich, der bezüglich der Dauer des Unterfangens gewiß nicht hinkt. Was sich heute als sozialgeschichtlich orientierte Darstellung der deutschen Literatur deklariert, zerfällt in oft aufschlußreiche und materialdichte Aufarbeitung der „institutionellen Faktoren" auf der einen und in Analysen der wichtigsten Werke unter besonderer Berücksichtigung der mehr oder weniger offenliegenden gesellschaftlichen Relevanz des Textes auf der anderen Seite. Daß es Einzeluntersuchungen gibt, in denen die Verknüpfung von Materialdichte und Textanalyse paradigmatisch geleistet wurde, steht außer Streit, doch fehlt das verbindliche Modell, nach dem eine literaturgeschichtliche Synthese von größerem Umfang sich erarbeiten ließe, auf welche sich die Literaturwissenschaft allemal zu richten hat, auch wenn sie sich der Vergeblichkeit und steten Überholbarkeit derselben bewußt ist. Denn die literaturwissenschaftlich erschlossene Detailerkenntnis gewinnt ihren Glanz

14 E. Fischer, Literatur und Ideologie (Anm. 12), S. 238. 15 Klaus Heydemann verzichtet in seiner Habilitationsschrift (Anm. 12) mit bewundernswerter Konsequenz auf den Bezug zu den Texten Ginzkeys, um so die Marktverhältnisse deutlicher zu exponieren und den wirtschaftsgeschichtlichen Ansatz zu radikalisieren - ein Unternehmen, das das Spezifische der literarischen Hervorbringung nicht mitreflektieren kann.

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erst durch die Leuchtkraft einer Synthese, die sie bestätigt oder widerlegt. Eine solche mehrere Aspekte zusammenfassende Perspektive hat mit glücklicher Formulierung Ernst Fischer aufgezeigt, wenn er meint, daß der Bereich der Literatur von der durchgreifenden Fragmentierung der Gesellschaft im Zeichen politischer Ideologien, wie sie für Österreich zwischen 1918 und 1938 in Übereinstimmung mit der Forschung aus den Quellen vorgeführt wurde, nicht unberührt bleiben konnte, daß im Gegenteil der Zerfall des politisch-gesellschaftlichen Systems in einzelne Subkulturen die Ausbildung entsprechender literarischer Teilkulturen bewirken mußte.16 Fraglich ist, ob sich diese Fragmentierung nicht schon vor 1918 bemerkbar gemacht hat und ob es nicht vor allem die geänderten Rezeptionsbedingungen waren, die die Zerrissenheit deutlicher machten; fraglich auch, wie nun die Texte diesen „Teilkulturen" zuzuordnen sind, wo man etwa in diesen so zu Recht erkannten Subsystemen Autoren wie Musil, Kraus, Schnitzler, Roth und Horvath plaziert. Selbst bei Schriftstellern, bei denen dies eindeutig zu sein scheint, wie im Fall Petzold, Soyfer auf der einen, oder Hofmannsthal und Weinheber auf der anderen Seite, wird man bei der Rubrizierung in Schwierigkeiten kommen. Just jene Autoren, die für Magris die Induktionsbasis erstellten, sind solchen Versuchen gegenüber resistent, doch lohnt es sich, deren Werke einmal vor dem Hintergrund dieser „Fragmentierungen" zu lesen; die Literaturgeschichtsschreibung hat sich an Widersprüchen, die sich solchermaßen aus den Texten gegenüber einer Zuordnung zu einem Lager und aus der Opposition von Lebenslauf und Textintention ergeben, abzuarbeiten und diese Widersprüche selbst zum Gegenstand der Literaturgeschichte zu machen. Ernst Fischers Forschungsbericht zehrt mittelbar noch von der Synthese eines Claudio Magris, die er durch „sozialgeschichtlich fundierte Gegendarstellungen" für korrekturbedürftig hält.17 In der Zeit seit dem Erscheinen von Magris' Dissertation - also seit nun mehr als zwanzig Jahren - haben zahlreiche Einzelheiten korrigiert werden können, und die Lücken in seinem Konzept des ,habsburgischen Mythos' wurden sichtbar gemacht; eine Erwiderung, die auf das Ganze ginge, steht jedoch aus. Für eine solche wäre wieder auch der Mut zur Synthese erforderlich; ob eine solche zu leisten oder 16 E. Fischer, Literatur 17 Ebd., S. 187.

und Ideologie (Anm. 12), S. 237.

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überhaupt in Angriff zu nehmen ist, ehe die sozialgeschichtlichen Grundlagen bis in die letzte Einzelheit ausgeleuchtet sind, sei hier dahingestellt. Die bedenkensweiten Vorschläge, die etwa Klaus R. Scherpe am Beispiel der Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg gemacht hat, wären auch für die Zwischenkriegszeit fruchtbar zu machen. Der sehr abstrakt formulierte Grundsatz, der dem Werk in der Literaturgeschichte seinen Ort anweisen will, ist zu beherzigen, auch wenn die Umsetzung in die konkrete Arbeit schwer fallen dürfte: Denn da wäre das Werk nicht mehr die einzigartige Appellationsinstanz des Literaturhistorikers in seiner semantischen und sozialen Dignität, sondern ein einzigartiges Referendum für die ideologischen Widersprüche, die in ihm - in ein imaginäres Produkt transformiert - zur Geltung kommen. Auf der Ebene von Sprache und Stil müßte eine literarhistorische Kontextanalyse die Sinnkomplexe kenntlich machen und differenzieren, die einerseits mit den übrigen praktischen Diskursen der Gesellschaft verzahnt sind und andererseits die spezifisch fiktionalen und darin ideologischen Effekte des literarischen Textes als imaginäre Lösungen hervorbringen.18 Auch wenn sich Scherpe und mit ihm jeder mit der Praxis der Literaturgeschichtsschreibung Vertraute der ,,utopische[n] Züge ... im Hinblick auf die literarische Darstellbarkeit" bewußt ist, kommt man mit diesem Ansatz doch über den ,,literaturgeschichtliche[n] Pragmatismus" um ein gutes Stück hinaus. 19 Fraglich ist, ob sich die dann für den konkreten Fall Literatur von 1945 bis 1948 (in dem Bereich der heutigen Bundesrepublik und DDR) ausfindig gemachten Elemente nach einem Analogieverfahren auf eine andere Periode, etwa auf Osterreich nach 1918, übertragen lassen. Befragt wird von Scherpe „die Konstitution von Literatur in der unmittelbaren Nachkriegszeit", wobei er von dem Bewußtsein der Autoren ausgeht und ihre metaphorische Rede in eine „metonymische Struktur" zu übertragen versucht und Formulierun-

18 Klaus R. Scherpe: „ B e z i e h u n g " und nicht „Ableitung".

Literaturgeschichte

im sozialen Zusammenhang

Methodische

Überlegungen

zu einer

(am Beispiel der Nachkriegsliteratur).

In:

T h o m a s Cramer (Hg.): Literatur und Sprache im historischen Prozeß. Vorträge des Deutschen Germanistentages. Aachen 1982. Bd. 1: Literatur. Tübingen 1983, S. 77-91; hier S. 83. 19

Ebd.

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gen wie „Niemandsland", „Vakuum" und „Quarantäne" als Codeworte für „einen Mangel an verbindlicher Wertorientierung [...] und sozialer Identität [...], den Verlust der autoritären Vaterschaft des faschistischen Staates" ansieht. 20 Ein solches Verfahren könnte freilich auch in bezug auf die Generation der Autoren nach 1918 angewendet werden (etwa auf Werfeis Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig). Zugleich verweist Scherpe auf die Währungsreform von 1948 und ihre Auswirkungen, die „kapitalistische Modernisierung des Gesellschaftssystems", die der „,Zwischenzeit' in jedem Falle die Grenze" setze. 21 Ahnlich wäre - in der Literaturwissenschaft noch kaum mit der nötigen Konsequenz unternommen - die Rolle der Inflation von 1921 bis 1924 zu befragen. Mit dem „Wertbegriff" wären viele Texte in ihrer sozialhistorischen Relevanz auszuleuchten. 22 Ins Endlose zu verlängern ist die Liste solcher „Strukturelemente", die nach Scherpe „derart historisch zu analysieren" wären, „daß Stabilisierung und Dynamik des literarhistorischen Prozesses aus der Umschichtung, Verschiebung und Verdichtung der an der Konstitution von Literatur partizipierenden Strukturelemente evident würden". 2 3 Diese Elemente dürfen jedoch nicht wahllos aus dem Arsenal der Begriffsgeschichte herausgegriffen werden, sondern ihre jeweilige Relevanz wäre im besonderen von der Sozialgeschichte namhaft zu machen, worauf die Literaturwissenschaft diese, ihrer Kompetenz entsprechend, in der Transformierung im Text herausarbeiten müßte. So entstünde daraus nicht ein beliebiges Konglomerat von Themen, sondern eine stringente Kohärenz mit der gesellschaftlichen Realität erwiese sich als herstellbar. Ausschlaggebend für die Auswahl der Elemente wäre eben die von Fischer angesprochene Fragmentierung, wobei etwa mit solchen polaren Paaren wie Aufstieg und Deklassierung, Stadt und Land, Bildung und Unbildung quer durch verschiedene Textsorten jene Opposition freigelegt werden könnte, innerhalb derer sich das immense Spannungsfeld dieser Literatur bewegt. Es ergeben sich neue Perspektiven auf die Funktion von Beruf und Familie durch die Umwälzung von 1918, von der die Literatur gleichgültig, ob sie konservativ oder reaktionär, zeitkritisch oder nicht ist -

20 Ebd., S. 85. 21

Ebd., S. 86.

22 Vgl. etwa Friedrich Achberger: Die Inflation und die zeitgenössische Literatur. drnoska (Hg.): Aufbruch

und Untergang.

Österreichische

Wien 1981, S. 29-42. 23 Klaus R. Scherpe, „Beziehung"

und nicht „Ableitung"

In: Franz Ka-

Kultur zwischen 1918 und 1938.

(Anm. 18), S. 87.

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nicht unberührt blieb. Zugleich mit diesen Perspektiven zeigen sich die Präferenzen für verschiedene literarische Formen, deren Tragfähigkeit anhand solcher Komplexe unterschiedlich ist und die in der neuen historischen Situation neuen Belastungsproben ausgesetzt sind. So etwa lassen sich aus der Sozialgeschichte sehr unmittelbar Gründe für die Bevorzugung des Heimat- und Bergromans ermitteln, mit Brochs Verzauberung als Endpunkt, einem Roman, dessen prekäre Qualität sich in der ambivalenten Rezeption spiegelt. Auf diese Weise wäre auch eine qualitative Abstufung möglich, die sich nicht nach dem vordergründigen Kriterium der Aktualität der Texte bemißt und ihnen, wie es heute noch der Brauch ist, mit gehöriger Verspätung Rückständigkeit vorwirft. Ein solches Verfahren ermöglicht es - die strenge Chronologie sehr wohl beachtend - , von dem „Prinzip der narrativen Chronik" abzurücken oder es zumindest zu „partialisieren". 2 4 Dabei genügt es nicht, sich mit den durch den Kanon quasi sanktionierten Texten, deren Qualität sich im Rezeptionsprozeß nachhaltig zu erhärten vermochte, zu begnügen, sondern es ist - als oft wenig erfreulicher Umweg - die Route über die sogenannte Trivialliteratur zu nehmen, wodurch die kanonisch akzeptierte Literatur überhaupt erst ihr Relief bekommt. Die künstlerischen Leistungen, die dabei kenntlich werden, brauchen nicht mehr über solche Marken wie „Epochenbilanz" ausgezeichnet werden; sie werden vielmehr dadurch sichtbar, daß die bewegenden Probleme in der Form aufgegangen sind - markante Beispiele dafür sind etwa die virtuose Herstellung der Komödie in Hofmannsthals Der Unbestechliche als Parabel von der Revolution oder Schnitzlers Fräulein Else als Geschichte aus der Inflationszeit, ohne daß die Inflation explizit angesprochen würde. So abstrakt diese Schemata auch scheinen mögen, sie haben den Vorteil, daß dahinter auch die konkrete Autorpersönlichkeit nicht zu verschwinden braucht, sondern ihr Weg - und dieser ist bei den meisten Schriftstellern in der Zwischenkriegszeit ein höchst gewundener - durch die gesellschaftsgeschichtlichen Daten exakter beschreibbar wird. Aus dieser Sicht erscheint denn auch das so unterschiedliche Œuvre eines Franz Werfel in der Zeit vom Kriegsende bis zur Emigration nicht als Produkt charakterloser Versatilität

24 Ebd., S. 84.

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oder erstaunlicher Mimikry, sondern umrahmt von den Momenten, die die Bedingungen der Rezeption und Produktion bestimmten. Die Erstellung dieser Beziehungselemente, die für die Konstitution von Literatur in dieser Epoche zentral waren und es nun für die Literaturgeschichte werden sollen, scheint vordringliche Aufgabe einer Kooperation von Gesellschafts- und Literaturwissenschaft. Nur in einer solchen Kooperation wird auch die Gefahr der Willkür behoben, mit der sonst die Perspektiven für eine Literaturgeschichte erstellt werden. Zugleich erledigt sich bei einer so konzipierten Literaturgeschichte die leidige Frage nach der „Besonderheit", nach dem „Osterreichischen" von selbst, da die Texte fest eingebettet sind in den Kontext der Ersten Republik bzw. des Ständestaates. Aus der Auflösung dieses vielerorts zementierten, unreflektierten Abhängigkeitsverhältnisses Österreichs von Deutschland werden Energien frei für eine neu zu fundierende kontrastive Betrachtung, die die Gestaltung sozialgeschichtlicher Phänomene in der Literatur nicht qualitativ aneinander mißt, sondern konsequent aus den Grundlagen entwickelt. Nur so lassen sich die zahlreichen Interferenzen zwischen Berlin und Wien, zwischen dem Deutschen Reich und Osterreich auf dem Feld der Literatur umschreiben, und es ergibt sich gerade aus dieser durch die Sozialgeschichte gewonnenen spezifischen Darstellung der österreichischen Literatur die Notwendigkeit, stets die Entwicklung der deutschen Literatur im Auge zu behalten. Einerseits erweist sich die unterschiedliche Relevanz von Perspektiven auf die Literatur, d. h. manches, was für Österreichs Literatur konstitutiv wurde, WEIT es für die Deutschlands überhaupt nicht, andererseits wird bei Identität der Themen die Unterschiedlichkeit überhaupt erst greifbar. Zu denken wäre etwa an die Aufarbeitung des Kriegstraumas, seien es in der Weimarer Republik hie Ernst Jünger und da Erich Maria Remarque, in Österreich hie Joseph Roth und Franz Werfel, da Bruno Brehm und Mirko Jelusich. Die österreichische Literatur soll nicht zurückgeführt werden in eine alles überwölbende einheitliche deutsche Literatur, doch das, was - für viele Österreicher ein Ärgernis - die österreichische Literatur zum Dasein als Appendix der deutschen verurteilte, läßt sich positiv als Glücksfall fassen, der zu einer methodisch scharfen Unterscheidung in der historischen Betrachtung zwingt. Die minimale Distanz zwingt zu einer sorgfaltigen Herausarbeitung von unterscheidenden Kriterien, für die die Sozialgeschichte gut sein könnte. So enden diese Ausführungen, die die Notwendigkeit einer eigens für Österreich zugeschnittenen Sozialgeschichte der Literatur im Rahmen große-

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rer Unternehmungen begründen wollen, in einem Ergebnis, das paradox zu deren Ziel steht und zugespitzt so zu formulieren wäre: Je besser die österreichische Literatur in ihrer Besonderheit erfaßt wird, um so weniger läßt sie sich von der deutschen trennen. Zu prüfen wäre, ob nicht auch die Umkehr des Satzes gilt.

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Wien 1918: Glanzloses Finale Was geschah mit jenem Wien, dessen Untergang edle prophezeit hatten, als es damit im November 1918 ernst zu werden schien? Wie reagierten jene Autoren, die lange vorher schon in dieser „Versuchsstation des Weltuntergangs" (Karl Kraus)1 ihren Tod als Toren, als Ästheten gestorben waren? Wie sah die Wirklichkeit aus, der sich die Literatur nach 1918 konfrontiert sah? Schon längst galt Wien als eine Stadt, in der die Toten lebendig und die Lebenden tot schienen. Wie verhielt sich Wien, wie verhielt sich vor allem die Intelligentsia, als das, was lange vorhergesagt war, Wirklichkeit wurde? Als der Tod mit dem Leben Ernst machte und die einst „fröhliche Apokalypse" (Hermann Broch) ihr Epitheton verlor? 2 Zur Einstimmung ein Gedicht von Albert Ehrenstein, dessen mitunter befremdliche sprachliche Gestaltung sehr deutlich jene Orientierungslosigkeit markiert, die damals viele Autoren auszeichnete: WIEN Wien weint hin im Ruin. Wien, du alte, kalte Hure, Ich kauerte an deines Grabes Mauer, Da du noch locktest Ein mürbes Goderl dieser Welt. Du hurtest hurtig mit Hurradämonen, Kriegsüber siegerischen Drohnen; Nun hungernd unkst du unter deiner Laster Last: Du hast ein Reich verpraßt, 1

Karl Kraus: Die Fackel Nr. 400 (10. Juli 1914), S. 2. Vgl. dazu Ulrich Weinzierl (Hg.): Ver-

suchsstation

des Weltuntergangs.

Erzählte

Geschichte Österreichs

1918-1938. Wien, Mün-

chen 1983, S. 13. 2

Hermann Broch: Hofinannsthal

und seine Zeit. In: H. B.: Kommentierte

von Paul Michael Lützeler. Bd. 9/1. Frankfurt/M. 1975, S. 145.

Werkausgabe, hrsg.

Wien 1918: Glanzloses Finale

Das nie den Armen nährte, Der nie sich gegen der Gewalt Galgen empörte! Stumpf stiehlt er Holz vom Friedhof, Zu heizen mit den Grabkreuzen. Wien - nieder brennt dein Feuer. Dein Tag verkohlt. Menschen zu Asche sinkt von Höhen weiland der Wald. Edler ist das ärmste Tier. Aufqualme roter Feuertag der Städtezerstörer! Ich rufe Wehe über die Stadt, Ich rufe Wehe über das Wesen, Das u m Asche und Papier Den Wald vergessen hat! Ich sehe letztes Laub vom kahlen Berge sinken, Ich seh den letzten Baum des Wiener Waldes fallen, Sein blutendes Holz in Glutnacht ertrinken Es wärmt euch nicht: Des Hauses Wände fallen In den Vorüberstrom! Ewig deine Wogen, o Donau, Ewig der Schimmer der Alpen, Sie überwintern gut Jenseits eures Abends und Morgens; Der Mensch fällt in dein Wasser, Notstrom, Der Stein erschlägt ihn des Berges Für den ermordeten Wald! Die Städte m u ß man zerstören, Ihre Häuser sind Sorgen aus Papier, Menschenfleisch fressen ihre Bewohner, Selbstsucht aus ihren Rachen riecht wie ein verwesendes Tier. Nirgends ist der Sterne Berghimmel so fern wie hier. Im Sumpf des Wuchers: Handels Ahnet ihr nicht das Heilige: Land! Brechet auf! Wollt ihr

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In den faden Eheebenen der graden Straßen Zugrundestehn ?! Ich bitte euch, zerstöret die Stadt, Ich bitte euch, zerstöret die Städte: Ich bitte euch, zerstört die Maschinen. Zerreißet alle Wahnschienen! Entheiligt ist euer Ort, Euer Wissen ist nördliche Wüste, Darin die Sonne verdorrt. Ich beschwöre Ich beschwöre Ich beschwöre Ich beschwöre

euch, euch, euch, euch,

zerstampfet die Stadt, zertrümmert die Städte, zerstört die Maschine: zerstöret den Staat! 3

Die überspannte Rhetorik, die sprachspielerische Note, die vorwegnimmt, was später für die Literatur aus Wien so kennzeichnend wurde, das seltsame Ineinander von apokalyptischem Pathos, mit d e m die Hure Babylon beschworen wird, und die freiwillig-unfreiwillige Komik sollten nicht Anlaß dafür sein, das zu übersehen, was in diesem Gedicht Ein inhaltskräftiger Aussage und zeittypischer Topik gespeichert ist: das Adieu d e m H e d o n i s m u s („Ein mürbes Goderl dieser Welt./Du hurtest hurtig mit Hurradämonen"), die Antithese Stadt-Land, die für die Alpenrepublik in jeder Hinsicht belastend, ja lebensgefährlich wurde (und heute wieder seltsame Aktualität erlangt), die Wirtschaftskrise nach 1918, das Aufkommen des Schwarzhandels, die Inflation, die Hungersnot - und bei alledem scheint Wien der Ort zu sein, von d e m aus allein die Diagnose über dieses „Barbaropa", wie Ehrenstein ein andrer Stelle das Abendland nannte 4 , zu sprechen wäre: Wien hält alle Symptome für die Zeit- und Weltkrankheit bereit. Karl Kraus' M o n s t e r d r a m a Die letzten Tage der Menschheit, das zum großen Teil noch während des Krieges geschrieben wurde und 1919 zum ersten Mal erschien, hat in seinem heimlichen Zentrum ebenso Wien, dessen Untergang - wie der Schlußakt Die letzte Nacht es nahelegt - identisch wäre mit einer kosmischen Katastrophe. Wien als Nabel der Welt, von d e m aus die 3 4

Albert Ehrenstein: Gedichte. Wien 1920, S. 206-208. Ebd., S. 198f.

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literarische Omphaloskopie der kosmischen Befindlichkeit zu betreiben wäre. „Zerstört ist Gottes Ebenbild!" heißt es da emphatisch am Ende des Dramas. 3 Der zerstörte Wiener, der sonst bekanntlich nicht untergeht, als der zerstörte Mensch schlechthin. Doch vermitteln die beiden Texte - Ehrensteins Gedicht und Kraus' Die letzten Tage der Menschheit - nicht das Bild, das in der Literatur üblicherweise tradiert wird. Das Gegenteil scheint der Fall zu sein: Der Untergang der Habsburgermonarchie, die stürmischen Ereignisse des November 1918, die daraus sich ergebenden Konsequenzen, die Situation Wiens als Wasserkopf des geschrumpften Staatskörpers - all das ist kein Thema. Es scheint, als wollten die Autoren die Veränderung nicht wahrhaben. Einer von ihnen, Arthur Schnitzler, sei hier in Stellvertretung vieler zitiert. In einem Brief an Jakob Wassermann schreibt er im Jahr 1924: Eine gewisse soziale Umschichtung - bei uns in Österreich in höchst bescheidenem Maße - hat sich vielleicht vollzogen; aber wo ist in Wirklichkeit ein Zusammenbruch, wo andererseits eine Einkehr, wo die geringste Wandlung im ideellen Sinn zu bemerken? [...] Vor allem aber halte ich die Eigenschaften und Charaktereigentümlichkeiten meiner Figuren und die verschiedenen Begebnisse, [...] keineswegs für eine bestimmte Epoche oder für eine bestimmte, sagen wir, bürgerliche Gesellschaftsschicht in kompromittierendem Sinne charakteristisch [...].6 Die Daten der Sozialgeschichte sprechen allerdings eine andere Sprache: die Inflation, den Identitätsverlust einer so wichtigen Gesellschaftsschicht wie des Militärs, die Änderung der sozialen Rechte der Frau in der Gesellschaft, die Abschaffung des Adels - all dies scheint Schnitzler nicht registrieren zu wollen. Er setzt psychische Konstanten gegen die gesellschaftliche Veränderung und produziert Werke, die in einer intakten, durch nichts bedrohten Monarchie spielen. Ähnliches läßt sich in bezug auf Hugo von Hofmannsthal behaupten, der im Schwierigen ja seine Gesellschaftsschicht hermetisch gegen anstehende Veränderungen abzusichern scheint. Das Urteil über diese Literatur ist bekannt. Claudio Magris hat dieses Verhaftet-Sein an eine Welt von gestern, die Bindung an die Vergangenheit als 5 6

Karl Kraus: Die letzten Tage der Menschheit. München 1937, S. 770. Zitiert nach Reinhard Urbach: Schnitzler-Kommentar zu den erzählenden und dramatischen Werken. München 1974, S. 46.

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den ,habsburgischen Mythos' in der österreichischen Literatur bezeichnet. Dieser habsburgische Mythos, so Magris, tritt nun nach dem Wegfall seiner realen Existenzgrundlage in seine kritische Phase. 7 Die These von Magris wurde von C. E. Williams in seinem Buch The Bröken Eagle. The Politics of Austrian Literaturefrom Empire to Anschluss radikalisiert; darin wird der österreichischen Literatur insgesamt Verweigerung der Politik nachgesagt, ja sie wird für unfähig erachtet, politische Vorgänge und Probleme thematisch zu machen. 8 Ist dieses Urteil von Magris, ist diese Verurteilung von Williams zutreffend? Wird hier nicht voreilig von einigen wenigen Texten auf die Literaturproduktion insgesamt geschlossen und zugleich, u m alles schön einem System einzugliedern, jedes Symptom Opfer dieses Systemzwanges? Ich will eine Revision der Verdikte versuchen, zugleich aber auch aufzeigen, daß Wien nun zum ersten Mal als Großstadt zum Problem wird. Die Literatur dieses Zeitraums darf nicht abgelöst werden von dem Phänomen Großstadt, deren fatale Immobilität einerseits die ökonomische Katastrophe bedingt und den Existenzfundus aller zerstört, die andererseits just zum Gegenpol dieser Immobilität wird, indem sich Wien als Ort der Veränderung schlechthin präsentiert. Was sich 1918 in Österreich an Veränderung ereignet hat, hat sich im wesentlichen in Wien zugetragen, von dorther scheinen alle Veränderungen diktiert, die den Raum des kleinen Österreich betreffen. Die Revision versucht nun, mithilfe eines Blicks in die Tageszeitungen die Atmosphäre des November 1918 zu rekonstruieren, um eine Folie herzustellen, vor der die literarischen Texte zu lesen sind. In der Folge sei eine Analyse jener Texte versucht, die unmittelbar auf den Untergang der Monarchie reagierten und die von der Forschung bis jetzt in ihrem Aussagewert meist vernachlässigt wurden: Schlager, Lyrik, Feuilleton und Großstadtroman, der ,Wiener Roman', der damals Hochkonjunktur hatte. Im letzten Abschnitt möchte ich eine kurze Interpretation von Hofmannsthals Lustspiel Der Unbestechliche wagen, eines Werks, dem edle Signale des ,habsburgischen Mythos' zugeschrieben werden. An dem ist zu erweisen, wie die Urbanität eines Hofmannsthal eben auf die Ereignisse von 1918 reagierte, wobei nicht zuletzt die Negation der Stadt darin aufschlußreich zu sein scheint. 7 8

Claudio Magris: Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur. Salzburg 1966, S. 46. Cedric E. Williams: The Broken Eagle. The Politics qf Austrian Literature from Empire to Anschluss. London 1974, passim.

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Blättern wir zunächst in einer Tageszeitung, in einem Blatt, das für die Identität des Wiener Bürgertums am kennzeichnendsten ist, in der Neuen Freien Presse, dem bekanntesten Presseorgan der Kaiserstadt. Es sind die Tage des ,Noch Nicht' und des ,Nicht Mehr': Am 1. November findet - nach der verheerenden Grippeepidemie - die Wiedereröffnung der Lichtspieltheater statt. Am 14. November kann man - nach der Ausrufung der Republik am 12. November - im Ferdinandkino in der Taborstraße bereits die „welthistorischen Szenen vor dem Parlament" bestaunen, die Ausrufung der Republik, ein Ereignis, bei dem zwei Tote (ein Erwachsener und ein Knabe) zu beklagen waren und 53 Menschen verletzt wurden. Das Ereignis wird optisch nachvollziehbar. Doch die Geschichte kapituliert vor dem Kinoalltag: Für den nächsten Tag verspricht das Kino bereits Mr. Wu, das chinesische Sensationsdrama - man hat den Eindruck, als ob alles so weiterginge wie zuvor, als ob nichts passiert wäre. Doch über den Alltag geben die Annoncen Aufschluß: „Petroleumnot ist abgeholfen. Benützen Sie die Azetylen-Kerzenlampe - Brennstoff für 2 Monate 39 Krz." Oder: „Kapitalist mit 6 Millionen Kronen gesucht." Oder: „Marineoffizier mit besten Kenntnissen in Motoren, Maschinen und Flugwesen, tatkräftig, organisatorisches Talent, versiert im Verkehr mit Behörden, repräsentationsfähig, praktisch sehr verwendbar, administrationsgebildet und sprachkundig, event. Vertretung." Am 11. November wird ein Alkoholverbot erlassen. Im Feuilleton räsoniert man darüber, was mit der Oper geschehen soll, nachdem sie nun keine Hofoper mehr ist. Etwas später fragt ein besorgter Leser, was es mit dem Hofburgtheater nun auf sich haben werde, da es ja keinen Hof mehr gäbe. Am 12. November kann man eine Parte für Kurt Wittgenstein, den Bruder des Philosophen, finden, der im Felde gefallen sein soll. Tatsächlich hat er seinem Leben selbst ein Ende gesetzt. Von Literatur ist in diesen Tagen wenig die Rede. Erschienen ist just in dieser Krisenzeit ein Buch, das Antwort auf anstehende Fragen in einem eindeutigen Sinne zu geben vermochte: Thomas Manns Betrachtungen eines Unpolitischen, und zwar die berüchtigte erste Fassung, in der der Autor gegen die französische und russische Kultur entschieden Stellung bezogen hatte. Auch die Demokratisierung Deutschlands war eines der Hauptziele der Attacken Thomas Manns - zu diesem Zeitpunkt. Bedauert wird in diesen Tagen auch der Tod des Sozialistenführers Viktor Adler, der am 11. November verstorben war. Isolde Kurz, ebenfalls eine Autorin, die der Neuen Freien Presse genehm sein mußte, berichtet von den Schreckenstagen in München. Diese Tage des ,Nicht Mehr' und des ,Noch Nicht' sind für die tiefe Unsicherheit, welche in der Folge auch die Intellektuellen bestimmen wird, symptomatisch. Wenn man nun jene Texte studiert, die in den Jahren nach 1918 weit

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verbreitet waren, wird man spüren, daß darin keine Rede von jenem ,habsburgischen Mythos' sein kann, sondern vielmehr unmittelbar auf die zuvor dargestellte Situation reagiert wird. Diese Tatsache gab einem der bedeutendsten österreichischen Politiker, der auch ein Schriftsteller und Redner von Rang war, zu denken. In seinem noch heute lesenswerten Buch Die österreichische Revolution (1923) liefert Otto Bauer eine Diagnose, die selbst jetzt noch als Aufgabe der Literaturwissenschaft gestellt werden könnte. Bauer charakterisiert die Situation der Intelligenz, die nun offenkundig seiner Partei, der sie zuvor zugejubelt hatte, abtrünnig geworden war: So gering die Intelligenz an Zahl ist, so groß ist ihr Einfluß auf die Gesellschaft. Immer ist sie es vor allem, die die öffentliche Meinung formt. Die ,öffentliche Meinung' begann sich gegen die Machtstellung der Arbeiterklasse zu wenden. Breite Schichten der Intelligenz, der Beamtenschaft, der Angestelltenschaft, des Kleinbürgertums, die im Herbst 1918 von der roten Flut mitgerissen worden waren, standen im Sommer 1919 der Sozialdemokratie todfeind gegenüber. Die Herrschaft des Bürgertums in Staat und Gesellschaft wiederherzustellen, alle der Arbeiterschaft feindlichen Kräfte zu diesem Zweck wieder zu vereinigen, erschien ihnen nun als die höchste Aufgabe.9 Und an anderer Stelle kritisiert Bauer nochmals die Intelligenz: Die Intellektuellen verstanden nicht, daß die Umwälzung der Einkommensverteilung Ergebnis eines elementaren ökonomischen Prozesses war, unentrinnbare Wirkung der großen historischen Katastrophe, des Krieges, der Auflösung des alten Wirtschaftsgebietes, des Gewaltfriedens war. Sie hielten die Lohnerhöhungen, die die Folge der Geldentwertung waren, für die Ursache der Verelendung des ,Mittelstandes'. Daß da und dort die Löhne von Handarbeitern über das Einkommen akademisch Gebildeter stiegen, hielten sie für willkürliche Wirkung der neuen politischen Machtstellung der Arbeiterklasse. Daß die Waschfrau besser entlohnt werde als der Universitätsassistent, wurde zum Schlagwort der Agitation. Der Klassenneid gegen die Arbeiterschaft wurde zur stärksten Leidenschaft der untergehenden Schichten des Bürgertums. Er erfüllte die breiteren Schichten des Bürgertums mit Haß gegen die Revolution, gegen die Arbeiterklasse, gegen die Sozialdemokratie.10 9

Otto Bauer: Die österreichische Revolution.

10 Ebd., S. 208.

Wien 1923, S. 211.

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Bauer fährt an dieser Stelle fort: „Es ist nicht ohne Reiz, den Niederschlag dieser schnellen Entwicklung der Stimmungen der bürgerlichen Intelligenz in der österreichischen Literatur zu verfolgen." Bauer hebt nun Karl Kraus hervor und nennt eine Reihe weiterer Namen, die heute so gut wie vergessen sind: Felix Gräfe, Ernst Angel, Thaddäus Rittner, Rudolf Hans Bartsch, Karl Hans Strobl. Kaum einen der Genannten kennt der österreichische Leser - auch wenn er Germanist ist - heute. Doch damals wurden diese Texte viel gelesen, standen im Zentrum der Diskussion. Es ist zu beobachten, daß diese Autoren auf den Untergang der Monarchie reagierten, allerdings auf eine Weise, die versucht, das Geschehene wieder vergessen zu machen, die Ereignisse als etwas Entwürdigendes, die Stadt in ihrer Existenz Bedrohendes darzustellen. Der junge Hermann Broch verlieh dieser Stimmung in einem offenen Brief an Franz Blei im Jahre 1918 Ausdruck: Politik ist das Unabwendbare schlechthin. In ihr wird, was sich am Wesen des praktischen Politikers zeigt, auch wenn er Eisner heißt, das Allererbärmlichste in die Welt getragen. Sie ist die letzte und böseste Verflachung des Menschen. Das radikal Böse als notwendige Folge der Dogmatisierung des Sittlichen schlechthin. Kurzum die Hölle.11 Das Politische als die notwendige und böseste Verflachung des Menschen: unter diesem Aspekt scheint die Literatur in Osterreich nach 1918 angetreten zu sein, ja es scheint, als ob die Anstrengungen der Texte darauf gerichtet wären, die politische Veränderung zu tilgen, als irrelevant hinzustellen, zu ridikülisieren oder zu dämonisieren. Franz Blei bagatellisiert in seinem Memoirenband Erzählung eines Lebens (1930) jene Ereignisse, an denen er selbst aktiv teilgenommen hatte: Alles plätscherte im Glücke einer gewissermaßen amtlich erlaubten Anarchie, die der Verpflichtung zum gegenwärtigen Dasein enthob, das vier Jahre lang unerträglich gelastet hatte. [...] Die vollzogene Revolution wurde also als eine Tatsache mit Statisten vor und auf der Tribüne gefeiert. Die Freiheit, eine schmeichelnde Vorschrift, war da. [...] Das gut österreichische Revolutiönchen strich in einem so sanften Winde, daß es ihren Trägern die Mäntel ganz

11 Hermann Broch: Briefe. In: H. B.: Kommentierte Werkausgabe, hrsg. von Paul Michael Lützeler. Bd. 13/1. Frankfurt/M. 1981, S. 34.

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von selber ohne ihr Zutun und allgemein unbemerkt auf die andere Seite drehte.12 So ist die Schreibarbeit für viele - etwa auch für Franz Werfel, der kurz aktiv mit den Kommunisten mittat - Arbeit der Distanzierung. Aber es war die Reaktion von vielen heute vergessenen Autoren eine ganz andere. Es gibt auch die unmittelbare Antwort, und zwar vor allem von jenen Autoren, die die Veränderung in Wien erlebt hatten. Die Literatur der zwanziger Jahre in Osterreich ist eine Literatur der Kapitale. Die dreißiger Jahre sind wiederum, im Gegenzug dazu, von der Provinz bestimmt, eine Opposition, wie sie sich schon aus Ehrensteins Gedicht ergeben hatte. Da schrieb einer, der später zum Paradeautor der Nazis werden sollte, Karl Hans Strobl (1877-1946), einen Roman mit dem kennzeichnenden Titel Gespenster im Sumpf. Der Sumpf - das ist natürlich Wien, das ,rote' Wien. Ein utopischer Roman, eine negative Utopie. Die Handlungszeit ist etwa 1950. Wien ist eine Trümmerstätte, bewohnt von ein paar hundert Bettlern und Räubern. In den Katakomben herrscht eine Regierung mit dem bezeichnenden Namen „Die rote Hand". Diese läßt eine junge Amerikanerin, die mit einer Reisegesellschaft nach Wien gekommen war, entfuhren und fordert Lösegeld, wofür von der Regierung die Bezeichnung „Verwaltungsabgabe" vorgeschlagen wird. Alle Reisenden müssen gegen den „morbus Viennensis" (in diesem Falle nicht die Tuberkulose!) geimpft werden; ein Leiden durch und an Wien. Erdfresser leben in Wien, die ein von der Außenwelt mit Nahrungsmitteln abgeschicktes Floß erhalten, um dessen Inhalt sie sich dann balgen. Der Roman endet mit einer Katastrophe, in der nicht nur Wien, sondern auch die Welt untergeht. Die Stadt als Zentrum für das Weltverständnis, die Stadt als Weltmetapher. Man vergleiche diesen Roman mit Ehrensteins Gedicht und dem Schlager Wien, sterbende Märchenstadt von Hermann Leopoldi (Musik) und Beda (= Dr. Fritz Löhner) aus dem Jahre 1922: Und wieder geh' ich durch die engen Gassen, wo scheu geduckt die alten Häuser steh'n; die Biedermeierhöfe sind verlassen, die kleinen Fenster trüb herniederseh'n.

12 Franz Blei: Erzählung eines Lebens. Leipzig 1930, S. 473-478.

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Zwei müde Weiblein steh'n auf der Pawlatschen mit Einkaufstaschen, die so mager sind wie ihre Wangen, seufzen schwer und tratschen; beim Brunnen spielt ein bleiches Wiener Kind. Da hält ein Werkel vor dem alten Haus, ganz leise lockt ein Lied vom Johann Strauß, und wie ein Leuchten aus versunkner Welt der holde Klang das trübe Bild erhellt. Noch rauscht der Wienerwald auf sanften Hügeln, noch blüht der Wein, wo einst Beethoven schritt; noch klingt Musik auf zarten Elfenflügeln, und tausend junge Herzen singen mit. Doch nagt das Heut', wo mein fürs Morgen borge, ums goldne Kalb tanzt man im fremden Takt; die Armut reicht die Hand der Mutter Sorge, und magre Kinderfüßchen trippeln nackt. Doch keine wilde Klage stört den Gast, mit süßem Wohlbehagen hält er Rast und ahnt nicht, wieviel Gram die Schönheit birgt, wie viele Tränen sie hinunterwürgt. Refrain: Wien, Wien, Wien, sterbende Märchenstadt, die noch im Tod für alle ein freundliches Lächeln hat. Wien, Wien, Wien, einsame Königin im Bettlerkleid, schön auch im Leid bist du, mein Wien!13 Was in dem melodramatischen Schlagertext als Verlust verlorener Größe (Beethoven, Johann Strauß, Biedermeier) beklagt und als Idylle des Pawlatschenhofes beschworen wird, das wird bei Ehrenstein zum Kampf gegen die Stadt, den Hort der Unreinheit, eingesetzt. Im Schlager wird ein Motiv angesprochen, das durch den Umsturz von 1918 auf einmal Hochkonjunktur hatte: die Ökonomie. Es lohnt sich, auch die Texte der sogenannten Hochliteratur vor diesem Hintergrund einmal genauer zu le13 Zitiert nach Hans Christian Worbs: Der Schlager. Bestandsaufnahme, tation. Bremen 1963, S. 142f.

Analyse, Dokumen-

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sen, auch wenn sonst so ungeschminkt davon nicht die Rede ist. Aber hier heißt es schön deutlich: „Ums goldne Kalb tanzt man im fremden Takt." Dieser fremde Takt ist natürlich die Jazzmusik, die mit den aus Amerika auftauchenden Neureichen die autochthone Tradition ruiniert. Das kulturelle und seelische Unterfutter des Wiener Habits ist durch die fremde Musik bedroht. Die politische Umwälzung wird zu einer Umwälzung im kulturellen Bereich. Der „fremde Takt" ist nicht nur vordergründig zu verstehen, sondern grundiert metaphorisch die Stimmung jener Zeit: der Rhythmus des Lebens hat sich gewandelt, das Verhältnis der Menschen zur Zeit ist ein grundsätzlich anderes geworden. Jazz heißt der Roman eines Autors, der früher bessere Tage gesehen hatte: Felix Dörmann (1870-1928), der als erster in Österreich Baudelaire übersetzt hatte, mit seiner nervösen Lyrik viel von sich reden machen konnte und sich nun als Verfasser von Operettenlibretti durchschlug. (Von ihm stammt das Textbuch zum Walzertraum!) Jazz - das ist die Geschichte einer Wiener Baronesse, die nach dem Krieg völlig verarmt ist, in die Hände eines ungarischen Spekulanten gerät, der sie unbarmherzig erpreßt, für den sie aber als Nackttänzerin, ihren Körper feilbietend, viel Geld einbringt und den sie auch berühmt macht. Sie kann nur überleben, indem sie ihn und einen Bankmagnaten, der auch lüstern ist nach ihr, vernichtet. Dieser ungarische Spekulant ist der Hauptfeind Wiens. Er spürt, daß Wien versinken muß, damit sein Stern aufsteigen kann. 14 Wien als Opfer einer Weltverschwörung, deren Protagonisten je nach Weltanschauung der Autoren unterschiedlich benannt werden. Der Spekulant, der Schieber, die alternden Kokotten, die ausrangierten Offiziere, die schwachen Väter, vor allem aber junge Mädchen, die sich und ihren Körper verkaufen müssen - das ist das Personal jener ,Wiener Romane', das sind die Klischees, mit denen hurtig erzählte Romane schnell ihre Leser finden, das sind auch die Klischees, aus denen sich Ödön von Horväths Geschichten aus dem Wiener Wald zusammensetzen, die in diesem Werk allerdings eine ganz andere Funktion erhalten, indem sie im Lichte der Horväthschen Sprachkritik in ihrer Wirklichkeitshaltigkeit bestätigt, zugleich aber als Stereotype fragwürdig werden. Die Handlung von Horväths Stück ähnelt bis in manche Einzelheit hinein Dörmanns Jazz, auch wenn sie Horvath bezeichnenderweise in das Kleinbürgertum hinein verlegt hat. 15 14 Felix Dörmann: Jazz. Wien 1925, S. 105. 15 Vgl. Wendelin Schmidt-Dengler: Ödön von Horväths Geschichten aus dem Wiener Wald und der triviale Wiener Roman der zwanziger Jahre. In: Traugott Krischke (Hg.): Ödön von Horvath. Frankfurt/M. 1981, S. 57-66.

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Der Autor, den man als den Matador des Wiener Romans ansehen kann, war der zu seiner Zeit unerhört populäre, wenngleich umstrittene Romancier, Sexualaufklärer und Journalist Hugo Bettauer (1872-1925), von dem die Literaturgeschichte kaum Notiz genommen hat, mit Recht, wenn man die literarische Qualität der Romane berücksichtigt, mit Unrecht, wenn man die Breitenwirkung bedenkt. Bettauers Wochenschrift sorgte für Sexualaufklärung (Empfängnisverhütung, Kontaktanzeigen usw. standen zur Diskussion) und Skandale, in deren Folge Wiener Gemeinderäte einander mit Fäusten bearbeiteten. Das Schicksal Bettauers legt Zeugnis dafür ab, wie wichtig seine publizistische Tätigkeit war und wie sehr das, was gemeiniglich als ,habsburgischer Mythos' gehandelt wird, angesichts dieser Schreibe zur ,habsburgischen Legende' wird. Bettauer wurde im März 1925 in der Redaktion seiner Wochenzeitschrift von dem einundzwanzigjährigen Zahntechniker Otto Rothstock niedergeschossen und starb einige Tage später. Die Kommentare der Zeitungen sind bezeichnend. Die konservative Presse stellte Bettauer als Opfer jener Geister dar, die er gerufen hatte, während die sozialdemokratisch orientierten Blätter den klerikalen und christlichsozialen Kreisen, im besonderen dem Bundeskanzler Seipel, die Schuld zuschoben. Rudolf Olden: Daß es in Deutschland Erzberger und Rathenau waren, die der HakenkreuzFeme zum Opfer fielen, in Österreich aber Bettauer: das ist ungemein charakteristisch für die Vergangenheit beider Länder, [...] Bettauer, der als Gegner ermordet wurde, stand mit der Politik nur in losester Verbindung. Trotzdem ist das der erste politische Mord in Österreich gewesen. Den Nationalen und Klerikalen galt Bettauer lange Zeit hindurch als Haßobjekt. Alfred Rosenberg widmete schon 1925 dem Ermordeten eine Schrift, weil er in ihm eines der Häupter einer hydraartigen jüdischen Weltverschwörung erblickte; und in der Wanderausstellung Der ewige Jude (1938) wurde Bettauer (beileibe nicht Sigmund Freud!) als „der Vater der erotischen Revolution" apostrophiert. Und Josef Nadler verstieg sich im vierten Band seiner Literaturgeschichte zu dem Satz: „Es war eine sinnvolle Handlung, als Hugo Bettauer seines schmutzigen Handwerks wegen von einem jungen Mann erschossen wurde." 16

16 Für die Zitate und die Darstellung vgl. Murray G. Hall: Der Fall Bettauer. Wien 1978, im besonderen S. 108f., S. 25f.

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Wenn nun in der Literaturbetrachtung die Literatur aus Österreich als politisch irrelevant abgetan wird, so heißt dies, daß man einen großen Teil gar nicht zur Kenntnis genommen hat und obendrein die Konflikte, die die junge Republik fortwährend auf eine Zerreißprobe stellten, verharmlost. In dem Lichte dieser Ereignisse und solcher Konfrontationen verlieren die in der Operette beschworene Gemütlichkeit und die sie grundierende Nostalgie ihre Harmlosigkeit. Der Glanz der Operette, die in dieser Zeit immer noch das wichtigste Opiat des Wieners war17, wird so nicht nur als Talmi, sondern auch als gefährliches Beruhigungsmittel erkannt, das Aufklärung und Kritik verhindert, just das, was Hugo Bettauer leisten wollte. Wie problematisch aber seine Leistung war, möge sich aus den folgenden Betrachtungen erhellen. Seine Stadtromane {Der Kampf um Wien, 1924; Die freudlose Gasse, 1924 - ein Roman, der 1925 von Georg Wilhelm Pabst mit Greta Garbo u.a. verfilmt wurde) erfreuten sich großer Beliebtheit. Sie sind ohne Wien als Hintergrund nicht denkbar. Bettauer zieht, im wahrsten Sinne des Wortes, Gewinn aus der Konkursmasse des Habsburgerreiches. Kennzeichnend sein Roman Der Kampf um Wien: Ein junger Amerikaner kommt nach Wien, um die Stadt kennenzulernen, aus der seine Mutter stammt. Eine Intrige, durch die er um sein gewaltiges Vermögen gebracht werden soll, wird rechtzeitig aufgedeckt. Seine Absicht jedoch, durch sein Geld der sterbenden Stadt zu helfen, kann er noch nicht ausfuhren. Er heiratet eine junge Wienerin; in den Kampf um Wien soll er erst später eingreifen. Ein weiser alter Mann verkündet am Ende des Buches dem jungen Helden mit visionärer Emphase: Du hast dein Glück in Wien gefunden und vielleicht dadurch den letzten Wunsch deiner Mutter, die ihren Satz nicht vollenden hatte können, erfüllt. Deine Mission wird aber wohl erst beginnen. Denn der Kampf um Wien wird kommen, früher oder später. Ich sehe, wie gierige Hände von allen Seiten nach diesem Kronjuwel Mitteleuropas greifen, weil sie wissen, daß nur wer Wien hat, Herr von Mitteleuropa sein kann. Ich sehe wie Sklaven [!] und Magyaren, Monarchisten und Republikaner, beutegierige Reaktion und wilde Anarchie um Wien streiten und bluten werden. Was heute ist, ist nur Ubergang, Stille vor dem Sturm, Atempause. In diesem Frühjahr vielleicht oder in einem der kommenden Jahre wird sich das Geschick Österreichs erfüllen,

17 Vgl. dazu Martin Lichtfuss: Operette im Ausverkauf. Wien-Köln 1989.

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wird es Vasallenstaat oder Teil des großen deutschen Reiches werden müssen. Und dann mag der Augenblick kommen, wo du mit deinem Gold auf den Kampfplatz treten wirst, um die Entscheidung herbeizuführen, Wien zu helfen. Zu früh hast du eingreifen wollen, zu früh retten, wo nichts zu retten ist. Der Kampf um Wien beginnt erst!1S M a n sieht: die junge Republik erscheint im toten Winkel, sie ist ein transitorischer Zustand. Wien ist das Bleibende („Kronjuwel"). Bezeichnend für Bettauer wie auch für den politisch völlig konträr eingestellten Karl H a n s Strobl: die negative Utopie. Hugo Bettauers Buch Stadt ohne Juden verdient gesondert Erwähnung. Darin hat Bettauer satirisch den Antisemitismus der Christlichsozialen decouvrieren wollen. Was damals als Scherz gemeint war, wirkt heute peinlich. In d e m Buch beschließen die Christlichsozialen, die im Parlament die Mehrheit auf sich vereinen können, die Ausweisung der Juden. Die Folgen sind verheerend. Mit den J u d e n verschwinden auch die fähigen Kaufleute, Künstler und Liebhaber. Die Krone fällt, der Kulturbetrieb verödet, die Mädchen sind unglücklich, weil es keine attraktiven jüdischen Liebhaber m e h r gibt. Im Theater spielt m a n Ganghofer und Anzengruber, Wien verdorft; L o d e n m ä n t e l und genagelte Schuhe b e s t i m m e n die M o d e . Einem jüdischen Maler, der unerkannt in Wien bleiben konnte, gelingt es, durch einen Trick das Ausweisungsgesetz rückgängig zu machen. Die J u d e n kehren zurück. D e r Bürgermeister Karl Maria Laberl begrüßt seine geliebten J u d e n ; die Krone steigt, die Wirtschaft wird bald wieder saniert sein. Was Bettauer satirisch und witzelnd darstellt, sollte sechzehn Jahre später Wirklichkeit werden. Doch nicht nur aus unserer heutigen Sicht ist diese Satire bedenklich: nährte sie doch gerade das Vorurteil, das allenthalben gegen die Juden vorgebracht wurde, daß sie nämlich Kunst, Wirtschaft und Liebesleben monopolisiert hätten, daß Wien „verjudet" wäre. Z u m andern ist aber in d e m Buch vorgezeichnet, was sich a m Horizont ankündigte: der Verlust des Urbanen Charakters, die Verdorfung, die Provinzialisierung. Wien galt von außen als das rote und korrupte Wien, von d e m die Provinz im Stich gelassen worden wäre. So formulierte der Kärntner Autor Josef Friedrich Perkonig:

18 Hugo Bettauer: Der Kampf um Wien. Ein Roman vom Tage (Neuausgabe). Wien 1980, S. 494f.

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Es war einmal eine Mutter, die hatte schöne Kinder, aber sie liebte sie nicht sehr. Immer auf den eigenen Prunk bedacht, immer ein wenig verliebt in sich und auf sich besonnen, weil ihr Leben so vielfach und vielfaltig erfüllt war, sah sie nicht neben sich aufwachsen, was neben ihr entstanden war. Sie nährte und gab, aber wie eine schöne Mutter nun schon manchmal sein kann: weil sie nicht wollte, daß die Kinder neben ihr schöner oder auch nur gleich schön sein sollten [...] verleugnete sie ihr eigen Blut, ja verkürzte es nicht selten in seinen Rechten.19 Wien war nun Bundesland geworden und sollte nicht mehr sein wollen als eines der anderen acht Bundesländer. Abermals Perkonig: „Wien, aber auch das andere, das mit den Dingen der Schönheit und Gegenstofflichkeit befaßte, muß wissen, daß es zu dienen hat." 2 0 Aus dieser Aversion gegen Wien wird in der Folge einer der tragfähigsten Topoi antiurbaner Polemik abgeleitet: die verrottete Kapitale gegen das reine Land. Sumpf versus Berg. In dieser Literatur fand eine auf Ausgleich der Gegensätze bedachte Haltung keine Stütze, keine Orientierungshilfe. Ein anderes Beispiel, und zwar ein Gegenbeispiel zu Bettauer. Der Roman des deutschnational, aber austrophil eingestellten Karl Paumgartten Repablick ist ein Dokument für das gereizte Klima dieser Epoche. Paumgartten war Hauptautor einer von Karl Kraus verachteten, in ihrem Symptomcharakter aber richtig erkannten humoristisch-satirischen Wochenschrift, der Muskete, des Blattes für den (noch) lesenden Offizier. 21 ,Repablick' soll die dialektale Zerrform für ,Republik' sein. Paumgartten will eine deutsche Republik, aber keine von proletarischen und jüdischen Elementen geformte „Repablick". In diesem Buch wird der gestörte Wirklichkeitsbezug der Autoren dieser Epoche in der Übertreibung am deutlichsten. Die Entstehung der Republik, deren Ausrufung, wird als Akt tiefster Erniedrigung angesehen. Die Bevölkerung, die diesen Akt feiert, erscheint als gemein und töricht:

19 Josef Friedrich Perkonig: Leben, Werk, Vermächtnis (Werkausgabe 1. Bd.). Klagenfurt 1965, S. 230. D e r Text stammt aus d e m Jahr 1924. 20 Ebd., S. 251. 21 Vgl. dazu: Die Muskete. Kultur- und Sozialgeschichte

im Spiegel einer

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schen Zeitschrift. Mit Beiträgen von Murray G. Hall, Franz Kadrnoska, Friedrich Komauth, Wendelin Schmidt-Dengler. Wien 1985.

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Wien, das einzige, weltberühmte, das holde Fürstenkind, das alle deutschen Jahrhunderte als lieblich und schelmisch lächelndes Märchen erquickt hat und selbst in den letzten Zeiten seiner schwersten Lebensnot und Herzensbangigkeit keinen der süßen Reize seiner Anmut und Zärtlichkeit verlor - Wien erlebte nun seinen unästhetischen Tag. Am frühen Nachmittag des zwölften November setzten sich in den äußeren Stadtteilen sonderbare Massenzüge in Bewegung. Die Sozialdemokratie hatte ihren Heerbann aufgeboten und führte unübersehbare Scharen gegen die innere Stadt, am Parlament vorbei, damit das eigentliche Wien und das echte Osterreich zu sehen bekomme, wieviele Tschechen und Hannaken, Serben und Kroaten, Polen und Magyaren, Slowaken und Slowenen, Ruthenen und Huzulen und sonstige Völker zweiter, dritter und vierter kultureller Garnitur ihr zur Verfügung stehen, wenn sie es für notwendig fände, das republikanische Deutschösterreich repräsentieren zu lassen. Um das eingeborene Element in dem Aufmarsch auch vertreten zu haben, war das autochthone Plattenbrüdertum ebenfalls mobilisiert. Der gewaltige Zug war auch wahrhaft staunenerregend. Er war vor allem eine Heerschau menschlicher Häßlichkeiten. So weit man blickte, niedrige Stirnen, brutal hervortretende Jochbeine, tief liegende Augen, mächtige, weit ausladende Unterkiefer, Arme, die bis zu den Knien herabhingen. Plattnasen aller Dimensionen reckten sich in überwältigender Anzahl gegen das Firmament - hätte es zu regnen begonnen, es wäre kein Tropfen bis zur deutschen Wiener Erde gelangt, die riesigen, mit dunklen Haarbüscheln ausgekleideten Nasenhöhlen des Proletariats hätten selbst einen Wolkenbruch aufzunehmen vermocht. Es war, als sei eine prähistorisch-anthropologische Sammlung ausgekommen. Es gibt doch bildhübsche Tschechinnen, liebreizende Polinnen, verführerische Magyarinnen - aber die vielen Tausende von Weibern, die in dem Zuge mitgingen, verdienten kaum den Namen „Geschlecht". Hierher schienen diese Völker alles gesendet zu haben, wovor ihnen selber grauste. War das vielleicht der Ausdruck des Deutschenhasses: Weg mit allem, was scheußlich ist, nach Wien! Von Zeit zu Zeit wurde die Einförmigkeit der himmelanstrebenden Nasenform durch Gruppen von mächtigen Schneuztrompeten unterbrochen, die sich durch das Aufsetzen eines Zwickers ein intelligentes Aussehen geben wollten, aber ihre Ähnlichkeit mit dem eigenartig aus zahllosen Kurven zusammengesetzten Lauf des Jordans doch nicht hinwegtäuschen konnten. Und wenn ihnen dies auch bei stark Kurzsichtigen gelungen wäre, hätten es die ungeheuren Wulstlefzen und das verfilzte schwarze Vlies auf den Schädeln doch verraten, daß sie aus dem Wetterwinkel der Menschheit im Osten des Mittelländischen Meeres stammten, wo sich vor vielen tausend Jahren einmal die Beduinen und Neger und Syrer un-

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ter Mitwirkung vorsintflutlicher Pithekoidenreste zu einer Rasse vereinigten, die nach der Ansicht einiger Fachgelehrten ganz abscheulich gewesen sein soll. Der Zug marschierte stundenlang an der Göttin der Weisheit vorbei, die Plattnasigen stumpfsinnig glotzend, dichtgedrängt wie eine riesige Schafherde und fast genau so duftend, die Kurvennasigen lebhaft, unaufhörlich mit den Händen gestikulierend, Augen und Lefzen in steter Bewegung haltend, nervös wie hungrige Schmeißfliegen, wenn sie ein Aas wittern. Das bodenständige Volk hatte sich ebenfalls in imposanter Zahl eingefunden. Es hatte sich nicht in Herden zusammenfangen und dann mit Hü und Ho treiben lassen, sondern war freiwillig gekommen, einer früher, der andere später, der eine allein, der andere mit ein paar Freunden, und nun stand es in selbstgewählten Gruppen um das Parlament bis über den ganzen Schmerlingplatz und andrerseits bis zum Burgtheater und ließ nur die Fahrbahn der Ringstraße für den Zug der Sozialdemokraten frei. Wie sich das Bürgertum einige Tage vorher auf dem Park- und Stubenring eingefunden hatte, um genau zuzusehen, wie eine Revolution ausbricht, so gab man sich heute hier ein Rendezvous, um zu erfahren, wie denn das eigendich gemacht wird, wenn ein paar Leute ein Kaisertum zur Republik erklären. Außerdem war ein Gerücht ausgestreut worden: Osterreich solle sogar eine sozialistische Republik werden. Das war natürlich so interessant, so prickelnd gruselig, daß keinen ordentlichen Wiener und auch keinen Vetter vom Land die Neugierde zu Hause geduldet hätte. Im Grunde genommen war es auch ganz begreiflich, daß die echten Wiener und Deutschösterreicher, wenn schon nicht mitreden, so doch wenigstens mit dabei sein wollten, wenn über ihr künftiges Schicksal als freie Bürger eines freien Staates entschieden wurde. Ihre Gegenwart entbehrte auch jeder Gefährlichkeit, und die Veranstalter der großen Volksbelustigung wußten ganz genau, daß die echten Eingeborenen Deutschösterreichs zwar „Hoch!" und „Heil!" und „Hurra!" schreien, sobald dies kommandiert wird, daß sie aber viel zu mimosenhaft veranlagt sind, um in Gegenwart eines größeren Aufgebotes exotischer Pratzen etwas anderes hören zu lassen als man von ihnen verlangt. Namentlich der Wiener ist so zartfühlend gegen jeden Gast, vor allem gegen den Ungebetenen, daß er sofort sein Selbstbestimmungsrecht aufgibt und jede Äußerung seiner eigenen Gedanken unterläßt. Für die glatte Abwicklung des Programmes war daher von dieser Seite nichts zu befürchten. 22

22 Karl Paumgartten: Repablick. Eine galgenfröhliche Wiener Legende aus der Zeit der gelben Pest und des roten Todes. Graz, Leipzig 1924. S. 111-114.

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Es wäre nicht sinnvoll, auf solche Texte heute überhaupt einzugehen, gäbe es nicht zahlreiche Indizien dafür, daß sie als Zeugen einer massenhaft verbreiteten Gesinnung angesehen werden müssen und daß sie selbst eine solche Gesinnung beförderten. In der Muskete wurde unmittelbar nach 1918 eine haßerfüllte Bolschewikenhetze betrieben. Doch nicht nur dies: dort ist festgeschrieben, wie das bürgerliche Bewußtsein auf die Veränderung reagierte. Unterschiedliche Textsorten (Gedicht, Dramolett, Erzählung, Witz und vor allem Bildunterschriften unter den Karikaturen) dienen nur einem Ziel: die neue Republik zu diffamieren. Das bedeutet aber nicht, wie es der Formel vom ,habsburgischen Mythos' entspräche, ein Lob der Vergangenheit, sondern auch eine Verurteilung des Kaiserhauses, weil es die (großdeutschen) Wünsche nicht erhört habe. Die Diffamierung der Gegenwart wird durch eine Diffamierung der Vergangenheit ergänzt. In diesen Texten wird jene Hölle angeheizt, welche die Österreicher nach 1918 bewohnen mußten. Daß von den Sozialdemokraten der Traditionsbruch gefordert wurde, ist einsehbar. Welche Bedeutung indes gerade auch da dem Hause Habsburg zuerkannt wurde, geht aus einer Rede Otto Bauers hervor, die 1921 gehalten wurde. Sie hat den Titel Schulreform und Klassenkampf darin fordert Bauer die Nationalisierung des Geschichtsunterrichtes: Wenn die republikanische Schule unsere Jugend die Geschichte unseres Volkes [...] sehen lehrt, so bedeutet das zunächst eine Nationalisierung des Geschichtsunterrichtes; denn in dieser Weise wird die Geschichte Deutschösterreichs dargestellt als ein Stück der deutschen Geschichte, die Trennung Deutschösterreichs vom übrigen Deutschland erscheint nur noch als eine Episode, [...] die bloß das Resultat einer ganz besümmten europäischen Konstellation gewesen ist, und ihren Sinn verloren hat, wenn diese Konstellation nicht mehr besteht.25 Und er fordert die Beseitigung der „Habsburger-Legende". In einem Feuilleton schreibt der Arzt und Journalist Fritz Wittels einen Nachruf auf Habsburg. Darin apostrophiert er die Habsburger als die Erzieher Österreichs. Die Sepherl vom Naschmarkt stamme von Maria Theresia. Frauen dieses Typs, so Wittels, „füllen die Kirchen, und eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr,

23 Otto Bauer: Schulreform und Klassenkampf. Wien 1921, S. 8f.

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als daß irgendeine schwungvolle Idee in diesen dumpfen Guglhupfgehirnen Anklang fände". Kaiser Josef II. kommt als Vater des „liberalen Beamtentums" noch am besten weg, aber auch er sei an der typisch österreichischen Resignation gescheitert. Kaiser Franz sei der Vater des „ewig nörgelnden, übel gelaunten Rindfleischwieners", und Franz Joseph mit seinem kinnfreien Backenbart das Vorbild für „Gastwirte, Schuldiener und Hausbesorger". „Die Trat ist weg, die 636 Jahre darauf gelastet." So schließt der Aufsatz, der trotz seiner fatal simplifizierenden Betrachtungsweise scharf die Ratlosigkeit demonstriert, mit der nach einem neuen Geschichts- und Traditionsverständnis gesucht wurde. 24 Noch ein Beispiel: Béla Balàzs, Kritiker beim linksliberalen Tag, bekannt durch seine Schrift Der sichtbare Mensch (1924), damals Flüchtling vor dem Horthy-Regime und einer der führenden Rezensenten in Wien, schrieb anläßlich der Dreharbeiten zu einem Film, der das Schicksal des letzten österreichischen Kaisers behandeln sollte : Das war kein Schauspiel mehr. Gespenster gingen um. Als der junge, unbedeutende Schauspieler, der den Kaiser Karl spielte, weil er tatsächlich diesem ähnlich sah, im Atelier erschien, da schrie ihm der Regisseur ganz vergeblich die komischsten Schimpfworte nach, er sollte nicht aus dem Bilde heraustreten, die gewesenen Offiziere weckte das nicht aus ihrem Traum. Erschüttert standen sie da mit bebenden Lippen vor ihrem „Herrscher", sie, die in ihrem bisherigen Leben vielleicht nie die Gelegenheit hatten, vor sein Angesicht zu treten. Jetzt kam der großartigste Augenblick ihres Lebens. Dieser Wahnsinn war so deutlich an allen zu sehen, daß die Regisseure und Arbeiter, die bisher über ihre Kindereien lachten, jetzt gerührt und ernst wurden. Und Baläzs zieht aus dieser Faszination auch die kulturpolitischen Konsequenzen:

24 Avicenna ( = Fritz Wittels): Abschied von Habsburg. In: Der Abend (Wien) vom 26. März 1919. Wittels spielte eine unrühmliche Rolle in der Polemik zwischen Kraus und Freud; doch schätzte Freud auch späterhin diesen Autor, dessen Roman Zacharias Pamperl oder der verschobene Halbmond (Wien 1924) sehr gut in die Reihe der hier beispielhaft angeführten Texte paßt. Zum Verhältnis Freud-Wittels vgl. besonders Herman Nunberg, Ernst Federn (Hgg.): Protokolle der Wiener psychoanalytischen Vereinigung. Band 2: 1908-1910. Frankfurt/M. 1977, S. 257.

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Es war keine Komödie, es war eine Massenpsychose. Das Kleid, das sie auf ihren Körper zogen, verhüllte ihren Geist. Diese Tracht war noch warm aus dem Grabe hervorgeholt, diese Vergangenheit ist noch zu lebendig. Wer sie nicht haben will, schaue zu, daß feste Schlösser an die Museentore geschlagen werden.25 Das Vergangene bedroht als Angstbild die Gegenwart. Doch wird für diese Gegenwart zur Korrektur der Vergangenheit kein positives Gegenbild entworfen, d. h. es fehlt auch der Geist einer positiven Utopie. Es fehlt denn auch in den hier behandelten Texten (und nicht nur in diesen) das, was Wien in diesen Jahren nach 1918 Vorbildliches in kommunalpolitischer Hinsicht (Gesundheitswesen, Volksbildung, Gemeindebau) geleistet hat oder zumindest leisten wollte. Es scheint, als lägen zwischen diesem Bereich und der literarischen Praxis tiefe Gräben; Versuche des Brückenschlags sind zaghaft. In der Literatur, im besonderen in der Erzählliteratur oder im Gedicht, wird keine neue Form gesucht, die dieser neuen und republikanischen gewachsen oder gerecht geworden wäre. Viel eher nimmt man Zuflucht zum platten Scherz, zu fataler Ironie; da dichtet in der Muskete ein nicht weiter bekannter Herr Guttmann; Demokraten heißt das Gedicht: Nach dieses Krieges Wundertaten Bemerkt man plötzlich Demokraten. Sie tauchen kühn aus der Versenkung, Nach links geht jetzt die große Schwenkung. Was schwarzgelb sich dem Tage bot, Ist nun bis auf die Wurzel rot. Der loyale, sanfte Wiener Gibt heute sich als Jakobiner. Die Berufsidentität muß gewechselt werden: Herr Hofrat, lassen sie sich raten, Und lernen Sie Maronibraten! Es werden viele Exzellenzen

25 Béla Baläzs: Gespenster in Wien. In: Der Tag (Wien) vom 22. November 1922.

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Dereinst als Weinagenten glänzen. Wer als geheimer Rat begann, Wird ein solider Werkelmann. Der Zensor, dieser Geistentleerer, Wird ein gewiegter Pudelscherer: Kurzum: die neue Ordnung schuf Für jeden Menschen den Beruf. Und dann implizit eine die Demokratie desavouierende Warnung an die Demokraten : Doch nicht in jedem Stumpfsinn waten Sei erste Pflicht der Demokraten.26 Wie wenig indes die Mittel der Literatur tauglich waren, der neuen gesellschaftlichen Wirklichkeit Herr zu werden und sie nicht nur als gespenstisches Phantom zu dämonisieren, hat, wenngleich auf ganz anderem Niveau, Karl Kraus in einem Gedicht mit dem Titel Wien - man denke an Ehrensteins Gedicht! - bewußt gemacht. In diesem Gedicht begegnet uns abermals das Personal aus den Letzten Tagen der Menschheit. Nur: nach 1918 hat es kein Umdenken gegeben; hier seien die letzten neun Strophen des vierzigstrophigen Gebildes zitiert: Welch ein Ratschluß, daß hienieden nur der Schuft gesund spaziere! Blinde gibts und Invaliden, Göttergatten, Gürteltiere. Welch ein Korso! Jene hungern, jene mühn sich und ermatten. Und um die Hoteltür lungern Gürteltiere, Göttergatten. Diese Mienen, diese Mähnen sonderbar gekerbter Wesen!

26 Die Muskete 27 (1918/19), Nr. 685, Beibl. S. III. Vgl. das in Anm. 21 zitierte Buch, S. 45.

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Schwarzgelb fleckige Hyänen, doch sie können Kurse lesen. Seht, wie sie die Luft beglotzen, eh sie den Menschen nehmen. Und sie können Phrasen kotzen, diese blutgenährten Schemen. Daß von Müttern sie geboren, nimmer möchte ich es glauben, die, nachdem die Schlacht verloren, unverzagt den Tod berauben. Nein, dem Teufel, ich will wetten, sind sie als ein Furz entsprungen oder gar aus Operetten in das Leben eingedrungen. Und noch immer nicht genug war, was für sie die Menschheit büßte, deren Opfer ein Betrug war. Und das Leben wächst zur Wüste. Wölfe sind es, groß und greulich. Wahrt das Blut, das euch geblieben! Schon hat sich ein Schakal neulich wütend hier herumgetrieben. Moderluft erfüllt die Gasse, denn es leben nur Gespenster. Um zu atmen, rat ich, lasse schleunig schließen alle Fenster!27 Die Schlußstrophe des Gedichts zeigt jene Hermetik, jenes Abschotten von der Alltagswirklichkeit („schleunig schließen alle Fenster") an, das aus dem

27 Karl Kraus: DieFackemr.

595-600 (Juli 1922), S. 127f.

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Brief von Schnitzler an Hofmannsthal kenntlich wird, einen Rückzug, den Kraus ab 1932/33 mit einer Konsequenz betrieb, die viele seiner Bewunderer irritierte. Die Krise Österreichs ist - wie schon mehrfach angedeutet - in diesen Jahren die Krise Wiens. Die österreichische Identität hatte sich mehr und mehr mit Wien identifiziert; der Abverkauf der Identitätssymbole und Insignien (z. B. die Verwandlung von Palästen in Banken, der Gobelinskandal) 28 bedeute, so meinte man, auch den Verlust der österreichischen Identität auf Raten. Noch aber umstehen die gewaltigen Bauten aus der Monarchie den Wiener Alltag, noch ist das Zeremoniell erhalten geblieben, noch ist der Kunstalltag für die Bürgerwelt gleich. Operetten und Konditoreien gibt es noch immer. Es ist klar, daß die Kulturarbeit der Sozialdemokraten von der Peripherie begann, von den Bezirken jenseits des Gürtels, und so nicht in den Lichtkegel der Aufmerksamkeit unserer Autoren rückte, die auf das Zentrum fixiert blieben. Für die meisten von ihnen wurde da aus dem locus amoenus der locus terribilis. Bezeichnend daher auch die Abkehr von Wien: Hofmannsthals Konzept für seine Festspielidee vertraute einer schönen Stadt der sogenannten Provinz, in der die Veränderung nicht so wirksam und folgenreich schien. Immer noch kreisen die Texte um das Kaiserhaus, ob in distanzierter Verehrung, ob wiederauferstanden in den Schauspielen und Operetten: es hatte Modelle der Identifikation geschaffen, ob im positiven oder negativen Sinne. Da gab es nun einmal die ,imago imperatoris'. Das österreichische Antlitz - so hieß ein Essay von Felix Saiten zum 60. Regierungsjubiläum des Kaisers Franz Josef im Jahre 1908, und dieses österreichische Antlitz war eben das Antlitz des Kaisers. Bei Karl Kraus in den Letzten Tagen der Menschheit kehrt es wieder, als häßliche Fratze, das österreichische Antlitz als das Negative schlechthin.29 Aber auf dieses Antlitz schien der Österreicher in seiner Identität festgelegt. Der einen Seite mochte das Ziel des Spottes fehlen, der anderen Seite das Ziel der Verherrlichung. Von beiden Seiten wird der Versuch, eine neue (österreichische) Identität zu gewinnen, untergraben. Auf der einen Seite stand die Tradition des Vielvölkerstaates mit seinem ideologischen Uberbau, der der neuen Zeit nicht entsprechend war, auf der anderen vor allem das Programm der Sozialdemokratie, dessen Forderungen einem 28 Karl Kraus: Die Fackel Nr. 588-594 (März 1922), S. 1F. 29 Vgl. Felix Saiten: Das österreichische Antlitz. Berlin o. J., S. 265-276 und K. Kraus, Die letz-

ten Tage der Menschheit (Anm. 5), S. 723.

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großen Teil der Bevölkerung uneinsichtig schienen und mit dem er weitgehend überfordert war. In keinem Falle konnte die Tradition so etwas wie ein Halteseil bereitstellen. „Zukunft braucht Herkunft." 50 Doch diese Herkunft war nicht mehr restituierbar, es sei denn um den Preis der Aufgabe des Gegenwartsbezuges, der Wirksamkeit auf das Publikum. Ich wähle als Gegenbeispiel zu den zuvor behandelten Schriften Hofmannsthals Stück Der Unbestechliche (1923), das ich nun - vor dem Hintergrund der zuvor skizzierten Themen und Tendenzen in der Literatur dieser Zeit - einer neuen Lesung unterziehen will. Man hat dieses Werk Hofmannsthals in der Sekundärliteratur gerne abgewertet und darin ein schwaches Gegenstück zu dem subtilen Konversationslustspiel Der Schwierige erblicken wollen, ja oft nur eine Gelegenheitsarbeit für den genialen Schauspieler Max Pallenberg. Doch wenn man das Stück in seinem politischen Kontext lesen lernt und die politische Botschaft zu entschlüsseln versucht, verliert es seine Harmlosigkeit. Was geschieht? An der Oberfläche nicht viel. Da lädt ein frivoler Adliger, Jaromir, zwei Geliebte von einst auf sein Schloß, um mit ihnen - bei währender Präsenz der von ihm immer geflissentlich als Engel titulierten Frau - auf dem Schloß ein paar Schäferstündchen zu verbringen. Ein dekadenter Don Juan, der sich auf das Gut seiner Mutter zurückgezogen hat und dichtet: läppische Schlüsselromane. Er ist eine Neuauflage jenes Helden, den Hofmannsthal in seiner Frühzeit gestaltet hat, des Ästheten Claudio aus Der Tor und der Tod, der vor sich hin gelebt hat und kein Ideal und kein Ziel hatte. Wie Claudio wird auch der ungleich banalere Jaromir mit seiner Vergangenheit konfrontiert: Da kommt einmal die Marie, ein verschüchtertes Wesen, und die frivole Melanie. Der Baron würde ans Ziel gelangen, möchte man meinen: alles ist gut vorbereitet; eine Dachrinne ist so befestigt worden, daß der Abenteurer nächtlich ins Zimmer der Melanie turnen könnte. Aber Jaromir hat die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Der Wirt, das ist in diesem Falle nicht die Mutter Jaromirs, sondern sein Diener Theodor, der das Treiben des Herrn mit Mißbilligung betrachtet, aus dessen Diensten ausgetreten und in die der Mutter wieder eingetreten ist. Theodor sorgt durch eine raffinierte Intrige dafür, daß beide Frauen rechtzeitig abreisen, ehe Jaromir seine erotische Ernte einbringen kann. Ja, dieser kehrt zu seiner Frau zurück und kündigt ihr sogar für die Nacht seinen Besuch an, während der Diener Theo-

30 Odo Marquard: Abschied vom Prinzipiellen. Stuttgart 1981, S. 16ff.

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dor sich den Lohn seiner Arbeit dadurch holt, daß er eine Nacht bei der Zofe Hermine verbringt. Also ein harmloser Schwank? Eine Komödie, durchsetzt mit erotischen Motiven, mitunter in fast bedenklicher Nähe zur Posse ohne Tiefgang? Daß dem nicht so ist, möchte ich durch einige Hinweise zu erhärten versuchen, wobei ich freilich zugebe, daß in der politischen Dimension nicht die einzige Qualität des Stückes liegt. Einen Hinweis hat uns Hofmannsthal selbst gegeben. Der Unbestechliche - der Titel stellt die Komödie natürlich in die Tradition der Moliereschen Charakterkomödie, aber auch in die der Wiener Volkskomödie. Und doch ist mit dem Unbestechlichen noch ein Wink erfolgt, der in eine ganz andre Richtung weist: „L'Incorruptible", das war der Beiname Robespierres31, und davon ausgehend läßt sich der Komödie vielleicht jener politische Sinn zusprechen, der ihr sonst gerne rundweg aberkannt wird. Freilich ist Theodor kein Robespierre, kein hartnäckiger Revolutionär, aber hat in sich die Tugenden einer langen Ahnenreihe von Dienern aufgesogen: Er ist ein Leporello, der die Streiche seines Herren bewachen soll und nicht mehr dienen will, ein Figaro, dessen Braut allerdings nicht mehr bedroht wird, er handelt also nicht aus eigenem Interesse, sondern selbstlos; er ist zuletzt auch ein treuer Diener, vor allem seiner Herrin. Das Stück beginnt denn auch mit einem Aufstand: die Diener streiken, weil Theodor streikt. Theodor will das Treiben seines Herren nicht länger ansehen müssen. Mit Mühe kann ihn die Baronin zu einem Gespräch bewegen. Da klagt er sein Leid vehement, und sie überträgt ihm die Aufsicht über das Ganze, um alles in Ordnung zu bringen. Sie wird von Theodor als die legitime Herrin anerkannt, von ihr läßt er sich einsetzen und mit einem Auftrag betrauen. Die Bedeutung des Vorgangs: Noch regiert die alte Generation, noch ist von ihr das rechtmäßige Mandat für die Selbstverwaltung zu holen. Es scheint so etwas wie eine matriarchalische Grundordnung zu herrschen, da alle Macht von der Baronin ausgeht. Theodor ist Schritt für Schritt erfolgreich. Er entlarvt das unmoralische Treiben seines Herren, ohne je direkt zu werden. Eine Intrige, die allein er lenkt - nur er und die Zuschauer wissen Bescheid. Theodor ist der diskreteste Intrigant der Literaturgeschichte. 31 Vgl. dazu Franz Norbert Mennemeier: Hugo von Hofmannsthal: Der Unbestechliche. In: Walter Hinck (Hg.): Die deutsche Komödie. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Düsseldorf 1977, S. 234.

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Das Stück beginnt mit einer Revolution; um die Herrschaft zu erhalten, muß mein sich mit dem Untergebenen verbinden, der die Situation bereinigen kann. Die Baronin weiß, daß sie ohne ihren treuen Diener machtlos ist. Dieser setzt Schritt für Schritt, aber nicht um den Adel zu entmachten, sondern um ihn zu belehren. Seine große Szene hat Theodor im vierten Aufzug, als er im Gästezimmer den Koffer der Melanie für ihre Abreise packt. Da hält er vor der Zofe seine von revolutionärem Pathos erfüllte Scheltrede wider den Adel. Er wirft die Gegenstände, die der Herrschaft gehören, durcheinander, nur um am Ende alles wieder an den Platz zu stellen, den es zuvor eingenommen hat. Er verhöhnt die Genußsucht und die Faulheit des Adels. Der Diener ist Kritiker der herrschaftlichen und der herrschenden Moral. Er hält einen Schuh der Melanie in der Hand, und das beflügelt ihn zu einer Revolutionsphilippika mit allerdings ungewöhnlichem Ausgang: Das ist oberste Vierhundert! Da! Das ist Blüte der Menschheit! Da! Da! Dafür ist Welt geschaffen, von unserem Herrgott, damit auf oberstem Spitzel er mit seinem von irgendeinem Franz geputzten Lackschuh kann fußein mit dem Ding da, was ich da in Händen halte. Da! Da! Ah du! Dein Gesicht will ich nicht mehr sehen, dein blasiertes, niederträchtiges! So stehst du da in goldenem Rahmen! So! (Er hat blitzschnell Jaromirs Photographie aus dem Rahmen gezogen, reißt sie mitten durch und schiebt sie zerrissen wieder hinein.)32 Diese Szene ist in mehrfacher Hinsicht symbolträchtig. Der Diener im Bereich, ja im Intimbereich der Herrschaft, der Diener im Schloß. Mein denke an den Sturm auf Schönbrunn, an den Sturm auf das Berliner Schloß. Der Diener, der von seinem Herrn immer nur „Franz" gerufen wurde - so seines wichtigsten Besitzes, seines Namens und damit auch seiner Identität beraubt -, fühlt sich nun als Herr. Er kritisiert den zwecklosen Aufwand, das leere Zeremoniell. Und zuletzt zerreißt er das Bild, die ,imago imperatoris', zerreißt sie und - das ist entscheidend - vernichtet sie nicht, sondern steckt das Bild wieder in den Rahmen. Er restauriert so die Herrschaft, allerdings ist ihr Bild beschädigt, für immer. Es war nur ein Moment der geduldeten Anarchie. Die Glorie des Bildes ist um der Wahrheit willen zerstört. Die Revolution hat zwar stattgefunden, aber sie hat keine Folgen gehabt. Der treue Diener hat 52 Hugo von Hofmannsthal: Der Unbestechliche. In: H. v. H.: Gesammelte Werke. Dramen IV.: Lustspiele. Frankfurt/M. 1979, S. 511.

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den Herrn auf indirekte Weise gebessert. Die Ordnung ist hergestellt, und zwar durch und durch legitim. Dieser Diener Jaromirs kommt aus Böhmen, er verkörpert somit die Erblande, eine Verneigimg Hofmannsthals vor jenen Völkern der Monarchie, die zu ihrem Bestehen so Substantielles beitrugen und doch von ahnungslosen Herrenmenschen verachtet wurden. Allerdings macht der böhmische Akzent wie auch sein outrierter Moralismus und Rigorismus Theodor ein wenig lächerlich, allerdings lange nicht so lächerlich wie den Decadent Jaromir. Das erste Wort des Textes: „Anordnung" - und zwar ist die Anordnung Theodors gemeint. „Ordnung" ist auch das letzte wichtige Wort Theodors: „Aber ich hoffe, solange ich hier die Aufsicht über das Ganze in Händen behalte, wird demgemäß alles in schönster Ordnung sein!" 3 3 Ordnung - das ist das Leitwort, unter dem dieses Stück zu lesen ist. Ordnung gegen die Macht der Veränderung. Garanten dieser Ordnung sind im Sinne Hofmannsthals nicht mehr die Herren, sondern die treuen Diener, die in sich alle Macht der revolutionären Figaros versammelt haben. Das Bild des Herrn wird nicht zerstört, es hat aber einen Riß, den es in alle Zukunft haben muß. So löst das Stück ein, was Hofmannsthal später als sein Programm verkündete: die „konservative Revolution". 34 Gewiß, was Hofmannsthal hier proklamiert, m a g geprägt sein von der Angst vor Veränderung und dem Wunsch, in der Literatur die nun vollzogene Veränderung zu kompensieren: somit ein brillantes Zeugnis für die von Magris konstatierte Persistenz des „habsburgischen Mythos". Die politische Botschaft, gewiß restaurativ, ist aufgegangen in dem virtuos gefertigten Lustspiel. Was an politischer Aussage vorhanden war, ist in die Form hinein verschwunden. Wenn wir heute Hofmannsthals Drama anders lesen können, so nicht zuletzt deshalb, weil man einen Blick in die - und das ist ironisch gemeint Niederungen der Literatur getan hat. Dort werden die Antagonismen greifbar. Kein Werk kann die Bedingungen verleugnen, unter denen es entstanden ist: Hofmannsthal hat nur die Spuren so verwischt, daß wir bei diesem Stück einen Umweg zu gehen genötigt waren. Dieses Lustspiel Hofmannsthals und sein Schwieriger, Schnitzlers späte Novellen und Roths Radetzky-

33 Ebd., S. 525. 34 Vgl. dazu H e r m a n n Rudolph: Kulturkritik

tischen Denken Hoftnannsthals

und konservative Revolution. Zum

und seinem problemgeschichtlichen

kulturellpoli-

Kontext. Tübingen 1971.

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marsch - das sind die Texte, die in der Literaturwissenschaft als repräsentativ für die österreichische Literatur dieser Zeit gelten und die auch zu der Annahme geführt haben, es gäbe so etwas wie eine intakte österreichische Tradition. Sicher gibt es lokale Konstanten und Überschneidungen, aber diese intakte Tradition ist wohl nicht mehr als eine liebenswürdige Fiktion. Wer den Höhenkamm der Literatur abgrast, hat zwar einen weiten Blick, übersieht aber, was vom Nebel verhüllt ist; wer nur ein Pantheon errichten will, unterschlägt, wie es zu dem Pantheon kommen konnte. Im konkreten Falle: es bleibt ungreifbar, welchem Druck mit gewaltigem Gegendruck ein so unbeschwert wirkendes Lustspiel wie der Unbestechliche abgetrotzt ist. Der Fiktion dieses österreichischen Kontinuums, das die zahlreichen Brüche und Risse verleugnen will und Harmonisierung um jeden Preis als das Wesen der österreichischen Literatur ausgibt, verdankt Osterreich ein Renommee, von dem es heute noch zehrt und das hohe Einnahmen aus dem Tourismus abwirft. Im Schatten dieses künstlichen Baumes gedeiht ein Osterreich-Bild, das es zu widerrufen gilt und das durch ein anderes zu ersetzen ist, das der österreichischen Wirklichkeit etwas gerechter wird. Auch wenn dieses weniger schön ist, so ist es doch nicht minder faszinierend. Die Kleinodien finden sich nicht exponiert und ausgezeichnet im Museum; es ist angezeigt, sie heute im Schwemmkegel dieses Stromes der Geschichte Österreichs (und damit auch Wiens) zu suchen. Das Poetische trivialisierend und das Triviale poetisierend hat H.C. Artmann ein Gedicht geschrieben mit dem Titel wos an weana olas en s gmiad ged, das abschließend in der Originalfassung zitiert sei und die Perspektive andeutet, von der wir uns der österreichischen Gegenwart nähern können: a faschimpöde fuasbrotesn a finga dea wos en fleischhoka en woef kuma is drei wochleid und a drafik a giatlkafee met dischbost a schas med qastln a eadepfösolod da rudoef koal en da gatehosn de schdrossnbaunilustriade a schachtal dreia en an bisoaa a söbstbinda zun aufhenkn a zqetschta rola en an autoküla de muzznbocha med an nosnraumö oes lesezeichn

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a schrewagatal en otagring a foeschs gebis en da basena a zbrochns nochtgschia a ogschöde buanwuascht a daunauschdrom zun fiassbodn a gashau zun aufdran a kindafazara wossaleichn foxln wimmalagentn radeschöla kinokoatn a saffalade zun umhenkn de frau nowak en hean leitna sei schwoga en mozat sei notnschdenda qaglin en essechundöö es genseheiffÖ a rodlbadii met dode es gschbeiwlad fua r ana schdeeweinhalle und en hin tagrund of jedn foe: da liawe oede schdeffÖl35

35 Gerhard R ü h m (Hg.): Die Wiener Gruppe. Achleitner, Artmann, Bayer, Rühm, Wiener. Texte, Gemeinschaftsarbeiten, Aktionen. Reinbek 1967, S. 79.

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Inflation der Werte und Gefühle. Zu Arthur Schnitzlers Fräulein Else. Else schreitet zu Klängen aus Schumanns Karneval zu ihrer Tat, die sofort von der Umgebung als Hysterieanfall gedeutet wird. Im selben Jahr wie Fräulein Else erschien der Roman Jazz (1924) des Wiener Autors Felix Dörmann, dessen Heroine Marianne von Harthenturm das Opfer von Männern ist, die sehr wohl aus einer Frau Kapital zu schlagen wußten. Six Tales of the Jazz Age nannte Scott Fitzgerald eine Sammlung von Erzählungen (1922), damit andeutend, daß diese Musik mehr wäre als ein dem Zeitalter bloß äußerliches Moment. Die Untermalung durch den Jazz signalisiert den grundsätzlich anderen Status einer Epoche; der Rhythmus läßt nicht mehr die Behaglichkeit des Erzählens zu. Die Hektik zeigt an, daß ein neues Lebensgefiihl die Menschen bestimme. Die Schnitzlersche Erzählung ist deutlicher bestimmt durch die Distanz zur Zeit ihrer Entstehung als durch den Rekurs auf Schumanns Musik, deren akkurate Zitation durch Notenbeispiele bezeugt, daß die Wahl des Musikstücks offenkundig jenseits der Beliebigkeit liegt. Indes nicht die Gründe, warum Schnitzler gerade auf Schumann verweist, sollen uns hier beschäftigen. Es geht um eben die Kluft, die zwischen Schnitzlers Spätwerk und der Zeit seiner Entstehung zu liegen scheint. Es ist bekannt, daß Schnitzler seine späten Schriften nahezu allesamt von Stoffen speiste, die er schon viel früher notiert hatte. Die Gegenwart, vor allem Osterreich nach 1918, dieses Österreich, das in der massenhaft verbreiteten Literatur dieser Tage so präsent war, dieses Österreich nach einem gewaltigen historischen Umbruch ist in den erzählenden und dramatischen Schriften Schnitzlers - auf den ersten Blick - so gut wie nicht präsent. Es liegt daher die Folgerung nahe, in Schnitzlers Schriften nach 1918 eine Kapitulation vor der ihn umgebenden Gegenwart zu erblicken, ja mehr noch, die Unfähigkeit zur Diagnose und die Unlust zum Eingreifen durch das Wort in Belange, die jeden angingen. Unberührt von den Umwälzungen von 1918 zeigt sich, was der Autor schrieb; ja es scheint, als würde er geradezu angstvoll das fernhalten, was sich zu unmittelbar in den Text drängen wollte. Und Schnitzler selbst hat jenen Deutungen, die sein Werk für gültig in psychologischer, auf das Individuum beschränkter Sicht er-

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klären wollen, es hingegen für unzeitgemäß halten, durch zahlreiche Stellungnahmen Vorschub geleistet, am deutlichsten vielleicht in einem Brief an Jakob Wassermann vom 3. November 1924, der auf dessen Stellungnahme zu der Komödie der Verführung und Fräulein Else Bezug nimmt. Offenbar zeigte sich Wassermann dadurch irritiert, daß Schnitzlers Texte in einer „abgetane[n], zum Tode verurteilte[n] Welt" spielten. Schnitzler hält der historischen Zäsur die Konstanz im individualpsychologischen Bereich entgegen: Eine gewisse soziale Umschichtung - bei uns in Österreich in höchst bescheidenem Maße - hat sich vielleicht vollzogen; aber wo ist in Wirklichkeit ein Zusammenbruch, wo andererseits eine Einkehr, wo die geringste Wandlung im ideellen Sinn zu bemerken?1 In einem Brief an Georg Brandes vom 14. Dezember desselben Jahres zeigt sich sehr wohl, daß Schnitzler wußte, was unter den zeitgenössischen Themen zu verstehen sei: „Grenzregulierungen, Valutenänderungen, Diebstähle und Hungerrevolten interessieren den ernsten (insbesondere ernsten deutschen) Mann." 2 Daß diese Themen in der massenhaft verbreiteten Literatur dieses Zeitraums auch angesprochen und gestaltet wurden, soll uns in anderem Zusammenhang beschäftigen. Schnitzler selbst scheint seine Texte so gebaut zu haben, daß eine direkte Bezugnahme auf Zeitereignisse ihnen keineswegs abzulesen ist. Die Verdikte folgen auf dem Fuß. Der späte Schnitzler gestaltete eben eine Epoche, die völlig vergangen sei; Resignation hindere ihn daran, irgendwie noch Stellung zu beziehen : Der Autor, ein Gefangener seiner Stoffe und Themen, gebunden an die Typen von einst, „begrenzte Elemente", welche „die Wiener Epoche zwischen 1890 und dem Ersten Weltkrieg derart charakteristisch" repräsentieren, „daß man sie unbedenklich heute schon die Schnitzler-Welt nennen kann". 3 Die Monographien zu Schnitzlers Werk wissen mit diesem Spätwerk wenig anzufangen. Entweder wird es immanent gedeutet und avanciert so zum Gipfel seines Schaffens 4 , oder es wird überhaupt beiseite gelassen, weil

1 2 3 4

Reinhard Urbach: Schnitzler-Kommentar zu den erzählenden Schriften und dramatischen Werken. München 1974, S. 46f. Zitat aus Hartmut Scheible: Artur Schnitzler. Reinbek 1976, S. 115. Gerhart Baumann: Arthur Schnitzler. Die Welt von Gestern eines Dichters von Morgen. Frankfurt/M., Bonn 1965, S. 1. William H. Rey -.Arthur Schnitzler. Die späte Prosa als Gipfel seines Schaffens. Berlin 1968.

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unergiebiger als das Frühwerk 5 , oder man erklärt rundweg, wie es C. E. Williams in seiner Studie The Bröken Eagle. The Politics ofAustrian Literature from Empire to Anschluß (1974) tut, die späten Schriften für irrelevant: „Schnitzler's writing after the War was on the whole unremarkable." 6 Eine der einläßlichsten Interpretationen, die von Manfred Diersch (1975) aus der DDR, betont zwar den kulturgeschichtlich relevanten Zusammenhang mit dem Schrifttum Ernst Machs und dem Impressionismus. Uberraschenderweise geht aber gerade diese Studie nicht von der Spannung zwischen der Entstehungszeit und der Handlungszeit in Fräulein Else aus, sondern bindet alles zurück auf eben die Zeit der Handlung. Lediglich Hartmut Scheible hat mehrfach darauf hingewiesen, daß Schnitzler diese so gut zum Komplex des habsburgischen Mythos passende Haltung nicht vorgerechnet werden dürfe und auch der Textintention nicht entspräche. Auf seine Beobachtungen wird noch zu verweisen sein. Schnitzlers Selbstkommentare und die in den fiktionalen Werken überdeutlich gesetzten Zeichen lassen indes das Verdikt des Anachronismus und damit auch der das Alterswerk bestimmenden geringen Regenerationsfahigkeit durchaus glaubhaft erscheinen. Der nun im folgenden unternommene Versuch soll zeigen, daß bei der Beurteilung des Spätwerks nach 1918 einerseits die Entstehungszeit sinnvoll zur Kontrastierung heranzuziehen ist, daß andererseits vieles in dieses Werk eingesenkt ist, was eben nur in Beziehung zu dieser Entstehungszeit zu sehen ist. Wenn Schnitzler in dem Brief an Wassermann von ,,eine[r] gewisse[n] soziale [n] Umschichtung" spricht, die sich in Österreich noch dazu höchst bescheiden ausgenommen habe, so hat dies heute etwas Provokantes, hält man sich die sozialpolitischen Fakten vor Augen: Otto Bauer, der führende Kopf der österreichischen Sozialdemokratie, dürfte in seinem Buch Die österreichische Revolution von 1925 wohl eher den Nagel auf den Kopf getroffen haben, wenn er von der tiefen Unsicherheit der Intellektuellen spricht, die 1918/19 eine Umverteilung des Vermögens erleben mußten und sich in ihrer Klassenidentität dadurch bedroht sahen. Bauer kann auch den unmittelbaren Niederschlag dieser Ereignisse in der fiktionalen Literatur belegen. Die Verelendung Wiens, die Hungerrevolten, die brotlosen Offiziere, die sich ihrer Existenz - der einzigen, zu der sie fähig waren - beraubt sahen, Inflation und

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Martin Swales: Arthur Schnitzler. Oxford 1971. Cedric E. Williams: The Broken Eagle. London 1974, S. 59:

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Schiebertum, der Umbruch moralischer Werte und zugleich der Versuch, unter raffinierter Ausnutzung der alten Werte, Neuerungen, wo sie nicht paßten, zu unterbinden - dies alles reflektiert sich unmittelbar in den wenig kunstvollen Romanen der Bettauer, Strobl, Rittner, Dörmann, ja hält sich auch, wenngleich das Klischee radikal umgeformt ist, in Odön von Horvaths Geschichten aus dem Wiener Wald. Von alledem kann man, so scheint es, in Schnitzlers Schriften nach 1918 nichts bemerken. Indes empfiehlt es sich, der Anregung Scheibles folgend, diese Texte nun einmal nicht nur individual-psychologisch zu deuten, sondern zu sehen, daß sie für eine historische Situation stehen, „in der die überkommenen Autoritäten zerfallen sind, ohne daß die Individuen die Möglichkeit hätten, ihr Verhalten autonom zu bestimmen

[-r-7

Die Fülle struktureller Entsprechungen zeigt an, daß die allgemeine Veränderung durchaus in die Texte eingesenkt ist. Nahezu jede Erzählung beginnt mit dem Abgang einer Generation oder der freiwillig-unfreiwilligen Abdankung eines ihrer Repräsentanten. Der Titelheld in Casanovas Heimfahrt bereits sieht sich einer neuen Gesellschaft gegenüber, in der auch die emanzipierte Frau den Ton angeben kann: noch einmal siegt die Generation der Väter über die der Söhne. Lorenzi wird von Casanova im Duell erlegt ein reziproker Fall Odipus. In Die Frau des Richters hat ein Regierungswechsel stattgefunden; daß der neue Herr nach vielversprechendem Anfang allerdings wiederum das alte System etabliert, ist ein Zeichen für den Glauben des Autors an Kontinuität. Therese beginnt mit der Pensionierung des Offiziers Hubert Fabiani, der in seinem Kopf allerdings noch kühne Pläne wälzt. Mit seinem monströsen militärwissenschaftlichen Werk erinnert er an den Feldmarschall Konrad von Hötzendorf, während seine Frau, die als Verfasserin von Trivialromanen sich gar einen Namen macht, an Courths-Mahler denken läßt. Dies zumindest als typologischer Verweis für das Elternpaar, dem die unglückliche Therese ihre Existenz verdankt. Dem Versuch, Fräulein Else im Kontext mit der Entstehungszeit zu lesen und sie nun als Repräsentantin für die historische Situation von 1921 bis 1924 anzusehen, könnte nicht ohne Berechtigung entgegengehalten werden, daß Schnitzler den Stoff und die Anregung für diese Novelle konkreten Begebenheiten verdankte. Indes ist der Stoff nicht mit dem zu verwechseln, was in den Text an Gestaltung eingegangen ist. Die Fabel, reduziert auf ihren Kern,

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Hartmut Scheible (Anm. 2), S. 119.

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ist ganz obsolet und über gesellschaftliche und historische Zäsuren hinweg denkbar: die Tochter soll die Finanzen des Vaters sanieren. Das ist als Gesellschaftsdrama wie als Volksstück Anzengruber-Schönherrscher Prägung denkbar. Unverwechselbar indes wird der Stoff nur durch die spezifische Gestaltung, die Schnitzler ihm gegeben hat. Daß Schnitzler die meisten Stoffe bereits früh ins Auge gefaßt hat, läßt keineswegs den Schluß zu, daß er diese späterhin genauso gestaltet hätte. Der Verweis auf die Stoff- und Motivkonstanz offenbart sich ganz im Gegenteil als verhängnisvoll für die Bewertung der späten Schriften Schnitzlers, mochte die Betonung der invariablen Größen auch vom Autor selbst lanciert worden sein. Wenn man sich dem Fräulein Else nur in der vom Autor vorgegebenen Weise nähert, geht man über manche im Text gesetzte Signale hinweg, die uns doch glauben machen könnten, daß Schnitzler nicht nur „die innere Vereinsamung und moralische Zerrüttung eines Mädchens aus guter Familie" zeigt. 8 Eine eingehende Lektüre läßt jene Fragen, die vor allem auf die Bewertung des Fräulein Else abzielen, heute außer acht, da sich vielmehr die Frage stellt, welche Repräsentanz dieser Figur über alle Befangenheit, die sie prägt, zukommt. Es ist verständlich, daß diese Bewertung schwankt, wenn man sich nur auf das einläßt, was der Text über die Figur aussagt. So kann Else für die einen ein „Luder", für die anderen ein „prachtvoller Mensch" 9 , ein Mädchen „unvergeßlich in [seiner] zauberhaften Unmittelbarkeit" 10 sein. Statt aus diesen Divergenzen den Schluß zu ziehen, daß sich die Textintention nicht darin ausspräche, den Leser zum Richter über Elses Verhalten zu machen, wird eifrig weiter die Heroine nach jenen doch nur fragmentarisch im Text überlieferten Momentaufnahmen bewertet. Relativiert man hingegen die einzelnen Stellungnahmen, die Else in ihrem Monolog bloß zitiert, so wird aus alledem ein ganz anderes Ensemble von Eindrücken entstehen, als es jene Interpreten wahrhaben wollen, die Elses Schicksal nur angesichts des Todes verstehen wollen, der für diese Interpretation trotz der vermutlich zu geringen Dosis an Veronal eine ausgemachte Tatsache ist. Die Konzentration auf Elses Schicksal führt weg von der Gültigkeit des Textes, den dieser zur Zeit seiner Entstehung gehabt haben mochte und hin zu einer Frage wie der, ob Dorsday das Geld überwiesen hat oder nicht, oder wie es mit Else weitergeht, nachdem sie gerettet wurde (oder nicht). Zu alledem gibt der Text nur

8

Manfred Diersch: Empiriokritizismus

9

Ernst Jandl: Die Novellen Arthur Schnitzlers. Diss. Wien 1950, S. 138.

und Impressionismus.

10 W. H. Rey, Arthur Schnitzler (Anm. 4), S. 85.

Berlin 1973, S. 111.

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eine Antwort: der Leser wird um die Geschichte betrogen, die er sich erhofft hat, um ein Ende, das er sich willentlich und ohne viel Überlegung gern als ein letales für die Heroine konstruiert. Der so vom Autor gelenkte Leser übersieht dabei, daß die mögliche Betroffenheit, die vom Text ausgeht, einem weitaus komplexeren Ensemble von Signalen zu verdanken ist als jenen, die sich bloß auf das Schicksal Elses beziehen. Wenn im folgenden der Versuch unternommen wird, diese Signale zu interpretieren und mit dem Erwartungshorizont der Entstehungszeit zu verrechnen, so nicht, um eine letztendlich gültige Stellungnahme vorzulegen, sondern nur, um den Versuch zu wagen, Schnitzler von jenem bis zum Überdruß wiederholten Vorwurf des Unzeitgemäßen zu befreien. Es ist nicht nur das Schicksal Elses, das in dieser Erzählung verhandelt wird. Der Zwang, dem die Familie sie unterwirft, ist nicht das Ergebnis eines lange währenden Verfallsprozesses: die Familie bietet keine Rettung; die Teile der Familie ergeben kein intaktes Ganzes mehr. Ein Onkel ist verreist, der andere hat jede Hilfeleistung von vornherein ausgeschlagen. Man ist innerhalb dieser Gesellschaftsschicht nicht mehr bereit, füreinander Garantien zu geben. Dorsday spricht dies aus; das Bekenntnis zur Instabilität ist sein Credo: „Man soll niemals eine Garantie für einen anderen Menschen übernehmen." (250) Dorsday weiß um die Relativität aller Werte; er konzediert Elses Vater „Genialität", allerdings unterschlägt er dabei den Eindruck nicht, daß dieser Wert so gut wie außer Kurs gesetzt sei. (227, 228, 255) „Alle Leute sagen es", meint die unglückliche Else - damit nur andeutend, daß dieser Begriff seine Validität eingebüßt hat. (255) Dorsday ist der Herr der Stunde; der Kunsthändler, von dem nichts Genaues in Erfahrung zu bringen ist, ungeklärter Herkunft (211), gekleidet in die Titel, die ihm der jähe finanzielle Erfolg brachte. Er ist der Nutznießer unheimlicher Kapitalbewegungen; die Ursache seines Reichtums bleibt auch opak. Und Else ist sich des Dubiosen dieser Existenz bewußt, indem sie ihn unterschiedlich im Selbstgespräch tituliert, als Herr Dorsday, als Herr von Dorsday und - darin liegt Hohn - als „Herr Vicomte" (ab 251) - noch dazu aus Eperies [Eperjes]. Else, ein ephemeres Wesen, hat jedoch Veränderung erfahren können und müssen. Ein gutes Einst steht in Kontrast zu einer depravierten Gegenwart: „Ach ja, damals waren wir noch in besseren Verhältnissen." (210) Gerade die Beschränktheit der Erfahrung macht die Bedeutung des Wandels bewußt. Else muß erfahren, daß sie jener Gesellschaft nur mehr durch einen Gnadenakt ihrer Tante angehört. (210: „Die arme Verwandte, von der reichen

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Tante eingeladen.") Just ihr wird nun die Aufgabe gestellt, die bedrohte Welt der Elterngeneration zu retten. Die solchermaßen entstehende Konstellation verspricht zwar die Einlösung eines trivialen Handlungsmusters (Sanierung der väterlichen Finanzen durch Verkuppelung der Tochter), sie weist aber weit darüber hinaus, indem deren überindividuelle Gültigkeit in einer Fülle von Signalen beschworen wird. Else fühlt selbst, daß eine Epoche für sie zu Ende geht. Sie kann das sorgenlose Leben nicht führen, das ihr vorgezeichnet schien (210); die Elterngeneration hatte Probleme und Konflikte durch Scherze verdrängt: „Alles in unserem Hause wird mit Scherzen erledigt, und keinem ist scherzhaft zu Mut." (222) Ein Adieu dem Hedonismus einer untergegangenen Zeit, welche jene Konflikte erfolgreich verdrängte, nur um sie den Erben zu überlassen. Die Analogien zur historischen Situation nach 1918 liegen auf der Hand. Fräulein Else sieht sich eben der Welt gegenüber, der sich die Mädchen aus „gutem Hause" gegenübersahen, wenn ihre Eltern den gewohnten Standard nicht mehr halten konnten. Die Fassade zerbricht, das gründerzeitliche Dekor kann nicht mehr aufrechterhalten werden. Der Emporkömmling, der aus dem Chaos geborene Spekulant, der mächtige Bankier steht dieser abdankenden Generation gegenüber. Er fordert ein, was er für seinen gerechten Lohn hält. Beiläufig nur spricht er von Arbeit: „Auch dreissigtausend Gulden wollen verdient sein." (228) Damit spielt er seine harte Lebenspraxis gegen die mangelnde Erfahrung Elses aus. In Dorsday verdichten sich die Züge, die man den „Inflationskönigen" 11 zuschrieb. Sie haben den Gewinn aus dem Untergang einer Klasse gezogen, und gerade sie beharren auf der Deckung jeder Leistung durch einen entsprechenden Gegenwert; Dorsdays Maxime: [...] ich bin kein Erpresser, ich bin nur ein Mensch, der mancherlei Erfahrungen gemacht hat, unter andern die, daß alles auf der Welt seinen Preis hat und daß einer, der sein Geld verschenkt, wenn er in der Lage ist, einen Gegenwert dafür zu bekommen, ein ausgemachter Narr ist. (231) Der Gegenwert - und darüber befinden sich Elses Eltern, Else selbst und Dorsday vorerst in einem stillschweigenden Einverständnis, ist Else, sie, genauer: ihr Körper, das ist die Ware, mit der sie den Wertverfall, von dem ihre Familie bedroht ist, aufhalten kann. Dorsday ist brutal genug, auch dieses 11 Vgl. Hans Ostwald: Sittengeschichte

Marktsturzes.

Berlin 1931, S. 78-98.

der Inflation. Ein Kulturdokument

aus den Jahren des

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Einverständnis auszusprechen, zunächst gemildert, in der Dämpfung durch die Fremdsprache („Je vous desire", 230), dann in geradezu perfider Bemäntelung durch den Einsatz einer Transposition ins Religiöse: „Nichts anderes verlange ich von Ihnen, als eine Viertelstunde dastehen zu dürfen in Andacht vor Ihrer Schönheit." (232) Der Abtausch von Waren erscheint in der Camouflage durch den Geschäftsmann als Andacht. Else, offenkundig weitaus nüchterner, durchschaut diesen Prozeß. Sie weiß, daß sie sich verkaufen soll, ja einmal gleitet sogar das Wort „versteigern" in diesem Zusammenhang durch ihr Bewußtsein (218), eine Konnotation, die in der Inflationszeit durchaus intensiver wirken mußte als in den Perioden der Stabilisierung. Die Mutter hat den Schmuck veräußert (222), nun ist die Reihe an der Tochter. Schnitzlers Erzählung ist just in den Jahren der Inflation, ihrer stärksten Wirkung, entstanden. Unmittelbar scheint davon nichts in den Text eingeflossen, wie überhaupt alles auf die vergleichsweise stabile Lage von etwa 1900 hinzuweisen scheint. Alles ist da noch in Kurs: sogar die Guldenwährung, die Adelstitel und die hermetischen Salons mit ihren Verordnungen für Takt und Konversation. Doch läßt sich der Zusammenhang zur Inflation leicht herstellen, indem man auf Elses seltsam großzügiges Verhalten gegenüber Zahlen verweist. Sie spielt zunächst mit der Summe, um die sie Dorsday „anpumpen" (216) soll, und nennt - für den an inflationäre Entwicklungen damals nicht Ungewohnten - eine Million statt dreißigtausend eine seltsame Form des Spaßens. (227) Auf diesen absurden Scherz steigt Dorsday auch ein (230) - der Inflationskönig stellt sogar eine Million in Aussicht, sollte es erforderlich sein. (231) Ebenso spielt sie mit der Zahl möglicher Geliebter. (219, und, quasi im Assoziationsstrom wieder aufgenommen, 242) Die Stabilität, die Bindung an eine Person, wird - in der Phantasie zumindest - ersetzt durch eine geradezu unglaubliche Anzahl in Umlauf befindlicher Geliebter. Else ist sehr gut imstande, sich als Ware zu begreifen. Sie ist sich über diese elende Kondition bewußt, allerdings auch der Inadäquanz der Relationen. Als sie die Forderung Dorsdays noch nicht genau kennt - nämlich sie nackt zu sehen - da schießt ihr eine seltsame Relation durchs Hirn: „Was wird er nun wollen statt der Million? Einen Kuß vielleicht? Darüber ließe sich reden. Eine Million zu dreißigtausend verhält sich wie Komische Gleichungen gibt es." (231) Vergleichbar dem Inflationsschock ist auch die jähe Erhöhung der Summe. Statt dreißigtausend sind es plötzlich fünfzigtausend, die zur Rettung des Vaters erforderlich sind. (246) Die Deckung, die Else dafür anzubieten hat, ist dieselbe: ihr Körper. Und es ist dieser Körper, durch den Else ihre Identität erfährt. Ihre Erinnerungen sind

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geprägt von der Körperhaftigkeit: „Villa an der Riviera. Marmorstufen ins Meer. Ich liege nackt auf dem Marmor" (209), heißt es zu Beginn der Erzählung. Sie spürt zugleich, daß es ihr Körper ist, der von ihrer Umgebung registriert wird: „Wozu habe ich denn meine herrlichen Schultern und meine schönen schlanken Beine? Und wozu bin ich denn überhaupt auf der Welt?" (240) Sie spürt stets, wie die Umwelt diesen von ihr so gepflegten Körper (221) wahrnimmt: „Ich fühle den Blick von Dorsday auf meinem Nacken, durch den Schal." (224) Diese Empfindung hat sie, bevor Dorsday mit seiner Forderung an sie herantritt. Die Reduktion auf ihre Körperlichkeit läßt Dorsdays Wunsch nur als exemplarische Verdichtung dessen erscheinen, was diese von den Männern dominierte Gesellschaft begehrt und was sie selbst als Mittel strategisch stets einzusetzen bereit war. („Allein möchte ich am Meer liegen auf den Marmorstufen und warten", 240) Ihre Situation als Mädchen aus besserem Hause wird ihr bewußt, da die Eltern sie mit ihrer Bitte bedrängen; sich reduziert zu sehen auf die hübsche Tochter. Selbst der Ausweg in den Beruf ist nicht erfolgversprechend: Ich spiele Klavier, ich kann französisch, englisch, auch ein bißl italienisch, habe kunstgeschichtliche Vorlesungen besucht - Haha! Und wenn ich schon was Gescheiteres gelernt hätte, was hülfe es mir? Dreißigtausend Gulden hätte ich mir keineswegs erspart. (217)

Diese Klage schlägt um in Aggression gegen die Eltern und vor allem gegen die Männer: [...] Ihr wart es, könnt ich sagen, Ihr habt mich dazu gemacht, Ihr alle seid schuld, daß ich so geworden bin, nicht nur Papa und Mama. Auch der Rudi ist schuld und der Fred und alle, alle, weil sich ja niemand um einen kümmert. Ein bißchen Zärtlichkeit, wenn man hübsch aussieht, und ein bißl Besorgtheit, wenn man Fieber hat [...]. Aber was in mir vorgeht und was in mir wühlt und Angst hat, habt ihr euch je darum gekümmert? (240f.)

Unmittelbar darauf faßt sie auch, ohne es deutlich auszuformulieren, den Entschluß, sich dieser Gesellschaft völlig nackt zu zeigen. Sie wird nicht zur Dirne, wie Scheible vermutet: „Sie macht sich zur Dirne, weil sie keinen anderen Weg sieht, nicht zur Dirne zu werden." 12 Elses Handlung schließt viel12 Hartmut Scheible (Anm. 2), S. 119.

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mehr die sonst übliche, in der Literatur so häufig anzutreffende Variante des sich Verkaufens aus. Sie ist sich bewußt, daß sie mit ihrer Entblößung die Entblößung des Vaters verhindern soll; die Defensive schlägt um in Aggression. Aggression: das ist der erste Schritt zu einer Emanzipation. Es geht mit der Entblößung ihres Körpers nicht nur um eine Ersatzhandlung, die die Entblößung des Vaters verhindern soll, sondern auch um eine Bloßstellung dieser Gesellschaft, die diese Bloßstellung von ihr uneingestanden verlangt. Die Gesellschaft indes schlägt zurück und denunziert ihre Attacke als Hysterie. (263) Es ist an dieser Stelle zu registrieren, daß für die Kulturgeschichte Inflation und Freikörperkultur sowie Nackttanz als Korrespondenzphänomene gelten.13 Die Auflösung des monetären Wertgefüges entspricht einer Lockerung der landläufigen Moralvorstellung. Der Freikörperkultur ist - wie im besonderen der der sozialdemokratischen Observanz in Osterreich - ein aggressives Moment der Provokation als notwendiges Ferment beigemengt. Zwischen dieser mit aufklärerischen Ideologemen durchsetzten Bewegung, die sich gegen die katholische Moral richtete, und der Schaustellung des weiblichen Körpers in Nachtlokalen besteht gewiß ein markanter Unterschied. In Elses Tat vereinigen sich beide einander entgegengesetzten Momente. In einem Bericht über die Tänzerin Olga Desmond heißt es, daß nach ihrem Auftritt „andächtiges Schweigen hernieder[schwebte] und alle Zweifler verstummten. Die Keuschheit dieser Kunst ergriff aller Herzen und drang durch die dicke Kruste aller Vorurteile .. ,". 14 Gerade mit dieser „Andacht" spekuliert ja Dorsday, nur will er den Genuß privat für sich haben, monopolisiert durch die Kraft seines Geldes. Else will nicht als „seine Sklavin nackt tanzen" (240), sie erinnert sich vielmehr an die verstörende Tat einer Operettensängerin aus Berlin vor drei Jahren, die nackt auf den Wörthersee hinausschwamm und die Konsequenzen aus diesem Verhalten durch vorzeitige Abreise zog. (255) Elses Tat ist keineswegs als Vorankündigung der Freikörperkultur zu interpretieren, doch sind in ihr gebündelt jene Motive, die ein neues Verständnis der Körperlichkeit zumindest ermöglichen. Daß die Freikörperkultur auch nach 1918 nicht nur die Sache selbst war und ihr ein quasi kulturkämpferischer Akzent zukam, läßt auch für die Entstehungszeit der Erzählung diese Handlung als eine außergewöhnliche erscheinen. Das Skandalon besteht 13 Hans Ostwald, Sittengeschichte 14 Ebd., S. 135.

der Inflation (Anm. 11), S. 134-146.

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eben darin, daß Else auf Diskretion (242) keinen Wert legt, sich dort bloßstellt, wo es in den Spielregeln nicht vorgesehen ist. Sie geht nicht auf die Lichtung, die Dorsday für sich zufallig entdeckt hat. (232, 242) Mit ihrer Tat hat Else gründlich die Gesellschaft verstört. Wenn unmittelbar darauf der Mantel auf sie herabfliegt (258), so ist dies ein Signal dafür, wie man versucht, diese Tat auch zu bemänteln, diskret abzutun. Ohne Else zu einer Heroine stilisieren zu wollen, die auf anarchischer Basis der Emanzipation eine Bresche schlagen will, lohnt es sich doch, ihr Verhalten einmal von dieser Seite her zu lesen und in ihr nicht nur das Mädchen aus gutem Hause zu sehen, das hypersensibel reagiert. Allerdings ist sie - und auch das ist paradigmatisch - nicht vorbereitet, sich zur Wehr zu setzen gegen jene Forderungen, die an sie gestellt werden. Taten dieser Art bleiben ohne Konsequenz. Auf alle Bedrohungen reagiert sie mit eingelernten, ja meist aus Romanen belegbaren Klischeevorstellungen. (218, 235, 238) Es ist nicht abwegig, in diesem keineswegs unbedeutenden Moment eine kritische Absage Schnitzlers an jene zu erblicken, die von ihm die zeitgenössische Gestaltung zeitgenössischer Themen wünschten. Wer sie sucht, wird sie in der sogenannten Trivialliteratur dieser Zeit, im besonderen im Wiener Roman, etwa bei Hugo Bettauer finden. Was bei Schnitzler nur angedeutet wird, wird dort extensiv ausgewalzt. Man findet sie dort alle, die Inflationskönige, die die jugendliche Unschuld vernaschen, die ihre Sklavinnen tanzen lassen, die Gewinne aus Spekulationen, die abgesunkene, von der Verarmung gelähmte Klasse des Adels und des Bürgertums. Schnitzlers Verzicht, die geforderte Umerzählung des eben Erlebten, der sich radikal wandelnden wirtschaftlichen Situation zu geben, gründet in der künstlerischen Ökonomie des Textes. Das Beispielhafte der dargestellten Situation wird aus der Perspektive Elses viel schärfer, wenngleich nur in wenigen Ausschnitten sichtbar. Daß die durch den inneren Monolog überbetonte Ich-Perspektive keine Sicht auf gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge zuläßt, ist evident. Aber gerade die Selektion läßt eine Fülle von Themen einfließen, die in der Entstehungszeit ihre Gültigkeit hatten. Das Los von Elses Vater - mag seine Lage auch durch das Bakkarat bedingt sein (235) - mußte doch eine ganze Klasse betreffen, die sich verarmt sah oder von der Pauperisierung bedroht war. Das Inventar solcher Themen und Motive ließe sich mühelos aufstocken. Als illustrative Parallele: Wer erkennt nicht in Odön von Horvaths Geschichten aus dem Wiener Wald viele Konstellationen aus Fräulein Else wieder? Kann man nicht auch in Marianne ein Los sehen, das dem Elses vergleichbar ist? Wie Else, die allerdings darüber bereits reflektiert, wirft sich Marianne lieber einem

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Filou an den Hals als dem von den Eltern verordneten Erfolgsfleischhauer Oskar, der nicht nur von ungefähr an Dorsday erinnert. Indes hat Schnitzler seine Handlung in einen hermetisch abgeschlossenen Raum gelegt, in den zwar Depeschen von auswärts einlangen, den aber keine in die Gegenrichtung verläßt. Das Hotel steht da „wie eine ungeheure beleuchtete Zauberburg". (240) Wer dächte dabei nicht an die verwandte Atmosphäre und Hermetik des Zauberbergs, des Romans, der etwa ein Jahr nach Schnitzlers Novelle erschien? Auch hier der Gang in eine „abgetane, versunkene Welt", noch dazu im Tempus der Erzählung. Der Erzähler dieses Romans versteht sich als „der raunende Beschwörer des Imperfekts". Anders Schnitzler, der in dieser Novelle durch die Wahl des inneren Monologs das Präsens zum dominierenden Tempus macht. Somit wird die Begebenheit aktualisiert, sie verliert die Distanz, zu der sie durch die Handlungszeit verurteilt schien. Uns ging es darum zu zeigen, daß Schnitzler für seine Erzählung Themen wählte, die durchaus nicht unzeitgemäß waren und in jedem Empfänger Betroffenheit auslösen mußten. Der innere Monolog darf daher nicht nur als ein erzähltechnischer Trick aufgefaßt werden; er ist vielmehr Ausdruck einer Konsequenz, zu der sich in diesem Fall der Dichter veranlaßt sah. Das epische Werk, dessen Existenz Schnitzler durch den Film bedroht sah, rettet die Perspektive, die den Standpunkt des alles überschauenden Erzählers aufgibt und der Authentizität des Protokolls den Vorzug gibt.

Alle Textzitate nach: A. Schnitzler: Die erzählenden Schriften. Bd. 2. Frankfurt a. Main 1961.

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Von Fahnen und Fanfaren. Zum Komplex ,Militär' in der österreichischen Literatur zwischen den beiden Weltkriegen Vor etwa einem Jahr erstand ich in einer Buchhandlung in einer kleinen österreichischen Provinzstadt eine Postkarte, die zwei österreichische Offiziere in den Uniformen der k.u.k. Armee zeigt. Die Bildvorlage stammte von Fritz Schönpflug, dem führenden Armeekarikaturisten seiner Epoche, dem Karl Kraus unentwegt seine Verachtung darbrachte und dessen Zeitschrift Die Muskete für ihn ein Gemisch aus Blut und Druckerschwärze war. Doch nicht von diesem Blatt, in dem sich das österreichische Militär auch literarisch verstanden fühlte und mit dem - nach der in diesem Falle allerdings zweifelhaften Quelle Karl Kraus - der letzte Habsburgerkaiser Karl I. sein Zimmer tapeziert haben sollte 1 , soll hier die Rede sein. Die Karte enthielt etwas, das mich noch stutziger machte als die weidlich bekannte militärische Szenerie: Sie gab sich als Nostalgiepostkarte aus, und dies ist gewiß die Mücke, die einen Elefanten zum Denken bringen sollte. Diese Karte kündet also von der Sehnsucht nach der Heimkehr zu - ja wozu? Offenkundig zu Menschen, die diese Uniformen trugen und danach redeten, offenkundig also zu einer militärischen Lebensform, und das siebzig Jahre nach 1918. Mir scheint es daher legitim, danach zu fragen, wie sich diese Sehnsucht literarisch organisierte, wobei ich in den nun folgenden Zeilen nicht viel mehr als einen Problemaufriß geben kann und keine definitiven Ergebnisse vorstellen möchte, auch wenn ich mich um konkrete und, wie ich hoffe, einschlägige Beispiele bemühen will. Zudem bin ich von der Überzeugung getragen, daß die Frage nach dem Zusammenhang von Militär und Literatur nicht etwas ist, was den Texten bloß äußerlich ist, und nicht in einer Aufzählung der Funktionen des Soldatischen und Militärischen münden darf, sondern über dieses hinaus auch die Struktur einzelner literarischer Werke erhellen helfen kann. Dabei ist auch daran zu erinnern, daß viele jener Schriftsteller, die nach 1918 tätig waren, durchaus intensive Erfahrung mit 1

Vgl. Karl Kraus: Die letzten Tage der Menschheit. München 1957, S. 657 (V. Akt. 42. Szene) und Die Fackel Nr. 423/2S (1916), S. 22.

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dem Militär hatten, nicht nur im Kriegspressequartier, sondern sehr wohl auch in der Schule wie an der Front. Aber um diese biographisch bedingten Einschlüsse in den Werken soll es nur in besonderen Fällen gehen. Vielmehr ist zu fragen, welches Erbe diese Erfahrungen in den Schriften zurückgelassen und wie sie sich auf die zentralen Figuren und ihre heldische und antiheldische Konzeption ausgewirkt haben. Dabei beschränke ich mich vorerst einmal auf erzählende Texte und ziehe allenfalls zur Illustration Drama und Gedicht heran. Claudio Magris hat in seinem Buch über den ,habsburgischen Mythos' ja auf die einheitsstiftende Funktion der Bürokratie verwiesen 2 ; zusätzlich wäre auf eine ähnliche Funktion der Armee zu verweisen und zu fragen, wie sich nun besonders nach 1918 diese in Österreich auswirkte, da ja gerade der Untergang der Armee die schwersten gesellschaftlichen Umwälzungen mit sich brachte. Der Verlust der Uniform bedeutete auch einen Verlust der männlichen Identität, und Annoncen in den Zeitungen aus diesen Tagen legen Zeugnis davon ab, wie wenig die Offiziere mit dem anfangen konnten, wofür sie ausgebildet worden waren und wie zugleich der Verlust dieser Berufsidentität dadurch kompensiert wurde, daß man sich für alle Berufe befähigt fühlte. Zugleich aber fällt auf, daß es immer wieder um die Wiederherstellung dieser verlorenen männlichen Identität in den Texten geht. Um dies einer einläßlicheren Betrachtung zu unterziehen, scheint es zu wenig, sich nur um die Figuren, die nun einmal Militärs sind und als solche dargestellt werden, zu kümmern; es geht darum, vor allem die Formen zu studieren, unter denen sie figurieren, und die Symbole und Attribute, mit denen sie von ihren Autoren ausgestattet werden, zu betrachten. Raunend drängt sich da sofort der Name Klaus Theweleit in das Fluten meiner männlichen Phantasie, doch damit verbindet sich auch die Anmerkung, daß das große Material, das Theweleit herangezogen hat, vorwiegend aus dem deutschen Reich stammt. 3 Nicht daß die Triebstrukturen österreichischer Männer so anders gewesen wären als die deutscher, doch würde sich die Induktionsbasis durch die präzise Phantasie eines Musil für so ein Unterfangen nicht unwesentlich erweitern und vielleicht auch helfen, die unterschiedliche Funktion des Militarismus und der damit verbundenen Bewegungen in Deutschland wie in Österreich zu erhellen. Das bedeutet nun nicht, den Umgang der Österreicher mit ihrer militärischen 2

Claudio Magris: Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur. Salzburg 1988, S. 15-18. Vgl. Klaus Theweleit: Männerphantasien. 2 Bde. Reinbek 1980.

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Identität als harmloser zu fassen und diese am Gegenbild der Deutschen zu relativieren, sehr wohl aber, den Umgang damit in der Ersten Republik und in der Zweiten in seiner Besonderheit zu charakterisieren. Die Unterschiede in sozialgeschichtlicher Hinsicht zwischen Weimarer Republik und Osterreich von 1918 bis 1935 liegen auf der Hand, und so prägt sich dies auch anders in den Werken aus. Entscheidend ist, daß es in Osterreich auch viele Offiziere als Schriftsteller gab, oder umgekehrt, viele Schriftsteller Offiziere waren und diese, wenn sie sich geschickt erwiesen, mit einem festen Leserkreis rechnen konnten, eben mit den Offizieren und angeschlossenen Familien. Dieser Bereich stellt noch ein Territorium dar, das von der Literaturgeschichte auszumessen ist und nicht nur nach dem Modell der Tribunalisierung behandelt werden darf. Das Organ, in dem sich der lesende Offizier ausgedrückt fand, war die bereits erwähnte Muskete, über deren literarischen Horizont ich andernorts schon geschrieben habe. 4 Einer ihrer wichtigsten Autoren, der sich vor dem Krieg in eine höchst komische Affare verwickelt sah, Rudolf Jeremias Kreutz, bezog seine Identität als Schriftsteller aus seiner Identität als Offizier, machte aber 1918 eine jähe Kehrtwendung, ließ sein Dasein als Offizier fahren und erklärte die Offiziere kurzerhand zu den Heerrufern der Reaktion. 5 Er erkannte aber scharfsichtig, daß es mit den Offizieren und ihrem gesellschaftlichen Status vorbei sei, daß der Untergang der Monarchie auch den Untergang des Offizierstandes im wesentlichen besiegelt hatte. Doch das, was in der sozialpolitischen Realität der Fall war, mußte in der Literatur nicht der Fall sein. Die Macht der Uniform, die Einkleidung in die Uniform scheint ihren Zauber über die Zeit hinaus ausgeübt zu haben, in der sie das Gewand der Autorität war. „Die Uniform war stärker als der, der sie trug", schrieb Alfred Polgar in seinem Feuilleton Die Uniform.6 Mehr noch: Sie war der Inhalt; der Mensch, der sie trug, nur dieses Inhalts zufällige Form. Für gewöhnlich gilt: Das Kleid ist eine Fortsetzung der Epidermis. Aber für das Soldatenkleid galt dies nicht. Hier mußte es heißen: Der Mensch ist eine Fortsetzung der Uniform nach innen. 4

5 6

Die Muskete. Kultur- und Sozialgeschichte im Spiegel einer humoristischen Zeitschrift. Mit Beitragen von Murray G. Hall, Franz Kadrnoska, Friedrich Kornauth, Wendelin SchmidtDengler. Wien 1983, S. 3S-50. Ebd., S. 45. Alfred Polgar: Die Uniform (1919). In: A. P.: Kleine Schrifien. Bd. 1: Musterung, hrsg. von Marcel Reich-Ranicki in Zusammenarbeit mit Ulrich Weinzierl. Reinbek 1982, S. 72-74.

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Nimmt man die Metapher ernst, so ergibt sich daraus, daß der Mensch, der die Uniform ablegen mußte, nun eine amorphe Masse ist, nur eine zufällige Form, der jeglicher Inhalt abgeht. Und eben über dieses gestaltlose Etwas sollte nun verfügt werden; Karl Leuthner in der Arbeiter Zeitung vom 30. November 1918: „Der Offizier als Herr, der Offizier im alten Sinne muß sterben, muß ausgerottet werden im letzten, verborgensten Fältchen des Bewußtseins." 7 Es nimmt daher nicht wunder, wenn in dieser Krise gerade jene Symbole und äußeren Zeichen beschworen werden, die so etwas wie das Uberleben zu garantieren vermochten und die als stärker gelten konnten denn die hinfälligen Menschen. Die Uniform verbürgte eine überindividuelle Kontinuität, und der jähe Sturz ins Zivile zerstörte die Identität, deren sichtbarster Ausdruck bis dahin eben die Uniform gewesen war. Der Offiziersstand ist gesellschaftlich und politisch stillgelegt; vorläufig zumindest, wie wir wissen. Daß die antimarxistischen Organisationen und Wehrverbände gerade die Auffangstellen für jene und auch deren Betätigungsfeld wurden, ist bekannt. Aus dieser Situation der Ohnmacht heraus galt es, Gegenmodelle zu entwickeln, und ich möchte nun nachzeichnen, welche Bilder vom Soldaten sich in der Folge in der Literatur manifestieren und welche Ergebnisse sich daraus in mentalitätsgeschichtlicher Hinsicht ableiten lassen; woraus wiederum Folgerungen für die Literaturgeschichte zu ziehen sein werden. Die Attacken gegen die Offiziere (und nicht nur die Generalität wurde davon erfaßt) waren in der sozialistischen und linkssozialistischen Presse außerordentlich nachhaltig; zugleich liefen auch die Rettungsversuche publizistischer und rein pragmatischer Natur ein: Gründung von Selbsthilfeorganisationen, die sich gegen die „Allgemeinverleumdungen des Offizierskorps" wandten und vor allem in der beruflichen Notsituation zu helfen suchten. Der Offizier soll sich wieder zum versatilen Alleskönner verwandeln, der er ja im Dienst ohnehin hätte sein müssen. 8 Der Verlust der sozialen Identität des Offiziers ist m. E. literarisch am wirksamsten in einem Text aufgegangen, der nach außen hin mit der konkreten Situation von 1918 wenig zu tun hat; ich meine Robert Musils Novelle Die Portugiesin, deren Held, der Herr von Ketten, einen langen und zähen Krieg mit dem Bischof von Trient führt und der, als durch den Tod seines Gegners der Kriegsgrund wegfällt, plötzlich um sei7

Zitiert nach Wolfgang Doppelbauer: Zum Elend noch die Schande.

Offizierskorps 8

am Beginn der Republik. Wien 1988, S. 39.

Vgl. ebd., S. 30-119.

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nen Lebensinhalt gebracht wird. „Da stach ihn, als er heimritt, eine Fliege", heißt es9, und diese Fliege bringt die Krankheit, die den erfolgreichen Krieger lahmlegt für lange Zeit: In dieser Krankheit verdichten sich die Symptome der Depression jener, deren gesellschaftlicher und männlicher Wert denn auch um 1918 außer Kurs gesetzt war. Zugleich wird auch die Bemühung sichtbar, aus diesem Tief herauszukommen: Ketten, der fürchten muß, daß seine Frau in der Zeit seiner Krankheit mit einem Portugiesen Beziehungen unterhalten hat, klettert eine für unüberwindlich geltende Felswand zu seiner Burg hoch: Die sportliche Leistung dient als kompensatorisch erbrachter Gegenbeweis zur tatsächlich erfolgten Entmachtung des Kriegers. In Musils Geschichte wird die Transposition dieser männlichen Identitätskrise just durch die Transposition in ein anderes Jahrhundert sehr deutlich erkennbar. Musil selbst wußte durch seine Aktivität im Fachbeirat des Staatsamtes für Heerwesen von 1920 bis 1922 Bescheid, und 1918 hatte er noch notiert: „Die einzige Menschenschablone von Wert und Reiz, die Deutschland erzeugt hat, ist der Offizier. In ihm hat der Deutsche Haltung. Seine Leistungen sind wunderbar. Er ist wirklich (wissenschaftlich nüchtern gemeint) der Idealtypus des Deutschen." 10 Wie sehr Musil gerade die politische Funktion des Heeres beschäftigt, bestätigt auch noch seine Glosse Kriegsdämmerung vom Jahre 1925, worin allerdings das Militär für weitgehend überflüssig erklärt und alle damit verbundenen Rituale und Symbole ironisch abqualifiziert werden. 11 Der Sturz aus dem militärischen Status in den zivilen ist tatsächlich das Problem dieser Generation, und es scheint, als würde der Wechsel von der Uniform zum Zivil eines der zentralen Motive dieser Literatur bedeuten, wobei sich im Zivilstatus so etwas wie ein Krankenstand offenbart, letztlich der um seine Männlichkeit gebrachte Mann. Mit Bezug auf den deutschen Offizier und mit der Transposition in eine andere Epoche handelt Hermann Broch dieses Problem in den Schlafwandlern ab, doch trotz dieser Transposition ist der Gegensatz von Joachim von Pasenow, dem Offizier, und Eduard v. Bertrand, dem Zivilisten, in dem 1928 begonnenen Roman nicht ohne zeitgeschichtliche Brisanz. Die Uniform wird

Robert Musil: Gesammelte 1978, S. 261. 10 Robert Musil: Gesammelte

Werke. Bd. 6: Prosa und Stücke, hrsg. von Adolf Frisé. Reinbek

11 Robert Musil: Gesammelte S. 674.

Werke. Bd. 7: Kleine Prosa. Aphorismen.

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Werke. Bd. 8: Essays und Reden, S. 1344. Autobiographisches,

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- aus der Sicht Bertrands - zum Zeichen der Romantik überhaupt; romantisch wäre es, wenn sich Irdisches zu Absolutem emporheben wollte, heißt es da, und so würde die „eigentliche Romantik dieses Zeitalters" - wir sind da im Jahre 1888 - „die der Uniform sein". 1 2 Von da weg wird - eher mit Blickwechsel auf Pasenow hin - die Funktion der Uniform charakterisiert: So mochte Bertrand sprechen; aber wenn dies auch sicherlich nicht jedem Uniformträger bewußt wird, so mag immerhin feststehen, daß ein jeder, der viele Jahre die Uniform trägt, in ihr eine bessere Ordnung der Dinge findet als der Mensch, der bloß das Zivilgewand der Nacht gegen das des Tages vertauscht. Gewiß braucht er über diese Dinge nicht eigens nachzudenken, denn eine richtige Uniform gibt ihrem Träger eine deutliche Abgrenzung seiner Person gegenüber der Umwelt; sie ist wie ein hartes Futteral, an dem Welt und Person scharf und deutlich aneinanderstoßen und voneinander sich unterscheiden; ist es ja der Uniform wahre Aufgabe, die Ordnung in der Welt zu zeigen und zu statuieren und das Verschwimmende und Verfließende des Lebens aufzuheben, so wie sie das Weichliche und Verschwimmende des Menschenkörpers verbirgt, seine Wäsche, seine Haut überdeckt, und der Posten auf Wache hat die weißen Handschuhe überzuziehen: So wird dem Mann, der des Morgens seine Uniform bis zum letzten Knopf geschlossen hat, tatsächlich eine zweite und dichtere Haut gegeben, und es ist, als ob er in sein eigentliches und festeres Leben zurückkehre.13 Und sofort fällt uns da die Formel Wilhelm Reichs vom Charakterpanzer ein, wie denn auch die Uniform mittelbares Derivat des Panzers ist, der in ihr seiner schützenden Funktion verlustig geht, dafür aber deutlich die repräsentativen Funktionen der Gewandung markiert. 14 Die Bezugnahme auf die Uniform und auf die militärische Symbolsprache diente nun vor allem auch dazu, auf Ordnung zu verweisen, Ordnungszusammenhänge zu behaupten und somit der Anarchie Einhalt zu gebieten. Der Mensch, der sich der Uniform anvertraut, verliert das allzu Menschliche, er ist aufgehoben in der Ordnung, die gerade 1918 zerstört wurde.

12 Hermann Broch: Die Schlafwandler. Eine Romantrilogie. In: H. B.: Kommentierte Werkausgabe, hrsg. von Paul Michael Lützeler. Bd.l. Frankfurt/M. 2 1980, S. 23. 13 Ebd., S. 24. 14 Vgl. Wilhelm Reich: Charakteranalyse. Köln 1970, S. 174.

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In der Literatur der Folgezeit ist daher diese Idolisierung der Uniform und aller anderen militärischen Symbole sehr wohl begründet, und je weniger das Militär seine Funktion innehat, um so stärker wird diese Verklärung der militärischen Attribute. Sie künden von der Ehre und Ordnung, die beide verloren sind; je größer die Distanz zu 1918 wird, um so nachhaltiger und intensiver wird auch die Lust, das Militär als intakte Größe zu betrachten und dadurch auch Intaktheit vorzuspiegeln. Vor allem ist es die Operette, die sich um die Erhaltung dieser militärischen Insignien bemüht, auch wenn es auffällt, daß nicht die österreichische Gegenwart, sondern die fremde Vergangenheit die martialische Staffage hergeben muß. Immerhin konnte man aber die Analogieschlüsse auf die eigene Situation riskieren und brauchte den Flitter nicht zu missen. Brammer/Grünwalds Libretto für Oscar Straus' Der letzte Walzer läßt die Handlung in einem halb imaginären Polen spielen: Der Held, Graf Dimitry Sarrasow, wird auf Grund eines kleinen Fehltritts durch fürstliche Willkür zum Tode verurteilt und in letzter Minute gerettet - man sieht, die Operette wird beinahe tragödienfähig, und der Held ist eine polnisch uniformierte Variante zum Kleistschen Prinzen von Homburg. Doch das Militäridyll macht sich auch auf der Bühne des Jahres 1921 nicht schlecht, und der Chor der Offiziere jubelt dem General zu: Es lebe der Herr General, Der uns so fein traktiert; Das ist wahrhaftig eine Ehr', Wird man so ästimiert! Bei Kaviar, Champagnerwein, Im Dienst kommandiert zu sein, Das läßt man sich bei allen Beschwerden gern gefallen! 15

Vor edlem ist es die Operette eines Robert Stolz, die den Zauber der Montur auf der Bühne wieder Ereignis werden läßt, und diesem Zauber verdankt ein Roman seine stupende Wirkung, nämlich Die Standarte Lernet-Holenias. Dieser Roman erschien 1934, und es gilt festzuhalten, daß mit der Ära des Ständestaates denn auch die Revitalisierung der militärischen Nostalgie geglückt ist, und von da an die inszenierte Erinnerung an die glorreichen Tage von einst mit Ubereifer betrieben wird. Der unverwüstliche Roda Roda, nach 15 Zitiert nach Martin Lichtfuss: Operette im Ausverkauf. Studien zum Libretto des musikalischen Unterhaltungstheaters im Osterreich der Zwischenkriegszeit. Wien, Köln 1989, S. 124.

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seiner Flucht aus Hitlerdeutschland, inszeniert im Stadttheater unter dem Titel O du mein Österreich im November 1955 den Feldherrnhügel neu und kann unter d e m Pseudonym Nikolaus Suchy auf dem Akademie-Theater das Radetzky-Stück Die Majorische aufführen lassen, in dem Radetzky als weiser Feldherr auftritt, der die lombardischen Rebellen in Mailand und damit auch die Stadt schont. 16 Die Funktion des Militärs in diesen Texten ist i m m e r auffallend unmartialisch. Das Heer hat die Funktion, den Krieg zu verhindern, und selbst dort, wo offenkundig das Kriegsgeschehen unvermeidbar ist, wird es m e h r und m e h r in den toten Winkel abgestellt. Dafür ist eines der zentralen Bücher dieser militärischen Restaurationsepoche Kronzeuge. Ich meine Alexander Lernet-Holenias Die Standarte. Dieser Roman, dessen Rahmenhandlung im Jahre 1928 spielt, setzt mit einem Rearrangement ein: Die Offiziere treffen einander zum ersten Mal nach dem Untergang der Armee, auf „einem Fest, [...], das die Herren fast sämtlicher Kavallerieregimenter einander gaben". 17 Wenngleich es heißt, daß sich die Toten unter die Lebenden zu mischen schienen („Denn das wirkliche Heer sind nicht die Lebenden, sondern die Toten" 18 ), so entsteht doch der Eindruck, als ob sich an den alten hierarchischen Strukturen nichts geändert hätte, und die Erzählung des ehemaligen Leutnants Menis führt denn auch zurück in die Vergangenheit, in die letzten Tage der Habsburger-Monarchie. Der Held, der Leutnant Menis, bekennt von sich: Ich interessiere mich nur für die, die aus dem Krieg kommen. Ich komm von ihnen einfach nicht los. Ich glaube auch gar nicht, daß dieser Krieg überhaupt zu Ende gegangen ist. Er geht immer noch weiter. [...] Er geht auch in mir weiter. Ich hatte ihn vorher gar nicht begriffen. Erst als gar nicht mehr Krieg war, habe ich angefangen, den Krieg zu begreifen.19

16 Vgl. Rotraut Hackermüller: Einen Handkuß der Gnädigen. Roda Roda. Eine Bildbiographie. Wien 1986, S. 187-195. 17 Alexander Lernet-Holenia: Die Standarte. Wien 1959, S. 7. Zu Lernet-Holenia vgl. Josef Donnenberg: Der literarische Herr: Alexander Lernet-Holenia. In: Friedbert Aspetsberger, Norbert Frei, Hubert Lengauer (Hgg.): Literatur der Nachkriegszeit und der flinfziger Jahre in Osterreich. Redigiert von Hermann Möcker. Wien 1984, S. 320-336; Günther Berger: Ein dichtender Grandseigneur. Beiträge zur Vervollständigung der Biographie und des Werltes von Alexander Lernet-Holenia (1897-1976). In: Österreich in Geschichte und Literatur 33/2 (1989), S. 89-113. 18 Ebd., S. 8. 19 Ebd., S. 20 f.

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Und nun folgt die Geschichte einer Idée fixe: Dieser Leutnant Menis hat sich dereinst in Belgrad in den Kopf gesetzt, eine junge Dame in der Begleitung einer Erzherzogin zu erobern. Resa heißt sie, und der Blickkontakt genügt, der Leutnant stürmt die Loge der Dame, wird wegen dieser Kühnheit strafversetzt, reitet zweimal in der Nacht zu ihr. Doch sein Regiment reibt sich selbst auf: Weil es meutert, wird es von anderen Regimentern liquidiert; der Krieg richtet sich also nicht gegen die Feinde der Habsburgermonarchie, sondern diese Armee vernichtet sich in den letzten Tagen selbst. Und da der Fähnrich fällt, muß der Erzähler die Standarte nehmen, und da löst die eine Idée fixe die andere ab : wichtiger als Resa wird dem Fähnrich die Standarte, und unter schwierigen Umständen und tausend Gefahren bringt Menis die Standarte denn auch nach Wien. Alle anderen gehen bei dieser Flucht drauf, nur Resa nicht und der Leutnant, der aber die Standarte statt ihrer umarmt; einsam irrt Menis durch Wien, das der Kaiser aufgegeben hat und das den Kaiser aufgibt, und kommt nach Schönbrunn, das sein Herr gerade verläßt. Dort werden die Standarten in einem geheimnisvollen Ritual verbrannt: sie sollen den Feinden nicht in die Hände fallen. Da erst, am Ende, riskiert der Erzähler (oder der Verfasser) so etwas wie eine Vision: Ich starrte ins Feuer und sah, wie über den Fahnen, die brennend zusammensanken, ein Gewirr von Feldzeichen, ein geisterhafter Wald von Fahnen und Standarten, wieder aufstand, nicht mehr aus Samt, Seide und Brokaten, sondern ganz aus den rauschenden Flammen selbst. Es waren auch nicht mehr die alten Fahnen mit den typischen Bordüren aus rotweißen und schwarzgelben halben Rauten, es waren neue. Es war ein ganzer Wald, und sie standen über dem ganzen Volk. Dann fiel das Feuer wieder in sich zusammen, das Traumgesicht verging [.. ,].20 Doch Resa wartet auf ihn; er bekommt von dieser Ersatz-Standarte immerhin drei Kinder, aber wie aus dem Rahmen hervorgeht, ist das zwar auch gut, doch kein Ersatz für dieses Zeichen, zu dem zu stehen sich der Offizier geschworen hatte. Lernet-Holenias Prosa hält mit Kalkül die Mitte zwischen Depression durch das tragische Schicksal der Armee und glücklicher Geborgenheit im wohlhabenden Bürgertum. Dem Leutnant Menis bleibt der Sturz in die Not erspart. Trotz einiger emphatischer Hinweise auf die Grausamkeit

20 Ebd., S. 287.

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des Krieges reduziert sich das Kriegserlebnis des Leutnant Menis auf ein amouröses Abenteuer und den Umgang mit Symbolen und Ritualen. Damit ist aber auch keine Rede mehr von jenen, die gegen Österreich kämpften; der Feind bleibt so gut wie ausgespart, und der einzige, den der Leser zu Gesicht bekommt, ein Engländer, wird sofort in ein Liebesabenteuer gestürzt, das für ihn tödlich ausgeht. Die Teilnahme am Krieg erscheint also nicht mehr als der Versuch, Abenteuer zu suchen, zu bestehen und zu überleben. Die Botschaft dieses Buches, so es eine hat, kann nur darin liegen, den Glauben an die Standarte, die im Finale verbrannt wird, zu retten: Sie läutert sich im Feuer empor zu überzeitlicher Qualität. Mit Lernet-Holenias Standarte war der Phantasie die Lizenz erteilt, mit den Uniformen von einst und allen militärischen Symbolen wiederum ernsthaft Umgang zu haben, über den Untergang von 1918 hinweg den militärischen Kosmos als einen intakten wieder zu beschwören. Es scheint, als würden in der Fiktion just jene Kokarden, die 1918 den Offizieren so schmählich heruntergerissen worden waren, wieder angeheftet. Und die militärische Phantasie hatte eine Konjunktur, die auch die Gebiete weit außerhalb der Operette erfaßte. Joseph Roths Roman Der Radetzkymarsch kann als die Epopäe der untergehenden Monarchie schlechthin gelesen werden. Doch auch hier wird das Kriegsgeschehen marginal. Allerdings endet dieser Roman nicht in der verklärenden Verbrennung der Standarte, sondern mit dem Tod der Protagonisten. Der Held (oder Antiheld) Carl Joseph findet den Tod, ehe er im Kampf fallen kann, in einer karikativen Tat, beim Wasserholen für seine Kameraden. Ist bei Joseph Roth der Tod - und leitmotivisch ist er besonders in emblematischer Ausprägung in der Kapuzinergruft anwesend - stets präsent, so scheint er bei dem Autor, der zum Lieblingsautor in Offizierskreisen schlechthin avancierte, so gut wie ausgeklammert. Rudolf von Eichthal-Pfersmann (1877-1974) hielt von den dreißiger Jahren bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg die alte Armee hoch und wurde anläßlich seines 92. Geburtstages vom damaligen Bundesminister für Landesverteidigung, Georg Prader, geehrt: „Es gibt sicherlich viel Literatur, die in die österreichische Vergangenheit zurückgreift, aber gerade Eichthal's Romane und Novellen sind es, die wie ein heiterer Sonnenstrahl in eine menschlich-soldatische Vergangenheit zurückspiegeln, deren positiven Inhalt wir gesinnungsmäßig weiterhin als Tradition pflegen wollen." 21 21 Militärkommando Wien (Hg.): Rudolf von Eichthal, Oberst d.G.a.D. Offizier, Schriftsteller, Musiker. Ein Lebenfür Österreich in Wort und Bild. Zu seinem 92. Geburtstag. Wien 1969, S. 3.

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So schrieb man 1969, also mehr als fünfzig Jahre nach 1918. Und in der Tat, diese „menschlich-soldatische Vergangenheit" wäre erhaltenswert, wäre sie gewesen, wie Eichthal sie wollte. Sein umfassendes Werk sollte doch für eine österreichische Kulturgeschichte als kritisch herangezogene Quelle von hohem Wert sein. Ich kann mich hier nur auf einige charakterisierende Andeutungen einlassen. Mit seiner Romantetralogie über den Lebensweg des armen Halbwaisen Erwin Spielvogel vom Wiener Neustädter Kadetten bis zum Marschall schrieb er so etwas wie den Lebenslauf eines männlichen Trotzkopfes in Uniform. Seine Bücher erfreuten sich großer Beliebtheit; der erste Band Der göttliche Funke erschien 1957; der zweite Die goldene Spange 1941 mit einem Vorwort von Mirko Jelusich; der dritte Der grüne Federbusch 1951 und der letzte Der Marschallstab 1955, dürfte aber schon 1944 fertiggestellt worden sein. Die Auflagenzahlen seiner Bücher (im Schnitt zwischen 40.000 bis 60.000) besagen - bedenkt man den relativ kleinen Interessentenkreis der Republik Osterreich - doch einiges, vor allem - und der Beweis wäre noch zu führen - gehörte er zum festen Bestandteil der gut besuchten Leihbibliotheken. Und die Gefälligkeit, mit der Eichthal erzählte, hat es seinen Lesern leichtgemacht. Die Ansprüche sind nicht allzu hoch. Seine Bücher lesen sich so, als hätte Eichthal den Habsburgischen Mythos von Claudio Magris gelesen und versucht, danach als Fleißaufgabe einen Roman zu schreiben, freilich unter strenger Berücksichtigung der ihm zur Verfügung stehenden künstlerischen Mittel. Daß ihm 1941 Mirko Jelusich das Vorwort schrieb, besagt sehr viel über jene im besetzten Osterreich bestehende und sich später auch als Opposition gerierende Allianz legitimistischer Kreise und enttäuschter, einst illegaler Wühlmäuse, die in der Verpflichtung auf soldatische Ideale so etwas wie eine Verständigungsbasis fanden. Jelusich, der von sich bekannte, durch die soldatische Bewegung Adolf Hitlers aus der Depression der Nachkriegszeit gerissen worden zu sein 22 , stellt dem österreichischen Offizier Spielvogel denn auch die Diagnose: Er erblickt in ihm den Übermenschen, so wie er ihn liebt: Es ist ein junger Riese, der da vor uns steht, seiner Kräfte nur halb bewußt und sie darum an kindlichen Spielen erprobend, sie darin vergeudend; der

22 Vgl. dazu Johannes Sachslehner: Führerwort und Führerblick. Mirko Jelusich. Zur Strategie eines Bestsellerautors in den Dreißiger Jahren. Königstein/Ts. 1985, S. 32f.

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gärende Most eines edlen Weines, sprudelnd noch und stürmend und nur zuzeiten dem Kenner künftige Fülle und erlesenen Wert verratend.23 In der Tat, dieser Erwin Spielvogel ist ein Held vom Zuschnitt eines Old Shatterhand. Hatte Schnitzler seinen Leutnant Gustl als die seelische und geistige Wüste dargestellt, so füllt Eichthal diese Leere mit der Summe aller Eigenschaften, die ein Mann haben kann. Als Beispiel möge der Hinweis auf den Roman Der grüne Federbusch dienen. Erwin Spielvogel kommt, noch sehr jung, knapp über zwanzig, und doch schon verschiedentlich ausgezeichnet, als Oberleutnant und Stabsoffizier nach Czernowitz. Hier bewährt er sich mehrfach als Beschützer der Verfolgten, als Schütze, der ein Rudel Wölfe im Alleingang erledigt, als Causeur und Kamerad; bei einem Manöver rettet er einen alten Offizier, der hilflos den Sieg an die andere Truppe abtreten müßte, durch eine tollkühne Aktion, die ihn aber - die Tat riecht nach dem Marien-Theresien-Orden - , wie den Prinzen Friedrich von Homburg, in Todesgefahr bringt, aber dann doch wieder als bewundernswertes Exemplar erscheinen läßt. Seine Schulden würden ihn zwingen, den Heeresdienst zu quittieren, da ertappt er als quicker Privatdetektiv einen ganz gemeinen deutschen Spion und heiratet die von ihm geliebte Rosemarie, nachdem er vorher, obwohl es ihm ganz dreckig ging, eine millionenschwere Braut ausgeschlagen hat. Hört Schnitzlers Leutnant Gustl gelangweilt einem Konzert zu, so organisiert der junge Spielvogel eines und dirigiert es. Nirgends drücken sich Allmachtphantasien so deutlich im Bilde aus wie in der Vorstellung vom Dirigenten, und die Art, in der Eichthal seinen Spielvogel zum Dirigenten verzaubert, erinnert an eine Version der Darstellung des Dirigenten ad usum delphini: Seit jeher hatte ihn die höchste Machtentfaltung, höchste Willensanspannung, höchste Suggestivkraft und daher entschiedene Männlichkeit erfordernde Dirigentenarbeit mächtig angezogen, seit langem schon wollte er das Hochgefühl genießen, einmal einem aus vielen Menschen zusammengesetzten Orchesterkörper den eigenen Willen, Takt, Tempo, Stärke, Vortragsweise, Ausdruck, Auffassung aufzuzwingen [...] die Beherrschung der Musiker durch

23 Mirko Jelusich: Vorwort. In: Rudolf von Eichthal: Die. goldene Spange. Ein altösterreichischer Soldatenroman. Wien und Leipzig 1941, S. 5.

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die fluidale Gewalt des Blickes, der Hände und der Persönlichkeit, die traute er sich ohne weiters zu.24 Eichthal f ü h r t sein Uber-Ich nach der M e t h o d e Karl Mays o h n e Vorzensur spazieren. Machtausübung, so bekennt der Text m e h r oder weniger unfreiwillig, ist das Anliegen, u n d das Orchester das geeignete Surrogat für eine ganze Armee. Er darf inszenieren; die Fanfare, für deren Einsatz er das Zeichen gibt, ist nur eine Festfanfare, aber er dirigiert, er ist der Fürst des Festes. Er ist auch Dichter, er ist Alleskönner, u n d so schreibt er auch eine Novelle aus der Feder seiner präsumtiven Schwiegermutter u m , die unter d e m vielsagenden Pseudonym Diotima ihr Glück versucht, die dann bei einem Preisausschreiben der , Gartenlaube' den ersten Preis gewinnt. In Eichthals Roman e n ziehen die M ä n n e r ohne Bedenken irgendwelcher Art die U n i f o r m e n w i e d e r an. Sie w e r d e n w i e d e r zu M ä n n e r n , sie w e r d e n auch zu Ideologen der Männlichkeit, und Spielvogel gibt seiner späteren Braut bei d e m von ihm dirigierten Fest denn auch gleich eine handfeste Lehre mit: Ein Peter Paul Rubens, ein van Dyck, ein Velasquez geht mir über alle sezessionistischen, ex- und impressionisüschen Schmierer der Jetztzeit, ein blanker Feldharnisch über den bestsitzenden Frack, eine Toledanerklinge über ein Maschinengewehr, eine strahlende Reiterfanfare über den ganzen modernen Opernschnickschnack und eine ehrbare sittsame Hausfrau von anno 1600 über all den hysterischen Weiberplunder von heute. Sehen Sie, meine Gnädigste, das ist mein künstlerisches und menschliches Glaubensbekenntnis. [...] Der Vorhang rauscht auf. Der Heerpauker hebt die Schlegel hoch, die Trompeter heben ihre fahnengeschmückten Instrumente. Und in den dunklen, gähnenden Zuschauerraum schmettert die Fanfare der finnischen Reiterei aus dem Dreißigjährigen Krieg. - Sie war der Auftakt dieses seltsamen Liebesverhältnisses, dessen beide Partner vielleicht besser in die Welt von 1600 gepaßt hätten als in jene von 1900.25 Das Rad der Geschichte wird gewaltsam zurückgedreht, der technische Fortschritt, d e r die Kriege unendlich grausam gemacht hatte, soll aufgehoben

24 Rudolf von Eichthal: Der grüne Federbusch. Ein Roman aus Altösterreich. Wien 1951, S. 185. I m m e r wenn der Dirigent als Machtrepräsentant begriffen wird, wird Canetti zitiert. So auch hier: Elias Canetti: Masse und Macht. Frankfurt/M. 1980, S. 442-444. 25 Eichthal, Der grüne Federbusch (Anm. 24), S. 193f.

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werden. Die Ordnung der Dinge, der Zeichen ist restauriert. Und doch will der Held zurück in die Vergangenheit, und es ist das Wesen der Musketiere (man denke dabei auch an die Muskete), das ihn fasziniert. Czernowitz und die Regimenter dort scheinen exemplarisch für eine noch intakte Welt. Krieg und Tod und Vernichtung werden ausgeklammert. Der Aggression kann man im Manöver die Zügel schießen lassen; ansonsten ist alles bloß eine Frage der Karriere. Der Offizier, ein Mann mit einem Überschuß an Eigenschaften, die er alle im rechten Augenblick einsetzt, wird zum Repräsentanten einer Gesinnung, die keine Trennungen in unserer Lebenswelt anerkennen will: Zwischen Venus, Mars und den Musen läßt sich vermitteln, zwischen Krieg und Gelehrsamkeit gibt es keine Kluft. Welche Funktion solche Bücher von 1937 bis 1955 hatten, braucht nicht näher erläutert zu werden. In ihrem Anspruch auf die Herstellung einer gültigen Ordnung wollten sie auch mehr sein als bloß nostalgische Rückerinnerung an eine versunkene Welt; sie sind auch ein strategisch geschickt errichtetes Bollwerk gegen jeden Anspruch, den eine wie immer geartete Moderne erheben könnte. Dieser Stil, der sich auf eine selbstverständliche militärische Ordnung berufen zu können meint, enthält die Verurteilung alles dessen, was auf rein ästhetischer Ebene dagegen unternommen werden konnte. Die Auserwählte Spielvogels singt bei dem Fest, von der Menge umjubelt, Lieder im Stile des Uberbrettls; der Leutnant weist sie zurecht. Sie wird es nie wieder tun. Welche Konsequenzen solche Urteile hatten, für eine zahlenmäßig nicht unbeträchtliche Schicht der österreichischen Bevölkerung, braucht hier nicht weiter erörtert zu werden. So naiv Eichthals Bild vom Soldaten und Offizier ist, so viel kann es an Erkenntnissen abwerfen für den Umgang Österreichs mit seiner Vergangenheit und Gegenwart. Doch möchte ich nicht auf diesem kritisch dunklen Tone enden, sondern ein anderes Beispiel heranziehen. Auch in den Romanen Doderers spielen jene Offiziere, die aus dem Krieg kamen, eine entscheidende Rolle. Eine der tragenden Figuren der Strudlhofstiege ist Melzer, der erst - und der Titel kündigt das ja schon an - in seinem zivilistischen Dasein zum Menschen wird, in dem entscheidenden Augenblick seines Lebens wieder den Soldaten hervorkehrt: Mary K., der Frau, die ihm vor sechzehn Jahren einen Korb gegeben hat, begegnet er unter deprimierenden Umständen wieder: Ihr wird bei einem Straßenbahnunfall ein Bein abgefahren, Melzer rettet sie, indem er sich zum Soldaten zurückverwandelt. Er erkennt, daß ihr Bein völlig losgelöst wurde. Und da heißt es:

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Ganz und gar so, wie man sich in die Schlacht wirft beim Sturm-Angriffe: sich selbst wirft, als wäre der eigene Wille eine riesenhafte haarige Faust, der man mit seinem ganzen übrigen Leben in solchen Augenblicken klein und bedeutungslos insitzt. - Schon bei ihr. Schon im Blute, dessen Rot ihm entgegenspringt, jetzt den Knieenden bespritzt. Jedoch, hier war ja ein Soldat von Beruf, ein Soldat vieler wechselnder Schlachten.26 Im Zivil erst kann der Soldat seine Qualitäten bewähren. Uber diese Stelle wäre viel zu sagen, da in ihr sich noch der angestrengte Versuch ausdrückt, die Qualitäten des Soldatischen in das zivile Leben herüberzuretten. Ich will aber mit einem Verweis auf Doderers letztes, Fragment gebliebenes Buch Der Grenzwald (1967) schließen. Bewährt sich in der Strudlhofstiege Melzer im Zivil als Soldat, so bewähren sich im Grenzwald die Soldaten als Zivilisten. „Pax in bello", heißt es da von der Lage ein der russischen Front im Ersten Weltkrieg. Es sind lauter Gentlemen, die da einander begegnen und die einander je höher achten, je mehr sie auf Grund ihrer Nationalität zur Feindschaft angehalten wären. Und in dieses Idyll mitten im Krieg hat Doderer eine Figur eingebaut, in der jene positive Reminiszenz des Offizierstypus gelöscht zu sein scheint. Es ist der Oberleutnant Zienhammer, der mittelbar zum Verantwortlichen für den Tod von neun ungarischen Offizieren wird, deren Namen er einem tschechischen Kapitän weitergibt, sehr wohl wissend, daß sie, fälschlich des Komplotts bezichtigt, zum Tode verurteilt werden. Da er nach seiner Rückkehr nach Wien, nach seinem Sturz ins Zivile, die Aufdeckung durch einen Kameraden und einen Kriegsverbrecherprozeß fürchtet, tötet er diesen potentiellen Mitwisser. Mit dem Gegenbild dieses versatilen, geschickten, streberischen, gewissenlosen Offiziers hat Doderer der sonst von ihm so eifrig betriebenen Harmonisierung der Vergangenheit eine schrille Dissonanz entgegengesetzt. Nicht daß mit Zienhammer die Qualität des österreichischen Militärs insgesamt grundsätzlich fragwürdig wird, wird da gesagt, festzuhalten ist vielmehr, daß die Vergangenheit auch in dieser Hinsicht befragt wird. Daß die Verbrechen, die im Krieg erfolgten, nicht an der Front erfolgten, daß Offiziere zusahen und Mitwisser wurden, daß sie Verantwortungen übernahmen, die zu tragen sie nicht mehr imstande waren, all dies ist eine Konsequenz, die aus dem Verhalten dieser Figur Zienham-

26 Heimito von Doderer: Die Strudlhofstiege oder Melzer und die Tiefe der Jahre. München 1951, S. 843.

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m e r zu ziehen ist, die so recht dazu angetan ist, die eifrig behauptete Entlastung des Militärs, das zuletzt als Friedenstruppe dazustehen scheint, wieder rückgängig zu machen. 2 7 Die Frage nach d e m Verhalten von Offizieren und Soldaten in den Kriegen ist in der letzten Zeit in Österreich akut geworden. Es ist legitim, auch die literarische Existenz der Offiziere zu überprüfen; aber, w i e schon eing a n g s festgestellt, es soll dies keine U n t e r s u c h u n g s k o m m i s s i o n sein, sondern vielmehr eine Frage nach d e m literarischen U m g a n g mit einer Rolle, die für einen großen Teil der österreichischen Bevölkerung identitätsstiftend wurde. D i e grobe Skizze, die ich zu geben suchte, bedarf der verfeinerten Durchführung. Einige Positionen seien i m m e r h i n abschließend hervorgehoben: Für die österreichischen Autoren bleibt bis in die fünfziger Jahre die Bezugnahme auf den Militärkomplex zentral. Hatte nach d e m Debakel von 1918 Polgar die Uniform als das Kleid des Antimenschen, des Unmenschen schlechthin erklärt, so wird nun gerade dieses Ehrenkleid zumindest in der Fiktion nicht nur reingewaschen, sondern überhaupt als das ordnungsstiftende Element schlechthin erachtet. D e r Offizier, der nach d e m Verlust des militärischen Ranges auch seiner gesellschaftlichen Distinktion verlustig ging und zum verachteten M ä d c h e n für alles wurde, wird bei Eichthal zum Lebensallrounder und bei D o d e r e r zum gegenwartsbezogenen Apperzipierer, der im Zivil erst seine wahren soldatischen Fähigkeiten entfaltet. Auffallend ist die Tendenz, alles, was an Krieg, Aggression oder Tod erinnert, zu eliminieren. Gewiß fehlen meist jene drohenden T ö n e und jenes Postament, auf das die Heroen einer blutigen Zukunft gestellt werden sollen. Aber gerade diese Verharmlosung ist das, was nicht harmlos ist. Es braucht nicht eigens auf Karl Kraus und sein für ein Marstheater konzipiertes Monsterstück Die letzten Tage der Menschheit verwiesen zu werden, u m sich des Kontrastes von militärischer Realität und folgender Genremalerei bewußt zu werden. Wichtiger als dies scheint uns, daß bei Lernet-Holenia, Eichthal und D o d e r e r die aggressiven Inhalte des Militärischen durch eine Akzentuierung der symbolischen Valeurs gemildert werden, und an die Stelle der Inhalte die Sprache der Zeichen, der Standarten und Fahnen, statt der T o d e s k o m m a n d o s die T ö n e der Fanfaren treten. Ein Studium des Komple27 Einen aufschlußreichen Vergleich zwischen Zienhammer und Kurt Waldheim hat Robert Menasse gezogen. Robert Menasse: Blümchen des Bösen? In: Falter. Wochenzeitschrift für Kultur und Politik 40 (1987), S. 1, S. 3f.

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xes Militär und Literatur sollte uns zu einem kritischen Studium dieser Zeichensprache stimulieren. Denn die Fahnen, Fanfaren und Uniformen gibt es noch immer, und es wäre töricht zu glauben, daß die alten Inhalte aus ihnen herausgebeutelt worden wären.

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Statistik und Roman. Uber Otto Neurath und Rudolf Brunngraber Daß es zwischen Denkern des ,Wiener Kreises' und den Schriftstellern in Osterreich kaum zu nennenswerten Kontakten gekommen ist, verwundert nicht weiter: schienen doch das dort vertretene Bildungsideal und die Grundlagen jeglicher literarischer Praxis damals weit auseinanderzuklaffen. Zwar hatte Musil bereits 1912 - also noch lange vor der Existenz dieses Kreises notiert: Aller seelischer Wagemut liegt heute in den exakten Wissenschaften. Nicht von Goethe, Hebbel, Hölderlin werden wir lernen, sondern von Mach, Lorentz, Einstein, Minkowski, von Couturat, Russell, Peano ... Und im Programm dieser Kunst, das Programm eines einzelnen Kunstwerks kann dies sein: Mathematischer Wagemut, Seelen in Elemente auflösen, alles hängt dort mit allem zusammen und läßt sich daraus aufbauen.1 Haben nun die Autoren von diesen Denkern, von diesen Physikern und Mathematikern gelernt? Wenn man Hermann Brochs Roman Die unbekannte Größe (1951) studiert, wird man sich zwar inne, daß eine Auseinandersetzung mit der Mathematik stattgefunden hat, aber die Pointe liegt gerade darin, daß die Hauptfigur, der junge Mathematiker Richard Hieck, eben die Grenzen der Mathematik erkennt und sein Sieg als Wissenschaftler eine Niederlage des Menschen Hieck ist: als sein Bruder Selbstmord begeht, muß er die Begrenzung seines Denkens statuieren. Broch hatte Kontakt zu Denkern des ,Wiener Kreises', und die Beziehungen im einzelnen darzutun, wäre ein faszinierendes Kapitel der Geistes- und Literaturgeschichte. Auch Musil hatte zu einem der führenden Köpfe Beziehungen, aber das scheint nicht so reibungslos gewesen zu sein, wie man es sich gerne vorstellen möchte. Musil wurde bereits 1920 zu einem Vortrag geladen und notierte über den in so vielen Gebieten tätigen Wissenschaftler Otto Neurath (1882-1945):

1

Robert Musil: Gesammelte

Werke. Bd. 8, hrsg. von Adolf Frisé. Reinbek 1978, S. 1318.

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Etwas Kathederstreithengst. Aber mit einer sprengenden Energie. Die ... haben nach ihrem geistigen Zusammenbruch Max Weber und mich eingeladen, um ihnen (!) zu erzählen, woran sie glauben könnten. Ich habe ihnen auch nicht helfen können: darin liegt doch viel von der Stellung des Professoralen in Deutschland. Hat ein Notizbuch mit sehr vielen energischen Eintragungen. Erledigtes ordentlich ausgestrichen. Ist anscheinend mit den Gedanken immer anderswo. [...] Ist jetzt sehr viel auf den Beinen, knüpft nach allen Seiten Verbindungen an.2 Als einzigem Mitglied des ,Wiener Kreises' ging es Neurath darum, eine Soziologie „in Einklang mit den Grundannahmen des Logischen Empirismus aufzubauen". 3 - Entsprechend seiner Physikalismusthese kann die Soziologie als Teil der Einheitswissenschaft nichts anderes sein als eine Theorie spezieller räumlich-zeitlicher Vorgänge. 4 Neurath hoffte, daß er in einer Einheitssprache, auf den Grundlagen einer von der Physik her entwickelten Sprache, alle physikalischen und in der Folge auch alle biologischen, psychologischen und soziologischen Vorgänge beschreibbar machen könnte. „Man könnte von der Physik der Gesellschaft ebenso sprechen, wie von der Physik der Maschine" (1931). 5 Dieser Optimismus wurde vor allem bildungspolitisch aktiv, indem er versuchte, seine Einsichten für die Arbeiterschaft mitteilbar zu machen. Dabei schien ihm die Statistik das willkommene, unentbehrliche Mittel. Damit hoffte er, aufklärerisch zu wirken. Vor allem versuchte Neurath, durch die Bildstatistik in seinem Wirtschaftsmuseum didaktisch seine Wege zu gehen. Seine Leistungen wurden international anerkannt, und 1934, als Dollfuß das Parlament ausgeschaltet hatte und es zu den Unruhen kam, weilte Neurath gerade in Moskau. Er kehrte nicht mehr nach Osterreich zurück, war aber weiterhin mit der Einrichtung von sozialwissenschaftlichen Museen befaßt, in Amsterdam und Großbritannien, wo er, 1945 im elften Jahr des Exils, verstarb. Sein Lebenswerk hatte vor allem einer gesellschaftlich wirksamen Philosophie gegolten; eine Philosophie ohne Metaphysik sollte dem Proletariat dienen, und dieses sollte zum Träger dieser Wissenschaft ohne Metaphysik werden. 6 2 3 4 5 6

Robert Musil: Tagebücher. 2 Bde., hrsg. von Adolf Frise. 2. erg. Aufl. Reinbek 1983, Bd. 1, S. 429. Otto Neurath: Wissenschaftliche Weltauffassung, Sozialismus und logischer Empirismus, hrsg. von Rainer Hegselmann. Frankfurt/M. 1979, S. 45. Ebd., S. 45. Ebd., S. 45. Ebd., S. 310.

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Von da aus ergeben sich Anknüpfungen zur Literatur. In Parenthese: Wer dächte nicht bei dieser ins Totale gehenden Welterfassung durch die Zahl an das von Musils Ulrich doch sehr ironisch lancierte „Erdensekretariat der Genauigkeit und Seele" 7 , das für „den Anfang einer geistigen Generalinventur" zu sorgen habe. Und: „Alle anderen Aufgaben sind vorher unlösbar oder nur Scheinaufgaben." Wer erinnert sich da nicht daran, daß der ,Wiener Kreis' sein entschiedenes Verdikt über alle metaphysischen Fragen gefallt und diese als Scheinprobleme und Scheinaufgaben denunziert hatte? Und Neuraths Glaube an die Statistik: läßt dies nicht so etwas zu, wie eine immerhin mögliche Realisation dieses „Erdensekretariats". 3 - In Ulrich selbst steckt viel von d e m Verhalten der Denker des ,Wiener Kreises' oder ihm nahestehender Leute: seine (und implizite Musils) Problematisierung des Geniebegriffs entspricht der Reduktion, die Edgar Zilsel (1891-1944) vorgenommen hatte 8 ; sein Vertrauen in die Statistik spricht er einmal - sarkastisch - an jener berühmten Stelle aus, da seine Cousine Diotima vom Wald zu schwärmen beginnt, und er sie mit der Frage nach der exakt-naturwissenschaftlichen Beschreibung überrumpelt. 9 Nun wird in Musils Roman zwar viel über diese Genauigkeit und damit auch über die Funktion der Statistik geredet, diese selbst wird aber nicht in der Form, in der dies auch möglich wäre, thematisch. Ganz nachhaltig hat sich dies jedoch in einem Buch ausgewirkt, das lange Zeit in Vergessenheit geraten war und erst 1978 durch einen Reprint wieder zugänglich wurde, ein Buch, das nach seinem Erscheinen an der Jahreswende 1932/33 ein unerhörter Erfolg wurde und auch so etwas wie ein Unikum in der Literaturgeschichte darstellt. Ich meine den Roman Karl und das 20. Jahrhundert von Rudolf Brunngraber. Rudolf Brunngraber, geboren 1901 im Arbeiterbezirk Favoriten, fristete nach d e m Zweiten Weltkrieg m e h r schlecht als recht sein Leben in Wien; er schrieb, lehrte an der Sozialistischen Bildungszentrale, betrieb ein Kunstgewerbestudium, das ihm ein Mäzen finanzierte. Er war in Skandinavien in verschiedenen Berufen tätig. Er zeigte 7 8

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R. Musil, Werke (Anm. 1), 2. Bd., S. 597. Vgl. Edgar Zilsel: Die sozialen Ursprünge der neuzeitlichen Wissenschaß, hrsg. und übersetzt von Wolfgang Krohn. Mit einer biobibliographischen Notiz von Jörn Behrmann. Frankfurt/M. 1976. Vgl. besonders die Arbeiten Edgar Zilsels: Die Geniereligion. Ein kritischer Versuch über das moderne Persönlichkeitsideal. Leipzig, Wien 1918. - Die Entstehung des Geniebegriffs. Ein Beitrag zur Ideengeschichte der Antike und des Frühkapitalismus. Tubingen 1926. R. Musil, Werke (Aura. 1), 1. Bd., S. 280.

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dem Leiter des Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseums Otto Neurath einen pathosgeladenen Roman, dessen Held tragisch verunglückt. Neurath - von seinem Literaturverständnis ist wenig bekannt 10 - kritisierte das Werk und verdammte es in Grund und Boden. Dies alles hätte Dostojewski schon besser geleistet. Er wies den jungen Brunngraber auf die Bedeutung ökonomischer Vorgänge hin, auf die Wirtschaftskrise, der die Welt zusteure, und so schrieb Brunngraber im Jahre 1932 seinen Roman Karl und das 20. Jahrhundert, dessen künstlerische Konzeption nur auf die von Neurath vertretene Auffassung zurückzuführen ist. 11 Worin besteht nun die Originalität dieses Konzepts? Der Held ist ein Findelkind, Karl Lakner, der im Jahre 1893 in Wien zur Welt kommt. Ein uneheliches Kind. Der Roman bezieht nun zur Gänze seine Energien daraus, daß der Autor das Schicksal seines Helden mit der ökonomischen Entwicklung verrechnet. Ansatzpunkt für die Beschreibung des Individuums Karl Lakner ist die Differenz zu dem, was die Welt bewegt. Dieser Karl Lakner ist als Mensch ein Anachronismus. Gleich zu Beginn konfrontiert Brunngraber seinen Helden mit Frederick W. Taylor, der 1880 „als Erster konsequent den Gedanken der Rationalisierung faßte". Karl kommt in Wien 1893 auf die Welt, und Brunngraber formuliert: „Mithin 6000 Kilometer von Mr. Taylor entfernt und nach 37 Jahren in der Generationenfolge. Der entwicklungsgeschichtliche Abstand betrug mindestens ein Jahrhundert." Und über den kleinen Karl, der gleich auf sein rechtes Maß zurechtgestutzt wird, heißt es: „Der Unterschied zwischen den beiden Lebensebenen war so groß, daß es angezeigt ist, hier nicht einfach zu sagen: im Jahr 1893 kam Karl Lakner zur Welt, sondern: einer von den 40 Millionen schreienden Würmern, die damals geboren wurden, war 10 Neuraths erste Frau Anna (geb. Schapire, 1877-1912) war Schriftstellerin und Germanistin. Hier wären gewiß interessante Querbeziehungen zu erarbeiten. - Vgl. den ersten Teil des Katalogs. Zu Neuraths Literaturverstandnis siehe den Beitrag von S. Meissl: Vom Literaturhistoriker zum Literaten. Wege und Umwege Otto Neuraths. In: Arbeiterbildung in der Zwischenkriegszeit. Otto Neurath - Gerd Antz, hrsg. von Friedrich Stadler. Wien, München 1982, S. 112-118. 11 Die Zahlen in Klammer im Text beziehen sich auf die Seitenangaben des Neudrucks: Rudolf Brunngraber: Karl und das 20. Jahrhundert. Vorwort von Thomas Lange. Nachwort von Karl Ziak. Kronberg/Taunus 1978. In seinem erst 1949 geschriebenen Roman Der Weg durch das Labyrinth (Wien) porträtiert Brunngraber Neurath überdies als Leiter des „Sozialmuseums": „Für den ersten Eindruck sah er aus, als stiege er aus einem Kondottierebild des Castagno. Kahlköpfig, glattrasiert, mit einer viereckigen Nase, die wie ein Würfel aus dem Gesicht sprang, zwei Meter groß, mit bergigen Schultern und fettem Bauch." (211)

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der Anfang eines Menschen, der sich später seiner als Karl Lakner bewußt w u r d e . " Die Korrektur des gängigen Erzähleinsatzes von der Geburt eines Helden im Entwicklungs- oder Schelmenroman (vergleichen Sie einmal Thomas Manns Felix Knill dazu!) erfolgt durch die Statistik: dieses unverwechselbare Individuum, das im Roman ja seine Individualität entfalten könnte und - im deutschen Bildungsroman - ja auch am Ende, wenngleich nur punktuell, so doch irgendwie, ein Glück erfahrt, wird zu einem von 40 Millionen und scheint durch seine Herkunft für das Unglück programmiert. Der Roman bezieht seine Energien durchgehend aus dieser Konfrontation von individuell erlebtem Schicksal Karls und den dicht präsentierten Fakten und Zahlen aus der Sozialgeschichte und politischen Geschichte. Der Lebenslauf Karls ist dem Brunngrabers mit geringen Retouchen zumindest in den Anfangen analog. Karl wird Lehrer - der für den Aufsteiger typische Beruf. Er erhält keinen Posten. Er rückt ein, kommt an die russische Front, erlebt so ziemlich alles, was es in diesem Krieg zu erleben gibt; er gerät in russische Gefangenschaft, wird ausgetauscht, macht eine Ausbildung als Fliegeroffizier, erhält sogar einen hohen Orden und kann Kaiser Karl im Rundflug über Udine führen. (143f.) Das Desaster setzt nach dem Krieg ein: Karl kommt zurück, schwer verwundet nach einem Abschuß, aus italienischer Kriegsgefangenschaft. Seine Eltern sind tot; er erlebt die Wirtschaftskrise, macht eine Reihe von Berufen mit: ist Holzfäller in Schweden - eine Zeit, die für ihn eine Art Idyll bedeutet (1922-1927), dann Buchhalter in einer Wiener Firma, die ihn aber in der Krisenzeit 1930 entläßt. Der Arbeitslose wird dann kurz Malermodell, schläft im Asyl, muß seinen Mantel versetzen. Ehe er einen Raub begehen kann, begeht er Selbstmord: er wirft sich vor einen fahrenden Zug. Dieser Karl Lakner ist in mancher Hinsicht ein Gegenstück zu den großen Heroenfiguren, die damals in Roman und Drama gefeiert wurden. Brunngraber ist darauf aus, die Bedeutung seiner Zentralfigur zu reduzieren, wo es nur geht, ihre Bedeutungslosigkeit zu erweisen. 1 2 Der Lebenslauf Karls ist aber auch konträr zu dem Ulrichs in Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften: Während sich dieser Intellektuelle allen von der Gesellschaft ihm zugemuteten Identitäten entzieht, nämlich der Identität als Offizier, Beamter und Gelehrter, so kann dieser Karl seine Identität in keinem der Berufe finden. Während Ulrich zuletzt in seinem Mystikerbewußtsein über die Statistik

12 Vgl. dazu den Aufsatz Bedürfnis nach Geschichte, in diesem Band S. 92-106.

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triumphiert, wird Karl ein Opfer eben seiner Ignoranz in bezug auf diese Fakten, deren Fixierbarkeit in der Statistik (nach Neurath) gewährleistet schienen. Natürlich, und das ist für die Gestaltung des ganzen Romans entscheidend, kann dieser Karl nicht in der Weise Profil gewinnen, in der das sonst Romanfiguren möglich ist; sein Außeres, sein D e n k e n (mit geringen Ausn a h m e n ! Vgl. 144) bleibt opak: Er erscheint als einer der Betroffenen, deren Gesamtmenge in der Zahl angegeben wird. Reispielhaft ist der Abschnitt, in d e m zunächst auf die Folgen des Krieges eingegangen wird und dann auf das Individuum Karl L a k n e r übergeblendet w e r d e n kann. (148-150) D e r Text entsagt jener psychologischen Vermittlung, in der auf die besondere Lage Karls Rücksicht g e n o m m e n wird, er versagt sich auch den K o m m e n t a r zur Massenpsychose, die die Kriegsbegeisterung erklärt. Musils großer Roman hätte nach den Plänen seines Verfassers hingegen zwingend darstellen sollen, wieso Krieg k o m m e n mußte. 1 3 Auf diese Komplexität verzichtet Brunngraber u n d präsentiert lediglich die Gegenrechnung durch die Statistik. D e m Einwand, daß durch diese statistische Methode nun das - sagen wir grobschlächtig - anthropologische M o m e n t zu kurz k o m m e , hat Neurath bereits in einem Aufsatz von 1928 vorzubeugen versucht: Es „ w e r d e n bereits Stimmen laut, welche von einem Sieg der statistischen Betrachtung über die Kausalbetrachtung reden. [...] Statistik ist nicht eine Spezialangelegenheit für Fachleute, sondern gehört der Gesamtheit", u n d : Hygienische Maßnahmen können allzuleicht wie technische Leistungen als Äußerungen menschlichen Scharfsinns erscheinen oder als Hilfsmittel, mit denen der besser Orientierte sich sichern kann; erst die Statistik macht sie zu einer Sache menschlicher Betrachtung. [Jetzt der entscheidende Satz:] Die statistische Denkweise entfernt nicht vom lebendigen Menschen, sie führt zum lebendigen Menschen hin. Sie zeigt, wo der einzelne mitleiden kann, wo er sich mit zu freuen vermag. Sich mit den anderen als eine Gemeinschaft fühlen kann man nur, wenn man lebhaft vor Augen sieht, wie die Gesamtheit leidet und sich [...] 14 [freut]. Statistik wird zuletzt als „Werkzeug des proletarischen Kampfes" 1 5 verstanden. 13 R. Musil, Werke (Anm. 1), 7. Bd., S. 941. 14 Neurath, Wissenschaftliche Weltauffassung (Anm. 3), S. 292f. 15 Ebd., S. 194.

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In diesem umgreifenden Konzept einer Umorientierung auch der Erziehung ist Brunngrabers Roman zu verstehen. Hatte die Erziehung früher vor allem auf Basis der humanistischen Bildung auch ein Ideal zu verbreiten gesucht, das man daher als humanistisch in einem noch umfassenderen Sinne bezeichnete, wird nun versucht, die Literatur für eine primär von mathematisch-naturwissenschaftlicher Seite bestimmte Bildung einzusetzen. Ganz wie die von Neurath geforderte Bildstatistik illustriert der Roman die Entfaltungsmöglichkeiten des Individuums. Er versucht, die Sprache der Literatur eben in jene geforderte Einheitssprache überzuführen, die Angelegenheit und unerreichtes (und vielleicht auch unerreichbares) Ideal dieses ,Wiener Kreises' war. Verzicht auf Individualisierung durch Sprache: das schlägt sich auch darin nieder, daß diesem Karl Lakner nie das Wort erteilt wird, daß er nie zu Wort kommt, keine eigene Sprache hat (ganz im Gegensatz übrigens zu Musils Ulrich!). Immerhin hält der Roman durchgehend daran fest, daß der Mensch Karl Lakner nicht in dieser Weise in Zahlen ausdrückbar ist, wie dies für die sozialgeschichtlichen Daten möglich ist. Dies ist auch der Rest eines Widerstandes, der sich gegen die von Neurath propagierte Hoffnung auf die Statistik behauptet. Das Verdienst dieses Romans liegt darin, wie kaum ein anderes Buch ein Einzelschicksal mit ökonomischen Daten und Fakten zu verrechnen. Das Verfahren als solches ist unwiederholbar, und Brunngrabers spätere Versuche bestätigen nur diese Einsicht. Brunngraber zeigt, wie der Held seinen Glauben an Gott verliert, auch wenn er vom Glauben an die „Gerechtigkeit der Dinge" nicht loskommt. Er zeigt, wie an die Stelle des vagen Gottesbegriffes nun aber ein Schicksalsbegriff bei dem Helden tritt. (191) Als Motto findet sich ein Ausspruch Napoleons „Die Politik ist das Schicksal", dem Brunngraber aber ein dieses aufhebendes Gegenmotto „Die Wirtschaft ist das Schicksal" entgegensetzt. Wirtschaft erscheint hier als das Unentrinnbare.16 Der in seiner Frühzeit von Spengler abhängige Brunngraber ersetzte die zyklische Geschichtsbetrachtung Spenglers durch die in Zahlen ausdrückbare, frei von jeder irrationalen Begründung der Zusammenhänge. Der Gang der Geschichte selbst liefert das ästhetische Programm dieses Romans. Zu Beginn stellt Brunngraber fest: „Eine auf Erden nie erhörte Sachlichkeit bestimmte den Gang der Dinge." (22) Das ist im Zusammenhang mit dem Taylorismus zu sehen, dessen Entwicklung eben die Entwicklung Karls verhindert hat.

16 Das Motto fehlt in der zitierten Ausgabe.

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Karls noch im Metaphysischen verankerte Weltansicht, der er nicht entrinnen kann, steht in Opposition zu dieser Sachlichkeit. Die Grundposition der Neuen Sachlichkeit wird von Brunngraber in seinem Roman darüber hinaus durch die konsequente Einführung der Statistik radikalisiert. Dieser von der Sachlichkeit geprägten Welt kann nur ein von demselben Pragmatismus bestimmter Stil antworten. Auf der anderen Seite ist zu berücksichtigen, daß gerade in diesem Roman das von dem Lehrer Neurath gebotene Prinzip der statistischen Welterfassung problematisch wird. Der Roman zeigt, was für die Literatur jenseits jener Zahlenangaben zu leisten besteht. Der Autor tritt als deren Vermittler auf, und zur Vermittlung benötigt er unbedingt das Individuum Karl Lakner. Auch wenn er noch so viele Fakten mitteilt: es bedürfen diese Zahlen, selbst dann, wenn sie höchst anschaulich vorgebracht worden sind, der Interpretation. Diese hermeneutische Arbeit - nämlich diese Umsetzung der Daten in eine gemeinverständliche Sprache - hat der Roman auf sich genommen. Wie zynisch jedoch die Statistik, soferne dies von Neurath geforderte humanistische Moment nicht respektiert wird, sein kann, dokumentiert sich in dem eindrucksvollen und quälenden Schluß: von Karl Lakners Ende erfahren wir nur das, was die öffentliche Sprache übrigläßt: eine Zeitungsnotiz. Ihr steht eine andere Pressemeldung gegenüber, die berichtet, was der Mensch als Summe chemischer Stoffe betrachtet ist. Mit diesem Abschluß, der zugleich jegliche inhumane Wissenschaft und auch eine statistische Methode richtet, die sich ihrer anthropologischen Dimension nicht bewußt ist, endet Brunngraber den Roman nicht: er bietet noch ein Bild, in dem die Trauer der Natur eingefangen ist. Vögel, die über ihren toten, erfrorenen Kameraden kreisen. Ein einprägsames Bild, das in keine statistische Angabe übertragbar ist: In der heutigen Selbstmordrubrik nimmt der Fall des arbeits- und unterstandslosen Karl Lakner eine eigene Stelle ein. Die Aussagen der Prostituierten M. L., die dabei anwesend war, leuchten trotz ihrer Knappheit augenscheinlich tief in ein Menschenschicksal hinab. Wie die M. L. erzählt, kam Karl Lakner, den sie von einer Begegnung im Herbst her kannte, mit der Bitte um Geld auf ihren Standplatz. Er hätte, beteuerte er, seit Tagen nichts gegessen. Da die M. L. sah, daß er weder einen Mantel, noch ein Hemd unterm Rock anhatte, dauerte er sie. Aber sie hatte noch nichts verdient und bat ihn also, zu warten. In dieser Zeit redete Karl Lakner ununterbrochen von seiner Kindheit. Vor allem erzählte er, daß ihm die Gegend sehr vertraut sei, da er als Knabe tagelang auf dem Parkgitter in der Nähe gesessen hätte. Nun

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gestand er auch, daß er das Geld nicht für Eßsachen aufwenden, sondern vertrinken wolle. Er hätte, sagte er, wie jeden Tag seine Klostersuppe gehabt, aber er hielte es mit seinen Gedanken nicht mehr aus und er spüre überdies furchtbare Stiche in der Lunge. Nach einer Weile dann kam ein Mann vorüber, mit dem die M. L. ins Hotel ging. Er war betrunken und begleitete sie nachher wieder zurück. Nun gab sie Karl Lakner eine der beiden Fünfschillingnoten, die sie erhalten hatte, wobei sie die Bemerkung machte, der Mann müsse nach dem, was er in der Brieftasche trage, sein Geschäft verkauft haben. Die Bemerkung machte die M. L. in ihrer Freude über den verhältnismäßig hohen Verdienst. Aber sie hatte den Satz kaum ausgesprochen, als Karl Lakner hinter dem Betrunkenen herrannte. Nun begann die M. L. zu schreien, weil sie Scherereien fürchtete, und rannte gleichfalls hinter den beiden her. Mittlerweile hatte Karl Lakner den Betrunkenen auf dem Bahnübergang beim Arsenal erreicht und gestellt. Als auch die M. L. auf die Brücke kam, hörte sie den Mann in höchster Angst rufen: Meine Kinder! Da sei Karl Lakner wie ratlos zwischen ihnen stehen geblieben. In diesem Augenblick kam aber der Mitternachtszug von der Station Favoriten herab und Karl Lakner schwang sich über die Brüstung, ehe man ihn zurückhalten konnte. Nach Angaben des Dr. Charles H. Maye in Rochester ist ein Mensch nicht mehr und nicht weniger wert als vier Mark, wobei Dr. Maye die Bemessung exakt auf Grund der Verwertbarkeit der in einem Menschen enthaltenen Rohstoffe vornimmt. So reicht das Fett eines Menschen zur Herstellung von sieben Stück Seife. Aus dem Eisen eines Menschen läßt sich ein mittelgroßer Nagel machen. Der Zucker langt für ein halbes Dutzend Faschingskrapfen. Mit dem Kalk kann man einen Kückenstall weißen. Der Phosphor liefert die Köpfe von 2200 Zündhölzern. Das Magnesium ergibt eine Dosis Magnesia. Mit dem Schwefel kann man einem Hund die Flöhe vertreiben. Und das Kalium reicht für einen Schuß aus einer Kinderkanone. Wie aus Kapstadt berichtet wird, bemerkten Regierungsbeamte, die kürzlich das Gebiet des Cathkin Peak in Natal bereisten, auf einem Hügel, auf dem sich jährlich die Störche der Gegend zu ihrem Flug nach Europa versammeln, große weiße Flächen, die sie zunächst für Schnee hielten. Als sie näherkamen, stellten sie fest, daß es viele tausend tote Störche waren. Die Vögel waren von einem Hagelsturm überrascht und zu Boden geschmettert worden, wo sie nun mit gebrochenen Flügeln und Beinen und übereinandergehäuft dalagen. Uber ihnen kreisten Wolken von anderen Störchen, die ihre toten Kameraden zu betrauern schienen. (288-290)

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Der Roman Brunngrabers enthält in sich eine glänzende Rechtfertigung der Literatur, des Erzählens, der Poesie. Er erreicht diesen Triumph über die exakte Statistik nur dadurch, daß er sie einbezieht, ihre Grenzen aufzeigt und den Raum neu zu bestimmen sucht, den die Literatur in diesem Zeitalter der Sachlichkeit einzunehmen habe.

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Bedürfnis nach Geschichte Der Krieg ist vorbei. Heinz Günther, der junge, gewissenhafte Deutsch- und Geschichtsprofessor an einem Wiener Gymnasium, macht mit seinen Schülern vor der Matura einen Ausflug in die Wachau. Auf einer Anhöhe erleben sie die Mondnacht, und plötzlich entsinnen sie sich der Nibelungen: „So würden sie einst ausziehen, wenn der Tag der deutschen Vergeltung kam [...]. Eine gerade, sichere Straße ins Feindesland hinein." Und dann lösen sich aus dem Munde des Lehrers Worte, „ungewollt und groß, wie das Rauschen des Windes, der die Wolken trieb"; beschwörend ruft er seinen Schülern zu: „Nehmt alle Kraft des Einst, die euch hier entgegenströmt, in euch auf und bewahrt sie! Ich glaube an euch! Himmel, Wolken, Land und Jahrhunderte glauben an euch, weil ihr die Zukunft seid!" Und von den Lippen eines Schülers löst sich's „ihm selbst unbewußt": „Deutsche Ewigkeit." Die anderen sprechen diese Worte nach - „wie ein Gebet". Mit dieser schaurig-schönen Szene schließt der Roman des unter den Nazis zu hohen Ehren gelangten Robert Hohlbaum (1886-1955) mit dem Titel Zukunft {1922).1 Die Verzweiflung an der Gegenwart läßt die Gedanken in eine Vergangenheit gehen, aus der man eine sichere Zukunft konstruieren zu können meint. Was gegen jede Veränderung mit Nachdruck in die Diskussion zu werfen ist, ist die „Kraft des Einst", Vergangenes wird zum Argument gegen den Status quo und gegen den drohenden Verlust der Geschichte. Die Konjunktur des historischen Romans in Osterreich unmittelbar nach 1918 ist zunächst durch die tiefe Unsicherheit zu erklären, welche die Umwälzungen hervorbrachten. Karl Hans Strobl (1877-1946), ein Gesinnungsgenosse Hohlbaums und Sudetendeutscher wie dieser, widmete seinen Bismarck-Roman, der während des Krieges entstanden war, „der deutschen Zukunft". 2 Als er die ersten beiden Bände konzipierte, schien ihm noch keine Bedrohung gegeben:

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Robert Hohlbaum: Zukunft. Leipzig 1922, S. 303-306. Karl Hans Strobl: Bismarck. 3. Bd: Die Runen Gottes. Leipzig 1922, S. 6.

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„Alles stand klar und fest." 3 Der dritte Band wird während der Weihnachtstage 1918 abgeschlossen, und der besorgte Verfasser fragt sich: „Welches Volk hat solchen Sturz in gleich kurzer Spanne seiner Geschichte erlebt?" 4 Adam Müller-Guttenbrunns (1852-1923) Roman Joseph der Deutsche erscheint im vorletzten Kriegsjahr, 1917. Der aus dem Banat stammende Autor, nach dem Krieg einige Zeit Abgeordneter der Großdeutschen Partei, beginnt diesen Roman mit dem Wort „Friede!" (gemeint ist der Friedensschluß von Teschen, der 1779 den Bayerischen Erbfolgekrieg beendete). Nicht nur der Einsatz hatte zur Zeit des Entstehens Signalwirkung - die ganze Handlung bezieht sich auf den Umbruch, auf die Wandlung, die durch den jungen Kaiser eintritt. Der Titel ist ein Programm: das Regierungsprogramm Josephs, überall das Deutsche, im politischen wie im künstlerischen Bereich, durchzusetzen. Wohl muß der Kaiser sehen, daß seine Pläne scheitern, aber so hofft der Autor - : „Sein geistiges Erbe befruchtet die ganze Welt." 5 Mögen diese Bücher auch noch vor dem Untergang der Habsburgermonarchie entstanden und auch erschienen sein: die darin abgehandelten Themen verloren ihre Aktualität nicht. Bismarcks schonendes Verhalten Osterreich gegenüber, wie Strobl es sieht, die deutsche Kulturtat, die ein Joseph II. endlich gesetzt hat, all dies liefert Perspektiven für die Zukunft. Strobl und Müller-Guttenbrunn gingen in ihren Büchern davon aus, daß für die Diskussion der Gegenwartsthematik der historische Roman die beste Form der Einkleidung bot. Es ist daher weiter nicht verwunderlich, daß in der Folge der historische Roman von Autoren unterschiedlicher politischer Observanz in den Dienst genommen wurde. Die Unterschiede zur „klassischen Form des historischen Romans", wie Georg Lukäcs sie darstellte, sind auffallend, und aus diesen Unterschieden erhellt die besondere Funktion, die diesen Werken zukommt. Hatte Scott in seinen Romanen meist einen „mittleren Helden" gezeigt, der in seiner Biographie den Gang der großen Geschichte kaum berührt und zugleich infolge seiner Stellung zwischen zwei Fronten von einer gewaltigen historischen Umwälzung betroffen zu sein scheint 6 , so hat es der historische Roman seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf Monumentalität angelegt. Bismarck und

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Ebd., S. 5. Ebd., S. 5. Adam Müller-Guttenbrunn: Joseph der Deutsche. Ein Staatsroman. Leipzig 1917, S. 378. Georg Lukäcs: Werke. 6. Bd.: Probleme des Realismus III: Der historische Roman. Darmstadt 1965, S. 41.

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Joseph II. ragen heraus aus der Masse, sie lenken die Geschicke der Völker, auch wenn ihnen der Erfolg versagt bleibt. Ganz anders die Helden Scotts; ein Waverley steht zwischen den Fronten, den fortschrittlichen, die Zivilisation in das schottische Bergland bringenden Briten und den archaisch-mythischen Gesetzen verpflichteten Clans. Während durch den „mittleren Helden" Scottscher Prägung nach Lukacs ein „neutraler Boden" geschaffen wird, „auf welchem die einander extrem gegenüberstehenden gesellschaftlichen Kräfte in eine menschliche Beziehung zueinander gebracht werden können" 7 , wird im historischen Roman nach 1918 ein Held gezeigt, der diese Gegensätze zwar überwindet, aber doch vor der Erreichung seines höchsten Zieles scheitert. Lukacs meint: Scott läßt [...] seine bedeutenden Figuren aus dem Sein der Epoche heraus erwachsen, er erklärt nie, wie die romantischen Heldenverehrer, die Epoche aus ihren großen Repräsentanten. 8 Genau das Gegenteil trifft in den meisten Fällen auf den historischen Roman nach 1918 zu. D e r einzelne bestimmt die Epoche, er prägt sie, nicht sie ihn. D e r „mittlere H e l d " scheint liquidiert. D a ß die Verehrung eines mächtigen M a n n e s gerade in der national-völkischen Literatur im Z e n t r u m steht, verwundert nicht weiter. Als einprägsamstes Beispiel ist hier Jelusichs Cäsar-Biographie (1929) zu nennen, in d e m - freilich unter anderen Voraussetzungen - das, was Strobl angekündigt hatte, weitergeführt wird. Für Strobl ging es nicht so sehr u m die konkrete Figur Bismarck; er erblickt in i h m vielmehr alles Deutsche: Dürer, Ludwig Richter, Beethoven u n d Brahms, Lessing u n d Jean Paul, Luther und Kant, die Quitzows und Jakob Böhme 9 , also nicht n u r den Politiker, sondern auch einen Schirmherrn der Künste, einen, der da k o m m e n soll und alle Gegensätze aufzulösen imstande ist. So heißt es im Vorwort: Der Gegenstand einer Bismarck-Dichtung muß sein: der Weg vom Persönlichen zum Überpersönlichen. Der Weg des Helden aus dem Bereich des Handelns zum Mythos.10

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Ebd., S. 44. Ebd., S. 47. Karl Hans Strobl: Bismarck. 1. Bd.: Der wilde Bismarck. Leipzig 1915, S. 5. Ebd., S. 5.

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Auch Jelusich zeigt seinen Cäsar auf dem Weg zum Mythos - einem Mythos, der allerdings mit dem „habsburgischen" nicht mehr viel zu tun hat. Hatte Strobl noch keine konkrete Führerpersönlichkeit anvisieren können und mit Bismarck nur das zu den Sternen entrückte Leitbild entworfen, so hatte Jelusich für seinen Cäsar bereits Vorbilder und Anregungen. Mussolini, der den Autor nach dem Erscheinen des Buches zu einem Gespräch empfing, sowie Hitler, dessen aus dem „Geist der Frontsoldaten" geborene Bewegung seinem Leben neuen Sinn gegeben haben soll.11 Mit seinem Cromwell habe er, so Jelusich wörtlich, eine „kaum noch getarnte Hitler-Biographie" schreiben wollen.12 Und Karl Hans Strobl hielt, nachdem Hitler in Osterreich einmarschiert war, eine Rede mit dem Titel Bismarck und Hitler. Cäsar kann sich, nachdem er zum Diktator geworden ist, rühmen: Ich bin der Herr der Welt! Ich! Ich! Wenn es mir beliebt, halte ich den Erdball und hebe ihn zu den Sternen empor; wenn es mir beliebt, lasse ich ihn aus meiner Hand fallen, unbesorgt darum, ob er zerschellt oder nicht! Das hat mich allein zu kümmern und niemanden sonst! Denn von heute an gibt es nur noch einen Willen - Caesars Willen!13 An dieser Stelle denkt wohl jeder an die Szene aus Chaplins Film Der Diktator, an dessen Spiel mit dem Ballon. So wird auch die Masse, das Volk vergleichsweise uninteressant. Es dient als Kulisse, es applaudiert oder buht. Ehe Osterreich noch von den Reden Hitlers behext werden konnte, lieferte Jelusich bereits ein klassisches Beispiel für eine solche Rede.14 Und zugleich kann man der rhetorischen Praxis des Faschismus auch in die Karten schauen: der umjubelte Cäsar bezeichnet seine Rede Crassus gegenüber als „verbrecherischen Unsinn". Aber die Machtmenschen benötigen auch das Schlichte. Nahezu jeder dieser Heroen - und Jelusichs Cäsar ist da repräsentativ für viele - hat eine Bezugsperson aus dem einfachen Volk, die dem Helden Trost, Einkehr und Rat gewähren kann. Für Cäsar ist dies der Transpadaner Cabu-

11 Mirko Jelusich: Biographischer Abriß, In: Kurt Ziesel (Hg.): Krieg und Dichtung. Soldaten werden Dichter - Dichter werden Soldaten. Ein Volksbuch. Wien 1940, S. 247f. 12 Ebd., S. 248. 13 Mirko Jelusich: Caesar. Wien, Leipzig 1929, S. 413. Man vergleiche am Schluß von Canettis Komödie der Eitelkeit (entstanden 1933/34) die Selbstapotheose Heinrich Föhns, der mehrfach das Wort „Ich" ausruft. 14 M. Jelusich, Caesar(Anm. 13), S. 104-106. Siehe Dokumentation!

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ras. Diesem verkündet er auch als erstem, daß der ganzen Transpadana offiziell das Bürgerrecht zuerkannt wird. „Tiefes, erschüttertes Schweigen folgt den Worten, die der großen Sehnsucht eines ganzen Volkes endlich Erfüllung bringen." Der Anschluß, Lohn der „beispiellosen Treue und Geduld", ist vollzogen. 13 Freilich ist die Masse wichtig, um jedes politische Programm durchzusetzen. Das wußte Jelusich, der über Max Stirners Der Einzige und sein Eigentum dissertiert hatte, genau. Als Motto über seinen Roman Hannibal (1934) setzt er: „Nicht der Einzelne ist unüberwindlich, sondern die geschlossene Gemeinschaft." Immer ist es der einzelne, der die auseinanderstrebenden Momente zu einer Einheit zu formen weiß. Die Faszination, welche die Gestalt Casars ausübt, ist so groß, daß mit ihr auch die Masse der Römer geadelt wird, sofern sie dem Militär freundlich gesinnt ist. Bewunderung gilt dem Germanen Ariovist, und da muß die Geschichte etwas zurechtgebogen werden. Ariovist ist der von Cäsar zutiefst bewunderte Gegenspieler, den er aber doch überwindet, weil er sich nicht von „falscher Gefühlsduselei" leiten lassen will. Er, der bereit ist, Gallien mit Ariovist zu teilen, tut es doch nicht, weil er fürchten muß, daß der Germane ihn vertreiben könnte. 16 Mit der Geschichte braucht mein es nicht genau zu nehmen. Das Buch ist darauf angelegt, als Kommentar zur Zeitgeschichte gelesen zu werden, und will nicht als Wiedererweckung vergangener Epochen oder als legitimer Nachfolger des Epos verstanden werden. 17 Die Kulturgeschichte, sonst ein integratives Element im historischen Roman klassischen Typs, wird aus dem Roman verdrängt, um mitunter peinlichen Anachronismen Platz zu machen: Cäsar schält nebenbei eine Orange 18 , die Frauen haben meist Strickzeug bei sich, und der Held kürzt Servilia, den Namen seiner Geliebten und damit auch der Mutter seines Sohnes und späteren Mörders Brutus (!), burschikos mit „Vili" ab. Es dominiert der Biographismus im historischen Roman. Immer wieder sind es einzelne, durch deren Leben der Geschichtsablauf faßbar gemacht werden soll. Die Bewunderung für den einzelnen macht sogar nationale Ge-

15 Ebd., S. 205. 16 Ebd., S.231f. 17 Vgl. Hans Vilmar Geppert: Der „andere" historische Roman. Theorie und Strukturen einer diskontinuierlichen Gattung. Tübingen 1976, S. 2f. 18 M. Jelusich, Caesar (Anm. 13), S. 114. In späteren Auflagen schält er einen Apfel.

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gensätze vergessen. Auch Hohlbaums Napoleon-Roman Der Mann aus dem Chaos (1933) setzt vor die nationalen deutschen Interessen die Bewunderung für das militärische und politische Genie Napoleon. In diesem Roman sind Handlungsanweisungen für den Führer versteckt. Die Konstellation Bourbonen - Napoleon entspricht eindeutig der Konstellation Habsburger (oder Hohenzollern) - Hitler. Dieser Napoleon fühlt sich als vom Volke gewählter Diktator: Ich bin kein Usurpator, ich bin kein Tyrann! Demokratischer ward noch nie eine Regierung eingesetzt. Wenn Ihr souveränes Volk die Diktatur will, wollen Sie ihm entgegentreten?19 Aus seiner Bewunderung für Napoleon macht Hohlbaum kein Hehl. Den Kaiser der Franzosen, der ein Feind Preußens war, macht er einfach zum Bewunderer Friedrichs des Großen, dessen Marmorbüste er aus seinem Arbeitszimmer in den Tuilerien nach St. Helena in sein Sterbezimmer mitgenommen hat. Und so geht Napoleon durch seinen Tod in die Geschichte ein: Napoleons Antlitz verklärt sich allmählich zur großen, erlösten Ruhe, so daß es dem Marmorbilde Friedrichs, das brüderlich verbunden auf den Toten niederblickt, seltsam gleicht.20 Die Romane gewähren dem Leser die Illusion, an entscheidenden historischen Augenblicken zu partizipieren. Der Autor scheint den Leser auf eine Gratwanderung mitzunehmen. Geschichte wird als eine Summe von Entscheidungen einzelner begriffen, deren Wirksamkeit allenfalls durch eine Häufung unerklärlicher Zufälle aufgehoben wird. Geschichte scheint so die Privatsache jener Personen zu sein, die sie machen. In Bruno Brehms (1892-1974) Trilogie, die vom Untergang des Habsburgerreichs handelt, wird eine Folge welthistorischer Szenen geboten, die zwar, äußerlich anspruchslos, die Chronik bedeutender Ereignisse sein, tatsächlich aber dartun wollen, wie es zu diesen umwälzenden Ereignissen gekommen sei. Eine Kette von Zufallen führt in dieser Trilogie denn auch zu den Schüssen von Sarajewo, so daß der Eindruck entsteht, als ob alles ganz anders gekommen wäre, hätte

19 Robert Hohlbaum: Der Mann aus dem Chaos. Ein Napoleon-Roman. 20 Ebd., S. 358.

Leipzig 1933, S. 84.

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der Thronfolger nicht gerade diese Route gewählt und wäre der Chauffeur nicht von Potiorek auf eine andere Strecke geschickt worden. Diese Bücher können so auch die trügerische Hoffnung wecken, daß Geschichte revidierbar sei, daß es Punkte gebe, von denen an alles ganz anders hätte kommen können. Ahnliche Vorstellungen zu wecken sind ja auch Stefan Zweigs ekstatische Sternstunden der Menschheit (1927) imstande. Inwieweit solchen Suggestionen damals eine kompensatorische Funktion zukam, sei hier dahingestellt: Teilnahme an der Fiktion als Trost für die Passivität, zu der der Leser sich verurteilt sah. Der historische Roman, der unauffällig auch die Rechte der Historiographie usurpiert, hat es nicht darauf angelegt, die Geschichte radikal umzudeuten und von jenem Schema abzurücken, das der Geschichtsunterricht tradiert. Es geht nicht darum, die Geschichte - dem Rate Walter Benjamins folgend - „gegen den Strich zu bürsten". 21 Der Leser kann sich in dem bestätigt sehen, was er weiß, oder findet die Lücken auf angenehme Weise durch Spekulation oder ernste Information aufgefüllt. Es ist verständlich, daß diese Form der Geschichtsschreibung Unbehagen auslöste und Gegenmodelle provozierte. An vier Beispielen sei nun versucht zu zeigen, wie diese Antworten aussehen konnten. Joseph Roths Roman Die hundert Tage (1935) braucht nicht nur auf Grund der Hauptgestalt Napoleon als Antwort auf Hohlbaums Der Mann aus dem Chaos gelesen werden. Hier ist Napoleon derjenige, der die legitime Herrschaft der Bourbonen bricht, der Diktator, der, ohne dafür die Voraussetzungen zu haben, zum Herrscher wird. Roths Versuch, aus dem Großen einen Kleinen zu machen, scheitert.22 Mit dem Fortschritt der Arbeit zeigt sich Roth fasziniert von der Gestalt Napoleons. Am Anfang des Romans ist er „nur der General seiner Soldaten" 23 , der die Sprache seiner Soldaten spricht. 24 Parallel zur NapoleonHandlung läuft die Geschichte der Angelina Pietri, die einem Wachtmeister zwar einen Sohn gebiert, aber keine Ehe mit ihm eingehen mag, weil sie dem Kaiser gehören will.

21 Walter B e n j a m i n : Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsätze.

F r a n k f u r t / M . 1964, S. 83.

Vgl. dazu die im Dokumententeil abgedruckte Polemik Schiller-Marmoreks gegen die Biographie aus d e m Jahre 1929. 22 Vgl. David Bronsen: JosephRoth.

Eine Biographie.

Köln 1974, S. 571f.

23 Joseph Roth: Werke, hrsg. und eingeleitet von H e r m a n n Kesten. 2. Bd. Köln 1975, S. 492. 24 Ebd., S. 497.

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Sie wußte auf einmal genau, daß sich alles Sinnlose und Törichte, das ihr geschehen war, gleichsam im gnadenreichen Schatten des großen Kaisers ereignet hatte. Sein Schatten noch hatte alles sinnlose Geschick vergoldet.25 Angelina entspricht in der Romanstruktur der Kontrastfigur des Caburus in Jelusichs Caesar. Allerdings besteht zwischen ihr und dem Kaiser keine Beziehung: Er wußte gar nichts von ihr. Winzig war sie und gering, geringer als eine der geringen Fliegen, die durch die Zimmer des Kaisers summten, unbemerkt und gar lästig.26 Angelinas Sohn fallt in der Schlacht bei Waterloo, der Kaiser ordnet selbst das Begräbnis an. Er ahnt nicht, daß die Mutter dieses Knaben, der kaum fünfzehn Jahre alt wurde, ihn bewunderte. Erst in der Niederlage wächst der Mächtige. „Er fühlte plötzlich den Segen der Niederlage" 2 7 , heißt es. Erst nachdem sein Zepter zerbrochen ist, wird er „der wirkliche Kaiser von Frankreich" 2 8 , ja er vergleicht sich sogar mit Hiob: „Wir alle sind eines Tages Hiob!" 2 9 Angelina selbst opfert sich am Ende, scheinbar sinnlos, für ihren Kaiser: sie stürzt sich in die wider Napoleon aufgebrachte Menge und ruft (frei nach Lucile in Büchners Dantons Tod): „Es lebe der Kaiser!" 3 0 Damit ist ihr Schicksal besiegelt. Sie stirbt neben einer Puppe aus Fetzen, die den Kaiser darstellen soll, mit der Marseillaise auf den Lippen. Auch Roth zeigt sich in diesem Roman fasziniert von der Figur des Führers, allerdings gewinnt dieser erst durch seinen Fall: aus dem Soldatenkaiser wird ein echter Kaiser. Was sich als Roman gegen Führer- und Feldherrnkult und damit auch als eine aus der Situation des Exils erklärbare Anti-Hitler-Parabel anläßt, verliert im Fortgang des Romans seine kritische Funktion und wandelt sich zusehends zum Bekenntnis zu der gefallenen Größe von einst; so fragwürdig der Aufstieg gewesen sein mag, so wenig anfechtbar ist er nun, da der Held seine Macht verliert. Im Untergang verklärt sich das Geschick Napoleons und An-

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Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

S. S. S. S. S. S.

567. 580. 599. 608. 592. 659.

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gelinas, die im Leben nicht zueinander kommen können und von deren Verbindung allein der Erzähler weiß, der Regie führt. Joseph Roth hat selbst von seinem Roman nicht viel gehalten 31 ; die Verquickung von Weltgeschehen und privater Geschichte ist völlig mißraten. Die über alles gelagerte Sentimentalität verhindert, daß aus der Konfrontation Angelinas und Napoleons eine Posse wird, wie sie etwa zur gleichen Zeit Fritz von Herzmanovsky-Orlando mit seinem Theaterstück Kaiser Joseph und die Bahnwärterstochter geschaffen hat. Weltgeschichte wird zu einer S u m m e von Zufällen, die dann als Geschick über edle Ereignisse zu dominieren scheinen. Es ist fast, als hätte Roth aus dem Munde Napoleons das Urteil über seinen eigenen Roman gesprochen: „ D a s Schicksal hat wahrhaftig billige Einfälle, wie ein billiger Dichter." 3 2 Jelusich verherrlicht den Aufstieg des Heroen, Roth dessen Untergang: eine bedenkliche Perspektive für Roths Roman, sollte das Buch als Kommentar zum Zeitgeschehen gelesen werden, da sie den Tyrannen dem Mitleid aller empfiehlt, indem dieser vor allem als Privatperson dargestellt wird. Privatisierung der Geschichte - mit diesem Verdikt hat man Roths Roman gebrandmarkt. 5 3 Noch mehr trifft dies auf Robert Neumanns (1897-1975) Struensee (1955) zu, der ebenfalls im Exil geschrieben worden ist. Auch hier steht das Scheitern eines Helden im Zentrum. Der Arzt Struensee (1757-1772) hat das Zeug zum Reformator in sich. Doch vollziehen sich die Umwälzungen auf seinen Befehl, nicht auf Grund historischer Notwendigkeit. Alles wird von oben diktiert; Struensee antizipiert mit seinen Reformen die Französische Revolution, mittelbar auch die sozialpolitischen Veränderungen der Zeit nach 1918. Doch nicht diese Aspekte stehen im Mittelpunkt: Neumann will seine Leser vielmehr mit der Liebesaffäre des Arztes und Emporkömmlings mit der aus England stammenden Königin Mathilde unterhalten. Die Reaktion siegt. Die sozialen Reformen werden zurückgenommen, die Emanzipation, durch die in Struensee verliebte Mathilde repräsentiert, erweist sich als undurchführbar, die ökonomischen Reformen Struensees werden von den Feinden als ein Werk „Alljudas" denunziert. 34 Das Volk, das

51 Vgl. D. Bronsen, Roth (Anm. 22), 5. 572. 32 J. Roth, Werke (Anm. 23), 2. Bd., S. 619. 33 Vgl. Elke Nyssen: Geschichtsbewußtsein

schen Antifaschisten

19)3-1945.

34 Robert N e u m a n n : Struensee. 1935, S. 356.

und Emigration.

Der historische Roman der deut-

München 1974, S. 93f.

Doktor, Diktator,

Favorit und armer Sünder.

Amsterdam

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Struensee zugejubelt hatte, delektiert sich an d e m Schauspiel, das die Exekution dieses verfrühten Revolutionärs bietet. N e u m a n n s Struensee ist ein Übermensch; seine körperlichen Fähigkeiten machen ihn zum Frauenliebling, sein Verstand zum „Herrscher ohne Krone". 3 5 N e u m a n n hat dieses Buch stets als Brotarbeit betrachtet und für einen seiner schlechtesten R o m a n e gehalten. 5 6 Nach d e m Krieg wurde das zunächst erfolglose Werk mehrfach aufgelegt und 1957 auch mit 0 . W. Fischer in der Hauptrolle verfilmt. Auch der Sozialdemokrat N e u m a n n kann die überdurchschnittliche Persönlichkeit nicht entbehren. Seine Antwort auf das Geschichtskonzept des faschistisch geprägten historischen Romans liegt nicht darin, die Entwicklung in einem umgreifenden ökonomischen Prozeß darzustellen, sondern darin, daß er einen Reformator als Heros präsentiert, der alle Probleme einer L ö s u n g zuführen kann. So ist es zuletzt auch möglich, in das Schicksal Struensees den Begriff der Tragik einzuführen, des unzeitgemäßen, weil zu früh in die Geschichte eingetretenen Revolutionärs. Es ist jedoch vor allem die private Tragödie, die N e u m a n n interessiert. Wollte m a n aus diesem Rom a n ein System historischer Kausalität herausdestillieren - es würde sich als ein Durcheinander kleinlicher privater Interessen und erotischer Beziehungen entpuppen. Von der Geschichte einer gescheiterten Revolution bleibt der Untergang einer Idee durch Anekdoten. Auch L e o Perutz (1882-1957) schreibt in seinem Roman Turlupin (1924) über eine gescheiterte Revolution. Allerdings berichtet er kaum von historischen Persönlichkeiten. Zwar gibt er vor, aus unedierten Quellen zu schöpfen, und beansprucht so einen hohen Grad an Authentizität. Döblins These, daß der historische R o m a n im K a m p f der beiden Tendenzen „Märchengebilde mit einem M a x i m u m an Verarbeitung und Minimum an Material und Romangebilde mit einem M a x i m u m an Material und einem M i n i m u m an Verarbeitung" 3 7 stünde, ist für diesen Fall dahingehend zu spezifizieren, daß ein M a x i m u m an Verarbeitung durch die Präsentation eines M a x i m u m s an fiktivem Material gestützt wird. D e r Held Turlupin verhindert einen insgeheim von Richelieu unterstützten Aufstand des Volkes gegen den Adel. Er hält sich selbst für einen Adligen und tötet den Führer der Aufständischen,

35 So der Untertitel der Auflage im Bastei-Verlag von 1972. 56 Robert Neumann: Ein leichtes Leben. Bericht über mich selbst und Zeitgenossen. Wien u.a. 1963, S. 54. 37 Alfred Döblin: Aufsätze zur Literatur. Ölten, Freiburg/Brsg. 1963, S. 176.

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den Vicomte de Saint-Cheron, der, weil er eine Bürgerliche heiraten wollte, siebzehn Jahre im Gefängnis „vergessen" und so zum Todfeind des Adels geworden ist. 38 Weil Turlupin fürchtet, von dem ihm nur als Kunde seines Ladens unter dem Namen Monsieur Gaspard bekannten Saint-Cheron als Barbiergeselle entlarvt zu werden, tötet er ihn und fällt in der Folge selbst im Gefecht. Die Revolution scheitert durch eine Serie von Zufällen, sie wird zu einer Tragikomödie, deren Held ein Narr ist. Als der Roman erschien, konnte der Leser die Anspielungen auf die gescheiterten Revolutionen in Wien, München, Berlin und Budapest leicht durchschauen. Mit dem Datum des fiktiven Aufstandes - 1 1 . November 1642 - hatte Perutz einen überdeutlichen Hinweis gegeben. 39 Das Elend, das in Paris zur Zeit Richelieus herrscht, kann leicht mit den Zuständen in Wien verglichen werden: Auch in den Tagen Richelieus war das Volk durch einen kostspieligen und langwierigen Krieg verelendet und durch die ungerecht verteilte Last der Steuern zur Verzweiflung getrieben.40 Auch von der Teuerung ist die Rede. 41 Ansonsten hält sich Perutz mit Anspielungen, die deutlich auf die Gegenwart verweisen, zurück. Ein wirres, an dieser Stelle nicht darlegbares Ineinander von Zufallen, für das auch Perutz die Bezeichnung „Schicksal" beansprucht, verhindert eine Umwälzung - 150 Jahre vor der Französischen Revolution. Eine Stelle gewährt einen aufschlußreichen Einblick in den Schicksalsbegriff Perutz' (und damit gewiß auch in den vieler seiner Zeitgenossen): Das Schicksal ging seine eigenen Wege. Noch einmal sollte das alte, dem Tod geweihte Frankreich über die Idee einer neuen Zeit triumphieren. Die Welt sollte um den Glanz des Sonnenkönigtums nicht betrogen werden. Um die Pläne des Titanen Richelieu zu durchkreuzen, bediente sich das Schicksal eines Narren namens Turlupin.42

38 39 40 41 42

Leo Perutz: Turlupin. München 1924, S. 14. Vgl. Masato Murayama: Leo Perutz. Die historischen Romane. Diss. Wien 1979, S. 124. Leo Perutz, Turlupin (Anm. 38), S. 12. Vgl. ebd., S. 61. Ebd., S. 15.

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Ein Narr wird zum Vollstrecker des Schicksals. Ein markanter Kontrast zu den Helden Jelusichs und Strobls, denen die gleiche Funktion zugedacht ist; Geschichte wird nicht von denen gemacht, die sich der Arm des Schicksals zu sein dünken, sondern von Narren. Eine nicht abreißende Kette von Mißverständnissen und Irrtümern steht dem sinnvollen Geschichtsablauf entgegen. Die Handlung wird durch den überaus oft strapazierten Zufall keineswegs glaubwürdig. Aber nicht darum geht es: durch den überkonstruierten Aktionszusammenhang werden historische Vorgänge einer Erklärung entzogen, die alles in ein einfaches Grund-Folge-Schema pressen möchte. Die vermittelnde Ironie des Erzählers läßt die Illusion entstehen, daß der Leser hier einen Blick hinter die Kulissen tun könnte. Konsequent interpretiert, läuft die Geschichtsauffassung Perutz' darauf hinaus, historische Vorgänge für schlechthin unerklärbar zu halten. Dieser Roman eröffnet keine Perspektive für die Zukunft, entwirft keine Hoffnung und errichtet auch kein Postament für eine neue Führerfigur. Das Schicksal hat den Narren ausersehen, nicht den genialen einzelnen. Ganz anders konzipiert und doch gut mit dem Roman von Perutz vergleichbar ist Rudolf Brunngrabers (1901-1960) Roman Karl und das 20. Jahrhundert (yd?)?)). Auch hier ist der Held das Gegenteil eines überdurchschnittlichen Heroen; Karl Lakner, Sohn eines Maurers und einer Waschfrau, wird 1893 in Wien geboren. Er besucht das Lehrerseminar, ist fleißig und strebsam, erhält aber keinen Posten; er erlebt im Ersten Weltkrieg als Soldat so ziemlich alles, was es da zu erleben gibt; er gerät in russische Kriegsgefangenschaft, kommt durch Gefangenenaustausch in die Heimat zurück, wird hochdekorierter Fliegeroffizier und als solcher in den letzten Kriegstagen schwer verwundet. Nach dem Krieg beginnen die Leidensjahre; er gehört zum Heer der Arbeitslosen. Ein längerer Aufenthalt in Schweden bedeutet für ihn die sorgenloseste und schönste Zeit seines Lebens, doch will er nach dem Tod eines Freundes nicht mehr in dieses Idyll zurückkehren. Karl Lakner begeht in Wien in tiefster Verzweiflung im Jahre 1931 Selbstmord. Das ist freilich kein historischer Roman im engeren Sinne. Aber Brunngraber hat eindeutig historische Vorgänge thematisiert. Es geht ihm nicht nur um die Biographie seines Helden Karl, der als „Bittgänger an dieser Welt"43 oder „kleiner Bimmerling" 44, bezeichnet wird. Brunngraber stellt neben die 43 Rudolf Brunngraber: Karl und das 20. Jahrhundert. Kronberg/Ts. 1978, S. 250 (Reprint der Ausgabe von 1933). 44 Ebd., S. 190.

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Biographie des Helden eine Fülle von wirtschaftsgeschichtlichen Daten. Der Held Karl lebt in einer Umwelt, die ihm nicht erklärbar ist, weil er in weltweite ökonomische Zusammenhänge keinen Einblick hat. Die Motti, die Brunngraber dem Roman vorangestellt hat, sind deutliche Indikatoren für das darin vertretene Programm. „Die Politik ist das Schicksal. Napoleon. Die Wirtschaft ist das Schicksal. Rathenau." 45 Es wird auch so etwas wie ein Schicksalsbegriff unterstellt, der jedoch definierbar ist durch die exakte Erfassung wirtschaftlicher Vorgänge. Allenthalben wird der Einfluß Otto Neuraths greifbar, als dessen Assistent Brunngraber im Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum mitarbeitete.46 Brunngrabers Roman zeigt sich durchgehend als ein Werk der Neuen Sachlichkeit.47 Die Zahlen sprechen, während dem Helden Karl Lakner im ganzen Buch kein einziges Mal eine Äußerung in direkter Rede gewährt wird. Von allen Antworten, die dem Konzept des aus völkisch-nationalem Ideengut inspirierten historischen Roman gegeben werden, enthält Brunngrabers Buch die triftigste. Daß er die Biographie Karl Lakners nicht mit dem Gang der allgemeinen Wirtschaftsgeschichte vereinen kann, liegt nicht an einer Unfähigkeit des Autors, sondern darin, daß der Held zwar von den ökonomischen Vorgängen abhängig ist, diese Abhängigkeit aber nicht durchschaut. „Karl kam nicht los von der Gerechtigkeit der Dinge, von seiner katholischen Erziehung und seiner Phantasie." 48 Auch Brunngrabers Roman zeigt keine Lösung auf. Uber alle Unterschiede hinweg verbindet ein hartnäckiger Pessimismus die Werke Roths, Perutz' und Brunngrabers. In den vier gewählten Gegenbeispielen von Roth, Perutz, Neumann und Brunngraber wirkt nicht die „Kraft des Einst", die Hohlbaum beschwor, um Perspektiven für die Zukunft zu eröffnen. Perutz und Brunngraber exemplifizieren historische Vorgänge am Gegenteil des überdurchschnittlichen Helden. Turlupin und Karl Lakner sind Instrumente oder Opfer einer höheren Gewalt, die bei beiden Autoren „Schicksal" heißt, welches im Falle Brunn45 Dieses Motto fehlt in der Ausgabe von 1979 und ist in der Erstausgabe (Frankfurt: Societätsverlag 1933) und in der Neuausgabe Karl und das 20. Jahrhundert oder die Zeitlawine (Frankfurt - Wien: Forum 1952) enthalten. 46 Vgl. Rudolf Brunngraber: Karl und das 20. Jahrhundert (Anm. 43), S. 22: „Eine auf Erden nie erhörte Sachlichkeit bestimmte den Gang der Dinge." Das Prinzip, das die ökonomischen und sozialen Vorgänge bestimmt, soll analog die ästhetischen Voraussetzungen des Romans bestimmen. 47 Vgl. Karl Ziak: Nachwort. In: R. Brunngraber, Karl und das 20. Jahrhundert (Anm. 43), S. 295. 48 Ebd., S. 191.

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grabers auf den Neimen „Ökonomie" getauft ist. D e m säkularisierten Messianismus der national-völkischen Autoren wird so eine entscheidende Abfuhr erteilt. Man mag über Brunngrabers künstlerische Fähigkeit oder Perutz' Schicksalsbegriff geteilter Meinung sein: diese Bücher machen nicht geschichtsblind in dem Sinne, in dem das die Romane eines Strobl, Hohlbaum, Jelusich und auch Neumann besorgen. Die Besorgnis zahlreicher Historiker 49 , daß durch die Flut von Geschichtsromanen ein verfälschtes Bild verschiedener Persönlichkeiten in Umlauf gesetzt werde, ist nicht so groß wie die Gefahr, die durch die stets auf die Gegenwart anwendbaren Konstellationen erzeugt wird. Hohlbaums Roman über die Französische Revolution, König Volk (1951), schließt mit dem Ende Robespierres, woran sich noch die Frage knüpft: „Wo ist die Hand, die uns fuhren wird? Tausend Hände recken sich in schwankender Sehnsucht nach Halt ins Ungewisse." 5 0 Solche zwanghaft auf Führung gerichteten Wunschvorstellungen entmündigen den Leser und machen die Taten „dessen, der da kommen soll", entschuldbar, wenn sie bedenklich scheinen sollten. Angesichts der Flut historischer Romane wurde selbst Jelusich bange; er wandte sich eigens an den Schriftsteller Werner Beumelburg, um Doubletten zu vermeiden. 5 1 Der Historiker W. Schüßler bemerkte 1928 über die im deutschen Reich erschienenen historischen Romane, daß „die politische Tendenz aller dieser Werke völlig eindeutig" sei: Ihre Verfasser, soweit sie sich mit deutscher Geschichte befassen, sind höhnende, ungerechte, deshalb verständnislose und jetzt noch haßerfüllte Gegner des alten Kaiserreichs, das Bismarck errichtet hat. Ich habe in der Besprechung des Eulenbergschen Buches [nämlich Die Hohenzollern von 1928, W. S.-D] kurz versucht, eine Reihe von Gründen für die Tatsache einzugeben, daß die Literaten alle der Linken angehören.52

49 Vgl. dazu Wilhelm Schüßler: Zur Einleitung.

In: Schriftleitung der Historischen Zeitschrift

(Hg.): Historische Belletristik. München, Berlin 1928, S. 5-8. 50 Robert H o h l b a u m : König Volk. Roman

aus der Französischen

Revolution.

Leipzig 1931,

S. 490. 51 Mirko Jelusich: Die Berechtigung

der historischen Dichtung. In: Völkischer Beobachter

18. März 1939, S. 6. 52 Historische Belletristik (Anm. 49), S. 7.

vom

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Das gilt freilich nur von jenen Romanciers, die Schüßler und seine Kollegen sich ausgesucht hatten. Uber solche, die wie Müller-Guttenbrunn, Strobl und Hohlbaum beim Leipziger Staackmann-Verlag das Sagen hatten53 und deren Werke ebenso dem inkriminierten Typ des „Tendenzromans" zugeschlagen werden können34, finden sich keine ablehnenden Worte. Tatsächlich wurde aber darin das Bedürfnis nach Geschichte umgemünzt in eine politische Offensive, die gerade für das instabile Osterreich verhängnisvoll werden mußte. Hans Dahlke hat die Bedeutung historischen Erzählens im Exil und die theoretischen Bemühungen um dieses ausführlich untersucht.55 Die historischen Romane der Emigranten sind in bezug auf Österreich als später Gegenstoß gegen die freche Geschichtsklitterung der national-völkischen Autoren zu werten. Und diese Bücher, „die nicht nur massenhaft gekauft, sondern auch wirklich gelesen"56 wurden, verdanken ihren Erfolg einer Einstellung, welche diesen Werken exemplarische Gültigkeit zuerkennt und die sich auf die unreflektiert übernommene Spruchweisheit von der Geschichte als „Lehrerin des Lebens" stützt. Heimito von Doderer, Verfasser zahlreicher historischer Feuilletons für den sozialliberalen Tag und später anfallig für den Nationalsozialismus, wußte es 1928 noch besser: ... die Geschichte ist keine „Magistra Vitae", keine „Lehrerin für das Leben", das ist nur ein Sprichwort. Jetzt gehen wir schon so lange in die Schule: Und werden am Schluß noch einen Fünfer bekommen.57

55 Vgl. dazu Robert Musil: Tagebücher,

hrsg. von Adolf Frisé. 1. Bd. Reinbek 1985, S. 624:

„Eine Empfehlung von Hohlbaum bedeutet großen Absatz." 54 Historische Belletristik (Anm. 49), S. 7. 55 Hans Dahlke: Geschichtsroman

und Literaturkritik

im Ejcil. Berlin, Weimar 1976.

56 Historische Belletristik (Anm. 49), 5. 6. 57 Heimito von Doderer: Geistige Epidemien. 18.

In: DerTag(Wien)

vom 25. Oktober 1927, S.

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DOKUMENTATION

I Die Intensität der Diskussion um die Funktion der Biographie im historischen Roman in Osterreich bezeugt ein Artikel Schiller-Marmoreks [recte: Peter Roberts] in der sozialdemokratischen Zeitschrift Der Kampf (22, 1929, S. 388-390), dessen Beginn hier wiedergegeben wird: Die Biographie ist die große Mode in der Geschichtsschreibung, die selbst auch in Mode gekommen ist. Jede Epoche der Menschheit entblättert sich nun zu einer Anzahl von Einzelporträts aller Länder, und alle Kulturgebiete werden durchwühlt, um aus ihnen eine Persönlichkeit erwachsen zu lassen, deren Lebenslauf geschildert wird. Es ist ein plutarchisch Zeitalter, das wir erleben. An den Anfang dieses „letzten Schreies" in der Literatur mag man Emil Ludwig stellen, der bis zum Himmel und zur Hölle vordringt, zum Menschensohn und zu Mussolini, um unentwegt zu biographieren. Seine Erfolge und hohen Auflagenziffern - Gesamtausgabe aller Werke und Ausgaben in zwölf Sprachen 1.500.000 Exemplare, verkündete stolz vor einigen Monaten der Prospekt des Verlegers - haben sicherlich zur Nachahmung in zwölf und noch mehr Sprachen gereizt. Aber woher die Witterung der Schreibenden, daß eine solche historische Betrachtungs- und Darstellungsweise den soziologischen Ursachen entspricht, auf die jeder „letzte Schrei", sei es in der Frauenkleidung, sei es in der Literatur, stets die zutreffende Antwort ist? Woher die Neigung des heutigen Publikums, das Rückwärtsgewandte in solcher Fülle, aber in eigenwilliger Gruppierung entgegenzunehmen? Als Vorläufer der neuen literarischen Mode dürfen gewiß die vielen Rechtfertigungsversuche der führenden Männer im Kriege, ihre Memoirenbücher, gelten. Dank ihnen gewann der Leser nicht bloß in die welthistorischen Ereignisse Einsicht, er sah auch die Intimitäten der Küche, in denen sie angeblich gemacht wurden, erfuhr allerhand Pikanterien, die dabei mit im Spiele waren, und immer stand im Mittelpunkt dessen, was sich ergab, ein einzelner, der Erinnerer selber, der als solcher das Recht hatte, Geschichte in seiner höchst persönlichen Perspektive zu schreiben. Platter, aber deshalb doch nicht minder wirksam, ist noch eine andere Ursache. Im Jahrzehnt nach dem Weltkriege erwiesen sich historische Kenntnisse als höchst wünschenswert. Diese wurden nun in leicht faßlicher Form für den Tages- oder sozusagen für den Jourgebrauch zubereitet, wobei man als

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absolut störendes Beiwerk alles fortläßt, was nicht dem aktuellen Interesse entspricht, so die geschichtliche Entwicklung und den zeitlichen Hintergrund, dafür aber das vollste Licht auf den Einen wirft, über den gerade Informationen gewünscht werden. Und wie viele Zeiterscheinungen ist auch diese, die Lust zur Biographie, zum großen Teile bewußt, zum kleineren freilich unbewußt, eine Flucht vor den marxistischen Theorien. Hier ist sie eine Reaktion gegen die materialistische Geschichtsauffassung, die das Heldische im Leben der Völker herabdrückt. Gegenüber dieser wissenschaftlichen Uberzeugung wird der entscheidende Einfluß der Persönlichkeit auf das Welt- und Geistesgeschehen hervorgehoben. Die Kausalität der Ereignisse soll sich im Denken der Massen verschieben und dies wird schon durch die Proportionen in der Darstellung bewerkstelligt. Da steht im Vordergrund all dessen, was im Rahmen der aufgewühlten Epoche gezeigt wird, in Denkmalgröße der Held, er schafft die Ereignisse und beherrscht sie, aber sie erzeugen ihn nicht. Vielleicht wird er von ihnen besiegt, aber jedenfalls bewegen sie sich einzig und allein um ihn. Die Instinkte der flüchtig Gebildeten, die in der nüchternen Gegenwart gar nicht oder nur halb oder nur vorübergehend befriedigt werden, - was war nicht alles in den letzten anderhalb Jahrzehnten Held, wird nicht sogar ein Mussolini, ein Hitler als Heros aufgerichtet! - sollen wenigstens für das Gewesene erlöst und der romantische Sinn mag sich an Führergestalten laben, von denen sich eine an die andere reiht, wie in den alten Schulbüchern die Geschichte eine Aneinanderreihung von Regierungszeiten der Könige und Kaiser war.

Die Suggestivkraft nationalsozialistischer Rhetorik spiegelt sich in dieser Rede des Titelhelden aus Mirko Jelusichs Roman Caesar (1929) vor dem Volk. Leicht übertragbar auf die Gegenwart ist das politische Programm; zugleich gewährt die Schlußbemerkung zu Crassus („Verbrecherischer Unsinn natürlich") einen nicht beabsichtigten Einblick in das perfide Spiel, das mit diesen Reden getrieben wird. Die

Volksführer

„Mitbürger!" In erneuter Kraft anschwellend, stürmt die helle Stimme über den ganzen weiten Markt hinüber, vom Tempel der Eintracht bis zu dem der Herdhüterin deutlich vernehmbar. „Die Konservativen berufen sich auf ihre Tradition. Tradition ist der Rechtstitel, unter dem sie sich ihre Würden an-

Bedürfnis nach Geschichte

maßen, Tradition der Vorwand, unter d e m sie euch knechten, zweites Wort. Jawohl, auch ich bin ein Anhänger der Tradition: ich ehre sie, ich liebe sie." (Lautlose Stille.) „Aber das ist ja eben daß die Konservativen keine Tradition haben!" (Beifallsgeschrei; „Oho!";

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Tradition ihr ich achte sie, das Unglück, Zwischenruf:

„Da zweifelt jemand; also will ich es euch beweisen. Was waren denn die ehrenwerten Vorfahren unserer Aristokraten? Laßt euch doch nicht von schönen Redensarten blenden - Bauern waren sie", (Jubel) „ganz gewöhnliche Bauern", (verstärkter Jubel) „nichts als Bauern!" (Sturm der Zustimmung.) „Der Fabier-Bauer", (Beifall; „Sehr gut!") „der Mucier-Bauer", (Beifall; „Sehr richtig!") „der Cornelier-Bauer", (Stille: Sulla war ein Cornelier! dann Toben der Begeisterung!) „der Lulier-Bauer!" (Jubelorkan! Das Volk macht Miene, auf die Tribüne zu stürmen und den Redner auf die Schultern zu heben.) „Woher hat man denn den Cincinnatus, den sie euch als leuchtendes Beispiel der Bürgertugend hinstellen, geholt? Vom Pflug!" (Langanhaltendes Händeklatschen.) „Wo war denn der Curius Dentatus, als er die Geschenke der Samniten zurückwies - nebenbei gesagt ein Beispiel, dessen Befolgung man heute bei den vornehmen Herrschaften vergeblich suchen wird?" (Gelächter.) „Er saß am Herd und putzte eigenhändig Rüben für sein Mittagessen!" („Rüben! Rüben! Da hört ihr's selbst!" - „Ruhe! Er spricht weiter!"J „Bauern aber müssen etwas von der Landwirtschaft verstehen, und wenn sie größer werden, von der Gutswirtschaft, und wenn sie noch größer werden, von der Gemeindewirtschaft, und wenn sie ganz groß geworden sind, von der Volkswirtschaft!" (Neuer Jubelorkan.) „Sonst sind sie nämlich nichts wert!" („So ist es!") „Denn wodurch unterscheidet sich eine Staatsverwaltung von einer Bauernwirtschaft? Nur durch den Umfang!" („Jawohl!") „Wenn der Bauer von seiner Kuh Milch haben will, so sieht er in erster Linie darauf, daß sie ihr ordentliches Futter und ihre anständige Pflege hat, denn er weiß: wo m a n nicht gibt, da kann man auch nicht nehmen! Darum kann er ihr abzapfen, so viel er will - er und die Kuh werden zufrieden sein. Aber unsere Herren Statthalter haben nicht einmal so viel Grütze im Kopf, das zu begreifen!" (Zustimmung.) „Sie glauben, aus ihren Provinzen herauspressen zu können, was nur irgend geht, ohne zu bedenken, daß die Melkkuh darunter leidet und schließlich zugrunde geht!" (Nachhaltige Zustimmung.) „Und dann wundert m a n sich bei den Zentralstellen maßlos und fragt sich, worin denn der ständige Niedergang unserer reichsten Provinzen seinen Grund haben kann. Worin? In der verbrecherischen Dummheit dieses Systems, die endlich einmal öffentlich angeprangert werden muß!" (Wütendes Händeklatschen.) „Vielleicht gelingt

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es dann doch, in einige der hoffnungslos dunklen Köpfe den Lichtstrahl der Erkenntnis zu lenken!" (Ruf: „Ausgeschlossen!") „Gewiß: Ich glaube es selbst nicht! Den vornehmen Herren geht ihre Parteien-Wirtschaft über alles, sogar über ihr ureigenes Interesse, das unser aller Interesse ist. In diesen Schädeln wird es erst licht werden, wenn man Löcher hineinschlägt!" (Tumult; Zwischenruf: „ D u suchst wohl Männer, die dir dabei helfen sollen?") „Ich suche Männer!" (Jubelnder Beifall.) „Männer, die gesonnen sind, diese Senatswirtschaft sich nicht länger gefallen zu lassen! Und soweit ich über den Markt blicke, sehe ich nur solche!" (Nachhaltige Zustimmung.) „Mit Ausnahme weniger, die sich an den Senat verkauft haben und die ich nur bedauern kann!" (Stürmische Pfui-Rufe.) „Mit diesen Männern werde ich vor die Curie ziehen und den dort vereinigten Mumien den Rat erteilen, baldigst für ein anständiges Regiment zu sorgen, da sonst das Volk die Sache selbst in die Hand nimmt! Caveant consules!" Er schleudert die Schlußpointe aus Fäusten, die sich plötzlich aufspreizen, gegen das Senatsgebäude und tritt zurück, von endloser Beifallsbrandung umtost. Crassus hielt sich im Hintergrund der Tribüne. Nun tritt er auf den Redner zu und schüttelt ihm die Hand. „Gut gesprochen, Caesar", lobt er. „Verbrecherischen Unsinn natürlich", stellt der Iulier trocken fest. „Zu aller Glück nimmt's niemand ernst - am allerwenigsten die Gegenpartei, die entsprechend zurückschlagen wird. - Aha, da kommt auch schon Cato, schnaubend wie ein gereizter Stier."

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Von der Unfähigkeit zu feiern. Verpatzte Feste bei Horvath und seinen Zeitgenossen. Wenn die Katze aus dem Haus ist, haben die Mäuse Kirtag - so will es zumindest das Sprichwort, und es stellen sich sofort Fragen ein: Wie sieht dieser Kirtag aus ? Und haben die Mäuse immer Kirtag, wenn die Katze für immer aus dem Haus ist? Die Fragen sind naheliegend für die Zeit nach 1918, als das System gestürzt und jene entmachtet oder verschwunden waren, an denen es zuvor lag, ob, wann und wie Feste gefeiert werden sollten. Nun lag es an denen, die sich bereit fühlten, ihre Feste zu feiern, gewiß aber auch an denen, die in den Feiern ihre Tradition wahren wollten, in einem Falle also Feiern zur Findung der Identität, im anderen zur Bewahrung der Kontinuität. Und von Festspielen und Feiern ist nach 1918 allenthalben die Rede, und dem kulturhistorisch ambitionierten Betrachter kann die Intensität, mit der allenthalben öffentlich Feste inszeniert werden, kaum entgehen. Salzburger Festspiele und die großen Maifeiern der Sozialdemokratie, die nun noch überzeugter begangen werden können denn zuvor, die Festspiele derselben Partei etwa im Wiener Stadion, für die namhafte Regisseure sich bereit erklärten, sind Zeugnis dafür. Mögen die Feste auch ihrer Tendenz nach zunehmend in Opposition stehen, in ihrer Struktur entsprechen sie einander und waren auch aufeinander beziehbar. Doch nicht von diesen für die Festmasse bestimmten Ereignissen soll hier die Rede sein, mag auch aus dem Scheitern just dieser Spiele in politischer Hinsicht ein Schlaglicht auf die Feste jener fallen, um die es mir in diesem Zusammenhang geht. Alfred Pfoser hat im Zusammenhang mit sozialdemokratischer Festspielkultur mit gutem Grund auch jenes Diktum Benjamins von der „Asthetisierung der Politik" samt ihren fatalen Folgen bemüht: Während der Faschismus in der Koalition mit der Staatsmacht die Herrschaft usurpierte und die Feiern, Feste und Aufzüge als massenpsychologisch äußerst wirksame Staffage und proletarisch-sozialistische Maskierung einsetzte, also

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Von der Unfähigkeit zu feiern

sehr geschickt auf zwei Ebenen operierte, verwechselten die Austrosozialisten die beiden Bereiche zu ihrem eigenen Verhängnis.1 Dieses durch die „Ästhetisierung der Straße" entstandene Dilemma hatte auch darauf verweist Pfoser - Karl Kraus erkannt, wenn er die Sozialdemokratie als „staatlich konzessionierte Anstalt für Verbrauch revolutionärer Energien"2 bezeichnete. Wir sind damit schon ganz nahe an Horväths Italienische Nacht herangekommen, doch wollen wir den Sprung von den großen Feiern zu diesen kleinen Festen nicht jählings machen, sondern einen kleinen Umweg gehen, der uns vielleicht auch zu einer besseren Einsicht in die Struktur solcher Feiern verhilft. Was da prächtig im Großen zu erleben war, soll nun artig im Kleinen nacherlebt werden, Feste, hausgemacht, Feste, die mit Recht das Epitheton ,unser' tragen sollen, Feste, die neu sind und doch die ewige Choreographie jener Feiern nachvollziehen, die nach dem Sturz des Tyrannen erfolgen: „Nun gilt's, berauscht zu sein, nun heißt es, mit Kraft zu trinken, da Myrsilos, der Tyrann, tot ist", sang Alkaios3, und Horaz tat es ihm nach, als Kleopatra und ihr Buhle gestürzt waren.4 Gerade bei Festen läßt sich das Wort Odo Marquards als besonders zutreffend bezeichnen: „Zukunft braucht Herkunft"5, und die Struktur der Feste verrät dieses Defizit an Herkunft oft nur allzu deutlich. Doch davon später. Ein gewichtiges und sich schädlich auswirkendes Erbteil schleppen die Feste mit sich herum, und feiern ist nur dann angebracht, wenn man sich die möglichen Folgewirkungen vor Augen hält. Das mythologische Exempel möge dies verdeutlichen: Als Peleus Thetis heiratete, war Eris, die Göttin der Zwietracht, nicht geladen, verstand sich aber darauf, das Fest gekonnt zu stören: Sie warf einen goldenen Apfel in die Festversammlung mit der Aufschrift ,Der Schön1

Alfred Pfoser: Literatur min: Das Kunstwerk

und Austromarxismus.

Wien 1980, S. 74 und S. 78; Walter Benja-

im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit.

In: W. B.:

Gesam-

melte Schriften 1/2, hrsg. von Rolf T i e d e m a n n und H e r m a n n S c h w e p p e n h a u s e n Frankf u r t / M . 1980, S. 508. Für das Fest im allgemeinen vgl. U w e Schultz (Hg.): Das Fest. Eine

Kulturgeschichte

von der Antike bis zur Gegenwart.

Der 1. Mai und die deutsche Arbeiterbewegung,

Darin siehe besonders Jens Flemming:

S. 541-551.

2

Karl Kraus: Hüben und Drüben. In: Die Fackel Nr. 876/884 (1952), S. 7.

5

Alkaios, Frgm. 39 (Diehl).

4

Horaz, carm. 1, 37.

5

Odo Marquard: Abschied vom Prinzipiellen. u.ö.

Philosophische

Studien. Stuttgart 1982, S. 16

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sten', was bekanntlich die Auseinandersetzung von Hera, Athene und Aphrodite zur Folge hatte, woraus sich ja auch der Troianische Krieg ergab. Kurzum, es läßt sich behaupten, daß zum Fest der Skandal gehört, die beiden scheinen ein siamesisches Zwillingspaar zu sein, und je mehr im Fest die Störung niedergehalten oder verleugnet wird, um so nachhaltiger wächst sie sich zum Skandal mit meist verheerenden Folgewirkungen aus. Man könnte boshaft unterstellen, daß Feste oft nur deshalb besucht werden, weil in ihnen virtuell jedenfalls der Skandal angelegt ist, der die Harmonie, in deren Zeichen das Fest veranstaltet werden sollte, der Lüge überfuhrt. Doch führt uns dies schon recht weit von Horvath weg, und mittelbar doch wieder zu ihm hin. Ich kann in der Folge nicht edle Feste in der Literatur zwischen den beiden Weltkriegen analysieren; meine Hinweise müssen, mit Blick auf Horvath, notwendig fragmentarisch bleiben. Indes läßt sich - und das wäre noch kein Spezifikum - darauf hinweisen, daß in der Literatur nach 1918 dem Fest eine besondere Stellung zukommt, im besonderen der dramatischen Literatur, nicht zuletzt deshalb, weil ja die Struktur eines Festes von sich aus dramatische Momente enthält: Die Zurüstung eines Schauplatzes, dessen Verwandlung, um über die Alltäglichkeit hinwegzutäuschen, der Auftritt der Gäste bis hin zu einem Höhepunkt, das Abtreten der Gäste bis zu einem definitiven Ende der Veranstaltung. Wie beim Fest so sind auch die Menschen auf der Bühne nicht nur das, was sie im Alltag sind, sie sind auf einmal Repräsentanten eines Anderen, vor allem haben sie eine Funktion, die meist auf dieses Andere verweist. Solche Festabläufe sind spezifisch, spezifisch für die historische Situation, in der sie entstehen. In der Literatur nach 1918 fallt auf, wie stark diese Feste der Störung ausgeliefert sind; das mag nun auch nicht typisch für die Epoche sein - gestörte Feste gibt es allenthalben, von Don Giovannis großer Inszenierung, um sich der Zerline zu nahen, und der Gegeninszenierung durch Don Ottavio, Donna Anna und Donna Elvira, von dem letzten Essen, das sich der vermessene Verführer gönnt, und dem Erscheinen des Störenfrieds, des Steinernen Gastes, braucht nicht eigens die Rede zu sein. Symptomatisch ist, wie die Autoren ihre Feste nun nach 1918 organisieren und stören. Hugo von Hofmannsthals Nachkriegskomödien Der Schwierige und Der Unbestechliche sind auch Festspiele, deren Ablauf der Intention zuwider läuft. Im Unbestechlichen wird der Plan des Barons Jaromir, sich mit zwei ehemaligen Geliebten ein Schäferstündchen zu vergönnen, durch den Diener Theodor durchkreuzt. Ehe die Szene zum Bacchanal werden kann, reisen die begehrten Damen ab, der Schein ist gewahrt, das unheilige Festspiel gestört

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vom Diener, der Anwalt der Ordnung ist: Zu Beginn steht das Wort „Anordnung", auf Theodor bezogen, am Ende das Wort „Ordnung", von Theodor selbst ausgesprochen. Nach außen hin scheint das Fest und damit das Personal gerettet, gerettet aber nur durch die Hyperaktivität des Dieners. Auch im Schwierigen scheint das Fest zu funktionieren, denn schließlich findet ja das Paar zueinander, Helene und Hans Karl, aber just die beiden sind es ja, die mit dem Fest nichts im Sinn haben, wo eine Musik gespielt wird, „die zu allem auf der Welt besser paßt, als zu (diesen) beiden". 6 Die beiden ziehen sich in der entscheidenden Szene ja aus dem Fest zurück und sind für das Tableau am Ende auch nicht mehr vorrätig; die Situation wird von Stani applaniert, diesem späten Erben des Arlecchino, der dafür sorgt, daß Crescence in Vertretung des Bräutigams und Poldo in Vertretung der Braut als Paar in Erscheinung treten, da es ja für so etwas nach den Worten Stanis „seit tausend Jahren gewisse richtige und akzeptierte Formen" gibt „und das Ganze [...] sein richtiges, offizielles Gesicht bekommen" muß.7 In der neuen Gesellschaft sind auch diese Festformen unmöglich geworden, und Hofmannsthal wußte sehr genau, daß jene Gesellschaft, die zu feiern verstand, nicht mehr existiert und die Rückbesinnung Stanis auf die überkommene Form nur ironisch zu qualifizieren ist. Mit den Festen des Adels ist es vorbei, und der am Ende hergestellte Schein soll dies nur noch nachhaltiger bestätigen. Wie aber sieht es mit den Festen jener aus, die nun auch agieren könnten? Die nun ihre Identität durch die Feste finden könnten? Die eindeutigste Antwort hat m. E. Bertolt Brecht mit dem Einakter Kleinbürgerhochzeit, entstanden 1919, uraufgeführt 1926, gegeben. Da läuft alles von Anfang an gegen die Intention der Veranstalter ab. Folgerichtig arbeitet nahezu jeder Dialogbeitrag an der Zerstörung der Feststimmung, und je gutwilliger ein Redeteil ist, um so mehr treibt er die Aktion dem Verhängnis zu. Dabei hat es so gut angefangen: Die Einrichtung stimmt. Und gerade diese Einrichtung wird im Laufe der Begebenheiten demontiert. Das Unglück ist hausgemacht, die Möbel auch. Das Fest geht buchstäblich aus dem Leim. Alle anfangs aufgestellten Behauptungen werden durch den Fortgang der Handlung widerrufen. Zunächst die Qualität des Essens: „Das ist der Kabeljau,"8das ist der erste 6 7 8

Hugo von Hofmannsthal: Gesammelte Werke. DramenIV. Frankfurt/M. 1979, S. 405 (Der Schwierige, II. Akt, 14. Szene). Ebd., S. 439 {DerSchwierige, III. Akt, 14. Szene). Bertolt Brecht: Gesammelte Werke 7. Frankfurt/M. 1967, S. 2715. Die Seitenangaben in Klammer beziehen sich auf diese Ausgabe.

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Satz. Damit ist auch schon der Status angezeigt, über den diese Gruppe verfügt, die sich da zum Feiern eingefunden hat. Es ist sehr viel vorhanden auf einem beschränkten Raum, und die vielen, die sich auf diesem gewissen Areal bewegen, können alle daran teilhaben. [...] Hundert Schweine liegen in einer Reihe gebunden da. Berge von Früchten sind aufgetürmt. In mächtigen Gefäßen ist das beliebteste Getränk zubereitet worden und wartet auf die Genießer. Es ist mehr vorhanden, als edle zusammen verzehren könnten, und um es zu verzehren, strömen immer mehr Menschen hinzu.9 So charakterisiert Canetti die „Festmassen", und diese Worte lassen sich mit Modifikationen auch auf das Intimfest umlegen, aber auf dieses nur dahingehend, daß es von der imaginierten Fülle zehrt und jeden erwiesenen Mangel bereits für die Fülle hält und das Surrogat für das Echte nimmt. Die Einrichtung ist das Werk des Dilettanten, des Hobbybastlers, und das Zusammenbrechen der Festeinrichtung gibt dem Stücke geradezu possenhafte Züge. Der imaginierte Überfluß hält nur solange vor, bis die Wahrheit heraus muß: Sie haben keinen Wein mehr, und so muß der aus dem Keller nachgeschafft werden. „Es ist ein Uberfluß an Weibern da für die Männer und ein Überfluß an Männern für die Weiber", heißt es bei Canetti.10 Dieser Satz ist selbst für die Festmasse nur so zu erklären, daß jede oder jeder sich als Individuum dünkt, in der Entgrenzung des Festes jedoch jeden Teilnehmer des anderen Geschlechts für seinen potentiellen Partner oder seine potentielle Partnerin hält. Brechts Stück lebt von der Unmöglichkeit des Dialogs. Jede Rede vernichtet das Fest; so schon zu Eingang, da der Vater sich bemüßigt fühlt, statt zu essen, von einem Fischessen zu berichten und vom seligen Onkel der Braut, der eine Gräte schluckte, dabei blau anlief wie ein Karpfen, so daß man ihm auf die Schulter klopfte und er über die ganze Tafel spuckte. „Das Essen konnte man nicht mehr essen", das ist die appetitanregende Einleitung dieses Festes. So läuft das Gespräch von Anfang an auch darauf hinaus, es zu unterbinden. Fast jede Rede dient der Störung der Rede des anderen; statt sich durch die Rede zu verwirklichen, gibt es Redeverbote. Die Festrede ist eine gestanzte Festrede aus dem Handbuch (2721); nie vereinigt sich die Gruppe zum Chor; denn da der Festredner das Lied Es muß ein Wunderbares sein an9 Elias Canetti: Masse und Macht. Frankfurt/M. 1980, S. 65. 10 Ebd., S. 65.

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stimmen will, singt niemand mit, und er setzt sich bald. Der Gesang, der schließlich glückt, ist die frivole Keuschheitsballade in Dur, ein echtes Antihochzeitslied, dessen Inhalt sich darauf reduzieren läßt, daß Braut und Bräutigam, um einander rein zu halten, ihre sexuellen Erfahrungen vorerst einmal außerehelich sammeln, um dann zur Erkenntnis zu kommen: „Es ist doch nur Sauerei." (2729f.) Statt zueinander zu finden, tanzt die Braut den ersten Tanz mit einem anderen Mann. Statt der Atmosphäre des Festes im Sinne der „Lockerung" gerecht zu werden 11 , herrscht entweder Verkrampfung oder Ausgelassenheit. Der Bräutigam zieht seinen Rock aus - das gilt als Skandal, als „Rücksichtslosigkeit". (2755) Statt zur Gemeinschaft zu kommen, sieht sich das Brautpaar verraten: „Wie könnten wir sie fortbringen! Sie fressen, saufen, rauchen und schwatzen und wollen nicht fort! Schließlich ist es doch unser Fest!" (2735) Canetti: Es spielt in diesem Zustand das Gefühl hinein, daß man durch gemeinsamen Genuß bei diesem Fest für viele spätere Feste sorgt. Durch rituelle Tänze und dramatische Darbietungen wird früherer Gelegenheiten derselben Art gedacht. Ihre Tradition ist in der Gegenwart dieses Festes mitenthalten.12 Gerade eine Wiederholung scheint dieses Fest nicht zu empfehlen, mag der Schlußgag auch darüber hinwegtäuschen: Das Brautpaar, das sich in dieser Feier auseinandergelebt hatte, findet sich am Ende doch wenigstens in der Sauerei; das Paar verläßt die Bühne, und man hört das Bett zusammenkrachen. Die Menschen agieren, als wären sie zum Feiern verurteilt; ihnen fehlen die Voraussetzungen dafür, doch sind sie der Festideologie verfallen und geben sich der Illusion hin, daß mit der Fähigkeit zu feiern auch die Zeichen der erhofften Macht wirksam würden. In Horvaths Italienischer Nacht bekommt das Bekenntnis zum Fest geradezu den Charakter eines politischen Bekenntnisses. Das Fest ist Surrogat der politischen Uberzeugung, und es ist zugleich als Fest nur Surrogat: ,Italienische Nacht' - in Bayern, was könnte deutlicher den verwaschen-klein-bürgerlichen Charakter dieser Utopie kenntlich machen! „Unsere republikanische italienische Nacht steigt heute nacht

11 Ebd., S. 65. 12 Ebd., S. 66.

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trotz Mussolini und Konsorten" 13 , so will der Stadtrat die schiefen Prämissen zurechtbiegen. Doch das Unheil kommt nicht von außen, die Störung ist wie bei Brecht - Eigenproduktion. Die Festgruppe hat keinen Willen zu Kohärenz, im Gegenteil, die Spaltung ist in ihr angelegt: Martin und die Seinen verweigern sich dem Fest ebenso dogmatisch wie sich der Stadtrat auf dieses Fest einschwört. Statt für die Gleichheit unter den Festteilnehmern zu sorgen, statt ihrer „Lockerung" dienlich und forderlich zu sein, wird Edles unternommen, dem Ritual jede Spontaneität zu nehmen und es geradezu zwangsneurotisch dem Festbrauch zu unterwerfen. Auch wenn es sich um keine Hochzeit handelt - der Ablauf ist ähnlich wie bei Brecht: Wieder die musikalische Untermalung; die Veranstaltung, die auch hier gründlich schiefgeht. Die beiden „herzigen Zwillingstöchterchen unseres Kameraden Leimsieder" tanzen, wie angekündigt, ein „auserlesenes Ballett" mit dem Titel „Blume und Schmetterling" - ein „affektierter Kitsch", wie die Regieanmerkung glaubhaft korrigiert. (154) Gerade diese künstlerische Darbietung ist es, die das Fest sprengt. Zwischenrufer zerstören die Stimmung; sie werden als „Barbaren" und „Frevler" bezeichnet. Das Desaster der Sozialdemokraten wird in der Haltung des Stadtrates evident: „Ich hab das Kommunistische Manifest bereits auswendig hersagen können, da seid ihr noch in den Windeln gelegen, ihr Flegel!" (135) Die Sprengung dieser italienischen Nacht' erfolgt von innen durch Martin und seine Gruppe. Wie sehr der Stadtrat seine Identität in dieser Feier finden zu können meint, wie sehr er diese Feier selbst ist, geht aus den Schlußworten des fünften Bildes hervor: Wir lassen uns unsere italienische Nacht nicht spalten, Kameraden! Seit vierzehn Tagen hab ich mich auf diese Nacht gefreut, und ich [Hervorhebung W.S.-D.] laß mich nicht spalten! Musik! Setzen! (138) Da nun die „republikanische italienische Nacht" „korrekt gesprengt" ist (145), wird auch der beschränkte Heroismus offenbar, mit dem diese verteidigt wird: „Wir lassen uns unsere italienische Nacht nicht sprengen! Kameraden, wir bleiben und weichen nicht - bis zur Polizeistund!" (145) Der zur Kleinlichkeit verurteilte Leiter des Festes ist in seiner Konstitution eben der Antityp zum „homo festivus" schlechthin; in dieser Kleinlichkeit ist auch die Herrschsucht geborgen, denn es muß einen geben, der der Fürst des Festes 13 Ödön von Horvath: Gesammelte

Werke. Bd. 1: Volksstücke. Frankfurt/M. 1972, S. 104. Sei-

tenangaben in K l a m m e r beziehen sich auf diese Ausgabe.

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ist, und Herrschaft ist immer noch zu sehen unter den Menschen. Statt eine Feier der Gleichheit, der Freiheit der Rede, der Entgrenzung zu veranstalten, wird aus alledem nur Herrschaft, Redeverbot und Beschränkung erkennbar, am deutlichsten bemerkbar in der Behandlung der Frau des Stadtrates. Martin kann für sich buchen, am Ende als Heros dazustehen, aber wenn ich Horvath recht verstehe, so sind auch diesem Haudegen keine günstigen Prognosen gestellt; der Stadtrat hingegen pocht, nachdem er durch den Major beschämt und gemein erniedrigt wurde, auf seine Ehre: „Kameraden! Solange es einen republikanischen Schutzverband gibt - und solange ich hier die Ehre habe, Vorsitzender der hiesigen Ortsgruppe zu sein, solange kann die Republik ruhig schlafen!" (156) Dieser Menschenschlag ist unverbesserlich; er wird wieder eine republikanische italienische Nacht veranstalten wollen. Als die Faschisten erscheinen, um die Feier zu sprengen - sie hätten da ja alle auf einen Fleck, auch Martin und seine radikalen Freunde - , da ist die italienische Nacht längst beim Teufel. Sie hat sich selbst zerstört. Das Fest wird endogen zerstört; es bedarf keiner Eris, die nicht eingeladen worden wäre; im Gegenteil - die Verpflichtung, am Fest teilzunehmen, ist eines der Fermente, die das Fest zersetzen. Endogen ist auch die Störung in den Geschichten aus dem Wiener Wald, die im dritten und vierten Bild des ersten Teils geradezu exemplarisch den Abbau der festlichen Situation vorführten. Am Anfang ist die Gruppe - man feiert dionysisch im Freien - „malerisch" für das Photo vereint. Doch auch hier kommt es weder zum Bacchanal noch zur Verlobung; die Versatzstücke der Feier sind dieselben: Festrede, Musik, Entgrenzung und Festmahl. Doch alles läuft dem vorausgesagten Ablauf zuwider: Die Männer wollen triumphieren und verlieren dabei. Der Zauberkönig, der auf Valerie hofft, verliert diese an Erich, nachdem es mit Alfred zum Bruch gekommen ist; der wiederum bekommt Marianne, die Oskar stehen läßt. Die Konsequenzen dieses Ausflugs an die schöne blaue Donau sind katastrophal; katastrophal auch ist das zweite Fest in der ersten Szene des dritten Teils. Da scheint sich der Zauberkönig regeneriert zu haben; doch bedeutete die Szene an der Donau die Trennung von Vater und Tochter, so bedeutet das Wiedersehen im Maxim die nicht minder katastrophale Wiederbegegnung. Die Gruppe vertraut sich diesmal einer Regie an; der Rittmeister, schäbig gewordener Repräsentant einer vergangenen Epoche, dirigiert die willenlose Festmasse ins Maxim; und der neureiche Mister aus Amerika wird zum neuen Fürsten des Festes. Er verfügt über das Füllhorn, das sonst der Fortuna zugeschrieben wird. Und im Rahmen dieser Fortuna-Allegorie darf Marianne figurieren. Und ihn, diesen

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Glücksbesitzer beraubt die unglückliche Marianne. In ihrer armseligunglücklichen Tat offenbart sich denn zu guter Letzt auch die falsche Voraussetzung dieser Festlichkeit. Der eine Teil des Zauberworts gilt immer noch, der von den sauren Wochen; das Fest entrückt die Menschen nicht ihren Lebensbedingungen, sondern konfrontiert sie diesen nur um so unerbittlicher. Wie wenig die groß eingelegten Festlichkeiten die Individuen schützen und erheben können, offenbart sich in Kasimir und Karoline, wo das Fest die ursprünglich zusammengehörigen Paare auseinandertreibt und neue Bindungen stiftet. Sind die Menschen sonst geborgen in der Festmasse, hat diese Masse ein Ziel, das erreicht zu haben einen Triumph bedeutet, so sind die Feste bei Horvath und im besonderen das Oktoberfest in Kasimir und Karoline Orte der Einsamkeit. Canetti vermutet in jedem Fest durch die Dichte der „Dinge, die aufgehäuft daliegen", einen „Kern". 14 Beim Oktoberfest fehlt just dieser Kern, was durch die dramatische Form vorgeführt wird: Die dramatische Aktion erscheint aufgelöst in eine Unzahl von kleinen Szenen, die alle jede Festkontinuität und Festkohärenz bedingungslos abbauen und zerstören. Der Raritätenmarkt ist genau das, was die Einheit des Festes unmöglich macht: Der Zeppelin in der Luft, die Achterbahn, der Tobogan, der Eismann, die Orchester, die Schnapsbude, die Abnormitäten, das Hippodrom täuschen die Uberfülle vor, die den Festcharakter garantiert: Sie offenbaren sich in ihrem Surrogatcharakter, da der Schauplatz auf den Parkplatz und die Sanitätsstation wechselt. „Eigentlich hab ich ja nur ein Eis essen wollen - aber dann ist der Zeppelin vorbeigeflogen und ich bin mit der Achterbahn gefahren", sagt Karoline. (321) Das Fest hat eine dezentralisierende Wirkung, und auf diesen Bahnen verläßt der Festteilnehmer auch die Schutzräume, die sonst auf solchen Veranstaltungen garantiert sind. Sind sonst - so Canetti bei Festen „viele Verbote und Trennungen" aufgehoben, so liefern sich hier die Figuren selbstgeschaffenen Zwängen und Verboten aufs Neue aus.15 In den hier genannten Texten steht der Skandal als Produkt des Festes fest. Das Denken bewegt sich in den Kategorien Ehre und Schande. Die Braut in Brechts Kleinbürgerhochzeit nach dem Abzug der Gäste: Die Schande! Morgen wissen es alle, wie es bei uns war, und alle lachen. Sie stehen hinter den Fenstern und lachen herunter. Sie schauen in der Kirche 14 Elias Canetti, Masse und Macht (Anm. 9), S. 66. 15 Ebd., S. 65.

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nach u n d denken an die Möbel u n d das Licht, das nicht anging, u n d daß die Creme nicht gelungen war, u n d das schlimmste, daß die Braut schwanger ist. Und ich wollte sagen, es sei eine Frühgeburt. (2740)

Die Feste, die der Erhöhung des Selbstbewußtseins dienlich sein sollten, zerstören dieses völlig, und zwar bei allen und in allen. Bei Brecht und Horväth produziert das Fest den Skandal, in Canettis Hochzeit ist das Fest der Skandal. Die Figuren sind sich alle darin einig, daß sie, so wie sie zusammenkommen, sich skandalös verhalten, was aber immer noch kein Grund zur Nachsicht ist, sondern vielmehr alle zu Vorwürfen stimuliert. Das Fest findet statt, während die Frau des Hausbesorgers stirbt. Die Verachtung unter den Menschen ist so groß, daß dies den Festcharakter der Hochzeit keinesfalls zu bedrohen scheint; keiner macht sich Skrupel. Das Haus stürzt ein; die Sterbende, so will es die Schicksalsregie dieses Stückes, überlebt die Feiernden. Bei Canetti scheinen die Versatzstücke der Festregie nur mehr im Bühnenbild anwesend. Die Festgesellschaft bildet kein Ensemble mehr; sie ist „in kleine Gruppen aufgelöst, befindet sich bereits wohl". 16 Die Figuren sind so korrupt, daß sie einander kaum etwas vorwerfen können; die Bestrafung erfolgt daher durch den Einsturz des Hauses, der sinnbildhaft die Zerstörung dieser Gesellschaft - von unten bis oben - ins bewegte Bild bringt. Es bedürfte gar nicht mehr der Offenbarungsrede des Schön, der am Ende seine faunische Allpräsenz hervorstreicht: Deine Tochter hab ich gehabt. Die eine hab ich gehabt. Die andere hab ich gehabt. Deine Frau die hab ich auch gehabt. Mit der Frau, das macht dir keinen Eindruck. Gut, aber die Tochter. Die kleine ist erst vierzehn Jahre alt. Die andere hat h e u t geheiratet. Lieber Freund, d u m u ß t zugeben, das ist eine Gemeinheit von mir. (72)

Der Missetäter fordert die Strafe selbst für sein skandalöses Verhalten; doch trifft ihn diese nicht, da Segenreich, der Hausherr, unter dem Sessel, mit dem er diesen grotesken Casanova erschlagen will, zusammenbricht und verendet. Die Frage nach der Gestaltung der verpatzten Feste hat zahlreiche Analogien zutage gefördert, die keinesfalls zufällig sein können. In der Unfähigkeit zu feiern spricht sich mehr aus als bloß ein für die Schürzung des dramati16 Elias Canetti: Dramen. Frankfurt/M. 1978, S. 27. Seitenangaben in Klammer beziehen sich auf diesen Abdruck von Canettis Hochzeit.

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sehen Knotens wichtiges Mittel. Feiern zu wollen, es aber aus Gründen, die außerhalb der Einsicht der Protagonisten liegen, nicht zu können, bestimmt die Struktur der hier erörterten Stücke Brechts und Horväths. Und wir haben Ursache für die Annahme, daß damit nicht nur eine Diagnose über die kleinbürgerliche Festkultur geäußert wird. Die Feiernden sind Dilettanten im Feiern; sie sind Akteure, die in einem Stück auftreten, dessen Rollen sie zu kennen meinen, dessen Text sie - im Bildungsjargon - herunterhaspeln wollen. Der Druck von oben scheint zu fehlen, alle treten an unter gleichen Bedingungen, und doch will fast jeder die Führungsstimme einnehmen, sei es als Herr des Festes, sei es als dessen Zerstörer. Diesen Festen geht der Charakter des Protestes ab; die Energien, die die Festgruppe zusammenbringen, richten sich nicht gegen den äußeren Feind, sondern gegen einen in der Gruppe, fast scheint es, als ob alle gegen einen und einer gegen alle stünde. Es ist nicht mehr Bedarf nach der legendären Freiheit der Saturnalien, an denen die Sklaven den Herren sagen durften, was ihnen nicht paßte. Die Lizenz zum Feiern scheint auf Dauer gewährt, und dies bedeutet das Ende der Feier. Jeder will, wie bereits gesagt, beim Fest er selber sein und noch etwas mehr: Repräsentant eines Anderen oder Höheren, er will von seiner Vergangenheit künden. Der Stadtrat macht seinen Heroismus darin manifest, daß er das Kommunistische Manifest auswendig gelernt hat; die schulische Praxis des Auswendiglernens hat er so verinnerlicht, daß er damit jede revolutionäre Praxis unterbindet. Von den Taten des Standes, der Klasse, der diese Kleinbürger angehören, gibt es offenbar nichts zu verkünden, doch soll erzählt werden. Der Vater in Brechts Kleinbürgerhochzeit will sich als Erzähler ins Gespräch bringen und damit auf den Mehrwert, den historisch erworbenen, in ihm verweisen. Doch kann er keinen Zusammenhang herstellen, und so bietet er nur ein Bündel wirrer Anekdoten, die er am Ende nur erzählt haben will, um keinen Zwist aufkommen zu lassen. Statt zu reden, reden zu lassen und zuzuhören, wird die Redefreiheit abgewürgt. Statt die Stimmung zu steigern, wird diese abgebaut. Deutliches Indiz ist, daß man - sowohl bei Brecht als auch bei Horväth - zu den Spielkarten greift bzw. greifen will, um Schutz vor der ungewohnten, sich verdüsternden Feststimmung im vertrauten Ritual zu suchen. Im Kartenspiel, da wäre vorhersehbar, was geschieht, das Fest aber bekommt eine Eigendynamik, die nur verhängnisvoll auf die Teilnehmer sich auswirkt. Wenn von Dilettanten des Feierns die Rede ist, so meine ich damit nicht, daß Horväth sich erhaben über seine Figuren lustig machen wollte. In den Seelen dieser Kleinbürger gibt es so viele Elemente, die die Fähigkeit zur

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Feier blockieren, daß sie auf Grund ihrer durch ein Jahrhundert erworbenen Verfilzung kaum mehr auseinanderzunehmen sind. Wenn die Frauen sich bacchantisch zu verhalten beginnen, rufen die Männer sie zurück, wenn die Männer in festlicher Ekstasis den Alltag abschütteln wollen, werden sie von den Frauen gerügt, womit beide Seiten, Mann wie Frau, im Fest den Alltag reproduzieren. Man kehrt zurück in die Geborgenheit des Alltags, dessen Moratorium doch das Fest hätte sein sollen. 17 Das Unglück, das auf die Feste folgt, wird im Fest selbst erzeugt; seine Voraussetzungen sind historisch begründbar. Diesen kleinbürgerlichen, unter dem Schein der Harmonie beginnenden Festen fehlt das Ziel des Festes, dessen Anschein die Faschisten mit ihrer Festpraxis zu erwecken verstanden. Daß die kleinbürgerlichen Feste daher durchwegs Eigeninteressen dienen, ist die Konsequenz aus dem Fehlen dieses Zieles. So geht der Republikanischen italienischen Nacht' jegliche Verbindlichkeit ab, und daß in ihr das Antitoxin zu den Umtrieben der Faschisten zu finden wäre, kann wohl niemand annehmen. Für den Stadtrat hat das Beharren auf dem Fest die Funktion einer verhängnisvollen Autosuggestion; das Denken hört dort auf, wo das Feiern anfängt. Mit der Unfähigkeit zu feiern haben Brecht und Horvath mehr getroffen als die Unfähigkeit zur Harmonie in der Schutzsphäre der kleinbürgerlichen Familie. Der Umgang mit erworbener Autonomie und demokratischem Selbstverständnis kann durch das Auswendiglernen des Kommunistischen Manifeste nicht gefördert werden. Die so denken, fallen auf die alten Muster hinein und werden ihre Opfer. Die erste Szene des dritten Aktes in Geschichten aus dem Wiener Wald zeigt deutlich, wie willfährig sich die Festmasse den Regisseuren und Finanzmagnaten unterordnet und wie deren auseinanderstrebende Partikel sich denen unterordnen, die eine Richtung zu geben imstande sind: Der Rittmeister dirigiert die Truppe vom Heurigen ins Maxim, eine Szene, deren Organisation weit über die kritische Bestandsaufnahme der Wiener Urgemütlichkeit hinausgeht. Daß die Feiern auch ein Einfallstor für das Unheil sein können, haben wir aus der Geschichte des Nationalsozialismus kennenlernen können. Die Fachleute im Feiern können die Handlanger jener sein, welche die Macht begehren. Die Dilettanten im Feiern erzeugen in der Festpraxis ein verhängnisvolles Ersatzprodukt für die politische Praxis. Wie die Choreographie der 17 Für die Formulierung „ M o r a t o r i u m des Alltags" vgl. Odo M a r q u a r d : Kleine

des Festes. In: U. Schultz (Hg.), Das Fest (Anm. 1), S. 414.

Philosophie

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erfolgreichen Feste aussieht, wissen wir aus zahlreichen Dokumenten. Wie die jener ausgesehen haben mag, von denen die Geschichte schweigt, hat Horvath gezeigt, auch dies ein Menetekel für die Zukunft.

8

Franz Nabl und die Literaturgeschichte Das „ u n d " im Titel des Referats ist absichtlich zweideutig: Einerseits ist Nabls Verhältnis zur Literaturgeschichte gemeint, andererseits geht es darum, wenigstens in Umrissen, zu charakterisieren, wie Nabls Werk von der Literaturgeschichtsschreibung rezipiert wurde. Daraus ergibt sich die Frage, ob nicht eine Korrektur der gängigen darin vorgenommenen Zuordnungen möglich, ja notwendig wäre und ob sich nicht einige Möglichkeiten ergeben könnten, dieses Gesamtwerk im Kontext der Literatur aus Osterreich in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts zu sehen. Die versuchte Einordnung von Autoren ist in jedem Falle eine höchst bedenkliche Sache. Schon die Formeln sind verräterisch: „Der Autor hat einen festen Platz in der Literaturgeschichte" heißt es, was in dem Literaturhistoriker einen Billeteur, einen Platzanweiser im Geistesleben vermuten läßt, oder man spricht davon, daß ein Werk „in die Literaturgeschichte eingegangen ist", wobei es mir schwerfällt, den Doppelsinn des Wortes „eingehen" zu überhören. Mit all diesen Zuordnungen, die einem Wertsystem verpflichtet sind, ist oft nicht viel gewonnen. Damit werden jene Formeln und Klischees etabliert, die dafür sorgen, daß sich der Leser über den Text hinweg ein Bild von dem Autor macht und nur selten das eigene Leseerlebnis zur Revision der Urteile heranzieht. Nabl selbst hat sich mit der Literaturgeschichte auseinandergesetzt, und zwar in seiner Vortragsserie aus dem Jahre 1934, die er unter dem Titel Deutsches Drama und Deutsche Erzählung 1900-1930 in den Ferialhochschulkursen der Universität Graz gehalten hat. Nabl war sich der Problematik eines solchen Unterfangens bewußt; nichtsdestoweniger versucht er, seine Zuhörer auf Dichter, die der „Menschheit" etwas „zu geben haben" 1 , aufmerksam zu machen. Die Trennungslinie zwischen Literaturgeschichte und Literaturkritik will er nicht allzu scharf gezogen wissen; so kommt es, daß sein Bericht zahlreiche Wertungen enthält, aus denen mein sehr wohl erkennen kann, wie Nabl sich als Schriftsteller versteht, wer ihm etwas zu sagen hat und welche 1

Franz Nabl: Deutsches Drama 2 4 ( 1 9 7 1 ) , S. 1271.

und deutsche Erzählung

1900-1930. In: Studium Generale

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Tendenzen er ablehnt. Den Vorträgen kann man sehr schön entnehmen, welche Wertvorstellungen seine eigenen Schriften bestimmen. Mit anerkannten Größen seiner Zeit, mit Arthur Schnitzler etwa, der ihm ja einmal sehr geholfen hat, mit Thomas Mann und Hugo von Hofmannsthal geht er sorgsam anerkennend um, doch steht hinter alledem ein mehr oder minder deutlich ausgesprochenes „Aber". Heute befremdet die Konfrontation Thomas Manns mit Gustav Frenssen und die Tatsache, daß Musil, Kafka und Heinrich Mann in dieser Aufzählung fehlen 2 ; befremdlich für viele, daß das deutsche expressionistische Theater in seinen Auswüchsen als „Hexensabbath" (!) bezeichnet wird 5 , der „wie schon so oft aus dem österreichischen Süden" durch „eine mahnende Stimme" unterbrochen wird. Die Stimme gehört dem Max Meli des Apostelspiels.4 Bertolt Brechts Stück Trommeln in der Nacht weise „trotz alles Unerfreulichen" „viel Gutes" auf, und zur Dreigroschenoper verkündet Nabl, daß deren gerühmte „songs" „deutlich auf François Villon" führen, der überraschenderweise als Bohemien des 16. Jahrhunderts bezeichnet wird. 5 Es ist heute leicht, an solchen Bemerkungen mit der trügerischen Sicherheit des Spätgeborenen (Adorno) Anstoß zu nehmen, und es wäre leichtfertig, allein dies den Vorträgen Nabls entnehmen zu wollen. Die Vorbehalte Nabls Autoren wie Schnitzler und Thomas Mann gegenüber sind kennzeichnender als die Auslassungen: Schnitzlers Betonung der Erotik, Manns Ironie - all dies wird als bedenklich qualifiziert. Bei Mann wird die „reiche eigene Persönlichkeit" gepriesen, der Nährboden für den „seelischen [...] zeitlosen Naturalismus". 6 An Frenssen wird gerühmt, daß er in seinem Jörn Uhl „bis an die Wurzel des Volkhaften" gräbt7, bei Thomas Mann wird der hohe Grad an Realität bei den Schilderungen Lübecks hervorgehoben 8 : Dies und vieles andere verrät, daß sich der Schriftsteller Nabl in seiner Position als Betrachter der Literatur nicht allzu weit entfernt vom Standpunkt eines Josef Nadler befand, mochte seine Sprache und sein Denken auch kaum vom fachspezifischen Jargon der zeitgenössischen Literaturwissenschaft berührt sein. Andere Autoren passieren wiederum mit Lob bedacht, so etwa Erwin Guido Kolben-

2 3 4 5 6 7 8

Ebd., Ebd., Ebd. Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

S. 1287. S. 1324. S. S. S. S.

1326. 1287. 1284. 1287.

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heyer, Robert Hohlbaum, Emil Ertl, Bruno Brehm, Karl Hans Strobl, Mirko Jelusich, Hans Friedrich Blunck, Hans Grimm und Hermann Stehr. Einige von ihnen befanden sich ja im Einverständnis mit Nabl, als sie ihren formellen Austritt im Jahre 1935 aus dem österreichischen PEN nach der Tagung in Ragusa erklärten. 9 Doch wäre es nun ungerecht, Nabl nur auf Grund der von ihm vorgebrachten Wertungen sowie seiner offenkundigen und auch später noch eingestandenen Sympathien für Autoren des Dritten Reiches einen Dauerverweis zu erteilen. Immerhin hatte sich Nabl noch 1934 positiv über Thomas Mann und Arthur Schnitzler geäußert, die zu diesem Zeitpunkt in Deutschland bereits verfemt waren. Die Gesellschaft der Autoren, die er vorzog, stimmt allerdings bedenklich. Es darf nicht verwundern, daß Nabls Werk auch unter diesen Gesichtspunkten in den Literaturgeschichten und Einzelstudien gewertet wurde, die er selbst vorgab. Betont wird so von allem Anfang an seine Beziehung zu Heimat und Volk, zum Ursprünglichen und Ländlichen; er erscheint auch als ein Autor, der sich dafür eignet, die Wesensart des Österreichers zu erschließen. So in der ersten in Buchform vorgelegten Monographie von Erwin Ackerknecht, einem Buch, dessen Lektüre einem heute noch die Werke Nabls verleiden könnte: [...] gerade jetzt sind uns die Werke Franz Nabls - abgesehen von ihrem künstlerischen Wert - ein wahrer nationaler Schatz durch die Fülle der Aufschlüsse, die sie über alle Spielarten des Menschen in Osterreich geben, des Großstädters wie des Landmanns und des Kleinstädters, des Beamten oder des Offiziers, wie des Arztes oder Pfarrers oder Kaufmanns oder Bauern, der Frauen wie der Männer oder Kinder.10 Ackerknecht schreibt diese Zeilen, nachdem „wunderbarerweise auch die politische Grenze zwischen uns [sc. den Deutschen] und Österreich" gefallen war. 11 Er sieht in Nabl - mit deutlicher Pique gegen die Bundeshauptstadt

9

Vgl. Hilde Spiel: Die österreichische Literatur nach 1945. Eine Einführung. In: Dies. (Hg.): Kindlers Literaturgeschichte der Gegenwart. Autoren, Werke, Themen, Tendenzen seit 1945: Die zeitgenössische Literatur Österreichs. Zürich, München 1976, S. 21-23. 10 Erwin Ackerknecht: Franz Nabl. Der Weg eines deutschen Dichters. Bremen o. J. [1938], S. 15f. 11 Ebd., S. 8.

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Wien - den „großen Gegner und Überwinder des Wiener Literatentums" und den „unerbittlichen Entlarver des bürgerlichen Menschen'". 12 Das Werk Franz Nabls verspricht kulturpolitische Verwertbarkeit und Wirksamkeit, da es warnt „vor den Seelengefahren eines entartenden Familienlebens, eines verbogenen und verlogenen Trieblebens, eines naturfremden, standesbeschränkten ,Gesellschaftslebens'". 13 Das Menschenbild Nabls soll wirksam werden für die kulturpolitische Mission des Nationalsozialismus, der die „absterbenden und darum dem Gesamtorganismus gefährlichen Lebensformen - vor allem die „fragwürdige Fiktion stammesenger Sonderart", nämlich den „österreichischen Menschen" - beseitigen [!] möchte. 14 Auch von dem Verdacht, daß Nabls Werk allzu nahe an das Dostojewskis herangerückt werden könnte, weiß Ackerknecht dieses zu reinigen: Dostojewski gehöre zu denen, „die sich loslassen", er sei daher „ausgesprochen russisch", während Nabl in seiner „nüchternen und spröden, aber lebensvollen und spannungsgeladenen Klarheit" zu denen gehöre, „die sich beherrschen", weshalb er „ausgesprochen deutsch" sei.15 Nabl nun nach den Kategorien, die Ackerknecht anwendet, zu beurteilen, wäre eine grobe Fahrlässigkeit, auch wenn eine deutlich distanzierende Stellungnahme des Autors zu diesem Elaborat bedauerlicherweise nicht vorliegt. Wie verwertbar jedoch ein literarisches Oeuvre im Sinne einer Weltanschauung ist, darum hat Franz Nabl sehr wohl gewußt. In seinem späten Essay über Peter Rosegger vermerkt er, daß dieser „deutsch dachte und deutsch fühlte", beeilt sich aber hinzuzufügen: Mit Parteiwesen hatte das nichts zu schaffen, und wenn parteimäßig Denkende seine Werke und Aussprüche je nach Bedarf und in ihrem Sinne auszulegen versuchten, so dürfen nicht die Werke und ihr Schöpfer dafür verantwortlich gemacht werden.16 Ob diese Feststellung auch für Autoren des 20. Jahrhunderts zutreffen kann, bleibe hier dahingestellt. Das Bemühen jener Autoren, die Nabl nur in Literaturgeschichten und Abhandlungen erwähnen, ist meistens darauf ausgerichtet, ihn aus jenen Reihen herauszunehmen, in die er sich selbst hineinge-

12 15 14 15 16

Ebd., S. 15. Ebd. Ebd. Ebd., S. 50. Franz Nabl: Die zweite Heimat. Graz 1963, S. 97.

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schrieben hatte, und so sein Werk anderen Zusammenhängen zuzuordnen. Zielten die Äußerungen Ackerknechts und mit ihm die vieler anderer darauf, das Werk Nabls, dessen Charakter nach außen hin apolitisch schien, im Sinne einer sehr politisch verstandenen Botschaft zu werten, so wird nun der Akzent auf inhaltliche Konstanten verlegt, auf Differenzierungen des Werks, auf die Unterschiede zu anderen österreichischen Autoren; von einer „Uberwindung" des „Wiener Literatentums" ist allerdings nicht mehr die Rede. Es fallt bei den Stellungnahmen auf, daß meist Vergleichspunkte thematischer Natur gesucht werden und der Differenzierung dienen sollen. Hält man nun diese Urteile, denen im Rahmen des Referats nicht im einzelnen nachgegangen werden kann, nebeneinander, so fällt auf, daß Nabl als ein Autor betrachtet wird, der sich nicht einordnen läßt und für den die herkömmlichen Begriffe nur bedingt anwendbar sind. Es scheint fast, als würden alle diese summarischen Urteile auf unterschiedlichen Ebenen zu ,zwar-aber'-Urteilen. Etwa: Nabl hat zwar mit der Literatur des Wiener „fin-de-siecle" sehr viel gemeinsam, vor allem die Thematisierung des Sterbens, aber es „sind andere Töne als in Schnitzlers Konversationssprache aus der Wiener Gesellschaft, kraftvoller und bestimmter auch als in Hofmannsthals weicher, verführerischer Versmusik". 17 Sein Prosawerk ist „scheinbar uferlos", aber dahinter steht „ethische Sammlung und Formzucht". 18 Er ist ein Realist, aber mit „dämonischem Unterton". 19 Seine Schriften sind erfüllt von psychologischen Themen, sie sind aber nicht den Einsichten der Tiefenpsychologie und Individualpsychologie verpflichtet. 20 Epische Breite und das Aussparen sozialkritischer Bezüge in der Darstellung einer extremen Familientragödie rücken Nabls Roman Der Odhof in die Nähe der Heimatliteratur, aber sein „impulsives Erzähltemperament" „verzichtet" „freilich auf deren stereotype

17 Franz Nabl: Der Tag der Erkenntnis. Eingeleitet und ausgewählt von Alfred Holzinger. Graz und Wien 1961, S. 8. 18 August C. Closs: FranzNabls

Größe und Einsamkeit.

In: Studium Generale 24 (1971), S.

1185. 19 Gero von Wilpert (Hg.): Lexikon

der Weltliteratur. Unter Mitwirkung zahlreicher Fachge-

lehrter. Bd. 1. 2. Aufl. Stuttgart 1975, S. 1156. 20 Eduard Castle (Hg.): Deutsch-österreichische

schichte der deutschen Dichtung

Literaturgeschichte.

in Österreich-Ungarn.

Ein Handbuch

zur Ge-

Unter Mitwirkung hervorragender

Fachgenossen nach d e m Tode von Johann Wilhelm Nagl und Jakob Zeidler hrsg. von Eduard Castle. Bd. 4. Wien o. J. [1957], S. 2226.

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Klischees". 2 1 Die Reihe ließe sich noch lange fortsetzen. Bezeichnend ist, daß man auch die Person und die Wirkung Nabls in solchen Gegensatzpaaren fassen will. August C. Closs: „Franz Nabls Größe und Einsamkeit", und, diesen Titel offenbar kritisch variierend, Peter Handke: „Franz Nabls Größe und Kleinlichkeit". 22 Auch dafür, daß Literatur unter einem regionalen Aspekt zu betrachten ist, bietet Nabl ein willkommen lehrreiches Beispiel. Zwar kein Steirer von Geburt, kann ihm die Steiermark doch zur zweiten Heimat werden. 2 3 Die überragende Stellung, die dem Odhof im Rezeptionsprozeß zukam, sowie die Bücher, die sich vorwiegend mit der Beschreibung der heimatlichen Umgebung befaßten, bewirkten, daß Nabls Gesamtwerk vor allem aus dieser regionalen Perspektive beurteilt wurde. Sosehr dies vom Werk selbst, besonders natürlich von solchen Schriften wie Die zweite Heimat nahegelegt wird, so bedenklich stimmt dies nun, wenn damit alle Schriften charakterisiert werden sollen. „Heimat" - das ist für Nabl ein stets positiv besetzter Terminus. Bindung an das Regionale bedeutet für ihn nicht Einengung, welche Kritik herausfordern kann. Ohne auf das Werk und seine Besonderheiten einzugehen, ohne auch den Generationsunterschied zu beachten, hat Paul Kruntorad in der Anhäufung von Zeitungsrezensionen, die ein Teil der von Hilde Spiel herausgegebenen Literaturgeschichte sein will, Nabl verulkt, als dieser sich über das Interesse freute, das ihm jüngere steirische Autoren wie Hergouth, Kolleritsch, Bauer und Roth entgegenbrachten. Er hat sich auch über das Interesse Handkes gefreut, vor allem über den Umstand, daß man seine Texte las und nicht verwarf. Daß Nabls Urteil einer ästhetischen Perspektive verpflichtet war, die für viele als überwunden gilt, sollte nicht Anlaß zu abschätziger Kritik sein, wie sie etwa aus Kruntorads Worten herauszuhören ist: Vom Parnaß der Dichter herab, dessen Stufen offenbar „steirisch", „österreichisch", „gesamtmenschlich" heißen, bedankte sich Nabl mit der um-

21

Redaktion Kindler-Literatur-Lexikon. In: Kindler-Literatur-Lexikon.

Bd. 8. Zürich 1970,

S. 6900. 22 Vgl. dazu Anm. 18 und Franz Nabl: Charakter.

Frühe Erzählungen,

Der Schwur des Martin Krist.

Dokument.

hrsg. von Peter Handke. Salzburg 1975, S. 5-24.

23 Adalbert Schmidt: Dichter und Dichtung Salzburg, Stuttgart 1964, S. 63.

aus Osterreich im 19. und 20. Jahrhundert.

Bd. 2.

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fassenden Gebärde, mit der man neugewonnene Freunde an seine Brust zu drücken pflegt.24 Gewiß soll diese Symbiose der Generationen nicht verklärt werden, aber es wird aus Handkes Vorwort zu den Frühen Erzählungen von 1975 gerade durch den kritischen Grundton besser als aus jeder Lobeshymne deutlich, daß diese jüngere Generation in Nabl mehr sah, als nur eine zur Bestätigung der Tradition eigens gesuchte Vaterfigur, ja mehr in ihm sehen konnte. Nichtsdestoweniger wäre es ungehörig, Nabl nun stillschweigend auf Grund dieser - wenn man so will - ,Wiederentdeckung' durch jüngere Autoren zu einem Ahnherrn der Moderne zu machen. Er gehört in den Kontext der österreichischen Literatur - aber wie? Wie schon Alfred Holzinger mehrfach betont hat23, nutzt die Suche nach Motivparallelen und thematischen Analogien nicht viel; wenig wirft die Vergleichung der StofFwahl ab, sind doch Nabls Themen, Schauplätze und Stoffe so gewählt, daß man dahinter zwar schon Osterreich erkennt, die namentliche Konkretion wird aber fast ängstlich in den meisten Fällen gemieden oder umschrieben. Handke hat sich auf Nabls Werk eingelassen, d.h. er hat nicht voreilig durch Vergleichen dessen Eigenart zerredet, ihm einen „Platz in der Literaturgeschichte" zugewiesen und allzu viele geschmäcklerische Wertungen vorgebracht. Er macht das Beklemmende der Bücher Nabls bewußt und spricht vom „Zwiespalt", der das ganze Werk als das „zeitabhängig-zeitlos Exemplarische" in Form des Konflikts zwischen der menschenleeren Normenwelt und der Kritik daran durchzieht.26 Negative Bestimmungen lassen sich auch leicht aussprechen und sind in bezug auf Nabl auch öfters ausgesprochen worden, ganz im Sinne jenes ,Zwar-aber'-Schemas, von dem zuvor die Rede war. Symptomatisch dafür Ernst Alkers Urteil, der meint, daß Nabl Robert Musil „an erzählerischer Kraft übertrifft, dessen spekulativ-analytische Durchdringungskraft ihm nicht eigen ist". 27 Negativ gefaßt ist hier etwas zu erkennen, was der österreichischen Literatur gerne als Grundzug nachgesagt wird: Theoriemangel, oder schärfer formuliert: Theoriefeindlichkeit. Alle Abgrenzungen von öster-

24 25 26 27

H. Spiel (Hg.), Die zeitgenössische Literatur Österreichs (Anm. 9), S. 263f. F. Nabl, Der Tag der Erkenntnis (Anm. 17), S. 9. F. Nabl, Charakter {Anm. 22), S. 20. Ernst Alker, in: Handbuch der deutschen Gegenwartsliteratur, hrsg. von Hermann Kunisch, 2. Aufl., Bd. 2. München 1970, S. 443.

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reichischen Autoren fuhren nur dazu, in Nabl einen großen Einsamen zu sehen, der nur äußerlich mit einigen österreichischen Autoren etwas gemeinsam hat, dessen Werk sich aber jeder Zuordnung entzieht. Es entsteht so das etwas verquere Bild: Die österreichische Literatur in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts läßt sich zwar mit Namen wie Rilke, Hofmannsthal, Trakl, Musil und Schnitzler umreißen, im Hintergrund steht aber als einsame, weil unbestimmbare Größe Franz Nabl. In der zweiten Hälfte des Referats geht es nun darum, durch eine Betrachtung der Werke Nabls konkrete und positiv bestimmbare Punkte zu finden, durch die sich diese in den Kontext der österreichischen Literatur des 20. Jahrhunderts einfügen lassen. Der Versuch einer allzu straffen Zuordnung soll dabei ebenso vermieden werden, wie die Absicht, bloß von der Peripherie her die Schriften Nabls mit denen anderer österreichischer Autoren zu verbinden. Dabei soll von Texten Nabls ausgegangen werden, die am Ende mit Schriften anderer Autoren in diesen uns zentral erscheinenden Punkten verknüpft werden. In einem seiner letzten autobiographischen Texte mit dem Titel Das Platanenblatt berichtet Nabl von einem seltsamen Erlebnis, das ihn in die Vergangenheit zurückführte. Er hatte als Kind die Gewohnheit, die Blätter eines Platanenbaums, der vor dem väterlichen Haus stand, im Herbst mit einer Haarbürste so lange zu klopfen, bis sie zu „schleierartigen, durchscheinenden Gebilden wurden", deren schönste er, mit einem Abziehbildchen geschmückt, seiner Mutter schenkte. In seinem ersten Drama Noch einmal...! (1905) läßt Nabl einen Sterbenden im Fiebertraum das nutzlos vergeudete Leben in knappen Bildern noch einmal erfahren. „Auch die Eltern treten zu ihm, und nun erinnert er die Mutter an die vergilbten Platanenblätter, die er mit der Bürste bis zur Durchsichtigkeit geklopft..." Im Nachlaß seiner Mutter fand Nabl ein Exemplar mit dem Text dieses frühen Dramas, und an der Stelle, an der der Sterbende seine Mutter an die Platanenblätter erinnert, „lagen drei durchschimmernde, mit Abziehbildern geschmückte Platanenblätter zwischen den Buchseiten. Die Mutter hatte sie gehütet von dem um ein halbes Jahrhundert zurückliegenden Tag an [.. .J." 2 8 Diese Episode weist auf ein zentrales Strukturelement in allen Schriften Nabls; es hat Gültigkeit in allen Perioden seines Schaffens. Dieses Strukturelement, das auf verschiedenen Ebenen im erzählerischen Werk des Autors

28 Franz Nabl: Spiel mit Blättern. Autobiographische

Skizzen. Graz, Wien, Köln 1975, S. l l f f .

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angetroffen werden kann, möchte ich das Strukturelement des Verbergens und Entbergens, des Verhüllens und Enthüllens, des Öffhens und Schließens, des Einsperrens und Befreiens oder des Aufbewahrens und Vernichtens nennen. Ich meine, daß die Aktionen der Figuren Nabls sich durchgehend, ja fast ausschließlich mit diesen Worten fassen lassen. Ein paar Beispiele mögen die Funktion dieses Strukturelements erläutern; sie sind mit Absicht aus verschiedenen Werken genommen, um die umgreifende Gültigkeit aufzuzeigen. Daß sich das Strukturelement im Laufe der Jahre in seiner Intensität und Bedeutung gewandelt hat, ist nicht auszuschließen. Diese Frage könnte Gegenstand einer eigenen Untersuchung sein. Es scheint, als würde es im Spätwerk noch häufiger und nachdrücklicher eingewendet. Die Handlungen der Figuren bei Nabl sind ausnehmend oft das Schließen und Offnen von Haus-, Zimmer- und Kastentüren. Der Arzt Dr. Schiermayer verschließt allabendlich ängstlich den Stall, um seine geliebten Hühner „vor den Gefahren eines nächtlichen Marder- oder Iltiseinbruches zu behüten". 29 Josefine in Das Grab des Lebendigen schließt behutsam die Fenster, als ihr Bruder Walter zu Hause bleibt, da sie fürchtet, daß „möglicherweise ein Sturm kommen und Walter wegen seines Unwohlseins vergessen könnte, sie rechtzeitig zu versorgen".30 Schon diese rein äußerlichen Handlungen haben Verweischarakter auf das Verhalten der Menschen. Es dominiert die Angst, daß von außen etwas in den ängstlich gehüteten Bereich eindringen könnte, daß eine Veränderung bevorstehen könnte. Die sonderbare Exklusivität der Familie Ortlieb wird durch dieses Handlungselement angedeutet, ebenso der psychische Zustand des Dr. Schiermayer. Die Haltung des Erzählers ist ambivalent. Man hat jedoch den Eindruck, daß alle Figuren und auch der Erzähler eher von der Neigung zum Bewahren und Verschließen als von der Notwendigkeit des Öffnens bestimmt sind. Das Neue irritiert; hat jemand Anteil an dem, was die Menschen im Verborgenen verbindet, so fühlt er sich unsicher und fürchtet, das Geheimnis könnte ans Licht gezerrt werden. Die Katastrophe in der Erzählung Der Vogel Tscheap wird dadurch ausgelöst, daß ein Wort, das nur den Liebenden gehört, von einem Dritten gewußt wird. Das Liebespaar verkehrt in „selbstverständlicher [!] Ausschließlichkeit".31 Nicht nur Dinge oder Worte können in diesem Sinne eingeschlossen werden. Das markanteste Beispiel, daß dies auch einem Menschen widerfahren 29 Franz Nabl: Ausgewählte Werke. Bd. 1. Wien 1966, S. 132. 30 Ebd., Bd. 3, S. 248. 31 Ebd., Bd. 1, S. 409.

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kann, findet sich in dem Roman Das Grab des Lebendigen - Walters von den Frauen verhängte Haft im Keller. Einer inneren Regung folgend, suchen auch viele der Figuren Nabls das Verborgene, die Abgeschlossenheit, die Trennung von den Mitmenschen und der Außenwelt. Damit setzt auch Nabls erster Roman Hans Jäckels erstes Liebesjahr ein. Der Held kommt während der Ferien in das Vaterhaus: Dann kletterte er über die kreischende Holztreppe zum Boden hinauf, kroch durch die dumpfen Mansarden, durch die langen, niedrigen Seitenböden und zwängte sich schließlich in die finstere Kaminstube. [...] Zu allerletzt stieg er auch in den Keller hinab und arbeitete sich durch die dicht belegten Flaschenständer bis zu jenem Winkel durch, wo bei starkem Regen immer die klare Quelle aufbrach. Und jedesmal fand er die kleine, ausgewaschene Grube wieder und jeden Sommer überschwemmte der plätschernde Eindringling wenigstens einmal, zur Verzweiflung sämtlicher Hausbewohner, den Keller.32 Das Verbergen oder Enthüllen wird auch für die Handlungsstruktur wichtig. Ein Geheimnis wird bewahrt, ängstlich gehütet. Die Erzählung Der Fund ist bestimmt von der Bemühung des Bürgermeisters, das zu verdecken, was in der Brieftasche an Geheimnissen verborgen war. Aber nicht in Form einer tragischen Analysis, einer Enthüllung wie bei Ibsen, läuft die Erzählung ab. Das Verbrechen wird dem Leser fast von Anfang an zur Kenntnis gebracht; die Spannung wird dadurch erzeugt, daß sich der Bürgermeister, diese Stütze der Gesellschaft, plagt, damit am gegenwärtigen Stand der Dinge nichts verändert werde. Von der Enthüllung eines Geheimnisses ist auch die Erzählung Griff ins Dunkel bestimmt. Die Räume, in die sich die Menschen zurückziehen, in welche sie sich einsperren oder eingesperrt werden, können Räume der Verdammnis oder Räume der Geborgenheit oder gar beides sein. Im Odhofwird die finale Katastrophe dadurch ausgelöst, daß Johannes Arlet seinem Sohn Heinz zwar die Erlaubnis zur Eheschließung gibt, ihn aber zugleich zwingt, mit ihm auf dem Odhof zu leben. Anders und noch radikaler ist die von der Familie verhängte Haft für Walter Ortlieb. Aber gerade im Grab des Lebendigen wird die Ambivalenz des Eingeschlossenseins deutlich. Präfiguriert wird die Haft Walters durch die ausführlich erzählte Episode mit dem Star Krampus, für

32 Franz Nabl: Hans Jäckels erstes Liebesjahr. Berlin 1908, S. 4.

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den ein eigener Vogelkäfig betulich angefertigt wird. 33 Während der Vogel an der so familiären Behandlung eingeht, kann Walter aus dem Keller befreit werden, er kann seine „Auferstehung" 34 feiern. Aber just in der völligen Isolation erfahrt er sein höchstes Glück, indem er auf seiner Laute spielt: [...] hier an diesem furchtbaren Ort, in dieser furchtbaren Stunde, gerade hier, wo die letzten, beinahe schon erloschenen Reste seines eigenen Willens, seiner eigenen Sehnsucht erstickt werden sollten, hier fand Walter Ortlieb sein lange entbehrtes Glück wieder.35 So wird die Isolation zum Garanten des Glücks, die Isolation, deren sich der Autor als einer ambivalenten bewußt ist. Es ist nicht verwunderlich, daß die meisten Figuren Nabls nichts vom Entbergen und Enthüllen, nichts von der Verwandlung wissen wollen. Es ist die Angst vor der Preisgabe eines gehüteten Geheimnisses, die besonders alert bei sexuellen Fragen ist. Da ist etwa von der Gefahr zu hören, die von einem „preisgebenden Badekostüm" ausgehen kann.36 Die Aktionen der Menschen werden auf doppelte Weise fragwürdig. Einerseits findet durch die Einschließung die Freiheit des Menschen ihr Ende, andererseits bedeutet die Öffnung, die Befreiung auch die Preisgabe der Geborgenheit und damit auch des höchsten Glückes. Die Angst vor jeder Veränderung führt dazu, daß die Menschen von Nabl oft in völliger Handlungslosigkeit gesehen werden. Beachtenswert ist die häufige Verwendung von Worten wie „starren" oder „regungslos". Mit einer geradezu aufdringlichen Rekurrenz werden Zustände der Passivität und Regungslosigkeit dargestellt. Die Menschen versinken darin, wenn sie sich von einer Veränderung bedroht fühlen. Nach jeder Veränderung werden sie krankhaft unbeweglich. Sehr schön demonstriert dies eine Szene aus dem Vaterhaus. Paul Deinegger hat erfahren, daß sein Vater den Pferdewagen verkauft hat. Paul muß nun mit der Bahn in die Schule fahren und findet das höchst demütigend. Er besucht seinen Freund Ludwig Wallner; nach der Heuernte fahren sie auf einem Wagen nach Hause. Paul blickt empor zum Himmel und sieht „strichfÖrmige Wölkchen": 33 34 33 36

F. Nabl, Ausgewählte Werke (Anm. 29), Bd. 5, S. 35f. Ebd., S. 416. Ebd., S. 414. Ebd., Bd. 1, S. 499.

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Eine Zeit lang starrte Paul mit krampfhaft geöffneten Augen in die Höhe. Er wollte beobachten, nach welcher Richtung diese Wolken sich bewegten. Doch sie schienen regungslos an die blaßblaue Wand angeheftet zu stehen, und ermüdet schloß er die Lider .. ,57 Die Wolke, sonst topisch Sinnbild für das Wandelbare, das, blickt man auf, schon im Winde schwindet, wird hier in bezeichnender Umkehr zur Chiffre für das erhoffte und erwünschte Beständige. Nabls Vorliebe gilt dem Bewahren; von ihm ist auch sein Schaffen bestimmt. In der Erinnerung wird etwas aufbewahrt und kann daraus wieder hervorgeholt werden. Auf diesen Umstand hat Alfred Holzinger aufmerksam gemacht.38 Das Wiederfinden von Verborgenem, das Wiedererkennen von verloren Geglaubtem, das bringt nachhaltigste Glücksempfindung. Wenn Nabl nun Bilder der Dauer evoziert, seine Figuren in geschlossene Räume sperrt oder sie die Einsamkeit suchen läßt — wie dies etwa Johannes Krantz tut —, so ist dies nie das Idyll, das mit der Signatur von Jean Pauls „Vollglück in der Beschränkung"59 versehen werden kann. Obwohl sich Nabl stets der Gefahr dieser oftmals beschworenen Abgeschlossenheit bewußt zu sein scheint, so hat es doch meist den Anschein, als ob die Dauer des Status quo behauptet werden sollte. Mit einem auffallenden Beharrungsvermögen wird der Ablauf der Ereignisse durch das Wort „noch" sistiert. Aber unvermeidlich kommt es zu einem Ende, zu einer Enthüllung, und die Veränderung läßt sich nicht vermeiden. Dieses so signifikante „noch" wird häufig durch ein radikales, unvermutetes „plötzlich" unterbrochen, was den Stand der Dinge meist auf schmerzliche Weise ändert. So plötzlich erfolgt auch der Tod des Inspektors Ortlieb; dieses Ereignis droht, die steten Lebensgewohnheiten dieser kleinbürgerlichen Familie zu verändern. Auch da läßt sich ein für Nabls Erzählwerk typischer Zug feststellen: Es bahnt sich eine Wiederherstellung des vorangegangenen Zustandes an, eine „restitutio in integrum". Nach ein paar Tagen voll Bangens entdeckt die Familie, daß sie von ihren Lebensgewohnheiten nur geringfügige Abstriche machen muß. Frau Wallner in Vaterhaus lebt nach dem Tode ihres Man-

37 Franz Nabl: Vaterhaus. Graz, Wien, Köln 1974, S. 117. 38 F. Nabl, Der Tag der Erkenntnis (Anm. 17), S. 15. 39 Jean Paul: Vorschule der Ästhetik. In: Werke. Bd. 5. München 1963, S. 260.

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nes so wie zuvor. Sie ändert ihre Gewohnheiten nicht, und ihre Tochter kann sich nicht vorstellen, daß dies „anders" sein könnte. 40 Diese Angst vor Veränderung bestimmt auch die Haltung der meisten Figuren. Die Apathie führt zu einer lähmenden Auffassung des Schicksals, die jeder für sich entwickelt. Frau Ortlieb versinnlicht die Ereignisse ihres Lebens, deren schicksalhafte Abfolge in einem Bild: Eines nach dem anderen, eines aus dem anderen, ein langes, unendliches Band, zuerst aus Blumen und bunten Schleifen gewunden, dann aus schweren, drückenden Ketten, die sie zu Boden zu reißen drohten, und zuletzt nur noch ein graues, ewig gleiches Seil, schlaff über die Erde dahin geschleppt, zerschunden und zerwetzt, aber noch nicht zerrissen, noch immer ein Ganzes.41 Auch hier begegnet dieses sistierende „noch": „noch nicht zerrissen, noch immer ein Ganzes." Die Figuren Nabls scheinen, von der Setzung einer Frist bedroht, ihr Leben zu fristen. Der Titel Die Galgenfrist legt dies ganz deutlich dem Leser nahe. Das Leben, das als Blumenkette beginnt und sich zu einem grauen Seil wandelt, erinnert an ein Bild, das Adalbert Stifter zu Beginn seiner Novelle Abdias gebraucht. Es gibt keine Unvernunft des Seins, heißt es da, sondern eine heitre Blumenkette hängt durch die Unendlichkeit des Alls und sendet ihren Schimmer in die Herzen — die Kette der Ursachen und Wirkungen —, und in das Haupt des Menschen ward die schönste dieser Blumen geworfen, die Vernunft, das Auge der Seele, die Kette daran anzuknüpfen und an ihr Blume um Blume, Glied um Glied hinabzuzählen bis zuletzt zu jener Hand, in der das Ende ruht.42 Auch wenn der Vergleich bei Nabl nicht auf dasselbe wie bei Stifter zielt, so ist doch die Analogie im Bildmaterial auffallend, und eine Bezugnahme auf Stifter durch Nabl ist nicht auszuschließen. Die Biographie des Menschen gründet bei Nabl nicht mehr in jener Theodizee, die den Zufall verbannt,

40

F. Nabl, Vaterhaus (Anm. 37), S. 142f.

41 F. Nabl, Ausgewählte

Werke (Anm. 29), Bd. 3, S. 88.

42 Adalbert Stifter: Gesammelte

Werke in vierzehn Bänden,

Basel und Stuttgart 1963, S. 240.

hrsg. von Konrad Steffen. Bd. 2.

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doch ist alles miteinander verbunden in einer großen, nicht endenden Kette. Eine ganz andere Weltsicht als bei dem von Nabl so geschätzten Stifter wird sichtbar. Wie der Handlungsablauf und der Schluß des Abdias mit der Einleitung von der „heitren Blumenkette" zu verbinden ist, beschäftigt uns in diesem Zusammenhang nicht. 43 Eine Folge von Ursachen und Wirkungen („Eines nach dem anderen, eines aus dem anderen") führt bei Nabl den Menschen immer mehr in die Isolation, in die Einsamkeit, in die Apathie, aus der es Befreiung und Erlösung nur in den seltensten Fällen gibt. Diese Weltsicht, der eine positive Erfassung des Mikrokosmos, etwa der Pflanzen und Tiere, gegenübersteht, ist nicht zuletzt verantwortlich für die eigentümliche Hermetik der Schriften Nabls. Die alles Geschehen überwölbende Statik, der Versuch, die Zeit in ihrem Fluß aufzuhalten, gegen ihr Wirken anzuschreiben, in allem das zu sehen, was ererbt ist und in die Vergangenheit weist, zu sehen, was noch ist, aber zu beklagen, was nicht mehr ist, dieser Versuch, aus der Geschichte und ihrer verändernden Macht herauszutreten, verbindet Nabl mit vielen Autoren aus Osterreich. In dieser Sehnsucht nach Stabilem liegt zugleich die Basis für geglückte künstlerische Leistung als auch deren intensivste Bedrohung. Die Freude am Konservieren und die Freude, Konserviertes wiederzuentdecken, bestimmt zahlreiche Erzählvorgänge in der österreichischen Literatur. Die Fülle von Analogien zu anderen Autoren kann hier nur angedeutet werden. So beschwört Arthur Schnitzler in einem Brief an Jakob Wassermann vom 5. November 1924 die psychische Kontinuität des Menschen gegen die verändernde Macht der historischen Umwälzungen. 44 Heimito von Doderers Roman Die Strudlhofstiege ist darauf angelegt, die historischen Zäsuren zu überbrücken, vor allem den „Einhieb von 1918" vergessen zu machen. 45 Eine der Hauptfiguren, der zum Amtsrat, zum Zivilisten gewordene Major, Melzer kehrt wieder in das Ferienhaus der Familie Stangeier in der Nähe der Raxalpe ein:

43 Zur Deutung der Blumenkette bei Nabl vgl. auch Hellmuth Himmel: Franz Nabls Roman Die Ortliebschen Frauen. In: Studium Generale 24 (1971), S. 1224. Zu Stifter vgl. Johann Lachinger: Adalbert Stifters „Abdias". Eine Interpretation. In: Vierteljahresschrifi des Adalbert Stifter-Instituts des Landes Oberösterreich 18 (1969), S. 97-117. 44 Abdruck in: Reinhard Urbach: Schnitzler-Kommentar. München 1974. 45 Vgl. dazu Heimito von Doderer: Österreichs Nationalbewußtsein ist übernational. Von der Wiederkehr Österreichs. In: Kleine Zeitung (Graz) vom 20.6.1964.

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Dieser Tag auf der Villa: auf Schritt und Tritt war's eine äußere Nähe zu Einzelheiten von ehemals, hier im hellen Sonnenlichte von heute, worin sie gleichsam zusammengedrückt und wie verkleinert standen, [...] eine Welt ohne Mittelpunkt mit zahlreichen Stücken nebeneinander, ein Museum.46 Kennzeichnend für die Epik Doderers ist die Herstellung von geschlossenen Räumen, die aber meistens - im Gegensatz zu Nabl - von Licht durchflutet sind, wodurch eine fast idyllische Situation beschworen wird. Bei Doderer stabilisieren sich die Verhältnisse und kommen, wie auch so oft bei Nabl 47 , wenigstens für einige Beteiligte wieder ins Lot. Unmittelbar nach dem Straßenbahnunfall kann Doderers Heroine Mary K. schon als gerettet gelten. Der Major Melzer und Thea Rokitzer knien neben Mary: Damit aber, daß sie nun nebeneinander im Blute knieten, war nach dem Stoß der Katastrophe, schon eine verhältnismäßig stabile Lage eingetreten (und in mancher Hinsicht).48 Die Anatomie des Augenblicks zu bewahren, was sich verflüchtigen könnte, festzuhalten, mit Worten zu bannen oder aus der „Tiefe der Zeiten" hervorzuholen, das in der Erinnerung Vorhandene zu befreien, zu entbergen, das sind wesentliche Voraussetzungen für Doderers ästhetisches Konzept. Zugleich beschwört er (allerdings anders als Nabl, nämlich meist verklärende) Momente, an denen die Zeit still zu stehen scheint. An Stifter lobt Doderer die handlungsarmen Partien; er nennt sie „Tempo 0". Mit einem solchen „Tempo 0" beginnt etwa der vierte Teil der Strudlhofstiege: Uber der Stadt und ihren weit ausgestreuten Bezirken stand auf goldenen Glocken der Spätsommer, noch nicht Nachsommer, noch trat der Herbst nicht sichtbar ins Spiel. Die Windstille war eine so vollkommene, daß eine leichte schwebende Luftgondel, die mein sich im schwindelnden Blau etwa genau über der Strudlhof-

46 Heimito von D o d e r e r : Die Strudlhofstiege

oder Melzer und die Tiefe der Jahre.

München

1951, S. 549. 47 Kennzeichnend der Titel der Erinnerungen an das E n d e des Zweiten Weltkriegs: Die

Lichterbrennen

wieder. In: F. Nabl, Ausgewählte

48 H. Doderer, Strudlhofstiege

(Anm. 46), S. 844.

Werke (Anm. 29), Bd. 1, S. 67-96.

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stiege hätte denken können, durch Stunden wäre am gleichen Punkt dort oben verblieben, ohne abgetrieben zu werden, [...]. 49 Die Ordnung der Dinge, eine märchenhaft gleichgeschaltete ferne Welt beschwört Joseph Roth in seiner Erzählung Die Büste des Kaisers. Die Welt ist versunken, aber die Chiffren, an denen sie erkennbar ist, können in der Erzählung rekonstituiert werden. Walter Weiss hat den Begriff der Ordnung als einen Leitbegriff für die österreichische Literatur seit der Grillparzerzeit herausgestellt. Doch ist diese Ordnung nicht positiv, sondern stets ambivalent gefaßt. 50 Der Satz von Claudio Magris gilt mit Abstrichen auch für Franz Nabl: „Die Ordnung als Merkmal oder Konstante der österreichischen Literatur besteht aus einer langen Reihe von Entlarvungen der Unordnung im Zeichen eines unbefriedigten und nicht zu befriedigenden Bedürfnisses nach authentischer Ordnung." 5 1 Diese Sehnsucht nach einer „authentischen Ordnung" meint Karl Kraus mit den Versen Und das Chaos sei willkommen, Denn die Ordnung hat versagt! die Oswald Wiener als Motto für einen Teil seiner Verbesserung von Mitteleuropa verwendet hat. 52 Nabls Abkapselung, das Verdecken, Verbergen und Abschließen erzeugt mitunter jene Stickluft, wie man sie in Texten aus der Zeit des Ständestaates und der darauffolgenden Nazi-Ära antreffen kann. Doch wird durch diesen Vorgang auch die eigene Befangenheit und Begrenztheit subtil mitthematisiert. Das Strukturelement der Abkapselung und der Befreiung, dessen Funktion bei Nabl in diesem Referat manchem vielleicht überbetont erscheinen mag, bietet sich als ein verbindendes Merkmal für viele literarische Texte aus Österreich an. In solchen Räumen der Einsamkeit, in Gräbern für Lebendige hausen auch die meisten Protagonisten Thomas Bernhards. Das Einsam-

49 H. Doderer, Strudlhofstiege (Anm. 46), S. 559. 50 Walter Weiss: Thematisierung der Ordnung in der österreichischen Literatur der Gegenwart. In: Walter Strolz (Hg.): Dauer im Wandel. Aspekte österreichischer Kulturentwicklung. Wien, Freiburg/Brsg., Basel 1975, S. 19-44. 51 Claudio Magris: Der unauffindbare Sinn. Zur österreichischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Klagenfurt 1978, S. 11. 52 Oswald Wiener: Die Virbesserung von Mitteleuropa. Roman. Reinbek 1969, S. CXXXIV.

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keitsmotiv bei Nabl wird hier radikalisiert zur totalen Isolation. Auch bei Bernhard ist es die Vergangenheit, die in diesen Räumen herrscht und der die Helden nicht entrinnen können. Das Platanenblatt, das Nabl im Nachlaß seiner Mutter fand, vermag die Wehmut des Erzählers zu wecken. In Bernhards Erzählung Watten finden sich in der Ordination des Arztes verweste Dohlen auf dem Boden. 55 Die Schrift Watten hat den bezeichnenden Untertitel Ein Nachlaß, und kaum für einen anderen Autor trifft eine Formel, die Claudio Magris für die österreichischen Autoren prägte, so gut zu wie für Thomas Bernhard: „Archivare des Negativen". 54 Die Zahl der Beispiele läßt sich vermehren, und erst eine Blumenkette solcher Beispiele würde die hier vorgenommene Einbettung des Nabischen Werkes dem Verdacht der Beliebigkeit in der Vergleichung und Argumentation entziehen können. Anhand dieser Ausführungen kann vielleicht Nabls Konservativität besser verstanden werden. Das Referat war nicht dafür gedacht, diese Neigung zum Konservieren zu verteidigen, sondern diesem in ästhetischer wie ideologischer Hinsicht so zwiespältigen Werk gerecht zu werden. Ein abschließendes Urteil muß mit einem sistierenden „noch" aufgeschoben werden. Das möge nicht als Flucht vor der Verantwortung verstanden werden, sondern als Einsicht des Literaturwissenschaftlers, der die schwere und fast unlösbare Aufgabe hat, das Alte zu bewahren und das Neue in seinem Wert zu erkennen und zu erschließen.

53 Thomas Bernhard: Watten. Ein Nachlaß. Frankfurt/M. 1969, S. 80-82. 54 C. Magris, Der unauffindbare Sinn (Anm. 51), S. 11.

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Hermann Brochs Roman Die Verzauberung (1955)

I . W I E E I N E R ZU S C H R E I B E N

BEGINNT

„Und ich schreibe dies nieder, weil draußen der Schnee fällt und weil es dunkelt, wiewohl es noch früh am Nachmittag ist" (S. 12)1 — so will ein alternder Landarzt sich und seine Leser einstimmen, wenn er sich anschickt, eine Geschichte zu erzählen, deren Zeuge und Integrationsfigur er war. Das Schreiben und die Winterruhe der Natur sind synchron und auch sympathetisch; der Schluß des Buches gibt dem Erzähler nach getaner Arbeit nochmals Gelegenheit, dem Sommer hohes Lob zu zollen. Das ganze Buch ist abgestellt auf den Wandel der Jahreszeiten, von ihm, so hat man von Anbeginn an den Eindruck, schreibt sich der Erzähler an die Ereignisse heran. Am Anfang wird heimelige Stimmung suggeriert, die Ur-Situation des Erzählens förmlich, am warmen Kamin, allerdings nicht ein Erzählen vor versammelten Hörern, sondern allein am Schreibtisch. Erzählt wird von schauerlichen Dingen: Vom Auftreten eines seltsamen Menschen namens Ratti im Dorfe Kuppron, der im Berg Gold suchen will; er zieht nahezu alle in seinen Bann, mit Ausnahme jener, die im Oberdorf um Mutter Gisson herum sich als widerstandsfähig erweisen; die Enkelin der Mutter Gisson, Irmgard, stirbt bei einem heidnischen Ritual durch Mörderhand den Opfertod; dahinter steht die geheimnisvolle Inszenierung durch Ratti. Die Goldsuche scheitert vorerst. Am Rande erwähnt wird der Selbstmord des Ritualtäters Sabest, am Ende stirbt denn auch Mutter Gisson, und ein Kind wird geboren: „Mutter Gisson ist gestorben, und Agathe hat ihr Kind" (S. 568) — dieser Satz signalisiert am Ende Beruhigung, Stabilisierung, was immer auch geschah. In

1

Hermann Broch: Die Verzauberung. In: H. B.: Kommentierte Werkausgabe, hrsg. von Paul Michael Lützeler. Bd. 3. Frankfurt/M. 2 1980. Nach dieser Ausgabe wird in der Folge zitiert (Seitenangabe in Klammer). — Eine eindringliche Analyse der Fachliteratur ist in diesem Beitrag nicht zu leisten. Dafür sei auf den umfassenden Forschungsbericht von Paul Michael Lützeler verwiesen: Paul Michael Lützeler (Hg.): Brochs „ Verzauberung". Frankfurt/M. 1985, S. 239-296. Besonders für die komplizierte Entstehungsgeschichte ist Lützelers konziser Bericht (S. 239-253) unentbehrlich.

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seinem Kommentar aus dem Frühjahr 1940 hat Broch selbst diese Rückkehr zu einem Alltag, der offenbar sogar durch Gewalt nicht hintergehbar ist, hergestellt: Nach dieser Klimax beginnt das Dorf sich wieder zu zivilisieren, sogar der Narr, welcher nunmehr die Dorfherrschaft ergriffen hat, fügt sich wieder in den Alltag ein, aber Menschliches ist für immer verloren gegangen. (S. 584)

Eines ist gewiß: was immer Broch am Ende mit Marius Ratti vorhatte — der Erzähler, der namenlose Landarzt, sollte wieder an den Alltag glauben können. Es ist daher nur folgerichtig, wenn der Arzt seine Erzählstrategie auf jenen Wettersignalen aufbaut, die Wiederkehr anzeigen, dort aber, wo Ungewöhnliches geschah, die Abweichung alert registriert. Anfang und Ende der Erzählung des Arztes korrespondieren so in überdeutlicher Manier. Im ersten Kapitel ist es der jählings einsetzende Vorfrühling, der den ordo der Natur offenkundig verwirrt. Ein Tag, der den „Winter in die Schattenwinkel der Welt zurückgedrängt" (S. 13) hat, ein falscher Vorfrühling also, der mit geradezu verstimmender Absicht die Falschheit dieses neuen Propheten Marius Ratti mitbedeutet. Ein „Schneegewitter" (S. 22) wiederum, selbst eine höchst unnatürliche Erscheinung, setzt diese Widernatur außer Kraft. Und die Handlung klingt ebenso mit abnormalem Wetter aus: Mutter Gisson stirbt im November, da das Jahr sich noch einmal aufrafft und „all seine Stärke" zusammenholt „zu zitternder Pracht und goldenem Klang". (S. 534) Doch auch da die Korrektur: Bis zum Begräbnistag hielt das Sommerwetter an. Mutter Gisson ging von der Sonne in die Erde. Doch am nämlichen Abend noch setzte der Winter blitzartig mit einem Schneesturm ein. Innerhalb einer Viertelstunde war die Temperatur um 25° gefallen. (S. 367)

Broch (oder sein Erzähler) restituieren somit im rustikalen Raum etwas, das im Urbanen der Einsatz von Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften gründlich ironisiert hatte: mit dem Wetter Stimmung zu machen. Was in Musils Roman den Einsatz abgibt, der meteorologische Bericht, der selbst wieder spöttisch unterlaufen wird, das erscheint bei Broch am Ende in dieser Form als unerhörtes Ereignis: „Innerhalb einer Viertelstunde war die Temperatur um 25° gefallen." Musil kehrt die Relation um: Bei ihm expandiert

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der sich wissenschaftlich exakt gebärdende Wetterbericht und wird — im Erzählkontext — durch ein Wort, das „altmodisch" wirkt, widerrufen: „Es war ein schöner Augusttag des Jahres 1913." 2 Benötigt wird in der Verzauberung die Ordnung der Jahreszeiten, um die Ordnung der Erzählung zu garantieren; auch wenn der Erzähler das Erzählen grundsätzlich problematisiert, so bleibt als Rest doch die Hoffnung, dieses durch den Jahresablauf wiederherstellen zu können. Von ihm lassen sich auch jene Riten herleiten, die den Höhepunkt der Handlung (Irmgards Opferung) abgeben. Es ist allerdings kein „Jahr des Herrn", sondern das Jahr eines Teufels oder Widerdämons, in jedem Falle auch nicht das Jahr eines neuen unbekannten Gottes. Die Wetterparadoxien umrahmen die Ereignisse, denen gegenüber der Erzähler selbst eine eigentümlich ambivalente Haltung einnimmt. Als Grund für sein Schreiben erscheint im Vorwort die als nicht realisierbar erachtete Hoffnung, „damit des Wissens und des Vergessens habhaft" zu werden. (S. 9) Der ganze Roman ist zwar darauf ausgerichtet, dem Vergessen entgegenzuwirken und das Geschehene aufzubewahren, doch ist zugleich offenkundig, daß der Erzähler seine Schreibarbeit als eine Tilgung versteht, „um eines anderen Wissens willen, das stärker werden sollte denn jegliches Vergessen". (S. 9) Ehe man dem Arzt die einzelnen Widersprüche in seiner Haltung vorzählt3, sollte man in Rechnung stellen, daß er als Erzähler im Zeichen der Paradoxien angetreten ist: doch nicht nur im Zeichen dieser — er zweifelt daran, erfassen zu können, worum es ihm gehen müßte. Die Einleitung ist denn auch von der Verneinung bestimmt, die privative Vorsilbe ,Un'gibt Substantiven und Adjektiven die Aura des Unfaßbaren („Unendlichkeit", „Unordnung des Unmittelbaren", „Ungeduld", „unergründlich", „das Unvergeßliche im Vergessenen") und schlägt sich nieder in der Formel, „das Unsichtbare im Sichtbaren" „nachzeichnen" zu wollen (S. 11), die als das verbindlich-unverbindliche Programm des Erzählers gelten kann.

2 3

Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. In: R. M.: Gesammelte Werke in neun Bänden, hrsg. von Adolf Frise. Bd. 5. Reinbek 1978, S. 9. Mark W. Roche: Die Rolle des Erzählers in Brochs „ Verzauberung". Anmerkungen zu den erzähltechnischen Problemen des Romans. In: P. M. Lützeler (Hg.), Brochs „Verzauberung" (Anm. 1), S. 144f. Roche führt das von ihm gewählte Verfahren in der Schlußbemerkung ad absurdum und vermittelt so eine gute Einsicht in die komplexe Verfassung des Erzählers als Chronist und Tagebuchschreiber.

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Was der Arzt vermittelt, ist stets auf ihn als Integrationsfigur zu beziehen; die aus Kuppron mitgeteilten Ereignisse sind stets insofern zu relativieren, als sie von dem in sich ebenso inkonsistenten Temperament des Arztes kommentiert werden. Unmöglich ist es, den Bericht des Arztes so zu neutralisieren, daß über die Aktivität Rattis und ihre Folgen ein eindeutiges Urteil zu fällen wäre. Es geht nicht an, den Roman in eine sich quasi objektiv gerierende Geschichtsschreibung zu verwandeln und die Person des Chronisten so zu eskamotieren, daß eine unwidersprüchliche und in ihrer politischen Diagnose klare Darstellung eines auch erzählbaren Zusammenhanges sich herauspräparieren ließe. Viel eher soll der Leser durch dieses Ich, das sich über sich selbst nicht im klaren ist, teilhaftig der Bedrohung und Faszination werden, die von Marius Ratti ausgeht.

2 . D I E K R I S E N E I N E S B E R G - UND B A U E R N R O M A N S

Kein Roman hat Broch solche Schwierigkeiten bereitet wie dieser. Zu Lebzeiten galt er ihm bereits als Nachlaßroman. 4 Auch der Leser hat diesen Umstand ernst zu nehmen: er hat kein geschlossenes Ganzes vor sich, das der Autor durch sein Imprimatur einer Öffentlichkeit vorzulegen gewagt hätte. Es liegt das Ergebnis einer fast zwanzig Jahre währenden Arbeit vor, der man nicht den Charakter des Definitiven, sondern den des Vorschlags wird zuerkennen müssen. Die verschiedenen Fassungen der durchgeführten Textpartien verraten trotz der vergleichsweise geringfügigen Abweichungen deutlich, daß das Verhältnis Brochs zu diesem Buch von einer ihn selbst immer unsicherer machenden Undezidiertheit geprägt ist. Die Kühnheit, mit der selbst Goethe 1955 in die Schranken gefordert wird („Ich schreibe ein Buch, das ein Faust zu werden verspricht"5), rächt sich bitter in der Krisenserie ab dem Frühjahr 1956, die ihr Ende in bezug auf dieses Buch erst mit dem Tod 1951 findet. Der zweite Band der neu geplanten Trilogie soll schon in Angriff genommen werden, und der erste ist nicht in gültiger Form fertiggestellt. Das „Stadium unentschiedener Entscheidung", von dem Broch 1956 schreibt6, grundiert die weitere Werk4 5 6

Hermann Broch: Brief vom 12. 1. 1947 an George Saiko. Zitiert nach P. M. Lützeler (Hg.), Brochs „Verzauberung" (Anm. 1), S. 78. Hermann Broch: Brief vom 4. 11. 1935 an Edit Ränyi-Gyömröi. Zitiert nach P. M. Lützeler (Hg.), Brochs „Verzauberung" (Anm. 1), S. 78. Hermann Broch: Brief vom 10. 11. 1936 an Egon Vietta. Zitiert nach P. M. Lützeler (Hg.), Brochs „Verzauberung" (Anm. 1), S. 59.

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genese. War es schon riskant, Mitte der dreißiger Jahre sich auf das Genre des Heimatromans einzulassen, die völkischen Autoren auf ihrem eigenen Terrain zu schlagen, und zwar mit einem Verfahren, „an das kein ,Blut-und-Boden'Vorhaben der Nazi heranreicht" 7 , so wurde dies noch bedenklicher, als in der Emigration dem Autor der Aktionsraum und der Hintergrund entzogen waren. Aber nicht nur diese arg reduzierte Aktualität bedroht das Werk: ein Weiterschreiben scheint kaum möglich, „einfach weil die inneren und äußeren Voraussetzungen verloren gegangen sind". 8 Auch das Ende des Romans bereitet offenkundig Sorgen: Wie aus dem Kommentar von 1940 hervorgeht, hätte Ratti die Dorfherrschaft übernehmen sollen, und nicht Irmgard, sondern Mutter Gisson wäre „dem Toben zum Opfer" gefallen. (S. 584) In der Inhaltsangabe mit dem Titel Demeter oder die Verzauberung (Inhalt) hingegen bleibt Irmgard das Opfer, während Marius das Dorf hätte verlassen sollen, „spurlos verschwunden, aus dem Spurlosen kommend, ins Spurlose gehend". (S. 381) Eine exakte Datierung dieses Textes scheint eine der wichtigsten Aufgaben der Broch-Philologie: Da nach dem vorläufig letzten Befund dieser Text zwischen 1938 und 1951 entstanden sein kann 9 , könnte er vor dem Kommentar von 1940 oder nach diesem verfaßt sein. In beiden Fällen bedeutet dies aber, daß Broch für das Ende keine klare Lösung parat hatte. Glaubhafter scheint immerhin, daß die Inhaltsangabe nach dem Kommentar entstanden ist: Ratti hätte somit seinen mythischen Status als Wanderer gewahrt. Zudem wäre die Konfrontation Ratti-Gisson viel zu direkt erfolgt, wenn diese und nicht Irmgard das Opfer des Tobens wäre. Ratti als Wanderer: dies würde zugleich bedeuten, daß er immer noch umgeht, immer noch droht, über den Dörfern. Ein weiteres Zeichen der Undezidiertheit ist auch der Titel. „The best idea for title comes in the very last moment when the book goes to print", so tröstete sich Broch noch 1949 in einem Brief an den Verleger Knopf.10 Doch ist die Titelgebung für den Werkcharakter alles andere denn peripher. Wenn Hermann Broch: Brief vom 7. 8. 1940 an Benno W. Huebsch. Zitiert nach P. M. Lützeler (Hg.), Brochs „Verzauberung" (Anm. 1), S. 73. 8 Hermann Broch: Brief vom 28. 3. 1940 an Wolfgang Sauerländer. Zitiert nach P. M. Lützeler (Hg.), Brochs „Verzauberung" (Anm. 1), S. 71. 9 Vgl. dazu die Ausführungen Paul Michael Lützeler: Hermann Brochs Boman „Die Verzauberung" — Darstellung der Forschung, Kritik, Ergänzendes. In: Ders. (Hg.), Brochs „Verzauberung" (Anm. 1), S. 247f. 10 Hermann Broch: Brief vom 18. 6. 1949 an den Alfred A. Knopf Verlag. Zitiert nach P. M. Lützeler (Hg.), Brochs „Verzauberung" (Anm. 1), S. 86. 7

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Broch während der Arbeit mit unterschiedlichen Arbeitstiteln operiert („der alte Roman, der große Roman, der große Bauernroman, Bergroman, unvollendeter Roman, Countiy Doctor, Alpenbauernroman, Gebirgsroman, chthonischer Roman" 11 ), wenn mit Sicherheit Die Verzauberung als bevorzugter Titel für die erste Fassung feststeht, wenn die dritte vermutlich unter Demeter hätte firmieren sollen12, so ist damit in jedem Falle angezeigt, welchen Aspekt der Autor als Leser und Deuter seines Werkes akzentuiert haben wollte. Sicherlich jedoch führt der Titel, den Stössinger seinem Kompilat gab, in die Irre: Der Versucher konzentriert das Leserinteresse allzu sehr auf die Figur des Ratti, bezieht nicht die in den anderen Titeigebungen so deutlich — je nach zeitlicher Abstufung — zum Tragen kommenden Perspektiven wie die des Regionalen und die des Mythischen ein; schließlich kommen auch jene Komponenten zu kurz, die durch die Bezeichnungen Country Doctor und Verzauberung mitgedacht werden können: die Rolle der Erzählerfigur und das Massengeschehen. Sowohl in bezug auf die Rezeption als auch in bezug auf die Produktion erscheint dieses Buch nie statisch: dem Autor war ein erlösendes Finale an der Arbeit nicht vergönnt; die Leser bekamen des Autors Leistung in je verschiedener Gestalt zu Gesicht: als Der Versucher (1953) in einer Fassung, die sich — zu diesem Zeitpunkt durchaus legitim — nicht um die sonst erforderlichen philologischen Vorkehrungen bemühte; als Demeter {1967) als Fragment der dritten Fassung; als Bergroman (1969) in der historisch-kritischen Ausgabe von Frank Kress und Hans Albert Maier und zuletzt als Die Verzauberung (1976) in der von Paul Michael Lützeler besorgten neuen Werkausgabe, welche die erste Fassung von 1935 bietet und welcher denn auch die meisten Interpretationen nun verpflichtet sind. So wenig zielführend Spekulationen über die Vollendung der zweiten und dritten Fassung sind und so angebracht es ist, von der ersten Fassung bei der Analyse auszugehen, weil sie schließlich doch fertiggestellt wurde, so ist die Einmaligkeit dieses höchst komplexen Produktions- wie Rezeptionscharakters stets zu berücksichtigen. Broch hat sich einer thematischen und formalen Herausforderung gestellt, in der Folge aber auch eingesehen, wie wenig das gewählte Verfahren der Intention entsprach. Kritik, die Broch das Mißlingen vorhält, verfehlt ihre Funktion ebenso wie jene, die — wie anfänglich geschehen — auch dieses Werk hoch11 Vgl. die Zusammenstellung von Lützeler in: Ders. (Hg.), Brochs „ Verzauberung" (Anm. 1), S. 250-253. 12 Ebd., S. 252.

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Hermann Brochs Roman Die Vérzauberung (1935)

jubelte. 13 Die Brüchigkeit ist zuletzt überzeugender Ausdruck der Krise, nicht nur des Autors, sondern des Romans überhaupt, überzeugender in jedem Falle, als es ein glatter Abschluß und ein rundes Ganzes wären. Der Verzicht darauf ist die Konsequenz, die der Autor redlich zu ziehen hatte.

3 . „ R U S T I K A L S E M I N A R ÜBER PHILOSOPHISCHE

BELANGE"14

Die Schwierigkeiten beginnen — wie schon angedeutet — beim Erzähler. Wer immer sich auf die Suche nach einer „Botschaft" macht, die der Roman enthalten soll15, wird diesen geschickt vorgeschobenen und die Ereignisse differenzierenden Kommentator berücksichtigen müssen. Seine unterschiedliche Reaktion auf die Figuren, seine geringe Festlegbarkeit macht auch den Leser mehr und mehr unsicher. Auch wenn man nicht so weit gehen muß, in ihm die Hauptfigur zu erblicken 16 , so wird doch jede Analyse davon ausgehen müssen, daß es der Landarzt ist, der — in der ersten Fassung mit größerer Deutlichkeit als in der dritten — den Gesamtkontext überhaupt erst herstellt. Die durch ihn repräsentierte „Spannung von Handlungsverstrickung und Reflexionsdistanz" 17 erzeugt erst das Kraftfeld, innerhalb dessen sich die zwei anderen Hauptfiguren, Marius Ratti und Mutter Gisson, entfalten und innerhalb dessen jene Antithesen zum Tragen kommen, die den Roman in seiner Gesamtheit strukturieren. Dabei verweigert der Erzähler seine Biographie. Als geradezu hanebüchen wird der solenne Einsatz jedes Lebensberichts verurteilt: „Vielleicht wäre es richtiger, mit meiner Kindheit zu beginnen [...]." (S. 13) In der dritten Fassung verzichtet der Arzt auf diesen Einsatz zugunsten einer Verherrlichung der Erinnerung gegenüber dem Ereignis: Jede echte Erinnerung meint mehr als das Ereignis, an das sie anknüpft, das Gewesene, das zur Dauer gelangt, reicht über sich hinaus, reicht stets von Ge-

13 Vgl. Lützeler, „ Verzauberung" (Anm. 1), S. 288f. und Norbert Mecklenburg: Erzählte Provinz. Regionalismus und Moderne im Roman. Königstein/Ts. 1982, S. 170f. 14 Hermann Broch: Brief vom 28. 3. 1940 an Wolfgang Sauerländer. Zitiert nach P. M. Lützeler (Hg.), Brochs „Verzauberung" (Anm. 1), S. 71. 15 Vgl. dazu Mecklenburg (Anm. 13), S. 178. 16 Vgl. dazu: Gespräch Tübinger Studenten über Hermann Brochs Roman „Die Verzauberung". In: P. M. Lützeler (Hg.), Brochs „ Verzauberung" (Anm. 1), S. 98f. 17 N. Mecklenburg (Anm. 13), S. 144.

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burt bis zu Tod, enthält stets, sonst wäre es nicht Dauer, das Unabänderliche im menschlichen Sein.18 Somit tritt der erinnerte Augenblick gegen die durch das Erzählen zu entwickelnde Kausalität. Nur an einer Stelle verrät in der Verzauberung der Arzt etwas von seinem früheren Leben: die Geschichte mit der Ärztin Barbara, die er liebte, deren politische Tätigkeit er aber nicht ernst nahm, ist exakt an eine Stelle gesetzt, in der sie die Lage des Arztes einerseits parallelisiert („Leid um den Tod der Suck Anna"), andererseits kontrastiert („Freude über die Errettung des Wetchy-Buben") (S. 187). Sein Aussteigen aus der Wissenschaft gründet gleichermaßen in dem Überdruß an der Stadt wie auch in der Fehldiagnose, die er bei einem Kinde stellte: er irrte, die Kommunistin Barbara nicht. (S. 200f.) Mit der Barbara-Episode ist die Erinnerung des Erzählers an die Stadt gelöscht. Es gilt für ihn auszubrechen aus der Endlichkeit des Stadtlebens in die Unendlichkeit der Berge, der einzig und allein durch die des Meers ein Gegengewicht geboten wird. Berge und Meer werden, fast im Sinne eines naiven naturtherapeutischen Konzepts, vom Arzt als Orientierungsinstanzen beschworen. Mit Recht ist mehrfach bemerkt worden, in welch gefährliche Nähe sich Broch eben dadurch zu jener Blut-und-Boden-Mystik begeben hat, auf deren Vermeidung es ihm doch gerade ankam. 19 Zwar wird alles eliminiert, was den Verdacht heimatkundlich fundierter Regionalprosa erwecken könnte: Schon die Namen der Figuren und Ortlichkeiten bieten keinen Stützpunkt der Lokalisierung; die Sage vom Kuppron hinwiederum enthält keinen konkreten Anschluß an irgendeine regionale Überlieferung, sondern erweckt in allen drei Fassungen den Eindruck eines synthetisch hergestellten Mythos. 20 Am deutlichsten wird dieser antinaturalistische Gestus in der Sprache. Die geradezu outrierte Dialektflucht bewirkt eine seltsame Hymnik in den Reden der Bauern. Bei Agathes großem Auftritt scheint dem Chronisten die gehobene Sprache keineswegs aufzufallen. Das „Zungenreden" 21 gefahr18 Hermann Broch: Bergroman. Die drei Originalfassungen, textkritisch hrsg. von Frank Kress und Hans Albert Maier. Dritte Fassung. Frankfurt/M. 1969, S. 1. 19 Vgl. Mecklenburg (Anm. 13), S. 177 und Carole Duebbert: Hermann Brochs „Verzauberung" als Anti-Heimatroman. In: P. M. Lützeler (Hg.), Brochs „Verzauberung" ..., (Anm. 1), S. 226-236. 20 Vgl. dazu P. M. Lützeler (Hg.), Brochs „Verzauberung" (Anm. 1), S. 13-19. 21 Vgl. dazu Hermann Broch: Die Schuldlosen. Roman in elf Erzählungen In: H. B.: Kommentierte Werkausgabe, hrsg. von Paul Michael Lützeler. Bd. 5. Frankfurt/M. z 1977, S. 104,

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det am ehesten durch seine plakative Bedeutsamkeit die Botschaft. Emphase ersetzt an solchen Stellen die Diagnose, und es scheint, als wollte Broch die Realistik dadurch retten, daß er den Arzt, nachdem er selbst in diesen zweifelhaften Prosarhythmus verfallen war, wieder nüchtern kommentieren läßt. (S. 70-72) Diese Stilbrüche sind kalkuliert. Als Marius Irmgard behext und das uralte Motiv des lepoq ya|io