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German Pages 156 [160] Year 1981
Kolloquien des Instituts für Zeitgeschichte
NS-Recht in historischer Perspektive
R. Oldenbourg Verlag München Wien 1981
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek NS-Recht in historischer Perspektive. - München ; Wien : Oldenbourg, 1981. (Kolloquien des Instituts für Zeitgeschichte) ISBN 3-486-50721-4
© 1981 R. Oldenbourg Verlag GmbH, München Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Ubersetzung, des Nachdrucks, der Funksendung, der Wiedergabe auf photomechanischem oder ähnlichem Wege sowie der Speicherung und Auswertung in Datenverarbeitungsanlagen bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Werden mit schriftlicher Einwilligung des Verlages einzelne Vervielfältigungsstücke für gewerbliche Zwecke hergestellt, ist an den Verlag die nach § 54 Abs. 2 Urh.G. zu zahlende Vergütung zu entrichten, über deren Höhe der Verlag Auskunft gibt. Druck: Hofmann-Druck KG, Augsburg ISBN 3-486-50721-4
INHALT Vorwort
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Verzeichnis der Gesprächsteilnehmer
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Michael Stolleis/Dieter Simon Vorurteile und Werturteile der rechtshistorischen Forschung zum Nationalsozialismus
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Heinz Holzhauer Die Scheidungsgründe in der nationalsozialistischen Familienrechtsgesetzgebung
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Wolfgang
Naucke
Die Aufhebung des strafrechtlichen Analogieverbots 1935
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Hans Hattenhauer Zum Beamtenleitbild des 20. Jahrhunderts
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Alfred Söllner Entwicklungslinien im Recht des Arbeitsverhältnisses
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Die Durchführung des Kolloquiums wurde von der Fritz Thyssen Stiftung finanziell unterstützt.
VORWORT Mit dem hier vorgelegten Band will das Institut für Zeitgeschichte das Interesse der Juristen an der Erforschung nationalsozialistischer Rechtsgeschichte neu anregen. Der Band enthält die Referate - nicht aber die Diskussionen - eines Kolloquiums, das am 26. und 27. März 1980 in München stattgefunden hat. Die Teilnehmer der Veranstaltung sind gesondert aufgeführt. Die rechtshistorische Erforschung des Nationalsozialismus befindet sich heute in einer Zwischenphase, aus der nicht leicht herauszufinden ist. Als man unmittelbar nach dem Kriege an die geschichtliche Aufarbeitung der Zeit zwischen 1933 und 1945 ging, war eine starke Tendenz zur Selbstrechtfertigung in den Forschungen unvermeidlich. Die Arbeiten wurden zumeist von Juristen geschrieben, die während jener Zeit bereits im Beruf gestanden hatten und sich mit der eigenen Schuld auseinandersetzen mußten. Soweit jüngere, nicht belastete Forscher sich der Thematik zuwandten, konnte dies nicht ohne Risiken geschehen. Die Generation der während des Nationalsozialismus führenden Juristen befand sich noch im Amt, und eine Kritik an ihnen konnte für Nachwuchskräfte berufsschädigend sein. Die damals herrschende Interpretation lautete, daß die Zeit des Nationalsozialismus eine Katastrophe gewesen sei, die unvermittelt das demokratische Weimar abgebrochen habe und ihrerseits nach 1945 ebenso unvermittelt von neuer rechtsstaatlicher Ordnung abgelöst worden sei. Sie war wohl aus der Sicht der in den zwei Nachkriegsjahrzehnten maßgeblichen Juristen unvermeidlich. Nur so war es ihnen möglich, scheinbar konfliktlos an die verfassungsrechtlichen Lehren der Republik anzuknüpfen, die viele von ihnen zwischenzeitlich als Irrwege verketzert hatten. Die mit den Studentenunruhen im dritten Jahrzehnt der Bundesrepublik aufbrechenden neuen Fragestellungen brachten auch für die Zeitgeschichte des Rechts eine Wendung. Allerdings ging es der jungen Generation zumeist um einen Aufstand gegen die Welt der Väter, eher um
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Vorwort
Anklagen gegen die bis dahin herrschenden Geister als um vertiefte Forschung. Trotzdem gelangen mit den Werken von Bernd Rüthers und Michael Stolleis wissenschaftliche Forschungen, in denen kein Tribunal über die vor 1945 tätige Juristen-Generation abgehalten, sondern gründliche Bestandssichtung und methodische Durchdringung des nationalsozialistischen Rechts geleistet wurde. Die damit scheinbar neu in Gang gebrachte Erforschung des nationalsozialistischen Rechts beschränkt sich indessen weitgehend auf Dissertationen. Einerseits hatte sich die politische Fragestellung als nicht dauerhaft erwiesen, während andererseits gerade die Qualität der Arbeiten von Rüthers und Stolleis manchem Nachfolger das Erforschungsfeld im wesentlichen als bearbeitet hat erscheinen lassen. Gleichzeitig wurde zu Beginn der Siebzigerjahre das vom Institut für Zeitgeschichte begonnene Projekt „Die deutsche Justiz und der Nationalsozialismus" nach dem Erscheinen des 3. Bandes eingestellt. Unter der Führung von Hermann Weinkauff - des ehemaligen Präsidenten des Bundesgerichtshofs - hatten sich Vertreter der Rechtspflege daran gemacht, die Geschichte der Justiz im Nationalsozialismus aufzuarbeiten. Die beachtlichen Materialsammlungen, die dabei zustande kamen, litten von Anfang an unter einem zweifachen Mangel. Einerseits wurden als Autoren Angehörige der Rechtspflege gewonnen, die bereits in vorgerückten Jahren standen und Zeitgenossen des nationalsozialistischen Rechtsgeschehens gewesen waren. Dem ganzen Unternehmen haftete mithin — bewußt oder unbewußt - eine rechtfertigende Tendenz an. Zudem lieferte Weinkauff seine zusammenfassende Gesamtschau bereits im ersten Band des Sammelwerkes, gewissermaßen als einen Allgemeinen Teil der NS-Rechtsgeschichte. Zu dieser Zeit lagen noch keine Einzeluntersuchungen in der erforderlichen Dichte vor, die eine solche Darstellung hätten rechtfertigen können. Als mit dem bis in die Tagespresse hinein geführten Kampf um die Darstellung des Kriegsgerichtsbarkeit durch Schweling die Krise des justizgeschichtlichen Unternehmens offenkundig geworden war, hat man mit Recht dessen Abbruch beschlossen. Allein das von Dr. Lothar Gruchmann - wissenschaftlichem Mitarbeiter des Instituts für Zeitgeschichte — erarbeitete Werk über das Reichtsjustizministerium wird als letzte und vermutlich wissenschaftlich gründlichste Frucht der Bemühungen Weinkauffs noch erscheinen. Der Abbruch des justizgeschichtlichen Projekts und das Ausbleiben
Vorwort
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weiterer Einzeluntersuchungen zur NS-Rechtsgeschichte deuten an, daß es an einer anregenden Fragestellung derzeit zu fehlen scheint. Das war der Anlaß des Münchener Kolloquiums. Die Frage, ob es derzeit überhaupt eine zukunftsweisende Fragestellung zur Neubelebung der NS-Forschung auf dem Gebiete des Rechtes gebe und wie eine solche lauten könne, sollte sowohl vom Methodischen her wie durch Einzeluntersuchungen vorangetrieben werden. Daß es nicht ohne weiteres gelingen werde, eine für alle überzeugende Formel zu finden, war bereits vor Beginn des Kolloquiums klar. Die Diskussion der vorgelegten Beiträge zeigt, wie stark auch heute, nach dem Abtreten der damaligen Zeitgenossen, persönliche Fragestellungen die Forschungen anregen und mitbestimmen. Uber das Ergebnis des Kolloquiums und seine möglichen Wirkungen für die Forschung mag sich der Leser selbst sein Urteil bilden. Er wird aber vermutlich ebenso wie die Teilnehmer des Kolloquiums vor allem den Eindruck von der heute herrschenden Vielfalt an Motiven und Fragestellungen gewinnen. Der Pluralismus der Fragen und Wertungen unterscheidet die heutige Forschung am deutlichsten von jener der Nachkriegszeit. Man muß dies als einen Gewinn betrachten. Je breiter die NS-Forschung auch bei den Juristen unter die Anhänger der verschiedenen Lehrmeinungen und Überzeugungen verteilt sein wird, um so leichter wird es zu dem notwendigen neuen fruchtbaren Streitgespräch über die Lehren kommen, die unsere Generation für sich und ihre Nachkommen aus den Erfahrungen ihrer Väter ziehen sollte. So groß die Unterschiedlichkeit der Standpunkte bei den heutigen zeitgeschichtlichen Forschern ist, so deutlich ist andererseits die Einmütigkeit in der Ablehnung der Katastrophentheorie. Der wachsende Abstand zu den Jahren der Hitlerherrschaft macht persönliche Rechtfertigungsversuche in der Forschung überflüssig. Die heutige Generation kann offen zugeben, daß es geistesgeschichtliche Zusammenhänge und Kräfte gegeben hat und gibt, die nicht auf die Zeit des Nationalsozialismus beschränkt waren. Die Frage nach der rechtsgeschichtlichen Kontinuität, den Zusammenhängen des Rechtes der Weimarer Republik mit dem der Zeit Hitlers und wiederum mit dem unsrigen wird und muß die F o r s c h u n g - m e h r als bisher bereits geschehen — bestimmen. Damit wird allerdings ein Problem erkennbar, das auch für die Gegenwart seine Peinlichkeit hat und daher sicher nicht schlechthin forschungsfördernd wirkt. Die Erforschung des nationalsozialistischen Denkens vor und nach Hitler macht es zusehends schwerer
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Vorwort
oder sogar unmöglich, das spezifisch Nationalsozialistische im Recht zu bestimmen oder es auf die zwölf Jahre des Hitlerreiches zeitlich zu beschränken. Die Definition des Wesens nationalsozialistischen Rechts wird das immer schwerer zu lösende Hauptproblem. Auch die heutige Generation wird durch die Erforschung des nationalsozialistischen Rechts persönlich betroffen. Diese Forschung wird unbequem und in ihren Ergebnissen tagespolitisch umstritten bleiben. Es wird auch Jahrzehnte nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft nicht gelingen, jene Jahre der Verirrung und Schuld mit einer so objektiven Gelassenheit kühl zu erforschen, wie jeder Forscher sich dies gerne wünscht. Das Ideal bleibt vorerst unerreichbar. Sicherlich ist die Forderung größtmöglicher Objektivität bei der Erforschung des Nationalsozialismus jedenfalls den Anhängern des abendländischen Wissenschaftsbegriffs eine Selbstverständlichkeit. Andererseits muß man - auch unter dem Eindruck des Münchener Kolloquiums — bezweifeln, daß dieser Forderung ebenso entsprochen werden kann, als wenn es um die Erforschung längst vergangener Zeiten der Rechtsgeschichte geht. Ein Rest an Subjektivität in der Forschung, den ich für sehr erheblich halte, bleibt immer übrig. Der Zweifel an der eigenen Objektivität, das Mißtrauen gegen das eigene Vorverständnis wird fürs erste die Forschungen begleiten. Dieses ständige Bewußtsein historischer Unzulänglichkeit ist ein Opfer, das alle zeitgeschichtliche Forschung zu bringen hat und zugleich ein Stück Mittragen an der Vergangenheit unseres Volkes. So dürfen auch die hier vorgelegten Beiträge nicht als ein letztes Wort verstanden werden. Dazu sind sie schon nach ihrer Auswahl zu zufällig. Sie wollen vielmehr anregen zu weiterer Erforschung eines Themas, von dem die deutschen Juristen noch immer zu wenig wissen, obwohl es sie so stark betrifft. K i e l , den 13. 10. 1980
Hans
Hattenbauer
GESPRÄCHSTEILNEHMER Martin Broszat, Dr. phil., Direktor des Instituts für Zeitgeschichte, Honorarprofessor für Neuere Geschichte an der Universität München. Bernhard Diestelkamp, Dr. jur., ordentlicher Professor für Deutsche Rechtsgeschichte an der Universität Frankfurt. Lothar Gruchmann, Dr. phil., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte München. Hans Hattenhauer, Dr. jur., ordentlicher Professor für Deutsche Rechtsgeschichte, Bürgerliches Recht und Handelsrecht an der Universität Kiel. Heinz Holzhauer, Dr. jur., ordentlicher Professor für Bürgerliches Recht, Handelsrecht und Rechtsgeschichte an der Universität Münster. Günther Jakobs, Dr. jur., ordentlicher Professor für Straf- und Prozeßrecht an der Universität Regensburg. Friedrich Kübler, Dr. jur., ordentlicher Professor für Wirtschaftsrecht und Bürgerliches Recht, an der Universität Frankfurt. Horst Möller, Dr. phil. habil., Stellvertretender Direktor des Instituts für Zeitgeschichte, Privatdozent für Neuere Geschichte an der Universität München. Wolfgang Naucke, Dr. jur., ordentlicher Professor für Strafrecht, Strafprozeß, Kriminologie und Rechtsphilosophie an der Universität Frankfurt. Hermann Nehlsen, Dr. jur., ordentlicher Professor für Bayerische und Deutsche Rechtsgeschichte an der Universität München. Bernd Rüthers, Dr. jur., ordentlicher Professor für Bürgerliches Recht, Handels- und Arbeitsrecht sowie Rechtstheorie an der Universität Konstanz.
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Verzeichnis der Gesprächsteilnehmer
Dieter Simon, Dr. jur., ordentlicher Professor für Römisches und Bürgerliches Recht an der Universität Frankfurt. Alfred Söllner, Dr. jur., ordentlicher Professor für Römisches und Bürgerliches Recht, Arbeits- und Sozialrecht an der Universität Gießen. Michael Stolleis, Dr. jur., ordentlicher Professor für Öffentliches Recht an der Universität Frankfurt.
Michael Stolleis und Dieter Simon
VORURTEILE UND WERTURTEILE DER RECHTSHISTORISCHEN FORSCHUNG ZUM NATIONALSOZIALISMUS Die folgenden Texte sind zum gleichen Anlaß, aber zeitlich nacheinander entstanden. Der zweite ist als Reaktion auf den ersten geschrieben worden, hat aber auch auf die Endfassung des ersten wieder eingewirkt. Da beide Texte inhaltlich und sprachlich einerseits eigenständig geblieben, andererseits eng aufeinander bezogen sind und weitgehend auf den gleichen methodischen Uberzeugungen beruhen, wählen wir, um dies auszudrücken, das „Dach" einer einheitlichen Uberschrift. Im übrigen bleibt jeder von uns für seinen Teil (I = Stolleis, II = Simon) verantwortlich.
I. 1. Methodendebatten haben wie die historischen Themen selbst ihre eigene Konjunktur. Ihre Lebhaftigkeit wächst offenbar in gleichem Maße wie die innere Unsicherheit oder die äußere Bedrohung des Fachs, in dem sie geführt werden. Was die Rechtsgeschichte angeht, so haben sie vielleicht wirklich „seit dem Programm der historischen Schule keine große Rolle gespielt" 1 , sie zeigen aber dennoch zeitbedingte Schwankungen. So gab es etwa erst durch die dem römischen Recht gefährliche Studienordnung von 1935 in die Breite wirkende methodische
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U. Wesel, Zur Methode der Rechtsgeschichte, Kritische Justiz 1974, 339.
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Michael Stolleis und Dieter Simon
Überlegungen 2 und so führte nicht der Beginn, wohl aber das Ende des Nationalsozialismus zu einer neuen, einige Jahre währenden Methodendebatte. Betrachtet man die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg, so fällt eine tiefe Verunsicherung und Verstörung auf. Historiker und Rechtshistoriker sahen nicht nur die Methoden, sondern auch den prinzipiellen Sinn ihrer Arbeit in Frage gestellt. Friedrich Meinecke grübelte angesichts der „deutschen Katastrophe" über den Sinn historischen Arbeitens jenseits des „entgötterten Kausalzusammenhangs" 3 , Gerhard Dulckeit suchte das Wirken überzeitlicher Ideen in der Rechtsgeschichte 4 und Heinrich Mitteis den „Lebenswert der Rechtsgeschichte" 5 zu demonstrieren. Gemeinsame Tendenz dieser Werke ist die Absicherung der eigenen idealistisch fundierten Methodik gegen die Erfahrung des propagandistischen Mißbrauchs dieser Philosophie, der Rekonstruktionsversuch eines humanen Menschenbildes und die Suche nach einer trotz aller Katastrophen „unzerstörbaren Rechtsidee" in der Geschichte 6 . „So laden wir die Rechtsgeschichte vor das Forum des Lebens", sagte etwa Mitteis, „und fordern ihr den Nachweis ab, daß sich ihre Ergebnisse unmittelbar in Gegenwartswerte umsetzen lassen"7. Dies geschah auf der Grundlage eines mehr oder weniger ausformu-
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P. Koschaker, Die Krise des römischen Rechts u n d die romanistische Rechtswissenschaft, 1938; ders. Probleme der heutigen romanistischen Rechtswissenschaft, Deutsche Rechtswissenschaft 1940, 110 ff.; H. Kreller, Die Bedeutung des römischen Rechts im neuen deutschen Hochschulunterricht, Zeitschr. d. Akademie f. deutsches Recht 3 (1936) 409 ff.;/. v. Kempski, Krise des römischen Rechts oder Grundlagenkrise der Rechtswissenschaft, ARSP 32 (1938/39) 4 0 4 f f . ; E. Schönbauer, Zur Krise des römischen Rechts, Festschr. Koschaker 1939, II, 385; M. Käser, Die deutsche Wissenschaft vom römischen Recht seit 1933, Forsch, u. Fortschritte 15 (1939) 205 ff.; F. Wieacker, Der Standort der römischen Rechtsgeschichte in der deutschen Gegenwart, D R 1942, 49. F. Meinecke, Die deutsche Katastrophe, Betrachtungen und Erinnerungen, 1946. Zu diesem W e r k eingehend M. Erbe, i n : Friedrich M e i n e c k e heute, Kolloquium z u m 25. Todestag, 1981. Das Zitat findet sich in Meinecke, Kausalitäten und Werte in der Geschichte ( = W e r k e IV, 1959, 68). G. Dulckeit, Philosophie der Rechtsgeschichte, 1950. Vgl. hierzu die sehr unterschiedlich nuancierten Stellungnahmen von W. Kunkel und K. Larenz in: Gerhard Dulckeit als Rechtshistoriker, Rechtsphilosoph und Rechtsdogmatiker, 1955. H. Mitteis, V o m Lebenswert der Rechtsgeschichte, 1947. H. Mitteis, Die Rechtsidee in der Geschichte, 1957. H. Mitteis, V o m Lebenswert der Rechtsgeschichte, 8; ebenso ders. Rechtsgeschichte und Gegenwart, N e u e J u s t i z 1947, N r . 2.
Vorurteile und Werturteile der Forschung
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Herten Idealismus, eines ungebrochenen Wert-Optimismus und unter Verwendung einer rational nur begrenzt überprüfbaren Ausdrucksweise. Rückblickend mag man dies verwunderlich finden und meinen, „eigentlich" hätte eine Wiederaufnahme der Positionen Max Webers und des Wiener Neopositivismus, eine Hinwendung zum westlichen politischen Denken und zur angelsächsischen analytischen Philosophie, verbunden mit einer Absage an die Traditionen des deutschen Idealismus näher liegen sollen. Doch würde damit die geistige Situation der Nachkriegszeit gründlich verkannt 8 . Immer wieder stellt man fest, daß „trotz Katastrophen, Trümmerfeldern und tiefster Erniedrigung die Metaphern spätidealistischer Denkungsart sozusagen ungebrochen am Werke waren. Die Sehnsucht nach dem , Guten, Schönen und Wahren' war keineswegs erstorben; sie wurde mit dem trotzigen Unterton eines ,Dennoch' versehen. Der deutsche Geist sei mißbraucht, entehrt, aber nicht zerstört worden. An der Unsterblichkeit der Klassiker hielt man fest" 9 . Die methodischen Reflexionen der ersten Jahre, an denen sich außer Mitteis vor allem auch Karl Siegfried Bader, Helmut Coing, Paul Koschaker, Hans Thieme, Theodor Viehweg und Franz Wieacker beteiligt haben 10 , verstummten allerdings bald wieder, nachdem man sich —unter Abschüttelung der NS-Terminologie 11 - die prinzipielle Richtigkeit der traditionellen methodischen Maximen bestätigt hatte. Einzig Wieacker blieb weiter beunruhigt und entwickelte und wandelte seine Position bis
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Wichtige Einblicke bietet der Katalog des Deutschen Literatur-Archivs im SchillerNationalmuseum Marbach a. N. „Als der Krieg zu Ende war", 1973. Vgl. daneben G. Hay, Wiederkehr und Aufbruch in der Literatur, in: Westdeutschlands Weg zur Bundesrepublik, 1976; R. Opitz, Politische Ideologiekonzeptionen im Vorfeld der Gründung der Bundesrepublik, in: Albrecht u. a. Geschichte der Bundesrepublik, 1979; A. Diller, Kultur nach dem Ungeist. Auf der Suche nach einem neuen Standort, in:/. Weber, Das Entscheidungsjahr 1948, 1979. H. Glaser, Als die Republik geboren wurde, Frankfurter Hefte 9/1978. K. S. Bader, Aufgaben und Methoden des Rechtshistorikers, 1951; H. Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 1950; P. Koschaker, Europa und das römische Recht, 1947; H. Thieme, Ideengeschichte und Rechtsgeschichte, Festschr. J. v. Gierke, 1950; Th. Viehweg, Topik und Jurisprudenz, 1953; F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 1952. V. Klemperer, LTI (Lingua tertii imperii), 1946; H. Dolle, Vom Stil der Rechtssprache, 1949.
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Michael Stolleis und Dieter Simon
in die Gegenwart 12 . Die rechtshistorische Zunft als ganze - wenn diese Abbreviatur einmal erlaubt ist — handelte im wesentlichen weiter so, wie es Mitteis beschrieben hatte: „Sie ließ sich in immer erneuter Entdeckerfreude von einem Stoffgebiet zum andern tragen, häufte ihr Material zu Bergen von schwindelnder Höhe, interpretierte ihre Quellen eingehend - aber doch meist unreflektiert, vom Standpunkt eines naiven Realismus a u s . . ." 1 3 , wobei, so möchte man Mitteis ergänzen, die Ordnungskategorien der idealistischen Philosophie insbesondere hegelscher Prägung entstammten. So war die Rechtsgeschichte auf die Methodendiskussion, wie sie im Gefolge der Studentenbewegung in allen geisteswissenschaftlichen Fächern geführt wurde, schlecht vorbereitet. Die plötzlich erhobenen Forderungen nach einer „emanzipatorischen Rechtsgeschichte" 1 4 , nach einer „materialistischen Methode" 1 5 , sowie das Ziel „durch eine materialistische Geschichtstheorie auch hier die notwendige historische Orientierung im Handeln wiederherzustellen" 16 , stießen auf indignierten Widerstand. Gegen die Forderungen war nicht nur einzuwenden, daß die Rechtsgeschichte in ihren qualitätvolleren Beiträgen schon immer getan habe, was hier „materialistisch" genannt wurde, nämlich die sozialen und ökonomischen Bedingungen zur Entstehung von Rechtsnormen einzubeziehen, sondern auch, daß die hier gesuchte „Handlungsorientierung" nichts anderes sei als eine neue Metaphysik der Geschichte. Die Ersetzung von Hegel durch Marx bedeute wissenschaftstheoretisch ge-
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F. Wieacker, Notizen zur rechtshistorischen Hermeneutik, Nachr. d. Akad. d. Wiss. in Göttingen, Phil. Hist. Kl. 1963; ders. Der gegenwärtige Stand der Disziplin der neueren Privatrechtsgeschichte, Eranion Maridakis, 1963 I, 339-366; ders. Zur Methodik der Rechtsgeschichte, Festschr. Schwind 1978, 355; ders. Methode der Rechtsgeschichte, Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte, 19. Lieferung, Sp. 518-526; ders. Besprechung von H. Coing, Aufgaben des Rechtshistorikers, 1976, in: Zeitschr. f. Histor. Forschung 1978, 81-86; ders. Vorbedingungen und aktuelle Grundfragen einer rechtshistorischen Methodik, ARSP 1980, 2-15. Mitteis, Vom Lebenswert der Rechtsgeschichte, 7. H. Lau, Möglichkeiten einer emanzipatorischen Rechtsgeschichte, in: C. U. Schminck-Gustavus (Hrsg.), Bericht über ein Rechtshistoriker-Symposium an der Universität Bremen, 1976. U. Wesel (Anm. 1). U. Wesel {Anm. 1), 346. Vgl. hierzu]. Rückert, Zur Erkenntnisproblematik materialistischer Positionen in der rechtshistorischen Methodendiskussion, Zeitschr. f. Histor. Forschung 1978, 257.
Vorurteile und Werturteile der Forschung
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rade keinen Fortschritt, sondern Verharren in den Denkkategorien und Bezugsrahmen des 19. Jahrhunderts. Seither ist die Frage nach den Methoden der Rechtsgeschichte außerhalb der Beiträge Wieackers wenig vorangekommen 1 7 . Die Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, die führende des Fachs, ist Methodenproblemen bisher ebenso ausgewichen wie einer Behandlung des Nationalsozialismus und der juristischen Zeitgeschichte. Die Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte, die diese Lücken füllen könnte, erscheint erst seit 197918. 2. In dieser Situation können Bemerkungen zum Thema nur vorläufigen und fragmentarischen Charakter haben. Sie sollen keinesfalls die Methodendebatte von Ranke und Droysen bis zur Gegenwart am Exempel des nationalsozialistischen Rechts nachvollziehen. Vielmehr geht es um einige Beobachtungen aus der eigenen rechtshistorischen Arbeit. Sie besagen, daß sich die Literatur zur Rechtsgeschichte des Nationalsozialismus, wie sie sich seit 1945 in der Bundesrepublik Deutschland entwickelt hat, von der übrigen rechtshistorischen Literatur durch einige Besonderheiten unterscheidet. a) Faßt man zunächst die Autoren ins Auge, so fällt der vergleichsweise hohe Anteil ehemaliger Richterund Verwaltungsbeamter auf. Während die rechtshistorische Forschung über Fragen von der Antike bis ins 19. Jahrhundert voll professionalisiert ist, d. h. von Wissenschaftlern an den Universitäten, in außeruniversitären Instituten oder in Archiven betrieben wird, haben sich zur Rechtsgeschichte des Nationalsozialismus Juristen und Nichtjuristen zu Wort gemeldet, die nicht im üblichen Sinn als „Rechtshistoriker" bezeichnet werden können. Dies ist einerseits eine große Bereicherung, es mildert die Isolation wissenschaftlichen Arbeitens und kann zu fruchtbarem Kontakt mit Nachbarwissenschaften führen. Andererseits ist die Gefahr des Dilettantismus und Subjektivis17
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Vgl. oben A n m . 12 die Auseinandersetzung Wieackers mit H. Coing, A u f g a b e n des Rechtshistorikers, 1976 sowie P. Landau, Bemerkungen zur Methode der Rechtsgeschichte, Zeitschr. f. N e u e r e Rechtsgeschichte 1980, 117-131. H r s g g . v. W. Brauneder, P. Caroni, B. Diestelkamp, C. Schott, D. Willoweit, M a n z 'sche Verlags- u. Universitätsbuchhandl. W i e n . Zum Stand der rechtshistorischen Forschung über den Nationalsozialismus vgl. M. Stolleis, Nationalsozialistisches Recht, in: H a n d w ö r t e r b u c h z u r Deutschen Rechtsgeschichte, 20. Lief. (1981) Sp. 873-892.
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Michael Stolleis und Dieter Simon
m u s h ö h e r , weil eine kritische A u s w a h l und Interpretation der Q u e l l e n nicht gesichert sind. D i e G r e n z e n zwischen Analyse und Selbstdarstellung w e r d e n auf diese Weise u n s i c h e r , zumal dann, w e n n der A u t o r s e l b s t a n i r g e n d e i n e r S t e l l e i m J u s t i z a p p a r a t des N S - S t a a t e s tätig w a r . B e i s p i e l e h i e r f ü r s i n d die B ü c h e r d e r e h e m a l i g e n R i c h t e r S c h o r n , W e i n kauff und Schweling19. D i e Untersuchung von O t t o Peter Schweling „Die deutsche Militärjustiz in der Zeit des Nationalsozialismus", Marburg 1977, ist für die genannten Gefahren geradezu paradigmatisch geworden. Ihr Verfasser war selbst Richter bei der Luftwaffe gewesen, und er wurde bei der Materialsammlung und -auswahl von der Vereinigung ehemaliger Heeresrichter unterstützt. Die Auseinandersetzungen um die Veröffentlichung des M a n u skripts zwischen dem Autor und dem Münchner Institut für Zeitgeschichte sowie die Diskussion um den W e r t des dann nach dem T o d des Verfassers von Erich Schwinge veröffentlichten Werkes wiesen bezeichnende F r o n t e n auf: Gegen das Institut für Zeitgeschichte, dessen wissenschaftlicher Beirat die Veröffentlichung abgelehnt hatte, standen ehemalige H e e resrichter oder sonst am Geschehen Beteiligte, unterstützt von Artikeln in der „Deutschen National-Zeitung" und im N P D - O r g a n „Deutsche Wochenzeitung" 2 0 . Eine Analyse der Standpunkte kann hier nicht gegeben werden, doch ist schon aus diesen Angaben erkennbar, welche Schwierigkeiten sich der Verständigung über den wissenschaftlichen E r trag einer Untersuchung entgegenstellen, wenn der A u t o r und seine Freunde keine Fachhistoriker sind, ihre Gefühle und ihr massives Interesse an einem bestimmten Ergebnis ungebremst einfließen lassen und Kritik an der Methode nur als Folge politischer Voreingenommenheit deuten können. A u s g a n g s p u n k t bei der E r f a s s u n g j e n e r „ B e s o n d e r h e i t e n " ist also eine l i t e r a r i s c h e S z e n e r i e , in der H i s t o r i k e r u n d N i c h t h i s t o r i k e r A u s s a g e n z u g e s c h i c h t l i c h e n T a t b e s t ä n d e n m a c h e n , w o b e i l e t z t e r e in e i n e r V i e l z a h l v o n F ä l l e n a k t i v e J u r i s t e n in d e n J a h r e n 1 9 3 3 b i s 1 9 4 5 w a r e n . D e r k r i t i s c h e U m g a n g m i t d e n Q u e l l e n u n d das W i s s e n s c h a f t s i d e a l g r ö ß t m ö g l i c h e r O b j e k t i v i t ä t sind h i e r , u m es n e u t r a l z u s a g e n , in a n d e r e r
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H. Schorn, Der Richter im Dritten Reich, 1959; H. Weinkauff, Die deutsche Justiz und der Nationalsozialismus, 1968; O. P. Schweling, Die deutsche Militärjustiz in der Zeit des Nationalsozialismus, 1977. F. K. Fromme, Wie Militärgerichtsbarkeit wirklich war, FAZ v. 10. 7. 1978; M. Broszat, Der Streit um die Wehrmachtsgerichtsbarkeit, FAZ v. 30. 10. 1978; A. C. Deutsche Militärjustiz im Prüfstand. Ein fragwürdiger Rechtfertigungsversuch, Neue Zürcher Zeitung v. 19. 9. 1978; M. Stolleis, Besprechung von Schweling, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 1978, 650-654.
Vorurteile und Werturteile der F o r s c h u n g
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Weise beeinträchtigt als in sonstigen Bereichen der Geschichtswissenschaft. b) Kein spezielles Problem dieses Sachbereichs, wohl aber ein hier besonders intensiv erfahrenes ist der emotionale Bezug, den die Autoren zu ihrem Gegenstand haben. Der Nationalsozialismus war nicht nur eine Diktatur unter anderen, er hat seine Spuren auch in die Psyche mehrerer Generationen eingegraben. Wer ein Buch über den Gegenstand schreibt, von dem kann man annehmen, daß er in irgendeiner Weise davon „betroffen" ist. Das gilt für die Emigranten so selbstverständlich wie für die, die „dabeigewesen" sind. Auch deren Söhne und Enkel können ihren Emotionen nicht entrinnen. Die Autoren sind allerdings in unterschiedlicher Weise mit ihren Emotionen umgegangen. Sie haben sie teils offen ausgesprochen, teils zu überwinden gesucht, und sie haben ihnen unterschiedlichen Einfluß auf die wissenschaftliche Arbeit eingeräumt. Zum Teil haben Wissenschaftler, die für Arbeiten über das NS-Recht prädestiniert gewesen wären, gerade durch ihr Schweigen über „diesen Gegenstand" ihren emotionalen Bezug ausgedrückt. c) Eine weitere Besonderheit dieses historischen Sachbereichs sind die politischen, also auch das heutige geltende Recht beeinflussenden, Folgen des Nationalsozialismus. Auf alle an der Erforschung des N S Rechts Beteiligten wirken, ob sie wollen oder nicht, die vom Nationalsozialismus verursachte deutsche Teilung, die in der Bundesrepublik und in der D D R verschieden internalisierten politischen Prämissen, Sprachregelungen und Denkverbote. Daß dies die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus, aus dem das eigene Gemeinwesen hervorgegangen ist, ganz wesentlich beeinflußt, kann vorausgesetzt werden. Eine gesamtdeutsche Diskussion über den Nationalsozialismus oder gar über das Spezialgebiet des nationalsozialistischen Rechts findet bekanntlich nicht statt. Die wenigen Rechtshistoriker der D D R , die Verbindung zum Westen halten konnten und können, gehören der älteren Generation an, die sich dort - wie die ältere Generation hier - vom Thema strikt ferngehalten hat. d) Damit ist ein vierter Punkt berührt: das Generationenproblem,das nicht nur bei der emotionalen Besetzung des Forschungsgegenstandes eine Rolle spielt, sondern auch einen schwer faßbaren und selten öffentlich benannten Einfluß auf die Forschung hat. D a sich viele Hochschul-
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Michael Stolleis und Dieter Simon
lehrer selbst dem Gebiet nur mit U n b e h a g e n nähern - sei es aufgrund eigener Verstrickung oder aus Rücksicht auf den Kollegen oder L e h r e r - , haben sie vermutlich Schüler, die hierüber zu arbeiten wünschten, nicht gerade ermuntert, womöglich sogar direkt davon abgehalten. Auf diese Weise wirkt die verständliche Zurückhaltung der selbst involvierten Wissenschaftler mindestens auf die nächste Schülergeneration fort. E s erscheint mir bezeichnend, daß die in der Bundesrepublik entstandenen Dissertationen und Habilitationen z u m N S - R e c h t m . W . ausnahmslos von Hochschullehrern betreut w o r d e n sind, die mit dem N a tionalsozialismus nichts zu tun hatten. M a n darf wohl auch vermuten, daß vor 1965 ein Habilitationsversuch zu diesem T h e m a auf große Schwierigkeiten gestoßen wäre. N i e m a n d hat jedenfalls einen solchen Versuch unternommen, woraus sich viel schließen läßt. Erst die in diesen Jahren auf studentischen D r u c k zustandegekommenen Ringvorlesungen 2 1 haben eine gewisse „Schwellenangst" beseitigt. 3. D i e bisher genannten Punkte, die Zurückhaltung der akademischen Rechtsgeschichte und der starke Anteil ehemaliger Richter an der literarischen Aufarbeitung, die wohl unausweichliche Emotionalisierung, die deutsche Teilung und ihre politischen Folgen sowie das Generationenproblem in der Wissenschaft bilden den Hintergrund für einige verbreitete Redeweisen, in denen sich vieles ausdrückt, was bei der E r f o r schung des N S - R e c h t s Schwierigkeiten bereitet. Zunächst hört man o f t : „ U b e r den Nationalsozialismus zu sprechen ist es noch nicht an der Zeit" 2 2 (a), ebenso wie umgekehrt die Meinung vertreten wird, es sei jedenfalls für die Jüngeren schon wieder zu spät: „ N u r wer diese Zeit erlebt hat, kann sie verstehen" (b). Weiter ist gängig: „ N u r der Jurist kann sich z u m N S - R e c h t kompetent äußern" (c), „ E i n e U n t e r s u c h u n g der NS-Zeit muß anders angegangen werden als eine solche über Rechtsideen der Karolinger" 2 3 (d) und schließlich: 21
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Deutsches Geistesleben und Nationalsozialismus, hg. v. Flitner, 1965; Nationalsozialismus und die deutsche Universität, 1966; Die deutsche Universität im dritten Reich, 1966. Die Gießener Vorlesungen finden sich in Kritische Justiz 1968, 108; 1969, 58, 146, 221, 367. - 1979 haben zwei weitere Ringvorlesungen in Marburg und Berlin stattgefunden, deren Publikation noch aussteht. G. Dahm, Deutsches Recht, 1951, 332. Vgl. daneben ders. Deutsches Recht 1944, §§ 9, 10, 18 ff und die dort zu findende breite Darstellung des NS-Rechts. Th. Rasehorn, Rezension von Anderbrügge, Völkisches Rechtsdenken, 1978, in: Recht und Politik 1978, 234.
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„Wenn es um die Beurteilung dieser E p o c h e geht, so ist jeder betroffen und zur persönlichen Stellungnahme gezwungen. M e h r als überall sonst m u ß hier die Geschichte als Lehrmeisterin der Gegenwart verstanden werden" 2 4 (e). D i e in diesen Formulierungen enthaltenen Vorurteile und Werturteile haben eine gemeinsame Intention. Sie versuchen die F o r s c h u n g über den Nationalsozialismus oder das R e c h t im Nationalsozialismus in bestimmter Weise zu lenken. E s finden R e d u k t i o n e n statt, wobei eine Vorstellung, wie geforscht werden und wer forschen solle, zugrundegelegt wird. In der zuletzt genannten Formulierung (e) wird zunächst die Unausweichlichkeit der persönlichen Stellungnahme behauptet und dann ein Ziel der historischen Arbeit vorgegeben, die Belehrung der G e genwart, wodurch andere Ziele zweitrangig werden oder ganz ausscheiden. Insofern liegt auch hierin eine R e d u k t i o n . Offensichtlich haben die genannten Vorurteile und Werturteile einen jeweils eigenen historischen und gruppenspezifischen K o n t e x t . D i s k u tiert man losgelöst vom K o n t e x t mit den Mitteln der Wissenschaftstheorie, wie dies in Teil II vor allem geschehen wird, „wahr" und „falsch" der darin enthaltenen Aussagen und die Plausibilität der Werturteile und Imperative, so liefert man primär einen Beitrag zur M e t h o d i k der Rechtsgeschichte „am E x e m p e l " jener Vorurteile und Werturteile. Ist man dagegen unter Einbeziehung des Kontextes daran interessiert, wann und in welcher A b s i c h t die genannten Formulierungen gebraucht werden, dann ist das Erkenntnisinteresse „historisch". E s geht dann um die Erklärung bestimmter typischer Verhaltensweisen von ( R e c h t s - ) H i storikern der Nachkriegszeit und um die wissenschaftsgeschichtlichen Auswirkungen solcher Verhaltensweisen. D i e s ist der Z w e c k der folgenden B e m e r k u n g e n . (a) „ Ü b e r den Nationalsozialismus zu sprechen ist es noch nicht an der Zeit. D i e unabsehbaren Veränderungen, die er in der W e l t hervorgerufen, die Katastrophe, die mit dem zweiten Weltkrieg über große Teile
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H. Hattenhauer, Die geistesgeschichtlichen Grundlagen des deutschen Rechts, 2. Aufl. 1980, 298. Inder 1. Aufl. von 1971 lautete die Passage: „Wenn es um die Beurteilung dieser Epoche der Geschichte geht, so ist jeder Partei und zur parteilichen Stellungnahme g e z w u n g e n . . . " . Zu dem hier offenbar ganz unbefangen verwendeten Wort „parteilich" vgl. H. Rumpier u n d J . Kocka, in: Koselleck - Mommsen - Riisen, O b j e k tivität und Parteilichkeit, 1977.
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Europas und namentlich über Deutschland hereingebrochen ist, haben Leidenschaften erregt, die das sachliche Urteil erschweren... Darum sollte sich die Wissenschaft des preisenden und beschimpfenden Urteils enthalten. Leistung und idealistisches Wollen auf der einen, Verbrechen und Schuld auf der anderen Seite in das richtige Verhältnis zu setzen, diese Aufgabe setzt eine Distanz des Urteils voraus, die in der Gegenwart noch nicht erreicht ist, vielleicht noch nicht erreicht werden kann" 2 5 . Dies ist eine Position aus dem Jahre 1951, eingenommen von einem der wissenschaftlichen Protagonisten des NS-Strafrechts. Sowohl der kurze zeitliche Abstand als auch die eigene Verstrickung des Autors machen diese Position ohne weiteres verstehbar. Sie war in den ersten Jahren der Nachkriegszeit sowohl in der Wissenschaft als auch im Alltag ungemein verbreitet. Indem sie für spätere Zeiten ein Urteil „sine ira et studio" erwartete, hielt sie die Möglichkeit einer positiveren Beurteilung des Nationalsozialismus in der Zukunft offen und kritisierte gleichzeitig die damals herrschenden, eindeutig negativen Urteile, die, wie sich Dahm ausdrückte, „maßlose Verwerfung und Herabsetzung der geschichtlichen K r ä f t e . . . , die das deutsche Schicksal zwischen 1933 und 1945 bestimmten". Je weiter die Zeit voranschreitet und je mehr die Geschichtswissenschaft durch nüchterne Analysen beweist, daß die Zeit inzwischen zur Beurteilung des Phänomens „reif" geworden ist, desto schwieriger ist die Abwehrstrategie durchzuhalten, die dem Historiker jenes „noch nicht" zuruft. Dies zeigt sich etwa bei Robert Scheyhing, der die Ausklammerung des Nationalsozialismus aus seiner verfassungsgeschichtlichen Darstellung von 1968 damit begründete, daß die Kompetenz des Historikers hier an ihre Grenze stoße. Diese Grenze sei dort erreicht, w o die jüngste Vergangenheit so stark auf die entscheidungsorientierte Gegenwart einwirke, daß die Distanz zum Gegenstand verloren gehe, insbesondere dann, wenn sich die Gegenwart als bewußte Gegenwelt zur Vergangenheit begreife: „Demgemäß hat die rechtsgeschichtliche Betrachtung den Zeitraum der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland nicht zu berücksichtigen, der heute eher dem Philosophen und Dogmatiker des Rechts zugehört denn dem Historiker" 2 6 . Es ist anzuerkennen, daß nach aller Erfahrung gewisse zeitliche Ab25 26
Dahm, Deutsches Recht, 1951, 332 f. R. Scheyhing, Deutsche Verfassungsgeschichte der N e u z e i t , 1968, 10.
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stände und bestimmte faktische Voraussetzungen notwendig sind, um höhere Grade der Objektivierung zu erreichen. Die zeitlichen Abstände werden länger sein, je stärker die darzustellende Epoche von ideologischen Kämpfen erschüttert wurde, deren Nachwirkungen der Geschichtsschreiber selbst noch unterliegt. Dies ist beim Nationalsozialismus bekanntlich in hohem Maße der Fall und sowohl Bundesrepublik als auch D D R sind als jeweils verschiedene Gegenwelten („historische Antworten") auf ihn gegründet und legitimiert worden, beide verlangen von ihren Bürgern die politische Verwerfung des „Faschismus". An faktischen Voraussetzungen sind vor allem die Zugänglichkeit der Quellen sowie die normative Garantie und faktische Praktizierung der Wissenschaftsfreiheit zu nennen. Ein gutes Jahrzehnt später ist die Ausklammerung des Nationalsozialismus aus der Rechts- und Verfassungsgeschichte, bei aller Anerkennung der Problematik der „ N ä h e " , offenkundig nicht mehr haltbar. Der Nationalsozialismus ist „historisch", mit allen Konsequenzen für die Geschichtswissenschaften einschließlich der Rechtsgeschichte. Ein Abschieben des Themas auf Philosophie oder Dogmatik des Rechts ist nicht mehr möglich. Vielfältige historische Forschungen zum NS-Recht haben dem Abwehrargument des „noch nicht" faktisch den Boden entzogen. (b) Der zweite Topos, nur derjenige könne sich ein Urteil über die Zeit erlauben, der in ihr gelebt habe 27 , wird durchweg von Älteren gegen Jüngere eingesetzt, wobei der Altere unter Berufung auf unmittelbare Anschauung und Erfahrung gegen „angelesenes Wissen" operiert. Eine solche Argumentation hat nichts an sich, was für den Nationalsozialismus spezifisch wäre. Sie findet sich überall, wo derjenige, der „dabeigewesen" ist, seine „authentische" Interpretation gegen andere durchsetzen möchte. In dieser Weise ist nicht nur zwischen ehemaligen Nationalsozialisten und ihren Kindern, sondern auch zwischen alten und jungen Kommunisten, Sozialdemokraten, Christen, zwischen Eltern und Kindern über Werturteile zum damaligen Verhalten diskutiert worden.
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In diese Richtung etwa Weinkauff, J Z 1970, 54; Schwinge, in Schweling (Anm. 19) 152 sowie in der Leserbriefdebatte um die Militärgerichtsbarkeit; A. Tilmann: „Die Verhältnisse vor und im ,3. Reich' können nur von denen beurteilt werden, die sie selbst miterlebt und durchgestanden haben" (FAZ v. 17. 3. 1980).
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Die Verwendung des Topos wird so lange anhalten, wie es noch Personen gibt, die „dabeigewesen" sind. Unbestreitbar ist der, der als Beobachter und/oder Handelnder einen Vorgang selbst miterlebt oder mitgestaltet hat, für den von ihm überschauten Sektor informierter als derjenige, der über die Interpretation von zumeist schriftlichen Quellen eine Rekonstruktion komplexer Handlungsabläufe versucht. Richtig ist auch, daß in Diktaturen und im Zeitalter des Telefons Akten allein nur begrenzten Aussagewert haben 28 . Unübersehbar sind jedoch auch die Fehlerquellen, die der privilegierten Position des zeitgenössischen Beobachters oder Akteurs entspringen. Der Handelnde ist oft Verfasser interessanter Tagebücher und Memoiren, ist aber erfahrungsgemäß überfordert, wenn er gleichzeitig auch sein eigener distanzierter Historiker sein soll. Der tief menschliche Wunsch, die Vergangenheit und die eigenen Leistungen in ihr in eine positive Beleuchtung zu tauchen, kollidiert unweigerlich mit dem Anspruch objektiver Darstellung und Bewertung. Dieses bekannte Phänomen läßt sich bei Memoirenschreibern von Bismarck, Churchill und de Gaulle bis zu Brüning, Adenauer und Carlo Schmid studieren. Streng durchgeführt würde die These, nur der könne kompetent über eine Zeit reden, der sie erlebt hat, zum Ende der Geschichtsschreibung überhaupt führen, vorausgesetzt man versteht unter Geschichtsschreibung mehr als eine Sammlung von Erlebnisprotokollen. (c) „Nur der Jurist kann sich zum NS-Recht kompetent äußern". Auch in der vorsichtigeren Form, nur der Rechtshistoriker sei in der Lage, die spezifisch juristischen Fragen zu den Bedingungen des Rechtssystems im Nationalsozialismus zu beantworten, wird die These selten so explizit ausgesprochen. Doch besteht bei der Erforschung des NS-Rechts ein nur durch wenige rühmliche Ausnahmen gelockertes Juristenmonopol, das die Historiker auch hinzunehmen scheinen: „Es ergab sich aus der Natur des Forschungsgegenstandes (!)", sagte etwa Helmut Krausnick im Geleitwort zu Band 1 der Reihe „Die deutsche Justiz und der Nationalsozialismus", „daß seine wissenschaftliche Behandlung überwiegend Juristen zufiel" 29 . 28
29
F. P. Kahlenberg, Archivalische Quellen zur Verwaltungsgeschichte, in: R. Morsey (Hrsg.), Verwaltungsgeschichte, 1977; P. Hüttenberger, Gegenwärtige Forschungsansätze der Zeitgeschichte, in: Der Archivar 32 (1979) 23 ff. Die deutsche Justiz und der Nationalsozialismus, Bd. 1, 1968, Geleitwort.
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W e n n dies b e d e u t e n o d e r den E f f e k t h a b e n sollte, daß n i e m a n d „von a u ß e n " die R o l l e der J u r i s t e n im N S - S t a a t zu beurteilen h a b e , d a ß „ V e r f e h l u n g e n " g e w i s s e r m a ß e n intern s a n k t i o n i e r t u n d W o h l v e r h a l t e n i n tern h o n o r i e r t w ü r d e n , dann wäre die T h e s e v o n v o r n h e r e i n i n a k z e p t a bel. D i e h i s t o r i s c h e U n t e r s u c h u n g eines b e s t i m m t e n gesellschaftlichen S e k t o r s i m N a t i o n a l s o z i a l i s m u s kann nicht durch die b e t r o f f e n e W i s senschaftsdisziplin m o n o p o l i s i e r t w e r d e n . D i e f o r m a l z u n ä c h s t zuständige R e c h t s g e s c h i c h t e ist T e i l der allgemeinen G e s c h i c h t s w i s s e n s c h a f ten, u n g e a c h t e t ihrer t h e o r e t i s c h nicht z w i n g e n d b e g r ü n d b a r e n (aber sinnvollen) Stellung in der J u r i s t e n a u s b i l d u n g 3 0 . D e s h a l b sind die h i s t o rischen D i s z i p l i n e n alle in irgendeiner W e i s e für die E r f o r s c h u n g des N S - R e c h t s zuständig. D i e juristische F a c h s p r a c h e und die S c h w i e r i g keiten der U b e r s e t z u n g d o g m a t i s c h e r P r o b l e m e in die A l l t a g s s p r a c h e stehen d e m prinzipiell nicht entgegen. I m allgemeinen w i r d die T h e s e daher auch in a b g e s c h w ä c h t e r F o r m v e r s t a n d e n , etwa in d e m Sinne, daß J u r i s t e n einen fachlichen V o r s p r u n g in der B e h e r r s c h u n g der T e r m i n o l o g i e und in der E r f a s s u n g d e r spezifisch „ j u r i s t i s c h e n " Fragestellungen h a b e n . O b dies für die K o n s t i t u ierung eines eigenständigen F o r s c h u n g s s e k t o r s „ R e c h t s g e s c h i c h t e " ausreicht, w i r d in T e i l I I e r ö r t e r t . H i e r soll n a c h den F o l g e n gefragt w e r den, die sich ausweislich der bisher von J u r i s t e n vorgelegten U n t e r s u c h u n g e n z u r R e c h t s g e s c h i c h t e des N a t i o n a l s o z i a l i s m u s aus dem praktizierten J u r i s t e n m o n o p o l ergeben. E s sind m e i n e s E r a c h t e n s v o r allem negative F o l g e n gewesen, s o w e i t nicht die juristische K o m p e t e n z der A u t o r e n d u r c h eine e n t s p r e c h e n d e historische Sicht ausbalanciert w u r de. (aa) J u r i s t e n gehen u n w i l l k ü r l i c h und g e m ä ß den M a x i m e n i h r e r A u s bildung v o m geltenden R e c h t aus, e n t n e h m e n von d o r t die leitenden G e s i c h t s p u n k t e und B e w e r t u n g s m a ß s t ä b e . So hat etwa Rudolf Echterhölter bei seiner Darstellung des öffentlichen Rechts im Nationalsozialismus den Stoff nach „den verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen und Grundsätzen" gegliedert, „wie sie sich heute - gerade auch nach den Erfahrungen unter dem Nationalsozialismus - herauskristallisiert haben. Um sie herum wurde der Stoff auch dann gruppiert, wenn sich entsprechende Grundsätze noch nicht in der Weima-
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Vgl. dazu D. Simon, Rechtsgeschichte, in: A. Görlitz (Hrsg.), Handlexikon zur Rechtswissenschaft, 1972 und seine Ausführungen unten Anm. 49.
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rer Verfassung fanden und die dargestellte Rechtsprechung sich daher aus damaliger Sicht nicht ausdrücklich mit verfassungsrechtlichen Fragen befaßte" 31 . D i e s e s V e r f a h r e n ist unhistorisch u n d widerspricht d e m allgemein akzeptierten m e t h o d i s c h e n Prinzip, eine Zeit m ü s s e an ihren eigenen Präm i s s e n g e m e s s e n , ihre D o k u m e n t e aus ihrem eigenen K o n t e x t heraus verständlich gemacht werden. D a s G r u n d g e s e t z , k o n z i p i e r t als politische A n t w o r t auf die E r f a h r u n g e n im N a t i o n a l s o z i a l i s m u s , k a n n nicht die historisch „ r i c h t i g e " Elle sein, an der der N a t i o n a l s o z i a l i s m u s gemessen wird. ( b b ) Weiter sind J u r i s t e n gewohnt, sich v o n straf- u n d zivilrechtlichen K a u s a l - u n d V e r s c h u l d e n s m o d e l l e n lenken zu lassen. D i e d e m juristischen D e n k e n eigentümliche B e g r e n z u n g v o n V e r u r s a c h u n g und S c h u l d i. S. v o n subjektiver „ Z u r e c h e n b a r k e i t " blendet aus G r ü n d e n der Individualgerechtigkeit ganze Kausalreihen aus, die den H i s t o r i k e r d u r c h a u s interessieren könnten. Beispiele hierfür sind nicht nur die genannten Bücher von Schorn, Weinkauff und Echterhölter, sondern vor allem wiederum das von Schweling über die Militärjustiz. Leitend ist jeweils die Frage, ob die betreffenden Juristen „Schuld" auf sich geladen haben, indem sie „nationalsozialistisches Gedankengut" in ihren Entscheidungen erkennen lassen. Hierfür werden Gruppen gebildet, die in fataler Weise den Kategorien der Entnazifizierungs-Fragebogen entsprechen32. Ahnlich fallen bei Echterhölter alle die „Teile des öffentlichen Rechts, die für nationalsozialistische Überlegungen nur wenig Anhaltspunkte boten", heraus 33 . Das bedeutet, daß weite Gebiete des öffentlichen Rechts mit Schweigen übergangen werden und daß die Relation zu jenen Teilen, die „Anhaltspunkte" boten, unklar bleibt. Der so verfahrende Autor verhält sich etwa wie der Zensor eines erotischen Romans, der einige „Stellen" anstreicht, aber Dialoge und Naturschilderungen überspringt. E i n e u n v o r e i n g e n o m m e n e - u n d z w a r auch durch die juristische O p t i k nach 1945 nicht „ e i n g e n o m m e n e " - historische E r f o r s c h u n g des N S R e c h t s m u ß sich v o n derartigen S c h u l d - K a t e g o r i e n u n d von der Fixier u n g auf die politisch interessanten P u n k t e befreien, w e n n sie z u einem a u s g e w o g e n e n G e s a m t b i l d k o m m e n will. 31
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R. Echterhölter, Das öffentliche Recht im nationalsozialistischen Staat ( = Die deutsche Justiz und der Nationalsozialismus, Bd. 2), 1970, 12. Hierzu im einzelnen meine Besprechung (Anm. 20). Echterhölter (Anm. 31), 11.
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(cc) Für den Juristen ist außerdem typisch, daß er zur Außerachtlassung, Unterdrückung oder Verdrängung außerjuristischer Motivationen systematisch erzogen wird. Er lernt in der Ausbildung, daß er Sachverhalte so zu präparieren hat, daß die „Rechtsfrage" hervortritt. Diese Technik hat ihren guten rechtsstaatlichen Sinn, sie ist auch begründet in der Arbeitsteilung bei der Bewältigung sozialer Konflikte. Wird sie aber auf historische Sachverhalte umgesetzt, dann wirkt sie unmittelbar verfälschend; denn hier kommt es nicht zuletzt auf die „außerjuristischen" Motivationen an, hier interessiert die Verflechtung des Rechts mit der Gesamtheit seiner gesellschaftlichen Determinanten. Der Jurist, der gewöhnt ist, dies alles für rechtlich irrelevant zu halten, wird es schwer haben, anstelle des nur „rechtlich Relevanten" nun plötzlich die Gesamtheit der historischen Bedingungen in den Blick zu fassen. Juristische Darstellungen akzentuieren daher gewöhnlich das in Gesetzblättern und Entscheidungssammlungen auffindbare normative Gerüst der darzustellenden Vorgänge. Die zu diesen Normen hinführende, sie tragende und von ihnen gestaltete Wirklichkeit, zu deren Erfassung das juristische Studium kaum irgendwo systematisch anleitet, ist häufig auf einige allgemeine Bemerkungen reduziert, dd) In anderen Fällen ist es weniger die Beschränkung auf den normativen Befund, die die Perspektive verschiebt, als die Ausblendung ganzer Verfahrensstufen. So scheint es charakteristisch für die von Richtern verfaßten historischen Darstellungen zu sein, daß sie bei strafrechtlichen Vorgängen sowohl der polizeilichen Ermittlung (bzw. der Tätigkeit der Gestapo) als auch dem Strafvollzug wenig Aufmerksamkeit schenken. Sie konzentrieren sich vielmehr auf den Arbeitsbereich der Entscheidungstätigkeit, der ihnen auch im geltenden Recht zugewiesen ist. Es kommt hinzu, daß sie gewöhnt sind, die Vorgänge aus der Optik der Entscheidenden, nicht der Betroffenen, darzustellen. Auch zu einer distanzierten Stellungnahme über Funktionsweise und Funktion des gesamten Justizapparats als Stütze des nationalsozialistischen Herrschaftssystems sind sie als dienende Teile dieses Apparats kaum bereit. Auch hier würde von dem Einzelnen eine Doppelrolle verlangt, sowohl im System zu agieren als auch das System von außen mit Objektivitätsanspruch zu beschreiben. Dies überfordert ihn erfahrungsgemäß, (ee) Schließlich sind Juristen im Gegensatz zu den Historikern traditionell mit der Vorstellung aufgewachsen, das gesamte Recht bilde ein „System", es müsse daher im Prinzip widerspruchsfrei darstellbar und re-
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konstruierbar sein. Die Versuchung liegt nahe, ein System auch dort zu finden, wo die Wirklichkeit chaotisch war. So wie der Jurist im geltenden Recht bereit ist, den Vorwurf der Systemwidrigkeit sehr ernst zu nehmen, wird er geneigt sein, auch den Nationalsozialismus als „System", jedenfalls als „Unrechtssystem" zu deuten. Das führt zur Harmonisierung von Widersprüchen, die der Historiker ohne Skrupel beschreiben könnte und die in besonderer Weise sein Interesse wecken, während sie den Juristen zunächst einmal stören. Dies wird sich bei der Darstellung einer Diktatur wie des Nationalsozialismus, bei dem bekanntlich die fehlende Systematik „System" hatte, deutlicher als sonst auswirken. (d) „Eine Untersuchung der NS-Zeit muß anders angegangen werden als eine solche über Rechtsideen der Karolinger" 3 4 . Diese Ansicht ist verbreitet, zielt aber je nach Kontext in verschiedene Richtungen. Daß die Art der zu interpretierenden Quellen andere Methoden (Aktenstudium, Interviews) erfordert, liegt auf der Hand, stellt aber kein grundsätzliches Problem dar. Im wesentlichen werden in beiden Untersuchungen die schriftlichen Zeugnisse einer Epoche interpretiert. Häufiger ist mit der zitierten Ansicht gemeint, der Nationalsozialismus stelle ein so singuläres Phänomen der Geschichte dar, daß an ihm die üblichen Methoden der Historiker versagten. Wer dies meint, kann einmal eine dämonisierende Überhöhung des Nationalsozialismus beabsichtigen, vor dem die Geschichtswissenschaften wie vor einem unlösbaren Rätsel die Waffen zu strecken hätten, er kann aber auch darauf zielen, daß im Nationalsozialismus öffentliche Sprache und Realität besonders kraß auseinanderfielen 35 . So kann bei der Erforschung des NS-Rechts kritisiert werden, eine Untersuchung diskutiere rein geistesgeschichtlich die NS-Rechtstheorie, ohne sich um die Kluft zu kümmern, die diese Art Literatur von der Rechtswirklichkeit trennte. (e) Meistens ist jedoch etwas anderes gemeint, wenn Arbeiten über die NS-Zeit zu einer besonderen Spezies der Historiographie zusammengefaßt werden. Man erwartet hier von dem Historiker „parteiliche Stellungnahme" bzw. „persönliche Stellungnahme" (Hattenhauer) und eine spezifische pädagogische Quintessenz: „Mehr als überall sonst muß hier 34 35
Rasehorn (Anm. 23). So etwa Rasehorn, a.a.O.
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die Geschichte als Lehrmeisterin der Gegenwart verstanden werden" 3 6 . Nicht um prinzipiell andere Forschungsmethoden geht es also, sondern um das Ergebnis der Interpretation und seine Anwendung auf die Gegenwart. Eine auf die pädagogische Umsetzung verzichtende, kühl distanzierte Behandlung des Themas „Nationalsozialismus" wird offenbar als beunruhigend und vielleicht sogar als politisch unerträglich empfunden. Dahinter stehen der erwähnte emotionale Druck und der politische Wunsch, ein Regime wie das nationalsozialistische möge sich niemals wiederholen. Im Grunde geht es daher um die Objektivität historischer Darstellung, um den erhofften politischen Edukationseffekt. Hattenhauer spricht deshalb peiorativ von „angeblicher Objektivität und Unparteilichkeit", von der er fürchtet, sie könne das Gesamtbild „allzu versöhnlich" machen 37 . Er ist dabei offenbar motiviert durch die Sorge um die demokratische Erziehung der nächsten Generation. Deshalb verlangt er auch von der Geschichtswissenschaft einen besonders intensiven Gegenwartsbezug und eine klare demokratische Option. Es ist dies die vielleicht populärste Forderung, die an die Geschichtswissenschaft herangetragen wird: sie solle ihren gesellschaftlichen Nutzen erweisen, solle ihre Pflicht zu „politischer Pädagogik" (Th. M o m m sen) ernstnehmen und „Lehren" aus der Geschichte vermitteln. Oft wird dies mit dem Hinweis verbunden, daß ihre Vertreter schließlich auch aus Steuermitteln finanziert würden. In diesem Sinn erhofft sich der Germanist Peter Wapnewski Nutzen von der Geschichte „als Unterbau der jeweiligen G e g e n w a r t . . . als Chance, aus Vergangenem das Gegenwärtige zu begreifen und das Künftige zu vermuten: Dann ist Geschichte die redlichste Schutzwehr gegen die Verführung durch plakative Illusionen und penetrante Ideologie, gegen die Suggestion der heillosen Heilversprechung", und der Publizist Hermann Glaser fügt hinzu, ein solches Geschichtsverständnis „wäre gerade zum jetzigen Zeitpunkt besonders wünschenswert" 3 8 . Eine fast absolut herrschende Alltagsmeinung fordert nicht nur die Orientierung der Gegenwart an der Vergangenheit, sondern auch die Orientierung der Geschichtswissenschaft an der Gegenwart: „Geschichte kann man sinnvoll nur betreiben, wenn
Hattenhauer (Anm. 24). Hattenhauer, a.a.O. >8 Oben Anm. 9. 56 37
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man sie analysiert, um aus ihr zu lernen für das heutige Handeln" 3 9 . Auch die Historiker selbst sind sich zum großen Teil und oft unausgesprochen darin einig, die Geschichtswissenschaft müsse, indem sie Licht in die Vergangenheit werfe, auch die Gegenwart erhellen. Speziell der Historiker der Neuzeit, so heißt es, dürfe nicht kapitulieren „vor der Forderung nach Erklärung und künftiger Verhinderung, die der Nationalsozialismus uns vor aller Welt auferlegt hat" 40 . Im ehrwürdigen Streit um die Funktion der Geschichte - von Ciceros Formel „historia magistra vitae" über Nietzsches Unzeitgemäße Betrachtung „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben" zur Aufforderung von Jean Jaurès, aus der Geschichte das Feuer und nicht die Asche zu entnehmen - ist das die Wiederaufnahme der edukatorisch inspirierten Position der Aufklärungshistorie. Rankes Postulat, mit dem die moderne Geschichtswissenschaft beginnt, die Ereignisse sollten „unbekümmert um die Neigung oder Abneigung des Tages zu möglichst objectiver Anschauung vergegenwärtigt werden", war seinerzeit als Antithese zu jener Position entwickelt worden 41 . Die heute vorherrschende Ansicht möchte nun allerdings weder einem ungebrochenen Aufklärungsoptimismus huldigen, „die Mitwelt zum Nutzen zukünftiger Jahre zu belehren", noch möchte sie sich mit Rankes naivem Vertrauen identifizieren, man könne wirklich zeigen, „wie es eigentlich gewesen". Das philosophische Fundament des deutschen nachkantischen Idealismus, auf dem auch die marxistischen Varianten der Geschichtsphilosophie ruhen, trägt nicht mehr. Das wird freilich außerhalb der deutschen Grenzen deutlicher gesehen als innerhalb. Gleichzeitig ist Rankes Objektivitätsideal, trotz seiner Reformulierung durch Max Webers „Wertfreiheit", vielfältig angegriffen, teils als bürgerlicher Schutzschild für handfeste Interessen „entlarvt", teils als irrtümlich von denen belächelt, die sich ihrer Sendung und ihrer Subjektivität gewiß sind. Die Mehrzahl der Wissenschaftler sucht allerdings 39
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W. Abendroth, in:Döring-Kempen (Hrsg.), Sozialistengesetz, Arbeiterbewegung und Demokratie, 1979, 13. K. D. Bracher, Die deutsche Diktatur 2 , 1969, 535. R. Koselleck, Historia Magistra Vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte, in: Natur und Geschichte, Karl Löwith zum 70. Geburtstag, 1967, 196-219; D.Junker, Über die Legitimität von Werturteilen in den Sozialwissenschaften und der Geschichtswissenschaft, HZ211 (1970) 1 ;K. Achum, Analytische Geschichtsphilosophie, 1974; H. Lübbe, Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse, 1977.
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„Objektivität" auf der einen Seite mit dem „Nutzen für die Gegenwart" auf der anderen Seite zu verbinden. Man möchte das „Erkenntnisinteresse des Historikers an handlungsorientierendem Selbstverständnis" (Habermas) 4 2 anerkennen und nutzen, ohne die Historie zur Magd des politischen Vorverständnisses werden zu lassen. Man möchte in den Debatten des Tages nicht abseits stehen, als Sachverständiger für vergangenes Handeln auch das gegenwärtige Handeln steuern oder g a r - eine Spielart säkularisierten Priestertums - „Orientierung" jenen vermitteln, die nach Meinung der Historiker ihrer ermangeln. Diese Vermittlung von „handlungsorientierendem Selbstverständnis" soll aber, das ist das Entscheidende dabei, mit der Aura „objektiver Wissenschaftlichkeit" versehen werden. Die Lehren der Geschichte sollen auf diese Weise den Charakter der Privatmeinung des Historikers verlieren und in die Zone des wissenschaftlich Bewiesenen gerückt werden. Ein Teil der Historiker hält es demgegenüber weiter mit der Trennung von Subjekt und Objekt und leugnet die Möglichkeit der Ableitung eines Sollens aus vergangenem Sein 43 . Daraus folgt die Ablehnung einer Inpflichtnahme der Geschichtsschreibung durch die Gegenwart, auch wenn sie in bester politisch-edukatorischer Absicht angesonnen wird. Diese Historiker haben gewissermaßen ihre Ansprüche nach außen gesenkt; sie versprechen allenfalls, die von ihnen betriebene Wissenschaft könne normative Aussagen vorbereiten, unterstützen und ihre Plausibilität steigern. In dieser reduzierten Form hat die Rede von der Handlungsorientierung durch Geschichte ihren „rationalen Kern" (Simon) und insoweit scheint auch eine Diskussion über den pädagogischen Zweck der Beschäftigung mit Geschichte sinnvoll. Verbindliche Lehren darf man von der Geschichtswissenschaft jedoch nicht erwarten, solange sie ihr methodisches Prinzip, die Vermischung deskriptiver und präskriptiver Sätze für unzulässig zu halten, nicht verletzt. Die Vertreter dieser Position zahlen dafür den Preis, daß sie ihren gesellschaftlichen Nutzen nicht mit dem gleichen Nachdruck behaupten können wie die Mehrheit. Auch in der Tagespolitik können sie nicht auf dem Kothurn des Wissenschaftlers mitwirken, sondern müssen sich der Zur Auseinandersetzung mit Habermas vgl. K. G. Faber, Theorie der Geschichtswissenschaft, 4. Aufl. 1978, 183ff. m. w. Nachw. 43 J. R. Searle, How to derive „ought" from „is", Phil. Review 73 (1965) 43; TV. Hoerster, Zum Problem der Ableitung eines Sollens aus einem Sein in der analytischen Moralphilosophie, ARSP 55 (1969) 11 ; Winkler, Sein und Sollen, Rechtstheorie 1979, 257. 42
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üblichen Überzeugungsmethoden bedienen, die jedem Staatsbürger zur Verfügung stehen. Die Rechtshistoriker, die diese Position teilen — ich gehöre zu i h n e n - , betreiben die Erforschung des NS-Rechts also nicht wegen der eventuellen positiven Folgen für das aktuelle Recht oder für die junge Generation. Sie wollen weder die „Rechtsidee in der Geschichte" entdecken oder sich von vornherein auf die „Notwendigkeit" historischer Entwicklungsprozesse festlegen, noch Beiträge zur Dogmatik des geltenden Rechts liefern, so nützlich dies auch als Nebeneffekt sein mag. Gerade die Abkoppelung der Rechtsgeschichte von der Dogmatik des geltenden Rechts hat zu neuen Ergebnissen im Sinne größerer Annäherung an die individuelle geschichtliche Wirklichkeit geführt; denn „ein Text juristischer Offenbarung kann nicht zugleich Gegenstand des geschichtlichen Verstehens sein" 44 . Das Erkenntnisziel einer derart von den Ansprüchen des geltenden Rechts und der aktuellen Politik emanzipierten Rechtsgeschichte ist also eine möglichst umfassende, undogmatische und unparteiische Erhellung historischer Normstrukturen. Die Frage, „wozu" diese Erhellung angestrebt werde, kann nur individuell und auf Grund nicht weiter auflösbarer Wertentscheidungen beantwortet werden. O b diese Wertentscheidungen aus der „Geschichtlichkeit unserer eigenen Existenz" begründet werden, aus dem Bedürfnis nach „Selbstvergewisserung des Menschen hinsichtlich seiner eigenen unmittelbar zu ergreifenden und in sich selber einsichtigen ,Konstituentien' des menschlichen Daseins" 4 5 , ob aus dem Wunsch zu wissen, „in welcher Beziehung unsere Schwierigkeiten zur Vergangenheit stehen, wir möchten den Weg sehen, auf dem wir zur Lösung der von uns erfühlten und erwählten Hauptaufgabe fortschreiten können" 4 6 , ob aus
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F. Wieacker, Vom römischen Recht, 1944, 280; vgl. ders. Z R G Rom. Abt. 69 (1952) 342; ders. Textstufen klassischer Juristen, 1960, lOff.; ders. Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. 1967, 16: „ . . . ist der Erkenntnisauftrag der Rechtsgeschichte wie der jeder anderen Historie nicht im vorgegebenen Material der einzelnen Daten und Fakten und ihrem Nutzwert für die Gegenwart begründet..."; ders. in Eranion Maridakis (Anm. 12), 339, wo er die »Emanzipation der Forschung von einem autoritätsgebundenen Verhältnis zu ihren Rechtsquellen" als Voraussetzung für eine „reflektierte Rechtsgeschichte" bezeichnet. F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. 1967, 16. K. R. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. 2, 2. Aufl. 1970, 332. Siehe auch unten II.
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christlicher Glaubensentscheidung 47 , ob aus „Neugier" — was vielleicht nur eine Formel für das willkürliche Abbrechen der Suche nach mitteilbaren Begründungen ist - in jedem dieser Fälle wird die Antwort dem einzelnen Wissenschaftler überlassen und werden die von ihm verwendeten Methoden nicht zu einer abhängigen Variablen jener Antwort.
II. Dem methodologischen Auftrag bei diesem justizgeschichtlichen Kolloquium soll dadurch Rechnung getragen werden, daß zunächst drei Stichworte aus dem Text von Stolleis paraphrasiert (A) und danach einige Anmerkungen zu methodischen Grundlagenfragen beim Entwurf eines justizgeschichtlichen Forschungsprojekts formuliert werden (B). A. Bei den Stichworten handelt es sich einmal um das Paradoxon, daß für eine befriedigende Erforschung der nationalsozialistischen Justizgeschichte der zeitliche Abstand zu gering sei („die Zeit ist noch nicht reif") oder daß er bereits zu groß sei („nur wer dabei war, kann verstehen"). Ferner geht es um die These, daß Rechtsgeschichte eine Aufgabe sei, zu der sich nur der Jurist kompetent äußern könne, so daß nationalsozialistisches Recht eigentlich den Rechtshistorikern reserviert werden müßte. Schließlich wird die Frage, welche Absichten mit der Geschichtsschreibung des nationalsozialistischen Rechts verfolgt werden können, diskutiert. 1. Die Feststellung, der zeitliche Abstand zum Nationalsozialismus sei „zu gering", enthält eine Beobachtung und ein Werturteil. Die Beobachtung besteht darin, daß die Sicht auf die historischen Tatsachen sich mit zunehmender Entfernung vom Geschehen ändert. Es drängt sich der (von Historikern durchaus geschätzte) Vergleich mit räumlichen 47
R. Wittram, Das Interesse an der Geschichte 3 , 1968; ders. Anspruch und Fragwürdigkeit der Geschichte, 1969.
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Phänomenen auf. Der Nächststehende sieht nur die Steine einer Mauer, der Entferntere ein Haus, der Distanzierte eine Straße oder eine Siedlung usf. Das Werturteil geht dahin, daß die jüngere Sicht der älteren deswegen überlegen sei, weil man „mehr" sieht. Die Beobachtung ist wahr, das Werturteil akzeptabel. Der daraus abgeleitete Schluß, man könne oder müsse auf eine „Reifezeit" warten, ist nichtsdestoweniger verfehlt. Aus dem beobachteten und beurteilten Phänomen folgt lediglich die Notwendigkeit einer ständigen Neuinterpretation der Überlieferung jedenfalls solange, als das Schreiben von Geschichte für sinnvoll gehalten wird. Daß aber die Sichtänderung und mit ihr der Zwang zur Reinterpretation der Geschichte nicht zum Abschluß kommen, ist durch zwei wohlbekannte Sachverhalte sichergestellt. a) Es gibt keine „nackten" oder „rohen" Fakten, denn alle Fakten sind interpretiert durch das Bezugssystem des Historikers. Dieses Bezugssystem steuert bereits die Faktengewinnung, indem es das Wahrnehmungs- und Erkenntnisfeld („was sehe ich wie?") festlegt, es leitet außerdem die Faktenselektion nach bestimmten Präferenzregeln („was ist für meine Fragestellung wichtig?"). Wahrnehmungs- und Selektionskriterien sind selbst historische, d. h. sie sind Persönlichkeits- und gesellschaftsabhängig. Auch diejenigen, welche darauf bestehen, daß die Auffindung und die Auswahl des Ensembles der Daten noch nicht IriTfcrpretation sei, sondern erst Vorbereitung auf diese, können die Bedeutung jener Vorgänge für die Endlosigkeit der Sichtveränderung nicht mindern. Das „factum brutum" kann durch eine enge Bedeutungsfestlegung von „Interpretation" allenfalls sprachlich gerettet werden. b) Die Gegenwart enthüllt die Folgen vergangener Ereignisse. Da die Gegenwart für die Vergangenheit Zukunft war und diese uns unbekannt ist, mußten den älteren Deutern Folgen verborgen bleiben, die uns eine neue Wirklichkeit sichtbar macht. Wenn demnach die Reinterpretation unabweisbar unendlich ist, dann ist der Gedanke an eine Maturität des historischen Gegenstandes sichtlich unbrauchbar. Es kann daher dahinstehen, in welchem Umfang das Werturteil, wonach die folgende Interpretationsstufe der vorausgegangenen wegen der prinzipiell besseren „Sichtverhältnisse" überlegen sein müsse, billigenswert ist. Wer erkenntnistheoretisch der Idee von der relativen Wahrheit anhängt, kann sich jener Bewertung voraussichtlich
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leicht anschließen. Historiker scheinen, wie ihre eifrige Beteiligung an dem kontinuierlichen N e u d e u t u n g s p r o z e ß vermuten läßt, habituell zustimmungsbereit zu sein. Warten auf die Reifezeit ist aber nicht nur ein falscher, sondern auch ein gefährlicher G e d a n k e . D a uns nicht die Ereignisse, sondern Sätze über Ereignisse überliefert werden, ist jede Reinterpretation sachlich von einer vorausgegangenen Interpretation abhängig. O h n e sie ist G e schichte als Eintritt in den „endlosen D i a l o g zwischen Vergangenheit und G e g e n w a r t " (Carr) nicht möglich. D i e Diskriminierung der Sofortinterpretation läuft also auf ein Verbot von Geschichte hinaus, der vordergründig honorige (vgl. etwa die Vorstellung der Hermeneutik, daß erst das F r e m d g e w o r d e n e verstehbar sei) Vorschlag, man solle die Geschichte „ s p ä t e r " feststellen, erweist sich als ideologisch. A u s sozialpsychologischer Sicht wird man zumindest auch ein Verdrängungss y n d r o m von an den Ereignissen Beteiligten als mitwirkend diagnostizieren dürfen. 2. D i e Feststellung, der zeitliche Abstand sei „ z u weit", enthält erkenntnistheoretisch die Fetischisierung der Beobachtung. E s ist unstreitig, daß es für die historische Erkenntnis nicht entscheidend ist, ob sie der A k t eines Augenzeugen ist oder nicht, denn historische Erkenntnis existiert wie jede wissenschaftliche Erkenntnis per definitionem nur als intersubjektive. Der A u g e n z e u g e interessiert folgerichtig nur als Q u e l l e (z. B . Interviewpartner). D e r A u g e n z e u g e als Historiker ist dem nichtbeteiligten Historiker entgegen aller Alltagsmeinungen in der Regel sogar unterlegen, weil er das (selektiv) Erlebte für „ d i e " Wahrheit zu halten pflegt, während dem Historiker die Selektivität des Berichteten bewußt ist. 3. In der These, daß Rechtsgeschichte nur von Juristen kompetent betrieben werden könne, ist bereits vorausgesetzt, daß „Rechtsgeschichte" als eigenständiger Forschungssektor besteht - ein Grundlagenproblem, welches mit dem platten Hinweis auf die entsprechenden universitären Einrichtungen und die „ E x i s t e n z " von „Rechtshistorikern" nicht zu erledigen ist. Wieacker hat kürzlich (Festschrift Schwind, 1978, 358 ff) das Zusammenspiel von juristischem Erkenntnisinteresse einerseits und der „Kategorie des Rechtlichen in der menschlichen Wirklichkeit" andererseits für die Konstituierung der rechtshistorischen For-
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schungsprovinz in Anspruch genommen. Akzeptiert man diese These, dann fällt es schwer, auch Nichtjuristen die Kompetenz zur Rechtsgeschichte zuzusprechen. Denn abgesehen davon, daß es für die Formulierung juristischer Fragestellungen an vergangene Begebenheiten und Gegenstände zweifellos eine spezifische Zuständigkeit des juristischen Fachmannes gibt, wird dem Nichtjuristen durchgängig das „juristische Erkenntnisinteresse" und damit im Sinne Wieackers eine subjektive „Erzeugungsbedingung" für Rechtsgeschichte fehlen. Was auf den ersten Blick wie rüdes Revierdenken und die methodologische Verklärung einer bornierten Fachperspektive aussieht, erweist sich bei näherem Zusehen als äußerst fruchtbarer Abgrenzungsvorschlag. Wir können uns dabei auf die Erörterung des juristischen Erkenntnisinteresses beschränken. Denn das „objektive" Moment der Vorfindlichkeit spezifisch rechtlicher Regelungssysteme ist für die gerade aufgeworfene Frage selbst dann nicht entscheidungsrelevant, wenn sich nachweisen ließe, daß es auf (rechtshistorischer) Einbildung beruht. Die Richtung des besagten Erkenntnisinteresses bestimmt Wieacker dahin, daß sie auf das rechtlich Bedeutsame am (gesamten historischen) Material zulaufe; Erkenntnisziel sei die historische Rechtsordnung. Versucht man den Einwand, daß doch auch der Historiker an der vergangenen Rechtsordnung und insoweit an all jenen Perspektiven des Materials interessiert sein könne, denen „rechtliche Bedeutsamkeit" zukommt, stößt man auf eine in Wieackers Konzept nicht näher explizierte Voraussetzung von erheblicher Tragweite. Denn als Antwort, welche eine Differenz zwischen juristischer und historischer Sicht zuläßt, kommt einzig die Feststellung in Betracht, daß der Rechtshistoriker eben „als Jurist" seine Fragen stellt, d. h. daß sein Erkenntnisinteresse an seine juristische Denk- und Berufspraxis zurückgebunden ist48. Dem 48
Dies erlaubt einen Einblick in die Schwierigkeiten, die Rechtshistoriker und andere Juristen gelegentlich miteinander haben. Je mehr der historisch reflektierende Jurist seine Fragestellungen „als Historiker", d.h. etwa, aus dem Selbstverständnis einer vergangenen E p o c h e heraus, formuliert, umso deutlicher versteht er, bzw. wird ihm zu verstehen gegeben, daß diese Gesichtspunkte den Juristen nichts „angehen". Ganz anders ist die Lage, wenn aktuelle juristische Interessen die Forschung anleiten oder sonstwie ins Spiel k o m m e n und z. B . historische Argumente gebraucht werden. Das Aporetische dieser Situation liegt in dem Umstand, daß der kritische Rechtshistoriker unablässig daran arbeiten muß, sich nicht schon seine Fragestellungen allogenetisch durch gegenwärtige Problemlagen vorgeben zu lassen - nicht zuletzt deshalb, um einer Instrumentalisierung seiner Forschungsergebnisse zu begegnen.
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Historiker wird damit die Freiheit, seinerseits die historischen Rechtsordnungen zu erkunden, selbstverständlich nicht abgesprochen, aber es liegt auf der Hand, daß sein Erkenntnisinteresse jedenfalls nicht aus einer Lebenspraxis als Jurist gesteuert sein kann. Insofern produziert er in der Tat nicht „Rechtsgeschichte". Wie sein Erkenntnisinteresse näher zu bestimmen wäre, bleibt (bei Wieacker und hier) dahingestellt. Die Frage führt ohnehin in kritische Bereiche, da unübersehbar geworden ist, daß eine gewisse Entleerung der „Allgemeinhistorie" stattgefunden hat, welche nicht ohne Auswirkungen auf die Verfassung des Faches bleibt. Verantwortlich für dieses Phänomen ist die durch eine Vielzahl von Spezialdisziplinen weit vorangetriebene wissenschaftliche Verarbeitung und Erhellung sowohl der Bedingungen von Sozialität im allgemeinen, wie der Befindlichkeiten und Handlungsvoraussetzungen der menschlichen Individualität im besonderen, wodurch die überkommenen Erklärungskonzepte der Historiker einem starken Plausibilitätsschwund ausgesetzt wurden. Doch wie dem auch sei, daß die aus seinen Forschungen fließenden „Geschichten vom Recht" eine notwendige Ergänzung und Korrektur „der" Rechtsgeschichte darstellen, ist die paradoxe Folge seiner mangelnden Kompetenz zur Rechtsgeschichte. Dies läßt sich verdeutlichen, wenn man die vom Rechtshistoriker durchgeführten Operationen betrachtet. Dabei soll vorausgesetzt werden, daß die von ihm erwartete Leistung, nicht anders als die des Historikers 4 9 , darin zu sehen ist, daß er zu beschreiben habe, was geschah, und zu erklären, warum es geschah. Unter Beschreibung ist dabei eine deskriptive Faktenerfassung im 49
Daß Rechtsgeschichte kategorial Geschichte ist, kann ebensowenig in Abrede gestellt werden, wie die praktische Identität der methodischen Verfahren von Rechtsgeschichte und Geschichte. Daraus habe ich früher (Handlexikon der Rechtswissenschaft) den verfehlten Schluß gezogen, daß Rechtsgeschichte auch institutionell als Geschichtsdisziplin einzurichten sei. Erleichtert wurde diese Ansicht durch die Beobachtung, daß Rechtsgeschichte von ihren besten Vertretern nicht mehr als juristische Dogmenhistorie, sondern bereits als Teil-Geschichte der gesamten Gesellschaft aufgefaßt wurde, welche man als Erklärungshorizont f ü r die Norm benutzte. Diese Erscheinung hätte so gedeutet werden sollen, daß sie eine (vermutlich unbewußte) Veränderung der A u f fassungen vom Recht in der Rechtswissenschaft selbst anzeigte. Da damals anders als heute einem sozialwissenschaftlich angeleiteten Verständnis des geltenden Rechts die noch völlig ungebrochene allgemeine Juristenmeinung entgegenstand, schien die Rechtsgeschichte eher in der Geschichte (als historischer Sozialwissenschaft) ihre Heimstatt zu finden. Richtigerweise hat sie aber in einer sozialwissenschaftlich verfaßten Rechtsdisziplin die historische Perspektive zu liefern.
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Sinne der Popper'schen „Scheinwerfertheorie" (vgl. z.B. Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, UTB, 1975, Bd. II, 322 und Anm. 3) und nicht eine unverbundene Reihung von Begebenheiten (= Chronik) oder die positivistische Fiktion einer „Darstellung, wie es ,wirklich' war" verstanden. Bei Erklärung ist an das genetische Erklärungsmodell (d. h.: das erforschte Phänomen wird als letztes Glied einer Entwicklungskette beschrieben und durch die Darstellung der Entwicklungsstadien erklärt), wie es Hempel dargestellt hat (vgl. z. B. Aspekte wissenschaftlicher Erklärung, 1977, 170ff.), gedacht. Von den Besonderheiten der historischen Erklärung 50 gegenüber den sonstigen Formen wissenschaftlicher Erklärung 51 ist in diesem Zusammenhang nur der Umstand wichtig, daß die akzeptierten Gesetzmäßigkeiten (der verschiedensten Art: psychologische, soziologische, ökonomische Regelmäßigkeiten und Theorien) in weit überwiegendem Umfang statistischer Natur sind. Die folgenreichste Schwierigkeit der statistischen Erklärung 52 besteht in ihrer Mehrdeutigkeit. Damit ist gemeint, daß ein bestimmtes (in unserem Fall historisches) Einzelergebnis E (z.B. ein Eroberungskrieg) unter Zuhilfenahme einer probabilistischen Prämisse (z. B.: bei stabiler Lage im Inneren ist wahrscheinlich...) befriedigend erklärt und sein Eintreten als wahrscheinlich dargestellt werden kann, obwohl die in der Geschichtswissenschaft akzeptierten Aussagen die Aufstellung einer rivalisierenden probabilistischen Prämisse gestatten würden (z. B. bei instabiler Lage im Inneren...), mit deren Hilfe das Ereignis ebenfalls erklärt bzw. wonach das Eintreten des Ereignisses als unwahrscheinlich dargestellt werden könnte. Dieser Erscheinung kann dadurch begegnet werden, daß man versucht, die Bezugsklasse der statistischen Aussage (hier: die innere Lage) durch weitere Informationen einzuschränken (hier etwa: die innere La50
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Die genetische Erklärung ist nach wie vor die N o r m a l f o r m der Erklärung unter Historikern. Das wird sich vermutlich schon deshalb nicht ändern, weil diese F o r m allein die f ü r eine „gute Geschichte" unverzichtbare Spannung garantiert. Historische Analysen, vor allem solche aus dem Bereich der Hilfswissenschaften (Chronologie, Epigrafik, N u m i s m a t i k etc.), die sich fraglos vielfach nichtgenetischer Erklärungen bedienen, sind demgegenüber fast immer nur f ü r den F a c h m a n n lesbar. D i e Theorie der Erklärung muß hier vorausgesetzt werden. Zusammenfassung und Literatur zu allen Aspekten bei Essler, Wissenschaftstheorie IV, Erklärung und Kausalität, 1979. D i e Streitfrage, ob statistische Erklärungen noch als „Erklärung" und nicht richtiger als B e g r ü n d u n g f ü r statistisches Situationsverständnis (Stegmüller) zu fassen sind, ist hier o h n e Relevanz.
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ge und die Art der Führung und der Zustand des Angriffsobjekts etc.), um auf diese Weise zu Prämissen zu kommen, die die Konstruktion rivalisierender probabilistischer Sätze möglichst ausschließen (Postulat maximaler Spezifizierung). Wendet man den Blick auf den Gegenstand des Rechtshistorikers und unterstellt pragmatisch, daß er in erster Linie mit historisch gewordenen Normenprogrammen sowie deren Erzeugung und Anwendung befaßt ist, dann zeigt sich die interessante Konstellation, daß zwei verschieden organisierte Disziplinen (Jurisprudenz und Geschichte) gut bewährte statistische Erklärungshypothesen bereitstellen. Eine Beschränkung des Forschers auf probabilistische Sätze aus seinem fachspezifischen Wissensgebiet liefert uns sicherlich Erklärungen, die relativ zu der durch J(urisprudenz) oder G(eschichte) repräsentierten Wissenssituation sind. Dies kann für die professionell mit der Klasse der i n j bzw. G enthaltenen Sätze befaßten Wissenschaftler eine interessengerechte und daher ausreichende Leistung sein. Die dogmenhistorischen Erklärungen von Juristen sind hierfür vielleicht ein Beispiel. Ob ein Erklärer außer von der Klasse J auch von der Klasse G Gebrauch macht oder umgekehrt, dürfte also, abgesehen von seiner subjektiven Leistungsfähigkeit, auch von dem Selbstverständnis der für J oder G Verantwortlichen abhängen. Während der Ubergang von G zu J durchgehend belegbar ist und neuerdings aufgrund der oben (S. ) geschilderten Entwicklung sogar zuzunehmen scheint, kann der Ubergang von J zu G geradezu als methodische Mode charakterisiert werden, welche mit der Etablierung einer sozialwissenschaftlichen Rechtsbetrachtung zusammenhängt. Andererseits ist deutlich, daß die Erklärungsarbeit mit Hypothesen, welche vorwiegend aus J oder vorwiegend aus G stammen, zu einer fachkonformen Selektion der Bezugsklassen und damit zu einer systematischen Verletzung des Postulats maximaler Spezifizierung führt. Rechtshistorische Arbeiten von Juristen erregen bei Historikern leicht deshalb Heiterkeit, weil potentiell erklärungsrelevante Informationen unbekannt sind oder ahistorisch (und unexpliziert!) aus der Gegenwart übernommen werden; umgekehrt ist für Juristen in rechtshistorischen Arbeiten von Historikern häufig die Aufschüttung irrelevanter und irreführender Bedingungen bei der Darstellung der Bezugsklassen evident. Damit ist nicht nur die symmetrische Kompetenzfläche der Fächerjurisprudenz und Geschichte dargelegt, sondern auch die Notwendigkeit interdisziplinären Austausches erneut begründet.
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4. Die Frage nach den Absichten, welche mit der Erforschung des nationalsozialistischen Rechts verfolgt werden oder verfolgt werden sollen, zielt auf die Interessen, welche den Rechtshistoriker schlechthin mit seiner Arbeit verbinden. V o n der naiven Hoffnung, den „Sinn der Geschichte" finden zu können, bis zur privatisierenden Neugier sind viele Antworten möglich und im Zuge einer jahrhundertelangen Selbstreflexion auch erteilt worden. Die Stellungnahmen werden, abgesehen von den je verschiedenen gnoseologischen Prämissen, deutlich auch von wissenssoziologischen Uberzeugungen geprägt. Wer etwa die Wissenschaftsentwicklung für einen finalisierten Prozeß hält, wird den Gedanken, das historisierende Subjekt sei durch „freie" Neugier motiviert, eher für einen frommen Wahn halten, als derjenige, welcher an eine autonome Wissenschaftsentwicklung glaubt. O b w o h l das allgemeine Schema von einer durch gesellschaftliche Bedürfnisse gesteuerten Wissensproduktion und die erkenntnistheoretische Einsicht in die unausweichliche Normativität der Forschungsentscheidungen an der Wertbasis nur teilweise deckungsgleich sind, werden beide Ideen gern unterschiedslos zur Begründung von Offenbarungspflichten benutzt. Tatsächlich folgt weder aus dem einen noch aus dem anderen Gedanken etwas für das Postulat nach „Offenlegung der Interessen", solange man nicht die Legitimität der Teilnahme am Wissenschaftsprozeß und des damit verbundenen Verbrauchs öffentlicher Ressourcen an entsprechende Selbstdarstellungen anbindet. Eine demokratische Gesellschaft ist (entgegen einer vielleicht im Vordringen begriffenen Meinung) vermutlich gut beraten, wenn sie verständliche Informationswünsche an dieser Stelle zurückweist und damit auf die rückstandslose Verwaltung der Forscherperson verzichtet. Denn es ist schwer vorzustellen, daß eine regelmäßig eingeforderte und kontrollierte Erklärung über die für die Wertentscheidungen an der Wissenschaftsbasis maßgeblichen Interessen nicht Gegenstand präskriptiver Zensuren würde. Andererseits besteht kein Anlaß, spontanen Explikationen von Interessenstruktur und Wertgesichtspunkten durch den einzelnen Forscher mit Mißtrauen und Subjektivismusvorwürfen zu begegnen 53 . Vielmehr scheint es vernünftiger, diese Phänomene als präskriptive Äußerung
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Vgl. J . K o c k a , Legende, Aufklärung und Objektivität in: Geschichte und Gesellschaft 6, 1980, 4 4 9 f f . , mit weiteren Hinweisen zu diesem, von den zeitgenössischen deutschen Historikern nicht eben eindrucksvoll diskutierten Verhalten.
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von Verhaltenserwartungen zu verstehen, welche der Historiker in der Folge seiner Entdeckungen an die Gesellschaft zu richten gedenkt. Eine solche Deutung interessenbekennender Beschreibungen ist jedenfalls dann angebracht, wenn es sich um appellativ gedachte Darstellungen handelt, wovon bei aufklärerischen, „emanzipatorischen" oder sonstigen pädagogischen Intentionen ohne weiteres ausgegangen werden kann. Eine fruchtbare Diskussion derartiger Erwartungen und Zumutungen setzt unter anderem auch voraus, daß nach dem Satz „Sollen impliziert Können" der Gesprächspartner wenigstens von der Möglichkeit, aus der Geschichte handlungsleitende Information gewinnen zu können, überzeugt ist. Wer, mit nicht wenigen, schon daran zweifelt (vgl. auch oben I. S. 30), kann für den Eintritt in die Debatte, ob historisches Wissen in pädagogischer Absicht erarbeitet werden soll, letztlich keinen hinreichenden Anlaß sehen. Immerhin gibt es einige Anhaltspunkte dafür, daß Poppers Formulierung der „Aufklärungsposition" („Wir möchten wissen, in welcher Beziehung unsere Schwierigkeiten zur Vergangenheit stehen, wir möchten den Weg sehen, auf dem wir zur Lösung der von uns erfühlten und erwählten Hauptaufgabe fortschreiten können" - Die offene Gesellschaft II, 332) nicht ohne Fundament ist. Gewiß ist der erkenntnistheoretische Graben zwischen Sein und Sollen nicht überwindbar. Aus der Deskription einer historischen Situation folgt keine Präskription, und insofern gibt es nur dann zwingende „Lehren aus der Geschichte", wenn man den naturalistischen Fehlschluß mitmacht. Andererseits überspringen wir lebenspraktisch diesen Graben ständig - man vergleiche nur den Rang, den das historische Argument in allen politischen Lagern einnimmt. Daß es für dieses Verhalten gute Gründe gibt, läßt sich wiederum am Schema der wissenschaftlichen Erklärung ablesen und verstehen. Die Verhaltensforschung sagt uns, daß als Führer durch unsere Lebenswelt und als Garant für unsere Reproduktion die Erfahrung fungiert. Erfahrung bilden wir, indem wir uns unablässig die Begebenheiten, die uns zustoßen, erklären und indem wir gleichzeitig unsere Welt als eine geordnete unterstellen. Auf dieser Grundlage suchen wir für Zustände und Ereignisse nach Kausalfaktoren und subsumieren sie unter vorläufig angenommene generalisierte Sätze. Auf eine mehr oder minder große Menge gut bewährter Gesetzeshypothesen aus der eigenen sozialen Umwelt beziehen wir uns in der Regel, wenn wir „unsere
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Erfahrung" argumentativ ins Spiel bringen. Erfahrungen werden vorwiegend strategisch benutzt, um Prognosen zu bilden. Zu diesem Zweck durchlaufen wir das Kausalschema, unseren „angeborenen Lehrmeister" (R. Riedl), in umgekehrter Richtung und stellen das Explanandum als zu erwartende Folge dar. Soweit wir im Explanans deterministische Gesetze und gesicherte Fakten in hinreichender Zahl einsetzen können, kann ein bestimmtes Einzelereignis mit praktischer Sicherheit vorausgesagt werden. Nun ist es nicht zweifelhaft, daß die finalistische Ausdeutung des Kausalschemas, nämlich die Mittel-Zweck-Relation, die Basiskategorie für den Aufbau unserer Verhaltensregeln abgibt. D a s erlaubt die These, daß die strukturelle Identität von Erklärung und Vorhersage den rationalen Kern jener Ansicht bildet, wonach Handlungsorientierung durch Geschichte möglich sei. Daß es sich dabei aber um nicht mehr als um einen bescheidenen „ K e r n " handeln kann, liegt auf der Hand. Denn auch wenn man davon ausgehen darf, daß nicht nur die deduktiv-nomologische, sondern auch die statistische Erklärung eine potentielle Vorhersage des betreffenden Ereignisses darstellt, so daß die hauptsächlich mit probabilistischen Gesetzeshypothesen arbeitende Geschichtswissenschaft prinzipiell erfaßt wird, so bleibt doch eine Menge von Fehlerquellen und Unsicherheiten erhalten. Nicht nur die Mehrdeutigkeit statistischer Erklärung überhaupt, auch der hohe Verallgemeinerungsgrad soziologischer bzw. psychologischer Gesetze, die Defizienz der Randbedingungen (Quellenlage!) und weitere Besonderheiten der genetischen Erklärung führen dazu, daß die historische Erklärung nie mehr sein kann, als eine Erklärungsskizze (Hempel: explanation sketch). Es kommt hinzu, daß die Prämissen, welche auch bei Vorhersagen, die sich auf das deduktiv-nomologische Schema stützen können, vorausgesetzt werden müssen (wie: Aufrechterhaltung des K o s m o s etc.), bei historischen Erklärungsskizzen die Form höchst ungewisser ceteris-paribus-Hypothesen annehmen. Faßt man dies alles zusammen, dann sind die Ursachen für die Verführungskraft „geschichtlicher Lehren" ebenso deutlich, wie der problematische „Lehrwert" solcher nur zur argumentativen Handlungsbegründung geeigneten Erkenntnisse. Es ist aber auch klar, warum, nicht anders als bei der Suche nach der historischen Wahrheit, die Hoffnung über das Wissen von der unausbleiblichen Enttäuschung siegt.
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B. Der bisher vorherrschende Typus justizgeschichtlicher Untersuchungen im Nationalsozialismus folgt einem für Juristen (aber vielleicht auch nur für sie) ohne weiteres plausiblen Schema. Ausgehend von dem U m stand, daß die sichtbare und allen vertraute Leistung des Justizsystems in der Herstellung judizieller Entscheidungen besteht, wird eine Analyse des Entscheidungsmaterials angestrebt. D a die Menge der dokumentierten und heute noch zugänglichen Entscheidungen, trotz der kontingenten und der institutionalisierten Verluste (Kriegsereignisse und Aktenordnung) der vollständigen Erfassung widersteht, muß eine Datenbeschränkung vorgenommen werden. Sie orientiert sich teils an bestimmten Gerichten (Reichsgericht, Volksgerichtshof), teils an den Gerichtsbarkeiten (Ordentliche Justiz, Verwaltungsgerichtsbarkeit, Sondergerichte), teils an einem (überschaubaren) Gerichtsbezirk - wobei auch die möglichen Kombinationen dieser Kriterien ausgenutzt werden. Die Interpretation des in dieser Weise eingesetzten Materials setzt weitere Selektionen voraus, welche nun in erster Linie nach dem als „Thema" handlich gemachten Erkenntnisziel durchgeführt werden. Dieses kann generell etwa so umschrieben werden, daß nach dem U m fang gefragt wird, in dem die Justiz mit dem nationalsozialistischen Staat und seinen Zielen konform bzw. nicht konform ging und inwieweit sie die Realisierung der nationalsozialistischen Ordnungsvorstellungen zu befördern bzw. zu blockieren suchte. Eine Antwort auf diese Frage scheint in der Weise zu gewinnen zu sein, daß man nach dem Niederschlag nationalsozialistischen Gedankenguts, sei es in der Begründung, sei es im Tenor der Gerichtsentscheidung selbst forscht. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen sind selten sehr befriedigend ausgefallen. Sie mußten sich (ob begründet oder nicht, kann hier dahinstehen) bald den Vorwurf unzutreffender Verallgemeinerung, bald den Verdacht apologetischer Schönfärberei gefallen lassen. Das ist nicht verwunderlich, da bei allen exploratorischen Verdiensten solcher Studien ihre bereits in der Materialauswahl angelegten methodischen Mängel unübersehbar sind. So können z. B. die informationsrestringierenden Herstellungs- und Darstellungsbedingungen der judiziellen Entscheidung nicht mehr ausgeglichen werden. Denn die Herstellungsbedingungen selbst gegenwärtiger juristischer Entscheidungen sind nur im Ausnahmefall transpa-
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rent. Bei länger zurückliegenden Urteilen läßt sich die subjektive Disposition der am Entscheidungsprozeß Beteiligten regelmäßig nicht mehr aufhellen. Zu den Herstellungsbedingungen gehört auch das Vorfeld des gerichtlichen Verfahrens, von den Entstehungsvoraussetzungen des Konflikts bis zur Tätigkeit der Ermittlungsbehörden im Strafverfahren oder bis zur Überwindung persönlicher, sozialer und institutioneller Zugangshindernisse im Parteiprozeß. Diese Bedingungen werden vom Justizsystem regelmäßig selbst nicht wahrgenommen und können schon deshalb in der Entscheidung nicht dokumentiert werden. Die Darstellung juristischer Entscheidungen bedient sich traditionell (d. h. spätestens seit die Rechtsstaatsidee dies zu fordern schien) der logischen Deduktion der mittels eines abstrahierten Sachverhalts belegbaren Subsumptionsschritte aus einer vorangestellten Rechtsfolge. Der Informationswert eines Urteils über die im Verfahren ohnehin schon verstümmelt zur Sprache gekommene Wirklichkeit ist gering. Entscheidungsanalysen sind außerdem, solange sie nicht auf spezielle Aktenmengen konzentriert werden, geeignet, die personalistische Betrachtung der Institution Justiz zu begünstigen und historisch sinnlose Fragestellungen, wie diejenige, ob „die" Justiz nationalsozialistisch „gedacht" habe, zu fördern. 1. In der rechtshistorischen Arbeit an einer Justizgeschichte könnten die Defizite der erwähnten Quellen erfolgversprechend kompensiert werden durch die Ausdehnung der Forschung auf alle Zeugnisse, welche sich auf die nationalsozialistische Justiz beziehen lassen. Welche das sind, hängt freilich von einer adäquaten Formulierung des Bezugsrahmens der Interpretation ab, da andernfalls das (hier nicht kleine) Universum der überlieferten Zeugnisse einschlägig wäre. Diese zunächst vielleicht kontraintuitive Überlegung läßt sich kursorisch mit den drei wichtigsten Funktionen eines (rechts-) historischen Interpretationsrahmens begründen. a) Der Interpretationsrahmen entscheidet über die Periodisierung. Wird, etwa aus sozioökonomisch orientierter materialistischer Geschichtssicht, nach Justizgeschichte als der Entwicklung der Rechtsprechung im organisierten Kapitalismus gefragt, dann kann eine verfassungsrechtlich abgegrenzte Epoche „1933 bis 1945" nur dann akzeptabel sein, wenn sie zufällig auch einen sinnvoll abgrenzbaren Zeitraum
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der Kapitalismusgeschichte darstellt. Letzteres ist durchaus strittig. Wählt man dagegen als Bezugsrahmen das durch Sieg und Untergang des Nationalsozialismus gekennzeichnete politische System, dann kann eine Periodisierung auf 1933 - 1945 geeignet sein. Sollen weiterhin gewisse beschreibbare Systemveränderungen berücksichtigt werden, empfiehlt sich möglicherweise eine Dreiteilung dieses Zeitraums in die Abschnitte 1933/34; 1935 - 1938 und 1939 - 1945. b) Der Bezugsrahmen bestimmt die Faktenselektion. Es ist einleuchtend, daß ein Jurist, welcher Justizgeschichte vorwiegend als Geschichte der im Justizsystem handelnden Personen begreift (etwa weil er ihm selbst lange Jahre angehört hat), Informationen über Sachverhalte, die das Justizsystem als Ganzes und dessen Beziehungen zur Umwelt betreffen, nur beiläufig oder überhaupt nicht aufnimmt. U m gekehrt wird ein Forscher, den vielleicht primär die Ordnungsleistungen einer Justiz im Totalitarismus interessieren, die Parteizugehörigkeit der Richter für „irrelevant" und daher für unbeachtlich halten. c) Der Bezugsrahmen bestimmt die Faktendeutung. „Identische" Fakten, z . B . das quantitativ darstellbare Anwachsen der polizeilichen „Mitwirkung" an der Strafrechtspflege, können als Verkürzung der Regelanwendungschancen der Urteiler, als Quantitätsminderung der Ordnungsleistungen des Justizsystems, als Beeinträchtigung der Ich-Identität des einzelnen Richters oder als Zurückdrängung intermediärer Gewalten zugunsten unmittelbarer totalitärer Herrschaft interpretiert werden. Diese Deutungen sind alle subjektiv im Sinne unmittelbarer Abhängigkeit vom gewählten Bezugsrahmen. Andererseits ist nicht ersichtlich, mit welchen Argumenten ihnen (bei immanenter Konsistenz und korrekter Quellenverarbeitung) die Legitimität bestritten werden sollte. Häufig handelt es sich ohnehin nur um konkurrierende, aber miteinander verträgliche Beschreibungen. Und wo dies nicht der Fall ist, ist die Uberzeugung, daß eine bestimmte Deutung sich als richtig „erwiesen" habe, wesentlich auch eine Frage wissenschaftlicher Konventionen. Aus diesen Erwägungen folgt zweierlei: — Welcher Bezugsrahmen vom einzelnen Rechtshistoriker gewählt wird, steht, da diese Wahl unmittelbarer Ausdruck seiner Forschungsinteressen ist, im freien Ermessen des Forschers. — Im Hinblick auf die Funktionen des je gewählten Bezugsrahmens ist
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es aber erforderlich, daß das Forschungssubjekt sowohl sich selbst (Minimalforderung), als auch der Öffentlichkeit (Maximalforderung) über die getroffene Wahl und ihre Gründe Rechnung legt. Die Verletzung der Minimalforderung führt zu unkritischen und ideologieträchtigen Produkten, welche, je nach Adressat, als naiv oder als dreist empfunden werden. Die Erfüllung auch der Maximalforderung garantiert einen weitgehend transparenten Forschungsprozeß, der eine mißverständnisfreie Auseinandersetzung über die Ergebnisse jedenfalls ermöglicht 54 . 2. Stark konkretisierte Forschungsprogramme (etwa: Die ordnungspolitische Rolle der Justiz im deutschen Sprachraum 1933 — 1945) treffen mit der Feststellung des Erkenntniszieles auch einschneidend präjudizierende Festlegungen zum Interpretationsrahmen. Es ist geläufig, daß dieser Festlegungsvorgang nicht in einer apodiktischen Entscheidung besteht, sondern erst nach einer längeren heuristischen Phase, während derer Bezugsrahmen und Erkenntnisziel sich wechselseitig präzisieren, seinen Abschluß findet. Überlegungen zur Konzeptualisierung von Forschungsprogrammen müssen daher bei diesem Präzisierungsprozeß einsetzen und einen Uberblick über die möglichen rechtshistorischen Problemgewinnungsstrategien zu erreichen suchen. Abstrahiert und typisiert man Forschungsleistungen der letzten Jahrzehnte, so können vielleicht folgende Konzepte, die als empirische Vorhaben in „reiner" Form natürlich nicht belegbar sind, ermittelt werden: a) Narrative Konzepte. Darunter wird Geschichte ohne Erklärungsanspruch verstanden. Also etwa die Aufzählung und Beschreibung früherer Gesetzgebungsakte, die Ermittlung und Bereitstellung „juristischer" Quellen, die Fertigung von Listen vergangener Entscheidungen, die Deskription alter Rechtslehren etc. Die Edition von Rechtsquellen und die sog. juristische D o g mengeschichte kommen diesem Modell am nächsten. Für eine Justizgeschichte würde ein solches Konzept die Aufzählung aller Gerichtszweige, die Darstellung der Instanzen, die Zahl der im Justizsystem Tätigen, die Beschreibung der Streiterledigungsformen etc. bedeuten.
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D i e gegenwärtige (rechts-)historische F o r s c h e r g e n e r a t i o n d ü r f t e sich größtenteils etw a in der Mitte z w i s c h e n beiden Postulaten bewegen.
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b) Normative Konzepte. Darunter werden nomologische Aussagenkomplexe auf der Folie von Geschichte verstanden. Also etwa die (rhetorische aufgefaßte) „Ableitung" bestimmter Ansprüche aus der Entwicklungsgeschichte jetziger Zustände, das Postulat gesetzlicher Maßnahmen auf dem Hintergrund historisch fundierter Zielvorstellungen, die Kritik von Institutionen und deren Tätigkeit mit Hilfe geschichtlicher Modelle. Aktuelle juristische Dogmatik nähert sich diesem Konzept überall dort, w o sie die Beschränkung auf begrifflich-systematische Argumentation aufgibt und ihre normativ-praktischen Lösungsvorschläge auch in der historischen Dimension zu rechtfertigen sucht. Das viel anspruchslosere Programm der sogenannten Einleitungshistorie kann ebenfalls hierher gestellt werden. Aber auch bedeutende Entwürfe dogmenkritischer Vergangenheitsbewältigung stehen diesem Modell nahe. Eine aus dieser Problemsicht bearbeitete nationalsozialistische Justizgeschichte würde etwa die Konfrontation damaliger Zustände mit dem klassischen Rechtsstaatsmodell betreiben und die Ausarbeitung eines entsprechenden Sündenregisters für Prognose- und Warnzwecke in Gang setzen. c) Explikative Konzepte. Darunter soll die Beschreibung und Erklärung vergangener Rechtszustände begriffen werden, wobei für den Regelfall unterstellt werden kann, daß in der je vergangenen Gesellschaft ein identifizierbares soziales Normensystem „Recht" als Teilmenge aller sozialen N o r m e n vorhanden ist. Wo dies, wie in einigen Kulturen, die Gegenstand der Rechtsethnologie sind, nicht der Fall ist, verschiebt sich die Problemsicht des Rechtshistorikers 55 sachgemäß auf die Frage nach den Entstehungs- und Existenzbedingungen von Recht überhaupt. Der Versuch, durch Analyse und Explikation früherer Rechtsordnungen diese aus sich selbst zu verstehen, soll als die eigentliche rechtshistorische Aufgabe angesehen werden. Hinter dem normativen Konzept bleibt dieses Modell insofern zurück, als es auf die Gewinnung präskriptiver Sätze verzichtet. Uber das narrative Konzept geht es insofern hinaus, als es der Chronographie die 55
Eine ähnliche Konstellation bietet das chinesische Recht, w o ebenfalls die o k z i d e n t a l e prinzipielle Isolierung der R e c h t s n o r m e n v o n den sozialen V e r h a l t e n s n o r m e n nicht realisiert w u r d e .
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Michael Stolleis und Dieter Simon
Erklärung hinzufügt. Begründet wird die Präferenz für ein explikatives Modell mit der Überlegung, daß Erzählung ohne Erklärung letztlich stumm bleibt, während normative Bewertung der Vergangenheit den Forscher gerade dann, wenn er weder die Schatten des Positivismusstreites fürchtet, noch den „Lehren der Geschichte" aus dem Wege gehen will, leicht als Missionar diskreditiert. Dagegen ist von der erklärenden Rechtshistorie intersubjektiv vermittelbare „Orientierung" im oben erörterten Sinn zu erwarten. Daß damit den beiden anderen Entwürfen das Existenzrecht nicht bestritten werden soll, versteht sich von selbst. Es ist schließlich evident, daß ohne juristische Chronographie ein explikatives Vorhaben nicht inszeniert werden kann und daß auf dessen Schultern der historisch abgesicherte Problemlösungsvorschlag steht. 3. Mit der Entscheidung für eine explikative Konzeptualisierung der Rechtsgeschichte rücken zwar die Spezialprobleme der narrativen und normativen Konzepte aus dem Blick, doch treten dafür andere bislang in der Rechtsgeschichte nur ungenügend thematisierte Theorieschwierigkeiten in den Vordergrund. Zwar existiert eine ältere Diskussion zum „Begriffsinventar" des Rechtshistorikers, in der sich deutliche Hinweise auf tieferliegende Problemschichten abzeichneten 56 , doch bedarf der hier verborgene Fragenbestand noch weiterer Klärung. Das augenfälligste Defizit jener Reflexionen über den rechtshistorischen Begriffsapparat steckt in der begriffsrealistischen Verkürzung der Sicht auf den theoretischen Begriff. Theoriegebundene Begriffe - und gerade um sie ging es - enthüllen, da sie nicht „an sich" existieren, ihre präzise Bedeutung erst bei Beachtung des nomologischen Kontextes, in den sie eingebettet sind, und bei Kenntnis der Korrespondenzregeln, mit welchen sie auf beobachtete oder abstrahierte Sachverhalte bezogen wurden. Dies gilt für synchrone Begriffsstudien in gleicher Weise wie für (fallweise methodisch schwerer zu bewältigende) diachrone Forschungen. Die Empfehlung, „anachronistische Begriffe" zu meiden, enthielt demnach, neben dem (erfüllbaren) Postulat, die naive Projektion von Bestandteilen aktueller normativer juristischer Theorie in die Quellen zu vermeiden, stets auch die (unerfüllbare) Aufforderung, der 56
Differenzierte Zusammenstellung der Ergebnisse bei Wieacker, Zur Methodik der Rechtsgeschichte, 368 ff.
Vorurteile und Werturteile der Forschung
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Forscher solle sich der Theorien, die seine Weltsicht konstituieren, entledigen. Das Zugeständnis, der Rechtshistoriker möge die Theoriebegriffe als heuristische solange verwenden, bis er nach einem längeren Prozeß systematischer Selbstbefreiung „die Krücken des anachronistischen Begriffs endlich wegwerfen kann" (Wieacker), signalisiert die nicht realisierbare Absicht, sich selbst objektivistisch zu hintergehen. Es kommt hinzu, daß die Erfüllung eines solchen Wunschtraumes vielleicht wenig Befriedigung erbringen würde. Die fortgesetzte Reinterpretation der Geschichte zeigt doch nicht zuletzt auch dies, daß das forschende Individuum sich selbst seine Vergangenheit erklären will, weil es frühere Darstellungen auf Grund von „besseren" Annahmen über Mensch und Gesellschaft als überwunden empfindet. Insofern gilt es geradezu als methodisch vorbildlich, Erklärungsskizzen von Zeitgenossen der Ereignisse nicht als solche, sondern nur als Lieferanten von Quellenmaterial zu akzeptieren. Totale Versenkung in die vergangenen Begriffs- und Denkstrukturen und ihre anschließende Nutzung zu explikativen Operationen könnten aber vermutlich nur wieder eine überholte Weltdeutung zu Tage fördern. Wenn eine Erklärung für die Gegenwart gültig sein soll, dann kann dies nur über den Zugriff auf gegenwärtige Theorien über den Menschen und seine soziale Ordnung erfolgversprechend in Angriff genommen werden. Genau diese Uberzeugung war ein weiterer Aspekt der Kritik am Transfer anachronistischer (nämlich z . B . normativ-juristischer und nicht sozialhistorischer) Begrifflichkeit auf vergangene Rechtsordnungen. Die damit angedeutete Verwiesenheit eines explikativen Konzepts auf die sozialwissenschaftlichen Theorien sieht sich freilich dem enttäuschenden Befund ausgesetzt, daß es bisher nicht geglückt ist, eine erklärungskräftige und allseitig akzeptierte soziologische Theorie zu entwikkeln. Die deutsche Theorievergleichsdiskussion 57 hat diesen Sachverhalt nur schärfer akzentuiert, ohne die Hoffnung erwecken zu können, daß in absehbarer Zeit hinter der politischen und erkenntnistheoretischen Gebundenheit der verschiedenen Konzeptualisierungen von sozialer
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Gut informierend, wenn auch im Stand etwas veraltet: K. O . H o n d r i c h / H . Matthes, Theorienvergleich in den Sozialwissenschaften, Luchterhand 1978. Soweit hier auf Aspekte des Theorienvergleichs eingegangen wird, stütze ich mich auf die für mich ertragreichsten Abhandlungen von Lindenberg/Wippler und Seyfarth in diesem Band.
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M i c h a e l Stolleis und Dieter Simon
Wirklichkeit ein sozialwissenschaftliches Einheitsparadigma zum Vorschein kommen werde. Die Aufzählung von (regelmäßig mindestens) vier theoretischen „Ansätzen" (verhaltenstheoretische, handlungstheoretische, systemtheoretische und historisch-materialistische) hat entgegen einem ersten Eindruck nur scheinbar die Konsequenz, daß es dem Forscher freistehen könne, sich für einen bestimmten „Ansatz" autonom zu entscheiden und von diesem aus seine Untersuchungen zu strukturieren. In Wahrheit sind die mit diesen „Ansätzen" jeweils gewählten Theoriekonzepte so unentwirrbar mit den Paradigmen (i. S. von: wissenschaftliche Lebensform, komplexes Weltverständnis) 58 der Forscher verflochten, daß man realistischerweise nicht von „je gewählten", sondern von „je erworbenen" Ansätzen sprechen müßte. Nichts belegt diesen U m stand besser, als das mit „Asymmetrie wechselseitiger Wahrnehmung" beschriebene Phänomen, wonach, selbst bei entschiedenstem Vorsatz zu objektivem (d. h. konziliant nichtkonfrontatorischem) Theorievergleich, das eigene Konzept als Basis und Richtschnur des Vergleichs uneliminierbar auftritt. Bei dieser Sachlage wäre es verfehlt, die Wahl eines bestimmten Interpretationsrahmens empfehlen zu wollen. Es muß bei dem (trivialen) Hinweis bleiben, daß der Umstand, daß die einzelnen Theorien verschiedene Objektbereiche oder dieselben Objektbereiche verschieden ergreifen, differierende Bilder sozialer Wirklichkeit produziert. Die Frage, ob es sich insgesamt um legitime und damit gleichermaßen vertretbare Varianten von Wirklichkeitsabbildungen handelt, kann hier natürlich nicht erörtert werden. Auf das Exempel nationalsozialistischer Justiz übertragen, bedeutet dies, daß eine z. B. historisch-materialistische Theorie, welche unter anderem Staat und Ökonomie als getrennte Systeme konzipiert und nach dem Verhältnis beider Sphären fragt, von einer völlig anderen Einschätzung der „Herrschaftsverwaltungsfunktion" von Justiz ausgehen muß, als eine andere „kollektivistische" Theorie, für die (aus politik-wissen58
Den P a r a d i g m a b e g r i f f , in Kuhns erstem Entwurf noch intuitiv einleuchtend, hat die Soziologie i n z w i s c h e n derart zerredet (von „ W e l t a n s c h a u u n g " bis „ T h e o r i e d i m e n sion"), daß er jedenfalls für den R e c h t s h i s t o r i k e r seinen W e r t eingebüßt haben dürfte. O b bei H e r a n z i e h u n g der von K u h n selber (im P o s t s c r i p t u m z u r zweiten A u f l a g e ) oder von S t e g m ü l l e r (Probleme u n d Resultate, II 2) vorgeschlagenen Präzisierungen anders zu urteilen w ä r e , müßten entsprechende E r p r o b u n g e n erbringen.
Vorurteile und W e r t u r t e i l e der F o r s c h u n g
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schaftlicher Sicht) in diesem Jahrhundert die fortschreitende Verschmelzung von Staat und Gesellschaft (Krockow) im Vordergrund steht. Mit diesen Konzepten ist wiederum eine (weitere makrosoziologische) funktionalistische Theorie schwer verträglich, die Justiz und Politik als relativ autonome Untersysteme der Gesellschaft definiert (Luhmann). „Individualistische", z.B. handlungstheoretische Ansätze bekommen demgegenüber vielleicht vorwiegend die Beschreibung justiziellen Handelns als regelgeleiteten Entscheidens in den Blick. Sie prüfen und beschreiben typische Situationen der Regelbenutzung/des Regelverstoßes (Lautmann), während eine (ebenfalls individualistische) Verhaltenstheorie größeren Wert auf die Ausarbeitung gesetzesförmiger Aussagen über individuelles Richterverhalten (Opp) oder (in ihrer reduktionistischen Fassung) über Richtermentalitäten legen würde. Die Bedeutsamkeit dieser Theorien für den (Rechts-)Historiker liegt am wenigsten in ihrer Erklärungskraft oder in ihrer methodischen Vorbildlichkeit. Für viele Sachverhalte wird es bei den bisherigen commonsense-Erklärungen bleiben können, für andere - mangels ausreichender Theorieangebote - bleiben müssen. Es scheint jedoch notwendig, sich klar zu machen, daß in den meisten soziologischen Theorien, eben weil sie beanspruchen, Ereignis/Struktur oder Handlung/System zu erfassen, nichts anderes steckt, als eine wissenschaftliche Verarbeitung derjenigen sozialen Erfahrung, mit welcher der Historiker unablässig operiert. Auch wenn sie nur partikulär elaboriert sind, bilden sie dennoch gegenwärtig die einzige kritische Instanz, welche geeignet ist, den Historiker vor peinlichen Erklärungsleistungen mittels seines Alltagswissens zu bewahren.
Heinz
Holzhauer
Die Scheidungsgründe in der nationalsozialistischen Familienrechtsgesetzgebung I. Einleitung Das Urteil über die nationalsozialistische Familienrechtsgesetzgebung hängt entscheidend davon ab, ob die auf den rassistischen und eugenischen Sondergesetzen 1 beruhenden Bestimmungen über die Eheschließung einbezogen werden, oder ob sich die Beurteilung auf die übrigen, im wesentlichen die Ehescheidung betreffenden Bestimmungen des Ehegesetzes (EheG) v. J. 1938 beschränkt, vielleicht sogar in der vom „nationalsozialistischen Gedankengut" gereinigten Fassung des Kontrollratsgesetzes Nr. 16 v. J. 1946. Im letzten Fall gliedert sich die nationalsozialistische Periode der Familiengesetzgebung, besonders was die Scheidungsgründe angeht, gradlinig in die Entwicklung des deutschen Familienrechts ein2. In diesem Sinne wird das Ehegesetz fast als „Schubladengesetz" eher der Weimarer als der NS-Zeit zugeschrieben 3 . Diese beiden Blickpunkte gilt es voranzustellen, da eine im wesentlichen auf die Scheidungsgründe beschränkte Beurteilung der nationalsozialistischen Familiengesetzgebung nicht mit einer Gesamtbeurteilung verwechselt werden darf. II. Die Ausgangslage: Die Scheidungsgründe im BGB von 1900 Das Scheidungsrecht war im Jahre 1933 noch unverändert dasselbe, das mit dem BGB am 1. 1. 1900 in Kraft getreten war. Die §§ 1565-1569 hat1
2 3
Nämlich die Nürnberger Gesetze, das Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre v. 15. 9. 1935 und das Erbgesundheitsgesetz v. 18. 10. 1935. Ernst Wölfin: Wolf-Lüke-Hax, Scheidung und Scheidungsrecht, 1959, S. 87 Fn. 289. Es war unzutreffend, wenn Prälat Heinrich Portmann das EheG 1938 als „Nazigesetz" bezeichnet hat (in: Das unauflösliche Band, 1950, S. 87). Dagegen: Wolf a.a.O.
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ten folgende Scheidungsgründe normiert: Ehebruch, Bigamie, männliche Homosexualität und Sodomie (§ 1565), Lebensnachstellung (§ 1566), böswilliges Verlassen (§ 1567), schwere Eheverfehlung (§ 1568) und Geisteskrankheit (§ 1569). Dieser letzte, selten vorkommende Tatbestand setzte als einziger kein Verschulden voraus; im Gesetzgebungsverfahren äußerst umstritten, war er erst von der zweiten Kommission vorgeschlagen, von der Reichstagskommission wieder verworfen und schließlich erst bei der dritten Lesung endgültig aufgenommen worden. Bis auf § 1568, den Tatbestand der schweren Eheverfehlung, hatten alle Verschuldenstatbestände absoluten Charakter, d . h . , daß sie den anderen Ehegatten ohne weiteres zur Scheidungsklage berechtigten. Dagegen war der Tatbestand der schweren Eheverfehlung (§ 1568) relativ gestaltet, indem er vorsah, daß die schuldhafte Verfehlung zur Zerrüttung der Ehe geführt haben mußte. Infolge seines Charakters einer Generalklausel hatte er alleine größere praktische Bedeutung als die absoluten Scheidungsgründe zusammen 4 . Doch war sein das Verschuldens- mit dem Zerrüttungsprinzip verbindender Tatbestand mehr durch jenes als durch dieses bestimmt. Wichtiger nämlich als das Erfordernis, daß das Verschulden des einen Gatten zur Zerrüttung der Ehe geführt haben mußte, war die den anderen Scheidungsgründen entlehnte Struktur, daß der eine durch sein erfolgsqualifiziertes Verhalten dem anderen einen „Scheidungsgrund" gab; diese war in § 1568 nicht aufgegeben. Der relative Scheidungstatbestand des § 1568 änderte daher nichts daran, daß das Scheidungsrecht des BGB grundsätzlich auf dem Verschuldensprinzip beruhte. Das Scheidungsrecht des BGB rührte im wesentlichen von der reformatorischen Ehelehre und dem protestantischen Ehescheidungsrecht her; insofern es sich damit dem kanonischen Scheidungsrecht verschloß, lag es auf der Linie des Reichspersonenstandsgesetzes v. J. 1875, dessen § 77 für die unter kanonischem Eherecht lebenden Reichsangehörigen die dauernde Trennung von Tisch und Bett ausgeschlossen und unter ihren Voraussetzungen die eine Wiederverheiratung zulassende Scheidung gesetzt hatte. Das Scheidungsrecht des BGB war konservativ, indem es die aufklärerischen Scheidungsgründe der subjektiven einseitigen oder zweiseitigen Zerrüttung unbeachtet ließ. Von subjektiver 4
Im Durchschnitt der Jahre 1921-1931 wurden mehr als die Hälfte aller Scheidungen nach § 1568 ausgesprochen (vgl. die Statistik bei Wolf, S. 470).
S c h e i d u n g s g r ü n d e in der F a m i l i e n r e c h t s g e s e t z g e b u n g
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Zerrüttung kann gesprochen werden, wenn die Erklärung eines oder beider Ehegatten gegen ihre E h e oder die ablehnende Einstellung eines oder beider Ehegatten gegen den anderen die Scheidbarkeit begründet. D a s in Preußen bis 1900 geltende A L R kannte unter der Überschrift „unüberwindliche A b n e i g u n g " in T h . I T t . 1 §§ 716—718b sowohl die einverständliche Scheidung kinderloser Ehegatten als auch die Scheidung auf einseitigen Antrag wegen tief eingewurzelten, hoffnungslosen Widerwillens gegen den anderen. D e r in der preußischen Rheinprovinz 5 geltende französische C o d e civil sowie das auf ihm beruhende Badische L a n d r e c h t kannten ebenfalls die Scheidung auf G r u n d gegenseitiger Einwilligung. D e r progressive Charakter dieser Scheidungsgründe stand in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aber im umgekehrten Verhältnis zu ihrer praktischen Bedeutung 6 . D a h e r kann die Entscheidung des Gesetzgebers des B G B gegen sie zwar konservativ, aber nicht reaktionär genannt werden. Ihr Kern lag in der Ablehnung der das E h e schließungsrecht beherrschenden Vertragsauffassung für die E h e s c h e i dung, mithin in der A n n a h m e , daß die E h e als Institution der Verfügung beider oder gar jedes einzelnen Ehegatten entzogen sei, so daß für eine L ö s u n g im wesentlichen nur die eine Pflichtverletzung voraussetzenden Regelungen wie bei anderen Dauerrechtsverhältnissen in Betracht kamen 7 . Die Eheauffassung der Verfasser des B G B kann aber insofern auch liberal genannt werden, als scheidungswillige Ehegatten von einer Inquisition ihrer E h e f ü h r u n g weitgehend verschont blieben. D i e Feststellung des m e h r oder weniger punktuellen Scheidungsgrundes e n t h o b den R i c h t e r einer Beurteilung der E h e als G a n z e s . Diese gewisse Liberalität wurde auch durch das Verschuldenserfordernis nicht d u r c h b r o c h e n , das in diesem Zusammenhang nicht die strafrechtliche Tiefendimension hatte, sondern durch jedes gewollte Verhalten erfüllt wurde, das den T a t b e s t a n d des E h e b r u c h s usw. abgab.
5
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Mit Ausnahme der aus preußischen Abtretungen gebildeten Teile des ehemaligen Großherzogtums Berg. Das gilt vor allem für den Code civil und das Badische Landrecht; in deren Geltungsgebiet wurden in den Jahren 1869-1878 nur 4 % der Ehen wegen gegenseitiger Einwilligung geschieden; für das A L R beträgt die Prozentzahl für die Jahre 1890-1899 immerhin 27% (Wolf, S. 69f.). Mugdan, Die gesamten Materialien zum B G B , Bd. IV, S. 301 f.
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Heinz Holzhauer
III. Die Entwicklung bis zum Ende der Weimarer Republik V o m Inkrafttreten des B G B an gingen die Scheidungszahlen kontinuierlich nach oben. Bis zum Ende des 1. Weltkriegs wurde das Scheidungsrecht dennoch rechtspolitisch nicht diskutiert. Das änderte sich in der Weimarer Republik. Den Anstoß dazu gab nicht etwa die veränderte Verfassungslage. Nach Art. 119 der Weimarer Reichsverfassung beruhte die Ehe auf der Gleichberechtigung der beiden Geschlechter. Dieser Anforderung hatten die Scheidungsvoraussetzungen des B G B von Anfang an entsprochen. Sie waren geschlechtsneutral. Differenzierungen bei der Unterhaltsfolge begünstigten die Frau, was der Ungleichbehandlung die politische Brisanz nahm. Die unterschiedlichen Wirkungen der Scheidungsvoraussetzungen auf die Geschlechter infolge der unterschiedlichen wirtschaftlichen Stellung von erwerbstätigem Mann und nicht erwerbstätiger Hausfrau spielte in der Scheidungsdiskussion der Weimarer Republik, sehr im Unterschied zu der jüngsten Reformdiskussion, keine Rolle. Eine auf Änderung dieser Verhältnisse abzielende Reform hätte auch mehr an den Scheidungsfolgen statt an den Scheidungsvorausaussetzungen anknüpfen müssen. Immerhin hat dieser Sachzusammenhang die damalige Reformdiskussion am Rande gestreift. Reformgegner behaupteten, daß sich eine erweiterte Scheidungsmöglichkeit zu ungunsten der Frau auswirken würde 8 , was zutraf, wenn die Regelung der Scheidungsfolgen nicht entsprechend verändert würden. Andererseits sahen die parlamentarischen Reformvorschläge bei Scheidung wegen schuldloser Zerrüttung eine Unterhaltsfolge vor, die allein an Leistungsfähigkeit und Bedürftigkeit orientiert war 9 . Man wird ohne weiteres annehmen können, daß die nach dem 1. Weltkrieg aufkommende Scheidungsdiskussion durch veränderte Eheverhältnisse ausgelöst wurde, welche die Scheidungszahlen nach einem kriegsbedingten Rückgang unverhältnismäßig ansteigen ließen 10 . 8
9 10
So der Zentrumsabgeordnete Bockius in der 276. Sitzung des RT am 23. 2. 27. Sten. Ber. Bd. 392, S. 9186f. „Daß der Frau durch die Verhinderung einer Ehescheidungsreform ein Dienst erwiesen werde... ist herrschende Meinung in Kreisen des Zentrums." (Evelyn Kühn, Die Entwicklung und Diskussion des Ehescheidungsrechts in Deutschland, Hamburger phil. Dissertation 1974, S. 55.) So die unten Fn. 17 genannten Anträge. Graphik der Entwicklung der Scheidungszahlen pro 100000 Einwohner bei Wolf, S. 486.
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Zu nennen sind die kriegsbedingten Frühehen und die ebenfalls kriegsbedingte jahrelange Trennung von Ehegatten sowie die veränderte Rolle der Soldatenfrau und Kriegerwitwe in Familie und Wirtschaftsleben. In der Nachkriegszeit werden die wirtschaftliche N o t und die durch die Inflation bewirkte soziale Umschichtung auch zu spezifischen Eheschwierigkeiten geführt haben. Jedenfalls räumten auch konservative Gegner einer Scheidungsreform ein, daß „eine große E h e n o t . . . im deutschen Lande eingezogen ist, . . . die auf wirtschaftliche, soziale und andere, auch Korruptionserscheinungen zurückzuführen ist: W o h nungsnot, Arbeitsnot und alle wirtschaftlichen Nöte" 1 1 . Das Anheben einer erneuten Scheidungsdiskussion dürfte aber auch der allgemeinen Ideologisierung zuzuschreiben sein, die durch den staatlichen Umbruch zur Republik ausgelöst wurde und in der die Parteien, Überzeugungsparteien, die sie in Deutschland waren, nicht ungern ideologische, weltanschauliche Gegensätze aufgriffen; zu solchen gehörte auch die Scheidungsfrage. Eindeutig gilt das von den Anträgen, welche die K P D am 20. 10. 26 12 und am 26. 6. 28 im Reichstag einbrachte und die auf eine Übernahme des sowjetrussischen Dekrets über die Ehescheidung vom 19./20. Dezember 1917 hinausliefen, das Eheschließung und -Scheidung zu Privatsache jedes Mannes und jeder Frau erklärte, vorbehaltlich der Intervention des Staates in jedem Einzelfall zum Schutz des Schwächeren oder der Kinder. Aussichtsreichere parlamentarische Initiativen gingen von der U S P D 1 3 , der SPD 1 4 , der Deutschen demokratischen Partei 15 sowie der Deutschen Volkspartei aus, also von der gesamten Linken bis etwa zur rechten Mitte. Als Wortführer der Gegner jeder Änderung des bestehenden Scheidungsrechts traten Abgeordnete des Zentrums auf. Die parlamentarischen Initiativen zielten sämtlich nicht auf eine Totalreform 1 6 , sondern darauf, den relativen Scheidungsgrund des
" So der Zentrumsabgeordnete Karl Anton Schulte in der 276. Sitzung des R T am 23. 2. 27 (Sten. Ber. Bd. 392, S. 9185f.). 12 R T Drs. Nr. 275. 13 Antrag Henke u. Gen. v. 24. 6. 22, R T Drs. Nr. 4580 und v. 9. 3. 1925, R T Drs. Nr. 631. 14 Antrag Müller-Franken u. Gen. v. 17. 7. 22, R T Drs. Nr. 4847. 15 Antrag Lüders u. Gen. v. 30. 6. 22, R T Drs. Nr. 4649 und v. 8. 1. 25, R T D r s . Nr. 74. 16 Nur im Schrifttum wurde teilweise auch die Beseitiung des Verschuldensprinzips gefordert; Nachweise bei Wolf, S. 76, Fn. 240.
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§ 1568 zu einem Tatbestand objektiver Zerrüttung auszubauen. Im einzelnen neigten die Vorschläge der U S P D und zeitweilig auch der SPD der subjektiven Zerrüttung zu, indem sie nämlich der objektiven Zerrüttung die einseitige Abneigung des Klägers oder den beiderseitigen Scheidungsantrag gleichstellten 17 . Die Neigung der Linken zum subjektiven Zerrüttungsbegriff erklärt sich aus ihrer traditionell antiinstitutionellen, individualistischen Eheauffassung. Die Begünstigung der einverständlichen Scheidung wurde besonders damit begründet, daß zahlungsfähige Scheidungswillige die Konventionalscheidung sowieso haben könnten, indem sie durch ihre Anwälte das vom Schuld- oder auch vom objektiven Zerrüttungsprinzip geforderte „Scheidungstheater" aufführen ließen 18 . Obwohl diese parlamentarischen Initiativen auch außerparlamentarische Unterstützung hatten 19 , scheiterten sie am Widerstand der christlich orientierten Parteien und der Kirchen. Zugrunde lag diesem Widerstand die Vorstellung von der Lebenszeitlichkeit der Ehe, der Unverfügbarkeit der Institution für die ihr unterworfenen Einzelnen, der erzieherischen Funktion der N o r m und schließlich die Ansicht, daß die Scheidungsstatistik von den Großstädten verdorben werde, denen gegenüber die reine Sitte auf dem Lande hochgehalten werden müsse 20 . IV. Die Eheideologie des Nationalsozialismus Die N S D A P , seit 1924 im Reichstag vertreten, beteiligte sich an dieser parlamentarischen Diskussion nicht. Gleichwohl hatte die Ehe in der „Weltanschauung" Adolf Hitlers einen festen Platz. Kaum eine einschlägige Abhandlung versäumte es, mindestens eines der folgenden beiden Zitate des „Führers" voranzustellen: „ A u c h die E h e k a n n nicht S e l b s t z w e c k sein, s o n d e r n m u ß d e m einen g r o ß e n Z i e l e , der V e r m e h r u n g u n d der E r h a l t u n g der A r t u n d R a s s e dienen"21. So die Anträge der U S P D v. 24. 6. 22 und der S P D v. 17. 6. 22. So die SPD-Abgeordnete Agnes in der 37. Sitzung des III. Dt. R T am 18. 3. 1925 R T Stenogr. Berichte Bd. 385, S. 1137ff. " Über Eingaben von Verbänden an das Parlament s. Wolf, S. 74, Fn. 217 m. w. Nw. 20 Helene Weber in der 23. Sitzung des R T am 1. 12. 28, Stcn. Ber. Bd. 423, S. 577. Ebenso Bockius s. o. Fn. 8. 21 Mein Kampf, München 1933, S. 275. 17
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Das instrumentale Verhältnis der Ehe zum Rassegedanken k o m m t in folgendem Zitat Hitlers noch mehr z u m Ausdruck: „Es gibt n u r ein heiligstes M e n s c h e n r e c h t , und dieses Recht ist zugleich die heiligste Verpflichtung, nämlich: d a f ü r zu sorgen, daß das Blut rein erhalten b l e i b t . . . Ein völkischer Staat w i r d damit in erster Linie die Ehe aus d e m N i v e a u einer d a u e r n d e n Rassenschande herauszuhalten h a b e n . . . " 22
Andere grundsätzliche nationalsozialistische Auslassungen gehen in keine andere Richtung, häufig sprechen sie von der Familie als der kleinsten Zelle, nun nicht mehr des Staates, sondern des Volkes 23 oder sogar der Rasse. Diese nationalsozialistische Eheauffassung war institutionell, die Ehe erscheint als ein organisches Element eines größeren O r g a nismus, eben des Volkskörpers. Dabei wird das Verhältnis der Ehe als Teil zu dem größeren Ganzen oft instrumental ausgedrückt: Ehe und Familie haben „Dienstcharakter in einem höheren Ordnungsgefüge" 2 4 . In weniger weltanschaulich politischen als scheidungsrechtlichen Z u sammenhängen wird dem institutionellen Aspekt gewöhnlich hinzugefügt, daß die Ehe auch f ü r das Verhältnis der Ehegatten zueinander Bedeutung habe. Bisweilen erscheint das nur als taktische Konzession des überzeugten Parteigenossen an den unpolitischen Volksgenossen, außerhalb des typisch nationalsozialistischen Schrifttums freilich auch umgekehrt der erste Aspekt als bloßes parteichinesisches Lippenbekenntnis. Ausgangspunkt der nationalsozialistischen Eheideologie ist der Rassegedanke. Die eigene Rasse soll nicht nur rein, sondern auch gesund und mächtig sein. Damit hat man das nationalsozialistische Familienp r o g r a m m in seinen drei Elementen: dem rassischen, eugenischen und bevölkerungspolitischen. Ramm hält, vom Rassegedanken abgesehen, den nationalsozialistischen Gemeinschaftsgedanken f ü r prinzipiell vereinbar mit der konservativen Ehe- und Familienauffassung der Zeit, in der er gewachsen ist; so sei das eugenische Prinzip des Nationalsozialismus von der in Art. 119 II W R V aufgestellten Forderung nach „Reinerhaltung, Gesundung und sozialer Förderung der Familie" kaum zu trennen, auch stimme die nationalsozialistische Bevölkerungspolitik mit der Sorge der Weimarer Republik f ü r kinderreiche Familien bis auf 22 23 24
Mein Kampf, S. 444. So die amtliche Begründung des EheG 1938 bei Volkmar, S. 484. Wieacker DR 37, 178.
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den Punkt überein, daß nach konservativer Ideologie die Familiengröße von den Individuen bestimmt werden solle 25 . Ich meine demgegenüber, daß es nicht angeht, bei der Beurteilung der nationalsozialistischen Familienideologie den Rassegedanken wegzulassen. Der eugenische und der bevölkerungspolitische Gedanke ergeben sich im Nationalsozialismus aus dem Rassegedanken; ohne die nicht zwingende Verbindung mit dem Rassegedanken erscheinen eugenische und bevölkerungspolitische Ziele aber in einem ganz anderen Licht. V. Reformbestrebungen in der Zeit nach 1933 1. Allgemeine Bemerkungen Legislatorische Forderungen aus diesem familienpolitischen Programm des Nationalsozialismus ergaben sich nun viel eher für das Sozialrecht und das Eheschließungsrecht. Daher charakterisiert sich die nationalsozialistische Familienrechtspolitik in erster Linie durch das Erbgesundheitsgesetz vom 14. 7. 33 sowie die Nürnberger Gesetze mit ihrer Einschränkung der Eheschließungsfreiheit aus rassischen und eugenischen Gründen. Zu nennen ist femer die Durchführungsverordnung zum Gesetz zur Verminderung der Arbeitslosigkeit vom 1 . 6 . 3 3 mit ihrer Regelung der Ehestandsdarlehen, wodurch einerseits der Arbeitsmarkt von arbeitssuchenden Frauen entlastet werden sollte, andererseits aber die Bevölkerungspolitik wirkungsvoll angekurbelt wurde, indem nämlich die Tilgung der Darlehen nach Maßgabe von Zahl und Raschheit der Geburten erleichtert war. Dieser Stellenwert des Scheidungsrechts wurde auch von Freisler, im Jahre 1937 Staatssekretär im Reichsjustizministerium, so gesehen: „Unter den staatlichen Maßnahmen sind viele bedeutsamer als das jetzige Gesetz oder das zu erlassende neue Eherecht" und „Im Eherecht selbst übt das Recht der Eheschließung den einschneidendsten Einfluß auf die Gestaltung der E h e . . . aus" 26 . Der geringe Stellenwert des Scheidungsrechts, speziell des Rechts der Scheidungsvoraussetzungen folgt unmittelbar aus dem in der ideologischen Grundauffassung angelegten Desinteresse an der Persönlichkeit der Ehegatten. Das Verschulden eines Ehegatten interessiert insofern, als dadurch der andere rechtlich verletzt wird, überhaupt nicht. Es interes25 26
Eherecht und Nationalsozialismus, Festschrift für Ernst Fraenkel, S. 151 ff. Vom alten zum neuen Ehescheidungsrecht, Berlin 1937, S. 4f.
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siert die Zerrüttung der Ehe, die dadurch untauglich wird, ihre bevölkerungspolitische Funktion zu erfüllen: vorhandene Kinder aufzuziehen und weitere hervorzubringen. Auch das hat Freisler klar ausgedrückt, wenn er vom Ehescheidungsrecht sagt: „Es wirkt sich zwar auf viel weniger Ehen aus (ac. als das Eheschließungsrecht), eben nur auf die kranken. Und es muß sich weitgehend bescheiden, insofern es nur in beschränktem Umfange die vornehmste Aufgabe des Rechts erfüllen kann: Unheil zu v e r h ü t e n . . . Die Bedeutung des Ehescheidungsrechts l i e g t . . . in der Hauptsache nicht in der Zahl der von ihm betroffenen Ehen, sondern darin, daß todkranke Ehen, die ihre völkische Pflicht trotz Zeugungs- und Geburtenfähigkeit der Ehegatten nicht mehr zu erfüllen vermögen - aufs Volksganze gesehen - den Abschluß einer gleichen Zahl von Ehen fortpflanzungsfähiger und gesunder deutscher Menschen verhindern, die in diesen neuen Ehen ihrer völkischen Aufgabe gerecht werden können" 2 7 . Es sei schon an dieser Stelle angemerkt, daß aus dieser Einstellung gegenüber der Ehescheidung in der kriegsbedingten Notlage der Justiz praktische Folgerungen gezogen wurden. Nach der Verordnung vom 1. 9. 39 ( R G B l . I 1656), konnte das Gericht in jeder Lage das Ruhen eines Verfahrens anordnen, „wenn es nach den Umständen des Einzelfalls die Erledigung der Sache nicht als dringlich" ansah. Nach dem „Richterbrief Nr. 5 " sollten im „totalen Krieg" Ehescheidungsprozesse grundsätzlich nur noch durchgeführt werden, „wenn ein bevölkerungspolitisches Interesse es gebietet oder wenn den Beteiligten schwere, unzumutbare Nachteile zugefügt werden" 2 8 . Zuletzt bestimmte der Reichsjustizminister, daß Ehesachen nur noch durchzuführen waren, wenn ein bevölkerungspolitisches Interesse dies gebietet oder wenn sie vom Staatsanwalt betrieben werden 29 . Dessen ungeachtet umfaßte der Anspruch des Nationalsozialismus auf Erneuerung des gesamten bürgerlichen Rechts besonders auch das Familienrecht. Daß gleich zu Anfang das Scheidungsrecht in Angriff genommen wurde, dürfte nicht zuletzt darin begründet gewesen sein, daß es sich hierbei um das klassische rechtspolitisch kontroverse Teilgebiet des bürgerlichen Rechts handelt, an dem sich der revolutionäre An27 28 29
A.a.O., S. 8. Hermann Weinkauff, Die deutsche Justiz und der Nationalsozialismus, S. 165. AV v. 28. 9. 44, DJ 44, 265.
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spruch am leichtesten durch Umstellung einiger, jedem Fachmann bekannten Versatzstücke für das ganze Volk sichtbar einlösen ließ 30 . Bereits im Jahre 1935 veröffentlichte der Vorsitzende des Familienrechtsausschusses der Akademie für deutsches Recht, Rechtsanwalt Ferdinand Mößmer, den von diesem Ausschuß erarbeiteten Vorschlag zur „Neugestaltung des deutschen Ehescheidungsrechtes" 31 . 1937 veröffentlichte die Wissenschaftliche Abteilung des Nationalsozialistischen Rechtswahrerbundes (NSRB) den Vorschlag des Entwurfs eines neuen Ehescheidungsrechtes 32 . Ein im Reichsjustizministerium unter der Leitung Gürtners gefertigter Entwurf ist nicht durch Veröffentlichung bekannt geworden 3 3 . Schließlich lagen im Jahre 1937 noch zwei mehr oder weniger offiziöse Arbeiten vor, die eine das 1936 veröffentlichte Buch „Die Reform des Ehescheidungsrechts" von Otto-Rudolf Bovensiepen 34 und sodann die umfassendste Darstellung „Vom alten zum neuen Ehescheidungsrecht" aus der Feder Roland Freislers. Die Zahl dieser Vorschläge mag überraschen, zumal sie auch inhaltlich erheblich variieren. Freisler hat diesen Meinungspluralismus offensichtlich genossen und als Beleg für eine innere geistige Offenheit des Nationalsozialismus herausgestellt 35 . In der Tat stellten alle Vorschläge die Ehe in den Dienst der nationalsozialistischen Ziele und differierten nur im Einsatz der dazu tauglichen Mittel; die hierbei ausgetragenen Meinungsgegensätze waren dann größtenteils solche, wie sie aus jeder früheren oder späteren rechtspolitischen Diskussion des Scheidungsrechts bekannt sind. 2. Inhalt und Bewertung der Reformbestrebungen Alle nationalsozialistischen Vorschläge bewegten sich unterschiedlich 32
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Bezeichnend die vorbeugende Bemerkung von Wieacker, D R 37, 178: „die völkische Revolution könne in Anspruch nehmen, nicht als R ü c k k e h r zu früheren Betrachtungsweisen mißverstanden zu werden". Schriften der A k a d e m i e für Deutsches Recht, Berlin o. J . , nach Freisler a . a . O . , S. 106: 1935. D R 37, 251. Nachricht darüber bei Freisler a . a . O . , S. 106. Dem Verfasser hat dieser Entwurf („Entwurf eines Gesetzes zur Vereinheitlichung des Rechts der Ehescheidung im Lande Österreich und im übrigen Reichsgebiet") durch freundliche Vermittlung des Instituts für Zeitgeschichte vorgelegen (Bundesarchivakte zu IV b 3 1011). Die Zuschreibung dieses Buches an einen „ O L G - D i r e k t o r i. R . " gleichen N a m e n s bei Kühn a . a . O . , S. 71, Fn. 3 dürfte fehlgehen. A . a . O . , S. 106.
S c h e i d u n g s g r ü n d e in der F a m i l i e n r e c h t s g e s e t z g e b u n g
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weit v o m Verschuldensprinzip des B G B weg auf das Zerrüttungsprinzip zu, gingen also insofern in dieselbe R i c h t u n g wie die parlamentarischen R e f o r m b e s t r e b u n g e n der W e i m a r e r Zeit, soweit diese nicht von der äußersten L i n k e n g e k o m m e n waren. U b e r w i e g e n d wurde das V e r schuldensprinzip nicht als solches kritisiert, sondern nur seine ausschließliche Geltung 3 6 . A u c h die früheren G e g n e r des Zerrüttungsprinzips hatten nicht geleugnet, daß eine E h e unverschuldet zerrütten kann, aber gemeint, im Interesse der Institution, man kann auch sagen: aus generalpräventiven G r ü n d e n , darauf keine R ü c k s i c h t nehmen zu dürfen 3 7 . Andererseits haben die Nationalsozialisten den „generalpräventiven" Gedanken ebenfalls betont 3 8 und auch nicht etwa die Motivierbarkeit des M e n s c h e n durch die Gestaltung des Scheidungsrechts angezweifelt 3 9 . A b e r eine Folgerung aus ihrer institutionellen Eheauffassung kreuzte den generalpräventiven G e d a n k e n : die zerrüttete Ehe kann ihren „ D i e n s t " nicht mehr erfüllen, aus ihr sind keine K i n d e r zu erwarten und den vorhandenen k ö n n e n die in zerrütteter E h e lebenden Eltern kein V o r b i l d sein. Als spezielle Nachteile eines ausschließlichen V e r schuldensprinzips wurde weiter genannt, daß scheidungswillige E h e gatten den Ausweg suchen, Verschuldensgründe zu fingieren und dem G e r i c h t vorzutäuschen 4 0 , ferner daß das Verhältnis der Ehegatten durch das gegenseitige Streben, dem anderen ein Verschulden nachzuweisen, zusätzlich belastet wird 4 1 . I m Unterschied zu den R e f o r m b e s t r e b u n g e n der Weimarer Zeit w u r de jede subjektive Auffassung der Zerrüttung abgelehnt 4 2 . Maßgeblichkeit eines Scheidungseinverständnisses oder einseitiger Ablehnung des anderen Ehegatten war mit jeder institutionellen Eheauffassung
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Einzige Ausnahme: Bovensiepen. Vgl. Mugdan IV, S. 301 f. Amtl. Begründung zum E h e G 1938 bei Volkmar, S. 484/485. So aber Ernst Wolf in Wolf-Lüke-Hax, Scheidung und Scheidungsrecht, 1959, passim, bs. S. 174ff. Vorspruch zum Entwurf des N S R B D R 37, 177. Larenz D R 37, 185; Bovensiepen, S. 46. „Es wird keine Willensscheidung geben" (Wieacker D R 37, 179); Amtl. Begründung zum E h e G 1938 bei Volkmar S. 4 8 4 " , MößmerS. 20. Grundsätzlich anders jedoch das „Schwarze Korps" vom 12. 11. 1936: darin wurde in eingehender Kritik am Entwurf des Familienrechtsausschusses der Akademie für Deutsches Recht für die Einführung der einverständlichen Scheidung eingetreten.
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unvereinbar 43 . Die Zerrüttung wurde daher objektiv definiert, z. B. als „Zustand der Zerstörung und Vernichtung der ehelichen Beziehungen" 4 4 . Nun erfordert die Feststellung, ob eine Ehe in diesem Sinne zerrüttet ist, aus der Sache heraus einen Blick auf ihre Geschichte und ihren möglichen weiteren Verlauf. Hier betonten die meisten nationalsozialistischen Vertreter den, wie sie es nennen, „finalen" Aspekt 4 5 . Hierbei wurde wiederum die subjektivistische Wendung, die auf die Zumutbarkeit einer Fortsetzung der Ehe abstellt (so § 1658 BGB [1900] und die Vorschläge der Weimarer Zeit), abgelehnt und stattdessen darauf abgestellt, ob eine Wiederherstellung der Ehe erwartet werden kann. Eine solche Beurteilung ist jedoch nur in der Weise möglich, daß vergangenes Geschehen in die Zukunft projiziert wird. Das führt in der Denkschrift der A f D R zu der dem finalen Ausgangspunkt entgegengesetzten Forderung, der Richter müsse die Ursache der Zerrüttung feststellen 46 . Die objektive Zerrüttungsscheidung sollte grundsätzlich beiden Ehegatten offenstehen. Gedacht war sie in erster Linie für die Fälle, in denen die Ehe ohne Verschulden eines Teils zerrüttet ist; hier ordnete sich als extremer Fall die bereits in § 1569 BGB (1900) als Scheidungsgrund anerkannte Geisteskrankheit ein. Als wichtiges Zerrüttungsbeispiel wird in allen Vorschlägen die „Eheunfähigkeit" genannt, die medizinisch (Zeugungs- und Gebärunfähigkeit) oder eugenisch (ein Gatte ist Träger schwer belastender Vererbungskeime) begründet sein kann 47 . Im Zentrum der objektiven Zerrüttungsscheidung steht jedoch in allen Vorschlägen der „unbenannte" Fall eines „sonstigen Grundes". Die Ausführungen von Larenz hierzu klingen bereits stark an die in den Vorarbeiten zum 1. EheRG beherrschend zum Ausdruck gekommene Ansicht an, wonach der Vorgang der Zerrüttung einer Ehe mit Verschuldenskategorien überhaupt nicht adäquat erfaßt werden könne 48 . Zu dieser stets als eine subtile, moralpsychologische Analyse vorgetragenen
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Vgl. zur Haltung des Gesetzgebers des B G B Mugdan IV, 301 ff. und die des Gesetzgebers des 1. EheRG v. 14. 6. 76: Holzhauer J Z 78, 114ff. (115). Bovensiepen, S. 59. Freister, S. 156; Bovensiepen, S. 144. Mößmer, S. 27. Freister, S. 119. A u c h der Scheidungsgrund der medizinischen Eheunfähigkeit hatte ein geschichtliches Vorbild in § 696 Th. II Tt. 1 preuß. A L R . D R 37, 177.
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Ansicht stehen die Ausführungen Freislers im Gegensatz, der sich betont auf den volkstümlichen Standpunkt einer von außen abzugebenden Beurteilung stellt; Nachbarn und Bekannte wüßten meist sehr entschieden zu sagen, an welchem Teil es liegt, wenn eine Ehe scheitert 49 . In allen Vorschlägen offiziellen oder offiziösen Charakters ist die Scheidung wegen Verschuldens beibehalten 50 ; begründet wird das in erster Linie mit dem generalpräventiven Gedanken 51 , aber auch im H i n blick auf die Scheidungsfolgen, die nach wie vor nach Möglichkeit an das Verschulden angeknüpft werden sollten. Freisler hielt darüber hinaus sogar an absoluten Scheidungsgründen fest. Schwere Treuebrüche müßten, ganz unabhängig von ihrer Auswirkung auf die Ehe, zur Folge haben, daß der andere Teil seine Freiheit wiedererlangt 52 . Besonders begründete Freisler das für den Ehebruch, der damals 53 wie heute von vielen zu den leichteren Eheverfehlungen gerechnet wird, dem bisweilen geradezu eine ehestabilisierende Wirkung nicht abgesprochen wird. Er widersprach alledem im Interesse der Frau und suchte nachzuweisen, daß die den Ehebruch als harmlos darstellenden Argumentationen regelmäßig nur den männlichen Ehebruch im Auge haben 54 . Auf diesem Weg gelangte Freisler zur Bestätigung sämtlicher absoluter Scheidungsgründe des B G B und ergänzte sie durch einen, der sich aus der nationalsozialistischen Eheauffassung ergibt: die grundlose Verweigerung von Nachkommenschaft und Geschlechtsverkehr 55 . Man mag diesen Scheidungsgrund typisch natio-
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A . a . O . , S. 122f. So auch im Entwurf des Reichsjustizministeriums, a.a.O. (Fn. 33), § 5 S. 1; anders Bovensiepen und Schneider DR 37, 142. Freisler, S. 106. Bei Mößmer heißt es gar, jedem solle eingehämmert werden, daß er gegen die Ehe als sittliche Einrichtung nicht böswillig verstoßen dürfe (S. 27). A . o . O . , S. 127; so auch der Entwurf des Reichsjustizministeriums, a.a.O. (Fn. 33), § 2 Abs. 1. Vgl. dazu den Artikel „Zum neuen Scheidungsrecht", in: Das Schwarze Korps vom 21. 10. 1937, S. 6, wo zwar im ganzen die Vorschläge Freislers gebilligt und unterstützt werden, hinsichtlich der Behandlung des Ehebruchs aber explizit eine abweichende Auffassung vertreten wird: der Ehebruch des Mannes wiege weniger schwer als der der Frau, weil der Schoß der Frau unendlich viel wertvoller sei als die Zeugungsfähigkeit des Mannes. Deshalb müsse der Ehebruch der Frau als absoluter Scheidungsgrund qualifiziert werden, der des Mannes aber nicht. A . a . O . , S. 172ff. A . a . O . , S. 176.
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nalsozialistisch nennen, sollte aber sehen, daß das preußische A L R ihn in ähnlicher Form gekannt hat 56 . Auch der Vorschlag des N S R B nannte diesen Fall als Zerrüttungsbeispiel 57 , die Denkschrift der A f D R hat ihn als relativen Scheidungsgrund aufgenommen 5 8 . Für seinen Vorschlag, gerade diesen Scheidungsgrund absolut zu gestalten, konnte Freisler die Folgerichtigkeit aus der nationalsozialistischen Zielsetzung der Ehe in Anspruch nehmen. Ohne Vorbild war schließlich der Vorschlag einer durch den Staatsanwalt zu betreibenden Zwangsscheidung. Durch die scheidungsrechtspolitischen Schriften von Nationalsozialisten geisterte von Anfang an der Abscheu vor der Ehe des Zuhälters mit der Dirne. Der die Zwangsscheidung auslösende Tatbestand wurde dahin definiert, daß Ehegatten im Zusammenwirken ein verbrecherisches oder unsittliches Leben führten. Im einzelnen ging der Vorschlag der AfDR 5 9 weiter als derjenige Freislers, der auch in seiner Begründung scharf vor jeder Ausweitung dieses Ausnahmetatbestands warnte 60 . Die bisherige Darstellung der Reformvorschläge hat bereits gezeigt, daß sie alle mehr oder weniger an der Kasuistik einzelner Scheidungstatbestände festhalten. Einzige Ausnahme hiervon ist wiederum Bovensiepen, der von Freisler, obwohl gerade hierin anderer Meinung, dafür gerühmt wurde, daß er „zu dem gesetzgeberisch einfachsten und übersichtlichsten Einheitsscheidungsgrund der nicht schuldbedingten Zerrüttung der Ehe" gelangt sei61. Dem Vorschlag Bovensiepens stand derjenige des N S R B am nächsten, der seinen Einheitstatbestand als objektiven Zerrüttungstatbestand formulierte und ihm Beispiele folgen ließ, die teils Verschuldensgründe, teils schuldlose Scheidungsgründe waren. 3. Auswirkungen der Annektion Österreichs auf die Reformbestrebungen; Schaffung des Ehegesetzes von 1938 Es ist nicht ganz klar, ob und in welcher Form diese Vorarbeiten für eine Scheidungsreform Erfolg gehabt hätten, wenn sie nicht infolge eines äu56
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„Ein Ehegatte, welcher durch sein Betragen bei oder nach der Beiwohnung die Erreichung des gesetzmäßigen Zweckes derselben vorsätzlich hindert, gibt dem anderen zur Scheidung rechtmäßigen Anlaß." (Th. II Tt. 1 § 695). DR 37, 178. A.a.O., S. 34. Mößmer, S. 67. S. 127f. S. 106.
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ßeren Ereignisses im Jahre 1938 überraschend zum Abschluß gekommen wären 62 . Es war dies der Anschluß Österreichs. Das österreichische Scheidungsrecht war noch unverändert das des „Josephinischen Gesetzbuchs" vom Jahre 1786, das ohne wesentliche Änderungen seit 1811 den personenrechtlichen Teil des österreichischen A B G B bildete. Danach galt als materielles Scheidungsrecht das konfessionelle Recht der Ehegatten. Problematisch war das für die Katholiken, deren Ehe gemäß § 1 1 1 A B G B dem Bande nach nicht getrennt werden konnte. Weil es auf die Konfessionszugehörigkeit im Zeitpunkt der Eheschließung ankam, konnten sich scheidungswillige österreichische Katholiken auch nicht durch einen Konfessionswechsel helfen. Als sich die Bestrebungen sowohl von katholischen Laienvereinen als nach 1918 auch von Seiten der S P O — die Regierung Renner legte bereits am 23. und 24. Januar 1919 den Entwurf einer Eherechtsnovelle vor - nicht durchsetzten, halfen die Sozialisten auf administrativem Weg. Nach § 83 A B G B konnte „die Landesstelle, in oberster Instanz das Ministerium des Innern 63 , aus wichtigen Gründen Nachsicht von Ehehindernissen erteilen. D a diese nicht abschließend aufgezählt waren, war es möglich, abweichend von der früheren Praxis nunmehr auch das Hindernis des Ehebandes (§ 62 E B G B ) unter die dispensablen Fälle aufzunehmen und so einen Weg zur Notzivilehe zu ebnen. Als ein Erlaß des Ministeriums des Innern vom 27. 8. 1919 diese Praxis für rechtmäßig erklärte, war die österreichische Dispensehe geschaffen, die, nach einem Wort Ehrenzweigs, in der Kulturwelt nicht ihresgleichen hatte 64 . Aber dieser Weg blieb unsicher. 1921 erklärte der österreichische Oberste Gerichtshof in einem Gutachten, um das ihn das Justizministerium ersucht hatte, das Hindernis des Ehebandes für indispensabel 65 . Indem die Zivilgerichte in der Folgezeit, wenn sie die Gültigkeit einer Dispensehe zu prüfen hatten, diese im An-
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Einerseits Volkmar u. a. in der Einleitung zu dem Kommentar zum E h e G 1938, S. 46: danach hatte Anfang 1938 mit einer baldigen Verabschiedung des Gesetzes durch die Reichsregierung gerechnet werden können. Andererseits konnte nach Wolf, a.a.O. S. 208, Fn. 76 das diese Reformbestrebungen abschließende EheG 1938 dem radikaler denkenden Hitler nur mit der Begründung abgerungen werden, daß die Neuregelung in Osterreich unaufschiebbar sei. O b und welche der geschilderten Vorarbeiten Hitler „radikal" genug gewesen waren, bleibt dabei offen.
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Manzsche Ausgabe der österreichischen Gesetze Bd. 2 A B G B , 20. Aufl., Wien 1916, Anm. zu § 83. Ehrenzweig J W 27, 1184. Amtsblatt des Justizministeriums 1921, 76.
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Schluß an den O G H verneinten, entstand ein Kompetenzkonflikt zwischen Verwaltung und Justiz, zu dessen Schlichtung im Jahre 1927 der Verfassungsgerichtshof angerufen wurde. Dieser sah die Zivilgerichte als an die Verwaltungsentscheidung gebunden an, verwies daher an das Zivilgericht zurück, das an diese Rechtsauffassung nun gebunden war. Im Jahre 1930 änderte der Verfassungsgerichtshof jedoch seine Ansicht, so daß es für den Bestand einer Dispensehe darauf ankam, ob sie angegriffen wurde oder nicht. Bei der Unerträglichkeit einer solchen Rechtslage erscheint es glaubhaft, daß die österreichischen Nationalsozialisten bereits in den Dreißiger Jahren damit geworben haben sollen, die Ehescheidung einzuführen. Der Anstoß zur Verwirklichung dieses Zieles wird in dem im Reichsjustizministerium gefertigten offiziösen Kommentar zum EheG 1938 im Stil einer mittelalterlichen Gesetzgebungslegende so geschildert: „Tatsächlich erteilte denn auch der Führer und Reichskanzler alsbald nach seiner ersten Besichtigungsfahrt durch die wiedergewonnene Heimat, bei der insbesondere auch viele Klagen über den heillosen Ehewirrwarr an ihn herangetragen waren, dem Reichsminister der Justiz den Auftrag, beschleunigt ein Gesetz auszuarbeiten, das geeignet sei, die in Osterreich aus der Zwiespältigkeit seines Eherechts entstandenen unhaltbaren Zustände endgültig zu beseitigen und insbesondere die unglückselige Dispensehenfrage einer raschen und befriedigenden Lösung zuzuführen" 6 6 . In dieser Lage hätte das im „Altreich" geltende Scheidungsrecht auf Osterreich ausgedehnt werden oder in Österreich ein besonderes Scheidungsrecht eingeführt werden können. Angesichts der seit langem geplanten Scheidungsrechtsreform und dem Ziel der Rechtseinheit im „Großdeutschen Reich" entschied man sich dafür, außerhalb der beiden Kodifikationen beschleunigt ein das Eheschließungs- und Scheidungsrecht zusammenfassendes Sondergesetz zu schaffen. Auf Grund der Vorarbeiten konnte dieses Ziel binnen kürzester Zeit verwirklicht werden: bereits am 6. 7. 1938 trat das „Ehegesetz" in Kraft. Das Ehegesetz lag in seinem zweiten, das Recht der Ehescheidung behandelnden Abschnitt (§§ 46-83) ganz auf der Linie der Vorarbeiten. In dem Abschnitt B „Ehescheidungsgründe" (§§ 47-55) stand der Unterabschnitt I „Scheidung wegen Verschuldens (Eheverfehlungen)" neben 66
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dem Unterabschnitt II „Scheidung aus anderen Gründen". Bei den Eheverfehlungen hat sich Freisler insofern durchgesetzt, als diese nicht sämtlich relativ gestaltet sind, sondern „Ehebruch" (§ 47) und „Verweigerung der Fortpflanzung" (§ 48) absolute Scheidungsgründe sind, denen die Generalklausel des § 49 gegenübersteht, in der „Andere Eheverfehlungen" die Scheidbarkeit begründen, wenn sie zur Zerrüttung der Ehe geführt haben. § 49 E h e G entspricht also dem vorangegangenen § 1568 B G B (1900). Die entscheidende Neuerung gegenüber dem B G B liegt in dem Ausbau der unverschuldeten Scheidungsgründe. D o c h hält sich das Ehegesetz gegenüber den nationalsozialistischen Vorarbeiten in deutlicher Weise zurück. Alle Vorschläge wollten den Weg zu einer objektiven materiellen Zerrüttungsprüfung öffnen. Demgegenüber führte das Ehegesetz in § 55 die „Auflösung der häuslichen Gemeinschaft" ein: Nur wenn die häusliche Gemeinschaft der Ehegatten seit drei Jahren aufgehoben und infolge einer tiefgreifenden, unheilbaren Zerrüttung die Wiederherstellung einer dem Wesen der Ehe entsprechenden Lebensgemeinschaft nicht zu erwarten war, konnte ein Ehegatte die Scheidung begehren. Dieses Erfordernis der Heimtrennung kam überraschend. In keinem veröffentlichten nationalsozialistischen Vorschlag war derartiges vorgesehen gewesen. Im Gegenteil hatten sich Wieacker und Freisler dagegen ausgesprochen, der objektiven Zerrüttungsscheidung eine Trennungsfrist vorzuschalten 67 . § 55 ist vielmehr aus dem nicht veröffentlichten Entwurf des Reichsjustizministeriums 68 in das Ehegesetz übernommen worden; von dem Entwurf muß man in die Weimarer Zeit zurückgehen, um Vorbilder für das Heimtrennungserfordernis zu finden; sie lagen in dem am weitesten von rechts gekommenen Antrag, demjenigen Kahls vom 8. 7. 1927, der ebenfalls das Erfordernis einer dreijährigen Trennung enthalten hatte 69 , während in dem auf der Grundlage des Kahlschen Antrags erarbeiteten Vorschlag des Rechtsausschusses des Reichstages vom 14. 3. 1928 die Frist auf ein Jahr verkürzt war 70 . Bei dieser reformerischen Zurückhaltung des Ehegeset67
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Während Wieacker (DR 37, 184) bei seiner Argumentation die einverständliche Scheidung im Auge hatte, dachte Freisler (a.a.O. S. 166f.) an Fälle einseitigen Scheidungsbegehrens. Wiederum (vgl. o. S. ) dachte er an eine scheidungswillige Frau, die dann viel schwerer als der Mann die Trennung herbeiführen könne. S. o. Fn. 33, und zwar § 11 Abs. 1 des Entwurfs. Vgl. B T Drs. 7/650, S. 66. R T Drs. Nr. 4106 III. Wahlper. 1928. Ebenfalls ein Trennungsjahr bei Erler D J Z 27. Sp. 348.
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zes verwundert es nicht, daß auch die Einschränkung des Antragsrechts für denjenigen Ehegatten, der die Zerrüttung ganz oder überwiegend verschuldet hat, aufgenommen wurde; in einem solchen Fall erhielt der Beklagte durch § 55 Abs. 2 ein Widerspruchsrecht. Sein Widerspruch war jedoch darauf beschränkt zu prüfen, ob eine Aufrechterhaltung der zerrütteten Ehe bei richtiger Würdigung ihres Wesens und des gesamten Verhaltens beider Ehegatten sittlich gerechtfertigt war 7 1 ; dieses mehrfache Regel-Ausnahme-Verhältnis dürfte auf die von Wieacker hierzu angestellten Überlegungen zurückzuführen sein. Durch das Erfordernis der Heimtrennung erscheint § 55 des Ehegesetzes fast nicht mehr als Generalklausel der unverschuldeten Zerrüttung, sondern als ein Tatbestandstyp dieser Art neben den anderen, die sämtlich als Ausdehnung des nur die Geisteskrankheit erfassenden § 1569 BGB (1900) zu verstehen sind. Weitere Neuerungen gegenüber dem BGB waren die Tatbestände der Geistesstörung (§ 50), ansteckender oder ekelerregender Krankheit (§ 52) und der Unfruchtbarkeit; nur dieser letzte Tatbestand ist wiederum typisch nationalsozialistisch. Dieses Ehegesetz konnte dem radikaleren Hitler nur mit der Begründung abgerungen werden, daß die Neuregelung für Osterreich unaufschiebbar sei 72 . Frantz, von 1937 bis 1943 Mitglied des für Ehesachen zuständigen IV. Senats des Reichsgerichts, hat das Ehegesetz als „Kompromiß zwischen einer sehr gemäßigten Richtung, die vor allem in der amtlichen Begründung zu Wort kam, und den ,Allesscheidern', deren wildeste Leute im „Schwarzen Korps" großen Lärm vollführten" bezeichnet 73 . Es scheint, daß die radikale Richtung im Lauf des Krieges, der zu starken Verlusten besonders der männlichen Bevölkerung führte, Auftrieb erhalten hat 74 . Nach Äußerungen Himmlers, die auf einen Plan Hitlers Bezug nehmen, und Bormanns, die beide mit einer Denkschrift vom 29. 1. 1944 „Uber die Sicherung der Zukunft des deutschen Volkes" übereinstimmen sollen, gingen offizielle Überlegungen weit über die im Institut der Ehescheidung liegende sukzessive Polygamie hinaus und planten für „verdiente Frontkämpfer" die Zweitehe. Derartiges mutet freilich ebenso utopisch an wie die Voraussetzung es war, unter der es stand: ein deutscher Endsieg. 71 72 73 74
So auch schon im Entwurf des Reichsjustizministeriums, a.a.O. (Fn. 33), § 11 Abs. 2. S. o. N J W 49, 448. Das folgende nach Ramm a.a.O. S. 160 mit Fn. 22.
Wolfgang Naucke
DIE AUFHEBUNG DES STRAFRECHTLICHEN ANALOGIEVERBOTS 1935
Übersicht I. Forschungsfragen 1. Texte von 1935 2. Die überwiegende aktuelle Interpretation dieser Texte (Aufhebung des Analogieverbots als Bruch, der 1945 geheilt worden ist) 3. Andere Möglichkeiten der Interpretation a) Aufhebung des Analogieverbots, ein nicht aufsehenerregender Teil eines Gesamtsystems in der Justizgesetzgebung 1 9 3 3 - 1945? b) Dieses Gesamtsystem, nur hervorgehobener Punkt einer längerfristigen Entwicklung? II. Material aus der strafrechtlichen Regelsetzung 1933 - 1945 1. Juristische Organisation der strafrechtlichen Regelsetzung 2. Sprachliche Technik dieser Regelsetzung 3. Aufhebung des Analogieverbots und verwandte Erscheinungen 4. Anweisungen für die Handhabung strafrechtlicher Regeln 5. Einschränkung des Verbots der Wahlfeststellung 6. Mißachtung des Rückwirkungsverbots 7. Abschaffung der Unabhängigkeit und Unabsetzbarkeit der Richter und des Prinzips des gesetzlichen Richters 8. Abschaffung des Legalitätsprinzips 9. Wichtige Einzelheiten
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Wolfgang Naucke
III. Versuch einer allgemeinen Kennzeichnung des Materials aus der strafrechtlichen Regelsetzung 1933 - 1945 1. Das Strafjustizsystem 1933 - 1945 insgesamt gekennzeichnet durch die direkte Aktion 2. Das Gegenmodell 3. Auseinanderfallen von 1. und 2. deutlich IV. Die Verbindung des Strafjustizsystems 1933 - 1 9 4 5 zu der Zeit vor 1933 und nach 1945 1. Zusammenfassung 2. Ähnliche Erscheinungen wie 1933 - 1945 a) im Strafjustizsystem vor 1933 b) im Strafjustizsystem nach 1945 3. Erörterung naheliegender Einwände a) Einwand aus dem Unterschied der Gesetzeslage bis 1933, 1933 - 1945, nach 1945 b) Einwand aus den verschiedenen politischen Zielen, denen das Strafrecht jeweils dient c) Einwand aus möglicherweise zu hohen Erwartungen an den Inhalt des Strafrechts
Aufhebung des Analogieverbots
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I. Forschungsfragen 1. Durch das Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuchs vom 28. 6. 1935 1 ist das Analogieverbot, die Bindung des Strafjuristen an das Strafgesetz aufgehoben worden. § 2 Abs. 1 S t G B in der Fassung von 1871 bestimmte, daß eine Handlung nur dann bestraft werden konnte, wenn die Strafe gesetzlich bestimmt war, bevor die Handlung begangen wurde. Diese Formulierung stammte aus § 2 Abs. 1 des S t G B für den N o r d deutschen Bund von 1870 und ging zurück auf § 2 des Preußischen Strafgesetzbuchs von 1851. 1935 wurde diese Formulierung ersetzt durch die Wendung: „Bestraft wird, wer eine Tat begeht, die das Gesetz für strafbar erklärt oder die nach dem Grundgedanken eines Strafgesetzes und nach dem gesunden Volksempfinden Bestrafung verdient. Findet auf die Tat kein bestimmtes Strafgesetz unmittelbar Anwendung, so wird die Tat nach dem Gesetz bestraft, dessen Grundgedanke auf sie am besten zutrifft."
Nach 1945 ist diese Wendung wieder beseitigt worden. § 1 S t G B lautet heute: „Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde."
Art. 103 Abs. 2 G G enthält die gleichen Worte. 2. Dieser Vorgang der Abschaffung und Wiedereinführung des Analogieverbots wird in der aktuellen strafrechtlichen Literatur mit eindrucksvoller Deutlichkeit interpretiert 2 . Die Einmaligkeit der Aufhebung der Gesetzesbindung im Strafrecht wird unterstrichen, die rechtspolitische Unerträglichkeit des Gesetzes vom 28. 6. 1935 mit klaren Worten geschildert. Ein Kulturrückschritt sei diese Gesetzgebung von 1935, ein Abfallen von den Grundprinzipien der Strafgesetzhandha1
2
R G B l . 1935 I, 839. Kern, Geschichte des Gerichtsverfassungsrechts, 1954, S. 2 7 4 . ; F. v. Hippel, Die Perversion von Rechtsordnungen, 1955, S. l l f . , 38 f . ; E. Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 3. Aufl., S. 434, 453•,] escheck, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 3. Aufl., S. 104\ Maurach-Zipf, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Teilband 1, 5. Aufl., S. 135f.; Schmidhäuser, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 2. Aufl., S. 77, 7 8 f . ; Tröndle, in L K zum S t G B , 10. Aufl., Rn. 5 - 8 zu § 1; Schreiber, Gesetz und Richter, 1976, S. 191 ff., 201 ff.; Baumann, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 8. Aufl., S. 56; Straßburg, Analogieverbot - Formalgrenze oder Wertgrenze? Diss. T ü bingen, 1974, S. 6, 8.
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bung in einem liberalen demokratischen Staat 3 . Die Wiedereinführung des Analogieverbots erscheint als schnelle, entschiedene Beendigung einer schlimmen Periode der Strafrechtsentwicklung 4 . Die Zeit der Nichtbeachtung des Analogieverbots 1935 - 1945 wird charakterisiert als hervorstechende Ausnahme, als Bruch in einer unbeirrbaren Entwicklung 5 . 3. Die Verdienste dieser Interpretation liegen auf der Hand. Sie enthält ein Bekenntnis zum Prinzip der Gesetzlichkeit im Strafrecht. Sie bestimmt ohne Vorbehalt die Ablehnung eines nationalsozialistischen Strafrechts. U n d sie hebt die Wichtigkeit der Strafrechtsentwicklung bis 1933 und ab 1945 hervor. Allerdings lassen sich auch die Schwächen dieser Interpretation nicht übersehen. Die beiden Hauptschwächen sind: a) Die Bedeutung der Aufhebung des Analogieverbots wird zu hoch bewertet. Die Untersuchung des nationalsozialistischen Strafrechts gerät zu einfach, wenn das Interesse vornehmlich auf die scheinbar so eindeutigen Abweichungen von einem liberal-rechtsstaatlichen Strafrecht gerichtet wird. Macht man die Aufhebung des Analogieverbots und ähnliche Erscheinungen - z. B. den Umfang, in dem die Todesstrafe angewendet worden ist, die wenigen bekannt gebliebenen Abweichungen vom Rückwirkungsverbot 6 , die Veränderung des Verhältnisses von Justiz und Polizei, das Strafrecht gegen Polen und J u d e n - , macht man diese, wegen ihrer Willkürlichkeit und Brutalität einprägsamen Teile des Strafrechts zwischen 1933 und 1945 zum bestimmenden Kriterium für
Jescheck, a . a . O . (Anm. 2), S. 104; Maurach-Zipf, a.a.O. (Anm. 2), S. 135; Schmidhäuser, a . a . O . (Anm. 2), S. 77; Baumann, a . a . O . (Anm. 2), S. 56; Lengemann, Höchstrichterliche Strafgerichtsbarkeit unter der Herrschaft des Nationalsozialismus, Diss. Marburg, 1974, S. 56. Zusammenfassend: Rüping, Grundriß der Strafrechtsgeschichte, 1981, S. 9 6 - 9 8 ; Laufs, Rechtsentwicklung in Deutschland, 2. Aufl., 1978, S. 292. 4 S. E. Schmidt, a . a . O . (Anm. 2), S. Abi-, Jescheck, a . a . O . , (Anm. 2), S. 104; Tröndle, a.a.O. (Anm. 2), Rn. 7 zu § \ ;H. Mayer, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 1953, S. 85. 5 S. E. Schmidt, a.a.O. (Anm. 2), S. 4 3 2 f f . ; Schmidhäuser, a.a.O. (Anm. 2), S. 7 7 f . ; Baumann, a . a . O . (Anm. 2), S. 56; Jescheck, in L K zum S t G B , 10. Aufl., Rn. 50 der Einleitung. 6 E. Schmidt, a.a.O. (Anm. 2), S. 436, nennt drei Beispiele; Rüping, a.a.O. (Anm. 3); Schmidhäuser, a . a . O . (Anm. 2), S. 77, zwei: das ist viel zu wenig; vgl. unten I I . 6 . 3
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den Inhalt typisch nationalsozialistischen Strafrechts 7 , so konstruiert man zu voreilig und zu unergiebig eine Grenzlinie zwischen nationalsozialistischem und anderem Strafrecht. Es ist eine offene Frage, ob die Aufhebung des Analogieverbots für die Annahme des Vorliegens nationalsozialistischen Strafrechts so aussagekräftig ist, wie es im allgemeinen angenommen wird. Und es ist auch eine offene Frage, ob die Grenzlinie zwischen nationalsozialistischem Strafrecht und anderem Strafrecht so dicht bei der Aufhebung des Analogieverbots und bei vergleichbaren Maßnahmen verläuft, wie es der aktuellen Literatur entnommen werden kann 8 . Gegen die Auffassung, das nationalsozialistische Strafrecht müsse an den hervorgehobenen Abweichungen vom vorangegangenen Rechtszustand gemessen werden, setzt der folgende Text die These, daß es nicht lehrreich ist, nationalsozialistisches Strafrecht gegen nicht-nationalsozialistisches Strafrecht zu stellen. Eine solche Auffassung kann nur begründet werden mit der allgemeinen Konstruktion der Trennung eines politisch motivierten Strafrechts von einem politisch neutralen Vgl. das Material, das den Ausführungen z u m nationalsozialistischen Strafrecht von E. Schmidt, a . a . O . ( A n m . 2), S. 434ff., von Schmidhäuser, a . a . O . ( A n m . 2), S. 77f., und von Baumann, a . a . O . ( A n m . 2), S. 56f., zugrundeliegt. Zum nationalsozialistischen Gerichtsverfassungsrecht vgl. Kern, a . a . O . ( A n m . 2), S. 194ff., 274ff. Zusammenfassung dieser Linie bei Rüping, a . a . O . ( A n m . 3), S. 97ff. 8 S. E. Schmidt, a . a . O . (Anm. 2), S. 430ff. ; Schmidhäuser, a . a . O . ( A n m . 2), S. 7 7 f . ; Welzel, Das deutsche Strafrecht, 11. A u f l . , S. 13; Maurach, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 2. A u f l . , S. 86; Baumann, a . a . O . ( A n m . 2), S. 55f. ; K. Peters, in Flitner (Hrsg.), Deutsches Geistesleben und Nationalsozialismus, 1965, S. 163; Schaf/stein, Jugendstrafrecht, 7. A u f l . , S. 31 (für das Jugendstrafrecht); Jescheck, in LK z u m StGB, 10. A u f l . , Einleitung Rn. 51 ; allgemein: A Wagner, i n : Die deutsche Justiz und der Nationalsozialismus, Teil I, 1968, S. 194, und W. Wagner, D e r Volksgerichtshof im nationalsozialistischen Staat, 1974, S. 861 ff. Der Versuch, pervertiertes, politisches, nationalsozialistisches von nicht-pervertiertem, nicht-politischem, nicht-nationalsozialistischem Strafrecht zu unterscheiden, liegt schon der Verordnungsgebung des Kontrollrats z u g r u n d e (vgl. z. B. die 1. A n ordnung z u r A u f h e b u n g der Grundgesetze des H i t l e r - R e g i m e s vom 20. 9. 1945) und findet sich dann in der Literatur der unmittelbaren Nachkriegszeit (s. z. B. Göke, StGB in der am 1. 8. 1947 geltenden Fassung, 1 . - 4 . A u f l . , 1948, S. 1 *). - Zur Erörterung der Unterscheidung nationalsozialistisches/nicht-nationalsozialistisches Strafrecht in der politologischen und historischen Literatur s. Broszat, V j H Z G 1958, 390ff., und Broszat, Nationalsozialistische Polenpolitik, 1961, S. 128f.; weiter: Schäfer, Strafprozeßrecht, Eine Einführung, 1976, Kap. 3, Rn. 21 (für das Gerichtsverfassungs- und Strafverfahrensrecht). - Eingehend zu den Möglichkeiten, verschiedene Bereiche im nationalsozialistischen Recht überhaupt z u unterscheiden, Stolleis, Art. „Nationalsozialistisches Recht" in: Erler u. Kaufmann (Hrsg.), H a n d w ö r t e r b u c h zur deutschen Rechtsgeschichte. 7
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Strafrecht 9 , so als sei in einem bestimmten Staat die Aufhebung des Analogieverbots schlechtes politisches Strafrecht, die Bestrafung wegen Diebstahls in dem gleichen Staat aber unpolitische, fachmännische Strafrechtspflege. Eine solche Auffassung wird die Neigung zur politischen Gleichstimmigkeit aller Teile des Strafrechtssystems eines bestimmten Staates zu gering veranschlagen. Daß das politische Klima in einem Staat alle Teile der Strafjustiz nicht nur affiziert, sondern inhaltlich bestimmt und trägt, wird nicht leicht zu bestreiten sein. Die strafjuristische Erfahrung drängt zu dieser Annahme. Unterschiede ergeben sich allein durch die Stärke und die zeitliche Dauer eines politischen Klimas. Auf solche Faktoren läßt sich zurückführen, daß verschiedene Teile eines Strafrechtssystems dem politischen Klima verschieden weit angepaßt sind. Der folgende Text geht also davon aus, daß es von 1933 —1945 ein einheitliches Strafjustizsystem oder Strafrechtssystem gegeben hat und versucht, unter Vermeidung der Einteilung nationalsozialistisches/ nicht-nationalsozialistisches Strafrecht, das rechtspolitische Ziel dieses Systems einheitlich zu kennzeichnen. Nachgegangen wird dabei jenen Teilen des Systems, die in ihrer Bedeutung dem Analogieverbot vergleichbar sind. Der Inhalt dieser tragenden Systemteile und die Wirkung dieser Inhalte aufeinander werden bestimmt. Die Teile, die als tragende Teile eines Strafjustizsystems aufgefaßt werden können, sind: juristische Organisation der Strafgesetzgebung; Art der Formulierung der Gesetzestexte; Analogieverbot, Rückwirkungsverbot, Wahlfeststellung, Auslegungsanweisungen; richterliche Unabhängigkeit und Unabsetzbarkeit; Garantie des gesetzlichen Richters; Legalitätsprinzip; allgemeine Auffassung von der Aufgabe strafprozessualer und gerichtsverfassungsrechtlicher Regeln. b) Die Interpretation der Aufhebung des Analogieverbots und verwandter rechtspolitischer Erscheinungen als typisch nationalsozialistische Verneinungen liberal-rechtsstaatlicher Grundwerte hat eine weitere Schwäche. Diese Interpretation enthält eine zu blasse Vorstellung vom Verlauf einer Strafrechtsentwicklung. Diese Interpretation erlaubt die Annahme, es gebe einlinig vernünftige Entwicklungen, z. B. das A k -
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S. die Formulierungen bei Welzel, a.a.O. (Anm. 8), S. 13; s. Schäfer, a . a . O . (Anm. 8) für das Gerichtsverfassungs- und Strafverfahrensrecht.
Aufhebung des Analogieverbots
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zeptieren und Praktizieren des Analogieverbots und seiner Komplementärinstitute (genaue Gesetze, Unabhängigkeit der Gerichte, Legalitätsprinzip usw.), vernünftige Entwicklungen, die teilweise, schnell und gleichsam unfallartig abgebrochen würden - Aufhebung des Analogieverbots. Die Bruchstelle - das Ende des Analogieverbots - bleibe erhalten. Eine in der strafrechtlichen Qualität völlig neue Entwicklung Strafrechtshandhabung ohne Analogieverbot - beginne. Sobald diese Entwicklung ende - Vernichtung des Regimes, das ohne Analogieverbot auskommen wollte - setze die Strafrechtsgeschichte an der alten Bruchstelle wieder an; die Strafrechtshandhabung werde mit Analogieverbot fortgesetzt 10 . Dieses Modell des abrupten Umschlagens von Strafrechtsentwicklungen widerspricht der strafjuristischen Erfahrung deutlich. In der neueren Strafrechtsgeschichte findet sich kein Beleg für das plötzliche Aufgeben von Grundsatzhaltungen. Prinzipielle Änderungen in der Handhabung des Strafrechts waren immer vorbereitet, so eingehend vorbereitet, daß die Änderung dann nur noch als Mitteilung einer beendeten Entwicklung erschien. Gegen das Modell der politisch veranlaßten plötzlichen Einbrüche in das Strafrecht ist der Satz von der kontinuierlichen Entwicklung des Strafrechts zu setzen. Der Satz schließt ein, daß der Stand solcher ständiger Entwicklungen an bestimmten auffälligen Ereignissen - z. B. der Aufhebung und Wiedereinführung des Analogieverbots - gut abgelesen werden kann. Bei dieser Auffassung ist die Aufhebung des Analogieverbots aber nicht selbst Entwicklung, auch nicht einmal ein Markstein in der Entwicklung, sondern nur Anlaß zu erörtern, welche Entwicklung abgelaufen und welche Entwicklung abzusehen ist. Von diesem Satz ausgehend verbietet es sich, die Strafgesetzhandhabung mit Analogie 1933 - 1945 als unverständliche Perversion aufzufassen, die nur auf Beendigung wartete. Auch die Auffassung der Wiedereinführung des Analogieverbots nach 1945 als Wiedereinführung einer reinen Lehre, die nur zeitweise unterdrückt worden war, ist dann kaum noch möglich. Vielmehr wird es unerläßlich zu fragen, in welchem Maße die Aufhebung des Analogieverbots 1935 vorbereitet 10
Dieses Modell ist zu finden in den Darstellungen von E. Schmidt, a.a.O. (Anm. 2), S. 453; Schmidhäuser, a.a.O. (Anm. 2), S. 7 7 - 7 9 ; Kohlmann, Der Begriff des Staatsgeheimnisses und das verfassungsrechtliche Gebot der Bestimmtheit von Strafvorschriften, 1969, S. 207ff., 213; Schreiber, Gesetz und Richter, 1976, S. 191 ff., 201; Mittermaier, in SchwZStr 63 (1948), 403.
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war und was eine wahrscheinlich sich ergebende Vorbereitung für die Wiedereinführung des Analogieverbots 1945 heißt. Insgesamt: es ist zu fragen, welches die durchgehenden, auch durch die Zeit 1933 - 1945 hindurchgehenden Linien der Entwicklung bestimmter strafrechtlicher Gebiete sind. Damit wird es möglich, zu erörtern, ob das Strafrecht 1933 - 1945 jedenfalls in bestimmten Gebieten zur Entwicklung davor und danach gehört, von den Entwicklungen davor abhängt und in die Entwicklungen danach hineinwirkt. Auch für diese Erörterungen ist es nützlich, die Aufhebung des strafrechtlichen Analogieverbots 1935 nicht isoliert zu betrachten, sondern im Zusammenhang mit den Begriffen zu sehen, die Gestalt und Inhalt des Strafjustizsystems in gleicher Weise bestimmen wie das Analogieverbot (Art der Gesetzgebung usw.). Die Annahme einer Neigung zur politischen Gleichstimmigkeit bestimmter praktisch bedeutsamer strafrechtlicher Grundbegriffe schärft das Interesse für Entwicklungen auf einer breiten Linie und macht auf Tendenzen aufmerksam, die bei getrennter Betrachtung jener Grundbegriffe nicht auffallen. Ein Einwand gegen die skizzierte Richtung der Überlegungen ist hier vorwegzunehmen (Erörterung weiterer Einwände unten IV 3). Die Anbindung der Strafrechtsentwicklung 1933 — 1945 in einem abgegrenzten Bereich an die Zeit vor 1933 und nach 1945 kann kein Argument für die Annahme liefern, daß die Perversion des Strafrechts im 3. Reich vielleicht gar nicht so eindeutig war. Es geht vielmehr darum, die Vorstellung, Strafrecht pervertiere für ein Dutzend Jahre, dann setze sich, wie vorher, gerechtes Strafrecht wieder durch, als zu einfach darzustellen. Das Kriterium, an dem Perversionen des Strafrechts zu messen sind, muß schärfer formuliert werden als bisher und kann nicht in einem unklaren Verweis auf vor und nach der Perversion vermutete ideale Strafrechtszustände beschafft werden. Vielleicht ist die Auffassung nicht zu umgehen, daß das Strafrecht des 19. und 20. Jahrhunderts eine durchgehende Neigung zur Perversion hat. Eine solche Neigung müßte zur Aufhebung des strafrechtlichen Analogieverbots 1935 und zum Strafrecht 1933 - 1945 im allgemeinen eine andere Haltung einnehmen als bisher 11 . 11
Für die Aufhebung des Analogieverbots ist das schon früh verlangt worden von H. Mayer, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 1953, S. 85, und Materialien zur Strafrechtsreform, Band I, 1954, S. 264, 268; s. auch Bockelmann, in Festschrift für Smend, 1952, S. 23ff., 33ff. Vgl. aus der neueren Literatur Marxen, Der Kampf gegen das liberale
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II. Material aus der strafrechtlichen Regelsetzung 1933 - 1945 Die tragenden Teile des Strafjustizsystems 1933 - 1 9 4 5 sind ihrem Inhalt nach zu skizzieren 113 und durch eine Interpretation als politisch gleichstimmig zu verbinden. Der Vorgang der Aufhebung des strafrechtlichen Analogieverbots muß durch dieses Verfahren die ihm zukommende Stelle finden. 1. Das Ansehen der Strafjustiz und der Grad, bis zu dem Strafjuristen sich an das Gesetz binden, hängen ab, vielleicht nicht in erster Linie, aber mitentscheidend, von der juristischen Organisation der Gesetzgebung. J e fachmännischer, materialreicher, für Alternativen offener, geduldiger und entscheidungssicherer die Strafgesetzgebung verfährt, um so größer ist die Chance des Strafgesetzes, als selbständige Rechtsquelle bindend zu werden. Ein Beispiel hierfür ist die Gesetzgebungsarbeit, die zum Preußischen Strafgesetzbuch von 1851 führt. Jede einzelne Formulierung ist um- und umgewendet und heute noch durch die Materialien verfolgbar; die Mühen, die die Formulierungen gemacht haben, sind beschrieben; man kann sich davon überzeugen, daß die Strafbarkeitserklärung nicht unbedacht erfolgt ist, und man kann dem Gesetz zugestehen, daß es ernsthafte Interpretationsbemühungen verdient. Die strafrechtliche Regelsetzung auf der Grundlage des Ermächtigungsgesetzes, das ist des Gesetzes zur Behebung der N o t von Volk und Reich vom 24. 3. 1933 12 , läßt sich nicht mehr als Strafgesetzgebung oder als strafrechtliche Verordnungsgebung im überkommenen Sinne bezeichnen. Der Weg, auf dem die Inhalte strafrechtlicher Regeln sprachlich gefaßt und dann publiziert werden, ist nicht nachzeichenbar. Viele Personen und Behörden haben den Zugriff auf diese Inhalte. Warum
12
Strafrecht, 1975, S. 192 ff.: Marxen weist mit klarem Material darauf hin, daß die Vorstellung vom Bruch mit einer eindeutigen Entwicklung durch die Aufhebung des Analogieverbots nicht aufrecht zu erhalten ist. Vgl. auch Stolleis, a.a.O. (Anm. 8); Stolleis formuliert, daß es eine „Kontinuitätsfrage zur Rechtsordnung der Weimarer Republik" zu erörtern gebe. Die bisher umfangreichsten Materialsammlungen zum Gerichtsverfassungsrecht/ Strafverfahrensrecht 1933 - 1945 sind zu finden bei: Kern, Geschichte des Gerichtsverfassungsrechts, 1954, S. 197ff. ;A. Wagner, Die Umgestaltung der Gerichtsverfassung und des Verfahrens- und Richterrechts im nationalsozialistischen Staat, 1968 \ Schäfer, Strafprozeßrecht, Eine Einführung, 1976, Kap. 3, Rn. 21 ff. Uberblick bei Rüping, Grundriß der Strafrechtsgeschichte, 1981, S. 97 ff. R G B l . 1933 I, 141.
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dieses geregelt wird, anderes nicht, ist kaum aufzuklären. Welche Gegenstände in Gesetzesform, welche in die Form der Verordnung oder des Erlasses gebracht werden, ist unerfindlich. Für das Inkrafttreten genügt die flüchtige „Verkündung durch Rundfunk" 1 3 . Die Sprache der strafrechtlichen Regeln nach 1933 ist uneinheitlich. Man entscheidet, ohne andere Regelungsmöglichkeiten genügend erörtert zu haben; sobald andere Möglichkeiten aber vorziehbar erscheinen, ändert man die Regelungen und ändert sie erneut. Man nimmt die eigenen Regelungen nur ernst, solange man daran politischen Geschmack hat. Ein Beispiel bieten die vielfältigen materiellrechtlichen, strafprozessualen und gerichtsverfassungsrechtlichen Vorschriften über Sondergerichte, beginnend mit der Verordnung über die Bildung von Sondergerichten vom 21. 3. 1934 14 und einmündend in die Volkssturm-Strafgerichtsverordnung vom 24. 2. 1945 15 . Daß ein solches strafrechtliches Regelsetzungsverfahren den würdevollen Ernst einer durchdachten Methodenlehre nicht anregt, auch nicht anregen will, liegt nahe 16 . Dieses Verfahren hat das Analogieverbot tatsächlich schon aufgehoben, noch ehe diese Aufhebung mitgeteilt wird. 2. Die Art, in der strafrechtliche Regeln in Gesetzen, Verordnungen und Erlassen beschrieben werden, ist vage, meist generalklauselartig. Diese Art ist zu sehen von den ersten bis zu den letzten strafrechtlichen Regeln, die 1933 - 1945 im Reichsgesetzblatt publiziert werden. Sie prägt die Strafvorschriften von der Verordnung zum Schutze des deutschen Volkes vom 4. 2. 1933 17 bis zu der Verordnung zur Sicherung des Fronteinsatzes vom 26. 1. 1945 18 . Kein Gebiet des gesamten Strafrechts
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Verordnung zum Schutz der Metallsammlung des deutschen Volkes vom 29. 3. 1940, R G B l . 1940 I, 565; Verordnung zum Schutze der Sammlung von Wintersachen für die Front vom 23. 12. 1941, RGBl. 1941 I, 797; Verordnung zum Schutze der Sammlung von Kleidung und Ausrüstungsgegenständen für die Wehrmacht und den deutschen Volkssturm vom 10. 1. 1945, RGBl. 1945 I, 5. R G B l . 1933 I, 130. R G B l . 1940 I, 34. Einige Zwischenstationen sind dokumentiert bei/1. Wagner, in: Die deutsche Justiz und der Nationalsozialismus I, 1968, S. 2 5 7 - 2 5 9 . Vgl. — für das Verfassungsrecht-die ähnliche Beurteilung von Denninger, Staatsrecht 1, 1973, S. lOOf. R G B l . 1933 I, 35. R G B l . 1945 I, 20.
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bleibt von dieser Art unberührt; Vorschriften über Straffreiheit 19 arbeiten mit dieser Technik ebenso wie das Gesetz gegen die Schwarzsender vom 24. 11. 1937 20 . Das Kernstrafrecht 21 und das Nebenstrafrecht 2 2 , das „politische" und das „nicht-politische" Strafrecht 23 werden mit Generalklauseln überzogen 24 . Diese Formulierungstechnik führt dazu, daß die publizierten strafrechtlichen Regeln über ihren Inhalt nur noch schwach informieren. Derjenige, der diese Regeln handhabt, muß mehr tun als lesen und interpretieren, um den Inhalt dieser Regeln zu bestimmen. In die Regelungen werden daher alsbald Hinweise aufgenommen, um den Rahmen mitzuteilen, in dem das Tun des Regelbenutzers sich bewegen soll. Durchgehendes Kennzeichen dieser Hinweise ist, daß sie Gefühle gegen den von einer Regelung Betroffenen wecken oder unterstützen sollen. Es werden hierzu zwei Instrumente benutzt: die abwertende politisierende Regelüberschrift und die abwertende politisierende Beschreibung der zu bestrafenden Personen in der Regel selbst. Beispiele für die erste Gruppe: Gesetz gegen heimtückische Angriffe auf Staat und Partei 25 , Verordnung gegen Gewaltverbrecher 26 , Verordnung zum Schutz gegen jugendliche Schwerverbrecher 27 , Verordnung zur vorläufigen Sicherstellung des lebenswichtigen Bedarfs des deutschen Volkes 28 , Verordnung gegen Volksschädlinge 29 . 19
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S. z . B . die Verordnung über die Gewährung von Straffreiheit vom 2 1 . 3 . 1933, RGBl. 1933 I, 134. RGBl. 19371, 1298. S. z. B. die bis heute in der Sprachebene unveränderten Neufassungen der §§ 226a, 232, 266, 240, 253 StGB: Gesetz zur Abänderung strafrechtlicher Vorschriften vom 26. 5. 1933, R G B l . 1933 I, 295; Verordnung zur Änderung der Strafvorschriften über fahrlässige Tötung, Körperverletzung und Flucht bei Verkehrsunfällen vom 2. 4. 1940, RGBl. 1940 I, 606; Verordnung zum Schutze von Ehe, Familie und Mutterschaft vom 9. 3. 1943, RGBl. 1943 I, 140. S. z..B. das Tierschutzgesetz vom 24. 11. 1933, R G B l . 1933 I, 987. S. z. B. das Gesetz zum Schutze der nationalen Symbole vom 19. 5. 1933, RGBl. I, 285, und das Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher vom 24. 11. 1933, RGBl. I, 995. Vgl. zu dieser Erscheinung: Bockelmann, in Festschrift für Smend, 1952, S. 34f.; H. Mayer, in Materialien zur Strafrechtsreform I, 1954, S. 263 f. Viele Beispiele aus dem Bereich der Gemeinwohlformeln: Stolleis, Gemeinwohlformeln im nationalsozialistischen Recht, 1974, S. 266, bes. Anm. 3, 269ff. RGBl. 1934 I, 1269. RGBl. 1939 I, 2378. RGBl. 1939 I, 2000. RGBl. 1939 I, 1498. RGBl. 1939 I, 1679.
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Beispiele für die abwertende Beschreibung der zu bestrafenden Personen in der Regel selbst: Verordnung zum Schutze der Metallsammlung des deutschen Volkes30; die Verordnung stellt außerordentlich unbestimmt das Sich-Vergreifen an gesammeltem Metall unter hohe Strafen und interpretiert zugleich dieses Sich-Vergreifen als „Schädigung des großdeutschen Freiheitskampfes". — Verordnung über Strafen und Strafverfahren bei Zuwiderhandlungen gegen Vorschriften auf dem Gebiet der Bewirtschaftung bezugsbeschränkter Erzeugnisse 31 ; diese Verordnung will durch Generalklauseln den Bestrafungsumfang andeuten und durch einen Vorspruch die zu bestrafenden Personen abwertend festlegen („uneinsichtige und böswillige Volksgenossen"). - Ähnlich verfährt die Verordnung zum Schutze der Sammlung von Wintersachen für die Front 32 . - Erlaß über die Vereinfachung der Rechtspflege 33 ; dieser Text gibt als Ziel aller Regelhandhabung vor: „reibungslose und schnelle Arbeit" zur „Verteidigung von Volk und Reich". — Verordnung zum Schutze der Sammlung von Kleidung und Ausrüstungsgegenständen für die Wehrmacht und den deutschen Volkssturm 34 ; eine emotionalisierte Generalklausel enthält vage Strafbarkeitsvoraussetzungen und die Abwertung von Personen, die zu bestrafen sind. 3. Die Aufhebung des strafrechtlichen Analogieverbots 1935 ist, gemessen an der juristischen Organisation der strafrechtlichen Regelsetzung und an der Art der Formulierung der strafrechtlichen Regeln, nichts Auffälliges. Bemerkenswert ist allenfalls, daß dieser Vorgang in der zeitgenössischen Literatur 35 und heute 36 wirklich mit dem Ausdruck „Aufhebung des Analogieverbots" belegt wird. Mit dem Ausdruck „Aufhebung eines Verbots" lassen sich schwerlich abwertende Haltungen hervorrufen; das Ende eines Verbots ist etwas Positives. Aber abgesehen davon: der Ausdruck bezeichnet die juristische Sache falsch. Es geht in dem Gesetz vom 28. 6. 1935 nicht um Fragen der juristischen Methodenlehre, nicht um das Verhältnis von Regelformulierung, Aus30 31 32 33 34 35
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R G B l . 1940 I, 565. R G B l . 1940 I, 610. R G B l . 1941 I, 797. R G B l . 1942 I, 139. R G B l . 1945 I, 5. Schönke, StGB, 1. Aufl., 1942, A n m . I u n d II zu § 2 ; D a h l k e , Strafrecht u n d Strafverfahren, 33. A u f l . , 1942, Kommentierung zu § 2 S t G B ; Mezger, Deutsches Strafrecht, Ein G r u n d r i ß , 1938, S. 20ff. Maurach-Zipf, a . a . O . (Anm. 2), S. 135-Jescheck, a . a . O . (Anm. 2), S. 104, A n m . 15.
A u f h e b u n g des Analogieverbots
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legung und Analogie, sondern um handfeste unwissenschaftliche Probleme alltäglicher Staatsorganisation. D a die strafrechtlichen Regeln vage sind und schnell wechseln, muß der Regelbenutzer eine andere Stellung zur Regel einnehmen als er sie gegenüber dem durchdachten Strafgesetz hatte. Er ist nicht mehr Ausleger oder allenfalls analoger Anwender strafrechtlicher Regeln. Vielmehr wird er „der verständnisvolle Verbündete des Gesetzgebers" 3 7 . Die 1935 sichtbar gemachte, schon vorher vollzogene Aufhebung einer klaren Gesetzesbindung ist Zuwachs an Macht. Aber es ist abgeleitete Macht. Und diejenigen, die von ihrer Macht abgeben, werden darauf achten, daß die Macht in richtiger Weise genutzt wird. Wörtlich: Die offizielle politische Linie gebe „dem Richter die sichere Richtschnur für den Geist, in dem er die ihm zugewiesene neue Machtbefugnis anzuwenden haben wird" 3 8 . Die Handhabung strafrechtlicher Regelungen wird zur richtig erahnten oder zur befohlenen Verlängerung von Generalklauseln oder Grundgedanken in Einzelentscheidungen 39 . 1940 - in der Verordnung zur weiteren Anpassung des österreichischen Strafrechts an das Reichsrecht 4 0 -wird der Grundsatz wiederholt. 1941 zeigt die Verordnung über die Strafrechtspflege gegen Polen und Juden in den eingegliederten Ostgebieten 4 1 , wieweit der Grundsatz ausbaubar ist. Zunächst werden in dieser Verordnung außerordentlich unklare eigenständige Strafvorschriften formuliert 42 , die rückwirkend angewandt werden können. Dann wird die Strafbarkeit durch einen Verweis auf 37
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Amtliche B e g r ü n d u n g z u m Gesetz v o m 28. 6. 1935, Sonderveröffentlichungen N r . 10 der deutschen J u s t i z , o. J . (1935), S. 28. A . a . O . (Anm. 37). Ein Teil des Mechanismus', der dies sicherstellen soll, findet sich in dem zu selten im Zusammenhang mit der „ A u f h e b u n g des Analogieverbots" zitierten G e s e t z zur Änderung von Vorschriften des Strafverfahrens und des Gerichtsverfassungsgesetzes v o m 28. 6. 1935, R G B l . I, 844 (zu diesem G e s e t z E. Schmidt, a . a . O . - A n m . 2 - , S. 435). S t P O und G V G werden mit Deutlichkeit dem neuen § 2 S t G B angepaßt. D i e drei Schrine: Freisetzung des Benutzers strafrechtlicher Regeln; Drängen darauf, daß von der neuen Freiheit auch Gebrauch gemacht wird; Kontrolle, daß von der Freiheit der richtige Gebrauch gemacht wird, sind unübersehbar mitgeteilt (vgl. zu diesen Schritten die amtliche B e g r ü n d u n g zu dem G e s e t z : Sonderveröffentlichungen der deutschen J u s t i z N r . 10, o. J . - 1935 S. 29). R G B l . 1940 I, 1117. R G B l . 1941 I, 759. Ziffer 1, Abschn. I, A b s . 2 und 3 der genannten V e r o r d n u n g ; Fundstelle in A n m . 41. Verordnung zur E r g ä n z u n g der Verordnung über die Strafrechtspflege gegen Polen und J u d e n in den eingegliederten Ostgebieten v o m 3 1 . 1 . 1942, R G B l . I, 52.
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„die deutschen Strafgesetze" erweitert 43 und schließlich eine Analogieerlaubnis angefügt mit folgendem Wortlaut: „Polen und Juden werden auch bestraft, wenn s i e . . . eine Tat begehen, die gemäß dem Grundgedanken eines deutschen Strafgesetzes nach den in den eingegliederten Ostgebieten bestehenden Staatsnotwendigkeiten Strafe verdient" 44 .
Diese Vorschrift ist mit Wendungen aus der Lehre vom Analogieverbot nicht mehr auffaßbar. Nicht eine analoge Regelhandhabung wird vorgeschrieben, sondern das Akzeptieren und Umsetzen einer verachtenden Gefühlswelt, auf die die zitierten Vorschriften sich zurückführen. 4. Bei der Ubersetzung vager strafrechtlicher Regeln in einzelne Maßnahmen gegen Betroffene muß die Streubreite groß sein. Der Veranlasser der Regeln muß ständig kontrollieren, ob diese Breite seinen Absichten gerade dient. Ist dies der Fall oder werden die Absichten wenigstens nicht deutlich verfehlt, so kann er den Bestrafungsverfahren ihren Lauf lassen. Aber er muß eingreifen, wenn die Handhaber strafrechtlicher Regeln diese Absichten nicht treffen. Da diese Situation ständig und in allen strafrechtlichen Bereichen auftauchen kann, müssen die EingreifMöglichkeiten unförmlich und zahlreich sein 45 . Die seit 1942 erscheinenden Richterbriefe, die „eine Anschauung davon geben (sollen), wie sich die Justizführung nationalsozialistische Rechtsanwendung denkt" 46 , sind das für heutige Betrachter auffälligste Mittel, Entscheidungsinhalte zu steuern 47 . Freilich sind die Richterbriefe aus der Sicht des zeitgenössischen Justizsystems nur selbstverständliche Folgerungen aus abgelaufenen Entwicklungen. Die Formulierung des Einführungserlasses, die Richterbriefe sollten „dem Richter die innere Sicherheit und Freiheit geben, die richtige Entscheidung zu finden" 48 , ist von Ironie oder Zynismus weit entfernt; sie zieht bieder
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Ziff. 1, Abschn. II der genannten Verordnung; Fundstelle in Anm. 41. Ubersicht bei Boberach, Einleitung zu Boberach (Hrsg.), Richterbriefe, Dokumente zur Beeinflussung der deutschen Rechtsprechung, 1942 - 44, 1975, S. XIff., und bei S t a f f Justiz im Dritten Reich, 2. Aufl., 1978, S. 59 ff. Für das Zivilrechts. Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 1968, S. 175ff., 183ff. Erlaß des Reichsjustizministers vom 7. 9. 1942 bei Boberach (Anm. 45), S. 2. Vgl. aus der aktuellen Literatur außer Boberach (Anm. 45): S t a f f , Justiz im Dritten Reich, 2. Aufl., 1978, S. 65ff. Text abgedruckt bei S t a f f , a.a.O. (Anm. 45), S. 66.
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die Folgerung aus den Begründungen, die die „Aufhebung des Analogieverbots" tragen. Die Richterbriefe sind im übrigen seit 1933 vorbereitet durch den konzentrierten Einsatz des Weisungsrechts gegenüber der Staatsanwaltschaft, durch vielfältige Berichtspflichten an das Reichsjustizministerium u n d - s e i t Frühjahr 1 9 4 2 - d u r c h sog. Vor- und Nachschauen, d. h. Vor- und Nachbesprechungen von für wichtig gehaltenen richterlichen Entscheidungen 49 . Als Mittel zur Bestimmung des Rahmens, in dem strafrechtliche Regelhandhabung sich bewegen soll, ist auch die 1940 organisierte Nichtigkeitsbeschwerde des Oberreichsanwalts gegen richterliche Urteile zu sehen 50 . Diese Beschwerde findet statt, „wenn das Urteil wegen eines Fehlers bei der Anwendung des Rechts auf die festgestellten Tatsachen ungerecht ist" 51 . Aus diesen Voraussetzungen ist das 1940 eingefahrene Regelhandhabungsverfahren einfach abzulesen: um die Anwendung geschriebener Vorschriften (Gesetz etc.) geht es nicht mehr, nur noch um die Anwendung vagen „Rechts". Kriterien für „Fehler" sind nicht nennbar. Man weiß aber, daß nicht jeder Fehler bei der Rechtsanwendung wichtig ist; es gibt „ungerechte" und andere Fehler. Zu den genannten Leitungsmitteln kommen andere, weniger auffällige, juristischere, wahrscheinlich sehr viel wirksamere. Die Möglichkeit, über Richtlinien, die auch Auslegungsrichtlinien sein können, Einzelergebnisse zu bestimmen, gehört hierher 52 , weiter die Bindung der Strafrechtsprechung an Entscheidungen zahlreicher Behörden 53 und die Vorwegnahme von Ergebnissen der Rechtsanwendung durch Publikation dieser Ergebnisse im Reichsgesetzblatt. Das geschieht in der Form der Formulierung und Entscheidung einer wahrscheinlich entstehenden 49 50
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S. Boberach, a.a.O. (Anm. 45), S. XIVff., XVIIIff. Art. V § 34 der Verordnung über die Zuständigkeit der Strafgerichte, die Sondergerichte und sonstige strafverfahrensrechtliche Vorschriften vom 21. 2. 1940, RGBl. I, 405. § 34 der Verordnung vom 21. 2. 1940, Fundstelle in Anm. 50. Beispiel: Die Schlußvorschriften der Verordnung zum Schutze des deutschen Volkes vom 4. 2. 1933, RGBl. I, 35. Das ist ein durchgehendes Kennzeichen der strafrechtlichen Regeln, die sich im RGBl, finden, s. z. B . : §§ 1, 2, 9 des Gesetzes zum Schutze der nationalen Symbole vom 19. 5. 1933, RGBl. I, 285; §§ 34, 35, 36 des Gesetzes über Heimarbeit vom 23. 3. 1934, RGBl, I, 214; § 21 des Naturschutzgesetzes vom 26. 6. 1935, RGBl. I, 821; § 4 des Gesetzes zur Verhinderung der Teilnahme am spanischen Bürgerkrieg vom 18. 2. 1937, RGBl. I, 241.
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Zweifelsfrage schon im Gesetz, in der Verordnung usw., weit über die Verfahren der Legaldefinition und der vorgeschriebenen Analogie hinaus 54 , oder in der Form der direkten Rechtsanwendung durch Gesetz, etwa im Gesetz über die Maßnahmen der Staatsnotwehr vom 3. 7. 1934 55 , dessen „einziger Artikel" lautet: „Die zur Niederschlagung hoch- und landesverräterischer Angriffe vom 30. Juni, 1. und 2. Juli 1934 vollzogenen Maßnahmen sind als Staatsnotwehr rechtens."
Das heißt: Irgendjemand hat Strafrecht ohne Verfahren angewandt und teilt das Ergebnis der Rechtsanwendung ohne Begründung in Gesetzesform mit. Dieses Gesetz ist für strafrechtliche Regelungstechnik und Regelhandhabung viel aussagekräftiger als die „Aufhebung des Analogieverbots" 1935 oder die Richterbriefe ab 1942. Dieses Gesetz kann Vorbild gewesen sein für die gesetzliche Anweisung an das Reichsgericht 1935, nur bestimmte Auslegungen der Gesetze zu finden, eine die „Aufhebung des Analogieverbots" flankierende Maßnahme 5 6 . 5. Das Institut, das die Bindung des Strafjuristen an das Gesetz in disziplinierter Folgerichtigkeit zeigt, das Verbot wahldeutiger Feststellungen, wird 1935 abgeschafft 57 . Dieser Vorgang fällt kaum auf. 6. Das Rückwirkungsverbot, eines jener Institute, die sich spürbar zwischen Bestrafungswünsche und Bestrafung stellen, ist 1945 wirkungslos. Im Text des StGB und in der Weimarer Reichsverfassung bleibt es 1933 - 1 9 4 5 erhalten, aber wohl nur, weil man es nicht der Mühe wert findet, die einschlägigen Texte förmlich zu streichen. Das muß wohl auch der Grund dafür sein, daß diese Texte nicht gegen die folgenden Abläufe zitiert werden: 54
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Beispiele: Art. I § § 2 Abs. 2; 5 Abs. 3 ; 6 d e s Gesetzes gegen heimtückische Angriffe auf Staat und Partei vom 20. 12. 1934, R G B l . I, 1269; die Bestimmungen der ersten Verordnung zur Ausführung des Gesetzes zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre vom 14. 11. 1935, R G B l . I, 1334. R G B l . 1934 I, 529; zur Interpretation dieses Gesetzes s. vor allem Jäger, Verbrechen unter totalitärer Herrschaft, 1967, S. 211 f. Diesem Gesetz nachgebildet sind die das Strafrecht betreffenden Bereiche des Gesetzes über die Sicherung der Reichsgrenze und Vergeltungsmaßnahmen vom 9. 3. 1937, R G B l . I, 281. Art. 2 des Gesetzes zur Änderung von Vorschriften des Strafverfahrens vom 28. 6. 1935, R G B l . I, 844. Gesetz vom 28. 6. 1935, R G B l . I, 839.
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1933 wird bei der Einführung der strafrechtlichen Maßregeln der Sicherung und Besserung das Rückwirkungsverbot für diese Maßregeln außer Kraft gesetzt 58 . Zugleich werden die Maßregeln der Sicherungsverwahrung und der Entmannung gefährlicher Sittlichkeitsverbrecher in großem Umfang zugelassen gegen Täter, deren Taten bei Begehung nicht mit Maßregeln bedroht waren 59 . 1935 wird die ehrwürdige Regel, daß bei Verschiedenheit der Gesetze z. Zt. der Tat und z. Zt. der Aburteilung das mildeste Gesetz anzuwenden ist, durch eine Kann-Bestimmung ersetzt. Bestrafung wird selbst dann möglich, wenn die Tat zwischen Begehung und Aburteilung straflos geworden ist60. Mindestens zwanzig im Reichsgesetzblatt publizierte strafrechtliche Regeln durchbrechen zwischen 1933 und 1945 das Rückwirkungsverbot offen. Diese Zahl liegt deutlich über der Zahl, die die zeitgenössische Literatur 61 oder Darstellungen aus der Gegenwart 62 nennen. Zu registrieren ist, welche Fülle von Regelungsmöglichkeiten entsteht, wenn das Prinzip „Rückwirkungsverbot" zur Disposition gestellt wird. Die Rückwirkung als Verstärkung des Instruments „Strafe" wird von 1933 (lex van der Lübbe 63 ) bis zum Kriegsende (VolkssturmStrafgerichtsverordnung 64 ) benutzt. Das Rückwirkungsverbot wird umgangen bei schwerer Kriminalität 65 und bei Verwaltungsstraftaten 66 . Die Zeit, in die das Strafgesetz zurückwirkt, liegt zwischen 10 Tagen 67 58
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Art. 3 Nr. 1 des Gesetzes gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher vom 24. 11. 1933, RGBl. I, 995. Art. 5 des in Anm. 58 zitierten Gesetzes. Gesetz vom 28. 6. 1935, RGBl. I, 839. S. z. B. Mezger, Deutsches Strafrecht, Ein Grundriß, 3. Aufl. 1943, S. 43; aber auch noch die präziseren Angaben von Schönke, StGB, Kommentar, 2. Aufl., 1944, Anm. I zu § 2a sind unvollständig. Schönke, a.a.O., faßt die rückwirkenden Strafgesetze als offenbar nicht bemerkenswerte Ausnahmen zum Rückwirkungsverbot auf, ebenso Mezger, a.a.O. E. Schmidt, a.a.O. (Anm. 2), S. 436¡Schmidhausen a.a.O. (Anm. 2), S. 77;K. Peters, in Flitner (Hrsg.), Deutsches Geistesleben und Nationalsozialismus, 1965, S. 169; Schorn, Die Gesetzgebung des Nationalsoziaismus als Mittel der Machtpolitik, 1963, S. 73. § 1 der Verordnung vom 29. 3. 1933, RGBl. I, 151. § 10 der Verordnung vom 24. 2. 1945, RGBl. I, 34. § 5 der Verordnung gegen Gewaltverbrecher vom 5. 12. 1939, RGBl. I, 2378. § 6 des Gesetzes über den Fischereischein vom 19. 4. 1939, RGBl. I, 795. § 4 des Gesetzes über die Vorführung ausländischer Filme vom 11. 7. 1936, RGBl. I, 551.
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und unbegrenzt 68 . Es entsteht eine zwingende und eine nicht-zwingende, von verschiedenen Bedingungen abhängige Rückwirkung 69 . Die Rückwirkung von belastenden Verfahrensrechtsänderungen ist Normalität 70 . Im „Dienststrafrecht" wird das Rückwirkungsverbot abgeschafft 71 . 7. Die Prinzipien der richterlichen Unabhängigkeit und Unabsetzbarkeit und des gesetzlichen Richters werden wie das Rückwirkungsverbot behandelt. Die einschlägigen Gesetzestexte (§§ 1, 8, 16 G V G ) bleiben erhalten, die juristische Sache verschwindet. Die Hauptereignisse in dieser Entwicklung sind: das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums, das das Prinzip der Unabsetzbarkeit der Richter aufhebt 72 , und der Beschluß des großdeutschen Reichstages vom 26. 4. 1942 73 , der dem Führer Hitler das Recht „bestätigt", auch Richter „ohne Rücksicht auf sogenannte wohlerworbene Rechte" aus dem A m t zu entfernen. Verglichen mit dem Text des § 1 G V G ist das ein revolutionärer Rechtsbruch; verglichen mit dem Justizsystem, wie es bis 1942 entwikkelt worden ist, wird nur eine Systemlücke geschlossen. A b e r wichtiger als diese Hauptereignisse sind die vielen kleinen selbstverständlichen Eingriffe in die richterlichen Zuständigkeiten durch die Justizverwaltung 74 , sind die vielen Vorschriften über Straffrei68
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§ 4 der Verordnung zum Schutze gegen jugendliche Schwerverbrecher vom 4. 10. 1939, RGBl. I, 2000. Vgl. die in Anm. 68 genannte Bestimmung einerseits, § 1 der Verordnung vom 28. 12. 1939 - RGBl. 1 , 1 7 - andererseits (zeitliche Einschränkung einer unbefristet angeordneten Rückwirkung mit Ermessensentscheidungen von Staatsanwaltschaft und Gericht). Art. 9 Ziff. 1 des Gesetzes zur Änderung von Vorschriften des Strafverfahrens- und Gerichtsverfassungsgesetzes vom 28. 6. 1935, RGBl. I, 844. § 115 Abs. 1 der Reichsdienststrafordnung i.d.F. des Gesetzes vom 26. 1. 1937, RGBl. I, 71. Eine derartige Vorschrift findet sich in den Entwürfen, die in der Zeit vor 1933 entstanden sind, nicht. Gesetz v o m 7 . 4. 1933, RGBl. I, 175; zur Erstreckung dieses Gesetzes auf Richter s. 3. Verordnung zur Durchführung des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 6. 5. 1933, RGBl. I, 245, Ziff. 2 zu § 1; Einzelheiten bei Broszat, in V j H Z G 6 (1958), S. 596, Anm. 21. Weiterführung der Regeln für Richter im Gesetz über die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft vom 7. 4. 1933 (RGBl. I, 188) auf Verteidiger und im Gesetz über die Neuwahl der Schöffen, Geschworenen und Handelsrichter vom 7. 4. 1933 (RGBl. I, 188) auf Laienrichter. R G B l . 1942 I, 247. Z . B . § 8 der Verordnung gegen Verrat am deutschen Volke und hochverräterische Umtriebe vom 28. 2. 1933, RGBl. I, 85; Erlaß über die Amtstracht in der Justizverwaltung vom 19. 6. 1936, RGBl. I, 503.
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heit, die zwischen Einstellung des Verfahrens, Niederschlagung, Gnade und Amnestie nicht mehr unterscheiden, sondern einfach das Gebiet strafrichterlicher Zuständigkeit verkleinern 75 , und sind jene Mengen von Bestimmungen, die das Ermessen der Staatsanwaltschaft über die Zuständigkeit der Gerichte entscheiden lassen 76 . 8. 1944 wird das Legalitätsprinzip gestrichen. Die Vorschrift, die das mitteilt, lautet: „Der Staatsanwalt kann von der Erhebung der öffentlichen Klage absehen, wenn die Verfolgung im Kriege zum Schutze des Volkes nicht erforderlich ist. Ist die Klage bereits erhoben, so kann das Gericht mit Zustimmung des Staatsanwalts das Verfahren einstellen; der Beschluß ist unanfechtbar. Das Absehen von der Klageerhebung und die Einstellung des Verfahrens können von der Erfüllung bestimmter Auflagen abhängig gemacht werden" 7 7 .
Diese Vorschrift, die mit „weitere Lockerung des Verfolgungszwangs" überschrieben ist, faßt folgende Maßnahmen zusammen: 1933 werden in der Verordnung zum Schutze des deutschen Volkes weite Tatbestandsfassungen eingeführt, die durch Hinweise auf die Opportunität der Verfolgung weiter aufgelöst werden; straflos soll ein Verhalten sein, „wenn ein politischer Zweck mit der Tat nicht verbunden war" 7 8 . Dieses Verfahren wird 1933 - 1945 häufig kopiert, z. B. bei der Neufassung der §§ 240 Abs. 2, 253 Abs. 2 StGB 7 9 . Die Rechtswidrigkeitsklauseln, die in diese Bestimmungen eingefügt werden, sind nur Einbrüche in das Legalitätsprinzip 80 . 1935 wird eine Bestimmung eingeführt, die das Absehen von der Ver-
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Beispiele: Verordnung v o m 2 1 . 3. 1933, R G B l . I, 134; Erlaß vom 21. 3. 1934 R G B l . I, 211; Gesetz vom 23. 4. 1936, R G B l . I, 378; Gesetz vom 30. 4. 1938, R G B l . I, 4 3 3 ; E r laß vom 9. 9. 1939, R G B l . I, 1753. Z . B . Art. I der Verordnung vom 20. 11. 1938, R G B l . I, 1632; Art. I, § 4 der Verordnung vom 21. 2. 1940, R G B l . I, 4 0 5 ; Ziff. 2, Abschn. V, Abs. 2 der Verordnung über Strafrechtspflege gegen Polen vom 4. 12. 1941, R G B l . I, 759. Art. 2, § 8 der Verordnung zur weiteren Anpassung der Strafrechtspflege an die Erfordernisse des totalen Krieges vom 13. 12. 1944, R G B l . I, 339. § 16 Abs. 1 und 2 der Verordnung vom 4. 2. 1933, R G B l . I, 35. R G B l . 1943 I, 339 und 341. Weiteres Beispiel: § 3 der Volkssturm-Strafrechtsverordnung vom 24. 2. 1945, R G B l . I, 34.
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folgung bei Opfern von Nötigung und Erpressung ermöglicht (heute § 154c StPO) 81 . 1940 wird der Staatsanwaltschaft ein Ermessen bei der Verfolgung von Auslandstaten Deutscher und von Inlandstaten von Ausländern eingeräumt (heute § 153c StPO)82. Im gleichen Jahr werden die Lockerungen des Legalitätsprinzips, die in der StPO inzwischen enthalten sind, in das österreichische Straf recht übertragen 83 . Ebenfalls 1940 fällt das Legalitätsprinzip in den „eingegliederten Ostgebieten". Es wird durch folgende Vorschrift ersetzt: „Der Staatsanwalt verfolgt Taten, deren Ahndung er im öffentlichen Interesse für geboten hält"84.
1941 wird in der Verordnung über die Strafrechtspflege gegen Polen und Juden dieses totale Opportunitätsprinzip übernommen: „Der Staatsanwalt verfolgt Straftaten von Polen und Juden, deren Ahndung er im öffentlichen Interesse für geboten hält" 85 .
1942 wird die Staatsanwaltschaft von der Verfolgung von Antragsdelikten freigestellt; das Klageerzwingungsverfahren wird abgeschafft 86 . 9. Viele Einzelheiten aus der strafrechtlichen Regelsetzung 1933 - 1 9 4 5 lassen sich den Eingriffen in die Schwerpunkte des überkommenen Strafjustizsystems nicht deutlich zuordnen, sind aber möglicherweise aussagekräftiger als gerade diese Eingriffe. Beispiele, die immer wieder dazu drängen werden, überkommene Interpretationen des Strafrechts in der Zeit von 1933 - 1945 fortzuentwickeln, sind: Typisch für die strafrechtliche Regelsetzung im nationalsozialistischen Regime ist die ständige Koppelung von materiellem Recht, Strafverfahrensrecht und Gerichtsverfassungsrecht 87 . Es gibt zwischen diesen Gebieten keine Grenzen mehr. Sie sind gleichgerichtete, austausch81 82 83 84 85 86 87
RGBl. 1935 I, 844. RGBl. 1 9 4 0 1 , 754. RGBl. 19401, 1117. Art. I Abschn. II 1 der Verordnung vom 6. 6. 1940, RGBl. I, 844. Abschn. 2 IV der Verordnung vom 2. 12. 1941, RBG1. I, 759. RGBl. 1942 I, 510. Ablesbar an folgenden Beispielen: Verordnung zum Schutze von Volk und Staat vom 28. 2. 1933, RGBl. I, 83, 85; Verordnung über die Bildung von Sondergerichten vom 31. 3. 1933, RGBl. I, 136; Gesetz vom 24. 4. 1934, RGBl. I, 341; Verordnung vom 17. 10. 1939, RGBl. I, 2107.
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bare Instrumente. Ebenso werden Strafrecht, Maßregelrecht und Polizeirecht ununterscheidbar. Alles wird Verbrechensbekämpfungsrecht, besser: Recht zur Verwaltung von Kriminalität. „Vereinfachung" ist eines der wenigen, beharrlich angestrebten Ziele der strafrechtlichen Regelsetzung 88 . Erreicht wird dieses Ziel durch Entformalisierung des materiellen Rechts, des Strafverfahrensrechts und der Gerichtsorganisation. Die Bereitschaft, auf eine solche Entformalisierung einzugehen, erscheint als unbegrenzt. Die Aufhebung des Analogieverbots, die Abschaffung des Legalitätsprinzips usw., das sind jedenfalls auch Vorgänge zur Vereinfachung der Anwendung materiellen Rechts. Die Parallelerscheinungen im Strafverfahren und in der Gerichtsorganisation sind: Unwichtigwerden von Fristen 89 ; Abkürzen von Begründungen 9 0 ; scharfe Eingriffe zum Abbau des Rechtsmittelsystems 9 1 ; Abschaffung der Gerichtsferien 92 ; Mißachtung des Kollegialprinzips in der Gerichtsorganisation 93 ; Beschleunigung des Strafverfahrens 94 . III. Versuch einer allgemeinen Kennzeichnung des Materials aus der strafrechtlichen Regelsetzung 1933 - 1945 1. Die Zusammenstellung des Materials unter II. zeigt, daß der „Aufhebung des strafrechtlichen Analogieverbots" 1935 keine hervorragende Bedeutung für die Entwicklung des Strafrechts 1933 - 1945 zukommt. Dieser Vorgang ist eher belanglos, ist eine mühelos gezogene Konsequenz in der politischen Gleichstimmung des praktizierten Bestrafungssystems der Zeit. 88
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Verordnung vom 1. 9. 1939, R G B l . I, 1 6 5 8 ; Verordnung v o m 2 1 . 2. 1 9 4 0 , R G B l . I, 4 0 5 ; Erlaß v o m 2 1 . 3. 1942, R G B l . I, 139. § 5 der Verordnung v o m 5. 9. 1 9 3 9 , R G B l . I, 1 6 7 9 ; A r t . 3 der V e r o r d n u n g v o m 29. 5. 1943, R G B l . I, 342. Z . B . Erlaß v o m 21. 3. 1942, R G B l . I, 139. A m eindringlichsten zu sehen am Gesetz zur Ä n d e r u n g v o n Vorschriften des Strafverfahrens- und Gerichtsverfassungsgesetzes v o m 28. 6. 1935, R G B l . I, 844, an der V e r ordnung über die Strafrechtspflege gegen Polen und Juden v o m 4. 12. 1 9 4 1 , R G B l . I, 759 und an dem Erlaß v o m 2 1 . 3. 1942, R G B l . I, 139. R G B l . 1 9 3 5 I, 352; dazu Kern, a . a . O . ( A n m . 2), S. 2 1 1 , A n m . 1. Beispiel: Kriegsstrafverfahrensordnung v o m 17. 8. 1938, R G B l . 1939, 1 4 5 7 ; V e r o r d nung v o m 29. 5. 1943, R G B l . I, 346. Umfangreiches Material bei A. Wagner, a . a . O . ( A n m . 8), S. 2 2 8 f f . G u t sichtbar in der Verordnung v o m 5. 9. 1939, R G B l . I, 1679, und in der Kriegsstrafverfahrensordnung v o m 17. 8. 1 9 3 8 , R G B l . 1939 I, 1457.
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Die allgemeine Kennzeichnung der politischen Haltung, die alle aufgeführten Begriffe bestimmt, gelingt am ehesten vom Begriff des Strafgesetzes her. Die geschilderten Maßnahmen im Bereich der strafrechtlichen Regelsetzung 1933 - 1 9 4 5 haben gemeinsam, daß sie sich gegen das überkommene Verständnis vom Strafgesetz, von der strafrechtlichen Regel überhaupt wenden. Diese Maßnahmen wenden sich gegen sorgfältige Vorbereitung, kluge Ausformulierung und breite Begründung von Gesetzen; sie wenden sich gegen ein Strafgesetz als eigenständigen Faktor im Verhältnis Bürger—Justiz-Staat. Das Gesetz grenzt nicht mehr ab. Das Gesetz ist kein Gegenstand mehr, den zu beachten sich lohnt. In der Rechtsquellenlehre spielt das Strafgesetz keine hervorgehobene Bedeutung mehr 95 . Diese Auffassung vom Gesetz entzieht den Grundbegriffen, die unter II. zusammengestellt worden sind, gleichmäßig ihren Inhalt. Analogieverbot, Rückwirkungsverbot, Legalitätsprinzip usw. verstehen sich von einem klugen, grenzziehenden Strafgesetz her. Diese Grundbegriffe fallen stützenlos in sich zusammen, sobald jener Gesetzesbegriff aufgegeben wird. Die strafrechtliche Regelsetzung nach 1933 - 1945 wendet sich nicht gegen Analogieverbot, Legalitätsprinzip usw.; sie wendet sich gegen die überkommene Vorstellung von der Aufgabe des Strafgesetzes; alles andere folgt von selbst. Das Strafgesetz, die strafrechtliche Regel überhaupt, ist nur noch Informationsmittel; nicht das einzige und nicht das wichtigste über Recht, das anderswo undeutlich entstanden ist. Diese Entwicklung ist ein profilierter Beitrag zum Verhältnis zwischen sozialem, politischem Wandel und Strafgesetz. Diese Entwicklung organisiert den absoluten Vorrang des sozialen Wandels vor dem Strafgesetz. Das Strafgesetz in der überkommenen Bedeutung muß verschwinden, um das schnelle und unmittelbare Durchschlagen politischen Wandels in das Alltagsleben möglich zu machen. Der politische Wandel wird zur Rechtsquelle, die Bestrafungen werden ununterscheidbarer Teil einer erfolgsorientierten Staatsverwaltung mit schnell wechselnden Zielen. Das Strafgesetz im überkommenen Verstände muß verschwinden, damit die direkte Aktion nicht gehindert wird. Die Strafrechtspflege mit Hilfe des Gesetzes, das in einem langwierigen Verfahren hergestellt und bearbeitet wird, ist um95
Vgl. zu den Parallelproblemen im Zivilrecht Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 1968, S. 445ff.; allgemein: F. Neumann, Der Funktionswandel des Gesetzes im Recht der bürgerlichen Gesellschaft, in: F. Neumann, Demokratischer und autoritärer Staat, 1967, S. 7ff., bes. 50ff.
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geformt in eine Bürokratie, die eine unabgeleitete, ständig wandelbare Sozialmoral übersetzt 9 6 . Einige gleichbleibende Züge dieser Moral lassen sich ausmachen. Es ist eine Moral, die keine Bestrafungsgrenzen und keine Strafbefreiungsgrenzen erträgt, eine Moral, die Bestrafungsbedürfnisse und Strafbefreiungsbedürfnisse sofort befriedigt sehen möchte. Vor allem Strafbarkeitslücken nimmt sie nicht hin 97 . Es genügt ihr, das Alltagsleben im Bereich des Strafrechts im groben geregelt zu haben, die Einzelheiten überläßt sie der Improvisation. Diese Moral ist eitel; sie weiß, wie die Welt aussehen soll, ohne das begründen zu können. Es gibt nur Meinungen und Bedürfnisse, keine allgemeinverbindlichen N o r m e n , auf die man sich stützen und gegen die man sich rechtfertigen m u ß ; und es gibt keine Rechtsmittel gegen Entscheidungen, denn das Zugestehen von Rechtsmitteln wäre das Eingeständnis, man k ö n n e sich - durch andere überprüfbar - irren 98 . Die unreflektierte, undistanzierte entschlossene rasche befreiende Tat wird z u m Kennzeichen strafrechtlicher Regelsetzung u n d Regeldurchsetzung 9 9 . 2. Das Gegenmodell ist leicht zu entwerfen. Es ist das Modell, in dem das Strafgesetz mit G r ü n d e n ein Eigenleben führt. Die begrifflichen Bedingungen dafür sind: 96
Hinweise auf das Problem schon bei Bockelmann, in Festschrift f ü r Smend, 1952, S. 35f.; vgl. auch Stolleis, Art. „Nationalsozialistisches Recht" a . a . O . (Anm. 8). Fraenkels A u s d r u c k „bürokratisierte Rechtlosigkeit" (Fraenkel, D e r Doppelstaat, 1974, S. 5) trifft die Sache genau. Es ist aber noch weiter zu untersuchen, o b man im Anschluß an Fraenkel (mit Blick auf das Strafrecht s. auch Broszat, D e r Staat Hitlers, S. 404) über das Strafrecht von einem Dualismus von M a ß n a h m e n und N o r m e n sprechen sollte. I m Strafrecht gibt es wahrscheinlich keinen Dualismus, sondern n u r ein vikariierendes System von N o r m e n und M a ß n a h m e n . Für die Geltung der N o r m e n des StGB hat Jäger schon 1967 den A u s d r u c k .„ideologisches O p p o r t u n i t ä t s p r i n z i p ' " benutzt (Jäger, Verbrechen unter totalitärer Herrschaft, S. 223); ähnlich: Bracher-Schulz-Sauer, Die nationalsozialistische Machtergreifung, Band II, 1974, S. 378.
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S. dazu H. Mayer, SJZ 1947, Sp. 13. S. dazu Anderbrügge, Völkisches Rechtsdenken zur Rechtslehre in der Zeit des N a t i o nalsozialismus, 1978, S. 132ff., bes. 136ff., und die Rezension dieses Buches von Stolleis, in: Zeitschrift f ü r N e u e r e Rechtsgeschichte, 1979, S. 99ff. - Aber es ist immer noch zu wissenschaftlich, wenn man den im Text angedeuteten Vorgang als Herstellung von „Identität von Recht und Volksmoral" zu beschreiben versucht (Anderbrügge, a . a . O . , S. 136). Vielmehr bemächtigt sich eine mediokre kleinbürgerliche Moral des Strafrechts. Vgl. Schäfer-Wagner-Schaflieutle, Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher, 1934, S. 3.
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In erster Linie müssen Staat und Gesellschaft scharf voneinander getrennt sein. Die Gesellschaft darf keinen unmittelbaren Zugang zur Bestimmung des Inhalts strafrechtlicher Regeln haben. Dafür verhält sich der Staat ideologisch neutral. Auch noch in erster Linie: Es muß eine Diskussion geben, die, gleichgültig auf welchem Wege (ob über ein Naturrecht oder über einen verbindlichen Konsens), die Freiheit des Einzelnen zur Grundlage jeder Rechtstheorie macht. Das Ziel der Sicherung und Organisation von individuellen Freiheiten macht das im Inhalt sorgfältig erwogene, genaue Grenzen ziehende Gesetz verständlich. Unter der Voraussetzung dieses Ziels ist das Strafgesetz notwendig, sein Eigenleben ist dann Garantie für die Einhaltung rechtlicher Zustände überhaupt. Analogieverbot, Legalitätsprinzip usw. sind keine selbständigen Prinzipien, sondern nur Ableitungen, d. h. Organisationsformen individueller Freiheit. Die sozialen Bedingungen, unter denen dieses Modell bestehen kann, sind kompliziert. Zu diesen Bedingungen gehören: eine beträchtliche politisch-juristische Bildung im Gesetzlichkeitsdenken naturrechtlicher Vertragslehren und der idealistischen philosophischen Systeme; die Fähigkeit, Grenzen und Lücken des Strafrechts nicht nur auf längere Zeit ertragen, sondern richtig finden und Strafrecht von der Befriedigung kurzfristig entstandener sozialer Bedürfnisse abtrennen zu können. Dieses Modell verkennt nicht, daß es sozialen Wandel gibt, aber es hält den sozialen Wandel nicht ungeprüft für etwas Gutes, will dem sozialen Wandel einen unmittelbaren Zugriff auf das Strafgesetz erschweren, will den überkommenen Bestand der Strafgesetze als Argument gegen den sozialen Wandel benutzen. Im einzelnen sieht dieses Modell das Strafjustizsystem als klug begrenzt auf jene Taten, die, weil sie die vitalen Güter des einzelnen Menschen, seine Freiheit überhaupt, verletzen, mit Sicherheit strafwürdig sind. Die Gesetze sind klar und detailliert gefaßt. Die Strafbarkeitsvoraussetzungen und die Strafen sind für jedermann verständlich. Die Grenzen der Strafbarkeit sind unmißverständlich bestimmt. Die Todesstrafe wird nicht angewendet. Die übrigen Strafen sind nie grausam, haben eine Neigung zur Humanität. Das Verfahrensrecht wahrt die W ü r de des Beschuldigten. Der Prozeß zeigt klare Formen, die die Waffengleichheit zwischen Beschuldigung und Verteidigung organisieren. Der Strafrichter des Gerichtsverfassungsrechts ist ein wissenschaftlich gebildeter, politisch kluger, humaner Bürger, unabsetzbar, unabhängig,
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nicht versetzbar, nur dem Gesetz unterworfen, kontrolliert durch vernünftig entworfene Besetzung der Spruchkörper und vernünftig entworfene Instanzenzüge. Der gesetzliche Richter ist garantiert; er politisiert nicht. Justiz und Verwaltung, insbesondere Justiz und Polizei, sind deutlich voneinander getrennt. Die Strafgesetzgebung und die Strafjustiz sind Hort und Hüter unparteilicher Gerechtigkeit. 3. Die Unterschiede zwischen diesen Systemen liegen auf der Hand. Zu unterstreichen ist, daß dies durchgehende Unterschiede sind; sie bestehen für alle Teile des Justizsystems 1933 - 1945, nicht nur für einzelne Abschnitte. Die direkte Regelsetzung und die Generalklauselformulierungen finden sich bei der Einführung der Maßregeln und der Neuformulierung der Mordbestimmung —diese Gegenstände gelten als Beispiel für nur fachmännisches Strafrecht in der Justizpolitik der nationalsozialistischen Zeit100 - und im Volkssturm-Strafrecht 1945101. Die Aufhebung des Analogieverbots, des Verbots der Wahlfeststellung, des Rückwirkungsverbots und die Entformalisierung des Verfahrens und der Gerichtsorganisation treffen das gesamte Strafrecht. Das Schleifen des Legalitätsprinzips ändert das Klima der Strafverfolgung insgesamt. Gemessen an der reinen Lehre ist die Perversion des Strafjustizsystems 1933 - 1945 total 102 . Die Einsetzung von Standgerichten 1945 für einen 100
101 102
S. z . B . Welzel, Das deutsche Strafrecht, 11. Aufl., S. 13; Schmidhausen a.a.O. (Anm. 2), S. 77. RGBl. 1935 I, 34. Für die strafrechtliche Regelsetzung in Polen 1939/40 hat Broszat erörtert, ob es in dieser Regelsetzung ein Dilemma zwischen der Notwendigkeit, ein Minimum an Rechtssicherheit zu gewährleisten und der politischen Absicht, über das Strafrecht unbegrenzte Zugriffsmöglichkeiten auf die polnische Bevölkerung zu organisieren, gegeben hat (Broszat, Nationalsozialistische Polenpolitik 1939 - 1945, 1961, S. 128). Das klingt so, als ob traditionelle nicht-pervertierte Werte und nationalsozialistische pervertierte Rassen- und Nationalitätenpolitik in Widerstreit geraten wären. Aber die Darstellung Broszats selbst macht klar (a.a.O., S. 128), daß die Situation in dieser Weise nicht interpretiert werden kann. Rechtssicherheit als Sicherheit des Bürgers gegen den Staat ist 1939/40 in Polen nicht gemeint. Es ist vielmehr eine spezifisch nationalsozialistische Form der Rechtssicherheit gemeint, nämlich eine unwillig hingenommene Zwischenstation, ein nur taktisch gemeintes Mittel, um den Zeitpunkt abzuwarten, an dem der unbegrenzte Zugriff organisiert werden kann. Rechtssicherheit in Polen 1939/40 ist nicht einmal ein K o m p r o m i ß zwischen dem angestrebten unbegrenzten Zugriff und der traditionellen Wirkungsweise der Rechtssicherheit; Rechtssicherheit in Polen 1939/40 ist nur die Vorform des unbegrenzten Zugriffs. Auf diesem Unterschied ist deswegen so sehr zu beharren, weil sich sonst die Beurteilungsmaßstäbe für irgendein Strafrecht verschieben. Broszat z. B. folgert aus der These, daß es in Polen
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großen Teil der früheren ordentlichen Gerichtsbarkeit 103 ist eine vielleicht dramatische, aber im übrigen höchst folgerichtige Konsequenz der Gesamtentwicklung, ist nicht der pervertierte Teil der Strafrechtsentwicklung nach 1933. IV. Die Verbindung des Strafjustizsystems 1933 - 1945 zu der Zeit vor 1933 und nach 1945 1. Damit ergeben sich klare Unterschiede zur üblichen Interpretation der Hauptmasse der strafrechtlichen Regeln der Zeit 1933 - 1945. Der Grund für diese Unterschiede ist noch einmal zusammenzufassen: Dieser Text geht davon aus, daß das Strafjustizsystem eines Staates einer einheitlichen rechtspolitischen Ausrichtung zu folgen bestrebt ist. Von dieser Auffassung aus verbietet es sich, in einem Strafjustizsystem einer bestimmten Zeit sympathische und unsympathische Gebiete zu konstruieren. Einzelforschung kann allenfalls ergeben, daß strafrechtspolitische Alternativen aufgrund bewußter Entschlüsse sich in Teilbereichen eines Strafjustizsystems gegen den allgemeinen Trend gehalten haben 104 . Für die Hauptpfeiler des Strafjustizsystems 1933 - 1945 besteht nach dem oben unter II. zusammengestellten Material kein Anlaß anzunehmen, daß im allgemeinen Trend 1933 - 1 9 4 5 wirkungsvolle Reste aus dem Gegenmodell Bestand gehabt haben. 2. Die Frage, wieweit sich dieser allgemeine Trend 1933 - 1945 zu der Zeit vor 1933 und nach 1945 verhält, wird damit interessanter als bisher. Die übliche Auffassung reklamiert die reine Lehre von der festen Bindung an das Strafgesetz mit allen Folgen für Gesetzgebung und Justizorganisation für die Zeit vor 1933 und für die Zeit nach 1945 105 . Aber die
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1939/40 ein Dilemma zwischen einem Minimum an Rechtssicherheit und politisch motivierter Zugriffswillkür gegeben hat, daß die Einführung des deutschen Strafrechts im Juni 1940 eine „gewisse Normalisierung" geschaffen hat (a.a.O., S. 128). Auch mit der Einschränkung „gewisse" ist dies nicht zu akzeptieren. Die Verordnung vom 6. 6. 1940 enthält keinen Buchstaben „normales" Strafrecht im überkommenen Sinne. Verordnung vom 15. 2. 1945, R G B l . I, 30. Material zur Erörterung dieser Frage für die Zeit 1933 - 1945 bei Schorn, Der Richter im Dritten Reich, 1959; Schorn, Die Gesetzgebung des Nationalsozialismus als Mittel der Machtpolitik, 1963; Weinkauff, Die deutsche Justiz und der Nationalsozialismus, ein Uberblick, 1968; Schweling, Die deutsche Militärjustiz in derZeit des Nationalsozialismus, 1977; Lengemann, Höchstrichterliche Strafgerichtsbarkeit unter der Herrschaft des Nationalsozialismus, Diss. Marburg, 1974. Die Interpretationsschwierigkeiten, die sich in diesem Gebiet ergeben, sind nicht geklärt. S. oben Anm. 10.
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Entwicklung 1933 - 1945 ist so systematisch, daß ihr plötzlicher Beginn und ihr plötzliches Ende große Überraschungen wären. Sorgsame D e tailuntersuchungen, die 1933 und 1945 nicht als scharfe Einbrüche in die Entwicklung des Strafjustizsystems nehmen, fehlen bisher. Die Hinweise, die sich finden 106 , sind zusammenzufassen und mit der Beschreibung jener Zeitabschnitte, deren strafrechtliche Regelsetzung genauer aufgeklärt werden müßte, fortzuführen. a) Die strafrechtliche Regelsetzung 1933 - 1945 im Bereich des Strafjustizsystems hat vor 1933 durchaus Vorformen und Vorbilder. Das Analogieverbot ist im 19. und 20. Jahrhundert immer umstritten gewesen 107 . Es wird zu wenig beachtet, daß der Ubergang von der Gesetzgebungstechnik des Preußischen Allgemeinen Landrechts 1794 zur Gesetzgebungstechnik des Preußischen Strafgesetzbuchs 1851 einen guten Nährboden für die Befürwortung der Analogie als notwendiges Mittel der Gesetzesanwendung geschaffen hat. Die Strafgesetzbücher, die zwischen dem Preußischen Allgemeinen Landrecht und dem Preußischen Strafgesetzbuch entstehen, zeigen eine immer allgemeiner werdende Gesetzessprache und eine Unentschiedenheit in der Haltung zum Analogieverbot 1 0 8 . Die Vorschrift des § 4 des Criminalgesetzbuchs für das Herzogtum Braunschweig, Gesetze seien „entweder nach den W o r ten oder nach dem Sinn oder nach dem Grund der einzelnen Bestimmungen" zu handhaben, ist nicht sensationell 109 . Das gilt auch von Einschränkungen des Rückwirkungsverbots 1 1 0 . Durch die Strafrechtslehre des 19. und 20. Jahrhunderts, beginnend mit Feuerbach und durch v. Liszt verstärkt, zieht sich die Überzeugung, die Gesetzlichkeit des Strafrechts erkläre sich vornehmlich aus dem Zweck der Gesetze, verbrechensverhütend zu wirken. Man braucht nur zu betonen, daß Ver106
107 108 109
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H. Mayer, SJZ 1947, Sp. 13; K. Peters, in Flitner (Hrsg.), Deutsches Geistesleben und Nationalsozialismus, 1965, S. 166f.; Naucke, Über Generalklauseln und Rechtsanwendung im Strafrecht, 1973, S. 8 f f . ; Marxen, D e r Kampf gegen das liberale Strafrecht, 1975, S. 47ff., 56ff., 76ff. Für die Richterschaft allgemein Hinweise bei Kühler, Der deutsche Richter und das demokratische Gesetz, in: AcP 1963, 104ff. Neueste Übersicht bei Schreiber, Gesetz und Richter, 1976, S. 118ff.; 181 ff. S. dazu Schreiher, a.a.O. (Anm. 107), S. 118ff. Vgl. zu dieser Vorschrift Schreiber, a.a.O. (Anm. 107), S. 156, der aus den Materialien belegt, daß diese Vorschrift die Analogie ausdrücklich zulassen wollte. Bemerkenswert an diesen Materialien ist, daß sie sich zur Rechtfertigung der Analogie auf die „Volksansicht" berufen. Systematische Übersicht bei Schreiber, a.a.O. (Anm. 107), S. 161.
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brechensverhütung auch ohne Gesetze zweckmäßig betrieben werden kann und die Gesetzlichkeit des Strafrechts wird uneinleuchtend. Parallel zu dieser immer heftiger werdenden Betonung der notwendigen Zweckmäßigkeit der Strafgesetze (und der Behauptung, ein von Zwekken gelöstes Strafrecht sei unmodern und irrational), läuft die immer stärkere Anbindung des Bestrafungssystems an die Bedürfnisse der Gesellschaft. v. Liszt formuliert das in einer für die Moderne einleuchtenden Weise. Die Folge ist, daß die Gesetzlichkeit des Strafrechts etwas dem gesellschaftlichen Wandel Abträgliches, etwas Starres und Formelles wird, das den Verbrecher, den man auch ohne Gesetz erkennt, schützt 111 . Binding, der Klassiker, macht keine Ausnahme. Die Normentheorie, d. h. die Theorie vom Vorrang sozialer Normen gegenüber dem Gesetz, ist die Theorie der Abwertung des Gesetzes im 19. und 20. Jahrhundert. Sehr diszipliniert entwickelt Binding aus der Normentheorie die objektive Auslegung, das ist die Rückbindung jedes Gesetzes auf den aktuellen Stand der gesellschaftlichen Bedürfnisse; Binding macht die historische Gesetzesinterpretation lächerlich und hält das Analogieverbot für unsinnig 112 . Vor allem die objektive Auslegung, die eine stürmische Karriere macht, stellt den Strafjuristen gegenüber dem Gesetz freier, unterwirft ihn freilich der Pflicht, die Ergebnisse der Auslegung ständig kontrollieren zu lassen anhand der Frage, ob es nach den gesellschaftlichen Bedürfnissen nicht anders gehen müßte. Die im 19. Jahrhundert ausgebildete Neigung zu einer immer größeren Allgemeinheit in der Gesetzgebung muß die verborgene Kontrolle des Strafjuristen durch Staat und Gesellschaft bei Einzelentscheidungen, eine Kontrolle, die objektive Auslegung heißt, als selbstverständlichen Teil des Gesetzgebungsverfahrens, das vom Rechtsanwendungsverfahren nicht zu trennen ist, ansehen. Je allgemeiner die strafrechtliche Regelsetzung wird, umso unentbehrlicher wird die eingeübte objektive Auslegung und umso unwahrscheinlicher werden die Einhaltung des Analogieverbots, des Legalitätsprinzips, der Prinzipien der Unabhängigkeit der Richter und des gesetzlichen Richters. Schon um die Jahrhundertwende sind in der Strafrechtsreformdiskussion und in der Gesetzgebung zum gesamten Strafrecht Einzelheiten be111
1,2
V g l . E i n z e l h e i t e n i n : Hassemer-Lüderssen-Naucke, Hauptprobleme der Generalp r ä v e n t i o n , 1979, S. 1 2 f f . S. Binding, H a n d b u c h des S t r a f r e c h t s I, 1885, S. V I I I 1 7 f f . , 2 1 3 f f . , 4 5 0 f f . , 4 5 4 f . , 4 6 9 ff.
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merkbar, die die geänderte Stellung der Strafjustiz im Staat ankündigen. Die moderne Schule im Strafrecht leitet die Vernunft ihrer Forderungen entscheidend daraus ab, daß die Strafjustiz einen täglich erneuerten, täglich meßbaren Beitrag zu gesellschaftlichen Bedürfnissen, nämlich zur Rückfallverhütung leisten müsse. Das seit ca. 1900 immer wieder geforderte und durch Gesetzentwürfe konzipierte Maßregelrecht sieht den Richter ausgesprochen als Funktionär in den Diensten gerade aktueller Gesellschaftsziele. Man will nicht sehen, daß das Maßregelrecht Polizeirecht ist. Warum der Maßregeljurist Unabhängigkeit und Unabsetzbarkeit genießen soll, ist nicht zu erklären. Unabhängigkeit der Justiz ist für Rückfallverhütung nicht günstig. Das Legalitätsprinzip gerät vom Jahrhundertbeginn an durch die Diskussion der Frage in Bedrängnis, auf welchem Weg man die Bagatellen bis hin zur mittleren Kriminalität dem rechtlich aufwendigen Strafjustiz-System entziehen kann. Die Reformdiskussion seit Anfang des Jahrhunderts läuft - aus heutiger Sicht darauf hinaus, das Gebiet der Zuständigkeit einer am vernünftigen Gesetz orientierten, von der unmittelbaren Befriedigung gesellschaftlicher Bedürfnisse entlasteten Strafjustiz zu verkleinern zugunsten einer effektiven Bestrafungspraxis. Eine Einzelheit: am frühesten spürbar wird diese Entwicklung an den immer unpräziser werdenden Regeln für die sachliche Zuständigkeit der Gerichte 1 1 3 . Großes Interesse verdient das Strafrecht, Strafprozeßrecht und strafrechtliche Gerichtsverfassungsrecht des 1. Weltkrieges. Zu Unrecht ist diese Zeit in der neueren Strafrechtsgeschichte als unergiebig abgetan 114 . Die wenigen zusammenfassenden Darstellungen, die es gibt 1 ' 5 , legen die Vermutung nahe, daß 1914 - 1918 im Bereich des gesamten Strafrechts jene Möglichkeiten zuerst durchgespielt worden sind, die sich in den Jahrzehnten danach als die eigentlich aktuellen Möglichkeiten erweisen.
113 114
Einzelheiten bei v. Hippel, Der deutsche Strafprozeß, 1941, S. 49f., 51 ff. In den Darstellungen und Abrissen der neueren Strafrechtsgeschichte wird der 1. Weltkrieg übergangen, vgl. E. Schmidt, a.a.O. (Anm. 2), S. 405; Rüping, Grundriß der Strafrechtsgeschichte, 1981, S. 87ff.; Maurach-Zipf, a.a.O. (Anm. 2), S. 57; v. Hippel, Deutsches Strafrecht, Band I, 1925, S. 3, 4, 8. Registriert wird der 1. Weltkrieg im wesentlichen als die Zeit, in der die Strafrechtsreform nicht hat fortgeführt werden können (Maurach-Zipf, a.a.O. - Anm. 2 - , S. 57), die aber der Strafrechtsreform neue Anstöße gegeben hat (E. Schmidt, a.a.O. - Anm. 2 - , S. 405). Liepmann, Krieg und Kriminalität in Deutschland, 1930; Rieger, Die Umgestaltung des Strafrechts und des Strafprozesses während des Weltkriegs, Diss. Göttingen, 1920.
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Die Vorformen für die Ermächtigungsgesetzgebung, die Vereinfachungsgesetzgebung und die Schutzhaftbestimmungen der Zeit nach 1933 finden sich 1914 - 1918116. Weitere Vorformen, nun wahrscheinlich schon Vorbilder, werden sich in den strafrechtlichen Regelungen der Jahre 1918/19 finden, die dringend der ausführlichen Untersuchung bedürfen 117 . Die Weimarer Republik praktiziert deutlich die Unselbständigkeit des Strafrechts gegenüber der Gesellschaft. Dabei mag der rechtsphilosophische Relativismus eine Rolle spielen. Er entwertet das Gesetz, weil er es beliebigen — beliebig zustandegekommenen und beliebig ausgedrückten - Inhalten öffnet. Wer sich der vom Relativismus begünstigten Gleichgültigkeit gegenüber Gesetzgebung und Gesetzesinhalt bedienen kann, hat den Zugriff auf die Gesetzeshandhaber 1173 . Gesetzgebungstechnisch besteht ein Zusammenhang mit der Schnelligkeit der strafrechtlichen Regelsetzung aufgrund des Ermächtigungsgesetzes vom 8. 12. 1923118 und aufgrund des Art. 48 Abs. 2 der Weimarer Reichsverfassung. Ermächtigungsgesetz und Art. 48 Abs. 2 W R V eröffnen den nur gering kontrollierten Zugang gerade aktueller Strafbedürfnisse - und der Bedürfnisse, Straffreiheit zu gewähren — zur strafrechtlichen Regelsetzung. Das Legalitätsprinzip wird 1924 durch die Einführung der §§153, 154 StPO dauerhaft eingeschränkt 119 . Das Analogieverbot hat in der Weimarer Republik kein großes Prestige 120 . Die Generalklausel wird zum 116
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Vgl. das Gesetz über die Ermächtigung des Bundesrates zu wirtschaftlichen Maßnahmen vom 4. 8. 1914, RGBl. I, 327, und die Mitteilungen von Rieger, a.a.O. (Anm. 115), S. 42ff., 47ff. S. das Beispiel bei Naucke, Uber Generalklauseln und Rechtsanwendung im Strafrecht, 1973, S. lOf. Im Ergebnis stimmt das mit dem Befund von Kübler, a.a.O. (Anm. 106), S. 104ff., 112 ff. überein, nicht aber in der Erklärung. Der Gesichtspunkt Küblers, der Richter habe gerade dem demokratisch zustandegekommenen Gesetz die Gefolgschaft versagt, wird zu eng sein. Der Trend ist allgemeiner; die Beachtung des Gesetzes wird durch die Bindung an Strömungen in der Gesellschaft ersetzt (s. die Bemerkungen von Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik, 5. Aufl., 1971, S. 172 ff.). Warum gerade das demokratisch zustandegekommene Gesetz von einer solchen Entwicklung verschont bleiben sollte, ist nicht zu sehen. RGBl. I, 1179; z. B. werden die §§ 153, 154 StPO aufgrund dieses Ermächtigungsgesetzes durch Verordnung eingeführt, s. Verordnung vom 4. 1. 1924, RGBl. I, 15. Verordnung über Gerichtsverfassung und Strafrechtspflege vom 4. 1. 1924, RGBl. I, 15. Vgl. Exner, Gerechtigkeit und Richteramt, 1922, mit Nachweisen. Zur geringen Bedeutung des Art. 116 W R V vgl. H. Mayer, Die Untreue im Zusammenhang der Ver-
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Dauerbestandteil der strafrechtlichen Regeln121. Die objektive Auslegung, die deutlichste Komplementärerscheinung zur gelockerten Gesetzesbindung, setzt sich völlig durch und wird in romantischen Bildern verherrlicht. Das Gesetz sei ein Schiff, das sich auf freier See unter Führung des Kapitäns (des Rechtsanwenders) den eigenen Kurs suche1213. Man braucht das Bild nur ernst zu nehmen und man sieht, was es praktisch zeigt. Der Rechtsanwender ist abhängig von Mächten, die er nicht steuern kann. Das Rückwirkungsverbot wird durch Art. 227 des Versailler Vertrages (rückwirkende Strafbarerklärung von Regierungshandlungen) durchbrochen. Das führt nicht zu einer breiten Diskussion 121b . Die juristische Tatsache, daß der Versailler Vertrag der Reichsverfassung vorgeht (Art. 178 Abs. 2 WRV), scheint zur Beruhigung auszureichen. Es beginnt die Gewöhnung an strafrechtliche Sondergerichte 122 . Auffällig sind auch die Eingriffe in den Strafprozeß und in die Gerichtsverfassung, die nach den Vorbildern der Kriegsgesetzgebung des 1. Weltkrieges vorgenommen werden. Die „Entlastung der Gerichte" wird fortgesetzt 1223 . Man findet hier gut vorgebildet das gesamte Arsenal, das man braucht, um durch Verzicht auf prozessuale Förmlichkeiten den Strafprozeß von einem Mittel zur Ermittlung und Bestrafung von Ungerechtigkeiten zu einem schnell und effektiv wirkenden Mittel der Staatsverwaltung zu machen: Erweiterung des Strafbefehlsverfahrens, Vergrößerung der Zuständigkeit der Schöffengerichte auf Kosten der Zuständigkeit der Strafkammern, Wahlrecht der Staatsanwaltschaft, ob die Anklage beim Schöffengericht oder bei der Strafkammer erhoben wird, Vereinfachung der Urteilsbegründung bei Verzicht auf Rechtsmittel. Gemessen am reinen Modell einer Strafjustiz, die sich lediglich auf mögensverbrechen, 1926, bes. S. 182 ff. Vgl. auch die Nachweise bei Marxen, D e r Kampf gegen das liberale Strafrecht, 1975, S. 192f. 121 Vgl. schon Hedemann, D i e Flucht in die Generalklauseln, 1933, S. 32ff.; H. Mayer, Das Strafrecht des deutschen Volkes, 1936, S. 112; Beispiele auch bei Naucke, Ü b e r Generalklauseln u n d R e c h t s a n w e n d u n g im Strafrecht, 1973, S. 10. 12,1 Radbruch, Rechtsphilosophie, zitiert nach der 6. Aufl., S. 211. \\6;An121b y g i Qiese> Die Verfassung des deutschen Reiches, 8. Aufl., A n m . 2 zu Art. schütz, Die Verfassung des deutschen Reiches, 8. Aufl., A n m . 2 zu A r t . 116. 122 Ubersicht: Hug, Strafrechtliche Sondergerichtsbarkeiten in Deutschland, 1 9 1 8 - 1 9 3 2 , Diss. Heidelberg, 1975. I22a Gesetze vom 11. März 1921, RGBl. I, 229, und v o m 27. März 1923, RGBl. I, 217.
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das in einem langen Verfahren zustandegekommene, auf Vernünftigkeit pochende Strafgesetz stützt, ist die Strafjustiz, die 1933 besteht, ein schwaches, durchlöchertes, verlassenes System, das zur Nichtachtung einlädt. b) Das reine Modell wird in den Jahren 1945 ff. nicht wieder hergestellt. Die strafrechtlichen Regeln der unmittelbaren Nachkriegszeit — Gesetze ohne Gesetzgebungsverfahren, Proklamationen, Bestimmungen, Anweisungen, Befehle - belegen erneut die Neigung des modernen Strafrechts zur schnellen, begründungslosen Entscheidung. Die Generalklauselgesetzgebung wird beibehalten 123 . Die Probleme, die man mit dem Rückwirkungsverbot hat, setzen sich schon in der Kontrollratsgesetzgebung zur Bestrafung nationalsozialistischer Gewalttaten fort 124 . Wie schwach das Rückwirkungsverbot ist, zeigt sich bei der wiederholten rückwirkenden Verlängerung der Verj ährungsfristen für nationalsozialistische Gewalttaten. In diesen Zusammenhang gehört, daß sich erst nach dem 2. Weltkrieg die Lehre von der Rückwirkung einer den Beschuldigten benachteiligenden Rechtsprechungsänderung durchsetzt. Die strafrechtliche Regelsetzung vom Kriegsende ab bindet sich mit Entschiedenheit in Theorie und Praxis an die aktuellen gesellschaftlichen Bestrafungsbedürfnisse oder Strafbefreiungsbedürfnisse. Das beginnt mit den Bestrafungen nationalsozialistischer Verbrechen und mit den Entnazifizierungsstrafverfahren, die im Rahmen der Strafrechtsentwicklung der jüngsten Zeit ebenso große Bedeutung haben, aber ebenso wenig Interesse finden wie der 1. Weltkrieg. Die Fortsetzung des schnellen Umschlagens gesellschaftlicher Bedürfnisse ins Strafrecht findet sich sichtbar während des Korea-Krieges, während der studentischen Unruhen am Ende der 60er und am Anfang der 70er Jahre und in der Terrorismus-Gesetzgebung. Die Änderungen der Regierungskoalitionen ändern die Auswahl der gesellschaftlichen Bedürfnisse, die Eingang in das Strafrecht finden. Der Strafrechtsreformgesetzgebung, die 1975 zu einem neuen Text von StGB und S t P O führt, lassen sich alle je123
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Beispiele bei Naucke, Über Generalklauseln und Rechtsanwendung im Strafrecht, 1973, S. 3ff.; s. auch Stolleis, Art. „Nationalsozialistisches Recht", a.a.O. (Anm. 8). Frühe Zusammenfassungen der Probleme: Wimmer, SJZ 1947, Sp. 123 ff., und Nürnberger Juristenurteil, Sonderveröffentlichungen des Zentraljustizblatts für die Britische Zone, o. J. (1948), S. 32ff.; vgl. auch Lengemann, Höchstrichterliche Strafgerichtsbarkeit unter der Herrschaft des Nationalsozialismus, Diss. Marburg, 1974, S. 46 ff.
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ne Züge zuschreiben, die für die langfristige Wegentwicklung des Strafrechts vom reinen Modell der Strafjustiz charakteristisch sind: völlige Orientierung am Zweck, soziale Bedürfnisse zu befriedigen; ungenaue Texte; Besorgnis, scharfe Grenzen aufzurichten; Straffreiheit, wo das Gefühl es will, Bestrafung, wo das Gefühl es will; Organisation der Strafjuristen als Funktionäre des sozialen Wandels. Die Aufhebung des Analogieverbots wird 1945 gestrichen 125 , aber zugleich finden sich Anweisungen an Richter, wie bestimmte Vorschriften auszulegen sind 126 ; Richterbriefe sind nichts prinzipiell anderes als diese Anweisungen. Das wieder eingeführte Analogieverbot stößt ohne U n terbrechung auf Skepsis 127 . Die objektive Auslegung, die Wegbereiterin der Aufhebung des Analogieverbots wird durchgehend befürwortet; Hauptargument: allein die objektive Auslegung garantiere die Anpassung der Gesetzeshandhabung an geänderte gesellschaftliche Bedürfnisse, mache das Gesetz flexibel und verhindere Starre 128 . Das Legalitätsprinzip, durch die Generalklauselgesetzgebung ohnehin eingeschränkt, muß immer größere Gebiete aufgeben. Die Gesetzgebung faßt in den §§ 153 - 154e S t P O zwölf Paragraphen von beträchtlicher Länge - die Entwicklung seit Beginn des Jahrhunderts zusammen und unterstellt große Bereiche der Strafrechtspflege dem Opportunitätsprinzip; daß das Ordnungswidrigkeitenrecht von diesem Prinzip beherrscht wird (§ 47 O W i G ) , versteht sich beinahe von selbst. §§ 153, 153a StPO n. F . , 47 O W i G gleichen in Aufbau und Formulierung den Vorschriften aus der Zeit 1933 — 1945, was freilich nur die relative Zeitlosigkeit des Opportunitätsprinzips belegt. 125
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Die Einzelheiten sind zusammengefaßt von Tröndle, in L K zum S t G B , 10. Aufl., Rn. 7 zu § 1. Vgl. die bei Göke, Strafgesetzbuch 1948, S. 3 * , abgedruckten „allgemeinen Auslegungsvorschriften" der Besatzungsmächte. Vgl. zuerst Mittermaier, in SchwZStr 63 (1948), S. 403 ff. mit einer milden Beurteilung der Aufhebung des Analogieverbots; dann zusammenfassend: Sax, Das strafrechtliche „Analogieverbot" 1953; Arthur Kaufmann, Analogie und „Natur der Sache", 1965; Nickel, Die Problematik der unechten Unterlassungsdelikte im Hinblik auf den Grundsatz „nullum crimen sine lege", 1972. Übersicht über die Diskussion nach dem 2. Weltkrieg und zugleich genaue Erörterung der Schwierigkeiten, das Analogieverbot gegenwärtig rein zu befürworten: Grünwald, ZStW 76 (1964), S. 1 ff., 9\Krey, Studien zum Gesetzesvorbehalt im Strafrecht, 1977, und Schünemann, Nulla poena sine lege?, 1978. Vgl. Schönke-Schröder-Eser, S t G B , 20. Aufl., Rn. 44ff. zu § 1; Tröndle, S t G B , 10. Aufl., Rn. 46ff. zu § 1.
in L K zum
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Eindrucksvoll ist die Unwilligkeit der Gesetzgebung bis in die neueste Zeit, Grenzen für Straffreiheit und Bestrafung festzulegen und über einige Zeit durchzuhalten. Die Maxime gilt als gut gesichert, daß das Strafgesetz nur ein grober Rahmen für ständig änderbare Konkretisierungen ist 129 . Die Organisation, die die Änderungen herbeiführt, ist die Strafjustiz. Die Lehre, daß jedes Gut strafrechtlichen Schutz verlieren kann und Beseitigung, auch gewaltsame Beseitigung fürchten muß, wenn es gesellschaftliche Wertschätzung einbüßt, gelangt als allgemeiner Rechtfertigungsgrund in das StGB (§ 34 StGB), eines der sichtbarsten Zeichen dafür, daß im Strafrecht jede Grenze zur Erörterung steht. Ein anderes solches Zeichen ist das Rechtsfolgensystem. Es macht die Grenze zwischen Strafbarkeit und Straflosigkeit genauso leicht passierbar wie die Grenze zwischen leichter und schwerer Kriminalität, jeweils in beiden Richtungen. Die Vorliebe für das Maßregelrecht belegt die ungebrochene Vorliebe für die Effektivität durch Strafe, eine Vorliebe für ungeklärte Zwecke. Daß das Strafrecht weitgehend zur parteipolitischen Disposition steht, ist die selten formulierte, aber ständig praktizierte allgemeine Meinung. Die Parteipolitik bestimmt dabei aber eher das Klima der Gesetzgebung, einen groben Regelungsrahmen als scharf abgegrenzte Einzelheiten. Die Erwartung ist aber, daß das Klima einschließlich seiner Änderungen von der Rechtsanwendung gespürt und weitergegeben wird. 3. Die Materialsammlung zum Inhalt der Hauptbegriffe des Strafjustizsystems 1933 - 1945 und vor 1933 und nach 1945 weckt Einwände, deren Erörterung zu einer genaueren Formulierung der oben unter I. 3 skizzierten Fragen führen kann. a) Der nächstliegende Einwand ist, daß die Gesetzeslage im Bereich des Strafrechts und die Praktizierung des Strafrechts unter dem Regime der Weimarer Verfassung bis 1933 und des Grundgesetzes ab 1949 von der Gesetzeslage und von der Praxis 1 9 3 3 - 1 9 4 5 völlig verschieden gewesen sind. Das ist nicht zu bestreiten. Das Problem ist, was aus diesem Einwand folgt. Die Erscheinungen, die für die Zeit vor 1933 und nach 1945 genannt worden sind, hat es gegeben. Ihre Ähnlichkeit mit Erscheinungen 1933 - 1945 muß genauer untersucht werden, wird sich aber vermutlich in den Umrissen bestätigen. 129
Vgl. die in A n m . 128 genannte Stelle.
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Es wird dann nicht mehr der Ausweg bestehen, das Bild vom Bruch in der Strafrechtsentwicklung oder von der gegen einen vernünftigen Trend durchgesetzten Perversion des Strafrechts zu zeichnen 130 . Vielmehr wird sich nachdrücklich die Frage stellen, ob es sich in der Strafrechtsentwicklung bis 1933, 1933 - 1945 und ab 1945 nicht nur um Gradunterschiede der gleichen Entwicklungslinie handelt, ob das Strafrecht 1933 — 1945 nicht nur von den Möglichkeiten entschlossen Gebrauch macht, die lange entwickelt waren und die 1945 nicht völlig wieder verschwunden sind. U m einer naheliegenden Auffassung vorzubeugen ist hinzufügen, daß hier nicht noch einmal die These vorgestellt wird, es gebe eine ungebrochene „faschistische" Entwicklung des Strafrechts seit dem 1. Weltkrieg. Die These lautet vielmehr, daß zumindest seit dem 1. Weltkrieg sich alle politischen Gruppierungen, die die Macht erhalten, nationalsozialistische und andere, des Strafrechts zur Durchsetzung ihrer parteilichen Ziele bedienen 131 (und der jeweils gegnerischen politischen Gruppierung Parteilichkeit bei der Benutzung des Strafrechts vorwerfen). Das heißt: die Gesetzlichkeit des Strafrechts mit ihren Bedingungen und Komplementärerscheinungen ist nicht prinzipiell, sondern nur aus Opportunität gesichert. Der Einsatz des Strafrechts zu schnell wechselnden Staats-, Gesellschafts- und Regierungszielen macht die Einhaltung eines reinen Modells gesetzlich gebundenen Strafrechts unmöglich, macht damit die Gesetzlichkeit des Strafrechts prinzipiell unsicher. Soweit in bestimmten Zeitabschnitten mehr Gesetzlichkeit im Strafrecht angetroffen wird, läßt sich dies auf die relative Zweckmäßigkeit, nicht auf die keinesfalls zur Disposition stehende Vernünftigkeit der Gesetzlichkeit zurückführen. Insoweit sind die Strafjustizsysteme bis 1933, 1933 - 1945 nur dem Grade, nicht der Art nach verschieden. b) Das führt sogleich auf einen zweiten Einwand, die Frage nämlich, ob man nicht bei der Formulierung einer durchgehenden Entwicklung der Hauptbegriffe des Strafjustizsystems Unterschiede im Inhalt der an ei130
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Vgl. Broszat, Zur Perversion der Strafjustiz im Dritten Reich, in V j H Z G 6 (1958), S. 590 ff. : das Bild von der Perversion des Strafrechts hat zur Voraussetzung, daß „vorher" ein klares rechtsstaatliches, eben prinzipiell unpervertiertes Strafrecht bestanden hat. Zu den Problemen, die das Bild von der „Perversion" des Rechts schafft, nach wie vor wichtig: F. v. Hippel, Die Perversion von Rechtsordnungen, 1955. Einige Parallelprobleme für den Bereich des Zivilrechts sind formuliert bei Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 1968, S. 431 - 4 4 5 .
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nem Strafzweck orientierten Parteilichkeit machen, also zwischen einer Benutzung des Strafrechts zu nationalsozialistischen und zu demokratischen Zwecken unterscheiden muß. Es ist sicher, daß diese Unterscheidung zu machen ist. Die Frage aber, ob diese Unterscheidung zu der beruhigenden Annahme führt, z. B. die Geringschätzung des Analogieverbots und die Einschränkung des Legalitätsprinzips zu demokratischen Zwecken seien erträglich, diese Geringschätzung und Einschränkung zu anderen Zwecken seien nicht erträglich, läßt sich nur mit Zögern beantworten. Derart einfach wird Beruhigung über eine insgesamt beunruhigende Strafrechtsentwicklung nicht zu haben sein. Diese Beruhigung setzt voraus, daß es gelänge, die Zielsetzungen des Nationalsozialismus als schlechte Ideologie, der das Strafrecht niemals dienen dürfe 132 , zu beschreiben, und andere Zielsetzungen als nicht-ideologische Erkenntnisse, die das Strafrecht abrufen dürfen, dagegenzusetzen. Das wird nur mit Hilfe absoluter Maßstäbe für Gerechtigkeit zu erreichen sein. O b man sich gegenwärtig auf solche Maßstäbe einlassen wird, ist offen. Würde man dies tun, so würden solche Maßstäbe allerdings zahlreichen Erscheinungen des Strafrechts vor 1933 und nach 1945 unbequem werden. Eine Erörterung der Frage, ob Abstriche an den Hauptsicherungen des Strafjustizsystems, am Analogieverbot, am Rückwirkungsverbot, am Legalitätsprinzip usw. in der Demokratie hingenommen, in der Diktatur aber nicht hingenommen werden können, beschreibt das Problem überhaupt zu ungenau. Es scheint sich zu ergeben, daß über einige Jahrzehnte gesehen jede bekannte aktuelle Politik die Hauptsicherungen des strafrechtlichen Justizsystems als Beengung empfindet und Aufhebung der verschiedenen Verbote (der Analogie, der Rückwirkung, der Wahlfeststellung, der vereinfachten Gesetzgebung, der Generalklauselgesetzgebung usw.) wünscht. Ist dies die Tendenz, so kann es nicht darauf ankommen, aus welchen politischen Motiven die Tendenz unterstützt wird. Selbst wenn es „gute" Motive gibt, diese Motive würden allemal den „schlechten" Motiven in die Hände arbeiten (Übergang 1933) oder aber jenen „schlechten" Motiven für die Vorarbeit sich verbunden fühlen müssen (Ubergang 1945/49). Die Versuche der Recht132
Daß dies gelingt, gehört zum festen Annahmebestand bei der Bewertung des nationalsozialistischen Strafrechts; s. E. Schmidt, a.a.O. (Anm. 2), S. 429, 432f.; Schmidhäuser, a.a.O. (Anm. 2), S. 77; W. Wagner, Der Volksgerichtshof im nationalsozialistischen Staat, 1974, S. 861/862.
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sprechung der Nachkriegszeit, ein wirkliches gesundes Volksempfinden von einem sogenannten gesunden Volksempfinden zu unterscheiden133, sind politisch kompromißlerisch und haben allein das Ziel, die Anbindung des Strafrechts an den sozialen Wandel als Grundbegriff des Strafjustizsystems aufrechterhalten zu können. Und es ist dann eine Art freundlicher politischer Zufall, wenn der soziale Wandel gemäßigt bleibt (und folglich die Wirkungen auf das Strafjustizsystem gemäßigt bleiben). Die Alternative ist nicht: guter oder schlechter sozialer Wandel mit der Folge der Aufhebung des Analogieverbots usw. aus guten oder schlechten Gründen. Die Alternative ist: ein Staatsmodell, das alle Teile des Strafjustizsystems dem sozialen Wandel aussetzt einerseits, ein Staatsmodell andererseits, das differenziert zwischen Teilen des Strafjustizsystems, die dem sozialen Wandel im Prinzip entzogen sind (Analogieverbot usw.) und Teilen, die unbeschränkt dem sozialen Wandel ausgesetzt werden können. Anhand eines solchen Kriteriums für die Entwicklung des Strafrechts zeigt sich als das Hauptkennzeichen des Ablaufs seit ca. 1900, daß diese Alternative nicht mehr besteht. Das Strafjustizsystem dieser Zeit bietet nur Variationen des Gedankens, den Bürger für die Gesellschaft auch mit Hilfe des Strafrechts verfügbar zu machen. Gemessen am reinen Modell einer Strafjustiz ist auch die mildeste dieser Variationen schon eine unhaltbare Abweichung. c) Der Haupteinwand gegen den Inhalt dieser Überlegungen liegt damit auf der Hand. Gegen diesen Inhalt (das Strafjustizsystem 1933 1945 bildet eine nicht in nationalsozialistische und bleibende Teile trennbare Einheit, die durch Vorformen vorbereitet war und die ihrerseits Vorform für spätere Entwicklungen bildet) wird man hauptsächlich sagen müssen, er werde nur möglich durch viel zu hohe Erwartungen an die Entwicklung des Strafrechts. Das starke, vernünftige, verständnisvolle, gegen gesellschaftliche Entwicklungen selbständige und mutige Strafgesetz eines einsichtsvollen Staates, eine solche Auffassung sei nicht praktisch, sei illusionär und gehe an der Lebenswirklichkeit vorbei, sei auch wissenschaftstheoretisch nicht haltbar usw. So gewichtig solche Einwände sind, man sollte auf der hohen Erwartung an den Inhalt jedenfalls der strafrechtlichen Kernbereiche beharren. Dies wird 133
BGHSt 1, 19f., 87, 268.
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der einzige Weg sein, verschiedene Qualitäten in Strafrechtsentwicklungen unterscheiden zu können und folglich nicht darauf angewiesen zu sein, nur Unterschiede im Grad der Abweichung von reiner Rechtsstaatlichkeit zu sammeln. Dies wird auch der einzige Weg sein, auf dem die Strafrechtsentwicklung 1933 - 1945 als uneingeschränkt ungerecht beschrieben werden kann, freilich die Vorformen und Nachfolgeformen eingeschlossen. Geht man von so hohen Erwartungen aus, wird man formulieren können, daß im Strafjustizsystem der Jahre 1932/33 schon viel verloren war, und daß auch 1945 ff. nicht alles zurückgewonnen worden ist. Diese Formulierung enthält präzisere Handlungsappelle als die Vorstellung von Bruch und Heilung 1933/45.
Hans
Hattenhauer
ZUM BEAMTENLEITBILD DES 20. JAHRHUNDERTS Texte 1 Ich N . N. schwöre bei Gott dem Allmächtigen und Allwissenden, daß Seiner Königlichen Majestät von Preußen, meinem Allergnädigsten Herrn, ich unterthänig, treu und gehorsam sein und alle mir vermöge meines Amtes obliegenden Pflichten nach meinem besten Wissen und Gewissen genau erfüllen, auch die Verfassung gewissenhaft beobachten will, so wahr mit Gott helfe usw. (Preuß. V O betr. die Form der Diensteide v. 6. 5. 1867; G. S. 1867, S. 715) 2 Der Eid habe in unserer Zeit keine Berechtigung mehr, - das ist der Vorwurf, der sich insbesondere gegen die Treuverpflichtung im Eide richtet. Wenn ein Beamter gegen den Treueid spricht, so hat er seinen Treueid gebrochen. Wer sonst gegen den Treueid auftritt, ihn abschaffen oder zu einer Formel herabwürdigen will, der unternimmt eine Schmälerung der Macht der Monarchie in Preußen. Daß gewissen politischen Richtungen das Vasallenverhältnis zwischen dem Beamten und seinem König - der Schwerpunkt des Beamteneides - , dies Stück Mittelalter, das unerschüttert in das Wogen der Parteien hereinragt, ein Stein des Anstoßes ist, ist zu verstehen. Es ist folgerichtig, wenn die Vertreter der Volkssouveränität diesen Eid abschaffen wollen. Dem Verfechter des monarchischen Gedankens wird er durch seinen Zweck, die deutsche Treue wach zu halten, doppelt heilig. Darum muß der Beamteneid erhalten bleiben, der, auf der Grenze zwischen Recht und Religion, zwischen Macht und Moral, eine von den Säulen ist, auf denen das Gebäude des Staates ruht. (Friedrich Everling, Der Preußische Beamteneid, Berlin 1915, S. 61) 3 Die öffentliche Dienstpflicht unterscheidet sich von anderen Schuldverhältnissen durch den von dem Pflichtigen abzulegenden Diensteid... Der Eid ist bestimmt, das in der öffentlichen Dienstpflicht enthaltene sittliche Element, das ja rechtlich nicht vollkommen greifbar ist, zu verstärken durch einen Anruf des Gewissens und der Gottesfurcht. . . . Militärfuhren können besorgt werden kraft privatrechtlichen Vertrags von einem dazu gedungenen Manne;
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Hans Hattenhauser
sie können besorgt werden von einem Bauern, den man zur öffentlichen Last der Vorspannleistung herangezogen hat; sie können auch besorgt werden von einem Trainsoldaten: dieser letztere allein erfüllt damit eine beschworene Pflicht, die unter Umständen für das gleiche Geschäft eine ganz andere Aufopferungswilligkeit von ihm verlangt, als den beiden anderen dabei zugemutet werden soll; dieses Maß hat er aus seiner Diensttreue heraus selbst zu finden; darum ist er eben vereidigt worden. (Otto Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, 2. Aufl., Bd. II, München-Leipzig 1917, S. 245f.) 4 . . . dem Richter, dem Diener des Rechts und des Gesetzes möge es vergönnt sein, auf eine Seite der Revolution, jeder Revolution hinzuweisen, die mit ihr untrennbar verbunden ist, die recht eigentlich ihr Wesen ausmacht und deren Wirkung notwendig unheilvoll sein muß. Revolution ist Rechtsbruch. Ist Rechtsbruch, mag sie aus politischen, wirtschaftlichen, selbst ethischen Gründen noch so gerechtfertigt sein. Bedenkt man nun, wie schwer gerade von uns Deutschen bei unserem ausgeprägten Gerechtigkeitsgefühl jedes Unrecht empfunden wird, wie gerade in Deutschland das verletzte Rechtsgefühl so manchen, der den Gedanken des ewigen Rechts im Busen t r u g . . . , zum Querulanten und Narren gemacht hat, der wird begreifen, daß ein solcher bewußter, gewissermaßen programmatischer Rechtsbruch tiefgehende Wirkungen haben und zerstörend auf das allgemeine Rechtsbewußtsein wirken muß. (LGPräs. de Niem, Durch Nacht zum Licht, DRiZ 1919, Sp. 3f.) 5 Da die Staatspersönlichkeit nicht mehr in einem einzelnen Menschen verkörpert ist, soll die Treue der Reichsverfassung gelobt werden. Damit verschwindet das persönliche, den ganzen Menschen greifende Treueverhältnis. Die Reichsverfassung ist ein Gesetz. Treue gegen ein Gesetz bedeutet nichts anderes als Gehorsam gegenüber den Gesetzen und dessen gewissenhafte Anwendung, soweit man dazu berufen ist. Dazu ist an sich jeder Staatsbeamte auch ohne eidliches Gelöbnis verpflichtet. Mit der Treue gegen ein Gesetz ist es sehr wohl vereinbar, dessen Abänderung auf gesetzlichem Wege zu erstreben, soweit man es für verkehrt hält. Mit dem Treuegelöbnis verschreibt man sich also keineswegs dem Geiste des Gesetzes. Treue gegen die Reichsverfassung bedeutet also nichts anderes als das Versprechen, Hoch- und Landesverrat gegen sie zu unterlassen. (Conrad Bornhak, Der Verfassungseid der Beamten, Zs. f. Polizei- und Verwaltungs-Beamte, 1. Jg. (1920), S. 2). 6 Wenn ein älterer, aus dem „Obrigkeitsstaat" hervorgegangener Beamter die zahlreichen neuen Zeitschriften der deutschen Beamtenvereinigungen zur Hand nimmt und daraus ersieht, wie nunmehr auch in diesen Standesvertretungen die materiellen Interessen in den Vordergrund gerückt werden, und wie nicht mehr Pflicht- und Verantwortlichkeitsgefühl als der leitende Grundzug des Beamtentums in die Erscheinung tritt, da muß er sich mit Besorgnis fragen, was soll aus dem Staate werden, wenn jener ideale Schwung,
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der einst den weitaus größten Teil der Beamten, zumal der höheren Staatsbeamten erfüllte, weiterhin und in zunehmendem Maße einer materialistischen Lebens- und Berufsauffassung weichen sollte? (Geh. Justizrat Wahl, Ein Beitrag zur Beamtenpolitik, D R i Z 1922, Sp. 57f.) 7 Wir sind den Weg der politisch ausgerichteten Arbeitnehmerpolitik nicht gegangen, weil dieser Weg sich nicht verträgt mit dem inneren Wesen des deutschen Berufsbeamtentums. Gewiß sind wir deutschen Berufsbeamte, wenn wir unsere Stellung in der Volkswirtschaft - und nur diese - ansehen, Arbeitnehmer, aber diese Eigenschaft ist nicht das Primäre des Begriffsinhalts des deutschen Berufsbeamten.... wir deutsche Berufsbeamte sind nicht bloß Arbeitnehmer, wir sind es nicht einmal vordringlich, wir deutsche Berufsbeamte haben eine größere, umfassendere Aufgabe: wir sind Träger und Arm des Staatswillens, wir sind Funktionäre des Staates, Treuhänder der Volksgesamtheit, uns verbindet mit dem deutschen Volke nicht ein Tarifvertrag, uns verbindet mit dem deutschen Volke die höhere Pflicht der Treue. (W. Flügel, Die Grundlinien der Politik des Deutschen Beamtenbundes, Rede geh. auf dem 4. Bundestag des D B B v. 9. - 11. Okt. 1924, in: Deutscher Beamtenbund, U r s p r u n g - W e g - Z i e l , 1968, II, S. 76f.) 8 Eine Entpolitisierung der Gesetzgebung wäre deren Selbstaufhebung. Denn zur Bestimmung des Gesetzesinhalts gibt es keinen anderen Weg als Diktatur eines einzigen oder Kompromiß zwischen mehreren Gruppen-Interessen. Nur weil durch den Gesetzesbeschluß ein bestimmter politischer Wert zur positivrechtlichen Geltung erhoben, eine bestimmte... politische Richtung verfassungsmäßig bestimmt ist, kann bei der Gesetzes Vollziehung kein Kampf entgegengesetzter politischer Interessen mehr statthaben. Darum ist die berechtigte Forderung nach Entpolitisierung in diesem beschränkten Sinne einer Ausschaltung parteipolitischer Einflüsse auf die Gesetzesvollziehung durchaus vereinbar mit der weitestgehenden Anerkennung der politischen Parteien und ihrer Verankerung in der Verfassung. Ja, gerade dadurch können einer gesetzwidrigen Wirksamkeit der politischen Parteien Schranken gezogen werden. Ihre Einflußsphäre ist die Legislative, nicht die Exekutive. (Hans Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 2. Aufl., Tübingen 1929, S. 76f.) 9 Die Bureaukratie hat in dem politischen Gefüge des parlamentarischen Staates eine völlig neue Stellung erhalten,... Die Bureaukratie des parlamentarischen Staates ist ein eigener, ein selbständiger Faktor in dem allgemeinen politischen S y s t e m . . . Auch der Beamte des parlamentarischen Staates ist mittelbares Staatsorgan, auch er ist zur Durchführung von Anordnungen eines ihm übergeordneten unmittelbaren Organs berufen. Der Unterschied zwischen Konstitutionalismus und Parlamentarismus liegt allein darin, daß diese dienende Rolle im parlamentarischen Staat lediglich bedingter Natur ist. Wenn der Bureaukratie eine eigene politische Mission im parlamentarischen Staat zugefallen ist, müssen ihr auch die Mittel zur Durchführung dieser Mis-
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Hans Hattenhauser sion zugebilligt werden. Hierzu bedarf die Bureaukratie eines gewissen Maßes an Selbständigkeit, wie es ihre Vorläuferin in der konstitutionellen Monarchie nicht besaß und nicht zu besitzen brauchte. (Arnold Röttgen, Das deutsche Berufsbeamtentum und die parlamentarische Demokratie, Berlin-Leipzig, 1929, S. 266f.)
10 Aus dem Kompromißcharakter der Weimarer Verfassung folgte nun auch unmittelbar die Forderung der Entpolitisierung des Beamtentums. Bei anderer Gelegenheit habe ich die unpolitische Haltung, die danach für den Beamten als angebracht angenommen wurde, damit näher erläutert, daß ich sagte: Der Beamte hat keine eigene Meinung in den politischen Integrationsprozeß des Staates einzubringen; die politische Haltung, die er amtlich zu vertreten hat, ist ihm in Gesetz, Verordnung und Dienstanweisung fest g e g e b e n . . . Der Nationalsozialismus hat die Idee der Volkssouveränität universalistisch umgedeutet. Deswegen mußte er an die Stelle der politischen Auswahl und des Parlamentarismus die politische Repräsentation und die Führerhierarchie eines autoritären Volksstaates s e t z e n . . . Auch hier hat der Beamte dem Recht zu dienen. Aber er ist dabei nicht Knecht des Gesetzes, sondern Organ des Volkes, durch das das Recht seinen Mund auftut und in der Geschichte spricht. Der Beamte hat somit die besondere Aufgabe, das Recht zur persönlich gestaltenden Kraft im sozialen Leben werden zu lassen. Ohne ihn ist das Recht weithin toter Buchstabe, ohne das Recht ist der Beamte zwecklos. Die Rechtswirklichkeit ist das letzte Wirklichwerden des völkischen Rechtsbewußtseins in der persönlichen Wirksamkeit des amtierenden Volksgenossen, des Beamten. Damit nimmt der Beamte an der repräsentativen Funktion des Gesetzes teil. (Hans Gerber, Politische Erziehung des Beamtentums im Nationalsozialistischen Staat, Tübingen 1933, S. 24, 26f.) 11 Ich schwöre: Ich werde dem Führer des Deutschen Reiches und Volkes Adolf Hitler treu und gehorsam sein, die Gesetze beachten und meine Amtspflichten gewissenhaft erfüllen, so wahr mir Gott helfe. (Gesetz über die Vereidigung der Beamten und der Soldaten der Wehrmacht vom 20. August 1934; RGBl. S. 785) 12 § 3 (1) Die Berufung in das Beamtenverhältnis ist ein Vertrauensbeweis der Staatsführung, den der Beamte dadurch zu rechtfertigen hat, daß er sich der erhöhten Pflichten, die ihm seine Stellung auferlegt, stets bewußt ist. Führer und Reich verlangen von ihm echte Vaterlandsliebe, Opferbereitschaft und volle Hingabe der Arbeitskraft, Gehorsam gegenüber den Vorgesetzten und Kameradschaftlichkeit gegenüber den Mitarbeitern. Allen Volksgenossen soll er ein Vorbild treuer Pflichterfüllung sein. Dem Führer, der ihm seinen besonderen Schutz zusichert, hat er Treue bis zum Tode zu halten. (2) Der Beamte hat jederzeit rückhaltlos für den nationalsozialistischen Staat einzutreten und sich in seinem gesamten Verhalten von der Tatsache leiten zu lassen, daß die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei in unlöslicher
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Verbundenheit mit dem Volke die Trägerin des deutschen Staatsgedankens ist... (Deutsches Beamtengesetz vom 26. Januar 1937; RGBl. S. 39) 13 Damit ist für ihn eine völlig veränderte Lage geschaffen. Der als eigen zugeordnete Lebensraum (der Hof, das Haus, der Acker, die Werkstatt usw.) bietet dem Menschen eine Summe von Lebensgütern, über die er verfügt... Je weiter dieser beherrschte Lebensraum ist und je mehr das Dasein des Menschen in einem solchen Lebensraum wurzelt, desto geringer ist seine soziale Bedürftigkeit... Das Einzelleben ist nicht autark. Auch wer über einen vergleichsweise großen beherrschten Lebensraum verfügt, wie beispielsweise der Bauer, ist auf Appropriation angewiesen. Aber es muß einleuchten, daß die Appropriationsbedürftigkeit in dem Maße wächst, in dem sich der beherrschte Lebensraum verengt und sich der effektive Lebensbereich ausdehnt. Diejenigen Veranstaltungen, welche zur Befriedigung des Appropriationsbedürfnisses getroffen werden, bezeichne ich als Daseinsvorsorge... Die Verantwortung für die Befriedigung dieser Appropriationsbedürfnisse nenne ich Daseinsverantwortung... Der Nationalsozialismus hat diese kollektive Daseinssicherung durch die Solidarität sozialer Gruppen, aus der sich eine klare Daseinsverantwortung nicht entwickelte, überwunden, indem er die Daseinsverantwortung der Träger der politischen Gewalt (Staat und Partei) herstellte. Die Entwicklung ist also von der individuellen über die kollektive zur politischen Daseinssicherung und Verantwortung gegangen... Die Funktionen, um welche es sich hier handelt, lassen sich wie folgt systematisieren: 1. Die Gewährleistung eines angemessenen Verhältnisses von Lohn und Preis, wobei das Recht auf Arbeit und einen angemessenen, durch Arbeit verdienten Lohn zugrunde liegt; 2. die Lenkung des Bedarfs der Erzeugung und des Umsatzes; 3. die Darbringung von Leistungen, auf welche der in die modernen massentümlichen Lebensformen verwiesene Mensch lebensnotwendig angewiesen ist. (Ernst Forsthoff, Die Verwaltung als Leistungsträger, Stuttgart-Berlin 1938, S. 5ff.) 14 § 3 (1) Die Verwendung in der Verwaltung des Vereinigten Wirtschaftsgebietes setzt voraus, daß der Verwaltungsangehörige sich zur demokratischen Rechtsauffassung durch sein gesamtes Verhalten bekennt. Im übrigen bleibt die politische Einstellung unberücksichtigt. § 25 (1) Der Beamte hat die volle Arbeitskraft seinem Beruf zu widmen, er hat sein Amt nach den Gesetzen uneigennützig und im Bewußtsein seiner persönlichen Verantwortung nach bestem Gewissen zu verwalten. Sein Verhalten innerhalb und außerhalb des Dienstes muß der Achtung und dem Vertrauen gerecht werden, die sein Beruf erfordern. (2) Der Beamte hat seine Vorgesetzten zu beraten und zu unterstützen, die
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Hans Hattenhauser
von ihnen getroffenen Entscheidungen in ihrem Sinne auszuführen und ihre allgemeinen Richtlinien zu befolgen. (3) Der Beamte ist für die Gesetzmäßigkeit seiner dienstlichen Handlungen verantwortlich. § 26 Ein Beamter darf sich nicht als Kandidat für die Wahl zu einem öffentlichen Amt aufstellen lassen und darf nicht durch politische Tätigkeit eine Partei oder ein politisches Programm öffentlich unterstützen. Der Beamte muß sein Amt niederlegen, bevor er die Aufstellung als Kandidat zur Wahl in einer gesetzgebenden Körperschaft annimmt. (Gesetz N r . 15 der Militärregierung Deutschland - Britisches Kontrollgebiet - Verwaltungsangehörige der Verwaltung des Vereinigten Wirtschaftsgebietes; VOB1. Brit. Zone vom 5. März 1949, S. 57) 15 § 51 (1) Der Beamte dient dem ganzen Volke, nicht einer Partei. Er hat seine Aufgaben unparteiisch und gerecht zu erfüllen und bei seiner Amtsführung auf das Wohl der Allgemeinheit Bedacht zu nehmen. (2) Der Beamte muß sich durch sein gesamtes Verhalten zu der freiheitlichen demokratischen Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes bekennen und für deren Erhaltung eintreten. § 53 Der Beamte hat bei politischer Betätigung diejenige Mäßigung und Zurückhaltung zu wahren, die sich aus seiner Stellung gegenüber der Gesamtheit und aus Rücksicht auf die Pflichten seines Amtes ergeben. § 58 . . . „Ich schwöre, das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland und alle in der Bundesrepublik geltenden Gesetze zu wahren und meine Amtspflichten gewissenhaft zu erfüllen, so wahr mir Gott helfe." (Bundesbeamtengesetz vom 14. Juli 1953; B G B l . S. 551)
I M i t d e m U b e r g a n g z u m V e r f a s s u n g s s t a a t u m die W e n d e z u m 19. J a h r h u n d e r t hatten die d e u t s c h e n B e a m t e n ihre S e l b s t e i n s c h ä t z u n g u n d - b e z e i c h n u n g g e w a n d e l t . A u s den „ F ü r s t e n d i e n e r n " w a r e n „ S t a a t s d i e n e r " g e w o r d e n . D i e theoretische B e g r ü n d u n g d e s n e u e n L e i t b i l d e s w a r d u r c h S e u f f e r (1793), v o n der B e c k e ( 1 7 9 7 ) u n d G ö n n e r ( 1 8 0 8 ) e r f o l g t . In G e s e t z e s f o r m hatte d a s n e u e Ideal seinen s t ä r k s t e n A u s d r u c k d u r c h die „ H a u p t l a n d e s p r a g m a t i k ü b e r die D i e n s t v e r h ä l t n i s s e d e r S t a a t s d i e ner i m K ö n i g r e i c h B a y e r n " ( 1 8 0 8 ) g e f u n d e n . D a s n e u e L e i t b i l d w a r stark g e n u g , die ö f f e n t l i c h e M e i n u n g ü b e r die B e a m t e n f ü r ein J a h r h u n dert z u p r ä g e n . E s w u r d e auch nicht d u r c h d e n K a m p f - u n d G e g e n b e griff „ B u r e a u k r a t i e " v e r d r ä n g t , w e l c h e r i m V o r m ä r z a u f k a m . M i t d e m L e i t b i l d „ S t a a t s d i e n s t " g e w a n n e n die B e a m t e n den A n -
Z u m Beamtenleitbild des 20. J a h r h u n d e r t s
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Schluß an die starke Aufwertung des Staatsbegriffs im 19. Jahrhundert. Was von Hegel als die „Wirklichkeit der sittlichen Idee" beschrieben worden war, konnte Lorenz von Stein noch eindeutiger als „die Gottheit" bezeichnen. Der Staat war zum Selbstzweck, zum obersten Wert und Gegenstand der Vergottung geworden. Indem es gelang, den Staat als den obersten Daseinszweck darzustellen, erhielten die Beamten den Rang von Heilsträgern. Zumal in der vorindustriellen Zeit waren sie die Verwalter des obersten Wertes und damit im eigentlichen Sinne Priester. Diese Rolle wurde durch die Betonung des dienenden Auftrages der Beamten noch unterstrichen. Ihre sittliche Erhöhung erfolgte über die aus der Tradition überlieferten Begriffe von Pflicht und Treue. Der Treue kam bei der Sicherung dieses Leitbildes besondere Bedeutung zu. Sie verschaffte den Staatsdienern Anteil am Glanz des Monarchen. Es finden sich in der Geschichte des 19. Jahrhunderts trotz aller Betonung der Volkssouveränität nur selten Stimmen, die den Thron ersatzlos abschaffen wollten. So stellte sich die Aufgabe, das Leitbild vom Staatsdienst unter den Bedingungen der Monarchie zu formulieren. Dies geschah mit Hilfe des Eides. Ihm wurde besonders gegen Ende des 19. Jahrhunderts vermehrte Bedeutung beigelegt. Der Beamteneid hatte den Zweck, die an sich unpersönliche Idee des Staatsdienstes durch Rückbindung an den Monarchen zur Anschauung zu bringen. Der Monarch war zwar nicht mehr der Staat, doch verkörperte er die unsichtbare Staatsidee. In der Person des Monarchen war die sittliche Idee Fleisch und Blut geworden, ohne sich doch darin zu erschöpfen. Das Priestertum der Staatsdiener fand seine vollendete Beschreibung in der persönlichen Hingabe an den König, d. h. in der Treue. Der Beamteneid war einerseits Ausdruck der seit Gönner fast unstreitigen Überzeugung, daß das Dienstverhältnis der Staatsdiener nicht durch privatrechtlichen Vertrag, sondern durch öffentlich-rechtlichen Bestallungsakt begründet werde. Die Beziehung des Beamten zum Staat wurde nicht als ein auf Leistung und Gegenleistung gegründetes Austauschverhältnis gedeutet, sondern als die Inpflichtnahme der ganzen Person des Staatsdieners für den Staat („Aufopferung"). Der Treueid auf den Monarchen und die Verfassung bestärkte diese Theorie und machte sie für den Beamten wie für den Bürger zu einem sittlichen Problem. Insbesondere der höhere Verwaltungsdienst hat bis zum Ende der Monarchie betont, daß der Staatsdienst über das rein Rechtliche hinausreiche und eine sittlich-religiöse Komponente enthalte, welche von der
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Rechtswissenschaft nicht zu erfassen sei. So sind die Leistungen der Regierungsräte, ihr Pflichtethos, ihre Hingabe an den Thron, Fleiß, Disziplin und Sparsamkeit nicht als das Ergebnis einer rechtlichen Konstruktion oder rein rationaler Erwägungen zu erklären. Andererseits darf nicht übersehen werden, daß in den Kreisen der Subalternen wie auch der Lehrer, welche letztere noch nicht als Staatsdiener galten und nach Teilhabe am Staatsdienst drängten, dieses Leitbild nicht voll bejaht wurde. Die Bürokratiekritik des Vormärz kam auch aus den Kreisen der unteren Beamtenschaft. Es kam hinzu, daß mit der Politisierung des Staatsdienstes und dem Erstarken der Macht der Parlamente die Bindung der Beamten an den Thron in Frage gestellt wurde. Die seit 1848 einsetzende Formulierung des Begriffes der „Politischen Beamten" und das zunehmende Interesse der Parteien an den Fragen des Staatsdienstes und an der politischen Einstellung der Beamten führte bei den Beamten während der Monarchie eher zu einer um so stärkeren Betonung des Staatsdienerleitbildes und seiner überrechtlichen Verankerung im Thron. Der Rückgriff auf lehnrechtliche Vorstellungen, der Appell an das Gewissen, die Gottesfurcht und die Liebe der Beamten zum Thron wurden in der staatstragenden Literatur um so deutlicher, je mehr die Monarchie Anlaß hatte zu zweifeln, ob dieses Leitbild noch von allen Staatsdienern im Herzen getragen wurde 1 . Aus diesem Zweifel ging die Formulierung des preußischen Beamteneides durch Wilhelm I. im Jahre 1867 hervor 2 . Obwohl Preußen inzwischen eine Verfassung hatte, richtete sich der Eid an den König und bewahrte damit vorkonstitutionelle Ideen. Während die lehnrechtlich gedeutete Formulierung der Beamtenpflichten gegenüber dem Thron sorgfältig und ausführlich war, wurde von der Verfassung erst in zweiter Linie geredet. In Bezug auf diese wurde kein „Gehorsam" sondern nur „Beobachtung" gefordert, wobei das Wort „Pflicht" insoweit keine Verwendung fand. Der Staatsdienst war im Verhältnis zur Volksvertretung noch immer zuerst Fürstendienst. Der Beamte stand dem Thron näher als der gemeine Bürger und mußte allein hinter dem Offizier als dem erfolgreicheren Konkurrenten um die Gunst des Monarchen zurücktreten. Staatsdienst war mehr als eine besondere Art des 1
2
H. Rcjcwski, Die Pflicht zur politischen Treue im preußischen Beamtenrecht (1850-1918), 1973. Text Nr. 1.
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Bürgerseins. Die Beamten hatten durch ihren Dienst für Monarchie und Staat die sozial wie sittlich höchste Stellung im Volke inne. Diese Stellung wurde um so fragwürdiger, je stärker sich die bürgerliche Gesellschaft aus dem Staat löste und diesen als ihren natürlichen Gegner zu betrachten lernte. Nun sahen sich die Beamten der öffentlichen und parlamentarischen Kritik ausgesetzt. Sie mußten zudem erleben, daß ihre soziale Rolle um so deutlicher verfiel, je stärker das Bürgertum seine politischen Ideale verwirklichen konnte. Seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts überholten die Industriegehälter jene der Regierungsräte immer deutlicher; auch die Besoldungen in den vom Bürgertum getragenen Kommunalverwaltungen überstiegen nun diejenigen des höheren Verwaltungsdienstes bei weitem. Der leistungsstärkste und ehrgeizige Nachwuchs wandte sich zunehmend vom Staatsdienst ab, so daß auch die Söhne traditionsreicher Beamtenfamilien die Verwaltungslaufbahn verschmähten. Die Ausbreitung der Lehre von der Volkssouveränität, die nach der politischen Sättigung des Bürgertums bei den Sozialisten neuen Auftrieb erhielt, konnte dagegen dem traditionellen Staatsdienerleitbild wenig schaden. Zwar fanden sich Anhänger progressiver politischer Ideale in der unteren Beamtenschaft, doch wollte die Verschmelzung dieser Ideale mit dem Beamtentum nicht gelingen. Während der Staat immer sorgfältiger auf eine konservativ bis (höchstens) liberale Gesinnung des einzustellenden Nachwuchses achtete, gipfelte in der sozialistischen Theorie das Mißtrauen gegen das Beamtentum in der Forderung nach dessen gänzlicher Abschaffung. Immerhin waren die beschwörenden Sätze Friedrich Everlings 3 über den Beamteneid schon Verteidigungsrede. Demgegenüber war O t t o Mayers 4 Beschreibung des Inhalts öffentlicher Dienstpflichten die allgemeine Uberzeugung weiter Kreise der Beamtenschaft und des Volkes. II. Trotz aller vorangegangenen Bürokratiekritik kam es zur Erschütterung des Staatsdienerleitbildes erst mit dem Zusammenbruch der M o narchie in der Revolution. Deren Folgen für das Selbstverständnis der Beamtenschaft sind im einzelnen zwar noch nicht erforscht, doch kann 3 4
T e x t N r . 2. T e x t N r . 3.
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man den seelischen Einbruch, den die Gründung der Republik für das deutsche Volk insgesamt und besonders die Beamtenschaft zur Folge hatte, nicht ernst genug nehmen. Die Monarchie war bis zu ihrem Ende eine vom ganzen Volk praktisch unbezweifelte Staatsform gewesen. Auch die Mehrheit der Sozialisten war königstreu. Die Abdankung der Monarchen war für die überwältigende Mehrheit des Volkes ein Ereignis, das schlechthin unmöglich erschien. Die Verabschiedung der M o narchie erfolgte gegen den Willen des Volkes, mithin in einem offensichtlich undemokratischen, von der Volkszustimmung nicht getragenen Verfahren. Hierin lag der entscheidende Geburtsfehler der Republik. Sie war eigentlich von niemandem gewollt. Während sie von den radikalen Sozialisten nur als ein Ubergang zur Räteherrschaft bejaht wurde ( „ R e p u b l i k - d a s ist nicht viel/Sozialismus ist das Ziel!"), konnte sich die übrige Bevölkerung nur schwer damit abfinden, daß die alten Herrscherhäuser im militärischen Zusammenbruch untergegangen waren. N o c h im Jahre 1925 stellte Friedrich Meinecke, der der neuen Staatsform den Weg bahnen wollte, fest 5 : „ V o r dem 9. N o v e m b e r würde auch eine Volksabstimmung noch eine beträchtliche Mehrheit für die Monarchie ergeben haben. Heute würde sie, wie ich vermute, eine vielleicht nicht große, aber schon ganz fest in sich geschlossene Mehrheit für die Republik e r g e b e n . . . "
Die Durchführung einer solchen Abstimmung vorzuschlagen, wagte der Republikaner nicht. Statt dessen hatte er 1919 bekannt 6 , es atme sich in der Republik zu leicht, zu dünn. Man friere in einem politischen D a sein, das ganz von Vergangenheitswerten gereinigt sei. Daß man die Republik nicht lieben und auch nicht mit dem Gefühl bejahen könne wie die Monarchie, blieb Uberzeugung der Bevölkerungsmehrheit. Die Beamten erschütterte das Ende der Monarchie um so schwerer, als ihre geistige und sittliche Bindung an den Thron stärker gewesen war als die des Bürgers. Die Abdankung der Monarchen war eine Katastrophe. Sie hinterließ bei den Beamten ein heute kaum vorstellbares Vakuum. D e r offenbar notwendige Verlust der Sonderstellung der Beamten ging Hand in Hand mit der völligen Orientierungslosigkeit im Selbstverständnis. Ein überzeugendes Leitbild fehlte der Republik. Es konnte 5 6
Fr. Meinecke, Republik, Bürgertum und Jugend 1925, S. 15. Fr. Meinecke, Verfassung und Verwaltung der deutschen Republik, in: Die neue Rundschau, 1919, S. 2.
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nicht in wenigen Wochen aus dem Boden gestampft und bei den Beamten verankert werden, zumal eine allzu schnelle Preisgabe gestriger Ideale gerade den Charakterfesten als der Ausdruck des politischen Opportunismus erscheinen mußte. Der erste Baustein zu einem neuen Selbstverständnis kam aus der Praxis. Mit seinem Aufruf vom 9. November 7 sowie mit beschwörenden Flugblättern wandte sich Friedrich Ebert an die Beamten und forderte sie zur Weiterarbeit um des Volkes willen auf. Wenn der Staat nicht im völligen Chaos versinken solle, müsse die neue Regierung sich auf die Arbeit der Beamten verlassen dürfen. Ebert ließ keinen Zweifel daran, daß die Regierung mehr denn je zuvor von dem Funktionieren des Staatsdienstes abhängig sei. Sein Aufruf war keine freundliche Bitte, sondern ein Notschrei. Er wurde auch so verstanden und befolgt. Die Beamten blieben auf ihren Posten und ermöglichten dem parlamentarischen Gedanken das Uberleben. Nach dem Zustandekommen der Verfassung haben sich die Beamten selbst sowie von den Ministern der Republik immer wieder bescheinigt bzw. bescheinigen lassen, welches hohe Verdienst sie sich damit um die Rettung des Staates erworben hätten. Die Republik dankte ihre Existenz vor allem der Pflichttreue der Beamten der Monarchie. Zu ihrem eigenen Erstaunen erkannten die Beamten hier ihre Unersetzlichkeit für den Staat zu einer Zeit, in der nach ihrem eigenen Selbstverständnis der Weltuntergang erfolgt zu sein schien. Sie gingen gestärkt aus den Tagen der Revolution hervor und setzten dieses Selbstbewußtsein in einen Katalog politischer Forderungen an die Reichsregierung um. Das Aufblühen der Standespolitik war die wichtigste Frucht dieser Erfahrung. Sie war jedoch keine befriedigende Antwort auf die Frage nach dem in der Republik erforderlichen neuen Leitbild. Mit Besorgnis mußte festgestellt werden 8 , daß das Bewußtsein der eigenen Macht den Beamten zwar wirtschaftliche Vorteile versprach, daß diese aber durch den Verlust des alten „idealen Schwunges" erkauft zu werden schienen. Der Marsch in die Standespolitik, die sich in der Gründung des Deutschen Beamtenbundes am 4. Dezember 1918 andeutete, war keine Antwort auf die Leitbildfrage. Die darin offensichtlich enthaltene Zurückstellung der Begriffe von Dienst, Pflicht und 7
8
Deutscher Reichs- u. Preuß. Staatsanzeiger Nr. 268 v. 12. 11. 1918 = Ursachen und Folgen III, S. 4 Nr. 526. Text Nr. 6.
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Treue konnte nicht das Selbstgefühl der Beamtenschaft befriedigen. Tatsächlich hat der DBB in der Leitbilddebatte der Republik keine bedeutende Rolle gespielt. Die rechtliche Umsetzung der Beamtenforderungen an die Reichsregierung erfolgte in der Weimarer Reichsverfassung. Sie brachte in den Artikeln 128 - 131 zwar ein kleines Beamtengesetz. Eine bündige Antwort auf die Frage nach dem neuen Leitbild vermochte die Nationalversammlung jedoch nicht zu finden. Allerdings sagte Artikel 130 Abs. 1: „Die Beamten sind Diener der Gesamtheit, nicht einer Partei." Doch wirkte dieser Satz nicht so hilfreich, wie er gemeint war. Positiv stellte er fest, daß die Beamten nunmehr Diener des Volkes und nicht mehr des Thrones oder des Staates sein sollten. Nachdem am Abschluß des vom Bürgertum eingeleiteten Emanzipationsprozesses nun die Gesellschaft den Staat in ihre Regie gebracht hatte, sollten aus den Staatsdienern Volksdiener werden. Tatsächlich ist diese Formel bei Festreden, insbesondere in Kreisen des Beamtenbundes und der Regierung, oft verwendet worden. Die Beamten als Volksdiener zu bezeichnen, bot den unterschiedlichen politischen Strömungen genug Möglichkeiten, ihre eigenen Inhalte einzufüllen. Das Wort war als Generalnenner kompromißfähig, weil es auslegungsfähig war. So hat es auch der Nationalsozialismus nicht ganz fallen lassen und zumal zu Beginn seiner Herrschaft gerne gebraucht. Andererseits hing ihm der Nachteil an, daß es die politische Wirklichkeit nicht voll erfaßte und deshalb bei den Beamten die sittliche Neubegründung nicht leisten konnte. Die Wirklichkeit war die Republik, die aus einer Revolution hervorgegangen war und ihre eigene Existenz nicht rechtfertigen konnte. Hier lag das erste Problem bei der Entwicklung eines dem republikanischen Beamtentum gemäßen Leitbildes. Der Geburtsfehler mangelnder demokratischer Legitimation hing dem Staat lange an. Er förderte die Pflege monarchistischer Tradition in Volk und Beamtenschaft. Vor allem den Juristen unter den Beamten bereitete es Schwierigkeiten 9 , den Rechtsbruch der Revolution zu übersehen. Friedrich Meinecke konnte bei seiner Rede von 1925 nur darauf vertrauen, daß die Zeit manches heilen werde. Er gab zu, daß letztlich eine neue Generation heranwachsen müsse, um das Ärgernis der Revolution zu überwinden. Dazu bot die Republik den Beamten keine Zeit. Es mußte das normative Denken 9
Text Nr. 4.
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vieler Beamter überfordern, wenn ihnen das bloße Faktum der Revolution als eine nicht vom Recht her befragbare Tatsache vorgestellt wurde. Die Republik entwickelte zudem wenig Geschick bei der Sympathiewerbung. Der Gründung einer Vereinigung von der Art des „Republikanischen Richterbundes" (1922) hing etwas Krampfhaftes an. Der Verband sollte die als hoffnungslose Monarchisten verschrieene Mehrheit der Richter herausfordern. Er verstand sich als Gegenverband zu den herkömmlichen Richterbünden und sammelte vor allem Sozialisten um seine Fahne. Der Begriff der Republik wurde für die Ideale des Sozialismus beansprucht; Republikaner konnte nach der Uberzeugung der Führer des Republikanischen Richterbundes (Radbruch, Sinzheimer, Fränkel, Kroner) eigentlich nur sein, wer sich zu den Zielen des Sozialismus bekannte. Es kam hinzu, daß die Anhänger solcher Vereinigungen, vor allem in Preußen, besonders auffällige Karrieren machten. Die öffentliche Diskussion um den beruflichen Aufstieg des Landgerichtsrats Kroner bekräftigte auch bei gutwilligen Beamten den Vorwurf des politischen Opportunismus der republikanischen Bekenner. Zudem mußte der von jener Seite gegen das herkömmliche Beamtentum in der Presse und den Parlamenten laut erhobene Vorwurf der Republikfeindlichkeit („Vertrauenskrise der Justiz") bei den Angegriffenen um so eher Trotz und Erbitterung wecken, als diese sich in ihrem Rechtsglauben und ihren Gewissensnöten ebenso wenig ernst genommen fanden wie in ihrer Trauer um die verlorengegangene personal-sittliche Bindung an einen den Staat repräsentierenden Monarchen. Die andere Schwierigkeit bei der Entwicklung eines republikanischen Leitbildes lag in der Tatsache, daß die Republik ein Parteienstaat war. Tatsächlich lag der Schwerpunkt des Artikels 130 I WRV in der verneinenden Feststellung, daß die Beamten nicht Diener einer Partei sein sollten. Mit seiner Parlamentarisierung ( A D 1917) war in den Staat eine bisher nicht gekannte Mobilität gekommen. Die auf Statik und Kontinuität gerichtete Mentalität der Beamten hatte bisher im Monarchen einen festen Bezugspunkt gefunden. Die „Quasselbude" des Reichstags hatte man so lange nicht ernst nehmen müssen, als man den Monarchen als oberste Instanz vorgegeben fand und selbst die Minister stellte. N u n drohte das wechselnde Spiel der Mehrheitsbildungen auch die Arbeit der Beamten kurzatmig zu machen. Sie sahen als ihre verfassungsrechtliche Autorität eine Vielzahl von Parlamentariern über sich, deren Entscheidungsbefugnis im Spiel der Regierungsbildungen ständig in Frage
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gestellt war, und deren Sachkenntnis von den Beamten ohne Mühe belächelt werden konnte. Friedrich Meinecke mußte die neuen Herren in Schutz nehmen mit dem offenen Eingeständnis, daß man eben das Regieren nicht so schnell lernen könne, und daß der Spott, den man sich in den Kreisen der Beamten über die Parteipolitiker leiste, derzeit leider noch berechtigt sei. Die Parteien konnten von Struktur und Sachkunde her den Beamten nicht diejenige Autorität bieten, nach der diese seit der Revolution Ausschau hielten. Sie konnten weder sittliche Leitbilder vorleben, noch sachliche Überlegenheit beweisen, noch die Idee des Staates verkörpern. In dem Problem der Verkörperung der Staatsidee gipfelte, nach der Uberwindung des Revolutionsschocks, die Leitbildfrage. Es war umstritten, ob an die Stelle des Monarchen eine neue, personale Instanz oder doch sittlich verpflichtende Idee treten konnte und sollte. Das Problem w o g für die Beamten besonders schwer. Gewohnt, im Monarchen einen Bezugspunkt für ihre Liebe zum Volk und ihren Diensteifer zu sehen, konnten sie mit den Parteien insoweit nichts anfangen. So begann die Suche nach einer Instanz, die den leerstehenden Thron besetzen und neue personale Verbindlichkeit erzeugen konnte. Nur wenigen stand so viel Illusionslosigkeit zu Gebote, daß sie diese Suche von Anfang an für aussichtslos erklärten. Richard Thoma 1 0 erklärte bündig, es könne in der Republik keine Verkörperung der Staatsidee geben. Jede Art von Parteienstaat bedeute einen bewußten Verzicht auf einen Träger der Staatsidee. Der Staat werde den gesellschaftlichen Gruppen überlassen. Die Wahrung der Staatsinteressen werde erhofft teils vom Zwang der Verhältnisse und der nationalen Solidarität der Gruppen, teils von Anstand, Pflichtbewußtsein und Ehrgeiz der Parteimänner. Den gleichen Weg war mit aller Klarsicht Conrad Bornhak 11 für die monarchisch Gesinnten im Jahre 1920 gegangen. Äußerer Anlaß seines Aufsatzes war die Unruhe, die besonders unter höheren Beamten aufgekommen war wegen der Forderung des Eides auf die Republik (Art. 176 W R V ) . Obwohl der Kaiser in seiner Abdankungserklärung seine Soldaten und Beamten ausdrücklich von ihrem Eid entbunden und zu treuem Dienst für das Vaterland aufgerufen hatte, gingen die Bedenken bei einigen Beamten so weit, daß sie es vorzogen, sich aus dem Dienst entlassen zu lassen, 10 11
Handwörterbuch d. Staatswiss., A r t . Staat, 7, S. 743. Text Nr. 5.
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als den Eid auf die Republik zu leisten. Bornhak zerstreute die aufgekommenen Bedenken mit dem Hinweis, der neue Staat könne über den bloßen Gesetzesgehorsam hinaus keine sittlichen Pflichten auslösen und die Gewissen der Beamten nicht in Pflicht nehmen. Er erklärte als erster nüchtern, daß die bisherige außerrechtlich-gefühlsmäßige Bindung der Beamten ersatzlos entfallen sei. Das Beamtenverhältnis drohte auch aus konservativer wie sozialistischer Sicht wieder auf die Ebene eines privatrechtlichen Dienstverhältnisses zurückzusinken. Die Beamten schienen Arbeitnehmer wie alle anderen zu werden. Die Forderung, der vom Kaiser geräumte Thron müsse in der Republik leer bleiben, bedeutete für die Beamten eine wesentliche Statusminderung. War der Staat künftig nur ein Werkzeug in der Hand der Parteien, so mußten die Beamten an dieser Rolle Anteil haben. Sie sahen sich damit auf eine Bedienstetenrolle beschränkt, die um so peinlicher war, als die neuen Herren den an sie von den Dienern gestellten Erwartungen offensichtlich nicht entsprachen. Das Bewußtsein der fachlichen Überlegenheit und die Einblicke in die Niederungen der Parteipolitik, die Erfahrung der eben bewiesenen Unentbehrlichkeit und die Erkenntnis, daß bei zunehmender Lähmung der Parlamente die Verantwortung öffentlich auf die Verwaltung überging, ließen ein republikanisches Volksdienerethos nicht aufkommen. Die Uberzeugung, daß für den Staatsdienst mit dem Abgang der Monarchie ein dauerndes Vakuum entstanden war, konnte in den kurzen Jahren der Republik nicht überwunden werden. So blieb die Suche nach einem neuen, das Selbstbewußtsein der Beamten befriedigenden Leitbild auf der Tagesordnung. Die Antwort schien in der Halbzeit der Republik mit den Schlagworten „Neutralität" und „Sachlichkeit" gefunden worden zu sein. Die Staatsrechtslehre fand den Ansatz zu neuen Wegen in dem Gegensatz von Parteien und Staat. Man sah in den Parteien, die bei ihrer Selbstdarstellung wenig erfolgreich waren, ein notwendiges Übel. Der Formel von dem „in Parteien zerrissenen Parlament" begegnet man häufig in der Literatur der Republik. Waren aber die Parteien die — leider notwendigen — Kräfte des Streites, der Spaltung und der hektischen Beweglichkeit, so konnte der Staat nur überleben, wenn auf der anderen Seite eine Instanz stand, die für Dauer und Bestand sorgte und den Staat als ganzen in überparteilicher Sachlichkeit zum Gegenstand ihrer Anstrengungen machte: die Beamten. In der Betonung dieses Gegensatzes von Parteiwesen und Bürokratie bot sich den Beamten zweierlei: Einer-
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seits konnten sie eine neue sittliche Forderung unter einem überzeugenden Feindbild formulieren; andererseits konnten sie mit diesem Leitbild selbst die Verkörperung der Staatsidee unternehmen und einen Teil der unbesetzten Macht des Monarchen für sich sichern. Hans Kelsen 12 begründete die Notwendigkeit des Gegensatzes von Parteipolitik und Bürokratie mit Hilfe einer Art Zweireichelehre. Zwischen Gesetz gebung und Gesetzes Vollziehung sei streng zu scheiden. Sei die eine notwendig politisch und auf den Widerstreit der gesellschaftlichen Kräfte gegründet, so müsse die andere ebenso deutlich unpolitisch sein. Die Einflußnahme der Parteipolitik auf die Verwaltung müsse daher verhindert werden. Die Folge einer solchen Anschauung war für die Beamten, daß sie sich auf eine Tugend gründen konnten, deren einziger Träger im Staate sie selbst waren. Letztlich kam es auf die Beamten an, wenn der Staat am Pluralismus der Parteien nicht zugrunde gehen sollte. Weniger wichtig war für die Beamten dagegen der in Kelsens Kräftespiel festgelegte Dienst der Beamten als ausführende Organe des Parteiwillens. Die Beschränkung der Bürokratie auf eine reine Dienst- und Vollzugsinstanz der Gesellschaft schien unter der Forderung nach Entpolitisierung der Verwaltung erträglich geworden zu sein, weil zwischen Parteien und Beamtenschaft eine Art von funktionalem Gleichgewicht hergestellt war, das beiden Gewalten unter dem Dach der Verfassung eine autonome Aufgabe und Stellung verlieh. N u n hatte zwar Richard Thoma 1 3 darauf hingewiesen, daß die Rede von der Sachlichkeit und politischen Neutralität der Beamten bereits in der Monarchie eine „Legende" gewesen sei. Dennoch sollte dem neuen Leitbild vom Fachbeamtentum als Antwort auf den Pluralismus die Zukunft in der Republik gehören. Es wurde deutlich ausgeführt von Arnold Köttgen 1 4 , der 1929 die Diskussion zu einem Abschluß brachte. Er erhöhte die Verwaltung zum „Organ" des Staates und verlieh ihr damit eine Rolle, die sie in der Monarchie nicht gehabt hatte. War sie bisher das gehorsame und treue Instrument in der Hand des auf Ausgleich und parteipolitische Neutralität bedachten Staatsorgans „Monarch" gewesen, so sollte sie nun als Organ jenes Stück königlicher Befugnisse, die sie bisher in dienender Rolle vollzogen hatte, mangels eines anderen Funktionsnachfolgers selbst herrschend wahrnehmen. Die Beamten 12 13 14
Text N r . 8. a . a . O . , S. 741. Text N r . 9.
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schienen im Licht dieser Theorie durch den Abgang der Monarchie an politischem Gewicht gewonnen zu haben. Ihre in den Tagen der Revolution sichtbar gewordene Unersetzlichkeit war damit auch staatsrechtstheoretisch begründet worden. Röttgens Buch erschien, als unter fortschreitender Selbstzerfleischung der Parteien und Parlamente der Bedarf nach stabilisierender Verwaltung zunehmend offenbar wurde. Die ohnmächtig werdenden Parteien beriefen selbst sogenannte „Beamtenkabinette" ins Amt und schienen damit das Leitbild der Sachlichkeit voll zu bestätigen. Während Staatssekretäre als Fachleute Ministerposten übernahmen und zeigten, auf welcher der beiden konkurrierenden Gewalten der Staat in Wahrheit ruhte, war an dem Sieg des neuen Leitbildes nicht mehr zu zweifeln. Allerdings meldete Carl Schmitt 15 Bedenken an, ob das Ideal der Sachlichkeit angesichts der von den Parteien gesteuerten Personalpolitik und der daraus erwachsenden Politisierung der Beamtenschaft noch der Wirklichkeit entspreche. Doch wäre er froh gewesen, wenn die Beamten alle Wünsche erfüllt hätten, die man an den gewünschten „Hüter der Verfassung" stellen mußte. III. Ein Wandel der Anschauungen trat erst ein, als Hitler durch die Berufung zum Reichskanzler und das Ermächtigungsgesetz den im Zeichen der Präsidialkabinette eingeleiteten Todeskampf der Republik zu seinem Ende führte. Der Versuch der Ministerialbürokratie, Hitler mit Akten einzudecken und dadurch zu zähmen, gründete sich offenbar auf das vom Sachlichkeitsideal getragene Selbstbewußtsein der Fachleute. Es scheiterte kläglich an Hitlers längst bekanntem Mißtrauen gegen die Beamten, das sich später zu offenem Hohn auswachsen sollte. Hitler ließ, wie Speer 16 berichtet, die Herren mit ihren Akten wieder abziehen und verbat sich solchen Verwaltungsstil. Verwaltungsfachleute und sogar Minister hatten mit der zunehmenden Sicherung seiner Herrschaft immer weniger Zutritt beim „Führer" und mußten für den Vortrag ihrer Wünsche demütig um die Vermittlung der Partei-Ranzlei bitten. Verachtung und Mißtrauen, die den Beamten von der neuen Herr15 16
Der Hüter der Verfassung, 1931, S. 102. Erinnerungen, 1961, Ullstein-TB, S. 48.
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schaft in Politik und Presse entgegenschlugen, zwangen ebenso zu neuer Leitbildsuche wie die unübersehbare Tatsache, daß mit dem Untergang der Republik auch deren Formeln nicht mehr galten. Dabei entwickelte sich eine neue Lage in der Führung der Leitbilddebatte. Einerseits verordnete die Partei den Beamten neue Maßstäbe. An einschlägigen Veröffentlichungen ihrer Beamtenvertreter fehlte es nicht. Andererseits suchten die Beamten selbst nach einer neuen Formel, um ihr bedrohtes Selbstbewußtsein zu stärken und ihre Sonderstellung zu sichern. Sie sahen sich dabei in die Schwierigkeit versetzt, daß die Beamtenschaft nach nationalsozialistischer Lehre kein Stand war. Die Beamten durften sich nicht der „Deutschen Arbeitsfront" anschließen und keine eigene Meinung entwickeln und verkünden. Sie sollten als bedingungslose Werkzeuge in der Hand des Führers den Staat tragen. Der Totalitätsanspruch der Partei schloß im Grundsatz jede Äußerung der Beamten in eigener Sache und aus eigenem Antrieb aus. Dennoch fehlt es nicht an Zeugnissen einer neuen Leitbildsuche aus der Beamtenschaft. Wenig Aussicht auf politische Anerkennung hatte Hans Gerbers 17 Versuch, die neue Lage zu deuten. Sein Vortrag war der Ausdruck eines Intellektuellen, der im raschen Wandel der Verhältnisse den Anschluß an die politische Macht nicht verpassen wollte. Gerber mußte seinen Studenten erklären, warum das gestern noch so überzeugt vertretene Ideal der Sachlichkeit und Neutralität heute überholt sein sollte. Dabei erkannte er als den entscheidenden Punkt den Wegfall des Pluralismus im Reiche Hitlers. Was der Neuhegelianer als neue Formel anzubieten hatte, war jedoch für die neuen politischen Herren auf die Dauer unerträglich. Im Jahre 1933, als die politische Macht der N S D A P noch nicht gesichert war und Hitler auch bei den Beamten leise auftreten mußte, mochte es noch angehen, wenn Gerber der Verwaltung eine neue Organstellung zuwies. Indem er das Gesetz dem Recht entgegenstellte und die Beamten als dem Recht verpflichtet erklärte, machte er sie zum Organ des Volkswillens und befreite sie zugleich von der noch bei Kelsen deutlich erkennbaren strikten Bindung an den Auftrag des Gesetzvollzuges. Die Beamten schienen durch Hitlers Machtergreifung an politischer Macht gewonnen zu haben. Doch war dies nur ein Scheingewinn. Er konnte theoretisch nur so lange behauptet werden, wie das Verhält17
Text Nr. 10.
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nis des Volkswillens zum Führerwillen politisch noch nicht entschieden war und dem Volkswillen im Verhältnis zum Willen des neuen Führers eine selbständige oder sogar überlegene Rolle zuerkannt werden durfte. Daß davon nicht lange die Rede sein konnte, zeigte sich bereits ein Jahr später, als in Nachahmung von Artikel 176 W R V die Vereidigung aller Beamter auf die neue politische Führung angeordnet wurde 1 8 . Die Beamtenpflichten wurden nun wieder personal begründet. Adressat des Eides und neue Autorität der Beamten war allein Hitler. Die absolute Durchführung des Führerprinzips ließ keinen Raum für eine erträumte Organstellung und verfassungsrechtlich autonome Funktion des Beamtentums. Sie bot wieder die aus der Monarchie bekannte Möglichkeit einer personal und ethisch gefaßten Verpflichtung der Beamten. Zwar erfuhren die Begriffe von Pflicht und Treue eine starke Aufwertung, doch wurde beiden die Forderung des absoluten Gehorsams in der Erfüllung des Führerwillens übergeordnet. Hitler knüpfte formal an die Tradition der Monarchie an und verkörperte selbst die Staatsidee. Er hat wiederholt betont, daß er den Politikern der Republik ihre Pensionen gerne bezahle, weil diese ihm durch die Zerstörung der Monarchie erst den Zugang zur Macht eröffnet hätten. So war die Anlehnung der Eidesformel von 1934 an die Struktur jener von 1867 durchaus konsequent. In diesem Sinne übernahm Hitler die Rolle des Kaisers. Dennoch scheint er mit diesem Eide nicht die traditionelle Gefühlsbindung im alten U m fang zu neuem Leben erweckt zu haben. Die „eisige Zurückhaltung", die die Nationalsozialisten 19 an der Ministerialbürokratie der Republik zu beklagen hatten und das späte Eindringen ihrer Ideen bei den Beamten, hatten die Staatsdiener bei den Führern der Partei nicht beliebter gemacht. Auch die etwa 300000 „Märzgefallenen", unter deren Ansturm die Partei vorübergehend ihre Mitgliederaufnahme abbrach, scheinen eher aus Opportunismus als aus sittlicher Neubindung den Weg in die Partei gefunden zu haben. Eine durchgreifende Neuethisierung scheint nicht gelungen zu sein. Hitler setzte aller Begeisterung, die aus den Organen der Beamten und in der Beamtenschaft geäußert wurde, Mißtrauen entgegen und dämpfte dadurch selbst am meisten den sittlichen Neuaufbruch. Selbst die Beamtenorganisationen der Partei, der „Reichsbund 18 19
Text Nr. 11. H. Fabricius, Der Beamte einst und im Neuen Reich, 1933, S. 75.
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der Deutschen Beamten" unter der Führung von H . Neef wurde nicht ernst genommen. So war es auch eher ein Stück Nachweis der eigenen Existenzberechtigung als bevollmächtigter Ausdruck des Führerwillens, was Neef 2 0 über die nun zu fordernde Grundeinstellung der Beamten und über ihre Erziehung zu gläubigen Anhängern des neuen Geistes zu sagen hatte. Auch die vom Reichsinnenminister eingeleiteten Umerziehungsmaßnahmen, die Einführung des Hitlergrußes in den Amtsstuben, die Verpflichtung der Beamten zum Lesen des „Völkischen Beobachters" und zur Bereitstellung ihrer Kinder für die Hitler-Jugend etc. haben nicht jene Gefühlsbindung nachhaltig beleben können, die von der Eidesformel her nahegelegt war. Ähnlich vorsichtig ist das in § 3 D B G von 1937 21 formulierte Leitbild zu beurteilen. Der Entwurf des Gesetzes entstammte ohnehin im wesentlichen noch der Republik. Federführend bei seiner Verkündung war der Reichsinnenminister, der an einer Stärkung der Verwaltung gegenüber der Partei interessiert war. Was aus dem von der Partei und den anderen Ressorts stark gestutzten Entwurf des Innenministers herauskam, war in der Leitbildfrage unergiebig. Hitler interessierte dieses Problem ebenso wenig wie seine Parteileute. Wesentlich an den Beamten war ihm die Erzwingung ihres bedingungslosen Gehorsams. O b dieser vorlag, war von den Beamten zu beweisen. Alle übrigen Tugenden, die der Katalog des § 3 I D B G aufführte, waren schöner Schmuck, der für die Konstruktion eines neuen Beamtenleitbildes weder etwas ausrichten konnte noch sollte. Wichtiger war der 2. Absatz des § 3 D B G . Den Beamten wurde in ihrer Gesamtheit eine politische Gesinnung zur Pflicht gemacht, aus der sich in der Folge ihre Pflicht zum Parteibeitritt ableitete. D a ß diese Forderung bei den Beamten nicht auf Begeisterung stieß, wußte Hitler selbst. Auf der Reichsstatthalterkonferenz führte er 1934 aus 22 , ein Teil der Beamten sei nun zum passiven Widerstand übergegangen ; erst in 10-15 Jahren werde man über eine parteigenehme Beamtenschaft verfügen. U b e r der von Hitler verordneten, von den Beamten beschworenen und von den Parteidienststellen ständig mißtrauisch überprüften Pflicht der Beamten zum bedingungslosen Vollzug des Führerwillens schien " Die neue geistige Grundhaltung der Beamten, 1936. 21 Text Nr. 12. 22 H. Mommsen, Beamtentum im Dritten Reich, 1966, S. 146.
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die Suche nach einem Leitbild bei den Beamten abgestorben zu sein. Die öffentlichen Demütigungen der Bürokraten durch die Partei scheinen bereits bis zum Beginn des Krieges ihre demoralisierende Wirkung voll entfaltet zu haben. So mußte die höhere Beamtenschaft in einer Denkschrift 2 3 bereits 1937 die Krise des Beamtentums beklagen. O b wohl das Deutsche Beamtengesetz nur wenige Monate alt war, hieß es, die Beamten stünden zu oft allein und sähen sich seit Jahren einer „politischen Sonderbehandlung" ausgesetzt. Es werde öffentlich die Bürokratie lächerlich gemacht und als volksfern und treulos verschrien, ohne daß sich jemand fände, der diese Herabsetzungen der staatstragenden Schicht amtlich zurückweise. Mochten die Beamten sich 1938 noch Illusionen über eine öffentliche Aufwertung ihres Standes und damit die Formulierung eines für sie günstigen Leitbildes durch die Partei machen, so waren diese Hoffnungen doch bis zum Kriegsbeginn dahin. Die Hinweise des Innenministeriums auf die seelische N o t der geschmähten Beamten und die Bitte um ein beamtenfreundliches Führerwort fanden bei Hitler kein Gehör. In den Tischgesprächen der Wolfsschanze 2 4 lehnte er es ab, auf derartige Wünsche einzugehen. So schien das Problem, soweit es überhaupt noch lösbar war, nur durch das Beamtenministerium, den Reichsinnenminister, angegangen werden zu können. Dort versuchte man 1936 ohne Erfolg beim Führer, über eine Ausbildungsreform ein beamten- wie parteigenehmes Leitbild zu entwickeln. Statt dessen schwärmte Hitler in seinen Tischgesprächen 25 von dem Beamtentyp der Zukunft, der als ein Vizekönig große Landstriche verwalte und dem dabei naturgemäß die Pistole locker sitzen müsse. Verzweifelt formulierte das Reichsinnenministerium ein Leitbild des „Verwaltungsoffiziers", doch fand dieser Entwurf bei den Beamten Widerspruch. Fischbach 2 6 wies 1941 darauf hin, daß zwischen der Tätigkeit und dem Denken von Beamten und Offizieren große Unterschiede bestünden. Was im übrigen aus dem Ministerium kam, ging über markige Formulierungen nicht hinaus. In einer Denkschrift 2 7 wurde 1940 eine einfache, schlagkräftige und saubere 23 24
25 26 27
H. Mommsen, a.a.O., S. 146. H. Picker (Herausg.), Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier 1941-1942, 1963, S. 136f. a.a.O., S. 137. Reichsverwaltungsblatt 1941, 461. H. Mommsen, a.a.O., S. 149.
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Verwaltungsführung angekündigt. Man müsse hohe Anforderungen an den Nachwuchs stellen. Der kommende Beamte werde nicht nur ein charakterfester und zuverlässiger Nationalsozialist sein müssen. Er müsse zudem geschichtlich, philosophisch und biologisch gebildet sein, über gründliche Kenntnisse der Wirtschaft und der Technik verfügen und sich durch politisches Fingerspitzengefühl, praktische Erfahrung und soziales Verständnis auszeichnen. Angesichts der Tatsache, daß dem öffentlichen Dienst der Nachwuchs davonlief und man in der Presse 28 dazu überging, die rassisch-biologischen Eigenheiten des Bürokraten zu definieren (spitze Nase, kein Hinterkopf), hatten solche Worte keine Uberzeugungskraft. Der zukunftsträchtige Entwurf eines neuen Selbstverständnisses der Beamten kam nicht aus der Praxis oder den Ministerien, sondern von der Wissenschaft. Im Jahre 1938 hielt Ernst Forsthoff seinen Vortrag über „Die Verwaltung als Leistungsträger" 2 9 und lieferte damit die Formel der Zukunft. Forsthoff hatte 1938 seine Begeisterung für den „totalen Staat" längst verloren. Er betrachtete die offenbar fortschreitende öffentliche Schwächung der Verwaltung mit Sorge. Die eigentliche Front, an der das Beamtentum seiner Zeit zu kämpfen hatte, lag nicht in der Abwehr von öffentlichen Herabsetzungen. Es ging vielmehr um die Frage, ob sich die Verwaltung gegen die Einflußnahme der Partei wehren und eine eigene, aus eigener Funktion begründete Aufgabe behaupten könne. So scheint Forsthoffs Vortrag als ein Versuch gemeint gewesen zu sein, der traditionellen Verwaltung in ihrem Gegensatz zur Partei den Rücken zu stärken und ihr ein der Zeit angemessenes Selbstbewußtsein zu vermitteln. Unter Anknüpfung an Ideen Lorenz von Steins und Karl Jaspers fragte Forsthoff nach der Aufgabe der Verwaltung. Nicht mehr die Staatsform, die personale Bindung, die sittliche Grundlegung des Beamtentums und das neu auftauchende Problem der Abgrenzung von Beamten und Angestellten war ihm fragwürdig. Forsthoff betrachtete den mit der Industrialisierung eingetretenen sozialen Wandel. Der Bereich, innerhalb dessen der Mensch seine Angelegenheiten autonom verwaltete, w a r geschrumpft, die Abhängigkeit des Bürgers von staatlichen Dienstleistungen und die Zuständigkeit des Staates für dessen Versorgung wa28 29
Fischbach, a.a.O., S. 462. Text Nr. 13.
Z u m Beamtenleitbild des 20. J a h r h u n d e r t s
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ren sprunghaft gewachsen. Forsthoff fand die Lösung der neuen Probleme in dem Schlagwort „Daseinsvorsorge". Er wies damit der Verwaltung einen neuen Auftrag zu. Er ging unbekümmert von sozialistischen Vorstellungen aus und sah wenig Anlaß, das wachsende Angewiesensein des Bürgers auf die staatliche Daseinsvorsorge zu beklagen. Im Gegenteil, die Verwaltung mußte gerade bei der Voraussetzung einer staatssozialistischen Verfassung auf lange Sicht um so deutlicher an Macht gewinnen. Ihr Aufgabengebiet weitete sich zusehends aus. Damit mußte ihr Gewicht im Staate notwendig wachsen. Zugleich war hier ein Auftrag gegeben, für dessen Besorgung nur die Fachleute der Verwaltung geeignet waren. In diesem Stück konnten die Parteidienststellen keine aussichtsreiche Konkurrenz ausüben. Forsthoff legte damit zugleich den Schluß nahe, ohne ihn jedoch auszusprechen, daß Otto Mayers „Verfassungsrecht vergeht — Verwaltungsrecht besteht" in einem viel weiteren Sinne unter der Herrschaft des Dritten Reiches fortgalt. Forsthoffs Schlagwort war zu seiner Zeit zwar nicht von großem Erfolg. Es konnte die Beamten nur trösten, ohne die Nöte des Tages zu mildern. Immerhin versuchte es, mit dem Hinweis auf ein Dauerproblem der modernen Staatlichkeit über die Gegenwart hinauszuweisen. U m so erstaunlicher ist es, daß es seine Zauberwirkung auf die Beamten erst voll entfaltete, nachdem die Anfeindungen der Partei mit dem U n tergang von Reich und Partei Geschichte geworden waren. Die Formel erwies sich im neuen Parteienstaat der Bundesrepublik brauchbarer als jene der Sachlichkeit und Neutralität. Sie brachte die Überzeugung zum Ausdruck, daß die Macht in Wahrheit bei den Fachleuten, den Beamten, und nicht bei den Politikern liege. Sie war überlebenskräftig, weil danach die Staatsform, innerhalb derer verwaltet wird, eine geringe Rolle spielt. So hat die Zeit des Hitlerreiches den Entwurf eines Beamtenleitbildes gebracht, das über den Tag hinaus bei den Beamten Zustimmung und sogar Begeisterung erzeugte und die Rolle des nachmonarchistischen Staatsdienstes befriedigend zu lösen schien. Parallel dazu entwickelte sich bei den Richtern das Schlagwort „Richterrecht". Es vollzog in gleicher Weise die Loslösung von der Verfassung und bescheinigte den Richtern, in Wirklichkeit seien sie und nicht die Parteipolitiker die wahren Schöpfer und Verwalter des Rechts. Die Selbstverständlichkeit, mit der beide Schlagwörter in Umlauf kamen, läßt den hohen Grad der Zustimmung seitens der Staatsdiener erkennen. Die
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Gefahren und Schwächen des Forsthoff'schen Ansatzes sind bisher nicht erörtert worden. IV. Bis es jedoch zu der Blüte des Leitbildes „Daseinsvorsorge" in der Bundesrepublik kam, hatten die Beamten die harten Jahre der Nachkriegszeit zu überstehen. Von den Siegermächten wurde ihnen und den Offizieren die Hauptschuld für den Krieg angelastet. Ihr angeblicher Kadavergehorsam, ihre Rechtsblindheit und ihr Pflichtbegriff, ihr Kastengeist und Standesdünkel sollten von den Alliierten mit Stumpf und Stiel ausgerottet werden. Es sollte künftig keine Beamten mehr geben. Den ersten Schritt auf diesem Wege brachte die Entnazifizierung. Zum Entwurf eines neuen Leitbildes für den öffentlichen Dienst kam es dagegen erst mit den neuen Beamtengesetzen der Länder der US-Zone. Vorbild sollten der englische und amerikanische civil Service sein. Die neuen Gesetze waren in diesem Stück nicht einheitlich. Die Rechtszersplitterung wurde weiter vermehrt durch die Fortgeltung des Gesetzes von 1937 in den Ländern der anderen beiden Westzonen, das mehr oder minder novelliert wurde. Die Vereinheitlichung des Beamtenrechts und die Setzung eines in den Westzonen allgemein gültigen Leitbildes schien das Gesetz Nr. 15 vom März 194930 zu bringen. Es ging bei diesem Versuch einer großen Reform des Staatsdienstes durch die westlichen Alliierten letztlich um die Abschaffung des Beamtentums, um die Herstellung eines einheitlichen öffentlichen Dienstes und seinen Anschluß an das allgemeine Arbeitsrecht. Hier war kein für die Beamten überzeugendes Leitbild zu erwarten. Die Traditionen des Beamtentums schienen ohnehin tödlich getroffen worden zu sein. Dennoch lebten in dem Gesetz der Alliierten auf erstaunliche Weise Leitbildsplitter der Weimarer Zeit fort. Die Verpflichtung auf die Verfassung ging Hand in Hand mit dem Zugeständnis beliebiger politischer Bekenntnisse, mit der Betonung der Weisungsabhängigkeit und der Pflicht zum Einbringen der vollen Arbeitskraft. Auch wurde den Beamten ihre Arbeit zur Gewissenssache gemacht, wenn auch die Vokabeln „Treue" und „Pflicht" vermieden wurden. Betont wurde der Satz, daß die Beamten die persönliche Verantwortung für die Gesetzmäßigkeit ih30
Text Nr. 14.
Zum Beamtenleitbild des 20. Jahrhunderts
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res Handelns tragen, sich also nicht auf Befehlsnotstand berufen können sollten. Die Alliierten knüpften bei der Regelung dieser Frage und des Rechtes der Beamten zu Gegenvorstellungen an § 7 DBG an. Das Gesetz von 1937 hatte in diesen Dingen keinesfalls den vielgescholtenen Kadavergehorsam gefördert. Die entscheidende Neuerung, die die Besatzungsmächte aus dem civil Service des Westens nach Deutschland übertragen wollten, war das Gebot der politischen Neutralität. Die Weimarer Formel von der Sachlichkeit, die eine gegen die Parteien gerichtete Kampfformel gewesen war, wurde hier ernst genommen. Das Prinzip der Unvereinbarkeit von Amt und Mandat sollte strengstens verwirklicht werden: Ein Beamter, der sich um ein politisches Amt bewarb, sollte sein Amt niederlegen müssen. Die Empörung gegen diese Neuerung war auf deutscher Seite stark. Es bedurfte zweier Jahrzehnte, bis mit Hilfe des Bundesverfassungsgerichts der Gedanke der Inkompatibilität in gemilderter Form in Deutschland Einzug halten konnte. Nachdem der Bundestag im Jahre 1950 in heißer Kontroverse das Gesetz N r . 15 als unbeachtlich beiseite geschoben und durch ein vorläufiges Beamtengesetz den Weg zur neuen Rechtseinheit deutscher Art hergestellt hatte, folgte das Bundesbeamtengesetz 195331. Seine stilistischen Anklänge an das Gesetz Nr. 15 waren ein Ausdruck des Wohlwollens der parlamentarischen Mehrheit an die dem alliierten Gesetz nachtrauernde SPD und kein Bekenntnis der deutschen Verpflichtung auf den Willen der Besatzungsmächte. Wesentlich war die Aufnahme des Artikels 130 I W R V und damit des Leitbilds des Beamten als Volksdiener. Die pauschale Anknüpfung an die Weimarer Tradition unterblieb jedoch. Die Formel des § 59 DBG scheint sich für die Beamten der Nachkriegszeit als ebenso unansehnlich erwiesen zu haben, wie sie es für jene der Weimarer Republik gewesen war. Die Zukunft sollte vielmehr dem Schlagwort Forsthoffs gehören; dabei bemerkte niemand, daß dessen sozialistischer Kontext entfallen und damit womöglich auch das Wort von der Daseinsvorsorge selbst in Frage gestellt worden war.
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Text Nr. 15.
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ENTWICKLUNGSLINIEN IM RECHT DES ARBEITSVERHÄLTNISSES I. Innerhalb des dreibändigen Lehrbuchs des Arbeitsrechts von Arthur Nikisch sind dem nationalsozialistischen Arbeitsrecht in dem 1961 in dritter Auflage erschienenen ersten Band ganze 10 Zeilen gewidmet. Nach Nikisch hatten die leitenden Gedanken des Arbeitsrechts dieser Epoche, wie sie im Arbeitsordnungsgesetz von 1934 niedergelegt waren, auf die weitere Entwicklung insofern einen gewissen Einfluß, „als sie dazu beitrugen, dem Gedanken der Betriebsgemeinschaft und der daraus fließenden Treue- und Fürsorgepflicht allgemeine Anerkennung zu verschaffen" 1 . Ausführlicher äußert sich Alfred Hueck im ersten Band des Lehrbuchs des Arbeitsrechts von Alfred Hueck und Hans Carl Nipperdey(7. Auflage 1963). Hueck hebt hervor, daß auf dem G e biet des Individualarbeitsrechts keine grundsätzlichen Änderungen eingetreten seien. Wohl aber hätten sich Wissenschaft und Rechtsprechung unter Führung des Reichsarbeitsgerichts „in stiller, konsequenter A r beit, wenig gestört vom Nationalsozialismus, den weiteren Aufbau eines sozial fortschrittlichen Arbeitsvertragsrechts in erheblichem U m fang gefördert". Hueck bezieht sich in diesem Zusammenhang auf den von der Akademie für Deutsches Recht im Jahre 1938 vorgelegten Entwurf eines Gesetzes über das Arbeitsverhältnis, der „ganz auf der Auffassung des Arbeitsverhältnisses als eines personenrechtlichen von den Grundsätzen der Treue und Fürsorge beherrschten Gemeinschaftsverhältnisses" beruht habe 2 . 1 2
Nikisch, § 7 III, S. 56. Hueck, § 5 I 3, S. 21. - Auszug aus dem Entwurf von 1938 unten „Texte" Nr. 1.
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Alfred Söllner
Ganz anders bewertet Thilo Ramm in seinem Vortrag „Nationalsozialismus und Arbeitsrecht" im Jahre 1968 diesen Gesetzentwurf 3 . Charakteristisch für diesen Entwurf sei nicht der sozialpolitische Gehalt, sondern die Tendenz, die Freiheit des Arbeitnehmers zu beschränken. Dies habe sich zwangsläufig ergeben aus der neuen theoretischen Ausgangsposition, daß im Arbeitsverhältnis der Arbeitnehmer seine Arbeitskraft zur Verfügung stelle, während der Arbeitnehmer nach der liberal-schuldrechtlichen Auffassung des Arbeitsverhältnisses Arbeit zu leisten gehabt habe. Mit der Generalklausel, daß der Arbeitnehmer sich „nach besten Kräften für das Wohl des Unternehmers und des Betriebes einzusetzen und alles zu unterlassen habe, was den berechtigten Interessen des Unternehmers und des Betriebes zuwiderläuft" (vgl. § 19 des Entwurfs), sei der im liberalen Austauschvertrag liegende Schutz der Privatsphäre des Arbeitnehmers aufgegeben worden. Kehren wir aber zunächst zurück zu den Aussagen, die in den Lehrbüchern des geltenden Arbeitsrechts zu unserem Thema zu finden sind. Im Kurzlehrbuch von Wolfgang Zöllner, 2. Auflage 19794, wird die Entwicklung des Arbeitsvertragsrechts während der nationalsozialistischen Herrschaft positiv bewertet. Vom Gesetzgeber sei das Arbeitsvertragsrecht im wesentlichen unberührt gelassen worden. Der Entwurf von 1938 sei gesetzestechnisch gelungen gewesen und habe Wissenschaft und Rechtsprechung nicht unerheblich beeinflußt. Wissenschaft und Rechtsprechung hätten die auf soziale Verbesserungen gerichtete Entwicklungslinie der Weimarer Zeit, „wenn auch unter Auswechslung mancher Begründungen", fortgeführt. Zöllner läßt in diesem Zusammenhang Zweifel an der in meinem Studienbuch „Arbeitsrecht" (6. Aufl. 1978) vertretenen Auffassung anklingen, daß das Arbeitsvertragsrecht in jener Zeit äußerlich keinen nennenswerten Veränderungen unterworfen war, aber einen inneren Wandel erfahren hatte5. Für den inneren Wandel habe ich in meinem Studienbuch keine nähere Begründung gegeben, sondern verwiesen auf Ulf Hientzsch, Arbeitsrechtslehren im Dritten Reich und ihre historische Vorbereitung (1970) und auf Bernd Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung (1968), insbes. S. 237ff., 3 7 9 - 3 9 9 sowie auf die oben bereits erwähnten Ausführungen von Thilo Ramm. Die These vom inneren Wandel läßt sich beispielsweise schon 3 4 5
Ramm, Zöllner, Söllner,
Kritische Justiz 1968, S. 108, 113 f. Arbeitsrecht, 2. Aufl. 1979, § 3 IV, 3, S. 29. Arbeitsrecht, 6. Aufl. 1978, § 2 V, S. 25.
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damit belegen, wie der Begriff des „wichtigen Grundes" im Kündigungsrecht in nationalsozialistischem Sinne politisiert wurde (dazu Rüthers, a . a . O . , S. 237ff.). Und die begriffliche Kennzeichnung des Arbeitsverhältnisses als eines „personenrechtlichen Gemeinschaftsverhältnisses" diente nicht nur dazu, das Arbeitsverhältnis mit sozialem Inhalt zu füllen (Stichwort: „Fürsorgepflicht"), sondern bildete auch die begriffliche Handhabe, um jüdische Arbeitnehmer rechtlos zu stellen 6 . II. Die wohl einschneidendste Veränderung, die das Arbeitsvertragsrecht in der NS-Zeit erfuhr, war die Charakterisierung des Arbeitsverhältnisses als eines „personenrechtlichen Gemeinschaftsverhältnisses", statt eines auf den Austausch von Lohn und Arbeit gerichteten Schuldverhältnisses. Gleichwohl kann man die Floskel vom „personenrechtlichen Gemeinschaftsverhältnis" nicht als „typisch" nationalsozialistisch bezeichnen, wenn es auch sicher kein Zufall war, daß die Nationalsozialisten sich dieser Begrifflichkeit bedienten, um ihre Vorstellungen vom Arbeitsverhältnis zu kennzeichnen. Die Vorgeschichte der Lehre vom „personenrechtlichen Gemeinschaftsverhältnis" und ihre Ausbildung in der NS-Zeit sind gut erforscht 7 . Daher sollen zu dieser Problematik nur einige Anmerkungen beigesteuert werden. Bei der Taufe des Arbeitsverhältnisses als eines „personenrechtlichen Gemeinschaftsverhältnisses" hat Otto von Gierke Pate gestanden. Er war es, der ein selbstentworfenes Bild vom deutschrechtlichen „Treudienstvertrag" nach rückwärts in die Geschichte projizierte und nach
6
7
R A G A R S 3 9 , 383. Dazu Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung-Zum Wandel der Privatrechtsordnung im Nationalsozialismus, 1968, S. 396; Stolleis, Gemeinwohlformeln im nationalsozialistischen Recht, 1974, S. 136 f. - Auszug aus dem Urteil des R A G unten „Texte" Nr. 2. Rüthers, a.a.O., S. 381 bis 397; Ulf Hientzsch, Arbeitsrechtslehren im Dritten Reich und ihre historische Vorbereitung, 1970; Jobs, Die Bedeutung Otto von Gierkes für die Kennzeichnung des Arbeitsverhältnisses als personenrechtliches Gemeinschaftsverhältnis - Zugleich eine Studie über Wesen und Inhalt des Arbeitsvertrages, Zeitschrift für Arbeitsrecht 1972, S. 305 bis 343; Isele, Die Bedeutung Otto von Gierkes für das moderne Arbeitsrecht, Festschrift für Maridakis, Bd. 2 (1963), S. 285ff.; Wiedemann, Das Arbeitsverhältnis als Austausch- und Gemeinschaftsverhältnis, 1966, S. 3; Stolleis, Gemeinwohlformeln im nationalsozialistischen Recht, 1974, S. 12ff., 18f., 137 Fußnote 256.
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vorwärts dem Dienstvertragsrecht des B G B überstülpte. In seinem Beitrag „Die Wurzeln des Dienstvertrages" in der Festschrift für Brunner (1914) wird der Treudienstvertrag als ein personenrechtlicher Vertrag bezeichnet (S. 40). Dort ist auch die Rede davon, daß die neueste Gesetzgebung (1914!) wieder ein Arbeitsrecht geschaffen habe, in dem „auf Kosten der Vertragsfreiheit die berufsorganisatorische Funktion des Dienstvertrages, sein Persönlichkeitswert und seine Vergemeinschaftungskraft zu machtvoller Geltung gelangt" seien (S. 54). Es liegt auf der Hand, daß nationalsozialistisches Rechtsdenken solche Gedanken begierig aufgriff, zumal da Otto von Gierke betonte, daß der so geartete Dienstvertrag mit dem Anspruch auf die Dienstleistung zugleich ein „Herrenrecht" über die Person als solche gewährt (S. 56), was dem nationalsozialistischen „Führerprinzip" entgegenkam. In seinem 1934 erschienenen Buch „Gewerbliches Arbeitsvertragsrecht im deutschen Mittelalter" hatte zwar Wilhelm Ebel sich gegen die romantisierenden Vorstellungen Gierkes gewandt und den schuldrechtlichen Charakter des Arbeitsverhältnisses im deutschen Recht des Mittelalters betont8. Trotz der Ablehnung der „personenrechtlichen" Auffassung konnte Ebel nicht umhin, die starke Treupflicht der Parteien des Arbeitsvertrages hervorzuheben. Der Arbeitsvertrag sei, wie Ebel sagt, nach der Auffassung des Mittelalters nicht gegensätzliches Interesse, sondern „Arbeitsgemeinschaft"9. Mit der Ablehnung der „personenrechtlichen" Auffassung blieb Ebel aber der einsame Rufer in der Wüste. Die Ausbreitung der Lehre vom „personenrechtlichen Gemeinschaftsverhältnis" wurde nicht dadurch gehindert, daß Ebel die Gierke'schen Thesen widerlegt oder doch stark erschüttert hatte. Zu groß war die Affinität zwischen den Vorstellungen — oder zumindest der Begrifflichkeit — Gierkes und der nationalsozialistischen Ideologie (vgl. unten „Texte" Nr. 3). Andererseits bewirkte die z. T. in das 19. Jahrhundert zurückreichende, vermeintliche historische Fundierung der Lehre vom „personenrechtlichen Gemeinschaftsverhältnis", daß sie nach 1945 nicht als typisch nationalsozialistisch in Acht und Bann getan wurde, sondern die Rechtsdogmatik in Lehre und Rechtsprechung weiterhin, und zwar zunächst unangefochten beherrschte. So wurde in den großen Lehrbü8 9
Ebel, passim, insbes. S. 110 ff. Ebel, S. 112.
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ehern des Arbeitsrechts von Hueck-Nipperdey 1 0 und Nikisch 11 das Arbeitsverhältnis als „personenrechtliches Gemeinschaftsverhältnis" behandelt und dargestellt. In Entscheidungen des Bundesgerichtshofs 12 und des Bundesarbeitsgerichts 13 bildete die Floskel vom „personenrechtlichen Gemeinschaftsverhältnis" des öfteren die argumentative Entscheidungsbasis. Seit 1960 mehrten sich aber die Stimmen, die eine Abkehr von dieser Lehre forderten 14 . In der Tat ist diese Lehre abzulehnen, und zwar aus juristischen Sachgründen, die ganz unabhängig sind von der nationalsozialistischen Vergangenheit dieser Lehre. Zum einen gibt es kein „Personenrecht" mit einem festen Bestand an Rechtsnormen und anerkannten Grundsätzen, den man für die Lösung arbeitsvertraglicher Rechtsprobleme nutzbar machen könnte. Zum anderen begründet der Arbeitsvertrag keine Gesellschaft oder Gemeinschaft im Rechtssinne. Das Arbeitsverhältnis als „Gemeinschaftsverhältnis" zu bezeichnen, verdunkelt das Bestehen von Interessengegensätzen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Als ich diese Auffassung im Jahre 1969 in der ersten Auflage meines Studienbuchs „Arbeitsrecht" 15 niederlegte, widersprach dies der damals noch herrschenden Meinung. Mittlerweile dürfte die Lehre vom „personenrechtlichen Gemeinschaftsverhältnis" überwunden sein. In keiner der neueren Darstellungen des Arbeitsrechts wird sie noch vertreten 16 . Auch in höchstrichterlichen Entscheidungen spielt sie seit geraumer Zeit keine Rolle mehr. III. Die Lehre vom „personenrechtlichen Gemeinschaftsverhältnis" hatte in der NS-Zeit das erklärte Ziel, das Recht des Arbeitsverhältnisses vom Bürgerlichen Gesetzbuch abzusondern. Insbesondere ging es darum, die Anwendbarkeit der Regeln über synallagmatische (Austausch-)verHueck-Nipperdey, Bd. I, 7. Aufl. 1963, § 22 II 1 und 2, S. 129ff. Nikisch, Bd. 1, 3. Aufl. 1961, S. 168 f. 12 BGHZ 10, 187(190). 13 BAG AP Nr. 1 zu § 615 BGB Betriebsrisiko. 14 Vgl. etwa Farthmann, RdA 1960, 5 f f . \ P i n t h e r , ArbuR 1961, 225; Wiedemann, Das Arbeitsverhältnis als Austausch- und Gemeinschaftsverhältnis ( 1 9 6 6 R ü t h e r s , a.a.O. (Anm. 6), S. 399f.; Schwerdtner, Fürsorgetheorie und Entgelttheorie im Recht der Arbeitsbedingungen (1969), S. 66 bis 78. 15 Söllner, Arbeitsrecht (1969), § 28 III, S. 197; jetzt: 6. Aufl. 1978, § 28 III 2, S. 208. 16 Dies konstatiert auch Däubler, Das Arbeitsrecht, Bd. 2 (1979), S. 186. 10 11
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träge (§§ 320ff. BGB) auf den Arbeitsvertrag auszuschließen 17 . „Hier dient die Berufung auf den Gemeinschaftsgedanken offenkundig als Instrument der richterlichen Gesetzesablehnung. Es handelt sich also um eine Kampfklausel gegen altes, im Widerspruch zu den neuen Rechtsanschauungen stehendes Recht" (Rüthers) 18 . Die Abkehr vom Bürgerlichen Gesetzbuch unter Berufung auf die Floskel vom „personenrechtlichen Gemeinschaftsverhältnis" findet sich nach 1945 noch in Entscheidungen des Bundesgerichtshofs und des Bundesarbeitsgerichts 19 , hat mittlerweile aber wieder einer unbefangeneren Anwendung bürgerlichrechtlicher Vorschriften, insbes. auch der §§ 320ff. BGB Platz machen müssen 20 . IV. In der NS-Zeit entstand eine wissenschaftliche Kontroverse darüber, wie das „personenrechtliche Gemeinschaftsverhältnis" zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer (oder in der damaligen Terminologie: zwischen dem Betrieb, der vom „Betriebsführer" geleitet wurde, und dem „Gefolgsmann") zustandekam. Nach einer von Wolfgang Siebert21 entwickelten und auch von Arthur Nikisch 22 vertretenen Auffassung, entstand das Arbeitsverhältnis durch die „Eingliederung" des Arbeitnehmers in den Betrieb, wobei ein Vertrag für die Begründung der personenrechtlichen Gemeinschaft als entbehrlich angesehen wurde. Dieser, der nationalsozialistischen Auffassung vom Arbeitsverhältnis am ehesten entsprechenden „Eingliederungstheorie" 23 , stand die namentlich von Alfred Hueck vertretene „Vertragstheorie" gegenüber 24 , die daran 17
Vgl. R A G ARS 37, 230. Rüthers, a . a . O . (Anrn. 6), S. 389, 397. " Vgl. oben A n m . 12, 13. 20 Vgl. etwa B A G E 10, 202; 21, 263 = A P N r . 2 zu § 3 2 4 BGB. 21 Siebert, Das Arbeitsverhältnis in der O r d n u n g der nationalen Arbeit (1935); ders.: Die deutsche Arbeitsverfassung, 2. Aufl. 1942. Weitere Nachweise bei Rüthers, a.a.O. ( A n m . 6), S. 384 Fn. 35. 22 Nikisch, Arbeitsrecht u n d Arbeitsverhältnis (1941). Weitere Nachweise bei Rüthers, a . a . O . (Anm. 20). 23 Vgl. Rüthers, a . a . O . (Anm. 6), S. 387ff.; Ramm, KritJ 1968, 108 (115). 24 Hueck, Die Begründung des Arbeitsverhältnisses, D A r b R 1938, 180; ders.: Deutsches Arbeitsrecht, 2. Aufl. 1944, insbes. S. 68ff. - Weitere Nachweise bei Rüthers, a.a.O. ( A n m . 6), S. 383 Fn. 27. 18
E n t w i c k l u n g s l i n i e n im R e c h t des A r b e i t s v e r h ä l t n i s s e s
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festhielt, daß das Arbeitsverhältnis durch Vertrag (wenn auch durch einen „gemeinschaftsbegründenden" Vertrag) zustandekam. Nach dem zweiten Weltkrieg wurde dieser Theorienstreit fortgeführt. Nikisch sah sich aber gezwungen, erhebliche Abstriche an der Eingliederungstheorie vorzunehmen 25 , während die Vertreter der Vertragstheorie die Lehre vom „faktischen" Arbeitsverhältnis aufgriffen, um Arbeitsverhältnisse auf fehlerhafter Vertragsgrundlage sachgerecht abwickeln zu können 26 . Mit dieser Annäherung war der Gegensatz der Auffassungen schon anfangs der 60er Jahre fast überwunden. Mit dem Verschwinden der Lehre vom „personenrechtlichen Gemeinschaftsverhältnis" ist dem Streit zwischen Vertrags- und Eingliederungstheorie ganz und gar die Grundlage entzogen. V. Eng mit der Lehre vom „personenrechtlichen Gemeinschaftsverhältnis" verbunden war eine starke Betonung und Ausdehnung der Fürsorgepflicht des Arbeitgebers. Auch das geht auf Otto von Gierke zurück und hatte schon vor der nationalsozialistischen Machtergreifung Eingang in die Rechtsprechung gefunden. Wie Otto Kahn-Freund in seiner kritischen Untersuchung der Rechtsprechung des Reichsarbeitsgerichts, die im Jahre 1931 unter dem Titel „Das soziale Ideal des Reichsarbeitsgerichts" erschienen ist 27 , feststellte, hatte das Reichsarbeitsgericht durch den Fürsorgegedanken dem einzelnen Arbeitnehmer über Gesetz und Tarifvertrag hinaus sozialen Schutz angedeihen lassen 28 . Diese Tendenz der Rechtsprechung verstärkte sich unter der NS-Herrschaft 2 9 . Auch in der Literatur berief man sich gern auf die Fürsorgepflicht, wenn man dem Arbeitnehmer einen Anspruch gegen den Arbeitgeber einräumen wollte, für den sonst keine Rechtsgrundlage ersichtlich war. Ein Beispiel dafür ist die Entwicklung des Urlaubsanspruchs. Das Reichsarbeitsgericht hatte noch im Jahre 1937 den Urlaubsanspruch als 25 26 17 28 29
Vgl. Rüthers, a.a.O. (Anm. 6), S. 392 mit Nachweisen. Vgl. Söllner, Arbeitsrecht, 6. Aufl. 1978, § 1 I, S. 13; § 28 II 2, S. 207i. Wieder abgedruckt bei Ramm, Arbeitsrecht und Politik (1966), S. 149 bis 210. A.a.O. (Anm. 27) S. 194ff. Vgl. auch den Wortlaut von § 1 Abs. 1 des Entwurfes eines Gesetzes über das Arbeitsverhältnis ( „ . . . das auf Ehre, Treue und Fürsorge gegründete Gemeinschaftsverhältnis").
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einen Teil der Vergütung des Arbeitnehmers angesehen 30 . Im Schrifttum dagegen ordnete man die Urlaubsgewährung jedoch nicht dem Austausch von Leistung und Gegenleistung, sondern der Fürsorgepflicht zu. Im Jugendschutzgesetz von 1938 war für Jugendliche ein gesetzlicher Urlaubsanspruch geschaffen worden (§ 21 J S c h G ) . Daneben gab es zunehmend Urlaubsregelungen in Tarifordnungen 3 1 , Betriebsordnungen und auch in einzelnen Arbeitsverträgen. Man sah in diesen Regelungen aber nur Ausformungen der den Arbeitgeber ohnedies treffenden Fürsorgepflicht. Damit war die Basis geschaffen für einen allgemeinen Urlaubsanspruch, den auch derjenige Arbeitnehmer haben sollte, der keiner speziellen Urlaubsregelung unterfiel 32 . Zu einer höchstrichterlichen Bestätigung dieser Auffassung durch das Reichsarbeitsgericht ist es indessen nicht mehr gekommen. Das Problem hat den 2. Weltkrieg überdauert. Die Frage, ob ein Arbeitnehmer auch ohne besondere Rechtsgrundlage einen Anspruch auf einen bezahlten Erholungsurlaub hat, stellte sich in besonderer Schärfe, nachdem einzelne Länder Urlaubsgesetze erlassen hatten 33 , andere dagegen nicht. Das Bundesarbeitsgericht hat die Frage schließlich bejaht: „Der Anspruch", so sagt das Bundesarbeitsgericht in einer Entscheidung vom 20. 4. 1956 34 „ergibt sich aus den §§ 618 und 242 B G B , durch die die arbeitsvertragliche Fürsorgepflicht des Arbeitgebers statuiert ist". Interessant ist, daß das Bundesarbeitsgericht daneben noch die Prinzipien des sozialen Rechtsstaats (Art. 20, 28 G G ) bemüht und schließlich noch die allgemeine Rechtsüberzeugung und „den Rechtsgeltungswillen des Volkes einschließlich der beiden Sozialpartner" heranzieht, um die Entscheidung zu begründen. Die Fürsorgepflicht als alleinige Grundlage des Urlaubsanspruchs - eine Auffassung, die das Gericht allenthalben in der damaligen Literatur hätte finden können - genügte dem Gericht also nicht. Bemerkenswert ist auch, daß das Gericht die Fürsorgepflicht nicht aus dem Wesen des Arbeitsverhältnisses (seil, als eines „personenrechtlichen Gemeinschaftsverhältnisses") abgeleitet,
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33 34
R A G , Urteil vom 24. 11. 1937, ARS 31, 273. Vgl. dazu die Freiburger jur. Diss. wonPeter Lahnstein, Fortentwicklung des Arbeitsrechts in den Tarifordnungen seit 1934 (1938), S. 53; Trost, D A r b R 1939, 166ff. Nikisch, Zeitschrift der Akademie für Deutsches Recht 1938, S. 41 (42); Siebert, Die deutsche Arbeitsverfassung, 2. Aufl. 1942, S. 53; Lahnstein, a . a . O . (Anm. 31), S. 53. Vgl. die Übersicht bei Nikisch a.a.O. (Anm. 11), § 39, S. 519. B A G A P N r . 6 zu § 611 B G B Urlaubsrecht = N J W 1956, 1254.
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sondern auf Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs zurückgeführt hat. Das Problem ist mittlerweile durch das Bundesurlaubsgesetz vom 8. 1. 1963 gelöst. Aber in einem der maßgeblichen Kommentare zum Bundesurlaubsgesetz, nämlich von Dersch und Neumann, findet sich noch in der letzten Auflage die Meinung, daß das Gesetz den schon bestehenden Urlaubsanspruch nur ausfülle; der Urlaubsanspruch selbst ergebe sich aus der Fürsorgepflicht und aus Gewohnheitsrecht 35 . Im neueren Schrifttum wird die Ableitung des Urlaubsanspruchs aus der Fürsorgepflicht in Frage gestellt und stattdessen darauf hingewiesen, daß auch die Urlaubsgewährung Entgelt in einem weiteren Sinne ist 36 . VI. Ganz allgemein findet man in neuerer Zeit das Bestreben, sachlich und begrifflich von der „Fürsorgepflicht" und ihrem Korrelat, der „Treuepflicht" loszukommen 37 . Die nationalsozialistische Auffassung, daß die Hauptpflicht aus dem Arbeitsverhältnis eine gegenseitige Treuepflicht sei, aus der sich alles andere (Arbeitspflicht, Lohnzahlungspflicht, Fürsorgepflicht) von selbst ergebe 38 , war nach 1945 ohnedies nicht wiederbelebt worden. In der Tat ist es - wiederum aus juristischsachlichen und nicht wegen der NS-Vergangenheit - geboten, von den spezifisch arbeitsrechtlichen Instituten der Fürsorge- und Treuepflicht Abschied zu nehmen. Die bisher von diesen Begründungsschablonen erfaßten Phänomene lassen sich auf allgemeine Kategorien des Privatrechts zurückzuführen. Und zwar müssen die Sozialleistungen dem Entgelt zugeordnet werden und auf die beiderseitigen Hauptleistungspflichten ist § 242 B G B (Treu und Glauben) in einer dem Arbeitsleben entsprechenden Weise anzuwenden. Dann bleiben nur noch Pflichten 35 36 37
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Dersch-Neumann, BUrlG, 5. Aufl. 1977, § 1 RdNr. Wiedemann, a.a.O. (Anm. 14), S. 16; Schwerdtner, a.a.O. (Anm. 14), S. 145ff. Vgl. Schwerdtner, a.a.O. (Anm. 14) und in Zeitschrift für Rechtspolitik 1970, 62ff.; Fenn, RdA 1971, 321 bis 327; Hanau-Adomeit, Arbeitsrecht, 5. Aufl. 1978, S. 129; Ernst Wolf, Das Arbeitsverhältnis (1970) S. 31. - Vgl. auch die verschiedenen Gehversuche in diese Richtung, die in dem Sammelband „Treue- und Fürsorgepflicht im Arbeitsrecht", hrsg. von Th. Tomandl (1975), zu finden sind. Dazu Söllner, ZfA 1976, 363 ff. Vgl. Hueck-Nipperdey-Dietz, Arbeitsordnungsgesetz, 4. Aufl. 1943, § 2 RdNr. 16s, 17, 17b.
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übrig, die im Schuldrecht allgemein als „Schutzpflichten" bezeichnet werden39. Im Entwurf der Arbeitsgesetzbuchkommission für ein „Allgemeines Arbeitsvertragsrecht" von 1977 werden die entsprechenden Vertragspflichten von Arbeitgeber und Arbeitnehmer bereits unter der Rubrik „Wahrung schutzwürdiger Interessen" behandelt. VII. Aus der Fürsorgepflicht des Arbeitgebers hat man in der NS-Zeit auch den Grundsatz der Gleichbehandlung abgeleitet40, der heute noch eine wichtige Rolle im Recht des Arbeitsvertrages spielt. Es geht darum, daß der Arbeitgeber bei der Gewährung von Leistungen, auf die der Arbeitnehmer keinen Rechtsanspruch hat (Gratifikationen, betriebliche Ruhegelder), die Arbeitnehmer seines Betriebes gleichzubehandeln hat. Er darf nicht einzelne Arbeitnehmer willkürlich ausschließen oder zurücksetzen. Das Reichsarbeitsgericht hat diesen Grundsatz in mehreren Entscheidungen angewandt. In der ersten Entscheidung dieser Art hat es sich hierbei auf die „konkrete Ordnung" des Betriebes als Rechtsquelle gestützt41. Dies wiederum geht auf das von Carl Schmitt propagierte Denken in konkreten Ordnungen zurück42. Wegen der Anwendung der „konkreten Ordnung des Betriebes" als einer Rechtsquelle hat das Reichsarbeitsgericht durchaus Kritik erfahren43, u. a. erstaunlicherweise auch von Wolfgang Siebert44. Später hat das Reichsarbeitsgericht die Rechtsprechung in diesem Punkte wohl stillschweigend wieder aufgegeben45. Festgehalten hat es dagegen am Gleichbehandlungsgrundsatz als solchem, und dieser hat auch das Jahr 1945 überstanden. Uber die rechtliche Grundlage des Gleichbehandlungsanspruchs bestehen dagegen bis heute Meinungsverschiedenheiten. Der Auffassung, daß der Gleichbehandlungsgrundsatz im Privatrecht immer dort eine Rolle spielt, wo mehrere Personen zu einer „Gemeinschaft" zusammen39 40 41
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Söllner, Arbeitsrecht, a.a.O. (Anm. 5) § 31 II, S. 220f. Hueck-Nipperdey-Dietz, A O G (Anm. 38), § 2 RdNr. 17aff. R A G vom 19. 1. 1938, R A G E 19, 281 = ARS 33, 172ff. = Z A R D R 1938, 670 (unten „Texte" Nr. 4). Carl Schmitt,Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens (1934). - Vgl. dazu Rüthers, a.a.O. (Anm. 6) S. 379f., 397. Hueck-Nipperdey-Dietz, A O G (Anm. 38), § 2 RdNr. 17a mit Nachweisen. Reuss-Siebert, Die konkrete Ordnung des Betriebes, 3. Aufl. 1943, S. 58. Vgl. Reuss, ArbuR 1964, S. 80.
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geschlossen sind (hier: „Betriebsgemeinschaft") 46 , steht eine andere, von mir geteilte Ansicht entgegen, daß das Gleichbehandlungsgebot ein rechtliches Korrektiv gegenüber Machtstellungen (hier: der Machtstellung des Arbeitgebers) darstellt47. Das Bundesarbeitsgericht führte den Gleichbehandlungsgrundsatz zunächst auf die Fürsorgepflicht zurück 48 , stützt ihn aber zunehmend auf § 242 B G B oder auf § 315 BGB 4 9 . VIII. Ein weiteres heute anerkanntes Rechtsinstitut, das praeter legem, wenn nicht gar contra legem entwickelt worden ist, hat seine historischen Wurzeln gleichfalls in der NS-Zeit, nämlich die Haftungserleichterung für Arbeitnehmer bei gefahren- oder schadensgeneigter Tätigkeit. Die insoweit heute geltenden Grundsätze sind wie folgt zu beschreiben: Bei „leichtester" Fahrlässigkeit haftet der Arbeitnehmer nicht. Bei einem „mittleren" Grad der Fahrlässigkeit hat der Arbeitnehmer einen angemessenen Teil des Schadens zu ersetzen. Bei grober Fahrlässigkeit haftet der Arbeitnehmer in der Regel und bei Vorsatz immer auf vollen Schadensersatz50. Diese Abweichung vom Haftungssystem des Bürgerlichen Gesetzbuchs beginnt - nach einigen unbedeutenden Vorläufern - 5 1 mit einer Entscheidung des Arbeitsgerichts Plauen vom 4. 11. 1936 52 . Danach sollte ein Kraftfahrer nicht zu Schadensersatz verpflichtet sein, wenn ihm nur leichte Fahrlässigkeit zur Last falle, was menschlich entschuldbar erscheinen müsse. Das Reichsarbeitsgericht hat sich dem in mehreren Entscheidungen angeschlossen53. Gestützt wurde die Haftungserleichterung auf die Fürsorgepflicht, mit der z. T. in einem Atemzuge auch die
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Götz Hueck, Der Grundsatz der gleichmäßigen Behandlung im Privatrecht (1958), insbes. S. 151 - 157; Hueck-Nipperdey, Arbeitsrecht (Anm. 10), Bd. 1, §48a, S. 417. Söllner, Einseitige Leistungsbestimmung im Arbeitsverhältnis (1966), S. 135 mit Nachweisen in Fußnoten 5 bis 7. B A G AP Nr. 3 zu § 242 B G B Gleichbehandlung. Vgl. die Nachweise bei Scbaub, Arbeitsrechts-Handbuch, 4. Aufl. 1980, § 112 I 6, S. 599 mit Fußnoten 8 und 9. Vgl. B A G AP Nr. 5 zu § 282 B G B . Vgl. Gamillscheg-Hanau, Die Haftung des Arbeitnehmers, 2. Aufl. 1974, S. 7. ARS 29, 62. Vgl. die Nachweise bei Gamillscheg-Hanau, a.a.O. (Anm. 51), S. 8 Fußnote 15 und S. 200.
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Betriebsgemeinschaft genannt wurde 54 . Bundesgerichtshof und Bundesarbeitsgericht haben die Rechtsprechung des Reichsarbeitsgerichts zur Haftungserleichterung bei gefahren- oder schadensgeneigter Arbeit fortgesetzt und ausgeweitet, indem sie sich in Ubereinstimmung mit der Literatur 55 auf die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers beriefen 56 . In Wahrheit handelt es sich aber um eine Risikoverteilung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, die sich daraus rechtfertigt, daß es der Arbeitgeber ist, der zu seinem wirtschaftlichen Vorteil den Arbeitnehmer in die Drucksituation der gefahrengeneigten Arbeit bringt 57 . Übrigens hatte das Reichsarbeitsgericht in den ersten Entscheidungen zu diesem Problembereich zum Ausdruck gebracht, daß es um die Verteilung des im Betrieb wurzelnden Risikos geht (vgl. unten „Texte" Nr. 5); dann aber überlagerte der Fürsorgegedanke diesen Sachgesichtspunkt. IX. Abschließend soll noch eine andere Entwicklungslinie verfolgt werden, die in der NS-Zeit ihren Anfang nahm und schließlich Ausstrahlungen in den Bereich des heutigen Arbeitskampfrechts gehabt hat, nämlich die Verlängerung der Kündigungsfristen. Da einerseits die Nationalsozialisten nach ihrer Machtübernahme einen Lohnstop verfügt hatten und die Treuhänder der Arbeit die Löhne in den Tarifordnungen, die an die Stelle der Tarifverträge getreten waren, nicht ohne weiteres erhöhen durften, andererseits sich aber ein zunehmender Arbeitskräftemangel bemerkbar machte 58 , wich die betriebliche Sozialpolitik in andere Bereiche aus. Um Arbeitskräfte anzulocken, wurden neben der Gewährung anderer Vergünstigungen die Kündigungsfristen verlängert. Dafür waren vor 1933 die Gewerkschaften immer schon eingetreten. Die Verlängerung von Kündigungsfristen konnte in Tarifordnungen, Betriebsordnungen und in den einzelnen Arbeitsverträgen erfolgen. Da die verlängerten Kündigungsfristen in der Regel von beiden Teilen zu beachten Gamillscheg-Hanau, a.a.O. (Anm. 51) S. 44 mit Fußnoten 144, 145. A. Hueck, a.a.O. (Anm. 10), S. 233; Nikisch, a.a.O. (Anm. 11), S. 305. 56 Vgl. Gamillscheg-Hanau (wie Anm. 54). 57 Gamillscheg, Festschrift Rheinstein, Bd. 2 (1969), S. 1044 -Köhler, RdA 1970, 97-101; Söllner, Arbeitsrecht a.a.O. (Anm. 5), § 30 I 1, S. 216. 58 Vgl. dazu die von T. W. Mason unter dem Titel „Arbeiterklasse und Volksgemeinschaft" 1975 herausgegebenen Dokumente und Materialien aus den Jahren 1936 bis 1939, insbes. Nrn. 13, 136, 137. 54 55
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waren, kam dies der offiziellen Arbeitsmarktpolitik entgegen, die einem Arbeitsplatzwechsel durchaus ablehnend gegenüberstand. So ordnete der Reichstreuhänder der Arbeit am 15. April 1939 für das Wirtschaftsgebiet Brandenburg an, daß dann, wenn im Gesetz, in der Tarifordnung, der Betriebsordnung, dem Einzelarbeitsvertrag oder in einer Anordnung auf Grund der Lohngestaltungsverordnung verschieden lange Fristen für die Lösung von Arbeitsverhältnissen vorgesehen waren, die für den lösenden Vertragsteil jeweils längste Frist maßgebend sein sollte 59 . Die Entwicklung der betrieblichen Praxis läßt sich z. B. an den Betriebsordnungen der Farbwerke Hoechst ablesen, die Wolfgang Hromadka herausgegeben hat 60 . Während 1928 das Arbeitsverhältnis eines Arbeiters in den Farbwerken Hoechst zum Ende der Arbeitsschicht eines jeden Tages gekündigt werden konnte, wurden 1934 nach der Dauer der Betriebszugehörigkeit gestaffelte Kündigungsfristen (bis zu 4 W o chen) eingeführt, die 1939 nochmals verlängert wurden. In anderen Bereichen der Wirtschaft mit Ausnahme des Baugewerbes ist die Entwicklung ähnlich verlaufen. Nach 1945 war ein Schritt zurück hinter den erreichten sozialen Status kaum denkbar. Die Betriebsvereinbarungen und Tarifverträge übernahmen die bestehenden Regelungen oder verbesserten sie noch. Damit wurde aber eine schwierige Problematik im Bereich des Arbeitskampfrechts heraufbeschworen. Arbeitskämpfe (Streik, Aussperrung, Boykott) waren nach der vor 1933 in Rechtsprechung und Literatur herrschenden Auffassung als Maßnahmen des Wirtschaftskampfes nicht per se rechts- oder sittenwidrig 61 . Aber beim Streik durften die Arbeitnehmer die Arbeit nur niederlegen, wenn sie das Arbeitsverhältnis zuvor fristgerecht gekündigt hatten, sonst machten sie sich eines Arbeitsvertragsbruchs schuldig, was den Arbeitgeber zur fristlosen Entlassung berechtigte 62 . Auch eine Aussperrung durfte nur in der Weise erfolgen, daß der Arbeitgeber die Arbeitsverhältnisse fristgerecht kündigte, sonst blieb er wegen Annahmeverzuges nach § 615 B G B zur Lohnzahlung verpflichtet 63 . Die Auffassung, daß kollektive Kampf59 60
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Mason, a.a.O. (Anm. 58) Nr. 139. Hromadka, Die Arbeitsordnung im Wandel der Zeit (1979), S. 109 £f. - Vgl. unten „Texte" Nr. 6. Vgl. Söllner, Arbeitsrecht (Anm. 5), § 12 II 5, S. 85 mit Nachweisen in Fußnote 73. Nikiscb, Arbeitsrecht, Bd. 2, 2. Aufl. 1959, § 66 I, S. 156ff. R A G ARS 4, 127 (128f.); 9, 386 (388); dazu Söllner, RdA 1980, 14 (15).
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maßnahmen durch indidivuelle fristgemäße Kündigungen zu erfolgen hätten, wurde nach 1945 aus der Weimarer Zeit übernommen 64 . Sie führte indessen jetzt zu erheblichen Schwierigkeiten, weil mittlerweile die Kündigungsfristen verlängert worden waren, und obendrein zumeist nach der Dauer der Betriebszugehörigkeit gestaffelt waren. Während bei einer entfristeten ordentlichen Kündigung oder Kündigungsfristen von einem Tag oder drei Tagen, was für Arbeiter in den zwanziger Jahren die Regel war, eine Gewerkschaft die Arbeitnehmer zur Arbeitsniederlegung an ein und demselben Tage aufrufen und die Arbeitnehmer durch entsprechende Kündigungserklärungen dem Aufruf, ohne Vertragsbruch zu begehen, folgen konnten, sah das in den fünfziger Jahren ganz anders aus. Ein Streik, der mit der fristgemäßen Kündigung der Arbeitsverhältnisse durch die Arbeitnehmer begonnen worden wäre, hätte erst nach Ablauf der verschieden langen Kündigungsfristen zur Arbeitsniederlegung geführt. Dem Arbeitgeber wäre Zeit geblieben, darauf flexibel durch Einstellung Arbeitswilliger zu reagieren. Ein solcher Streik wäre wirkungslos verpufft. Dies war der Anlaß, darüber nachzudenken, wie man die kollektivrechtliche Rechtfertigung eines Streiks mit dem Arbeitsvertrag in anderer Weise in Einklang bringen könnte. Auf Grund entsprechender Vorarbeiten in der Literatur 65 hat der Große Senat des Bundesarbeitsgerichts in der Entscheidung vom 28. 1. 195566 den heute das Arbeitskampfrecht beherrschenden Grundsatz geprägt, daß bei einem legitimen gewerkschaftlichen Streik die auf Grund des Streikaufrufs der Gewerkschaft die Arbeit ohne Kündigung niederlegenden Arbeitnehmer nicht vertragswidrig handeln, daß in einem solchen Falle vielmehr die Hauptpflichten aus dem Arbeitsvertrag für die Dauer des Arbeitskampfes suspendiert sind. Ein wesentliches Argument aus den Entscheidungsgründen lautet, daß es das „Schwert des Streikes" stumpf mache, wenn man die Einhaltung von Kündigungsfristen und namentlich von unterschiedlichen Kündigungsfristen fordere. Es war nach meinem Dafürhalten also vor allem die in der NS64
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Vgl. vor allem Nikiscb (Anm. 62); ferner die Nachweise bei Brox-Rüthers, Arbeitskampfrecht (1965), § 12 II, S. 218 Fußnote 3. Nachweise hierfür bei Brox-Rüthers, Arbeitskampfrecht (1965), § 12 II, S. 219 Fußnote 5. Am wirkungsvollsten war offenbar die Abhandlung von Bulla in der Festschrift f ü r N i p p e r d e y (1955), S. 163 ff. BAGE 1,291 = AP Nr. 1 zu Art. 9 GG Arbeitskampf = N J W 1955, 882 (unten „Texte" Nr. 7).
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Zeit erfolgte Verlängerung der Kündigungsfristen, die jene grundlegende Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts zur suspendierenden Wirkung von Arbeitskampfmaßnahmen herbeigeführt hat. X. Sieht man von der zuletzt geschilderten Entwicklung des Kündigungsrechts ab, so zeigt sich, daß im Arbeitsverhältnisrecht in nicht unbeträchtlichem Umfang rechtsdogmatische Vorstellungen und darauf gegründete Rechtsinstitute aus der NS-Zeit („personenrechtliches Gemeinschaftsverhältnis", Treue- und Fürsorgepflicht, Gleichbehandlung und Haftungserleichterung) nach 1945 wieder aufgegriffen worden sind. Diese Übernahme war notwendig, um bestimmte soziale Positionen des Arbeitnehmers im Arbeitsverhältnis, die in der NS-Zeit erreicht worden waren, aufrechterhalten zu können. Die neuere Entwicklung läßt zusätzlich zwei Feststellungen als geboten erscheinen: 1. Das Anknüpfen an die genannten rechtsdogmatischen Vorstellungen der NS-Zeit hat zu einer Lockerung der Bindung des Richters an das Gesetz geführt. Namentlich der Gleichbehandlungsgrundsatz und die Haftungserleichterung bei gefahrengeneigter Arbeit sind typische E r scheinungen des „Richterrechts". Man sollte deswegen aber nicht den Richter schelten, sondern eher den Gesetzgeber, der es versäumt hat, spezifische Probleme des Arbeitsverhältnisses gesetzlich zu regeln. Bei der Fürsorgepflicht und beim Gleichbehandlungsgrundsatz ist in der Rechtsprechung sogar ein Wiederanknüpfen an das B G B festzustellen. 2. Die Rechtsfolgen, die sich an die Begriffe der Treue- und Fürsorgepflicht knüpfen, der Gleichbehandlungsgrundsatz und die Haftungserleichterung bei gefahrengeneigter Arbeit sind aus dem Recht des Arbeitsverhältnisses heute nicht mehr hinwegzudenken. Die aus der N S Zeit stammenden rechtsdogmatischen Grundlagen aber haben sich als brüchig erwiesen. Das gilt allgemein für die Vorstellung vom Arbeitsverhältnis als einem „personenrechtlichen Gemeinschaftsverhältnis" und von der Annahme spezifisch arbeitsrechtlicher „Treue- und Fürsorgepflichten". Im besonderen trifft das zu für die Fundierung des Gleichbehandlungsgrundsatzes und der Haftungserleichterung für Arbeitnehmer auf die „Fürsorgepflicht". Mehr und mehr werden die Sachgründe für diese Rechtsinstitute erkannt und offen ausgesprochen.
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TEXTE
1. Auszug aus dem „Entwurf eines Gesetzes über das Arbeitsverhältnis", aufgestellt vom Arbeitsausschuß der Akademie für Deutsches Recht, 1938:
Erster Abschnitt Allgemeine Grundsätze s1 (1) D a s Arbeitsverhältnis ist das auf Ehre, Treue und Fürsorge gegründete Gemeinschaftsverhältnis, in dem ein Gefolgsmann seine Arbeitskraft für einen U n ternehmer in dessen Betrieb oder sonst in dessen Dienst einsetzt. (2) Der Arbeitsvertrag ist die das Arbeitsverhältnis begründete und gestaltende Einigung.
§2
Kein Arbeitsverhältnis liegt vor, wenn jemand nicht zum Erwerb, sondern überwiegend zu religiösen oder charitativen Zwecken oder zur sittlichen Besserung oder Erziehung, zur Heilung oder zur Wiedereingewöhnung beschäftigt wird.
§3
Alle Erklärungen und Rechtshandlungen des Arbeitslebens sind so auszulegen, wie es dem Geist einer Ehre und Treue, Vertrauen und Fürsorge getragenen Arbeits* und Betriebgemeinschaft entspricht. (1) Für das Arbeitsverhältnis gelten die Vorschriften dieses Gesetzes, soweit nicht Sondergesetze Abweichendes bestimmen. (2) Die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches über den Dienstvertrag sind nicht anzuwenden. Die sonstigen Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches gelten insoweit, als sich nicht aus diesem Gesetz oder aus dem Wesen der Arbeits- und Betriebsgemeinschaft etwas anderes ergibt. §5 Bei der Gestaltung des Arbeitsverhältnisses sind Unternehmer und Gefolgsmann gebunden an die Grundgedanken der Arbeits- und Betriebsgemeinschaft, an die gesetzlichen Vorschriften, die nach ihrem Sinn und Zweck oder kraft ausdrücklicher Bestimmung zwingend sind, und an die unabdingbaren Bestimmungen der Tarif-, Betriebs- oder Dienstordnungen.
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2. B e s o n d e r e T r e u e p f l i c h t e n §19 Der Gefolgsmann hat sich nach besten Kräften für das Wohl des Unternehmers und des Betriebes einzusetzen und alles zu unterlassen, was den berechtigten Interessen des Unternehmers und des Betriebes zuwiderläuft. §20 Schäden und Störungen im Arbeitsvorgang, sie mögen drohen oder schon entstanden sein, hat der Gefolgsmann dem Unternehmer unverzüglich anzuzeigen. Ebenso hat er von einer Dienstverhinderung möglichst frühzeitig Mitteilung zu machen.
4. F ü r s o r g e p f l i c h t § 68 Eine würdige und der Ehre des Gefolgsmannes entsprechende Behandlung ist Pflicht des Unternehmers. Er hat für das Wohl des Gefolgsmannes im Rahmen des Arbeitsverhältnisses zu sorgen, soweit die Betriebsverhältnisse und die Art der Arbeitsleistung es gestatten. Insbesondere hat er dafür zu sorgen, daß der Gefolgsmann vor Gefahren für Leib und Leben bei der Arbeit geschützt ist und daß Sitte und Anstand gesichert sind. § 69 Die Fürsorgepflicht des Unternehmers umfaßt die Erfüllung der Pflichten, die ihm im Arbeitsschutzrecht zugunsten des Gefolgsmannes und in der Sozialversicherung zur Sicherung der Ansprüche des Gefolgsmannes auferlegt sind. §70 Hat der Gefolgsmann Schriftstücke, Geräte oder Stoffe im Gewahrsam des Unternehmers zu lassen, oder erfordern Arbeitsleistung oder Betriebsverhältnisse die Ablage von Kleidern oder anderen Gebrauchsgegenständen des Gefolgsmannes, so hat der Unternehmer sichere Aufbewahrung zu ermöglichen. (1) Ist der Gefolgsmann in die häusliche Gemeinschaft aufgenommen, so kann er eine Schlaf- und Aufenthaltsgelegenheit verlangen, die seiner Stellung im Arbeitsverhältnis und den Verhältnissen des Haushalts angemessen ist. (2) Der Unternehmer hat für Wohn- und Schlafräume, die Verpflegung, Arbeits- und Erholungszeit diejenigen Einrichtungen und Anordnungen zu treffen, welche die Gesundheit, Sittlichkeit und Religion des Gefolgsmannes gebieten. (3) Der Gefolgsmann hat sich der Ordnung des Haushalts anzupassen und den Anordnungen des Unternehmers nachzukommen.
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5. Urlaub §74 Die Erhaltung der Volkskraft erfordert, daß jeder Gefolgsmann zur Erholung von der Arbeit und zur Gewinnung neuer seelischer und körperlicher Kräfte einmal im Jahr einige Zeit ausruhen kann, ohne deshalb seine Lebenshaltung einschränken zu müssen. Deshalb hat jeder Gefolgsmann, dessen Arbeitskraft durch ein Arbeitsverhältnis ganz oder hauptsächlich beansprucht wird, in jedem Kalenderjahr ein unabdingbares Recht auf einen Erholungsurlaub unter Fortzahlung des Lohnes. . §75 Die Dauer des Urlaubs bestimmt sich, wenn sie nicht durch Tarif-, Betriebsoder Dienstordnung oder Arbeitsvertrag geregelt ist, nach dem, was für vergleichbare Arbeitsverhältnisse üblich ist. Der Urlaub muß mindestens sechs Arbeitstage betragen.
2. Auszug aus einem Urteil des Reichsarbeitsgerichts vom 24. Juli 1940, A R S Bd. 39, S. 383 (385f.): Die Anordnung vom 3. 12. 37 zunächst bestimmt unter Nr. 1, daß für die Arbeitszeit, die infolge des Neujahrstages, des Oster- oder Pfingstmontags sowie des ersten und zweiten Weihnachtsfeiertages - soweit der Neujahrstag und die Weihnachtstage nicht auf einen Sonntag fallen - ausfällt, den Gefolgschaftsangehörigen der regelmäßige Arbeitsverdienst zu zahlen ist. Es erhebt sich die Frage, ob der jüdische Arbeiter, der in einem Betriebe tätig ist, zu den „Gefolgschaftsangehörigen" im Sinne dieser Bestimmung gerechnet und ob die Anordnung insofern auf ihn Anwendung finden kann. Dazu ist zunächst allgemein zu bemerken: Die Gestaltung des Arbeitsverhältnisses in dem Arbeitsordnungsgesetz vom 20. 1. 34 — AOG - als eines auf den Gedanken der Treue und Fürsorge und der sozialen Ehre gegründeten Gemeinschaftsverhältnisses (§§ 1, 2, 35 das.) und der Gedanke von Führer und Gefolgschaft in dem Betriebe, wie er im besonderen im § 1 des Gesetzes Ausdruck gefunden hat und worauf jene Bezeichnung in der Anordnung erkennbar zurückgeht, entspricht germanischer, besonders deutschrechtlicher Anschauung. An solcher Gemeinschaft kann der Jude, dem jene Anschauung fremd ist, nach seiner ganzen, auf die Förderung persönlicher Interessen und die Erlangung wirtschaftlicher Vorteile gerichteten rassischen Veranlagung keinen Anteil haben, und es ist ihm nach seiner Natur verwehrt, sich als Glied in diese Gemeinschaft einzufügen und sein Denken und Handeln nach der Gefolgschaftsidee auszurichten. Daraus ergibt sich die notwendige Folge, daß das Arbeitsordnungsgesetz, insbesondere seine tragenden Grundgedanken, sowie die sonstigen im besonderen in neuerer Zeit getroffenen arbeitsrechtlichen Bestimmungen nicht ohne weiteres und uneingeschränkt auf einen jüdischen Arbeiter Anwendung finden können.
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3. Wolfgang Seite 38:
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Siebert, Die deutsche Arbeitsverfassung, 2. Aufl. 1942.
Von der nationalsozialistischen Arbeitslehre her muß das Arbeitsverhältnis unmittelbar und vollständig durch den gemeinsamen Einsatz der Persönlichkeiten bestimmt, also ein in der Arbeit begründetes Gemeinschaftsverhältnis sein. Hiermit ist das Arbeitsverhältnis ein personenrechtliches Gemeinschaftsverhältnis, denn ein Rechtsverhältnis, das in Wesen und Inhalt grundlegend und umfassend durch den Persönlichkeitseinsatz bestimmt, also unmittelbar persönlichkeitserfüllt ist, nenne ich personenrechtlich. Die rechtliche Eigenart des Arbeitsverhältnisses liegt in der unmittelbaren und umfassenden rechtlichen Wirkungskraft der Arbeitsgemeinschaft: Jedes Arbeitsverhältnis enthält die wesenhaft notwendigen und angemessenen Wirkungen, Rechte und Pflichten, in sich und vermag sie im Einzelfall aus sich heraus zu entfalten. Inhalt und Umfang dieser gebotenen Grundwirkungen bestimmen sich aus der nationalsozialistischen Arbeitslehre und den gesicherten Ergebnissen der nationalsozialistischen Arbeitslehre und den gesicherten Ergebnissen der nationalsozialistischen Arbeitspolitik. Rechtlicher Ausdruck für diese umfassende Wirkungskraft sind die Treue- und Fürsorgepflicht des Unternehmers und die Treuepflicht des Gefolgsmannes als die beiderseitigen Grundpflichten schlechthin.
4. Aus dem Urteil des Reichsarbeitsgericht vom 19. 1. 1938, R A G E 19, 281 = ARS 33, 172 = Z A K D R 1938, 670 (671): Die aus der Gemeinschaftsbindung je nach der Lage des Einzelfalls hervorgehenden Beziehungen und Folgerungen können demnach nicht ohne Rückwirkung auf die schuldrechtl. Gestaltung und damit auf den Inhalt des Arbeitsvertrags bleiben. Allerdings kann diese Rückwirkung nicht in dem Sinne anerkannt werden, daß schlechthin jede aus der Treu- und Fürsorgepflicht des Betriebsführers denkbar abzuleitende, der Verwirklichung der Betriebsgemeinschaft förderliche Einzelpflicht ohne weiteres für das jeweilige Gefolgschaftsmitglied einen entsprechenden vertragl. Anspruch erzeugen könnte. Das hat die Rspr. des R A G bisher abgelehnt, und daran ist festzuhalten. Anders ist es aber, wenn aus dem Gemeinschaftsleben im einzelnen Betrieb, aus der darin wurzelnden gegenseitigen Treu- und Fürsorgepflicht des Betriebsführers bereits konkrete Ordnungen erwachsen sind, mögen sie sich auch nur in einer feststehenden tatsächl. Handhabung äußern, ohne die Gestalt bestimmter Einrichtungen und geschriebener Satzungen angenommen zu haben. Wenn hiernach unter gewissen Voraussetzungen der Gefolgschaft oder Teilen von ihr regelmäßig bestimmte Leistungen gewährt werden, so ergibt sich daraus für die einzelnen Gefolgschaftsmitglieder das zum Inhalt des Arbeitsverhältnisses gewordene Recht, unter denselben Voraussetzungen in derselben Weise behandelt zu werden wie die übrigen auch.
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Diese Berechtigung bedarf keiner Herleitung aus besonderen ausdrücklich oder stillschweigend getroffenen Vereinbarungen. Sie wird infolge jener Rückwirkung zum rechtsnotwendigen Inhalt des Arbeitsvertrags und erzeugt so einen klagbaren Anspruch auf die dem Gebot der Gleichbehandlung entsprechende Leistung. Der vom B G zum Rechtsgrund für den Anspruch des Kl. erklärte Brauch ist demnach nichts anderes als eine solche auf Grund tatsächl. Handhabung aus der Betriebsgemeinschaft bei der Bekl. für die in Frage kommenden Angestellten erwachsene Ordnung, die kraft gesetzl. Regelung des Arbeitsverhältnisses nach neuem Arbeitsrecht einen privatrechtl. Leistungsanspruch bedingt.
5. A u s z u g aus d e m Urteil des R A G v o m 18. 12. 1940, A R S 41, 55 (60): Zwar kann die Treu- und Fürsorgepflicht des Führers des Betriebes (§ 2 Abs. 2 A O G , § 2 Abs. 2 A O G ö V ) nicht schon als solche die Quelle für besondere Ansprüche des Gefolgsmannes sein, sondern erst in Verknüpfung mit bestimmten Notwendigkeiten, welche sich aus der konkreten Gestaltung des Arbeitsverhältnisses ergeben. Dieses Notwendigkeiten sind für das Arbeitsverhältnis eines angestellten Kraftwagenfahrers oben aufgezeigt worden. Ein solcher bedarf des Schutzes vor übermäßiger Belastung mit Ersatzansprüchen, denen er infolge von in seinem Beruf praktisch unvermeidbaren leichten Versehen ausgesetzt ist. Den Schutz kann ihm der Arbeitgeber nicht verweigern, weil Schadenfälle dieser Art eine seinem Betriebe eigentümliche Gefahr bilden, deren Risiko er unmöglich auf seinen Angestellten allein abwälzen kann. Beides zusammen muß vom Standpunkte des gegenseitigen Treueverhältnisses aus notwendig zu einem Ausgleiche und zu einer Durchbrechung des in § 276 B G B enthaltenen Haftungsgrundsatzes führen. Die höchstrichterliche Rechtsprechung hat im Grunde auch schon längst der Auffassung zugeneigt, daß eine Einschränkung der Haftung des angestellten Kraftwagenfahrers bei nur leichter Fahrlässigkeit geboten ist. u n d aus der A n m e r k u n g von A. Hueck
(S. 65, 66):
Daß demgemäß in solchen Fällen dem Gefolgsmann nicht die Pflicht zum Ersatz des vollen Schadens auferlegt werden kann, ist, wie erwähnt in der Rechtsprechung schon oft betont worden. Die rechtliche Begründung war aber nicht immer ausreichend . . . Es ist deshalb sehr zu begrüßen, daß sich das vorstehende Urteil von derartigen Konstruktionen frei macht und die Entscheidung auf den wirklichen Grund zurückführt, nämlich auf die Treue- und Fürsorgepflicht des Unternehmers, wie sie sich aus § 2 Abs. 2 A O G ergibt . . . Dieser Herleitung der Entscheidung aus der Treue- und Fürsorgepflicht kann nur zugestimmt werden. Sie steht ganz im Einklang mit der hier immer wieder betonten grundsätzlichen Bedeutung des § 2 Abs. 2 A O G . Nicht ganz verständ-
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lieh ist allerdings, warum das RAG auch jetzt wieder glaubt betonen zu müssen, daß die Treue- und Fürsorgepflicht des Führers des Betriebes (§ 2 Abs. 2 AOG) nicht schon als solche die Quelle für besondere Ansprüche des Gefolgsmannes sein könne, sondern erst in Verknüpfung mit bestimmten Notwendigkeiten, die sich aus der konkreten Gestaltung des Arbeitsverhältnisses ergeben. Mir scheint das ein Spiel mit Worten . . .
6. Aus den Betriebs-Ordnungen der Farbwerke Hoechst, herausgege-
ben von Wolfgang
Hromadka,
Die Arbeitsordnung im Wandel der Zeit
(1979), S. 109, 123, 147.
a) Arbeits-Ordnung
1928:
§ 3 Austritt Das Arbeitsverhältnis kann im Laufe eines jeden Arbeitstages für den Schluß jeder Arbeitsschicht von dem Arbeitgeber und dem Arbeitnehmer gekündigt werden.
b) Betriebs-Ordnung
1934:
§ 12 Beendigung des Arbeitsverhältnisses Die schwerste Entscheidung für Führer und Vertrauensrat ist die Kündigung eines Arbeitskameraden der Betriebsgemeinschaft. Wird das Ausscheiden eines Betriebsangehörigen nötig, so gilt folgendes: 1. Das Arbeitsverhältnis kann bei Arbeitern im ersten Dienstjahr beiderseits zum Schluß der Arbeitsschicht gekündigt werden. Nach Vollendung des ersten Dienstjahres betragen die Kündigungsfristen im Falle der Auflösung des Arbeitsverhältnisses für alle Arbeiter und Arbeiterinnen, die 1 Jahr ununterbrochen im Betrieb tätig sind, 1 Woche, die 5 Jahr ununterbrochen im Betrieb tätig sind, 2 Wochen, die 10 Jahre ununterbrochen im Betrieb tätig sind, 4 Wochen.
c) Betriebs-Ordnung
1939:
21. Ausscheiden aus der Betriebsgemeinschaft Der Sinn unserer Betriebsgemeinschaft ist die Arbeit am deutschen Volke, ein jeder an seinem Arbeitsplatz. Die schwerste Entscheidung für den Führer des Betriebes ist daher die Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines Arbeitskameraden der Betriebsgemeinschaft. Bei Gefolgsmännern im Lohnverhältnis kann das Arbeitsverhältnis nach Ablauf der vierwöchigen Probezeit (Kündigung während der Probezeit s. Abs. 4) bis zur Beendigung einer ununterbrochenen Dienstzeit von 5 Jahren beiderseits mit einer vierzehntägigen Frist gekündigt werden.
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Die Kündigungsfrist beträgt: nach 5jähriger ununterbrochener Betriebszugehörigkeit 3 Wochen, nach lOjähriger ununterbrochener Betriebszugehörigkeit 4 Wochen, nach 25jähriger ununterbrochener Betriebszugehörigkeit 6 Wochen, wobei der Tag der Kündigung mitrechnet. Bei Gefolgsmännern im Gehaltsverhältnis gelten die gesetzlichen Kündigungsfristen (Kündigungsschutzgesetz), soweit nicht durch Tarifordnung oder Vertrag eine andere zulässige Regelung getroffen w o r d e n ist.
7. Aus dem Beschluß des Großen Senats des BAG vom 28. 1. 1955, BAGE 1, 291 = AP N r . 1 zu Art. 9 G G Arbeitskampf = N J W 1955, 882. (unter I 6 der Gründe:) Ein Streik der Arbeitnehmer unter Einhaltung der Kündigungsfristen ist weitgehend praktisch unmöglich. Es handelt sich nicht nur um die gesetzl. untereinander ungleichen Kündigungsfristen. Auch tarifvertragl. bestehen verschiedene Kündigungsfristen, die ihrerseits auch nach Ablauf des T V kraft N a c h w i r k u n g weiter gelten. Beim Streik ist aber der einheitl. Streikbeginn allein taktisch richtig u n d geradezu lebenswichtig f ü r den Erfolg. Die Einhaltung von Kündigungsfristen u n d namentl. von unterschiedl. Kündigungsfristen macht das Schwert des Streiks stumpf. D e n Angestellten w ü r d e angesichts der langen Kündigungsfristen die Streikfreiheit praktisch überhaupt genommen werden. Wenn Nikiscb (Gutachten S. 19) gerade diese individualrechtl. Fristen als kampfretardierend begrüßt, so ist zu betonen, daß es nicht die Aufgabe einer freiheitl. sozialen Rechtsordnung sein kann, mit diesen Mitteln Arbeitskämpfe zu verhindern, die als solche durchgeführt werden können. Überdies hat die Praxis gezeigt, daß ein solcher Versuch regelmäßig fehlgeschlagen ist. Man kann aber auch nicht einwenden, es möge dann eben ohne Kündigung und ohne Einhaltung der Fristen gestreikt werden, aber dann müßten auch die entspr. rechtl. Konsequenzen in Kauf genommen werden. Denn damit legt man generell und regelmäßig dem kollektiv legitimen Streik den Makel der Vertragswidrigkeit u n d Rechtswidrigkeit mit den entspr. Rechtsfolgen auf. Man soll aber den legitimen Streik nicht dadurch diffamieren, daß man ihn als vertragswidrig in der Ebene des Arbeitsvertrages kennzeichnet u n d ihn damit auf eine Stufe mit dem rechtswidrigen schuldhaften Individualverhalten des Arbeitnehmers durch Bummeln, unberechtigtes Krankfeiern u n d blauen Montag stellt.
ili
Allons enfants de la patrie Bisher erschienen: Band 1: W. Schuller Griechische Geschichte 1980. 252 Seiten Elisabeth Fehrenbach
Vom Ancien Régime zum Wiener Kongreß 249 Seiten, 1 Karte, brosch. DM 28,Best.-Nr. 486-49751 geb. DM56,Best.-Nr. 486-48871
Das ist Band 12 der Reihe:
Oldenbourg Grundriß der Geschichte Die unersetzliche Grundlage für Historiker in Wissenschaft und Unterricht, mit • zusammenfassender Darstellung des heutigen Bildes der Epoche, • ausführlichem Bericht über Stand und Probleme der Forschung, • ausgewählter, thematisch gegliederter Bibliographie.
Oldenbourg
Band 2: J. Bleicken Geschichte der römischen Republik 1980. 258 Seiten Band 9: E. Meuthen Das 15. Jahrhundert 1980. 243 Seiten Band 10: H. Lutz Reformation und Gegenreformation 1979. 250 Seiten Band 17: K. Hildebrand Das Dritte Reich 2. Auflage 1980. 252 Seiten Band 18. A. Hillgruber Europa in der Weltpolitik der Nachkriegszeit 1945 - 1963 2. ergänzte Auflage 1981. 188 Seiten Alle Bände kosten gebunden DM 56,— broschiert DM 2 8 , -
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