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German Pages 282 Year 2018
Michael Baum Der Widerstand gegen Literatur
Lettre
Michael Baum (Prof. Dr. phil.), geb. 1968, lehrt Neuere deutsche Literatur und Literaturdidaktik an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe. Seine Forschungsschwerpunkte sind Literatur- und Kulturtheorie (v.a. Dekonstruktion), transmediale Literaturdidaktik, Theorie der Literaturdidaktik und die Literatur der Romantik sowie der Moderne.
Michael Baum
Der Widerstand gegen Literatur Dekonstruktive Lektüren zur Literaturdidaktik
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Warum tat ich mir das an? Weil der Kopf unzähmbar weiterrattert. Ich mag die Vorstellung, im Bildungsbereich zu arbeiten, denn ich weiß, irgendwann löst sich die Vorstellung in ihre Details auf. [D on D e L illo: Null K]
Inhalt
Einleitung | 9 I.
»Die Didaktik ist eine Wissenschaftsdisziplin …« | 15
II.
Das didaktische Subjekt | 35
III. Die Lehrbarkeitsdoktrin | 53 IV. Paradoxes wahrnehmen | 75 V.
Lesen oder Verstehen? Paradoxe Figuren in der Philologie | 93
VI. Freiheit und Zwang Paradoxes in der Pädagogik | 135 VII. Literatur/Erziehung Paradoxien des literaturdidaktischen Diskurses | 161 VIII. In eigener Sache (Selbstbeschreibungen) | 205 IX. Das literaturdidaktische Subjekt | 227 Schluss | 259 Literaturverzeichnis | 267
Einleitung
Sextus Empiricus, ein Arzt und Schriftsteller des 2. Jahrhunderts nach Christus, widmet sich in seiner Abhandlung über die Skepsis des Pyrrhon, die er selbst vertritt, ausführlich der Frage, ob die Wahrheit, wenn sie denn existiert, gelehrt werden kann. Scheitert die Erkenntnis an ihrer eigenen Didaktik oder lassen sich Wahrheit und Vermittlung angemessen aufeinander abbilden? Welche Rolle spielt die Sache, um die es gehen soll? Letztere ist »entweder erscheinend oder verborgen. Wenn sie erscheinend ist, dann bedarf sie keiner Lehre; denn das Erscheinende erscheint allen gleichermaßen. Ist sie aber verborgen, dann ist sie nicht lehrbar, weil ja die verborgenen Dinge […] wegen des unentscheidbaren Widerstreits, der über sie herrscht, unerkennbar sind. Denn was man nicht erkennt, wie sollte man das lehren oder lernen können? Wenn aber weder das Erscheinende noch das Verborgene gelehrt wird, dann wird nichts gelehrt.« (Sextus Empiricus 1985, S. 292)
Sextus arbeitet, wie in der gesamten Untersuchung, mit binären Oppositionen, deren Möglichkeit gesetzt und zugleich verneint wird. Die Kritik liegt auf der Hand: Erstens kann man die Setzungen anzweifeln, zum Beispiel als bereits im Dienste der Argumentation stehend, zweitens die Verneinung, etwa als zu rasch oder pauschal. Die hier entstehende gedankliche Figur ist gleichwohl keineswegs überholt oder trivial: Wenn Didaktik die Lehre von etwas, also ohne Sachbezug unvorstellbar ist, dann stellt sich die Frage, inwiefern die Sache dem menschlichen Erkenntnisinteresse zugänglich ist. Für Sextus gibt es nur eine Antwort: Alle didaktischen Anstrengungen sind an die Erkenntnistheorie zurückzuverweisen, wo sie alsdann in doppelten Negationen aufgelöst werden. Wenn gesicherte Erkenntnis nicht möglich ist, dann wird Didaktik zu einem fadenscheinigen Unterfangen ohne sachliche Legitimation.1 Im Grunde wird, trotz aller Anstrengungen, ›nichts gelernt‹. Das Scheitern der Vermittlung liegt 1 | Eine Didaktik, welche die Gegenstände selbst performativ hervorbringt, ist für Sextus selbstverständlich noch nicht denkbar.
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an der Natur ihrer Gegenstände; diese sind entweder der sinnlichen Vergewisserung zugänglich und brauchen deswegen keine Didaktik oder sie verlieren sich im Unendlichen der Spekulation, was ihre Vermittlung unmöglich macht. Die Gleichsetzung von sinnlicher Gewissheit und Erkenntnis ist selbstredend nach modernem Verständnis nicht mehr haltbar. Noch die scheinbar unvermittelte Wahrnehmung gilt heute als vielfach vermittelt. Das grundsätzliche Problem der Unerreichbarkeit des Gegenstandes der Lehre, die ja stets Lehre von etwas sein will, bleibt indes virulent. Das gilt erst recht für komplexe übercodierte Systeme wie die Literatur, deren ›Erscheinen‹ aus einem Gefüge abstrakter Zeichen besteht, die als Ganzheit (Entität) nicht wahrnehmbar sind. Ganz zu schweigen vom ›Verborgenen‹, den Wechselwirkungen und Verschiebungen dieser Zeichen mit- und gegeneinander; hier herrscht in der Tat ein ›unentscheidbarer Widerstreit‹. Es scheint, also ob der Widerstand gegen Didaktik bereits in die Literatur selbst eingebaut ist. Wie soll unter diesen Umständen etwas gelehrt werden? Wo kann die Didaktik ansetzen? Schließlich (aus dezidiert moderner Perspektive): Wieviel Selbstreflexivität als Ausweis der ständigen Bearbeitung von Kontingenz verträgt die Vermittlung? Das sind Grundfragen der Lehre von Literatur, die in diesem Buch genauer untersucht werden sollen. Untersuchungsgegenstand sind Texte, die vom ›Erscheinenden‹ auf das ›Verborgene‹ so schließen, dass ein lehrbares Wissen herauskommt. Literaturdidaktik, so heißt die dafür zuständige Disziplin, entwickelt Modelle lehrbar gemachter Literatur und vermittelt diese theoretisch und praktisch in Schule und Hochschule. Das Problem der Unerreichbarkeit des Gegenstandes wird also durch eine Ersetzungsoperation gelöst: Die lehrbar gemachte Literatur ersetzt das überkomplexe Original. Die Nachfrage nach solcher Expertise ist durch die Tendenzen zur Verschulung des akademischen Studiums sowie durch den Legitimationsdruck auf den schulischen Literaturunterricht gestiegen. Überall scheint es Bedarf zu geben nach geschickter Didaktik. Die Form der Lehre unterliegt dabei ständigen Reformen – Skepsis steht nicht auf der Tagesordnung. Hochschuldidaktik hier, intensive Beforschung der Schulen da. Vielleicht wird, wie Sextus schreibt, (im strengen Sinne) nichts gelehrt, aber es wird (de facto) gelehrt! Von der Position philosophischer Skepsis aus würde freilich nicht nur die Didaktik in den Bereich des nur prätendierten Wissens fallen. Die Literaturwissenschaft etwa ersetzt die Rätselhaftigkeit der ästhetischen Erfahrung, das ›Erscheinen‹ des literarischen Textes, durch transparente und effektive wissenschaftliche Methoden; am Ende erscheint ein ›erklärter‹ oder ›verstandener‹ Text, der zwischen Original und Leser vermittelt. Allerdings gibt es einen Streit unterschiedlicher Verständnisse und Erklärungen. Die genuine Unbestimmtheit des Gegenstands tritt immer wieder aufs Neue hervor. Der Schatten des Nichtwissens schimmert durch den erklärten und verstanden Text hindurch. So gesehen bedeutet ›Fortschritt des Wissens‹ nichts anderes als ›Rückkehr
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zum Nichtwissen‹. Das hat ganz wesentlich mit der janusköpfigen Sprache zu tun, die einerseits Gegenstand und andererseits Werkzeug der Untersuchung ist, wodurch es zu endlosen Rückkopplungseffekten kommt. In Wissenschaften, die es mit der Lehrbarkeit des Wissens zu tun haben, spitzt sich der Konflikt zu. Einerseits müssen sie als Wissenschaften offen bleiben für die Umarbeitung des Wissens, andererseits gibt es einen gesteigerten Bedarf an sicherem Wissen, das gelehrt werden kann, was wiederum zur normativen Aufladung von Wissen und Forderungen nach angemessener Wissensaneignung führt. Pädagogische und epistemologische Imperative kommen sich in die Quere. Obwohl der literarische Text von singulärer Gestalt ist, mangelt es ihm gewissermaßen an äußerer Form. Die horizontale Anordnung der Worte bedingt zirkuläre und reversible Lektüren, die sich kaum nach einem Allgemeinen richten und eben deswegen pädagogische und didaktische Anstrengungen förmlich anziehen. Dem Text kommt weder eine gegenständliche Qualität zu, noch kann er unter ein Allgemeines gänzlich subsummiert werden. Er reichert ständig im ›Erscheinenden‹ das ›Verborgene‹ an. Das macht Literaturwissenschaft und Didaktik zur Sisyphos-Aufgabe – bei gleichzeitigem Erklärungs- und Vermittlungsanspruch. Oben wurde gesagt, dass es in diesem Buch um Grundfragen der Lehre von Literatur geht. Genauer lässt sich jetzt sagen, dass der Schwerpunkt der Untersuchung die Begründungsprobleme einer Lehre der Literatur sind. Dabei wird eine doppelte Perspektive eingenommen: Einerseits entfernt sich die Untersuchung von den Texten und konkreten Fragestellungen der Literaturdidaktik, um unter Zuhilfenahme fremder Texte und Begriffe, vornehmlich aus dem Bereich moderner und postmoderner Kulturtheorie, deren implizite, aber unausgesprochene Logik wahrnehmbar zu machen. Andererseits geht es um eine detaillierte Analyse ausgewählter Texte, um deren Argumentation und stilistische Form im Einzelnen. Die Beobachtung ist zugleich auf Nähe und Distanz eingestellt. – Das Verfahren als solches bildet bereits einen Gegensatz zu den dominierenden didaktischen Diskursformen. Anstatt empirisch validiertes und funktionales Wissen auszuarbeiten, besteht das Angebot lediglich darin, Texte, die im Fach bereits jeder kennt, noch einmal, aber dieses Mal vielleicht etwas anders zu lesen. Der normative Anspruch literaturdidaktischer Texte, Verstehen zu sichern und Handeln zu orientieren, soll so irritiert werden – mit dem Ziel, Freiheit im Umgang mit literaturdidaktischen Texten zu gewinnen, sich der Professionalisierungs- und Aneignungsspirale entziehen zu können und die Widersprüchlichkeit didaktischen Wissens in dieses wieder einzuschreiben. Studenten der Literaturdidaktik haben mehr verdient als ein auf bestimmte Formen von Empirie reduziertes und nur funktional aufzufassendes Wissen. Denn das Gelingen, welches die Literaturdidaktik immer schon voraussetzt, wird in der Praxis der Lehramtsausbildung als Beurteilungsmaßstab zu Grunde gelegt. Es muss gelehrt werden, obwohl vielleicht
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nichts gelehrt wird. Der Anspruch, das Verborgene sehen zu können, gehört zur Logik des beobachtenden und beurteilenden Diskurses. Und damit öffnet sich die Fragestellung in Richtung der Institution Schule. Denn wenn auch diese Untersuchung eine theoretische ist, so reklamiert sie doch zugleich praktische Relevanz. Die lehrbar gemachte Literatur bildet den institutionellen Alltag der Schule und die damit einher gehenden Erfahrungen sind etwas anderes als gedankliche Operationen der Wissenschaft. Der Weg geht also durch entfernte Gefilde, durchkreuzt aber zugleich immer wieder das, was sehr nahe liegt. Die scheinbar unmittelbar gegebene Praxis kann nämlich überhaupt nur reflektiert werden durch radikale theoretische Verfremdung. Da die Diskursmacht der Didaktik 2 mit ihrer institutionellen Verankerung in der Lehrerbildung zu tun hat, ist jene auch für die Dysfunktionen und Abstürze des Systems, adressiert an den einzelnen Menschen: für das durch die Schule produzierte Leid, mit verantwortlich. Dies gilt insbesondere unter den Auspizien einer Literaturdidaktik, die sich am Kompetenzbegriff und der alles beherrschenden Fiktion der Vergleichbarkeit, Messbarkeit und Steigerbarkeit literarischen Verstehens orientiert: »Wo gemessen und ›gebenchmarkt‹ wird, gibt es Gewinner und Verlierer, und es ist ganz natürlich, dass weder Nationen und Bundesländer noch einzelne Schulen und Lehrkräfte zu letzteren gehören möchten. […] Zu den Folgen gehören z.B. didaktische Tunnelblick-Verhaltensweisen wie teaching-to-the-test sowie eine heillose Entleerung der Inhalte durch die Neigung, bloß Schein- und Vorzeigeerfolge zu erbringen. Außerdem sinkt höchstwahrscheinlich die Motivation der Lehrenden dadurch, dass sie die Kontrolle und Lenkung ihrer Arbeit ›von oben‹ als Misstrauen wahrnehmen, auch wenn von Seiten des ›(Bildungs-)Monitors‹ beharrlich nur die besten Absichten beteuert werden.« (Fay 2013, S. 2)
Wenn das Verborgene eben doch gelehrt werden soll, dann bilden sich machtförmige Strukturen aus, innerhalb derer entschieden wird, wer angemessenen Zugang zu diesem Verborgenen erlangt hat und wer nicht. Fortschritt – der schulische Output wird höher, der Literaturunterricht effektiver! – erzeugt zugleich Rückschritt in Form von Widerstand, Frustration, Verlust, Resignation. Je größer die Anstrengungen werden, das Verstehen der Gegenstände fassbar zu machen und zu verbessern, desto mehr entziehen sich diese. Am Ende 2 | In der öffentlichen Wahrnehmung hat dagegen die mit Forschungsgeldern überhäufte empirische Bildungswissenschaft längst das Zepter der Deutungshoheit in schulischen Dingen übernommen. Für den Alltag der Studenten gilt das nicht: Fachdidaktik, Schulpädagogik und Allgemeine Erziehungswissenschaft spielen die wesentliche Rolle. Insofern ist eine Entfremdung zwischen Forschung und Lehre, öffentlicher Meinung und wissenschaftlicher Lehre, zu konstatieren.
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stehen gleichzeitig die totale Beobachtung des Lernens und die ebenso totale Blindheit dafür. Die Welt erscheint wie in einem Nachtsichtgerät: schematisch, artifiziell, verfremdet. Die paradoxe Verschränkung von Erscheinen und Verbergen, die stets riskantes Wissen hervorbringt, scheint die Ausbreitung vermeintlich sicheren Wissens gerade zu begünstigen. Je verborgener das Wissen desto verlockender (und gefährlicher) dessen Entbergung. Das strukturelle Nichtwissen um Erziehung und Literatur hilft bei der Durchsetzung positiven Wissens. Schüler3 und Lehrer erscheinen in diesem Prozess vor allem als statistische Größen. Ihre Hoffnungen und ihr Leid werden an andere Stellen der Gesellschaft delegiert. Die vorliegende Untersuchung widmet sich diesem Zusammenhang von Wissen und Macht in der Lehre der Literatur (Literaturdidaktik). Methodisch ergänzen sich genaue Lektüren literaturdidaktischer Texte und weiter ausgreifende Beobachtungen zum Problem des Gegenstands (Philologie) und dessen Vermittlung (Pädagogik). Literaturdidaktik wird im Feld zwischen Erziehung und Fachwissenschaft verortet; weniger, wie heute üblich, im engen Verhältnis zu Kognitionspsychologie und empirischer Bildungswissenschaft (wobei das literarische und pädagogische Wissen der Logik dieser Diskurse angepasst wird). Die allgemeinen Teile der Untersuchung kreisen um die Paradoxien literarischen und pädagogischen Wissens, die spezielleren um die Schreib- und Argumentationsweisen literaturdidaktischer Texte. Die hier verfochtene These lautet: Literatur soll gelehrt werden, weil sie nicht gelehrt werden kann. Die Paradoxien sind nicht durchzustreichen, sondern anzuerkennen. Genauer lässt sich der inhaltliche Auf bau wie folgt angeben: Kapitel I: Hinführung, ausgehend von einer Definition des literaturdidaktischen Aufgabenbereichs. Kapitel II-IV: die Doktrin fachdidaktischen Wissens (Subjekt, Lehre, Widerspruch). Kapitel V bis VII: Zuspitzung auf die Literaturdidaktik (philologische, pädagogische und literaturdidaktische Paradoxien). Kapitel VIII: Exkurs (literaturdidaktische Selbstbeschreibungen). Kapitel IX: Die Subjektproblematik im literaturdidaktischen Text am Beispiel zweier exemplarischer Analysen. Der ökonomische Leser kann das erste Kapitel lesen, im fünften wieder einsteigen, das achte auslassen und durch die Lektüre des thesenhaften Schlusses trotzdem eine gewisse Kohärenz der Lektüre herstellen. Der eilige Leser mag mit dem Schluss beginnen und je nach Interesse ausgewählte Passagen oder Kapitel hinzuziehen. Stets wird etwas erscheinen, das etwas anderes verbirgt.
3 | Falls nicht anders gekennzeichnet meint in diesem Buch die Verwendung des männlichen Genus das weibliche mit.
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Die Pädagogische Hochschule Karlsruhe hat die Arbeit an diesem Buch durch die Gewährung forschungsfreier Zeit sowie durch finanzielle Unterstützung jederzeit großzügig gefördert. Dafür sei an dieser Stelle herzlich gedankt.
I. »Die Didaktik ist eine Wissenschaftsdisziplin …«
In einem aktuellen Einführungsband werden Gegenstand und Aufgabe der Deutschdidaktik, orientiert an dem in der Disziplin herrschenden Konsens, wie folgt beschrieben: »Die Didaktik ist eine Wissenschaftsdisziplin, die Lehr-/Lernprozesse modelliert und untersucht. Ziel ist die Bereitstellung von Handlungswissen, das den Orientierungsrahmen für die professionelle Gestaltung des Lehrens und Lernens abgibt. Dafür ermittelt die Didaktik die Gelingensbedingungen des Lernens auch und besonders in institutionellen Kontexten. Die Schule, in der das Lernen nicht naturwüchsig geschieht, sondern angeleitet wird, ist deshalb ein zentrales Forschungsfeld der Didaktik. […] Die zuständigen Kerndisziplinen für den Deutschunterricht sind die Sprach- und die Literaturdidaktik. Die Sprachdidaktik modelliert und untersucht Lehr-/Lernprozesse, die dem Auf- und Ausbau sprachlicher Handlungsfähigkeit, die Literaturdidaktik solche, die dem Auf- und Ausbau literarisch-ästhetischer Handlungsfähigkeit dienen.« (Bredel/Pieper 2015, S. 13)
Fachdidaktik firmiert hier als selbstverständliches Mitglied im Ensemble der anerkannten Wissenschaften. Die Selbstbeschreibung geht offensichtlich von der Annahme aus, dass für die Gegenwart und Zukunft nur mehr rationale, an intersubjektiv überprüf barer Wissenschaft gebildete Begriffe des Lehrens und Lernens akzeptabel sind. Die moderne demokratische Gesellschaft verträgt keine ideologische oder religiöse Verzerrung der Bildung mehr. Diese Konsequenz musste gezogen werden, um den Rückfall in unhinterfragte Normativität ein für alle Mal zu vermeiden. Nur wenn die Akteure, z.B. angehende Lehrerinnen und Lehrer, Teil der wissenschaftlichen und pädagogischen Kommunität sind, ist es ihnen möglich, reflektiert und also verantwortlich zu handeln. Die Formulierung von Bredel/Pieper ist ebenso modern wie voraussetzungsreich; dass ein geregeltes, funktionierendes Zusammenspiel von Wis-
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senschaft und Schule, basierend auf positivem Wissen, welches Gelingen von Unterricht ermöglicht, erwartbar ist, wird nicht in Frage gestellt. Bei näherem Hinsehen ergeben sich allerdings Probleme. Zum Beispiel könnte die wissenschaftliche Erforschung des Handlungsfeldes Schule zu Ergebnissen führen, die sich nicht mehr in bündige Modelle und positiv bestimmbare Gelingensbedingungen überführen lassen. Mit anderen Worten: Gerade die Selbstreflexivität als Merkmal von Wissenschaftlichkeit kann, wenn es nicht nur um handwerklich-methodologische Selbstkontrolle geht, Bruchlinien und Widersprüche im Diskurs einer auf wissenschaftliche Professionalisierung setzenden Fachdidaktik aufzuzeigen und deren Selbstwahrnehmungen und Erwartungen mit einer skeptischeren Sicht der Dinge zu konfrontieren.1 Das soll in der vorliegenden Arbeit geschehen; denn es herrscht ausgesprochener Mangel an Grundlagenreflexion und Professionalisierungskritik. Das positive Professionswissen scheint dagegen exponentiell zu wachsen. Wenn es um Bruchlinien und Widersprüche geht, ist genaue Lektüre vonnöten. Zurück also zur oben zitierten Definition. Literatur- und Sprachdidaktik werden als Disziplinen vorgestellt, die das Wissen erarbeiten, das man braucht, damit Unterricht gelingt. Fachdidaktischem Wissen wird insofern ein doppelter Status zugeschrieben: auf der einen Seite genügt es den Kriterien von kulturwissenschaftlicher, mit Sprache und Literatur befasster Forschung; auf der anderen Seite lässt es, wie Wissen aus den Ingenieurwissenschaften, praktische Vollzüge gelingen. Es ist gewissermaßen die Erwartung eingebaut, dass die Wiederholung des Wissens im wissenden Handeln, wenn keine ernst zu nehmenden Störfälle eintreten, gleichbedeutend ist mit einer Wiederholung des Gelingens. Die techno-instrumentelle Metaphorik des Textes – die Rede ist vom ›Auf- und Ausbau‹ sowie vom ›Bereitstellen‹ von Wissen – transportiert entsprechende Konnotationen. Implizit enthält ein solcher Diskurs reibungslosen Gelingens zwei Voraussetzungen. Erstens muss der Transfer des Wissens von den wissenschaftlichen Diskursen über die sich in diesen Diskursen bewegenden Subjekte bis hin zum avisierten Praxisfeld unempfindlich für Ort, Zeit und Situation sein; Orientierungswissen ist ideales Wissen, das man nicht zu verändern braucht und das die Differenz zwischen Theorie und Praxis in sich aufgenommen hat.2 Zweitens wird eine Asymmetrie der Diskursmacht erzeugt: Das wissenschaftliche 1 | Der Wechselbezug von Modell und Untersuchung in der oben zitierten Passage muss z.B. einhergehen mit wechselseitiger Beschränkung. Nur solches Wissen kommt in Frage, das geeignet ist, Handlungen zu orientieren. Umgekehrt orientiert der Handlungsbegriff die Ausarbeitung des Wissens. Dies führt z.B. dazu, dass Negativität als strukturelles Nichtwissen weniger thematisiert wird als Wissen. 2 | Genauer betrachtet wirft der Begriff Probleme auf. Es stellt sich z.B. die Frage, wie aus Wissen Orientierungswissen werden kann. Wer entscheidet wann und wie darüber?
I. »Die Didaktik ist eine Wissenschaf tsdisziplin …«
Wissen ist das überlegene, die Praxis instruierende Wissen; Wissenschaftler beobachten Lehrer und nicht umgekehrt. Dem entspricht das Selbstverständnis als Wissenschaft der Professionalisierung von Lehrkräften, was ja voraussetzt, dass das Wissen der Profession diskursiv erarbeitet, transparent dargestellt und effektiv vermittelt werden kann. Mit dem richtigen, wissenschaftlich fundierten Wissen ist ein Gelingen möglich – so lautet das Versprechen. Offen bleibt vorerst die zeitliche und soziale Konditionierung von Unterricht. Wissen kann ja nicht einfach angewendet werden, sondern es verzweigt sich in einem von Kontingenzen geprägten Prozess, wonach es schlicht dieses Wissen nicht mehr ist. Ferner verweist die Rede vom institutionellen Kontext auf machtförmige Strukturen, die in einer Beschreibung, die auf Fortschritt und Gelingen abhebt, nicht abgebildet werden können. Macht ermöglicht Veränderung, kann sie aber genauso hemmen oder ganz verhindern. Schließlich und endlich ist an das zu erinnern, worum es in der Sprach- und Literaturdidaktik gehen soll: die Sprache. Ist deren Performanz in den Texten wie im Unterricht tatsächlich von einer externen Instanz aus kontrollierbar, die mögliches Gelingen festschreibt? Setzt die zitierte Definition nicht voraus, dass wir die Sprache beherrschen oder doch als Mittel zum Zweck einsetzen können? Epistemologisch changiert die Definition zwischen einem transzendentalen und einem empirischen Denkstil. Auf der einen Seite soll die ›Bedingung der Möglichkeit von…‹ (Erfolg) eruiert werden. Auf der anderen Seite geht es um den Anspruch, dass die wissenschaftlich eruierten Bedingungen durchgreifen sollen auf die empirische Ebene. Vermutet werden kann, dass die so instaurierte Differenz dazu führt, dass das didaktische Wissen nie mit seinem Referenten übereinstimmt. Möglichkeit und Realisierung kommen nie zur Deckung, weil sie selber die Differenz sind, welche zu überwinden ist. Die Bedingungen des Gelingens können nur formuliert werden, indem sich der fachdidaktische Diskurs, obwohl empirisch in der Schule forschend, wieder von seinem Bezugsfeld abwendet und nach der Maßgabe eigener diskursiver Regeln (interpretierend, erklärend, schreibend) Wissen bildet. So wird der scheinbar vertraute Gegenstand fortwährend mit Fremdheit durchsetzt. Darauf ließe sich wiederum in pragmatischem Stil antworten, dass der Ort, an dem die Differenzen vermittelt werden, das reflexive Bewusstsein sowie je situativ-spezifische Handeln der Lehrer ist. Dann allerdings müsste zugestanden werden, dass die Fremdheit zwischen Theorie und Praxis, die auf der subjektiven und Handlungsebene weiter wirkt, bruchloses Gelingen nachhaltig irritiert; im Extremfall – Wer wollte dem handelnden Subjekt das Recht dazu nehmen? Es ist doch die entscheidende Instanz! – bräche die Orientierungsfunktion des fachdidaktischen Wissens gänzlich zusammen. Führt die Bearbeitung der Frage an den Punkt, an dem Orientierung in Desorientierung umschlägt?
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Für den externen Beobachter haben die in der Definition von Bredel/Pieper vorgenommen Bestimmungen den Vorteil, dass die Doktrin einer Wissenschaftsdisziplin3 deutlicher hervortritt als in anderen Veröffentlichungen dieses Fachgebiets. Auf gedrängtem Raum tauchen zahlreiche sprachliche Figuren auf, die durch rituelle, weitgehend unwidersprochene Wiederholung die machtförmige Verbindlichkeit eines »Diskursensembles« (Foucault 1998, S. 28) absichern. Und zwar in Hinsicht auf eine normative, Grenzen absteckende Gegenstandskonstitution. Beschrieben wird, was Didaktik sein soll und indirekt – der Effekt ist nicht zu unterschätzen – was Didaktik nicht sein soll. Dieses Andere der Didaktik, jenseits der Grenze bzw. dessen, was gesagt werden darf, damit ein Text als Beitrag zur wissenschaftlichen Disziplin Fachdidaktik anerkannt wird, soll in der vorliegenden Arbeit besonders interessieren. Es geht um die unausgesprochenen Annahmen und Widersprüche der Fachdidaktik, die für sich in Anspruch nimmt zu wissen, auf welches Wissen gelingender Unterricht bauen kann. Dem Leser des Textes von Bredel/Pieper fällt vielleicht zunächst der gewissermaßen antimoderne Gestus der Formulierung auf. Das ist besonders interessant, weil im Kleid der modernen Professionalisierungswissenschaft, die nicht mehr in die alten Schulen des Versagens und der Indoktrination gehen will, ein gut bekanntes, älteres Versatzstück eingewebt ist. Ganz in aristotelischer Tradition wird die Möglichkeit der Entsprechung von alltäglichen und wissenschaftlichen Konzepten des Handelns vorausgesetzt. ›Handlungswissen‹ garantiert nach Auffassung der Autorinnen zwar nicht das Gelingen des Unterrichts, es ist aber unverzichtbar, wenn die konkrete Unterrichtspraxis erfolgreich sein soll. Wissen verbindet Theorie und Praxis; als Wissen von der Praxis, das Gegenstand der wissenschaftlichen Didaktik ist und als theoretisches Wissen, das umgekehrt Praxis erhellt und instruiert; das heißt: die Steuerbarkeit des Unterrichtsprozesses verbürgt. Wissen soll, als Handlungswissen, die Brücke zwischen Theorie und Praxis sein und zugleich die Zuständigkeit der Fachdidaktik für die Ausbildung von Deutschlehrern sichern; von ›zuständigen Kerndisziplinen‹ ist die Rede. Mit anderen Worten: Wissen soll performativ werden, aber nur insofern die erwünschten Ziele auf diesem Wege näher rücken. Unausgesprochen, jedoch impliziert, ist die Annahme, dass ein Gelingen des Lernens unter den je gegebenen institutionellen und allgemeiner: gesellschaftlichen Bedingungen überhaupt möglich ist. Die Schule erscheint solchermaßen als machtfreier Raum, in dem rationale, wissenschaftlich abgesicherte und angeleitete Arbeit an den Gegenständen stattfindet. (Obwohl die Formulierung des ›angeleiteten‹ Lernens mit Machtverhältnissen in Zusammenhang 3 | Zum Begriff der Doktrin vgl. Foucault (1998, S. 28ff.) sowie in dieser Arbeit ausführlicher und im Hinblick auf die Literaturdidaktik Kapitel III (zur Lehrbarkeitsdoktrin).
I. »Die Didaktik ist eine Wissenschaf tsdisziplin …«
gebracht werden kann.) Die Rede von der erwünschten ›Professionalisierung‹ legt jedenfalls eine zumindest neutrale Auffassung des wissenschaftlichen wie auch des schulischen Feldes nahe. Das ›professionelle Wissen‹, welches die Didaktik ›zur Verfügung stellt‹, kann man sich, so gesehen, nur eifrig aneignen, denn es ist ein funktionales, auf gelingende Anwendung zielendes Wissen.4 Der funktionalistische Wissensbegriff der Fachdidaktik hat indes eine Vorgeschichte. Denn die Erschütterung des Bildungswesens durch die Veröffentlichung der Ergebnisse der ersten PISA-Studie (2001) erzeugte in den scheinbar leidlich konsolidierten fachdidaktischen Arbeitsbereichen der Universitäten einen Legitimationsdruck. Waren die Fachdidaktiken nicht in academia eingezogen, um die berufspraktischen Defizite des Studiums abzufedern? Arbeitete man nicht in dem Bewusstsein, Gedeihliches beizutragen zur positiven Entwicklung von Schule und Unterricht? – Bereits zehn Jahre zuvor waren die Folgen einer Theoriekrise zu spüren, die etwas anders gelagerte Ursachen hatte. Die Fachdidaktik, welche in den philosophischen, pädagogischen und sprach- bzw. literaturwissenschaftlichen Nachbardisziplinen unter den Auspizien einer an der Lehrbarkeitsdoktrin desinteressierten Postmoderne keinen Anschluss mehr fand, brauchte neue epistemologische Orientierungen. Dies betraf besonders die Literaturdidaktik, von der in den folgenden Kapiteln fast ausschließlich die Rede sein wird. Literarische Bildung in den Zeiten der Theorie (Wegmann 1993) nicht normativ, sondern dekonstruktiv als Erfahrung prekären Sinngeschehens im Medium der Schrift zu begreifen, bedeutete jedoch für die auf gelingende Vermittlung zielende Literaturdidaktik eine theoretische Überforderung.5 Während also die damalige Diskussion in den Geisteswissenschaften nachhaltig von Vermittlung auf Differenz umstellte, bedeutete dies für die Fachdidaktik das Entstehen eines epistemologischen Vakuums, das durch die bald sich einstellende PISA-Krise noch verschärft wurde. Eiliger
4 | Niklas Luhmann (2002, S. 148) geht von einem zweiseitigen Professionsbegriff aus, der gerade darauf abhebt, dass das Wissen um das Nichtgelingen Professionalität ausmacht: »Wenn man allgemein nach der gesellschaftlichen Bedeutung von Hochschulabsolventen, Akademikern oder Intellektuellen fragt, ist in der Tat die Zunahme an Gewicht bemerkenswert. Damit wird jedoch der Begriff der Profession verfehlt. Bestmögliches Wissen ist nur eine Komponente des Begriffs. Entscheidend kommt hinzu, daß dies Wissen nicht direkt, logisch, problemlos angewendet werden kann, sondern jede Anwendung mit dem Risiko des Scheiterns belastet ist.« Zum funktionalistischen Wissensbegriff vgl. Kapitel VIII der vorliegenden Arbeit. Nichtwissen kann keine Funktion haben und sichert deswegen gewisse Freiheitsgrade. 5 | Vgl. jedoch Förster (2000 und 2002).
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Empirismus und deterministischer Kognitivismus als neue Orientierungen waren die Folge.6 ›Handlungswissen‹ wird nun nicht mehr als Imperativ, kritisch denken zu lernen oder als Fähigkeit, ästhetische Erfahrungen zu evozieren, begriffen wie in der kritischen bzw. der handlungs- und produktionsorientierten Didaktik, sondern als Ensemble von gesicherten Erkenntnissen, deren Positivität auch durch die Transformation im pädagogischen Prozess mitsamt seiner Machtförmigkeit und basalen Kontingenz nicht beschädigt wird. An solche impliziten Überzeugungen lassen sich kritische Fragen richten: Wie lässt sich der Zukunftsbezug von Erziehung und Unterricht schließen mit Hilfe eines Wissens, das heute genauso wie morgen gelten soll? Wie kann das Hantieren mit Positivitäten unter Kontingenzbedingungen gerechtfertigt werden? (Man weiß z.B., was literarisches Verstehen sein soll, kann aber nicht den Wert des Nichtverstehens begreifen, das sich als Zögern und Zweifeln erst in der Zeit artikuliert. Man kann positive ›Daten‹ aus dem Unterricht interpretieren, weiß aber nichts mit dem anzufangen, was sich gegen die empirische Auswertung sperrt, z.B. das Schweigen usf.). Wie tragfähig ist eine Prozessmetaphysik, die auf den ›Auf- und Ausbau‹ von Handlungsfähigkeiten abhebt 7 und wie plausibel ist die Annahme, dass sich, z.B. im Bereich literarischer Lektüre, so etwas positiv beschreiben lässt (angesichts der Singularität und sprachlichen Inkommensurabilität der Gegenstände)? Es deutet sich hier ein Widerspruch an zwischen der notwendigen wissenschaftlichen Fundierung des Deutschunterrichts und dem unterkomplexen Charakter eines Wissens, das positiv und in sich abgeschlossen sein soll, dies aber wegen der Natur der Gegenstände und der Unabgeschlossenheit wissenschaftlichen Wissens im Allgemeinen nicht sein kann. Ist die Fachdidaktik förmlich darauf angewiesen, »wissenschaftlich Unbefriedigendes, nicht aber rasch Widerlegbares« zu produzieren, wie Luhmann (2002, S. 203) generell in Bezug auf Texte aus dem Bereich Erziehung behauptet? Es scheint sich hier um Fragen zu handeln, die nur auf der Ebene einer Metatheorie des Faches interessant sind. Doch dem ist, wegen der hohen Bedeutung der Fachdidaktik für die Lehrerbildung, nicht so. Zwar zielt diese Untersuchung auf die Brüche 6 | Den Vorwurf, hier besinnungslos mitzugehen, kann man Bredel/Pieper eindeutig nicht machen. Es geht in ihrem Buch um eine Interdependenz von Empirie und theoretischer Reflexion in Hinsicht auf die Fortentwicklung des Faches und des Unterrichts. Theorie wird allerdings nie so gefährlich, dass das Versprechen der Professionalisierung durch Didaktik in Frage gestellt wird. 7 | Man könnte auch umgekehrt nach dem Abbau von Handlungsfähigkeiten im Prozess schulischen Lernens fragen und hätte ein interessantes Forschungsfeld vor sich. Das Hantieren mit Positivitäten ließe sich systemtheoretisch genauer bestimmen als Unterdrückung einer Seite der Unterscheidung.
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und Widersprüche im Diskurs der Professionalisierung; die damit zusammenhängenden Probleme sind jedoch sowohl für Schüler als auch für Lehrer von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Schüler dürften das lehrbar gemachte Wissen über Literatur und Sprache als gleichsam kontaminiert durch die Institution erleben und allein schon deswegen auf Abstand gehen. Eine diesbezügliche Vermutung hat bereits Theodor W. Adorno in seinem Essay Tabus über dem Lehrerberuf angestellt: »Das Problem der immanenten Unwahrheit der Pädagogik ist wohl, daß die Sache, die man betreibt, auf die Rezipienten zugeschnitten wird, keine rein sachliche Arbeit um der Sache willen ist. Diese wird vielmehr pädagogisiert. Dadurch allein schon dürften die Kinder unbewußt sich betrogen fühlen.« (Adorno 1971, S. 75) 8
Der Effekt wird wohl umso stärker, je höher – wie im Falle der Literatur – die subjektive Bedeutsamkeit des Gegenstandes eingeschätzt wird; diese führt zu einer normativen Aufladung gegenstandsbezogener Überlegungen, welche dem schulischen Wissen einen gleichsam irrationalen Zug einschreibt. Zugleich erleb(t)en zahlreiche angehende junge Lehrer, die an der Universität angehalten wurden, sich des diskursiven Charakters wissenschaftlichen Wissens zu versichern, Fachdidaktik als unerträgliche Verkürzung der Sache im Dienste einer herrschenden Institution. Dies alles soll freilich nicht heißen, dass es nur darum geht, die Fachdidaktik als Schmuddelkind der Wissenschaft zu denunzieren. Wenn sich auch in fachdidaktischen Diskursen, wegen des gesteigerten normativen Anspruchs, gewisse Aporien wissenschaftlicher Erkenntnis deutlicher zeigen mögen als anderswo, so sind diese doch zugleich auf komplizierte Art und Weise mit der größeren, umfassenden und historisch tieferen Doktrin abendländischer Wissenschaft verbunden. Die Analyse, die hier vorgenommen wird, muss also weiter gehen als eine Polemik gegen einen Unglücksfall der Wissenschaftsgeschichte, als den viele das Entstehen der wissenschaftlichen Fachdidaktiken ansehen; es geht um Konzepte von Subjektivität, Sprache, Erziehung und Literatur/Lesen, die tiefer wurzeln, als es ein Blick auf die seit Ende der 1960er Jahre schrittweise wissenschaftlich institutionalisierte Fachdidaktik vermuten lässt. Die Beschreibung der Fachdidaktik als moderne Wissenschaft, die Bredel und Pieper geben, rekurriert am Rande auch auf das Moment der Subjektivität. Denn ›Handlungswissen‹, das ›zur Verfügung gestellt‹ wird, ist Wissen, das letztlich von Subjekten in konkreten raumzeitlichen Konstellationen – wie 8 | Was Adorno hier als pädagogisch fasst, lässt sich, in Anbetracht der Betonung des Inhalts der Bildungsarbeit bzw. der ›Sache‹, heute wohl eher als fachdidaktisch übersetzen (ein Wort, das Adorno wohl nicht kannte bzw. noch nicht kennen konnte).
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auch immer – genutzt werden soll. Man hat es hier mit einer Kippfigur zu tun: Gegenstand und Lernprozess werden erforscht nicht um ihrer selbst willen, sondern um intentionalen Subjekten Handlungsoptionen verfügbar zu machen. Die fachdidaktisch instruierten Lehrer sollen möglichst viel wissen von dem, was die Schüler noch nicht oder niemals wissen (werden). Umgekehrt werden die Schüler, wenn auch nicht in jedem empirischen Fall und ausschließlich so doch gemäß der Logik des Diskurses, zu Objekten dieses Wissens. Der Diskurs der Professionalisierung verhält sich folglich gegenüber dem Pädagogischen als Machtsphäre indifferent; er sondert sich gewissermaßen von dieser Problematik ab. Es liegt an den Subjekten, vulgo: Lehrern, zu versuchen, dies durch pädagogischen Takt zu mildern. Grundlegendes lässt sich indes in dem gegebenen Zusammenhang schwer ändern.9 Das Subjekt, auf das der Diskurs als notwendigen Referenzpunkt sich bezieht, wird konzeptualisiert als abstrakte Größe, welcher es zukommt, das professionelle Wissen in die Tat umzusetzen. Bei allem Empirismus, gerade der gegenwärtigen Fachdidaktik, muss doch der Bezug auf ein abstraktes, transzendentales Subjekt gewährleistet sein, da nur dieses als funktionales und intentionales vorstellbar ist. In einem zerrissenen oder pluralisierten Subjekt wird auch die Einheit des ›Handlungswissens‹ sich aufspalten. Bedingungen des Gelingens und des Misslingens kommen in Kontakt und gehen ineinander über. Das positive Wissen bricht auseinander. In der doppelten Figur von Modell (Theorie) und Untersuchung (Empirie) begegnet der Leser einer paradoxen Einheit in der Differenz, die im fachdidaktischen Diskurs spätestens seit Hermann Helmers’ Didaktik der deutschen Sprache zirkuliert: »Deutschdidaktik geht als Theorie von der Praxis der sprachlichen und literarischen Lernprozesse aus und zielt durch Theoriebildung auf die Praxis.« (Helmers 1997, S. 53)10 Doch während Helmers noch eine »Vereinheitlichung der wissenschaftlichen Begriffe« (ebd., S. 52) für möglich hielt und damit ein geregeltes Verhältnis zwischen Erziehung und Wissenschaft, stellt sich fünfzig Jahre später die Frage nach der unauflösbaren Pluralität von Beobachtungsformen und Gegenständen als Theorien und Praktiken (im Plural). Das fachdidaktische Modell des Unterrichts entzieht sich der Uneinholbarkeit seines Gegenstandes und der stets wieder notwendigen Rückkopplung durch neue Daten aus der Empirie, während zugleich als stabilisierendes Moment 9 | Hier taucht die Frage nach alternativen Schulformen auf, welche sich an der machtbesetzten Asymmetrie von Lehren und Lernen (dazu im Laufe der Arbeit noch mehr) abarbeiten. 10 | Die Fachdidaktik soll also durch Theorie auf die Praxis einwirken. Da Theorie, als Theorie, dies jedoch nicht kann, wohnen wir der Geburt einer fachdidaktischen Paradoxie bei. Dieselbe Distanz, die Wissenschaftlichkeit ermöglicht, hebt die kausale Beziehung zwischen wissenschaftlicher Reflexion und pädagogischem Handeln auf.
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Normativität genutzt wird. Letztbegründungen wie Kompetenz setzen der endlosen Ausdifferenzierung des Wissens mit ungewissem Ausgang eine Schranke – um den Preis der kognitiven Verknappung des Diskurses. Sonst würde die Duplizität von Modell und Untersuchung womöglich zu einem autodekonstruktiven Effekt führen, etwa in der Gestalt, dass jede neue Untersuchung das Modell aufhebt bzw. dessen Unangemessenheit infolge der Unbeobachtbarkeit des stets überdeterminierten Gegenstands, z.B. Literaturunterricht, erweist. Umgekehrt droht (im Falle des Verzichts auf neue empirische Erkenntnis) eine normative Endlosschleife als Wiederholung der Doktrin des Diskurses, welche die kognitive Leistungsfähigkeit der Fachdidaktik als Wissenschaft schmälert. Perspektivenwechsel; die folgende Beobachtung fasst das Didaktische unter gänzlich anderen, nämlich praktischen Aspekten auf: »Der Referendar ist ein Zerrissener. Zu denken ist an ein magisches Vieleck. Der Referendar ist hin- und hergerissen zwischen Schülerorientierung und dem selbstgewählten Anspruch fachlicher Kompetenz, zwischen unterrichtsmethodischen Notwendigkeiten und der Lust an spontaner Entfaltung, zwischen institutioneller Bindung (auch wohl als institutionsadäquater Unterwerfung) und dem Ethos des aufrechten Gangs, zwischen geschäftigem Tun und – so gatten sich Bildung und Ökonomie unverhofft – der Aussicht auf einen verordneten Müßiggang nach dem Zweiten Staatsexamen.« (Eigenwald 1996, S. 89)
Fokussiert wird nicht ein abstraktes, transzendentales, sondern ein konkretes Subjekt, das um das richtige ›Handlungswissen‹ ringt: der Referendar. Der Text tritt dem Leser nicht im Gestus wissenschaftlicher Sachlichkeit und Bestimmtheit entgegen, sondern in der Form essayistischer Pointierung, hier als Zuspitzung von Widersprüchen, in denen sich der angehende Lehrer scheinbar gefangen sieht. Es scheint, als ob der Text, um der Erfahrung der Praxis gerecht werden zu können, an die Grenzen der wissenschaftlichen Schreibweise gehen, die vereinbarten Diskursregeln verletzten muss. Dies und die durchaus unterschiedlichen inhaltlichen Schwerpunksetzungen bedingen, dass ein Vergleich mit der Definition von Bredel/Pieper im strengen Sinne nicht durchführbar ist. Und doch reagieren, wenn die Metapher erlaubt ist, gewisse Elemente beider Texte miteinander. Das ›Handlungswissen‹ lässt sich aus der Perspektive von Eigenwald nicht mehr kohärent beschreiben, vielmehr ist ein unauflösbarer Widerstreit11 verschiedener Wissensformen zu beobachten, was dazu führt, dass die Verbindung von Theorie und Praxis vermittels eines vormodernen, aristotelischen Handlungsbegriffs nicht mehr gelingt. Die Subjekte müssen verschiedene 11 | Vgl. zu dem auf Lyotard zurückgehenden Begriff des Widerstreits in der Perspektive der Bildungstheorie: Koller (1999).
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Macht-Wissen-Regimes integrieren und scheitern dabei naturgemäß. In den Worten Foucaults: »Es handelt sich um die Zäsuren, die den Augenblick zersplittern und das Subjekt in eine Vielzahl möglicher Positionen und Funktionen zerreißen. Eine solche Diskontinuität trifft und zersetzt auch noch die kleinsten Einheiten, die immer anerkannt worden sind und nur schwer zu bestreiten sind: den Augenblick und das Subjekt.« (Foucault 1998, S. 37)
Die Widersprüche, die Eigenwald aufzählt, sind einerseits von allgemeiner Signifikanz für die Schule als Macht-Wissen-Komplex, z.B. die (vermeintlichen) unterrichtspraktischen Notwendigkeiten, die in Konkurrenz treten zur ›Lust an spontaner Entfaltung‹. (Letztlich trifft wohl jede Form unkonventionellen Unterrichtens rasch auf Widerstand; das kann schon mit dem Umstellen der Tische beginnen.) Andererseits zeigen sich auch Differenzen, die als fachdidaktische Paradoxien das Wissensfeld zerreißen, z.B. der hinlänglich bekannte Hiatus zwischen Subjekt- und Sachorientierung, der in wechselnden Konfigurationen die Geschichte der Literaturdidaktik bestimmt. Die handlungs- und produktionsorientierte Literaturdidaktik etwa schien angetreten zu sein, um die subjektive ästhetische Erfahrung mit den objektiven Ansprüchen des Literaturunterrichts zu versöhnen. In gegenwärtigen literaturdidaktischen Diskursen tritt der Widerspruch häufig im Kontext einer Didaktik der Literaturgeschichte auf, weil dort das Normativ-Verpflichtende des Wissens um den Kanon mit den Möglichkeiten des individuellen Lernens und Begreifens in Konkurrenz tritt. Man könnte die Unterschiede im Subjekt-, Wissens- und Handlungsbegriff zwischen den zitierten Texten nun einfach der Unterscheidung von Theorie und Praxis zuschlagen. Der Befund lautete dann: Die Auffassungen sind unterschiedlich, müssen und werden immer unterschiedlich sein, weil sie zwei Seiten, die nie voneinander zu trennen sind, aber zugleich stets unterschieden werden müssen, darstellen. Die Theorie kann nie in Praxis ›umgesetzt‹ werden und doch ist Praxis ohne Theorie blind. In diesem Sinne wäre die Theorie-Praxis-Unterscheidung das letzte Mittel, um die Widersprüche zu befrieden. In der didaktischen Theorie würde man dann angespornt durch Empirie neue Erkenntnisse gewinnen und in der Praxis geschähe dies eben durch Erfahrung (einschließlich der theoretischen). Man sieht nun aber, dass die selbe Unterscheidung, welche die ambivalenten Erfahrungen der Praxis aus der Theorie, die sich für imstande erklärt, ›Gelingensbedingungen‹ zu explizieren, heraushält, auf der anderen Seite dafür sorgt, dass sich der Gegenstand – und der ist nun einmal z.B. ›Literatur im Unterricht‹ – permanent der wissenschaftlichen Beobachtung entzieht; er kann nur als Abwesender anwesend sein. Eben deshalb muss Praxis formel-
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haft (aber keineswegs inhaltsleer) im theoretischen Diskurs der Fachdidaktik vertreten werden, vorzugsweise in Form der Rede vom ›Lehren und Lernen‹. Damit ist eine Leitunterscheidung ausgedrückt, welche in der Lage ist, Repräsentationen von Praxis (z.B. in Form von Unterrichtstranskripten) bestimmten – und nicht anderen – Formen der Interpretation zu unterwerfen. Eine typische Frage lautet dann: Was weiß der Sprecher schon? Und darauf aufbauend: Was muss er noch lernen? Die Fragen wiederholen sich dabei genauso endlos wie die stets den Unterschied zwischen Erwünschtem und Vorgefundenem konstatierenden Antworten. Obwohl das Erkenntnisinteresse begrenzt ist, stiftet das empirische Material gewissermaßen eine Beziehung der Fremdheit zu der Wissenschaft, die es erklären will. Diese Nicht-Identität von Gegenstand und Erklärung auf vielen Ebenen (Stil, Kontext, Inhalt usf.) kann man als ganz normal sowie als Anlass zur notwendigen Reflexion begreifen. Handlungswissen resultiert daraus dann aber nicht; dieses muss vielmehr stets aufgeschoben werden. Letztlich mag die irreduzible Fremdheit von Theorie und Praxis ein Indikator sein für die metaphysische Herkunft dieser vertrauten, im Grunde aber labilen Opposition.12 Die Analyse von Bedingungen des Gelingens geht von dieser Opposition aus, enthält aber keine sauber getrennten und in gesicherter Relation zueinander stehenden Glieder. Die Vorstellung, dass die Welt in eine intelligible (nur geistig erfassbare) und eine materielle (sinnlich wahrnehmbare) Dimension untergliedert ist, führt eine Differenz ein, die dann asymmetrisch besetzt werden kann. Das ist notwendig, um das Vorrecht der Wissenschaft überhaupt formulieren zu können. Die Differenz muss zugleich jedoch wieder überschrieben werden mit Formeln der Reintegration, z.B. einem universellen Handlungsbegriff, um klarzumachen, über welches Feld die Wissenschaft Herrschaft beansprucht.13 Theorie und Praxis müssen unterschieden werden, damit sie nicht mehr unterschieden zu werden brauchen! 12 | Vgl. Derrida (1986, S. 174f.). Die Dekonstruktion der Unterscheidung zwischen Theorie und Praxis ließe sich auch auf diejenige zwischen Theorie und Empirie ausweiten. Derrida (1974, S. 190) geht davon aus, dass es keine sichere Relation zwischen apriorischen und empirischen Sätzen gibt. Will man beide Typen wissenschaftlichen Arbeitens aufeinander abbilden, muss apriorische Theorie wohl oder übel zur Methodologie regredieren. Dies geschieht im Zuge der Umstellung von Fachdidaktik auf einen leitenden empirischen Forschungsstil seit der ersten PISA-Studie. 13 | Bredel/Pieper (2015, S. 14) argumentieren etwa, dass es in ihrer Studie nicht »um die Zusammenführung von sprach- und literaturbezogenen Perspektiven im Klassenzimmer, sondern um die Zusammenführung von sprach- und literaturdidaktischen Perspektivierungen in der Theoriebildung« geht. Zugleich machen die Verfasserinnen jedoch klar, dass die Argumentation »entlang der in den nationalen Bildungsstandards für das Fach Deutsch (…) angegebenen Kompetenzbereiche geführt« wird. Es ist also gar nicht
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Die wissenschaftliche Variante metaphysischen Denkens zentriert sich um den Begriff der Wahrheit. Wenn es in der wissenschaftlichen Form der Erkenntnis um Wahrheit geht, wenn sich also erst in der wissenschaftlichen Reflexion das Gesicht der Welt zeigt, dann ist es der Wissenschaft auch erlaubt, der Welt außerhalb ihres Bezirks imaginäre Vorschriften zu machen. (Insofern trägt die eingangs zitierte Bestimmung von Bredel/Pieper hegemoniale Züge: Die Didaktik neutralisiert das Feld der Praxis, indem sie diesem die ›Gelingensbedingungen‹ vorgibt.) Was im Denken entsteht, wird zur Wahrheit transformiert. Und in diesem Akt der Transformation, der sich als ›Erkenntnis‹ von etwas scheinbar ganz neutral gibt, paaren sich Machtanspruch und kognitive Arbeit. Disziplinen, die normativ argumentieren, können wegen des Schlusses von Essenz (theoretischer Erkenntnis) auf Existenz (erfahrbare Wirklichkeit) immer behaupten, dass man sich, will man im Wahren verbleiben, so und so verhalten muss. Die Rede von der Explikation von Bedingungen des Gelingens markiert exakt diesen Schritt von der Wahrheit zum normativ Verpflichtenden. Das Gelingen ist die Vermittlung zwischen Wahrheit und Handeln im metaphysischen Denkstil. Abweichungen werden gegebenenfalls als widernatürlich oder gefährlich erachtet. Im deutschen Idealismus ist diese aristotelische Korrespondenz von Erkenntnis und richtigem Handeln aufgelöst worden (vgl. Wimmer 2006, S. 287). Sie spielt aber als antimoderne Versuchung im pädagogischen und didaktischen Diskurs (sicher auch in anderen Feldern) nach wie vor eine Rolle. Zum Beispiel ist der Humanismus ohne diese Denkfigur nicht vorstellbar. So kann auf dem Elternabend der Lateinlehrer immer noch als eine Art Erzieher höherer Ordnung auftreten – auch wenn heutzutage offen der Lateinunterricht als geeignetes Mittel zur Einschleifung von Sekundärtugenden beworben wird. Den Machtcharakter des Willens zur Wahrheit hat Nietzsche im Zarathustra in Form eines imaginären Dialogs wie folgt philosophisch inszeniert: »›Wille zur Wahrheit‹ heißt ihr’s, ihr Weisesten, was euch treibt und brünstig macht? Wille zur Denkbarkeit alles Seienden: also heiße ich euren Willen! Alles Seiende wollt ihr erst denkbar machen: denn ihr zweifelt mit gutem Mißtrauen, ob es schon denkbar ist. Aber es soll sich euch fügen und biegen! So will’s euer Wille. Glatt soll es werden und dem Geiste untertan, als sein Spiegel und Widerbild.« (Nietzsche 1976, S. 116)
Die ›Denkbarkeit alles Seienden‹ schreibt diesem Existenz, Bestand, Widerspruchslosigkeit zu. Was man nur erahnen kann, was in vielen Farben schillert, was nur die Träume wissen und was über die Möglichkeiten der begriffmöglich, nur bei theoretischen (wissenschaftsimmanenten) Leitunterscheidungen anzusetzen.
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lichen Erfassung sprachlich und kognitiv hinausgeht, auch was sich in einen Text einschreibt, ohne dass es von diesem Text kontrolliert werden könnte, wird so automatisch verdächtig. Das Denken schafft die Präsenz der Wahrheit und setzt so zugleich eine enorme Arbeit der Verdrängung und des Ausschlusses in Gang. Und dieses Denken ist eine Herrschaft des Geistes, der sich anheischig macht, die Welt in seine Begriffe einzusperren. »Die Herrschaft in der Sphäre des Begriffs erhebt sich auf dem Fundament der Herrschaft in der Wirklichkeit«, notieren Horkheimer und Adorno in der Dialektik der Auf klärung (Adorno/Horkheimer 1988, S. 20). Solche Verweise auf die Geschichte des kritischen, auch dekonstruktiven Denkens sind von einer Tragweite, dass – dieser Eindruck mag entstanden sein – das kleine Feld des Fachdidaktischen, näherhin: Literaturdidaktischen, ganz aus dem Blick zu schwinden droht. Es kommt jedoch in dieser Arbeit gerade darauf an, ein Wechselspiel zwischen Nähe und Ferne zu den untersuchten Texten in Gang zu setzen. Auf der einen Seite soll sehr nah an den Texten gearbeitet werden, um aus deren Schreibweise Erkenntnisse über die didaktische Doktrin zu gewinnen; auf der anderen Seite wird absichtlich theoretisches bzw. philosophisches Wissen aus scheinbar ganz anderen Bereichen in die Betrachtung eingeführt. Dies scheint umso notwendiger zu sein, als die Fachdidaktik heute ganz überwiegend den Eindruck einer nur noch schwer irritierbaren Professionalisierungsmaschine macht, die mit der Umstellung auf empirische Forschung und der epistemologischen Orientierung an kognitionswissenschaftlichen Modellen ihre vormodernen Sedimente zu überwunden zu haben glaubt und gerade daraus den Anspruch ableitet, gelingende Praxis wenn nicht steuern, so doch auf unersetzbare Weise instruieren zu können. Die präsenzmetaphysischen Begriffe wie z.B. Kompetenz sind in diesem Zusammenhang unverzichtbar.14 Und dies, obwohl es sich um einen zutiefst gespaltenen Begriff handelt, in dem Wissen, Handlung und Zeit in konfliktreicher Art und Weise aufeinander bezogen sind. Auf der einen Seite will die Rede von Kompetenz ihre eigene Genealogie unsichtbar machen, indem immer wieder aufs Neue die Abgeschlossenheit und Idealität der Sache behauptet wird. Auf der anderen Seite bleibt der Begriff auf eine unbestimmte Zukunft bezogen. Die vermeintlich existierende Kompetenz muss nämlich noch gelernt werden, wodurch sich erst erweisen wird, ob es sich um eine Kompetenz handelt und nicht womöglich um etwas Anderes (z.B. das Gegenteil: Inkom-
14 | Vgl. z.B. Rösch (Hg. 2005), Kammler (Hg. 2006), Rösch (Hg. 2010), Kämper-van den Boogaart/Spinner (Hgg. 2015). Insbesondere das umfängliche Handbuch von Kämper-van den Boogaart/Spinner erweckt den Eindruck, als ob die Fachdidaktik unter der Ägide des Kompetenz-Begriffs ihre eigene Professionalisierung abgeschlossen hat.
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petenz).15 Mit der Rede von Kompetenz, nebst all ihren Suggestionen von Bewältigen-Können und Steuerbarkeit, stellt die Fachdidaktik einen Wechsel aus, der womöglich nur schwer einzulösen ist. Es ist in dieser Arbeit zu überprüfen, welche Spuren die unterdrückten Aporien des Begriffs in den zugehörigen Texten hinterlassen haben.16 Unterricht als Gegenstand der Fachdidaktik kann von keiner Perspektive aus auch nur annähernd vollständig beschrieben werden; er wird durch Diskurse wie den kompetenzorientierten auf den Begriff, ja sogar auf die Zahl gebracht. Das Denkbar-Machen, von dem Nietzsche spricht, ist zugleich ein Akt der Unterwerfung, der das Andere, Fremde machtförmig (hegemonial) besetzt und somit dessen Wahrnehmung ungemein erschwert. Hinter dem Funktionalismus der zeitgenössischen Fachdidaktik wirkt die Energie metaphysischen Denkens, die noch das Inkommensurabelste ihren Begriffen unterwirft, die, indem sie Erkenntnis stiften, zugleich Blindheit zum Gesetz machen. Der in der Erkenntnis identifizierte Unterricht ist der unsichtbare. Diese Beziehung zum metaphysischen Denken ausgerechnet der Fachdidaktik lässt letztere nicht einfach in einer allgemeinen Struktur aufgehen. Selbstverständlich gibt es klar zu erkennende Spezifika des fachdidaktischen Diskurses, etwa dessen stärkeren Praxisbezug, verbunden mit der institutionell gesicherten Beziehung zur Lehrerbildung. Doch es ist aufschlussreich zu beobachten, wie sich ausgerechnet eine moderne, empirische Disziplin mit klarer Funktionsbeschreibung im Gefüge der Hochschulen gegen eigene Absicht in metaphysisch grundierte Machtspiele des Wissens verstrickt und gerade deswegen ihr Wissen als paradoxes zu begreifen lernen muss. Fassen wir einige Aspekte zusammen. Diverse Bruchlinien der didaktischen Doktrin sind in Form unvereinbarer oder gegensätzlicher Elemente ins Blickfeld der Untersuchung geraten: die Spaltung des Handlungsbegriffs, die irreduzible Pluralisierung und Heterogenität der Wissensformen, das Phantasma einer Beherrschbarkeit des komplexen machtförmigen Wissensfeldes Schule durch wissenschaftliches Wissen, der abstrakte transzendentale Subjektbegriff als Voraussetzung normativen und teleologischen Denkens, die virtuelle Realität des Konzepts der Kompetenz. Da von der Fachdidaktik erwartet wird, dass sie ein Wissen ausarbeitet, das es erlaubt, die von Wirtschaft und Politik vorgegebenen Bildungsziele effizient und sicher zu erreichen, mag eine Untersuchung von wert sein, welche diese Auffassung der Disziplin als 15 | Siehe Derrida (1974, S. 15): »Der Vorgriff auf Zukunft ist nur in Gestalt der absoluten Gefahr möglich.« 16 | Bredel/Pieper (s.o.) vermeiden den Begriff Kompetenz und sprechen in der Einleitung ihres Buches von »Handlungsfähigkeit«. Das Problem der Nicht-Identität des Begriffs mit sich selbst als Differenz zwischen Idealität und Performativität der Handlung besteht jedoch auch hier.
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wissenschaftlich abgesicherte funktionale Berufslehre irritiert. Ansatzpunkt ist dabei gewissermaßen die materielle Basis des Wissens: die wiederholten und variierten Figuren des Diskurses im Medium von Sprache und nicht selten auch von Zahl. Die Didaktik soll gewissermaßen beim Wort genommen werden und so in ihrer Heterogenität und Widersprüchlichkeit in den Blick rücken. Dies geschieht in einer Zeit, in welcher, wie François Lyotard (2005, S. 117) schon zeitig vorausgesagt hat, die Verheißung der Didaktik, dass alles Wissen, wenn man es nur richtig anstellt, auch effektiv gelehrt werden kann, in Gestalt der so genannten Hochschuldidaktik bereits die höheren Lehranstalten erreicht hat; die Merkantilisierung des Wissens und die Rückkehr des Herrschaftswissens mit eingeschlossen (vgl. Lyotard 2005, S. 26-29). Auch wenn also der Blickpunkt der vorliegenden Untersuchung die immanenten Verwerfungen der didaktischen Diskurse und die Bruchlinien im Körper der didaktischen Doktrin sind, so soll nicht übersehen werden, dass Didaktik inzwischen einen enorm gesteigerten ökonomischen Index aufweist. Das auf zehn Jahre angelegte Förderprogramm des Bundes Qualitätsoffensive Lehrerbildung ist zum Beispiel laut Programmentwurf mit Geldern in Höhe von mindestens 500 Millionen Euro ausgestattet.17 Es ist offensichtlich, dass auf diese Weise ein enormer Sog in Richtung ›praxisrelevanter‹, das heißt letztlich dirigistisch nutzbarer Forschung entsteht – in Gestalt kooperativer, zeitlich limitierter, inhaltlich vorbestimmter (risikofeindlicher) und fast ausschließlich empirischer Forschung. So werden Wahrheiten als Ergebnisse von Großprojekten in die Welt gesetzt, die man nicht mehr ignorieren kann. Dies wiederum schlägt sich im didaktischen Textmaterial nieder, das in den allermeisten Fällen bei den durch diese Projekte gemachten Beobachtungen und Unterscheidungen ansetzt. Die schiere Größe der Projekte erhöht also die Chance, das erarbeitete Wissen durchzusetzen.18 Dabei steigt ständig die Erwartung an die Didaktik, nützliches Wissen zu produzieren, das, so die Hoffnung, in letzter Instanz die überlebenswichtige ständige Modernisierung der Gesellschaft, hier begriffen als Funktion von Erziehung und Bildung, sichert. Die Lehrbarkeitsdoktrin der Fachdidaktik ist also eingebettet in ein ökonomisch forciertes Heilsgeschehen als neue Bildung für die globalisierte Welt. Angesichts einer solch hohen politischen, diskursiven und ökonomischen Wucht der in der akademischen Hierarchie wenigstens vordergründig aufgestiegenen Didaktik19 ist eine grundlagentheoretische Arbeit als Diskursbeob17 | Vgl. https://www.qualitaetsoffensive-lehrerbildung.de/Bund-Laender-Vereinbaru ng-Qualitaetsoffensive-Lehrerbildung.pdf. Letzter Abruf. 17. November 2017. 18 | Lyotard (2005, S. 188) spricht vom Zynismus des Performativitätskriteriums in der postmodernen Wissenschaft. 19 | Die allerorts stattfindende Gründung von horizontalen Einrichtungen nach dem Muster School of Education oder Lehrerbildungszentrum, gleichsam institutionelle Ver-
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achtung in Gefahr, nur marginal wahrgenommen zu werden. Sie wird hier gleichwohl vorgenommen. Gegenstand der Untersuchung ist die Rolle der Literatur im fachdidaktischen Diskurs bzw. die spezifische Gestalt der didaktischen Lehrbarkeitsdoktrin in Hinsicht auf Texte, welchen die Eigenschaft, literarisch zu sein, zugeschrieben wird. (Die in diesem Satz angedeutete Differenz mag nicht ganz unwichtig sein; denn was als ›literarisch‹ und zugleich als ›lehr- und lernbar‹ erachtet wird, ist bereits Teil des Problems.) Dem entsprechend ist im Folgenden von Literaturdidaktik die Rede und nicht, wie heute und auch früher schon allgemein üblich, von Deutschdidaktik. Damit soll die Dignität des Gegenstands, der nicht von vorneherein als lehr- und lernbar aufzufassen ist, begrifflich verdeutlicht werden. Zugleich bleiben mehrere Lesarten – das Didaktische der Literatur, die Didaktik der Literatur, die Auflösung oder zumindest Irritation des Didaktischen durch Literatur – möglich. Immer eingedenk des Umstands, dass es kein instrumentelles Verhältnis zwischen Literatur und Didaktik geben kann und zwar allein schon deswegen nicht, weil beide Größen viel voneinander wissen und durch zahllose Rückkopplung aufeinander reagieren. Die Literatur weiß viel über Schule und Erziehung und sie formuliert das in ihren Sprachen. Und die Literaturdidaktik weiß viel über die Literatur im Zusammenhang von Bildung und Erziehung und sie formuliert das im Stil der Wissenschaft. Auf der anderen Seite partizipieren beide Diskurse, der literarische und der didaktische, in je spezifischer Weise an anderen Diskursen (Philosophie, Ästhetik, Geschichte, Pädagogik, Politik usf.). Die vorliegende Untersuchung unternimmt es also, die Brüchigkeit des didaktischen ›Handlungswissens‹ von der Literatur wahrnehmbar zu machen – und zwar an den Texten selbst, denen es um eine kohärente, wissenschaftlich gesicherte Ausrichtung des Literaturunterrichts zu tun ist. Zugespitzt wird die Fragestellung in Hinsicht auf die Wahrnehmung paradoxer Figuren im Diskurs der Literaturdidaktik. Mit Wahrnehmung ist dabei gemeint, dass solche Elemente nicht einfach erkannt und analytisch isoliert werden können. Es geht nicht um Dinge oder Sachverhalte wie alle anderen in der Welt auch, die durch Zeichen in unterschiedlichen Medien repräsentiert werden können. Vielmehr kommt es einer wiederholten, textgenauen Lektüre
körperung nutzbaren didaktischen Wissens mit hoher Anbindung an universitätsexterne Entscheidungsträger aus Politik, Wirtschaft und Verwaltung, verdeutlicht allerdings einmal mehr die, inhaltlich betrachtet, immer noch unsichere Stellung der Fachdidaktiken, die in den Fächern keinen rechten Ort haben. (Umgekehrt fristet die fachwissenschaftliche Forschung an den Pädagogischen Hochschulen Baden-Württembergs eine bescheidene Existenz.) Die Verengung fachdidaktischer Arbeit auf die Professionalisierung angehender Lehrer sorgt dafür, dass, wer sich hier nicht einordnen will, in der Fachdidaktik kaum eine Stelle bekommen wird.
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zu, die Spuren20 der heterogenen Konstellationen in literaturdidaktischen Texten zu lesen. Wenn es um ständigen Fortschritt durch immer besseres Wissen und Verstehen geht, ist es notwendig zu untersuchen, ob der Diskurs, der dies verspricht, letztlich auch seinen eigenen Ansprüchen gerecht wird. Wenn von Paradoxien die Rede sein wird, dann jedenfalls nicht von starren Gegensatzstrukturen, sondern von Elementen, die ebenso unvereinbar wie notwendig aufeinander bezogen sind. Im Falle einer Wahrnehmung solcher Figuren in Texten, die sich selbst Rationalität und Funktionalität zuschreiben, handelt der beobachtende Wissenschaftler παρά δόξα (gegen die Doxa – im Sinne der herrschenden Meinung oder auch der impliziten, aber umso stärker bindenden Doktrin); die Spaltung des Handlungsbegriffs im eingangs erwähnten Textbeispiel bildet eine solche Spur; ebenso die Metaphysik des Gelingens als Anspruch, durch Wissenschaft die Welt erst erkennbar und damit zugleich beherrschbar zu machen. Das heißt auch: Die Frage nach der Instaurierung und Reproduktion von Machtverhältnissen ist zu stellen. Die vorliegende Untersuchung wird nicht nur die Auffassung des Paradoxen genauer ausbuchstabieren müssen, sondern auch zwei Gegenstandsbereiche einführen, auf die sich die Wahrnehmung jener Elemente, über welche die Doxa nicht verfügt, beziehen kann. Gemeint sind die Bereiche Literatur und Erziehung. Während ›Literatur‹ als Gegenstand der Betrachtung gleichsam selbstverständlich gegeben zu sein scheint – immerhin ist die Rede von Literaturdidaktik – leuchtet dies im Falle von ›Erziehung‹ nicht unmittelbar ein. So kommt die Abhandlung von Bredel/Pieper nahezu vollständig ohne Wissen aus der Pädagogik aus; die zu Grunde liegenden Unterscheidungen wie die zwischen Wissen und Können scheinen auch so zu funktionieren.21 Gleichwohl verortet schon die erste moderne Didaktik der deutschen Sprache und Literatur die Fachdidaktik zwischen Erziehungswissenschaft auf der einen und Literaturwissenschaft auf der anderen Seite (Helmers 1997, S. 10). Später vertritt Jürgen Kreft die Auffassung, dass Literaturdidaktik den doppelten Reflexionshorizont von allgemeinen Zielen der Ich-Entwicklung und speziellen fachlichen Qualifikationen zum Gegenstad hat (Kreft 1982, S. 217). In gegen20 | Die Untersuchung bezieht u a. auf die Schriften von Jacques Derrida, um so sicher zu stellen, welche Auffassung von ›Spur‹ gemeint ist. Vorab sei nur schon gesagt, dass es um einen performativen und also letztlich paradoxen Spurbegriff geht; in dem Sinne, dass die Spur zugleich wahrgenommen und gebildet wird. 21 | Vgl. jedoch den kurzen Hinweis auf einen Text des Pädagogen Werner Helsper (Bredel/Pieper 2015, S. 52. Bezug: Helsper 2003) und die dort thematisierten Antinomien des Lehrerhandelns. Hier ergibt sich ein Widerspruch zur Explikation von Gelingensbedingungen – es sei denn, man verweist die Antinomien auf den nicht wissenschaftsfähigen Berufsalltag; dann aber stellt sich die Frage, ob die Bedingung des Gelingens außerhalb dieses Alltags festgelegt werden kann.
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wärtigen Diskursen der Literaturdidaktik, gerade wenn es in einem umfassenden Sinne um Modellierung literarischer Kompetenzen geht 22, bleibt der pädagogische Aspekt der Erziehung durch Literatur (vgl. Ladenthin 1989) häufig weitgehend ausgespart. Das heißt aber nicht, dass Normativität abgebaut würde: Durch Textauswahl, Kommentierung und curriculare Hierarchisierung wird permanent der Erziehungswert des jeweiligen Gegenstands taxiert. Die Pädagogisierung der Sache, von der Theodor W. Adorno in seinem Essay Tabus über dem Lehrerberuf spricht, lässt sich letztlich nie ausschalten. Literatur in der Schule ist Literatur im Auftrag der Schule. Literaturdidaktik kann diesen Aspekt nicht vernachlässigen, verdankt sie ihm doch die eigene Existenz. Der Nachteil, der sich ergibt, wenn die Literaturdidaktik sich von Diskursen der (allgemeinen) Erziehungswissenschaft abkoppelt, liegt darin, dass sie Möglichkeiten zur Selbstbeobachtung aufgibt. Während z.B. die Kognitionspsychologie ein Modell von Bewusstsein, Sprache und auch Literatur liefert, das auf effektive Informationsverarbeitung abhebt, hat die wissenschaftliche Pädagogik in den letzten Jahrzehnten sich intensiv mit den Grenzen des Machbaren vor dem Hintergrund verschiedenster moderner und postmoderner Theorietraditionen auseinandergesetzt. Der für diese Arbeit wichtigste Autor ist Michael Wimmer (2006, 2014). Die Zuspitzung des Erziehungsproblems auf die pädagogische Paradoxie (vgl. Kap. 6) ist eine Denkfigur, auf die sich diese Arbeit grundlegend beziehen wird. Geht man davon aus, dass die Lehrbarkeitsdoktrin den paradoxalen Charakter von Erziehungsprozessen immer wieder überschreiben muss mit Modellen des Machbaren und Gelingenden, verblüfft die Ignoranz gegenüber den Forschungsergebnissen einer benachbarten Disziplin nicht mehr. In dieser Arbeit soll den Irritationen nachgespürt werden, die entstehen, wenn man z.B. dem Subjekt nicht mehr transzendentale Idealität und Intentionalität zuschreibt, um so die Funktionalität des fachdidaktischen Wissens abzusichern. Dabei kann es sich nur um einen Anfang handeln. Die Zusammenarbeit mit der allgemeinen Erziehungswissenschaft sieht der Verfasser als eine der spannendsten Formen von Interdisziplinarität an, die in der Zukunft unbedingt anzustreben ist. Denn die Literaturdidaktik kann nicht für alle Zeit in einer Metaphysik des Gelingens stecken bleiben. Paradox ist jedoch nicht nur die Erziehung, sondern der auch Gegenstand, auf den sie sich bezieht, die Literatur. Die literaturtheoretische Debatte hat zu einer Differenzierung und Problematisierung des Begriffs Literatur geführt – mit der unerwünschten, aber notwendigen Folge, dass ein erhöhtes Maß an Unsicherheit hinsichtlich der Frage, was denn der Gegenstand der Literaturwissenschaft überhaupt sei, entstanden ist (vgl. Barner 1997). Die Erforschung 22 | In bestimmten Teilgebieten wie der interkulturellen Literaturdidaktik, der Leseförderung, der Didaktik der Kinder- und Jugendliteratur oder auch der Kanondebatte sieht dies selbstredend anders aus.
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des Gegenstands hat zur Auflösung des Gegenstandes geführt – ohne dass man hinter die einmal gesetzten Standards noch zurück könnte. Die Literaturdidaktik, in den 1990er Jahren vorsichtig interessiert an theoretischer Modernisierung, hat darauf inzwischen in Form des Rückzugs aus kulturwissenschaftlichen Diskussionen reagiert. Während die Literaturwissenschaft auf dem Wege ist, Literaturtheorie in der Form des Narrativs zu thematisieren 23 – untrügliches Zeichen für die Errichtung einer Schranke zwischen Gegenwart und Vergangenheit – orientiert sich die Literaturdidaktik gerne an Grundbegriffen aus der Semiotik und Hermeneutik und versucht diese normativ umzudeuten bzw. kompatibel zu machen mit der jüngeren Orientierung der Disziplin an kognitionswissenschaftlichen Modellen. Als kompetenter Leser von Literatur wird dann erachtet, wer in der Lage ist, polyseme Zeichen zu entschlüsseln und historische Kontexte bei der Deutung zu berücksichtigen. Doch die Widerständigkeit des Mediums Literatur, dessen unhintergehbare Negativität stets performativ zu entfalten ist und nicht abstrakt, in Form allgemeiner Modelle literarischer Kompetenz im Vorhinein formuliert werden kann, macht hier die größten Schwierigkeiten. Die ›Gelingensbedingungen‹ des Unterrichts können nur auf spekulative Weise expliziert werden und die Dignität des einzelnen, historisch und ästhetisch vermittelten Gegenstands überbordet das allgemeine Kompetenzmodell. Das Kunstwerk fällt gleichsam aus dem angenommenen Gelingen heraus. Und selbst wenn dem nicht so wäre: Was ist gewonnen, wenn die vom Didaktiker erwünschten Bedeutungen im Text identifiziert worden sind? Hat der Schüler nur das gewünschte Spiel gespielt? Kann man den Text nicht ganz anders lesen, interessanter vielleicht? – Die literaturtheoretische Analyse hat zu einer Problematisierung von Sinnzuschreibungen geführt und ist so zu einer Gegnerin der Literaturdidaktik geworden. Während erstere Lesbarkeit in Frage stellt und so die Komplexität des Mediums Literatur entfesselt, beharrt letztere auf der Lehrbarkeitsdoktrin, das heißt auf dem Glauben, angemessenes Verstehen von Literatur könne systematisch gelehrt werden. Dies führt in literaturdidaktischen Texten zu Paradoxien der Begründung, auf die einzugehen sein wird. Literatur und Erziehung sind komplexe und paradoxe Felder aus MachtWissen-Beziehungen mit ökonomischen, politischen und ideologischen Fermenten. Die Lehrbarkeitsdoktrin überschreibt die paradoxen und komplexen Konstellationen, um aufrecht erhalten werden zu können. Die lehrbar gemachte Literatur ist heute wie schon zu anderen Zeiten ein problematisches Mittel der Erziehung. Und ihre Aporien hinterlassen Spuren in den literaturdidak23 | Vgl. z.B. den Titel der Abhandlung von Philipp Felsch (2015): Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte 1960-1990. Das inzwischen weithin gebrauchte Konzept ›Narrativ‹ ist selbst Ergebnis postmoderner Innovation in den Kulturwissenschaften.
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tischen Diskursen, die sich in der Gegenwart wie nie zuvor an den Ideologemen der Steigerung der Leistungsfähigkeit und des Überlebens in der globalisierten Wissenswelt orientieren. Längst sind die Kehrseiten beobachtbar, insbesondere bei den Schülern: Erschöpfung und Frustration, Zynismus und Depression. Wenn auch das Interesse dieser Arbeit im Theoretischen liegt, so soll nicht vergessen werden, dass die Analyse von Macht-Wissen-Zusammenhängen den Körper des disziplinierten Subjekts mitzudenken hat; auch dieser ist ein Feld von Spuren. Das Gelingen des Lehrens, dessen Begründung im Weiteren genauer untersucht wird, ist nicht nur eine kleine Fiktion im Praxisfeld, sondern Ausdruck jener Doktrin, welche die Subjekte diszipliniert, weil angeblich nur so deren Emanzipation gelingen kann. Wie im nächsten Kapitel zu sehen ist, würde eine Revision dieser Vorstellung einen anderen Begriff des didaktischen Subjekts voraussetzen.
II. Das didaktische Subjekt
Die oben diskutierte fachdidaktische Selbstbeschreibung rekurriert implizit auf Subjektvorstellungen und -anforderungen. Das ›Handlungswissen‹, von dem die Rede ist, soll der Orientierung erfolgreicher Praxis dienen. Das Subjekt ist der Motor des richtigen Wissens. Dabei wird die Harmonisierbarkeit dieses Wissens mit anderen Wissensformen vorausgesetzt. Es wird nicht etwa im Sinne Lyotards (1989) an einen Widerstreit dieses Wissens mit anderem Wissen aus konkurrierenden Diskursen gedacht. Die fachdidaktische Theorie kreiert ihr eigenes Subjekt – transzendental, funktional, intentional – und formuliert auf dieser Grundlage Anforderungen, Erwartungen, Werturteile. Das gedanklich zu Grunde gelegte Subjekt gerinnt im Handeln zu einer zwiespältigen Figur. Denn obwohl das Subjekt keineswegs Ausgangspunkt seiner eigenen Konstruktion ist, soll es aus voller Überzeugung so handeln, als wäre dies der Fall. Das Subjekt soll Ausgangspunkt seines Diskurses und auch wieder nicht Ausgangspunkt seines Diskurses sein; das heißt: es sieht sich gespalten in eine aktive Seite, die aus Überzeugung zum Richtigen strebt und eine passive Seite als stets gelehriges, ›Handlungswissen‹ absorbierendes Subjekt – ungeachtet befremdlicher Erfahrungen, die ›reale Subjekte‹ in didaktischen Zusammenhängen machen. Denn die Überzeugungskraft des anempfohlenen Wissens muss keineswegs mit dessen Beschaffenheit übereinstimmen. Zum Beispiel wird Wissen vor allem durch Lektüre erworben und wenn Lektüre nicht schlicht Aneignung heißt, dann fällt sie zusammen mit der Steigerung von Kontingenz.1 So entsteht ein Riss zwischen der Konstruktion eines transzendentalen Subjekts ohne Zeit und Raum, dem man Funktionalität und Intentionalität zuschreibt, und der Pluralität an selbstreferentiell erzeugten Subjektkonstruktionen unter Kontingenzbedingungen. – Es zeigt 1 | Kremer/Wegmann (1998, S. 82) weisen aus bildungstheoretischer Sicht darauf hin, dass die Lektüre einer textuellen Spur aus dem Ich einen Anderen macht. Wimmer arbeitet, Raum und Zeit in die Subjektkonstruktion einspeisend, mit dem Begriff der Singularität. Diese entstehe »erst durch die Einschreibung der Sprache in den Subjektkörper« (2014, S. 231).
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sich einmal mehr, dass gerade Wissenschaftsdisziplinen, die auf empirische Erkenntnis nicht verzichten können, gewisse metaphysische Sedimente benötigen, um die Kohärenz und Geltung ihrer Konstruktionen abzusichern. Das Empirische ist zugleich das Transzendentale und umgekehrt. Wenn hier von der ›Konstruktion‹ des didaktischen Subjekts die Rede ist, dann handelt es sich nicht in erster Linie um ein Zugeständnis an zeitgenössischen Sprachgebrauch in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Das Subjekt ist vielmehr dem Diskurs, der es hervorbringt, nicht vorgeordnet – das wäre ja gerade der Beweis für seine Substanz und handlungsleitende Kraft –, sondern es lässt sich verstehen als Effekt dieses Diskurses. Gerade deswegen wird es nicht thematisiert, denn der didaktische Diskurs müsste sich selbst Schicht für Schicht abtragen, um dies möglich zu machen. Am Ende wäre nur noch die Selbstaufhebung zu beobachten. Funktionalität und Intentionalität müssen (und dürfen) nicht thematisiert werden, weil sie selbst die Regulative des didaktischen Wissens sind. Didaktisches Wissen steht stets in einem funktionalen Zusammenhang – deshalb hat es die Didaktik auch so schwer mit der Negativität ästhetischer Erfahrung – und es ist intentional ausgerichtet: Man muss angeben können, zu welchem Endzweck was wie aktualisiert wird. Funktionalität und Intentionalität sind diskursive Regulative, die, obwohl sie latent bleiben, sehr wohl eine Funktion haben, nämlich Kontingenz zu domestizieren.2 Gerade weil Vermittlung auf Aneignung nicht abbildbar ist (vgl. Helsper 2014, S. 204), muss der didaktische Diskurs, gewissermaßen gewaltsam, an seinen rationalistischen Prämissen festhalten. Das funktionale und intentionale Subjekt wird durch ein Wissen hervorgebracht, das jenes fordert. Und die Forderung ist selbst Effekt einer Abgrenzung, welche die Kohärenz des fachdidaktischen Wissens – nur ein kohärentes Wissen kann orientierend sei – in Schutz nimmt vor der chaotischen Unbestimmtheit und Offenheit der Praxis.3 Intentionalität und Funktionalität des fachdidaktischen Wissens sind also so gesehen nicht als bewusst gesetzte, im Sinne einer notwendigen pädagogischen Strategie frei gewählte Prämissen zu verstehen, sondern als Epiphä2 | Vgl. die Untersuchung von Nassehi/Saake (2002), die in der qualitativen empirischen Forschung eine methodisch geleitete Invisibilisierung von Kontingenz sehen; vgl. im pädagogischen Kontext poststrukturalistischer Interviewforschung ferner Jergus (2014). 3 | Breidenstein/Thompson (2014, S. 89) weisen mit Foucault darauf hin, dass »mit der Konstitution eines bestimmten Objektbereichs gleichzeitig ein bestimmtes Subjekt ausgebildet bzw. geformt wird.« So sei nach Foucault die Konstruktion des vernünftigen Subjekts im Zusammenhang der Beschäftigung mit den Eigenarten der Wahnsinnigen zu sehen. Die Literaturdidaktik, nach ihrem Selbstverständnis modern und in der Tradition der Aufklärung stehend, hat sich diese Provokation kaum je bewusst gemacht; vgl. jedoch Fingerhut (1988) und Förster (1993, 1998, 2000).
II. Das didaktische Subjekt
nomene eines ›Willens zur Macht‹, der die Geltung von Aussagen absichert, um nicht deren Wahrheitswert und damit Relevanz in Frage stellen zu müssen. Das gilt mutatis mutandis auch für die Konstruktion des Schülers, der, den nicht explizit thematisierten, aber hochgradig wirksamen Subjekt-Prämissen entsprechend, als abstraktes, transzendentales Subjekt konzeptualisiert wird, das sich intentional funktionales Wissen erschließt (vgl. dazu bereits Fingerhut 1988, S. 5). Der mit hohem personellem, ökonomischem und rhetorischem Aufwand betriebene Umbau der Fachdidaktik Deutsch zu einer modernen, empirisch forschenden Disziplin, die ihre Relevanz dadurch unter Beweis stellt, dass sie Handlungswissen zu generieren im Stande ist, kann die unverzichtbaren, aber notwendig Widersprüche generierenden metaphysischen Prägungen nicht aus der Welt schaffen. All die empirischen Daten werden letztlich doch wieder auf die Tätigkeit eines abstrakten, intentionalen und funktionalen Subjekts hochgerechnet. Und dadurch entsteht eine Kluft zwischen dem metaphysischen Begehren dieser Wissenschaft und den Daten, die sie permanent produziert. Kaum stellt man die Beobachtung neu ein, entstehen weitere Differenzen, denn das in den Modellen zu Grunde gelegte Subjekt wird letztlich nie mit sich selbst identisch.4 Es übt auf die Forschungen eine gravitative Kraft aus und stößt die erzielten Ergebnisse zugleich wieder ab. Das bürgerliche Subjekt geistert als epistemologisches Gespenst durch die Berechnungen der Forscher und verhindert, dass diese jemals eine befriedigende Erklärung finden. Aleida Assmann notiert: »Die kulturelle Norm des bürgerlichen Subjekts als eines handlungsmächtigen, selbstbestimmten, selbstbewussten und sich selbst schaffenden Individuums mag in der Praxis weiterhin bestehen; im Diskurs der Literaturtheorien wurden ihre Grundlagen seit den 1970er Jahren allerdings stark erschüttert [Hervorhebung im Original, M.B.]. Marxistische Stimmen entlarvten das bürgerliche Subjekt als eine ideologische Formation. Psychoanalytische Stimmen führten den Nachweis von der Brüchigkeit eines Ego, das nicht Herr ist im eigenen Hause, postkoloniale Stimmen entwickelten aus der Perspektive der Ausgegrenzten, Beherrschten und Subalternen neue Fragen zum Problem der Handlungsmacht (agency). Hinzu kamen dekonstruktive Impulse, die mit der Anti-Norm der fragmentierten Persönlichkeit und der Gegen-Ästhetik des schizophrenen Textes alle Ideale der Einheit und Ganzheit nachhaltig in Frage stellten.« (Assmann 2008, S. 216) 4 | So legt Christine Garbe (2013, S. 27) ihrem Modell von Lesekompetenz ohne weitere Begründung als Ausgangs- und Zielpunkt das »gesellschaftlich handlungsfähige Subjekt« zu Grunde. Damit wird außerdem prätendiert, dass ›Gesellschaft‹ als funktionales und kohärentes Ganzes zu begreifen ist, in das man sich nur einzugliedern braucht. Zur gesellschaftstheoretischen Indifferenz der Fachdidaktik Deutsch später mehr.
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Assmanns Aufzählung führt dem Leser kaleidoskopartig vor Augen, dass die epistemologische Orientierung der Literaturdidaktik einher geht mit der Abkopplung von Diskursen, die theoretisch am Gegenstand Literatur arbeiten. Damit scheint ein Wissen nutzbar zu werden, das sich verträgt mit der Doktrin der Lehr- und Lernbarkeit von Literatur. Die letztlich auf kybernetische Annahmen zurückgehende Kognitionswissenschaft z.B. begreift Lernen als permanente, steuerbare Steigerung von Systemzuständen und damit als sich selbst voraussetzende Form der Systemoptimierung. Das Subjekt ist zwar offen für die Einspeisung theoretisch unendlich reicher Information, wird durch diese jedoch nie aus der Bahn geworfen. Funktionalität und Intentionalität bleiben gewissermaßen metaphysisch gesetzt. Unter Umständen läuft dies auf eine affirmative Endlosschleife hinaus, die den Eintritt in den Kreislauf des Systems bereits als Erfolgsgarantie ansieht. Dem eignet ein deterministischer Grundzug. So fällt bereits auf der stilistischen Ebene von Jürgen Grzeziks viel zitierter Studie zum Textverstehen (Grzezisk 2005) die Omnipräsenz des Wortes ›müssen‹ auf. Es wird, grob geschätzt, tausend Mal verwendet; ferner sind die Kapitelüberschriften in der Form kanonischer Lehrsätze gehalten, welche die finale Bestimmung des Gegenstands voraussetzen. Das verstehende Gehirn erscheint als Maschine, dessen Ressourcen zu nutzen sind. Textverstehen wird als stets lernbar begriffen, ebnet die Differenz von Sprache und dinglicher Welt ein und führt so zu einer Instrumentalisierung und Naturalisierung des Weltbezugs: »Sobald und soweit Textverstehen optimal entwickelt ist, fungiert dieses mentale System wie ein natürliches Organ der Welterfassung.« (Grzesik 2005, S. 27) Man muss nur die in diesem Buch vorgestellten Operationen erlernen. Denn die Operationen sind das Entscheidende; den Text bekommt man immer in den Griff. Den geeigneten Zugriff vorausgesetzt, löst sich der Widerstand der Sprache auf.5 Man kann sich des Gefühls der Unheimlichkeit einer Welt, in der optimierte Gehirne alles auf den Modus ihrer Programmierung gebracht haben, nicht erwehren. Kein Zögern mehr, kein Zweifel, keine Ambivalenz. Das selbstbestimmte bürgerliche Subjekt verbindet sich mit der Phantasie des perfekt verstehenden Textroboters. Und es verschwindet – dies ist entscheidend für die Literaturdidaktik – der Widerstand des Reflexionsmediums Literatur, das nun gänzlich in Information aufgeht. Aus den Ruinen des bürgerlichen Subjektbe5 | Es wird zu zeigen sein, wie, unter der Ägide kognitionswissenschaftlicher Modelle, literaturwissenschaftliches Restwissen in der Literaturdidaktik kleingerechnet und kompakt anwendbar gemacht wird. Dabei ereignet sich ein Umschlag ins Normative: Während z.B. ein bestimmtes Modell der Metapher bestimmte Aspekte derselben zu erklären versucht, werden die Elemente dieses Modell in der literaturdidaktischen Applikation zum normativen Horizont des Textverstehens, der curricular zu operationalisieren ist.
II. Das didaktische Subjekt
griffs wird eine inhaltlich indifferente Antriebsmaschine konstruiert, welche die Energie liefert, um die verschiedenen Teiloperationen des Textverstehens durchzuführen und aufeinander zu beziehen. Da jedoch Systemsteigerung der einzige Imperativ ist, bleibt es unklar oder ist es sogar unwichtig, welche Texte warum gelesen werden könnten. Die Maschine frisst, was man ihr zum Fraße vorwirft. Die Metapher der ›Verarbeitung‹ von symbolisch codierten Einheiten macht dies deutlich. Jene soll möglich sein, weil die im Bewusstsein repräsentierten Einheiten zu Situationsmodellen verbunden werden, die Kontextualisierung und so auch Verstehen ermöglichen (vgl. Kintsch 1994, S. 41; dazu Baum 2013, S. 115-117). Damit ist die kohärente Repräsentation von Welt im Bewusstsein theoretisch immer schon vorausgesetzt.6 Das Phantasma eines Menschen, der, weil er die Sprache beherrscht, die ja in seinem Bewusstsein repräsentiert und folglich nie ein ungelöstes Rätsel, ein komplexe Herausforderung o.ä. ist, auch die Welt gewissermaßen im Griff hat. Das setzt wiederum voraus, dass die formale Seite der Sprache nur als unkomplizierte Durchgangsstation auf dem Weg zum Repräsentierten aufgefasst wird. Ein ständiger Aufschub von Referenz durch intensive Arbeit der Form, die gebildete Einheiten immer wieder auf brechen kann, ist nicht vorgesehen. Kintsch selbst hat dieses Problem, das den Begriff der Literatur betrifft, klar erkannt. Er verweist darauf, dass im Falle der Literatur »die Oberflächenstruktur selbst als in verschiedene Ebenen aufgebrochen« gedacht werden müsse (Kintsch 1994, S. 45). Ein Gedicht kann wohl kaum in die abstrakte Form eines Situationsmodells gebracht werden. Diejenigen Spielarten von Literaturdidaktik, welche noch mehr oder minder deutlich an der Fortschreibung des von Assmann so genannten bürgerlichen Subjektbegriffs partizipieren, heben implizit auf Autonomie und Intentionalität ab; das autonome Subjekt ist zugleich das ästhetische und umgekehrt. Außerdem spielen pädagogische Erwartungen an Aufgeschlossenheit und Verantwortlichkeit mit hinein (vgl. z.B. Abraham 2000, Spinner 2004). Wir haben es mit einem Subjekt zu tun, das sich interpretierend-verstehend und verantwortlich-handelnd die Welt erschließt. Solche Töne erklingen in kognitionspsychologisch ausgerichteten Untersuchungen nur noch sehr leise. Zu denken ist in diesem Zusammenhang eher an ein kannibalistisches Subjekt, das theoretisch die ganze Welt in sich hineinfressen und verarbeiten kann. Die hallizunatorische Integrität des einzelnen Subjekts als Quelle des Sinns und Träger der Handlung steigert sich zur wahnhaften Konstruktion eines Megasubjekts, das auch alle anderen denkbaren Subjekte in sich aufgenommen und reorganisiert hat. Wird ein solcher Subjektbegriff empirischen Unter6 | Insofern hat die Kognitionspsychologie im Sinne der Dekonstruktion Jacques Derridas Teil an der Metaphysik der Präsenz. Im Vergleich dazu stellt die Annahme einer unendlichen Vermittlung von Zeichen, Interpretant und Objekt in der Semiotik von Charles Sanders Peirce ein komplexeres Modell der Repräsentation dar.
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suchungen im pädagogischen Feld zu Grunde gelegt, das heißt als Maßstab auf konkrete Subjekte angewendet, läuft das in der Regel auf die statistische Beschreibung der vorgefundenen Imperfektibilitätstypen hinaus. Auf irgendeiner Stufe des Nichtkönnens wird sich jeder wiederfinden. In literaturdidaktischen Untersuchungen werden die Texte häufig durchaus mit Bedacht gewählt und die Deutungen der Ergebnisse sind in der Praxis nicht so rigide wie die theoretische Vorgabe – an der grundsätzlichen Logik eines Diskurses, der fragt, wie weit denn die Subjekte beim verlangten Kompetenzerwerb gekommen sind, ob man weitere Maßnahmen benötigt, wie die Sache im Vergleich aussieht, wo die Aufsteiger und wo die Absteiger sind, ändert das jedoch nichts. Diese Untersuchungs- und Feststellungspraktiken werden aufrecht erhalten, obwohl die Nicht-Formalisierbarkeit des literarischen Mediums, das sich nur in verzweigten Prozessen von Lektürepraktiken überhaupt bildet, eine Skalierung von Kompetenzen literarischer Lektüre letztlich unmöglich macht. Der kognitionswissenschaftliche Begriff von Text als Repräsentation, Lektüre als Symbolverarbeitung und Verstehen als Konstruktion von Situationsmodellen adressiert nicht mehr ein Subjekt, welches daraus ein ›Handlungswissen‹ zu seiner Orientierung gewinnen könnte. Der epistemologische Bruch zwischen der Rezeption postmoderner Literaturtheorien und der Neuerfindung als empirisch forschende Disziplin um das Jahr 2000 hat die selbstreferentielle Schließung der Fachdidaktik befördert, indem die leitende Opposition nun nicht mehr Theorie vs. Praxis, sondern Theorie vs. Empirie heißt. Das spekulative Erbe scheint ausgemerzt und durch strenge Methodologie abgelöst worden zu sein; zugleich wird diese ›Professionalisierung‹ in zeittypischer Rhetorik als Überlebensfrage angesehen.7 Vorbei die Zeit verdünnter TheorieApplikationen und handlungstheoretischer Subjekt-Emphase. Es geht nicht mehr darum, Subjekte zu bilden, sondern Wissensauf bau zu konditionieren – bei gleichzeitigem Überleben notwendiger Subjekt-Fiktionen. Das Subjekt ist nicht mehr das explizite Ziel der Bemühungen, sondern das implizite Regulativ des didaktischen Wissens. Das hat Widerstand ausgelöst sogar bei denjenigen Akteuren, die sich sehr wohl als empirisch forschende, an der Verbesserung von Institutionen interessierte Wissenschaftler sehen, jedoch weder die kognitionswissenschaftliche Umprogrammierung von Empirie noch die Verengung der Gehalte von Bildung auf überprüf bare Kompetenzen noch die 7 | Frederking (2014) fordert den Umbau der Literaturdidaktik zu einer transdisziplinären empirisch forschenden Wissenschaft und macht davon ihr Überleben abhängig. Es klingt das Mantra des neoliberalen Wissenschaftsverständnisses durch: Nur ein bestimmter Forschungsstil generiert Geld im Rahmen von Großprojekten, deswegen kann perspektivisch nur dieser Forschungsstil überleben. Wem das nicht passt, der mache sich auf die Isolation gefasst.
II. Das didaktische Subjekt
Aufgabe eines vormodernen, aber praktisch notwendigen Handlungsbegriffs mitmachen wollen.8 Die Bestimmung von Bredel/Pieper, dass es die Aufgabe von Deutschdidaktik sei, orientierendes Handlungswissen als Grundlage der Möglichkeit des Gelingens von Unterricht zu erarbeiten, hat, noch einmal betrachtet, zwei Vorteile: Erstens verschweigen die Verfasserinnen nicht, worum es in der Fachdidaktik ihrer Auffassung nach gehen soll; solche Transparenz macht eine kritische Auseinandersetzung (zum Beispiel mit dem inhärenten Subjektbegriff) möglich. Zweitens werden sie der Funktion von Fachdidaktik als Wissenschaft mit besonderem Bezug zum Praxisfeld Schule gerecht. Die ganz überwiegende Zahl akademischer Lehrveranstaltungen zur germanistischen Fachdidaktik dürfte, trotz aller ›Professionalisierung‹ und selbstreferentieller Schließung der Disziplin im theoretischen Diskurs9, die Annahme teilen, dass die Deutschdidaktik funktionales Wissen erarbeitet, welches von intentionalen Subjekten anzuwenden ist. In anderen Worten: Der fachdidaktischen Diskurs muss auf Kausalitäten rekurrieren, um die Rede vom Handlungswissen rechtfertigen zu können. Weil intentionale Subjekte mit geeignetem Wissen planen, unterrichten und reflektieren, besteht eine Aussicht darauf, dass ihr Handeln erfolgreich ist. Solches Kausalitätsdenken ist auf allen Ebenen des didaktischen Diskurses auszumachen. In der theoretischen Arbeit handelt es sich um eine selten explizit ausgedrückte Form der Argumentation. Wenn es um Unterricht in der Schule geht, tritt das Phänomen deutlicher hervor. Die von Anfängern verlangten Stundenentwürfe sind letztlich nichts anderes als waghalsige Ableitungsketten, die auf der Annahme beruhen, dass vernünftige Planung wahrscheinlich auch vernünftigen Unterricht ergibt. Die oben benutzte Formulierung, dass das Gelingen die Vermittlung von Wahrheit und Handeln im metaphysischen Denkstil darstellt, wird in diesem Zusammenhang beobachtbar. Weil das Gelingen gedacht bzw. diskursiv inszeniert werden kann, soll es sich auch ereignen können. Mit dem Glauben an das Subjekt verbindet sich der Glaube an die Kausalität und beide verschmelzen in einem Denken, das kein Draußen mehr zu kennen scheint. Nietzsches Bemerkung aus Jenseits von Gut und Böse, »dass ein Gedanke kommt, wenn ›er‹ will, und nicht wenn ›ich‹ will« (Nietzsche 1999, S. 31), setzt sich kritisch ab von der Vorstellung, dass das Bewusstsein Sprache und Denken kontrollieren und leiten kann. Der Gedanke lässt sich aus dieser Per8 | Vgl. Spinner (2005), Wintersteiner (2011), Bredel (2014); zur Diskussion im Anschluss an die Rede von Werner Wintersteiner auf dem Symposion Deutschdidaktik 2010 vgl. Baum (2014). 9 | Man vergleiche z.B. den Wandel der Zeitschrift Didaktik Deutsch, die von Lehrern nicht gelesen wird und auch in der zweiten Ausbildungsphase keine Rolle spielt.
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spektive nicht mehr als gewissermaßen bewerkstelligt durch eine Intention begreifen. Vielmehr ereignen sich Sprache und Denken im Modus der Performativität und dieser zeichnet sich gerade dadurch aus, dass die Ursachen unseres denkenden Handelns und handelnden Denkens nicht im Vorhinein vollumfänglich bestimmt und reflektiert werden können. Für die Fachdidaktik würde dies bedeuten, dass mit einem ständigen Entzug von Bedeutung und Selbstpräsenz des Bewusstseins zu rechnen ist.10 Die Vorstellung, dass rational handelnde Subjekte intentional am Bildungsfortschritt arbeiten, würde brüchig werden. Kontingenz und Kohärenz von Bewusstsein, Sprache und Handeln stünden in einem ständigen, komplizierten Zusammenhang. Das Unbewusste hätte daran seinen Anteil; ebenso die Doppelnatur der Sprache als Mittel der Verständigung und Medium der Verschiebung von Bedeutung; ferner die Implikationen von Macht im öffentlich Raum und in den Subjekten selbst. Kausalität wäre so gesehen nur eine diskursive Konstruktion, um die notwendigen metaphysischen Gleichungen weiter aufgehen zu lassen bzw. die Lehrbarkeit des Handlungswissens nicht zu unterminieren. Heinrich von Kleist hat die Gelingensbedingungen sprachlichen Handelns gerade in denjenigen Kontingenzen gesehen, die das Subjekt sich nicht unterwerfen kann. Er vergleicht in seinem Essay Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden die Dynamik der Rede des Grafen Mirabeau in der Nationalversammlung zu Paris mit den Ent- und Aufladungsprozessen im Bereich der Elektrizität. Der Auslöser des gesamten Vorgangs mag vollkommen zufällig gewesen sein: »Vielleicht, daß es auf diese Art zuletzt das Zucken einer Oberlippe war, oder ein zweideutiges Spiel an der Manschette, was in Frankreich den Umsturz der Ordnung der Dinge bewirkte.« (Kleist 1990, S. 537) Demgegenüber erscheint Kleist die Vorstellung, dass die leitenden Gedanken qua Planung schon vor der Rede festgelegt wurden, nachgerade als Garantie des Misslingens: »Etwas ganz Anderes ist es wenn der Geist schon, vor aller Rede, mit dem Gedanken fertig ist. Denn dann muß er bei seiner bloßen Ausdrückung zurückbleiben, und dies Geschäft, weit entfernt ihn zu erregen, hat vielmehr keine andere Wirkung, als ihn von seiner Erregung abzuspannen.« (Kleist 1990, S. 538)
Wenn der fertige Gedanke die Rede misslingen lässt, dann kann nur der unfertige, also selbst noch nicht gelungene Gedanke die Rede gelingen lassen. 10 | Wrana (2014, S. 179) sieht mit Bezug auf Derridas Konzept der différance »die Notwendigkeit eines permanenten Neueinsetzens der Praxis, eine Verschiebung, die die Praxis sich selbst entzieht.« Das Praxisfeld erachtet er als »überdeterminiert« (ebd.), weil die sozialen, psychischen und sprachlichen Kräfte nicht von einem archimedischen Punkt aus beobachtet oder gar gebündelt (kontrolliert) werden können.
II. Das didaktische Subjekt
Denn nur dieser unfertige Gedanke kann aufgrund seiner produktiven Unbestimmtheit offen bleiben für die leiblichen, sprachlichen und sozialen Energien der Situation. Darauf lässt sich, in scheinbarem Wissen um die Unberechenbarkeit praktischer Situationen, antworten, dass es selbstverständlich ist, fachliches Wissen flexibel, das heißt: situationsangepasst, zu verwenden. Niemand, so die mögliche Gegenrede, geht davon aus, dass sich Wissen zielgerecht und in gleicher Form wiederholbar ›anwenden‹ lässt. In der rekurrenten Forderung nach Flexibilität kommt folglich jenes Wissen um den unmöglichen Durchgriff auf die praktische Ebene zum Ausdruck. Entscheidend ist nun aber, dass Flexibilität, oder, um bei der bisherigen Sprachregelung zu bleiben: Umgehen mit Kontingenz, genau auf diese Art und Weise aus der theoretischen Arbeit entlassen werden kann. Invisibilisierung von Kontingenz zum Zwecke der Aufrechterhaltung eines auf Funktionalität zielenden Wissens gelingt, indem jene als zu erwartende Flexibilität in den Bereich der Praxis verschoben wird. Das didaktische Subjekt hat also nicht nur rational, funktional und intentional zu handeln (und dies in der Regel gegen die eigenen Erfahrungen und Dispositionen), es hat auch noch flexibel zu sein. Nicht umsonst ist der Riss zwischen Flexibilität und Zielorientiertheit ein Dauerthema in beobachteten und beurteilten Stunden. Der Anfänger weiß nie, wann er sich wie verhalten soll, weil der Diskurs, um machtvoll bleiben zu können, diese Grenze permanent verschleiert. Die Forderung nach Flexibilität läuft auf eine Euphemisierung von diskursiver Kontingenz hinaus. Die Subjekte jedoch erfahren diese Kontingenz und reagieren darauf bisweilen mit der Delegitimierung der an sie gestellten Ansprüche. Jacques Derrida hat sich in seinem Buch Politik der Freundschaft u.a. mit Montaignes Essay über die Freundschaft auseinandergesetzt. Er geht gleich zu Beginn auf den Aristoteles zugeschrieben Satz ›Freunde, es gibt keine Freunde‹ und die damit verbundenen Paradoxien ein. Die erste dieser Paradoxien ließe sich vielleicht als ein Oszillieren zwischen konstativer und performativer Rede bezeichnen, die sich nicht stillstellen lässt. Auf der einen Seite spricht eine Stimme, welche die Freunde anruft, sich leibhaftig an sie wendet. Auf der anderen Seite wird eine philosophische Erkenntnis mitgeteilt. Und genau darin liegt der Grund der paradoxen Aussage. In den Worten Derridas: »Den Feind […] kann ich rufen. Den Freund auch. Ich kann prinzipiell zu beiden sprechen. Aber zu ihnen sprechen und von ihnen sprechen, das ist zweierlei und dazwischen liegen Welten.« (Derrida 2000, S. 232)
Das Subjekt kann sich also der performativen Differenz nicht erwehren. Denn als Freundesrede drängen die Worte auf Authentizität, als philosophische Rede hingegen basieren sie auf analytischer Negativität. Es gibt keine Freunde und
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es gibt sie zweifellos doch. Die referentielle Illusion der Sprache wird aufgedeckt, indem die Aussage nur insofern referieren kann, als sie zugleich nicht referieren kann. Die Differenz zwischen einem Zu-jemanden-Sprechen und einem Von-jemanden-Sprechen lässt sich auf die kategoriale Differenz zwischen Handlungswissen und Handlungsgelingen übertragen. Nur der genuin metaphysische Diskurs kann im Gelingen die Vermittlung von Wahrheit und Handeln sehen. Der planende und reflektierende Lehrer sieht sich aufgrund der Überdeterminiertheit von Praxis immer wieder in diese Differenz geworfen. In der Anrede zerbricht die Kohärenz des Planungswissens. Von Schülern zu sprechen, ist etwas anderes, als zu ihnen zu sprechen. Von Literatur zu sprechen (Unterricht/Vermittlung), ist etwas anderes, als mit Literatur zu sprechen (Lektüre).11 Der Andere (Schüler) und das Andere (Literatur) sind immer schon mehr als ich verstehen und bewältigen kann. Und genau darin, in dieser Überforderung, liegen die Möglichkeiten des Unterrichts als unmögliche Möglichkeiten. »Der Vorgriff auf die Zukunft ist nur in Gestalt der absoluten Gefahr möglich« (Derrida 1974, S. 15) und deswegen ist das Handlungswissen ein fragiles, von Kontingenzen gezeichnetes Konstrukt. Das Subjekt weiß, dass es dieses Wissen hat, aber es fühlt sich keineswegs sicher damit. Wäre dieses Wissen sicher, wären Freiheit und Entwicklung nur noch sehr bedingt möglich. Wie könnte sich dann, im strengen Sinne des Wortes, etwas ereignen? – Ein Wissen, das so stabil wäre, dass es die Gestalt eines apriorischen Satzes annehmen könnte – in der Didaktik kursieren z.B. Formulierungen wie ›didaktisches Prinzip‹ –, würde verheißen, dass es die Praxis von innen her erklären und verständlich machen könnte und doch bleibt solches Wissen eine Fiktion, denn es gibt keinen sicheren Weg von einem apriorischen Satz zu den empirischen Tatsachen (vgl. Derrida 1974, S. 190). Die damit zusammenhängende Unsicherheit des Subjekts gilt es zu akzeptieren und zu begrüßen – als die im Pädagogischen liegende Möglichkeit selbst. Die performative Differenz ist eine Figur der Öffnung des Subjekts, das von unzumutbaren Zuschreibungen befreit wird. Das gesellschaftlich handlungsfähige Subjekt – darauf wurde bereits anhand eines Textes von Christine Garbe kurz hingewiesen – ist Ausgangs- und Zielpunkt didaktischer Diskurse. Es ist nicht schwer zu sehen, dass dadurch eine paradoxe Konstellation entsteht. Denn einerseits geht es um die »Integrität eines sozialen und historischen Subjekts« (de Man 1987, S. 85) und andererseits um die Struktur der literarischen Sprache. Die Versuche, das Eine auf das 11 | Dem entgeht nur, wer die Gültigkeit und Effektivität allgemeiner Verständigungsregeln annimmt, welche die Differenz der Sprech- und Schreibarten aufhebt; vgl. Hamacher (1998, S. 151). Der Verf. bezieht sich in seinem Text auf Grundprobleme der Literaturwissenschaft – ein Indiz dafür, dass die hier verhandelten Probleme, wie zu Beginn kurz thematisiert, nicht nur auf die Literaturdidaktik zutreffen.
II. Das didaktische Subjekt
Andere abzubilden, sind entweder in der Literaturdidaktik nicht mehr vertretbar (Bildungsidee) oder sie scheitern, weil die literarische Sprache nur um den Preis ihrer Verleugnung in das Subjekt eingeschrieben werden kann (Kompetenzbeschreibung als didaktisches Kerngeschäft). Versinkt das didaktische Subjekt in der ästhetischen Erfahrung, ist es kein didaktisches mehr und geht es ganz in der Konstruktion seiner Strategie auf, verfehlt es den Gegenstand. Der Widerspruch zwischen Subjekt und Objekt im didaktischen Diskurs kann hier nicht weiter vertieft werden; er wird später noch eine große Rolle spielen, wenn es um die Paradoxien im Diskurs der Literaturdidaktik geht. Vorerst genügt es festzuhalten, dass das didaktische Subjekt nicht nur in eine aktive und passive sowie konstative und performative Seite gespalten ist, sondern auch in eine Seite, die sich selbst (den Subjekterwartungen) und eine, die dem Objekt (Literatur) zugewandt ist. Zwei Zitate, fast dreißig Jahre auseinander liegend, mögen das verdeutlichen. 1966 notiert Hermann Helmers in seiner Didaktik der deutschen Sprache, dass es ihm um die »Befähigung aller Deutschlehrer zum kritischsystematischen Durchschauen ihrer beruflichen Tätigkeit« sowie um deren »effektive und reflektierte Ausübung« zu tun ist (Helmers 1997, S. 9). Die Leistung dieser Bestimmung liegt darin, den Lehrer nicht nur als Vollzugsbeamten des Staates zu sehen, sondern als selbständig denkende und handelnde Person mit einer Verantwortung, die ihm niemand abnehmen kann. Es geht gewissermaßen um die ›Integrität eines historischen und sozialen Subjekts‹ (de Man). Zugleich entstehen jedoch die Spaltungen zwischen aktiver und passiver, intentionaler und gelehriger Seite dieses Subjekts. Denn der kritisch-systematische Durchblick wird dem Subjekt auf eine bestimmte Art und Weise beigebracht werden und die Zeitläufigkeit der Formulierung lässt den Leser heute erkennen, nach welchen Mustern des Denkens und Handelns dies geschehen ist. Es wird dadurch ein Feld von Differenzen und Widersprüchen eröffnet, die es letztlich vielleicht ermöglichen, dass das ›kritisch-systematische Durchschauen‹ auch auf diejenigen Instanzen angewendet wird, die einen genau dazu bringen wollen. Solange das Subjekt als selbst außerhalb der Macht und der Sprache stehend gedacht wird, kommt es zu einer Art transzendentalen Überforderung, die sich empirisch als Befremdung auswirken könnte.12 Fast dreißig Jahre später macht sich Karlheinz Fingerhut Gedanken über das Problem, welchen Lernfortschritt man durch Einsatz postmoderner Lektüreformen im Deutschunterricht erzielen kann.13 Seine erste Hypothese: 12 | Vgl. auch Thompson (2014, S. 13), die von einem »klassischen Subjekt- und Kritikverständnis« dann spricht, wenn »das Subjekt in sicherer Distanz gegenüber Machtverhältnissen situiert wird.« 13 | Vgl. Fingerhut (1995). Nach meiner Analyse (vgl. Baum 2010) läuft dieser Versuch der Aktualisierung postmoderner Literaturtheorie, da er gegen die leitende Doktrin des
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»Das ist möglich, wenn ›erlebt‹ werden kann, daß mehr und besser verstehen, mit der möglichen sinnkritischen Dimension literarischer Texte umgehen zu können, ein Zugewinn an Selbständigkeit auch gegenüber den Instanzen bedeutet, die in dies Verstehen einüben.« (Fingerhut 1995, S. 41) Hier ist die Wendung zur Selbstkritik, die bei Helmers noch fehlt, gelungen. Das Subjekt soll gleichsam lernen, sich gegen seine Erfinder zu wenden. Zugleich ist der Formulierung ein Fortschrittsdenken eingeschrieben, denn es geht nicht um ein differenzierteres, sondern um ein umfangreicheres und besseres Verstehen. (Das hermeneutische Vokabular wird beibehalten.) Neben den allgemeinen, nur auf das Subjekt zielenden Erwartungen werden in diesem Zusammenhang auch die dem Objekt zugewandten Erwartungen aktualisiert. Man könnte sagen: Die Einschreibung des postmodernen Wissens über Literatur soll zu einer Steigerung von Subjektivität führen – nicht zu deren Dezentrierung, wie zu erwarten gewesen wäre. Sperrt sich das Objekt – sogar das selbst Gewählte!14 – gegen die Subjektprämissen, fällt es sozusagen aus dem didaktischen Diskurs heraus: »Die rigorose Negationsbeziehung zwischen erster und zweiter Bedeutung, von der Paul de Man ausgeht, ist für die Integration der dekonstruktiven Lektürepraxis in den Unterricht eher hinderlich als förderlich.« (Ebd., S. 46) Man darf durchaus fragen: warum? – Letztlich landet die Integration der dekonstruktiven Lektüreoperation in den Literaturunterricht bei der Konstruktion eines starken, autonomen Subjekts, das als Meisterleser in der Lage ist, inkompetente Lektüre zu falsifizieren: »Während andere Leser hier fremde Erlebnisse nachempfinden möchten, erkenne ich, daß es sich um die Täuschung und Irreführung dieses Begehrens handelt.« (Ebd., S. 55) Obwohl also Helmers und Fingerhut an unterschiedlichen Punkten ansetzen, laufen ihre Untersuchungen auf die Konstruktion eines autonomen Subjekts hinaus, das aus eigenem Vermögen heraus imstande ist, Handeln gelingen zu lassen. Diese Vorstellung verlangt nach weiterer philosophischer Analyse und Kritik. Wie konnte es überhaupt so weit kommen, dass ein Diskurs sich in der Lage sieht, ›Gelingensbedingungen‹ für individuelles Handeln in je spezifischen Situationen zu formulieren?
Diskurses verstößt, auf das Gegenteil, die Invisibilisierung von Theorie, hinaus. Das hat gelegentlich Zustimmung gefunden (vgl. Wintersteiner 2011), aber auch entschiedenen Widerstand (vgl. Kammler 2011a und b); vgl. zu dieser Diskussion ferner Baum (2012 und 2014). 14 | Fingerhut bezieht sich im Untertitel seines Aufsatzes explizit auf de Mans Konzept der doppelten Lektüre; allerdings ohne sich damit auseinanderzusetzen. Es handelt sich um eine eigenständige, aber auch nicht unproblematische Applikation (vgl. dazu ausführlich Baum 2010).
II. Das didaktische Subjekt
Christoph Menke zeigt in seinem Aufsatz Subjektivität und Gelingen: Adorno – Derrida (Menke 2008), dass die Aufklärung nicht ohne eine affirmative Theorie der Macht des Subjekts auskommen kann: »Die Aufklärung versteht Subjektivität als die Macht normativen Gelingens – als die Fähigkeit, Vollzüge gelingen lassen zu können. Der Name dieser Fähigkeit oder Macht des Gelingenlassens ist ›Vernunft‹.« (Ebd., S. 190)
An dieser Metaphysik des Gelingens und der normativen Kraft des Subjekts hat die Literaturdidaktik ihren Anteil. Die Einrichtung des staatlichen Schulwesens und die allgemeine Alphabetisierung sind zu betrachten im Zusammenhang mit dem Projekt der Aufklärung, das die Subjekte zur Selbstbestimmung autorisierte und zugleich diskursiv ausarbeitete, was selbstbestimmte Subjektivität denn genau zu heißen hat.15 Ermächtigung und Depotenzierung des Subjekts sind auf komplizierte Weise ineinander verschlungen. Michael Wimmer verfolgt die Spuren des so entstandenen Widerspruchs bis in die Gegenwart, wenn er darauf aufmerksam macht, dass eine Autonomie des Subjekts kontrafaktisch unterstellt wird, »um faktisch von Anfang an einer Heteronomie als Einfluß, Ergreifung, Bestimmung, Platz zu machen.« (Wimmer 2006, S. 379) Ein Gelingen subjektiven Handelns lässt sich also allein deswegen nicht als Wiederholung angeeigneten Wissens begreifen, weil in dieses Wissen selbst bereits der Widerspruch zwischen Freiheit und Unfreiheit eingelagert ist. Insofern sieht insbesondere Adorno eine niemals aufhebbare Differenz zwischen »Kraft und Gelingen« (ebd., S. 191), zwischen den Fähigkeiten des Subjekts und dem Ideal, das es anstrebt. Der Riss verläuft also nicht nur zwischen subjektiver und objektiver Sphäre, sondern noch einmal durch das Subjekt hindurch, das die Spaltung zwischen subjektiver und objektiver Sphäre in sich wahrnimmt. Damit wird für Adorno auch jedes emphatische Abheben auf Individualität problematisch. In Gesetzeskraft untersucht Derrida die unaufhebbare Differenz zwischen Recht und Gerechtigkeit (vgl. Derrida 1991). Er lässt es nicht mit der Unterscheidung zwischen den Ebenen bewenden – etwa derart, dass zwischen dem materiellen Recht und dem Verlangen nach Gerechtigkeit unterschieden und zugleich eingestanden wird, dass das eine sich immer am Anderen zu orientieren hat. Eine solche Auffassung lässt ein Denken in Oppositionen letztlich unangetastet. Das Ermöglichende (das materielle Recht) bleibt vom Ermög15 | In diesem Zusammenhang sind Michel Foucaults genealogische Analysen der Macht zu sehen, insbesondere Überwachen und Strafen (Foucault 1994). Als Beispiel für die Verschränkung von Subjektivität und Macht nennt Foucault die Prüfung (vgl. S. 238ff.).
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lichten (der angestrebten Gerechtigkeit) kategorial getrennt. Derridas Denken der différance geht einen Schritt weiter: »Das Ermöglichende ist zugleich verunmöglichend.« (Ebd., S. 191) Das heißt: Der Versuch, die Unterscheidung von einer Seite aus zu kontrollieren, ist zum Scheitern verurteilt. Das Recht kann die Gerechtigkeit nicht sichern und die Gerechtigkeit als Idee kann sich nicht vollauf im Recht materialisieren; es bleibt stets ein unabgegoltener Rest. Das liegt bereits im diskursiven Charakter des Rechts begründet, dessen Differenz zur Idee der Gerechtigkeit im Zusammenhang dieser Arbeit an die Differenz zwischen Gelingensbedingungen und praktischem Gelingen erinnert. Menke stellt in seiner Interpretation der Rechtstheorie Derridas das Moment der Begründung im Unterschied zur Entscheidung heraus: »Auf der einen Seite ist das Recht das Ermöglichende der Gerechtigkeit, weil nur ein Entscheiden gerecht sein kann, das sich in Gründen absichert: ein Entscheiden also, das aus Gründen hervorgeht oder ableitbar ist. Die Gerechtigkeit einer Entscheidung ist aber aus den Gründen für die Entscheidung unableitbar; kein Grund kann die Gerechtigkeit der durch sie begründeten Entscheidung erzwingen oder sicherstellen.« (Ebd., S. 192)
Folglich ist es »immer möglich, dass eine Entscheidung gut begründet und doch nicht gerecht war.« (Ebd.) Die unendlich aufgeschobene Gerechtigkeit erzeugt also im materiellen Recht eine permanente Unruhe und umgekehrt kann die Idee der Gerechtigkeit nicht ohne Rechtsbegriffe formuliert werden. Zwischen pädagogischem Handeln und Recht ist eine gewisse Affinität gegeben, weil beide Sphären auf komplizierte Weise konstative und performative Momente integrieren müssen. Es geht um Texte, um Entscheidungen und um Gerechtigkeit. Der Lehrer kann durch die Mittel, mit denen er arbeitet, niemals dem Text oder dem Schüler gerecht werden. Manchmal rücken die verwendeten Mittel (Methoden) sogar das erstrebte Ziel ist noch größere Ferne. Doch zugleich können die Ziele nur durch den Einsatz bestimmter Mittel erreicht werden. Es ist möglich, gute Begründungen für eine Stunde zu liefern, die sowohl die Schüler als auch die Sache verfehlt hat. Theoretisch kommt es zu einem unendlichen Aufschub gerechten didaktischen Handelns in dessen formulierter Theorie und zu einer stetigen Verschiebung dieser Theorie im Handeln. »Das Denken muss mehr leisten als es kann, um zu gelingen.« (Ebd. S. 193) Oder nochmals in anderen Worten: »Die Aporie, in die Dekonstruktion und Negative Dialektik führen, besteht darin, dass Gelingen durch Können nicht ermöglicht werden kann, aber auch nur durch Können ermöglicht werden kann.« (Ebd., S. 195)16 16 | In deutschdidaktischen Diskursen ist die Unterscheidung von Wissen und Können geläufig. Bredel/Pieper markieren die damit zusammenhängenden Probleme als un-
II. Das didaktische Subjekt
Ausgangspunkt unserer Überlegungen war, dass das Gelingen die Verbindung von Wissen und Handeln im metaphysischen Denkstil darstellt. Christoph Menke kann zeigen, dass die Vorstellung, ein Subjekt könne aus eigener Macht Vollzüge gelingen lassen, mit einer affirmativen Theorie der Macht des Subjekts im Diskurs der Aufklärung ursprünglich zusammenhängt. Allerdings ist in der Praxis der Glaube an ein mögliches Gelingen eine notwendige Fiktion (ebd., S. 196). Ohne Hoffnung auf ein Gelingen kann eine praktische Situation von einiger Bedeutung nicht angegangen werden. Das Subjekt versetzt sich illusionär in eine gelingende Situation und stabilisiert damit sozusagen seinen Systemzustand. Doch indem ein Glaube an das Gelingen ohne Inszenierung, Fiktionalität nicht auskommt, kann ihm auch etwas Gespenstisches eignen. Die Wunschbilder stiften Vertrautheit und Fremdheit zugleich mit der Situation, die gelingen soll; der Sturz in die innere Unendlichkeit kann sich ebenso ereignen wie die rekursiv stabilisierte Hoffnung. Das Wunschbild kompensiert einen Mangel des Subjekts, das weiß, dass es über die Situation als Ganze nicht wird verfügen können. »Dass mir etwas gelingt, ist niemals ganz mein Verdienst, weil es stets darauf angewiesen bleibt, dass ich Glück gehabt habe.« (Ebd. S. 197) Der Vernünftige ist stets zugleich ein Glaubender und Hoffender und deswegen bleibt das Gelingen im Kommen (vgl. Derrida 1991, S. 56 und Menke 2008, S. 198). Ohne dieses Nicht-Wissen um den Weg zum Gelingen kann es in der Praxis gar kein Gelingen geben. Die Nichtzugelöst. Diese offene Perspektive ist einem scholastischen Kategorisieren von unzähligen Wissenstypen unbedingt vorzuziehen: »Inwiefern und unter welchen Bedingungen Wissen in Können integriert wird bzw. werden kann, ist eine sprach- und literaturdidaktisch hochrelevante Frage, deren Beantwortung jedoch bislang aussteht.« (Bredel/ Pieper 2015, S. 262) Die Dekonstruktion der Unterscheidung von Bredel/Pieper hängt mit der Frage zusammen, ob es möglich ist, die beiden Wissenstypen als getrennt und zugleich integrierbar zu betrachten. Ferner ist zu überlegen, ob Können nur vom Wissen aus beschrieben werden kann oder auch umgekehrt (als Wissen, das sich aus einem Können bildet); ob also der Vorrang des Begriffs vor der Handlung Ausweis einer logozentrischen Denkstruktur ist. Denn es erscheint plausibel, dass das durch ein Können gegangene Wissen nicht mehr dieses Wissen ist. Man kann hier an das Schachspiel denken: Jenseits der basalen Regeln gibt es ein Wissen, das schwer formalisierbar und wegen der Singularität der je einzelnen Konstellationen (Unendlichkeit des Spiels) nicht didaktisierbar ist. Wenn Wissen und Können kategorial unterschieden werden, wird eine unabhängige strukturelle Ebene angenommen, die von der Arbeit mit der Sprache getrennt wird. Dahinter stehen die metaphysischen Oppositionen von Aktivität (Können) und Passivität (Wissen) bzw. von Raum (Wissen) und Zeit (Können). Aber das Wissen ist immer schon durch die Arbeit der différance im Medium der Sprache von sich selber zu unterscheiden. (Es kann nur durch Rekurs auf sich selbst, das heißt durch Veränderung, erfahrbar werden.)
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länglichkeit des Wissens für ein praktisches Gelingen macht erst die Singularität des Gelingens als Zusammenklang kontingenter Elemente möglich. Insofern kann »eine gelingende Praxis […] nur eine sein, die nicht gelingen kann.« (Menke 2008, S. 201) Das heißt: Die Idee des Gelingens normativer Vollzüge des Subjekts enthält stets das Misslingen als conditio sine qua non17; zum Beispiel als Unwägbarkeit des sprachlichen Mediums, das trennt und verbindet zugleich (dieser Aspekt kommt gesteigert im Literaturunterricht vor, in dem die instrumentelle Funktion der Sprache stärker zurücktritt); aber auch als Dauerpräsenz gesellschaftlicher Widersprüche, die das, was wir tun und sagen, ständig aufspaltet – die Dialektik der Aufklärung wirft einen Schatten über die Vorstellung des Gelingens als Ausweis praktischer Vernunft. Von subjektivem Gelingen lässt sich nur sprechen auf Grundlage einer affirmativen Theorie der Macht des Subjekts. Dem entspricht ein affirmativer Begriff der Gesellschaft als Aktionsfeld ›gesellschaftlich handlungsfähiger Subjekte‹. Wenn es darum geht, gesellschaftlich handlungsfähig zu sein, dann ist damit nicht nur implizit eine Unterscheidung zwischen Handlungsfähigen und nicht Handlungsfähigen vorausgesetzt – nur die erfolgreich durch das Bildungssystem Befähigten werden überleben; diese Musik erklingt im Hintergrund –, sondern die Gesellschaft selbst wird als funktionales Ganzes gesehen, in das man sich einzugliedern hat. Die affirmative Theorie der Macht des Subjekts ist zugleich eine affirmative Theorie der Macht der Gesellschaft. Damit trägt auch die Literaturdidaktik ihren Teil bei zur Erhaltung und Steigerung von Ungerechtigkeit; sie produziert ihren Anteil an falschen Hoffnungen, denn das Versprechen, Bildung werde das Überleben sichern, mag ein politischer Topos sein – soziologische Untersuchungen kommen längst zu anderen Schlussfolgerungen.18 Das Subjekt, dessen Vollzüge gelingen, ist ein Echo der impliziten Vorstellungen von Literatur und Lektüre. Die Auffassung, dass Literatur sich kontrolliert erschließen lässt, gebiert ein Subjekt, welches eben dies tut. Dem liegt zu Grunde eine Idealisierung des Wiederholungsvermögens: Das Wechselspiel 17 | Derrida fragt in seinem Aufsatz Signatur Ereignis Kontext (Derrida 1999, S. 343): »Was ist das Gelingen, wenn die Möglichkeit des Mißlingens weiterhin seine Struktur konstituiert?“ 18 | Es ist ein Generalthema in Adornos Theorie der Halbbildung, dass Bildung Ihr Versprechen nicht einhalten kann, weil sie letztlich an ökonomischen Differenzen nichts ändert (vgl. etwa Adorno 2006, S. 16). Heute spricht Oliver Nachtwey (2016) von der destruktiven Eigendynamik des jüngeren Kapitalismus, welche die Subjekte, trotz aller Qualifikationen, in den Strudel einer Abstiegsgesellschaft zieht. Weiterhin vom ›gesellschaftlich handlungsfähigen Subjekt‹ zu sprechen, ohne sich überhaupt solchen Untersuchungen zu stellen, kommt der Bankrotterklärung eines wissenschaftlichen Denkens gleich.
II. Das didaktische Subjekt
von Kontingenz und Kohärenz, das die Lektüre inauguriert, indem ein Subjekt von einem Schriftkörper affiziert wird, wird stillgestellt durch das Phantasma einer immerwährenden Kontrolle der Exteriorität durch das Bewusstsein. Obwohl die Erfahrung der Verschiebung von Sinn durch die mediale Logik der Schrift für das Lesen konstitutiv ist, wird ein Begriff von Subjektivität und Lektüre aufrecht erhalten, der den Prozess aufhalten, die unendlichen Spuren in sich versammeln, entwirren und zu einem Metawissen steigern kann.19 Diese Idee der reinen Wiederholung »verdankt sich lediglich dem Phantasma der bewussten Anwesenheit der Intention des kommunikativen Subjekts in der Totalität seines Aktes«. (Zirfas 2001, S. 58) So kann das Subjekt, diskursiv zu einem rationalen, funktionalen und kohärenten gemacht, denjenigen Praktiken unterworfen werden, die man für geeignet hält, um das gewünschte Ergebnis zu erhalten. Subjektivität und Macht sind zwei Seiten derselben Medaille. Literaturdidaktik hätte in Hinsicht auf ihre Klienten und ihre Gegenstände dieses Problem zu entfalten. Als stets nervöse Agentin bildungspolitischer Reformen fiele sie dann vorerst aus. Wenn hier an einem dekonstruktiven Begriff des Subjekts, das niemals Herr der différance sein kann (vgl. Derrida 1986, S. 70), festgehalten wird, dann nicht aus philosophisch interessierter Spitzfindigkeit oder Extravaganz, sondern als Ausweis kritischer Distanz zu einem didaktischen Subjekt, das, indem es sich der Vernunft und dem Fortschritt verschreibt, zugleich blind das Spiel der Macht bedient. Die praktische Bedeutung dieses Umstands ist hoch. So konnte zum Beispiel Daniel Wrana beschreiben, wie die Anwendung des didaktischen Prinzips der Individualisierung des Lernens im Sinne der geforderten Rolle eines intentionalen und funktionalen pädagogischen Subjekts vorerst unlösbare Widersprüche generiert: »Nur für die stärkeren Schüler löst sich das Versprechen der Individualität ein, während ›der schwächste Schüler‹ mit allen Eigenschaften verbleibt, die der alten Lernkultur zugehörig sind. […] In die Welt der gelösten unterrichtspraktischen Probleme tritt die Differenz wieder ein.« (Wrana 2014, S. 191) Es geht also in diesem Fall nach Wrana ein Riss durch das Konzept der Individualität, der zu einem Aufschub von dessen Bedeutung führt, die in Hinsicht auf eine singuläre Situation neu zu diskutieren ist. Entscheidend ist dabei, dass diese neue Diskussion nicht von einem Subjekt bestimmt werden kann, das über die Situation qua souveränem Handlungswissen verfügt, sondern dass mit einem Streit der Diskurse (fachlich, pädagogisch, erfahrungsbezogen20 usf.) zu rechnen ist, der auf die kontingente 19 | Derrida analysiert in der Grammatologie, wie das Subjekt durch Schrift konstituiert und zugleich disloziert wird (vgl. Derrida 1974, S. 119). 20 | Der Student, dessen Stellungnahme Wrana dokumentiert, verweist auf den Widerspruch zwischen Individualisierung als pädagogisches Prinzip und Normierung qua Leistungsmessung.
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Verfassung des Subjekts selbst verweist. Dadurch wird die Situation unkalkulierbar, aber zugleich wird durch die Öffnung von Subjektivität und Wissen ein pädagogisches Ereignis möglich. Vor diesem Hintergrund lehnt Wrana einen Begriff von Professionalität als »Merkmalskombination von Individuen«, die »modelliert und gemessen werden kann« (ebd., S. 194) ab. Er sieht die Schule als »Konstellation konkurrierender und widerstreitender Wissensordnungen« (ebd., S. 195) und verwendet den Begriff des »Wissensfeldes« (ebd.): Das Wissensfeld ist »über Differenzen und Aporien strukturiert, aufgrund derer Professionalisierung eine zugleich notwendige und unmögliche Subjektpositionierung erforderlich macht.« (Ebd.) Die paradoxe Position des Subjekts wurde bereits im Verhältnis zur Sprache sowie als Unentschiedenheit zwischen Aktivität und Passivität beschrieben. Der Anteil, den Machtbeziehungen daran haben, soll nun genauer untersucht werden.
III. Die Lehrbarkeitsdoktrin
»Die entscheidende Aufgabe des Literaturunterrichts ist, die Schüler zum Verstehen literarischer Texte zu führen. Literarisches Verstehen […] ist ein einheitlicher komplexer Vorgang. Um in ihn einzuführen und ihn einzuüben, also um ihn didaktisch handhabbar zu machen, ist er in seine einzelnen Momente aufgefächert, womit [sic!] die einzelnen Momente aufeinander folgende Phasen bilden und insgesamt ein vierstufiges […] Phasenmodell unterrichtlicher Vermittlung literarischen Textverstehens entsteht.« (Waldmann 2000, S. 27) »Damit integriert die Literaturdidaktik als interessierte Anwenderin germanistischer Forschung die dort kontrovers diskutierten Richtungen in ein einziges, anwendungsorientiertes Konzept. Der Streit der verschiedenen Methoden wird nicht geschlichtet, er wird schlicht übergangen. Wenig interessiert die Tatsache, daß Hermeneutik und Dekonstruktivismus auf unterschiedlichen Sprachtheorien beruhen, die insbesondere die Frage der Semantik gänzlich unterschiedlich behandeln, daß unterschiedliche Konzepte von Autor, Text, Geschichte zugrunde liegen. Es bleiben lehr- und lernbare Operationen übrig wie die Beobachtung der sprachlichen Besonderheiten eines gegebenen Textes, der möglichen Doppeldeutigkeiten der verwendeten Begriffe und Metaphern.« (Fingerhut 1994, S. 116) »Metaphern können imaginativ-kreative Elaborationen und Hypothesenbildungen geradezu herausfordern und interessieren traditionell sowohl als ästhetisches Mittel als auch als eines der Erkenntnis […]. Unter Erwerbsperspektive stellt sich die Frage, wie die entsprechenden Kompetenzen konzeptionalisiert, erworben und gefördert werden können.« (Pieper/Wieser 2012, S. 171)
Die drei Zitate stehen in unterschiedlichen Zusammenhängen. Günter Waldmann beschreibt im Rahmen seiner produktionsorientierten Literaturdidaktik die Notwendigkeit, literarisches Verstehen didaktisch-praktisch handhabbar zu machen. Karlheinz Fingerhut insistiert auf der Lehr- und Lernbarkeit auch des postmodernen Wissens im Literaturunterricht; verfeinerte Lektüretechniken können demzufolge didaktisch adaptiert werden – auch wenn deren theo-
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Der Widerstand gegen Literatur
retische Grundlagen höchst unterschiedlich sind. Irene Pieper und Dorothee Wieser fragen, ausgehend von den methodologischen Prämissen qualitativer empirischer Forschung (hier: ›lautes Lesen‹), nach der Operationalisierbarkeit angemessenen Metaphernverstehens in der poetischen Lektüre.1 Die drei Ausschnitte repräsentieren in gewisser Weise verschiedene Phasen literaturdidaktischer Forschung: Auf die produktionsorientierte Literaturdidaktik folgte die postmoderne und darauf die kompetenzorientierte Literaturdidaktik. Selbstredend ist diese Reihung nur bedingt als lineare Abfolge zu verstehen. So hat z.B. die postmoderne Literaturdidaktik Verfahren des produktionsorientierten Literaturunterrichts integriert (vgl. z.B. Spinner 1995). Ferner gibt es heute ein Nebeneinander, Miteinander und Gegeneinander der verschiedenen Ansätze; darüber belehren die literaturdidaktischen Handbücher (vgl. zum Beispiel Frederking et al., Hgg., 2013, Bd. 2). Bei allen Unterschieden der diskursiven Konstellation, in welche die Zitate eingelagert sind, gibt es jedoch eine wichtige, für die Literaturdidaktik konstitutive Gemeinsamkeit: Die Lehr- und Lernbarkeit des literarischen Lesens und Verstehens wird nicht bestritten. Unausgesprochen liegt die Auffassung zu Grunde, dass literarische Lektüre etwas ist, das sich systematisch lernen lässt und dass die Kunst der Didaktik darin besteht, genau dies ins Werk zu setzen. Ohne Widerspruch lässt sich dieser Anspruch jedoch nicht formulieren: Wenn literarisches Lesen sich lernen lässt, dann muss es ein vom einzelnen Text und der je singulären Lektüre unabhängiges Wissen von der Literatur geben; ansonsten müsste die Lehre immer neu ansetzen und bliebe auf Gedeih und Verderb den Kontingenzen des Lesens ausgeliefert. Zugleich ist jedoch schwerlich zu bestreiten, dass ohne Singularität von Text und Lektüre die Begegnung mit Literatur ihren Reiz verliert. Das Veräußerlichte muss gewissermaßen ins Subjekt zurück und erzeugt dort eine Differenz, wo es am liebsten Einheit sähe: im Lesen als gleichzeitige Enteignung und Aneignung. Während die Literaturwissenschaft lesende Subjekte voraussetzt und sich um Begriffe und Deutungen streitet (oder auch nicht), erzieht die Literaturdidaktik zum Lesen und streitet um den richtigen Weg dorthin. Man darf vermuten, dass literaturdidaktische Verfahren den Zugang zur Literatur in demselben Maße öffnen wie sie diesen verstellen. Der Schüler macht die Erfahrung der fremdgesteuerten Lektüre und zugleich wird ihm ein Zugang zum Text offeriert. Jedes angewendete literaturdidaktische Verfahren generiert folglich spezifische Differenzen, die nachholend bearbeitet werden müss(t)ten, ohne dass immer klar würde, worin das Ungenügende und Widersprüchliche seine Ursachen hat. Zwei grobe Ausrichtungen aus der Zeit vor der durch PISA ausgelösten kognitivistischen und empiristischen Wende lassen sich als ›Literaturunterricht‹ oder ›Leseförderung‹ angeben. Auf der 1 | Auf den betreffenden Aufsatz wird unten noch genauer einzugehen sein.
III. Die Lehrbarkeitsdoktrin
einen Seite die Singularität von Text und Lektüre, hier aufgeweicht und idealisiert als subjektive Komponente des literarischen Lesens, auf der anderen Seite der eher als gymnasial wahrgenommene literarische Lehrgang nebst seinen verbindlich gelehrten Verfahren, pädagogisch gesteigert zum Kanon und zur schulischen Interpretation.2 Beide Verfahren dürften, abgesehen von gewissen Übereinstimmungen, vom Schüler als schulische Inszenierungen begriffen werden. Es werden Fragen aufgeworfen, aber zugleich will sich das Gefühl nicht verflüchtigen, dass die eigenen Fragen außen vor bleiben müssen. Das Ungenügende soll gleichwohl angeeignet werden. Das fällt umso mehr ins Gewicht, weil mit der Literatur ein Gegenstand zur Debatte steht, der gerade neue, relevante Fragen provozieren will. Die voran gestellten Zitate ähneln sich also in der zu Grunde liegenden Annahme, dass literarisches Lesen lehrbar ist. Damit wird der Rang des Schulfaches behauptet, denn, was nicht lehrbar ist, hat keinen Platz im Fachunterricht. Zugleich wird die Lehrbarkeit durchaus unterschiedlich begründet. Waldmann geht, was nicht selbstverständlich ist3, vom Verstehen aus, dem er einerseits eine komplexe Binnenstruktur attestiert, das er andererseits aber begreift als zerlegbar in Teilmomente, deren Erlernen sich in eine zeitliche Abfolge bringen lässt. Die Rede ist von Handhabbarkeit. Das kann nur bedeuten, dass der Didaktiker in der Lage ist, ein Metawissen über literarisches Verstehen zu formulieren, das sich lehren lässt. Die Begriffe, die dabei entstehen, sind folglich fassbar als Verallgemeinerungen je einzelner, für sich und im Verhältnis zu anderen kontingenter Lektüren. Das Handhabbar-Machen wirft eine Vielzahl von Fragen auf: Von welchen literaturtheoretischen Prämissen geht die Beschreibung aus?4 Inwiefern ist es erlaubt, den eigenen Punkt der Beobachtung als verbindlich für angemessenes Verstehen auszugeben? Ist es 2 | Der Widerstreit wird gesehen (vgl. Rosebrock/Groeben 1997 oder Kämper-van den Boogaart 2000), jedoch nicht als konstitutiv für die Theoriebildung des Faches erachtet, sondern eher als unvermeidliche Pluralität fachlicher Ansichten bewertet. Fachgeschichtlich interessant ist, dass Kämper-van den Boogaart schon ein Jahr vor der PISA-Studie und dem Umbau der Literaturdidaktik den Kompetenzbegriff als Mittel der Entparadoxierung und Vermittlung verwendet, indem er einen ›Kanon der Kompetenzen‹ (vgl. S. 18-21) fordert, der die widerstreitenden Diskurse von Leseförderung und Literaturunterricht integriert. Es ist aber zu erwarten, dass der Widerstreit im Inneren der vermeintlich kohärenten Kompetenzen wiederkehrt; das Vermittelnde bleibt von der Arbeit der différance nicht verschont. 3 | Siehe Wintersteiner (2016, S. 63): »Der Sinn des Literaturunterrichts ist es nicht, literarisches Verstehen zu unterrichten, sondern Literatur zu unterrichten.« [Kursivierung im Original, M. B.] 4 | Die von Waldmann angegebenen theoretischen Begründungen gehen – eklektizistisch – kreuz und quer durch die Literaturtheorie (vgl. 2000, S. 3-26). Der Theorieteil der
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hermeneutisch vertretbar, die einzelnen Momente des Verstehens zu isolieren? (Hat es die Hermeneutik selbst nicht mit sehr abstrakten Figuren wie Teil und Ganzes, Geschichte und Gegenwart belassen?5) Liegt hier eine Verdinglichung und Hypostasierung von Lektüremomenten vor, die recht eigentlich nur begriffen werden können im Zusammenhang eines performativen, in der Zeit ablaufenden Prozesses? Der Widerspruch zwischen subjektiver und objektiver Lektüre ist im Grunde der Ausgangspunkt der produktionsorientierten Literaturdidaktik. Dies gipfelt in der methodologischen Paradoxie von Lektüreerfahrungen, die zum einen authentisch gemacht (vgl. Waldmann 2000, S. 39) und zum anderen methodisch geplant werden sollen. Als zeitliche Form der Entparadoxierung fungiert bei Waldmann das Phasenmodell. Die Abfolge der Verstehensschritte gibt der literaturdidaktischen Arbeit eine Richtung; mit anderen Worten: ihre Funktion ist die Aufhebung von Kontingenz. Wie handhabbar die Konstruktion ist, bleibt offen – auch wenn Waldmann exemplarische Unterrichtsmodelle vorlegt. Denn grundsätzlich sorgt die Differenz von abstrakten, unterbestimmten Kategorien wie der einer Erfassung von kulturellen Beziehungen, in denen ein Text steht (vgl. ebd., S. 27), und der Anwendung auf den je konkreten Einzeltext für einen erheblich Aufwand an Konkretisierung; das Allgemeine in seiner Positivität ist zu allgemein. Die Unruhe, welche durch die Formulierung der Teilmomente auf Kosten der Performativität der Lektüre beseitigt schien, kehrt zurück.6 Letztlich kommt doch wieder alles auf das Thema, den Text, den Lehrer, die Schüler, die Situation, den Kontext usf. an. Es kommt einem so vor, als sei die Lücke zwischen dem didaktischem Modell und der Performativität des Unterrichts das eigentlich didaktische Moment.7
Studie überzeugt nicht, weil höchst unterschiedliche Theorien kurz zitiert und sämtlich für die eigene Sache in Anspruch genommen werden; vgl. dazu auch Baum (2007). 5 | Steinbrenner (2004, S. 36-41) spricht in Bezug auf Schleiermacher von Divination und Komparation. 6 | Steinbrenner (2004, S. 43) fasst das Moment der Prozessualität in bewusster Absetzung von gängigen Stufenmodellen, »deren letzte und höchste Stufe häufig Ergebnissicherung, Aneignung oder Übertragung in die eigene Lebenswelt heißt.« Und weiter: »Literaturunterricht, der das Verstehen zum Gegenstand hat, hat somit etwas Unplanbares, Unsteuerbares und Nicht-Methodisierbares an sich.« (Ebd.) Steinbrenner beschreibt die Methodenkataloge des produktionsorientieren Literaturunterrichts als Versuche, die genuine »Unsicherheit« (S. 44) des literarischen Verstehens »methodisch zu eliminieren« (ebd.). Es geht also auch hier um das Unsichtbar-Machen von Kontingenz (vgl. oben: Analysen zum Subjekt-Begriff). 7 | Vgl. zur nachholenden Komplexitätssteigerung als zentrales Moment didaktischen Handelns: Baum (2015, S. 21).
III. Die Lehrbarkeitsdoktrin
Gehen wir einen Schritt weiter zu Karlheinz Fingerhuts didaktischer Rezeption poststrukturalistischer Literaturtheorie (Jacques Derrida, Paul de Man). Erinnert werden soll hier zunächst an deren Grundmotive – ausgehend vom Entstehungsprozess. Susanne Lüdemann notiert zum Oeuvre Derridas: »Derridas Werk ist kein System von Thesen, das sich gemäß der Logik einer Entwicklung von A nach B rekonstruieren ließe. Es gleicht mehr einem offenen Netz von Verweisungen, einem ›Gewebe von Spuren‹ […], einem Schreib- und Denkraum, in dem Lektüren sich überlagern, Motive einander antworten, Linien der Interpretation sich treffen, ihre Richtung ändern und wieder auseinanderlaufen.« (Lüdemann 2011, S. 13)
Gemäß dieser Auffassung bewegt sich die Dekonstruktion als Arbeit an und mit der Schrift stets auf der Grenze zwischen dem, was sich sagen lässt und den Mitteln, die dieses Sagen ins Werk setzen und deswegen ständig selbstreflexiv umkreist werden: »Es gibt kein Signifikat, das dem Spiel aufeinander verweisender Signifikanten entkäme, welches die Sprache konstituiert […].« (Derrida 1974, S. 17) Wenn nicht von Thesen, sondern von Verweisungen die Rede ist, dann deswegen, weil die différance als permanente produktive Unruhe die Zeichen von sich selber trennt und paradoxerweise nur so diese Zeichen zu sich kommen lässt. Nur Abstände können Einheiten bilden. Die Erfahrung, welche diese Einheiten bildet, ist das Schreiben. So kommen die Grenzen zwischen den Zeichen sowie zwischen Kunst und Wissenschaft in Bewegung. Verblüffend ist die Schlussfolgerung, die Karlheinz Fingerhut in literaturdidaktischer Absicht aus den poststrukturalistischen Literaturtheorien zieht. Er sieht gänzlich von der Unplanbarkeit des Schreibaktes wie überhaupt von der Selbstreflexivität des Mediums Schrift ab und behauptet, dass es ein von der Performativität des Schreibens unabhängiges Metawissen gibt, das die Literaturdidaktik abgreift oder selbst bildet. Während poststrukturalistische Ansätze zu Recht als differenzorientiert betrachtet werden, weil sie nicht mehr von der Präsenz des Bewusstseins und des Sinns, sondern von einem Aufschub dieses Begehrens nach Präsenz sprechen, erscheint die Literaturdidaktik als diejenige Instanz, die alle Unterschiede bereinigt und das Bereinigte anwendbar macht – losgelöst von den je eigenen Bezügen und performativen Vollzügen. Damit etwas lehrbar gemacht werden kann, wird es in sein Gegenteil verkehrt. Wenn etwas lehr- und lernbar sein soll, dann muss es in sich selber ruhen, dem Spiel der Differenzen entzogen sein; die Logik der Identität schiebt sich wieder vor die Wahrnehmung von Differenz. Das hat eine diskursstrategische Funktion insofern, als Identitätslogik und normative Steigerung, die sich wiederum mit der Reproduktion von Machtverhältnissen verbinden, Hand in Hand gehen. Normativität benötigt logozentrische Stabilität und diese ist symbolische Verkörperung von Macht. Symptom dafür ist das Sich-Abwenden von den rezipierten Texten. Die poststrukturalistische (und auch die
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hermeneutische!) Texttheorie wird adressiert und zugleich umgangen, da man bei der näheren Auseinandersetzung mit den Texten auf genau jene formale und stilistische Komplexität stoßen würde, die mit der Logik der Identität unvereinbar ist. Das Ziel der avancierten didaktischen Lektüre wird denn auch mit einer Formulierung angegeben, die im Grunde als Bezugspunkt keine poststrukturalistische Literaturtheorie mehr benötigt. Wenn das Gelingen die Relation von Handeln und Wissen im metaphysischen Denkstil stiftet, dann wird dazu ein Begriff der Sprache benötigt, der über Differenzen hinweggeht. Die Differenz, das Auseinanderfallen der leitenden Begriffe und Konzepte, wäre gleichbedeutend mit dem Ende des Ausweises gesicherter Normativität. Literaturdidaktik muss Kontingenz invisibilisieren, um als Wissenschaft der Professionalisierung reüssieren zu können. Zugleich, und darin besteht der Widerspruch, ist die Fokussierung von Kontingenz unverzichtbar, da der Gegenstand dieses verlangt. Das Ergebnis ist eine didaktisch gemilderte, entradikalisierte, lehrbar gemachte Kontingenz, die unter der Hand wieder Kohärenz wird. Kommen wir noch einmal zu dem dritten, hier zitierten Text. An dem von Pieper/Wieser umrissenen literaturdidaktischen Forschungsprogramm fällt zunächst die Differenz auf zwischen den Wirkungen, die der Rezeption von Metaphern zugeschrieben werden und der didaktischen Strategie, die diese hervorruft: Während auf der einen Seite die Offenheit metaphorischer Zeichen betont wird, steht auf der anderen Seite die Rede von der ›Konzeptionalisierung‹ des Wissens über Metaphern (Kompetenzbegriff). Es scheint fast, als kehre die performative Differenz in anderer Gestalt wieder zurück: Von Metaphern zu sprechen ist etwas anderes als zu Metaphern zu sprechen. Während die Auseinandersetzung mit metaphorischer Rede Ereignischarakter hat, weil der Leser auf keinen funktionierenden Code zurückgreifen kann, können Kompetenzen nur in konstativer, die notwendigen sprachlichen Handlungen zusammenfassend beschreibender Gestalt formuliert werden. Die Ereignishaftigkeit der Sprache, ihre Sprünge und Abstürze, müssen außer Acht gelassen werden, um in positiven Formulierungen fassbar zu machen, was ein in Sachen Metaphorik kompetenter Sprecher können muss. Diesem Können wird sicher ein Prozesscharakter zugebilligt, aber es muss doch unklar bleiben, in welcher Weise sich metaphorische Lektüren bei welchem Text vollziehen und ob eine Wiederholung der Lektüre zu ähnlichen Ergebnissen käme. Nicht thematisiert wird ferner, ob sich in der Form von Positivitäten überhaupt die Dynamik literarischer Lektüre abbilden lässt.8 Wann genau ist 8 | Dies lässt sich am Beispiel der Differenzen generierenden Wiederholungslektüre zeigen. Die zweite Lektüre nimmt Facetten der ersten Lektüre auf und variiert diese zugleich. Dadurch entsteht eine Differenz, die unüberbrückbar ist, aber zugleich den Progress der Lektüre überhaupt möglich macht. Diese Negativität als Bedingung von
III. Die Lehrbarkeitsdoktrin
denn eine Metapher kompetent gelesen und was ist überhaupt eine Metapher? Besteht darüber Einigkeit? Die Probleme dürften schon da anfangen, wo metaphorische Rede als solche identifiziert werden soll, da die Metapher in komplizierter Weise mit dem Kontext interagiert und die Isolierung des Metaphorischen deswegen die größten Schwierigkeiten bereitet. Im Grunde braucht man ein hierarchisches Modell des Textes und ein logozentrisches Konzept von Semantik, um überhaupt lehr- und lernbare Einheiten zu bestimmen. Wenn etwas in der Schwebe bleibt, sich in eine unauflösbare Negativität zurückzieht, die Kontexte des Verstehens so sehr irritiert, dass sie als Kontexte gar nicht mehr funktionieren, wird es schwierig. Dann bleibt der Literaturdidaktik nur übrig, Literatur, das heißt: das Unlehrbare, zu lehren anstatt lehrbar gemachte Literatur. Denn die ›Konzeptionalisierung‹ von Kompetenzen schafft eine Art Zwischenreich, das Leser und Text trennt. (In seinem Vokabular spricht Waldmann von einem Handhabbar-Machen des literarischen Verstehens.) So sichert die Didaktik ihren Zugriff auf das für angemessen gehaltene Textverstehen. An die Stelle der Erfahrung der Lektüre tritt die erfahrene, das heißt institutionelle forcierte Form des Lesens. Die Literatur muss verstellt werden, um lehrbar zu sein und zugleich wird die Behauptung aufrecht erhalten, die lehrbar gemachte Literatur sei die eigentliche.9 Da das selbst erarbeitete Wissen stets gespalten ist zwischen pädagogischem Kalkül und fachlichem Profil kann eine Begründung hierfür jedoch letztlich nicht gegeben werden; man stößt auf Differenzen und Widersprüche. Strukturell und operativ erzeugt der Dreiklang von Konzeptionalisierung, Erwerb und Förderung, den Pieper/Wieser im Blick haben, zum Beispiel eine nicht aufhebbare Differenz. Denn alle drei Schritte können nur vermittels einer Strategie der Veräußerlichung, Vereinfachung und kausalen Verkettung gegangen werden. Man schreibt fest, was eine Metapher ist, wie sie erworben wird und wie man diesen Prozess optimieren kann, obwohl das entsprechende Wissen mit Kontingenzen durchsetzt ist; selbst die eingenommene Perspektive – kann zum Beispiel das Verstehen von Metaphern erworben werden? – ist diskutabel. Wird nun das ›handhabbar‹ gemachte Wissen, nachdem es gewissermaßen nach außen gebracht worden ist, wieder auf die Subjekte angewendet (verinnerlicht), entsteht eine Differenz als Folge der Fremdheit des Außen
Positivität ist entscheidend und kann im Modus der didaktischen Setzung nur verfehlt werden. 9 | Jacques Rancière (2009) sieht in seiner Studie Der unwissende Lehrmeister, auf die noch näher einzugehen sein wird, das Skandalon der Didaktik in der Entmachtung des Lesers, der unmündig und gewissermaßen dumm gehalten wird. Der Hintergrund ist für Rancière »die vollständige Pädagogisierung der Gesellschaft, das heißt die allgemeine Infantilisierung der Individuen, aus denen sie sich zusammensetzt.« (Ebd. S. 155)
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im Innen.10 Da das zur Anwendung gebrachte Wissen nicht ›passt‹, misslingt auch dessen Funktionalisierung. Das Subjekt fällt aus dem didaktischen Szenario heraus und muss entscheiden, wie es mit dieser Differenzerfahrung umgeht. Zwang, sich doch bitte fördern zu lassen, kann die Erfahrung der Fremdheit verstärken und desintegrative Wirkungen zeitigen. Es ist nun deutlich geworden, dass das Vermögen des Subjekts, seine Vollzüge gelingen zu lassen, in der Literaturdidaktik abgesichert werden kann durch eine unterstellte und in konstativer Form beschriebene Struktur der Lehrbarkeit von Literatur. Das Subjekt kann auf das Gelingen vertrauen, weil der Gegenstand, auf den es sich bezieht, seinem Kalkül – etwas zu lehren –, nicht widerspricht. Dies wird in verschiedenen Figuren diskursiv ausgearbeitet: Phasenmodelle als Form des Managements von Kontingenz, Instrumentalisierung von Lektüre durch Veräußerlichung ihrer Momente in Form positiver Beschreibungen, Konstruktion eines überall anwendbaren Metawissens, das die Steuerung der Lektüre und damit die Reproduktion von Diskursmacht ermöglicht. Stets scheint es darum zu gehen, Kontingenzen in Notwendigkeiten zu überführen (ohne dass letztlich das Nicht-Notwendige des Notwendigen gebändigt werden könnte.) Der dem literaturdidaktischen Diskurs zu Grunde liegende Glaube11, man könnte literarisches Lesen erfolgreich lehren, soll im Folgenden als Lehrbarkeitsdoktrin bezeichnet werden. Der Begriff der Doktrin wird im Sinne Michel Foucaults verwendet. Foucault zu Folge steht der Begriff der Doktrin in einem Wechselverhältnis zu demjenigen des Diskurses. Während der Diskurs (z.B. der literaturdidaktische) auf Prinzipien der Ausschließung beruht – es wird geregelt, wer wo wann was sagen darf – »tendiert die Doktrin dazu, sich auszubreiten.« (Foucault 1998, S. 28) Die Doktrin ist ebenso konstitutiv negativ wie positiv. Sie gibt dem Subjekt eine Stimme und einen Ort und unterwirft dieses Subjekt zugleich dem Diskurs, aus welchem jene Instanzen hervorgegangen sind:
10 | Nagy (2016, S. 119) gibt ein praktisches Beispiel dafür, welche Rolle didaktisch aufbereitete Lesebuchtexte in diesem Zusammenhang spielen: »Das ›Einüben‹ in das Erkennen eines bestimmten Merkmals geht […] auf Kosten einer vernetzten Zusammenschau verschiedener Aspekte, die die Aufmerksamkeit (und die Wahrnehmung) auf das ästhetische Gebilde als Ganzes richten würden.« 11 | Das Wort wird nicht zufällig gewählt. Hinter dem Anspruch methodischer Exaktheit liegt ein gewissermaßen fiktionales Element: der Glaube an die Lehrbarkeit von Literatur. Da kaum überprüft werden kann, ob der Glaube begründet ist – es lässt sich bestenfalls nachweisen, welche Wirkungen bestimmte didaktische Arrangements haben – bleibt es bei der Lücke zwischen Lehrbarkeitsdoktrin und konkreter Forschung.
III. Die Lehrbarkeitsdoktrin »Die Doktrin bindet die Individuen an bestimmte Aussagetypen und verbietet ihnen folglich alle anderen; aber sie bedient sich auch gewisser Aussagetypen, um die Individuen miteinander zu verbinden und sie dadurch von allen anderen abzugrenzen. Die Doktrin führt eine zweifache Unterwerfung herbei: die Unterwerfung der sprechenden Subjekte unter die Diskurse und die Unterwerfung der Diskurse unter die Gruppe der sprechenden Individuen.« (Ebd. S. 29)
Wenn Foucault von Aussagetypen spricht, dann liegt also bereits eine komplizierte Deutung vor, die verschiedene, empirisch beobachtbare Aussagen zu formalen Klassen gebündelt und im Sinne einer Genealogie der Macht gedeutet hat. Die Doktrin gibt sich selten direkt zu lesen; sie ist eher das, was Aussagen generativ hervorbringt und deren Geltung und Umfang regelt.12 Der metaphysische Begriff des Subjekts, das seine Vollzüge gelingen lassen kann; die Auffassung, dass sich das Wissen, das literarische Lektüren generieren, in positiven Sätzen beschreiben, formalisieren und zur weiteren Verwendung abschöpfen lässt13; die angenommenen kausalen Beziehungen zwischen Wissen und Handeln; diese Figuren des Diskurses generieren ein Macht- und Handlungsfeld, in dem didaktische Aussagen über Literatur zu allererst hervorgebracht werden können. Stimmen, die daran zweifeln, indem z.B. Kontingenz thematisiert wird, sehen sich deswegen rasch der Gefahr der Marginalisierung ausgesetzt. Kehrt man die Aussagen um, erhält man in Gestalt von Negativitäten die ausgeschlossenen Aussageformen des Diskurses. Diese würden dann zielen auf: eine an den Kategorien von Differenz und Macht orientierte Beschreibung des Subjekts – wo Subjektivität ist, ist auch Macht, wo ein Subjekt ist, ist auch der Andere; die Negativität und Singularität literarischen Lesens und ästhetischer Erfahrung14; die Auflösung von Kausalität als Determinativum des Handelns. Es wird deutlich, dass diese Aspekte mit einer Theorie der Sprache oder (dekonstruktiv) der Schrift verbunden werden müssen, denn 12 | Ein recht seltener Fall von Transparenz ist das Eingeständnis von Clemens Kammler, dass sich die Positivität didaktischer Setzungen in Hinsicht auf ihren Gegenstand (Literatur/Literaturtheorie) zwar nicht halten lässt, dass diese Setzungen aber notwendig sind, um den Machtapparat Schule, der auf der »Vergleichbarkeit von Schülerleistungen« (Kammler 2006, S. 5) aufbaut, in Gang zu halten. Die Lehrbarkeitsdoktrin steht in einem engen Zusammenhang mit der Reproduktion von pädagogischer Diskursmacht. 13 | Vordergründig bleibt das Spiel zwischen der Singularität und der erwarteten Konventionalität der Lektüre durch die Differenz von Theorie und Empirie im literaturdidaktischen Diskurs offen. Indem aber überprüft wird, wie weit die Subjekte bei der Aneignung des verordneten Wissens sind, kommt ein Diskurs der Bewertung und hierarchischen Ordnung von Aussagen in Gang, der diese an die Verbindlichkeit der Maßstäbe zurückbindet. 14 | Dieser Aspekt wird unten genauer zu beschreiben sein.
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aller Glaube an die Macht des Subjekts, das kein Subjekt der Macht sein darf, an die Literatur, die sich beherrschen und zielorientiert vermitteln lässt, an die kausale Beziehung von Wissen und Handeln, setzt einen Glauben an die Beherrschbarkeit und instrumentelle Funktion der Sprache voraus, die das Subjekt sich angeeignet hat und durch die es alle Subjekte in einen Prozess der Vergesellschaftung zieht. Im Grunde würde bereits eine strukturalistische Perspektive auf die Sprache geeignet sein, um das Subjekt ein erstes Mal zu verunsichern. Denn wer sollte garantieren, dass ein Zeichensystem, das doch immer auch das Zeichensystem der Anderen sein muss, dem Subjekt gehorchen kann? Karlheinz Fingerhut hat in einer treffenden Analyse schon 1988 die Doktrin des literaturdidaktischen Diskurses beschrieben.15 Damit liefert er unter der Hand auch eine kritische Theorie des didaktischen Subjekts, das gleichsam qua Amt (und vielleicht gegen die eigenen Überzeugungen) die leitende Doktrin vertreten muss.16 Er formuliert diese wie folgt: »Die ›wahren Sätze‹ über die Dichtung (Kommentar 1) erzeugen Sätze über deren Bedeutung für Erziehung (Kommentar 2), die dann im Literaturunterricht den Charakter von doppelten Doktrinen (auf Literatur und Erziehung bezogene normative Aussagen) annehmen.« (Fingerhut 1988, S. 4)
Fingerhut spricht im Weiteren von einem »Deskriptions-Präskriptionskarussell« (ebd.) und meint damit die unzulässige Ableitung von deskriptiven Aussagen über Literatur (im Sinne der herrschenden Literaturdoktrin) zum Zwecke einer normativen Konstruktion notwendigen und gelingenden Literaturunterrichts. Weil Literatur so oder so beschaffen ist, steht zu hoffen, dass die unterrichtliche Beschäftigung mit ihr diese und jene positive Wirkungen haben wird.17 Man kann unschwer erkennen, dass die oben analysierten Formen des 15 | Es ist nicht überraschend, dass dieser bemerkenswerte Text in aktuellen literaturdidaktischen Publikationen nicht mehr zitiert wird. Wo die Lehrbarkeitsdoktrin die Alleinherrschaft angetreten hat, gibt es für ihre Offenlegung keine Nachfrage mehr. Macht setzt auf Verschleierung. 16 | Eine ganz andere kritische Analyse des didaktischen Subjekts legt Adorno in seinem Essay Tabus über dem Lehrerberuf vor (Adorno 1971). Indem er die unterbewussten Sedimente des Berufsbildes, welche einer »Entbarbarisierung der Menschheit« (ebd., S. 86) mit pädagogischen Mitteln im Wege stehen, kritisch analysiert, weist er das Unvermögen des Subjekts, seine Vollzüge gelingen zu lassen, nach. Über dergleichen Einsichten setzt sich die Literaturdidaktik positivistisch hinweg. 17 | Fingerhut (1988, S. 5) weist ebenfalls darauf hin, dass die vorgenommen, vermeintlich stabilen Deduktionen in Wirklichkeit nichts anderes sind als Invisibilisierungen von Kontingenz.
III. Die Lehrbarkeitsdoktrin
Kausalitätsdenkens, welche die fragwürdigen Ableitungen ermöglichen, auch in diesem Zusammenhang zu beobachten sind. Die Lehrbarkeitsdoktrin ist auf ein Denken in Kausalitäten angewiesen. Da jedoch die Literatur selbst die erwünschten positiven Effekte verweigert und stattdessen mit Negativitäten aufwartet (vgl. ebd., S. 9ff.), kann die Doktrin nur mit der sie tragenden und erzeugenden institutionellen Macht durchgesetzt werden. Daraus resultiert bei Fingerhut eine Forderung, die, ohne dass dies explizit gesagt wird, auf eine Aufhebung des Literaturunterrichts hinausläuft: »Auch ein schulischer Leser muß ein zeitgenössischer, ein freier, ein selbstverantwortlicher Leser sein. Also sollte die Institution Schule – und damit die Lehrpläne – das angemaßte Wächteramt über das, was und die Art wie man lesen soll, bald an die Literatur selbst zurückgeben.« (Ebd., S. 19)
Im Grunde kann der schulische Leser kein selbstverantwortlicher Leser sein. Deshalb würde die Zerschlagung der Doktrin und ihrer waghalsigen Ableitungsketten letztlich auf das Ende der Literatur in der Schule hinauslaufen. Es liegt schließlich nicht so fern, dass der selbstverantwortliche Leser seine Verantwortung wahrnimmt, indem er sich weigert, das Spiel der Didaktik und ihrer Institutionen mitzuspielen. Die diskursiv wahrnehmbare Form, in der sich die Lehrbarkeitsdoktrin zu erkennen gibt, ist die Zwillingsformel des Lehrens und Lernens. Literaturdidaktik wird mehrheitlich begriffen als »Theorie des Lehrens und Lernens von Literatur in Lernkontexten.« (Paefgen 1999, S. VII) Die Formel hat durch wiederholten Gebrauch eine hohe Stabilität; über ihre Semantik und Pragmatik wird in der Regel nicht mehr verhandelt; sie ist das universelle Signum der Lehrbarkeitsdoktrin, die Tür, durch welche man eintritt, wenn man didaktische Texte schreibt, die Öffnung eines Raumes, den man gleichsam unmerklich betritt. Wie alle Figuren der Doktrin weist sie zugleich eine gewisse Blässe (durch wiederholten, rituellen Gebrauch) und eine doktrinäre Schwere (als Symptom tiefer liegender Annahmen) auf. Das Zeichen ruht nicht in sich selbst, da eine Differenz bemerkbar ist zwischen Inhalt und Gebrauch in der Rede. Die vermeintliche Kommensurabilität der bezeichneten Sache mag durch die gut von der Zunge gehende Alliteration der Zwillingsformel noch verstärkt werden. Ihre Schwester ist die universelle Rede vom Verstehen im literaturdidaktischen Diskurs. (Kaum ein programmatischer Artikel, kaum ein Beitrag in einem Handbuch kommt ohne die Nennung des Wortes im Titel aus.18) Man kann also davon ausgehen, dass die Pragmatik der Zwillingsformel 18 | Vgl. zur Universalisierung des Verstehens im Diskurs der Literaturdidaktik Baum (2013). Da Verstehen psychologisch (Schüler) und sachlich (Texte) auslegbar ist, scheint es als Figur der Integration unverzichtbar. Die psychologische Zurechnung in
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die Ausbreitung der Doktrin und das heißt ganz praktisch die Bindung von Individuen an die Form des Diskurses bewirkt. Wann immer die Formel gesagt oder geschrieben wird, entsteht Einverständnis; die Akteure wissen, dass sie sich innerhalb der Grenzen des Diskurses bewegen. Die Dynamik der Reproduktion von Diskursmacht hat im Bereich der Zwillingsformel eine spezifische Gestalt. Während andere Zwillingsformeln wie Empirie und Theorie die wissenschaftsimmanente Programmierung adressieren, geht es beim Lehren und Lernen um einen Durchgriff des literaturdidaktischen Wissens auf die Ebene der Praxis. (Eine Theorie des Lehrens und Lernens von Literatur müsste ja Erklärungen anbieten können für das, was im Literaturunterricht geschieht; Literaturdidaktik ist gewissermaßen ›zuständig‹.) Es wird nicht nur die handlungsleitende und für das Gelingen unabdingbare Aneignung spezifischen literaturdidaktischen Wissens behauptet, sondern die Fähigkeit von der Theorie aus (wenn es denn eine Theorie im strengen Sinne ist), den Unterricht in seinem Wesen erst zu begreifen und dadurch Gelingen ganz generell zu verbürgen. Die ›Denkbarkeit alles Seienden‹, von der Nietzsche – die damit zusammenhängenden Gefahren ahnend – im Zarathustra spricht (vgl. Kap. 1), bedeutet auch, dass die Disziplin diesem Seienden die ihr eigenen Zwänge aufoktroyiert. Indem das Seiende gedacht wird, wird es auch beherrscht, den Regeln des je spezifisch konditionierten Verstandes unterworfen. Die Theorie gibt sich als reine Erkenntnis und reproduziert doch zugleich ihre eigenen, nicht thematisierten Vorannahmen und Grundlagen, was wiederum sehr konkrete Wirkungen im Handlungsfeld haben kann. Damit gerät der Status von Literaturdidaktik als »funktionaler Berufslehre« (Wimmer 2014, S. 96) ins Wanken. Denn sämtliche Implikationen einer mit professionellen Mitteln lehrbar gemachten Literatur, mit anderen Worten: die Figuren, an denen sich die Wirkung der Lehrbarkeitsdoktrin zeigt (Sprechweisen, Handlungstypen, Disziplinierungstechniken, Aufgaben usf.), laufen ständig mit und bilden einen Gegensatz zu anderen literaturrelevanten Dispositionen. Nagy (2016) hat verschiedene Lesebücher einer kritischen Analyse in Hinsicht auf deren Begriff von Literatur und ästhetischer Erfahrung unterzogen. Die Ergebnisse ihrer Untersuchung sind hier von Belang, weil gewissermaßen empirisch die Wirkung der Lehr-Lern-Doktrin nachgewiesen und das Zusammenspiel von Veräußerlichung und Verinnerlichung, welches das lesende Ich als Entfremdung erleben kann, aufgezeigt wird. Sie schreibt zu einem Kompetenzkatalog des Textverstehens, der für die Schüler als eine Art Checkliste funktionieren soll: Hinsicht auf eine »Individualisierung des Allgemeinen« (Schorr 1986, S. 14) – hat der Schüler sich das Kulturgut angeeignet? – ist zugleich Ansatzpunkt für die Reproduktion von Macht; wenn Nichtverstehen vorliegt, wird etwas unternommen.
III. Die Lehrbarkeitsdoktrin »Durch das Abhaken der Kompetenzen können Schüler/innen ihren eigenen Lernprozess reflektieren. Die Liste suggeriert somit die Erlernbarkeit von Analyse- und Interpretationskompetenz in speziell dafür geschriebenen Musteraufgaben, wobei die erlernten Teilkompetenzen […] nicht einmal miteinander in Zusammenhang stehen müssen. Diese einzelnen Aspekte versprechen zwar sichtbare Lernerfolge, sie sind jedoch außerstande, die Komplexität literarischen Verstehens auch nur annähernd abzubilden.« (Nagy 2016, S. 125)
Was also tut die Zwillingsformel vom Lehren und Lernen? Sie reduziert die Komplexität des theoretischen und praktischen Feldes durch die Bildung einer binären (metaphysischen) Opposition. Zwei Pole gibt es: das Lehren und das Lernen. Der eine Pol wird eher aktiv, der andere Pol eher passiv gedacht.19 Damit erscheint Literaturunterricht als intentional gesteuertes Geschehen, das eine Richtung und ein Zweck aufweist. Tendenziell wird die Vorstellung transportiert, dass nur das gelernt wird, was vernünftig gelehrt wurde im Sinne eines ausrechenbaren Zusammenhangs von Inhalten, Mitteln und Zwecken.20 Michael Wimmer bezeichnet eine solche Konstruktion als »technizistisch« im Sinne eines »Steuerungsmodell[s] von Lehr-Lernprozessen« (Wimmer 2014, S. 102). Die funktionalistische Auffassung des Lehrens krankt indes an ihrer Blindheit für Negativität im Erziehungsprozess. Michael Wimmer fasst das Problem aus der Sicht der allgemeinen Erziehungswissenschaft wie folgt: »Aus dieser Perspektive kommt es dann zu Störungen, wenn Wollen und Sollen nicht komplementär miteinander synchronisiert sind. Beseitigt werden können diese Störungen dann auf Seiten des Lehrers durch Professionalisierungsmaßnahmen (kognitiv, methodisch, psycho-technisch) oder mittels pädagogischer Tugenden (Humor, Geduld, Wahrhaftigkeit, Phantasie etc.) und/oder auf Seiten der Schüler durch Disziplinierungen, Vernunft-/Verantwortungs-/Selbststeuerungsappelle, Motivierungsmaßnahmen und didaktisch-methodische Anpassungen (Verhandlungen).« (Ebd., S. 102)
Während das Steuerungsmodell in Form einer verknappenden und wertendasymmetrischen metaphysischen Opposition Unterricht als intentional kontrollierbares und selbstgenügsames Handlungssystem beschreibt und somit Legitimationen liefert für die Ausarbeitung und Implementierung normativ aufgeladener Wissensbestände, entziehen sich praktische Situationen der machtbezogenen ›Denkbarkeit alles Seienden‹ (Nietzsche). Wimmer (ebd., 19 | Eine gendertheoretische Analyse würde hinter dieser Opposition womöglich eine weitere entdecken: männlich vs. weiblich. 20 | Tatsächlich dürfte der feste Gegensatz von aktivem Lehren und passivem Lernen unzutreffend sein. Die Schüler lernen anderes und anders, als die Lehrer dies wollen und die Lehrer lernen, indem sie eben dies beobachten oder wenigstens vermuten.
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S. 102) nennt folgende Aspekte: »unbewusste Prozesse in Interaktionsverhältnissen (z.B. Übertragungen), Umweltbedingungen jenseits der institutionellen Systemgrenzen (z.B. drohende Arbeitslosigkeit), die Eigenlogik symbolischer Ordnungen und medialer Erfahrungswelten sowie sich jeder Planung und Steuerung entziehende heteronome Ansprüche (Intransparenz des Anderen) und Ereignisse (Kontingenz und Ungewissheit) […].« Es liegt auf der Hand, dass es der Literaturunterricht in doppelter Hinsicht mit der Eigenlogik symbolischer Ordnungen zu tun hat; zu denken ist sowohl an die Ambivalenzen unterrichtlicher Kommunikation, insofern diese nicht direkt aus dem Gegenstand erwachsen, als auch an die konstitutive Unbestimmtheit und Negativität der Literatur selbst, die nicht in das enge Korsett eines Lehr-Lern-Zusammenhangs gebracht werden kann.21 So gesehen genügt es bei weitem nicht, diese Analyse mit dem Einwand zu kontern, dass die Zwillingsformel keineswegs monodirektional ist, weil ja gerade die Perspektive des Erwerbs in diejenige des Lehrens mit eingeschrieben wird (Lehren als Wissen vom Lernen). Die Annahme des Lehrbar-machen-Könnens mitsamt den Folgen für Gegenstand und Schüler sowie die Ambivalenzen und Negativitäten, von denen Wimmer spricht, sind gewissermaßen vorher immer schon da. Das Wissen muss sich zusammenziehen, um intentionales Handeln, das gelingen soll, zu orientieren und indem es dies tut, wird es blind für die eigene Unbestimmtheit. Im Funktionalismus der Lehr-Lern-Formel ist die Frage nach einem (un) möglichen Gelingen immer schon beantwortet. Wenn das Lehren als Vermögen begriffen wird, das einem pädagogischen Subjekt zukommt und das Lernen als eine ausschließlich auf die Handlungen des Lehrsubjekts bezogenes Verarbeiten von Information, ist der Kreislauf geschlossen. Entscheidend ist dabei, dass man es mit einer Figur der Lehrbarkeitsdoktrin zu tun hat. Die Akteure glauben daran, dass literarisches Lesen als ein intentional gesteuerter Vorgang begriffen werden kann und entscheiden auf dieser Grundlage zwischen akzeptablen und nicht-akzeptablen Operationen. Zum Beispiel genügt die Annahme, dass man lernen kann, ein in Sachen Metaphorik kompetenter Leser zu sein, indem man das Richtige übt und Schritt für Schritt voran kommt, um einen ganzen Komplex literaturdidaktischer Forschungsprogramme auszuarbeiten, die dann vielleicht nicht ohne Einfluss sind auf die Gestaltung von Lehrmaterialien. Die einzelnen Akteure wissen vielleicht um die möglichen theoretischen Einwände oder machen persönlich ganz andere Erfahrungen im Umgang mit Kunst. Die Lehrbarkeitsdoktrin als Möglichkeitsbedingung literaturdidaktischen Wissens muss deswegen nicht zu Bewusstsein gebracht oder gar in Frage gestellt werden. Es gibt einen Widerstreit von Wissensformen 21 | Aufschlussreich sind in dieser Hinsicht die Analysen von Karlheinz Fingerhut zur Verwandlung poetischer Texte in Lerntexte in Lesebüchern der Nach-PISA-Generation (vgl. Fingerhut 2006, S. 138f.).
III. Die Lehrbarkeitsdoktrin
und Überzeugungen, der in der Regel latent bleibt. Nach dem Kongress geht man ins Theater, wo der Absturz der Aufklärung ins Bodenlose vorgeführt wird. Der Begriff des Lernens, in seinen theoretischen und historischen Implikationen literaturdidaktisch weitestgehend unterbelichtet 22, transportiert mit sich die Vorstellung eines Subjekts, das im funktionalistischen Lehr-LernKreislauf fortwährend Wissen verarbeitet und akkumuliert. Das Lehren hingegen wird einerseits als ein Vermögen aufgefasst, das im Grunde auf die zu Belehrenden nicht angewiesen ist – es genügt, dass man ›kompetent‹ ist –, im Zusammenhang der funktionalistischen Auffassung bleibt der Lehrende aber zugleich an den Vorgang des Lehrens und damit an die Lernenden gebunden. Damit klafft auf beiden Seiten der Lehr-Lern-Formel eine Lücke auf. Einerseits wird sich das Lehren notwendig selbst verfehlen, da eine Umsetzung der Lehrziele wegen der Rückkopplungen im Unterrichtsprozess nicht in Sicht ist; zum Beispiel wirft die Formulierung eines Metatextes, der literarisches Verstehen sichern soll, die Frage nach neuen Texten auf. Andererseits erfahren ›die Lernenden‹ ein hohes Maß an sprachlicher Negativität: eine Frage wird beantwortet und zugleich nicht beantwortet; ein Verstehen führt zu einem Nichtverstehen höherer Ordnung; der eigene Ansatzpunkt kommt gar nicht zur Sprache usf. Es muss an dieser Stelle noch einmal betont werden, dass die Rede von der Lehrbarkeitsdoktrin nicht auf eine doktrinäre, etwa als Ideologie explizit verfügbare Auffassung abhebt, die alle Teilnehmer des Diskurses auf gleiche Weise teilen. Entscheidend ist allein, dass das diskursiv hergestellte Wissen implizit als lehrbares erachtet wird und dass solchermaßen die entstehenden Widersprüche, etwa zwischen Gegenstand und Vermittlungsauftrag, einerseits in Kauf genommen und andererseits überschrieben werden, wodurch 22 | Die handlungs- und produktionsorientierte Literaturdidaktik setzte auf methodisch inszenierte ästhetische Erfahrung und ging davon aus, dass gleichsam indirekt dabei ›Lernen‹ stattfindet. Im Zuge der Kompetenzorientierung stellte man auf überprüfbares Wissen um und versuchte direkt (durch zweckgebundene Aufgaben, die subjektiv nicht mehr als interessant empfunden werden müssen), den Lernfortschritt beobachtbar und überprüfbar zu machen. In beiden Paradigmen funktioniert die Lehrbarkeitsdoktrin, einmal durch die Betonung von Subjekt-, ein anderes Mal von Objektorientierung. Die hermeneutische Literaturdidaktik, wenn sie sich selbst ernsthaft als solche begreift, gerät in Konflikt mit der Lehrbarkeitsdoktrin; sie kann nur Prozesse anbahnen (vgl. Härle/Steinbrenner 2004). Orientiert man sich an der Dekonstruktion, führt dies zu einer Durchstreichung der Lehrbarkeitsdoktrin (vgl. Wegmann 1993) oder zum paradoxen Versuch des Lehrbar-Machens des nicht Lehrbaren (Fingerhut 1995, Spinner 1995). Avanciert: die Studie von Maiwald (2005), der auf eine konstruktivistisch begründete Ausdifferenzierung von Beobachtungsformen abhebt.
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neue Widersprüche entstehen. Das andere Wissen von der Literatur bleibt latent und das literarische Wissen erscheint auf der Bühne. Gerade der jüngere Diskurs der Literaturdidaktik hat einen kühlen Stil der Professionalität und Sachlichkeit ausgebildet, der permanent suggeriert, dass Literatur, Forschung und Vermittlung verlässliche und kontrollierbare Größen sind. Man weiß zumindest, dass man wissen kann, was Literatur ist und hält an der Auffassung fest, sie ließe sich lernen. Der empirische Forschungsstil fungiert dabei als permanenter Verstärker, der auf Basis der neuesten Daten Optimierungen vorschlägt, ohne grundsätzliche Fragen stellen zu müssen. Differenzierungen und offene Fragen finden sich in diesen Texten, jedoch nicht die Frage, ob literarisches Lesen im Modus des Lernens erworben werden kann.23 Notwendig ist in diesem Diskurszusammenhang auch der Ausschluss des Bildungsbegriffs. Wo Bildungsbemühung und funktionalistisches Lehr-Lern-Modell zusammentreffen, dürfte es zu Störungen kommen. Je professioneller literarisches Lernen erforscht und modelliert wird, desto größer der Widerspruch zwischen Lernen und Bildung.24 »Wenn man Bildung will, darf man Bildung nicht wollen.« (Wimmer 2014, S. 99) Es ist folglich von einer Differenz zwischen Bildung und Lernen bei Schülern und Lehrern, Dozenten und Studenten auszugehen. Vielsagend sind die Letztbegründungen des lernzentrierten Diskurses: Ziele sind das ›gesellschaftlich handlungsfähige Subjekt‹ und die Ausbildung zur ›kulturellen Teilhabe‹. Solche Formulierungen laufen auf ein affirmatives und funktionalistisches Modell der Gesellschaft hinaus25. Der Einzelne soll sich in das funktionierende Ganze einfügen. Wenn die anderen Literatur lesen und dies als kulturelles Kapital verbuchen können, muss auch ich dazu in der Lage sein. Und dies ungeachtet des Umstands, dass es die Lite23 | Spinner (2006, S. 6) geht davon aus, dass die Lücke zwischen Literatur und Lernen vom Kompetenzbegriff geschlossen werden kann. Auch wenn der Verf. im Weiteren nicht von Teilkompetenzen, sondern von Aspekten literarischen Lernens spricht und so ein hierarchisch-technokratisches Modell der Literaturdidaktik vermeidet, hält er an der Lehrbarkeitsdoktrin fest; vgl. dazu die Analyse von Baum (2015). Spinner beschreibt in groben Zügen, was und wie gelernt werden soll. Dass dies durch eine entsprechende Lehre zu bewerkstelligen ist, wird an einzelnen Stellen deutlich (vgl. z.B. S. 16). Die weitgehende Ausblendung des Lehrsubjekts erweckt zugleich den Eindruck, als ginge es nur um die Kommunikation zwischen Text und Leser. 24 | Nach Förster (1998, S. 66) ist es in letzter Instanz das »Monopol kultureller Legitimität«, welches über die Macht verfügt, Ansätze, die Negativität akzentuieren, nicht zu Wort kommen zu lassen. Förster vermutet hinter dem Festhalten an den Lehrbarkeitsaxiomen eine Abwehr von Modernitätserfahrungen. 25 | Letztlich laufen die Untersuchungen von Dawidowski/Hoffmann (2016) über die Einstellungen von Gymnasiasten zum Literaturunterricht auf den Befund hinaus, dass man ein gewisses Maß an Literatur wohl oder übel gelesen haben muss.
III. Die Lehrbarkeitsdoktrin
ratur selbst ist, welche die Fremdheit des Subjekts in der Welt ausbuchstabiert und damit offen lässt, welche Schlussfolgerungen der Leser daraus zieht. Anstelle der funktionalistischen Engführung von Lehren und Lernen soll hier mit Helsper (2014, S. 204) die »Differenz von Vermittlung und Aneignung« als grundlegend erachtet werden. Es gibt eine Lücke in der Praxis des Unterrichts, welchen diese permanent sich selber entzieht (vgl. Wrana 2014, S. 179). Die sprachliche, soziale und psychische Überdeterminiertheit des unterrichtlichen Geschehens lässt eine volle Präsenz der didaktischen Inhalte im Handeln als unmöglich erscheinen. Die différance im Sinne Derridas sorgt für eine Verräumlichung von Zeichen, die sich permanent wechselseitig konstituieren und verschieben, so dass die Spur der Bewegung die Sättigung der Zeichen verhindert (vgl. Derrida 1986, S. 68). Dieses Spiel kann nicht von einem intentionalen Subjekt gesteuert und beherrscht werden.26 Wenn die ›Denkbarkeit alles Seienden‹ (Nietzsche) sich im Spiel auflöst, sind kleine Sprünge und Überraschungen möglich. Die Annahme, Unterricht sei zu begreifen als Partizipation an einer richtigen Idee durch Wiederholung ihrer Form wird überwunden. So gesehen, können auch die Rollen von Lehrendem und Lernendem aufgebrochen oder gar vertauscht werden. Wir haben es nicht mit ›gesellschaftlich handlungsfähigen Subjekten‹, sondern mit Subjekten in Bewegung und Gesellschaften in Prozessen der Transformation zu tun. Die Lehrbarkeitsdoktrin verpflichtet hingegen die handelnden Subjekte auf eine Idee des Gelingens als Anwendung des richtigen Handlungswissens. Hier setzt denn auch die Reproduktion von Macht an: Misslingen wird dem Subjekt, Gelingen der Institution zugerechnet; das gilt für Schüler und Lehrer. Erschöpfung und Versagensangst hängen mit der Idee subjektiven Gelingens sowie der Lehrbarkeitsdoktrin notwendig zusammen. Jacques Rancière deutet in seiner Studie Der unwissende Lehrmeister (Rancière 2009)27 den didaktisch organisierten Zusammenhang von Lehren und Lernen als »Zirkel der Unfähigkeit« (ebd., S. 26): »Im Lehr- und Lernakt gibt es zwei Willen und zwei Intelligenzen. Man wird ihren Zusammenfall Verdummung nennen.« (Ebd. S. 23). Sein System läuft nicht auf den funktionalen Zusammenhang von Intentionen des Lehrens und Gehalten des Lernens hi26 | Mitterer (2016) zieht daraus die Schlussfolgerung, dass das didaktische Subjekt als passives zu begreifen ist. Die Erfahrung des Anderen und die Erfahrung des Textes als eines Dings, das mich durch seine Fremdheit überfordern muss, lassen diese Haltung der ›Responsivität‹ als ästhetisch und pädagogisch verantwortlich erscheinen. 27 | Rancière (2009) erzählt und deutet philosophisch die Geschichte des Dozenten Joseph Jacotot, eines exilierten Revolutionärs, der 1818 an der Universität Leuwen seine Studenten dazu gebracht hat, nur auf der Basis von Neugier und vergleichendem Selbststudium die schwierigsten Inhalte zu erschließen. Der Lehrmeister muss also gar nicht die Verkörperung des Wissens sein – sogar das Gegenteil ist möglich.
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naus, sondern gerade auf die Trennung der Intelligenzen (ebd. S. 24). Lehrprogramme, die zwischen Subjekt und Text Systeme des Erklärens schalten, nehmen nach Rancière den Subjekten die Möglichkeit, das Lernen als eigenen Erfolg zu erfahren: »Das geordnete Fortschreiten des Wissens ist eine endlose Verstümmelung.« (Ebd., S. 33) So könnte man auch von einem Zirkel der Unmündigkeit sprechen. Denn »niemand hat ein Verhältnis zur Wahrheit, wenn er nicht auf seiner eigenen Umlauf bahn ist.« (Ebd., S. 75) Man sieht, dass die radikale Bildungskritik, die Rancière mit Jacotot formuliert, auf einer Analyse der Affirmation von Macht im didaktischen Diskurs beruht. Sie ist solchermaßen eminent politisch. Denn nur die in Teile zerlegte und in einen Cursus gespannte Bildung kann sich qua Didaktik einschreiben in die nach Schuljahren und neuerdings auch nach Semestern geordneten staatlichen Bildungsprogramme. Die diskursive Verbindung solcher Programme mit Topoi des Fortschritts und der Freiheit – man denke an die Präambeln von Lehrplänen – bezeichnet Rancière als »ängstliche Freiheit« (ebd., S. 78). Dies führt zum Kern der Argumentation des unwissenden Lehrmeisters: »Wer lehrt, ohne zu emanzipieren, verdummt.« (Ebd., S. 26; vgl. S. 41) Jacotots Didaktik begibt sich auf die Suche nach dem Subjekt, ohne dieses im Vorhinein zu formatieren.28 Sie versucht den Rückschluss von einem diskursiv hergestellten Wissen über Literatur auf ein Subjekt, das gemäß diesem Wissen begriffen wird, zu vermeiden. Dem kann man nur noch entgegnen, dass die Konsequenz, nämlich die Doktrin der Lehrbarkeit preiszugeben und damit Literaturdidaktik nicht mehr als Legitimation für staatliche Programme zu begreifen, unabsehbare Folgen hätte. Die sichere und neuerdings immer stärker werdende Stellung der Literaturdidaktik als Instrument der Professionalisierung von angehenden Lehrern würde ins Wanken geraten. Aber vielleicht müsste gerade dies geschehen. Wenn das geordnete Fortschreiten des Wissens, vermittelt von Legionen kompetenter Lehrer, in letzter Konsequenz ein antiemanzipatorisches Projekt ist, bleibt vielleicht auch heute keine andere Wahl. Im Zusammenhang unserer Untersuchung ist es von besonderem Interesse, dass Rancière mit Jacotot einen Zusammenhang herstellt zwischen Fortschrittsdenken und Unmündigkeit: »Es ist die Gesellschaft, die sich vervollkommnet, die ihre Ordnung unter dem Zeichen der Vervollkommnung denkt. Es ist die Gesellschaft, die fortschreitet, und eine Gesellschaft kann nur gesellschaftlich fortschreiten, das heißt alle gemeinsam und geordnet. Der Fortschritt ist die neue Weise, Ungleichheit zu sagen.« (Ebd., S. 139) 28 | Im Gegenteil: Gerade die Kontingenz von Lernprozessen soll genutzt werden; es geht darum, etwas zu lernen und alles Weitere darauf zu beziehen (vgl. Rancière 2009, S. 29 und 33). Damit geht einher die Aufwertung der Schrift des Buches gegenüber der Stimme des Lehrenden (vgl. z.B. ebd., S. 45).
III. Die Lehrbarkeitsdoktrin
Das Zitat erinnert von fern an die oben formulierte Kritik, dass die Letztbegründungen der Didaktik auf einen funktionalistischen und affirmativen Begriff der Gesellschaft hinauslaufen. Laut Rancière ist diejenige Instanz, welche Fortschritt und Unfreiheit stets verbindet, die Erklärung. Die Richtung des Fortschritts ergibt sich nicht von selbst, sondern wird gemäß der herrschenden Doktrin von Pädagogen geleistet. Es muss nämlich erklärt werden, was die Inhalte, Ziele und Methoden des Fortschritts sind. Hier verbinden sich die verschiedenen Ebenen der Diskurse: »Tatsächlich wissen wir, dass die Erklärung nicht nur die verdummende Waffe der Pädagogen ist, sondern auch das zusammenhaltende Band der gesellschaftlichen Ordnung selbst. Wer Ordnung sagt, sagt auch Verteilung der Ränge. Die Rangeinteilung setzt die Erklärung, verteilende und rechtfertigende Fiktion einer Ungleichheit voraus, die keinen anderen Grund hat als ihr Sein. Die alltägliche Erklärarbeit ist nur das Derivat der herrschenden Erklärung, die eine Gesellschaft charakterisiert.« (Ebd. S. 137)
Die Macht des Fortschritts steht also in einem unentwirrbaren und notwendigen Zusammenhang mit dem Fortschritt der Macht. Je ambitionierter und konkreter die Systeme des Erklärens formuliert werden, desto mehr sind diese in der Lage, den Progress der Unmündigkeit 29 zu sichern. Eine nur partielle Kritik, die auf die Vor- und Nachteile einzelner Argumentations- und Forschungsstile zielt, geht an diesem basalen Widerspruch vorbei; die Techniken der Einschränkung des Diskurses (vgl. Foucault 1998, S. 11-30) zielen gerade auf die artifizielle Aufrechterhaltung von Rationalität im Jenseits ihrer Möglichkeit. Rancières philosophische Analyse der Texte von Jacotot kann nicht umstandslos auf die heutige Situation der Bildung im Allgemeinen und der Literaturdidaktik im Besonderen übertragen werden. Wir verstehen sie als Beobachtungsangebote, die, ausgehend von einem Widerspruch fortschrittlichen, aufklärerischen Denkens die Aporien von (institutionellen30) Lehrsystemen darlegen. Entscheidend ist die These, dass Systeme, die so zwischen Leser und 29 | Die Nähe der Formulierung zum Titel von Adornos Gespräch Erziehung zur Mündigkeit (Adorno 1971) ist nicht zufällig. So etwa zu Adornos These, dass »schon die Voraussetzung der Mündigkeit, von der eine freie Gesellschaft abhängt, von der Unfreiheit der Gesellschaft determiniert ist.« (S. 135) Die Folgerung nimmt die Gestalt der Paradoxie an; dass nämlich »die Erziehung eine Erziehung zum Widerspruch und zum Widerstand ist.« (S. 145) Der Riss zwischen Erziehungsauftrag und Ohnmacht der Erziehung in Anbetracht der herrschenden Verhältnisse (vgl. etwa S. 147) ist Aufweis der Unmöglichkeit eines funktionalistischen Begriffs von Pädagogik. 30 | Vgl. Rancière (2009, S. 133-137) und seine Darlegung der Reaktionen der ›Gesellschaft für Methoden‹. Es fällt allerdings schwer, den Zusammenhang von bürgerlicher
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Text vermitteln, dass sie normative Erklärungen formulieren und die Subjekte in deren Sinne formen, unter Umständen gegen den eigenen Anspruch am Progress der Unmündigkeit arbeiten. So wird auf der einen Seite das emanzipatorische Potential der Literatur vordergründig beschworen und zugleich die Besetzung der Literatur mit hegemonialen Ansprüchen der Deutung und Vermittlung fortgesetzt.31 Obwohl die Thesen Jacotots nicht eins zu eins auf die heutigen Verhältnisse übertragen werden können – man denke allein an die zahlreichen elektronischen Erklärsysteme32 –, ist es gerade die geschichtlich Perspektive, die hier interessiert: Indem der Diskurs der Aufklärung den vernünftigen Menschen erfindet, sieht er sich auch berechtigt und in der Lage, den Weg zur Vernunft zu explizieren und durchzusetzen. Dabei entsteht neue Ungerechtigkeit und dieser Prozess hält, in Variationen und Transformationen, bis zu den heutigen Erklärsystemen an. Das Subjekt, das seine Vollzüge gelingen lassen kann, wird als Fiktion noch heute benötigt, um die Lehrbarkeitsdoktrin formulieren zu können. An dieser Stelle darf der Hinweis nicht fehlen, dass auch Rancière ohne die Annahme, es gebe ein autonomes Subjekt, seine philosophische Deutung des pädagogischen Diskurses nicht formulieren kann. Allerdings ist dieses Subjekt nicht der narzisstische Spiegel der Konstitution des Gegenstands. (Ein beherrschbarer Text braucht ein Subjekt, das die Kontrolle ausüben kann.) Vielmehr formuliert Rancière mit Jacotot eine Ethik des Subjekts, das dieses in die Pflicht nimmt, um im Sinne von Bildung zu sich kommen zu können. Notwendig im Sinne einer fruchtbaren Begegnung mit dem Text sei nämlich eine »absolute Aufmerksamkeit des Sehens und Wiedersehens, des Sagens und Wiedersagens.« (Rancière 2009, S. 35) Die emphatisch mit dem Adjektiv ›absolut‹ verzierte Forderung nach der Aufmerksamkeit der Lektüre, die heute vielleicht noch schwieriger zu leisten ist, da selbst in der Hochschule die geIdeologie, Fortschritt und Unfreiheit nicht zum heutigen Wirken didaktischer Fachverbände wie dem ›Symposion Deutschdidaktik‹ in Beziehung zu setzen. 31 | Dem entspricht ein hegemonialer Entwurf des Subjekts (vgl. oben Kap. 2, insbesondere die Analyse von Wimmer). Das Erklären, d.h. der vermittelnde zweite Text, dessen Sprache die Schüler zu verstehen lernen müssen, kann z.B. in den Aufgaben vorliegen, mit welchen die Didaktik die Literatur umgibt (vgl. z.B. Kammler 2006; Kämper-van den Boogaart/Pieper 2008). Foucault (1998, S. 18-20) würde von der Instanz des Kommentars sprechen, welche die Doktrin mit dem diskursiven Ereignis so vermittelt, dass das Störende, Gefährliche des Diskurses nicht mehr sichtbar ist. Theoretisch geht es um die Invisibilisierung von Kontingenz. Nicht umsonst hat man gelegentlich den Eindruck, dass Schulbücher Trivialisierungsmaschinen gleichen; vgl. dazu Deleuze (1997, S. 198). 32 | Serres (2013) sieht gerade darin die Möglichkeit der Emanzipierung. Sein Blick auf die medialen Praktiken der jüngeren Generation fällt allerdings sehr versöhnlich aus.
III. Die Lehrbarkeitsdoktrin
wünschten Ergebnisse des Lesens vorformuliert werden (Stichworte: Modulhandbücher, ständige Prüfungen), verweist auf den utopischen Überschuss pädagogischer Leitsätze, die den inhärenten Mangel, die Erreichung der Ziele nicht garantieren zu können, kompensieren müssen. Dieses notwendige und gefährliche Verfehlen, das die Sprache der Freiheit sucht und stets zugleich in der Durchführung die Erstarrung riskiert, öffnet das Denken Jacotots für die Dekonstruktion. Wenn das Subjekt sich selber etwas lehren muss, stoßen wir auf die Verschiebung der Lehrbarkeitsdoktrin. Die Kritik der Erklärsysteme kommt selbst nicht ohne ein Erklärsystem aus. Der Schritt von der Positivität in die Negativität geschieht auf einem Drahtseil.
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IV. Paradoxes wahrnehmen
Die bisherige Untersuchung ist auf zahlreiche Spannungen, Brüche und latente Komplikationen im Wissen der Literaturdidaktik gestoßen. Bei genauerer Beobachtung zeigten sich immer mehr disparate oder auch einander entgegenstehende Elemente, die, indem sie die gewünschte Ordnung des Textes unterwandern, dessen Geltungsanspruch aufzulösen drohen. Die Literaturdidaktik, die den Anspruch erhebt, orientierendes Handlungswissen zu formulieren, sieht sich also vor die Frage gestellt, ob der sich in den Texten bemerkbar machende Widerstand der Sprache das funktionale Gefüge mit Differenzen zeichnet. Gelegentlich ist bereits der Terminus Paradoxie aufgetaucht, um diese Unvereinbarkeiten zu bezeichnen. Da die Überschreibung und Verdrängung von Paradoxien gewissermaßen der Motor ist, der literaturdidaktische Texte erst hervorbringt (vgl. Baum 2010), soll dem Paradoxen in diesem Kapitel etwas gründlicher nachgegangen werden. Wie der Titel des Kapitels suggeriert, wird das Paradoxe nicht als etwas verstanden, dem eine gegenständliche Qualität zukommt, etwas, das im ontologischen Sinne ist (eine Substanz); vielmehr hängt die Wahrnehmung von paradoxen Konstellationen von einer bestimmten Form der Beobachtung ab. In diesem Sinne können auch das Fehlen von Textelementen, stilistische Brüche, unausgesprochene, aber zugleich hoch wirksame Annahmen usf. Indikatoren für die paradoxe Verstrickung des Textes mit sich selbst sein. Der Text durchbricht gewissermaßen die Doxa (herrschende Meinung), die er selbst zum Ausdruck bringen möchte. Er tut dies, weil er über seine eigenen Voraussetzungen, z.B. den widersprüchlichen Begriff des Subjekts, nicht verfügen kann. Es erscheint notwendig, das Paradoxe, zumindest vorerst, begrifflich für alle möglichen Formen von unversöhnlichen Differenzen offen zu halten und die Beobachtung nicht zu eng einzustellen. Es geht also weder in einem nur logisch-formalen Sinne um Antinomien bzw. Widersprüche noch im Sinne
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Der Widerstand gegen Literatur
einer praktischen Ethik um ein Dilemma1. Während die Antinomie, der logische Widerspruch, sich im Rahmen einer formalen, der Mathematik ähnelnden Ordnung bewegt, ist der Ort des Dilemmas das Handeln, das sich nicht aus unzweifelhaften Gründen ableiten kann. Das Paradoxe hingegen erscheint überall da, wo auf die Sprache nicht verzichtet werden kann. Das gilt sogar für die bekannten Gedankenspiele, die das Paradoxe nicht eigentlich philosophisch, sondern eher rhetorisch behandeln, z.B. das Kreter-Paradox: »Epimenides, der Kreter, sagte: Alle Kreter sind Lügner.« Hier muss in vielfacher Weise die Frage der Semantik mit der Frage der sachlichen Folgerichtigkeit in einen Zusammenhang gebracht werden. Wer spricht? Was heißt lügen? Wie verträgt sich der eine Teil der Aussage mit der anderen? Warum Kreta bzw. die Kreter? Der Leser oder Zuhörer bewegt sich plötzlich bewusst in einer Sphäre, in der er sich sonst auch, aber unbewusst aufhält. »Es ist dies die Sphäre der Medialität, d.h. aller symbolischen Ordnungen und Strukturen, in denen sich Sinn und Bedeutung generieren, vor allem also der Sprache.« (Wimmer 2006, S. 281f.) In der Sprache gibt es keine letzte Gewissheit, weil sie, wie Ferdinand de Saussure zeigen konnte, nur aus Unterschieden gebildet ist. Während also die Zeichen genuin unbestimmt sein müssen, um bestimmbar zu sein, verträgt die Wahrheit keine Unbestimmtheit. Im Kreter-Paradox entsteht Unbestimmtheit u.a. dadurch, dass der Satz semantisch inakzeptabel, aber syntaktisch akzeptabel ist. Das Verb in Wimmers Satz – generieren – ist zu beachten. Es gibt die Sprache nicht als Entität, sondern nur in der Bewegung ihrer Vollzüge. Die Sprache muss sprechen, das heißt ständig über sich selbst hinaus gelangen, um sich selbst zu finden (im Anderen). Im Kreter-Paradox wird eine Aussage getroffen, die formal betrachtet keine Mängel aufweist, die durch weitere Äußerungen behoben werden müssen. Aber zugleich drängt der Satz auf weitere Sätze, welche die ausgesperrte Kausalität und Widerspruchsfreiheit wieder hereinholen und die Negativität der Bestimmung in der Positivität einer befriedigenden Interpretation aufheben. Die Sprache will sich selber überschreiten, um endlich ans Ziel (jenseits der Sprache) zu gelangen. Der Raum, der sich dabei bildet, lenkt die sprachliche Energie immer wieder auf sich selbst zurück. So wird die paradoxe Miniatur zum Modell des Verhältnisses von Sprache und Welt. Die Struktur der paradoxen Äußerung lässt sich als negativ didaktisch begreifen. Die Sprache will uns mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln von etwas überzeugen, von dem sie uns nicht überzeugen kann. Die Lehre besteht darin, dass sich keine Lehre daraus gewinnen lässt. Gerade indem die Grammatik auf das äußere Zeichen der Negation des Verhältnisses von 1 | Die Invisibilisierung des Paradoxen durch die Rede vom Dilemma ist eine in literaturdidaktischen Texten häufig anzutreffende Stilfigur; dem wird noch genauer nachzugehen sein (vgl. z.B. Kap. 7).
IV. Paradoxes wahrnehmen
Sprache und Wirklichkeit verzichtet, den Konjunktiv, schreibt sich dieser als universale Struktur der Sprachlichkeit in die Äußerung ein. Nietzsche verspottet diejenigen, welche die Denkbarkeit alles Seienden postulieren; der negativ didaktische Text irritiert bereits die Sagbarkeit des Seienden. Und er tut dies in einer Sprache, die gleichzeitig stets genau das, die Sagbarkeit des Seienden nämlich, behauptet. Die Sprache ist metaphysisch und nicht-metaphysisch zugleich. Derrida hat daraus die – naturgemäß paradoxe – Konsequenz für seine Arbeit gezogen: »Es ist sinnlos, auf die Begriffe der Metaphysik zu verzichten, wenn man die Metaphysik erschüttern will. Wir verfügen über keine Sprache – über keine Syntax und keine Lexik –, die nicht an dieser Geschichte beteiligt wäre.« (Derrida 1976, S. 425)
Was die paradoxe Miniatur auf engstem Raum vorführt – den Bruch zwischen Sprache und Welt –, ist zugleich ein Kardinalproblem philosophischen Schreibens und gerade dadurch wird dieses Schreiben immer aufs Neue angespornt. Ebenso schleppen die Wissenschaften die Unmöglichkeit und gleichzeitige Notwendigkeit ihres Anspruchs, Wahrheit und Sprache in Übereinstimmung zu bringen, mit sich herum. Ist der Gegenstand des Forschens wiederum Sprache potenziert sich das Problem: Die sprachliche Energie wird von der Welt abgelenkt und zurück ins Medium projiziert, wodurch immer mehr Rückkopplungseffekte entstehen. Oszilliert das Denken allgemein stets zwischen Identität und Differenz, so führt die Beobachtung von Paradoxem zur intensivierten Wahrnehmung der Differenz (vgl. Hagenbüchle 2002, S. 28). Das ermöglicht Ereignisse auch im vermeintlich durch Disziplin und Methode geregelten Bereich der Wissenschaft. Hagenbüchle (2002, S. 39) betont etwa die Plötzlichkeit der Wahrnehmung des Paradoxen, das »mit einem Schlag das eine und sein Anderes in den Blick treten« lässt. Bode (2002, S. 619) sieht in der Paradoxie eine starke Irritation der üblichen Rahmen des Verstehens. Und Broich (2002, S. 613) spricht gar von einer »ludische(n) Komponente« im »paradoxen Spiel«. Mit dem Begriff des Spiels wird gleichsam ein Eintreten in die Selbstreferenz der sprachlichen Vollzüge adressiert, die nur im Spiel (!) selbst auf Distanz gehalten werden kann. Die Wahrnehmung der Paradoxie geschieht in Broichs Perspektive also gewissermaßen um den Preis des Verlusts einer klar abgegrenzten Metaebene im Sprachspiel der Wissenschaft. Das Objekt kann nicht mehr auf Distanz gebracht werden, weil es im Subjekt schon sprachlich vorgebildet ist. Wer sich auf der Grenze zwischen Handeln und Beobachten bewegt, wer also in der Sprache über die Sprache spricht, wird hineingezogen in die endlose Differenzierung der paradoxen Sprachlichkeit. Denn die Dementierung der metaphysischen Sehnsüchte in der Sprache kann, nach Derrida, nur mit der Sprache der Metaphysik vollzogen werden. So wird auch in dieser
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Arbeit der Aufweis des Paradoxen in einem Diskurs, der sich für transparent hält, mit der eigenen Verstrickung ins Paradoxe bezahlt. Die Wahrnehmung des Paradoxen lässt also – plötzlich und gegen die Regeln – das Spiel der Differenz in den Blickpunkt treten. Die Untersuchung der Literaturdidaktik in den bisherigen Kapiteln hat dem entsprechend das janusköpfige Bild einer Wissenschaft ergeben, die einerseits gegenwärtig den Diskurs nach empirisch-funktionalistischen Regeln organisiert, was bedeutet: den Ballast der spekulativen Epoche über Bord zu werfen und zu zählbaren Ergebnissen zu kommen, andererseits aber das Erbe metaphysischen Denkens in sich trägt, ohne dies zu bekennen. So reartikuliert sich im Terminus des ›Handlungswissens‹ eine Auffassung, die, ganz im Sinne der Metaphysik, die Integration von Wissen und Handeln als Gelingen begreift. In der Antizipation des gelingenden Handelns als gedachtes, ideell Erscheinendes lebt der Glaube der Aufklärung an die autonome und normative Kraft des Subjekts weiter. Nicht umsonst hat sich die Literaturdidaktik mit allen vernunft- und aufklärungskritischen Texten und Theorien wie der Kritischen Theorie, welche die Dialektik der Aufklärung betont und so dem Fortschrittsdenken entgeht, der Dekonstruktion, die den Abstand der Zeichen zu sich selbst ausbuchstabiert sowie der Systemtheorie, welche die Beobachtungsabhängigkeit und soziale Konditioniertheit allen Wissens (auf bauend auf systemtypischen Paradoxien) zur Grundlage ihrer Erkenntnis macht, unendlich schwer getan. Stets drohte die Anwendung des jeweiligen Paradigmas auf das eigene Feld und damit die Unterhöhlung dieses Feldes oder: das Ende der Literaturdidaktik als orientierende funktionale Berufslehre (geadelt durch akademische Lehrstühle). Sobald zum Beispiel ein kritischer Begriff des Subjekts ins Spiel kommt, betritt auch die Didaktik unsicheren Boden.2 Das als stabil und gesellschaftlich handlungsfähig gedachte Ich wird zu einer beweglichen, aber auch fragilen Größe: »Mit der Stabilisierung des Selbst wird aber auch deutlich, daß die Logik der Identität, der es sich doch verdankt, es zugleich verfehlt. Mit der Selbstwerdung verdoppelt sich das Bewußtsein in der Reflexionsbewegung. Es öffnet sich ein Spalt im Selbst, der das Selbstverhältnis uneinholbar werden läßt. Dieser Spalt in der Selbstgegenwart begründet Zeitlichkeit. Ursprung lebendiger Selbstgegenwart ist die Projektion des Selbst in die Zeit. Das Selbst kommt zu sich, indem es sich entgleitet.« (Geyer 2002, S. 15)
Die paradoxe Identität durch Differenz bildet sich nach Geyer in der Zeit oder anders gesagt: Die Zeit ist Bedingung der Möglichkeit von Identität und zu2 | Das Problem ist aus der Theorie des Lesens vertraut: Zwischen der(Selbst-)Beobachtung des Lesens als Lesen und dem Lesen, wenn es so etwas in einem begrifflichen Sinne überhaupt gibt, klafft eine Lücke, die den ständigen Entzug des Lesens bewirkt. Das Subjekt entgleitet sich in der Lektüre.
IV. Paradoxes wahrnehmen
gleich das Medium der supplementären Verschiebung der Identität, die anders sein muss, um sein zu können, wie sie will. In diesem Sinne lässt sich die Vorstellung einer eigenen Identität immer nur in Hinsicht auf eine Zukunft formulieren, auch wenn weite Teile der Vergangenheit eingeschlossen werden sollen. Die Krise der Zeit ist dem metaphysischen Diskurs in die Wiege gelegt. Parmenides, dessen überlieferte Fragmente immer wieder von der unzerstörbaren Substantialität der Dinge sprechen, dementiert die Bedeutung der Zeit: »[…] So bleibt einzig noch übrig die Rede von dem Weg, daß (etwas) ist. An ihm sind sehr viele Kennzeichen, daß Seiendes ungeworden und unvergänglich ist, ganz und einheitlich, und unerschütterlich und vollendet.« (Parmenides 2014, S. 11)
Während Heraklit die Zeitlichkeit des Seins mit seiner Widersprüchlichkeit und Rätselhaftigkeit in Verbindung bringt und dabei insbesondere auf die Unbestimmtheit der Bilder und Zeichen abhebt, betont Parmenides, dass das Wesen der Dinge sich gerade in deren Unabhängigkeit von der Zeit zeigt. Die Problematik der Sprache ist gewissermaßen stillgestellt. Die zitierten Sätze entspringen nicht einem Monolog der Philosophenstimme, sondern werden von Dike, der Göttin der Gerechtigkeit, die das Tor zur Wahrheit bewacht, gesprochen. Das fragmentarisch überlieferte ›Lehrgedicht‹ des Parmenides berichtet in poetischer Form von einem Ich, das auf einem Wagen fahrend, der von zwei Mädchen gelenkt wird, sich auf den Weg zur Wahrheit macht. Das Ich ist folglich Adressat einer Stimme, die mit der Autorität der Göttin spricht. Die Metapher des Weges (zur Wahrheit) ist gekoppelt an den Gegensatz von Hell und Dunkel, Leben und Tod sowie – schließlich – Wahrheit und Unwahrheit; denn die Frauen, die den Wagen lenken, sind Dienerinnen der Sonne und als solche lassen sie die Dunkelheit hinter sich und mit der Dunkelheit (des Heraklit?) die Unwahrheit und den Tod. So schreibt sich allerdings in die positiv gesetzten Zeichen die Negativität ihres Gegenteils bereits ein, denn ohne dieses Gegenteil, das Negativum, kann das Positivum nicht ausgedrückt werden. Die Eigenlogik des Mediums Sprache bedingt, dass die angestrebte Reinheit, Wahrheit und Lebendigkeit des Lichts als solche nicht für sich allein stehen kann, sondern stets mit einem Schatten der Nicht-Identität behaftet ist. Das Bild des Weges ist vielsagend. Der Verweis auf eine gerichtete Zeitlichkeit ist darin ebenso lesbar wie die prinzipielle Umkehrbarkeit und Zufälligkeit des Weges: Es mag mehrere Wege geben, die zum Ziel oder zu anderen Zielen oder zu gar keinen Zielen führen. Wenn allerdings die Vorstellung der gerichteten Zeitlichkeit verloren geht – recht eigentlich ein Bild für die Aufhebung der Zeit –, so muss auch die Vorstellung der einen, wahren Sache fallen gelassen werden. Sobald verschiedene Wege als gangbare gedacht werden, löst
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sich die Ordnung der Zeit ebenso auf wie diejenige der Sache, die nun in unterschiedlicher Weise erscheint – das Verb ist kein Zufall, denn es ist vorstellbar, dass mit der Verrätselung der Wahrheit auch ihr ästhetischer Charakter sichtbar wird; jeder Weg hat seine spezifische Gestalt. Von entscheidender Bedeutung für das, was man die abendländische Metaphysik genannt hat, sind die Aussagen der Dike über Denken, Wahrheit und Sein; auf diese nimmt auch Nietzsches kritisches Diktum von der Denkbarkeit alles Seienden Bezug (vgl. oben Kap. 1): »So komm denn, ich will dir sagen – und du nimm die Rede auf, die du hörst – welche Wege des Suchens allein zu denken sind. Der eine: daß (etwas) ist, und daß nicht zu sein unmöglich ist, ist der Weg der Überzeugung, denn die geht mit der Wahrheit. Der andre: daß (etwas) nicht ist, und daß nicht zu sein richtig ist, der, zeige ich dir, ist ein Pfad, von dem keinerlei Kunde kommt. Denn was eben nicht ist, kannst du wohl weder wahrnehmen – denn das ist unvollziehbar – noch aufzeigen. Denn dasselbe kann gedacht werden und sein.« (Parmenides 2014, S. 9)
In diesen Sätzen bildet sich die Struktur metaphysischen Denkens ab. Expliziert werden zwei Begriffe, Sein und Nicht-Sein, wobei das erstere höher gewertet wird, weil es ›richtig‹ (in gewissem Sinne: ethisch begründbar) ist. Zugleich bleibt der höher gewertete Begriff an sein Pendant gebunden, denn das Sein kann ohne das Nicht-Sein gar nicht begriffen werden. Der Abgrund des Nichts ist die Voraussetzung dafür, dass überhaupt etwas gedacht werden kann.3 Der Text des Parmenides überschreibt die selbst (re-)produzierte Opposition, indem er die Wahrheit des Seins an sinnliche Gewissheit und referentielle Kraft zurückbindet. Das Nicht-Sein ist gleichbedeutend mit dem Weg der Unwahrheit, weil es in ihm keine Gewissheit und damit keine Identität von Denken und Sein gibt. (Zugleich gibt es dieses Nicht-Sein in der Sprache.) Will das menschliche Bewusstsein das Wesen der Welt erfassen, muss es die Dinge und Sachverhalte der Welt in sich repräsentieren und durchdringen können.4 Parmenides gibt damit die ganze Welt oder zumindest das, was er für die Welt hält, frei für Erkenntnis und Reflexion. Diese Leistung ist immens, denn sie versetzt den Menschen in die Lage, die Welt intellektuell durchdrin3 | Mythische Ursprungserzählungen arbeiten sich ab an der Entstehung eines wahrnehmbaren und entwicklungsfähigen Etwas aus der konturlosen Indifferenz (etwa als Nebel, Wasser, Weltall usf.), die doch das Sein in sich trägt. Mit anderen Worten: Der Mythos, vom Logos angeblich überwunden, kannte einen Zustand zwischen Sein und Nicht-Sein. 4 | Es muss sich dann allerdings auch um Dinge und Sachverhalte handeln; d.h. die Welt muss als Substanz gedacht werden. Denn nur das Substantielle fügt sich in die Ordnung der Repräsentation.
IV. Paradoxes wahrnehmen
gen und sich damit aneignen zu können. Der Mensch ist nicht länger zaudernder, furchtsamer und genuin passiver Adressat göttlicher Zeichen und mythischer Erzählungen, sondern er wechselt sozusagen von einem geschaffenen zu einem schaffenden Wesen. Da sich das wahre Wesen der Welt erst im reflektierenden Bewusstsein entbirgt, ist dem denkenden Menschen der Weg zur geistigen Herrschaft über die Welt geebnet.5 Und es muss nicht bei der intellektuellen Leistung bleiben, denn Erkenntnis und Wissenschaft werden ihr Wissen politisch, ethisch, ökonomisch usf. ins Werk setzen. Das Denken des Parmenides weist der Sprache die Aufgabe zu, das Wesen der Welt abzubilden, so dass es im Bewusstsein repräsentierbar wird. Denn was nicht denkbar ist, ist auch nicht sagbar (vgl. Parmenides 2014, S. 13). Die Metaphysik der Präsenz ist nicht denkbar ohne die Repräsentationsfunktion der Sprache. Mit anderen Worten: Wenn sich die Eigenlogik des sprachlichen Mediums in die Erkenntnis einschreibt, verliert letztere ihren Halt.6 Vieldeutige Zeichen, z.B. solche die, wie die Metapher, gewissermaßen ineinander gefallen sind und deswegen nicht mehr als Einheit oder Substanz gedacht werden können, verletzen sowohl die natürliche Ordnung der Dinge als auch diejenige der Sprache. Das Seiende ist eine Substanz, die von anderen Substanzen zu unterscheiden ist. Es gibt kein Seiendes im Seienden, folglich keine Differenz und keine Zeit: »So ist Werden ausgelöscht und verschollen der Untergang. Auch geteilt ist es nicht, da es als ganzes gleichmäßig ist und nicht an einer Stelle irgend etwas mehr, was es hindern würde zusammenzuhängen, noch irgendetwas weniger, sondern im ganzen voll ist von Seiendem. Darum ist es als ganzes zusammenhängend: Seiendes stößt an Seiendes.« (Parmenides 2014, S. 15)
Interessant ist diese Passage zunächst deswegen, weil die Existenz von Werden und Vergehen nicht geleugnet wird. Allerdings kommt dem Denken die Aufgabe zu, das wahre Sein der Dinge jenseits ihrer zeitlichen und räumlichen Kontingenz herauszuarbeiten.7 Indem nun aber das Denken das wahre Sein 5 | Zugleich bedingt die Präsenz des Seienden im Bewusstsein die Entzeitlichung des Seienden; das Erscheinen der Dinge wird aus deren selbstverständlicher Existenz heraus gedacht und ist folglich nicht an eine Prozessualität des Bewusstseins gebunden. 6 | Noch in der Hermeneutik Schleiermachers, die sich von der Metaphysik des Sinns verabschiedet, weil sie diesen stets als zur Suche aufgegeben betrachtet, gilt die Gleichung: Denken ist inneres Sprechen und umgekehrt; vgl. Schleiermacher (1977, S. 77f.). 7 | Damit wird es auch sehr schwer möglich, den Körper zu denken; stattdessen erscheint der ›Mensch‹ auf der philosophischen Bühne. Der humanistische und neuhumanistische Diskurs konnte daran später anknüpfen.
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der Dinge zu begreifen versucht, bekommt es auch Macht über diese. Die im Denkakt negierte Differenz von Denken und Sein ist die Voraussetzung für die Herrschaft des Geistes über die Welt. Parmenides berichtet, ob gewollt oder nicht, an dieser Stelle davon, wie das Denken das Sein zerreißt, indem es dieses aufspaltet zwischen Zeit und Zeitlosigkeit, Identität und Alterität. So geht auch die rätselhafte Vieldeutigkeit der Welt verloren. Wenn Seiendes an Seiendes stößt, aber sich im Seienden keine Differenz auftut, kann das Seiende nicht zugleich so und anders sein. Die Paradoxie ist aus dem Denken verbannt. Mit dem Siegeszug des Identitätsdenkens sinkt das Paradoxe zu einer Sammlung von instrumentalisierten Schulbeispielen hinab; etwa bei Zenon von Elea. In der Metaphysik des Aristoteles (vgl. z.B. Metaphysik IV,3; dazu Wimmer 2006, S. 232-238) wird dann die Widerspruchsfreiheit zu einem expliziten, regulativen Prinzip des Denkens, das Philosophie und Wissenschaft bis in die Gegenwart hinein prägt. Die Erneuerung der Philosophie sowie der Kultur- und Texttheorien in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geht hingegen einher mit der Wiederentdeckung des Paradoxen. Die Dinge können, gemäß dieser Sichtweisen, sehr wohl so und zugleich anders sein.8 Der metaphysische Schluss von Essenz auf Existenz wird unterbrochen. Die Essenz bricht die Existenz entzwei. Insofern die Essenz als paradoxe Identität in der irreduziblen Differenz gefasst werden muss, gibt es auch keine Sache mehr, deren geistige Seite sie ist. Sprache kann nicht mehr als Repräsentation gedacht werden. Doch es kommt nicht darauf an, die Erkenntnistheorien des Parmenides und Aristoteles gegen die Weltsicht der Moderne auszuspielen. Das wäre offensichtlich grobschlächtig und wenig gewinnbringend. Die griechischen Philosophen konnten die Welt nicht mit den Augen moderner Menschen sehen. Auf die Tradition, die von Griechenland aus begründet wurde, muss gleichwohl ausführlich hingewiesen werden, weil das Identitätsdenken – etwa als Vorstellung eines Subjekts, das Gelingen aus eigener Kraft begründen kann – unterschwellig, aber zugleich hoch wirksam weiterhin ganz wesentlich den Diskurs der Didaktik als wissenschaftlich gesicherte funktionale Berufslehre beherrscht. So bricht sich z.B. auch in der Vorstellung der durch Kompetenz beherrschten Literatur ein hegemonialer Begriff der Kunst Bahn, der ohne Zentrierung durch ein Denken der Identität gar nicht möglich gewesen wäre. Noch einmal: Die Literaturdidaktik ist genauso funktionalistisch und empiristisch wie sie unterschwellig metaphysisch ist. Das Empirische kann überhaupt erst im Medium metaphysischer Begriffe erscheinen. Der literaturdidaktische 8 | Schon davor hatte sich eine verfeinerte Form der Wahrnehmung etabliert, die das Sein des Menschen gerade an seine unsichtbare Seite knüpft. Die Rede ist von der Psychoanalyse. Es überrascht wenig, dass der psychoanalytische Begriff des Subjekts in der Literaturdidaktik nicht die geringste Rolle spielt.
IV. Paradoxes wahrnehmen
Mehrheitsdiskurs zielt letztlich auf eine empirische Feststellbarkeit artifizieller, gedachter Konstrukte von literarischem Verstehen bzw. literarischer Kompetenz. Dem Empirischen kommt die Aufgabe zu, das Gedachte zu beglaubigen, so dass schlussendlich aus Ideen Tatsachen werden. Wenn empirisch messbar geworden ist, was am Reißbrett entworfen wurde, fallen Denken und Sein wieder zusammen (vgl. Baum 2012, S. 26). Es zeigt sich (vermeintlich) als Wahrheit des Unterrichts, was diesem ursprünglich nur zugeschrieben worden ist. Wer die Vorstellung ausarbeitet, es gebe so etwas wie literarische Kompetenz, wird den vom Menschen gemachten Gedanken schließlich als etwas begreifen, das nur wiederspiegelt, was schon vorher, außerhalb der Sprache und des Denkens, da war. Hat sich die Sprache und mit ihr das Denken durch Intersubjektivität stabilisiert oder, ganz und gar unmetaphysisch und mit Foucault: hat der Diskurs durch soziale Verankerung und rituelle Wiederholung an Wucht gewonnen, so dass er sich selbst beglaubigen kann, wird der Gedanke wahr, überschreitet das Wort die Grenzen der Semantik und wird referentiell. Das Wort scheint zu seiner ursprünglichen Funktion, der Abbildung einer Sache, zurückkehren zu können. Und das Vorgestellte verschmilzt mit dem Vorgefundenen und erhält so seine Identität. Es ist wichtig zu sehen, dass selbstverständlich auf Nachfrage jeder ernsthafte Wissenschaftler um den Konstruktcharakter von Modellen und wissenschaftlichen Erklärungen weiß. Sobald eine höhere Beobachtungsebene angeboten wird, werden alle Gutwilligen beteuern, dass von einem philosophischen Standpunkt aus gesehen, sich die formulierten Ansprüche als sprachlich-diskursiv vermittelt und in sozialen Zusammenhängen stehend erweisen. Entscheidend ist aber, dass der implizite Anspruch, bestimmte Konstrukte Wirklichkeit werden zu lassen, nicht aufgegeben wird – was damit beginnt, dass man darüber redet, als ob diese wirklich seien. Die soziale Gewalt der Sprache ist eine Funktion der metaphysischen. Das wissenschaftliche Sprachspiel funktioniert so, als ob die Dinge existierten und in der sozialen sowie diskursiven Realität verschwindet dieses Als-Ob und öffnet sich für das Begehren nach Referenz und Macht. Macht kann nur ausgeübt werden, wenn eine Sprache zur Verfügung steht, in der die Welt unzweifelhaft zur Erscheinung kommt. Die Folge der endlosen Theorie-Diät in der Literaturdidaktik, das zeigen diese Überlegungen hoffentlich, ist die Blindheit für diejenigen Paradoxien, die man zu bewirtschaften hat. Während der leitende kognitivistische Diskurs das Kompetent-Sein durch Wissen auf der Basis eines Denkens von Identität, Substantialität und Kausalität predigt, brechen die Erfahrungen des Unterrichts und des Nachdenkens über Literatur einfach weg, weil sie sich dem Maschinenmodell nicht fügen. Die Bedeutung ästhetischer Zeichen ist nichts, was sich in einem Netz aus Propositionen abbilden lässt; die Verfügbarkeit der Sprache hat einen Platz im Denken, aber sie hat keinen Ort im Sein. Und die Wirkung der performativen Differenz besteht in einer ständigen Selbstver-
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fremdung des Miteinander-Sprechens und Interagierens in dem Sinne, dass ich kein Zeichensystem ›habe‹, um zu kommunizieren. Es gehört zu den paradoxen Momenten in der Beschäftigung mit der Literaturdidaktik, dass nur eine gesteigerte theoretische Anstrengung, die auf die Formulierung von Handlungswissen verzichtet, dazu führt, die Erfahrung der Praxis wieder in den Diskurs einzuschreiben. Warum soll man das Lehren nicht als philosophischen Beruf verstehen dürfen?9 Umgekehrt führt der Forderung des Gelingen-Sollens, der letztlich nichts anderes ist als eine lächerliche Chimäre (vgl. Hochstadt 2006, Heinrich 2011), zu einem gleichsam metaphysisch aufgeladenen Druck, unter dem die beteiligten Subjekte zerbrechen können.10 In der sozialen Realität macht sich dieser Druck als strukturelle Gewalt bemerkbar, die Formen, Funktionen und Kanäle findet, um wirksam werden zu können. Alexander Thumfahrt notiert in Hinsicht auf die institutionalisierte Aufklärung: »Der so genannte große Gang der Freiheit war auch ein Gang der Normalisierung, der Veralltäglichung durch Reglementierung« (Thumfart 2012, S. 98), eine Entwicklung, die schon in der Pervertierung des Bildungsbegriffs im Laufe des 19. Jahrhunderts angelegt war oder sogar durch diese in besonderer Weise zum Ausdruck gekommen ist (vgl. Assmann 1993). Es ist das wichtigste Anliegen dieser Arbeit, die paradoxen Konstellationen im Diskurs der Literaturdidaktik wahrnehmbar zu machen (vgl. v.a. Kap. 5, 6 und 7) und diese so in die Lage zu versetzen, die eigene Funktion im MachtWissen-Zusammenhang insbesondere des Schulwesens besser verstehen zu können. Die Wahrnehmung von Paradoxem wird dann nicht zu Blockaden führen, sondern umgekehrt Entwicklungen ermöglichen, die keiner linearen und kausalen Logik gehorchen. »Die Expansion der Wissenschaft«, schreibt Lyotard, »wird nicht durch den Positivismus der Effizienz hervorgebracht. Das Gegenteil ist der Fall: Am Beweis arbeiten bedeutet das Gegenbeispiel, das heißt das Unbegreifliche, suchen und es ›erfinden‹; an der Argumentation arbeiten heißt das ›Paradoxon‹ suchen und es durch neue Spielregeln des Raisonnements legitimieren.« (Lyotard 2005, S. 158) In diesem Sinne »entwirft die postmoderne Wissenschaft die Theorie ihrer eigenen Evolution als diskontinuierlich, katastrophisch, nicht zu berichtigen, paradox.« (Ebd., S. 173) Der Eingang der Argumentation erinnert überraschenderweise an Adorno: Das positivistische Effizienzdenken nimmt den Fortschritt für sich in Anspruch 9 | Vielleicht würden dann die Chancen darauf steigen, auch im Didaktik-Seminar etwas zu hören, das zum Denken anregt. 10 | Dies häufig umso mehr als gleichzeitig die Kommunikation um Begriffe wie Empathie, Differenzierung, Offenheit, Respekt usw. zentriert zu sein pflegt. Man gibt vor, wissen zu wollen, wie es der Kandidatin/dem Kandidaten geht, man veranstaltet ein Ritual institutionell garantierten Verständnisses, das den Machtcharakter der Situation verschleiern soll, aber naturgemäß genau das Gegenteil bewirkt.
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und führt doch zu einer einzigen Regression. Folglich hat Wissenschaft zu zeigen, wo die Abgründe des metaphysischen Sprach- und Gesellschaftsmodells liegen. Das Unbegreifliche und Paradoxe zu suchen und gerade darin den ›Fortschritt‹ des Wissens zu sehen, macht das Unbotmäßige, Irritierende von Wissenschaft aus. Es ist unschwer zu erkennen, dass in der Beschreibung Lyotards mit den Grenzen der Erkenntnis selbst gespielt wird. Das Paradoxe ist auf der Grenze der Erkenntnis gelegen, doch gerade darin liegt die Leistung der Wahrnehmung des Paradoxen; es ist in der Lage, die Erkenntnis, die irrtümlich annimmt, mit allem zurechtkommen zu können, zu erschüttern. Damit wird das Bild der Wissenschaft selbst erschüttert. Die Überlegungen Lyotards weisen einen historischen Index auf. Er schreibt (gegen Ende der 1970er Jahre) über die sich durchsetzende Postmoderne, die, was die Merkantilisierung des Wissens und das Ende der großen Erzählungen angeht, bereits auf unsere Gegenwart hindeutet. In Lyotards Text ist jedoch eine diabolische Freude an der Wiedergeburt des Paradoxen zu spüren, deren Wirkung in der heutigen Wissenschaftslandschaft, gerade aufgrund der von Lyotard beschriebenen Entwicklungen und der vielleicht damit zusammenhängenden Theoriemüdigkeit bei gleichzeitiger Aufwertung von Didaktik, überschaubar ist. Das postmoderne Wissen selbst weiß ja um den Ausschluss von nicht-denotativen Sprachspielen aus der Wissenschaft (vgl. Lyotard 2005, S. 80f.) und sieht in dieser Regel gerade eine Bedingung von Wissenschaftlichkeit, gegen die dann die eigene Position vertreten wird. Die vorliegenden Überlegungen schließen, was den Erkenntniswert der Wahrnehmung des Paradoxen angeht, an Lyotard an. Allerdings wird dies noch näher zu begründen sein.11 Es hat – wenig überraschend – nicht an Versuchen gemangelt, die Wahrnehmung des Paradoxen im Namen der Vernunft und gesellschaftlichen Verantwortung zur Ordnung zu rufen. Das 143. Stück aus Baltasar Gracians Hand-Orakel, erstmals veröffentlicht im Jahr 1653, soll hier stellvertretend in der Übersetzung von Arthur Schopenhauer zitiert werden: »Nicht, aus Besorgnis trivial zu seyn, paradox werden. Beide Extreme schaden unserm Ansehen. Jedes Unterfangen, welches der Gesetztheit zuwider läuft, ist schon der Narrheit verwandt. Das Paradoxon ist gewissermaßen ein Betrug, indem es anfangs Beifall findet, weil es durch das Neue und Pikante überrascht: allein wann nachher die Täuschung verschwindet und seine Blößen offenbar werden, nimmt es sich sehr übel aus. Es ist eine Art Gaukelei und in Staatsangelegenheiten der Ruin des Staats. Die, welche nicht auf dem Wege der Trefflichkeit es zu wahrhaft großen Leistungen bringen können, oder sich nicht daran wagen, legen sich auf das Paradoxe: von den Thoren werden sie bewundert; aber viele kluge Leute werden an ihnen zu Propheten. Es beweist eine Ver11 | Vgl. die Anmerkungen unten zu Foucault.
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Wie jede kluge und pointierte Kritik so hilft auch diese bei der Erkenntnis der Sache. Manches, was bei Gracian negativ und verzichtbar erscheint, wird, anders aufgefasst, relevant. So deckt, paradox genug, die polemische Kritik in gewisser Hinsicht die Vorzüge des behandelten Gegenstands auf. Damit ist freilich nicht gemeint, dass man den Text von Gracian nur in sein Gegenteil verkehren muss, um ihn zu widerlegen. Das ist gar nicht möglich, da er ja durchaus gehaltvoll ist. Vielmehr bringt die Kritik, gerade da, wo sie überzieht, die Problematik des eigenen Standpunkts zum Vorschein. Am Ende schillert das Paradoxe in verschiedenen Farben und es entsteht eine Art Unsicherheit in der Sache, die neugierig macht. Zunächst einmal erscheint das Paradoxe bei Gracian als eine Art Taschenspielertrick, da es ganz auf seine Wirkung hin kalkuliert ist. Die neue Einsicht, die es ermöglicht, ist nur eine Täuschung, verwandt dem ästhetischen Schein und gerade deswegen im Bezirk von Wahrheit und Verantwortung unerwünscht. Die Vernunft, die hier spricht, klingt wie ein eifersüchtiger Liebhaber, der einen Konkurrenten, der die bessere Figur macht, zum Teufel wünscht. Die Antwort besteht in einer Grenzziehung: dort der Narr, hier die Gesetztheit. Wie könnte es die Wahrheit nötig haben, in Szene gesetzt zu werden? In der Übertreibung Gracians liegt ein Korn Wahrheit, denn er betont gewissermaßen den performativen Charakter, der im Paradoxen und dessen Wahrnehmung liegt (vgl. oben Hagenbüchle, Bode und Broich 2002). Nur verzerrt er diesen zum abgekarteten Spiel. Das ändert aber nichts daran, dass das Paradoxe, einmal bemerkt, weil es aus der Ordnung des Diskurses austritt, anmutet wie ein Ereignis. Die Sache, um die es geht, wird neu und anders beschrieben. Dadurch ändert sie grundlegend ihren Charakter. Sie ist nicht mehr diese Sache. Man hat den Eindruck, als habe die Warnung vor der Paradoxie auch mit einer Angst zu tun, die Welt zu verlieren; indem das Paradoxe wahrgenommen wird, findet eine Erschütterung, ein Umbau, ja vielleicht sogar eine Auflösung der Sache statt, an deren Substanz man geglaubt hat. All dies geschieht – und davon schweigt Gracian – in der Sprache. Indem die Sprache entgleitet, entgleitet auch die Sache. Der Verweis auf die politisch-gesellschaftliche Sphäre ist in diesem Zusammenhang besonders aufschlussreich: Das Gemeinwesen kann offensichtlich nur als metaphysisches gedacht werden. Die Wahrnehmung der Paradoxie könnte z.B. die Legitimation der Herrschaft in Frage stellen, indem deutlich würde, dass die Herrschaft selbst einer Logik des Supplements folgt und zwar gerade weil sie eine Legitimation braucht, die mit ihrer historischen und so-
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zialen Realität nichts gemein hat. Der Herrscher muss angeben, warum er herrschen darf und damit ist bereits dem Konkurrenten, der auch über eine legitimierende Erzählung verfügt, der Boden bereitet. Und was, wenn sich die Ordnung der Gesellschaft plötzlich als Unordnung zu erkennen gibt? Wenn das Prinzip der Ordnung (die metaphysische Idee, von der es beseelt wird) sich als Trug erweist? In unsere Zeit übertragen: wenn z.B. die Fiktion der Gleichheit benötigt wird, um die Ungleichheit zu reproduzieren? Es ist kein Zufall, dass die Erschütterung des Subjekts, das in eine ›Verschrobenheit der Urteilskraft‹ abgleitet, mit dem Nichtwissen in Zusammenhang gebracht wird. Im Hintergrund erscheint das Gegenbild: Das Subjekt, welches Kraft seines Wissens die Kontrolle über sich hat und es vermag, Vollzüge gelingen zu lassen. Im Diskurs von Gracian verschwistern sich Wissen und Selbstgewissheit. Allerdings wird dem Paradoxen zugestanden, dass es nicht falsch ist, sondern einer dritten Ordnung jenseits des Wahren auf der einen und des Falschen auf der anderen Seite angehört. Wahr und falsch sind in ihrer Gegensätzlichkeit von einem übergeordneten Standpunkt, der sich nicht zu rechtfertigen braucht, unterscheidbar. Das heißt: Die Grenze ist wahrnehmbar und kann von beiden Seiten aus betrachtet werden. Die Grenze zwischen Wissen und Nichtwissen ist hingegen nicht wahrnehmbar, weil die zu Grunde liegende Unterscheidung »die Grenze selbst betrifft« (Wimmer 2014, S. 80). »Man kann«, schreibt Wimmer weiter, »nur als Wissender davon wissen, ohne es selbst zu wissen.« (Ebd., S. 86)12 Ein Problem, auf das im Zusammenhang mit der pädagogischen Paradoxie (z.B. hinsichtlich der Entscheidungsmöglichkeiten im pädagogischen Handeln) noch einzugehen sein wird. All dies kann freilich, da jegliches (auch dieses) Denken, allein durch seine Sprachgebundenheit, nicht frei sein kann von metaphysischer Zentrierung, die Verunsicherung durch die Wahrnehmung des Paradoxen nicht aus der Welt schaffen. Das Paradoxe lässt sich nicht in einer Hypothese verankern, es lässt sich weder schlüssig verifizieren noch falsifizieren. Die Gefahr, der sich das Denken, wenn es sich auf das Paradoxe einlässt, aussetzt, ist von Gracian gesehen worden. Woher weiß man, dass man es nicht mit Gaukelei zu tun hat? Kann nicht durch das Paradoxe das Unwichtige in den Vordergrund und das
12 | Damit distanziert sich diese Darstellung von einem affirmativen Begriff des Nichtwissens, wie er etwa in den Dialogen Platons von einem Besserwissenden begriffen und kontrolliert wird. Insbesondere die Gesellschaft der Gegenwart hat es, gerade durch die Zunahme verfügbarer Information, mit steigender Verunsicherung durch Nichtwissen zu tun. Die Wissenschaft schickt zwar Experten in die diversen Talkrunden. In der Praxis der Forschung kommt es jedoch nicht selten zu einer immer häufigeren Revision von Anfangsunterscheidungen (vgl. Wimmer 2014, S. 82f.).
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Wichtige, zum Nachteil aller Beteiligten, in den Hintergrund treten?13 Aber was ist das Wichtige? Könnte es sein, dass das vermeintlich Unwichtige entscheidend ist? Dass eine Struktur nur von ihren Rändern her, z.B. von dem her, was sie ausschließt, begriffen werden kann? Es wird deutlich, dass das Paradoxe nicht ein Problem der Erkenntnis wie jedes andere ist. Wenn von Paradoxien die Rede ist, können zugleich Kämpfe um Wahrheit, Verantwortung, Vernunft usf. ausbrechen – insbesondere in einem Gelände wie dem Didaktischen, das als Teil des Wissenschaftssystems gesehen werden will, aber zugleich hochgradig normativ aufgeladen ist. Die einzige Form, in der sich die Wahrnehmung des Paradoxen in diesem Text ausweisen kann, ist diejenige der Lektüre: An den literaturdidaktischen Texten soll das Paradoxe wahrgenommen werden. Indem literaturdidaktische Texte noch einmal und anders gelesen werden, soll wahrnehmbar gemacht werden, was im offiziösen Diskurs, der Inhalte modifiziert, aber die Regeln des Spiels nicht ändert, unartikuliert bleibt. Wenn hier Foucaults Terminus des Diskurses verwendet wird, dann impliziert das Historizität. Die Wahrnehmung des Paradoxen ist nur möglich von einem bestimmten bzw. zu bestimmenden historischen Standpunkt aus, d.h. vor dem Hintergrund bestimmter Texte und Arbeitsweisen, die zu Rate gezogen werden. Das Paradoxe selbst, so wie es in den Texten erscheint, ist ferner seinerseits als historisch zu begreifen; es handelt sich um das Wissen und seinen Schatten in je spezifischer geschichtlicher Bedingung (vgl. Geyer 2002, S. 41). Es geht hier also nicht um zeitlose Probleme einer Lehre der Literatur – auch wenn die aufgewiesenen Konstellationen mitunter weit über den historischen Moment hinausweisen –, sondern die je spezifischen Brüche, Differenzen und Widersprüche sind so engmaschig diskursiv verwebt, dass sie nicht einfach verallgemeinert werden können. Auch wenn die Auffassung, das Paradoxe benötige das Endoxe, um überhaupt entstehen zu können, überzeugend ist (vgl. dazu Geyer 2002, S. 13; Simon 2002, S. 46), so resultiert daraus keineswegs eine Zweiteilung von Ratio und Gegenratio bzw. Logik und Ästhetik; zumal wenn unter dem Ästhetischen ein Schein verstanden wird, »der zu seiner eigenen Aufhebung drängt« (Geyer 2002, S. 13).14 Vielmehr ist das Erscheinen des Paradoxen selbst als Form der 13 | Als kleines Apperçu sei hier auf eine Diskussion der Gegenwart verwiesen: Der Verf. dieser Zeilen wird von Kammler (2011b, S. 111) für den Versuch der Wahrnehmung des Paradoxen in der Literaturdidaktik gescholten. Es gebe dort nämlich »Sinnvolles zu tun«; vgl. dazu Baum (2012, 2014). Das Paradoxe irritiert immer noch wie zu Gracians Zeiten. 14 | Siehe dazu auch Simon 2002, S. 46: »Para-dox ist etwas, das der vorherrschenden Auffassung, der Doxa, und der aus ihr resultierenden Erwartung entgegensteht. Widersprüchlich ist dagegen, was sich selbst widerspricht. Das Paradoxe beruht mithin
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Erkenntnis zu begreifen. Es ist ferner fraglich, ob die Moderne das Paradoxe durch Vermittlung und Differenzierung aufheben konnte (vgl. Geyer 2002, S. 13); etwa in dem Sinne, dass das Entweder-Oder durch ein Sowohl-Als-Auch ersetzt wurde. Beispiel: Niemand ist nur böse oder nur gut; er ist dies jeweils nur in gewisser Hinsicht und in spezifischen Zusammenhängen, die je neu bestimmt werden müssen. Damit ist dieser Jemand nicht sowohl gut als auch böse (Paradoxie), sondern Kommunikation und Interpretation legen in unterschiedlichen Kontexten fest, inwiefern das Eine und inwiefern das Andere zutrifft (vgl. zu diesem Beispiel Geyer 2002, S. 13). Das Problem des Beispiels liegt darin, dass die Möglichkeit einer sicheren Unterscheidung von Gut und Böse jeweils (wenn auch situativ) vorausgesetzt wird. Das setzt weitere Unterscheidungen voraus (etwa aus dem Bereich einer je spezifisch konditionierten Moral), die im ›Jenseits von Gut und Böse‹ wieder aufgehoben werden könnten. Wo ist die Anfangsunterscheidung, an der nicht gerüttelt werden kann? Befinden wir uns nicht längst wider Willen im Bezirk des Ästhetischen, weil Gut und Böse letztlich nur über Geschichten und Bilder erfahrbar sind?15 Es ist denkbar, dass der typisch moderne Prozess der Differenzierung und Vermittlung Teil einer endlosen Wiederholung des Spiels der Sprache als Wechselwirkung von Setzung und Aufhebung ist. Ein Beispiel für diese Problematik ist die Hermeneutik. Der Teil kann nur über das Ganze und das Ganze nur über dessen Teile verstanden werden. Da beides nicht zugleich möglich ist, geht es darum, die verschiedenen Bewegungen ständig miteinander zu vermitteln und aufeinander abzustimmen. Doch dabei entsteht eine Illusion, weil nämlich die an einem bestimmten Punkt gebildeten Einheiten gezeichnet sind von einer unmöglichen Synthese, die sie hat entstehen lassen.16 Die Bildung des Verständnisses im Fluss der Zeit muss über die Problematik ihrer eigenen Form hinweggehen, um Verständnis sein auf einem Schein, es ist ästhetischer, der Widerspruch ist logischer Natur.« Wer das Paradoxe im Stile definitorischen Sprechens und fester Funktionsbestimmungen in den Griff zu bekommen versucht, wiederholt nur die Urszene des Paradoxen: die Geburt des Widerspruchs aus den Aporien der Sprache. Der Gegensatz von Logik und Ästhetik, den Simon verwendet, ließe sich außerdem durch eine Ästhetik der Logik bzw. allgemeiner durch eine Ästhetik der Erkenntnis überwinden. 15 | Folglich wäre davon auszugehen, dass die Sprache überdeterminiert ist in dem Sinne, dass sich in den Zeichen verschiedene Verwendungsweisen und -zusammenhänge kreuzen. 16 | Auf der nächsten Ebene erscheint das im inhaltlichen Sinn Verstandene, das Signifikat, als Form, die neuerlich verstanden werden muss, der Signifikant. Wir befinden uns, so scheint (!) es, im Spiel des Verstehens. Wenn die Unterscheidung Signifikant/ Signifikat aufgehoben werden muss, um das Spiel zu spielen, gibt es im strengen Sinne auch keinen zu verstehenden oder verstandenen Inhalt mehr.
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zu können. Hermeneutik bedeutet: die Möglichkeit der Synthese durch ihre Unmöglichkeit hindurch zu bewahren, als permanente Vermittlung des Differenten. Doch das Paradoxe kann weder durch universelle Vermittlung noch durch eine Zuschreibung als ›nur ästhetisch‹ aufgelöst werden. Die binären Oppositionen, mit denen wissenschaftliche Texte operieren und so das Paradoxe ordnen, sollen hingegen mit Michel Foucault als Effekt von Ausschließungssystemen (Diskursen) angesehen werden, deren Funktion es ist, den immanenten »Willen zur Wahrheit« (Foucault 1998, S. 17) als Willen zur Macht zu verschleiern. Genealogisch betrachtet rückt so der Zusammenhang zwischen der Unterdrückung der Paradoxie und dem wissenschaftlichen Willen zur Wahrheit in den Blick: »Seitdem die Spiele und die Geschäfte der Sophisten verbannt worden sind, seitdem man ihren Paradoxen mit mehr oder weniger Gewißheit einen Maulkorb angelegt hat, scheint das abendländische Denken darüber zu wachen, daß der Diskurs so wenig Raum wie nur möglich zwischen den Denken und der Sprache einnehme; es scheint darüber zu wachen, daß der Diskurs lediglich als Kontaktglied zwischen dem Denken und dem Sprechen erscheine; daß er nichts anderes sei als ein Denken, das mit seinen Zeichen bekleidet und von den Wörtern sichtbar gemacht wird, oder als die Strukturen der Sprache, die einen Sinneffekt herbeiführen können.« (Foucault 1998, S. 31)
In dem Moment, in dem der Diskurs die Bühne betritt, stellt sich die Frage der Sprache neu. Es geht nicht mehr um Bedeutung, Intention und Verstehen, sondern um die Form, in der diese Größen organisiert und distribuiert werden. Während Schleiermacher, wie oben noch kurz gezeigt, die Konvergenz von Denken und Sprechen zur Voraussetzung seiner Hermeneutik gemacht hat, zeigt Foucault, dass es sich dabei nur um ein bestimmtes, historisch konditioniertes Geschehen handelt, das sich um die Verdrängung des Diskurses zentriert, um einen Diskurs hervorbringen zu können.17 Die paradoxen Sprachspiele der Sophisten ereignen sich in einem Außen, das durch Vernunft, Wahrheit und Sinn nicht kontrolliert werden kann. Als formale Techniken sind sie geprägt von konstitutiver Negativität. Es ist keine Substanz, die da zum Ausdruck gebracht wird, sondern der Effekt einer Differenz, der die Genese von Sinn erfahrbar macht. Die oben zitierte Stelle schlägt einen weiten, manche mögen sagen: zu weiten, Bogen von der Entstehung der abendländischen Vernunft zur Ordnung 17 | Man denke nur an die endlosen Debatten über das Verhältnis von Denken und Sprache, die Foucault wohl als Epiphänomen der Verdrängung des Diskurses durch sich selbst interpretiert hätte. Der Diskurs verschleiert die Genese der durch ihn reproduzierten Macht, indem er von dem spricht, was ihn selbst unsichtbar macht.
IV. Paradoxes wahrnehmen
der Diskurse der Gegenwart. Foucault gönnt sich in seiner Antrittsvorlesung am Collège de France [1970] den Luxus der essayistischen Pointierung. Er behandelt die genealogischen Aspekte seines Themas hier als Vorgeschichte einer Analyse der diskursiven Konstellationen; der Schwerpunkt liegt auf der synchronen Perspektive. Und doch ist es entscheidend, dass er die Vertreibung der Paradoxie mit der Macht des Diskurses und den Mechanismen von deren Reproduktion in einen Zusammenhang bringt. In der später erschienen methodologischen Arbeit Archäologie des Wissens nimmt er diesen Gedanken wieder auf und stellt die neue Frage, wo der Ort des Paradoxen im Diskurs ist. Wurde das Paradoxe vertrieben? Existiert es nicht mehr? Ist der Diskurs das Gesicht des Triumphes über den Widerspruch? Oder verhält es sich umgekehrt? Ist das Paradoxe die Bedingung der Möglichkeit eines Diskurses – gerade weil es im Diskurs nicht sichtbar zu sein scheint? Foucault tendiert zu letzterem: »Ein solcher Widerspruch, weit davon entfernt, Erscheinungsform und Zufälligkeit des Diskurses zu sein, weit davon entfernt, das zu sein, wovon man ihn befreien muß, damit er endlich seine entfaltete Wahrheit enthüllt, bildet das eigentliche Gesetz seiner Existenz: denn aus ihm taucht der Diskurs hervor; er spricht gleichzeitig, um ihn zu übersetzen und um ihn zu überwinden; während der Widerspruch immer wieder durch ihn entsteht, setzt sich der Diskurs fort und fängt unendlich oft wieder an, um ihm zu entgehen; weil er stets diesseits des Diskurses ist – und der Diskurs ihn also niemals umgehen kann –, ändert der Diskurs sich, verwandelt er sich, entgeht er von selbst der eigenen Kontinuität. Im Laufe des Diskurses erfüllt der Widerspruch also die Funktion des Prinzips seiner Historizität.« (Foucault 1995, S. 215f.)
Der Diskurs ist also nach Foucault eine Funktion des Widerspruchs, der ihn überhaupt erst möglich macht und der ihn am Leben erhält. Das Paradoxe wird nicht durch Differenzierung und Vermittlung aufgehoben oder verflüssigt, sondern es schreibt sich immer wieder in den Diskurs ein, spaltet ihn, bringt ihn hervor, bringt sich hervor und verschwindet wieder. Die Genealogie des Wissens wird gewissermaßen skandiert von den Widersprüchen, die ihn durchziehen. Mehr noch: Die Geschichtlichkeit selbst ist eine Funktion des Paradoxen. Die Geschichte wird weder regiert von Ideen (vgl. Foucault 1995, S. 218) noch organisiert und bestimmt von der puren Materialität des Lebens, sondern vom Widerspruch, der in den Worten genauso sitzt wie in den Dingen. Diese Perspektive des Paradoxen als Bedingung der Möglichkeit von Diskursen soll hier beibehalten werden. Das beinhaltet einen Blick auf den Diskurs als etwas, das nicht zur Ruhe kommen kann, weil es aus irreversibler Differenz, die sich z.B. als Widerspruch zeigt, entstanden ist. Die Aufgabe der wissenschaftlichen Analyse besteht folglich darin, ein Lesen zu entwickeln und zu praktizieren, das in der Lage ist, das Andere der Texte wahrzuneh-
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men. Dies scheint umso notwendiger, als wir es hier mit einem Diskurs zu tun haben, der auf der einen Seite seine Wissenschaftlichkeit betont, aber auf der anderen Seite fortwährend verschwinden will in einem Gelingen als Handlung. Es wird zu zeigen sein, dass die Vorstellung, man könnte professionelles Handeln antizipatorisch beschreiben und damit das ganze überdeterminierte Feld der Praxis in einem Denken versammeln, das die Widersprüche auflöst, zum Scheitern verurteilt ist. Den Steuerungsphantasien der Didaktiker, ausgedrückt in der Reduktionsformel des Lehrens und Lernens, eignet etwas Wahnhaftes. Die vorliegende Untersuchung will nicht in eine neue, abendländischmetaphysische Großbehauptung münden. Die im Weiteren vorgestellten Koordinaten (philologische Paradoxie, pädagogische Paradoxie, literaturdidaktische Paradoxie) stehen, jede für sich, in komplizierten Zusammenhängen, die zum Teil aufeinander verweisen, zum Teil nicht.18 Die Vermessung des Feldes dient der Orientierung der Lektüre, die schließlich (vgl. Kap. 7, 8 und 9) am je einzelnen Text die Problematik gesondert aufzuweisen hat. Dabei geht es nicht um die Bestätigung vorher aufgestellter Thesen oder gar Hypothesen19, sondern um singuläre Lektüren, die in einem (Nicht-)Zusammenhang des Paradoxen stehen, ohne doch bündig als Fälle formuliert werden zu können, die einem übergeordneten Problem unterstehen. Foucault notiert über die genalogische und systematische Analyse der Widersprüche: »An die Stelle des großen Mechanismus des Widerspruchs – in tausend Aspekten gegenwärtig, dann unterdrückt und schließlich wiederhergestellt in dem großen Konflikt, in dem er kulminiert – setzt sie die Analyse der verschiedenen Widerspruchstypen, der verschiedenen Ebenen, gemäß denen man ihn erkennen kann, und der verschiedenen Funktionen, die er ausüben kann.« (Foucault 1995, S. 218) Die folgenden Kapitel umreißen die Konturen derjenigen Diskurse, welche die Literaturdidaktik beerbt: Philologie und Pädagogik. Wenn auch kein vollständiges Bild, unterteilt in ›Ebenen‹ und ›Funktionen‹ herauskommen wird, so soll doch gezeigt werden, unter welchen Bedingungen die literaturdidaktischen Widersprüche entstanden sind.
18 | Schon darin, in der interdiskursiven Differenz, die jeder Literaturdidaktik inhäriert, liegt eine Quelle des Widerspruchs. 19 | Eine konservative, hypothesengesteuerte (empirische) Untersuchung wird ihre eigenen Voraussetzungen immer nur methodologisch und niemals theoretisch reflektieren können. Man prüft eben, ob die bisherigen Annahmen stimmen und zögert nicht, diese in derselben Sprache und im selben Denkstil zu reproduzieren oder gegebenenfalls leicht zu korrigieren.
V. Lesen oder Verstehen? Paradoxe Figuren in der Philologie
Die Untersuchung literaturdidaktischer Diskurse ist auf die Konstruktion eines normativen Subjekts und die Doktrin der Lehrbarkeit gestoßen. Beide, zum Teil latente, zum Teil manifeste Strukturmomente stehen in einer Beziehung zueinander. Ohne Lehrbarkeitsdoktrin kein didaktisches Subjekt, ohne subjektiven Anstoß keine erfolgreiche Lehre. Allerdings wurde das vielleicht schwierigste Thema bisher immer nur gestreift: die Frage nach der Sprache. Es ist aber schon in Ansätzen deutlich geworden, dass ein starkes Subjekt, um seine Vollzüge gelingen lassen zu können, über eine doppelte Sprachmacht verfügen muss; weder die Kommunikation noch der Gegenstand darf entgleiten. Implizit liegt die Vorstellung einer allgemeinen Sprache der Vernunft zu Grunde, die in der Lage ist, die performative Differenz in sich aufzunehmen und in Verstehen zu transformieren. Doch die Differenzen arbeiten weiter. Die Sprache des Wissens, der Ordnung und des Verstehens gerät in Widersprüche. Die Ursache dafür zu erhellen, ist Aufgabe der folgenden Zeilen. Der Schwerpunkt liegt dabei in der sprachlichen Herausforderung des Gegenstands, der literarischen Sprache, nicht in den Ambivalenzen der ›Kommunikation‹, die außerhalb dieses speziellen Gegenstands gegeben sind. Vorangestellt sei eine Hypothese: Die Offenheit und Unsicherheit literarischer Bedeutung wird auch dann empfunden, wenn sie nicht gelehrt wird. Da die literarische Sprache letztlich nur an sich selbst Halt findet, wird der Leser permanent an die Fragen, die der Text generiert, zurückverwiesen. Pragmatisches Lesbar-Machen, das an der Dynamik der literarischen Sprache vorbeigeht, erzeugt einen Schatten, der schließlich und endlich mehr Unklarheit als Klarheit erzeugt. Nietzsche, der notorisch undisziplinierte Philologe, hat in seiner aus dem Nachlass publizierten Schrift Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne (1873) den Zusammenhang zwischen blinder Subjektivität und angemaßter Sicherheit in der Sprache wie folgt formuliert:
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Der Widerstand gegen Literatur »[…] nur durch den unbesiegbaren Glauben, diese Sonne, dieses Fenster, dieser Tisch sei eine Wahrheit an sich, kurz dadurch, dass der Mensch sich als Subjekt […] vergisst, lebt er mit einiger Ruhe, Sicherheit und Konsequenz; wenn er einen Augenblick nur aus den Gefängniswänden dieses Glaubens heraus könnte, so wäre es sofort mit seinem Selbstbewusstsein vorbei.« (Nietzsche 1999, S. 882f.)1
In den folgenden Überlegungen geht es darum, den literaturdidaktischen Begriffen von Sprache, Literatur und Subjektivität etwas anderes entgegenzusetzen. Allerdings zielt die Darstellung nicht darauf ab, einen alternativen Begriffssatz vorzuschlagen, der die Aneignung literarischen Wissens in Zukunft orientieren soll. Vielmehr wird das philologische Wissen ebenfalls als paradoxes und damit bewegliches gefasst; die Wahrnehmung der literarischen Sprache stößt stets auf das Andere im Selben. Drei basale Elemente philologischer Theoriebildung2, die konstitutiv sind für den paradoxalen Charakter philologischen Wissens, sollen dabei eine besondere Rolle spielen: Schrift, Sprache und Lesen. Literatur begegnet uns, wie ihr Name verrät, in schriftlicher Form. Doch ist es wenig ergiebig, sich darauf zu berufen. In dem einen Wort Literatur spiegelt sich gewissermaßen das Rätsel des bezeichneten Gegenstandes. Im Grunde weiß jeder, dass es sich um Schrift handelt, aber niemand denkt an Schrift, wenn er von Literatur hört. Man denkt an die Wahrheit der Literatur, an ihren Nutzen oder an ihre Schönheit – um an dieser Stelle nur die positiven Attribute zu nennen –, aber man denkt nicht an die Art und Weise, in der Literatur uns begegnet. Sie selbst, die geschriebene Literatur, verführt uns zu dieser Sicht, denn sie besteht aus Permutationen abstrakter, dunkler Zeichen auf hellem Grund. Schrift hat keine Gestalt, die sich den Sinnen andient. Der sich auf einzelnen Blättern ausbreitende monochrome Vordergrund generiert förmlich das Versprechen, dass sich aus ihm etwas herauslesen lässt – die Hermeneutik 1 | In der später erschienen Schrift Jenseits von Gut und Böse (1886) charakterisiert Nietzsche durch die Metapher der Maske das Subjekt als Figur in verschiedenen Konstellationen. 2 | Um Missverständnissen vorzubeugen. Es geht hier nicht in einem programmatischen Sinne um Philologie, etwa als Plädoyer für eine Rückbesinnung auf philologisches Wissen und Arbeiten oder als emphatische Bekundung von Wissenschaft als etwas, dem man aus Liebe sein Leben widmet (vgl. dazu Barner 1997 und Jahraus 2004, S. 14f.). Der Begriff wird hier wegen seiner etymologischen Nähe zum Gegenstand gewählt. Ferner soll deutlich gemacht werden, dass es nicht in erster Linie um einen Beitrag zur Teildisziplin Literaturtheorie geht, sondern – im Horizont der hier verfolgten Fragestellung – um die Konstituenten der literaturdidaktischen Paradoxien, die zum einen im paradoxen Charakter des Wissens über Sprache und Literatur und zum anderen in den Widersprüchen der Pädagogik liegen (vgl. dazu die folgenden Kapitel).
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arbeitet nicht umsonst mit antiskripturalen Metaphern der Tiefe –, aber nichts davon hat sinnliche Evidenz. Texte sind für die Wahrnehmung inkommensurabel, da ihr Zusammenhang unsichtbar, die Form ihres Bedeutens nur sehr schwer und indirekt erschließbar ist. Derrida pointiert dies in zwei Sätzen, die, wie bei diesem Autor häufig der Fall, die Unbestimmtheit und die Entschiedenheit in einen stilistischen Zusammenhang bringen: »Ein Text ist nur dann ein Text, wenn er dem ersten Blick, dem ersten, der daher kommt, das Gesetz seiner Zusammensetzung und die Regel seines Spiels verbirgt. Ein Text bleibt im übrigen stets unwahrnehmbar.« (Derrida 1995, S. 71)
Doch eben da setzt die Macht an, die sich den Text unterwerfen will: Es wird gesammelt, hervorgehoben, kommentiert, verglichen und schließlich … gedeutet – nach den Regeln der jeweiligen Institution. Man gibt dem Novizen einen Text und lässt ihn suchen, was er zu finden hat. Dieser wird zu einem Subjekt, indem er sich den Text unterwirft und zugleich wird er selbst ein Teil dieses gewaltsamen Textes, spricht ihn weiter. Die Dekonstruktion will hingegen zeigen, dass es sich lohnt, den geschriebenen Text zu lesen – auch wenn er unlesbar ist. Das bringt all diejenigen gegen sie auf, die im Auftrag der Institution die Lesbarkeit der Schrift zu verteidigen haben. Es müssen Verbote ausgesprochen werden; zuallererst das Verbot, über die die paradoxen Figuren des Geschriebenen und ihre negative Energie zu staunen. Gefragt ist das aktive, den Text erschließende Subjekt; das Ziel ist die maximale Passivität des Textes, der sich kolonialisieren lassen soll. Die Probleme des Lesens und Interpretierens lassen sich nicht von den Problemen der Schriftlichkeit trennen. Wer darauf aufmerksam macht, muss mit zwei Widerständen rechnen: erstens von den Texten selbst, die scheinbar verstanden werden wollen (aber nicht können); zweitens von den Verteidigern des Sinns, die mit dem Vorwurf aufwarten, dass die Reflexion auf Schrift letztlich auf einen inhumanen und sinnlosen Fetischismus des Buchstabens hinausläuft, auf ein kaltes, wertloses Schwarz auf Weiß.3 Die Hypostasierung von Sprache als Repräsentation von Welt und Mittel der Erkenntnis des Subjekts hängt ursächlich mit der Schriftvergessenheit zusammen. Das Repräsentierte darf im Grunde kein Medium haben, dem eine 3 | Dies kann mit einer Metaphorik des Todes zusammengehen: die skripturale Lektüre tötet den Text, zerschneidet sein Gewebe; vgl. dazu Baum (2008, insbesondere S. 24f.). – In der Literaturdidaktik ist eine Form der Verdrängung von Schrift die Forderung nach der Fähigkeit zur Vorstellungsbildung beim Lesen (z.B. in zahlreichen Schriften von Kaspar Spinner, etwa 2006). Zugrunde liegt die Vorstellung, dass der Leser Repräsentationsmodelle des Gelesenen zu bilden hat, welche die gefährliche Unbestimmtheit der Schrift zurücknehmen.
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Eigenlogik innewohnt; sonst erschiene es plötzlich nur als eine Funktion der Differenzierung im Zusammenhang bestimmter medialer Gegebenheiten. Die Vorstellung eines zirkulären, selbstreflexiven und reversiblen Lesevorgangs ist bereits das Gefährliche. Im Falle der Schrift liegt die Medialität indes auf der Hand. Es gibt kein Subjekt, das mir etwas sagen will, sondern nur etwas Geschriebenes, in dem sich allerlei Zeichen und Spuren überkreuzen, die sich gerade der Kontrolle eines schreibenden oder lesenden Subjekts entziehen. Und vielleicht ist ein geschriebener Text, der sich selbst kontrollieren will, dem Prozess der ständigen Verschiebung von Zeichen miteinander und gegeneinander sogar in besonderer Weise ausgesetzt. »Weder Bedeutung noch Intention können sich im Kontext von Schrift halten.« (Jahraus 2004, S. 156) Die abendländische Subordination der Schrift unter die Sprache war, so gesehen, vielleicht gerade eine »Folge der funktionalen Polyvalenz der Schrift, ihres Überschusses«. (Rheinberger 2005, S. 12) Gerade weil die Schrift nicht in der Lage ist, den Sinn gegenwärtig zu machen, weil die Grenze des Sinns als Kontingenz in der Lektüre geschriebener Zeichen in besonderer Weise erfahrbar ist, wird andererseits die Gegenkraft entfesselt: ein Begehren nach der Wahrheit und der Vernunft in der Schrift (als Sprache), das dem Subjekt die Möglichkeit eröffnet, die Kontrolle zu behalten. Dies ist auch für den Diskurs der Literaturdidaktik entscheidend: Wenn Literatur unterrichtet werden soll, muss Schrift in Sprache übergehen.4 Das hegemoniale Subjekt der Lektüre zerbräche in dem Moment, in welchem deutlich würde, dass sein Anspruch auf Wahrheit und Wissen nur unter spezifisch medialen und machttechnischen Bedingungen formuliert werden kann.5 Im Grunde geht es um eine Verdrängung der medialen Eigenlogik von Schrift, denn der Übergang von Schrift in Sprache ist letztlich selbst ein Geschehen, das als metonymische Verschiebung der Logik des Geschriebenen unterliegt.6 4 | Positionen, welche die Arbeit mit den Verweisungen der Schrift zum literaturdidaktischen Orientierungspunkt machen (vgl. Wegmann 1993, Förster 2000, Baum 2016a), sind in der Literaturdidaktik marginal. 5 | In Schule und Wissenschaft werden die Leser aufgefordert, ihre Thesen am Text zu belegen. Doch damit wird ein kognitiver Abstand zum Text präsupponiert, der gar nicht besteht. Die Inszenierung des Abstandes besteht darin, dass die These in der Regel allgemeiner und der ›Beleg‹ spezifischer Natur ist. Es geht darum, ein Sprachspiel einzuüben, in dem der Widerstand der Schrift gebrochen wird. Hoch relevant neben der Form des Belegens ist der Inhalt. Die Thesen müssen vor einem ideologischen, pädagogischen, politischen, epistemologischen oder welchem Hintergrund auch immer akzeptabel sein. 6 | An dieser Stelle kommt der im wahrsten Sinne des Wortes radikale Schriftbegriff Derridas ins Spiel: Als Form der Verweisung schlechthin ist Schrift der angemessene Terminus für das, was vorher als Opposition von mündlicher und schriftlicher Sprache
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Nicht weil eine radikale Reflexion der Schrift die Literaturdidaktik theoretisch überfordert, ist diese ausgeblieben, sondern weil die Gefahr besteht, dass die Lehrbarkeitsdoktrin von der frei gesetzten Schrift verschlungen wird. Eine Literaturdidaktik, die mehr im Sinn hat als die Orientierung an der Lehrbarkeitsdoktrin und den damit zusammenhängenden institutionellen Notwendigkeiten, könnte hingegen die Literatur als einen Ort begreifen, an welchem es möglich ist, die Sprache (als Schrift) für Momente dem Zwang ihrer vorgeblichen Nützlichkeit zu entziehen. Erst wenn deutlich wird, wie riskant literarisches Lesen ist, dass es in einem strengen Sinne nicht gelingen kann, vermag vielleicht ein Begehren nach diesem Geschriebenen sich Bahn zu brechen und der Widerstand der Literatur (nicht: gegen Literatur) erfahrbar werden. Das Geschriebene ist das Fremde, anders als Denken, Wissen, Verstehen, und deshalb der große Verführer. Der Leser ist zugleich frei und zum Scheitern verurteilt und er wird genau aus dieser Freiheit zum Scheitern die größte Lust beziehen.7 Allerdings ist dann auch nicht mehr zu bestimmen, in welchem Verhältnis er zur Gesellschaft steht. Jeder ein Anton Reiser. Christoph Menke arbeitet in Hinsicht auf die Ästhetik Adornos heraus, dass »Texte ästhetisch wahrnehmen«, heiße, »ihren Buchstaben die Treue halten.« (Menke 1991, S. 35) Die Schrift ist folglich diejenige Instanz, welche die Zuweisung von Bedeutung in genuin nicht metaphysischer Art und Weise aufschiebt und die Wahrnehmung auf die Textur zurücklenkt. Da es keinen festen Orientierungspunkt außerhalb des Textes gibt – »Kontextdeutungen werden in der Negation des Verstehens distanziert und im Distanzierten zugleich zitierend gezeigt« (ebd., S. 91) – bleibt dem Leser nichts anderes übrig, als lust- und leidvoll in das Gefüge der Schriftzeichen zurückzufallen.8 Die Wiederholung ist das Gesetz der Lektüre; prozessuale Ausdifferenzierung desselben im anderen. Auch jede Äußerung, zum Beispiel in einem Gespräch über das Gelesene, ist letztlich reversibel in Form einer differenzierenden oder sogar dementierenden Wiederholungslektüre. Die Schrift bleibt immer das radikale Andere und es ist entscheidend, sich dies in Erinnerung zu rufen. Nicht wertend (zu Gunsten der mündlichen Sprache) gefasst worden ist. Wenn die Sprache (als Schrift) etwas ist, das sich nicht in meinem Besitz befindet, sondern durch eine Art ursprünglicher Exteriorität sich mir stets entzieht, enträt das Verhältnis zur vermeintlich vertrauten Sprache allerdings nicht dem Unheimlichen. 7 | Dies gilt mutatis mutandis auch für das Schreiben (z.B. dieses Textes); vgl. zum notwendigen Scheitern Baum (2016a). Die basale Dimension des Schriftbegriffs, die mit Derrida noch zu explizieren sein wird, zeigt sich darin, dass sie Unterscheidungen wie Schreiben/Lesen vorausgeht. Beides geht ineinander über und wird durch die différance in Zeit und Raum verschoben. 8 | Barthes (1974, S. 10) spricht bekanntlich von der Wollust der Lektüre, die er von einer ›nur‹ bürgerlichen ästhetischen Lust unterscheidet.
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um Sinnzuschreibungen autoritär zu zensieren – fast jeder Leser kann mit fast jedem Text in fast jeder Weise verfahren; das macht die Schrift als radikal Anderes ja gerade möglich –, sondern um den Zugang zur Literatur frei zu halten. Wo nämlich der Unsicherheit der Lektüre entgegengearbeitet wird, beginnt in der Regel die Besetzung der Literatur mit hegemonialen Ansprüchen. Der Zweifel daran wird sich durch Ironie, Schweigen, Subversion o.a. zu erkennen geben. An dieser Stelle zeigt sich auch die besondere Leistung des Begriffs der Schrift: Während der Terminus ›Text‹ die Erwartung des Sinnzusammenhangs transportiert und der Terminus ›Sprache‹ anthropologische Maximen anzieht, ist Schrift der Name für die permanenten Verweisungen und Verzweigungen, die das Medium ermöglicht und erzwingt. Menke problematisiert im Zusammenhang seiner Auseinandersetzung mit Adorno zumindest indirekt auch die semiotische Beschreibung der ästhetischen Erfahrung. Denn der ästhetische Signifikant kann gar nicht gebildet werden, seine Konstruktion wird zaudernd, rätselnd fortwährend aufgeschoben (vgl. ebd., S. 52) und in dieser ständigen Arbeit von Negativität besteht gerade das Wesen der ästhetischen Lektüre als Arbeit mit der Schrift. Da es der Leser also mit einer »permanenten Aufstockung unselegierten Materials« (ebd., S. 67) zu tun hat, kann die ästhetische Erfahrung nur in paradoxer Form expliziert werden, als »Sein im Werden« (ebd., S. 50). Wenn auch die empirische Lektüre nicht bei allen Schriftzeichen so verfährt, so können doch potentiell alle von dieser Bewegung erfasst werden. Die Konzentration auf Knotenpunkte, an denen das unselegierte Material sich permanent vervielfacht, ist allein strategisch-ökonomischer Natur. Menkes Überlegungen zur ästhetischen Erfahrung im Medium der Schrift machen eine doppelte Bewegung wahrnehmbar. Einerseits mag der Leser den Buchstaben die Treue halten, also in der Lektüre immer wieder auf einen festen Referenzpunkt zugehen können. Andererseits gelingt dies nicht als Identifizieren und Erschließen, sondern in Folge der räumlichen und zeitlichen Konditionierung des Lesens nur als permanenter Progress von Negativität. Dabei geht nicht jegliche referentielle Illusion verloren. Im Gegenteil: Die innere Vorstellungsbildung arbeitet der permanenten Verschiebung durch Schrift entgegen. Der Leser generiert Bilder des Geschriebenen, die er durchaus als Abbilder einer erzählten Welt auffasst. Der räumliche Charakter menschlicher Weltwahrnehmung lässt es nicht zu, dass dieser Modus des Lesens, etwa im Sinne einer permanent überwiegenden Negativität, jede Konstruktion von Raum-Bildern unmöglich macht; Gespräche über Literatur laufen nicht selten so ab, dass aus der Erinnerung Szenen rekonstruiert werden, um auf diese Weise ein spezifisches Thema zu konturieren, über das gesprochen werden soll. Indem Zeichen gebildet werden, werden sie jedoch zugleich verschoben. Das Vorstellungsbild ist bereits ein Umbau vorhergehender Vorstellungsbilder. Genau dies macht die Schrift erst möglich und sie erzwingt es auch. Der Schnitt
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von Raum und Zeit gebiert das Sein im Werden.9 Da Geschriebenes in einem strengen Sinne nicht beobachtbar ist, läuft die Entzifferung auf ein variierendes Neuansetzen hinaus. Rheinberger hat in dieser ›funktionalen Polyvalenz‹ der Schrift gerade die Ursache ihrer Besetzung durch eine Logik der Identität gesehen. Je höher das Maß an Unbestimmtheit durch die Fülle der Verweisungen, die latent bleiben können, desto größer das Begehren nach Kontrolle. Je mehr indirekt bedeutet wird, etwa in Form von Bildlichkeit10, desto ambitionierter und energischer die Lesedoktrinen, etwa als vierfacher Schriftsinn. Wir stoßen hier auf das Problem der medialen Bedingtheit totalitärer Textinterpretationen, z.B. im religiösen Diskurs monotheistischer Religionen. Sprachliche Bilder werden zu moralischen Geboten durch rigide Deutungsstrukturen. Wenn hier der Schnittpunkt von Raum und Zeit als ursprüngliche Bedingung der Schrift bezeichnet wird, so muss dies so präzise wie möglich aufgefasst werden. Es geht nicht um den angestammten Raum der Schrift. Ein solcher Raum wäre wie die Gesetzestafeln von Moses gerade der Raum der Macht. (Der autoritative Text gebärdet sich häufig so, dass er seinen Raum beherrscht, als wäre etwas anderes gar nicht denkbar; freilich ist auch dies nur eine Illusion – aber eine mächtige.11) Es geht, präziser formuliert, um Verräumlichung, um das ebenso zufällige wie zwingende Versetzt-Werden an einen Ort. Der schriftliche Signifikant, an seinem Ort, ist zu begreifen als die Funktion seiner Wiederholung (vgl. Derrida 1974, S. 165) und ermöglicht gerade auf diese Art und Weise die Erfahrung von Raum und Zeit (vgl. Derrida 1974, 114f.). Nicht umsonst veranschaulicht etwa die Narratologie ihre erklärenden Modelle durch Raumskizzen, die es dem Leser ermöglichen sollen zu erkennen, auf welcher Ebene eine Aussage getätigt wird. Die komplexe perspektivische Brechung und Staffelung von Aussagen ist jedoch eine Domäne der Schrift. Die Erzählung in der Erzählung ist ein Effekt der Verräumlichung. 9 | Die gegenteilige Auffassung hieße: Zeit und Raum lassen sich geordnet aufeinander abbilden, weil der linearen Ordnung des Sinns ein gleichmäßiges Fortschreiten der Sinnkonstruktion im Akt der Lektüre entspricht. Eine solche Auffassung setzt vollkommene semantische Transparenz der Zeichen (z.B. ohne Nebenbedeutungen oder intertextuelle Beziehungen) und ein hierarchisches Modell des Textes voraus; letzteres wird z.B. im Falle von Gedichten sichtbar dementiert (Rückverweise, Selbstbezüglichkeit). 10 | Derrida (1974, S. 31) sieht in der Schrift das metaphorische Prinzip selbst verkörpert; die Metapher als Figur der Übertragung wird zum Bild der Schrift. 11 | Vielleicht ist noch die ordnende Präsentation von Texten ein Versuch, der Schrift als Sprache ihren Raum zuzuweisen. Ein Beispiel wäre die Praxis der Zeilennummerierung in pädagogischen und wissenschaftlichen Texten. Editionen, welche die Materialität der Schrift akzentuieren, versuchen teils, diese Form des Drucks zu vermeiden. Ist die Zeile nummeriert, kann der Kommentar geschrieben werden. Ist der Kommentar geschrieben, gelingt die Vermittlung von enzyklopädischem Wissen und Kunstwerk usf.
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Was den Signifikanten implizit mit sich selbst und dem Text verbindet, lässt sich bezeichnen als Spur; ein Terminus, der den metaphysischen Gegensatz von Anwesenheit und Abwesenheit übersteigt. Der Signifikant wird durch den Text getragen, obwohl er an einer Stelle zu ruhen scheint. An seinem Ort sind die Spuren der anderen Orte und an den anderen Orten hinterlässt er seine Spur. Die Spur verteilt auch das Subjekt im Raum der Schrift: »Dieses Ding, das in der Sprache fehlt, weil das Subjekt von ihm durch die Sprache getrennt wurde, existiert nirgends, sondern nur als Effekt der Spur.« (Wimmer 2006, S. 319) Das ›Sein im Werden‹, über das Menke schreibt, ist insofern begreifbar als eine permanente Spaltung der Zeit des erlebenden Subjekts durch die aufschiebende Wirkung der différance im Sinne Derridas. Wie soll man auf die Erfahrung der Sprache anders antworten als durch die Erfahrung der Sprache? Die Spur unterspült die Standfestigkeit des Subjekts – es wird auf diesem Weg sich selbst ein Anderer –, weil dieses die Dinge im Medium der Sprache nicht vollständig zur Erscheinung bringen und dadurch auch nicht erfassen und beherrschen kann. Das Subjekt wird von der Schrift durch die Zeit(en) getragen, d.h. permanent temporal destabilisiert und zugleich aktiviert. Das Geschriebene kann in jedem Moment neu erscheinen und fordert doch einen Blick vor die Zeit seiner Einschreibung heraus. Jede Deutung von Schrift versucht, das Geschriebene zu vergegenwärtigen und schreibt sich zugleich ein in das Rhizom der supplementären Verzweigungen. Was zur Schrift hinführt, führt auch von der Schrift weg und damit entstehen Zeitschleifen der Annäherung und Entfernung. Schrift kennt kein Hier und Jetzt; wenn sie im Hier und Jetzt bearbeitet wird, dann eingedenk des Gestern und in Hinsicht auf ein Morgen. Die »konstitutive Nachträglichkeit hängt mit dem Charakter der Spur, der Grapheme zusammen. Sie müssen sich verdoppeln, um zu werden, was sie gewesen sind.« (Rheinberger 2005, S. 25). Das graphische Zeichen, von dem Rheinberger spricht, hat gewissermaßen drei Dimensionen: das, worauf es nachträglich verweist; das, was sich an ihm als Ergebnis der Einschreibung zeigt; schließlich: das, worauf es vorgreift, indem es die verlorene Präsenz, ohne dies je zu können, wieder zu finden sucht. Im Schnitt von Raum und Zeit vervielfältigen sich die Dimensionen – es gibt nicht den Raum und die Zeit –, sondern eine Bewegung, die Beziehungen möglich macht und zugleich in die Schwebe bringt.12 In der Terminologie de Saussures: Arbeiten Zeit und Raum zwischen Signifikat und Signifikant wird die Beziehung zwischen den beiden Instanzen – sonst qua Konvention stabilisiert – fragil. Die Arbitrarität wühlt sich immer mehr in das Zeichen hinein und übernimmt, indem sie weitere Zeichen einschleust, die Oberhand. 12 | Siehe dazu auch Luhmann (1997, S. 121): »Operativ gesehen geht es, beim Herstellen ebenso wie beim Betrachten, um eine temporale Einheit, die immer schon nicht mehr und noch nicht beobachtet ist.«
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Wenn diese supplementierende Arbeit der Ausweis des Mangels des Subjekts in der Sprache ist, so zeugt er zugleich von dessen Überleben.13 Die Spur – gerade wenn man sich diese gegenständlich (etwa als Abdruck) vorstellt – verweist auf etwas oder jemanden, der da gewesen sein muss. »Die Spur ist der Seinsmodus eines Seienden, das nicht gegenwärtig sein kann.« (Krämer 2007, S. 146) Insofern ist die ästhetische Erfahrung der Negativität auch begreif bar als Begehren nach einem Subjekt in der Sprache, das nicht wird anwesend sein können und gerade deswegen ein Höchstmaß an ästhetischer Spannung erzeugt. Entgegen der bürgerlichen Ideologie findet in der ästhetischen Erfahrung keine emphatische Steigerung des Subjekts statt, sondern dessen ironische Brechung im Spiel der Sprache als Schrift. Der Schnitt zwischen Raum und Zeit entlässt das Subjekt aus der Bindung des Hier und Jetzt, macht es zum anderen seiner selbst, stürzt es aber zugleich in eine riskante Ortlosigkeit. In dem, was da in der Sprache geschieht, haben wir keine feste Position. Der Habitus des souveränen, gebildeten Kenners beruht zumeist auf einer Verleugnung der ästhetischen Erfahrung, denn diese vermag sich gerade in der Passivität des Subjekts, das sich als Anderer erfährt, zu entfalten (vgl. Mitterer 2016). Spätestens an dieser Stelle wird auch der Unterschied zum Raum- und Zeitbegriff der strukturalistischen Poetik deutlich. Wenn das Kunstwerk als ein endliches Modell der unendlichen Welt gesehen wird (vgl. Lotman 1993, S. 301), dann geht dies einher mit der Vorstellung einer metaphorischen Aufladung von Raum-Zeichen. Der erzählte Raum verweist auf etwas, das er nicht abbilden kann, das er aber zugleich thematisiert und bewertet; etwa wenn die Opposition bedrohlich vs. sicher an die Opposition von Kultur vs. Natur geknüpft wird. Lotman entgeht damit einer Vorstellung von Literatur als Repräsentation von Welt. Er kann auch die semantische Leistungsfähigkeit von Raum-Zeichen, die ja bei der alltäglichen raumaffinen Wahrnehmung von Welt durch den Menschen ansetzt, erklären. Zugleich ist er in der Lage, den Faktor Zeit mit einzubeziehen. Zum Beispiel geschieht dies durch den Begriff der Grenze, die er als eines der negativ-organisierenden Prinzipien der Literatur auffasst (vgl. Lotman 1993, S. 328). Die Grenze zwischen den Räumen wird zu einer von sozialen Sphären, ökonomischen Dynamiken usf. Wenn die Figur die Grenze überschreitet, zeitigt dies in der Regel Ereignisse, z.B. in Form von Konflikten. Die Leistungsfähigkeit von Lotmans Modell muss man nicht bestreiten. Strukturale und poststrukturale Analysen können aufeinan13 | Derridas Begriff des Supplements kann hier nicht weiter vertieft werden; er ist insofern von paradoxer Gestalt, als er das, woran er sich anhängen soll, zugleich erzeugt; vgl. etwa Menke (1991, S. 252). In Positionen sagt Derrida sehr knapp: »Das Supplement und die Turbulenz eines gewissen Mangels sprengen die Grenze des Textes.« (Derrida 1986, S. 95)
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der bezogen, miteinander ins Spiel gebracht werden. Die Grenze zwischen den Theorien verläuft an der Stelle, wo Schriftzeichen im einen Falle als positive Glieder eines ästhetischen Modells und im anderen Falle als Verweisungen der Spur angesehen werden. Die Grenze, welche die Räume Lotmans scheidet, sichert zugleich die Identität der durch sie geschiedenen Räume, wohingegen die verräumlichten Zeichen Derridas die Grenze(n) im eigenen Körper tragen. Die permanente Aufstockung unselegierten Materials, von der Menke spricht, die funktionale Polyvalenz der Schrift, auf die Rheinberger verweist, sind medial bedingte, unhintergehbare und von außen nicht – bestenfalls vordergründig durch Gewalt – kontrollierbare Modi der Erfahrung von Sprache als Schrift. Man kann versuchen, die Lektüre mit textexternem Wissen zu vermitteln – tatsächlich kommt wohl kein Lektüreakt ohne Kontextualisierungen aus –, aber wie Menke zu Recht schreibt, besteht das Aufregende der ästhetischen Erfahrung gerade darin, dass das Geschriebene selbst die Kontexte übersteigen kann, indem es auf diese verweist und zugleich deren Gültigkeit im Verweisungsraum der Schrift ironisiert. Der Text wird zum Kontext des Kontextes. Jedes schriftliche Zeichen enthält »die Kraft eines Bruches mit seinem Kontext.« (Derrida 1999, S. 335) Denn »aufgrund seiner wesentlichen Iterierbarkeit kann man ein schriftliches Syntagma aus der Verkettung, in der es gegeben oder eingefaßt ist, immer herauslösen, ohne daß ihm dabei alle Möglichkeiten des Funktionierens, wenn nicht alle Möglichkeiten von ›Kommunikation‹, verloren gehen.« (Ebd.) Als Derrida dies geschrieben hat, standen auf unseren Schreibtischen noch keine Computer und das Internet hatte noch den Status eines militärischen Forschungsprojekts. Heute ist das Herauslösen und Rekontextualisieren, die permanente Erzeugung strategischer Negativität ein Phänomen des Medienalltags geworden. Es ist jedoch an dieser Stelle festzuhalten, dass Derrida philosophisch argumentiert: Wenn ein schriftliches Zeichen keinen festen Ort hat, dann ist ihm auch eine Spur vergangener Kontextualisierungen eingeschrieben und es kann im strengen Sinne nicht mit sich identisch sein, geschweige denn von einem menschlichen Bewusstsein kontrolliert werden, wie es in kognitivistischen Machtphantasien zu lesen ist. Gerade dieses Moment der Identität im Nicht-Identischen ist entscheidend für die ästhetische Erfahrung. Derrida negiert jedoch keineswegs, dass Zeichen in der Kommunikation funktional verwendet werden können – etwa gemäß gewisser latenter Vereinbarungen unter Kommunikationspartnern. Aber auch in diesen Zusammenhängen bleibt die Unruhe hinter und zwischen den Zeichen spürbar. Es zeigen sich an dieser Stelle einige interessante Beziehungen zum Diskurs der Hermeneutik, die hier allerdings nur angedeutet werden können. So ist in Schleiermachers Doppelbegriffen wie grammatische und psychologische Interpretation oder Komparation und Divination der Riss zwischen Subjekt und Sprache bereits ausgedrückt (vgl. Schleiermacher 1977). Würde das Sub-
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jekt über die Sprache verfügen, bräuchte die Arbeit des Verstehens gar nicht einzusetzen, wäre es nicht notwendig, den Umweg über das vergleichende Textstudium zu gehen. (Ein riskanter Vorgang: Kommt man denn wirklich zurück zur Einheit des Verstehens, zur Divination?) Zum Beispiel wäre für den Theologen die Vermittlung von biblischem Text und gegenwärtiger Lebenswirklichkeit kein ernsthaftes Problem. Erst weil die Sprache als fremde erfahren wird, beginnt die hermeneutische Anstrengung. »Erst dort, wo sich in der Sprache eine logische Aporie, eine radikale Inkonsistenz, eine Bedeutungslücke eröffnet«, setzt, so Hamacher (1998, S. 185), die Arbeit des Verstehens ein.« Und der Anfang des hermeneutischen Projekts ist nichts anderes als die Erfahrung eines Verlusts: Die Stimme des Anderen ist nicht mehr da und kann vom geschriebenen Text bestenfalls vertreten werden (vgl. Schleiermacher 1977, S. 91). Das weckt ein Begehren nach Sprache und Authentizität, bereitet aber zugleich der supplementierenden Verschiebung die Bühne. In den Worten Schleiermachers: »Überall ist Konstruktion eines endlich Bestimmten aus dem unendlich Unbestimmten.« (Ebd., S. 81) Das unendlich Unbestimmte ist die Schrift und die Gefahr besteht im Anderswerden eines Subjekts, das sich in Anbetracht des Risses zwischen grammatischem und psychologischem Verstehen nicht mehr zurecht findet. Es ist interessant, dass die von Schleiermacher benannten Grenzphänomene des Verstehens wie Diskontinuität, komplexe Bildhaftigkeit, Rhythmisierung usf. (ebd., S. 124, S. 138, S. 147-149) in summa sich wie die Bestandteile eines Begriffs moderner Literatur lesen.14 Hans-Georg Gadamer beobachtet am Anfang des ästhetischen Verstehens eine grundlegende Differenz. Im Falle der Literatur entsteht für Gadamer »eine eigentümliche Spannung zwischen der Sinnrichtung der Rede und der Selbstpräsentation ihrer Erscheinung« (Gadamer 1984, S. 47). Dies bedeutet zunächst, dass die formale Dimension von Texten nicht einfach auf die inhaltliche abgebildet werden kann – etwa im Sinne der älteren Formel, dass die Literatur das, wovon sie spricht, auch formal verkörpert. Die Spannung kann nicht einfach aufgelöst werden, da die Selbstbezüglichkeit des Geschriebenen, nebst ihren ästhetischen Effekten, sich weigert, nur Mittel des Ausdrucks zu sein. Im Gegenteil: Man hat den Eindruck, dass entscheidend die Wortwahl ist, nicht die Themenwahl (vgl. Luhmann 1997, S. 47). In der Literaturwissenschaft sind die damit zusammenhängenden Probleme zunächst unter dem Begriff der Autonomie des Kunstwerks, dann als ästhetische Funktion (im semiotischen Sinne) und schließlich als Selbstreferentialität der Kunst diskutiert worden. Jahraus resümiert die kontroversen Diskussionen, indem er von der He-Autonomie der Literatur spricht (Jahraus 2004, S. 99). In unseren Zusammenhang könnte man das wie folgt übersetzen: Schrift, zumal komplex arrangierte, ver14 | Zur pointierten Darlegung der Widersprüchlichkeit Schleiermachers vgl. Hörisch (1988).
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weist gerade, weil sie von den Dingen getrennt ist, auf ihr Jenseits. Sie produziert unablässig Referenzen und kann dies zugleich nur tun, indem sie auf sich selbst verweist. Die Selbstbezüglichkeit der Schrift ist Ausweis ihrer referentiellen Funktion und umgekehrt. Für Gadamer lässt sich diese Differenz verstehend einholen – wenn auch Verstehen u.U. an seine Grenzen gelangen, sich in ungewisses Gelände vorwagen muss, auf die Probe gestellt bleibt. Die Hermeneutik Gadamers weist also ein hohes Bewusstsein für die Eigenlogik des Geschriebenen, die ›Selbstpräsentation der Rede‹, auf und bestimmt gerade so die besondere Qualität der Literatur. Es bleibt aber der Anspruch des Verstehens, Wort und Erfahrung miteinander zu vermitteln. Doch auch dies ist, jedenfalls in Text und Interpretation, nicht das letzte Wort. Am Ende äußert Gadamer ein Ungenügen an der Deutung und ein Begehren, gleichsam in der ›Selbstpräsentation‹ der Rede zu verschwinden. Das verstehende Subjekt wird selbst Sprache und verliert seine aktive Position. Die Hermeneutiken Schleiermachers und Gadamers erreichen in letzter Konsequenz den Punkt einer radikalen Kritik des Verstehens. Sie formulieren den Widerstand gegen sich selbst15, machen diesen aber nicht zum Mittelpunkt ihrer theoretischen Reflexion. Das liegt ganz wesentlich daran, dass sie dem Medium Schrift keine besondere Aufmerksamkeit widmen und das Geschriebene als ›Rede‹ oder ›Wort‹ dem mündlichen Paradigma unterwerfen. Sonst würden sie den von Menke herausgearbeiteten Widerspruch von Buchstäblichkeit und Verstehen aufmerksam vertiefen. In den Worten von Fabian Stoermer: »Der Text und sein Verstehen stehen sich […] gleichsam im Wege.« (Stoermer 2002, S. 104) Der geschrieben Text ist das, was verstehend eingeholt werden will, aber nicht kann. Paul de Man macht diese unhintergehbare Negativität des Verstehens an der Schrift fest und zieht daraus die Konsequenz für die poetische Lektüre. Er notiert im Zusammenhang einer methodologischen Reflexion seiner ProustLektüre: »Lesen hat von dieser instabilen Mischung aus Buchstäblichkeit und Mißtrauen auszugehen.« (de Man 1988, S. 92) Die Instabilität ist also nichts, was hermeneutisch durchdrungen oder durch hieb- und stichfeste Methodo15 | Siehe etwa die folgenden, im Zusammenhang einer systematischen Hermeneutik schwindelerregenden Sätze Schleiermachers über den Vollzug des Verstehens im Gedanken: »Der Willensakt fesselt sie und verändert ihre Natur des momentanen Verschwindens. Jenes Zurückgebliebene wird wiederholbar, wenn jener bestimmte Willensakt stattfindet, allerdings in verschiedenem Grade in Beziehung auf die Zeit und den Gegenstand. Fragen wir nun, wie verhalten wir uns zu diesem Zurückgebliebenen? Wir haben es und haben es auch nicht. Das letztere, wenn wir es vergleichen mit dem, was jeden Moment unmittelbar erfüllt, das erstere, sofern es wiederholt werden kann, ohne ursprünglich erzeugt zu werden. Es wird aus der ersten Genesis reproduziert.« (Schleiermacher 1977, S. 204)
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logie überwunden werden kann, sie ist gerade das proprium der poetischen Lektüre und Literaturtheorie; diese muss – und darf! – »die Sprache des sich selbst Widerstehens« sprechen (de Man 1987, S. 106). Das aufgrund der Polyvalenz des Geschriebenen auch noch in die versierteste Lektüre hinein spielende Moment des Entgleitens von Sinn kann nicht beherrscht werden. Gerade der genaue philologische Blick, bemüht um ein Erkennen und Durchdringen seines Objekts, fördert jene Ambiguitäten zu Tage, die in keine begriffliche Ordnung mehr überführt werden können. Zu sehen ist ein Riss, der durch die Kontur der Sprache geht. Paul de Man findet am Grunde dieser Entzweiung den Widerspruch zwischen der logischen und der rhetorischen Dimension von Literatur. Dazu später mehr. Die bisherigen Überlegungen haben gezeigt, dass die Vorstellung, ein ›gesellschaftlich handlungsfähiges Subjekt‹ könne über die Sprache gebieten, spätestens an dem Punkt sich auflöst, wo die Sprache von der Schrift her begriffen wird. Die Literaturdidaktik kann die Doktrin der Lehrbarkeit nur aufrechterhalten, indem sie das Feld der Schrift umgeht. Das gelegentliche Aufflackern eines sprach- und literaturtheoretischen Feuers, das sich anschickt, die leitenden Annahmen zu verzehren, ist stets rasch gelöscht worden. Selbst da, wo man das Gegenteil behauptete, ist dies geschehen (vgl. Baum 2010).16 Die Polyvalenz und der Überschuss der Schrift, das schwer durchschaubare Spiel zwischen Selbst- und Fremdreferenz, ist allerdings nicht nur in der Literaturdidaktik durch einen der Schrift fern stehenden Begriff der Sprache neutralisiert worden. Es geht um metaphysische Dispositionen, die tiefer liegen als die Geschichte dieser jungen Disziplin; man denke etwa an die in der Linguistik immer noch kursierenden Begriffe von Schrift, z.B. Konrad Ehlichs These, Schrift sei das Ergebnis einer ›zerdehnten Sprechsituation‹ (Ehlich 1984), die noch einmal das phonozentrische Modell der Kommunikation wiederholt. In der Literaturdidaktik entsteht durch die Verdrängung der Schrift ein charakteristischer Widerspruch. Auf der einen Seite ist es notwendig, theoretisches Wissen über den Gegenstand zu importieren, um dem Anspruch einer wissenschaftlichen Lehrerbildung gerecht zu werden. Auf der anderen Seite führt die funktionalistische Ausrichtung des Diskurses zu einer Zensur der Schrift, welche eine Fülle von Paradoxien entstehen lässt, weil der Diskurs der Komplexität seines Gegenstands nicht gewachsen ist, gewissermaßen über diesen hinwegschreibt. Die fachlichen dürftigen Ergebnisse der kompetenzorientierten Literaturdidaktik sind dafür der jüngste und vielleicht eindrücklichste Beleg. Man hat nun gar keinen Begriff des Gegenstands mehr. – Nicht dass Parado16 | Einige Belege für die Verdrängung oder, um mit Paul de Man zu sprechen, den Widerstand gegen Theorie sollen in dem Kapitel Die literaturdidaktische Paradoxie gegeben werden. Die Grenzziehungen, die vorgenommen werden, verraten mehr über die Widersprüche im Inneren als über die Konstellationen im vermeintlichen Außen.
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xien zu vermeiden wären – sie sind es nie, nicht in der Wissenschaft und nicht im Leben – aber das Spiel wird mit zu niedrigem Einsatz gespielt. Man dürfte intelligenter scheitern. Der Widerspruch zwischen einem rationalistisch verengten Begriff der Wissenschaft und der schriftgesteuerten Komplexität der Sprache ist zu grob. Eine Öffnung und Bereicherung des Diskurses brächte interessantere Konstellationen hervor. Die Festschreibung positiven, handlungsorientierenden Wissens führt zu hegemonialen Besetzungen des Begriffs der Literatur. Die Reflexion auf die Komplexität der Schrift ist dagegen zu begreifen als gewissermaßen lebensnotwendige Überforderung. Darauf gerade in einem didaktischen Zusammenhang hinzuweisen, ist ein sehr ambitioniertes Unterfangen. Aber würde anders das proprium der Literatur nicht ständig verfehlt? Durchschauen die Klienten des Systems nicht längst die pädagogischen Techniken des LehrbarMachens von Literatur, das Vorgaukeln von Freiheit und Andersheit um den Preis des Gegenteils? Die Literatur lässt sich jedenfalls nicht in Kontexte einbetten, sie lässt sich auch nicht durch Wissen begreifen und einordnen, sondern sie will gelesen werden in ihrer basalen skripturalen Metaphorizität: »Die Schrift liest sich, sie gibt, ›in letzter Instanz‹, keinen Anlaß zu einem hermeneutischen Dechiffrieren, zur Entzifferung eines Sinnes oder einer Wahrheit.« (Derrida 1999, S. 350) Solche Sätze verursachen immer noch und wieder Schmerzen. Die Vorstellung, dass Literatur nichts ist, dem ein selbstverständlicher Wert zukommt (Kanon); dass es, radikal gedacht, keinen Sinn zu entdecken und auch nicht zu entfalten gibt; dass man Literatur nicht zweckgebunden einsetzen kann; dass aber gerade darin die Möglichkeit des Widerstands liegt und die Faszination – darauf könnte die Literaturdidaktik hinweisen. Die Lehre der Literatur könnte, so gesehen, begriffen werden als kritische Analyse der Profession oder als intelligente Form der Deprofessionalisierung. Diese Untersuchung hat begonnen mit einer kritischen Reflexion auf den Zusammenhang von Wissen, Subjektivität und Handlung im didaktischen Diskurs. Es wurde bestritten, dass Sprache, zumal begriffen als Schrift (in der Literatur), etwas ist, das man vermessen, hierarchisch ordnen und erlernen kann. Das Subjekt der Lektüre und des Gesprächs über Literatur kann schon aus einem logischen Grund nicht als aktives, kontrollierend-erschließendes gedacht werden: Man braucht schließlich einen Wechsel von Aktivität und Passivität auf beiden Seiten, damit ›Kommunikation‹ überhaupt zu Stande kommt; das gilt für die einzelne Lektüre genauso wie für die kollektive. Die Sprache als Schrift ist aber nichts, was sich benutzen lässt, weil sie immer schon vor mir da ist und noch lange nach mir da sein wird. Die Zeichen brennen mir die Erfahrung der Differenz ein, weil es nicht nur meine Zeichen sind. In der Schrift ist diese Alterität radikal erfahrbar. Denn Schrift ist die Chiffre des Anderen im Eigenen, der Ausweis der Vermitteltheit des Ichs (vgl. Angehrn 2003, S. 300).
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Deswegen kann ich mich nicht zum Ausdruck bringen: »Alles, was eine Sprache führt«, weist über das hinaus, »was zur Sprache kommt« (Gadamer 1984, S. 29). Als Subjekt der Sprache bin ich genauso deren Objekt, denn der Überschuss, den die Zeichen produzieren sowie die Spuren, die über sie hinaus weisen, überfordern mich. Der herrschaftliche, an das göttliche Prinzip erinnernde Akt der Namengebung hat zwei Seiten: »Sobald ich benenne, werde ich benannt.« (Barthes 1974, S. 47). Gerade dieses Moment der Passivität, ja der Ohnmacht in der Sprache ist es, das mich gleichwohl sprechen und schreiben lässt. Denn die Sprache erlaubt mir z.B., ›Ich‹ zu sagen. Sie tut dies im Zusammenhang grammatischer und rhetorischer Strukturen. (Sonst wäre auch kein ›Du‹ möglich, sondern nur ein unverständlicher Monolog.) Und damit sehe ich mich aufs Neue aufgefordert, das Spiel, in dem ich genauso abwesend wie anwesend bin, wieder aufzunehmen. Die bisherigen Überlegungen sollen nun mit der Lektüre eines Textes von Heinrich v. Kleist, der Fabel ohne Moral (1810), verbunden werden. Ziel es dabei nicht, die theoretischen Einsichten praktisch ›anzuwenden‹. Es geht vielmehr darum, eine Haltung der Aufmerksamkeit gegenüber dem Geschriebenen einzuüben. Wenn die Wiederholung des Signifikanten seine Identität ebenso verbürgt wie seine Differenz, dann kommt es dem Lesen zu, die so entstehenden Brüche und Bezüge wahrnehmbar zu machen. Da die Sprache selbst dem Lesenden aufgrund ihrer metaphysischen Sedimente – man denke alleine an die dritte Person Singular von ›sein‹ – Deutungen förmlich aufzwingt, ist das Ganze ein riskantes Unterfangen. Kleists Text ist uns in der folgenden Gestalt überliefert17: »Die Fabel ohne Moral ›Wenn ich dich nur hätte, sagte der Mensch zu einem Pferde, das mit Sattel und Gebiß vor ihm stand, und nicht aufsitzen lassen wollte; wenn ich dich nur hätte, wie du zuerst, das unerzogene Kind der Natur, aus den Wäldern kamst! Ich wollte dich schon führen, leicht, wie ein Vogel, dahin, über Berg und Tal, wie es mich gut dünkte; und dir und mir sollte dabei wohl sein. Aber da haben sie dir Künste gelehrt, Künste, von welchen ich, nackt, wie ich vor dir stehe, nichts weiß; und ich müßte zu dir in die Reitbahn hinein (wovor mich doch Gott bewahre) wenn wir uns verständigen wollen.« (Kleist 1990, S. 353)
17 | Die Fabel ohne Moral wurde im 3. Stück des Phöbus im März 1808 publiziert. Handschriftliche Zeugnisse liegen nicht vor; vgl. den Kommentar von Klaus Müller-Salget (Kleist 1990, S. 917f.). Der Rezensent Karl August Böttiger zeigt sich hermeneutisch überfordert und schreibt: »Die zweite Fabel führt die Aufschrift: Die Fabel ohne Moral, und man könnte ebensogut auch hinzusetzen: ohne wahren Sinn.« (Vgl. Kleist 1990, S. 918)
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Gattungsangaben im Titel verhalten sich häufig wie die Diener zur Herrschaft. Während der Haupttitel, mehr oder weniger deutlich (am besten: weniger deutlich), mit dem, was da kommt, spielt, es ankündigt, bildhaft inszeniert oder wie auch immer (mal metonymisch, mal direkt) zu bezeichnen sucht, bietet der Untertitel, gleichsam devot, eine kleine Schublade an: Roman, Lustspiel, Novelle, Gedicht(e). Gelegentlich begehrt der Untertitel jedoch auf und reklamiert selbst eine ästhetische Funktion innezuhaben; er weicht von der bekannten Gattung ab und beginnt ein eigenes Spiel, z.B. als Tragische Komödie (Dürrenmatt). So wird die Singularität des Textes behauptet, der den Anforderungen der Gattung sich nicht fügen will oder kann. Es handelt sich um eines der signifikanten Verfahren moderner Literatur. Auch Kleist spielt mit einem Gegensatz. Der Titel, der doch den Text umfassen, ihn gleichsam einrahmen, ihm sein Thema verleihen soll, was er als Element eines Schriftganzen nicht kann, nimmt die Gestalt einer gattungspoetischen Paradoxie an. Die Fabel lebt von der Möglichkeit, im Sinne einer praktischen Ethik gelesen werden zu können. Das heißt nicht, dass man sie auf einen moralischen Lehrsatz reduzieren kann, aber zum Kalkül gehört die Vorstellung des Prodesse et Delectare als funktionierendes Zusammenspiel von praktischer Ethik auf der einen und ästhetischem Vergnügen auf der anderen Seite. In diesem Sinne lassen sich, zumindest: auch, die von Lessing publizierten Fabeln lesen. Kleist formuliert im ironischen Titel der kleinen Geschichte die doppelte Aussage der moralischen Enthaltsamkeit und der Teilnahme an der Gattungsgeschichte der Fabel. Er steigert diesen Effekt durch die Wahl des Artikels, der suggeriert, dass unter allen Fabeln, die man kennt, dies diejenige ist, die keine Moral aufweist. Damit scheint der Autor einen Anspruch zu formulieren – im Sinne der hermeneutischen Kontrolle über seinen Text. Wenn man den Titel ohne Gespür für die Ambivalenzen und ironischen Brechungen liest, könnte man als Leser in die Position kommen, anhand des Textes beweisen zu wollen, dass es sich tatsächlich um eine Fabel ohne Moral handelt. Allein, es liegt nahe, dass, wenn der Text mit der Gattung spielt, er dies auch mit dem Leser tut. Irgendwo ist ein Hintertürchen und wer hineingeht, entdeckt vielleicht doch eine Moral oder deren ironische Steigerung, Subversion usf. Im Grunde ist alles in Bewegung gekommen: die Gattung, die abstrakte Rede von der Moral, die Positionen von Autor und Leser. Wie ist all dies möglich? Ist der Autor ein Marionettenspieler – das Bild scheint im Falle Kleists nahe zu liegen –, der alle Fäden in der Hand hält? Geht es für den Leser darum, mit skrupulösem, langsamem, philologischem Blick das Ganze zu entwirren, bis das Geheimnis offenliegt? Wohl kaum. Das Geheimnis des Titels kann nicht gelüftet werden, weil es in der Medialität seiner Formulierung begründet liegt. Und in letzter Instanz ist das Medium selbst unerreichbar, weil es keine ontologische Größe, sondern der Effekt einer Diffe-
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renz ist. Bei Kleist wird das Wort ›Fabel‹ zum Medium seiner selbst, indem ihm eine Differenz zugefügt wird, als ›Fabel ohne Moral‹. Eine solche Steigerung der hermeneutischen Anforderungen ist auf die Schrift angewiesen. Das unmittelbare Einsetzen des Titels, der kein Titel sein will, ist letztlich nur in der Schrift, im Geschriebenen, denkbar. Das ironische Spiel, welches vorgibt, eine sichere Bezeichnung zur Hand zu haben, ist angewiesen auf einen Leser, der reflektiert, zögert, die Dinge wendet und in der Lage ist, sich die Frage zu stellen, ob nicht schon mit dem ersten Satz die Sprache zum Schweben gebracht worden ist, indem die Prädikation durchgestrichen wurde und zugleich lesbar bleibt. Der Einsatz in der Sprache als rätselhafte Schrift ist enorm gesteigert worden, obwohl alles Wort für Wort dasteht, denn zugleich nehmen die hermeneutischen Risiken zu: Wenn der Titel seine eigene komplizierte Geschichte erzählt, dann ist er im strengen Sinne kein Titel mehr, sondern er schiebt das Titel-Sein nur auf. Er ist Schrift als différance im Sinne Derridas, ein Raum, durch den die Zeichen wandern; eine Verweigerung der Bezeichnung in der Bezeichnung. Mehr als Schrift im materiellen Sinne, Differenzierung, die der Opposition Stimme vs. Schrift vorangeht; dasjenige, was solche Differenzierungen als paradoxe ursprüngliche Differenz überhaupt möglich macht. Der Zeichenraum, von dem die Rede ist, öffnet sich gerade, weil der Kontext nur rasch angespielt wird. Der Überschuss der Schrift macht sich bemerkbar in ihrer lakonischen Unterbestimmtheit, im Fehlen eines echten Kontextes, in welchem man das Geschriebene situieren könnte. Wenn die Fabel die Konstruktion einer Moral nahelegt oder gar selbst, als Epimythion18, formuliert, scheint sie von einer Intention beherrscht zu sein. Der Leser denkt an einen moralischen Diskurs, eine soziale und/oder geschichtliche Situation, auf die sich die Fabel übertragen lässt und erfährt die erzählte Geschichte als ausgegangen von einer Stimme, die dem Ganzen eine Richtung, einen Zweck gibt. Die Moral der Fabel kann formuliert werden, weil hinter dem Geschriebenen nicht weiteres Geschrieben steht, sondern eine moralische Instanz, ein Autor, der die Lehre erteilt. Die Geschichte der Fabel bis zur Aufklärung scheint, äußerlich betrachtet, auch die Geschichte der Bändigung der Schrift zu sein. Der aufs rechte Verstehen durch Erziehung eingestimmte Leser soll begreifen, dass die Fabel ihm etwas sagen will.19 Die Lektüre der Fabel könnte die Rückeroberung der Schrift durch die Stimme sein – bis 18 | Das Epimythion hat in der antiken Fabel seinen festen Platz am Ende der Fabel. Es liegt ein geordneter Schriftraum vor, der die Linearisierung des Sinns ermöglicht: Der moralische Lehrsatz stellt die abschließende Konsequenz des Erzählten dar. 19 | Derrida (1986, S. 36) sieht das Sagen-Wollen als Ausdruck dessen, was er die metaphysische Besetzung der Sprache nennt; es geht in dieser Perspektive um die Kontrolle des Textes durch ein transzendentales Signifikat. Angehrn (2004, S. 61-103) unterscheidet aus hermeneutischer Perspektive zwischen einem eher am Mündlichen
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zu dem Punkt, an dem, in einem hermeneutischen Phantasma, die Stimmen von Autor und Text zusammenfallen. Indem Kleist eine Fabel ohne Moral erfindet, steigert er die Interpretationsbedürftigkeit seines Textes und zerstreut die Kontrolle der Lektüre durch eine Intention, die dem Ganzen Richtung und Funktion gibt. Den Leser setzt er vermittels des poetologischen Titels, der nicht, wie vielleicht erwartet, die Akteure der Fabel adressiert (und so eher auf eine trockene Tautologie hinausläuft), in die Rolle eines Beobachters zweiter Ordnung (vgl. Luhmann 1997, S. 94) ein. Es stellt sich die Frage: Wie ist das möglich, eine Fabel ohne Moral? Ist es dann noch eine Fabel? Und wenn es keine mehr ist, wenn das geschriebene Wort Fabel sich als Metapher herausstellt, was bedeutet das für die weitere Lektüre? Wie muss ich meine Beobachtung einstellen, um einen Zusammenhang zwischen Titel und Geschichte konstruieren zu können? Der Versuch, auf diese Fragen zu antworten, erzeugt alsbald einen wuchernden Xenotext, dessen Bezeichnungen Folge seiner Fähigkeit sind, »weiter zu bezeichnen« (Rheinberger 2005, S. 25). Erinnern wir uns an dieser Stelle noch einmal an die Leitbegriffe literaturdidaktischer Texte: das gesellschaftlich handlungsfähige Subjekt und das Handlungswissen des Lehrenden. Wie reagiert ein wissendes und handlungsfähiges Subjekt auf einen Text wie den von Kleist? Darf es darauf hoffen, sein Wissen und seine Handlungsfähigkeit in einem technischen Sinne anwenden zu können? Was hieße dies im Falle der Konfrontation mit komplexer und ironisch aufgeladener Literatur? Wahrscheinlich zunächst dies: nicht zu wissen, wo und wie man anfangen soll. Wissen und Handlungsfähigkeit, wenn es denn so etwas gibt, müssen immer zuerst hergestellt werden. Mit anderen Worten: Es ist von einer Performativität des Wissens auszugehen, welches die Möglichkeit des Widerspruchs und des Scheitern beinhaltet. Da jedes Element des Textes vielfach anschließbar ist, bleibt Kohärenz stets auf Kontingenz bezogen. Ferner ist zu bedenken, dass Wissen, das zur Textdeutung herangezogen wird, selbst zu interpretieren und zu hinterfragen ist. So notiert Klaus MüllerSalget in seinem Kommentar in der Ausgabe des Deutschen Klassiker Verlags, das Thema der Fabel ohne Moral sei die »Verbildung des Natürlichen durch künstliche Formung.« (Müller-Salget 1990, S. 918) Dieses kompakte Urteil geht allerdings über den Text gar zu rasch hinweg.20 Denn es ist gerade der Mensch, der gewissermaßen im Naturzustand vor dem Pferde steht, und es ist orientierten Äußerungsverstehen und einem eher von der Schrift ausgehenden Textverstehen. 20 | Erstaunlich, dass sich Müller-Salget (ebd.) zur Absicherung des Befundes auf Über das Marionettentheater bezieht. Die Gegenthese, dass dieser Text mit dem Gedanken spielt, die Natur des Menschen schränke seine ästhetischen Möglichkeiten ein, ist doch mindestens genau so plausibel. Denaturierung erscheint hier als Möglichkeit nicht als Problem.
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das Pferd, das dressiert und denaturiert den Gegenpol darstellt. Die Travestie der Rollen stellt zumindest eine Ebene dar, auf welcher der Text lesbar ist – und diese wird ausgeblendet, damit eine geläufige Interpretation, welche den Gang des Menschen durch die Zeit vor dem Hintergrund eines ersehnten authentischen Naturzustandes bedauert, fortgeschrieben werden kann. Menkes These, dass im Falle des Ästhetischen Kontextdeutungen zitierend und ironisierend gezeigt sowie im Text gebrochen werden, überzeugt hier mehr; es findet eine Travestie der Thematik Rousseaus21 statt, die gewissermaßen als klassische Fabel aufgelöst und umgearbeitet wird. Rousseau erscheint als Fabeldichter, dem die Moral entzogen wird. Das ironische Spiel mit der Gattung verbindet sich also mit der Travestie der Thematik. Die Fabel ohne Moral ist negativ auf die Geschichte der Gattung bezogen; das heißt: letztere bleibt, gewissermaßen durchgestrichen (als Spur), lesbar, ja muss lesbar bleiben, weil der neue Text sonst seine Pointe verlöre. Während die Fabel üblicherweise Tiere benutzt, um die Eigenschaften von Menschen bildhaft zu verdeutlichen, trennt Kleist Tier und Mensch, hebt den Mechanismus der Anthropomorphisierung auf. Es ist nicht mehr klar, ob der Mensch ein tierisches oder ob das Tier ein menschliches Wesen darstellt. Auf diesem Wege löst sich auch die vertraute Textstruktur auf. Es gibt weder typische menschliche Eigenschaften noch vertraute Bilder für diese aus dem Tierreich. Es gibt keine fest gefügte Handlungsstruktur (actio-reactio), welche diese paradigmatischen Strukturen in syntagmatische Abläufe integriert. Und es gibt keine erzählerische Lenkung, die Vertrauen und Sicherheit schafft, souverän das Prodesse mit dem Delectare verbindet. Was stattdessen festzustellen ist, ist ein Überhandnehmen der Sprachproblematik. Die Folge: Auf der Handlungsebene geschieht nichts; auf der Ebene der Lektüre und Reflexion alles. Es kommt folglich zu einer Befreiung der Bilder aus der konventionellen Verwendung im Rahmen der Gattung. Ein Beispiel ist die Metapher der Reitbahn. Eine Metapher, die keine sichere Übertragung garantiert, sondern das Problem der Metaphorizität mitlaufend reflektiert. Einerseits ist das Bild suggestiv, beharrt gleichsam auf der wörtlichen Bedeutung. Die Szene, die Kleist entwirft, könnte nachgestellt werden. Andererseits ist die Setzung des Zeichens ›Reitbahn‹ rätselhaft. Warum spricht das Ich von der Reitbahn, in die es sich begeben müsste, um mit dem Pferd zu kommunizieren? Bei genauerem Hinsehen ist das Bild gespalten (was die Selektion des für die Metapher relevanten semantischen Merkmals erschwert). Die Reitbahn steht zugleich für Kraft, schwer kontrollierbare Dynamik (ja Gewalt), Tempo und für Regeln, Kalkül, Wettstreit, Disziplin. Die Reitbahn trennt das sprechende und reflektierende Ich vom Pferd. Das Begehren nach dem Tier, das nicht irgendein Tier ist, sondern ein vom Menschen domestiziertes und also unterworfenes, zielt 21 | Müller-Salget (ebd.) verweist auf Rousseau als Referenztext.
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auf eine naturwüchsige Einheit mit dem Tier, auf eine Einheit, die keiner vermittelnden Sprache mehr Bedarf. Es ist das Begehren nach dem Animalischen im Menschen, nach der ursprünglichen Gewalt. Doch diese Gewalt ist in der Sprache selbst aufgehoben. Der Mensch spricht mit seiner Sprache; er erkennt, dass diese Sprache den lebensnotwendigen Bezug stiftet – auch als Bezug des Ichs zum Ich –, aber er begreift zugleich, dass dieser Bezug stets auch eine Fremdheit zum Sprechen bringt: die Fremdheit der Schriftzeichen, die so vielen anderen gehören. Die Reitbahn ist ein Bild der Sprache, man könnte mit Foucault sagen: ein Bild des Diskurses. Der Sprecher will aufsitzen, aber es gelingt nicht. Die Sprache ist ein Apparat aus Regeln, die ständig in Bewegung sind und deren Dynamik das Ich mit sich fortzureißen droht. Die Sprache ist das ursprüngliche Bild der Entfremdung. Das Ich will nicht in sie hinein und kann dies doch nur mit Mitteln der Sprache zum Ausdruck bringen. Für den Leser resultiert daraus die Ambivalenz von Buchstäblichkeit und Misstrauen, die de Man (vgl. oben) zum proprium der Literatur erhoben hat. Die rhetorische Energie des Bildes (etwa als Bild für die Sprache) kann sich nur aufgrund der logischen Energie, der Suggestivität der Schilderung, entfalten und negiert diese zugleich. Jede Zuweisung von Bedeutung – auch die vorliegende – bleibt Teil dieses Prozesses, der sich zurückbezieht auf das Geschriebene: »Eine Bedeutung kann mit einer Setzung immer erst nachträglich, post positionem, liiert und also vor der Instanz des schieren Sprechaktes epistemologisch nie legitimiert werden.« (Hamacher 1998, S. 188) Während kompetente Lektüren statisch sind, weil sie vorgeben darzustellen, wie der Text angemessen zu verstehen ist, indem etwa die Intention expliziert wird, sind rhetorische dynamisch, weil sie hinter die Sinn machende differentielle Form des Textes nicht zurückgehen können und wollen; das Bild der Reitbahn schiebt sich immer wieder vor das vermeintlich Bezeichnete. Kleists Text führt, dies wurde bereits deutlich, Handlung auf Sprache und Begehren zurück. Ähnlich wie im Zerbrochnen Krug, wo die Frage nach der Wahrheit in einem Kampf der Worte entschieden wird. Die Tat ist vorüber, das Gerichtsverfahren ist die Reitbahn, in der ein Wettstreit der Diskurse stattfindet, das der Richter verliert. Die Fabel ohne Moral zeigt das Begehren ebenfalls in der Sprache, allerdings nicht als Lapsus, sondern in Form eines PseudoDialogs, der ein Selbstgespräch ist. Die grammatische Form des Begehrens ist dabei der wiederholt gebrauchte Konditionalsatz in Verbindung mit dem Konjunktiv II. Gerade die Wiederholung zeigt das Moment der Verräumlichung im Medium der Schrift, das notwendige Ineinander von Identität und Differenz. Die Wiederholung will insistieren und sie spaltet sich zugleich auf, wird das Andere ihrer selbst. Zweimal beschwört das Ich das Pferd/die Sprache mit dem Satz ›Wenn ich dich nur hätte‹, doch die Aussage wird mit unterschiedlichen anderen Aussagen kombiniert, einmal mit der Schilderung der Situation, einmal mit der Schilderung von Bildern des Begehrens. Die Inversion und Wieder-
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holung des Satzes lässt ihn erscheinen wie der Herzschlag des kleinen Textes; das Begehren in der Sprache zeigt sich dabei auch als Begehren nach Macht (über die Sprache). Doch dieses Begehren nach Macht über die Sprache wird durch die Sprache selbst vereitelt: Der Ritt, leicht wie ein Vogel, ist im Grunde ein Führen, das heißt ein Herrschaftsverhältnis. Die Bilder von Leichtigkeit und Freiheit werden gewissermaßen von einem Begehren nach Macht heimgesucht. Ritt und Vogelflug geraten aneinander. Merkwürdig auch die Rede vom ›unerzogene[n] Kind der Natur‹. Während das sprechende Ich darauf drängt, hinter die Grenzen der Sprache und auch der Erziehung zu kommen, kann es doch zugleich nicht anders als in der Sprache den Naturzustand als einen Zustand vor der Sprache zu beschwören. Die Metapher des Kindes schreibt zugleich das Begehren nach Herrschaft fort. Denn der Ritt erscheint vor diesem Hintergrund wie eine andere, neue Form der Erziehung. Das Begehren nach der ursprünglichen Gewalt in der Sprache beschwört schließlich und endlich eine zutiefst komische Situation herauf. Denn was der Text vorführt, ist ein Akt der einseitigen Kommunikation, der misslingen muss. Weder kann auf der Ebene des wörtlichen Sinnes das Pferd antworten, noch kann die Sprache auf das Begehren des Subjekts reagieren – sie ist selbst dieses Begehren. Die einzige, die niemals antworten wird, ist die Sprache selbst 22, weil sie kein Subjekt mit einer Intention und einer Position in Zeit und Raum ist, sondern ein Rhizom ohne Zentrum. Die Sprache spricht mit. So lässt sich auch die Staffelung der Aussagen in der Fabel ohne Moral begreifen: Hinter der Stimme spricht eine weitere Stimme, die das Begehren des Menschen nur wiedergibt und so die schlüssige Zuordnung in Zeit und Raum verhindert. So ergibt sich eine Struktur aus Trennung und Verbindung, die das Spiel der Sprache anschaulich macht: Der Mensch ist außerhalb der Reitbahn und damit außerhalb der Sprache und er ist zugleich in der Sprache, weil er die Sprache spricht (indem er sich ihr/dem Pferd zuwendet) und selbst von der Sprache gesprochen wird (da alles im Grunde indirekte Rede ist). Das Sein im Werden, welches Menke als das Wesen der ästhetischen Erfahrung bezeichnet, ließe sich, im Hinblick auf Kleist, als Spaltung des Seins durch das Werden der Sprache bezeichnen. Das begehrte Sein außerhalb der Sprache erscheint im Vokabular Heideggers als Sein zur Sprache oder mit anderen, Heidegger fremden Worten: als ironische Vermittlung von Sein und Sprache. Die Lektüre kann also nicht hinter die Position der Zeichen zurück. Wie im Theater, wo meine Wahrnehmung durch Stimmen, Körper, Sprache und Dinge herausgefordert ist, gibt es im Falle des Textes keine Kraft, die sich die Figürlichkeit unterwerfen kann. Das ist auch der Grund, warum die Metapher 22 | Am Ende heißt es, das sprechende Ich müsste in die Reitbahn hinein, wenn Verständigung gelingen soll. Der geradezu metphysische Schrecken davor macht deutlich, dass das Subjekt Angst davor hat, im Diskurs zu verschwinden.
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zum Paradigma der Literatur überhaupt werden konnte: Das, was die Metapher sagt, kann sich nie von dem emanzipieren, was die Metapher zeigt. So auch allgemein in der Sprache als Schrift: Indem der Signifikant den Zusammenhang des Textes stiftet und nur durch ihn die Konstruktion eines Signifikats möglich ist, bleibt er der Ansatz- und der Zielpunkt der Lektüre. Ist nach traditioneller Auffassung der Signifikant nur das Kleid des Signifikats, eine Verhüllung, derer man sich zu entledigen hat, zeigt die Erfahrung der Lektüre, dass man es mit Serien aufeinander verweisender Signifikanten zu tun hat. Wenn das Erste (das Signifikat) ohne das Zweite (den Signifikanten) gar nicht wahrgenommen werden kann, dann liegt es nahe zu sagen: Das Zweite ist das Erste (vgl. Lüdemann 2011, 40). Hinter dem Signifikanten Reitbahn tauchen andere Signifikanten auf, deren Grenzen schwierig zu bestimmen sind. Dies gilt in letzter Instanz auch für die scheinbar unantastbaren Kraftzentren der Sprache wie das Ich. Taucht in einem Text ein Subjekt auf, das Ich sagt, bildet sich eine Art metaphysischer Vertrauensvorschuss, der Perspektiven bildet und Wahrheitswerte einrichtet. Eine ganze empirische Welt kann ihre Plausibilität dadurch erhalten, dass ein Ich in ihr vorkommt. Man denke an die Science-Fiction-Literatur. Die geschilderte Welt mag noch so abstrus sein; wenn ein Ich von ihr berichtet, gewinnt sie an Leben und Überzeugungskraft. Die letzte, scheinbar unangreif bare Instanz von Kleists kunstvollem Text scheint demzufolge auch das Subjekt zu sein, auf das die Geschichte sich bezieht und von dem die Äußerungen ausgehen. (Auch wenn es ein zweites, anonymes Ich gibt, das die Äußerungen autorisiert.) Doch auch das Ich lässt sich als Figur lesen: als Personifikation der Sprache selbst, als jenes Prinzip, das vorgibt, die Vielheit der Schrift in der Einheit einer artikulierenden Stimme zusammenzufassen.23 Wir kommen hier wieder an den Punkt, an dem die Metaphysiken von Subjekt und Sprache zusammenfallen. Der Glaube an die Macht des Subjekts ist ein Glaube an die Macht über die Sprache. Wenn die Sprache auf ihre Figürlichkeit hin gelesen wird, erweist sich auch das Subjekt als eine solche Figur: »Die Figur ist Substanz und Subjekt der Sprache, Substanz und Subjekt sind nichts als Figur.« (Hamacher 1997, S. 164). Indem die Literaturdidaktik der Metaphysik des Subjekts, etwa als gesellschaftlich handlungsfähiges Subjekt, vertraut, muss sie auch der Metaphysik der Sprache vertrauen. Und indem sie dies tut, öffnet sie sich für die Besetzung des Subjekts und seiner Sprache mit verhärteten Begriffen und Taxonomien. All die Stufen des Könnens und Wissens (als subjektives Vermögen), welche die Didaktik festlegt, sind Ausweis ihrer Blindheit für das, was diese Ordnungen zum Einsturz bringt: die Sprache selbst als aufschiebendes und differenzierendes Vermögen des NichtIdentischen. Umgekehrt funktioniert der Glaube an die vom Menschen durch 23 | Bettine Menke benutzt, in Hinsicht auf Paul de Man, den Begriff der Prosopopoiie (Rede eines Abwesenden); vgl. Menke (2000).
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Sprache gesetzte Ordnung als tatsächliche (oder anzustrebende) Ordnung nur, weil die Sprache, die sie gemacht hat und die grundsätzlich auch in der Lage ist, sie wieder aufzuheben, als Produktivkraft vergessen wird. Die Verkörperung von Macht durch Sprache läuft auf eine totale wechselseitige Transparenz beider Größen hinaus. In dem Moment, in welchem in der Sprache etwas erfunden wird, das man können oder wissen soll, existiert es schon und zieht die Menschen in ihren Bann. Eine Position, die an die Figürlichkeit der Sprache erinnert und den Machthunger des Subjekts mit der Nichtverfügbarkeit seines Mediums konfrontiert, ist dagegen in der Lage, die Lücken und Abgründe in den Diskursen der Macht wahrzunehmen. Was Paul de Man, Michel Foucault und Werner Hamacher dazu beigetragen haben, wäre wohl ohne Friedrich Nietzsche nicht denkbar gewesen. Blicken wir noch einmal in die berühmt gewordene, zu Lebzeiten nicht veröffentlichte Abhandlung Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne (1873). Dort beantwortet Nietzsche die Frage nach der Wahrheit als Zusammenhang von Figur, Macht und Vergessen. Was also ist Wahrheit? »Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauche einem Volke fest, canonisch und verbindlich dünken: die Wahrheit sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen in Betracht kommen.« (Nietzsche 1999, S. 880f.)
An Nietzsches Analyse ist bemerkenswert, dass die Wahrheit nicht denkbar ist ohne das Vergessen. Es gibt einen Schatten der Wahrheit, der durch die Blindheit der Zeichen entsteht. Wenn die Sprache nicht repräsentiert, wird die Wahrheit zur Fiktion. Der naive Leser läuft deshalb stets ins Dunkle hinein. Ferner ist für Nietzsche die Figürlichkeit der Sprache der Ansatzpunkt jeder kritischen Analyse. Was Nietzsche aus der Philologie mitgenommen hat, ist das Bewusstsein für die setzende und zugleich versetzende Kraft der Sprache. Rhetorik ist kein Fach für Philologen, sondern für alle, die sich mit der conditio humana auseinandersetzen. Die Figur ist der Name für die Eigenlogik des sprachlichen Mediums, das sich immer wieder in den Vordergrund drängt.24 Die rhetorische Analyse kann folglich auf allen Ebenen betrieben 24 | Noch in der Differenz von Medium und Form, die Luhmann (vgl. etwa 1984) zu einem wichtigen Ausgangspunkt der Systemtheorie macht, schwingt die Vorstellung einer eher passiven (›weiblichen‹) und einer eher aktiven (›männlichen‹) Seite mit. Die Indifferenz des Mediums macht die Differenz durch die Form erst möglich. Eine solche feste Asymmetrie ist bei Nietzsche nicht zu beobachten.
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werden und sie lässt in letzter Konsequenz scheinbar feste Unterscheidungen wie die zwischen ästhetischen und wissenschaftlichen Texten kollabieren. Es gibt eine Poetik der Wissenschaft und eine Systematik der Poesie. Damit ist ein Standpunkt gewonnen, der die Möglichkeit zur Selbstbeobachtung und Selbsterkenntnis innerhalb des wissenschaftlichen Diskurses steigert. Der Glaube an das Vermögen des Subjekts erweist sich in dieser Hinsicht zunächst einmal als Figur (Personifikation). Und die Figur ist gewissermaßen der philologische Name für die Differenzierungsarbeit der Schrift, die eine »Unangepasstheit der Sprache an sich selbst« (Angehrn 2004, S. 271) bewirkt. Das Lesen generiert folglich ein Wissen, das stets an die unhintergehbare Figürlichkeit der Sprache gebunden bleibt. Der Sprung in den Zeichen und zwischen den Zeichen verschiebt zu jedem gegebenen Zeitpunkt der Lektüre den Standpunkt der Beobachtung. Darüber kann man einfach hinweggehen, indem man behauptet, dies oder jenes sei die Bedeutung des gelesenen Textes. Dabei entsteht aber automatisch ein dichter Nebel zwischen Deutung und Text. Wiederlesen führt dazu, dass die Vereinnahmung durch Deutung augenblicklich an Bedeutung verliert. Schließlich zeigen sich in der Form der Interpretation selbst die Symptome des Zwangs, der notwendigen, aber im Grunde fragilen Ordnung. Den Buchstaben die Treue zu halten, hieße demgegenüber, die Bedeutung so aufzuschieben, dass die semantische Negativität des Textes als Zugewinn des Lesers an Freiheit erfahren werden kann.25 In zeichentheoretischer Perspektive könnte man sagen, dass die Signifikanten im Signifikat immer weiter drängen, auf dieses einwirken, es aufspalten. Die Erschließung des Signifikats durch die Lektüre erweist sich als Illusion, da es als unmöglich erscheint, »durch Interpretation oder Kommentar das Signifikat vom Signifikanten zu trennen.« (Derrida 1974, S. 276) Es kann folglich kein aus der Lektüre gewonnenes, explizites Wissen geben. Die Unbeobachtbarkeit des Schriftraums als Ganzem und die Figürlichkeit der Sprache zwingen das Lesen zu einer Verstrickung in sich selbst. Weil die Grenzen des Textes sich mit jedem Akt der Lektüre verschieben und erweitern, wird ein externer Zugriff immer weniger plausibel. Einen Text kann man nur von außen in den Griff bekommen, indem man zeitig die Lektüre einstellt.26 Umgekehrt kann Lesen nur heißen: in einem performativen Akt 25 | Jürgen Förster (1998) hat gezeigt, dass die lehrbar gemachte Literatur, indem sie auf unhinterfragte Prämissen wie z.B. die welterschließende Kraft der Metaphern (vgl. S. 58) zurückgreift, ihre eigene Fehlerhaftigkeit ausbuchstabiert. 26 | Kremer/Wegmann (1995, S. 55) weisen darauf hin, dass die pädagogischen und wissenschaftlichen Instrumentalisierungen des Lesens nicht ohne einen großen blinden Fleck auskommen. Das Lesen selbst bleibt stets im Dunkeln (wie die textuellen Komplexitäten, auf die es sich bezieht) – was auch immer in bildungsbürokratischen Verlautbarungen (vgl. S. 57) zu lesen ist. Gerade weil man nicht weiß, was das Lesen ist,
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Sinn bilden, variieren, auslöschen. Entscheidend sind dabei jene Momente, in denen Relationen zwischen einzelnen Leseeindrücken konstruiert werden. Der Akt, in dem dies geschieht und der stets reversibel bleibt, entzieht sich der Beobachtung; nur im Nachhinein kann eine Zusammenschau zum Zwecke der Kohärenzbildung stattfinden. Im Lesen geht es stets um die Lücke, die entsteht, wenn ich mich reziprok (bewusst) auf mein Lesen beziehe. Die durch Lektüre hergestellte Kohärenz ist also sehr dünn und fragil. Selbst der Zitatenschatz des Bildungsbürgers kann nur ein lebenslänglicher Bezugspunkt des Sprechens sein, weil in das wiederholend zitierte Wort ein hohes Maß an Unbestimmtheit und Nichtwissen eingebaut ist. Der stabile Wortkörper suggeriert zwar ein stabiles Wissen, doch nur weil man letztlich nicht weiß, was und wie die Worte bedeuten, können diese auf die verschiedensten Situationen in unterschiedlicher Tonlage angewendet werden. Wenn nun die Interpretation – etwa vermittels hermeneutischer Parallelstellenmethode – auf Ergebnisse des wissenschaftlichen Lesens Bezug nimmt, liegt bereits eine Rationalisierung vor, welche die figurative Dynamik des Textes und des Lesens in einen methodisch hergestellten Zusammenhang bringt. Ändert man jedoch die Methode und stellt von Identität auf Differenz um, kehren die Paradoxien der Bedeutungsbildung in die Darstellung zurück. In Wolfgang Isers Antrittsvorlesung (1969), deren Text später unter dem Titel Die Appellstruktur der Texte veröffentlicht wurde (Iser 1994a), ist das Verständnis für die kategoriale Differenz von Lektüre und Interpretation bereits voll ausgebildet. Die Interpretation wird dort nicht ohne Humor als »kultiviertes Leseerlebnis« (ebd., S. 229) dargestellt. Dies macht deutlich, dass Lesen nur durch Unterdrückung von Kontingenz in Interpretieren überführt werden kann. Der Machtapparat der Wissenschaft mit seinen Kontrollmechanismen und Verfahren spielt dabei eine entscheidende Rolle. Nicht alles darf gedruckt werden. Im Sinne Nietzsches und Foucaults arbeitet der Wille zum Wissen mit bestimmten Ausschlussprozeduren. Iser ist um eine Modernisierung der Hermeneutik bemüht und interessiert sich mehr für die Dynamik der individuellen Lektüre als für den Strom der Überlieferung, in welcher der Einzelne nur mitschwimmen kann. Er lässt jedoch die Möglichkeit offen, ja er evoziert diese förmlich, dass die Einheit des Werks im Akt der Lektüre zu Stande kommt. Folglich ist sein Leser – paradoxerweise – eher eine Funktion des Textes, der seine Lektüre selbst steuert, als eine Instanz, welche die Brüche und Ambivalenzen der Textur wahrzunehmen in der Lage ist. Doch mit dem Begriff der Leerstelle als Unterbrechung der Anschließbarkeit im Akt der Lektüre ist der Einsatzpunkt textueller Nega-
kann man behaupten, es verstanden zu haben. Ideologie und Unkenntnis gehen Hand in Hand.
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tivität markiert. Dies bedeutet, dass der Text keine Bedeutungen enthält, die ihm entnommen werden können: »Leerstellen und Negationen bewirken insofern eine eigentümliche Verdichtung in fiktionalen Texten, als sie durch Aussparung und Aufhebung nahezu alle Formulierungen des Textes auf einen unformulierten Horizont beziehen. Daraus folgt, daß der formulierte Text durch Unformuliertes gedoppelt ist. Diese Dopplung bezeichnen wir als Negativität fiktionaler Texte.« (Iser 1994b, S. 348).
Hier zeigt sich eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Begriff des Xenotextes als der Fähigkeit von Texten, Interpretationen hervorzurufen. Rheinberger war zu dieser Folgerung durch die Reflexion auf die Polyvalenz der Schrift gekommen. Im Falle Isers sind die Bezugspunkte eher der Bruch zwischen Lebenswelt und Literatur bzw. eine rezeptionsästhetische Theorie der Fiktionalität. Die Auffassung, dass Figuren poetische Erkenntnis genauso verstellen wie sie diese ermöglichen, lässt sich aus Isers Theorie nicht ablesen und ob sie mit dieser vereinbar ist, muss zweifelhaft bleiben.27 Markiert ist in jedem Fall der Bruch zwischen Lektüre und Interpretation insofern, als es keinen sicheren Weg von der einen Instanz zur anderen gibt. Die Basis der Interpretation kann nur in dieser selbst liegen28, denn die Lektüre lässt sich überhaupt nur als negativ determiniert begreifen und sie ist allein schon deswegen uneinholbar. Lesen ist nicht die Positivierung des Negativen, sondern Rückkehr zur Negativität durch die Positivität hindurch. Operativ ist dies erfahrbar durch die Wiederholungslektüre als »Gegenprinzip zu jeder Verbrauchslektüre« (Kremer/Wegmann 1995, S. 3). Da die Zeichen nicht repräsentieren, sondern immer schon auf andere Zeichen verweisen (Spur) und da zugleich jeder Akt des Lesens Positivitäten in die Welt setzt, als gäbe es ein geregeltes Verhältnis von Worten und Sachen, besteht die poetische Erfahrung im Gespür für den Abgrund zwischen Erscheinen und Erscheinendem: »In jedem Augenblick des Schreibens oder Lesens, in jedem Augenblick der poetischen Erfahrung muß sich die Entscheidung von einem Grund der Unentscheidbarkeit absetzen.« (Derrida 2003, S. 121) Die Interpretation jedoch muss die Unfähigkeit der Sprache, die Welt jenseits von ihr in den Griff zu bekommen, negieren. Interpretieren heißt, Dingwelt und Sprachwelt, Erfahrung und Begriff, miteinander in 27 | Näher an der Dekonstruktion ist die These von der notwendigen Selbstaufhebung der erzählten Welt in Das Fiktive und das Imaginäre: »Die dargestellte Welt gilt es sich vorzustellen, als ob sie eine Welt sei: daraus folgt zunächst, daß die im Text dargestellte Welt sich selbst nicht meint und folglich durch ihren Verweischarakter etwas anzeigt, das sie selbst nicht ist.« (Iser 1991, S. 40) 28 | Damit ist die Interpretation ein selbstreferentielles Geschehen; je mehr Boden sie unter den Füßen gewinnt, desto weiter entfernt sie sich von ihrem Gegenstand.
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ein Verhältnis zu setzen oder mit anderen Worten: den Widerspruch zwischen Lektüre und Interpretation außer Kraft zu setzen und zugleich auf diesem aufzubauen.29 Nur so können Kommentare geschrieben, Deutungskulturen erzeugt werden. Der Widerspruch ist indes nicht aufhebbar, weil die Lektüre selbst widersprüchlich ist. Sie setzt Kohärenz in Anbetracht von Kontingenz. Während auf der einen Seite Lesen als reine Erfahrung von Kontingenz nicht denkbar ist, läuft andererseits jede Lektüre, die sich um den Text bemüht, auf die Erfahrung des Bruchs im Geschriebenen hinaus (vgl. Bossinade 2000, S. 172); Lektüre wird stets zum Einstieg in die Selbstreferenz des Geschriebenen (vgl. Bode 2002, S. 624) als Folge der Polyvalenz des Mediums. Die wissenschaftlichen und pädagogischen Institutionen arbeiten dem entgegen, indem sie Metaebenen einrichten, in denen, gemäß der jeweiligen Doktrin, Bedeutung versammelt und Lesbarkeit diskursiv hergestellt wird. Foucault (1998, S. 18-22) nennt in diesem Zusammenhang vor allem den Kommentar und die Funktion des Autors. Die Instanz des Autors konnte so bedeutsam werden, weil sie sich eignete, um der Polyvalenz der Schrift eine quasi-orale Quelle des Sinns entgegenzuhalten. Der Kommentar verwandelt die Unbestimmtheit der Dichtung in eine defizitäre Schicht, welche die dazu berufenen Autoritäten auffüllen und damit stabilisieren; Wirkung eines kollektiven Lesers, der die je individuellen Leser an die Hand nimmt und ihnen die Richtung weist. Die Selbstbezüglichkeit des Geschriebenen muss ein Skandalon sein, weil sie die Zurechnung auf ein Subjekt, das uns etwas sagen will und die vielen Subjekte, die das verstehen sollen, unterminiert. Zugleich ist jeder Akt des Lehrens, aufgrund der ihm eingeschriebenen Intentionalität – und sei diese noch so sehr ironisch gebrochen – perspektivisch, das heißt: in eine Richtung weisend. Lehre und Schrift können unerbittliche Gegner sein. Die Lektüre kann dem kein Ende setzen, weil sie selbst dem Widerspruch von zentrifugalen und zentripedalen Kräften ausgesetzt ist. Und wenn sie das nicht wäre, wäre sie gar keine Lektüre, sondern ein billiger Götzendienst am Geschriebenen. Schon der Umstand, dass es die eine Lektüre und den einen Text nicht gibt, sorgt für die Unendlichkeit dieser Differenz. Die Raum-Zeit des Lesens als Verräumlichung der Zeit und Verzeitlichung des Raumes ist dafür wiederum die Ursache. Pluralität der Lektüre heißt nicht: ein Nacheinander verschiedener Lektüren, sondern deren Ineinander und Miteinander: »Es ist eine Lektüre, die gegen die Vereindeutigung auf die Öffnung und Vervielfältigung des Sinns setzt, die Bedeutungsblöcke auseinandertreibt und entsprechend der Plura29 | Nach Hamacher (1997, S. 172) enthält die Sprache stets eine Anweisung auf mögliche Referenz und ist in diesem Sinne »imperativ«. Allerdings steht die Dringlichkeit der Anweisung, die sich durch sprachlichen Aufwand immer noch steigern lässt, in einem notwendigen Widerspruch zur Selbstbezüglichkeit der Sprache.
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Im Werk Paul de Mans begegnet die Differenzialität der Lektüre als unauflösbarer Widerspruch zwischen der logischen und der rhetorischen Dimension literarischer Texte, wobei der Einsatz des Spiels noch dadurch erhöht wird, dass die Texte um diesen Widerspruch ›wissen‹, mit und gegen ihn arbeiten und damit die selbstreferentiellen Verstrickungen noch erhöhen: »Gemäß einem Paradox, das jeder Literatur eigen ist, gewinnt die Dichtung ein Maximum an Überzeugungskraft genau in dem Moment, in dem sie jedem Anspruch auf Wahrheit entsagt.« (de Man 1988, S. 82) Das Auseinandertreiben der Bedeutungsblöcke, über welches Angehrn schreibt, begreift de Man also als Wahrnehmung der Differenz von Referenz und Performanz. Eine Steigerung performativer Kraft durch Betonung des figurativen Charakters von Sprache lässt die Referenz der Zeichen, hier als ›Wahrheit‹ der Sprache bezeichnet, implodieren. De Man oder zumindest sein Übersetzer geht hier lax mit den Begriffen um, denn was in den Hintergrund tritt, ist nicht die Wahrheitsfunktion der Sprache, sondern ihre Zeichenfunktion. Der Zusammenschluss von Signifikant und Signifikat gelingt nicht mehr, weil die Figur keine sichere Beziehung zu ihrer eigenen semantischen Dimension hat. Der durch die figurale Differenz performativ erzeugt Bedeutungseffekt (vgl. Förster 1998, S. 60) ist etwas anderes als die durch Berücksichtigung des kommunikativen Kontextes rekonstruierbare Bedeutung. Das Echo zwischen Figur und Bedeutung vervielfältigt sich wie dasjenige zwischen Tanz und Tänzer. Der Körper, der die Aussage verkörpern muss, kann dies nur tun, indem er sich ganz in den Dienst der Figur stellt, und indem er dies tut, zieht er ständig einen Schleier über die Leiblichkeit seiner Darbietung. Die Figur scheint alles aufzusaugen, was mit ihr gesagt werden soll und doch bleibt ein Begehren nach sicherem Sinn im Spiel, das enttäuscht wird und sich deswegen als Begehren halten kann. Roland Barthes (1974, S. 19) spricht von einem »Asyndeton, das die Sprachen zerschneidet […]: nicht die (logische) Ausdehnung fesselt sie, die Entblätterung der Wahrheiten, sondern das Blattwerk der Signifikanz; wie bei jenem Spiel, wo immer die unterste Hand auf die oberste gelegt wird, geht die Erregung nicht von der Geschwindigkeit des Vorgangs aus, sondern von einer Art vertikalem Charivari (die Vertikalität der Sprache und ihrer Zerstörung); in dem Moment, wo jede (verschiedene) Hand über die andere springt (und nicht nach der anderen), entsteht das Loch und reißt das Subjekt des Spiels mit sich fort – das Subjekt des Textes.« Und an diesem Ort verliert sich auch das Subjekt der Lektüre. Während bei de Man die logische und die rhetorische Dimension der Sprache gegeneinanderstehen (freilich nicht ohne voneinander zu wissen), springen bei Barthes ›logische Ausdehnung‹ und ›Blattwerk der Signifikanz‹ gleichsam auseinander. Barthes scheint hier der zeitlichen Dynamik der Lektüre eher
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gerecht zu werden als de Man. Letztlich holt aber auch de Man den Zeitaspekt in sein Modell der Lektüre hinein, denn seine methodologische Figur der doppelten Lektüre ist nichts anderes als eine paradoxe Vermengung des Nacheinanders mit einem Miteinander. So notiert er in seinem Aufsatz über Rilke: »Die volle Komplexität dieser Dichtung kann nur im Nebeneinander zweier Lektüren zum Vorschein kommen, in dem die erste die Sprachstruktur, die sie entstehen läßt, vergißt und die zweite sie anerkennt.« (de Man 1988, S. 83) Das bedeutet, dass der Leser eines literarischen Textes sich dessen Bedeutung nicht vergegenwärtigen kann (in dem Sinne, dass es zu einer Wiedergeburt des Textes im Kopf des Lesers kommt). In Kleists Text z.B. schiebt sich das Bild der Rennbahn, das selbst keineswegs abgeschlossen, sondern in eine komplizierte Genealogie eingeschrieben ist, immer wieder vor seine eigene Bedeutung, was bedeutet, dass es gar keine eigene (ihm zukommende) Bedeutung hat. Das Bild ermöglicht die Wahrnehmung von Bedeutung in dem Sinne, dass es Zuschreibungen ermöglicht, die ab einem bestimmten Abstraktionsgrad zwischen Bild und Thema vermitteln können (z.B. über den Aspekt der Sprachlichkeit als tertium comparationis); zugleich bleibt diese Vermittlung aber fragil, da sie nur dadurch zu Stande kommt, dass neuerlich ein Zeichen (Rennbahn) durch ein anderes (Sprachlichkeit) metonymisch verschoben wird. Eine Figur antwortet auf die andere. Aus der Metapher wird die Metonymie. Das Supplement erzeugt das, woran es sich anhängen soll (vgl. Menke 1991, S. 252). Das ›Blätterwerk der Signifikanz‹ verhindert folglich eine Versöhnung von Figur und Bedeutung. Die Figur ermöglicht Artikulation und Disartikulation zugleich. Es ist die Frage, ob Effekte davon nicht auch außerhalb der literarischen Sprache beobachtet werden können. Jede Institution hat ihre Figuren (Metaphern, Metonymien, Personifikationen usf.) und diese machen im selben Maße etwas sichtbar, wie sie etwas unsichtbar machen. Auf die zeitliche Achse projiziert: Die Sprache kann nur bedeuten, indem sie sich aufspaltet. Aufspalten muss sie sich, weil das, was in ihr bezeichnet ist, abwesend bleibt. Die Sprache muss mit einem System aus Stellvertretern agieren, die miteinander interagieren. Und die Figur ist diejenige Instanz, welche die Stellvertretung radikalisiert, indem sie im Bezeichnenden die Differenz zwischen Bezeichnendem und Bezeichneten wiederholt. Das Bild ist selber rätselhaft und deswegen ist die Figur im strengen Sinne nicht lesbar. Paul de Mans These vom Widerspruch zwischen der grammatischen und rhetorischen Sprachfunktion führt die philologische Paradoxie der notwendigen Unvereinbarkeit von Lesen und Verstehen auf die Inkommensurabilität der Figur zurück. Die Figur ist das, was nie im Verstehen aufgeht und was den Leser zwingt, der Buchstäblichkeit des Textes die Treue zu halten. Die Buchstäblichkeit wird jedoch zersetzt von der Differenz, welche das Spiel der Worte eröffnet. Ein erklärender Metadiskurs kann nur darin bestehen, die unhintergehbare figurative Differenz wahrnehmbar zu
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machen. Doch indem dies geschieht, werden die Grenzen zwischen Erklären und Dichten unscharf. Der Widerspruch zwischen rhetorischer und grammatischer Dimension der Sprache wird dadurch zugespitzt, dass beide ihren Ort im literarischen Text haben. Literatur ist nicht einfach reine Rhetorizität. Deswegen kann Rhetorik als wissenschaftliche Disziplin nicht vollumfänglich für die Literatur zuständig sein. Das Verblüffende ist ja z.B., dass die grammatische Dimension der Sprache im Text von Kleist – sieht man einmal von einigen etwas ungewöhnlichen lockeren Fügungen und Wiederholungen ab – unangetastet bleibt. Die Unabschließbarkeit entsteht überhaupt erst, weil die grammatische Ordnung keine semantische stiftet. Das Versprechen der Grammatik, die Wörter und die Sachen in eine geregelte Beziehung zu setzen, bleibt unerfüllt: »Wenn zwei miteinander unverträgliche und dennoch ineinander verschlungene Bedeutungen von einem grammatisch unzweideutig konstruierten Satz erzeugt werden, dann suspendiert jede dieser Bedeutungen die Bedeutung der anderen, und der Satz revoziert als ganzer die Referenzfähigkeit, die er in jeder seiner einzelnen Bedeutungen ungebrochen behauptet.« (Hamacher 1988, S. 15) Daraus folgt, dass der literarische Text nichts ist, dem man ein Wissen entnehmen oder auf das man ein Wissen anwenden kann. Die Wissenstrunkenheit der Literaturdidaktik, ein Epiphänomen der Lehrbarkeitsdoktrin, ermöglicht neue didaktische Modelle (vgl. Pieper/Wieser 2012), führt aber mindestens so weit von der Literatur weg, wie sie zur Literatur hinführt. Von der Literatur etwas zu verstehen, bedeutet, das Ungewisse zu bejahen (vgl. Auernig/ Mitterer 2015, S. 77; Baum 2015). Die Polemik, die dagegen vorgebracht wird, läuft häufig auf ein Abkanzeln avancierter Literaturtheorie als nicht geeignet für didaktische Kontexte hinaus. Die Antwort besteht in einer Grenzziehung. Doch die ausgeschlossene Komplexität kehrt als Widerspruch in der eigenen Theoriebildung zurück (vgl. Baum 2010, 2012). Wenn der Literatur eine pädagogische Intentionalität derart eingeschrieben wird, dass jene im Sinne von Adornos Kritik selber als pädagogisierte Literatur erscheint, mit anderen Worten: als lehrbar gemachte Literatur, dann führt das zum Ausschluss derjenigen Fragen, die im Hinblick auf Literatur die interessantesten sein könnten. Zum Beispiel: Warum habe ich das Gefühl, dass der Text gelungen ist, wenn ich ihn doch zugleich nicht verstehe? Wie kommt dieser Effekt zu Stande? Was ist so reizvoll am Nichtverstehen? Der Versuch einer Antwort könnte in der Reflexion auf die Schrift bestehen. Geschriebene Literatur kann nicht etwas sein, zu dem ich mich als Leser in ein geregeltes Verhältnis setzen kann. Wie sollte das möglich sein? Die Lektüre muss in einem asymmetrischen Verhältnis zum Text stehen, sonst wäre sie keine Lektüre. Die geschriebene Sprache ist stets das Andere, der Schriftkörper, den ich mir nicht aneignen kann. Es gibt keinen Code der Entzifferung und letztlich ist das Wort Lesen selbst eine Figur des Einsammelns von Sinn,
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die Synekdoche sich überkreuzender und auseinander laufender Linien. Wer über das Lesen etwas sagt, ist immer schon Teil der Anstrengung, eine Figur auszulegen. Der Text steht in seiner schriftlichen Linearität fest da, aber da er keine Anweisungen zum Verstehen enthält und weil jegliche Anweisung das Problem nur vergrößern würde, muss der Text in die zirkuläre Form der Lektüre überführt werden. Diese Zirkularität findet aber wiederum nur Halt in der Linearität. (Das ist der Grund, warum man mit hierarchischen Modellen in der Literaturbetrachtung nicht weit kommt.) Das Problem des Lesens ist dasjenige des Schriftraums. Dieser ist als ganzer nicht wahrnehmbar. Und die Unvereinbarkeit von grammatischer und rhetorischer Dimension erzeugt eine Vervielfältigung der Ebenen, die den Leser, gerade wegen der immanenten Widersprüchlichkeit, in Freiheit setzt, Spielräume eröffnet. Nur weil man Bedeutungen nicht angeben kann, kann man Bedeutungen angeben. Umgekehrt: Wenn die Bedeutungen angegeben werden könnten, bestünde die Lektüre nur in deren ritueller, differenzloser Wiederholung. Der absolute, niemals zu verringernde Abstand ist die Bedingung dafür, dass Einheiten gebildet werden können. Interessanterweise laufen Modelle, welche die Erfahrung des Lesens von der Phänomenologie der Lesesituation her begreifen, nicht selten ebenfalls auf die Anerkennung radikaler Differenz hinaus. So weist Michael Benton (1982) am Anfang seines Aufsatzes über Paradoxien fiktionaler Lektüre poststrukturalistische Positionen dezidiert als überzogen und fragwürdig zurück, um dann die poetische Lektüre als zutiefst paradox zu darzustellen. Das erste Paradox besteht für Benton in der Gleichzeitigkeit von Teilnahme und Beobachtung beim Lesen fiktionaler Texte: »During reading we are simultaneously detached spectators and commited participants.« (Benton 1982, S. 303) Die zweite Paradoxie spiegelt die unvereinbare, aber gleichzeitige Akzeptanz von Realität und Illusion: »The bisociated mind edits from both the illusory and the actual, mixing elements of the primary and secondary world together, varying its degree of attachment to each as the fiction unravels.« (Ebd., S. 304) Interessanterweise konstatiert Benton für diesen Fall eine zusätzliche Unentschiedenheit zwischen Aktivität und Passivität. Man kann nicht mit letzter Klarheit sagen, ob der Leser Fiktionalität bewusst (aktiv) oder unbewusst (passiv) akzeptiert. Ein Problem, das sich im fünften Paradox wiederholt, wo Benton über den Leser schreibt: »His mind both makes things happen and lets things happen.« (Ebd., S. 305). Weitere Paradoxien bestehen im unentwirrbaren Miteinander von Chaos und Ordnung während der Lektüre (vgl. S. 307f.) sowie zwischen antizipatorischen und retrospektiven Akten (vgl. S. 308f.). Benton nennt noch weitere Widersprüche und landet schließlich bei dem Paradox der Unbeobachtbarkeit des Lesens: »In order both to read and to attend to ourselves reading, we are asking for the best of both worlds.« (Ebd., S. 309) Damit ist der Widerspruch im Versuch der wissenschaftlichen Klärung selbst verortet. Die Proble-
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me des Lesens potenzieren sich im Akt der Beobachtung, da die letzte Paradoxie noch einmal alle anderen heimsucht. Dies mag auch der Grund dafür sein, dass die Widersprüchlichkeit des Lesens zwar eindrücklich beschrieben, aber letztlich nicht erklärt werden kann. Benton liefert eine kleine Phänomenologie paradoxer Momente fiktionaler Lektüre, kann aber nicht angeben, warum die fiktionale Lektüre paradox sein muss. Obwohl unser Autor gerade nicht nach Schrift und Rhetorik fragt, führt der Versuch einer Antwort zu den leitenden Fragestellungen dieses Kapitels zurück. Teilnahme und Beobachtung, Realität und Illusion, Aktivität und Passivität, Chaos und Ordnung, Antizipation und Retrospektion, schließlich: das Paradox der Beobachtung des Lesens. Obwohl Benton die poetische Lektüre als psychologische Dynamik beschreibt, drängt sich der Verdacht auf, diese sei nur eine chiffrierte Theorie der Schrift. So liegt die Ursache für die Unentschiedenheit von Aktivität und Passivität im Akt der Lektüre darin begründet, dass sich das lesende Subjekt in kein geregeltes Verhältnis zum Geschriebenen setzen kann. Das Subjekt kann das Geschriebene weder benutzen, noch sich leiten lassen. Lesen bedeutet Einsteigen in die Selbstreferenz der Sprache als Schrift. Ich muss den Wechselbezügen der Worte folgen und muss diese doch zugleich herstellen. Ich kreiere den Text und bin zugleich Teil des unendlichen Intertexts. Ich sehe das Geschriebene, kann es aber nie als Ganzes erfassen. Deswegen auch die Unentschiedenheit zwischen Chaos und Ordnung. Da die Schrift eine ›Anweisung auf Referenz‹ (Hamacher) hat, aber zugleich nicht über sich hinaus kann, wird der Leser verleitet, die Wahrheit der Worte für die Worte der Wahrheit zu halten. Realität und Illusion greifen auf unhintergehbare Art und Weise ineinander. ›Buchstäblichkeit und Misstrauen‹ (de Man) bedingen ein Lesen, das stets ohne metaphysische Sicherheit auskommen muss und doch bis in die Grammatik hinein der Übereinstimmung von Sprache und Welt vertraut. Da die Schrift die Präsenz des Absenten ist, bewirkt sie eine Fiktionalisierung der Realität als Unterbrechung des Verhältnisses von Wahrnehmung und Welt durch ein Zeichensystem. Schließlich: die Zeit. Das geschriebene Wort kennt kein Hier und Jetzt. Schon der Moment der Einschreibung ist gespalten zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Und die Lektüre ist Entzifferung einer Spur, die zugleich als solche im Lesen erst gebildet wird. Der Leser kann nie ausschließlich voran gehen, weil die Antizipation der kommenden Schriftzeichen nur möglich ist durch die Rückwendung auf die gelesenen. Sinnbildung im Medium der Schrift ist kein linearer, sondern ein zirkulärer Akt. Dabei verschieben und durchstoßen die Zeichen sich; ein Prozess, in den das lesende Subjekt hineingezogen wird. Denn lesen kann nur, wer sich darauf einlässt, seinen Standpunkt zu verlieren. Die Schrift ist nichts, was man sich aneignen kann, weil die Streuung und Zirkularität des Sinngeschehens die Synthese des Gelesenen immer wieder aufschiebt. Letztlich scheitert die Justierung der metaphysischen Oppositio-
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nen daran, dass sie sämtlich ein lesendes Subjekt voraussetzen, das seinen Ort (Welt) und seine Zeit hat. Ohne diese Metaphysik der Präsenz ließe sich die Lektüre gar nicht in Bentons Gegensatzpaaren beschreiben. Die Schrift ist ohne Ort und kann deswegen einen Ort gewinnen; sie ist zeitlos und kann deswegen zur rechten Zeit kommen. Das Bild der Flaschenpost drängt sich auf: weil sie ausgesetzt und verloren ist, verkörpert sie durch alle Ohnmacht hindurch Hoffnung. Benton konnte in griffigen Gegensetzpaaren die Inkommensurabilität der Lektüre beschreiben. Eine Erklärung für diese Merkwürdigkeit hat er gar nicht erst versucht. Denn diese hätte von der Lesesituation im Hier und Jetzt zu deren Bedingung im Medium der Schrift führen müssen. Die Schrift ist diejenige Instanz, vor der das Denken in metaphysischen Oppositionen versagt, weil sie deren Voraussetzungen in sich aufgelöst hat. Deshalb ist Bentons Text lesbar als chiffrierte Theorie des Lesens von Schrift (ohne dass diese auch nur einmal erwähnt würde). Robert Musil notiert in seinen Notizen zum Vorwort zum Nachlass zu Lebzeiten: »Zur Dichtung gehört wesentlich das, was man nicht weiß; die Ehrfurcht davor. Eine fertige Weltanschauung verträgt keine Dichtung.« (Musil 1935/1978, S. 971) Das Medium dieses Nicht-Wissens ist die Schrift. Das Subjekt, das um die Kontrolle über die Sprache ringt, findet deren Bedeutungsraum immer nur jenseits von sich selbst. Lesen kommt folglich einem Geben dessen gleich, was man nicht hat (vgl. Mitterer 2016, S. 93). Da die Schriftzeichen keine in Zeit und Raum feste Position haben und nur durch differenzierende Wiederholung (Verräumlichung und Verzeitlichung) zu sich selbst kommen, bleibt ihnen ein Mangel eingeschrieben, der nie ganz befriedigt, nur supplementiert werden kann. Das Paradigma dieser Figur ist die uneinholbare Differenz der Figur, in der bereits das Bezeichnende gespalten ist, weil es sich selbst und das Signifikat bezeichnet.30 Die philologische Paradoxie hat ihren Grund folglich in der strukturellen Unbestimmtheit der Schrift, die nur zu sich selbst kommen kann, indem sie sich dem Anderen zuwendet. Die Figur kann nur verstanden werden, wenn man sich ihrer suggestiven Bildlichkeit hingibt und das heißt: indem man vergisst, dass es sich um eine Figur handelt. Was in der Lektüre verstanden wird, ist, dass Verstehen nicht möglich ist, weil es keine Instanz gibt, welche den Weg zurück in das Zentrum des vermeintlich Gesagten weist. Indem Worte neue Worte hervorbringen, verschieben die-
30 | Systemtheoretisch könnte man sagen, dass die Literatur die Sprache in deren Gesamtheit aus Relationen von Signifikant und Signifikat beobachtet, um diese Relationen wiederum als Form (Signifikant) zu begreifen, die variiert und differenziert werden kann. Schreiben wie Lesen von Literatur wäre folglich begreifbar als Beobachtung der Sprache als Form. Die Bildung des ästhetischen Signifikanten liefe also auf die Formung von Formen hinaus.
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se sich gegenseitig, wobei jede Rückkehr zu einem Zeichen dieses an einem neuen Ort wiederfindet. Peter Szondi zeichnet die historische Dimension des Problems in seiner Einführung in die literarische Hermeneutik nach. Die Spannung zwischen dem sensus litteralis und dem sensus allegoricus entsteht in jenem Moment, in dem der erstere nicht mehr begriffen und akzeptiert werden kann. Die Lehrer in den Bildungseinrichtungen des Griechenlands der klassischen Zeit sehen sich nicht mehr im Stande, die Epen Homers zu lehren, weil dessen Darstellung der Götter als nicht mehr akzeptabel gilt. Die Antwort besteht in der allegorischen Interpretation: Man begreift die Götter als Personifikationen menschlicher Dispositionen. Sie werden zu Bildern, die im Akt der Lektüre auf die gegenwärtige Verfassung der pädagogischen Institutionen übertragen werden können. So erscheint Aphrodites skandalöser Ehebruch mit Ares plötzlich als Versöhnung gegensätzlicher Lebensmächte (vgl. Szondi 1975, S. 16f.). Nun muss nicht mehr mit Platon behauptet werden, dass die Dichter lügen, sondern sie sagen im Kleide poetischer Bilder die Wahrheit. Der Beginn der Deutung rhetorischer Textelemente als reizvoller Schmuck der Rede. Später wird z.B. das Hohe Lied, auf der Ebene des Literalsinnes schwerlich als religiöser Text interpretierbar, in der allegorischen Deutung zu einem Bild des Gesangs auf die Liebe Israels und Jehowahs (ebd.). Anders als der dem philologischen Ideal nach historisch zu rekonstruierende Literalsinn zielt die Konstruktion des allegorischen Sinnes auf die Aufhebung der zeitlichen Differenz zwischen Text und Leser. Damit einher geht die Invisibilisierung der Schrift, auf die zwar explizit rekurriert wird, deren Verhaftet-Sein in einer historisch und medial bedingten Logik des Schreibens aber zugleich aus dem Blickfeld rückt. Beachtlich ist etwa die Wortwahl des Origines in seiner Schrift Peri archōn, hier wiedergegeben in der Übersetzung von K. Fr. Schnitzer. Origines’ Dogmatik aus der ersten Hälfte des dritten Jahrhunderts n. Chr. wird von Szondi als das wichtigste Dokument der theoretischen Diskussion um die allegorische Interpretation bezeichnet. Der Text ist auf Deutsch unter dem Titel Über die Grundlehren der Glaubenswissenschaft publiziert worden.31 Origines schreibt: »Der Weg, der mir der richtige scheint, um in die Schrift einzudringen, und ihren Sinn zu erfassen, ist durch die Andeutungen der Schrift vorgezeichnet.« – Es folgt ein Verweis auf die Sprichwörter Salomos (22,20), die Origines als Anweisung zur Schriftauslegung in der Schrift selbst begreift; hier: als Lehre vom dreifachen Schriftsinn (Leib, Seele und Geist). Da der Mensch selbst Leib, Seele und Geist ist, wird eine Logik der Identität möglich, die Gott, Mensch und Schrift als drei Dimensionen einer Wahrheit zu begreifen vermag. Doch der Leib (die Schrift) ist das, was den geringsten Wert hat; es handelt sich gleichsam nur um den Signifikanten des Menschen. In diesen soll die Lektüre ›eindringen‹, um den 31 | Der Text wird hier zitiert nach Szondi (1975, S. 20).
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dahinter lagernden ›Sinn zu erfassen‹. Diese Rhetorik der Gewalt verleugnet, was sie selbst ermöglicht, denn die Differenzierung von Leib, Seele und Schrift ist selber der Logik der Schrift unterworfen und sie wird auch im Medium der Schrift vollzogen. Die Harmonie von Leib, Seele und Geist entpuppt sich rasch als asymmetrisches Machtverhältnis, in welchem die Seele und schließlich der Geist die Vorrangstellung genießen, obwohl sie nichts sind, ohne das Medium, in dem sie erscheinen können. Allerdings ist mit dem Versuch, die Polyvalenz der Schrift in ein geregeltes Spiel zu übersetzen, die Einheit des Verstehens verloren gegangen. Gleichzeitig macht sich der Verlust des geschichtlichen Zusammenhangs bemerkbar. Die allegorische Deutung droht zu einer Chimäre zu werden: »Ist es einmal zweifelhaft geworden, daß man erfahren kann, wie es einst wirklich war, dann ist nicht minder zweifelhaft, daß man in der Lage ist festzustellen, wie etwas einst gemeint war.« (Szondi 1975, S. 23f.) Wenn die Schrift ihren Ort und ihre Zeit verloren hat, werden Interpretationen tendenziell unentscheidbar. Da die Geschichte selbst nur noch über den Text zugänglich ist, fällt sie der gefährlichen Vieldeutigkeit anheim. Diesem Problem sieht sich auch Johann Martin Chladenius in seiner Einleitung zur richtigen Auslegung vernünfftiger Reden und Schrifften (1742) gegenüber. Wenn die Auslegung historischer Quellen das Problem der Metapher nicht in den Griff bekommt, wird die Geschichte zweifelhaft. Dabei hat es der Theoretiker der Geschichte und des Verstehens mit einem Oszillieren zwischen Selbst- und Fremdreferenz des Textes zu tun. Stets stellt sich die Frage, ob die Auslegung der Textstelle oder dem Gegenstand (dem geschichtlichen Ereignis) gilt (vgl. Szondi 1975, S. 34). Doch Chladenius hat nicht nur historische, sondern auch juristische und religiöse Texte im Blick; eine weitere Publikation zu poetischen Texten war geplant, jedoch enthält bereits die Einleitung längere Passagen zum Problem der Literatur. Chladenius kann die verschiedenen Sujets, die er der hermeneutischen Analyse unterzieht, nur deshalb im Zusammenhang behandeln, weil er auf die Universalität des Verstehens abzielt. Da die Einheit nicht im zu Verstehenden liegt, kann sie nur im Verstehen selbst, das heißt: in der psychologischen Operation, welche Verstehen vollzieht, liegen. Folglich transformiert er die textgebundene Unterscheidung zwischen sensus litteralis und sensus allegoricus in die zwei Formen dessen, was er den vollkommenen Verstand nennt (vgl. ebd., S. 49ff.): den unmittelbaren und den mittelbaren. Der eine kann durch Kenntnis des Sprachsystems erschlossen werden, der andere verlangt einen Akt der Auslegung, der in der Wirkung des Textes auf den Leser seinen Ausgang nimmt. Damit werden auch die Risiken des Verstehens im modus operandi des Bewusstseins gesehen; der Leser lässt sich unter Umständen von Assoziationen, falschen Hypothesen und mangelnder Disziplin verführen. Dann droht der vom Autor intendierte Sinn zu entgleiten (vgl. ebd., S. 61ff.). Man könnte
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auch sagen: Die Gefährlichkeit der Schrift (in einem umfassenden Sinn als Mechanismus unendlicher Verzweigung) sucht das Bewusstsein heim. Doch selbstverständlich ist das Verstehen kein rein selbstreferentieller Akt. Denn Chladenius hält, an diesem Punkt der Literaturdoktrin der Aufklärung nicht widersprechend, an einem Begriff von Textualität als imitatio naturae fest. Einerseits also kann das Projekt der Universalisierung des Verstehens nur um den Preis von dessen Transformation in Psychologie (getragen vom menschlichen Bewusstsein) voran getrieben werden, andererseits wird nicht in Abrede gestellt, dass der Gegenstand der Schrift derselben ebenso extern ist wie das Denken. Selbst- und Fremdreferenz fallen auseinander. Dazwischen liegt als vermittelndes Moment nur die Schrift selbst. Diese gerät in eine prekäre Position, denn obwohl sich das Verstehen wie selbstverständlich auf Schrift bezieht, entnimmt es seine Orientierung nicht dem Geschriebenen, sondern dem Bewusstsein und dem geschichtlichen Weltwissen. Die welterschließende Kraft des Denkens kann solchermaßen begründet werden – man kann sich sogar vorstellen, dass Welt im Kopf von Lesern abgebildet wird –, aber es bleibt unklar, welche Rolle Sprache und Schrift in diesem Zusammenhang haben.32 Doch an dieser Stelle taucht das Problem der Metapher wieder auf. Chladenius widmet ihm ein hohes Maß an Aufmerksamkeit, da er spürt, dass hier eine Form sprachlicher Selbstbezüglichkeit vorliegen könnte, die das Verstehen von seinem Gegenstand entfernt. (Überhaupt muss betont werden, dass die vorliegende Darstellung der Komplexität und dem Voraussetzungsreichtum von Chladenius’ Schrift bestenfalls in wenigen Ansätzen Rechnung tragen kann. Wie Schleiermachers Hermeneutik 33 stößt Chladenius, indem er das Territorium des Verstehens abzumessen versucht, in Bereiche vor, welche die Sprach- und Literaturdoktrin seiner Zeit übersteigen. Nicht zuletzt deshalb 32 | Interessanterweise taucht hier das Problem einer Abbildtheorie von Sprache auf. Wenn das Denken mit den Mitteln der Sprache die Welt erschließen soll, dann muss von einem geregelten Verhältnis von Welt und Sprache ausgegangen werden. Ein präsenzmetphysisches Konzept der Sprache als Repräsentation von Welt ist immer dann wahrscheinlich, wenn auf der einen Seite auf Kognition und auf der anderen Seite auf ›Welt‹ Bezug genommen wird, ohne dass gesehen wird, dass die Kognition auf Welt nur Bezug nehmen kann, indem sie zugleich auf sich selbst, die zur Verfügung stehenden Mittel und Möglichkeiten, Bezug nimmt. 33 | Schleiermacher unterscheidet bekanntlich zwischen grammatischer und psychologischer Interpretation, hebt also weniger auf die psychologische Form des Verstehens als auf die Erkenntnis der Textintention als Psyche des Textes ab. Er stößt bei seiner Untersuchung auf schriftgebundene Phänomene wie Rhythmus, komplexe Bildhaftigkeit und textuelle Diskontinuität (mithin Merkmale moderner Literatur!) und sieht in diesen eine Gefährdung des Verstehens (vgl. Schleiermacher 1977, S. 124, S. 138, S. 147-149; vgl. dazu die didaktisch interessierte Lektüre bei Baum 2013, S. 109-112).
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hat die Hermeneutik des Chladenius nach wie vor einen hohen Erkenntniswert für die Diskussion literarischen Verstehens.) Das Originelle seines Metaphernmodells liegt darin, dass er die antike Metapherntheorie, der zu Folge der metaphorische Ausdruck als eine stilistisch motivierte Ersetzung des verbum proprium zu begreifen ist, ablehnt. Stattdessen begreift Chladenius die Metapher als nicht nur legitimen, sondern sogar notwendigen Bestandteil der menschlichen Sprache. Er schreibt: »Wir sehen, daß einer läufft, und mithin sehr geschwinde von einem Ort zum andern kommt. Durch das f l i e g e n kommen die Vögel ebenfalls von einem Ort zum andern geschwinde fort. Derowegen ist der Begriff der geschwinden Bewegung ein Theil vom Begriff des fliegens. Wenn uns demnach eine geschwinde Bewegung vorgestellet wird, so kann uns davor, nach der Regel der Einbildungs-Krafft, das fliegen einfallen; und daher geschiehet es, daß wir von einer geschwind lauffenden, oder reitenden Person zu sagen pflegen, sie fliege.« (Chladenius 1742, § 91; zit.n. Szondi 1975, S. 87)
Die Bildung der Metapher wird von Chladenius also als assoziative Leistung des Bewusstseins dargestellt, das, indem es einen bestimmten Aspekt einer Sache herausstellen will (und nicht das abstrakte Ganze), diesen bildhaft ausgliedert. Basis dafür ist die angenommene, teilweise semantische Affinität zu einem anderen Zeichen. Da die nicht-metaphorische Bezeichnung bestimmter Aspekte des Laufens sprachökonomisch und stilistisch nicht praktikabel ist, greift der Sprecher zu diesem Mittel. Das Zeichen wird von innen her metaphorisch angereichert. Chladenius fährt fort: »Wenn wir einer Sache eine Eigenschafft beylegen, die ihr doch nur zum Teil [sic!] zukommt, so werden wir bey dem Ausdruck unserer Gedancken der Sache auch ein Wort beylegen, welches ihr nicht eigentlich, sondern nur in einer gewissen Bedeutung zukommt. Das Wort erhält hierdurch eine neue Bedeutung, indem es nicht alles, was es gemeiniglich bedeutet, sondern nur etwas davon anzeigt.« (Ebd. § 92; zit.n. Szondi 1975, S. 87)
Das, was als Fliegen bezeichnet wird, ist also sehr wohl noch ein Laufen. Und so entsteht eine Reibung im Bezeichnungsvorgang, denn die Bezeichnung zielt qua System auf das Ganze der von ihr angezeigten Sache. Und sie tut es zugleich nicht, da sie nur einen Aspekt hervorhebt und bildhaft inszeniert. Da die Metapher einen Aspekt nur bezeichnet, indem sie auf eine andere Sache Bezug nimmt, inszeniert sie immer auch einen Bruch zwischen Sprache und Welt. Dieser letzte Gedanke stammt selbstredend nicht mehr von unserem Autor. Für Chladenius gibt es eine Notwendigkeit der metaphorischen Bezeichnung, weil diese in der Lage ist, die perspektivische Wahrnehmung einer Sache zum Ausdruck zu bringen. Hier deutet sich auch der berühmte Begriff
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des ›Sehepunktes‹ an, den Chladenius in die hermeneutische Diskussion gebracht hat. Es ist dabei aber entscheidend zu begreifen, dass Perspektive für Chladenius, anders als für Nietzsche, nicht Perspektivismus heißt. Chladenius begreift also die Perspektiven nur als verschiedene Facetten einer ›ganzen‹ Welt – ganz im Einklang mit der Idee der imitatio naturae – und so gibt es für ihn keinen Widerspruch zwischen der Perspektivität der metaphorischen Prädikation und einem ontologischen Sprachbegriff. Aus heutiger Sicht ist freilich sehr wohl die Überwindung der eigenen Prämissen im Text von Chladenius bereits angelegt. Denn nicht nur wird, wie Chladenius schreibt, im Falle der metaphorischen Bezeichnung der Sache ein neues Wort beigelegt, sondern die Differenz tritt selbst in das System der Sprache ein: Ein Wort wird dem anderen ›beigelegt‹.34 Die Unentscheidbarkeit der Bedeutungszuschreibung, über die sich später Paul de Man Gedanken machen wird, lässt sich genetisch als Anreicherung der Sprache durch unterschiedliche Perspektiven beschreiben, die sich nicht ergänzen, sondern überlagern. Die Metapher ist das Sinnbild der Identität des Nicht-Identischen (vgl. Bode 2002, S. S. 633). Szondi betont in seiner Einführung in die literarische Hermeneutik mehrfach, dass jegliche Auslegung sich auf der Höhe der künstlerischen Entwicklung bewegen muss. Die Lektüre von Kleists Text Die Fabel ohne Moral hat ergeben, dass ein ontologischer Begriff der Metapher als notwendiger Ausschnitt der durch Erfahrung und Wissen gekannten Welt in dem Moment nicht mehr haltbar ist, wo sich die verschiedenen Ebenen des Sprachkunstwerks gegenseitig relativieren und ironisieren. Allein der Titel erzeugt einen konstitutiven Widerspruch der ästhetischen Aussage gegen sich selbst. Und die Überkreuzung der Bilder – der Mensch erscheint nackt wie ein Tier, das Tier bewegt sich in einem System von Regeln wie der Mensch; zugleich behält der Mensch die Sprache und das Tier schweigt – setzt, wie in Kafkas Erzählung Die Verwandlung, die Aufhebung der Unterscheidung von Mensch und Tier in Gang, einer Unterscheidung, welche Voraussetzung ist für eine erfahrungs- und verstehensbezogene Lektüre der poetischen Textes. Was Kleist erzählt, lässt sich in der Welt nicht beobachten. Selbst wenn man sagt, dass das idiosynkratische Rotieren der Sprache sehr wohl ein beobachtbares Phänomen ist, könnte man pointiert antworten, dass sich dies erst seit Kleist wahrnehmen lässt. Von normativen Lektüren, die meinen, den Sinn des Ganzen bergen zu können, einmal abgesehen. Kleists Text macht die Arbeit der différance im Sinne Derridas sichtbar, indem er den Leser ständig zur Umkehr zwingt, weil er eine Antwort auf die Frage, wo die Figurativität der Sprache anfängt und wo sie aufhört, nicht zulässt. Jede Verzweigung eines Zeichens, seine Versetzung am Schnitt 34 | Das Grimmsche Wörterbuch zeigt wie kein anderes den Prozess der Ausdifferenzierung lexikalischer Bedeutung durch Übertragungsprozesse aller Art. Der Leser lernt schnell: Die Wurzel der Sprache ist der Moment der Übertragung.
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von Raum und Zeit (als Verräumlichung), ist nur möglich, weil die Zeichen keinen Grund haben. Dies bedingt die Erfahrung von Freiheit in der Sprache ebenso wie die durch nichts aufzuhebende Unsicherheit beim Sprechen und Schreiben.35 Kleists nackter Mensch glaubt wohl selbst nicht daran, in einem wilden Ritt die Unterscheidung von Kultur und Natur rückgängig machen zu können. Stattdessen baut er sich einen Tagtraum aus Worten und Gefühlen. Und darin mag allerdings eine Erkenntnis der Fabel ohne Moral liegen. Beenden wir nun den Exkurs und kehren wir zur leitenden Fragestellung zurück. Die Erörterung der philologischen Paradoxie als Wissen um das Nichtwissen des Wissens der Literatur hat bisher folgende Aspekte berührt: 1. Die blinde Subjektivität und angemaßte Sicherheit in der Sprache hängt mit der Schriftvergessenheit zusammen. Das eingeschriebene Zeichen muss stets noch gelesen werden. Lesen ist ein Operieren zwischen Kontingenz und Kohärenz, das nicht still gestellt werden kann. 2. Die ästhetische Erfahrung besteht gerade darin, dass die Wahrnehmung der Schrift alle statischen Elemente des Verstehens (z.B. den so genannten Kontext) mit sich fortreißt. Der Text ist der Kontext der Kontexte, die gezeigt und zugleich ironisch subvertiert werden, indem sie sich gegenseitig spiegeln. Der Genuss der Lektüre besteht darin, dies zu erfahren. 3. Die Schrift, wie sie in unserem Zusammenhang begriffen wird, ist folglich situiert am Schnitt von Raum und Zeit, der das Sein im Werden ermöglicht. Das Noch-Nicht ist die conditio sine qua non der literarischen Lektüre. Nur weil die Schrift das übersteigt, was ich wissen kann, beginnt das Abenteuer des Lesens mit ungewissem Ausgang. 4. Dem schriftlichen Zeichen kommt keine Identität zu, da es von keiner Seite oder keiner Instanz kontrolliert werden kann. Es ist immer schon Durchgangsort für die wandernden Zeichen. Die Lektüre des geschriebenen Zeichens ist ein Spurenlesen. Die Spur ist das Medium des Überlebens des Subjekts in der Sprache. Da das Subjekt in der Sprache nicht repräsentiert werden kann, stiftete es die Bewegung des eigenen Entzugs. 5. Die Schrift ist das leitende Paradigma der Sprache, indem sie die Aufspaltung der Zeichen als irreversibel ausstellt. Das wahre arbiträre Zeichen ist das schriftliche. Dadurch kommt eine Dynamik zustande, die nicht mehr in einem Sagen-Wollen oder Sagen-Können aufgeht.
35 | Hamacher (1998, S. 186) schreibt, dass deshalb »alle ethischen und ästhetischen Prämissen des Verstehens sich epistemologisch auszuweisen haben.« Dies gilt mutatis mutandis auch für alle didaktischen Besetzungen von Literatur. Man kann es freilich auch sein lassen, aber dann wird die Rede über Literatur gespenstisch, weil sie gar keine Rede über Literatur ist.
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6. Das lesende Subjekt ist passiv und aktiv zugleich. Wer liest, wird stets auch gelesen. Letztlich geht das lesende Subjekt in der Prozessualität und Differenzialität der Schrift auf. Die funktionale Polyvalenz der Schrift führt stets dazu, dass die Lektüre, welche den Schriftraum als ganzen gar nicht wahrnehmen kann36, überfordert ist. 7. Die Lehre der Literatur und die Eigenlogik des Mediums der Schrift stehen in einem Verhältnis der Konkurrenz zueinander, aus der Feindschaft werden kann. Die hegemoniale Besetzung der Schrift ist ein Akt der Gewalt und als solcher sachlich unangemessen, psychologisch destruktiv und pädagogisch unverantwortbar. Die Lehre der Literatur benötigt ein Wissen von ihrer eigenen Unmöglichkeit. 8. Die Tropen sind Sinnbilder der Bedeutungsspaltung im Medium der Schrift. Indem die Metapher die vertikale Ordnung von Sprache und Welt durchbricht, weil sie die Zeichen einander ›beilegt‹, erschüttert sie die Einheit der Sprache und fährt mit weiteren Bezeichnungen in den Raum von Zeichen und Bezeichnetem. Die Fremdheit, Äußerlichkeit und zeitliche Differenz der Schrift, die stets die Andere ist, bildet dafür die Bedingung. Das eigentliche Skandalon der Philologie (und auch der Didaktik der Literatur) ist folglich ihr Gegenstand selbst, der geschriebene Text. Auch der hermeneutische Versuch, durch die Parallelstellenmethode festen Boden unter die Füße zu bekommen, stößt auf die schier unüberwindliche Schwierigkeit, beantworten zu müssen, was überhaupt eine Stelle ist, denn die Antwort ist bereits ein riskanter Akt der Interpretation (vgl. Szondi 1975, S. 38). Jeder deutende Umgang mit Literatur muss mit einem Begriff der Sprache arbeiten, der letzterer einen nur anzeigenden Charakter unterstellt. Die Komplexität der Symbolisierungen, Ersetzungen und Verschiebungen muss immer wieder aufgehoben und halluzinierend auf eine räumlich-kausale Beziehung reduziert werden. A verweist auf B. So wie ich mit meinem Finger auf eine andere Person zeige und nur diese und keine andere meine. Der Verlust an Komplexität ist die Voraussetzung für die Verständigung. Umgekehrt ist das Ausbuchstabieren der Komplexität stets von einem Trunken-Werden der Zeichen bedroht. Die Grenze zwischen Rationalität und Irrationalität verschwimmt in der (horizontalen) Bewegung der Zeichen.37 In der vertikalen Abstufung hingegen wird aufge36 | Damit ist nicht gemeint, dass die Wahrnehmung der Textur nur ein ökonomisches Problem der quantitativen Überforderung ist. Da die Bedeutung der Zeichen nicht manifest ist und nie manifest werden wird, ist vielmehr von einer uneinholbaren Absenz in der Schrift auszugehen. 37 | Es stellt sich, so gesehen, die Frage, ob die Erfindung des rationalen Menschen nicht eine Maßnahme der Notwehr gegen die Zumutung der Schrift als Medium der (Un-) Vernunft darstellt.
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hoben, was Zeichen überhaupt zu Zeichen macht. Die Effekte der negativen Differenzierung nämlich. Die eine Bewegung zielt auf die Überwindung, ja Auflösung der Grenzen zwischen den Zeichen, die andere auf deren Verfestigung. Der »paradoxe Kern der Sprache« besteht darin, »unbegrenzt bedeuten zu können, doch nur durch Begrenzung zu bedeuten.« (Bode 2002, S. 629) Im begrenzten Zeichen ist folglich die Spur der Entgrenzung schon lesbar. Denn die unendliche Bewegung der Sprache ist die notwendige Voraussetzung für ihre Ordnung. So muss auch das Lesen sich verschwenden und will zugleich davor bewahrt werden, sich zu verlieren. Die philologische Paradoxie besteht darin, dass der Grund der Philologie, das Lesen, keine Daten liefert, sondern nur Konstellationen, die an den Vollzug der Lektüre gebunden sind, aber jene, wenn interpretiert werden soll, unsichtbar gemacht werden müssen. Die Vermittlung des Wissens über Literatur muss diese als Speicher von Bedeutung begreifen – nur so kann durch gezielte Fragen und Verfahren der Eindruck erweckt werden, dass die Literatur etwas Gegenständliches ist –, kann dies aber nur tun, indem der gewünschte Ertrag schon im Vorhinein definiert wird. Erschließungsfragen zur Literatur bauen auf dem Privileg des Fragestellers auf. Wer den Begriff literarischer Lektüre zurückbindet an die wiederholende und differenzierende Wahrnehmung von Schrift, landet zwingend bei einem nicht-essenzialistischen Begriff der Sprache. Sprache ist keine »unabhängig vom Sprechen bestehende strukturelle Ebene, die ihre eigenen Bestandsgarantien in sich trägt.« (Luhmann 2002, S. 84; vgl. auch Wimmer 2014, S. 229)38 Niklas Luhmann versucht diese Reproduktion von Differenzen unter Verwendung des anti-metaphysischen, differentiellen Begriffssatzes Medium/Form zu beschreiben. Die Komplikation der Form in der Kunst erhöht so gesehen sowohl die Unsicherheit bei der Bedeutungszuschreibung als auch die Freiheit, eben dies zu tun: »Die Formbildung erst bewirkt Überraschung und garantiert Varietät, weil es dafür mehr als nur eine Möglichkeit gibt und weil das Kunstwerk, bei zögerndem Beobachten, dazu anregt, sich andere Möglichkeiten zu überlegen, also Formen versuchsweise zu variieren.« (Luhmann 1997, S. 170)
Es fällt auf, wie hoch Luhmann die Dynamisierung der Form als Erfahrung der Zeit beschreibt. Wenn etwa Metaphern, wie bei Chladenius beschrieben, so funktionieren, dass einem Wort gleichsam ein anderes unterlegt wird, dann ist die Wahrnehmung des bildhaften Ausdrucks nur als Wahrnehmung einer Differenz möglich, die temporal entfaltet werden muss. Entfaltung bedeutet dabei nicht, dass eine neue, in sich stabile Vorstellung in die Welt kommt – 38 | Radikal geht Hamacher (1998, S. 182) davon aus, dass Sprache stets nur als irrige Annahme gegeben ist.
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Chladenius selbst hielt dies noch für möglich –, sondern dass die Interpretation von der Erfahrung der Differenz gezeichnet bleibt. In diesem Sinne ist konstitutiv für die Kraft der Metapher die Konstellation der durch sie geschaffenen Differenzen. Nicht das tertium comparationis macht, wie Lotman schreibt (1990, S. 41), die Metapher interessant, sondern gerade das, was in ihr nicht zusammenklingt, was sie von sich selber entfernt. Die Metapher geht einher mit der Erfahrung der Negativität der Sprache. Statt Bedeutung zu erzeugen, erzeugt die Metapher »nur den Effekt der Bedeutung« (Förster 1998, S. 60; Anm. 239). Diese Differenzierung ist entscheidend, verhindert sie doch, dass die Figur von der Semiotik und Hermeneutik vereinnahmt werden kann. Die Autonomie der poetischen Sprache liegt gerade in der Kraft, mit der sie sich selbst entgegenarbeitet. Es ist leicht zu erahnen, wie groß die Schwierigkeiten der Literaturdidaktik mit einem nicht-essenzialistischen Begriff der Sprache sein müssen. Wie kann ich intentional auf Subjekte einwirken, wenn ich die Sache, um die es dabei geht, nicht in den Händen halte? Wenn der Vermittlung ihr Gegenstand zwischen den Händen zerrinnt? Wenn zur performativen Differenz, welche die Interaktion spaltet, die performative Differenz der Gegenstände tritt? Es scheint klar, dass eine Lehre der Literatur nur als eine Erfahrung des NichtGelingens denkbar ist, dass, weil Lesen von Fehllesen letztlich nicht unterschieden werden kann, gerade in der Erfahrung dieser ungeheuerlichen Komplexität der Wert des Unterfangens – besonders auch in pädagogischer Hinsicht – liegt. Bevor untersucht werden soll, wie die Literaturdidaktik, direkt und indirekt, damit umgeht, dass es bestenfalls ein Wissen von den Dingen in der Literatur geben kann, nicht aber ein Wissen der Dinge (vgl. Barthes 1980, S. 27), ist es nötig, nach den paradoxen Figuren philologischen Wissens diejenigen der Pädagogik zu untersuchen.
VI. Freiheit und Zwang Paradoxes in der Pädagogik
Die letzten beiden Kapitel haben einen Bogen geschlagen von der Metaphysik des Parmenides bis zur Literaturtheorie unseres Zeitalters. Es wurde deutlich, dass die angenommene Identität von Denken und Sein zu einem Ausschluss des Widerspruchs insofern führt, als das Sein als Substanz gedacht wird, welche das Bewusstsein repräsentiert. Dem entsprechend kann auch die Sprache von Parmenides nur als Repräsentation gedacht werden. Foucault hingegen sieht zwischen Denken und Sein den Diskurs, der die Widersprüche, die ihn überhaupt erst möglich machen, zugleich verbirgt und entbirgt. Die Reflexion auf paradoxe Figuren in der Philologie beleuchtet diese Bewegung im Medium der schriftgebundenen Literatur. Der Widerspruch zwischen der logischen und der rhetorischen Energie der Sprache ist die literarische Form der selbstreflexiven Brechung des Diskurses. Insbesondere das letzte Kapitel schießt (scheinbar) über das literaturdidaktische Ziel hinaus. Ist es tatsächlich notwendig, die Aporien philologischen Wissens in dem hier gegebenen Zusammenhang auszuleuchten? Wo fängt das an, wo hört das auf? Andererseits: Wie sollen die Begründungsprobleme einer Didaktik der Literatur auch nur zu erahnen sein, wenn ihre Reduktions- und Anwendungsmechanismen nicht indirekt – durch die Explikation des Impliziten, Ausgeschlossen, Verdrängten – thematisiert werden? Wenn die Literaturdidaktik auf Wissen aus der Fachwissenschaft zurückgreift, so kann sie dies nur tun, indem sie dieses als positives, verlässliches auffasst. Die ausgeschlossenen Aspekte kehren jedoch als eingeschlossene ausgeschlossene (z.B. in der Gestalt von Paradoxien der Begründung) wieder zurück. Die Negativität des philologischen Wissens muss dargestellt werden, um die Positivität ihrer Instrumentalisierung wahrnehmbar zu machen. Da literaturdidaktische und pädagogische Diskurse miteinander verwandt sind, ist es notwendig zu fragen, ob paradoxe Figuren aus dem Pädagogischen ins Didaktische wandern. Man stößt dabei rasch auf das Problem der pädagogischen Setzung. Oelkers (2002, S. 49; vgl. Bühler 2012, S. 157-177) spricht von
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einem »Positivierungszwang« im pädagogischen Diskurs und meint damit, dass pädagogische Ziele nur in Form von positiven Sätzen, die das Gelingen von Erziehung orientieren sollen, formuliert werden können; Negativität kann Handeln nicht orientieren. Allerdings entstehen so zwei Probleme: Einerseits lässt sich keineswegs sicherstellen, dass die Doktrin der Erziehung zu positiven Zielen nicht doch auf Widerstand stößt, zum Beispiel, weil die Ziele mit Macht durchgesetzt werden oder weil unverstellte Positivität weder intellektuell überzeugt noch dem altersbedingten Naturell der Zöglinge entspricht; andererseits bleibt die Frage unbeantwortet, ob die Gesellschaft ›draußen‹ überhaupt zu den positiven Utopien der Erziehung passt. Die Positivität unterdrückt das Andere (Kritische, Widerständige, Paradoxe) oder domestiziert und kolonialisiert es und sorgt genau auf diese Weise dafür, dass es interessant, relevant, erstrebenswert bleibt. Da die pädagogische Setzung in der Regel im Alltag an ihre Grenzen stößt, wofür das unendliche Getriebe der Reformen im Erziehungswesen ein Symptom ist, nährt sie ihr Gegenteil: Kritik, Widerstand, Widerspruch. Die Positivität treibt die Negativität aus sich hervor. Dies soll kurz an zwei sehr unterschiedlichen Texten illustriert werden. Heinrich von Kleist konterkariert den pädagogischen Zwang zur Positivität in seiner Schrift Allerneuester Erziehungsplan, der 1810 in den Berliner Abendblättern in mehreren Teilen erschienen ist. Die beißende Ironie des Titels nimmt Bezug auf die zu Kleists Zeit (wie heute) sich rasch ablösenden pädagogischen Schriften und Konzepte. Deutlich wird sowohl der genuine Zukunftsbezug der Erziehung als auch die angenommene Notwendigkeit, Erziehung nicht nur zu denken, sondern auch zu organisieren. Denken und Sein wollen zusammenfallen. Die metaphysischen Fallen sind überall aufgestellt. Der ›Plan‹, von dem im Titel die Rede ist, wird freilich gar nicht ernsthaft entwickelt, sondern in einer Art Kontrafaktur wird das Schmieden von Erziehungsplänen an sich karikiert. Dies geschieht, indem Kleist nicht Positivität, etwa als Lernen am Vorbild, für sein ironisches Schulmodell nutzt, sondern im Gegenteil Negativität. Die Schüler sollen genau das tun, was die Lehrer nicht wollen und genau so soll Erziehung gelingen. Kleist arbeitet dabei – wie in dem zuvor verfassten Text Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden – mit Bildern aus dem Bereich der Physik, insbesondere der Elektrizitätslehre. Vielleicht ist diese Formulierung aber bereits ungenau, denn es ist durchaus nicht klar, ob Kleist eine Analogie zwischen organischer und anorganischer Welt sieht oder ob er diese satirischpointierend herstellt.1 Doch es gehört zur heiteren Souveränität dieses Autors, 1 | Hier könnte eine Diskussion geführt werden über die diskurskritischen Untertöne des Kleistschen Schreibens, die auf eine Ironisierung der klassischen Ästhetik und deren metaphysischen Begriff des Subjekts hinauslaufen und zwar insbesondere in pädagogischen Zusammenhängen; man denke an die Schrift Über das Marionettentheater
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dergleichen etwas hölzern dahin gestellte Alternativen einfach zu ignorieren und dem Witz seiner Worte zu vertrauen. Kleist schreibt: »Wenn der elektrische Körper positiv ist: so flieht, aus dem unelektrischen Alles, was an natürlicher Elektrizität darin vorhanden ist, in den äußersten und entferntesten Raum desselben, und bildet, in den, jenen zunächst liegenden, Teilen eine Art von Vakuum, das sich geneigt zeigt, den Elektrizitäts-Überschuß, woran jener, auf gewisse Weise, krank ist, in sich aufzunehmen; und ist der elektrische Körper negativ, so häuft sich, in dem unelektrischen, und zwar in den Teilen, die dem elektrischen zunächst liegen, die natürliche Elektrizität schlagfertig an, nur auf den Augenblick harrend, den ElektrizitätsMangel umgekehrt, woran jener krank ist, damit zu ersetzen.« (Kleist 1990, S. 545f.)
Dieses Beispiel läuft auf die Herstellung des elektrischen Gleichgewichts zwischen den vormals unterschiedlich geladenen Körpern hinaus. Entscheidend für die Übertragung auf die Situationen der »moralischen Welt« (Kleist 1990, S. 546) ist jedoch nicht dieser Ausgleich, sondern die Dynamik der Gegensätze, die vorausgeht. Der jeweilige Ladezustand strebt nämlich nach seinem Gegenteil oder mit anderen Worten: Dem Belehrten gelüstet nach dem Gegenteil der Lehre. Unter der Hand wird so die implizite Anthropologie der Pädagogik bildhaft ins Gegenteil verkehrt. Die Rede vom »Nachahmungstrieb« (Kleist 1990, S. 549), gleichsam die Naturalisierung der Fügsamkeit 2, erscheint als pädagogischer Euphemismus. Nachahmen heißt Sich-Anähneln und dies ist die Voraussetzung für die Verwirklichung und Bestätigung der pädagogischen Intention. Wenn alle sich schließlich, vermöge ihrer Fähigkeit zur Nachahmung, in derselben Sache versammeln, kehrt die Idee, nachdem sie veräußerlicht wurde, immer zu sich selbst zurück, in den harten Kern dessen, was gesagt und gedacht werden darf. Diese »reine Wiederholung verdankt sich […] dem Phantasma der bewussten Anwesenheit der Intention des kommunikativen Subjekts in der Totalität seines Aktes.« (Zirfas, in Bezug auf Derrida, 2001, S. 58) Dem stellt Kleist das satirische Bild einer Schule entgegen, die ihre Ziele erreicht, indem sie das Gegenteil von dem lehrt, was wünschenswert ist. Negativität bleibt nicht ausgespart, sondern wird zur pädagogischen Leitlinie. Man vertraut voll und ganz auf die Widerstandskraft der Schüler. Das Curriculum und deren implizite Auseinandersetzung mit Schillers Briefen zur ästhetischen Erziehung. 2 | Es ist dieser Zustand, den Rancière als entmündigend und verdummend kritisiert; vgl. Kap. 3. Adorno beharrt darauf, dass »anders als durch Denken« so etwas wie »richtige Praxis« nicht möglich ist (1971, S. 137). Das Adjektiv lässt vermuten, dass Adorno vor der letzten Konsequenz, dem nicht zu heilenden Riss zwischen Theorie und Praxis, zumindest in dieser pädagogischen Schrift, zurückschreckt.
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ist nach dem Prinzip »Tugend durch Laster« (Kleist 1990, S. 550) organisiert. Der Konrektor C. J. Levanus, dem Kleist die pädagogische Reformschrift zuschreibt, behält es sich vor, »Liederlichkeit, Spiel, Trunk, Faulheit und Völlerei« (ebd., S. 551) zu unterrichten. Seine Frau soll ihn in den Fächern »Unreinlichkeit und Unordnung, […] Zank- und Streitsucht« sowie »Verleumdung« (ebd., S. 550) unterstützen. Anders als im Bild angelegt, geht es nicht um einen Ausgleich der Energien, also um einen zeitlosen Ruhezustand, sondern im Gegenteil darum, Entwicklung zu ermöglichen (ebd., S. 551). Entwicklung jedoch setzt Widerspruch voraus und dies bedeutet, dass die Erziehung im Grunde selbst diesen Widerspruch wollen muss. Da die Positivität der pädagogischen Setzung sich mit dem unvermeidbaren Widerspruchsgeist des Zöglings nicht verträgt, muss Negativität gesetzt werden. Der pädagogische Diskurs und das ihm inhärente Fortschrittsdenken wird von Kleist karikiert, indem er den pädagogischen Mechanismus beibehält – man hat Lehrer, Erziehungsziele, Unterricht, Zöglinge –, aber die Inhalte ins Gegenteil verkehrt. Der Witz besteht jedoch nicht in ersterer Linie in dieser Verkehrung – sonst müsste man ja schlicht an diese neue Idee glauben –, sondern darin, dass die pädagogisch instrumentalisierte Negativität alsbald wieder in Positivität umschlagen würde. Ein von den Zöglingen erwarteter, ja geforderter Widerspruch bedeutet nichts anderes als Einverständnis. Die mangelnde Überzeugungskraft der positiven Setzungen wird durch die negativen nur umgangen. Kleist erreicht sein Ziel – die Vergeblichkeit der pädagogischen Anstrengungen seiner Zeit auf die Schippe zu nehmen und die hypertrophen Erwartungen an Erziehung zu irritieren –, indem er zeigt, dass der pädagogische Diskurs sich mühelos auch sein Gegenteil einverleibe könnte; er bliebe, was er ist. Kleists Text illustriert eher das erste der oben genannten Probleme, das in der mangelnden Überzeugungskraft der positiven pädagogischen Setzung besteht. Allerdings erscheint die Positivität letztlich so stark, dass sie das Negative am Ende kolonialisiert. Gleichwohl wird auf das ausgesperrte Andere satirisch aufmerksam gemacht. Theodor W. Adornos bekanntes, mit Hellmut Becker geführtes Gespräch Erziehung zur Mündigkeit pointiert eher das zweite Probleme: den Widerspruch zwischen dem notwendigen und unverzichtbaren Erziehungsziel und der Gesellschaft im Zustand der Unfreiheit, in welche diese Erziehung eingelagert ist. Es ist ein Grundmotiv von Adornos pädagogischen Vorträgen, Gesprächen und Schriften zu Fragen der Erziehung, dass die Gesellschaft die in der Erziehung formulierten Versprechen – etwa auf Freiheit, Individualität, Gerechtigkeit – letztlich nicht einhalten kann.3 Bei aller 3 | Vgl. Theorie der Halbbildung (Adorno 2006), S. 15f., S. 21, S. 22f., S. 33. Der Bildungsbegriff wird von diesem Widerspruch voll erfasst. Die Bildung ist »in sich antinomischen Wesens. Sie hat als ihre Bedingung Autonomie und Freiheit, verweist jedoch
VI. Freiheit und Zwang
Unterschiedlichkeit der Voraussetzungen und Schreibstile haben beide Texte dieses gemeinsam: sie thematisieren dasjenige, was hinter der positiven pädagogischen Setzung verschwinden soll. Einerseits kann auf das Erziehungsziel der Mündigkeit nicht verzichtet werden. Auch wenn in der konkreten Formulierung eine gewisse Tendenz zur Idealisierung mitschwingt, bleibt das Programm verpflichtend: »Demokratie beruht auf der Willensbildung eines jeden Einzelnen, wie sie sich in der Institution der repräsentativen Wahl zusammenfasst. Soll dabei nicht Unvernunft resultieren, so sind die Fähigkeit und der Mut jedes Einzelnen, sich seines Verstandes zu bedienen, vorausgesetzt.« (Adorno 1971, S. 133)
Andererseits – und diese Tendenz setzt sich im Verlaufe des Gesprächs, ob gewollt oder ungewollt, immer mehr durch –, droht Mündigkeit in Anbetracht der Einrichtung der Gesellschaft zu einem gefälligen pädagogischen Fahnenwort abzugleiten. Es ist vielleicht längst von seiner eigenen Widerlegung imprägniert: »Der Grund dafür ist natürlich der gesellschaftliche Widerspruch, daß die gesellschaftliche Einrichtung, unter der wir leben, nach wie vor heteronom ist, das heißt, daß kein Mensch in der heutigen Gesellschaft wirklich nach seiner eigenen Bestimmung existieren kann; daß, solange das so ist, die Gesellschaft durch ungezählte Vermittlungsinstanzen und Kanäle die Menschen so formt, daß sie innerhalb dieser heteronomen, dieser ihr in ihrem eigenen Bewußtsein entrückten Gestalt alles schlucken und akzeptieren.« (Ebd., S. 144)
Adorno wird, als er von ›ungezählten Vermittlungsinstanzen und Kanälen‹ sprach, welche die Menschen ›formen‹, die Schule im Allgemeinen und den Literaturunterricht im Besonderen mitgemeint haben. Entscheidend ist nun allerdings, dass daraus, inhaltlich ähnlich wie bei Kleist aber ganz unironisch in der Form, für Adorno ein paradoxer Begriff der Erziehung folgt; dass nämlich »die Erziehung eine Erziehung zum Widerspruch und zum Widerstand ist.« (Ebd., S. 145) Die Paradoxie liegt dabei nicht darin, dass mündig zu werden mit einschließt, seinen Erziehern zu widersprechen, sondern dass das Ganze immer noch Erziehung bleibt, weswegen der Widerspruch sich potenzieren könnte. Es wäre z.B. denkbar, dass der Widerspruch in nichts anderem besteht als in angepasstem Verhalten. Das erste Problem, die mangelnde Überzugleich, bis heute, auf Strukturen einer dem je Einzelnen gegenüber vorgegebenen, in gewissem Sinn heteronomen und darum hinfälligen Ordnung, an der allein er sich zu bilden vermag. Daher gibt es in dem Augenblick, in dem es Bildung gibt, sie eigentlich schon nicht mehr.« (Ebd., 2006, S. 28f.)
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zeugungskraft von pädagogischen Setzungen im Allgemeinen wandert in das zweite Problem der gesellschaftlichen Widerlegung von Erziehungszielen ein. Am Ende bleibt ein nachdenkliches und skeptisches Fazit, welches das anfangs klar vertretene Ziel der Erziehung zur Mündigkeit in einem nicht mehr so hellen Licht erscheinen lässt: »Wer ändern will, kann es wahrscheinlich überhaupt nur, indem er […] seine eigene Ohnmacht zu einem Moment dessen macht, was er denkt und vielleicht auch was er tut.« (Ebd., S. 147) Vielleicht hat Kleists Bild einer Pädagogik, die allen nötigen Widerspruch in Positivitäten verwandelt, etwas mit Adornos skeptischem Fazit zu tun. Vielleicht lauert weit im Hintergrund des Allerneuesten Erziehungsplans ebenfalls die Gewalt des gesellschaftlichen Anpassungsdrucks, durch welchen Erziehung erst ihre Legitimation erhält. Interessant ist es jedenfalls, dass sowohl Adorno als auch Kleist in ihren so unterschiedlichen Texten direkt und indirekt auf das pädagogische Schrifttum ihrer Zeit Bezug nehmen.4 Institutionalisierte Pädagogik als Unfreiheit im Gewande der Freiheit. Diese Schlussfolgerungen gehen recht weit. Deutlich wird auf jeden Fall, dass sich Erziehung nicht auf ein geschlossenes, sicheres Programm berufen kann, sondern aufgrund der Unbestimmtheit des Menschen und der gesellschaftlichen Widersprüche, in die Erziehung eingelagert ist, sich immer an einem Widerstand gegen sich selbst abarbeiten muss. In der zwanghaften pädagogischen Positivität ist der Schatten der Negativität lesbar. Sowohl Kleist als auch Adorno entgehen dem Zwang der positiven pädagogischen Setzung; ersterer durch ironisch-satirische Subversion, die durch Lachen befreit, letzterer durch illusionslose Analyse der vorerst unauflösbaren Widersprüche. Einen anderen Blick auf das Paradoxe hat Michel Foucault. Wenn auch seine Machtanalysen auf ihre Weise die Omnipräsenz gesellschaftlicher Disziplinierung (z.B. in der Erziehung) nachweisen – in diesem Punkt könnten Adorno und Foucault ins Gespräch kommen – so gibt es doch bei Foucault keinen marxistisch inspirierten Generalverdacht gegen gesellschaftliche Entfremdung und Macht. Nach Foucault gibt es ohne Widersprüche keinen Diskurs. Der Diskurs ist diejenige Energie, die entsteht, wenn die Widersprüche produktiv werden. Diskurse verbergen Widersprüche als das sie Ermöglichende und sie können nicht umhin, diese wieder zu entbergen. Aus dem Diskurs selbst, einschließlich der durch ihn verkörperten Macht, könnte – vielleicht – eines Tages eine Gegenmacht ausbrechen. Doch worin besteht der basale pädagogische Widerspruch, der den Diskurs antreibt? Immanuel Kant gibt die Antwort in seiner Schrift über Pädagogik wiederum in Form einer Frage: »Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwan4 | Die Ziele der Kritiken liegen im pädagogischen Diskurs. Jedoch geht es bei Kleist um die Satire des pädagogischen Fortschrittsdenkens (Campe, Basedow) und bei Adorno um die reaktionären Sedimente der Pädagogik seiner Zeit.
VI. Freiheit und Zwang
ge?« (Kant 1976, S. 711) Wenn Freiheit das Ziel der Erziehung im Zeitalter der Aufklärung ist, Erziehung sich also von der Einübung in vorgegebene Normen und Fertigkeiten abzusetzen gedenkt, muss sie angeben können, wie Freiheit im pädagogischen Prozess erreicht werden kann. Erziehung lässt sich jedoch schwer anders als heteronom denken. Der Intentionalität, die dem pädagogischen Prozess eingeschrieben ist (vgl. Luhmann 2002, S. 15, S. 54, S. 58, S. 60), liegt schließlich ein wie es scheint einfaches Sender-Empfänger-Modell zu Grunde. Auch wenn in der Praxis die zu Erziehenden in gewisser Weise die Erzieher erziehen (durch die Erfahrungen, die letztere im Prozess der Erziehung machen), kann die Möglichkeit zur Steuerung, Kontrolle und Institutionalisierung des pädagogischen Prozesses nicht von allen Diskursteilnehmern genutzt werden. Erziehung bleibt also trotz aller komplizierter gegenseitiger Übertragungseffekte letztlich an das Modell der Macht gebunden, die eben nicht von allen ausgeübt werden kann. Luhmann notiert in Hinsicht auf den Interaktionscharakter von Unterricht: »Die Kontrolle des Interaktionsverlaufs und damit die Darstellungschancen der Schüler wird durch Anweisungen und vor allem durch Fragen des Lehrers ausgeübt. Für die Schüler bleiben nur korrespondierende Erfahrungen übrig: Warten, Zurückweisung, Unterbrechung, Geduld, Resignation.« (Luhmann 2002, S. 105)
Das unauflösbare Miteinander, Gegeneinander und Ineinander von Freiheitsziel und Zwangsmittel in der Erziehung löst Kleist satirisch auf, indem er den pädagogischen Zwang gar nicht thematisiert – was läge ihm ferner als darzustellen, welche Sanktionen im Falle eines Nicht-Widerspruchs zu erwarten wären? – und sich ganz auf die Vergeblichkeit allen pädagogischen Tuns konzentriert; nur eine Schule, die sich selbst ad absurdum führt, d.h. die Sinnlosigkeit ihrer selbst zum Gesetz erhebt, ist letztlich erträglich. Adorno hingegen kleidet das pädagogische Paradox in die Gestalt einer Erziehung zum Widerstand gegen diejenige Institution, die zur Erziehung berufen ist und zugleich um die Fragwürdigkeit der selbst gesetzten Positivität weiß. Das Paradox, das den pädagogischen Diskurs überhaupt erst möglich macht, wird thematisch. Indem Erziehung sich von der Vorstellung abwendet, die Natürlichkeit des Menschen garantiere seine gelingende Entwicklung, muss sie Techniken der gezielten Beeinflussung des Zöglings in Betracht ziehen. Bei Rousseau führt dies zu dem Paradox einer Erziehung mit und zugleich gegen die Natur (vgl. Luhmann 2002, S. 87, S. 173). »Die Kindheit«, schreibt Jacques Derrida in der Grammatologie, »ist die erste Manifestation des Mangels, der in der Natur nach Stellvertretung ruft. Die Pädagogik erhellt die Paradoxe des Supplements vielleicht rücksichtsloser als andere Disziplinen.« (Derrida 1974, S. 253) Das Kind, so die Annahme, kann nur durch das Andere, das ihm nicht eignet, zu sich selbst kommen, es ist gewissermaßen nicht, was es ist. Bedingung
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seiner Positivität ist seine Negativität, die supplementiert werden muss. Der oben thematisierte Aspekt der Unbestimmtheit des Zöglings, die Erziehung überhaupt erst ermöglicht, wird von Derrida in Auseinandersetzung mit Rousseau also als konstitutiver Mangel beschrieben. Dieser Mangel ist auch der Ansatzpunkt für die Erziehung als Unterbrechung ›rein natürlicher‹ Entwicklung, die unter der Bedingung des bürgerlich-technischen Zeitalters als Atavismus oder Verrohung erscheint. Das Ziel, die Ermöglichung von Autonomie und selbstbestimmtem Handeln trotz manifester Unfreiheit auf allen Ebenen der Gesellschaft, kann nur durch erhebliche Anstrengungen erreicht werden, wobei Mechanismen der Selbst- und Fremddisziplinierung sich mit geistigen Übungen verbinden. Insofern gibt es das Ziel »nicht ohne Erziehung, aber Erziehung als Mittel negiert das Ziel.« (Wimmer 2006, S. 39) Oder drastischer: »Erziehung zur Freiheit unter institutionalisiertem Zwang, durchgesetzt mit dem eisernen Besen der Unausweichlichkeit? Das ist ohne Zweifel paradox.« (Hansmann 2013, S. 129)5 Sinnbild dieses Widerspruchs ist die Prüfung. Foucault, der die Schule in seinem Buch über das Gefängnis behandelt, schreibt: »Die Überlagerung der Machtverhältnisse und der Wissensbeziehungen erreicht in der Prüfung ihren sichtbarsten Ausdruck.« (Foucault 1994, S. 238) Indem die Prüfung einen Augenblick zur Ewigkeit sanktioniert und den Prüfling zwingt, sich zu zeigen, wobei stets klar ist, dass Versagen dem Prüfling und Gelingen dem Prüfer und der guten Sache zuzurechnen ist, unterhöhlt sie die behauptete Relevanz der Inhalte durch ihre Instrumentalisierung; Literatur ist dann nicht Medium der Selbstbestimmung, also autonom, sondern Medium der Selektion (also heteronom). Es gibt Schüler, die daran zerbrechen.6 5 | Siehe dazu auch die Analyse des Verf. zu Marie v. Ebner-Eschenbachs Novelle Der Vorzugsschüler, die den Widerspruch zwischen Freiheit und Unfreiheit in der Erziehung thematisiert (Baum 2016b). Der Vater gibt den Anpassungsdruck der Gesellschaft an seinen Sohn weiter, ja steigert diesen noch, und erhofft sich gerade davon nicht nur die Befreiung seines Sohnes, sondern, wenn es der Sohn einmal ›zu etwas bringt‹, sogar die Befreiung der gesamten Gesellschaft. Die Zerstörung durch Erziehung beruft sich auf das Ziel der Befreiung der Menschheit! – Die oben kurz erwähnte supplementäre Logik der kindlichen Entwicklung (Derrida) und der Widerspruch zwischen Freiheit und Zwang in der Erziehung sind nicht dasselbe; der erste Aspekt ist grundlegender als der zweite. Aber Erziehung und damit all ihre Widersprüche und Abgründe können ansetzen an der Vorstellung der Formbarkeit des Kindes als Folge eines ursprünglichen Mangels. 6 | Kleist kritisiert am Ende von Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden die Institution der Prüfung als geistfeindlich und zerstörerisch. Verletzt werde das »Zartgefühl« des Prüflings und verfehlt werde das Verstehen selbst, das eine »Vorbereitung des Gemüts« benötige (Kleist 1990, S. 540); vgl. zu diesem Befund im Zusammenhang einer Kritik am Kompetenzdiskurs Gelhard (2012, S. 79-84).
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Foucault betrachtet die Prüfung in erster Linie als schulisches Sinnbild der Disziplinargesellschaft. Die Schule ist stets und allerorts eine Prüfung, im wörtlichen wie im übertragenen Sinne. Dies spiegelt sich bereits in ihrer Form der Organisation: »Was ist denn eigentlich ein Unterrichtssystem – wenn nicht eine Ritualisierung des Wortes, eine Qualifizierung und Fixierung der Rollen für die sprechenden Subjekte, die Bildung einer zumindest diffusen doktrinären Gruppe, eine Verteilung und Aneignung des Diskurses mit seiner Macht und seinem Wissen.« (Foucault 1998, S. 30) Man sollte diese Stelle im Zusammenhang mit dem lesen, was Foucault über die paradoxen Ausgangsbedingungen von Diskursen geschrieben hat.7 So ist es möglich, die Form des Unterrichtssystems genealogisch zu erklären; diese erscheint nämlich als Struktur, die das Spiel der Widersprüche ermöglicht. Im Modus der Unfreiheit (Sprech- und Rollenfixierung) ist die Ermöglichung von Freiheit mitgedacht, denn die Rede von der ›Verteilung und Aneignung‹ des Diskurses lässt ja zumindest die Möglichkeit offen, dass die schwächere Seite gerade durch den Diskurs, der ihre Unterwerfung organsiert hat, selbst Anteil erhält an der Wissensmacht. Offen bleibt, ob ein Ereignis denkbar ist, das die Machtbeziehungen des Diskurses erschüttert oder doch zumindest verschiebt 8 oder ob sich das Subjekt der Macht nur entwinden kann, indem es diese auf raffiniert Weise bejaht. Unzweifelhaft würde Rancière die skeptische Variante bevorzugen. Ein Unterrichtssystem, dessen Form Freiheit zurücknimmt, um Freiheit zu ermöglichen, liefe für ihn letztlich doch wieder auf die Reproduktion von Unfreiheit hinaus. Foucault hingegen meidet die subjektphilosophischen Prämissen einer Pädagogik der radikalen Autonomie und denkt das Ereignis eher als eine Erschütterung des Diskurses im Diskurs (im Sinne einer Neuverteilung von Macht). Letztlich stellt Rancière die Idee der Emanzipation über die Machtbeziehungen des Diskurses – Jacotot kann dies tun, weil seine Methode zunächst ›unentdeckt‹ bleibt –, geht dabei aber das Risiko ein, letztlich doch von diesen Machtbeziehungen eingeholt zu werden, was auch geschieht. Doch
7 | Damit ist nicht gesagt, dass die beiden Texte, die dem zu Grunde liegen, eine gemeinsame Intention haben. Es ist bekannt, dass Foucault in seinem Schreiben immer neu angesetzt, immer andere Hypothesen ausprobiert hat. Die Konstellation zwischen Unterrichtssystem und paradoxem Diskurs wird zuallererst in dem vorliegenden Text gebildet. 8 | Man denkt an die Schlussszene aus Tom Schulmans und Peter Weirs Film Der Club der toten Dichter. Nach dem Abgang des Literaturlehrers und dem Tod des Mitschülers existiert die Institution weiter. Doch die Geste, sich vom geliebten Lehrer zu verabschieden, indem man die Regeln bricht und sich demonstrativ auf den Tisch stellt, überschreitet eine Grenze innerhalb der Grenzen des Internats. Die Möglichkeit von Freiheit wird nicht mehr so schnell vergessen werden.
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damit ist das letzte Wort noch nicht gesprochen: Die Erfahrung der Möglichkeit von freier Bildung kann nicht vollständig gelöscht werden. Die Verschränkung von Positivität und Negativität, Freiheit und Zwang, im pädagogischen Diskurs zeigt sich auf dessen praktischer Seite in Form des teils manifesten, teils latenten Selbstwiderspruchs – es geht z.B. vermeintlich um Literatur, aber es geht zugleich und vielleicht sogar in erster Linie um die Benutzung der Literatur für Zwecke der Disziplinierung.9 Schüler wissen in der Regel gar nicht, warum dieses oder jenes Thema auf diese oder jene Art und Weise behandelt wird. Es gehört nun einmal zum Fatalismus der Schule, dass jeden Tag irgendetwas ›dran‹ ist. Konstant bleibt die Form des Unterrichts, die ›Ritualisierung des Wortes‹.10 Der Lehrer agiert vor dem Hintergrund von Entscheidungen im Vorfeld, die in der Stunde nicht preisgegeben werden. Das pädagogische Kalkül ist spürbar, wird aber selten explizit dargelegt – bestenfalls verkleidet in ein maliziöses Lächeln während des Elternabends. Allein schon in der Form dieses abgekarteten Spiels liegt eine Verschränkung von Freiheit und Zwang, da der Unterricht seine Formen zumeist als natürliche und erwartbare Abfolge von Schritten inszeniert und doch nur, gemäß den zeitüblichen Varianten der Lehrbarkeitsdoktrin, seinen Progress organisiert. Luhmann geht davon aus, dass im Unterricht permanent zweideutige Botschaften ausgesendet werden, in denen das Gelingen der Kommunikation zugleich angestrebt und erzwungen wird. Das Problem ist dabei, dass es »nicht immer gelingt, die Hinterhältigkeit der guten Absicht zu verdecken.« (Luhmann 2002, S. 75) Es ist nicht genügend Raum vorhanden, um Negativität, das heißt z.B. andere Auffassungen, Verständnisse, Widersprüche außerhalb des geplanten methodischen und zeitlichen Takts zu artikulieren. Für die Schüler, sozialisiert mit einem diffusen Gemenge aus Lehrbarkeitsdoktrin und gegenständlichem Wissen, ist es aufgrund der widersprüchlichen Doppelcodierung der pädagogischen Sprache schwierig, mit ihren Fragen anzusetzen. Spielen sie das Spiel einfach mit, kommen sie zu keinem individuellen Verstehen. Tun sie dies nicht, greifen die Mechanismen der Disziplinierung, gegebenenfalls verstärkt durch die Mitschüler, denen das Funktionieren-Müssen in Anbetracht der Imperative des Überlebens in der globalisierten Welt zur zweiten Natur geworden ist.11 Disziplinierung ist in diesem Zusammenhang insgesamt weniger als ein Geschehen zwischen klar voneinander getrennten Ins9 | Und auch in dieser Formulierung steckt ein Teufelchen. Denn es ist nicht ausgeschlossen, dass gerade die heteronom aufgefasste Literatur Gegenkräfte mobilisiert. 10 | Siehe dazu auch Barthes (1980, S. 63): »Denn was in einem Unterricht unterdrückend sein kann, ist letztlich nicht das Wissen oder die Kultur, die er transportiert, sondern sind die Diskursformen, durch die man sie verbreitet.« 11 | Wimmer (2014, S. 108) kommt zu dem Schluss, dass die Schule längst den »Markt als soziale Integrationsinstanz« anerkannt hat.
VI. Freiheit und Zwang
tanzen zu denken, sondern als immer schon vorliegende Verteilung von Macht in den Subjekten. Die Macht triumphiert dann, wenn sie gar nicht mehr als Gegenkraft empfunden, sondern bejaht und genutzt wird.12 In dieser Situation scheinen nur ironische Sprachformen eine Möglichkeit zu schaffen, um die gleichzeitige Unmöglichkeit und Notwendigkeit angemessenen Sprechens zu reflektieren; dazu später mehr. Fasst man den Gegensatz von Freiheit und Zwang operativ-didaktisch, als Problem der Planung und Durchführung von Fachunterricht, ergibt sich eine neue widersprüchliche Konstellation: Der Unterricht muss seine Ziele unter Verwendung spezifischer Methoden anstreben. Diese Methoden, die das Gelingen verbürgen sollen, führen zugleich die Gefahr des Scheiterns mit sich. Als Methoden sind sie ganz allgemein (wie in der Wissenschaft auch) nur funktionsfähig auf der Grundlage konstitutiver Blindheit. (Man kann nur sehen, indem man das Meiste nicht sieht und es ist die Frage, inwieweit genau das, in Anbetracht des pädagogischen Zwangs zur Positivität, diskursiv artikulierbar ist.) Als didaktische Methoden müssen sie organisatorischen, zeitlichen, pädagogischen und anderen Erfordernissen genügen, also gleichsam materiell-operative Verkörperungen der Lehrbarkeitsdoktrin sein. »Das Paradox liegt hier im Widerspruch zwischen Wahrheitsgehalt und Effektivität der Lehre.« (Luhmann 2002, S. 133) Das paradoxe (Nicht-)Verhältnis von wissenschaftlichem und pädagogischem Diskurs rückt in den Blick.13 Während Wissenschaft, wie Lyotard schreibt, auf das denotative Sprachspiel setzt, aber zugleich dessen Erweiterung offenhält – es sei denn die Regeln des Diskurses werden verletzt –, zielt schulischer Unterricht auf die Nachahmung kanonischen Wissens und ritualisierter Verfahren; es gibt im schulischen Fachunterricht keine aktuellen Kontroversen. Verquickt mit der operativen Paradoxie (Effektivität vs. Inhalt der schulischen Lehre) ist offensichtlich eine epistemologische: die Einschreibung wissenschaftlichen Wissens in den pädagogischen Diskurs gelingt nur 12 | Barthes (1980, S. 15) sieht, ähnlich wie Kleist, eher die psychologische Dimension des Problems. Eine unsichtbar gewordene Diskursmacht gibt es für ihn nicht: »Ich nenne Diskurs der Macht jeden Diskurs, der Schuld erzeugt und infolgedessen Schuldgefühle bei dem, der ihn aufnimmt.« Sich den Diskurs aneignen, hieße somit unter Umständen, die Ohnmacht zu affirmieren. 13 | Diese Paradoxie hat die Pädagogik in sich selbst noch einmal aufgenommen, da sie aufgespalten ist in die verschiedenen pädagogischen Handlungssysteme (v.a. die Schule) und die wissenschaftliche Pädagogik. Wimmer (2006, S. 18) sieht deshalb eine »Spaltung zwischen wahnhaft-virtueller Planungsrealität auf der Handlungsebene und funktionaler Systemreflexion auf der Wissensebene.« Beobachter erster Ordnung überlassen sich theorieloser Praxis, weil sie gar nicht sehen können, was Beobachter zweiter Ordnung sehen (vgl. ebd., S. 12) Für Wimmer geht es darum, diese Paradoxie neuerlich in den Diskurs der Erziehungswissenschaft einzuschreiben.
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um den Preis einer Pädagogisierung des Wissens, die den Namen Didaktik enthalten hat. Das pädagogisierte Wissen gibt vor, hartes, relevantes Wissen zu sein, ist aber durchsetzt von pädagogischen Annahmen bzw. den Imperativen der Lehrbarkeitsdoktrin; das kann sich sogar in der äußeren Form der Darstellung des Wissens zeigen. Die Welt außerhalb der Schule scheint für die Schule also letztlich unerreichbar zu sein. Dies gilt nicht nur für die Berufe, für die qualifiziert werden soll, sondern für die Gegenstände selbst, die gelehrt werden. Die ältere Schule konnte dieses Nicht-Verhältnis von Schule und Umwelt mit der Bildungsformel adeln: Gerade das sublimierte akademisch-pädagogische Wissen ohne direkten Bezug zu Anforderungen der Gesellschaft bereitet auf letztere vor. Gegenwärtig erwartet man von einer in den Laboren der Bildungswissenschaft erfundenen und vor Ort empirisch getesteten ›Kompetenz‹ die Reintegration von Schule und Gesellschaft (bzw. ›Markt‹ wie Wimmer kritisch anmerkt); dabei wird ein affirmatives Verhältnis von Subjekt und Gesellschaft zu Grunde gelegt. Es geht darum, sich nahtlos und kompetent einzufügen, auf dass das Ganze effizienter (gerechter? besser?) werde. Indes: Es wird zwar Zukunftsfähigkeit durch Kompetenz propagiert, doch es soll unsichtbar bleiben, dass die Allianz aus wissenschaftlichen Orientierungen (empirische Bildungswissenschaft, Kognitionspsychologie, Mainstream-Didaktik) und ökonomischen Bedingungen (OECD, PISA, Bildungspolitik, Mainstream-Bildungsjournalismus) zwar von enormem Einfluss ist, inhaltlich aber nur überzeugt, wenn man bereit ist, die spezifischen Prämissen und die zughörige Doktrin zu übernehmen. Die bisher thematisierten Probleme lagen vor allem auf der Ebene der Analyse der paradoxen Verstrickungen im pädagogischen Diskurs – zwischen Theorie und Praxis, Negativität und Positivität, Freiheit und Zwang; nur in Ansätzen ist die subjektive Perspektive (als Nichtwissen um den Zögling) angesprochen worden. Einige wenige Bemerkungen zum Lehren mögen dies ergänzen. Ich beziehe mich dabei auf den Aufsatz Lehren und Bildung von Michael Wimmer (Wimmer 2014). – Es dürfte deutlich geworden sein, dass die Widersprüche und Antagonismen des Pädagogischen einen zweckrationalen Begriff des Lehrens unmöglich machen.14 Das Ineinander der Pole des Parado14 | Siehe dazu bereits Bernfeld (1926/2005, S. 287): »Es wird hingenommen wie ein gottgewolltes Schicksal alles Unterrichtens, daß es im Rahmen des heute jeweils gegebenen Schulwesens verläuft; und nicht einmal die Frage wird gesehen, welche Rückwirkungen dieser Rahmen auf den Unterrichtsprozeß hat. Indessen die Didaktik versucht, den Unterricht des einzelnen Lehrers – gelegentlich auch die Disziplinführung in der Klasse – zweckrational zu denken, bleibt die Schule als Ganzes, das Schulwesen als System ungestört, ungedacht; dürfen sich in ihm alle irrationalen Kräfte auswirken, die seine Voraussetzung, seine Triebkräfte, seine Determinanten sind.« – Noch heute wird
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xen, die sich nicht gegenüberstehen, sondern im Diskurs wechselseitig durchdringen, hervorbringen und überschreiben, führt in einem Widerstreit zu einer »Spaltung aller Bestimmungen und Aussagen.« (Wimmer 2006, S. 58) Deswegen kann die Einheit der Pädagogik nur in ihrer Differenz bestehen (vgl. ebd., S. 51). Im Steuerungsmodell des Lehrens, gemeinhin adressiert als funktionaler Zusammenhang von Lehren und Lernen, wird eine kausale Beziehung zwischen Input und Output unterstellt. Demzufolge kann nur das erfolgreich gelernt werden, was zuvor erfolgreich gelehrt wurde. (Dabei handelt es sich, was nicht schwer zu erkennen ist, um einen Zirkelschluss.) Abgesehen wird von den institutionellen Bedingungen, der Gesellschaft als Ganzes, dem Gedächtnis, der Sprache, dem kulturellen und semiotischen Zusammenhang. Als aktiv erscheint das lehrende Subjekt, als passiv-aufnehmend (trotz aller Rhetorik selbstgesteuerten Lernens) das lernende. Die paradoxe Struktur pädagogischer Situationen hat indes hinsichtlich des Lehrens die folgenden Implikationen: 1. In Kapitel 2 wurde bereits gezeigt, dass das didaktische Subjekt eine paradoxe Doppelstruktur aufweist; es wird zum einen gedacht als gelehriges, den fremden Diskurs aufnehmendes Subjekt und zum anderen als aktives, sich Welt und Sprache erschließendes. Hinsichtlich des Lehrens lässt sich sagen, dass es aufgespalten ist zwischen Aktivität – der Zögling wird zu etwas aufgefordert – und Passivität; denn der Lehrende kann weder über die Bedingungen seiner Lehre noch über das, was beim Anderen ankommt, verfügen. Ganz allgemein kann Erziehung die Folgen ihres Tuns nicht unter Kontrolle halten und darf doch zugleich die Positivität ihrer Zielsetzungen und Ansprüche nicht preisgeben (vgl. Wimmer 2014, S. 103). 2. Der Lehrende braucht ein »Verfügungswissen« (ebd., S. 104) oder eine Methode, um überhaupt lehren zu können. Er muss aber zugleich den »fiktional-funktionalen Charakter« (ebd., S. 104) dieses Wissens erkennen. Pädagogisches Denken und Handeln ist also ohne ein hohes Maß an Selbstreflexivität und Ironie schwer vorstellbar. 3. »Die Lehre ist selbst gespalten in Unterweisung als Wissensvermittlung und in bildende Erfahrung. Wird in jener gegeben, was der Lehrende hat und den Lernenden mangelt, so wird dem Lehrenden in dieser zugemutet zu geben, was ihm zwar als Besitz unterstellt wird15, was er aber nicht hat: Anfängern im Lehrberuf suggeriert, dass ein Gelingen, wenn nur der Einsatz stimmt, zu erwarten ist. So kann der Druck hochgehalten und Scheitern dem Individuum angelastet werden. 15 | Wimmer (ebd., S. 106f.) benutzt an anderer Stelle dafür den Begriff der Übertragung – etwa so wie er in der Psychoanalyse gebraucht wird. Ego unterstellt Alter »ein für ihn existentiell relevantes Wissen«, das er jedoch »nicht hat und nicht haben kann«.
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die Wahrheit als wesentliches Wissen, das allem einen Sinn gibt (auch dem Zwang, in die Schule gehen zu müssen).« (Ebd., S. 104) Hier zeigt sich eine doppelte Differenz: die zwischen Wissen und Bildung und die zwischen Erwartung und Realität. Da sich im Lehrenden selbst der Widerspruch von Wissen und Bildung wiederholt, kann er diesen auch gegenüber den Schülern nicht ausgleichen. Die Differenzen zwischen Vermittlung und Aneignung, realem und fiktionalem Verfügungswissen, Wissen und Bildung, ruft nie ganz zu überwindenden Zweifel am Gelingen des pädagogischen Unterfangens hervor, macht aber zugleich dessen Gelingensbedingung aus (vgl. ebd., S. 105). Ohne die Gefahr des Scheiterns gibt es kein Bemühen um Gelingen. Ohne die Rätselhaftigkeit der Gegenstände und die Überdeterminiertheit der Situation kommt keine Anstrengung zu Stande. Und ohne die performative Differenz zwischen dem Denken des Anderen und dessen Anspruch in einer je konkreten singulären Situation könnte Unterricht nicht beginnen. (Schon in das Planen des Handelns fließt das Wissen um die Unmöglichkeit der Identität von Theorie und Praxis ein.) Die Literatur bearbeitet den Widerspruch von Freiheit und Zwang, indem sie diesen als Triebkraft der Sprache wahrnehmbar macht. Die Schrift ist das Medium, in welchem die Beziehung zwischen Sprache und Wirklichkeit gestiftet wird, aber immer nur so, dass sich die Wirklichkeit in der Sprache entzweit. Paul de Man bezeichnet dieses Moment des Sich-selbst-Verfehlens der Sprache als Widerspruch zwischen deren grammatischer und rhetorischer Funktion; während das Grammatische auf ein geregeltes Verhältnis von Sprache und Welt drängt, hebt das Rhetorische dieses Verhältnis immer wieder auf. Es stellt sich nun die Frage, ob auf einer allgemeineren Ebene als derjenigen der literarischen Sprache der unauflösbare Widerspruch von Freiheit und Zwang wiedergefunden werden kann.16 Die bisherigen Überlegungen galten systematischen und genealogischen, diskursiven und subjektiven Aspekten des Pädagogischen. Unbearbeitet blieb die Frage, welche Rolle die Sprache in dieser Problematik spielt, ist doch die Sprache das wichtigste Medium pädagogischer Interaktion (sei es als Interaktion unter Anwesenden wie im UnterWeitere Termini, die Wimmer benutzt, sind »Lehren als Übersetzung« (das heißt als Erzeugung von Differenzen) und »Lehren als Überlieferung« im Sinne einer neuen Interpretation des Erbes. 16 | Es ist bekannt, dass für Paul de Man keine kategoriale Grenze zwischen den Paradoxien der Sprache im Allgemeinen und der literarischen Sprache im Besonderen besteht. Nach de Man weiß die literarische Sprache von der immanenten Widersprüchlichkeit allen Sprechens und Schreibens und inszeniert diese gleichsamen von einer höheren Beobachtungsebene aus.
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richt oder als Schrift wie im pädagogischen Diskurs). Ferner ist zu überlegen, wie sich die Sprache zur Macht verhält, wurde doch zuletzt Kants allgemeine Formulierung vom pädagogischen Zwang diskurstheoretisch reformuliert als Macht bzw. Machtbeziehung. Nach Roland Barthes muss, wenn man die Beziehung von Sprache und Macht thematisieren will, zugleich zwischen Sprache und Diskurs unterschieden und nicht unterschieden werden: »Nicht nur Phoneme, Wörter und syntaktische Wendungen sind einem System kontrollierter Freiheit unterworfen, weil man sie nicht völlig beliebig kombinieren kann, auch die gesamte Fläche des Diskurses ist es durch ein Netz von Regeln, Zwängen, Unterdrückungen, Verdrängungen, massiven und unbestimmten auf der Ebene der Rhetorik, subtilen und ausgeprägten auf der der Grammatik: die Sprache strömt in den Diskurs, der Diskurs strömt zurück in die Sprache, sie bestehen beide jeweils untereinander fort wie beim Spiel des Händewechselns.« (Barthes 1980, S. 45/47)
Barthes stellt also die These auf, dass Sprache und Diskurs nehmen, indem sie geben. Sie geben ein komplexes System des Ausdrucks und verbieten zugleich alle anderen denkbaren Formen, sich auszudrücken. Insbesondere der Diskurs braucht Verbote, um sich zu entfalten. Die Energie der Sprache hingegen ist zugleich die Energie der Macht, die durch die Sprache ausgeübt wird. Der Unterschied zwischen Sprache (hier grammatisch gefasst, als System von Kombinationsregeln) und Diskurs besteht nur darin, dass die Grammatik ihre Ordnungen offen darstellt, während auf der rhetorisch-diskursiven Ebene ein permanentes Wechselspiel von Unterdrückung und Aufdeckung stattfindet. Da Sprache und Diskurs ineinander verschlungen sind, gibt es auch keine unschuldige Sprache, die man als ideales Konstrukt voraussetzen kann, um gelingende Kommunikation normativ zu setzen und damit erwartbar zu machen (was allerdings schon wieder ein Moment der Wirkung von Macht wäre), sondern die Sprache selbst ist der Ort der Integration von Freiheit und Zwang. Man kann sich dem Anderen zuwenden, indem man spricht, aber zugleich wird man immer schon gesprochen. In der Rede des Einen sind die Reden der Vielen zu hören und so ist der Andere nicht nur mit dem Einen konfrontiert, der mit ihm spricht, sondern stets auch mit dem, was aus diesem spricht. Das heißt auch, dass das Gegenüber, selbst wenn es sich danach sehnte, nicht direkt Kontakt aufnehmen kann. Es gibt stets etwas, das die Sprechenden trennt und das auf die Differenz zwischen Sprache und Diskurs verweist. In einer solchen Situation mag es bisweilen tatsächlich so scheinen, als ob die grammatische und die diskursive Ordnung nicht mehr unterschieden werden können. Der Diskurs setzt sich auch als Sprachmacht in Szene und die Sprachmacht kann sie selber nur sein, weil sie mit der Autorität eines Diskurses spricht. Dieser Diskurs mag Zeugnis geben von Dingen, die nicht bewäl-
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tigt sind, die misslingen, aber das muss keineswegs heißen, dass der Diskurs ohnmächtig ist – im Gegenteil: die Widersprüche, die den Diskurs ermöglichen, erzeugen die Energie, die jenen auflädt. Der Diskurs entflieht sich selbst und beharrt gerade, indem er dies tut, auf seiner Legitimation. Die Schuldgefühle, die ein Diskurs nach Barthes bei denjenigen erzeugt, die ihn aufnehmen sollen, sind Symptome dessen, was der Diskurs unterdrückt, Symptome seines eigenen Mangels, aber das lässt ihn erst recht sprechen, die Individuen einbinden, die Möglichkeit zu reden, zu denken, zu schreiben reglementieren. Der Philosoph Emil Angehrn, interessiert an einem Dialog zwischen Hermeneutik und Dekonstruktion, sieht in der nie zu stillenden Differenz zwischen Sagen-Wollen und Sagen-Können den Nachweis für einen Mangel in der Sprache, der durch Verstehen nicht still gestellt werden kann (vgl. Angehrn 2004, S. 270). Das führt dazu, dass die Sprache nicht wie ein Haus bewohnt werden kann; man kann nicht in der Sprache sein, denn die Erfahrung der Sprache, die immer schon gespalten ist durch den Diskurs, ist stets auch eine des Nicht-zu-Hause-Seins: »Menschen können nur in der Sprache mit sich eins werden, und doch sind sie nie in der Lage, die Sprache vollständig zur eigenen zu machen. Ein abgründiger Zwiespalt ist in allem Sprechen; immer bewegt sich dieses zwischen der Sehnsucht nach Einssein und der Erfahrung unaufhebbarer Entfremdung.« (Angehrn 2004, S. 271)
Die Sprache als Zeichensystem und der Diskurs als kontingente, aber machtbesetzte Form der Sprachregelung sind Äußerlichkeiten, die als solche die Innerlichkeit dessen, der etwas zum Ausdruck bringen möchte, auf brechen, in Unordnung bringen (vgl. dazu auch Wimmer 2006, S. 283). Die Differenz zwischen Sagen-Wollen und Sagen-Können verweist auf die Macht in der Sprache, die Macht als Sprache, die mich zum Stottern bringt, die mich meine Sätze revidieren lässt, die auf das Bild und auf die Form drängt. Das pädagogische Theater, in dem immerfort das Spiel zwischen Freiheit und Zwang aufgeführt wird, findet in der durch den Diskurs heimgesuchten Sprache ihr nie ganz zu bewältigendes Thema. Das Subjekt, nach humanistischer Vorstellung mit Bewusstheit und Vernunft ausgestattet, also in der Lage, seine Vollzüge gelingen zu lassen, indem es die Stimme erhebt und handelt, findet sich immer schon vermittelt durch die »gebieterische, eigensinnige, unerbittliche Stimme der Struktur« (Barthes 1980, S. 19). Was Barthes hier mehr inszeniert als darlegt, indem er die Struktur, von der er spricht, ihrerseits mit der Rhetorik der Wiederholung kombiniert, ist die Bedeutung der Spaltung von Sprache und Diskurs für die Theorie des Subjekts. Das (pädagogische) Subjekt kann gar nicht die Quelle der Vernunft, der Freiheit und der Wahrheit sein, weil durch dieses Subjekt hindurch immer schon der Diskurs spricht und so permanent die angemaßte
VI. Freiheit und Zwang
Rolle wahrhaft subjektiven Sprechens zurücknimmt. Insofern ist bereits in die Rede von der pädagogischen Kommunikation die Erwartung eines Gelingens eingebaut, die in Anbetracht der paradoxen (Nicht-)Identität des Sprechens nicht haltbar ist. Verantwortlich dafür sind »die Autorität der Behauptung und das Herdenhafte der Wiederholung« (Barthes 1980, S. 19), die den Diskurs gemäß der Macht strukturieren. »Das Zeichen«, so Barthes, »ist mitläuferisch, herdenhaft« (ebd. S. 21). Das Kind macht die Erfahrung der sprachlichen Wiederholung in seinem Alltag, teils als Vertrauen und Sicherheit stiftende Strukturierung des Lebens im Medium der Sprache, teils als entfremdendes und verletzendes Ritual, als Ansammlung von Worten, hinter denen nichts zu sein scheint als der Wille zur Macht (vor aller Semantik). Den ständig wiederholten Schreckenssatz Du hast mir noch gefehlt!, der das Verhängnis, Mutter sein zu müssen, mit dem großen Verhängnis der Existenz verkettet, zitiert der Ich-Erzähler in Thomas Bernhards autobiographischer Erzählung Ein Kind mehrfach (z.B. Bernhard 1982, S. 16). Die Einfachheit und Konventionalität der Worte, scheinbar ganz harmlose Wiederholung einer bekannten grammatischen Struktur, verschwistert sich hier zu einem sprachlich-symbolischen Todesurteil. Die Form wird böse, indem an die erste Stelle des Satzes nicht die Referenz auf eine Sache, sondern auf einen Menschen erscheint. Kommt das Kind in die Schule nimmt die Wahrnehmung der Sprache als Diskurs zu. Die Lehrerinnen und Lehrer verkörpern – auch sprachlich – eine Institution und das Kind weiß zunächst nicht, ob es jene im Modus des Du oder des Sie ansprechen soll. Es findet eine Spaltung statt zwischen Individuum und Person. Die Situation ist aufgeladen mit widerstreitenden Interessen: Verlangen nach Zuneigung und Rückzug, sachliches Interesse und Desinteresse, Engagement und Gleichgültigkeit, Unbeschwertheit und Traurigkeit. Da das Verständnis zwischen Individuen aufgrund der pädagogischen Situation schwierig ist – in der Regel werden Personen und Situationen adressiert und nicht Individuen mit ihren Bedürfnissen und Interessen –, wächst die Gefahr der Verletzung – zumal die Empfindlichkeit entwicklungsbedingt eine hohe ist; rasch kann sich die Erfahrung der Schule verfinstern und keine Hoffnung mehr empfunden werden. Auch die Sprache erscheint dann als leeres Ritual, als herdenhafter17, aber inhaltlich und seelisch korrumpierender Zeichengebrauch. 17 | Es ist klar, dass Barthes, wenn er vom Herdenhaften des Zeichengebrauchs spricht, nicht unbedingt voraussetzt, dass dies auch von den Beteiligten wahrgenommen wird. Es geht ihm darum, die latent stets wirksame Macht der kondensierten sprachlichen Form bewusst zu machen. Das Zeichen lebt sozusagen von der Selbstverständlichkeit seiner Wiederholung und prägt so dem Subjekt seine Herrschaft ein. Allerdings ist auch nicht ausgeschlossen, dass in psychisch schwierigen Situationen gerade die Form der Sprache, mit der jemand ständig konfrontiert ist, zumindest ansatzweise, als Verkörpe-
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Adorno gebraucht in seinen Schriften, wenn es um Erziehung und Schule geht, nicht selten das Wort des Schreckens, um die Entfremdung durch die pädagogische Situation zu verdeutlichen; für die meisten Kinder ist die Schule das erste tiefgreifende Entfremdungserlebnis. Die Gesellschaft beginnt sich in den Körper des Kindes einzugraben; sie nimmt ihm seine Zeit und macht deutlich, dass nur der weiterkommt, der den allgemeinen Erwartungen entspricht. Sensible Kinder verzweifeln daran, finden keinen Trost. Horkheimer und Adorno vergleichen in dem Fragment Zur Genese der Dummheit aus der Dialektik der Auf klärung die geistige Entwicklung bildhaft mit der Funktion, die das Fühlhorn für die Schnecke hat: »Das Wahrzeichen der Intelligenz ist das Fühlhorn der Schnecke ›mit dem tastenden Gesicht‹, mit dem sie, wenn man Mephistopheles glauben darf, auch riecht. Das Fühlhorn wird vor dem Hindernis sogleich in die schützende Hut des Körpers zurückgezogen, es wird mit dem Ganzen wieder eins und wagt als Selbständiges erst zaghaft wieder sich hervor. Wenn die Gefahr noch da ist, verschwindet es aufs neue, und der Abstand bis zur Wiederholung des Versuchs vergrößert sich. Das geistige Leben ist in den Anfängen unendlich zart. Der Sinn der Schnecke ist auf den Muskel angewiesen, und Muskeln werden schlaff mit der Beeinträchtigung ihres Spiels. Den Körper lähmt die physische Verletzung, den Geist der Schrecken. Beides ist im Ursprung gar nicht zu trennen.« (Adorno/Horkheimer 1988, S. 274)
Der Text von Adorno Horkheimer vermeidet die Verengung der geistigen Erfahrung des Kindes auf soziale und/oder sprachliche Faktoren. Hier geht es nicht um etwas, das man rasch an die Soziologie, Sprachwissenschaft oder Pädagogik delegieren könnte. Was interessiert, ist vielmehr das Miteinander von Geist und Körper. Die Metapher des Fühlhorns macht sinnfällig, wie die Verletzung des Geistes zugleich eine Art Traurigkeit des Körpers nach sich zieht und wie umgekehrt die Verletzung des Körpers die geistigen Möglichkeiten verkümmern lässt. Die Sinnlichkeit des Denkens und der Bewegung sind eins. Insofern kann die Erfahrung der Entfremdung, wenn es sich dabei überhaupt um eine Erfahrung handelt, nur im geistigen und körperlichen Leben zugleich gesehen werden. Die Sprache findet ihre Verkörperung als Spur (des Schmerzes) im geistkörperlichen Subjekt. Die Empfindlichkeit des erwachenden Geistes ist nicht etwas, das sich innerhalb einer wie auch immer gedachten kognitiv-sprachlichen Domäne beschreiben lässt; vielmehr ist jener durch ihr Angewiesen-Sein auf die Sinne immer schon ein körperliches Moment eingeschrieben.
rung des Problems wahrgenommen wird. Dies macht die Lage noch schwieriger, da das Medium der Konfliktlösung immer schon das Medium der Generierung des Konflikts ist.
VI. Freiheit und Zwang
Freiheit und Zwang, individuelle und machtförmige Sprache – diese Aspekte sind nicht voneinander zu trennen, wenn über das Gelingen und gleichzeitige Misslingen von Erziehung nachgedacht wird. Das Kind als Mängelwesen ist auf Fürsorge und eben Erziehung angewiesen, weil es (vorgeblich) nur zu sich kommt, wenn es ein anderes wird. Zugleich spielt Macht, insbesondere als conditio sine qua non von Sprachlichkeit, stets eine Rolle. Der Andere ist mir nur durch die Sprache zugänglich, aber die Sprache ist immer schon die Sprache des/der A/anderen. Adorno/Horkheimer wollen in ihrem Fragment, das den Titel Genese der Dummheit trägt, jene, die Dummheit nämlich, als Folge einer Verletzung beschreiben, welche die Sinne und damit den Geist-Körper verwüstet hat. Wenn hier ein Zusammenhang zur Machtförmigkeit der Sprache hergestellt wird, dann soll damit nicht einer fatalen und zerstörerischen Entfremdung, welche durch die Sprache dem Kind eingepflanzt wird, das Wort geredet werden. Umgekehrt wäre es aber auch falsch, in der Sprache nur ein Kommunikationsmittel oder – neuhumanistisch – das Mittel zur Versöhnung von Mensch und Welt zu sehen. Wenn in der Sprache immer schon andere sprechen, dann bedeutet dies, dass das, was verbindet, zugleich trennt. Die universelle Erfahrung der Sprache ist die der Bezugnahme durch Entzweiung. Und in dieser Hinsicht ist in der Sprache die Möglichkeit der geistkörperlichen Verkümmerung des Subjekts, seiner endlosen Traurigkeit angelegt. Eben deshalb ist ja in pädagogischen Dingen eine höchste Behutsamkeit der Sprache notwendig. Umgekehrt sind Sprachszenarien denkbar, welche gerade die Eigengesetzlichkeit der Sprache als rätselhaft-beglückend erscheinen lassen (z.B. als Erfahrung der Literatur). Vor dem Hintergrund einer irreversiblen Differenz zwischen Sprache, Subjekt und Welt, die zudem machtförmig vermittelt ist, ist gegenüber einem Professionalisierungsdiskurs, der suggeriert, dass man, ausgerüstet mit dem richtigen Wissen, mit allem zurechtkommen wird (vgl. Wimmer 2006, S. 303), Skepsis angeraten.18 In das Wissen ist unter Umständen selbst diejenige Problematik eingelagert, die durch das Wissen bearbeitet werden soll. Beispielsweise kann von notwendiger Differenzierung im Unterricht die Rede sein und zugleich ein Diskurs der Ungleichheit sich Bahn brechen (vgl. Wrana 2014). Ferner kann das sogenannte professionelle Wissen die Wahrnehmung von Situationen eher behindern als fördern, was Deprofessionalisierung als einzigen Ausweg notwendig macht. Die paradoxe Beziehung von Freiheit und Zwang zeigt sich auch hier, denn der Rückgriff auf professionelles Wissen geschieht ja, um die pädagogischen Intentionen, ungeachtet dessen, was nicht gewusst 18 | Wie bereits an anderer Stelle angedeutet, wird das Bewusstsein von der Fragwürdigkeit dieser Prämisse gerne in die Erwartung der Flexibilität von Seiten der Lehrenden gekleidet. Man weiß, dass das Wissen eben doch nicht ausreicht und behilft sich mit einer mehr oder minder diffusen Theorie-Praxis-Differenz.
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werden kann, durchzusetzen. Zu denken wäre z.B. an bestimmte, vielleicht sogar eingeübte Formen des vermittelnden Gesprächs bei Konflikten. Die Form suggeriert eine symmetrische und sachbezogene Interaktion; gleichwohl setzt sich nicht selten der durch, der über mehr Macht verfügt. Daniel Wrana benutzt zur Bezeichnung der Überdeterminiertheit des Pädagogischen den Begriff des Wissensfeldes und meint damit das gesamte Ensemble an differenten, zum Teil widerstreitenden Diskursformen, welche z.B. das schulische Feld prägen. Ein Wissensfeld kann aufgrund seiner Differenzen und permanenten Verschiebungen Handeln nicht orientieren; ja, es kann weder repräsentiert noch artikuliert (vgl. Wrana 2014, S. 182) und folglich auch nicht gewusst werden. Die Äußerlichkeit zahlreicher Elemente des Wissensfeldes, z.B. die Materialität der Texte oder die Architektur der Bauwerke, bewirkt, dass Wissen nur in konkreten, singulären Situationen erworben werden kann, die außerdem nicht eindeutig zu sein brauchen. Das Eintreten in ein Wissensfeld verbindet sich folglich nicht umstandslos mit Absichten, Zielen, Interessen welcher Art auch immer. Der Referendar, von dem Eigenwald spricht (vgl. oben, Kapitel I), erfährt dies auf durchaus leidvolle Art und Weise. Funktionales Wissen, etwa als ›Handlungswissen‹, das die theoretisch-empirische Fachdidaktik ›zur Verfügung stellt‹, kann, so gesehen, nur unterkomplex sein. Zu viel wird herausgerechnet, damit verlässliche Ergebnisse erzielt werden können. Letztlich verdecken die methodischen Idealisierungen das Wissen-Macht-Problem (vgl. Thompson 2014, S. 17).19 So können Ergebnisse empirischer Studien verwendet werden, um den Druck im Bildungssystem permanent zu erhöhen. Das erarbeitete Wissen ist blind für seine Instrumentalisierung. Mit Adorno/Horkheimer (1988, S. 10) gesprochen: »Das Wissen, das Macht ist, kennt keine Schranken, weder in der Versklavung der Kreatur noch in der Willfährigkeit gegen die Herren der Welt.« Es scheint so, also ob die fatale Koalition von neoliberaler Bildungspolitik, wirtschaftlichen Interessen und pädagogischer Gefügigkeit genau dafür ein Beispiel ist.20 Die Macht, die dem Wissen immer schon inhäriert, ist nichts, was von außen, gleichsam als böse Heimsuchung, das Wissen vergiftet. In der Figur der Identität von Denken und Sein liegt bereits der Zwang des Denkens, das sich das Sein unterwirft, begründet. Die metaphysische Illusion, dass das Wesen der Dinge sich im Denken entbirgt und dass die Dinge folglich in der Gewalt des Denkens erst erscheinen können, macht den Begriff des Wissens als vermeintliche Versöhnung von Sprache, Welt und Subjekt überhaupt erst 19 | Vgl. auch die Studie Die Kamera und der Dritte (Reh 2014), in welcher die Beobachtungsgebundenheit und Medialität der Forschungssituation gerade kognitiv produktiv gemacht wird, anstatt als ›Reaktivität‹ permanent herausgerechnet zu werden. 20 | Zu einem »Subordinationsverhältnis zwischen Politik und Pädagogik« siehe auch Wimmer (2006, S. 27).
VI. Freiheit und Zwang
möglich. Oder mit anderen Worten: Der Begriff des Wissens, auf den die Literaturdidaktik glaubt, nicht verzichten zu können, weil er gleichsam die Steuerbarkeit literarischen Verstehens verspricht 21, ist ein jüngerer Nachfolger der abendländischen Metaphysik; er transportiert nolens volens die Vorstellungen von Geschlossenheit und vollständiger Präsenz.22 Derrida (1974, S. 23) stellt eine überraschende Beziehung zur Geschichte her: »Die Geschichte und das Wissen, historia und episteme waren schon immer – nicht nur von der Etymologie und der Philosophie her – als Umwege im Hinblick auf die Wiederaneignung der Präsenz bestimmt.« Obwohl die geschichtliche Zeit für das Subjekt grundsätzlich nicht greif bar ist, nur in Form von Spuren überhaupt wahrnehmbar, verspricht die historische Narration nach Derrida die Aneignung der Zeit als Wissen. Während das pädagogische Handeln auf eine stets unbekannte Zukunft ausgerichtet ist – Luhmann (2002, S. 190) spricht von den »gütigen Schleiern der Zukunft«, die unklar lassen, ob die Ansprüche, die im Erziehungssystem formuliert wurden, eingelöst werden können –, zielt der historische Diskurs auf ein Damals und Dort im Jetzt und Hier. In beiden Fällen entsteht der Effekt einer zeitlosen Zeitlichkeit, die Vor- und Rückgriffe scheinbar verlustfrei möglich macht.23 Doch die Verzweigungen des Wissens sind Anzeichen dafür, dass von Wissen nur um den Preis von Grenzziehungen die Rede sein kann. Das Denken selbst zieht die Grenze ein24, operiert dann aber im diesseitigen Sektor (vgl. Wimmer 2006, S. 306), so dass die Frage nach dem Ausgeschlossenen sich stets aufs Neue stellt. Die Grenzziehung ist eine Frage der Macht. So konnte z.B. Foucault zeigen, dass die Vernunft sich nur etablieren konnte, indem sie ihr anderes, den Wahnsinn, ausgeschlossen hat (vgl. Foucault 1973). Indem die Aufklärung den vernünftigen Menschen erfindet, muss sie den Unvernünftigen gleich miterfinden, was auch die Legitimation, diesen wegzusperren und obskuren Behandlungen zu unterziehen, mit einschließt. Der Sprache der Ver21 | Siehe Steinbrenner (2004): »Wer weiß, braucht nicht mehr zu verstehen«; zur Rolle des Wissensbegriffs in der Literaturdidaktik vgl. exemplarisch Pieper/Wieser (Hg. 2012), ein Band, der auf die Diskussion des Zusammenhangs von Wissen und Macht tunlichst verzichtet; es dominiert ganz die funktionale Perspektive. 22 | Derrida (1986, S. 175) bezeichnet die Vorstellung, dass das Wissen gerundet und in sich kohärent sein könnte, als ideologisch, setzt dieses Wort jedoch in Anführungszeichen, um zu verdeutlichen, dass hier eine eigene Genealogie zu erhellen wäre. 23 | Zu den Vorgriffen siehe nochmals Derrida (1974, S. 15): »Der Vorgriff auf die Zukunft ist nur in Gestalt der absoluten Gefahr möglich.« 24 | Parmenides (2014, S. 17) benutzt die Metapher des Balls, um deutlich zu machen, wie sich die Grenze um die Sache selbst schließt. So erscheint die Begrenzung nicht als Abgrenzung oder Unterscheidung von etwas, sondern als das natürliche Ende der Sache.
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nunft kann ein Zwang eignen, der an die Sprache der Unvernunft erinnert. Die Vernunft ist nicht einfach da und man kann an ihr partizipieren, sondern man wird dazu angehalten, die Dinge vernünftig zu sehen – und das kann ganz und gar unvernünftig sein. Die Gesellschaft der Gegenwart, häufig adressiert als Wissensgesellschaft, bezieht sich, so erscheint es dem Beobachter zuweilen, in geradezu hysterischer Weise auf den Wissensbegriff. Der Diskurs, welcher die Bedeutung des Wissens durch rituelle Wiederholung unterstreicht und somit seine eigene Legitimität sichert, ist derjenige der Globalisierung (vgl. auch Wimmer 2014, S. 77). Wissen wird nunmehr mit der Fähigkeit zu überleben in Zusammenhang gebracht. Und gerade das führt zu Ausschlussprozeduren.25 Die Rede vom Überleben durch Wissen produziert massenhaft Individuen, die gemäß der Logik des Diskurses in der globalisierten Welt nicht überleben werden. Die Grenzziehungen, die Wissen überhaupt möglich machen, werden selten thematisiert. Ein anderes Thema sind die Wirkungen angewandten Wissens. Man spricht zum Beispiel von der Notwendigkeit interkultureller Kompetenz und verschweigt, dass das Nützlich-Machen des Wissens über Kultur(en) sich sehr wohl verbinden kann mit ökonomischen, politischen und eben auch pädagogischen Strategien der Macht. Genauso wie die gern geforderte Fähigkeit zur Empathie im negativen Falle genutzt werden kann, um anderen gezielt zu schaden.26 Michael Wimmer sieht im Wissen, das sich durch Begrenzung seine Identität sichern will, aber vom ausgeschlossenen Anderen immer wieder heimgesucht wird, eine unabschließbare autodekonstruktive Bewegung am Werk: Je mehr man weiß, desto weniger weiß man. Dies betrifft sowohl die theoretische wie die operative und Handlungsebene: »Je klarer die Distinktionen des Wissens werden, desto diffuser sein Gehalt, je bestimmter seine Aussagen sind, desto unbestimmter seine Bedeutung, je notwendiger es erforderlich ist, desto weniger nützlich sind seine Ergebnisse, je klarer seine Berechnungen erscheinen, desto unberechenbarer sind seine Wirkungen, je mehr es zu Kontroll- und Steuerungszwecken implementiert wird, desto unkontrollierbarer werden die derart selbstgesteuerten Prozesse.« (Wimmer 2006, S. 344)
25 | Siehe im Kontext des Kompetenzdiskurses Gruschka (2011, S. 49): »Für die Zurückgebliebenen wird das Kompetenzmodell faktisch zum Inkompetenzmodell, oder: ›Friss oder stirb!‹« 26 | Eindrücklich zeigt das der Beginn des Films Inglourious Bastards von Quentin Tarantino. Der SS-Mann ist bei seinem mörderischen Geschäft erfolgreich, weil er versucht, die Einheimischen sowie die jüdische Kultur in Frankreich von innen her zu verstehen. Er spricht denn auch als konziliante Bestie.
VI. Freiheit und Zwang
Die gleichzeitige Notwendigkeit und Unmöglichkeit zuverlässigen und orientierenden Wissens in der Pädagogik verlangt, so steht zu vermuten, eine skeptisch-umsichtige, aber nicht zaghafte Einstellung zum Denken, Planen und Handeln im pädagogischen Wissensfeld. Zeitlichkeit und Performativität der Prozesse sind entscheidend; man wird sehen, was bei diesem und jenem herauskommt.27 (Und vielleicht sieht man es auch nicht!) Wie schon eingangs angedeutet, ist das pädagogische Subjekt nur als unbestimmtes vorstellbar. Es soll deshalb im Folgenden auch nicht mehr vom Subjekt, sondern vom Anderen gesprochen werden (vgl. dazu auch Gößling 1995). Mit dem Anderen ist die Stelle des Nichtwissens im Pädagogischen markiert (Wimmer 2006, S. 70). Anders als das Subjekt, welches ein Medium ist, in das bestimmende Formen eingezeichnet werden können (das sich einer Logik der Identität unterwirft), ist der Andere in seiner Andersheit, die nichts anderes ist als ein unauflösbares Moment der Differenz, unverfügbar. Dieses Unverfügbar-Sein ist nicht (nur) statisch zu denken, etwa als Differenz zweier Elemente A und B, sondern es ist zugleich ein Effekt der performativen Differenz, welche die Erreichbarkeit des Anderen stets aufschiebt bzw. verzeitlicht und verräumlicht (vgl. dazu auch Zirfas 2001, S. 58). Pädagogik kann also über ihre eigenen Wirkungen nicht verfügen und je stärker der Glaube an Steuerbarkeit ausgebildet ist, desto sicherer ist der Misserfolg ihrer Bestrebungen.28 Die Andersheit des Anderen zu respektieren, hieße hingegen, einen behutsamen, verschiedene Perspektiven ausprobierenden Umgang zu pflegen und stets dasjenige, was nicht verstehend eingeholt werden kann, zu respektieren. Destruktiv wären zu frühe und zu allgemeine Schlussfolgerungen aus dem Umgang mit dem Anderen.29 Denn stets entzieht sich etwas am Anderen, al27 | Rancière (2009, S. 128) schreibt pointiert, »dass Wissen an sich nichts und Machen alles ist.« 28 | Wimmer (2014, S. 296) sieht in der Rede von der »Bildung des Humankapitals« eine »performative Wahnbildungspolitik«. Er schreibt: »Die Individuen werden mit der performativen Kraft einer über alle Medienkanäle verbreiteten Sprachmagie dazu aufgefordert, sich als Manager ihrer selbst zu begreifen, die sich selbst kontrollieren und steuern, die ihr Leben selbst in der Hand haben und für sich selbst, ihr Lernen, ihre Ausbildung, ihre Ressourcen, die Aktivierung und Optimierung ihrer Potentiale und die Wahrnehmung ihrer Chancen verantwortlich sind, aber eben auch für die nicht wahrgenommenen Chancen und Lernmöglichkeiten.« Vgl. hingegen im literaturdidaktischen Kontext die erstaunlich affirmative Position von Zabka (2011). 29 | Dies muss, gemäß Angehrn (2004, S. 122f.), der sich u.a. auf Schleiermacher bezieht, auch innerhalb der hermeneutischen Perspektive beachtet werden: »Das Nichtverstehen, das durch unser Anderssein und Anderswosein bedingt ist, wird sich niemals gänzlich auflösen. Die irreduzible Andersheit zwischen Ich und Du, Jetzt und Damals, wie die nie abtragbare Komplexität der Vermittlungswege machen das Verstehen zum
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lein schon, weil ihm selbst sich stets etwas entzieht. Wenn hingegen die Unverfügbarkeit des Anderen gedacht wird, sind … vielleicht … (kleine) Ereignisse möglich – jenseits dessen, von dem man weiß, dass es passieren wird. – Diese Überlegungen sind als sehr vorsichtig und insgesamt immer noch skeptisch zu verstehen. Die Position des Anderen – in ihrer Nicht-Gegebenheit – verhindert stets, dass ich im Vorhinein weiß, wie ihm gerecht zu werden wäre. Zugleich aber kann deswegen die pädagogische Situation nicht ›angehalten‹ werden. Man wird Handeln und dieses Handeln positiv begründen müssen; man wird gewissermaßen heimgesucht von einer Rationalität, die zugleich die Form der Täuschung ist.30 Dies jedoch, die durch die widerstreitenden Kräfte verursachte Spannung, kann wiederum zu einer Situation der Unentschiedenheit führen, der etwas eignet, das die Antwort des Anderen hörbar macht (vgl. Wimmer 2006, S. 359, S. 364). Es gibt allerdings keine Sprache, welche die Sicherheit in sich trägt, den Anderen verstehen zu können. Hamacher (1998, S. 44f.) spitzt dies, mit Bezug auf Adorno, zu und formuliert die paradoxe Einsicht, dass die Sprache, der es um ein Verständnis des Anderen zu tun ist, selber unverständlich sein muss. Die Unerreichbarkeit des Anderen in dessen nicht tilgbarer Andersheit ist durch Zeichen nicht aufzulösen. Eher eignen sich Bilder oder Rätsel, Schweigen oder Lachen, um eine Beziehung zum Anderen aufzubauen. Denn es gibt keine Sprache des Anderen, die nicht zugleich eine andere Sprache sein müsste. Letztlich und endlich ist gar nicht entscheidbar, wer überhaupt der Andere ist. »Zwischen der Repräsentation des Anderen, dem Anderen selbst und dem Zeichensystem als dem Anderen der Repräsentation verlaufen irreduzible Risse, die nicht mehr zu einer Identität vermittelbar sind.« (Wimmer 2006, S. 321) Nur innerhalb einer Logik der Identität, welche Sein und Denken gleichsam ohne Medium verschmelzt, kann der Andere durch mich erfasst werden. Die metaphysische Grundierung der Sprache, die mit dem Wort Sein selbst beginnt, erlaubt die Kolonialisierung des Anderen. So kann er, der Andere, ohne Zögern oder Fragen, aufgesucht werden – ermöglicht durch die grammaoffenen Prozess: Jeder Vermittlungsschritt, den wir zwischen uns und dem Anderen rekonstruieren, ist seinerseits in ein Bezugsnetz eingefügt, dessen Entzifferung ohne Abschluß bleibt.« – Derrida hätte dies als unabschließbare Arbeit der différance interpretiert. 30 | Für Luhmann (2002, S. 28ff., S. 38f.) ist in soziologischer Perspektive der Terminus Person maßgeblich für Interaktionen in pädagogischen Institutionen. Man weiß nicht, wer der Andere ist und konstruiert demzufolge dessen soziale Rolle, um in der Kommunikation irgendwo ansetzen zu können. Das hieße aber auch, dass der Andere stets verfehlt wird. Die Stabilität, die entsteht, wenn die Person konstruiert ist, könnte auch ein Motor der Ungerechtigkeit und Verletzung sein.
VI. Freiheit und Zwang
tische Täuschung der dritten Person Singular (Indikativ) von Sein, welche die Übereinstimmung von Sprache und Welt suggeriert. Die Betrachtung paradoxer Konstellationen im pädagogischen Diskurs kommt hier an ihr Ende. Ausgangspunkt war mit Adorno die Beobachtung, dass die Erziehung die gesellschaftlichen Widersprüche kennt und zugleich deren Überwindbarkeit voraussetzen muss. Die Positivität des pädagogischen Handelns geschieht im Zeichen der Negativität. Dieser Widerspruch bleibt jedoch nicht draußen, sondern kehrt als Gleichzeitigkeit von Freiheit und Zwang in die Institution zurück. Das Ziel, die Erziehung zur Mündigkeit, wird durch die angewendeten Mittel konterkariert. Das gipfelt in der Vorstellung, Erziehung müsste den Widerstand gegen sich selbst zum Ziel haben. Kleist schlägt daraus satirisches Potential, indem er eine Situation erfindet, in der die angestrebte Positivität der Erziehungsziele erst durch den Widerstand der Zöglinge erreicht wird. Die Komik entsteht dadurch, dass die unterdrückte Negativität in der Lehre plötzlich voll zum Zuge kommt und gerade dadurch – und nicht anders! – Positivität entsteht, wodurch sich allerdings die Katze in den Schwanz beißt. Der zweite Teil der Untersuchung brachte mit den Problemen des Wissens auch die Aporien des pädagogischen Subjektbegriffs ins Spiel. Die Unerreichbarkeit des Anderen – ungeachtet aller Didaktik, die den Anderen immer schon verplant hat – sowie die Ambivalenzen und Widersprüche des Wissens gerieten in den Blick. Die in den beiden Teilen vorgebrachten Begründungen sind durchaus unterschiedlich; sie gehen nicht ineinander auf. So werden die Paradoxien des Wissens ebenso wie die Inkommensurabilität des Anderen nicht direkt aus der pädagogischen Paradoxie von Freiheit und Zwang, Positivität und Negativität, entwickelt, vielmehr aus allgemeinen erkenntnistheoretischen Problemen, die mit diesen Begriffen verbunden sind. Die Betrachtung operiert auf unterschiedlichen Ebenen und bringt die Ergebnisse miteinander in Berührung. Zwischen der Betrachtung paradoxer Figuren des Pädagogischen und der kritischen Reflexion auf das Wissen und den Anderen liegt die Frage nach der Sprache, die es ermöglicht, sich auszudrücken, aber nicht ohne Rücksicht auf die strukturellen sprachlichen Zwänge und die Anforderungen des Diskurses. Der Lehrer spricht als solcher, der Schüler ebenso, und dennoch versuchen beide, ihre Individualität durch die entsprechenden diskursiven Regeln hindurch zu artikulieren. Naturgemäß fallen in einer Arbeit, die das Paradoxe gegen das Positive ins Feld führt, die Negativitäten besonders ins Gewicht. Doch es geht nicht um einen Kultus des Negativen. Erst dadurch, dass die Widersprüche in den Blick kommen, entstehen überhaupt erst Spielräume, wird die Geschlossenheit des Feldes aufgebrochen und Bewegung möglich. Ohne den Versuch, die Paradoxien der Sprache und des Wissens wahrzunehmen, wird sich auch kein Ort abzeichnen, an dem der Andere gehört werden kann. Das folgende Kapitel führt in diesem Sinne das über die philologischen und pädagogischen Paradoxien
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Gesagte zusammen, um das Paradoxe in der Literaturdidaktik wahrnehmbar zu machen. Zu diesem Zweck werden ausgewählte literaturdidaktische Texte einer genauen Betrachtung unterzogen.
VII. Literatur/Erziehung Paradoxien des literaturdidaktischen Diskurses
Literaturdidaktik – dies hat die bisherige Untersuchung ergeben – beerbet pädagogische und philologische Diskurse, die spezifische Paradoxien zu bewirtschaften haben. Texte sind lesbar und inszenieren zugleich ihre Unlesbarkeit (vgl. dazu auch, im Anschluss an Jacques Derrida, Menke 1991, S. 242). Erziehung will die Freisetzung des Individuums und kann dies nur um den Preis des Zwangs erreichen. Eine besondere Rolle spielt in beiden Diskursen, ob reflektiert oder unterdrückt, das Problem der Sprache. Die Erziehung muss darauf vertrauen können, dass der Andere via Sprache erreichbar ist, doch sie verfehlt, indem sie sich der sprachlichen Zeichen bedient, die Singularität des Anderen; Erziehung ist endlose Kritik der Sprache, endlose Suche nach der Spur des Anderen im Medium seiner Worte (die nicht nur seine Worte sind). Mit anderen Worten: Die Singularität des Anderen entsteht, wenn die Sprache der anderen ihn heimsucht (vgl. Derrida 2003). Die Philologie navigiert zwangsläufig zwischen Buchstäblichkeit und Misstrauen, da die Schrift als Form der unabschließbaren Verweisung am Ende keinen Sinn Preis preisgibt, sondern dessen Erschütterung wahrnehmbar macht; etwa indem Kleist Oppositionen aufhebt, welche die Erschließung der Welt im Medium der Sprache voraussetzt (in der Fabel ohne Moral: Mensch vs. Tier). Diese Zwischenergebnisse sind nicht unbestritten; es ist mit Einspruch zu rechnen. Ganz sicher hat der Verfasser sich die neuen und alten Gegner des Poststrukturalismus zum Feind gemacht, einerseits aus grundsätzlichen Erwägungen, andererseits, weil eine funktionale Berufslehre, die auf wissenschaftliche Fundierung dennoch nicht verzichten möchte, ein Denken der Differenz vermeintlich nicht gebrauchen kann.1 Dem lässt sich vorerst nur 1 | So warf dem Verf. ein bekannter Fachvertreter nach einem Vortrag, den er an der Universität zu Köln gehalten hat, halb verzweifelt, halb zornig den Satz entgegen: »Das [die Dekonstruktion, M. B.] passt einfach nicht zur Literaturdidaktik.« Es ging also auch hier um eine Frage der Grenze. Interessanter als die Frage, was passt, ist allerdings, ob
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entgegenhalten, dass in verschiedenen poststrukturalistischen Texten feine Beobachtungs- und Analysetechniken zur Untersuchung von Macht- und Geltungsansprüchen im Medium der Sprache entwickelt worden sind. Warum diese nicht nutzen? Warum z.B. nicht untersuchen, welche Folgen der nicht hinterfragte Rekurs auf einen bestimmten Begriff des Subjekts hat? Ein anderer Vorwurf könnte lauten, dass die für diese Studie entscheidende Annahme, die Widersprüche und Friktionen, die im Diskurs der Literaturdidaktik zu beobachten sind, gingen auf pädagogische und philologische Wissensfelder zurück, altmodisch und überholt ist. Zwar leisten aktuelle literaturdidaktische Handbücher noch pflichtschuldig kleine Tribute an die Literaturtheorie; anders als noch bei Helmers (1966/1997) oder Kreft (1979/1982) sind Beiträge zur Nachbardisziplin Pädagogik aber aus den Standardwerken verschwunden. Man überlegt, was und wie getestet und optimiert werden kann, interessiert sich aber nicht für diejenigen, welche dieser Prozedur unterworfen werden sollen. Der Output ist ein Werk aus Zahlen, die Unerreichbarkeit des Anderen wie ein Vorwand für dessen Konstruktion als Automat. Ist diese Blindheit sogar notwendig, macht sie den Diskurs erst möglich? Die Frage muss offen bleiben. Der Kritik, dass die philosophischen Fragestellungen der Allgemeinen Erziehungswissenschaft für eine moderne, empirisch forschende Literaturdidaktik nicht (mehr) taugen, kann man jedenfalls in zweifacher Weise antworten: Erstens ist der Mangel an Philosophie, d.h. an grundsätzlichem Nachdenken über Subjektivität, Sprache, Macht und Erziehung, hochgradig problematisch für eine Literaturdidaktik, die zunehmend misst, wovon sie keinen zureichenden Begriff mehr hat. Zweitens bleibt das Ineinander von Freiheit und Zwang, etwa in Gestalt des Widerspruchs von institutionell geformten ›gesellschaftlich handlungsfähigen Subjekten‹, konstitutiv für die Literaturdidaktik, zumal die real existierende, wie sie sich z.B. in den Publikationen von Didaktik Deutsch zeigt. Wenn auch nicht mehr explizit auf Klassiker der Pädagogik (um von Klassikern der Philosophie zu schweigen) Bezug genommen wird, so ist doch die Lehrbarkeitsdoktrin und die durch diese ermöglichte machtförmige Reproduktion des Wissens über Literatur ein Beweis für das Erbe pädagogischen Denkens in der Literaturdidaktik. Die Orientierung an kognitionspsychologischen Begriffen des Bewusstseins und der Sprache ermöglicht, so gesehen, nicht die Autonomisierung der Literaturdidaktik als eigenständige wissenschaftliche Disziplin, die vor allem empirisch forscht, sondern sie ist nur die aktuell herrschende kognitive und institutionelle Form aufgrund der paradoxen Struktur des Diskurses überhaupt etwas passen kann – wenn nicht eine Theorie, die genau das thematisiert. Weiter unten wird, wenigstens kurz, auf die etwas unglückliche Rezeption des Poststrukturalismus in der Literaturdidaktik zu blicken sein. Die meisten Adaptionen überzeugen genauso wenig wie die fachlich schwache Kritik.
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des Zwangs in der Theorie der Lehre der Literatur – allein schon, weil sie es erlaubt, das Wissen der Schüler zu messen (vergleichbar zu machen), damit danach, in Hinsicht auf die vorliegenden Befunde, der Druck in der Institution Schule erhöht werden kann. Das Anliegen dieser Untersuchung ist es, im Stile von Grundlagenforschung einige literaturdidaktische Grundbegriffe nach Möglichkeit komplexer zu formulieren, um zeigen zu können, warum jede neu ausgerufene Einheit des Faches nur vorläufig sein kann; die Einheit muss stets aufgeschoben werden, weil man weder mit den Texten noch mit der Erziehung zu Rande kommt. Eine besondere Rolle hat bisher naturgemäß die Frage nach der Sprache gespielt, die ihrerseits das Ineinander von Freiheit und Zwang wiederspiegelt. Die gesellschaftliche Macht fließt, wie Roland Barthes schreibt, via Diskurs in die Sprache und die Sprachmacht fließt, via Grammatik, in den Diskurs. Allein diese Spaltung als Einheit bewirkt, dass Sprache nicht ausschließlich als transparentes Medium rational interagierender Subjekte gedacht werden kann – auch wenn das Ringen um Klarheit und Verständigung alltäglich und unverzichtbar ist. Zweierlei Aspekte sind erarbeitet worden: Sprache als Schrift produziert einen ständigen Überschuss, den der Diskurs beschneidet, indem er regelt, wer was wo sagen darf. Die Literatur ist das Medium, in welchem dieser Überschuss in Form einer Freiheit zur Entfesselung der Zeichen restituiert werden kann. Um es nochmals mit de Saussure zu sagen: Die Literatur stärkt die Arbitrarität (auch eine paradoxe Formulierung) zu Ungunsten der Konventionalität. Während die Literatur versucht, die Freiheit im Zwang der Sprache zu entdecken, bauen die nicht-literarischen Diskurse auf der Reproduktion bekannter Formen auf, also auf der Wiederkehr des Zwangs in der Freiheit zur Artikulation. Niemand ist dort gewissermaßen freigestellt, um mit der Arbitrarität der Zeichen zu spielen. Die Wahrnehmung, Differenzierung und Problematisierung der Form bringt den Diskurs zum Stillstand – selbst wenn im Alltag jemand sagt: »Warum benutzt Du schon wieder dieses Wort?« ist der thematische Fluss gestoppt und etwas anderes beginnt. Sprache als Bild, das sich selbst noch einmal zeigt, und so dem Zwang zur Darstellung entrissen wird. Literatur als System der Zeichen und als dessen Irritation, forciert durch die Schrift, die man nicht mehr kontextuell festigen kann. Es ist in diesem Kapitel zu untersuchen, auf welchen Begriffen von Sprache, Literatur und Erziehung die Literaturdidaktik auf baut. In dem gegebenen Zusammenhang wird neuerlich auch die Frage nach dem Lesen zu stellen sein. Ferner soll an literaturdidaktischen Texten das Paradoxe ihres Diskurses aufgewiesen werden. Folgende Fragen stellen sich: Welche Sprachen kann man in der Literaturdidaktik beobachten und was sagen diese sprachlichen Differenzen über das epistemische Feld? An welchen Stellen wird das Paradoxe thematisiert, überschrieben, verdrängt, indirekt produktiv gemacht? Wie lassen sich die pädagogischen und philologischen Widersprüche als literatur-
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didaktische reformulieren? Welche Wirkungen zeitigt die epistemische Form der Paradoxie, d.h. das Miteinander und Gegeneinander der Wissensformen, z.B. wenn auf literaturtheoretische Diskurse Bezug genommen wird bzw. diese als Begründung für literaturdidaktische Modelle dienen? – Der Auftakt der Untersuchung besteht in einer didaktisch interessierten Lektüre von Kleists Text Über das Marionettentheater2 . Im Mittelpunkt steht der Zusammenhang von Literatur, Sprache und Erziehung in der Literatur. Die Lektüre pendelt zwischen dem literarischen Text auf der einen sowie literaturtheoretischen und literaturdidaktischen Texten auf der anderen Seite. Die Auseinandersetzung mit dem Marionettentheater kann in dem hier zu entfaltenden Zusammenhang nur eine sehr selektive sein. Stärker noch als in den vorhergehenden Kapiteln geht es um die Spiegelung literaturdidaktischer Fragen in ihrem eigenen Gegenstand. Es handelt sich also immerhin um eine Änderung der üblichen Laufrichtung. Während Didaktik ihr Wissen sonst eher durch Distanzierung vom Gegenstand gewinnt – es geht in der Regel darum, was mithilfe eines bestimmten Textes gelernt werden kann –, rückt hier die Frage in den Blick, was aus der Literatur für die Literaturdidaktik gelernt werden kann. Die Lektüre konzentriert sich auf den Schluss des Textes. Vorangestellt werden sollen nur einige Beobachtungen zu Eigenarten des Marionettentheaters. Zunächst: Bereits der Titel vermag zu irritieren. Denn der Leser erwartet wohl eher ein, wenn auch ironisch gewürztes, Traktat. Die monologische Form wird durch den Titel angekündigt und genau das Gegenteil tritt ein: die Schilderung einer Zwiesprache. Das Wort Schilderung ist jedoch ernst zu nehmen, denn der erste Teil wird in indirekter Rede wiedergegeben, unterbrochen und eingeleitet von kurzen Bemerkungen über äußere Umstände – u.a. erfährt der Leser, dass sich die Diskutanten an einem Winterabend (wenn auch in »M…« – Mailand?) in einem Park niederlassen. (Eine schöne Vorlage zur Inszenierung im Theater.) Ferner ist es bemerkenswert, dass der Tänzer, der insgesamt die Richtung von Thema und Gesprächsverlauf diktiert3, gerade als er auf die Ge2 | Kleist (1990, S. 555-563). Der Text ist in vier Teilen im Dezember 1810 in den von Kleist publizierten Berliner Abendblättern erschienen. Wegen des durchgehenden Wortwechsels ist der Text von Beda Allemann (1981/1982) als Gespräch und von Gerhard Kurz (ebd.) als Dialog bezeichnet worden. Die lange Geschichte der Interpretation als Schlüsseltext von Kleists Ästhetik und als implizite Kontrafaktur von Schillers Aufsatz Über naive und sentimentalische Dichtung wird hier nicht rekapituliert. 3 | Es geht also um den Versuch des Tänzers, der sich als der Experte in der zur Debatte stehenden Sache geriert, den Zuhörer zu überzeugen. Dem Marionettentheater ist ein persuasiv-performatives Moment eingeschrieben. Es spricht gleichsam die Verkörperung ästhetischer Kompetenz und das Ganze drängt auf eine überzeugende Schlusspointe. Damit stellt sich aber die Frage nach der Sprachmacht, die in der Lage ist, auf
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schichte des Sündenfalls verweist (Kleist 1990, S. 560), »eine Prise Tabak« konsumiert. Man tut also gut daran, vorsichtig zu sein. Ironie geht um in diesem Text und man könnte ihn vielleicht auch als Komödie ästhetischer und geschichtsphilosophischer Erkenntnis lesen. Komödie jedoch in einem durchaus modernen Sinne als Gattung, die der Polyphonie des Wortes eine Bühne gibt, das Einfache und das Schwierige ebenso mischt wie die Schwere des philosophischen Gedankens und die Leichtigkeit situativer Komik. Bekanntlich durchkreuzen sich im Marionettentheater zwei Themen. Die ästhetische Thematik kreist um die Frage, welche »Unordnungen, in der natürlichen Grazie des Menschen, das Bewußtsein anrichtet.« (Kleist 1990, S. 560) Wenn Grazie vollendete Form ist, dann sind die Marionetten, weder durch Schwerkraft noch durch Reflexion behindert, dem menschlichen Tänzer in gewisser Weise überlegen. So wird die idealistische Ästhetik, welche die gelungene Form als Verkörperung der schönen Seele begreift, karikiert. Die geschichtsphilosophische Frage, vielschichtig mit der ästhetischen verknüpft, lautet: Kann die Entfremdung des Menschen von der Natur und damit von sich selbst, die durch die Reflexion als Folge des Sündenfalls entstanden ist, an irgendeinem Ende, von dem nicht klar ist, ob es zugleich der Anfang von etwas sein kann, überwunden werden? Die Themen werden am Ende verbunden: Die Grazie kann nur in »demjenigen menschlichen Körperbau am Reinsten« erscheinen, der »entweder gar keins, oder ein unendliches Bewußtsein hat, d.h. in dem Gliedermann, oder in dem Gott.« (Kleist 1990, S. 563) Auch diese Schlussfolgerung wird von dem Tänzer getroffen. Die letzten Sätze locken den Leser in Richtung Übereinstimmung mit dem Gedankengang des Tänzers: »Mithin, sagte ich ein wenig zerstreut, müßten wir wieder von dem Baum der Erkenntnis essen, um in den Stand der Unschuld zurückzufallen? Allerdings antwortete er; das ist das letzte Kapitel von der Geschichte der Welt.« (Kleist 1990, S. 563)
Der pseudorationale Charakter der Schlusspassage hat verblüffend wenige Interpreten irritiert (vgl. Beil 2009). Der Tänzer, dem die Frage des Erzählers auffällig zu pass kommt, nimmt dankbar die Rolle des erfolgreich Lehrenden an und sieht sein einfaches geschichtsphilosophisches Modell bestätigt. Wer sich als Leser ganz darauf einlässt, wird Teil von Kleists erkenntniskritischer Komödie. Die Versuchung ist groß, denn rasch stellt sich transzendentale die gewünschte Schlussfolgerung hinzuwirken. Paul de Man (1988, S. 211) schreibt: »Wenn ein Prozeß der Überzeugung zu einer Szene der Überzeugung werden muß, dann ist man nicht mehr überzeugt von seinem Überzeugungscharakter.« Die Rede vom Gespräch oder Dialog verfehlt also sowohl den ironisch-doppelbödigen als auch den Machtaspekt der keineswegs gleichberechtigten Gesprächspartner. Einmal mehr erweist sich das ›Gespräch‹ als Falle.
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Überforderung ein, die durch einen schlüssigen Ausweg aufgelöst werden will. Der Leser vergisst all die humoristischen Brechungen und ironischen Doppelbödigkeiten und will nur noch heraus aus dem Labyrinth der großen Begriffe. Es gibt drei Oppositionen, die einander wie in einem Spiel auswechseln und gegenseitig aufrufen: Schuld und Unschuld, Grazie und Mangel, reine Materie und unendliches Bewusstsein. Ästhetische, philosophische und ethische Erkenntnis verweisen aufeinander. Der Ausweg ist nur vorgetäuscht in teleologischer Form. Das lässt sich z.B. an der letzten Opposition sehen. Die reine Materie wäre nichts anderes als der totale Signifikant, auf nichts verweisend als auf sich selbst. Das unendliche Bewusstsein hingegen käme am Ende dem reinen Signifikat gleich, das im Stande wäre, alle zeichenhafte Vermittlung aufzulösen. Doch die Sprache, an die das Bewusstsein nun einmal gekettet ist, erreicht unendliche Ausdehnung nur über die Endlichkeit ihrer Formen. Zwischen Signifikant und Signifikat nistet sich der Riss, das Zögern, die Reflexion ein. Die Opposition reine Materie vs. unendliches Bewusstsein reklamiert eine Klarheit, die im transzendentalen, von jeder différance verschonten Himmel existiert, aber nicht auf der Erde. Deswegen ist die Opposition selbst durch die rhetorische Energie eines ihrer Glieder verschoben: Die Marionette kann gar nicht das positive Element einer distinkten Opposition sein, weil sie selbst nur ein hochgradig interpretationsbedürftiges Bild ist. Gott und Marionette lachen sich letztlich gegenseitig aus. Kleist karikiert die Art und Weise, wie Oppositionen unser Denken organisieren, indem er diese ironisch verschiebt und vervielfacht, so dass ein unendlicher Wirbel von Deutungen und Erklärungen ansetzt. Nicht zufällig scheiden sich an dieser Stelle die Geister der Interpreten. Während konservative Deutungen der Rede des Erzählers und des Tänzers trauen und deren geschichtsphilosophische Substanz herausstellen, insistieren (post-)moderne Stimmen auf der Unangepasstheit des Textes an sich selbst. Die folgenden Zitate verdeutlichen dies: »Daß innerhalb der historisch gegebenen Gesellschaft das Paradies zu verwirklichen sei, behauptet der Essay Über das Marionettentheater nirgendwo; es handelt sich um eine utopische Vorstellung, der nachzustreben der Aufsatz gleichwohl ermuntern möchte.« (Müller-Salget 1990, S. 1139) »Die Rätselhaftigkeit des Kleist’schen Textes verdankt sich zu keinem geringen Teil einer extrem verkürzenden, asymptotischen Rekombination von Begriffen, Motiven und Gedanken aus verschiedenen Werken Schillers, wodurch gerade nicht die Verbindung zum Vorgänger betont wird, sondern die Differenz. Nicht nur die Grazie wird einem solchen Ent-Stellungsprozess unterworfen, auch die idealistisch-romantischen Motive vom Bewusstsein als einer Konsequenz des Sündenfalls und von der Rückkehr ins Paradies.« (Beil 2009, S. 154)
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Was Beil als Ent-Stellung bezeichnet, lässt sich auch als Spiel begreifen. Kleist überträgt die geschichtsphilosophischen Begriffe auf das Bild der Marionette; er reliterarisiert den philosophischen Diskurs, schreibt folglich die rhetorische Energie der literarischen Sprache wieder ein in die großen Erzählungen der Geschichtsphilosophie. Die kalkuliert Unangepasstheit des Bildes bewirkt dabei einerseits eine komische Verzerrung des Diskurses, bringt aber andererseits die leitenden Oppositionen wie Inhalt und Form wieder ins ironische Spiel, in welchem diese zugleich auftreten und gegen sich selbst agieren. Davon profitiert v.a. die formale Seite der Sprache. Am Ende des Marionettentheaters lässt Kleist zwei Erzählungen erscheinen, die vollständig in wörtlicher Rede wiedergegeben werden. Es handelt sich um lehrreiche Exempel; Texte, die anschaulich machen sollen, was jemand zu verstehen hat. Mit Barthes könnte man auch sagen, dass hier ein didaktischer Diskurs in die Sprache strömt, und zwar indem der Andere durch ein vorweg genommenes Verstehen kolonialisiert wird. Die vorliegende didaktisch interessierte Lektüre schließt hier an; sie nimmt jedoch keineswegs in Anspruch, diesen Teil des Textes von Kleist besser zu deuten als die zahlreichen Vorgänger.4 Wer den Schluss des Marionettentheaters aufmerksam liest, macht zunächst die Erfahrung des Bruchs der Geschichte. Es entstehen Übertragungsprobleme. Wie sind die intradiegetischen Erzählungen des Erzählers und des Tänzers auf die vorher diskutierten Probleme zu beziehen? Wie lässt sich überhaupt der narrative Bruch vom Dialog, den der Tänzer dominiert, zur Geschichte, die der Erzähler beisteuert, erklären? Welchen Sinn ergibt die groteske Erzählung des Tänzers, die daran anschließt? Kleist provoziert den Leser, indem er die angeblich exemplarische Bedeutung der beiden Erzählungen durch Bildhaftigkeit und Verfremdung so weit vom vorhergehenden Wortwechsel entrückt, dass der Leser gar nicht anders zu können scheint, als das tertium comparationis zwischen den Segmenten zu suchen und so die Differenz zu tilgen. Es liegt nicht fern, daran zu denken, dass hier ein Spiel mit dem Leser getrieben wird und zwar insofern, als der Text die Mechanismen der Konstruktion von Bedeutung offenlegt und überspitzt. Der Leser muss sich zu weit von den intradiegetischen Erzählungen entfernen, um ihre Verständlichkeit im Rahmen der Geschichte zu bewahren. Die Bilder wollen gewissermaßen nicht in Bedeutung übergehen. Der Text des Erzählers berichtet von einem Badeerlebnis mit einem jungen Mann, der spielerisch die berühmte Plastik des Dornausziehers nachahmt und dafür vom Erzähler gerügt wird: »er sähe wohl Geister!« (Kleist 1990, S. 561) 4 | Paul de Man (1988, S. 213) formuliert die Folge der von Kleist aufgestellten Interpretationsfallen wie folgt: »Jeder dieser Essays (auch der schlechteste unter ihnen) ist nur so lange überzeugend, bis man den nächsten gelesen hat, der genauso überzeugend, aber mit seinem Vorgänger ganz und gar inkompatibel ist.«
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Beim Versuch, durch Wiederholung die Szene plausibel zu machen, wird alles noch schlimmer, was angeblich eine verheerende Entwicklung auf die Entwicklung der Identität des jungen Mannes hat: »Eine unsichtbare und unbegreifliche Gewalt schien sich, wie ein eisernes Netz, um das freie Spiel seiner Gebärden zu legen, und als ein Jahr verflossen war, war keine Spur mehr von der Lieblichkeit in ihm zu entdecken, die die Augen der Menschen sonst, die ihn umringten, ergötzt hatte.« (Ebd.) Die Erzählung des Tänzers berichtet von einer Reise nach Liefland, während der er, zu Gast auf einem Landgut, die Bekanntschaft eines fechtenden Bären macht, der jeden seiner Stöße und Finten antizipiert: »Aug‹ in Auge, als ob er meine Seele darin lesen könnte, stand er, die Tatze schlagfertig erhoben, und wenn meine Stöße nicht ernsthaft gemeint waren, so rührte er sich nicht.« (Kleist 1990, S. 562) Der Text autorisiert die Geschichten selbst. Zunächst leitet der Erzähler seinen Exkurs ein: »Ich sagte, daß ich gar wohl wüßte, welche Unordnungen, in der natürlichen Grazie des Menschen, das Bewußtsein anrichtet. Ein junger Mann von meiner Bekanntschaft hätte, durch eine bloße Bemerkung, gleichsam vor meinen Augen, seine Unschuld verloren, und das Paradies derselben, trotz aller ersinnlichen Bemühungen, nachher niemals wieder gefunden. – Doch, welche Folgerungen, setzte ich hinzu, können sie daraus ziehen?« (Kleist 1990, S. 560)
Der Erzähler reklamiert also die Übertragbarkeit und exemplarische Bedeutung der Geschichte, indem er diese als beispielhaft für das Thema ›Verlust der Grazie durch Reflexion‹ ausgibt. Doch die Stelle scheint vermint. Zu deutlich dient sich der Erzähler dem Diskurs des Tänzers an. Der Leser gewinnt fast den Eindruck, als sei es dem Tänzer gelungen, den Erzähler zum Sprechen zu bringen – und zwar auf eine Weise, die ihn, den Tänzer, bestärkt. Als ob der Erzähler mit der Stimme des Tänzers verschmelzen wollte. Sieht er sich zur Affirmation gedrängt? Ist die vorgebliche Macht des Subjekts in Wirklichkeit Ausweis eines Subjekts der Macht? Irritierend ist ferner das Artifizielle dieser klassizistisch anmutenden Szene. Der Effekt entsteht u.a. dadurch, dass Kleist Schillers Vokabular in unangemessener Weise in die Schilderung mit einbezieht. Etwa hier: »Ich badete mich, erzählte ich, vor etwa drei Jahren, mit einem jungen Mann, über dessen Bildung damals eine wunderbare Anmut verbreitet war.« (Ebd.) Das Ganze kombiniert Kleist lustvoll mit einem erotischen Subtext: Der Verlust der Unschuld beim gemeinsamen Bad lässt an Homosexualität denken – ebenso wie
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die Verwandlung des jungen Manns nach diesem Erlebnis.5 Es stellt sich plötzlich die Frage, wie die Grazie – hier selbst via Erinnerung durch das Bewusstsein vermittelt – vom Begehren frei gehalten werden kann. Neu hinzu kommt auch die Problematik des Verhältnisses von Anmut und Wiederholung. Durch die Versuche der Wiederholung des Anmutigen wird dieses zum Zeichen, löst sich immer mehr vom Bezeichnungsvorgang in seiner Authentizität und Performativität ab. Das Zeichen schließt am Ende das denkende und handelnde Subjekt aus. Während Grazie als Moment vollkommener Selbstidentität die différance jeder Wiederholung nicht kennt, thematisiert die Erzählung vom Badeerlebnis des jungen Mannes die entfremdende Potenz alles Sprachlichen. Das Begehren geht dahin, Herr des Zeichens zu sein, aber das Zeichen emanzipiert sich im Moment seiner Wiederholung als Form. Das Subjekt spricht nicht mehr seine Sprache, sondern beginnt, von einer Sprache gesprochen zu werden, die auch anderen gehört. Die Selbstautorisierung des Textes bildet nicht nur den Anfang, sondern auch das Ende der intradiegetischen Geschichte des Erzählers: »Noch jetzt lebt jemand, der ein Zeuge jenes sonderbaren und unglücklichen Vorfalls war, und ihn, Wort für Wort, wie ich ihn erzählt, bestätigen könnte.« – (Kleist 1990, S. 561) Die Komik dieser Einlassung ist evident. Wer könnte, zumal keine dritte Person anwesend war und das Ganze an die Perspektive des Erzählers gebunden ist (z.B. in der Form des Gedankenberichts), diese Geschichte genau so vortragen, wenn nicht der Erzähler selbst? Die folgende Geschichte vom fechtenden Bären, wiedergegeben durch den Tänzer, autorisiert sich ebenfalls selbst, einmal einleitend, einmal ausleitend: »Bei dieser Gelegenheit, sagte Herr C… freundlich, muß ich Ihnen eine andere Geschichte erzählen, von der Sie leicht begreifen werden, wie sie hierher gehört.« (Kleist 1990, S. 561) Die verallgemeinernde Schlussfolgerung lautet: »Wir sehen, daß in dem Maße, als, in der organischen Welt, die Reflexion dunkler und schwächer wird, die Grazie darin immer strahlender und herrschender hervortritt.« (Ebd., S. 563) Doch das verwendete Bild ist ironisch gebrochen und fordert den Leser zu einer entsprechenden Lektüre auf, denn der Bär wird in anthropomorpher Art und Weise dargestellt. Er steht, zur Überraschung des Lesers, auf den beiden Hinterbeinen »mit dem Rücken an einen Pfahl gelehnt, an welchem er angeschlossen war, die rechte Tatze schlagfertig erhoben, und
5 | Paul de Man (1988, S. 220) verzichtet zumindest vordergründig auf die Thematisierung dieses Aspekts und sieht im Verhalten des jungen Mannes den Ausdruck eines Begehrens nach Anerkennung: »Anmut – das geht aus dem Text deutlich genug hervor – ist kein Zweck an sich, sondern ein Mittel, um bei seinem Lehrer Eindruck zu machen.« Lässt sich aber so das dramatische Ende der Geschichte erklären?
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sah mir ins Auge.« (Ebd., S. 562)6 Dem Bären wird ein menschliches Verhalten angedichtet, aber zugleich verschiebt das Bild vermöge seiner komisch-grotesken Konnotationen den Diskurs über Anmut und Grazie in einen fremden Bereich. Der Leser wird zu Übertragungsversuchen angehalten, aber die bildhafte Fortschreibung des Schillerschen Diskurses führt zu dessen Aufhebung. Das motiviert andere Übertragungen, welche die neu gewonnene Freiheit des Lesers nutzen. Der Leser könnte an einen Typus der absoluten Lektüre des Textes denken, der im Text selbst karikiert wird. Während der hermeneutische Zirkel ein partikuläres Äußeres vermittels Interpretation von Zeichen in ein ganzes Inneres zurückverwandeln möchte, fasst der Bär – die unfehlbare Lesemaschine – die ganze innere Wahrheit von Anfang an unvermittelt auf. Der Bär muss keine Zeichen lesen. Umgekehrt der Erzähler, dessen Unterbrechung der beglückenden narzisstisch-ästhetischen Illusion des jungen Mannes genau an dem Punkt ansetzt, an dem dieser sich sprachlich an ihn wendet. Zwei gewaltsame Lektüren: eine hermeneutische und eine transhermeneutisch-absolute. Zwei Formen der Parodie von unvermittelter Selbstidentität: einmal durch Veräußerlichung, das andere Mal durch Verinnerlichung. Insgesamt betrachtet sind die Selbstautorisierungen der intradiegetischen Erzählungen durchsetzt von Ironie oder mit anderen Worten: Selbstautorisierung und Ironisierung sind in Kleists Text ununterscheidbar. Das ist für eine literaturdidaktische Lektüre von entscheidender Bedeutung, denn die Selbstautorisierung ist die Voraussetzung für die angenommene Lehrhaftigkeit der Exempel. Die Autodidaktik des Marionettentheaters ironisiert sich selbst. Das Überzeugen-Sollen wird überakzentuiert und infolgedessen parodiert. Während eine Lektüre, welche die Überzeugungskraft der Exempel respektiert, diese, rhetorisch betrachtet, als pars pro toto liest, nimmt sie die dekonstruktive Lektüre als Metonymien wahr, welche die Thematik verfremden und verschieben. Kleist hat einen Text geschrieben, in dem Selbstautorisierung, Übertragbarkeit und Lehrhaftigkeit in einem Wechselverhältnis der gegenseitigen Bedingung und gleichzeitigen Ironisierung stehen.7 Eine Lehre, die darauf setzt, das Besondere unter das Allgemeine subsumieren zu können, um Lehre im strengen Sinne zu bleiben, arbeitet mit einem Begriff der Sprache, die diese unter die Kuratel einer allgemeinen Vernunft stellt, die sprachunabhängig ist. 6 | Müller-Salget (1990, S. 1145) stützt seine konservative Lesart mit dem Hinweis auf zoologisches Wissen: »Neuere Forschungen haben ergeben, daß das Auge des Bären mehr Bilder pro Sekunde registriert als das des Menschen, was das hier geschilderte Verhalten (das Nichtreagieren auf Finten) erklären mag, das also keineswegs so unwahrscheinlich ist, wie manche Kleist-Interpreten geglaubt haben.« 7 | Paul de Man (1988, S. 218) fragt grundsätzlich: »[…] Kann je ein Beispiel wahrhaft einem allgemeinen Satz entsprechen?« Beil (2009, S. 155) spitzt bildhaft zu: »Die Beispiele scheinen selbst an ›Fäden‹ der Thesen zu zappeln.« Vgl. auch Beil (2006).
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Beginnt hingegen die Sprache zu arbeiten, löst sich die logozentrische Ordnung auf. Die Nichtvermittelbarkeit der Anmut spitzt Paul de Man hinsichtlich der pädagogischen Implikationen paradox zu: »Gibt es so etwas wie einen anmutigen Lehrer oder, genauer, ist ein Lehrer, dem es gelingt, anmutig zu sein, noch ein Lehrer? Und wenn er es nicht ist, was wird er dann denen antun, die, vielleicht nur zum Schein, seine Schüler sind?« (de Man 1988, S. 214)
»Glauben Sie diese Geschichte? Vollkommen rief ich, mit freudigem Beifall; jedwedem Fremden, so wahrscheinlich ist sie; um wie viel mehr Ihnen.« (Kleist 1990, S. 563) Mit diesen Worten leitet das Marionettentheater zur Schlussfolgerung über. Die jegliche Plausibilität verwerfende Schlusswendung nagelt den Erzähler (und den Leser des Textes) auf den Widerspruch zwischen rhetorischer und logischer Sprachdimension fest. Denn wer eine Geschichte ›glauben‹ soll, der darf diese nicht schon auf der Ebene der wörtlichen Bedeutung verwerfen. Wenn aber die Pointe, wie bei einer Parabel, hinter der Bildhaftigkeit verborgen ist und durch aufwendige Interpretation erst noch erschlossen werden muss8, dann kann die Geschichte nicht einfach ›geglaubt‹ werden. Der Tänzer kann gleichwohl unverfroren zur Schlusswendung übergehen, weil es ihm gelungen ist, seinen Diskurs durchzusetzen. Der Erzähler hängt gewissermaßen an den Lippen des Tänzers und dies wird deutlich, ohne dass der Tänzer selbst erzählt. Selbst der Gedanke an eine Auseinandersetzung in einer Person, die sich nur spielerisch in zwei aufspaltet, um das Thema besser entfalten zu können, ist nicht ganz von der Hand zu weisen; ein Machtkampf im Ich. Die didaktisch interessierte Lektüre stößt auf die von Kleist ironisierte Beziehung zwischen den exemplarischen Erzählungen und der Schlussfolgerung. Was im Marionettentheater vorgeführt wird, ist die verallgemeinernde Lektüre von Texten, die dies wegen ihrer Unterschiedlichkeit und je spezifischen Komplexität nicht erlauben. Das An-den-Texten-etwas-Lernen misslingt, weil Kleist das Verbrauchen der textuellen Energie durch eine irreversible Interpretation karikiert. Während die exemplarischen Erzählungen eine intrikate rhetorischlogische Doppelstruktur aufweisen, d.h. wegen der Nicht-Passung von Inhalt und Form eine Sinnfestlegung nicht ermöglichen, fordert der Tänzer auf das Erzählte zu glauben – eben weil man es nur glauben, aber niemals wissen kann. Mit dem Glauben wird die Sprache, welche das zu Glaubende artikulier-
8 | Die zweite Erzählung vom tanzenden Bären ist nicht so ohne weiteres unter das Generalthema der durch Reflexion gestörten Grazie zu subsummieren. Das Bild des tanzenden Bären nimmt die Vermutung, er verfüge über ein unendliches Bewusstsein, wieder zurück.
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bar macht, zu Grabe getragen. Die Frage, die nur eine Antwort erlaubt, schließt gleichsam den Diskurs. Die Lücke zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen sowie zwischen Sprache und Wissen bildet zugleich die elementare didaktische Konfiguration; die Untersuchung der performativen Differenz hatte dies bereits zum Gegenstand. Literaturdidaktische Modelle können Handeln nur orientieren, indem sie von der Singularität des Anderen und des Textes absehen. Jede anspruchsvolle Deutung eines Textes muss weit über das hinausgehen, was der abstrakte didaktische Begriff vorgibt bzw. teleologisch als Ziel des Unterrichts festlegt. Didaktische Fragenkataloge – und weisen sie noch so nachdrücklich auf den Text hin – tendieren in ihrer unvermeidbaren Positivität dazu, den Text lesbar, handhabbar zu machen und so gerade das Fragliche zu regulieren.9 Dieses Fragliche wird jedoch den unterrichtlichen Diskurs über Literatur strukturieren. Zu einem Text (und zum Anderen) zu sprechen, ist etwas anderes als von einem Text (und vom Anderen) zu sprechen. Die literaturdidaktische Kompetenz besteht im Grunde darin, die basale Negativität der pädagogischen und ästhetischen Erfahrung auszuhalten und gestalten zu können (ohne in ein verdinglichendes Machen zu verfallen) – als Wissen vom Nichtwissen. Nachholende Komplexitätssteigerung ist die conditio sine qua non didaktischen Handelns. Anstatt dies zu thematisieren und genauer herauszuarbeiten, wird Lehramtsanfängern, geschmückt durch die Professionalisierungsformel, immer noch vorgemacht, dass mit dem richtigen Wissen die Probleme in den Griff zu bekommen sind.10 Doch das Gelingen ist nur im Horizont des Scheiterns vorstellbar. Es kommt letztlich, ganz im Sinne Kleists, darauf an, ob man die Geschichten der Literaturdidaktik von der Lehr- und Lernbarkeit literarischen Wissens glaubt (vgl. Baum 2015). Anders herum ausgedrückt: Die Brücke von der Theorie zur Praxis der Literaturdidaktik hält nur, wenn man seinen NichtGlauben suspendiert; literaturdidaktisches Wissen ist Wissen um die Negativität des Wissens. Paul de Man hat in seinem Aufsatz Der Widerstand gegen die Theorie (de Man 1987) das Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem sowie von (literarischer) Sprache und Wissen zum Gegenstand der Überlegung gemacht. Eine besondere Rolle spielt in diesem Zusammenhang die Frage der Lehrbarkeit literaturwissenschaftlichen Wissens als Ergebnis der wissenschaftlichen Lektüre literarischer Texte. Interessant ist schon die Vorgeschichte: de Man wurde 9 | Vgl. zu einer exemplarischen Analyse eines literaturdidaktischen Kompetenzmodells am Beispiel von Brittings Brudermord im Altwasser durch Kämper-van den Boogaart/Pieper (2008): Baum (2016a). 10 | Die Folge ist hier – wie in der Schule –, dass Scheitern den Individuen zugerechnet wird. Oder mit Roland Barthes gesprochen: Die Aneignung des literaturdidaktischen Diskurses als Element von Professionalisierung erzeugt ein Schuldgefühl.
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um einen Einführungstext über Literaturtheorie für einen Sammelband gebeten; das Unternehmen scheiterte, die Zusammenarbeit kam nicht zu Stande. Der Verfasser selbst sieht dies im Nachhinein als didaktisches Problem (vgl. de Man 1987, S. 80-82). Da aufgrund des Widerspruchs von logischer und rhetorischer Energie in der Literatur kein sicheres Verhältnis von Wahrheit und Methode in der Literaturwissenschaft zu Stande kommt, lässt sich auch kein kohärentes Wissen der Literaturwissenschaft explizieren und in der Folge auch nicht vermitteln. Die Autonomie der Sprache wird in der Literatur erfahrbar als das »negative Wissen von der Verläßlichkeit sprachlicher Äußerung«; es ist nicht ausgemacht, dass »Literatur eine glaubwürdige Informationsquelle über irgend etwas ist, außer über ihre Sprache.« (Ebd., S. 91f.) Da literarische Bildung in Schule und Hochschule eher auf die Reproduktion bestimmter kultureller und ideologischer Muster und weniger auf die literarische Sprache selbst zielt, werden Diskurse, die eben dies anzweifeln, als bedrohlich empfunden (ebd., S. 83f., S. 93). Es geht letztlich um die »Integrität eines sozialen und historischen Subjekts« (ebd., S. 85) und folglich kann die Bestimmung der Literatur in einem solchen Zusammenhang nur heteronom sein. Paul de Mans Sätze zielen wohl auf die zu seiner Zeit in den literaturwissenschaftlichen Departments herrschende Kulturbourgeoisie, während wir es heute eher mit einer Ökonomisierung und Bürokratisierung der Hochschulen zu tun haben. Allerdings könnte seine Kritik auch unter neuen Vorzeichen eine, wenn auch anders gewichtete, Aktualität gewinnen. Doch zurück zu Problemen der Vermittlung. Es fällt nicht sonderlich schwer, Paul de Mans Gedanken mit den Problemen der Literaturdidaktik in Zusammenhang zu bringen. Die Konstruktion des ›kompetenten Lesers‹ und des ›gesellschaftlich handlungsfähigen Subjekts‹ setzen eine Kommensurabilität des literarischen Dings ebenso voraus wie sie die Wirksamkeit der Lehrbarkeitsdoktrin ermöglichen. Die negative Epistemologie literarischer Sprache und die positive Teleologie des literaturdidaktischen Wissens lassen sich jedoch nicht ineinander übersetzen.11 Literaturdidaktik ist eine Maschine des Lesbar-Machens, die permanent – und die Unabschließbarkeit mag ein Symptom der Vergeblichkeit sein – die Endlichkeit des Wissens über Literatur behauptet. Die zahlreichen Paratexte (Aufgaben in Lehrbüchern, Lektürehilfen, Handreichungen 11 | Zur expliziten Ablehnung der Dekonstruktion Paul de Mans in der Literaturdidaktik siehe Fingerhut (1995, S. 46): »[…] für die Integration der dekonstruktiven Lektürepraxis in den Unterricht eher hinderlich.« Ähnlich: Brüggemann/Frederking (2013, S. 11f.). Scharf ablehnend (vgl. auch unten): Bredella (2004, S. 72-78). De Mans eigene Überlegungen laufen gerade auf eine Nicht-Integrierbarkeit hinaus. Man muss also die affirmative Position dessen, der Modelle für institutionell organisierten Literaturunterricht liefert, verlassen, um sich auf das Neue – und für die Literaturdidaktik ist Paul de Man immer noch ein unbeschriebenes Blatt – einlassen zu können.
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für den Literaturunterricht) haben genau diese Funktion und sie sichern, da der heteronome Literaturbegriff pädagogisch und politisch unverzichtbar ist, so ihre eigene diskursive, d.h. auch: materielle, Existenz. Es ist deshalb neben der kritischen Re-Lektüre literaturdidaktischer Texte12 die wichtigste Aufgabe dieser Untersuchung, die Aufgabe der Literaturdidaktik ohne Rücksicht auf die Lehrbarkeitsdoktrin zu formulieren. Paul de Mans Aufsatz trägt einen Titel, der ebenfalls einer doppelten Lektüre unterzogen werden kann. Einerseits geht es um den (inneren) Widerstand der literarischen Sprache selbst gegen theoretische Erkenntnis und didaktische Weiterverarbeitung, andererseits um den (äußeren) institutionellen Widerstand gegen Theorie, insofern letztere permanent auf dem Kriegsfuß ist mit der Institution, innerhalb derer sie formuliert wird.13 Literaturtheorie muss zwar den Preis der permanenten Verunsicherung in Hinsicht auf literarisches Wissen bezahlen (und sie kann in diesem Sinne nie eine strenge Theorie sein), aber ihr eignet auch ein »subversives Element von Unvorhersagbarkeit« (ebd., S. 88). Literaturtheorie spricht folglich »die Sprache des sich selbst Widerstehens« (ebd., S. 106). Anders als die Subordination der Literaturdidaktik unter die Logik der politischen und ökonomischen Diskurse, die auf Machbarkeit und Überprüf barkeit drängen, ermöglicht eine Auseinandersetzung mit der Dekonstruktion de Manscher Provenienz die Behauptung einer unabhängigen und, was das Sinndiktat der Schule angeht, subversiven Position. Die Irritation der Literaturdidaktik durch Dekonstruktion kommt folglich zugleich von innen wie von außen: Sie mobilisiert das Widerstandspotential der Texte und bereitet einer möglichen Alienation des Subjekts den Weg, das ein Anderer sein darf. In der Praxis mögen dem die verschiedensten Lektüre- und Unterrichtsformen entsprechen; vielleicht auch schlicht das Aussetzen der Sinnzentrierung, die Erlaubnis zu schweigen, die Ironisierung des Vorhandenen oder … das Scheitern. Paul de Man bestimmt den Widerstand gegen Theorie in dreifacher Weise: als Widerstand gegen die Sprache selbst, insofern diese »Faktoren oder Funktionen« enthalten mag, die »nicht auf die Intuition reduziert werden können« (ebd., S. 95); als Widerstand gegen das Lesen, das verdrängt werden muss, um 12 | Es stellt sich, in Analogie zu Paul dem Mans Terminus der doppelten Lektüre (vgl. de Man 1988, S. 83), die Frage, was eigentlich geschieht, wenn man einen literaturdidaktischen Text zweimal liest. Hypothese: Die zweite Lektüre spaltet die erste, weil sie die Rhetorik des Wissens offenlegt. 13 | De Man (1987, S. 84f.) stellt erstaunt (und dann auch wieder nicht erstaunt) fest, dass Theorie nie zu einer Infragestellung des Curriculums geführt hat. Man fühlt sich an die aktuellen Hochschulcurricula erinnert: Die interpretationskritischen Literaturtheorien stehen gleichförmig wie Zinnsoldaten nebeneinander und werden ökonomischrasch gelehrt, obwohl sie eben dies in Frage stellen.
VII. Literatur/Erziehung
zu philologischer Erkenntnis gelangen zu können (vgl. ebd., S. 98); schließlich als Widerstand gegen die »rhetorische oder tropologische Dimension der Sprache«, die in der Literatur in besonderer Weise akzentuiert wird.14 Die Erfahrung der Literatur (und das durch sie bereitete Vergnügen, wie man vielleicht hinzufügen darf) besteht folglich in der Negativität der Lektüre, die sich selbst aufhebt und – Hinzufügung des Verfassers – gerade dadurch an Kraft gewinnt. Um wieviel uninteressanter wäre es gewesen, wenn Kleist im Marionettentheater auf die Grundierung mit kräftiger Ironie verzichtet hätte? Werden die Aussagen nicht dadurch bedeutsamer, dass der Text selbst den Widerstand gegen sie organisiert? Dasselbe gilt für die Lektüre: Sie kommt, auf Zetteln, Notaten, Unterstreichungen, durch Vermengung mit anderen Texten, zu Ergebnissen, aber der kognitive und mediale Akt, der diese Ergebnisse festhält, ist zugleich das Moment des Vergessens und Überschreibens. »Lesen muß – um der Selbstvergewisserung der Literaturwissenschaft willen –, aber es kann nicht gelesen werden.« (Hamacher 1998, S. 154) Paul de Mans didaktische Konsequenz lautet, es sei besser »bei der Vermittlung von etwas Schiff bruch zu erleiden, das nicht vermittelt werden sollte, als erfolgreich etwas zu lehren, das nicht wahr ist.« (De Man 1987, S. 82) Die epistemologische Perspektive auf die literarische Sprache führt also nicht, wie behauptet wird, in die Exklave theoretischer Extravaganz, sondern geradewegs zu einer didaktischen Problematik.15 Am äußersten Punkt der sich selbst widerstehenden Theorie gerät die Praxis der Vermittlung literarischen Wissens in den Blick. Paradoxerweise kann gerade in der Notwendigkeit des Scheiterns die Würde des Lesers und der Literatur begründet liegen – als einer Überforderung durch Kunst, der man sich gleichwohl stellt, um in der Niederlage etwas zu gewinnen. Umgekehrt führt der Zwang des Könnens und Gelingens zur Empfindung von Ohnmacht, da die Möglichkeit, die Sache in die Hand zu neh14 | De Man kümmert sich hier, wie an anderer Stelle, nicht sehr um eine fachlich solide Begrifflichkeit. Gemeinhin werden die Tropen als Teilbereich der Rhetorik gefasst. Interessant hingegen sein Hinweis, dass die Dekonstruktion zur Zerstörung des Triviums führt, weil die Rhetorik gestärkt und die Grammatik als »Isotop der Logik« (ebd., S. 97) erachtet wird. 15 | Luhmann (2002) spricht, wie oben gezeigt, vom Widerspruch zwischen Wahrheitsgehalt und Effektivität der Lehre und meint in diesem Punkt, wenn man ihn isoliert betrachtet, wohl dasselbe. Der Unterschied liegt gleichwohl darin, dass Luhmann davon ausgeht, dass das Erziehungssystem sich erhalten und steigern kann, indem es die zu Grunde liegende Paradoxie durch Einführung von Unterscheidungen wie vermittelbar/ nicht vermittelbar (S. 59) handhabbar macht. Der hier vertretene diskurstheoretische und dekonstruktive Standpunkt geht hingegen von permanenter Reparadoxierung als Diskursbedingung und als Voraussetzung des Gelingens im Scheitern und Scheiterns im Gelingen aus.
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men, nur vorgegaukelt wird, um zugleich der heteronomen Bestimmung und Unterwerfung Platz zu machen. Die Unmöglichkeit des Lesens, daran soll hier festgehalten werden, ist zugleich die Bedingung der Möglichkeit des Lesens.16 Von hier aus ergeben sich gewisse Beziehungen zur Argumentation von Nicola Mitterer in ihrer philosophisch ausgerichteten Habilitationsschrift Das Fremde in der Literatur. Zur Grundlegung einer responsiven Literaturdidaktik (Mitterer 2016).17 Mitterer bestimmt Literatur als Auseinandersetzung mit dem radikal (und nicht nur alltäglich oder strukturell) Fremden (ebd., S. 1618). Literarisches Lesen heißt folglich nicht, das Fremde durch die Anwendung geeigneter Strategien und Techniken Schritt für Schritt in den Griff zu bekommen, bis die Aneignung gelingen kann, sondern im Gegenteil die Erfahrung des wiederholten und nicht aufzuhebenden Rückfalls in das Nichtverstehen (vgl. dazu auch Baum 2007 und 2013) auszuhalten und den Zuwachs an Fremdheit (Mitterer 2016, S. 14) als das eigentliche Abenteuer der Literatur schätzen zu lernen. Die Folge ist die Auflösung des literaturdidaktischen Subjektbegriffs: »Das Fremde als Pathos verstanden, als etwas, das mein Ich in Frage stellt, indem ich es erleide und nicht aktiv ›bewältigen‹ kann, stellt eine massive Infragestellung des Bestehenden dar und provoziert somit in der Auseinandersetzung mit der Literatur häufig die Reaktion einer Flucht zum Vertrauten.« (Ebd., S. 51) Wer liest, ist also nicht in der Rolle des gesellschaftlich handlungsfähigen Subjekts, das qua Kompetenz die Literatur erschließen kann, sondern er wird gleichsam verletzlich durch den Text, der jenseits der Grenze des Vertrauten operiert. Lesen heißt, gemäß einer paradoxen Formel, geben, was man nicht hat (vgl. ebd., S. 93).18 Die Lektüre des literarischen Textes muss so verfahren, da ein Geben dessen, was man hat (Wissen, Erfahrungen, Strategien usf.), nicht zureichend sein wird. Man kann also nur 16 | Aus Anlass einer Fortbildung für Gymnasiallehrer sagte eine Kollegin zum Verf., dass eine Theorie der Unentscheidbarkeit und negativen Epistemologie literarischer Sprache ihr nicht die Würde als Leserin und Lehrerin nehme (im Gegenteil) – der gewaltsame Kompetenz-Diskurs und dessen Durchsetzung in den Schulen aber sehr wohl. 17 | Vgl. auch die Rezension des Verf. (Baum 2016c). Der differenzierten und materialreichen Studie Mitterers, insbesondere den Wechselwirkungen zwischen literarischen Lektüren und theoretischen Untersuchungen, kann dieser sehr kurze Exkurs nicht gerecht werden. Es geht um die Andeutung einer weiteren Perspektive. 18 | Siehe hingegen Ensberg (2005, S. 110f.), der den literarischen Text »als Resultat eines fiktionalisierten, rhetorisch reflektierten schriftsprachlichen Handelns« begreift und am Beispiel einer Gedichtanalyse fragt, wie sich die »heterogen präsentierenden Befunde in Kohärenzstrukturen einordnen lassen.« Zur Rolle des Lehrers notiert Ensberg (ebd., S. 120): »Es obliegt dem Lehrer, das Instrumentarium der Auslegungskunst in seine einzelnen Bestandteile zu zerlegen und didaktisch aufzubereiten.« Vgl. zur Studie Ensbergs ausführlich Baum (2007).
VII. Literatur/Erziehung
inkompetent – zögernd, zurückweichend, fragend, scheiternd, ausprobierend und revidierend – mit dem Text umgehen, d.h., was man zu geben hat, ist die Offenheit für die Erfahrung der Negativität der literarischen Mitteilung. Die Lektüre wird auch am Ende sich nicht in der Lage sehen, reicher an Erfahrung und Wissen zum Ausgangspunkt zurückzukehren (wie nach einer langen Höhlenexpedition mit Vermessungsgeräten), sondern sie wird sich an einen anderen Punkt versetzt sehen, von dem aus das ursprüngliche Eigene als rätselhaftes Anderes erscheint. Für Mitterer liegen darin ethische und politische Momente; wenn nämlich die Fähigkeit, auf das Fremde zu antworten, zu einer »Überlebensfrage« (ebd., S. 42) der Gegenwart geworden ist, dann zeigt sich die Reflexion auf die literarische Sprache in einem anderen Gewand: Weil die Sprachlichkeit des Menschen ein so wesentlicher Bestandteil seiner Existenz ist, ist das Nachdenken über eine außerordentlich elaborierte Sprache wie die literarische nicht akademisch, sondern verweist auf Grundfragen des politischen und individuellen Lebens.19 Der Überforderung durch das Fremde kann man mit einer kolonialisierenden (19. Jahrhundert) oder grenzziehenden (21. Jahrhundert) Haltung nicht gerecht werden. Die literaturdidaktische Paradoxie kann auch in diesem Zusammenhang wahrgenommen werden. Denn eine Didaktik der ästhetischen Fremdheit setzt sich das Ziel, die Leser für die Erfahrung des radikal Fremden zu öffnen und sie gerät damit an die Grenzen des Handelns und der Sprache, wobei gleichzeitig Handeln und Sprache als didaktische Werkzeuge unverzichtbar sind. Während in der Schulstunde und im Seminar etwas ›herauskommen‹ muss (und die Teilnehmer gewissermaßen auf positive Ergebnisse hin konditioniert sind), insistiert die Literaturdidaktik der Fremdheit auf ein Sprechen, das Bedeutung und Intention eines Textes nicht festschreibt. Was herauskommt, ist, wie der Verfasser dieser Zeilen aus eigener Erfahrung weiß, eine unmöglichmögliche Didaktik, ein Grenzgang der Lehrbarkeit. Literarisches Lesen als ein Geben dessen, was man nicht hat, beschreibt das Paradoxe der ästhetischen Erfahrung und zielt zugleich auf die Subversion des didaktischen Zusammenhangs von Mittel und Zielen. Mitterers phänomenologisch und literaturtheoretisch ausgerichtete Studie arbeitet das Fremde an der Literatur als das Wesentliche heraus. Paul de Mans Dekonstruktion operiert mit dem Theorem der Unentscheidbarkeit literarischer Bedeutung zwischen logischer und rhetorischer Sprachfunktion. Die ethischen Aspekte zeigen sich bei de Man als radikale Kritik des literaturtheoretischen Wissens und seiner Machtansprüche sowie in dem Versuch, in der Unentscheidbarkeit der Bedeutungszuweisung das Moment der Unverfügbarkeit der Literatur zu beschreiben; die Zuspitzung auf eine Ethik der Fremdheit, 19 | Das erinnert an die politische und historische Dimension der Sprachphilosophie bei Derrida (2003).
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die auch thematisch bei de Man keine große Rolle spielt, fehlt. Beide Ansätze sind jedoch einem Denken der Differenz verpflichtet. Man kann nicht mehr von einer Einheit der Sprache ausgehen; das konnte schon de Saussure nicht mehr. Insofern konfrontiert uns die literarische Sprache in besonderer Weise mit der Endlichkeit. Der ständige Zuwachs an Fremdheit und der nicht mehr heilbare Riss zwischen Rhetorik und Logik begründen letztlich auch die Einsamkeit des Menschen sowie seinen Tod.20 Paul de Mans Schriften zur Dekonstruktion literaturwissenschaftlichen und auch didaktischen Wissens folgen keiner strengen Systematik. Er weiß, dass Texte, die mit Definitionen anheben, sich unweigerlich zu scholastischen Systemen auswachsen (vgl. de Man 1987, S. 82). Die Unterscheidung reproduziert sich letztlich selbst. Deswegen begnügt er sich mit relativ wenigen grundlegenden Unterscheidungen (logisch/rhetorisch, erste/zweite Lektüre usf.). Nur so kann auch eine Flexibilität bewahrt und identifizierendes Denken so weit wie möglich aufgeschoben werden. (Je zahlreicher und genauer die Bestimmungen desto stärker der Vormarsch identifizierenden Denkens.) Umgekehrt wandern stilistische Idiosynkrasien, polemische Zuspitzungen, Widersprüche21 sowie Deutungen, denen man nicht folgen muss, in den Text ein. Was de Mans Studien zumindest für die Theorie der Literaturdidaktik unverzichtbar macht, ist indes der scharfe Blick auf die Epistemologie der literarischen Sprache, deren Besonderheit deutlich in den Blick rückt sowie die theoretisch begründete Skepsis gegenüber einem die Frage der Sprache verdrängenden Vermittlungsdenken. Das Lesbar-Machen von Literatur22 geht paradoxerweise gerade über das Lesen hinweg und beraubt jene so ihres Rei-
20 | Zu einer literaturdidaktischen Thanatologie vgl. Mitterer (2016, S. 169-262). 21 | So entsprechen sich de Mans Deutung von Rilkes Gedicht Am Rande der Nacht und die theoretische Schlussfolgerung in dem Aufsatz Tropen (Rilke) nicht in allen Punkten. Während die Arbeit am Text die Überlegenheit der formalen Dimension von Literatur demonstriert (vgl. de Man 1988, S. 65-70), spricht de Man am Ende von einer doppelten Lektüre, in welcher die inhaltliche Bestimmtheit durch die Erkenntnis der Form, die diese überhaupt möglich macht, zurückgenommen wird (vgl. ebd., S. 83). 22 | Nach Bogdal (2002, S. 21) gehört es zu den zentralen Aufgaben der Literaturdidaktik, für heutige Jugendliche Literatur wieder lesbar zu machen. Dem mag man zunächst nicht widersprechen. Doch im operativen Alltag läuft dies allzu schnell auf eine Überformung durch Schematismen der Interpretation hinaus. Das Unlesbar-Machen ist ein ebenso notwendiges Anliegen. Am Ende seines Aufsatzes (S. 29) schreibt Bogdal: »Die entscheidende Aufgabe, die sich der Literaturdidaktik stellt, ist, was die Vermittlung von Literatur heute für die Lebensentwürfe der Individuen erbringt und worin Literatur weiterhin unersetzbar ist.« Zumindest die letzte Frage – darf die erste überhaupt beantwortet werden? – könnte auch mit Texten de Mans angegangen werden.
VII. Literatur/Erziehung
zes. Muss nicht gerade die Lehre der Literatur das Rätselhafte, Schwebende und Fragliche stets im Blick behalten? Wenn Paul de Man von einem Widerstand gegen Theorie im Diskurs der Literaturwissenschaft spricht, dann lässt sich das, wie bereits gezeigt wurde, auf die Literaturdidaktik übertragen. Der literaturdidaktische Diskurs erscheint dann als organisierter Widerstand gegen die Literatur. Da aber dieser Widerstand sich wohl oder übel auf philologisches und pädagogisches Wissen beziehen muss, entfaltet das, was draußen bleiben soll, im Inneren die Aufspaltung der Geltungsansprüche, lässt der Diskurs das erscheinen, was er unsichtbar machen will. Ziel literaturdidaktischer Forschung ist nach Kreft (1979/1982, S. 217) zu beschreiben, wie es möglich ist, sowohl die Ich-Entwicklung der Zöglinge gelingen zu lassen als auch (gleichzeitig) fachliche Qualifikationen für die kompetente Rezeption von Literatur zu vermitteln. (In der älteren literaturdidaktischen Theoriebildung ist dies gerne als komplementäres Miteinander einer Erziehung durch Literatur und einer Erziehung zur Literatur gefasst worden – ein Gegeneinander wurde kaum erwogen.) Es geht folglich um die doppelte Vermittlung pädagogischer und fachlicher sowie praktischer und theoretischer Dimensionen durch die Literaturdidaktik. Dabei macht sich die paradoxe Spannung zwischen Freiheit und Zwang im Erziehungsprozess geltend. Über Auswahl, Art der Behandlung und pädagogisches Kalkül können die Zöglinge kaum bestimmen. Zugleich geht es Kreft aber mit Habermas um die Auflösung verzerrter, machtbestimmter Kommunikationsverhältnisse. Mensch und Natur sollen im Medium der Kunst ihre Entfremdung überwinden: »Herrschaftsfreie Kommunikation mit Natur dürfen wir versöhnende nennen.« (Kreft 1979, S. 180) Das Problem liegt auf der Hand: Es kommt gleichsam zu einer transzendentalen Überforderung der literarischen Lektüre. Im Auf bau des Buches spiegelt sich dies wieder, indem Fermente der kritischen Theorie (in der Weiterentwicklung durch Habermas) durch pädagogische Modelle und Zielbeschreibungen normativ aufgeladen werden – bei gleichzeitiger Abwesenheit von Literatur. Es bleibt, wie schon Bernfeld bemerkte (vgl. oben Kap. VI), auf diese Weise die Institution, in der auf die herrschaftsfreie Kommunikation hingearbeitet werden soll, ungedacht. Indem das Erziehungsziel, nämlich ›die Ich-Entwicklung der Zöglinge gelingen zu lassen‹, sich in den Prozess der literarischen Lektüre einschreibt, werden bestimmte Lektüren eher denkbar als andere. Da die Ich-Entwicklung komplex, undurchsichtig und widersprüchlich, sicher aber in jedem Falle unterschiedlich ist, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass die didaktische inszenierte Literatur das Interesse der Zöglinge verfehlt. Krefts Versuch der umfassenden Begründung der Literaturdidaktik interessiert, weil gerade die Gründlichkeit und der Anspruch der Untersuchung die Paradoxien literaturdidaktischen Wissens aus sich hervortreiben. Je mehr
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Begründungen und Ziele angegeben werden, desto problematischer wird die Argumentation. Die Kohärenz des Textes liegt letztlich in der Normativität des vertretenen Anliegens. Genau deswegen muss die Literatur selbst auch draußen bleiben und wird z.B. durch Modelle herrschaftsfreier Kommunikation und moralischer Entwicklung ersetzt. Nicht übersehen werden soll aber auch, dass der Versuch einer geschichtsphilosophischen Begründung – Literatur als Medium, in dem die schmerzhafte Entfremdung von Mensch und Natur spürbar wird – die Absicht verrät, über positivistische oder unreflektiert idealistische Begründungen hinauszugehen. Die Wahrnehmung des Ästhetischen als Symptom eines stets spürbaren Schmerzes hat ihre Berechtigung. Während Kreft die Aufgabe der Literaturdidaktik als doppeltes Gelingen und doppelte Vermittlung pädagogischen und philologischen Wissens begreift, lautet die hier vertretene Auffassung: Literatur soll gelehrt werden, weil sie nicht gelehrt werden kann (vgl. Baum 2010, S. 120). Damit wird die Konsequenz aus den pädagogischen und philologischen Paradoxien gezogen, ohne dass doch auf eine Lehre der Literatur verzichtet werden soll. Wenn in der Unentschiedenheit und Spannung des Paradoxen vielleicht die Antwort des Anderen hörbar wird (vgl. Wimmer 2006, S. 359, S. 364), so heißt das, übertragen auf die Lektüre literarischer Texte, dass gerade im Nicht-Gelingen der Deutung, in der Reibung zwischen logischer und rhetorischer Energie der Sprache, sowohl ein Höchstmaß an philologischer Genauigkeit als auch die Unverfügbarkeit der literarischen Sprache zu erfahren ist. Dies soll gelehrt werden, obwohl eine Lehre im strengen Sinne, auf bauend auf positivem Wissen und richtigen Verfahren, gerade nicht möglich ist.23 Wenn etwas nicht gelehrt werden kann, gerät es in einen Widerspruch zu der pädagogischen Doktrin der Institution, in welcher der entsprechende Satz gesagt wird. Der Satz verwickelt alle, die ihn ernst nehmen, in performative Widersprüche auf den verschiedensten Ebenen und lässt so die Möglichkeit offen, dass sich etwas Überraschendes ereignet. Wenn man davon ausgeht, dass gerade das gelehrt werden soll, was nicht gelehrt werden kann, entwindet man den eigenen Diskurs der didaktischen Programmierung und Vereinnahmung, nimmt stattdessen etwas wahr, was jenseits der Modelle, vielleicht auch vor ihnen liegt: die Grundsituation des Lehrens von Literatur, die sich aber nicht weiter positiv bestimmen lässt. In dem hier verwendeten Satz, der das, worum es geht, auch nur aufschiebt, weil er einer kohärenten Interpretation nicht zugänglich ist, sondern stattdessen widerstreitende Kräfte entfesselt, wird Negativität nicht ausgespart, vermessen, euphemisiert oder in Unschärfen zum Verschwinden gebracht, sondern 23 | Barbara Johnson (2008, S. 84) formuliert eher trocken und pragmatisch, dass eine Lehre der Literatur nur als Lehre vom genauen Lesen denkbar ist. Man denkt an Nietzsches Bestimmung der Aufgabe des Philologen. Für Johnson schließt das genaue Lesen jedoch die Unentscheidbarkeit der festen Bedeutungszuschreibung ein.
VII. Literatur/Erziehung
selbst normativ. Die einzige Normativität einer dekonstruktiven Lektüre der Literatur sowie ihrer Didaktik besteht in der Anerkennung von deren Unverfügbarkeit als Spur des Anderen und différance der Zeichen. Während unter der »nivellierenden Herrschaft des Abstrakten« das »Inkommensurable« weggeschnitten wird (Horkheimer/Adorno 1988, S. 19), geht es in Lektüren, die ihr Misslingen voraussetzen, um die Wahrnehmung der Spur des Anderen (Inkommensurablen) – und sei dies noch so aufwendig, ja scheinbar unmöglich. Die paradoxe Grundierung der Literaturdidaktik ist in der jüngeren Vergangenheit von Werner Wintersteiner (2011) thematisiert worden.24 Die Wirkung des Textes ist recht hoch zu veranschlagen, da es sich um die schriftliche Fassung der Rede zur Verleihung des Erhard-Friedrich-Preises handelt. Vor Ort war die deutschdidaktische Prominenz nahezu vollständig versammelt und im Anschluss an die Publikation gab es eine lebhafte Diskussion in der Zeitschrift Didaktik Deutsch (vgl. den ironischen Rückblick bei Baum 2014). Wintersteiner geht von dem »Widerspruch zwischen der Notwendigkeit, Literatur zu lehren, und der Unmöglichkeit, dies adäquat zu tun« (S. 18) aus. Er stellt grundsätzlich in Frage, ob Literatur etwas ist, dessen man habhaft ist, das man besitzen kann, nachdem man es einmal gelernt hat (ebd.). Er schreibt: »Wenn man nun Literatur – als das Grenzüberschreitende, das Andere einer Gesellschaft – in das Unterrichtsprogramm einer normalisierenden Sozialisationsinstanz aufnimmt, besteht immer die Versuchung, den Widerspruch aufzulösen, Literatur einseitig als Sozialisationsinstrument einzusetzen, ihren Gegen-Sinn, ihre lustvolle Negativität zu unterschlagen.« (Wintersteiner 2011, S. 17) 25
Die Alterität der Literatur ermöglicht nach Wintersteiner also eine spezifische Selbstreflexivität moderner Gesellschaften; die jüngere Generation soll daran jeweils partizipieren können. Indem die Grenze der vernünftigen Rede überschritten wird, werden auch im Diesseits der Grenze neue Entwicklungen möglich. Andererseits kann Alterität nicht durch geschickte Vermittlung eingeholt werden, ist im strengen Sinne also nicht lehrbar – zumal in staatlichen Lehranstalten, deren Arbeit der Normalisierung auf Grundlage eines Macht-Wissen-Zusammenhangs darauf aus ist, das Andere, welches sich nicht
24 | Wintersteiner bezieht sich auf den Aufsatz des Verf. zur Verdrängung des Paradoxen in der Literaturdidaktik (Baum 2010). 25 | Siehe im Zusammenhang einer Didaktik des literarischen Gesprächs bereits Härle/Steinbrenner (2003, S. 156): »Literatur und das literarische Gespräch verweisen auf die Rechte und den Anspruch des Individuums – auch dann, wenn sie im konkreten Unterricht nicht eingelöst werden können.«
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fügt, zu marginalisieren oder gar zu tilgen.26 In Wintersteiners Text geraten dementsprechend die Funktionsbeschreibungen für literarisches und pädagogisches Handeln aneinander.27 Den Hintergrund dafür gibt die Ausrichtung der Literaturdidaktik am Kompetenz-Diskurs ab. Ohne dass dieser Begriff fallen würde, zweifelt Wintersteiner die jüngste (technische) Fassung der Lehrbarkeitsdoktrin an28 und kritisiert die Reaktion der Literaturdidaktik auf die in Folge der PISA-Studie gestiegenen Druckverhältnisse als affirmativ bzw. als »Anpassungsleistung« (ebd., S. 10). Bemerkenswert, weil eine Ausnahme, bleibt die explizite Verwendung des Begriffs der Paradoxie. Die Überschreitung der Grenze liegt darin, dass das Widersprüchliche nicht als typisch praktisches Problem gesehen wird, mit dem man eben zurechtkommen muss (während die Dignität des theoretischen Wissens unberührt bleibt), sondern als conditio sine qua non des literaturdidaktischen Diskurses selbst. Häufiger stößt der Leser literaturdidaktischer Texte auf den Terminus Dilemma. Dabei handelt es sich um eine Figur der Euphemisierung des Paradoxen als Moment des ›bloß Praktischen‹; genauer: Wenn vom Dilemma die Rede ist, geht es nicht um die widersprüchliche Verfassung des literaturdidaktischen Diskurses, sondern um die Rahmenbedingungen unterrichtlichen Handelns, die Unentscheidbarkeit pädagogischer Situationen (die als solche aber keineswegs als Bestandteil literaturdidaktischer Forschung anerkannt wird) und die Zufälligkeit aller praktischen Vollzüge im Allgemeinen. Literaturdidaktik führt in das ›Dilemma‹ hinein, zeigt aber selbst kein theoretisches Interesse an der Unausweichlichkeit dieses Vorgangs. Gelegentlich wird gelingende Didaktik sogar als Ausweg aus der pädagogischen Paradoxie, vulgo: Di26 | Das betrifft auch die Lehrenden; vgl. dazu die Analyse von Heinrich (2011). Die Verfasserin schildert, begleitet von philosophischer Reflexion, wie Lehramtsanfänger tauglich gemacht werden, indem das Aussteigen aus der Lehrbarkeitsdoktrin bestraft wird. 27 | Im Unterschied zum Ansatz dieser Arbeit, welche die Inkommensurabilität des Literarischen literaturtheoretisch herzuleiten versucht, argumentiert der Preisredner – verständlicherweise – allgemeiner und positiver in Hinsicht auf Literatur; so gehe es darum, »tiefgreifende Einsichten in sich selbst und in die Welt zu gewinnen.« (Wintersteiner 2011, S. 8); zu einer Aufzählung sämtlicher positiver Zuschreibungen auf Literatur vgl. Baum (2014, S. 176). 28 | Es ist aufschlussreich, dass auch die literaturdidaktischen Vorgängermodelle als Verkörperungen der Lehrbarkeitsdoktrin interpretiert werden können. Die scheinbar ganz entgegengesetzte produktionsorientierte Didaktik Waldmanns (2000) häuft z.B. euphorische Urteile über die Unverfügbarkeit literarischer Erfahrung an, nur um diese dann in einem Phasenmodell planbar und verfügbar zu machen. Die Freisetzung des ›Subjekts‹ ist eine Funktion seiner Disziplinierung.
VII. Literatur/Erziehung
lemma (vgl. Fingerhut 1995, S. 40f., Wrobel 2006, S. 214, Kepser 2013, S. 59), begriffen. Andernorts wird die Ummünzung von Kontingenz in Normativität, wie sie didaktische Modelle vornehmen, zugleich als Dilemma anerkannt und im selben Atemzug wieder ignoriert, weil nur so Schülerleistungen auf einen Vergleichsmaßstab bezogen werden können (vgl. Kammler 2006, S. 5). Wie dem auch sei; dass jede Lehre der Literatur und jeder Unterricht im Allgemeinen von Widersprüchen gekennzeichnet ist, wird in literaturdidaktischen Texten bisweilen angedeutet, letztlich aber doch wieder auf einen kontingenten, sozusagen nicht wissenschaftsfähigen Aspekt heruntergerechnet oder der Untersuchung durch andere Disziplinen überlassen. Das Dilemma als praktischer Widerspruch oder als moralisches Problem auf der Handlungsebene hat in der Widerspruchsfreiheit der Wissenschaft im Grunde nichts verloren. Der Fall, dass die diskursive Energie der Literaturdidaktik nur eine Funktion ihrer Widersprüchlichkeit ist, erscheint nicht denk- oder zumindest, gemäß den Regeln des Diskurses, nicht artikulierbar. Dies betrifft auch die epistemischen Paradoxien, die entstehen, wenn unterschiedliche Diskurse, z.B. literaturdidaktische, pädagogische und literaturtheoretische, miteinander vermengt werden.29 Ein besonders eindrückliches Beispiel dafür ist das Geschick der Dekonstruktion im Diskurs der Literaturdidaktik (vgl. Baum 2010). Die verschiedenen Linien dieses Geschehens können hier nicht nachgezeichnet werden.30 Was interessiert, ist vielmehr, dass die Beschäftigung mit der Dekonstruktion zu einer Steigerung des Para29 | Eine subjektive Version dieses Problems gibt Dawidowski (2012, S. 6); er schreibt im Zusammenhang der Wintersteiner-Debatte: »Wer aus tiefstem Inneren bei der Lektüre von Wintersteiners Rede genickt, andererseits jedoch sich den Gewissheiten sozialwissenschaftlicher Methodologien verpflichtet fühlt«, lebe als Wissenschaftler in einer »paradoxalen Grundstimmung«. Offen bleibt allerdings, wie es um die Gewissheiten und die daraus resultierenden Verpflichtungen tatsächlich bestellt ist. Kämper-van den Boogaart (2011) thematisiert das Paradoxe in der Literaturdidaktik im Anschluss an Luhmann als Widerspruch zwischen Wahrheitsgehalt und Effektivität der Lehre. 30 | Wegmann (1993, S. 14) stößt auf einen Mangel an literaturtheoretischem Knowhow in der Literaturdidaktik und führt dies interessanterweise auf die Pädagogisierung der Literatur zurück. Er scheint davon auszugehen, dass die Erziehung durch Literatur die Erziehung zur Literatur dominiert. Folglich habe man die »Einsicht in die Notwendigkeit einer immer schon erforderlichen theoriegeleiteten Anstrengung« im Falle »des Pädagogischen vergessen.« Er fährt fort: »Was Didaktik hier bestimmt, sind nur mehr oder minder trivialisierte Philosopheme der philosophischen Lehre, und nicht, wie es der Begriff der Literarischen Bildung fordert, die Literatur selber.« (S. 18) Wegmann fordert im Weiteren, der Dekonstruktion nahe stehend, eine Form der Lektüre, die »den Bewegungen der Schrift nachgeht«, um so »die sinnkritische Dimension der Literatur ins Spiel der Diskurse zu bringen.« Dass bei Wegmann Literaturdidaktik tendenziell in
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doxen geführt hat und zwar in zweierlei Richtung. Während Autoren, die interessiert waren an einem dekonstruktiven Impuls in der Literaturdidaktik (z.B. Spinner 1995, Belgrad/Fingerhut 1998, Kammler 2000, König 2003), diesen Weg nicht weit gegangen sind, weil eine konsequente Beschäftigung damit die Lehrbarkeitsdoktrin unterhöhlt hätte, folgten die Gegner einer solchen neuen Literaturdidaktik einem Affekt der Ablehnung, der sich in starren Grenzziehungen und Pauschalurteilen Bahn brach, wobei der Regelfall allerdings die Ignoranz gegenüber der letzten gegenstandsnahen Theorie war, die einen gewissen Einfluss auf die Literaturdidaktik hatte; ein prominenter Name ist derjenige Lothar Bredellas, auf dessen Urteil über die Dekonstruktion gleich kurz einzugehen sein wird. Eine Sonderstellung nehmen in der germanistischen Literaturdidaktik die Schriften von Jürgen Förster (z.B. 1993, 1998, 2000, 2002) ein, da diese näher am Wortlaut und an der Argumentation literaturtheoretischer Texte operieren als andere. Förster fragt, was der Literaturdidaktik eine radikale Revision ihres Sprachbegriffs in Hinsicht auf die Differenzialität und Prozessualität von Schrift einbringen würde (vgl. dazu auch Baum 2007). Wenn »im Gleiten des Sinns ein Ent-Gleiten mitzudenken ist« (Förster 2002, S. 239), ist es wenig plausibel, auf der pädagogischen Funktion bzw. der Erziehung durch Literatur zu beharren. Wie bei Nikolaus Wegmann ist der Versuch einer Umkehrung der literaturdidaktischen Hierarchien zu beobachten, wobei allerdings die Frage offenbleibt, ob durch eine Inthronisierung der Literaturtheorie als Leitdiskurs der spezifische Widerspruch des Didaktischen nicht gerade verfehlt wird. Es gelingt Förster jedoch in seinem Aufsatz über Goethes Werther (Förster 2000) nicht nur, die erkenntniskritische Dimension einer Fokussierung von Schriftlichkeit klar zu machen, sondern zugleich deren pädagogischen Wert – als nachdrücklichen Hinweis auf die Zeichenhaftigkeit der Lebens- und Kommunikationsverhältnisse – zu verdeutlichen. Ferner berührt er in seiner kritischen Analyse eines Lesebuchtextes (Förster 1998; vgl. v.a. die Schlusspassage) exakt denjenigen Punkt, der vom Diskurs der Literaturdidaktik so gut es geht unterdrückt wird: den unaufhebbaren Widerspruch zwischen dem theoretischen Wissen von der Literatur sowie der leitenden Doktrin des Erziehungswesens und der Literaturdidaktik. Die Schriften von Jürgen Förster lesen sich noch heute wie Gegentexte, Negationen der Logik des literaturdidaktischen Diskurses. Ein Abstand trennt diese Schriften von dem, worauf sie sich beziehen, und gerade darin liegt ihr besonderer Wert. Die etwas peinliche Frage steht im Raum, ob denn die Literaturdidaktik von Literatur spricht, und wenn dies der Fall ist, ob sie einen Begriff ihres Gegenstandes hat. Es gibt manche Affinität dieser Studie zu den Literaturtheorie übergeht, zeigt letztlich, dass Literaturtheorie in der Literaturdidaktik keinen Ort hat.
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Studien Försters hinsichtlich der Bedeutung von Texten des Poststrukturalismus – wenn auch Förster mehr an einer theoretischen Modernisierung des didaktischen Literaturbergriffs interessiert ist als an einer dekonstruktiven Theorie der Literaturdidaktik im Ganzen.31 Die gegenwärtige Literaturdidaktik scheint sich an der Kognitionspsychologie theoretisch zu orientieren. Dies geschieht vielleicht deswegen so konsequent, weil die bislang mehr oder minder unbestimmte Form literarischen Verstehens auf diese Weise fokussiert werden kann. Mit anderen Worten: Erstmals verspricht man sich Aufschluss darüber zu erhalten, wie genau literarische Lektüren ablaufen (sollen). Die Forschungsergebnisse der Kognitionspsychologie und deren Adaption sowohl in der Sprach- als auch in der Literaturdidaktik – man denke etwa an die Studie von Grzesik (2005) – suggerieren die Verfügbarkeit eines Modells kognitiver Aktivität, das die erfolgreiche Übertragung und Weiterverarbeitung von Wissen erklären und anleiten kann.32 Während zuvor Literatur analysiert, Verfahren vorgeschlagen und pädagogische Ziele formuliert wurden, ohne dass in den Blick gekommen wäre, wie dies alles wirklich funktionieren soll, gab es jetzt, so die Hoffnung, ein Wissen, das es erlaubt, die Kontingenzen von Sprache (zumal als Schrift), ›Subjekt‹ und Gesellschaft in den Griff zu bekommen. War die Dekonstruktion für viele Fachvertreter und Praktiker nicht mehr als eine hyperphilologische Spielerei, die an den Notwendigkeiten von Erziehung und Schule scheitert, erschien die kognitionspsychologisch argumentierende Bildungswissenschaft (und Literaturdidaktik) auf der Bühne als eine Instanz, die gelingende Vermittlung theoretisch und empirisch genau beschreiben kann. Ferner wusste die nur vordergründige ›Anwendung‹ der Dekonstruktion wissenschaftlich nicht zu überzeugen. Eine vorsichtige Modernisierung der hermeneutischen Grundlagen des Deutschunterrichts war schlicht zu wenig. Mit der kognitionspsychologischen Methodik und Begrifflichkeit professionalisierte sich die Literaturdidaktik, d.h. sie grenzte sich vom Praxisfeld ab und vertrat zugleich den Anspruch, dieses besser zu verstehen als andere Akteure. Die ministeriell bestellten Experten traten fortan mit dem symbolischen Kapital des wahren Wissens über die Qualität des Unterrichts auf, ohne doch den eigenen Standpunkt zur Disposition stellen zu müssen. Wissenschaft und Politik als Dirigenten der Schule – das war für viele Lehrer zu viel. Der Gewinn soll im exakten Wissen und in zuverlässigen Prognosen liegen. Die Gegenrechnung steht noch aus: Kognitionspsychologisch begründete 31 | Jürgen Förster ist früh verstorben. Es spricht Einiges dafür, dass ihm eine poststrukturalistische Literaturdidaktik schließlich doch als lohnenswertes Projekt erschienen ist. 32 | Eine grundlegende und umfassende Kritik des Kognitivismus in der Literaturdidaktik gibt es, soweit der Verf. sieht, nicht.
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Bildungsforschung (und Literaturdidaktik) als leerer Formalismus des Geistes, für den kennzeichnend ist, Machtverhältnisse nicht reflektieren zu müssen, keinen Körper zu kennen und jederzeit in der Lage zu sein, die Sprache als Information effektiv zu verarbeiten (wenn das Richtige gelernt wurde). Es entsteht der Eindruck einer großen Entleerung bzw. Tilgung des metaphysischspekulativen Erbes – ohne dass in den Blick rückt, was von diesem Erbe – etwa im Subjektbegriff – noch wirksam ist. Dies ermöglicht nicht zuletzt, sich indifferent zum Politischen zu verhalten. Die Dekonstruktion kann dagegen nur Unruhe (als Verwerfung im Paradoxen) versprechen und im gelingenden Verstehen eine metaphysische Illusion sehen. Die Auseinandersetzung mit dieser Form der Lektüre von Texten in der Literaturdidaktik kann denn auch weitgehend als gescheitert betrachtet werden. Einzelne Autoren, wie z.B. Clemens Kammler, publizierten noch um die Jahrtausendwende zu neuen Literaturtheorien und Literaturdidaktik (Kammler 2000), um kurz danach (Kammler 2006) die Durchsetzung des Kompetenzdiskurses entschieden zu forcieren. Karlheinz Fingerhut (1994) sprach sich für einen ›intelligenten Eklektizismus‹ im Umgang mit der Dekonstruktion aus und suggerierte damit, man könnte sich dieses und jenes nehmen, umdeuten, anpassen, um Unterricht voranzubringen. Es ist unschwer zu erkennen, dass in einem solchen Vorgehen im Grunde ein ›Widerstand gegen die Theorie‹ (de Man) am Werk ist, die auf die Dimension des Zwergenhaften verkleinert wird. Symptom der paradoxalen Verfassung des literaturdidaktischen Diskurses ist jedoch, dass Fingerhut selbst nicht nur um die theoretische Unbedarftheit der Literaturdidaktik weiß, sondern auch um den Vorgang der Invisibilisierung von Widersprüchen. Er schreibt über die (damals) neuen Literaturtheorien: »Sie werden in ein hermeneutisch geprägtes Denken hinein rezipiert und dabei so gründlich adaptiert, daß Widersprüche, die auftreten müßten, nahezu verschwinden.« (Fingerhut 1994, S. 32) So ist sein eigenes Modell implizit und explizit gezeichnet von der Unmöglichkeit des vermeintlich Notwendigen.33 Eklektizismus hingegen ist nichts anderes als eine der zahlreichen Formeln, die unbemerkbar machen sollen, dass der Widerstreit zwischen den verschiedenen Diskursformen nicht durch ein funktionalistisches und intentionalistisches Modell der Adaption und Nutzung fremder Wissensformen aus der Welt geschafft werden kann. Mit anderen Worten: Es soll doch gelehrt werden, wie recht eigentlich nicht gelehrt werden kann. Im selben Moment sowohl einem 33 | Es ist gerade hier an den bahnbrechenden Aufsatz Fingerhuts (1988) zur doppelten Doktrin des literaturdidaktischen Diskurses zu erinnern. Die Texte Fingerhuts schillern zwischen kühner Erkenntnis und Reproduktion der Lehrbarkeitsdoktrin. Die Texte Lothar Bredellas entbehren einer solchen interessanten Widersprüchlichkeit und Vieldeutigkeit nahezu vollkommen. Zu einem frühen, sehr reflektierten und abwägenden Beitrag zur ideologiekritischen Literaturdidaktik vgl. im Übrigen Fingerhut (1974).
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eklektizistischen Verfahren das Wort zu reden und die Aporien der literaturdidaktischen Auseinandersetzung mit postmodernen Theorien zu sehen, ist ein schlagender Beweise für die Widersprüche, die in der Literaturdidaktik am Werk sind und für die Lehrbarkeitsdoktrin, die jene letztlich invisibilisiert. Gelegentlich kommen der Literaturdidaktik in ihrer Auseinandersetzung mit der Dekonstruktion auch die positiven Vorurteile abhanden und werden durch negative ersetzt. Ein Beispiel dafür sind die Schriften Lothar Bredellas, in denen die Dekonstruktion nur in personaler Form adressiert wird; von ›Dekonstruktivisten‹ ist da stets die Rede, etwa so: »Da Dekonstruktivisten glauben, das Signifikat vom Signifikanten trennen zu können, vertreten sie die Auffassung, dass wir mit den sinnfreien Signifikanten spielen können.« (Bredella 2004a, S. 74) Ein solcher Satz zeigt dreierlei: Erstens den Unwillen, sich mit den doch sehr unterschiedlichen Texten aus dem Kreis des Poststrukturalismus überhaupt zu beschäftigen; eine Differenzierung oder am Text arbeitende Auseinandersetzung findet nicht statt. Zweitens die Absicht der Diffamierung durch ideologische Sprache, die an niedere Formen des politischen Diskurses erinnert. Drittens die Orientierungslosigkeit und Falschheit der Aussage auf der inhaltlichen Ebene. In der Grammatologie steht zu lesen: »Wir halten es prinzipiell für unmöglich, durch Interpretation oder Kommentar das Signifikat vom Signifikanten zu trennen und so die Schrift durch die Schrift, die auch noch Lektüre ist, zu zerstören; nichtsdestoweniger glauben wir, daß diese Unmöglichkeit sich historisch artikuliert.« (Derrida 1974, S. 276; vgl. Derrida 1986, S. 56)
Derrida insistiert auf der Annahme, dass es ein vom Signifikanten getrenntes Signifikat nicht gibt, weswegen die differentielle Relation von Signifikant und Signifikat, die eine ganz eigene Dynamik auslöst, auch nicht durch ein übergeordnetes Zeichen (Interpretation, Kommentar) aufgelöst werden kann. Die Lektüre schiebt jede Interpretation auf, weil Signifikant und Signifikat zusammengehören und es keine Instanz gibt, die diesen Zusammenhang hinter sich lassen könnte. Von autonomen Signifikanten ist gerade nicht die Rede, vielmehr von Signifikaten, die nur durch einen Signifikanten erscheinen können und folglich darauf angewiesen sind, durch etwas anderes zum Ausdruck gebracht zu werden als sie selbst. Man kann den Eindruck gewinnen, dass die Verkürzung und pauschale Diffamierung der Dekonstruktion bei Bredella einem Willen zur Grenzziehung entspringt, der seinerseits eine Reaktion auf erkannte Gefahr darstellt – im Sinne von Paul de Mans Analyse aus Der Widerstand gegen die Theorie: »Es ist eine immer wieder verwendete Strategie jeglicher Angst, das, was sie für bedrohlich ansieht, durch Vergrößerung oder Verkleinerung zu entschärfen, indem sie ihm Machtansprüche zuschreibt, denen es zwangsläufig nicht genügen kann.« (de Man 1987, S. 83f.) Was in unserem Zusammenhang auf dem
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Spiel steht, ist dabei nicht nur die Lehrbarkeitsdoktrin der Literaturdidaktik, sondern auf einer noch allgemeineren Ebene das Beharren auf einem fälschlich u.a. Gadamer zugeschriebenen Repräsentationsmodells von Sprache, das es erlaubt, literarisches Lesen als Verstehen von Welt zu begreifen; deswegen soll an der Annahme, dass »Sprache Welt zur Darstellung bringt« (Bredella 2004a, S. 74) nicht gezweifelt werden. Von dort ist es nicht mehr weit zur Behauptung, wir alle seien – in den Augen der ›Dekonstruktivisten‹ (klingt das nicht wie eine gefährliche Sekte, zumal wenn man es ständig wiederholt?) – »nur Opfer einer sich selbst sprechenden Sprache« (ebd., S. 78). Die Auseinandersetzung Bredellas mit der amerikanischen (literaturwissenschaftlichen) Dekonstruktion vermag ebenfalls nicht zu überzeugen. Es ist zwar richtig, dass in den Schriften Paul de Mans zu häufig auf die Unterscheidung von Referenz und Bedeutung verzichtet und stattdessen der Eindruck erweckt wird, dass der Kern der sprachlichen Problematik in der zwangsläufig frustrierenden Erwartung sicherer Referenz sprachlicher Zeichen liegt. Die Ähnlichkeit von Ausdruck und Inhalt spielt, anders als Bredella behauptet (ebd., S. 76), für de Man jedoch keine wichtige Rolle spielt; es wäre zu einfach für de Man gewesen, ein vormodernes Sprachmodell zu dekonstruieren. Es ist wohl eher der Didaktiker, der hier Referenz und Ikonizität in einen Topf wirft. Eine Auseinandersetzung mit de Man kann ferner nicht so verkürzt erfolgen, dass leitende Annahmen wie der Widerspruch von logischer und rhetorischer Energie in der Sprache gar nicht erwähnt werden. Die Verkürzung der Argumentation fällt so, obwohl ein problematischer Aspekt erkannt und thematisiert wurde, wieder mit der Verfälschung des kritisierten Autors zusammen. Ähnliches lässt sich zu Bredellas Unterstellung sagen, dass im Falle des Poststrukturalismus eine Fehllektüre de Saussures, genauer eine Verwechslung von langue und parole vorliegt (vgl. ebd., S. 72 sowie 2004b, S. 26f.). De Saussure habe sehr wohl gesehen, dass das Sprachsystem nur als Abstraktion in der wissenschaftlichen Beobachtung erscheint, wohingegen die Realität der Sprache in der Tätigkeit der Sprechenden liegt. Dies ist richtig und lässt sich bei de Saussure nachlesen. Falsch ist indes die Schlussfolgerung: »Dekonstruktivisten ignorieren jedoch diesen für de Saussure fundamentalen Unterschied und betrachten eine sprachliche Äußerung wie ein Stück Sprache als System.« (Bredella 2004b, S. 27) Mit anderen Worten: de Saussure hat das Subjekt (freilich nicht: den Anderen) in der Sprache gesehen, Derrida (obwohl er gar nicht genannt bzw. auf die entsprechenden Schriften eingegangen wird) hingegen nicht. Zunächst einmal ist zu sagen, dass Derrida, etwa in Positionen, eine sehr differenzierte Kritik an de Saussure formuliert, die mit der Würdigung von dessen Leistungen anhebt (Zusammengehörigkeit von Signifikat und Signifikant, differentieller und negativer Charakter des Sprachsystems; vgl. Derrida 1986, S. 53f.). Die Arbeit der Dekonstruktion setzt an dem Punkt an, an
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welchem Derrida entdeckt, dass der aus der Metaphysik ererbte Begriff des Zeichens und der differentielle Charakter des Sprachsystems nicht harmonieren; vielmehr kommen über den Zeichenbegriff psychologistische und phonozentrische Elemente in de Saussures Diskurs (vgl. ebd., S. 55-63), ferner eine nahezu irrationale (und in gewisser Hinsicht doch wieder rationale) Verdammung der Schrift.34 Es ist hier nicht der Ort, diese Diskussion wieder aufzunehmen; es muss nur gesagt werden, dass der Leser von Bredellas Text gar keinen Hinweis darauf enthält, dass Derridas Auseinandersetzung mit de Saussure zu den Schlüsseltexten von dessen frühem Oeuvre gehört. Wenn von einem Nichtverstehen Derridas in Hinsicht auf de Saussure die Rede ist, dann müsste zumindest darauf hingewiesen werden, wo und wie sich der Gescholtene mit de Saussure auseinandergesetzt hat. Aber es genügt auch hier, von ›den Dekonstruktivisten‹ zu schreiben. Das Subjekt wird, etwa in Derridas Rousseau-Lektüre, weder geleugnet noch als der Sprache nur äußerlich betrachtet. Vielmehr konstituiert sich das Subjekt, indem es die Präsenz durch die Sprache wiederzugewinnen versucht (Derrida 1974, S. 266). Doch dabei kommt es zu einem Prozess der Verschiebung von Subjektivität, zu einer Alienation des Subjekts, das sich gewinnt, indem es für sich selbst ein Anderer wird. Der Schriftsteller etwa arbeitet mit der Sprache, »indem er sich in gewisser Weise und bis zu einem gewissen Grad von ih[r] beherrschen läßt.« (Ebd., S. 273) Mit der Sprache etwas ausdrücken und sich auf der anderen Seite sich bis zu einem gewissen Grad von der Sprache beherrschen lassen. Das Verhältnis zwischen Sprache und schreibendem Ich stellt sich bei Derrida wesentlich komplexer dar, als es der Text von Bredella vermuten lässt. Dieser ist durch und durch gezeichnet vom Phantasma eines Subjekts, das sich die Literatur zu nutzen macht, etwa als Leser, der einmal hedonistisch, einmal beobachtend, einmal kritisch mit dem Text umgeht (vgl. etwa Bredella 2004a, S. 101-109). Das ›gesellschaftlich handlungsfähige Subjekt‹ steuert den Text im Grunde nach seinem Belieben; es gibt nicht, was es nicht hat, sondern es hat immer schon, was es gibt, ist in der stärkeren Position. 34 | Zum notwendigen Widerspruch hinsichtlich des Lautlichen siehe de Saussure (2013, S. 69, S. 99 und S. 107): »Wie wir sehen werden, hat das Wesentliche der Sprache nichts zu tun mit dem lautlichen Charakter des sprachlichen Zeichens.« Versus: »Zunächst macht uns das graphische Abbild der Wörter den Eindruck eines beständigen und soliden Objekts, das besser als der Laut geeignet ist, die Einheit der Sprache durch den Lauf der Zeit zu bewahren. Diese Verbindung mag noch so oberflächlich sein und nur eine künstliche Einheit schaffen, sie ist viel leichter zu fassen als das natürliche und einzig wirkliche Band, dasjenige des Lautes.« Versus: »Das offensichtliche Ergebnis von all dem ist, daß die Schrift den Blick auf die Sprache verschleiert; sie ist keine Einkleidung, sondern eine Verkleidung.«
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Die Problematik des Verhältnisses von langue und parole wird von Derrida – wer sollte sonst gemeint sein als derjenige, der de Saussure nicht verstanden hat? – nicht thematisiert. Man könnte allenfalls mit einer gewissen Unschärfe sagen, dass die différance auch aufgefasst werden könnte als immerwährende Arbeit der parole in der langue, was an ein System in ständiger Bewegung denken lässt. Die starre Opposition von langue und parole wäre dann aufgehoben und es würden durch diese Begriffe verschiedene Kräfte in einem komplexen Prozess bezeichnet werden. Von einer Verwechslung von langue und parole könnte dann nicht mehr die Rede sein, bestenfalls von ihrem Ineinanderwirken. Es ist allerdings möglich, dass eine solche Auffassung den voraussetzungsreichen Begriffen de Saussures zu viel Gewalt antut, aber diese Gewalt beginnt zu wirken, wenn man versucht, Bredellas Lesart der Dekonstruktion (nebst den verwendeten Begriffen) angemessener zu formulieren. Auch wenn die pauschalen Fehlurteile Bredellas nahezu ihresgleichen suchen35, so bleibt doch der Eindruck, dass ihr Grund in den epistemischen Paradoxien literaturdidaktischen Wissens liegt. Da die Logik des philosophischen und literaturtheoretischen Diskurses auf den literaturdidaktischen nicht abgebildet werden kann, kommt es zu Verkürzungen, vordergründigen Adaptionen und bisweilen auch zu krassen Verfälschungen. (Dies führt so weit, dass die hier vorgenommene Prüfung der Argumente Bredellas auf ihren theoretischen Gehalt dem Leser auch obsolet vorkommen kann, weil zu erwarten ist, dass ein theoretisches Niveau unterboten wird; wenn allerdings grelle Werturteile sich mit unhinterfragter Ideologie verbinden, müssen die Probleme aufgezeigt werden.) Literaturdidaktik kommt nicht umhin, auf ihren Gegenstand und die darüber gebildeten Theorien zu referieren, muss ihren Gegenstand wegen der Arbeit der Lehrbarkeitsdoktrin aber verfehlen. Im Falle einer ideologischen Ausrichtung des Textes steigert sich, wie gesehen, die Problematik. Die kurze Darstellung paradoxer Effekte des literaturdidaktischen Diskurses bezog sich zuletzt auf die notwendigerweise misslingende Integration von Texten und Begriffen, die unterschiedlichen Denk- und Schreibweisen zugehören. Der intelligente Eklektizismus der Literaturdidaktik (Fingerhut) scheitert letztlich doch. Während die Dekonstruktion als Praxis des Schreibens versucht, die heteronome Besetzung der Literatur zu vermeiden (und sich ›bis zu einem gewissen Punkt‹ – nebst allen Risiken – der Autoreflexivität der Zeichen überlässt), kann die Literaturdidaktik aus Gründen, die in ihrer diskursiven Verfassung liegen, dieser Gefahr häufig nicht ausweichen, was zu einer heteronomen Fassung von Autonomie führt. So mündet z.B. die Entdeckung der Abgründe des Verstehens in der Dekonstruktion in der didaktischen Adaption zu einem Modell der »Differenzierung und Korrektur des Spontanverstehens« 35 | Vgl. jedoch die Einlassungen Clemens Kammlers (2011a und b) sowie dazu die Kritik bei Baum (2012, 2014).
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(Fingerhut 1995, S. 41) als Voraussetzung für Erfolgserlebnisse der Schüler (vgl. ebd. sowie die Analyse bei Baum 2010). Das Insistieren auf Negativität wird unter der Hand zu einer Anreicherung positiven Wissens. Wenn Literatur gelehrt werden soll, weil sie nicht gelehrt werden kann, dann hat dies auf der Theorie- und Forschungsebene Folgen für die praktizierten Schreibweisen und Argumentationsstile. Die Unerreichbarkeit der Literatur und die Ausrichtung des didaktischen Diskurses auf eine unbestimmte Zukunft führen dort zu einer gegenläufigen Bewegung. Harte und weiche Texte stehen nebeneinander und erzeugen unterschiedliche didaktische Wahrheiten über Literatur. Während weiche Texte, oft nicht ohne Emphase, die Leistungsfähigkeit des literarischen Mediums hinsichtlich Bildung, Gesellschaft und ästhetischer Erfahrung betonen und an einer empirischen Erfassung der Erträge des Unterrichts eher weniger interessiert sind, tendieren harte Texte zur Festschreibung positiven Wissens über literarische Lernprozesse auf der Basis empirischer Daten. Dem korrelieren nicht selten entsprechende Stile: ein knapper, die Erfassbarkeit des Gegenstands betonender, gelegentlich bürokratisch anmutender Stil und ein offener, spekulativer, bisweilen assoziativ-pointierter Stil.36 Da die Wahrheit nicht greif bar ist, lässt sie sich als diskursiv erzeugte Differenz selbstbezüglich herstellen. Nicht leugnen lässt sich der Eindruck, dass die kompetenzorientierte Literaturdidaktik, angetreten nicht zuletzt um eine neue Einheit des Faches zu schaffen, die Texte und Schreibweisen eher auseinandergetrieben hat; die Macht des neuen Diskurses, der vielleicht doch der alte ist, ruft auch nachdenkliche und kritische Stimmen auf den Plan.37 Als Beispiel für eine harte Schreibweise kann Almuth Meissners Aufsatz Domänenspezifisches Vorwissen und literarisches Verstehen. Erste Ergebnisse einer qualitativ-empirischen Studie zur Interpretation von Lyrik (Meissner 2010) gesehen werden. Der Titel erlaubt dem Leser die Einordnung des Forschungsstils: Selbstverständlichkeit von Verstehen und Interpretation; Kombination dieser traditionellen Perspektiven mit dem Vokabular der kognitionspsychologisch orientierten Leseforschung; Orientierung an der Dichotomie qualitativ/quantitativ sowie am Diskurs empirischer Forschung in der Literaturdidaktik. Die Einleitung stellt einen Bezug her zu den Abituranforderungen an einen Interpretationsaufsatz und markiert so umgehend den Anspruch der Formulierung handlungsrelevanten Wissens. Der Aufsatz setzt sich zum Ziel, die notorisch unterbestimmten Anforderungen der Kultusbürokratie abzubauen, um »ein klareres Bild davon zu erhalten, über welches für die Erschließung eines Ge36 | Diese Gegenüberstellung vereinfacht; sie soll nur eine erste Orientierung ermöglichen. Die Dinge können wesentlich komplizierter sein. Ein Stil kann im anderen reüssieren. Texte eines Autors können variieren. Vermeintlich Eindeutiges kann durch Abwägen, Relativieren, Selbstkritik verschiedene Perspektiven integrieren. 37 | Vgl. etwa die differenzierte und nachdenkliche Darstellung von Fingerhut (2006).
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dichts der Gegenwartslyrik notwendige spezifisch literarische Vorwissen Schüler der gymnasialen Oberstufe verfügen und inwiefern sie dieses in den Interpretationsprozess einbringen.« (Meissner 2010, S. 133) Hier wird (zunächst) kein Zweifel daran zugelassen, dass die empirische Erforschung von Unterrichtshandlungen im Sinne des Erkenntnisziels erfolgreich sein kann. Zugleich verhält sich das Projekt offensichtlich affirmativ zu der Institution, auf die es sich bezieht. Es geht um die Optimierung von Schülerleistungen und die Literaturdidaktik erhebt den Anspruch, diejenige Disziplin zu sein, die durch die Formulierung von hoch praxisrelevantem, handlungsorientierendem Wissen, die fachspezifischen Anforderungen formulieren kann. Kurz: Literaturdidaktik tritt als Agentin der Institution auf und argumentiert, wenn nicht aus deren Sicht, so doch in deren Interesse. In diesem Sinne spricht Thompson (2014, S. 18) von einer »Stützung gesellschaftlicher Normalisierung durch Forschung.« Der Leser von Texten des harten Stils gerät umgehend in einen Argumentationssog, in dem sich hoch kontingente Setzungen auf der inhaltlichen Ebene (angenommenes Zusammenspiel von richtigem Vorwissen, möglichem literarischem Verstehen und erwünschtem Lernerfolg) mit solchen auf der methodologischen Ebene (Präferenz für eine bestimmte, nicht mehr zu diskutierende, andere Paradigmen ausschließende Form der empirischen Forschung) verbinden. Es entsteht der Eindruck einer Forschung, die professionell agiert und zugleich im Sinne eines gesellschaftlichen Auftrags das Notwendige tut. Die unsichtbare Hand, welche die Integration von Gegenstand und Methode, Anspruch und Zweck des Vorgehens, integriert, ist die Lehrbarkeitsdoktrin. Wenn die Möglichkeit, Literatur angemessen zu verstehen, dargestellt wird, spielen starke, aber nicht immer ausgesprochene Prämissen über ›Subjektivität‹ und ›Sprache‹ eine entscheidende Rolle. Meissner expliziert im Eingang ihres Aufsatzes knapp den theoretischen Rahmen der Untersuchung. Unverzichtbar ist das Einverständnis mit dem kognitionspsychologischen Lesemodell: »Aus der kognitionspsychologischen Forschung ist bekannt, dass Lesen ein aus verschiedenen Teilprozessen bestehender komplexer Prozess ist, bei dem Rezipienten infolge eines zirkulären Wechselspiels zwischen Decodierung des Graphemmaterials und In-Beziehung-Setzen der dabei generierten Bedeutung mit bereits vorhandenem Wissen einen subjektiven Sinn konstruieren, der einer Evaluation standhalten bzw. ggf. korrigiert werden muss (vgl. Grzesik 2005).« (Meissner 2010, S. 133) Der Satz bezieht sich auf die Mehrheitsmeinung in der Literaturdidaktik; seine Form, die suggeriert, dass der Inhalt nicht gesondert diskutiert werden muss, sondern als communis opinio vorausgesetzt werden kann, vollzieht den Ausschluss anderer Zugänge und sichert durch eine Art rituelle Wiederholung dessen, was gemäß der Doktrin als wahr gelten darf, seine Geltung. Der formale Aspekt der Äußerung ist dabei entscheidend, stellt er doch eine Art Ein-
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ladung dar, an dem bekannten Sprachspiel, dessen Regeln beherrscht werden, teilzunehmen. Inhaltlich ist mindestens zweierlei bemerkenswert: Erstens wird Schrift in linguistischer Verengung als Graphemmaterial aufgefasst; zweitens wird die Differenz zwischen Schrift, Bedeutung und Wissen als gut handhabbar dargestellt, das heißt: Dem ›Subjekt‹ wird positiv unterstellt, es sei in der Lage, den gesamten Vorgang von einem übergeordneten Standpunkt zu beobachten und zu steuern. Als hilfreich wird in diesem Zusammenhang wohl der modulare Charakter des Lesens – die Rede ist von ›Teilprozessen‹ – angesehen. – Und wenn Literatur gerade dies ironisch in Frage stellen würde? – Meissner akzentuiert im zweiten Teil der theoretischen Vorbemerkung kurz die Besonderheit literarischen Lesens, geht aber nicht davon ab, dass es sich auch hier, trotz gradueller Differenzen, um einen »Prozess der Bedeutungsgenerierung« (Meissner 2010, S. 134) handelt. Schrift verbraucht sich und geht schlussendlich in Bedeutung auf. Die einleitenden Passagen des Textes von Meissner haben eine doppelt-affirmative Funktion hinsichtlich der Lehrbarkeitsdoktrin: Einerseits bestärken sie die kognitionspsychologische Theorieoption, andererseits schreiben sie das Projekt der Formulierung von Handlungswissen fort. Die Folge ist, dass festgeschrieben wird, welche Form der Bedeutungsgenerierung angemessen ist, denn die Subjektivität, von der in der eingangs zitierten Definition des Lesens die Rede ist, wird durch die beobachtend-beurteilende Expertenmacht in die Schranken verwiesen. Der Text operiert deshalb mit einem Beobachtungsschema Experten vs. Novizen, der den Wissen-Macht-Zusammenhang des didaktischen Dispositivs expliziert und vertieft.38 Die Studie überprüft im Folgenden anhand empirischer Daten (Mitschnitte aus Unterrichtsgesprächen) den Zusammenhang von Vorwissen und Text-
38 | So schreibt Meissner (2010, S. 143f.) über den Mangel an syntaktischem domänenspezifischem Wissen bei ›Novizen‹: »Dass Experten mehr Übung in einem derartigen Umgang mit Literatur haben, ist wenig erstaunlich, da Voraussetzung ihres Expertenstatus.« Der Satz vermittelt den Eindruck einer sich selbst bestätigenden Prophezeiung. Die Verwendung der Bezeichnung ›Experte‹ legt, wie im medialen Diskurs über Wissenschaft, die Vorstellung eines rein objektiven, von außerhalb unmöglich anzuzweifelnden Wissens nahe. Wird die Bezeichnung innerhalb der Wissenschaft gebraucht, wirkt das, als ob damit die Dignität des entsprechenden Wissens betont werden soll. Mit dem dualen Schema Novize vs. Experte wird es, funktional betrachtet, möglich, den Lernweg eines Schülers als schrittweisen Abbau von Unvermögen zu beschreiben. Es muss zu Gunsten Meissners gesagt werden, dass die Verf. bisweilen ironisch zwischen den gesuchten Kompetenzen und den fröhlich-fatalistischen Interpretationstechniken der Schüler navigiert. Scheinbar kann man den didaktischen Ernst – es geht ja um den Aufund Ausbau von Kompetenzen! – doch nicht durchhalten.
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deutung am Beispiel von Durs Grünbeins Sonett Nr. IX aus dem Zyklus Nachtbilder (Grünbein 1999): IX 1
Hat denn das Abschiednehmen schon begonnen Am Tag der Ankunft? War der Stern dort kalt, Bevor Ovid ihn sah, – Milliarden Megatonnen Von Staub zu einer Illusion geballt. 5 Möbliert mit Brennholz sind die tiefen Zimmer Der Lichterstadt, die Häuser Hünengräber nachts, An deren Fronten das elektrische Geflimmer Ein familiäres All erzeugt. Im Fahrstuhlschacht Summiert die Münze ein Jahrzehnt, der Hosenknopf 10 Ein ganzes Leben zwischen ein, zwei Kriegen. In Marmor (bald nach Christus) kann man sehn, Wie auch Skelette noch umschlungen liegen Vom Beischlaf, – wie der Totenkopf 14 Im Kuß ein Lächeln zeigt und ein Verstehen.
Es herrscht ein insgesamt konservativer, hypothesengesteuerter Forschungsstil vor. Das Ergebnis besteht in der Bestätigung vergleichbarer Untersuchungen (vgl. Meissner 2010, S. 144). Außer Acht bleiben die Fremdheit der Situation, des Textes, der Institution. Es kommt darauf an, das erwartbare Nicht-Gelingen des didaktisch-wissenschaftlichen Ansinnens zu überspielen, um positive Daten zu gewinnen. Entscheidend hierfür ist die Formulierung des wissenschaftlichen Textes selbst, der durch die Inszenierung von Genauigkeit und methodischer Kontrolle die performative Differenz zwischen einem Zu-denSchülern-Sprechen und einem Von-den-Schülern-Sprechen überschreibt. Entscheidungen auf der methodologischen und der pragmatischen Ebene unterstützen dieses Unterfangen. Offensichtlich um überhaupt eine gewisse Sicherheit für die Gewinnung positiver Daten zu erhalten, wird nicht irgendeine Schule ausgewählt: »Alle Probanden sprachen Deutsch als Muttersprache« und die Erwartung eines »aufmerksamen und sprachsensiblen Umgangs mit literarischen Texten« (Meissner 2010, S. 136) liegt dem Vorgehen zu Grunde. Wenn ›Bedeutungsgenerierung‹ beobachtbar sein soll, dann muss sozusagen ein Mindestmaß an hermeneutischer Bereitschaft vorliegen und dieses erwartet man am ehesten in einer sozial hoch selektiven Schule, die zumindest vermitteln kann, dass literarisches Wissen zum symbolischen Kapital eines bür-
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gerlichen Lebenslaufs gehört.39 Auf der methodologischen Ebene ist auffällig, dass im Vorhinein erhobene Daten (Fragebogen) nicht ausgewertet werden, weil sie den Erwartungen der Forscherin nicht entsprechen (vgl. S. 136, Anm. 98 sowie S. 138, Anm. 102). Hier wird das Interesse deutlich, nicht ein zu hohes Maß an diskursiver Differenz zu erhalten, um die systematische Auswertung der Daten nicht zu gefährden. Fragliches, Vieldeutiges, vermeintlich Unpassendes gerät aus dem Radar, weil eine wesentliche Funktion des Textes darin besteht, die Leistungsfähigkeit der verwendeten Methodologie unter Beweis zu stellen. Dies betrifft erst recht das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Diskurse, denn die »zu erwartende literaturwissenschaftliche Analyse würde den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen.« (Ebd., S. 137, Anm. 99) Dieser Satz macht zweierlei deutlich: Die Literaturdidaktik versteht sich nicht mehr als Anhängsel der Fachwissenschaft; auch wenn sie darauf angewiesen ist, deren Begriffe zu verwenden, wird eine spezifische eigene Kompetenz der Erarbeitung von Wissen über die Vermittlung von Literatur in institutionellen Kontexten reklamiert. Ferner lässt sich die Entkopplung von der Literaturwissenschaft und Literaturtheorie als Versuch der Entparadoxierung verstehen; die Alterität literaturtheoretischer Diskurse lässt sich umgehen, wenn auf diese nur abstrakt referiert und im Übrigen der bewährten Methodologie empirischen Forschens vertraut wird. Der Diskurs empirischer literaturdidaktischer Forschung bringt Texte hervor, die häufig nach dem Muster »Theoretische Grundlage – Fragestellung/ Hypothese – Material/Kommentar – Schlussfolgerung« aufgebaut sind. Die im theoretischen Diskurs entwickelten Kategorien (hier nach: Zabka 2005) dienen dabei der Identifizierung transkribierter Äußerungen als typische Elemente einer Klasse. Stilistisch ist eine Differenz zu bemerken zwischen der kühlen, begrifflich ausgerichteten Beschreibungssprache und den saloppen, Deutungen ausprobierenden und wieder verwerfenden Äußerungen der Schülerinnen und Schüler. Insgesamt wird geschlossen auf das »typische Novizenproblem« (Meissner 2010, S. 143) nur mangelhaft ausgeprägten domänenspezifischen Vorwissens. Genauer besteht das Hauptproblem darin, dass die Probanden »Elemente des zugrundegelegten Textes isolieren und zudem vorwiegend in lebensweltliche Wissenskontexte« stellen, »ohne das Ergebnis dieser Operationen gewissenhaft auf Schlüssigkeit im Kontext des gesamten Gedichts zu 39 | Vgl. dazu auch die Aussagen der Schülerinnen und Schüler bei Dawidowski/Hoffmann (2016), die nicht selten darauf schließen lassen, dass Literatur als Gegenstand in Kauf genommen wird, um nicht als Folge eines Versagens auf dem Gymnasium als gesellschaftlicher Verlierer dazustehen. Die von Meissner befragten Schülerinnen und Schüler äußeren sich nicht explizit in diesem Sinne, aber man darf vielleicht die Frage stellen, ob die Erwartung sprachsensibler Lektüren im Grunde eine Euphemisierung der angenommenen sozialen Realität darstellt.
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prüfen.« (Ebd.) Deutlich wird also ein breiter und tiefer Riss zwischen der erwünschten und der tatsächlich vollzogenen Form der Lektüre. Insbesondere der Anspruch der Interpretation als einer auf das Ganze zielenden ›Bedeutungskonstruktion‹ scheint außerhalb des Blickfeldes geblieben zu sein. Unklar bleibt ferner, ob die anfangs angenommene sprachlich-literarische Sensibilität der Probanden durch das Material belegt wird; der diagnostizierte Hang zur lebensweltlichen Vereinnahmung des Textes spricht nicht dafür. Allerdings ist nicht davon auszugehen, dass sprachlich-literarische Sensibilität und souveräne Interpretation kohärent aufeinander abgebildet werden können. Wie oben (Kap. VI) gezeigt wurde, herrscht hier eine Beziehung des Widerspruchs, denn die Lektüre ist in der Lage, die Einheit der Interpretation aufzusprengen. (Vorbei die Zeiten Emil Staigers, in der eine für den Rhythmus sensible Lektüre den Sinn des Gesagten aufschlüsselt; vgl. Staiger 1977 sowie Baum 2007.) Vielleicht müssen die Schülerinnen und Schüler, während sie versuchen, die Sprache des Gedichts zu entfalten, an der Interpretation scheitern. Am Horizont taucht das Subjekt-Objekt-Problem in der Literaturdidaktik auf (vgl. Kap. IX): Man fordert sowohl die Beteiligung aus Gefühl und Überzeugung als auch die Disposition zur schulgerechten Interpretation. Die eklatante Unvereinbarkeit literaturdidaktischer Erwartungen mit der angetroffenen Unterrichtsrealität ist das eigentliche Rätsel der Untersuchung von Meissner. Der Rekurs auf die Terminologie von Zabka macht eine systematische Beschreibung der Schüleräußerungen möglich und scheint so indirekt die Leistungsfähigkeit empirischer Forschung zu bestätigen, die das vorfindet, was sie zuvor erfunden hat. Jedoch sind die verwendeten Kategorien abstrakt und verhalten sich indifferent gegenüber Äußerungen, die auf unterschiedlichen Niveaus liegen. Das normative Verlangen des literaturdidaktischen Textes kann durch eine leistungsfähige Methodologie nicht gestillt werden.40 Die Nicht-Angepasstheit der mal fröhlich-dilettantischen, mal assoziativ-hermeneutischen Äußerungen der Schüler könnte indes auch als Widerstand gegen den typisch schulischen Umgang mit Literatur gedeutet werden, während zugleich die Form des eigentlich abgelehnten Interpretationsgesprächs aufrecht erhalten bleibt. In der folgenden Passage beschäftigen sich die Probanden mit den Versen 8-10 des Gedichts (siehe Meissner 2010, S. 141): »P09m: Ich denke mal auch, dass er da einfach nur ›ne Brücke bauen wollte so. […] Vielleicht dass er von diesem, dieses ›elektrische‹, also diesen Strom immer och, diese Technik weiter benutzen wollte und dann irgendwie ähm da durch 40 | Die weiter gehende Frage, ob eine sprechakttheoretische Beschreibung literarischen Verstehens letztlich nicht eine Art Grammatik liefert, welche das Allgemeine über das Besondere stellt und somit sowohl die Singularität der Lektüre als auch die rhetorische Spannung des Textes verfehlt, kann hier nicht weiter verfolgt werden.
VII. Literatur/Erziehung dann n Zeitbezug auf das Jahrzehnt, auf das Leben und dann auf den Krieg machen wollte. P01w: Aber vielleicht wollt=er auch gar keinen Bezug machen, sondern hatte einfach verschiedene Gedanken zu einer= P09m: =Ja, oder ihm ist nichts weiter eingefallen. P01w: Oder Empfindungen zu einem Gedanken. Nee, das glaube ich nicht, nicht bei so kurzen Gedichten, würd‹ nicht= P10w: =Wir wissen doch nicht, was er sich gedacht hat. Also lohnt sich’s jetzt nicht, darüber zu diskutieren.«
Literaturdidaktische Deutungen, so auch die vorliegende, beobachten transkribierte Schüleräußerungen in der Regel innertextuell und betrachten die erkannten Möglichkeiten und Probleme als Ansporn für weitere Erforschung von empirisch gesichertem ›Handlungswissen‹. Zunächst muss aber darauf hingewiesen werden, dass das dokumentierte Sprechen nicht freiwillig geschieht. Die Schüler werden zum Sprechen gebracht. Es wird erwartet, ja verlangt, dass sie sprechen. Der Diskurs der Macht ist nicht nur derjenige, der, wie Barthes schreibt, Schuldgefühle bei dem erzeugt, der ihn aufzunehmen versucht, er ist auch, hier eher der Perspektive Foucaults verwandt, derjenige, der zum Sprechen bringt, der dazu zwingt, sich in einem diskursiven Ereignis an der erwarteten Stelle und in der erwarteten Form zu äußern. Der Diskurs der Macht ist insofern verwandet mit dem Verhör, denn er will um keinen Preis das Schweigen (vgl. Geiss/Magyar-Haas 2015) der auszuforschenden Person akzeptieren. Dem entspricht ein ganzes Ensemble von Verhaltensweisen, Erwartungen, Beobachtungsformen, Sanktionen usf., die das Sprechen-Müssen der Schüler, d.h. ihre Sichtbarkeit im Medium der Sprache zu sichern versucht. In jüngster Vergangenheit hat in der Praxis die ständige Aufwertung des Sich-Beteiligens im Unterricht diesem Aspekt noch mehr Gewicht verliehen. Ein nachdenklicher, zweifelnder Schüler wird immer seltener akzeptiert; vielmehr wird er durch das Instrument der mündlichen Note, welche tendenziell nicht mehr von der Mitarbeitsnote zu unterscheiden ist, reglementiert, zu Anpassungsleistungen gezwungen oder gegebenenfalls ausgegrenzt. Auch die literaturdidaktische empirische Forschung bringt Subjekte zum Sprechen, um dann auf das Gesagte als empirisches Material zurückreifen zu können.41 Nicht dokumentiert werden die Zweifel und das Desinteresse der Schweigenden. Unhinterfragt bleibt ferner das mögliche Kalkül der Sprechenden, die 41 | Das Schweigen kann als der Schatten des positiven Wissens der empirischen Forschung aufgefasst werden. Die Wissenstrunkenheit der Literaturdidaktik ist so gesehen eine Funktion ihrer Unwissenheit. Wenn Wissen Steuerbarkeit von Handlungen verbürgt, dann unterläuft das gespenstisch präsente Nichtwissen das auf Gelingen zielende Handeln.
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sich auf der einen Seite inhaltlich äußern, auf der anderen Seite aber zugleich eine Anpassungsleistung vollbringen, was ihren Diskurs unterbricht, zweideutig und schwer lesbar macht. Der oben wiedergegebene Auszug aus dem Exzerpt wird von Meissner nach Typen von Interpretationshandlungen pragmatisch und semantisch klassifiziert. Doch das Transkript lässt noch anderes erkennen: Die Schülerinnen und Schüler greifen in der Situation des Zum-Sprechen-Gebracht-Werdens auf verinnerlichte Formen der Bedeutungszuschreibung zurück; einerseits wird die Möglichkeit einer historischen Kontextualisierung erwogen, andererseits wird die mögliche ›Aussage‹ des Textes personifiziert in Form einer vermuteten Autorintention. Zugleich bricht in dieses Sprachspiel ein anderes ein, das klug auf das Ineinander von Gedanken und Gefühlen, deren wechselseitige Abhängigkeit und Hervorbringung (tendenziell: Ununterscheidbarkeit) abhebt. Doch diese Hypothese wird gleich doppelt negiert; erstens durch die Vermutung, dass Gedichte sich so etwas gewissermaßen nicht leisten können und zweitens durch eine Schülerin, die das Gespräch auf die Ebene intentionalistischer Bedeutungszuschreibungen zurücklenkt und dann genau diese negiert. Ein Gefangensein im bedeutungszentrierten, intentionalistischen Sprachspiel wird spürbar. Möglich, dass hier die tieferen und strukturellen Ursachen der Nichterfüllung institutioneller Erwartungen und Forderungen liegen. Die im Transkript wiedergegebene Passage weist zahlreiche Inkonsistenzen innerhalb der Äußerungen und zwischen ihnen auf. Es könnte interessant sein, diesen Brüchen und Ambivalenzen nachzugehen und so die methodologische Perspektive einer Zuweisung zu Typen von Interpretationshandlungen, die dann in normativer Wendung als mehr oder weniger erfolgreich beschrieben werden, deutlich zu erweitern. Gerade Aussagen, die zunächst unauffällig erscheinen, können im Rahmen einer solchen ›dichten Beschreibung‹ signifikant werden. So verwenden zwei Probanden das Wort ›vielleicht‹ und es wäre zu überlegen, ob dieses eine Doppelfunktion erfüllt: semantisch die Ausdifferenzierung des Bedeutungsspektrums und diskursiv die Einleitung des Sprechen- Müssens im Sinne einer indirekten Antwort. (»Wenn ich etwas sagen soll, dann würde ich vielleicht sagen, dass …«) Die Unterscheidung Expert/Novize erschiene dann eher als Euphemisierung des Macht-Wissen-Zusammenhangs in theoretischen und praktischen Segmenten des literaturdidaktischen Feldes. Auf der inhaltlichen Ebene ist sehr interessant die Wahrnehmung des Bruchs zwischen rhetorischer und logischer Sprachfunktion durch die Schüler. Elektrizität und Fahrstuhl weisen ganz offensichtlich über ihre wörtliche Bedeutung hinaus, doch jenseits dieser wörtlichen Bedeutung gibt es nur noch sehr vage Beziehungen zwischen den Zeichen. Die Grenze (zur bildhaften) Bedeutung soll überschritten werden, aber als Bedeutung, d.h. als Inhaltsdimension eines Zeichen mit hinreichend klaren Außengrenzen, kann das Bedeutete
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nicht aufgefasst werden. Der Kontext gibt keinen Halt, er ist vielmehr Teil des Problems. Die Leser bleiben vorerst im Bild gefangen, das sich vor die ›Sache‹ geschoben hat. Betrachten wir nun einen weichen Text der Literaturdidaktik. Er wurde im selben Sammelband publiziert, folglich ursprünglich aus demselben äußeren Anlass vorgetragen: Werner Wintersteiner: Wir sind, was wir tun. Poetisches Verstehen als fachdidaktische Herausforderung (Wintersteiner 2010). Zu beobachten ist zunächst ein Funktionswandel von Literatur im literaturdidaktischen Text. Während Meissner Literatur zitiert, um zu zeigen, was die Probanden, wenn sie aufgefordert werden, damit anfangen, tut Wintersteiner dies, um den Anspruch der Literatur als Maßstab für jegliche Literaturdidaktik zu verdeutlichen.42 In einer Art Prolog des Textes kommen nacheinander H. C. Artmann und Ingeborg Bachmann zu Wort (vgl. Wintersteiner 2010, S. 23-25), letztere mit einem Ausschnitt aus den Frankfurter Vorlesungen. Dort steht über das Verhältnis des Schriftstellers zur Sprache u.a. zu lesen: »Sie ist ja für ihn kein unerschöpflicher Materialvorrat, aus dem er sich nehmen kann, ist nicht das soziale Objekt, das ungeteilte Eigentum aller Menschen. Für das, was er will, mit der Sprache will, hat sie sich noch nicht bewährt; er muß im Rahmen der ihm gezogenen Grenzen ihre Zeichen fixieren und sie unter einem Ritual wieder lebendig machen, ihr eine Gangart geben, die sie nirgendwo selbst erhält außer im sprachlichen Kunstwerk.« (Bachmann 1978, IV, S. 192; hier zit.n. Wintersteiner 2010, S. 25)
Aus der produktionsästhetischen Perspektive Bachmanns gibt es also keine affirmative Beziehung zwischen dem Vorwissen der Autorin und dem Ereignis des Schreibens. Herausfordernd für die Literaturdidaktik sind diese Sätze, weil nach Bachmann Literatur die Sprache, in der sie sprechen will, immer erst noch in einem performativen Prozess herstellen muss. Dem entspricht eine Beziehung der Fremdheit zwischen Text und Leser, die in literaturdidaktischen Arrangements zumeist nicht berücksichtigt wird (vgl. dazu auch die Analyse bei Baum 2016a). Wintersteiner (2010, S. 26) leitet aus diesem sowie dem Artmann-Zitat die Schlussfolgerung ab, dass Poesie als das ›Andere der Alltagssprache‹ anzusehen ist. Im weichen Stil, der hier auch nicht allgemein auf Literatur, sondern auf Poesie (als einzig autonome Form der Literatur?)43 42 | Wintersteiners viel diskutierte Bremer Preisrede (Wintersteiner 2011) bedient sich ebenfalls längerer Zitate (aus Thomas Bernhards Roman Alte Meister), um von der Literatur auf die Literaturdidaktik zu schließen und nicht umgekehrt; vgl. dazu auch Baum (2012, 2014). 43 | Eine literaturwissenschaftliche Spezifizierung etwa in Hinsicht auf Diskurse der Frühromantik findet nicht statt. Der Gebrauch dieses Schlüsselwortes bleibt unscharf und erweckt insgesamt den Eindruck einer emphatischen Referenz auf Literatur.
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abhebt, finden sich solche Auszeichnungen von Literatur als absolute Differenz recht häufig. Deutlich ist der Unterschied zu Meissners Stil, in dem eher technisch auf Autoreflexivität als spezifisch literarische Form der erweiterten Bedeutungsgenerierung rekurriert wird (Meissner 2010, S. 134). Während der eine Text seine Emphase aus der Unschärfe gewinnt, erreicht der andere methodologische Superiorität durch verknappende Abstraktion. Wintersteiner (2010, S. 25) nimmt die zitierten Texte zum Anlass, eine ganze Reihe positiver Zuschreibungen hinsichtlich Literatur zu formulieren; etwa, dass Literatur den Leser befähige, »das automatische Wiedererkennen durch bewusste Wahrnehmung zu überwinden.« (Ebd.) Diese indirekt auf formalistische und strukturalistische Positionen rekurrierende These verlagert die produktionsästhetischen Perspektiven der einleitenden Passagen auf die Ebene der Rezeption. Es wird, durchaus funktional, der Nutzen der Literatur für das Leben beschrieben. Literatur funktioniert in dieser Perspektive wie eine Sehhilfe für die Vorgänge des alltäglichen Lebens; im Vordergrund steht nicht mehr der Aspekt des Sprachkunstwerks, dessen Verhältnis zur Wirklichkeit nach einem Wort von Adorno rätselhaft ist und bleibt, sondern Literatur als verdichtetes Modell von Wirklichkeit, das Erkenntnis ermöglicht. Die Kontingenzen der je singulären Perspektive bleiben ebenso im Hintergrund wie die Selbstbezüglichkeit des literarischen Textes, dessen Anweisung auf extratextuelle Referenz sich immer nur innertextuell begründen und absichern kann. Diese und andere Zuschreibungen44 akzentuieren die Differenzqualität von Literatur, aber sie schreiben diese auch fest in der Art poetologischer Maximen, die zu beachten sind. Das führt u.a. dazu, dass die Rolle des Lesers als Verpflichtung zum individuellen Nachvollzug der Eigenschaften und Funktionen von Literatur/Poesie aufgefasst werden kann (vgl. ebd.). Wenn auch die verschiedenen positiven Zuschreibungen sich insgesamt unterscheiden und mitnichten die Folgerichtigkeit der Meissnerschen und Zabkaschen Begriffssätze erreichen, so stellen sie doch im Gesamten eine Art normativer Hürde dar, die konstruiert wird, um das Vorhaben einer Lehre der Literatur gleichsam transzendental zu begründen. Umgekehrt wird Literatur nicht nur um des schönen Scheins Willen zitiert und besprochen, sondern von Anfang an in einen heteronomen Zusammenhang der Zweckgebundenheit eingeführt. Das Ritual Bachmanns zielt auf Verlebendigung, das Ritual des literaturdidaktischen Textes auf das Aufrufen von Zeugen der Disziplin. Der affirmative Grundzug des Textes von Meissner – das domänenspezifische Vorwissen sichert angemessenes Verstehen; das literaturdidaktische Wissen orientiert professionelles Handeln besser als Lehrpläne; die Wissenschaft 44 | Ein weiteres Beispiel ist Milan Kunderas Diktum, dass die einzige Existenzberechtigung des Romans in der Entdeckung der unbekannten Aspekte des Lebens liegt (Kundera 1989, S. 13; hier zit. n. Wintersteiner 2010, S. 25).
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arbeitet mit am Normalisierungsprogramm der Schule – findet sich in dieser Weise bei Wintersteiner nicht. Im Gegenteil. Wie in der bereits erwähnten Preisrede (Wintersteiner 2011) werden die paradoxen Effekte der Wechselwirkung von Literatur, Erziehung und Didaktik thematisiert. Während allerdings im jüngeren Text die Widersprüchlichkeit als genuine Form der Literatur selbst angesehen und allein schon deswegen eine angemessene Lehre der Literatur ironisch in Zweifel gezogen wird, befasst sich Wintersteiner hier v.a. mit der epistemischen Paradoxie der Unvereinbarkeit literarischen und pädagogischen Wissens. Er notiert in Hinsicht auf Literatur: »Als das Andere einer Gesellschaft verweist sie stets auf das Nicht-Sozialisierte und Nicht-Sozialisierbare. Insofern stehen Literatur und Erziehung in einem notwendigen, wenn auch fruchtbaren Widerspruch zueinander. Wenn Literatur in der Schule einen so wichtigen und fixen Platz erhält wie in unserem Bildungssystem, so bedeutet das, dass der Widerspruch im System selbst verankert ist. Das kann zur Folge haben, dass ein starker Trend entsteht, die Literatur zu domestizieren, um sie ganz den Sozialisierungsaufgaben anzupassen, oder aber, dass der Widerspruch bewusst ausgehalten und produktiv gemacht wird – wenn Bildung als ein Akt der Befreiung, der Selbstaufklärung gedacht wird, zu dem Literatur Wesentliches beitragen kann.« (Windersteiner 2010, S. 26)
Wintersteiner lässt hier die Möglichkeit offen, dass die pädagogische Paradoxie zu Gunsten ihres positiven Pols aufgelöst werden kann und sichert diesen Gedanken in Form von Zuschreibungen ab, welche Literatur eher in Hinsicht auf ein utopisches Potenzial der Freiheit als auf die Sprache der Literatur selbst verstehen. Es wäre zu erörtern, ob Schule und Bildung überhaupt noch bzw. jemals miteinander vereinbar sind oder ob Bildung immer eine Form des Widerstands gegen die Schule sein wird; doch auch die letzte Möglichkeit erkennt Wintersteiner an. Obwohl die Auffassung, Literatur sei ein besondere Form der Erkenntnis und irreduzibel andere Form der Weltwahrnehmung, die das lesende Subjekt bereichert, letztlich unscharf und in ihrer durchgängigen Positivität einseitig bleibt, liegt die Leistung Wintersteiners darin, die notwendige Reibung zwischen Literatur und Schule anzuerkennen und gerade diese zum proprium der Literaturdidaktik zu erklären. Hier gehen nicht alle Gleichungen auf; vielmehr entsteht ein Bruch zwischen dem Plädoyer für die Literatur und dem Wissen um die Schule, der entfernt an die Analyse von Fingerhut (1988) erinnert. Die unterstellte Positivität des Wissens um die Literatur führt allerdings auch dazu, dass sich Wintersteiners Text letztlich doch affirmativ zur Lehrbarkeitsdoktrin verhält, denn er fragt, was man lernen muss, »um […] literarisch lesen zu können« (ebd., S. 27). Im Unterschied zu Texten des harten Stils, welche die Frage der Subjektivität weitestgehend ausklammern und eine Art objektivierte Technik avancierten Lesens reklamieren – man denke an die
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Bestimmung des Lesens bei Meissner –, insistiert Wintersteiner auf der Subjektivität der literarischen Lektüre (ebd., S. 28) und erkennt solchermaßen deren »Ergebnisoffenheit« (ebd., S. 30) an. Das Lesen wird schließlich und endlich als positives Vermögen des Subjekts dargestellt. Hier zeigt sich allerdings, dass der Begriff des ›Subjekts‹ positive Zuschreibungen anzieht, während, wenn vom Anderen die Rede ist, dessen Vereinnahmung durch Zuschreibung kaum möglich ist. Es geht, so Wintersteiner, im literarischen Lesen darum, die »Ich-Fähigkeit« (ebd., S. 28 und S. 29) auszuspielen. Die Unbestimmtheit des Textes ist also nicht eine Folge seiner sprachlich-rhetorischen Komplexität, sondern des je spezifisch subjektiven Zugangs, der in hermeneutischen Sinnschleifen den Text aneignet.45 Offensichtlich wirft der humanistisch-aufklärerische Diskurs, der das Subjekt als Instanz begreift, dem die Macht eignet, seine Vollzüge gelingen zu lassen, seinen Schatten auf die Argumentation in diesem Text. Das vorgeschlagene Modell poetischer Kompetenz (vgl. ebd., S. 29), bestehend aus den Größen »Weltwissen einbringen«, »Textwissen aktualisieren« und »Ich-Fähigkeit ausspielen«, die im Anschluss an Gadamer vom Taktgefühl des Subjekts ausbalanciert werden sollen46, hantiert ausschließlich mit Positivitäten und bereitet so Zugriffe auf Literatur im Unterricht vor, welche die abstrakte Modellierung konkretisieren, etwa in Form von Aufgaben. Die infiniten Verben im Indikativ sind Symptome für Setzungen, die nicht mehr versetzt werden wollen, zugleich handelt es sich um Platzhalter für eine kompetente Lektüre, vermittels der sich das didaktische Handeln erst noch wird beweisen müssen. Mit dem Umschlag von den ausführlich zitierten literarischen Stimmen, die akzentuieren, dass das Geheimnis der Literatur sich letztlich der Beobachtung entzieht und allenfalls als Spur der Negativität gelesen werden kann, zu einem angenommenen und damit auch zu fordernden Vermögen, Literatur kompetent zu lesen, kommt ein Bruch in den Text Wintersteiners, der für literaturdidaktische Diskurse im Allgemeinen festzustellen ist. Es scheint nicht möglich, Begründungen für den Umgang mit Literatur in der Schule der Literatur selbst zu entnehmen, sondern jene können nur innerhalb der Logik eines Diskurses formuliert werden, der stets zu negieren hat, wovon er spricht, um weiter sprechen zu können.
45 | Wintersteiner ruft an mehreren Stellen seines Textes Gadamer als Zeugen für das Wesen poetischer Kompetenz auf. 46 | Es ist fraglich, ob die bildungsbürgerliche Diktion, die an dieser Stelle von Takt, an anderer von Geschmack, wieder an anderer von Bildung als den Ingredienzien angemessenen Verstehens ausgeht, zu einem schulbezogenen Modell der Literaturdidaktik passt. Vielleicht ist aber gerade das Unpassende, das Sich-nicht-Fügen der Begründungen, von Bachmann bis Gadamer, von Artmann bis Spinner, aufschlussreich.
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Das Gespür für diese Negativität – bei allem Willen, ein didaktisches Modell vorzulegen, das den Regeln des Diskurses entspricht – zeichnet gleichwohl den Text Wintersteiners aus. Dieser öffnet sich für die selbst produzierten Widersprüche und gibt dem Unbehagen gegenüber einer heteronom gefassten Literatur als pädagogisches Projekt ein Stück weit nach.47 Zum Ende schreibt Wintersteiner: »Die Beschäftigung mit Poesie ist Zweck, nicht nur Mittel zum Zweck von Bildung.« (Ebd., S. 35) Im letzten Kapitel liefert er eine »Kleine Phänomenologie des pädagogischen Scheiterns beim poetischen Verstehen« (vgl. ebd., S. 30-34). Der Leser gewinnt den Eindruck, dass trotz aller vermeintlich in sich selbst ruhenden Positivität literaturdidaktischen Wissens letztendlich Scheitern genauso erwartbar ist wie Gelingen. Dieser Widerspruch ergibt sich nicht aus dem Gesagten, denn zur Not könnte man behaupten, dass das Scheitern nur eine Folge des ignorierten Modells poetischer Kompetenz ist, sondern aus dem Gegeneinander der zitierten Texte, den konkurrierenden Schreibweisen und der Uneinheitlichkeit des Auf baus. Der weiche Stil öffnet sich und lässt die widerstreitenden Stimmen sprechen (und er spricht auch, indem er manche Stimmen schweigen lässt); der harte Stil verschließt sich und ist bei aller Unbedingtheit des Anspruchs wissenschaftlich nur mit schwacher Stimme zu hören – zu wenig aussagekräftig sind die auf eine kleines Maß zurecht gestutzten Ergebnisse. Während weiche Texte die subjektive Bedeutsamkeit der Literatur akzentuieren und so die Notwendigkeit einer Lehre der Literatur begründen, heben harte Texte auf die Objektivität literarischen Wissens ab, die normativ zu Grunde gelegt und empirisch überprüft wird. In beiden Fällen liegt eine machtförmige Praxis vor, die festschreibt, was lesende Subjekte können sollen und was nicht. Die Lehrbarkeitsdoktrin ermöglicht den Umbau der Literatur zu einem funktionalen Gebäude – geht es nun um die Ausbildung literarischer Kompetenz oder um eine vorprogrammierte ästhetisch-kognitive ›Steigerung des Subjekts‹; dieses wird wie üblich zugleich als passives (gelehriges) und aktives (handlungsfähiges) Subjekt aufgefasst. Die Entfaltung des Subjekts ist zugleich die Entfaltung der Macht. Der Widerspruch von Zwang und Freiheit zwischen weichen und harten Texten (und bisweilen in diesen selbst) ist die Spur, welche die pädagogische Paradoxie in das literaturdidaktische Wissen einzeichnet. Die Widersprüchlichkeit ist nicht nur zu akzeptieren im Sinne eines Pluralismus von Meinun47 | Hier ergibt sich eine strukturelle Analogie zum Text von Fingerhut (1988), der am Ende, nach dem Nachweis einer stets wirksamen doppelten didaktischen Doktrin im Literaturunterricht, gleichsam utopisch über einen neuen, besseren Literaturunterricht nachdenkt. Beide Aufsätze wenden sich gleichsam am Ende gegen den eigenen Stil der Argumentation. Auch darin könnte ein unhintergehbares Moment der Literaturdidaktik liegen.
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gen, der zur Not auch einmal verzichtbar wäre, sondern er ist die Möglichkeitsbedingung des Diskurses selbst. Auch die Literaturdidaktik spricht, im Sinne Paul de Mans, die Sprache eines Widerstandes gegen sich selbst, macht diesen aber nicht zum Gegenstand der Selbstreflexion. Obwohl es offensichtlich ist, dass die rhetorische Energie der Texte nicht in Modellen gelingenden Verstehens verpufft, muss sich die Lehre der Literatur Ziele setzen, deren notwendige Verfehlung sie aber ignoriert und diskursiv überschreibt. Die Frage des Tänzers in Kleists Marionettentheater ›Glauben Sie diese Geschichte?‹ zielt ironisch auf die unaufhebbare Differenz von rhetorischer Energie und interpretierender Synthese. Diese kehrt in didaktischen Modellen als performative Differenz zwischen der Allgemeinheit didaktischer Kategorien und den Singularitäten von Text und Lektüre zurück. Wenn der Satz gilt, dass Literatur gelehrt werden soll, weil sie nicht gelehrt werden kann, dann ist damit eben auch gemeint, dass gelingende Lehre stets nur metaphysisch gedacht werden kann (als Schluss von Essenz auf Existenz), folglich in der Praxis nur als Aufschub der angemessenen Deutung zu haben ist. Didaktisches Sprechen versichert sich des Gegenstands, um Lehre zu ermöglichen, und wird zugleich von dem Gegenstand verunsichert, d.h. permanent neu belehrt. Je mehr ein Diskurs transparent sein will, um nachvollziehbar darzustellen, worin das Wesen literarischen Verstehens besteht, desto häufiger die Komplikation in Folge der Unerreichbarkeit des Gegenstandes, der seine Bilder und Figuren zeigt, indem er zugleich das, wovon er spricht, verhüllt. Die Unmöglichkeit einer steuerbaren Lehre der Literatur liegt in der Absenz eines manifesten Gegenstandswissen begründet; den Buchstaben die Treue halten, heißt demzufolge nichts anderes, als das Wissen aufzubrechen. Es ist im nächsten Kapitel zu fragen, wie programmatische Texte der Literaturdidaktik mit diesem Problem umgehen.
VIII. In eigener Sache (Selbstbeschreibungen) 1
Der paradoxe Satz, dass Literatur gelehrt werden soll, weil sie nicht gelehrt werden kann, ist der Ausgangspunkt dafür, dass so etwas wie ein literaturdidaktischer Text – mitsamt seinem Anspruch auf Wahrheit und Folgerichtigkeit – überhaupt zu Stande kommt. Die von der Lehrbarkeitsdoktrin überschriebene und doch wie bei einem Palimpsest durchscheinende Widersprüchlichkeit des Wissens der Literaturdidaktik ist die für diesen Diskurs spezifische Form der allgemeinen diskursiven Widersprüchlichkeit. Der Widerspruch ist, wenn man Foucault (1995, S. 215f., vgl. Kap. IV) Glauben schenken will, nichts, wovon der Diskurs befreit werden müsste, sondern er ist die Quelle, von welcher der Diskurs wegläuft und die ihn doch stets speist. Der nicht still zu stellende Widerstreit bewirkt eine Spaltung aller Aussagen (vgl. Wimmer 2006, S. 58) und zwar insbesondere dann, wenn Texte auf irgendeine Form programmatischer Kohärenz abheben, aber zu diesem Zwecke den Anderen und das Andere ausschließen müssen, woraufhin es in verwandelter und maskierter Form zurückkehrt, um den Text mit sich selbst in Konflikt zu bringen. Wie gezeigt wurde, ist dieser Umstand für eine Wissenschaft, die den Anspruch erhebt, ›Handlungswissen‹ zu generieren, in besonderer Weise problematisch. Wo ist die saubere, kohärente Sprache, die so etwas ermöglicht? In diesem Kapitel sollen, in Form eines Zwischenspiels, einige jüngere Texte untersucht werden, die nach den Aufgaben der Literaturdidaktik in der Lehrerbildung und im wissenschaftlichen Diskurs fragen (Abraham 2012, Kepser 2013, Winkler 2015). Es handelt sich um programmatische Texte, um Versuche, Positionen zu bestimmen und basale Aufgaben festzuschreiben. Allerdings werden unterschiedliche Ansatzpunkte und Fragestellungen verfolgt. Winkler und Abraham geht es v.a. um die akademische Lehre. Die Frage lautet: Wie wird die Literaturdidaktik ihrer (vermeintlichen) Aufgabe gerecht, professio-
1 | Die in diesem Kapitel besprochenen Texte werden, auf anderer theoretischer Grundlage und in veränderter Argumentation, auch in Baum (2018) betrachtet.
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nell agierende zukünftige Lehrer heranzubilden?2 Kepser stellt die Frage des wirkungsvollen Transfers literaturdidaktischen Wissens von der Hochschule in die Schule hingegen nicht an die erste Stelle3; ihm ist es mehr um die Legitimität der Literaturdidaktik als wissenschaftliche Disziplin, genauer um deren Anschluss- und Konkurrenzfähigkeit im akademischen Feld zu tun. Alle drei Texte arbeiten jedoch mit Aussagen, die, wenn schon nicht auf die Literaturdidaktik ›als Ganze‹, so doch auf deren Selbstverständnis und vordringliche Aufgaben abzielen. Ich bezeichne Texte dieser Art hier als Selbstbeschreibungen. Damit soll einerseits deren Abstand zueinander deutlich werden. Andererseits wird die Auffassung vertreten, dass es keine Texte gibt, die auf ›die Sache‹ so durchgreifen können, dass anderen Texten gleichsam zu ihrer Wahrheit verholfen wird. »Diese zentrale Präsenz«, schreibt Derrida (1972, S. 424), »ist aber niemals sie selbst gewesen, sie ist immer schon in ihrem Substitut über sich selbst hinausgetrieben worden.« Während Foucault den Abgrund des Diskurses in seiner Widersprüchlichkeit verortet, betont Derrida hier die supplementäre Dynamik allen Zeichengeschehens.4 Beide stimmen jedoch darin überein, dass es im Bereich von Sprache und Diskurs kein positives, zentrales Element geben kann. So gesehen führen programmatische Texte zu Verschiebungen des Diskurses, nicht aber zu dessen kohärenter Reorganistion. Texte, welche »Selbst-Identität« (Kepser 2013, S. 53) eines wissenschaftlichen Diskurses für möglich halten, operieren mit psychologischen Metaphern, 2 | Die Vermengung der Zeiten (Gegenwart und Zukunft – um die Sache vorerst einfach zu halten) verweist bereits auf ein Problem: Wie kann die wissenschaftliche Lehre, die im Hier und Jetzt unter spezifischen Bedingungen abläuft und je unterschiedlich wirksam ist, in eine andere, zukünftige Diskurswelt hinübergerettet und dort erfolgreich wiederholt werden? Luhmann (2002, S. 190) spricht – darauf wurde schon hingewiesen – von den ›gütigen Schleiern der Zukunft‹, die den Erfolg aller pädagogischen Bemühungen aufschieben. Die Metapher der Schleiers verwendet auch Foucault (1998, S. 17), um die basale Intransparenz diskursiver Transparenz zu bezeichnen. 3 | Die Zukunftserwartungen hält der Verf. offen und artikuliert diese im Modus kollektiver Hoffnung: »Als eingreifende Wissenschaft setzt die Deutschdidaktik auf die Innovationskraft der Studierenden, die nach ihrer Universitäts- bzw. Hochschulzeit das Handlungsfeld des Deutschunterrichts verändern werden.« (Kepser 2013, S. 59) So wird nicht nur betont, dass Veränderungen notwendig sind, was mit nur ›kompetenten‹ Lehrern ja wohl nicht zu erreichen ist, sondern es wird auch offen gehalten, wer, wo, wann, welche Veränderungen wie anstrebt. 4 | Derrida wechselt allerdings in seinem Aufsatz Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaft vom Menschen, dem das Zitat entnommen ist, zwischen den Begriffen Struktur und Diskurs hin und her. Einmal wird der Bezug zum Strukturalismus (Levi-Strauss) betont, einmal Zeichenhaftigkeit und Diskursivität in allgemeiner Form. Die Diskussion kann hier nicht weitergeführt werden.
VIII. In eigener Sache (Selbstbeschreibungen)
die das, was in der Schrift und in den Wissenschaften geschieht, verfehlen. Von der Identität eines Faches kann überhaupt nur die Rede sein, wenn diese nicht besteht. Die logische Position der Identitätsbeschreibung ist die NichtExistenz von Identität.5 Deshalb verfehlen literaturdidaktische Texte, die unter Kontingenzbedingungen Einheitsprogramme formulieren, zu allererst sich selbst. Die Lehrbarkeitsdoktrin ist zwar mit Macht aufgeladen, sie kann sich, da sie über das Monopol kultureller Legitimität verfügt (vgl. Förster 1998, S. 68), permanent wiederholen (und so die ›Subjekte‹ an ihre Aussagen binden), aber zugleich gibt sie immer aufs Neue ein Versprechen, das sie nicht einzulösen vermag – dass nämlich Literatur erfolgreich gelehrt werden kann. Insofern verfügt der literaturdidaktische Text nicht über seine eigenen Voraussetzungen. Selbstbeschreibungen sind diskursive Ereignisse von zutiefst paradoxer Natur. Vorerst mögen diese Thesen theoretisch konsistent, aber zugleich ein wenig abstrakt erscheinen. Es wird zu zeigen sein, was es bei genauer (wiederholter) Lektüre literaturdidaktischer Texte damit auf sich hat. Zunächst genügt es vielleicht, sich vor Augen zu halten, dass die pädagogischen und philologischen, schließlich: literaturdidaktischen Paradoxien kaum durch Texte aufgehoben werden können, die vorgeben, einen höheren Beobachtungsstandpunkt aufzuweisen. Vielmehr scheint es plausibel, dass der behauptete Abstand des Metadiskurses im Grunde nicht besteht. Der ordnende, organisierende, Kontingenz domestizierende programmatische Text ist seinerseits infiziert von den Widersprüchen und Ungereimtheiten, von denen er sich befreien will. Er kann nicht anders, als auf das zurückgreifen, was ihn ermöglicht und was er zugleich ein für alle Mal verändern will. Der Schleier, den die Selbstbeschreibungen um sich legen, besteht zunächst in der Dichte des Gewebes selbst, das keine Negativitäten eindringen lassen will. Das Unheimliche und Irritierende solcher Texte besteht darin, dass sie das Nicht-Positive unthematisiert lassen. Der Leser stürzt von einer sich selbst beglaubigenden und bekräftigenden Aussage oder Forderung in die nächste. Negativität wird empfunden, aber nur als diffuser Widerstand, der keine rechten Anhaltspunkte findet und sich vorerst als Erschwerung des Lesens bemerkbar macht. Der Schleier der Positivität, in der Pädagogik mitunter als »Positivierungszwang« (Oelkers 2002, S. 49) bezeichnet, konstituiert die Gestalt, aber verhindert zugleich deren genaue Wahrnehmung. Hinzu tritt beim Leseerlebnis die für programmatische Texte typische Zeit- und Ortlosigkeit. Die Identität einer Sache kann nur expliziert werden in 5 | Luhmann (2002, S. 203), der den Begriff der Selbstbeschreibung auch benutzt, notiert: »Selbstbeschreibungen konstituieren eine imaginäre Realität. Anders können sie die Probleme des Sich-selbst-Enthaltens nicht lösen.« Folglich wird »eine zweite Ebene eingerichtet, auf der Einheitsprojektionen diskutiert werden können« (ebd., S. 169).
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einem Moment, in dem jene nicht existiert – dies wurde bereits gesagt. Genauer betrachtet führt dies zu einer unbestimmten Stellung in der Zeit. War von dem Beschriebenen schon etwas in dieser Art verwirklicht, ist es in gewisser Hinsicht schon Realität geworden oder wird ihm je Erfolg in Form schlichter Existenz beschieden sein? Da es sich um diskursive Ereignisse handelt, kann der Erfolg programmatischer Texte nur in der Wiederholung ihrer Figuren bestehen – in Texten und Institutionen, welche die Macht haben, Dinge verbindlich zu machen. Da die Wiederholung aber stets noch aussteht, ist der programmatische Text durch das Bedürfnis nach Verdoppelung gespalten. Er will durch die bei der Wiederholung erzeugte Energie Kraft gewinnen, sich in vertrautes Wissen, das mit dem Sein verschmilzt, verwandeln, seine Gestalt und Genese vergessen lassen – und zwar in dem Moment, in dem seine Reproduktion selbstverständlich ist. Vorerst muss er es mit dem Glauben an seine Wahrheit bewenden lassen. Eines Tages wird er – vielleicht – seinen Ort gefunden haben. Die folgenden Beobachtungen beziehen sich auf drei Wahrnehmungen an Selbstbeschreibungen der Literaturdidaktik: die unsichere Grenze, das Feld von Subjektivität und Macht sowie den zu Grunde liegende Begriff des Wissens. Die Selbstbeschreibungen, die zugleich stets Selbsterfindungen sind, weil sie zwischen Sein und Sollen hin- und herlaufen, versuchen die Grenze zwischen dem Diskurs der Wissenschaft und demjenigen der Bildungsinstitutionen, insbesondere der Schule, zu bestimmen bzw. festzulegen; ferner den einen Diskurs dem anderen zugänglich zu machen, die gewünschten Wirkungen zu explizieren, das Verhältnis der Diskurse zu sehen, zu beschreiben, zu rechtfertigen. Wenn Literaturdidaktik besonders nahe am Berufsfeld der zukünftigen Literaturlehrer operiert, muss, so will es die Doktrin, geklärt werden, was sie, die Literaturdidaktik, für den zukünftigen Unterrichtserfolg leistet. Daraus ergibt sich eine permanente Legitimationskrise sowie das Problem, über Wirkungen verfügen zu wollen, über die zum Zeitpunkt des Handelns nicht verfügt werden kann. Im Folgenden sollen die unterschiedlichen Versuche der Grenzfestlegung bei gleichzeitiger Annahme einer spezifischen Durchlässigkeit der Grenze kurz dargestellt werden. Leitend ist die Annahme, dass Literaturdidaktik es mit einer ständigen Verschiebung von Grenzen zwischen den Diskursen zu tun hat. Jeder Akt der Grenzziehung ist zugleich ein Akt der Grenzverschiebung. Die ›Spaltung aller Aussagen‹ (Wimmer) durch den Widerspruch zwischen akademischer Noblesse und berufspraktischer Relevanz macht sich geltend. Doch damit nicht genug: Jede Aussage, die sich zutraut, Grenzen zu bestimmen und zugleich das Verhältnis der Diskurse zu bemessen, arbeitet mit einer Strategie der Homogenisierung und zwar inso-
VIII. In eigener Sache (Selbstbeschreibungen)
fern, als Transparenz nur durch Verallgemeinerungen und Auslassungen hergestellt werden kann.6 Das Verhältnis von Wissenschaft und Praxisfeld soll im Folgenden in dreierlei Weise rekonstruiert werden: als Ausrüstung 7 (Abraham), Vorbereitung (Winkler) und Einwirkung (Kepser). Die Metapher der Ausrüstung nimmt Bezug auf Abrahams Konzeption der akademischen Lehre als qualifizierende Vorbereitung auf den Beruf. Es geht, ganz ohne Umschweife, um »lehramtsbezogene Kompetenzvermittlung« (Abraham 2012, S. 63) oder mit anderen Worten um »Fähigkeiten, die sich auf exemplarische, dabei aber konkrete Anforderungssituationen beziehen und mit der eigenen Lehrerpersönlichkeit so verbinden, dass eine Anreiz- und Vorbildwirkung von dieser ausgeht.« (Ebd., S. 62) Der Gestus des Sprechens ist derjenige der Ermächtigung in Bescheidenheit: Weil die Akademisierung der Literaturdidaktik die dringlichsten Aufgaben vergessen ließ, ist eine Verknappung des Diskurses vonnöten, um die Aufgabe einer Berufslehre wieder erfüllen zu können. Ein bestimmtes Sprechen soll in der Hintergrund, ein anderes in den Vordergrund treten. Dabei dient der Begriff der Kompetenz als unverzichtbare Figur der Argumentation. Nicht ohne Stolz wird vermeldet, dass die Literaturdidaktik, anders als andere, saumselige Wissenschaften, »die Wende zum kompetenzorientierten Denken [sic!] bereits vor längerer Zeit vollzogen« hat (ebd., S. 71). Die Formulierung verrät einen zwanghaften Zug: Wer die Wende nicht mitmacht, ist ausgeschlossen. Ferner geht es nicht um eine Art und Weise, die Dinge zu thematisieren und zu interpretieren, sondern gleich um ein ›Denken‹, einen gewissermaßen existentiellen Zusammenhang, der außerhalb des Zusammenhangs von Sprache, Diskurs und Macht steht. (Eine der stilistischen Differenzen im Text Abrahams besteht allerdings darin, dass er eine Sprache des Machbaren und Notwendigen, die nahezu an das Bürokratische grenzt, mit Sprachinseln der Eigentlichkeit im Sinne Adornos kombiniert.) Diese plötzliche Selbsterhöhung eines Diskurses, der ansonsten z.B. fragt, welchen Typen des Assessments von Studienanfängern die geeigneten sind, hinterlässt einen unheimlichen Eindruck; es ist derjenige der normativen Aufladung des vermeintlich nur in praktischer Hinsicht Notwendigen. Was ›gute Literaturlehrer‹ sind, bestimmt Abraham wie folgt: Sie sind »Experten der literarischen Kommunikation; sie moderieren literarische Gespräche offen, aber zielführend, schlagen Perspektiven für Deutungen vor, gehen der scheinbaren 6 | In der Literaturdidaktik gibt es, wie in anderen Wissenschaftszweigen auch, Orte, an denen solche Diskursstrategien besonders erwünscht sind, z.B. Plenar- und Preisvorträge. Zu einem speziellen Fall von inhomogener Homogenität vgl. Baum (2014). 7 | Dieser Terminus wird hier von Winkler (2015, S. 201-203) übernommen, allerdings nicht in derselben Art und Weise gebraucht.
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Der Widerstand gegen Literatur oder tatsächlichen Widersprüchlichkeit von Behauptungen über einen Text nach und kennen handlungs- und produktionsorientierte Möglichkeiten, Texte durch Inszenierung, Genre- und Medienwechsel zu erschließen und neu zu beleuchten.« (Ebd., S. 62)
Die Beschreibung des Berufes erscheint auf den ersten Blick wie diejenige eines versierten Managers, dessen Portfolio an erfolgreichen Marketing- und Verkaufsstrategien dargelegt wird. Während die philologischen Paradoxien in leichter Relativierung anklingen, spielen die pädagogischen keine Rolle. Die Möglichkeit des Gelingens ist universell und wird durch ein angelerntes Können verbürgt 8. Die Möglichkeiten, Texte zu erschließen, sind allemal größer als der von diesen Texten ausgehende Widerstand. Die rhetorische Form der Reihung, deren Glieder durch positiv konnotierte Verben zusammengefasst und aufeinander bezogen werden, bewirkt, dass die Reibung zwischen den Aussagen verloren geht; Positivitäten, die sich wechselseitig Halt geben. So kann die ›Widersprüchlichkeit von Behauptungen über einen Text‹ mit den offenbar stets attraktiven und das Gelingen verbürgenden ›handlungs- und produktionsorientierten Möglichkeiten‹ in einen unkomplizierten Zusammenhang gebracht werden. Der repressive Charakter eines solchen Textes besteht darin, dass, indem unablässig Verbindliches und Richtungsweisendes formuliert wird, zugleich Denkverbote ausgesprochen werden. In dieser Welt des Guten und Notwendigen gibt es keine Luft mehr zum Atmen; Anpassung und Nachahmung sind die Verhaltensweisen, die der Text einfordert. Zugleich findet unter der Hand eine Verteilung von Diskursmacht statt, denn manche didaktische Verfahren werden in den Rang unverzichtbaren Wissens und Könnens erhoben, andere nicht. Abrahams Text liest sich so, als könne der eine (wissenschaftliche) Diskurs in vollem Umfang für den anderen (pädagogischen) verfügbar gemacht werden – allerdings um den Preis ausgeschlossener Wechselseitigkeit; die Praxis macht der Wissenschaft nichts vor. Die Grenze wird einerseits gezogen, indem z.B. literaturdidaktische Modelle als unverzichtbar für gelingenden Unterricht betrachtet werden, andererseits wird die Grenze unsichtbar gemacht, weil nämlich die Wissenschaft hier als eine Art reiner Praxis erscheint, als idealer Ort des Gelingens. Im Tonfall insgesamt moderater sowie offener für die Erfordernisse genuin wissenschaftlichen Arbeitens ist Iris Winklers Text zu professionsbezogenen 8 | Vgl. hierzu den in Kapitel IV vorgelegten Gegenentwurf, der mit Adorno und Derrida darauf hinweist, dass dasjenige, was das Gelingen sichern soll, nämlich ein positives Können (auf der Grundlage legitimierender und argumentierender Texte), zugleich dasjenige ist, was das Misslingen auf der Bühne erscheinen lässt. Vom Gelingen kann überhaupt nur im Horizont des Misslingens gesprochen werden. Ist in der Didaktik tatsächlich kein Raum für Philosophie?
VIII. In eigener Sache (Selbstbeschreibungen)
Überzeugungen im Lehramtsstudium Deutsch. Während es Abraham, wie Winkler zutreffend schreibt, um die Ausrüstung zukünftiger Lehrerinnen und Lehrer geht, ist es ihr um den einzelnen Studenten und dessen je individuellen Weg zur literaturdidaktischen Professionalisierung zu tun. Im Vordergrund stehen nicht Methoden und Verfahren, die, unabhängig vom einzelnen Adressaten, Kompetenz verbürgen, sondern, ausgehend von professionstheoretischen Überlegungen, die Fragen und Probleme des Einzelnen hinsichtlich seines zukünftigen Berufsfeldes und der Angebote, welche die Universität in dieser Sache machen kann. Die Grenze geht also durch das Wissen hindurch. Die Lehre kann nur auf Aussagen Bezug nehmen, denen einerseits wissenschaftliche Glaubwürdigkeit und andererseits Aussicht auf beruflichen Erfolg eignet (Lernerfolg der Schüler, pädagogischer Erfolg der Lehrer). Man hat es mit nützlichen Wahrheiten zu tun. Der ›Vorteil‹ ist, dass alles, was im Vorfeld fragwürdig, schwierig, nicht vertretbar erscheint, was Angst macht und Anlass zur Kritik gibt, draußen bleiben kann. Das professionelle Wissen wird schon damit zurechtkommen. Winkler geht auch deshalb wie Abraham von der Legitimationskrise des Deutschunterrichts aus und weist der akademischen Lehre die Aufgabe zu, dass mit dem endlosen Scheitern ein für alle Mal Schluss gemacht wird. Die folgende Frage sollen sich Studenten stellen: »Was kann, was muss ich lernen, damit meine Schülerinnen und Schüler künftig den Deutschunterricht nicht so negativ erleben?« (Winkler 2015, S. 197) Individualität wird hier doppelt adressiert: Einerseits hält die Formulierung die individuelle Selektion des Wissensangebots offen, andererseits tritt ein Müssen hinzu, welches die Übermacht des verbindlichen Wissens zum Ausdruck bringt. Die Verantwortung wird in diesem Konzept ganz in den Bereich des individuellen Wissens9 gelegt – als ob die Machteffekte der Erziehung und die gesellschaftlichen Widersprüche, welche in diese eingelagert sind, nicht existierten. Und als ob das Wissen vollumfänglich und unschuldig wäre. Dem entspricht eine Strategie der Ausforschung studentischer Einstellungen, um das notwendige Wissen passgenau zum Einsatz bringen zu können: »Hochschullehre muss sich die Überzeugungen der Studierenden in Bezug auf das Lehramtsstudium und das Schulfach Deutsch bewusst machen, wenn ihre Lehre erwünschte Ergebnisse zeigen soll.« (Ebd., S. 193) Die Fachdidaktik als akademische Lehre zielt folglich nicht nur auf die Aneignung und kritische Reflexion von Wissen, sondern, wie eine Psychotechnik, auf die Veränderung von Einstellungen. Sie tendiert dazu,
9 | Anders als bei Abraham wird die Grenze zum genuin Methodischen bei Winkler nicht überschritten. Relevantes Wissen ist zum einen fachlich (germanistisch) und zum anderen fachdidaktisch (Beispiel: Lesekompetenzmodelle als Grundlage für Förderung und Diagnose; vgl. z.B. ebd., S. 204).
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die Studenten erziehen zu wollen. Darauf wird unten im Zusammenhang mit der Problematik von Subjektivität und Macht noch einmal einzugehen sein. Die Paradoxien der Grenze kommen indes in Winklers Text voll zur Entfaltung. Weil das formulierte Programm sich sowohl für die Regeln des wissenschaftlichen als auch für diejenigen des pädagogischen Diskurses öffnet, wird der Widerspruch zwischen beiden gut sichtbar. Während etwa mit Neuweg (2005, S. 218) eine »falsifikatorisch-skeptische Grundhaltung« als für das Studium erstrebenswert angesehen wird, soll andererseits in einer Art Selbstverhör – »Was muss ich lernen…« – die Autorität kanonischen Wissens bejaht werden. Was aber, wenn das, was man lernen muss, als Ergebnis einer falsifikatorisch-skeptischen Grundhaltung in Frage gestellt wird? Wie soll man sich z.B. verhalten, wenn das als unbedingt notwendig erachtete philologische Wissen zu einer Problematisierung von Lesekompetenzmodellen führt? – Interessant ist in diesem Zusammenhang die durchgängige Verwendung des Terminus Lernen, welche unter der Hand der Pädagogisierung wissenschaftlichen Wissens das Wort redet. Im Lernen ist der Widerstand gegen das, was vor sich geht, keine relevante Größe. Stattdessen rücken Effizienz und Kompetenz in den Vordergrund. Pädagogisierung wissenschaftlichen Wissens hier, Betonung von Reflexivität10 und offenem Problemhorizont da. Gleichzeitige Bejahung des akademischen Habitus bzw. der notwendigen »Distanz zum Handlungsfeld« (ebd., S. 204) – Aspekte, die bei Abraham nahezu vollständig fehlen – und Annahme, dass gezielte Lehre zu einer nachhaltigen Veränderung späteren Unterrichts zum Besseren führt. Während Abraham die Grenze zwischen den Diskursen zieht, nur um diese mit einer entschiedenen Geste wieder aufheben zu können (etwa indem unterrichtliches Können schon im Studium nachgewiesen werden soll), stellt sich der Sachverhalt bei Winkler komplizierter dar: Die Logik des pädagogischen Diskurses, nämlich intersubjektives Wissen als individuelles Können zu begreifen und so der Macht Ansatzpunkte zur Disziplinierung zu liefern, wird in den wissenschaftlichen Diskurs kopiert, als individualisiertes Wissen, über das sich jeder einzelne Student Rechenschaft abzulegen hat (nachdem ihm vorher die Wege zur Optimierung des Ichs gewiesen wurden). Die pädagogische Paradoxie kommt im Feld der Wissenschaft zur vollen Entfaltung. Mit anderen Worten: Die Pädagogisierungseffekte laufen bei Abraham über die Handlungs- und bei Winkler über die Wissensebene, wobei Winklers Modell insofern avancierter erscheint, als es zumindest implizit die auftauchenden Widersprüche behandelt. Stellt man sich ein Blatt Papier vor, so lässt sich die Logik des Konzepts von Abraham wie folgt verdeutlichen. Man schreibt auf die eine Hälfte Unterricht (Praxis) und auf die andere Didaktik (Theorie). Dann 10 | Winkler (ebd. S. 203f.) nennt ihr eigenes Konzept in Abgrenzung zu demjenigen von Abraham Reflexionskonzept.
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trennt man das Papier in der Mitte und legt die eine auf die andere Hälfte. Alles passt zusammen. Die Bereiche kommen zur Deckung. Dasselbe Bild für das Konzept von Winkler: Man faltet die Praxis-Hälfte nach hinten, so dass diese zwischen den theoretischen Elementen im Vordergrund (oben) durchscheint. Konsequent ist in Winklers Konzeption die hohe Relevanz wissenschaftlicher (literaturdidaktischer) Modelle. Im Modell ist die Spezifik wissenschaftlicher Diskurse ebenso aufgehoben wie die Relation zum Handlungsfeld: »Das theoretische Modell verdeutlicht, welche Elemente in der Praxis wichtig sind, ohne den Anspruch erheben zu können, ein Abbild der Praxis zu sein.« (Ebd., S. 204) Diese Bestimmung hält den selbstreferentiellen Gehalt wissenschaftlicher Modelle (Modellökonomie, Anschlussfähigkeit usf.) sowie deren Status als diskursive Ereignisse der Wissenschaft recht niedrig, ohne eine platte Abbildrelation zu postulieren. Man darf aber nicht vergessen, dass die ›Elemente‹ im wissenschaftlichen Modell nur in Form von perspektivischen Abstraktionen gegeben sind. Wer Modelle liest, identifiziert und kontextualisiert Begriffe. Die dahinter stehende Dynamik der Sprache – als performative Differenz des Unterrichtens und als philologische Paradoxie des Gegenstands – kann oder soll zumindest in diesem Zusammenhang nicht gesehen werden. Das positive Gegeben-Sein der Elemente wird mit deren Status als theoretische Setzung ohne echte Positivität bezahlt. Das Referential im Sinne Foucaults (vgl. Kammler 1997, S. 39) konstituiert den Diskurs, aber die Form seines Existierens ist gleichwohl ungewiss; es ist nur als Abwesendes anwesend. Doch gerade dies wird, ganz zu Recht, von Iris Winkler begrüßt, denn die epistemologische Distanz garantiert den wissenschaftlichen Diskurs. Das Modell ermöglicht wissenschaftliche Reflexion, unterläuft aber zugleich seine Funktion als handlungsorientierendes Moment. Das Vorbereitende kann immer auch das Nicht-Vorbereitende sein. Ein Diskurs, der auf einen anderen vorbereitet, ist diesem nicht Herr und muss letztlich auf jegliche Autorität in Hinsicht auf das, was vorbereitet werden soll, verzichten. Doch diese Nische zwischen dem Vorbereitenden und dem Vorbereiteten könnte die Bedingung der Möglichkeit von Freiheit auf Seiten der Unterrichtenden sein. Kommen wir zum dritten hier zu diskutierenden Modell. Matthis Kepser versteht Deutschdidaktik, was für ihn Literaturdidaktik mit einschließt, als ›eingreifende Kulturwissenschaft‹. Noch stärker als Winkler betont er den Wissenschaftsstatus der Disziplin. Das Nicht-Unparteiische begründet er hingegen insbesondere mit Verweis auf die angelsächsischen cultural studies. Es liegt einer der wenigen didaktischen Texte vor, der sich zu zeitgenössischer Kulturwissenschaft hin öffnet. Rasch tauchen interessante, neue Fragen auf, z.B. »wie und warum staatliche Lehr- und Bildungspläne Lehrende und Lernende disziplinieren und welche Interessen damit verbunden sind.«
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(Kepser 2013, S. 62)11 Damit wird das Feld des aristotelischen Handlungsbegriffs, der Theorie und Praxis aufeinander abbildet, verlassen. Das Wissen soll nicht mehr Handlung orientieren, sondern Handeln selbst als wissens- und machtförmige Praxis beobachtbar machen. Auf der anderen Seite führt das Unterfangen, bisherige Ergebnisse der Deutschdidaktik als ›eigentlich schon immer kulturwissenschaftlich‹ zu begreifen, zu einer Überharmonisierung der Perspektive. Wenn auch die Fragestellungen, etwa in Forschungen zur literarischen Sozialisation, Ähnlichkeiten mit kulturwissenschaftlichen Studien aufweisen, so ist doch die Form des Diskurses (die Sprache, die Art der Argumentation, die theoretischen Bezugspunkte usf.) eine andere. Ein Beispiel mag der Kontingenz-Begriff sein, der in der Literaturdidaktik kaum je ernsthaft diskutiert worden ist. Die Lehrbarkeitsdoktrin mit ihrem geschlossenen Kreislauf von Lehren und Lernen stand dem entgegen.12 Für das Modell Kepsers ist festzuhalten: Weder wird die Grenze der Diskurse aufgehoben, noch wird die Form des pädagogischen Wissens in das wissenschaftliche Wissen kopiert, so dass die Grenze durch alle Ebenen des wissenschaftlichen Wissens hindurchläuft. Vielmehr scheint es, als ließe sich eine Stärkung der Grenze beobachten: »Eine Deutschdidaktik als eingreifende Kulturwissenschaft ist in erster Linie Wissenschaft und als solche hat sie sich zuallererst der Forschung verpflichtet zu fühlen.« (Ebd., S. 60) Das liest sich wie ein Gegenentwurf zu Abraham.13 Allerdings gibt es bei Kepser sehr wohl ein Ineinander von wissenschaftsimmanenten Perspektiven und praktischen Ansprüchen. Das führt zu Begründungsproblemen, die sich bereits in der Leitmetapher des Aufsatzes zeigen. Das präsenzmetaphysische Modell, gemäß dem die Wissenschaft – wie ein handelndes Subjekt – in die Bezirke jenseits von ihr eingreift, ist unterkomplex. Es suggeriert, dass ein Diskurs als ganzer eine Intention und eine Funktion haben könnte. Hier kommt Kepsers Argumentation doch der Vorstellung eines begründenden Subjekts, das sich über seinen Diskurs hinweg setzen kann (vgl. Foucault 1998, S. 31), sehr nahe. Zweitens sind die Beispiele, die Kepser gibt, nicht sehr ermutigend, z.B. die »Beteiligung an Großforschungs11 | Kepser verweist an dieser Stelle auf die governmentality studies (z.B. Dean 1999). 12 | Eine Ausnahme in der Literaturdidaktik ist die Studie von Kämper-van den Boogaart (1997). Thompson, Jergus, Breidenstein (2014, S. 9) schreiben, fragend nach Perspektiven kulturwissenschaftlicher Erziehungswissenschaft: »Kontingenz als NichtNotwendigkeit und Anders-Möglichkeit durchstimmt […] das Forschungsfeld der Kulturwissenschaft.« 13 | Siehe aber den folgenden, wie selbstverständlich daneben gestellten Satz, der auf Vorbereitung für den Beruf abhebt: »Selbstverständlich hat auch eine Fachdidaktik als Kulturwissenschaft die Verpflichtung, Studierende auf ihren künftigen Beruf als Deutschlehrkräfte vorzubereiten.« (Ebd., S. 62) Wie aber geht das zusammen? Und wenn man sich der ›Verpflichtung‹ entzöge?
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projekten« (ebd., S. 59) wie DESI (vgl. DESI-Konsortium, Hg., 2008). Ein Eingreifen über Dispositive, die affirmative und systemstabilisierende Funktionen haben und eine kulturwissenschaftliche Perspektive definitiv ausschließen, wäre strukturkonservativ und wenig gewinnbringend. Während zum Beispiel die Frage nach Machtverhältnissen bzw. nach der wechselseitigen Hervorbringung von Wissen und Macht kulturwissenschaftlich unverzichtbar ist, ist sie bei DESI, wo sich alles um Kompetenzerwerb dreht, ausgeschlossen. Im schlimmsten Falle wäre Kulturwissenschaft nur ein Euphemismus, der bewirkt, dass unter geändertem Namen – wie im Kapitalismus üblich – alles weiter gehen kann wie bisher. Die Rede von einer eingreifenden Kulturwissenschaft erschiene dann als Zugeständnis an das herrschende Selbstverständnis, gemäß dem die Aufgabe der Literaturdidaktik darin besteht, der Bildungsbürokratie Inhalte und Legitimationen zu liefern. Das Referential soll letztlich doch mehr sein als etwas, das nur als Abwesendes anwesend sein und deswegen kognitiv freigesetzt werden kann; es soll im Diskurs und außerhalb des Diskurses zugleich bewegt und verändert werden.14 Auch dann, wenn die Literaturdidaktik als handelndes Subjekt ›auf Reformen drängt‹ (vgl. Kepser 2013, S. 54). Das literaturdidaktische Paradox nimmt bei Kepser eine besondere, nämlich gewissermaßen institutionelle Form an: »Als eingreifende Wissenschaft ist die Deutschdidaktik selbst wiederum Teil des Kulturraums, den sie erforscht. Das Dilemma, wissenschaftlicher Beobachter und gleichzeitig Akteur im selben Feld zu sein, kann nur bearbeitet werden, indem sich die Deutschdidaktik der Außenkritik stellt und sich auch stets kritisch reflektiert.« (Kepser 2013, S. 59)
Bemerkenswert ist die Feststellung, dass das Wissen der Literaturdidaktik ein gespaltenes ist. Wenig überraschend das zur Bezeichnung dieses Umstands verwendete Wort: Dilemma. Während, wie oben gezeigt wurde (vgl. Kap. 4), wenn vom Paradox die Rede ist, auf diskursive Widersprüchlichkeit referiert wird, lässt die Bezeichnung als Dilemma die Ausgliederung des Problems als praktisch-moralisches zu (das Wissen selbst ist nicht davon tangiert, nur die Vermittlung). Kepser sieht also die Widersprüche zwischen normativem pädagogischem Handeln und deskriptiver wissenschaftlicher Beobachtung, die z.B. von einem Dozenten, der ein schulisches Praktikum ›begleitet‹, in ein und demselben Moment ausbalanciert werden muss; er löst die Differenz aber zu 14 | Formeln wie ›Deutschdidaktik als Handlungswissenschaft‹ (vgl. Ossner 2001 sowie kritisch Kepser 2013, S. 53) schreiben die Idee einer geregelten Beziehung zwischen Theorie und Praxis fort. Dass z.B. der Unterricht in der Wissenschaft nur als Abwesender anwesend sein kann und dass dies zu einem permanenten Aufschub von Referenz führt, wird hintan gestellt.
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schnell auf, indem er, was grundsätzlich zu begrüßen ist, auf die Notwendigkeit innerer und äußerer Kritik verweist, aber die Frage offen lässt, ob diese Kritik die Widersprüche heilen kann und wenn ja, auf welcher Ebene dies geschieht. Kehrt nach der Kritik der Widerspruch zurück? Widersprüchlichkeit löst Reflexion aus; das sieht Kepser und er erklärt aus diesem Grund wiederholt die selbstkritische Reflexivität zur conditio sine qua non der Deutschdidaktik. In dieser Hinsicht hat die Literaturdidaktik sehr wohl Anteil an dem, was für Lyotord (2005, S. 158), das Aufregende und Bedeutsame an der Wissenschaft ist, nämlich das Unbegreifliche und Widersprüchliche zu suchen. So versteht sich auch die vorliegende Arbeit nicht als übergeordnete theoretische Reflexion, sondern als Intervention in einen Diskurs, dessen Figuren von innen her anders gelesen werden sollen. Kepser fordert aufgrund des literaturdidaktischen ›Dilemmas‹ ein erhöhtes Maß an Selbstreflexion und Selbstkritik. Doch zur Zeit geschieht genau das Gegenteil: Die Empirisierung der Literaturdidaktik hat zu einer selbstreferentiellen Schließung geführt. Die Grenze ist undurchlässiger geworden – jedenfalls für kulturwissenschaftliche Intervention. Wo Theorie auf Methodologie regrediert, geht es nur noch um die Korrektheit der Durchführung und das angemessene setting. ›Außenkritik‹ im Sinne der Konfrontation mit fremden Diskursfiguren und radikaler Anderheit existiert in der professionellen Szene der Deutschdidaktik, wie sie sich bei den zweijährlichen Treffen des Symposions Deutschdidaktik zeigt, so gut wie nicht. Falten wir ein letztes Mal das Blatt: Auf der Oberseite steht bei Kepser Theorie (Didaktik als kritische Kulturwissenschaft), dann kommt ein leeres Blatt, das die komplizierte Vermittlung von Theorie und Praxis symbolisiert, schließlich das zweite beschriebene Blatt (schulische Praxis). Wie in allen drei Bildern findet eine Typisierung statt, die nicht abbilden kann, dass die Elemente der einen Ebene in der anderen auftauchen und Widersprüche verursachen. Vereinfachung zum Zwecke der Vergleichbarkeit lässt sich nicht vermeiden.15 Damit ist nicht ein exklusiv literaturdidaktisches Problem bestimmt; es zeigt sich vielmehr, dass die Literaturdidaktik Anteil hat an einer allgemeinen erkenntnistheoretischen Problematik: »Der Sinn des Außen hat sich seit jeher im Innen befunden, war außerhalb des Außen gefangen und umgekehrt.« (Derrida 1974, S. 62) Es mag nur sein, dass im Didaktischen, aufgrund des starken Praxisbezugs, sich die Probleme zuspitzen und die Widersprüche intensivieren. Wenn der Text permanent vorgibt, auf keinen Fall nur der Text 15 | Äußerlich betrachtet bereitet für Winkler das Studium auf den Beruf vor, während es für Kepser eigenständig ist und sich zum Praxisfeld kritisch verhalten kann. Doch wie gezeigt wurde, gibt es in beiden Texten Aussagen, die der vermeintlichen Textintention zuwiderlaufen. Der je einzelne Text bekommt den Diskurs nicht in den Griff, sondern transformiert dessen Widersprüchlichkeit aufs Neue.
VIII. In eigener Sache (Selbstbeschreibungen)
zu sein, verstrickt er sich erst recht in die Aporien der Referenz. Es gibt die Grenze nicht als feste Formation, es gibt sie nur als diskursives Ereignis; der Literaturunterricht ist als exkludierter inkludiert, weswegen er ständig an eine andere Position geschoben werden kann. Verläuft die Grenze zwischen Literaturdidaktik als Wissenschaft und als Akteurin im Feld der Praxis noch einmal durch die Wissenschaft hindurch, so wird das literaturdidaktische Subjekt durch die Linien der Macht fragmentiert. Wie in Kapitel II gezeigt werden konnte, ist das didaktische Subjekt passiv und aktiv zugleich. Es soll freigesetzt werden, indem es sich als gelehriges unterwirft. Wie Breidenstein/Thompson (2014, S. 89) schreiben, entspricht dies den Regeln von Diskursen im Allgemeinen und wissenschaftlichen Diskursen im Besonderen: Mit der Konstitution eines bestimmten Objektbereichs wird ein bestimmter Typus des Subjekts geformt. Diese Formulierung sollte man jedoch nicht wörtlich verstehen. Es gibt zwar auch in der Literaturdidaktik 16 typische Subjektkonstruktionen (vgl. Kap. II), aber zugleich wird deren Einheit durch den Diskurs, der sie herstellen soll, wieder zerrissen. Wie der oben zitierte Text von Eigenwald (1996) über den Referendar deutlich gemacht hat, ist die in der didaktischen Konstruktion unterstellte Transparenz und Kohärenz des didaktischen Subjekts ein Illusion, die in der Praxis dem Bild widerstreitender Machtlinien weichen muss.17 Wie Luhmann (2002, S. 96) zutreffend schreibt, kann man ein Subjekt, im Sinne der Passung von transzendentaler und empirischer Dimension, schlicht nicht sein. Diese Unmöglichkeit hinterlässt nun ihrerseits Spuren in denjenigen Texten, welche dem Diskurs eine Einheit situieren wollen, indem sie ihn durch die Instanz eines berechenbaren, kohärenten Subjekts begrenzen. Die Unmöglichkeit, dem Begriff zu entsprechen, lässt diesen bereits im transzendentalen Stadium auseinanderfallen. So bei Ulf Abraham, der das Subjekt verdoppeln muss, um in einem Diskurs über geeignete Lehrende der Literatur von ihm sprechen zu können. Einerseits ist eine starke persönliche Bindung an Literatur unverzichtbar, andererseits genügt das nicht. Er oder sie muss »eine eher überdurchschnittliche soziale Kompetenz mitbringen sowie ein Repertoire an Verfahren (›Methoden‹) der Modellierung und Inszenierung von Lehr-/Lernsituationen im Umgang mit Texten.« (Abraham 2012, S. 61) Während die soziale Kompetenz – was auch immer darunter zu verstehen ist – noch in den Bereich des nicht zu Erlernenden gehört, ist mit dem ›Methodenrepertoire‹ dasjenige bezeichnet, 16 | Und nicht nur in der Literaturdidaktik: Ossner (2006a, S. 14) bestimmt in seiner Einführung in die Sprachdidaktik das Subjekt als rationales, das sich auf empirische Kriterien beruft, um rational und ethisch vertretbar handeln zu können. 17 | Vgl. hierzu auch den philosophischen Erfahrungsbericht über das Referendariat von Heinrich (2011) sowie die Kritik von Hochstadt (2006) an dem entfremdenden Methodenfetischismus der Studienseminare.
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was an der Universität gelernt werden soll (und muss). Es kommt ein merkwürdiges Spiel in Gang. Das Unverzichtbare, schwer zu Beschreibende, an individuelle Erfahrungen Geknüpfte muss in der Didaktik draußen bleiben, damit drinnen das am Subjekt bearbeitet werden kann, was im Sinne einer erfolgreichen beruflichen Zukunft als notwendig erscheint.18 Der Zugang zur Literatur muss bereits erworben sein, bevor man erfolgreicher Vermittler werden kann. Der Gedanke klingt vernünftig und auch der Verfasser dieser Zeilen hat dergleichen schon mehrfach mündlich geäußert. Wer wollte nicht gerne belesene und literaturbegeisterte Studenten haben? Doch es geht hier nicht darum, Befindlichkeiten und Wunschdenken zu bestärken. Die Frage ist die nach der strategischen Funktion der Subjekttrennung im Text von Abraham. Tatsächlich entlastet die Auslagerung der literarischen Bildungsvoraussetzungen die didaktische Programmatik von der Frage nach dem Gegenstand. Die Literatur kommt so ihrer Didaktik nicht in die Quere. Einfache Oppositionen wie innen (Didaktik) vs. außen (Literatur), Inhalt (Bildung) vs. Form (Vermittlung) sowie schließlich Gefühl (ästhetische Erfahrung) vs. Verstand (Professionalisierung) klauben die Seiten des Subjekts auseinander, die nach Abraham aufeinander angewiesen sind, aber nicht gleichzeitig da sein dürfen. Was aber, wenn gerade literarische Bildung sich gegen didaktische Professionalisierung verschwört? Der Text von Abraham errichtet eine Grenze, die den Einflussbereich des Didaktischen auf die heranzubildende »Lehrerpersönlichkeit« (ebd., S. 62) markiert, thematisiert aber nicht, inwiefern das Ausgeschlossene das Eingeschlossene irritieren könnte. Aus der Sicht des Studenten fallen fortan die fachlichen und die didaktischen Inhalte auseinander. Das wäre nicht weiter schlimm – Differenz ist die Bedingung der Möglichkeit von Freiheit (vgl. Baum 2010) –, wenn nicht zugleich die daraus resultierende paradoxe Aufspannung des Wissens – individuelle vs. fachliche vs. didaktische vs. schulische Literatur – aus dem Blick geraten würde. Das Subjekt ist als doppeltes gegeben: einmal als intentionales und funktionales, entsprechend der Lehrbarkeitsdoktrin, einmal als fragmentiertes und widersprüchliches, das über kein einheitliches Wissen verfügt. Die Selbstbeschreibung didaktischer Programmatik bei Abraham geht daran vorbei. Subjektivität und Macht sind im Text von Abraham auf komplizierte und unzertrennbare Weise miteinander verbunden. Idealistische und funktiona18 | Es wurde bereits gezeigt, dass die Besetzung der Gegenwart im Namen der Zukunft, von der auch der Begriff der Kompetenz zehrt, ein basaler Widerspruch didaktischen Denkens ist. »Der Vorgriff auf die Zukunft ist nur in Gestalt der absoluten Gefahr möglich«, notiert Derrida (1974, S. 15); gewendet in Richtung der Literaturdidaktik: Ein Bild erfolgreicher professioneller Zukunft zu malen, ist stets ein Ritual der Macht, dem es zuallererst um die Durchsetzung der eigenen Wahrheit im Sinne eines Willens zur Macht geht.
VIII. In eigener Sache (Selbstbeschreibungen)
listische Aussagen laufen gewissermaßen durcheinander hindurch und führen zu Fragmentierungen des als Ganzes Gewollten. Der strategische Ort, an dem die Macht spricht, ist die akademische Lehre selbst, die zu wissen vorgibt, was wann wie gewusst und gemacht werden muss. Demgegenüber setzt Iris Winkler, wie bereits angedeutet, auf die kritische Selbstbefragung der Subjekte, die gewissermaßen aus eigener Kraft ihre Defizite erkennen und bearbeiten sollen. Die Macht wird in die Subjekte verlagert, deren ›schlechtes fachdidaktisches Gewissen‹ ihnen sozusagen keine Ruhe lassen darf. Auf dem Spiel steht schließlich der zukünftige berufliche Erfolg (den entscheidend zu beeinflussen die Literaturdidaktik reklamiert) und damit die allgemeine Qualität von Leben und Beruf. Unschwer wird die Logik des pädagogischen Diskurses im wissenschaftlichen bemerkbar. Wie in der Schule die Notwendigkeit der Unterwerfung unter ein Regime des Wissens und Handelns damit begründet wird, dass nur so in einer unbestimmten Zukunft Freiheit und Selbstbestimmung möglich sind – Verleugnung der Gegenwart im Namen der Zukunft19 –, rechtfertigt die literaturdidaktische Lehre ihr Handeln in Hinsicht auf zukünftigen beruflichen Erfolg – ohne doch darüber Auskunft geben zu können, ob das damit gegebene Versprechen in einem Feld von widerstreitenden Wissens- und Machtformen eingehalten werden kann. Vorerst kann die Argumentation sich nur an ihrem institutionellen Ort aussprechen und rechtfertigen, im Rahmen ihrer diskursiven Grenzen und Möglichkeiten.20 Die Adressaten der literaturdidaktischen Lehre sind ›Subjekte‹, weil sie das Wissen- und Können-Müssen verinnerlicht haben. Ähnlich wie der Kompetenz-Diskurs an ältere Formen der Gewissenserforschung und Selbstbefragung anknüpft, indem er das Überleben der Subjekte an das geforderte Wissen und Können knüpft (vgl. Gelhard 2012, insbesondere S. 25-40), erzeugt die Lehre der Literaturdidaktik eine Dringlichkeit, die durch den Bezug auf eine idealisierte (und zugleich bedrohliche) Zukunft entsteht und im Hier und Jetzt zu einer normativen Aufladung des Wissens führt. Einerseits geht es um Professionalisierung, um Fitness für ein anspruchsvolles und undurchsichtiges Berufsfeld, andererseits wird nicht nur Wissen gebildet, sondern die akademische Lehre will an die Überzeugungen der Studenten heran, um, ein wenig wie im Priesterseminar, auch Sein und Wollen steuern zu können. Das Steuerungsmodell von Unterricht (vgl. Wimmer 2014, S. 102) nebst zahlreichen Implikationen pädagogischen Handelns schreibt sich in den wissenschaftlichen Diskurs ein: »Hochschullehren19 | So gesehen ist der Euphemismus des Non-scolae-sed-vitae-Discimus wahrlich perfide. 20 | Wehe wenn die ehemaligen Studenten den berüchtigten Satz des Seminarleiters zu hören bekommen: »Jetzt vergessen Sie einmal alles, was Sie an der Universität gelernt haben.« Die camouflierte Grenze zwischen pädagogischem und wissenschaftlichem Diskurs wäre auf einmal schmerzhaft spürbar.
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de müssen sich die Überzeugungen der Studierenden in Bezug auf das Lehramtsstudium und das Schulfach Deutsch bewusst machen, wenn ihre Lehre erwünschte Ergebnisse zeigen soll.« (Winkler 2015, S. 193) Dem Subjekt, stets auf dem Weg, ›erwünschte Ergebnisse‹ zu liefern, wird zu Beginn Differenz zu sich selbst und zu den anderen zugestanden, um am Ende mit einem kohärenten und gewissermaßen bereinigten Kollektivsubjekt zu verschmelzen. Obwohl die Lehre bei der Individualität der Studenten ansetzt, geht das Ganze im Grunde in die Gegenrichtung der Angleichung an die Intentionen der Lehre. Man denkt an den pädagogischen Allgemeinplatz, dass man die Schüler dort abholen muss, wo sie stehen.21 Ähnliches geschieht in der Personal- und Management-Schulung: zuerst individuelle Standortbestimmung, dann schrittweise Aneignung der vorgegebenen Inhalte. Der »Zweitakt von Leitung und Drohung« (Gelhard 2012, S. 9) entpuppt sich mit anderen Worten als die zeitgenössische und in die Wissenschaft kopierte Form der pädagogischen Paradoxie. Wissenschaft wird Erziehung, indem sie erzieherisch sich selbst verfehlt. Freilich kannte auch die alte Universität das Miteinander von Freiheit und Zwang. Es gibt schon lange ein pädagogisches Vokabular in der Universität (›Schulen‹, ›Lehrer‹) und man spricht nicht umsonst von wissenschaftlichen ›Disziplinen‹, ein Wort, das den Wissen-Macht-Zusammenhang mit sich führt. Wirkt in der Literaturdidaktik die Lehrbarkeitsdoktrin, so war es in der älteren Universität die Doktrin der Bildung (vgl. affirmativ: Gadamer 1990, S. 15-24 sowie analytisch: Lyotard 2005, S. 96-111), die, gerade umgekehrt, den Bezug zum Beruf offen hielt, um daraus eine besondere, höchst eigene Dignität zu generieren. Die Lehre der Wissenschaft ging der Wissenschaft der Lehre voraus. Die heteronomen Verstrebungen des Wissens treten hingegen im Falle der Literaturdidaktik besonders deutlich hervor, weil die Selbstbezüglichkeit von Theorie und Forschung dort noch weit größere Unruhe verursacht, als sie es in der Universität immer schon getan hat.22 Überleben im Reservat der Geisteswissenschaft immer noch bildungszentrierte Diskurse, so kann in der Literaturdidaktik inzwischen offensichtlich nur noch unernst auf die ältere Doktrin Bezug genommen werden. So bezeichnet Matthis Kepser (2013, S. 59) die »Entfaltung des Individuums« als »hippokratischen Eid« der Deutschdidaktik, spricht im selben Zusammenhang aber zugleich von »hehre[n] Zielen«. Es ist 21 | Was nicht heißt, dass dies je gelingen könnte. Das Abfragen der Wissensstände ist ein Ritual, das an die Ressourcen und Widersprüche der pädagogischen Situation gebunden bleibt. Es ist wahrscheinlich, dass das Entscheidende nicht in den Blick kommt. Auch hier stimmt die Selbstbeschreibung mit der Realität nicht überein. 22 | Hier sei noch einmal an die Bemerkungen von de Man (1987) erinnert, z.B. an das Problem der philosophischen, religiösen oder ideologischen Prämissen literaturwissenschaftlichen Wissens (ebd., S. 83).
VIII. In eigener Sache (Selbstbeschreibungen)
schwer zu überlesen: Bildung und Individualität sind aus der Didaktik herausgefallen und geistern noch ein wenig als Überbauvokabular herum. Im Grunde weiß man damit nichts mehr anzufangen. Erziehung orientiert sich längst an anderen Maßstäben und Kulturwissenschaft, um die es Kepser zu tun ist, setzt ein solches Vokabular in Anführungszeichen. Doch vorläufig sind die alten Worte noch in der Lage, in den neuen Texten eine merkwürdige Inkohärenz zu stiften. Die Lehrbarkeitsdoktrin arbeitet mit einem einseitigen Kommunikationsmodell: Die lehrbar gemachte Literatur bringt die Form ihrer Vermittlung selbst hervor und damit auch die implizite Annahme, dass diejenigen, die lernen sollen, wenn sie mit dieser Form arbeiten, erfolgreichen sein werden. Die Programme des ›Lehrens und Lernens‹ setzen das gefügige Subjekt immer schon voraus. Das gilt auch für solche Formate, die auf ›ästhetische Erfahrung‹ im Literaturunterricht oder andere Formen der Freisetzung von Subjektivität setzen. Möglich ist dies immer nur im vorgegebenen Rahmen, der definiert, was ästhetische Erfahrung ist, wodurch sie induziert werden kann usf. Ähnliches gilt für die didaktische Formatierung des lernenden Studenten. Die Kommunikation geht nur in eine Richtung, da die Lehrperson immer schon weiß, was erfolgversprechend ist und wie es angeeignet werden soll. Der Fall, dass das Didaktische einem als Fremdes, Irritierendes begegnet, ist in den Texten von Abraham und Winkler nicht vorgesehen. Wenn auch die Spielräume im letztgenannten Text erheblich größer sind als im anderen, so bleibt doch die grundlegende Struktur eines verplanten und durch gezielte Eingriffe gesteuerten Subjekts erhalten. Das/der Andere wird vom Subjekt abgeschnitten. Damit geraten die Unwägbarkeiten und Ambivalenzen des Vermittlungsprozesses aus dem Blick: »Die irreduzible Anderheit zwischen Ich und Du, Jetzt und Damals, wie die nie abtragbare Komplexität der Vermittlungswege machen das Verstehen zum offenen Prozeß: Jeder Vermittlungsschritt, den wir zwischen uns und dem Anderen rekonstruieren, ist seinerseits in ein Bezugsnetz eingefügt, dessen Entzifferung ohne Abschluss bleibt.« (Angehrn 2004, S. 122f.) 23
Wir begegnen dem im ersten Kapitel beobachteten Problem wieder. Wenn es um den Auf- und Ausbau von Kompetenzen geht, sind gelehrige Subjekte gefragt. Da das Ziel feststeht, ist Widerstand kontraproduktiv. Wiederholung kann nur als gelungene Aneignung gedacht werden. Es hat den Anschein, als ob so ein genuin orales (phonozentrisches) Modell der Lehre entworfen wird. Das Idealbild des gelehrigen Schülers und Studen23 | Zum stets nicht zureichenden Wissen, das den Anderen verfehlt, vgl. Wimmer (2006, S. 303).
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ten ist dasjenige des Hörenden, der sich nicht in die Einsamkeit und Fragwürdigkeit von Lektüre und Reflexion zurückzuziehen braucht. Während im Lesen (auch didaktischer Texte) ein komplexes und schwer auszurechnendes Spiel zwischen Kontingenz und Kohärenz abläuft, bleibt das aufnehmende und gelehrige Subjekt im Raum von Informationsübermittlung und Kausalität. Akademische Bildung, wenn das Wort für einen Moment doch gestattet ist, wird nicht als fundamentale Entsicherung des Subjekts gedacht (vgl. Zirfas 2001, S. 57), das sich selbst zu einem anderen werden darf, sondern als geschickt konstruierte Professionalisierungsmaschine, die immer genau so viel Freiheit zulässt, wie für die effektive Verarbeitung des neuen Wissens notwendig ist. Zwischen den notwendigen Schritten gibt es nichts, was dem anders Fortschreiten, Umkehren oder Abzweigen Raum gibt. Das bewirkt auch, dass im Studium und in der Lehrerbildung unerwartete Erfahrungen von Komplexität häufig als individuelles Scheitern erlebt werden. Kehrt das Unberechenbare, Unerwartete zurück, wird bereits dessen Wahrnehmung schwierig; das Unabgeschlossene und Widersprüchliche hat seinen Platz verloren und kann sich u.U. nur als diffuses Unbehagen geltend machen. Der Widerstand, den die Lektüre literaturdidaktischer Texte hätte hervorrufen müssen, indem man lernt, gegen den Strich ihrer Intentionen und in Hinsicht auf die unsichtbare Agenda zu lesen, ruft nun Unsicherheit, Frustration, Enttäuschung, Aggression hervor. Das Versprechen wurde nicht gehalten. Wie eigentlich stellen sich literaturdidaktische Selbstbeschreibungen den wissenschaftlichen Leser vor? Die letzten Bemerkungen galten dem Problemfeld von Subjektivität und Macht in den Texten von Abraham, Winkler und Kepser. Davor wurde versucht zu zeigen, wie die Performanz der literaturdidaktischen Texte die Grenzen, von denen die Argumentation ausgeht (z.B. Theorie und Praxis), permanent verschiebt, weil das Referential (der Unterricht) nur als Abwesendes anwesend sein kann. Ganz allgemein ging die Analyse in diesem Kapitel davon aus, dass das Paradoxe der Literaturdidaktik ihren Diskurs erst ermöglicht und zugleich die Spannungen in dem Moment steigert, in welchem in Form von Selbstbeschreibungen die Identität in der Differenz expliziert werden soll.24 Wenn Literatur gelehrt werden soll, weil sie nicht gelehrt werden kann, führt die bündige Explikation ihrer Lehrbarkeit zur Subversion des Diskurses, der eben dies postuliert. Lehrbarkeit kann überhaupt nur als Glaube an Lehrbarkeit firmieren. Dieser Glaube ist jedoch nichts Unschuldiges; er ist die Kehrseite der Macht, die das Lesen reglementiert und das Ich in eine Selbstbefragung zwingt.
24 | An dieser Stelle zeigen sich die theoretischen Berührungspunkte von Diskursanalyse und Dekonstruktion. Der Diskurs ist nicht einfach eine positiv gegebene Formation von Regelmäßigkeiten, sondern er bewahrt in sich die Spur dessen, was er überschreiben will: das Nicht-identisch-Sein mit sich selbst.
VIII. In eigener Sache (Selbstbeschreibungen)
Zum Schluss sollen, wie oben bereits angedeutet, einige wenige Bemerkungen zum Wissensbegriff der literaturdidaktischen Selbstbeschreibungen gemacht werden. Es war schon in den letzten beiden Abschnitten zu Paradoxien der Grenze sowie zu Subjektivität und Macht verschiedentlich vom Wissen die Rede. Es kann an dieser Stelle keine fundierte und ausführliche Diskussion auf Grundlage der inzwischen sehr reichen Literatur zur Philosophie und Soziologie des Wissens geführt werden; im philologischen Kontext ist immerhin angeklungen, dass literarisches Wissen nicht basiert auf dem, was man weiß, nicht einmal auf dem, was sich verstehen lässt, sondern auf dem Nichtwissen um die Bestimmung der Worte. Das Wissen der literaturdidaktischen Selbstbeschreibungen (mit gewissen Ausnahmen hinsichtlich des Textes von Kepser) gewinnt seine Konturen, indem die Zwillingsformel vom geschlossenen Kreislauf des Lehrens und Lernens und die diese legitimierende Lehrbarkeitsdoktrin in den wissenschaftlichen Diskurs kopiert wird. Es soll das gelernt werden, was vermittels einer didaktischen Strategie gelehrt worden ist, und zwar weil nur so – vermeintlich – Handeln gelingen kann. Wir haben es also mit einer Diskursverknappung zu tun, welche den erwarteten Output der akademischen Lehre streng an deren Input koppelt. Operiert wird mit einem funktionalistischen Wissensbegriff, der alles, was gewusst werden kann und soll, als pädagogisch (praktisch) notwendig ausweist. Indem so die Autonomie des gedanklichen Prozesses heteronom begrenzt wird – nur das zählt, was als ›Handlungswissen‹ taugt – können alle Fragen nach der Natur dieses Wissens und seinen Widersprüchen herausgerechnet werden. Selbst Differenzierungen des Wissens oder Widerlegungen älteren, nun als untauglich geltenden Wissens25 sind gezwungen, den Ballast von z.B. ›zu viel Theorie‹ möglichst rasch abzuwerfen, um im Angesicht der gegenwärtigen Herausforderung als nicht zu träge zu erscheinen. Das Wissen muss stets anschlussfähig sein für politische und pädagogische Operationen, die sich dadurch legitimieren wollen. Deswegen schleppen literaturdidaktische Texte – und Selbstbeschreibungen insbesondere – ein Übermaß an ungeklärten theoretischen und inhaltlichen Implikationen mit sich herum, die Ihre Richtung und ihren Zusammenhang nur durch Funktionalisierung (Diskursverknappung) erhalten.26 Das Medium der Funktionalisierung ist das orale; der Bewährungsort des Wissens ist das Handeln im Hier und Jetzt. 25 | Die Literaturdidaktik segelt im Windschatten von Bildungspolitik und öffentlicher Meinung und ist deswegen in besonderem Maße gezwungen, das erarbeitete Wissen als adäquat in Hinsicht auf die gegenwärtigen Herausforderungen legitimieren zu können. Die nicht-didaktischen Arbeitsbereiche folgen ihr darin, wie oben angedeutet, zunehmend. 26 | Man danke an dieser Stelle noch einmal an den hier diskutierten Text von Abraham, der in stark verkürzender, die Voraussetzungen und Implikationen der angeführten
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Rancière hat solche Funktionalisierungen des Wissens im Sinne des geschlossen Kreislaufs von Lehren und Lernen, wie bereits kurz gezeigt (vgl. Kap. III), im Zusammenhang der Genese ›fortschrittlichen Unterrichts‹, im Sinne eines Unterrichts, der sich in den Dienst des gesellschaftlichen Fortschritts stellt, analysiert. Er sieht in der Genealogie des ›Handlungswissens‹ ein gefährlich-regressives Moment, da die Form der Vermittlung die Inhalte dementiert.27 Die Lehrbarkeitsdoktrin setzt an die Stelle eines älteren Diskurses der Macht einen neuen, der sich rasch institutionell verfestigt und methodisch verhärtet. Der Zwang, in einer bestimmten Art und Weise fortzuschreiten, lässt die Subjekte wie gebannt am selben Ort verharren: »Die alltägliche Erklärarbeit ist nur das Derivat der herrschenden Erklärung, die eine Gesellschaft charakterisiert.« (Rancière 2009, S. 137) Das hat eine historische, die andere Seite der Aufklärung enthüllende Dimension: »Das Jahrhundert des Fortschritts ist das der triumphierenden Erklärenden, der pädagogisierten Menschheit.« (Ebd., S. 140) Rancières Text ist eine Mischung aus bildungsphilosophischer Studie, historischer Abhandlung und gesellschaftskritischer Analyse. Insbesondere der singuläre Zusammenhang von historischer Faktizität und philosophischer Betrachtung vermag den Leser zu faszinieren. Die verschiedenen Gesichter des Textes lassen es nicht zu, dass man diesen nur als Beitrag zur Pädagogik oder irgendeiner anderen Disziplin liest. Es entsteht etwas Schwebendes, weil Stimmen, die von unterschiedlichen Orten und aus unterschiedlichen Zeiten kommen, miteinander sprechen. Insofern ist es auch nicht statthaft, den Text zu instrumentalisieren, um irgendetwas ›zu beweisen‹. Nicht vergessen werden darf auch, dass Rancière gerade im zweiten Teil seines Buches durchaus starke subjektphilosophische Annahmen voraussetzt, um sein anderes, autodidaktisches Subjekt zu erfinden. Was sich allerdings, im Zusammenhang der vorliegenden Studie, mit Rancière gut zeigen lässt, ist der Zusammenhang von Entmündigung und Fortschritt, den eine Didaktik fortschreibt, die den geschlossenen Kreislauf von Lehren und Lernen zu ihrer gedanklichen Grundlage gemacht hat. »Ein fortschrittlicher Erklärender ist zu allererst ein Erklärender, das heißt ein Verteidiger der Ungleichheit.« (Ebd., S. 150; vgl. S. 153) Der Methoden aussparender Art und Weise Handlungsnotwendigkeiten postuliert. Offener für das Widersprüchliche ist, ob beabsichtigt oder nicht, der Text von Winkler, in dem Reflexion bzw. intellektuelle Skepsis und Orientierung an unhinterfragtem Wissen (z.B. in der Form von Lesekompetenz-Modellen) einander entgegenstehen. 27 | Siehe zu einer verwandten Problematik Nietzsches Unzeitgemäße Betrachtung über die Zukunft unserer Bildungsanstalten (Nietzsche 1999, S. 641-763) aus der Baseler Zeit. Da die Herangehensweise des altphilologischen Unterrichts das Sprachliche verfehlt, kommt der Gegenstand als Ganzer nicht in den Blick; vgl. insbesondere ebd., S. 684f.
VIII. In eigener Sache (Selbstbeschreibungen)
›unwissende Lehrmeister‹ Jacotot ist für Rancière eine Figur, die er einsetzt, um das Identisch-Werden von Lehren und Lernen gedanklich zu durchbrechen. Es geht hier nicht um eine Reform oder um irgendeinen praktischen Vorschlag und schon gar nicht um die neueste Fassung der Lehrbarkeitsdok trin, sondern um einen Bruch der Diskursregeln, um den vielleicht nicht mehr erwarteten Nachweis, dass Lehren anders möglich sein könnte. Der Ort, an dem dies geschieht, mag momentan unsichtbar sein, aber es gibt ihn – vielleicht. Rancières Studie ist besonders überzeugend in denjenigen Passagen, in welchen er den regressiven, für eine Gesellschaft gefährlichen Zug des herkömmlichen ›Lehrens und Lernens‹, illustriert durch die Figur des unwissenden Lehrmeisters, kritisch analysiert. Die Pointe wurde schon einmal zitiert; sie wird hier wiederholt: »Im Lehr- und Lernakt gibt es zwei Intelligenzen. Man wird ihr Zusammenfallen Verdummung nennen.« (Ebd., S. 23) So gesehen kommt die Pädagogisierung des akademischen Wissens durch die Didaktik auch einer Unterhöhlung der kognitiven Leistungsfähigkeit von Hochschulen gleich. Es ist nicht ausgeschlossen, dass mit dem Vormarsch der Didaktik sich auch das Ende einer Haltung ankündigt, die in der Universität den Ort sieht, »an dem nichts außer Frage steht.« (Derrida 2001, S. 14) Das funktionalistische Wissenskonzept der jüngeren literaturdidaktischen Selbstbeschreibungen28 verhält sich, daran sei zum Schluss dieses Kapitels erinnert, affirmativ zur Gesellschaft. Das Wissen in Funktion setzt immer schon das positive Funktionieren des gesellschaftlichen Ganzen voraus.29 Die Gesellschaft ist nicht eine von Unterschieden, Widersprüchen, Konflikten und Unsicherheiten, sondern ein funktionierender Organismus, dessen Teil man aufgrund je spezifischer Kompetenz wird. Marginalisierung und Exklusion müssen nicht gedacht werden. Begünstigt wird ein solcher Diskurs durch die Absenz von Literatur selbst, die gerade das, was nicht funktioniert, zum Thema hat. Insbesondere die kompetenzorientierte Didaktik betrachtet die Gesellschaft als »diese eine große Maschine« (Lyotard 2005, S. 50). Gefüttert wird die Maschine nicht zuletzt durch die Ergebnisse empirischer Forschung, welche der Politik stets die neuesten Indices pädagogischer Performanz zu liefern im Stande ist. Auf der anderen Seite läuft die Linie der Macht für die Subjekte, die zu anderen werden, ohne dies zu dürfen, in der funktionalistischen Konzeption des Wissens zwischen der inneren und der äußeren Wissenssphäre. Die Subjekte sollen ein Wissen als das ihre begreifen und wertschätzen, das von der individuellen Erfahrung abgekoppelt und mit allen Anzeichen von Diskursmacht versehen in sie hinein gesenkt wird. Man findet kaum noch die Zeit, alles einigermaßen richtig nachzuplappern, was als vermeintlich pro28 | Zum funktionalistischen Sprachbegriff der Sprachdidaktik vgl. Hochstadt (2016). 29 | Eine Gegenstimme: Friedrich (2007, S. 196-253).
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fessionelles und handlungsorientierendes Wissen in den Ohren summt und im Kopf herumkreist.30 Funktionieren wird verlangt, beobachtet und geprüft (auch und gerade im Praxisfeld31), bevor die erste Frage, die eine Krise auslösen könnte, gestellt werden kann. Ein letzter Blick auf die hier diskutierten Selbstbeschreibungen kann sich vielleicht am Begriff der Vermittlung orientieren – ohne dass hier freilich eine angemessene theoretische oder gar philosophische Diskussion darüber geführt werden kann (vgl. dazu Türcke 1994). Es lässt sich sagen, dass die untersuchten Selbstbeschreibungen die Unbestimmtheit und Widersprüchlichkeit der eigenen Beobachtungsposition durch ein universelles, d.h. alle Aspekte des eigenen Diskurses durchziehendes Vermittlungsdenken zu kompensieren trachten. Die Figuren, mit denen die Texte operieren, um Vermittlung sinnfällig und evident werden zu lassen, sind trotz aller Überschneidungen allerdings unterschiedlich: Abraham operiert mit methodisch-didaktischem Globalwissen, das die Grenze zwischen pädagogischem und wissenschaftlichem Diskurs nicht zu scheuen braucht; Kepser arbeitet mit dem präsenzmetaphysischen Modell einer eingreifenden, d.h. wie ein Subjekt im Jetzt und Hier handelnden Wissenschaft; Winkler setzt auf eine Theorie für die Praxis in der Theorie und schiebt somit, wie andere pädagogische und didaktische Texte auch, den Moment der Bewährung auf (im Diskurs selbst erscheinen die Probleme als lösbar). Nach diesem Zwischenspiel geht die Untersuchung sozusagen wieder auf die Hauptbahn zurück und verfolgt die Konstitution des literaturdidaktischen Subjekts. Die Fragestellungen des zweiten Kapitels werden also vor dem Hintergrund der danach diskutierten fachlichen und pädagogischen Paradoxien noch einmal aufgenommen und am Beispiel zweier prominenter fachdidaktischer Texte diskutiert. Die Methode ähnelt derjenigen in den letzten Kapiteln des Buches: Textgenaue Lektüre und Verknüpfung mit Aspekten, welche den Einzeltext überschreiten, wechseln sich ab.
30 | An diese Stelle gehören eigentlich wahrhaft empirische Befunde über den Gehalt mündlicher und schriftlicher Prüfungen an den Hochschulen – insbesondere auch der fachdidaktischen Arbeitsbereiche. Den Klagen über unverdautes, schematisches ›Wissen‹ lässt sich kaum aus dem Wege gehen. 31 | Man denke z.B. an die nach Teilkompetenzen unterschiedenen und Kompetenzgrad gerasterten Beobachtungsbögen in Praktikum und Referendariat. Das Subjekt als Maschine, das noch lernen muss, an relevanten Stellschrauben zu drehen, um das Prädikat der Professionalität zu erhalten.
IX. Das literaturdidaktische Subjekt
In diesem Kapitel sollen einige Fäden der Untersuchung wieder aufgenommen und am Beispiel zweier prominenter Texte, Hans Löseners Studie Zwischen Wort und Wort (Lösener 2006) und Volker Frederkings Handbuchbeitrag Modellierung literarischer Rezeptionskompetenz (Frederking 2015), ein letztes Mal miteinander verwoben werden. Leitfaden ist die Frage nach dem Subjekt – hier nun, anders als in Kapitel zwei, das gleichwohl mitzulesen ist, spezifiziert in Hinsicht auf die Literaturdidaktik. Vorangestellt werden soll die folgende Überlegung: Sobald vom Subjekt die Rede ist, entsteht eine Tendenz, Annahmen, die mit diesem Begriff einhergehen, zu übernehmen. Insbesondere gilt dies für das Subjekt als sich selbst setzende Instanz, von dem Wissen und Handeln ausgeht. Wenn also im Folgenden der Subjekt-Diskurs der Literaturdidaktik untersucht wird, heißt das nicht, dass die grundsätzlichen Annahmen, z.B. der Vorrang des Subjekts vor dem Anderen, geteilt werden. Die Untersuchung lässt sich vielmehr auf die Diskussion von Subjekt-Begriffen ein, um diese möglichst differenziert zu verstehen. Das bedeutet, wegen der Rückkopplung von Gegenstands- und Subjektkonstitution, dass auch die mitlaufenden Begriffe von Literatur, Lektüre und Erziehung zu berücksichtigen sind. Das Subjekt wird konstituiert, indem es als zu bildendes, lesendes gezeigt und im literarischen Text gespiegelt wird. Die Perspektive der Untersuchung geht, auch wenn dies nicht immer explizit gesagt wird, vom Anderen und dessen Unverfügbarkeit aus. Dies gilt insbesondere für die Spur des Anderen im Medium der Schrift. Die Studien von Lösener und Frederking beerben einen langen und voraussetzungsreichen Subjekt-Diskurs, der nach dem Verhältnis des Lernenden (Subjekt) zu den Gegenständen (Objekt) fragt. Das Subjekt-Objekt-Denken ist der Literaturdidaktik sozusagen in die Wiege gelegt und stellt die ältere Schicht der Lehrbarkeitsdoktrin dar. Die didaktische Deutung besteht häufig darin, dem Subjekt (Heranwachsenden) unhintergehbare emotionale und psychische Eigenschaften zuzuschreiben, die in Ontogenese und Sozialisation ihre Begründung finden, und andererseits das Objekt als sachliche Struktur zu begreifen, die außerhalb der Sphäre des Subjektiven angesiedelt ist. Ein wie
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auch immer begründbares Vermittlungsdenken arbeitet sich didaktisch an der Differenz der Sphären ab. Elisabeth Paefgen kann mit Heinrich Hiecke und Philipp Wackernagel zwei literaturdidaktische Entwürfe des 19. Jahrhunderts benennen, die einmal zum Objekt- und einmal zum Subjektpol tendieren. Für Hiecke geht es um einen analytisch begründeten Lehrgang in deutscher Sprache und Literatur, für Wackernagel um Literaturunterricht als Erbauung (vgl. Paefgen 1999, S. 3-7). Dahinter verbirgt sich die metaphysische Opposition Emotion vs. Kognition oder in älterer Variante Geist vs. Körper. Über hundert Jahres später streiten immer noch Ansätze, die vom ›lesenden Subjekt‹ und dessen Bedürfnissen ausgehen, mit solchen, die der Dignität des Textes höchste Priorität einräumen. Man denke an den Streit um den handlungs- und produktionsorientierten Literaturunterricht (vgl. Kügler 1996). Die Lehrbarkeitsdoktrin verspricht, die Distanz zwischen Subjekt und Objekt, obwohl selbst erst diskursiv erzeugt, aufzuheben. Didaktik organisiert also das Gelingen der subjektiven Aneignung objektiver Gehalte. Allerdings setzt die Form, in der dies geschieht, der Subjektivität Grenzen setzt; die Literatur des Klassenzimmers ist nicht mehr und nicht weniger als eben die Literatur des Klassenzimmers. In der gegenwärtigen literaturdidaktischen Diskussion lassen sich verschiedene Umschriften des Subjekt-Objekt-Denkens beobachten. Die jüngste besteht in der Aufhebung des Gegensatzes durch den Begriff der Kompetenz; die Reflexion auf die Spannung zwischen Subjekt und Objekt wird eingestellt zu Gunsten der Erfindung eines objektivierten Subjekts.1 Zeugnis dieses Diskurses ist der unten zu diskutierende Text von Frederking. Andernorts treten die subjektive und objektive Dimension wieder stärker auseinander, etwa in der Didaktik der Literaturgeschichte, in der, vielleicht aufgrund der Schwierigkeit des Gegenstands, der Gegensatz zwischen analytischen und emotionalen Dimensionen des ›literarischen Lernens‹ weiter diskutiert wird (vgl. etwa Brüggemann 2012, S. 277). Die Modellbildung kann dann auf die Frage hinauslaufen, ob eine geschickt ausgewählte Sammlung von Literaturauszügen und zeitgeschichtlichen Zeugnissen auf der einen Seite ein objektiv vertretbares Bild der Epoche ergibt und auf der anderen Seite im Prozess induktiven Erschließens des Materials der Eigenart von Lernprozessen und den Voraussetzungen der Subjekte entgegenkommt (vgl. ebd., S. 280-283). Dabei entsteht allerdings ein Widerspruch: Wenn das gebotene Material nicht lernförderlich, aber objektiv (oder wenigstens in Hinsicht auf bestimmte literaturgeschichtliche Prämissen) notwendig ist, verstößt das didaktische Design gegen die Lehrbarkeitsdoktrin. Die von Brüggemann (ebd., S. 287) gestellte Frage, »ob 1 | Spinner (2006, S. 6f.) sieht den Gegensatz von Lernen und Literatur durch den Begriff der Kompetenz vermittelt; vgl. zu diesem viel diskutierten Text Baum (2015) sowie die weiteren Beiträge in dem Themenheft der Zeitschrift Leseräume.
IX. Das literaturdidaktische Subjekt
die [kulturhistorische, M. B.] Modellierung des Gegenstands tatsächlich die Ausbildung literarischer Verstehenskompetenz beeinflusst«, macht den abstrakten (und zugleich empirisch zu überprüfenden) Begriff literarischer Kompetenz zum allein entscheidenden Kriterium, ohne auch nur die Frage zu erwägen, ob ein gescheiterter Kompetenzerwerb nicht genauso interessant oder wertvoll sein könnte wie ein gelingender. Mit anderen Worten: Wenn der kulturhistorisch ausgerichtet Literaturunterricht sich dem Effizienzkriterium des Kompetenzdiskurses beugen muss, hat er wohl von Anfang an verloren. Der kleine Ausflug in die Geschichte des Subjekt-Objekt-Denkens in der Literaturdidaktik soll hier schon abgebrochen werden. Es ging darum, daran zu erinnern, dass die Texte von Lösener und Frederking Teil einer diskursiven Genealogie sind, in der die impliziten und expliziten Subjekt-Begriffe permanent neu gebildet und gegeneinander verschoben werden. Vorerst lässt sich nur Folgendes sagen: Während Frederking sich dem herrschenden Kompetenzdiskurs anschließt, geht Lösener einen eher ungewöhnlichen Weg: Er sieht im Text eine sich artikulierende Stimme, die wahrzunehmen wiederum Aufgabe des lesenden Subjekts ist; es kommt zu einer Potenzierung von Subjektivität. Zur groben stilistischen Orientierung: Frederkings Text ist recht eindeutig dem harten Stil in der Literaturdidaktik zuzuordnen; Lösener, dessen anspruchsvolle und diskussionswürdige Untersuchung zuerst betrachtet werden soll, schreibt einen Stil, der eher an kultur- und literaturwissenschaftliche Studien erinnert, entzieht sich also dem Mainstream literaturdidaktischer Schreibweisen; der Anspruch, empirisch hartes Handlungswissen zu formulieren, entfällt. Stattdessen geht es im weitesten Sinne um eine Ethik des Lesens in der Literaturwissenschaft und im Literaturunterricht. Ausgangspunkte sind nicht, wie im Falle des Textes von Meissner, Desiderate fachdidaktischer Forschung im Sinne des Schließens von Lücken im Professionswissen, sondern grundsätzliche Mängel philologischer und fachdidaktischer Theoriebildung, die grob als Herrschaft des Zeichendenkens und der Form-Inhalt-Interpretation bezeichnet werden können (vgl. v.a. Lösener 2006, S. 19-64 et passim). Lösener setzt also bei den Problemen von Text und Lektüre an, nicht bei heteronomen Größen wie dem ›gesellschaftlich handlungsfähigen Subjekt‹ als Regulativ literaturdidaktischer Theoriebildung und Forschung. Zum methodologischen Mainstream in Form der Kognitionspsychologie geht er auf Distanz. Aus anderen Gründen als jenen, die hier formuliert wurden (vgl. Kap. 2), misstraut er den leitenden Annahmen etwa von Christmann/Groeben (1999). Seine überzeugend dargelegte und begründete These lautet, dass das kognitionspsychologische Lesemodell von Christmann/Groeben bei näherer Betrachtung wieder auf die Vorstellung von Bedeutungsentnahme aus schriftlichen Zeichen regrediert (vgl. z.B. Lösener 2006, S. 44). Damit verbleibt die kognitionspsychologische Leseforschung im Raum der unfruchtbar gewordenen Oppositionen Sinnentnahme vs. Sinnkonstruktion sowie Inhalt vs. Form,
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wobei im letzteren Falle eine gewichtete Opposition vorliegt, da die Form nur als Durchgangsstation zum Inhalt gesehen wird: »Die Bedeutung wird beim Lesen extrahiert, die Form, also die sprachliche Gestalt, dagegen vergessen.« (Ebd., S. 45) Ein in literaturdidaktischer Hinsicht unverzeihliches Desiderat wird somit markiert: Da die Form der bloßen Entzifferung von Zeichen entgegenarbeitet, führt die Indifferenz gegenüber der formalen Arbeit der Sprache zu einem Textmodell, das blind ist für die Spezifika des Literarischen.2 Insofern Kognition, wie oben kurz gezeigt, als Fähigkeit zur Bildung von mentalen Repräsentationen gefasst wird, geht es um eine räumliche Ordnung des Bedeutens ohne Verräumlichung der Zeichen als aufschiebende Differenzierung. Lösener denkt hingegen Sinn nicht »als eine zu einer sprachlichen Form gehörende geistige Substanz.« (Ebd., S. 65) Es geht ihm nicht um eine Re-Präsentation von Welt in Form mentaler Modelle. Im Sinne des Titels seiner Studie, der auf ein Gedicht von Hilde Domin Bezug nimmt, fasst er Sinnbildung als Bewegung innerhalb eines Textsystems (zwischen den Worten) auf; darunter versteht er »ein konkretes, aus sprachlichen Werten gebildetes Äußerungsgefüge der geschriebenen Rede.« Die »semantische Ausrichtung des Systems« ergibt sich folglich »aus den Beziehungen der es konstituierenden Werte« (ebd., S. 76). Die Anklänge an die Terminologie von de Saussure sind nicht zufällig, denn trotz aller Kritik am Begriff des Zeichens, den ja de Saussure, gewissermaßen gegen die Logik des eigenen Systems, beibehält (vgl. Derrida 1986, v.a. S. 52-55), ist de Saussure, neben Henri Meschonnic, Löseners wichtigster Gewährsmann. Entscheidend ist hierbei die Unterscheidung von System und Struktur. Während unter ›Struktur‹ eine gewissermaßen unterhalb des Textes liegende Anordnung universeller (etwa semantischer) Merkmale zu verstehen ist, bildet sich das ›System‹ durch formale Vernetzung auf der Textoberfläche auf je spezifische, nicht-universelle Art und Weise (vgl. Lösener 2006, S. 6977). Da die semantische Performativität (vgl. ebd., S. 100) folglich in nichts anderem besteht als in formal-systemischen Bezügen, welche lineare und hierarchische Vorstellungen von Textualität weit hinter sich lassen, scheint so auch der notorische Form-Inhalt-Dualismus nebst seinen destruktiven Wirkungen in Literaturunterricht und Literaturwissenschaft überwunden werden zu können.3 Poetisch lesen zu lernen, heißt also, in die Wahrnehmung von Textsyste2 | Auf dieses Problem wurde in der vorliegenden Arbeit schon hingewiesen (vgl. Kap. 2); wenn Sprache als Präsenz gedacht und behauptet wird, dass das Erlernen der richtigen Leseoperationen schon das Verstehen garantiert, schmilzt der Widerstand der literarischen Form auf ein Nichts zusammen. 3 | Entscheidend wird dann freilich, was als systemisch relevanter Zeichenbezug erachtet und wie die wahrgenommene Relation gedeutet wird; vgl. dazu die Besprechung von Löseners Kafka-Lektüre in diesem Kapitel. Vorerst kann gesagt werden, dass Lösener auf der theoretischen Ebene das poetische Lesen von den verwandten Lektürefor-
IX. Das literaturdidaktische Subjekt
men eingeübt werden. Und hier taucht erstmals die Dimension der Macht auf: Wem obliegt es, warum und wie in die Wahrnehmung von Textsystemen einzuüben? Oder um mit Barthes zu sprechen (vgl. Kap. VII): Wieviel und welche Diskursmacht strömt in die Sprache der poetischen Verständigung? Der Versuch, einige mögliche Antworten auf diese Fragen zu umreißen, führt uns nun zum Subjektbegriff von Löseners Studie. Das systemische Lesen stößt nämlich nicht nur auf sprachliche Werte, sondern auf eine »Sinnaktivität, welche die Aktivität eines Subjekts in der Sprache ist.« (Ebd., S. 100) Die semantische Performativität der Literatur ist gewissermaßen mit einem teleologischen Index versehen, der jene auf eine Position der Äußerung bezieht. In diesem Zusammenhang spielt es eine erhebliche Rolle, dass sich Lösener auf Henri Meschonnics Studien, insbesondere seine Bibelübersetzungen bezieht. Meschonnic gewinnt aus der Arbeit am biblischen Text die theoretische Kategorie des Rhythmus (vgl. dazu auch Lösener 1999), den er als subjektive Äußerungsqualität der Versifikation und Binnengliederung bestimmt. Das Besondere dabei ist, dass Meschonnic die rhythmische Untergliederung der Rede4 auch räumlich abzubilden versucht – z.B. durch Abstände im Druck. Es kann dazu hier selbstredend keine textwissenschaftliche oder gar theologische Diskussion geführt werden. Es lässt sich aber zumindest die Frage anschließen, ob der Rhythmus ein Effekt der räumlichen Untergliederung von Schrift oder die schriftlich nur wiedergegebene, gleichsam lautliche Qualität subjektiver Artikulation ist (vgl. dazu auch Baum 2016d). Die Lektüre von Löseners Studie stößt schließlich auf einen eigentümlich Begriff der Schrift, den man mit Derrida als Ausweis einer Metaphysik der Präsenz dekonstruieren kann. Die Rede ist (hinsichtlich des systemisch-poetischen Lesens) von einem »Hören auf die Jeweiligkeit eines Sprechens, das – men (dekodierendes, auslegendes, referentielles, intertextuelles und situatives Lesen) unterscheidet; vgl. Lösener 2006, S. 69-123. Etwas irritierend ist es, dass trotz der Unterscheidung von System und Struktur das System (wie die Struktur!) als invariant bezeichnet wird; nur der Sinnerfahrung wird Variabilität zugestanden (vgl. ebd., S. 120); das erinnert an die Opposition von Sinnentnahme (=Textsystem) und Sinnkonstruktion (=Sinnerfahrung). Die Konsequenzen dieser Auffassungen sind beträchtlich: Mehrdeutigkeit scheidet als literaturtheoretische Kategorie aus (vgl. ebd., S. 115) und die Differenz der Zeichen wird als positiv beschreibbare Konstellation von Sprachwerten gedacht. Das muss wiederum zu einer Reduktion der rhetorischen Energie in der Sprache führen. 4 | Auch Lösener behält diesen aus der Hermeneutik Schleiermachers bekannten Begriff bei, der sowohl mündliche als auch schriftliche (poetische) Artefakte meint, damit aber die mediale Differenz mit anderen Worten: die Eigenlogik der Schrift, in welcher Intentionalität aufgelöst wird, aufhebt. Die Quelle der ›Rede‹ lässt sich im Subjekt verorten, diejenige der Schrift nicht.
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dank des Mediums der Schrift – durch die Zeiten hindurch hörbar bleibt.« (Ebd., S. 119; vgl. auch S. 67) So wird der geschriebene Text aus der hermeneutischen Situation des Zeitenabstands und der unhintergehbaren Individualität herausgenommen und nähert sich dem Orakel an, das zu uns spricht; wir müssen nur hören und die Worte zu deuten wissen. In der Metapher des gehörten Textes löschen sich die Absenzen der Schriftlichkeit aus und es entsteht das Bild eines Lesers, der letztlich ein Hörer ist, sich also dem Sprechen des Textes zu unterwerfen weiß.5 Bisher hat sich folglich eine Art Vexierbild des systemischen Lesens ergeben: Auf bauend auf einer überzeugenden Kritik der Inhalt-Form-Interpretation sowie der Deutung von Literatur als Zeichen6 wird ein theoretisch reflektierter, den literaturdidaktischen Mainstream weit übersteigender nichtessenzialistischer Begriff der Sinnbildung im poetischen Lesen entwickelt – wobei die Gelehrtheit des Autors zu beeindrucken weiß. Zugleich schreibt sich in den Text das Bild einer Stimme ein, die zu uns spricht und trotz aller raffinierter Verteilung der formalen Elemente die Möglichkeit einer »semantischen Individuation« (ebd., S. 51; vgl. ferner S. 12) festhält. Es ist möglich, dass hinter der Figur der subjektzentrierten Bündelung der sprachlichen Werte sich das alte erkenntnistheoretische Problem der unitas multiplex verbirgt. Wohin führt die Erkenntnis der Vielheiten wenn nicht zur Erkenntnis der Einheit? Lässt sich unendliche Differenzierung aushalten und – an diesem Problem arbeiten sich Texte des Poststrukturalismus ab – lässt sie sich schreiben? Wie ist diejenige Macht beschaffen, die das differentielle System auf ein Subjekt beziehen und folglich textextern verankern kann? Einige, wenn auch z.T. bewegliche Grenzlinien zu dem hier vertretenen Begriff von Literatur sind inzwischen sichtbar geworden. Wenn die ästhetische Erfahrung in einem Überschießen der Schrift, in der Treue zu den Buchstaben und im zaudernden Aufschub von Bedeutung besteht (vgl. Kap. 5), dann ist dies für Lösener nicht das letzte Wort, sondern nur ein Symptom für die 5 | Im Hintergrund geistern die Topoi der Verwandlung von Schrift in Sprache und von Lesen in Hören herum. Siehe z.B. folgenden Ausschnitt aus Gadamers Text Hören – Sehen – Lesen: »Lesen bezieht sich auf Schrift, Handschrift oder Druckschrift, und Schrift geht zurück auf Sprache. Lesen ist Sprechenlassen. Darin liegt ein hermeneutisches Moment. Wer kann lesen, ohne zu verstehen? Es wäre ein Stottern, ein Stammeln, ein Buchstabieren, aber kein Lesen, solange man nicht von der Sprache selber in das von ihr Geweckte eingeleitet wird. Sprechen fordert also Verstehen, Verstehen des Wortes, das gesagt wird.« (Gadamer 1993, S. 271) 6 | Das schließt die Kritik am Fehlen des Subjekts in der Zeichentheorie mit ein; vgl. Lösener (2006, S. 89, S. 90 und S. 94f.). In diesen Passagen wird jedoch auch deutlich, dass die sich andeutende Subjektzentrierung des systemischen Lesens auf Mängel des Zeichendenkens stößt, die zu Recht kritisiert werden, z.B. die Ausblendung des Körpers.
IX. Das literaturdidaktische Subjekt
Tätigkeit eines sprechenden Subjekts. Wenn schließlich dieses Subjekt in der vorliegenden Arbeit als in der Sprache fehlend und nur in Form einer Spur (des Absenten) lesbar betrachtet wird, so verzweigen sich die Auffassungen an der Stelle, an welcher Spur für Lösener teleologisch (als Weg zum Ziel) und auf der anderen Seite phänomenologisch (als ursprüngliche Spur) aufgefasst wird. Das systemische Lesen setzt auf eine verfeinerte Wahrnehmung des Textes, um die systemischen Beziehungen, welche die semantische Energie erst erzeugen, wahrnehmen zu können. Das setzt die, wenn auch nicht leicht bemerkbare, Präsenz der systemrelevanten Bezüge auf der Textoberfläche ebenso voraus wie die geeignete Lesetechnik, um die Bezüge ordnen, gewichten und deuten zu können. Das lesende Subjekt agiert als Detektiv, der die Teile eines komplizierten Puzzles zusammensetzt, so dass eine aussagekräftige ›zweite Oberfläche‹ entsteht.7 Hier ergeben sich deutliche Unterschiede zur Konzeption von Nicola Mitterer, die davon ausgeht, dass der Sinn – auch implizit – nicht im Text gegeben und die Bedeutungsspur letztlich unendlich ist (vgl. Mitterer 2016, S. 189, S. 14). Das ›lesende Subjekt‹ hat demzufolge für Mitterer nicht mit dem schrittweisen Abbau von Fremdheit, sondern im Gegenteil mit deren Erweiterung zu rechnen (ebd., S. 14, S. 94) und eben darin liegt das entscheidende Moment literarischen Lesens. Ungeachtet aller Gemeinsamkeiten der beiden Arbeiten – Mitterers Satz, der literarische Text sei ein »lebendiges, sinnstiftendes Gewebe« (ebd., S. 47) könnte auch bei Lösener stehen – lässt sich hier eine Grenzlinie ziehen. Für die literaturdidaktische Theoriebildung dürfte diese von hoher Bedeutung sein. Während nämlich das systemische Lesen als grundsätzlich lehr- und lernbar erachtet wird (vgl. Lösener 2006, S. 307-335), überwiegt in der Didaktik literarischer Fremdheit das Bild eines Lesers, der vom Text stets überfordert wird.8 In phänomenologischer Begrifflichkeit ist vom Pathos der Literatur und der damit zusammen hängenden Leiblichkeit ästhetischer Erfahrung die Rede (vgl. Mitterer 2006, S. 50-52 sowie S. 59). Der Leser ist nicht das aktive, erschließende Subjekt, sondern findet sich in der Rolle des passiven Teils der literarischen Kommunikation; in dieser Passivität sind 7 | Man kann allerdings auch die Frage stellen, ob letztlich nicht doch eine Struktur von Signifikant und Signifikat gebildet wird, wobei die formalen Beziehungen den Signifikanten und die Deutungen derselben das Signifikat darstellen. Allerdings ließe sich von Seiten des systemischen Lesens einwenden, dass die Verteilung der systemischen Elemente als Rhythmus selber sprechend ist und sich nicht in ein zweiwertiges Denken fügt. 8 | In didaktischer Hinsicht entspricht dem die Auffassung, dass von einer basalen Fremdheit zwischen Theorie und Praxis auszugehen ist (vgl. Mitterer 2016, S. 77f. mit Verweis auf Hans Hunfeld 2004). Die Anerkennung dieser Fremdheit trägt die Aporie des Sprechens über Theorie-Praxis-Bezüge in der Hochschule mit sich fort. Das Subjekt muss nicht mehr beweisen, dass es weiß, wie die Theorie in die Praxis ›umzusetzen‹ ist.
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dann jedoch auch seine Rechte aufgehoben.9 Die Schrift erscheint nicht als Medium konservierter Individualität, sondern als Spur eines unergründlich Anderen, das in dem geschriebenen Zeichen- und Bildergeflecht nicht mehr präsent sein kann (vgl. ebd., S. 18 sowie S. 166). Die vorliegende Arbeit operiert ausgehend von der Annahme irreduzibelparadoxer Diskursverhältnisse in der Literaturdidaktik und organisiert so die Beobachtung literaturdidaktischer Modelle. Nicola Mitterer ist es, ausgehend von einem phänomenologisch fundierten Begriff der Fremdheit, um eine Beschreibung und literaturdidaktische Reflexion literarischen Lesens zu tun; der Fokus liegt nicht in erster Linie auf der Dekonstruktion literaturdidaktischer Schreibpraxen. Doch es ergeben sich Berührungspunkte: die Radikalisierung von Differenz (einmal als Zuwachs an Fremdheit, einmal als negative Epistemologie literarischer Sprache); die Zurückweisung der Vorstellung eines Subjekts, das in der Lage ist, seine Vollzüge gelingen zu lassen10; die Skepsis gegenüber der Heteronomisierung von Literatur durch didaktisches Modellund Vermittlungsdenken; schließlich ganz generell: die philosophische Analyse der ›literaturdidaktischen Situation‹ nebst deren Verflechtung mit ethischen und politischen Überlegungen. Insofern steht die vorliegende Arbeit der Poetologie der Fremdheit deutlich näher als dem systemischen Lesen. Dabei soll nicht übersehen werden, dass Letzteres, wie zu sehen sein wird, zu sehr genauen Beobachtungen an literarischen Texten führen kann; das systemische Lesen ist imstande die Differenzqualität von Literatur theoretisch und didaktisch zu bestimmen – nicht zuletzt deswegen, weil es, anders als die meisten literaturdidaktischen Texte, die Literatur zum Sprechen bringt. Wie bereits gezeigt, kann der Leser dies durchaus wörtlich verstehen: Das systemische Lesen begreift sich selbst als hörendes Lesen und hat von daher schon ein schwieriges Verhältnis zur Schrift. Im System der Lesestrategien taucht Schrift nur auf der Ebene des dekodierenden Lesens auf (vgl. Lösener 2006, S. 110f.); Schrift wird begriffen als die Voraussetzung dafür, dass der Text überhaupt entziffert werden kann. Die Kritik an der Auflösung von Schrift als Alterität im Zusammenhang mit der Besprechung eines Aufsatzes von Klaus Weimar (1999) läuft dementsprechend nicht auf eine Restituierung von Alterität, sondern im Gegenteil auf die Aneignung des in der Schrift Bewahrten und Gesagten hinaus.11 9 | Mitterers radikaler literaturdidaktischer Entwurf hat u.a. den Vorzug der Differenzierung zwischen Literaturwissenschaft (aktiver, den Text analytisch kontrollierender Leser) und Literaturdidaktik (passiver, den Text erfahrender Leser). Allein das Unterrichtsmodell nach Vermittlungsphasen (vgl. Mitterer 2016, S. 95f.) passt nicht recht dazu. 10 | Zur Aneignung als Strategie ästhetischer Gewalt vgl. Mitterer (2016, S. 30). 11 | Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass die Beurteilung der Dekonstruktion negativ ausfällt. Einige Vorwürfe wie derjenige der Negation von Sinn und der
IX. Das literaturdidaktische Subjekt
Damit ist die Untersuchung des systemischen Lesens bei einer der exemplarischen Analysen angekommen, Kaf kas Erzählung Ein Landarzt aus dem gleichnamigen bei K. Wolff 1919 erschienen Sammelband. Lösener unterzieht diesen Text einer detailgenauen Lektüre, die gleichwohl mehr im Sinn hat als ein textnahes, immanentes Interpretieren, da alles darauf ankommt, die spezifische Inhaltsform aufzuweisen und so den Weg der semantischen Individuation beschreiben zu können. Zur Erinnerung: Der Landarzt verblüfft den Leser durch verschiedene, ineinander wirkende Stilschichten; die als da wären: die manifeste Widersprüchlichkeit der Aussagen des erzählenden Ichs, so z.B. die Behauptung, dass Rosa, das Dienstmädchen, auf keinen Fall geopfert werden soll, nur um eine Dienstreise antreten zu können – worauf genau dies geschieht (vgl. Kafka 1994, S. 254f.); der surreal-traumhafte Charakter des Geschehens, etwa die sich scheinbar in Sekundenbruchteilen vollziehende nächtliche Fahrt zu dem Kranken: »…denn, als öffne sich unmittelbar vor meinem Hoftor der Hof meines Kranken, bin ich schon dort« (ebd., S. 255); schließlich: die Echobeziehungen zwischen den sprachlichen Elementen jenseits dessen, was der Leser als plausibel erwarten kann: der Name des Dienstmädchens und die Beschreibung der Wunde sind »R/rosa« (ebd., S. 254/S. 258); die Pferde sollen ebenso Bruder und Schwester [!] sein wie das Geschwisterpaar im Hause des Kranken (ebd., S. 253/257f.) usf. Es scheint, als würde die Sprache aus ihrem üblichen Spiel herausgerissen und in eine Fremdheit versetzt, die umso größer ist, je mehr diese das Eigene, eben das Spiel der Sprache, adressiert. Anders als in der Legende Vor dem Gesetz, ebenfalls im Landarzt-Band publiziert, haben wir es nicht mit einem Mann vom Lande, sondern mit einem Mann auf dem Lande zu tun. Ort und Zeit werden nicht genau bezeichnet, was die parabolische Spannung des Erzählten erhöht. Warum ein Landarzt erzählt und was die Handlung – ein merkwürdiger Krankenbesuch, der wohl kein Krankenbesuch ist – dem Leser Leugnung des Subjekts klingen vertraut und erinnern an die pauschale frühere Ablehnung Derridas rechts des Rheins; andere wie derjenige des Verhaftet-Bleibens im Zeichendenken sind schon origineller – wenn auch weitgehend unbegründet (vgl. Lösener 2006, S. 55-61 sowie S. 101-107). Negativ sticht die Auffassung heraus, dass Derrida Wiederholung nur als starre, formelhafte Wiederholung denken könne – das Gegenteil ist bekanntlich der Fall. Umgekehrt ist die Setzung des Subjekts als im Sprechen präsentes und sich selbst vernehmendes ein Beispiel für das, was Derrida die Metaphysik der Präsenz genannt hat. Siehe etwa die folgende Stelle: »Wir sind anwesend in dem, was wir sagen, durch die Art und Weise des Sagens, durch den Rhythmus unseres Sprechens, was erklärt, warum jeder Sprecher seinen eigenen Rhythmus hat.« (Ebd., S. 95) Es ist wohl so, dass wir anwesend sind in dem, was wir sagen, indem wir sagen, dass wir anwesend sind. Der anthropologische Allgemeinplatz braucht das Supplement als Absicherung.
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bedeuten will, ist unklar. Die Messlatte für das systemische Lesen liegt demzufolge hoch, denn dieses erhebt den Anspruch, die Sinnrichtung des Erzählten zu begreifen und so das Verstehen aus der Performativität des Textes heraus entwickeln zu können. Es ist hier nicht der Raum, um die Vielzahl von ›systemischen‹ Korrespondenzen, auf welche die ausführliche Lektüre Löseners stößt, in angemessenem Maße zu besprechen und zu würdigen. Der interessierte Leser findet, selbst wenn er nicht mit den Prämissen der Untersuchung übereinstimmt, eine verblüffende Menge an Einsichten über die fein gestrickte Textur Kafkas. Was hier interessiert, ist die angewendete Lesestrategie und die Frage, wie sich das systemische Lesen in der Praxis der Interpretation ausweist. Die Pointe der Untersuchung, welche diese interessanter macht als eine wie auch immer sprachgenaue textimmanente Lektüre, besteht darin, dass der Erzählvorgang selbst das entscheidende Moment im Landarzt ist. Die Widersprüchlichkeit des Sprechens wird nämlich als Beweis dafür erachtet, »dass das Erzähler-Ich etwas zu verbergen hat.« (Lösener 2006, S. 149) Das Verborgene ist, näher betrachtet, nichts anderes als eine »Verknüpfung von Passivität, Verdrängung und Schuld« (ebd., S. 149, Anm. 39).12 So kommt es zu einer Spannung zwischen Textgestalt und Äußerungsintention, denn »was das Erzähler-Ich hartnäckig übersieht und der aufmerksame Leser entdecken kann« (ebd., S. 151), macht das Sinngefüge von Kafkas Erzählung erst aus. Interessanterweise entsteht so die von Lösener allerdings nicht thematisierte Konstellation eines Textes, der ein Subjekt hervorbringt und im Hervorbringen gewissermaßen verurteilt. Dies wirft die Gegenfrage auf: Verurteilt der Text sich damit nicht zugleich selbst? Der Rhythmus des Sprechens im Landarzt wird in der systemischen Analyse zur entscheidenden Instanz, weil nur darüber, über die Abfolge der Widersprüche, Halbwahrheiten und Merkwürdigkeiten aller Art, die Performativität des Textes, die Art und Weise also, in welcher der Text Sinn ›macht‹, wahrnehmbar wird. Das systemische Gefüge entsteht allerdings jenseits der Zeichenebene. Der Unwille, Rosa zu opfern und die Tatsache, dies doch ge12 | Siehe auch Lösener (2006, S. 173), wo die »Logik der Verdrängung als beherrschendes Prinzip der Rede im Landarzt« bezeichnet wird. Der Verf. unterscheidet solche Verdrängung als Ausweis individueller Schuld ausdrücklich von einem gleichsam phylogenetisch vermittelten Schuldgefühl im Sinne Freuds (Folgen des Vatermords). Allerdings leuchtet die Rede von der ausschließlich individuellen Schuld so lange nicht ein, wie nicht angegeben werden kann, worin exakt die Schuld besteht. Denn die Logik der verdrängenden und widersprüchlichen Rede beherrscht den Landarzt gemäß Löseners eigener Analyse von Anfang an und entsteht nicht erst in dem Moment, in dem Schuldhaftes sichtbar wird. Eine freudianische Schuld bleibt folglich so plausibel wie eine individuelle.
IX. Das literaturdidaktische Subjekt
tan zu haben, erweist sich dementsprechend in der Form der Rekurrenz des sprachlichen Materials: »Es fällt mir nicht ein, dir für die Fahrt das Mädchen als Kaufpreis hinzugeben.« (Kafka 1994, S. 254) – »Jetzt erst fällt mir wieder Rosa ein.« (Ebd., S. 256) Lösener kann zeigen, dass das gesamte Sprechen des Landarztes von solchen auf den ersten Blick kaum wahrnehmbaren Korrespondenzen durchzogen ist. Darin besteht der Rhythmus der ›Rede‹ im Landarzt und damit die spezifische semantische Performativität des Textes. Die Wahrnehmung dessen, was hier Rhythmus genannt wird, geht weit über ein lineares und hierarchisches Textmodell wie dasjenige von Christmann/Groeben hinaus; die poetische Differenzqualität wird als Rhythmisierung der Sprache erfahrbar, die das Semiotische durchstreicht. Allerdings scheint der Vorwurf, die Dekonstruktion verfüge über keine zureichende Theorie der Wiederholung nicht vertretbar, weil das systemische Lesen selbst die beobachteten Rekurrenzen auf Typen von Aussagen hochrechnet, ohne die je spezifische Positionierung des einzelnen Elements ausreichend genau zu untersuchen. Wenn nämlich diese und andere Wiederholungen als »Figuren der Verdrängung« bezeichnet werden (vgl. Lösener 2006, S. 173-179), verschwinden deren andere mögliche Beziehungen. Mehr noch wird eine semiotische Lesart dadurch restituiert, dass die vorgefundenen Formbeziehungen einem synthetischen (durch Interpretation hergestellten) Signifikat – ›Verdrängung‹ – zugeordnet werden. Zu dem Zeichen ›einfallen‹ gehört nun das Signifikat ›Verdrängung‹. Ein weiteres, von Lösener in diesem Zusammenhang behandeltes Beispiel bezieht sich auf plötzliche Einfälle, die der Landarzt im Hause der Familie des Kranken hat: »Jetzt erst fällt mir wieder Rosa ein; was tue ich, wie ziehe ich sie unter diesem Pferdeknecht hervor, zehn Meilen von ihr entfernt, unbeherrschbare Pferde vor meinem Wagen«. – »Aus dem Schweinestall muß ich mein Gespann ziehen; wären es nicht zufällig Pferde, müßte ich mit Säuen fahren.« (Kafka 1994, S. 256f. Vgl. Lösener 2006, S. 176)
Diese Stelle deutet Lösener als eine Art metonymische Verschiebung von der innerlich empfundenen Schuld auf das äußerliche Thema der Pferde. Er kann zeigen, wie die Verschränkung von Sexualität und Gewalt das Thema Pferde gleichsam unterwandert: »Wieder ist es der Signifikant ›Pferd‹, der das Ausblenden des Rosa-Themas bewirkt.« (Ebd.) An einer anderen Stelle jedoch weist er dem Signifikanten Pferd eine andere Bedeutung als »durchgehende Assoziation der Pferde mit dem Kranken und der ärztlichen Aufgabe« (ebd., S. 152) zu. Einmal stehen die Pferde für die berufliche Pflicht des Arztes und einmal anderes Mal für die moralische Verpflichtung gegenüber dem Dienstmädchen. Auch wenn die beiden Bereiche auf der Handlungsebene, wenn es denn so etwas hier gibt, miteinander zu tun haben, so sind diese doch seman-
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tisch different und unterschiedlich platziert (einmal steuert der Arzt den Einsatz des Zeichens, einmal ein Geschehen außerhalb von ihm). Die wiederholte Lektüre der entsprechenden Stellen lässt den Leser stets mit offenen Fragen zurück. Der Abstand zwischen dem Bild – wenn es denn ein Bild ist – und dessen möglicher Bedeutung bleibt groß, weil weder außerhalb des Textes (Pferd als Symbol für etwas) noch innerhalb feste Ankerpunkte gegen sind. Die Verschiebung aus den Bereichen ›ärztliche Aufgabe‹ und ›individuelle moralische Verantwortung‹ in den Bereich ›Pferd‹ kann nicht plausibel gedeutet werden; dem Leser kommt es eher so vor, als seien der entstandene Bruch selbst und die vielleicht mögliche Erklärung dafür das entscheidende Moment der textuellen Dynamik. Eine inhaltlich befriedigende, aber methodisch nicht recht überzeugende Deutung provoziert hingegen nur weiteren Deutungsbedarf. Während der Untersuchung ereignet sich dies: »Diese Pferde, die jetzt die Riemen irgendwie gelockert haben; die Fenster, ich weiß nicht wie, von außen aufstoßen; jedes durch ein Fenster den Kopf stecken und, unbeirrt durch den Aufschrei der Familie, den Kranken betrachten.« (Kafka 1994, S. 256)
Wie an anderen Stellen des Landarztes gehen Realismus – die Familie erschrickt wegen der Pferdeköpfe im Raum – und surreale Überzeichnung mühelos zusammen: Die Pferde habe sich befreit und von außen die Fenster geöffnet. Das Erzählen wird eindringlich, weil es die reale Not auf einen surrealen Anlass bezieht. Lösener rationalisiert das Geschehen gleichsam, indem er alles auf eine Ebene moralisch verfehlten Handelns bezieht: »Tatsächlich sind es die Pferde, die den Arzt zu dem Kranken bringen, sie drängen ihn förmlich an das Krankenbett und zu seiner ärztlichen Aufgabe.« (Lösener 2006, S. 151) So findet eine realistische Aneignung des befremdenden Geschehens durch Anthropomorphisierung und Psychologisierung des Zeichens Pferd statt. Die Fremdheit verschwindet hinter dem vertrauten moralischen Topos der nicht geleisteten Pflichterfüllung. Doch indem die Lektüre das Zeichen Pferd anthropomorph und psychologisch deutet, um das Irritierende des Textes in den Griff zu bekommen, bildet sie selbst eine Figur und wird so Teil der semiotischen Dynamik des Textes. Das systemische Lesen ist stets auch ein subjektzentriertes Lesen, das die zahlreichen sprachlichen Echos des Textes auf eine moralische Matrix bezieht. So wird der Landarzt als fein inszenierte literarische Entlarvung (vgl. ebd., S. 164, Anm. 66) eines Subjekts inszeniert, das sich selbst und die Welt, in der es lebt, schuldhaft verfehlt.13 Das heißt, dass hier überraschenderweise 13 | Eine spätere Lektüre ist, trotz aller Unterschiede insgesamt, von solchen Gedanken auch nicht frei. So schreibt von Jagow (2008, S. 508) über den Landarzt: »Fliehen
IX. Das literaturdidaktische Subjekt
ein realistische Lesart vorgeschlagen wird: Landarzt, Pferde, Patient, Knecht, Rosa sind, zunächst einmal schlicht und einfach, wer sie zu sein scheinen. Wenn der Landarzt anhand seines Sprechens als eine verantwortungslose Person dargestellt werden soll, die sich notwendigerweise ständig in Widersprüche verstrickt, dann benötigt diese Perspektive klare Grenzen des Subjekts, der Sprache, der Handlung. Nur auf diese Weise kann das hörende Lesen zu einem (den Landarzt) verhörenden Lesen werden. So heißt es über den gewissenlosen Arzt, er übersehe, »dass es sich bei den Zumutungen lediglich um die alltäglichen Aufgaben und Pflichten des Arztberufs handelt.« (Ebd., S. 180) Diese Neigung, das erzählte Ich anhand seiner eigenen Rede einer pädagogischen und moralischen Überprüfung zu unterziehen, prägt die Struktur der Argumentation.14 So schreibt sich die pädagogische Paradoxie als Zwang zur Rechenschaft in den Text ein. Genauer lässt sich sagen, dass der Schnittpunkt zwischen philologischer und pädagogischer Paradoxie in dem als invariant bezeichneten Systembegriff liegt (vgl. oben). Weil das Textsystem als invariant zu bezeichnen ist, kann es auf die Beurteilung eines Subjekts hochgerechnet werden.15 Wären die Varianten unendliche, löste sich die subjektzentrierte, vor seiner Verantwortung als soziales Wesen und Fliehen vor seinen verdeckten Strukturen des Begehrens.« Allerdings geht die Verf. von einer alptraumhaften »Subjektdissoziation« (ebd., S. 507) aus und zentriert also die Deutung nicht in derselben Weise wie Lösener. 14 | Die Vorwürfe lauten im Einzelnen: Täuschung (S. 188f.), nicht wissen und nicht wissen wollen (S. 165), Passivität (S. 166), Handlungsverweigerung (S. 168), Verdrängung der eigenen Verantwortung (S. 170), Wollen und Handeln stimmen nicht überein (S. 172), Widerspruch zwischen Sagen und Sein (S. 187). Die Bewertungen selbst gehen auf metaphysisch gewichtete Oppositionen zurück; so wird z.B. Aktivität positiv und Passivität negativ bewertet. 15 | Ein Beispiel: Der Verf. deutet das Schwenken der Laterne am Anfang der Erzählung (Kafka 1994, S. 253) als »eine Aufforderung Rosas, zu ihr zu kommen und sie bei der Suche zu unterstützen.« (Lösener 2006, S. 182) Das läuft auf den Vorwurf der Gedanken- und Verantwortungslosigkeit hinaus. Die Stelle wird jedoch nicht als systemisch relevant eingestuft und nur als Zeichen (!) – für sich – gelesen. Später erklingt jedoch ein Echo in einem (vermeintlich) anderen Zusammenhang: »Als ich aber meine Handtasche schließe und nach meinem Pelz winke, die Familie beisammensteht, der Vater schnuppernd über dem Rumglas in seiner Hand, die Mutter, von mir wahrscheinlich enttäuscht – ja, was erwartet denn das Volk? – tränenvoll in die Lippen beißend und die Schwester ein schwer blutiges Handtuch schwenkend, bin ich irgendwie bereit, unter Umständen zuzugeben, daß der Junge doch vielleicht krank ist.« (Kafka 1994, S. 257f.) Geschwenkt werden die rote Laterne und das blutige Handtuch; so ergibt sich, ganz im Sinne des systemischen Lesens, eine Serie Phallus, Weiblichkeit, Menstruation, Sexualität – ganz abseits der moralischen Lesart. Das System erhält eine neue Variante.
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pädagogisch-moralisch urteilende Matrix auf. Kafkas Text wird am Maßstab eines Subjekts bemessen, das sich seiner selbst und der Umwelt bewusst ist, handelt, wenn es notwendig ist, Verdrängung als solche erkennt und Verantwortung übernimmt. Die Widersprüche der Rede sind im verhörenden Lesen Indikatoren für eine gewusste, aber verdrängte Wahrheit. Das Subjekt erzeugt permanent Widersprüche, doch dem Leser stellt sich die Frage, ob nicht auch umgekehrt die Widersprüche das Subjekt erzeugen. Welchen Wert sollte der Aufweis dieser Widersprüche haben, wenn nicht in diesen eine Wahrheit vermutet wird, die mehr wert ist als die Fiktion eines integren bürgerlichen Subjekts? Lösener kann in seiner Analyse detailgenau und überzeugend zeigen, wie der Landarzt um Abgrenzung und soziale Anerkennung bemüht ist (vgl. ebd., S. 179-181), aber diese Strategien mögen ebenso Teil des Triebgeschehens sein wie andere erzählte Ereignisse. Die Lektüre des Landarztes kann schwerlich die Frage umgehen, in welchem Verhältnis die verschiedenen Figuren der Erzählung zueinander stehen. Handelt es sich um eine Konstellation, die als soziale (interpersonale) denkbar ist oder erscheint, wie im Traum, ein und dieselbe Figur in verschiedener Gestalt oder geschieht gar beides zugleich? Lösener tendiert zur ersten Antwort und baut auf dieser Prämisse die Wahrnehmung und Beurteilung der Hauptfigur auf. Dementsprechend werden der junge Patient und der Landarzt als Figuren voneinander getrennt. Zugrunde gelegt wird eine realistische Erwartung an Hilfeleistung für den Patienten. Die Erzählung von der Wunde in der Seite des Jungen erheischt in diesem Zusammenhang hohe Aufmerksamkeit: »In seiner rechten Seite, in der Hüftgegend hat sich eine handtellergroße Wunde aufgetan. Rosa, in vielen Schattierungen, dunkel in der Tiefe, hellwerdend zu den Rändern, zartkörnig, mit ungleichmäßig sich aufsammelndem Blut, offen wie ein Bergwerk obertags.« (Kafka 1994, S. 258)
Die Anspielungen auf die Vorstellung einer Vagina sind hier zu deutlich, um überlesen werden zu können. Und der Hinweis des Jungen, dass er mit dieser Wunde auf die Welt gekommen ist (ebd., S. 260), machen eine Lesart, welche die Wunde tatsächlich als ein medizinisches Problem ansehen will, sehr schwierig. Es ist ein tiefes weibliches Mal im Körper des Jungen und die Beschreibung beginnt mit dem Wort R/rosa – einem wörtlichen Widerhall auf den Namen des Dienstmädchens. Geht es um ein in den Körper geschlagenes Sinnbild des Begehrens, das den Jungen verzehrt? Oder um ein verrätseltes Bild aus dem Themenbereich der sexuellen Identität? Die Zeichen des Landarztes antworten aufeinander: Die Pferde sind angeblich Bruder und Schwester (so wie das Geschwisterpaar im Hause des Patienten); der Name der Magd antwortet auf die Beschreibung der Wunde und umgekehrt; der Landarzt spie-
IX. Das literaturdidaktische Subjekt
gelt sich in seinem Patienten und dieser in ihm. Wie kann das Handeln der Hauptfigur gelingen, wenn diese nur Bild in einer Serie von Bildern ist, die sich gegenseitig aufrufen? Lösener betrachtet die zitierten Stellen nur im Lichte der widersprüchlichen Beschreibungen der Wunde durch den Arzt. Ferner fällt ihm, wie vielen genauen Lesern, die merkwürdige Formulierung auf, es habe sich eine Wunde »aufgetan« (Kafka 1994, S. 258). Er deutet dies als Ausrede; als ob der Arzt vorher nur nicht richtig hingesehen hat (vgl. Lösener 2006, S. 150). Doch sollte in einem solch plumpen Übersehen der großen Wunde wirklich ein wichtiger Anhaltspunkt für die Beurteilung der Figur des Arztes liegen? Oder ist die sich auftuende Wunde auf ein Moment der inneren (imaginären) Wahrnehmung bezogen? Ist es nicht doch zulässig, in dem Jungen eine Bild des Arztes von seiner eigenen Adoleszenz zu erkennen, eine genealogische Reflexion auf die Wunde, die in ihn geschlagen worden ist – von Anfang an? Die Herausforderung für den Leser besteht darin, dass er einerseits die subjektzentrierten Auffassungen bewahren muss, um verstehen zu können, und andererseits durch die Arbeit der Sprache über die Grenze der Rede eines sich artikulierenden Subjekts hinausgeführt wird. So auch in der folgenden sonderbaren Stelle: »Ich bin vom Bezirk angestellt und tue meine Pflicht bis zum Rand, bis dorthin, wo es fast zu viel wird. Schlecht bezahlt, bin ich doch freigiebig und hilfsbereit gegenüber den Armen. Noch für Rosa muß ich sorgen, dann mag der Junge recht haben und auch ich will sterben. Was tue ich hier in diesem endlosen Winter!« (Kafka 1994, S. 256f.)
In das Begehren nach Anerkennung bricht der Satz ein, der Rosa, den Jungen und den Tod thematisiert. Wonach es gewissermaßen über der ganzen Szene zu schneien anfängt. Auf der Ebene des manifesten Handelns und Sprechens sucht man vergeblich nach einer entsprechenden Aussage des Jungen. Dieser bittet den Doktor, sterben zu dürfen (vgl. ebd., S. 255). Aber wie kann der Junge hinsichtlich des Todes des Arztes recht haben? Das lässt sich nur lesen, wenn der Arzt und der Junge ein und dieselbe Figur sind, die im Spiel des Begehrens und der Sprache getrennt und verschoben wurden. Die Todessehnsucht als verantwortungslosen Fatalismus des Arztes zu begreifen (vgl. Lösener 2006, S. 150), impliziert eine Übertragung der Rede des Jungen auf den Arzt (oder umgekehrt), doch diese Übertragung löst exakt jene Gewissheit des Subjekts und der Sprache auf, die eine verhörend-juridische Lektüre voraussetzen muss. Wir sind am Ende der Besprechung angekommen. In der hier besprochenen Studie findet eine Potenzierung der Probleme von Sprachlichkeit und Subjektivität statt, gerade weil der Verfasser sich so intensiv auf den Text von Kafka einlässt. Weit davon entfernt, sich mit einem deduktiv vorgegebenen Gelingen zufrieden zu geben, entfesselt die besprochene Studie die Komplexität
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der Sprache Kafkas und versucht diese mit einer Deutung zu verbinden, die an der Instanz eines integren bürgerlichen Subjekts ihre Grenzen findet. Der Rhythmus der Rede wird so zum Ausweis einer Schuld, die sich in die Sprache eingeschrieben hat. Performativität als fortschreitende Selbstbelastung des sich artikulierenden Subjekts – was wiederum ein lesendes Subjekt voraussetzt, welches all dies dechiffrieren und deuten kann, wodurch der rhetorische Widerstand der Sprache gebrochen werden soll. Während die Textnähe sich auf den Irrgarten der Sprache einlässt und der selbstgewissen ›Denkbarkeit alles Seienden‹ (Nietzsche) keinen Raum gewähren will, arbeitet dem die Maschinerie der deutenden Synthese auf der Basis anthropologischer Setzungen entgegen. Die in die Sprache geschlagene Wunde soll geheilt werden, doch sie bricht in den Händen des Arztes immer wieder auf. Die Lehrbarkeitsdoktrin hat sich in Löseners Text eingeschrieben, indem sie ein Subjekt außerhalb des Textes erfindet, das verantwortlich gemacht werden kann für die Inhalte und Formen des Sprechens. Der pädagogische Zwang bringt gewissermaßen die sprachliche Dynamik zum Stillstand; die rhetorische Sprachfunktion wird auf die logische zurückbezogen. Ein verwandter und doch ganz anderer Fall liegt in Volker Frederkings umfangreichem Artikel Modellierung literarischer Rezeptionskompetenz vor (Frederking 2015).16 Frederking geht es darum, die Spezifik literarischer Lektüre im Zusammenhang kompetenzorientierter, empirischer Forschung zur Geltung zu bringen. Er schreibt: »Es ist zweifelsfrei ein überaus mutiger und im Grundsatz richtiger Schritt gewesen, Kompetenzen zu den Orientierungspunkten schulischer Lehr-Lernprozesse zu machen. Die Auswirkungen sind allerdings janusköpfig, wie sich gerade im Zusammenhang mit der literarischen Rezeptionskompetenz und ihrer Stellung im Rahmen der Bildungsstandards zeigt. Denn die positiven Absichten drohen in der Realisierung durch zwei grundlegende Problembereiche in ihr Gegenteil umzuschlagen – die unzureichende Erfassung genuin literarischer Verstehens- und Verarbeitungsprozesse in den Bildungsstandards und das Fehlen eines operationalisierbaren Modells literarischer Rezeptionskompetenz.« (Ebd., S. 2015)
Frederking begrüßt die Kompetenzorientierung also grundsätzlich und er stimmt die oben analysierte Zwillingsformel (vgl. Kap. 3) darauf ab; im Lehren und Lernen geht es folglich um den Erwerb von Kompetenzen. Umgekehrt fällt ein Unterricht, dem es nicht um Kompetenzen geht und der andere Orientierungspunkte präferiert, aus der Machtmatrix von fachdidaktischer Mainstream-Forschung und bildungspolitischer Neuausrichtung der Schule heraus. Nur die kompetenzorientiert forschende Literaturdidaktik scheint An16 | Es handelt sich um einen Beitrag zu dem Handbuch Deutschunterricht in Theorie und Praxis.
IX. Das literaturdidaktische Subjekt
schluss gewinnen zu können an die unter den Auspizien von PISA restrukturierte Schule. Es gibt wieder ein hegemoniales Wissen der Fachdidaktik, dessen Energie sich aus der vermeintlichen Dringlichkeit der ›Reformen‹ speist; dazu unten mehr. Denn das Problem, welches in dem vorliegenden Text zumindest vordergründig gestellt wird, ist ein anderes: Die Bildungsstandards ›erfassen‹ die Struktur literarischen Verstehens nicht und die Fachdidaktik konnte bisher kein adäquates Modell, das diesen Mangel behebt, vorlegen. Daran lassen sich Fragen anschließen: Ist ein schlüssiges, nach außen klar abgegrenztes Modell literarischen Verstehens überhaupt denkbar? Kann es Sinn und Zweck der Literaturdidaktik sein, Begründungen und Anleitungen zu liefern für institutionelle Bildungsprogramme oder führt eine solche Dienstleistungsfunktion von Wissenschaft von vornherein nur zur Produktion von Erzeugnissen mit überschaubarem wissenschaftlichem Wert? Schließlich: Wie ist es um das Verhältnis von Methode und Gegenstand bestellt? Sind empirisches Erfassen und literarische Lektüre aufeinander abbildbar – gar so, dass, ungeachtet der performativen Differenzen, eine kohärent beschreibbare Kompetenz, die operationalisierbar ist, zugrunde gelegt werden kann?17 Solche grundsätzlichen Fragen fallen aus dem Diskurs der kompetenzorientierten Literaturdidaktik weitestgehend heraus.18 Doktrin, Vokabular, Schreibstile, Textstrukturen, Fragestellungen, Bezugstexte, Publikationsorte sind spezifisch und weisen, anders als der Gegenstand, klare Außengrenzen auf. Die Form der Sprache, etwa das Überhandnehmen statistischer Verfahren19, erzeugt entweder grundsätzliche Zustimmung oder Marginalisierung. Dies ist freilich Kennzeichen jeglichen fachlichen Diskurses; er zwingt zu allererst zur Übereinstimmung mit seiner Form. Und für die in dieser Arbeit herangezogenen Texte des Poststrukturalismus gilt das sogar in ganz besonderer Weise, da die Sprache hier nicht nur ihr Gegenstand, sondern zugleich immer auch das zentrale Problem ist, was wiederum zu sehr spezifische Schreibweisen führt. Präferiert wird dieser Diskurs in der vorliegenden Arbeit gleichwohl und zwar weil er es erlaubt, die unausgesprochenen Implikationen und Widersprüche des Vermittlungsdenkens zu analysieren, wohingegen die kompetenzorientierte Literaturdidaktik zwar zwangsläufig in Berührung bleibt mit 17 | Diese Fragen mögen dem Leser als zu unscharf gestellt erscheinen. Um die grundsätzliche Problematik zu umreißen, wurden sie dennoch hier so formuliert. An dieser Stelle hält sich die Lektüre noch jenseits der Grenze des besprochenen Textes auf. 18 | Ein Beispiel ist die Trennung von Debatte und Forschung in der Zeitschrift Didaktik Deutsch; vgl. Baum (2014, S. 177f.) 19 | Man kann darin auch eine Regression von Theorie auf Methodologie sehen. Wenn es nur noch darum geht, ›sauber‹ zu rechnen, ist die Berechenbarkeit der Problematik immer schon vorausgesetzt. Ebenso ein bestimmter Typus von Empirie, der sich an der metaphysischen Zwillingsformel von quantitativer vs. qualitativer Forschung orientiert.
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dem eigenen Schatten – allerdings so gut wie nie so, dass dessen Konturen wahrgenommen und beschrieben werden. Es fehlt, anders als bei Lösener, an einem zureichenden Begriff von Sprache und Literatur, weswegen die statistische Exaktheit über den zur Diskussion stehenden Gegenstand hinwegzugehen scheint. Einmal mehr geht es folglich in der vorliegenden Arbeit darum, Spuren des Verdrängten zu lesen und in gründlicher Lektüre die in jedem Text in spezifischer Form erscheinenden Widerspruchstypen (vgl. nochmals Foucault 1995, S. 218 sowie Kap. 4) aufzuweisen. Dazu ist es notwendig, einige der Grundbegriffe in den Blick zu nehmen. Zuallererst denjenigen des Modells bzw. der Modellierung selbst. Bereits in der Metapher ist die Spannung zwischen Selbst- und Fremdreferenz angelegt. Das Modell muss sich selbst und die Welt, auf die es verweist, erklären. Dieser notwendige Widerspruch spitzt sich zu, wenn es um Modelle geht, die nicht nur heteronom und autonom zugleich sind, sondern darüber hinaus normativ, also versehen mit dem Anspruch, Handlung orientieren bzw. ›Handlungswissen‹ formulieren zu können. Das normative Modell erfindet die gewünschte Wahrheit und behauptet zugleich, dass das, was das Modell zeigt, der Wahrheit und den Gütekriterien wissenschaftlicher Forschung entspricht. Modellen eignet eine Tendenz zur Abstraktion und zum Funktionalismus. Sie heben die Relationen zu Ungunsten der Beschaffenheit der Elemente hervor und erzeugen ein hohes Maß an Aufwand zur Respezifizierung. Gerade der didaktisch interessierte Leser fragt sich, wie dieses oder jenes Modell auf diesen oder jenen Text ›angewendet‹ werden kann (oder umgekehrt?) und was das für die Praxis einer Lehre der Literatur bedeutet. Der Setzungscharakter des Modells tritt in einen Widerspruch zur unüberschaubaren Komplexität des Textes, der genau das tut, was das Modell nicht tut: polyvalente und unbestimmte Anschlüsse erzeugen.20 Paul de Man hat daraus die Konsequenz gezogen, dass Litertaturtheorie im strengen Sinne nicht lehrbar ist, weil sie – aufgrund des Widerspruchs zwischen logischer und rhetorischer Funktion der Sprache – stets die Sprache des Widerspruchs gegen sich selbst sprechen muss (vgl. de Man 1987 sowie Kap. 5). Die Literaturdidaktik hat sich allerdings die Aufgabe gestellt, Modelle gelingender Vermittlung zu formulieren. Aufgrund der immanenten Wirkung 20 | Die abstrakte und funktionalistische Konzeptualisierung des Modells kann das Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem nur nach der Form der Algorithmus begreifen. Die einmal durchgeführte Berechnung (kompetente Lektüre) kann auch ein zweites Mal durchgeführt werden; vgl. z.B. Spinner (2006, S. 7) sowie Frederking (2015, S. 351), der sich darauf bezieht. Anstatt den Gedanken zuzulassen, dass der andere Text, etwa im Sinne Mitterers (2016), eine nie zu bewältigende Fremdheit aufweist, läuft das Kompetenzmodell auf eine Selbstaffirmation durch Wiederholung voraus; das Allgemeine hält das Besondere im Griff.
IX. Das literaturdidaktische Subjekt
der Lehrbarkeitsdoktrin führt dies immer wieder zur Suche nach leitenden Modellen, welche die Kontingenz wissenschaftlicher Theoriebildung auffangen. Hermann Helmers forderte z.B. eine »Vereinheitlichung der Begriffe« (1966/1997, S. 50) in der deutschdidaktischen Forschung. Überraschenderweise erlebte diese vormodern anmutende Auffassung vierzig Jahre später eine Wiedergeburt. Obwohl inzwischen eine ganze Postmoderne vergangen zu sein schien, kehrte Jakob Ossner zu diesem Gedanken zurück; er entwarf eine Gitterstruktur didaktischen Wissens, die jeden Inhalt des Deutschunterrichts jeder möglichen Wissensform zuordnet, das Ganze in der dritten Dimension hierarchisch ordnet und so präsupponiert, es gebe ein Metamodell, das die didaktische Forschung reguliert, indem es diese auf einen nicht weiter hinterfragten methodologischen Horizont und auf die schulischen Arbeitsbereiche bezieht (vgl. Ossner 2006b; kritisch: Steinbrenner 2007). Es fällt schwer, darin nicht die totalitäre Phantasie des bereinigten und von allen Widersprüchen befreiten Diskurses zu sehen.21 Im Modell literarischer Rezeptionskompetenz verfügt das ›lesende Subjekt‹ immer schon über die geeigneten Mittel zur Bewältigung des Textes und insofern lässt sich literarisches Lesen nur als Beweis eines technischen Vermögens begreifen, das allerdings in seinem Wesen erst (empirisch) zu »erfassen« (Frederking 2015, S. 366f.) ist. Während in Löseners Lektüre die Möglichkeiten des lesenden Subjekts gleichsam performativ gebildet werden, stehen diese im Kompetenzdiskurs immer schon im Vorhinein fest und werden gegebenenfalls durch Fallstudien ›illustriert‹; dies bedeutet, dass entweder der Literaturdidaktiker die kompetente Lektüre vormacht oder ausgewählte Probanden unter Beweis stellen müssen, inwiefern sie in der Lage sind, sich den vorgegebenen Zielen anzunähern.22 Im letzteren Falle führt dies zu immer neuen Schüben der Beforschung von Schulen. Das ständige Testen als modus operandi kompetenzorientierter Literaturdidaktik, wird nicht hinterfragt, sondern im Sinne ›weiteren Forschungsbedarfs‹ gerechtfertigt.23 Nicht selten steht im Hin21 | Der Text diente u.a. zur Vorbereitung des Symposions Deutschdidaktik in Weingarten 2006. Vortragende wurden im Vorfeld gebeten, sich in Ossners Kompetenzgitter zu verorten. Und auch Frederking (2015, S. 327) arbeitet noch mit verwandten Metaphern der hegemonialen Besetzung wissenschaftlicher Diskurse. Er notiert zur Literaturdidaktik nach PISA: »Für die damit verbundene Schwerpunktverlagerung fungieren die Bildungsstandards als Koordinatensystem und der Kompetenzbegriff als Gravitationszentrum.« 22 | Die Ausrichtung an Modellen aus der Psychologie führt häufig dazu, dass ein Durchgriff auf ›tatsächlich Gedachtes‹, etwa in Form von ›Laut-Lesen-Protokollen‹ stattfindet. 23 | In Kap. 7 wurde anhand eines Aufsatzes von Meissner (2010) gezeigt, wie die Probanden sich an die Anforderungen der empirischen Forschung, der sie unterworfen werden, anzupassen versuchen und dabei eine Mischung aus erzwungenen Deutungs-
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tergrund das Dispositiv einer drittmittelgesteuerten Großforschung, welche die Lehrbarkeitsdoktrin in methodologische und organisatorische Strukturen übersetzt, um als ökonomisch und gesellschaftlich relevant wahrgenommen werden zu können. Dabei entsteht die im Grunde unlösbare Aufgabe, die Beschreibung der Gegenstände mit der Modellierung des kompetenten Subjekts der Lektüre zu vermitteln. Die normative Aufladung von Ausschnitten literaturtheoretischer Diskurse erzeugt eine Friktion literaturdidaktischen Wissens. Mit anderen Worten: Der Zwang zur Positivität im pädagogischen Denken überträgt sich auf einen fremden Diskurs und erzeugt so einen Widerspruch zwischen wissenschaftlicher Bezugnahme und argumentativer Verkürzung. Das herbei zitierte Wissen erhält seine Legitimation durch die Dignität der Entstehung in einem wissenschaftlichen Diskurs und wird zugleich um die Merkmale dieser Dignität – Differenzierung, theoretische Härte, fachlicher und fachgeschichtlicher Bezug – zum Teil reduziert. Ein Beispiel ist die Bezugnahme Frederkings auf die Semiotik Umberto Ecos. Die komplexen Probleme der Einschreibung semiotischen Wissens in ein fremdes (didaktisches) Wissensfeld können hier nicht in vollem Umfang betrachtet werden. Bevor am Beispiel eines Begriffs die Sache etwas genauer beleuchtet werden soll zwei Vorbemerkungen: Der unter dem Titel Die Grenzen der Interpretation veröffentlichte Band Ecos, auf den sich Frederking bezieht, ist keine systematische Studie, sondern ein Sammelwerk, das inhaltlich heterogen aufgebaut und in einem gewitzten Bildungsstil geschrieben ist. Der Leser zweifelt rasch, ob eine geeignete Quelle für didaktische Modellbildung vorliegt. Die Begriffe, mit denen Eco operiert, haben zwei Seiten: eine essenzialistische und eine offene. Einerseits setzt die Unterscheidung in drei Intentionstypen – intentio auctoris, intention operis und intentio lectoris (vgl. z.B. Eco 1992, S. 148-152) – auch drei klar unterscheidbare Phänomene, die dem zu Grunde liegen, voraus; von einer ›Intention‹ kann nur dann sinnvoll die Rede sein, wenn sie als kohärent und nach außen abgeschlossen gedacht wird. Andererseits scheut sich Eco nicht, diese Begriffe mit anderen so zu kombinieren, dass letztlich eine offene Matrix mehr oder minder frei kombinierbarer Funktionstypen entsteht. Die intentio operis z.B. erscheint am Ende nicht mehr versuchen und Bekundungen von Desinteresse produzieren. Nach Frederking geht es darum, dass »lückenhafte Kompetenzbereiche inhaltlich komplettiert werden.« (2015, S. 334) Es gebe einen »Korrekturbedarf«, der »nur unter Einbeziehung der fachlichen Expertise der Literaturdidaktik« (ebd., S. 337) reduziert werden kann. Der bemühte Nachweis der eigenen Existenzberechtigung ist ein Signum der Literaturdidaktik nach PISA. Die Problematik besteht zum einen in der Differenz zwischen schulischem und wissenschaftlichem Diskurs und zum anderen in der Übermacht anderer Spieler (Bildungsforschung, Politik).
IX. Das literaturdidaktische Subjekt
als Begriff, der über Merkmale, sondern nur noch über Relationen definiert werden kann. So lässt sich im Rahmen der Beschreibung der intentio operis ebenso eine endliche wie eine unendliche Lektüre durchführen (vgl. Eco 1992, S. 38). Zweite Vorbemerkung: Während Eco alle Hände voll zu tun hat, um die Essenzialität seiner Begriffe durch gewitzte und differenzierte, bisweilen auch widersprüchliche Aussagen zu modulieren oder gar zurückzunehmen, tendiert die didaktische Rezeption des ganzen Gebildes zu einer Vereinfachung und normativen Aufladung. Dadurch entstehen folgenreiche Verschiebungen. Ecos Überlegungen können nur um den Preis ihrer Entdifferenzierung zu Elementen literaturdidaktischer Modellbildung werden. Frederking (2015, S. 367-370) unterteilt nun die kompetente literarische Lektüre im Rahmen dieses Modells in drei Dimensionen: das semantische literarästhetische Urteilen, das idiolektale literarästhetische Urteilen und das kontextuelle literarästhetische Urteilen.24 Im ersten Fall ist gemeint das »Erfassen eines kohärenten Textsinnes« (ebd., S. 368), im zweiten »das Vermögen, formale Besonderheiten innerhalb eines literarischen Textes zu erfassen« (ebd., S. 369) und im dritten die Fähigkeit zur »Verknüpfung textexterner und textinterner Informationen« (ebd.). Der nächste Schritt ist gemacht: Die Trennung und Vereinheitlichung der Dimensionen führt zu deren Operationalisierbarkeit. Die aus der Erforschung mittelalterlicher Hermeneutik gewonnene Unterscheidung orientiert literaturdidaktische Forschung. Unter der Hand werden ferner weitere, recht gut vertraute Unterscheidungen sichtbar, z.B. diejenige zwischen Inhalt und Form (erste und zweite Dimension). Frederking identifiziert die erste Dimension, das semantische literarästhetische Urteilen, mit der Ebene der intentio operis bei Eco (vgl. ebd., S. 368). Das erste Problem besteht ganz offensichtlich darin, dass es wenig überzeugend ist, eine von der Form unabhängige semantische Textkohärenz zu postulieren. (Dazu unten mehr.) Die Ergebnisse Löseners sind in dieser Hinsicht voll und ganz überzeugend. Interessanter ist in dem hier gegebenen Zusammenhang der Relation von semiotischem und literaturdidaktischem Wissen jedoch die Umdeutung von Ecos intentio operis. Für Eco besteht die intentio operis letztlich in den Bedeutungsmöglichkeiten, die ein Text eröffnet; salopp und sicher24 | Frederking verzichtet zumeist auf den Begriff des Verstehens und spricht eher vom Erfassen, Verarbeiten und Analysieren. Nur zu Beginn ist von der Notwendigkeit die Rede, die »Besonderheit literarischen Verstehens kompetenztheoretisch modellieren und empirisch erheben zu können.« (Frederking 2015, S. 367) Der Status hermeneutischen Wissens in Frederkings Modell ist ungeklärt; vordergründig dominiert die semiotisch-kognitionspsychologische Perspektive. Wintersteiner (2016, S. 63; vgl. Kap. 3) betont ausdrücklich, dass es ihm um eine Lehre der Literatur und nicht um das Lehren literarischen Verstehens geht. Das Ästhetische wird von ihm, so gesehen, vom Hermeneutischen unterschieden.
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lich untertreibend bezeichnet als das, was letztlich jeder Leser »mit gesundem Menschenverstand« (Eco 1992, S. 48) erschließen kann.25 In Wahrheit ist das, was sich mit diesem Begriff umreißen lässt, unter Umständen eine sehr komplizierte Sache, die, wie oben gezeigt, eine unendliche Lektüre erfordern kann. Wenn Autor und Leser nur über ein perspektivisch eingeschränktes Wissen verfügen, dann muss die Textintention als das komplexe und nur heuristische gegeben Korrelat gedacht werden. Eco selbst versteht unter einer semantischen Lektüre keineswegs die ›Erfassung eines kohärenten Textsinnes‹, wie Frederking postuliert, sondern nur einen Prozess, »durch den der Adressat, angesichts der linearen Manifestation des Textes, diesen mit Sinn erfüllt.« (Eco 1992, S. 43) Eine solche Lektüre ist im Grunde naiv und kann (und sollte) jederzeit durch eine kritische Lektüre überboten werden (vgl. ebd.). Die ›Erfassung des kohärenten Textsinnes‹ als Ergebnis semantischer Lektüre ist folglich, jedenfalls in Hinsicht auf literarische Texte, bei Eco nicht vorgesehen. Wie kann aber gleichwohl aus dem vieldeutigen literarischen Text der ›kohärente Textsinn‹ herauspräpariert werden? Frederking schlägt folgende Lösung vor: »Maßstab ihrer [der Textintention, M.B.] Identifizierung ist die Verifikation bzw. Falsifikation einer Aussage am Text. Auf diese Weise lassen sich trotz Mehrdeutigkeit eines literarästhetischen Textes eindeutige Aussagen bestimmen und damit zutreffende literarästhetische Urteile von nicht zutreffenden unterscheiden.« (Frederking 2015, S. 368)
Es liegt auf der Hand, dass die Aussage sich in einem (notwendigen) Widerspruch verfängt. Eindeutigkeit trotz Mehrdeutigkeit ist eine Formel irreduzibler Differenz. Die oben mit Lösener betrachtete Erzählung Ein Landarzt von Franz Kafka zeugt von der Unmöglichkeit, beim Lesen zunächst einen kohärenten Sinn zu bilden, weil genau dies vom Text aufgrund manifester Widersprüchlichkeit blockiert wird. Die zweiwertige Logik von falsch und richtig genügt nicht, um die mehrwertigen Strukturen literarischer Sprache zu erfassen. Das Verifizieren oder Falsifizieren einer Aussage am Text kann folglich nur gelingen, indem z.B. eine Metapher so interpretiert wird, dass sie mit einer allgemeinen Aussage über die Welt harmoniert – unter Abzug ihrer ästhetischen Negativität. Das kompetente Subjekt der literarischen Lektüre erweist sich bisher als Wissenschaftsfiktion, die mit großem Aufwand in die Welt gesetzt und durch eigens dafür entwickelte Tests empirisch überprüft wird. Dabei werden Formate entwickelt, die bestimmte Typen von Antworten generieren, die wiederum als empirische Validierung der wissenschaftlichen Fiktion diskursiv 25 | Es wäre interessant zu wissen, wie viele Leser des Romans Der Name der Rose über ein solch hohes Maß an gesundem Menschenverstand verfügen.
IX. Das literaturdidaktische Subjekt
Stabilität erzeugen. Beliebt sind Ankreuzaufgaben, die genau jenes identifizierende Denken erzeugen, das angeblich wiedergespiegelt wird. So sollen Leser bestimmen, ob die Sprechinstanz in Gottfried Benns Gedicht Schöne Jugend auf den Anblick des toten Mädchens mit Entzücken reagiert oder nicht (vgl. Brüggemann et al. 2016, S. 111). Man muss zugestehen, dass unterkomplexe Entscheidungsfragen einen gewissen didaktischen Wert auch in Hinsicht auf hoch artifizielle Literatur haben, da gerade sie eine komplexe Diskussion eröffnen können – u.a. wenn der Form der Frage widersprochen wird. Hier sind allerdings die Entscheidungen finit, d.h. sie eröffnen den Gang der Lektüre und beenden ihn zugleich, indem sie vorgeben, welche Emotionen in Frage kommen. Die Probanden werden das Verfahren als das erleben, was es ist: eine typisch schulische Überprüfung der eigenen Möglichkeiten und gegebenenfalls sogar Einstellungen. Zur Selbststabilisierung des literaturdidaktischen Diskurses sind die Untersuchungen von hohem Wert, da sie ein ständiges Widerholen des erfundenen Vokabulars ermöglichen und also im Sinne Foucaults die Möglichkeit bieten, den Diskurs zu verknappen und zugleich seriell werden zu lassen, d.h. sowohl auszudehnen als auch im selben Moment einzuschränken; es ist dieser Effekt, der die Macht spürbar werden lässt. Indem die übergeordneten Begriffe wie ›ideolektales literarästhetisches Urteilen‹ wiederholt und auf das Testmaterial in Form ordnender und zusammenfassender Begriffe angewendet werden, gewinnt die wissenschaftliche Fiktion die Dimension der Referenz, die ihr zuvor abging. Es kommt zur Materialisierung der Lehrbarkeitsdoktrin, die aber selbst unausgesprochen bleibt. Kompetenz ist also in der Tat, wie Frederking schreibt, ein ›Gravitationszentrum‹ des literaturdidaktischen Diskurses; nur kommt es darauf an, diesen Umstand nicht einfach zu affirmieren, sondern als sprachliches Moment der Reproduktion von Diskursmacht einer kritischen Analyse zu unterziehen.26 Die folgenden Bemerkungen zur diskursiven Dynamik des Begriffs können eine vertiefte historische und theoretische Auseinandersetzung nicht ersetzen (vgl. dazu: Wimmer 2006, Haeske 2008, Müller-Ruckwitt 2008, Gelhard 2012). Gleichwohl geht es um mehr als um die im Inneren des Diskurses zu stellende Frage, was hier und dort noch verbessert werden kann. Angeboten wird eine Außenperspektive, die sichtbar macht, wie die Mechanik des Kom26 | Vgl. Spinner (2006, S. 6), der konstatiert, dass Kompetenz heute der »Schlüsselbegriff« in der pädagogischen und didaktischen Diskussion ist, ohne dies im Weiteren zu hinterfragen. Die Metapher signalisiert Übereinstimmung mit den Leitlinien des Diskurses und kann zugleich gegen den Strich gelesen werden. Der Schlüssel sichert, man möchte sagen: mit Kafka, den Zugang zum (diskursiven) Gesetz. Zur Analyse des Textes von Spinner vgl. die essayistisch-polemischen Bemerkungen des Verf. (Baum 2015), in denen jene Gewalt, die bei Spinner unterdrückt wird, zum Ausbruch kommt. Es entsteht ein notwendigerweise ungerechter Text.
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petenzdiskurses funktioniert und inwiefern dieses Funktionieren eine basale Dysfunktionalität überschreibt. Der Anfang ist nicht der Anfang, sondern die Erfahrung der Diskontinuität. Der Einbruch des fachdidaktischen Diskurses im Anschluss an die Veröffentlichung der Ergebnisse des ersten PISA-Tests hat in der Literaturdidaktik, die sich eben noch mit dem Verhältnis von Literaturtheorie und Schule beschäftigt hatte, enorme Anschlussprobleme erzeugt. Dies führte zu einem großen Reformulierungsaufwand; man wollte die gleichen Texte zitieren, musste sie aber ganz anders auffassen, nämlich als Vorgeschichte des Kompetenz-Diskurses. »Das literaturdidaktische Feld wurde gleichsam umgepflügt, um jene Früchte hervorzubringen, die als Kompetenzen dann geerntet werden sollten.« (Baum 2012, S. 25)27 Die Metapher ist allerdings erst zu nehmen. Was nun zählt, ist der Ertrag. Nicht mehr der Input zählt, sondern der Output, das messbare Ergebnis. Dieser an ökonomischer Produktivität orientierte Begriff von Bildung bringt eine Verlagerung vom Freiheits- zum Zwangspol der Erziehung mit sich. Das Konzept der Kompetenz ist aufgrund der Abstraktheit und Vagheit des Wortes in der Alltagssprache in der Lage, alle möglichen anderen Diskurse in sich zu versammeln und parasitär heimzusuchen; so kann z.B. nahezu mühelos die Rezeptionsästhetik Isers mit dem neuen Vokabular kolonialisiert werden. Dies führt im Sprachgebrauch häufig zur Verlängerung von Worten um den Bestandteil Kompetenz (z.B. anstatt Rezeption Rezeptionskompetenz). Auf diese Weise schreibt sich die Lehrbarkeitsdoktrin auch in Begriffe ein, die aus der Literaturtheorie und Hermeneutik ererbt werden. Aus einem Phänomen wird ein Vermögen, aus Unbestimmtheit wird Aneignung. Dabei entsteht aller27 | Bei Frederking (2015, 327-332) betrifft dies sogar Kompetenz-Begriffe aus anderen Diskursen, etwa den sozialphilosophischen Kompetenz-Begriff von Habermas oder den sprachtheoretischen Begriff der Kompetenz von Chomsky. Festzustellen ist eine Tendenz zur Entdifferenzierung, die es ermöglicht, den pädagogisch-psychologischen Begriff der Kompetenz (Weinert 2001) mit wissenschaftsgeschichtlicher Autorität aufzuladen. Verblüffend ist der Hinweis auf bildungstheoretische Reflexion (Frederking 2015, S. 334 u. S. 337). Diese findet in der Literaturdidaktik spätestens seit PISA nicht mehr statt. Die vordergründige Behauptung, Kompetenz meine Bildung immer mit (vgl. in der Literaturdidaktik z.B. Rösch 2015, S. 7), vermag nicht zu überzeugen; vgl. kritisch: Gruschka (2011, S. 42-47). Ausweis von Bildung könnte die Zurückweisung von Kompetenz sein. Der Verweis auf die Grundprobleme der Literaturdidaktik ist ebenfalls problematisch. Kreft (19179/1982, S. 250) notiert hinsichtlich der strukturell ähnlichen lernzielorientierten Tests der 1970er Jahre: »Damit sollte nicht der Unterricht – und das hieße doch immer auch das didaktische Handeln des Lehrers – verbessert werden, damit sollten Schüler abgetestet werden, damit sie auf Rangskalen, d.h. in Konkurrenzfeldern placiert werden können.«
IX. Das literaturdidaktische Subjekt
dings eine Uneinigkeit des literaturdidaktischen Diskurses mit sich selbst, der begrifflich-konzeptuell immer auf zwei Ebenen gleichzeitig operieren muss. So wird entweder das Fachliche oder das Pädagogische verfehlt; im einen wird das andere bestimmt und umgekehrt. Solcher Interdiskurs muss nicht zum Scheitern verurteilt sein; das Problem entsteht erst durch die normative Aufladung, die Dinge festschreibt und verbindlich macht, die sich zugleich von sich selbst unterscheiden. So kann z.B. die intentio operis nicht das sein, was sie bei Eco ist, und soll es zugleich doch sein, damit der dem Begriff zugeschriebene Inhalt schlussendlich ›gelehrt und gelernt‹ werden kann. Die Kolonialisierung literaturdidaktischen Wissens führt ebenfalls zu einer Vielzahl von Katalogen angemessenen literarischen Verstehens, die den alten auf den neuen Diskurs umschreiben (vgl. z.B. Zabka 2003, 2006; Spinner 2006; Pieper/Kämper-van den Boogaart 2008; vgl. dazu Baum 2015, 2016). Doch aufgrund des in die Begriffe eingebauten Unbestimmtheitsgrades entstehen aus den Definitions- und Abgrenzungsversuchen immer neue Bestimmungen und Revisionen, so dass sich die Normativität der Setzungen in einem potentiell unendlichen Parcours von Differenzierungen aufzulösen droht. Je mehr das literarische Lesen ›grammatikalisiert‹, d.h. als feste Struktur aus positiven Einzelgliedern gefasst wird, desto eher macht sich das nicht-grammatische Moment der Sprache bemerkbar. Die différance lässt die Begriffe nicht zur Ruhe kommen; das Supplement erweist sich als die Sache selbst. Solche Krisen des Wissens erweisen die Literaturdidaktik als Wissenschaft und gerade indem dies geschieht, verfehlt sie, die Literaturdidaktik, das selbst gesteckte Ziel. Es überrascht nicht, dass metaphysische Wissenskonzepte hier intervenieren wollen und mahnen, den »Kern« (Bremerich-Vos/Grotjahn 2007, S. 165f.) der Kompetenzmodelle zu bestimmen und zu bewahren. Müßig festzustellen, dass auch dies nur zu einer weiteren supplementären Verlängerung führen würde, in welcher die Unschärfe der Grenze zwischen Wesentlichem und Unwesentlichem noch zunimmt. Identifizierendes Denken unterläuft sich selbst. Und die Metapher des Kerns ist selbst ein begrifflich-sprachliches Problem, das sich auf die avisierten Sachen zurückbeugt.28 Der Kompetenzdiskurs ist – dies dürfte inzwischen klar geworden sein – heterogen, wenn nicht diffus. Es liegt eine sehr komplexe Mischung aus metaphysischen und funktionalistischen Elementen vor. Dies lässt sich auch an der viel zitierten Definition von Weinert, auf die sich auch Frederking beruft (2015, S. 328), zeigen. Nach Weinert sind Kompetenzen 28 | In Spinners viel zitiertem Text zum literarischen Lernen (Spinner 2006) lässt sich der Versuch beobachten, die so genannten ›Aspekte‹ der literaturdidaktischen Theoriebildung mit anderen Diskursen zu vermitteln (praxiologische, literaturtheoretische, bildungspolitische). Dies führt zur Abschleifung von Differenzen und zum Ausweichen vor dem diskursiven ›Widerstreit‹ im Sinne Lyotards (1989).
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Der Widerstand gegen Literatur »die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können.« (Weinert 2001, S. 28f.)
Aus literaturdidaktischer Sicht mag man sich wundern und die Frage stellen, wie das Lesen von Literatur als zu lösende Problemstellung begriffen werden kann. Auf den zweiten Blick liest sich die Definition allerdings wie die technologische Version der Lehrbarkeitsdoktrin, die es ermöglicht, alle Dinge über einen Kamm zu scheren. Vor dem inneren Auge erscheinen die mit pädagogischen Paratexten (›Aufgaben‹) verzierten Lesebuchtexte der PISA-Ära (vgl. Fingerhut 2006), die Leistungsüberprüfungen, das Einspeisen der Literatur in den Bewertungs- und Selektionsprozess. Die Adressierung von personalen Eigenschaften gestattet die Kombination von fachlichen und pädagogischen Zielen. Im Einzelnen und Praktischen mag dabei die Differenz zwischen der Kompetenzformal und der Realität des Unterrichts aufscheinen. Die Schüler lernen, Bereitschaft zu inszenieren (oder leiden, weil der Versuch, authentisch zu sein, keine Anerkennung erhält 29). Die Literatur hingegen beugt sich mühsam dem Versuch, im Modus von Problem und Lösung begriffen zu werden; Realität des schulisch erzogenen kompetenten Lesers ist der radikale Leseabbruch nach der Schule. Der Formel eignet auf der stilistischen Ebene ein ausgesprochener Pragmatismus, der gewissermaßen, ohne große Umstände zu machen, auf die gesellschaftlichen Ansprüche an Erziehung und Schule reagiert. Zugleich ähnelt der Text auch gängigen positiven Selbstbeschreibungen in Politik, Wirtschaft und Werbung – seine Positivität hat etwas verstörend Irreales. (Niemand wird dem je entsprechen.)30 In die Bestimmung der Begriffe schreibt sich die Ideologie des neoliberalen Bildungsdiskurses ein; Frederking konstatiert diesen Aspekt von Bildung als Wettbewerb ohne weitere Problematisierung (vgl. 2015, S. 329). Während auf der einen Seite metaphysische Sedimente durchschimmern – sind Kompetenzen nicht stets präsent im Bewusstsein, können wir, in-
29 | Wie bereits erwähnt, geht Luhmann (2002, S. 75) von einer versteckt paradoxen Kommunikationsstruktur in der Schule aus und stellt die Frage, inwiefern die angelernte Unaufrichtigkeit z.B. für Schulabbrüche verantwortlich ist. 30 | Ähnlichkeiten zeigen sich auch mit älteren Texten wie Ordensformeln (ora et labora). Da das Geforderte nie ganz erfüllt werden kann, ist es ein Instrument in der Hand der Macht und erzeugt, im Sinne der Definition machtförmiger Diskurse bei Barthes, Schuldgefühle bei denen, die nicht in der Lage sind, dem formulierten Anspruch zu entsprechen.
IX. Das literaturdidaktische Subjekt
dem wir sie denken, sie nicht zugleich beherrschen und anwenden?31 – bringt sich auf der anderen Seite ein Funktionalismus zur Geltung, der das technische Ineinandergreifen erfolgreicher individueller Handlungen propagiert. Dabei bleibt das Verhältnis von individuellem Erfolg und gesellschaftlichem Nutzen ungeklärt. Man kann sich auch lauter erfolgreich-egoistische Individuen denken, die sich gegenseitig kannibalisieren. Bedingung der Kompetenzdefinition von Weinert ist folglich ein funktionalistisch-affirmativer Begriff der Gesellschaft. Das kompetente Subjekt soll sich möglichst reibungslos in das gesellschaftliche Ganze eingliedern. Aus der Sicht der pädagogischen Psychologie kann man hier einwenden, dass Erziehung nicht ohne den Gedanken der Befähigung zur Teilnahme gedacht werden kann. Dem Kind, dem Jugendlichen müssen Möglichkeiten des Mitwirkens in der Gesellschaft erschlossen werden und gerade deswegen ist ein (vorläufig) affirmativer Begriff von Gesellschaft auch theoretisch notwendig. Doch liegt darin zugleich eine gefährliche Verkürzung: Während Soziologen den Rückzug des Staates aus der sozialen Verantwortung und die Radikalisierung des Marktes beschreiben (Nachtwey 2016) – mit der Folge, dass das Versprechen ›Aufstieg durch Bildung‹ nicht mehr gehalten werden kann und stattdessen Abstiegsängste um sich greifen –, schreiben Pädagogik und Didaktik ein funktionalistisches Bildungsmodell fort. Nicht nur erweist sich die in der Schule (vielleicht) erworbene Kompetenz zur angemessenen Rezeption von Literatur als unübersetzbar in den tatsächlichen Diskurs über Literatur und Kunst in anderen Bereichen der Gesellschaft, sondern diese Bereiche selbst erweisen sich als heterogen, krisenhaft und gefährdet. Das macht die einseitig positive Bestimmung des Kompetenz-Begriffs bei Frederking umso problematischer. Die kritische Diskussion wird schlicht und ergreifend ausgespart. Anstatt die ideologische Kontur des Konzepts nachzuzeichnen, dessen Rolle im neoliberalen Bildungsdiskurs zu beleuchten, wird es mehr oder minder kritiklos übernommen. Andreas Gelhard (2012) zeichnet hingegen die Genealogie des Begriffes nach – beginnend mit der christlichen Gewissensprüfung als Vorläufer über die Eignungsprüfungen der US-Army und die Geburtsstunde der differentiellen Psychologie zu Beginn des 20. Jahrhunderts bis hin zum Mantra der Selbstoptimierung und permanenten Steigerung im Bereich der Wirtschaft. Pierre Bourdieu analysiert ›Kompetenz‹ als rhetorisches Vehikel einer ökonomischen Elite, für welche die Unterscheidung in nützlich und nutzlos, relevant und irrelevant, bestimmend und ohnmächtig, zu Gunsten der eigenen Klasse schon längst vollzogen ist:
31 | Auch hier wäre Schrift als das absolut Andere, schlechthin nicht Beherrschbare zu denken.
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Der Widerstand gegen Literatur »Die Ideologie der Kompetenz ist bestens geeignet, eine Gegenüberstellung zu rechtfertigen, die ein wenig der von Herren und Sklaven gleicht: auf der einen Seite Bürger im vollen Wortsinne, die gefragte Kenntnisse besitzen und überbezahlte Tätigkeiten verrichten […] – und auf der anderen Seite jene Masse von Menschen, die dauernd von Entlassung bedroht sind oder der Arbeitslosigkeit überantwortet werden. Max Weber hat gesagt, daß es die Herrschenden immer nach einer ›Theodizee ihrer Privilegien‹ verlange, oder besser, nach einer Soziodizee, einer gedankliche Rechtfertigung ihrer gesellschaftlichen Sonderrechte. Kompetenz bildet heute das Herzstück dieser Soziodizee, die nicht nur, und ganz naheliegend, von den Herrschenden anerkannt wird, sondern auch von allen anderen.« (Bourdieu 2004, S. 62f.)
Verbindet man diese Sätze mit der schulischen und didaktischen Problematik stößt man auf zwei Typen von Kompetenz: den einen (pädagogischen), der als handlungsleitendes Unterscheidungskriterium im pädagogischen Feld dient und den anderen (ökonomischen), der die tatsächlichen Gewinner bezeichnet. Die erste Lesart verleugnet die zweite und die zweite kann es sich leisten, die erste zu ignorieren. Die Verbindung besteht nur in den Druckverhältnissen, die das Konzept erzeugt. Es lässt sich nicht nur sagen, wer kompetent ist, sondern umgekehrt kann auch festgelegt werden, wer die Verlierer sind: »Indem allein der Erfolg bei der Lösung der Aufgabe gemessen wird, gerät jede abweichende subjektive Bildungsbewegung aus dem Blick. […] Für die Zurückgebliebenen wird das Kompetenzmodell faktisch zum Inkompetenzmodell, oder: ›Friss oder stirb!‹« (Gruschka 2011, S. 49)
Der Widerspruch zwischen erster und zweiter Lesart ist im Grunde auch ein logischer. Denn die Programmierung zukunftsrelevanten Wissens in der Gegenwart ist fragwürdig und dient letztlich nur der Etablierung eines Diskurses sowie seiner mächtigen ökonomischen, politischen und wissenschaftlichen Dispositive. Radikal Neues, Fremdes, Anderes wird so antizipatorisch vereinnahmt und Bildung auf »standardisierbare, empirisch überprüf bare und vereinheitlichte Kompetenzen festgeschrieben.« (Wimmer 2006, S. 219) Dabei wird faktisch nicht Kompetenz überprüft, denn diese existiert nur im metaphysischen Himmel der übergeordneten Subjekt-Erzählung, sondern die Fähigkeit, in bestimmten Situationen auf bestimmte Testformate in erwünschter Weise zu reagieren. Die Verallgemeinerung der erlangten Ergebnisse tilgt den kontingenten Charakter des Befundes und steigert die Momentaufnahme zu einem strukturellen Befund, der nun weiter zu bearbeiten ist. Die ausführlichen Diskussionen um exakte Methodologie, welche die Untersuchungen in der Regel begleiten, setzen die Fassbarkeit und Kohärenz des Gegenstands immer schon voraus und überschreiben das Eingebunden-Sein in den neolibera-
IX. Das literaturdidaktische Subjekt
len Bildungsdiskurs mit einem formalen Diskurs über Exaktheit. Die Empirie muss stimmen! In Frederkings Text zur Modellierung literarischer Rezeptionskompetenz geht dies einher mit einer Sprache des Zwangs, die den Leser förmlich einschwört auf den neuen Diskurs.32 Während die Kompetenz-Orientierung als »kopernikanische Wende« (Frederking 2015, S. 327) für die Fachdidaktik bezeichnet wird, erfolgt zugleich das Eingeständnis, dass die Anlässe für die Neuorientierung äußere waren – zuletzt die Formulierung der Bildungsstandards (vgl. ebd., S. 326, S. 339).33 Dieses Moment äußeren Zwangs, dem sich die Literaturdidaktik glaubt unterwerfen zu müssen, führt zu einer Zunahme inneren Zwangs in der Sprache des Diskurses. Trotz aller Probleme und Vorbehalte »steht außer Frage, dass die Literaturdidaktik nicht daran vorbeikommt, die Möglichkeiten zur Modellierung literarischer Rezeptionskompetenz auszuloten und sich aktiv an der Entwicklung operationalisierbarer und empirisch überprüfter Modelle zu beteiligen.« (Ebd., S. 340) Man sieht sich vor eine schwierige »Aufgabe gestellt«; man hat zwingend etwas zu »leisten«; man sieht sich nachdrücklich »aufgefordert« und kommt keinesfalls »daran vorbei«; man darf sich der »durch die Bildungsstandards implizit auferlegten Forschungsaufgabe« nicht »verschließ[en]« (ebd. S. 333, S. 337, S. 334, S. 340). Die Kette ließe sich noch lange fortsetzen – auch um Beispiele der global positiven Bewertung anderer Texte aus dem Kompetenzdiskurs. Entscheidend ist aber, was solcher Diskurs verrät: die Subordination der Literaturdidaktik als Wissenschaft im Verhältnis zur Bildungsbürokratie sowie zur Politik im Allgemeinen. Während sich nach geläufiger Auffassung Wissenschaft dadurch auszeichnet, dass man nicht Probleme löst, die anderswo formuliert worden sind, sondern die Frage stellt, ob die Formulierung des Problems nicht doch falsch ist, verhält sich die Didaktik selbst wie eine Schülerin, die bereit ist, die gestellte Aufgabe anzugehen – als ob es eine (politische) Pädagogik der Wissenschaft gäbe, die letztere erzieht. Die an der Unterscheidung qualitativ vs. quantitativ orientierente Empirie eignet sich in dieser Hinsicht insofern als leitendes 32 | Kliewer (2011) gibt seiner ausführlichen Rezension des gesamten Handbuchs den Titel Was nicht messbar ist, zählt nichts. Sein abschließendes Urteil erscheint zumindest in Hinsicht auf den Text von Frederking angemessen: »DTP liest sich über weite Strecken wie eine Auftragsarbeit der Kultusbürokratie.« (Ebd., S. 115) 33 | Kammler (2006, S. 5) beginnt seine Überlegungen mit dem Eingeständnis, dass der Gegenstand gar keine kompetenzorientierte Modellierung verträgt, aber gleichwohl so vorgegangen wird, um dem schulischen Bedürfnis nach Messbarkeit und Vergleichbarkeit der Leistungen zu entsprechen. Zugleich sieht der Verf. dies als nicht »dilemmatisch« (ebd.) an. Wie schon gezeigt, verweist der Terminus Dilemma zumeist auf eine Verdrängung des Paradoxen. Der Wert der Erkenntnis bleibt unangetastet; man hat es nur mit einem moralischen Nebenkriegsschauplatz zu tun.
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methodisches Paradigma, als Wissenschaftsanspruch und bildungspolitischer Nutzen in ihr zugleich gespiegelt werden können. (Der harte Stil erscheint als Anpassungsleistung.) Man produziert einerseits exakte Zahlen und bietet andererseits Ansatzpunkte für die Optimierung des Systems. Die Regression von Theorie auf Methodologie ist in diesem Sinne funktional und die eigene Rolle als Agentin des Systems muss nicht weiter thematisiert werden. Bedenklich ist diese Entwicklung nicht zuletzt, weil jüngere Forscherinnen und Forscher mehr oder minder gezwungen werden, diesen Diskurs zu bedienen, da alternative Ansätze im Karrieresinne als dysfunktional erscheinen. Mit den letzten, sehr kritischen Überlegungen soll nicht prätendiert werden, die jüngere Literaturdidaktik sei nichts anderes als eine finstere Verschwörung von politischen Agenten in der Wissenschaft. Vielmehr hat der Einbruch von PISA die Kraft der schon immer wirksamen Paradoxien diskursiv gesteigert und transformiert. Der absolute Gegensatz von vorher und nachher existiert nicht, signifikante Differenz sehr wohl. Es bedurfte nur einer neuen Interpretation und Gewichtung von Begriffen, die bereits vorher im Diskurs zirkulierten. So griff schon Gerhard Haas in seinen Arbeiten zum handlungsorientierten Literaturunterricht, die konzeptionell wenig Ähnlichkeiten mit der kompetenzorientierten Literaturdidaktik aufweisen, auf den Begriff der Kompetenz zurück (vgl. Haas 2001). Durch die Output-Orientierung wurde jedoch der Zwangspol der Erziehung gestärkt und zugleich die logische Energie der Sprache auf Kosten der rhetorischen präferiert. In literaturdidaktischen Texten führt das Wissen darum zu einer Spaltung des Willens zur Wahrheit. Auf der einen Seite die Forschungsprogramme, die dem politischen Imperativ ebenso gehorchen wie den Regeln der rasch antrainierten Methodologie. Auf der anderen Seite rituelle Beteuerungen von Vorbehalten hinsichtlich dessen, was sich am literarischen Lesen nicht messen lässt und gleichwohl nicht aus dem Blickfeld geraten darf. Diese Vorbehalte werden häufig am Ende der jeweiligen Texte formuliert (vgl. z.B. Frederking 2015, S. 371 sowie die Verweise auf ähnliche Stellen bei anderen Autoren: Zabka, S. 346; Spinner, S. 339f.; Abraham, S. 342). Die Macht des Diskurses spaltet das, was individuell zum Ausdruck gebracht werden kann und will. Die Untersuchung des Textes von Frederking soll hier beendet werden. Die Ergebnisse sind nicht einfach verallgemeinerbar – auch wenn Bezüge zum Kompetenzdiskurs aufgewiesen wurden. Die Schwierigkeit besteht darin, die detaillierte Schilderung des Einzelfalls mit einem Blick aufs Ganze zu verbinden. Im Zweifelsfall wurde der Blick aufs Detail präferiert. Genauere Erkenntnis erscheint wichtiger als eine wie auch immer geartete ›Vollständigkeit‹. Das ›lesende und lernende Subjekt‹ wird in Frederkings Modellskizze transzendental gefasst – als ideale Größe ohne historische, soziale, psychologische und sprachliche Dimension; zugleich wird es empirisch ausgeforscht. Dabei geht seine Mobilisierung durch neue Verfahren und besseres Wissen einher
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mit seiner Kolonialisierung durch die pädagogisch-didaktische Diskursmacht. Das Subjekt wird freigesetzt, indem es unterworfen wird. Das Versprechen auf kulturelle Teilhabe verbindet sich mit der Ausbildung erwünschter Persönlichkeitsmerkmale, ständiger Überprüfung und der Drohung lebenslangen Lernens (vgl. ebd., S. 327); noch Identität wird als Kompetenz gefasst (ebd., S. 332). Als textuelles Ereignis ist das Subjekt letztlich nichts anderes als eine Figur der Sprache, die Zuschreibungen erlaubt (vgl. Hamacher 1998, S. 167). So kann die Entwicklung des Wissens als stufenförmig34 beschrieben oder, gesetzt der Output stimmt, ganz dem Unterricht überlassen werden.35 Selbst Texte wie derjenige von Spinner erlauben es, ihre Setzungen als Ansatzpunkte für die Individualisierung des Wissens zu nutzen. Sobald ein ›Aspekt‹ literarischen Lernens benannt und beschrieben ist, ermöglicht er die Zurechnung von wissenschaftlichem Wissen auf individuelles Können im Unterricht, bietet der Macht einen Gravitationspunkt, um den herum sie sich anlagern kann (vgl. Baum 2015). Während auf der einen Seite der Fortschritt des Subjekts durch besseres Wissen in der Zukunft die Legitimation der literaturdidaktischen Arbeit bildet, findet auf der anderen Seite die Kolonialisierung des Subjekts durch Praktiken der Beobachtung, Ausforschung und Prüfung statt. Die Macht des Fortschritts geht mit dem Fortschritt der Macht einher. Wir kommen zum Schluss. Es gehört zu den Widersprüchen des literaturdidaktischen Diskurses, dass die Dispositive der Macht, in ihrer sehr konkreten Materialität und Wirksamkeit, auf einen abstrakten und idealisierten Begriff des Subjekts zurückreifen. Das Fernste und das Naheste wirken zusammen, ja sind letztlich nicht mehr voneinander zu unterscheiden. Lösener sieht das Textsystem als Form der semantischen Individuation und muss das Subjekt der Äußerung deshalb letztlich außerhalb des Textes ansiedeln; das Subjekt muss vor dem Text fliehen, um Subjekt bleiben zu können. Und nur wer auf den Text zu hören gelernt hat, kann mit der Stimme, die sich äußert, verschmelzen. Frederking geht von einem Subjekt aus, das seine Kompetenz von außen auf den Text anwendet und sich diesen, qua seiner Fähigkeiten und Fertigkeiten, unterwirft. Lösener geht von einem Subjekt des Textes, Frederking von einem Subjekt der Lektüre aus. Philologisch und pädagogisch produktiver ist der Ansatz Löseners, weil er, trotz (oder wegen?) seiner Widersprüchlichkeit, in 34 | Zur Kritik von Stufenmodellen aus der Sicht der Heidelberger Gesprächsdidaktik vgl. Steinbrenner (2004, S. 43). Die zirkuläre Entwicklung und Durchkreuzung von Sinn im Gespräch erscheint der Komplexität des Gegenstandes und der Überdeterminiertheit der Situation eher angemessen als Kompetenzmodelle, die Spuren hermeneutischen Wissens aufweisen, aber den Problemhorizont der Hermeneutik sichtbar unterbieten. 35 | Hier zeigt sich, bei allen Problemen im Einzelnen, der moderne Charakter der Studie von Kügler (1975), der von der Entfaltung des Verstehens in der Textur spricht (ebd., S. 81) und solchermaßen das Wesen einer Lehre der Literatur als performatives fasst.
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der Lage ist, die Differenzierungsarbeit der literarischen Sprache wahrzunehmen – im Sinne der These, dass jede Lehre der Literatur eine Lehre des genauen Lesens zu sein hat (vgl. Johnson 2008, S. 84) –, während Frederking sich zwischen literaturwissenschaftlichem Anspruch und Kompetenzdoktrin verheddert. Obwohl jedoch Lösener die Individualität des Textes zum Ausgangspunkt macht und Frederking die Allgemeinheit der Kompetenzbeschreibung halten beide an der Vorstellung, dass Literatur eine positiv lehrbare Größe ist, fest. Die radikale Fremdheit des literarischen Wortes als Schrift, die sich keiner Intention fügt, ist letztlich für beide Autoren inakzeptabel. Nach genauer Lektüre lässt sich die Quintessenz der besprochenen Texte mit dem Satz Literatur soll gelehrt werden, obwohl sie nicht gelehrt werden kann36, beschreiben. In den Texten entfalten sich die durch die Lehrbarkeitsdoktrin bedingten Widersprüche. Sowohl das abstrakte (objektivierte) Subjekt Frederkings als auch das anthropologische, sich artikulierende Löseners verlieren im Text den Halt, den sie außerhalb des Textes haben. Die letzte positive Wendung kann folglich nur einen Widerspruch hervorbringen: Literatur soll gelehrt werden, weil sie nicht gelehrt werden kann.
36 | Die Verf. selbst würden wohl an einer positiven Bestimmung festhalten: Literatur soll gelehrt werden, weil sie gelehrt werden kann.
Schluss
Das Ziel der vorliegenden Untersuchung ist die Irritation einer Literaturdidaktik, die es als ihre Aufgabe ansieht, ›Handlungswissen‹ auszuarbeiten und ›zur Verfügung zu stellen‹. Dies geschieht durch die Einschreibung einer ›fremden‹ Sprache in den literaturdidaktischen Diskurs. Vorgängerarbeiten, die nicht nach dem Nutzen der Theorie für die Didaktik fragen, sondern Theorie in kritischer Absicht auf die Analyse der Regeln des Diskurses selbst anwenden, gibt es so gut wie keine. Diese beiden Umstände, der fehlende diskursive Zusammenhang und das Ineinanderfallen unterschiedlicher Sprachen, erschweren die Sache – sicher auch dem Leser. Der Text begibt sich, wenn man so will, ›nach draußen‹. Dort agiert er manches Mal vielleicht zu spekulativ, ein anderes Mal zu sehr im neuen Detail verharrend. Die verlorene Gewissheit eingeübter Argumentation, das Durchsetzt-Werden mit Fremdheit, lässt die Sprache rau klingen. Das Ganze kann wohl nur zu sich kommen, indem es kritisch durchgearbeitet wird. Erich Kästner stellt einem seiner Gedichte die Frage »Und wo bleibt das Positive, Herr Kästner?« voran. Der Verfasser hört die Frage als diejenige seiner Leser bereits im Kopf hallen. Die Antwort lautet: Das Positive ist die Erkenntnis selbst. Und diese besteht nicht zuletzt darin, dass der Versuch, die paradoxen Konstellationen des Didaktischen wahrzunehmen, dessen Freiheitsgrade erhöht. Der Widerspruch ermöglicht Bewegung und Reflexion. Das positive, verpflichtende Wissen hingegen schwächt die Position des Ichs und erlaubt es, dieses schuldig zu sprechen, wenn das Wissen nicht gemäß der Erwartung angeeignet wird. Das erzeugt Druck, Angst und geistige Unbeweglichkeit. Nicht zuletzt deswegen wird es in dieser Untersuchung vermieden, letztlich doch wieder in die Falle einer falschen Positivität zu tappen. Es gibt hier kein Modell und keinen Begriff, in dem sich verdichtet, wie man es denn zu machen hat, wenn man es richtig machen will. Das Angebot besteht in einer möglichst differenzierten, die latente Negativität der literaturdidaktischen Texte ausbuchstabierenden Lektüre als Dekonstruktion der Literaturdidaktik. Für den Leser könnte daraus ein Zuwachs an Freiheit und Selbstbestimmtheit im Umgang mit Texten erwachsen, deren Geltungsansprüche hoch sind, obwohl sie doch
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nichts anderes sind als Texte und zwar solche, die man gegen den Strich zu lesen hat, wenn man sich nicht dumm machen lassen will. Der paradoxe Effekt könnte sein, dass gerade eine gesteigerte Selbstreflexivität im Theoretischen die Erfahrung der Praxis wieder hineinholen könnte in den Diskurs der Literaturdidaktik. Positivistische Methodologie wird nicht genügen. ›Umsetzung‹ literaturdidaktischer Modelle auch nicht. Die Literaturdidaktik hat sich überwiegend damit begnügt, Stabilität zu erlangen durch einen Diskurs, der metaphysische Annahmen (Subjektbegriff) und funktionalistische Orientierungen kombiniert. Ein Symptom dafür sind verkürzte Formen von Theorierezeption, z.B. eine Austrocknung des hermeneutischen Begriffs des Verstehens oder eine eklektizistische Verdinglichung der Dekonstruktion. Jenseits der Grenze liegt immer noch die Fähigkeit, mit riskantem, unsicherem Wissen aus Erziehungswissenschaft und Philologie zu operieren. Stattdessen wird vorgegaukelt, es gäbe Methoden und Verfahren, die es erlauben, dem Anspruch der Literatur zu begegnen und die Probleme, die sie bereitet, zu bewältigen. – Die folgenden, abschließenden Zeilen deuten in sieben Punkten die Perspektiven einer zukünftigen kulturtheoretisch inspirierten Literaturdidaktik an. Einige der entscheidenden Fragestellungen dieser Arbeit werden zu diesem Zweck nochmals benannt, ohne dass es sich im engeren Sinne um eine Zusammenfassung oder verkürzte Nachzeichnung der Untersuchungsergebnisse in deren Reihenfolge im Buch handelt. Die Formulierungen der Titel erfolgen in der Sprache des advocatus diaboli. Die Sprache besitzen. Die angemaßte Sicherheit in der Sprache beruht auf der Ausblendung der ambivalenten, unbestimmten und paradoxen Schichten der Sprache; letztere machen Sprachlichkeit gerade aus. Mit der Ausblendung des Sprachproblems im Allgemeinen hängt die Schriftvergessenheit im Besonderen zusammen. Die Literaturdidaktik weiß nichts von dem Medium, in dem ihre Texte abgefasst sind; sie wendet sich lieber dem Zusammenspiel mit anderen Medien zu. Die Reflexion auf Schrift ist ein Desiderat der Literaturdidaktik, die einen logo- und phonozentrischen Begriff der Literatur und deren Lehre hat. Es scheint, als spreche die Literatur zu uns und als hieße, Literatur zu lehren, dieses Sprechen vermittels bestimmter Hilfen hörbar zu machen, damit der Sinn wieder angeeignet werden kann. Damit einher geht die Domestizierung und Verplanung des Lesens von Literatur, das ja gerade aus der paradoxen Verstrickung von logischer und rhetorischer Energie seine Faszination bezieht. Das Vergnügen besteht nicht nur darin, sich das Geschriebene vorzustellen, als ob es nicht geschrieben wäre, sondern z.B. in der reizvollen Unangepasstheit von Bild und Sache; der Sinn beginnt zu oszillieren, wird frei, indem er sich selbst negiert. Während die Strategie der Literatur in der Ironisierung von Information besteht, setzt z.B. die kognitionspsychologisch ausgerichtete Literaturdidaktik auf die Annahme, literarisches Lesen lasse sich als effektive Informationsverarbeitung konditionieren. Auf der Unterrichts-
Schluss
ebene bewirkt das phonozentrische Modell der Lehre eine Nicht-Erkenntnis der performativen Differenz des Unterrichtens; von jemanden zu sprechen, ist etwas andere als zu jemanden zu sprechen. Auf beiden Ebenen tritt hinzu die gleichzeitige Aktivität und Passivität der Sprache (Barthes). Man glaubt zu sprechen und wird gesprochen; man glaubt zu schreiben und wird geschrieben. Der Auf bruch der Literaturdidaktik aus den Wüsten des bürokratischen Funktionalismus und Empirismus könnte mit den Fragen nach Sprache und Schrift beginnen. Das Handeln beherrschen. Das Gelingen ist die Vermittlung von Wahrheit und Handeln im metaphysischen Denkstil. Wer sich, gemäß dieser Logik, in seinem Handeln auf der Seite der Wahrheit befindet, kann das Gelingen sichern. Die Performativität des Handelns endet folglich dort, wo es die Grenze zum anderen Wissen zu überschreiten droht. Umgekehrt garantiert die volle Selbstpräsenz des didaktischen Subjekts die Verfügung über seine Mittel und Zwecke. Gemäß der impliziten Logik des Diskurses gelingt so auch die Überbrückung der Differenz von Theorie und Praxis. Wahrheit ist der theoretischen, Handeln der praktischen Seite zuzuschlagen. Der Positivismus des Wissens verbindet sich mit der Unterbelichtung des Handelns. Die Literaturdidaktik hätte demgegenüber den Riss zwischen Theorie und Praxis bzw. die Fremdheit zwischen beiden Ebenen anzuerkennen und zu beschreiben – um gerade so die Komplexität des Verhältnisses auf der Basis irreduzibler Differenz wahrnehmbar zu machen. Das Verhältnis stellt sich paradox dar: Gelingen ist nur durch Können (als virtuelles Vermögen auf der Basis von Wissen und Erfahrung) zu sichern und zugleich ist Gelingen durch Können nicht zu sichern. Die Kontingenz von Sprache und Handeln ist unhintergehbar. Deswegen ist Gelingen immer nur im Horizont des Scheiterns überhaupt vorstellbar. Gelingen ist, wenn es so etwas gibt, okkasionelles Nicht-Scheitern. Weder Hoffnung auf Gelingen noch Freude über Gelungenes ließe sich erklären, wenn die Annahme möglichen Scheiterns nicht das Handeln erst konstituiert hätte. Die Herausforderung für die Literaturdidaktik besteht in der Entsicherung des Handlungsbegriffs. Die Gesellschaft bejahen. Gelingen als metaphysisches Konzept fügt sich in einen funktionalistischen und tendenziell affirmativen Begriff der Gesellschaft, die wie ein Räderwerk, in dem jedes Element seine Aufgabe hat, damit das Ganze funktionieren kann, läuft und arbeitet. Die Reproduktion von kulturellem und ökonomischem Kapital scheint das Gebot zu sein, welche das Ganze antreibt. Konzepte wie ›Förderung‹ existieren weiterhin, werden aber auf der negativen Seite der Leistungsskalen verbucht. Das gegenwärtige Hauptinteresse literaturdidaktischer Forschung liegt in der Optimierung schulischer Leistungen, im performativen Index, den man dem System wird zurechnen können. Die Gesellschaft ist nicht ein Kampfplatz widerstreitender Interessen, nicht eine komplizierte Verflechtung von Recht und Unrecht – als
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solchen beschreibt ihn gerade die Literatur! –, sondern ein funktionierendes Ganzes, in das man sich nur einfügen kann, weil man sonst, als nicht funktionierendes Teil, ausgesondert wird. Die Praxis gerade der empirischen literaturdidaktischen Forschung besteht dementsprechend darin, die ›Subjekte‹ durch ausgewählte methodische Verfahren zum Sprechen zu bringen, ohne dass der Machtfaktor, der dabei unübersehbar mitspielt, reflektiert wird. Die theoretische Reflexion beschränkt sich auf die in der Tat schwierige Frage, wie viel Wahrheit man bei solchen Techniken der Veräußerlichung (z.B. ›lautes Denken‹) herausbekommt, nicht aber auf die eigene Rolle als diagnostizierender Beobachter. Der Widerspruch besteht darin, dass die Gesellschaft mitnichten die im pädagogischen Diskurs produzierten Versprechen und Erwartungen einhalten kann. Der globalisierte Konkurrenzkampf nimmt die Millionen ›kompetenter Subjekte‹ schulterzuckend in sein Getriebe auf. Widerstand wäre angesagt anstatt Kompetenz. Der Lehrbarkeitsdoktrin gehorchen. Die Zwillingsformel vom Lehren und Lernen verengt das Feld der Lehre der Literatur auf einen Sektor, der von ökonomischen und funktionalistischen Prämissen regiert wird. Im Kreislauf des positiven Wissens muss das Andere, muss der Andere ausgeschlossen bleiben. Wenn nur gelehrt werden kann, was zuvor mit didaktischen Mitteln lehrbar gemacht worden ist, werden eben diese – die didaktischen Mittel nämlich – gelehrt, ohne dass die Angesprochenen – Lehrende, Lernende, die Literatur selbst – dazu kämen, überraschende Fragen zu stellen. Der Widerspruch besteht im Gegeneinander von Wahrheit und Effektivität im didaktischen Denken und Handeln; was wahr ist, verschwindet hinter der Inszenierung der rechten Methode. Das Steuerungsmodell von Unterricht verpflichtet alle Beteiligten auf ein fragwürdiges Gelingen und lässt sie so zu sich selbst und zum Gegenstand in ein negatives Verhältnis treten. Gleichzeitig akkumuliert der Einzelne Schuld, da seine Vollzüge nicht in der erwarteten Weise gelingen wollen; die Institution kann sich dem gegenüber indifferent oder aber strafend verhalten. Es bleibt die Hoffnung, dass im frustrierenden Verfehlen von Sache und Ich ein Zwischenraum entsteht, in dem der Keim des Widerstands überlebt. Die Gefahr hingegen besteht in der permanenten Reproduktion der Unmündigkeit durch die Form des Unterrichts (Barthes, Rancière). Dem gegenüber obläge es dem literaturdidaktischen Diskurs, das Unbestimmte, jene Zone, die nicht mit Wissen angefüllt werden kann, als die didaktische anzuerkennen und vorsichtig wahrnehmbar zu machen. Ein Beispiel ist die basale Negativität, welche die performative Differenz hervorbringt: von der Literatur/den Schülern zu sprechen, ist etwas anderes, als zu ihr/zu ihnen zu sprechen. Die Lücken zwischen Wissen, Können und Gelingen, für sich schon fragile Größen, bringen eine Unbestimmtheit hervor, die das reflektierende, sprechende und handelnde Ich überhaupt erst in die Lage versetzt, sich, die anderen und den Gegenstand auf die Probe zu stellen. Die nachholende, d.h. vorher nicht
Schluss
positiv formulierbare Komplexitätssteigerung könnte das eigentlich didaktische Moment der Literatur sein. Die Erziehung nur mit einem Auge sehen. Wer die Erziehung mit beiden Augen ansieht, erblickt ein Vexierbild. Die Mittel der Erziehung (Zwang) stimmen nicht mit ihren Zielen (Freiheit, Autonomie) überein. Deshalb gibt es kein positives Wissen von der richtigen Erziehung. Da Erziehung stets Gebrauch von Macht bedeutet, gehen die Linien der Macht durch das Feld der Freiheit hindurch; z.B. kann der Schüler die Erfahrung machen, dass gelingende Kommunikation erzwungen wird. Literatur lehren heißt deshalb, gleichzeitig durch Literatur und zur Literatur zu erziehen; das erhöht das Risiko des Scheiterns. Überwiegt der Zwangspol der Erziehung, verkümmert die lebensnotwendige Sensibilität; Wahrnehmung wird auf Schematisches reduziert, die Phantasie sinkt ins Unbewusste hinab, im Körper macht sich eine physische Traurigkeit breit. Adorno/Horkheimer haben diesen Zusammenhang von Körper, Wahrnehmung, Sensibilität und Intelligenz im Bild des Fühlhorns der Schnecke anschaulich gemacht. Wer die Erziehung nur mit einem Auge sieht, übersieht den Machtcharakter des erziehenden Handelns ebenso wie dessen Folgen. Wenn Erziehung technokratisch auf einen Kreislauf des Lehrens und Lernens verengt wird, das heißt, wenn Macht, Körper, Empfindung permanent aus dem Blick geraten, begünstigt dies die Reproduktion von Ungerechtigkeit im Sinne des Nichtwissens um das Ineinander von Zwang und Freiheit. Der pädagogische Positivierungszwang unterdrückt, um Handeln orientieren zu können, Negativität (Nichtwissen um das Andere/den Anderen). Die Lehre der Literatur hätte auch ihre pädagogischen Implikationen mit beiden Augen zu sehen. Disziplinär betrachtet bedeutet dies eine Öffnung zur Allgemeinen Erziehungswissenschaft und eine Abwendung von der empirischen Bildungswissenschaft, wie sie sich in den letzten ca. 15 Jahren konstituiert hat. Um das Subjekt wissen. Die hier analysierten literaturdidaktischen Texte favorisieren mehrheitlich einen Subjektbegriff, der Intentionalität und Funktionalität als Merkmale priorisiert. Dem entsprechen zwei unterschiedliche Perspektiven: Das intentionale Subjekt ist dasjenige, welches seinem Denken und Handeln eine Richtung geben kann; es ist die Quelle seines eigenen Tuns, ohne dass äußerer Einfluss gedacht werden muss. Das funktionale Subjekt hingegen findet sich verrechnet in einem didaktischen Zweck-Mittel-Zusammenhang; es ist Teil einer allgemeinen, außerhalb generierten ›Intention‹. Daraus resultiert eine paradoxe Ausrichtung des literaturdidaktischen Subjekts. Einerseits wird es gedacht als aktives, aus sich selbst heraus handelndes, andererseits wird es zurück gezwungen in eine passive Position; es soll die Positivität des fachdidaktischen Wissens in gewünschter Weise aufnehmen und verarbeiten – auf dass das Handeln gelingt. Dieses Handeln ist das eigene und zugleich nicht das eigene. Das literaturdidaktische Subjekt ist als aktives in höchster Weise passiv. Dem entspricht die Praxis literaturdidaktischer
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Arbeit: Das Subjekt wird ausgeforscht, damit es mobilisiert werden kann. Während die Macht des Subjekts gedacht wird, breitet sich das Subjekt der Macht aus; in der Kompetenzforschung z.B. als objektviertes Subjekt, aus dem die Unterschiede herausradiert sind. Dem vorzuziehen ist noch das subjektivierte Subjekt humanistischer Prägung, das seine Stimme hörbar machen kann, obwohl es durch die anderen Stimmen konstituiert wird. Theoretisch wären diese Zusammenhänge speziell in Hinsicht auf Situationen der Lehre von Literatur noch weiter auszuarbeiten. Welche Subjektannahmen zirkulieren in Lehrprozessen dieser Art? Mit welcher Folge und welchen Spielräumen für Veränderung? Auch die empirische Forschung, verstanden als dichte Beschreibung subjektiven Tuns und Nichttuns in Situationen der Lehre von Literatur, könnte wertvolle Beiträge zur Erhellung dieser Fragen leisten. Vielleicht würde dann, jenseits der Grenze des Subjekts, auch die Sphäre des Anderen in den Blick geraten. Kompetent sein. Kompetenzen sind normative Verallgemeinerungen und Steigerungen diskursiver Zufälligkeiten. Einerseits werden von einem bestimmten, theoretisch sehr engen Standpunkt aus Beobachtungen gemacht und Deutungen formuliert; andererseits erlangen diese Ergebnisse eine Art allgemeine Beglaubigung durch die ökonomische und politische Wucht, mit der sie daherkommen. Entscheidend ist, welche Art von Forschung zum Zug kommt, Mittel erhält, sich profilieren darf. Im Spiel ist ein hohes Maß an Suggestion, man möchte fast von Wahn sprechen: Der Begriff Kompetenz selbst, mit seinen positiven Konnotationen (in der Lage sein, sich sicher fühlen dürfen, die Zukunft im Griff haben), schließt die Lücke zwischen dem, was er ist und dem, was er verspricht. ›Kompetenz‹ zerfällt in eine reale Hälfte (Diagnosen, Tests, Anschlusshandlungen in der Politik, in der Ökonomie und im Journalismus, Verknappung des literaturdidaktischen Diskurses) und in eine imaginäre Hälfte (Glauben, Versprechen, Beschwören). Im Banne abstrakter Positivität, die sich durch endlose Wiederholung selbst affirmiert, verschwindet das gänzlich, was nicht aufgeht. Das Problem besteht nämlich darin, dass über anderes, z.B. Mündigkeit, kaum noch gesprochen werden kann; das Thema steht nicht mehr auf der Tagesordnung. Soziologisch lässt sich Kompetenz definieren als Soziodizee von Herrschaft (Bourdieu); es gilt, die Inkompetenten hinter sich zu lassen, die Verlierer zu vergessen. Das Gebäude wird errichtet auf den Trümmern des bürgerlichen Subjektbegriffs; beerbet wird die Vorstellung der Aneignung von Welt durch deren Repräsentation im Bewusstsein. Damit zusammen hängt die Durchstreichung von Fremdheit. Für den kompetenten Menschen ist die Erfahrung von Fremdheit unvorstellbar und deswegen letztlich irrelevant. Es ist eine vordringliche literaturdidaktische Forschungsaufgabe, die Vorstellung vom kompetenten Menschen zu irritieren. Welche Rolle spielen eigentlich kompetente Menschen in der Literatur?
Schluss
Wir kommen zum Schluss. Die Literatur der Literaturdidaktik ist die domestizierte, lehrbar gemachte. Das Lehrbarmachen impliziert eine Selbstautorisierung, die Kleist ironisch in Szene setzt, indem er in seinem Dialog Über das Marionettentheater naiven Glauben und Lehrhaftigkeit in eins setzt. Die Exempel beweisen gar nichts, man glaubt an die daraus abgeleitete Botschaft oder lässt es eben. Wenn die Beschäftigung mit den Bildern und Doppelbödigkeiten, den Provokationen des Lesers und den intertextuellen Spielen beginnt, verliert die Didaktik den Boden unter den Füßen. Lehrbarmachen heißt, das Besondere auf ein als allgemein Vorgestelltes (auch das bereits eine rhetorische Figur) hochrechnen. Doch die Literatur verfährt genau umgekehrt: sie bricht das Allgemeine in der Besonderheit ihrer rhetorischen Verfassung. Wenn die Lehre sich im Gegenstand absichert, verliert sie ihn zugleich, weil die Positivität der Methoden und die Negativität des ästhetischen Verfahrens miteinander in Konflikt geraten. Dieser Moment des Verlusts ist selbst ein eminent didaktischer; er lässt sich nicht vermeiden – ungeachtet aller Versuche, darüber hinwegzuschreiben. Das Didaktische ist gerade die Entsicherung des Lehrens von Literatur in der Lehre selbst. Und das Scheitern der didaktischen Strategie ist die Spur der Wahrheit im Diskurs der Literaturdidaktik. Damit darf man es sich allerdings nicht zu einfach machen. Die Botschaft lautet keineswegs: alles zwecklos! Es geht vielmehr um die kleinen Differenzen, die letztlich doch alles in Unruhe versetzen, und nicht um globale, abstrakte Ablehnung der Lehre von Literatur. Die Vermittlung vermittelt stets, dass das zu Vermittelnde in ihren Händen Gestalt gewinnt und zugleich immer unbestimmter wird. Im Vordergrund wird das Stück gespielt, auf einer kleinen Bühne, und im Hintergrund formiert sich eine riesengroße dunkle Wolke. Literatur sollte, so gesehen, gerade gelehrt werden, weil sie nicht gelehrt werden kann – wenigstens im Sinn einer Lehre, die auf verstehen und bewältigen hinausläuft. Im nicht Lehrbar-Sein liegt die Würde der Literatur. Indem sie darauf hinweist, überschreitet die Literaturdidaktik vielleicht auch die Grenzen der Literaturwissenschaft. Die Wahrnehmung des paradoxen Grundes der Literaturdidaktik fügt dem phonozentrischen Modell der Lehre eine entscheidende Differenz zu. Während der Phonozentrismus die Verzweigungen des Sinns ab einem bestimmten Punkt nicht mehr verfolgt, weil er letztlich doch davon ausgeht, dass der Sinn prinzipiell präsent und allen zugänglich ist, ist die Anerkennung des Paradoxen mit der Wahrnehmung des Verschwindens von Sinn verbunden. Der Sinn wird artikuliert, damit er beginnen kann, gegen sich selbst zu arbeiten. Der Lehrende wird dies mit Ironie und Gelassenheit konstatieren. Selbstbeschreibungen der Literaturdidaktik, die versuchen, die Aufgaben der Disziplin zu fassen und geeignete Strategien der Lehre zu entwerfen, gehen üblicherweise in eine andere Richtung. Man setzt die Lehrbarkeit von Literatur voraus und fragt, wie die Studenten möglichst schnell die entsprechende Kunst erlernen
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können. Der Versuch, die Widersprüche aufzulösen, verdoppelt jedoch nur die Begründungsprobleme, weil die didaktische Strategie der Individualisierung des Wissens, das heißt: der Zwang zur angemessenen Aneignung, die überprüft werden kann, in die Hochschulen kopiert wird. Nun werden nicht mehr nur Schüler da ›abgeholt, wo sie stehen‹, sondern auch Studenten. Die äußere Form des Phonozentrismus ist, nach Derrida, der Logozentrismus – die Einsperrung der Welt in Begriffe, in denen das Verpflichtende der geltenden Wahrheiten aufscheint. In der Literaturdidaktik zeigt sich dies als Grammatikalisierung der literarischen Lektüre, deren Ganzes zergliedert wird in positive Einzelteile; die Verlautbarungen zur literarischen Kompetenz (Teilkompetenzen und zugeordnete Aufgaben) lesen sich manchmal wie das Verzeichnis eines Warenlagers. Jedes einzelne Stück kann erfasst und damit nachgewiesen werden. Mag das Ganze auch noch so unübersichtlich sein, ja recht eigentlich gar nicht wahrnehmbar; es gibt doch eine Instanz, die über alles Bescheid weiß und die Verteilung steuert. So zumindest die Suggestion. Literaturdidaktik fungiert in dieser Form als organisierter Widerstand gegen Literatur. Strategisch wird angeschlossen an die Logik der Vermarktung oder mit anderen Worten: Indem die Literaturdidaktik ihren Gegenstand klein macht und verrechnet, weist sie sich als Ideologie im Dienste der Herrschenden aus. Das kommensurable literarische Wissen ist das Wissen der Macht, der Verwaltung, des Marktes. Deshalb ist eine Öffnung der Lehre der Literatur anzustreben. Es ist an der Zeit, nicht ängstlich zu fragen, was nützt und was erwünscht wird, sondern was möglich ist, selbst wenn es unmöglich erscheint. Die Literaturdidaktik kann lernen, sich als Lehre vom Unmöglich-Möglichen anders wahrzunehmen. Unabdingbar erscheint deshalb eine neue epistemologische Orientierung. Allgemeine Erziehungswissenschaft auf der einen sowie Literaturtheorie bzw. Allgemeine Literaturwissenschaft auf der anderen Seite sind die interessantesten Partner für die zukünftige interdisziplinäre Zusammenarbeit. Die Wahrnehmung des Widerstands der Literatur rückt dann womöglich in den Blick – nicht die Organisation des Widerstands gegen Literatur. Immer wieder unterbricht die Kraft des Verborgenen im Sinne von Sextus Empiricua das Erscheinen. Dabei bildet sich Spuren des Anderen in der Sprache.
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Fingerhut, Karlheinz: ›Auf den Flügeln der Reflexion in der Mitte schweben‹. Desillusionierung und Dekonstruktion. Heines ironische Brechung der klassisch-romantischen Erlebnislyrik und eine postmoderne ›doppelte Lektüre‹. In: Der Deutschunterricht 47, 1995, S. 40-55 Fingerhut, Karlheinz: Literaturunterricht über Kompetenzmodelle organisieren? Zu Gedichten von Schiller und Eichendorff (9./10. Schuljahr). In: Kammler (Hg.) 2006, S. 134-156 Förster, Jürgen: Zu diesem Heft. In: Der Deutschunterricht 45, 1993, S. 3-11 Förster, Jürgen: Literatur als Sprache lesen. Sarah Kirsch ›Meine Worte gehören mir nicht‹. In: Textnahes Lesen, hg. von Jürgen Belgrad und Karlheinz Fingerhut. Baltmannsweiler 1998, S. 54-69 Förster, Jürgen: ›mich dünkt, man kann es mit Händen greifen‹. Literarische Erfahrung im Referenzkontext des Mediums Schrift. Goethe, Die Leiden des jungen Werther, 1774. In: (K)ein Kanon. 30 Schulklassiker neu gelesen, hgg. von Klaus-Michael Bogdal und Clemens Kammler. München 2000, S. 17-23 Förster, Jürgen: Analyse und Interpretation. Hermeneutische und poststrukturalistische Tendenzen. In: Grundzüge der Literaturdidaktik, hgg. von Klaus-Michael Bogdal und Hermann Korte. München 2002, S. 231-246 Foucault, Michel: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft. Übersetzt von Ulrich Köppen. Frankfurt a.M. 1973 Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Aus dem Französischen übersetzt von Walter Seitter. Frankfurt a.M. 1994 Foucault, Michel: Archäologie des Wissens. Übersetzt von Ulrich Köppen. Siebte Auflage. Frankfurt a.M. 1995 Foucault, Michel: Die Ordnung des Diskurses. Aus dem Französischen von Walter Seitter. Mit einem Essay von Ralf Konersmann. Frankfurt a.M. 1998 Frederking et al. (Hgg.): Taschenbuch des Deutschunterrichts. 3 Bde. Zweite neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Baltmannsweiler 2013 Frederking, Volker: Deutschdidaktik als transdisziplinäre, anwendungs- und grundlagenorientierte empirische Wissenschaft. In: Mitteilungen des deutschen Germanistenverbandes 61, 2014, S. 109-119 Frederking, Volker: Modellierung literarischer Rezeptionskompetenz. In: Kämper-van den Boogaart/Spinner (Hgg.) 2015. Bd. 1, S. 324-380 Friedrich, Bodo: Sprachbildung – Anmerkungen zum Begriff. In: Wirklichkeitssinn und Allegorese. Festschrift für Hubert Ivo zum achtzigsten Geburtstag, hgg. von Susanne Gölitzer und Jürgen Roth. Münster 2007, S. 196-253 Gadamer, Hans-Georg: Text und Interpretation. In: Text und Interpretation, hg. von Philippe Forget. München 1984, S. 24-55 Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. 6. Auflage. Gesammelte Werke. 10 Bde. Bd. 1. Tübingen 1990
Literatur verzeichnis
Gadamer, Hans-Georg: Hören – Sehen – Lesen. In: Gesammelte Werke. 10 Bde. Bd. 8. Tübingen 1993, S. 271-278 Garbe, Christine: Literarische Sozialisation – Mediensozialisation. In: Frederking et al. (Hgg.) 2013, S. 23-42 Geiss, Michael/Veronika Magyar-Haas (Hgg.): Zum Schweigen. Macht/Ohnmacht in Erziehung und Bildung. Weilerswist 2015 Gelhard, Andreas: Kritik der Kompetenz. Zweite Auflage. Zürich 2012 Geyer, Paul: Das Paradox: Historisch-systematische Grundlegung. In: Hagenbüchle/Geyer (Hgg.) 2002, S. 11-24 Gößling, Hans-Jürgen: Differenz als Spiel der Spur. Versuch einer fundamentalpädagogischen Annäherung an die Grammatologie Derridas. In: Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Pädagogik 71, 1995, S. 272-282 Gracian, Baltasar: Hand-Orakel und Kunst der Weltklugheit. Aus dessen Werken gezogen von D. Vincencio Juan de Lastanosa und aus dem Spanischen Original treu und sorgfältig übersetzt von Arthur Schopenhauer. Zürich 1991 Groeben, Norbert/Cornelia Rosebrock: Literarästhetische Zentrierung der ›literarischen Sozialisation‹? Ein begriffsanalytisches Streitgespräch. In: Lesen im Wandel. Probleme der literarischen Sozialisation heute, hgg. von Christine Garbe et al. Lüneburg 1997, S. 25-39 Gruschka, Andreas: Verstehen lehren. Ein Plädoyer für guten Unterricht. Stuttgart 2011 Grzesik, Jürgen: Texte verstehen lernen. Neurobiologie und Psychologie der Entwicklung von Lesekompetenz durch den Erwerb von textverstehenden Operationen. Berlin 2005 Haas, Gerhard: Handlungs- und produktionsorientierter Literaturunterricht. Theorie und Praxis eines ›anderen‹ Literaturunterrichts für Primar- und Sekundarstufe. 4. Auflage. Seelze 2001 Haeske, Udo: ›Kompetenz‹ im Diskurs. Eine Diskursanalyse des Kompetenzdiskurses. Berlin 2008 Hagenbüchle, Roland/Paul Geyer (Hgg.): Das Paradox. Eine Herausforderung des abendländischen Denkens. Würzburg 2002 Hamacher, Werner: Entferntes Verstehen. Studien zu Philosophie und Literatur von Kant bis Celan. Frankfurt a.M. 1998 Hansmann, Otto: Logik der Paradoxie. Jean Jacques Rousseaus Paradoxien im Spannungsfeld von Philosophie, Pädagogik und Politik. Würzburg 2013 Härle, Gerhard/Marcus Steinbrenner: ›Alles Verstehen ist … immer zugleich ein Nicht-Verstehen‹. Grundzüge einer verstehensorientierten Didaktik des literarischen Unterrichtsgesprächs. In: Literatur im Unterricht 4, 2003, S. 139-162 Härle, Gerhard/Marcus Steinbrenner: Kein endgültiges Wort. Die Wiederentdeckung des Gesprächs im Literaturunterricht. Baltmannsweiler 2004
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Der Widerstand gegen Literatur
Heinrich, Caroline: »Was denkt ein New Yorker, wenn er in einen Hamburger beißt?« Mikrophänomenologie der Macht am Beispiel des Referendariats. Wien 2011 Helmers, Hermann : Didaktik der deutschen Sprache. Einführung in die muttersprachliche und literarische Bildung [1966]. Dokumentation und Neuausgabe, hg. von Juliane Eckhardt unter Mitwirkung von Jörg Diekneite. Neuausgabe. Darmstadt 1997 Helsper, Werner: Ungewissheit im Lehrerhandeln als Aufgabe der Lehrerbildung. In: Ungewissheit. Pädagogische Felder im Modernisierungsprozess, hgg. von Werner Helsper et al. Weilerswist 2003, S. 142-161 Helsper, Werner: Überlegungen zu einer Theorie kultureller Transformation. Ein blinder Fleck in Kulturtheorien zu Schule und Unterricht? In: Thomp son et al. (Hgg.) 2014, S. 199-242 Hochstadt, Christiane: Der standardisierte (Post-PISA-?)Referendar? In: Didaktik Deutsch 20, 2006, S. 14-18 Hochstadt, Christiane: Von der eindeutigen Absenz der Mehrdeutigkeit – Die Dominanz eines funktionalen Sprachbegriffs im Bildungsbereich. In: Deutungsspielräume. Mehrdeutigkeit als kulturelles Phänomen, hgg. von Matthias Bauer und Nicolas Potysch. Frankfurt a.M. 2016, S. 115-135 Hörisch, Jochen: Die Wut des Verstehens. Zur Kritik der Hermeneutik. Frankfurt a.M. 1988 Inglourious Basterds. Regie: Quentin Tarantino, Eli Roth. USA/Deutschland 2009 Iser, Wolfgang: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie. Frankfurt a.M. 1991 Iser, Wolfgang: Die Appellstruktur der Texte. In: Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis, hg. von Rainer Warning. München 1994, S. 228-252 [= Iser 1994a] Iser, Wolfgang: Der Akt des Lesens: Theorie ästhetischer Wirkung. Vierte Auflage. München 1994 [= Iser 1994b] Jagow, Bettina von: Der Landarzt-Band. In: Kafka-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hgg. von Bettina von Jagow und Oliver Jahraus. Darmstadt 2008, S. 504-517 Jahraus, Oliver: Literaturtheorie. Theoretische und methodische Grundlagen der Literaturwissenschaft. Tübingen und Basel 2004 Jergus, Kerstin: Die Analyse diskursiver Artikulationen. Perspektiven einer poststrukturalistischen (Interview-)Forschung. In: Thompson et al. (Hgg.) 2014, S. 51-70 Johnson, Barbara: Dekonstruktion im Unterricht. In: Moderne Interpretationstheorien, hgg. von Tom Kindt und Tilman Köppe. Göttingen 2008, S. 84-97 Kafka, Franz: Ein Landarzt. In: Drucke zu Lebzeiten, hgg. von Hans-Gerd Koch et al. Frankfurt a.M. 1994, S. 252-261
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Der Widerstand gegen Literatur
Koller, Hans-Christoph: Bildung und Widerstreit. Zur Struktur biographischer Bildungsprozesse in der (Post-)Moderne. München 1999 König, Nicola: Dekonstruktive Hermeneutik moderner Prosa. Ein literaturdidaktisches Konzept produktiven Textumgangs. Baltmannsweiler 2003 Kreft, Jürgen: Grundprobleme der Literaturdidaktik. Eine Fachdidaktik im Konzept sozialer und individueller Entwicklung und Geschichte [1979]. Zweite verbesserte Auflage. Heidelberg 1982 Kremer, Detlev/Nikolaus Wegmann: Realismus des wirklichen Lebens oder realistischer Text? Wiederholungslektüre(n): Fontanes Effi Briest. In: Der Deutschunterricht 47, 1995, S. 56-73 Kremer, Detlev/Nikolaus Wegmann: Ästhetik der Schrift. Kafkas Schrift lesen ›ohne eine Interpretation dazwischen zu mengen‹? In: Ästhetik im Prozeß, hg. von Gerhard Rupp. Wiesbaden 1998, S. 53-83 Kügler, Hans: Literatur und Kommunikation. Poetische und pragmatische Lektüre im Unterricht. Zweite völlig neu bearbeitete Auflage. Stuttgart 1975 Kügler, Hans: Die bevormundete Literatur. Zur Entwicklung und Kritik der Literaturdidaktik. In: Literarisches Verstehen – literarisches Schreiben. Positionen und Modelle zur Literaturdidaktik, hgg. von Jürgen Belgrad und Hartmut Melenk. Baltmannsweiler 1996, S. 10-24 Kundera, Milan: Die Kunst des Romans. Essay. Frankfurt a.M. 1989 Kurz, Gerhard: »Gott befohlen«. Kleists Dialog Über das Marionettentheater und der Mythos vom Sündenfall des Bewußtseins. In: Kleist-Jahrbuch 1981/1982, S. 264-277 Ladenthin, Volker: Erziehung durch Literatur? Zur moralischen Dimension des Literaturunterrichts. Essen 1989 Levy, Ze’ev: Die Rolle der Spur in der Philosophie von Emmanuel Levinas und Jacques Derrida. In: Spur. Spurenlesen als Orientierungstechnik und Wissenskunst, hgg. von Sybille Krämer et al. Frankfurt a.M. 2007, S. 145-154 Lillo, Don de: Null K. Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Frank Heibert. Köln 2016 Lösener, Hans: Der Rhythmus in der Rede. Linguistische und literaturwissenschaftliche Aspekte des Sprachrhythmus. Tübingen 1999 Lösener, Hans: Zwischen Wort und Wort. Interpretation und Textanalyse. München 2006 Lotman, Jurij: Universe oft he Mind. A Semiotic Theory of Culture. Translated by Ann Shukman. Introduction by Umberto Eco. London 1990 Lotman, Jurij: Die Struktur literarischer Texte. Vierte Auflage. München 1993 Luhmann, Niklas: Das Erziehungssystem der Gesellschaft, hg. von Dieter Lenzen. Frankfurt a.M. 2002 Luhmann, Niklas: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt a.M. 1997 Lüdemann, Susanne: Jacques Derrida. Zur Einführung. Hamburg 2011 Lyotard, Jean-François: Der Widerstreit. Zweite Auflage. München 1989
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Der Widerstand gegen Literatur
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Literaturwissenschaft Achim Geisenhanslüke
Wolfsmänner Zur Geschichte einer schwierigen Figur März 2018, 120 S., kart. 16,99 € (DE), 978-3-8376-4271-1 E-Book PDF: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4271-5 EPUB: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4271-1
Götz Großklaus
Das Janusgesicht Europas Zur Kritik des kolonialen Diskurses 2017, 230 S., kart., z.T. farb. Abb. 24,99 € (DE), 978-3-8376-4033-5 E-Book: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4033-9
Elisabeth Bronfen
Hollywood und das Projekt Amerika Essays zum kulturellen Imaginären einer Nation Januar 2018, 300 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4025-0 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4025-4
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Literaturwissenschaft Yves Bizeul, Stephanie Wodianka (Hg.)
Mythos und Tabula rasa Narrationen und Denkformen der totalen Auslöschung und des absoluten Neuanfangs März 2018, 178 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3984-1 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3984-5
Michael Gamper, Ruth Mayer (Hg.)
Kurz & Knapp Zur Mediengeschichte kleiner Formen vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart 2017, 398 S., kart., zahlr. Abb. 34,99 € (DE), 978-3-8376-3556-0 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation ISBN 978-3-8394-3556-4
Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer, Heinz Sieburg (Hg.)
Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 8. Jahrgang, 2017, Heft 2: Vielfältige Konzepte – Konzepte der Vielfalt. Zur Theorie von Interkulturalität 2017, 204 S., kart. 12,80 € (DE), 978-3-8376-3818-9 E-Book: 12,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-3818-3
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