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German Pages 195 Year 1985
Schriftenreihe zur Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung
Band 58
Rechtsgeschichte und Rechtssoziologie Zum Verhältnis von Recht, Kriminalität und Gesellschaft in historischer Perspektive
Herausgegeben von
Martin Killias und Manfred Rehbinder
Duncker & Humblot · Berlin
Rechtsgeschichte und Rechtssoziologie
Schriftenreihe zur Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung Herausgegeben von Ernst E. Hirsch t und Manfred Rehhinder
Band 58
Ernst E. Hirsch (1902-1985) zum Gedächtnis
Rechtsgeschichte und Rechtssoziologie Zum Verhältnis von Recht, Kriminalität und Gesellschaft in historischer Perspektive
Herausgegeben von
Martin Killias und Manfred Rehbinder
DUNCKER & HUMBLOT / BERLIN
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Rechtsgeschichte und Rechtssoziologie: zum Verhältnis von Recht, Kriminalität u. Gesellschaft in histor. Sicht / hrsg. von Martin Killias u. Manfred Rehbinder. Berlin: Duncker und Humblot, 1985. (Schriftenreihe zur Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung; Bd. 58) ISBN 3-428-05938-7 NE: Killias, Martin [Hrsg.]; GT
Alle Rechte vorbehalten
© 1985 Duncker & Humblot GmbH, Berlln n
Satz: G. Schubert, Berlin 65; Druck: A. Sayftaerth - E. L. Krohn, Berlln 61 Printed in Germany ISBN 3-428-05938-7
INHALT Einleitung der Herausgeber ...........................................
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1. Peter Landau: Rechtsgeschichte und Soziologie .....................
11
2. Karl S. Bader: Aufgaben, Methoden und Grenzen einer historischen
Kriminologie .......................................................
3. David A. Funk: Historische Rechtstatsachenforschung in Theorie und
Praxis .............................................................
4. Beverly A. Smith: Neuere amerikanische Forschungen zur Geschichte
von Kriminalität und Strafrechtspflege .............................
5. Morton J. Horwitz: Die konservative Tradition in der Literatur zur
amerikanischen Rechtsgeschichte ...................................
29 43 59 99
6. Bruce C. Johnson: Neue Probleme und alte Theorien. Die gegenwär-
tige historische Erforschung von Kriminalität und Recht in den USA 111
Erkenntnistheoretisches zum Verhältnis von Rechtssoziologie und Rechtsgeschichte ............................... 133
7. Manfred Rehbinder:
8. Martin Killias: Zur Rolle der Geschichte in Rechtssoziologie und Kri-
minologie: Historizismus (wieder) ante portas? ...................... 147
9. Eric Monkkonen: Zur Verwendung quantitativer Methoden bei der
historischen Analyse von Kriminalität und Strafrechtspflege ........ 169
EINLEITUNG DER HERAUSGEBER Die Rechtssoziologie hatte von jeher eine besondere Affinität zur Geschichte im allgemeinen und zur Rechtsgeschichte im besonderen. Es ist daher erstaunlich, daß die Frage des Verhältnisses dieser Disziplinen zueinander nicht mehr Interesse gefunden hat. Sieht man von einem Aufsatz Haffs aus den zwanziger Jahren und einem solchen Baders aus den fünfziger Jahren abt, so scheinen die weitaus meisten Beiträge zu diesem Thema neueren Datums zu sein. Es gab zwar stets soziologisch inspirierte Beiträge zur Rechtsgeschichte - Radbruch/Gwinners "Geschichte des Verbrechens"! steht hierfür als Beispiel - sowie historisch informierte Arbeiten zu rechtssoziologischen Fragen. Welcher Stellenwert der Geschichte im Rahmen rechtssoziologischer oder kriminologischer Fragestellungen jedoch zukommt, welche Probleme sich bei dieser Kooperation ergeben und welche Methoden zur Verfügung stehen, bildete indessen nur selten Gegenstand wissenschaftlicher Abhandlungen. Auf diesem Hintergrund mag es ebenso legitim wie gewagt erscheinen, einen Sammelband zu diesem Thema herauszugeben. Vor allem ergeben sich dabei mannigfache Abgrenzungsprobleme, die sich nicht ohne ein gewisses Maß an Willkür entscheiden lassen, da das hier angeschnittene Feld noch kaum durch eine Wissenschaftstradition strukturiert ist. Im Interesse der Transparenz seien daher dem Leser im folgenden die Kriterien mitgeteilt, von welchem sich die Herausgeber bei der Auswahl der hier veröffentlichten Texte haben leiten lassen. Als Ausgangspunkt galt die Regel, daß nur überblicksreferate über bestehende Entwicklungen sowie solche Beiträge aufgenommen werden sollten, die die Möglichkeiten und Probleme zum Gegenstand haben, die sich bei dieser Art interdisziplinärer Arbeit ergeben. Ausgeschlossen waren damit Beiträge, denen quasi kein metatheoretischer Charak1 Karl Haff: Rechtsgeschichte und Soziologie, Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 22 (1929), S. 1-15; Karl S. Bader: Aufgaben, Methoden und Grenzen einer historischen Kriminologie, Schweiz. Zeitschrift für Strafrecht 71 (1956) 17-31 (in diesem Band). 2 G. Radbruch/H. Gwinner: Geschichte des Verbrechens. Versuch einer historischen Kriminologie, Stuttgart 1951; vgl. in diesem Zusammenhang auch G. Radbruch: Elegantiae iuris criminalis. Vierzehn Studien zur Geschichte des Strafrechts, 2. Aufl. Basel 1950.
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Einleitung der Herausgeber
ter anhaftet, d. h. solche, die irgendein Thema unter zugleich rechtshistorischen und rechtssoziologisch-kriminologischen Gesichtspunkten behandeln. Es versteht sich, daß angesichts der Fülle derartiger Arbeiten eine faire Auswahl kaum mehr vorgenommen werden könnte. Zweitens war dem Umstand Rechnung zu tragen, daß die deutschsprachige Rechtsgeschichte seit jeher mehr als nur eine bloße Geschichte rechtlicher Einrichtungen war, sondern stets - und dies nicht nur bei Radbruch und Bader - die Rechtstatsachen und namentlich das Kriminalitätsgeschehen in ihren Gegenstand einbezogen hat. Was heute in Amerika als "History of crime and criminal justice" auftritt und von der "History of law" klar abgegrenzt wird, kann im Lichte des umfassenderen Verständnisses des Gegenstandsbereichs der Rechtsgeschichte im deutschsprachigen Raum somit nicht unberücksichtigt bleiben. Auf der Linie dieser Tradition liegen im vorliegenden Sammelband die Beiträge von Bader, Smith, Monkkonen und teilweise auch J ohnson und Killias. Schwieriger zu rechtfertigen ist die Beschränkung auf den deutschsprachigen und den amerikanischen Raum, zumal nicht zu verkennen ist, daß in Großbritannien, in den Niederlanden, in Frankreich und anderswo vor allem im Bereiche der Geschichte der Kriminalität und Strafrechtspflege vorbildliche Arbeit geleistet wird. Neben der Unmöglichkeit, bei einer derartigen Ausweitung des geographischen Horizontes und dem vorgegebenen Umfang des vorliegenden Bandes noch eine einigermaßen rationale Auswahl der Beiträge zu treffen, spielte seitens der Herausgeber vor allem die überlegung eine Rolle, daß dank erfreulicher KoordinationsbemühungenS der innereuropäische Austausch eher voranzukommen scheint als die Rezeption amerikanischer Beiträge historischer Provenienz. Wie namentlich der Beitrag Monkkonens deutlich werden läßt, weist die amerikanische Forschung zudem im Bereiche der empirischen Forschungsmethoden einen gewaltigen Vorsprung auf. Die deutschsprachige Forschung hätte bei einer stärkeren Berücksichtigung dieser methodologischen Entwicklungen zweifellos einiges an Präzision und Aussagekraft zu gewinnen. Am Anfang des vorliegenden Bandes stehen zwei deutschsprachige Beiträge, denen angesichts der eingangs festgestellten Vernachlässigung dieses Themas Pioniercharakter zukommt. Weggelassen wird der in S So war das VI. Kriminologische Kolloquium des Europarates, das vom
21.-23. November 1983 in Straßburg stattfand, ausschließlich historischen
Beiträgen zur Kriminalität und Strafrechtspflege gewidmet. Vgl. Conseil de l'Europe (Hg.): La recherche historique sur la criminalite et la justice penale, Strasbourg 1984 (und darin insbesondere R. Roth, Evaluation de l'apport des resultats de la recherche historique a la politique criminelle et a la prevision de son evolution).
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Einleitung der Herausgeber
diesem Zusammenhang zweifellos ebenfalls bemerkenswerte Aufsatz Haffs·, und zwar vor allem, weil er - nicht zuletzt wegen seiner thematischen Nähe zum Beitrag Landaus - neben diesem als teilweise überholt erscheinen müßte. Es folgen ein Überblicksreferat von Funk zur soziologischen Rechtsgeschichte in Amerika im allgemeinen und - aus der Feder von Frau Smith - zur sozialwissenschaftlich angeleiteten Geschichte von Kriminalität und Strafrechtspflege im besonderen. Wegen ihres einführenden Charakters erleichtern beide den Einstieg in die weiteren, mehr kritischen Beiträge zur amerikanischen Forschung. Horwitz und Johnson befassen sich in ihren Aufsätzen mit TheorieDefiziten der amerikanischen Geschichtsschreibung im Bereiche des Rechts, der Kriminalität und der Strafrechtspflege. Daran schließen sich zwei Beiträge der Herausgeber zu erkenntnistheoretischen Fragen bei der Verbindung rechtshistorischer und rechtssoziologischer (bzw. kriminologischer) Perspektiven an. Den Abschluß bildet ein überblick über neuere Entwicklungen im Bereiche der Forschungsmethoden, die in amerikanischen Arbeiten heute Verwendung finden. Die Beiträge von Landau und Bader stellen unveränderte Nachdrucke früherer Veröffentlichungen dar, andere Beiträge wurden überarbeitet (Monkkonen) oder gekürzt (Horwitz)s. Die übrigen wurden eigens für den vorliegenden Band geschrieben. Die englischen Originalfassungen der Beiträge von Funk, Smith, Horwitz, Johnson und Monkkonen wurden von den Herausgebern gemeinsam übersetzt. Zur Widmung dieses Bandes an Ernst E. Hirsch, den Begründer der Schriften reihe zur Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung, siehe den Nachruf in JZ 1985, S. 523 f. Lausanne/Zürich, im Juni 1985 Martin Killias Manfred Rehbinder
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FN 1. Die nachgedruckten Beiträge sind folgenden Fundstellen entnommen: Peter Landau: Rechtsgeschichte und Soziologie, Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 61 (1974) 145-164; Karl-Siegfried Bader (FN 1), nachgedruckt außerdem in Karl S. Bader: Ausgewählte Schriften zur Rechts- und Landesgeschichte, hg. von C.-D. Schott, Bd. I, Sigmaringen 1984, S. 575 ff. Morton J. Horwitz: The Conservative Tradition in the Writing of American Legal History, American Journal of Legal History 17 (1973) 275-283; Eric Monkkonen: The Quantitative Historical Study of Crime and Criminal Justice, in: J. A. Inciardi/C. E. Faupel (ed.), History and Crime, London 1980, S. 53-73.
RECHTSGESCHICHTE UND SOZIOLOGIE Von Peter Landau* Jede Behandlung dieses weitgefaßten Themas1 muß sich zu Beginn darüber im klaren sein, daß die bisherigen Bemühungen um eine Einordnung des Faches "Rechtsgeschichte" in den Kanon wissenschaftlicher Disziplinen beinahe ausschließlich das Verhältnis der Rechtsgeschichte zur allgemeinen Geschichtswissenschaft thematisiert haben. Rechtsgeschichte wurde und wird bis in die Gegenwart vielfach zugleich als Zweig der Rechtswissenschaft und der Geschichtswissenschaft definiert!. Dieses Selbstverständnis der Rechtsgeschichte, dessen historischen Wurzeln hier nicht im einzelnen nachgegangen sei, das sich aber letztlich wohl aus Savignys Begriff von ,geschichtlicher Rechtswissenschaft' ableiten läße, ist während der letzten Jahrzehnte häufig angegriffen wor,.. Peter Landau, geb. 1935 in Berlin, ist seit 1968 ordentlicher Professor für Kirchenrechtsgeschichte, Privatrechtsgeschichte und Bürgerliches Recht in Regensburg. Zu seinen Veröffentlichungen zählen: Die Entstehung des kanonischen Infamiebegriffs, 1966; Jus Patronatus: Studien zur Entwicklung des Patronats im Dekretalenrecht und der Kanonistik des 12. und 13. Jahrhunderts, 1975. 1 Der Aufsatz gibt den etwas erweiterten Text eines Vortrags wieder, den der Verfasser an der Freien Universität Berlin am 11.12. 1973 gehalten hat. Er sieht darin einen Diskussionsbeitrag, in dem sicherlich nur wenige Teilaspekte eines umfassenden Themas angesprochen werden. Die Veröffentlichung dieses Beitrags in der Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 61 (1974), S. 145-164, erfolgte in Erinnerung daran, daß in dieSer Zeitschrift schon 1929 eine Arbeit mit dem gleichen Titel von Karl Haff erschien. 2 So z. B. Heinrich Mitteis: Vom Lebenswert der Rechtsgeschichte, Weimar 1947, S.10 und passim; Hermann Conrad: Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. I, 2. Aufl. Karlsruhe 1962, S. XVII-XVIII. Anders aber neuerdings Dieter Simon, Art. Rechtsgeschichte in: Handlexikon zur Rechtswissenschaft, hg. von Axel Görlitz, München 1972, S. 314: Rechtsgeschichte sei ausschließlich Teil der Geschichtswissenschaft. 3 Die umfangreiche Literatur zu Savigny sei hier nicht zitiert. Das Verhältnis der Position Savignys und der historischen Schule zur Rechtsgeschichte wird besonders klar herausgestellt bei Ernst Wolfgang Böckenförde: Die Historische Rechtsschule und das Problem der Geschichtlichkeit des Rechts (in: Collegium Philosophieum, Studien Joachim Ritter zum 60. Geburtstag) 1965, S. 9-36; außerdem vgl. Franz Wieacker: Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. Göttingen 1967, insbes. S. 357 ff., mit teilweise von Böckenförde abweichender Deutung. Während Böckenförde meint, daß die historische Schule die Gesellschaftlichkeit des Rechts nicht erfaßt habe, wird ihr von Wieacker ein Bewußtsein der Gesellschaftlichkeit der Existenz zugeschrieben
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Peter Landau
den, indem einmal den Rechtshistorikern vorgeworfen wurde, sie würden künstlich eine autonome Sphäre des Rechts aus dem historischen Prozeß isolieren und sie würden zum anderen zur Erfassung und Ordnung des geschichtlichen Quellenmaterials Begriffe moderner Dogmatik verwenden, die den entsprechenden Epochen nicht adäquat seien" z. B. vom germanischen Staat, Trägern der Staatsgewalt im germanischen Staat oder einem "Rechtsstaat" in dieser Zeit sprechen5 , ein Verfahren, dem geschichtswissenschaftlicher Erkenntniswert abzusprechen sei und das allenfalls didaktisch als Mittel der Heranbildung von Juristen zu rechtfertigen sei. Die Verteidigung der Rechtshistoriker gegenüber diesen Angriffen setzte sich hauptsächlich mit der Frage der Zulässigkeit "anachronistischer Begriffsbildung" in der Rechtsgeschichte auseinander, blieb aber in der fundamentalen Frage einer Positionsbestimmung der Rechtsgeschichte zwischen Rechtsdogmatik und Rechtswissenschaft schwankend und unklar. Man begnügte sich z. B. gegenüber dem ersten Vorwurf der Isolierung des Phänomens "Recht" damit, eine Isolierung der Rechtsgeschichte von der allgemeinen Geistes- und Kulturgeschichte abzulehnen8 , ohne daß man auch nur andeutungsweise versuchte, die Rolle des Rechts im historischen Entwicklungsprozeß einer Gesellschaft zu bestimmen. Das Verhältnis der Rechtsgeschichte zur Geschichtswissenschaft ist daher bis zum heutigen Tag von Rechtshistorikern in der Regel apologetisch behandelt worden, in dem Bewußtsein der Notwendigkeit, die eigene wissenschaftliche Existenz rechtfertigen zu müssen. Im ganzen ist dieses Verhältnis ungeklärt, schon deshalb, weil unter Rechtshistorikern methodische Fragen kaum erörtert wurden, so daß noch 1972 in einem rechtshistorischen Lehrbuch festgestellt werden konnte, daß es an einer rechtshistorischen Methodendiskussion fast gänzlich fehle 7 • Unter diesen Voraussetzungen nimmt es nicht wunder, daß die Rechtshistoriker sich in der aktuellen Diskussion über das Verhältnis der Geschichte zu den Sozialwissenschaften, speziell zur Sozio(a. a. 0., S. 358 f.). Zu diesem Problem auch Walter Wilhelm: Zur juristischen Methodenlehre im 19. Jh., Frankfurt 1958, S. 17-36. 4 Otto Brunner: Land und Herrschaft, 4. Aufl. 1959, S. 120. 5 So z. B. Conrad: a. a. 0., S. 19; aber auch Mitteis/Lieberich: Deutsche Rechtsgeschichte, 12. Aufl. München 1971, S. 20: germanischer Staat als "Rechtsstaat" - die Formulierung fehlt noch bei Mitteis in der 1. Aufl. 1949. • Kar! Siegfried Bader: Mehr Geistesgeschichte, in: Historisches Jahrbuch 62-69 (1949), S. 89-108. Ferner ders.: Aufgaben und Methoden des Rechtshistorikers (Recht und Staat 162), Tübingen 1951. In der letzteren Arbeit wird von Bader auch die Nähe rechtshistorischer Tatsachenforschung zur Soziologie betont, ohne allerdings die damit verbundenen methodischen Fragen näher zu erörtern. Hans Thieme: Ideengeschichte und Rechtsgeschichte, in: Festschrift für Julius von Gierke, 1950, 266-289, insbes. S. 275. Thieme verwendet hier allerdings den Begriff "Idee" in einem weiteren Sinn, nach dem er auch Kräfte der Politik und der Wirtschaft umfassen soll. 7 Kar! Kroeschell: Deutsche Rechtsgeschichte Bd. I, Hamburg 1972, S. 208.
Rechtsgeschichte und Soziologie
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logie, überhaupt nicht zu Wort melden und daß auch der von der Rechtsgeschichte bearbeitete Gegenstandsbereich historischer Phänomene in dieser Diskussion praktisch gar nicht berücksichtigt wird. Ich finde dies erstaunlich, da ich meine, daß man manche Thesen über die Differenz geschichtlicher und sozialwissenschaftlicher Erkenntnis am Beispiel rechtsgeschichtlicher Aussagen überprüfen müßte. Die Nichtberücksichtigung der Rechtsgeschichte ist evident etwa in dem Sammelband von Hans-Ulrich Wehler, Geschichte und Soziologie, in dem kein einziger Rechtshistoriker als Autor vertreten oder auch nur zitiert wäre8 • Mit dem Verhältnis von Rechtsgeschichte und Soziologie hat sich nur einmal ein deutscher Rechtshistorikertag, der erste Kongreß dieser Art in Heidelberg 1927 befaßte; das dort zu diesem Thema gehaltene Referat von Kar! Haff ist bisher ganz vereinzelt geblieben. Man muß also völlig unabhängig von vorliegenden Untersuchungen überlegungen zum Verhältnis von Rechtsgeschichte und Soziologie anstellen. Um nun zu dem Thema wenigstens annäherungsweise einige Aussagen zu machen, gehe ich zunächst ohne nähere Prüfung davon aus, daß die Rechtsgeschichte Teil der Geschichtswissenschaft sei. Trifft dies zu, so müßten dieselben Gründe, die häufig für den prinzipiellen Gegensatz sozialwissenschaftlicher und historischer Methode vorgebracht werden, auch für die Rechtsgeschichte Gültigkeit haben. Dieser Gegensatz wird etwa von Theodor Schieder, den ich hier als besonders repräsentativen Vertreter eines prinzipiellen Gegensatzes der beiden Methoden zitieren möchte, vor allem in folgenden Punkten gesehen10 : a) Geschichtswissenschaft habe es mit Vergangenem, Sozialwissenschaft primär mit gegenwärtigen gesellschaftlichen Gebilden zu tun daher sei die Methode der Datengewinnung bei beiden Wissenschaften total verschieden, bei den Sozialwissenschaften z. B. Repräsentativbefragung und Experiment, bei der Geschichtswissenschaft die Kombination fragmentarischer überreste, Daten, der Vergangenheit; b) in den Sozialwissenschaften würden strukturelle Phänomene prinzipiell in der Form von Modellen beschrieben, d. h. Konstruktionen eines ökonomischen oder sozialen Phänomens prinzipiell unabhängig von der 8 Geschichte und Soziologie, hg. von Hans-Ulrich Wehler, Köln 1972. • Karl Haff: Rechtsgeschichte und Soziologie, VSWG 22/1929, S. 1-15. Das Referat geht natürlich vom damaligen Stand der Soziologie in Deutschland aus. Es stellt fest, daß die reine Soziologie mit Rechtsgeschichte nichts zu tun habe - erstaunlich ist, daß hier auch Max Weber als ein solcher Soziologe genannt wird! Die empirische Soziologie könne hingegen Gesetze entwickeln, die der Rechtsgeschichte bei Aufdeckung des Werdens und Vergehens typischer Rechtszustände helfen können. 10 Theodor Schieder: Unterschiede zwischen historischer und sozialwissenschaftlicher Methode, Festschrift Hermann Heimpel Bd. I, Göttingen 1971, S. 1-27 (auch in: Geschichte und Soziologie, 283-304).
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Peter Landau
Wirklichkeit; in der Geschichtswissenschaft würden solche Phänomene durch Typen bestimmt, d. h. Begriffe mit einem auf historische oder regionale Realitäten gerichteten Realitätsbezug; c) Schließlich sei für die Sozialwissenschaften die Generalisierung der an Einzeltatsachen gemachten Beobachtungen absolut dominierende Aufgabe, der Einzelfall sei nur Test für eine allgemeine Einsicht. Demgegenüber sei die Geschichtswissenschaft ,Individualwissenschaft' und müsse stets die Individualitätsstruktur ihrer Objekte im Auge behalten. In dieser Gegenüberstellung steckt bei Schied er noch die alte Trennung in nomothetische und idiographische Wissenschaften im Sinne Windelbands und Rickerts, auch wenn er diese Einteilung insgesamt ablehnt. Soweit Schieder. Ich sehe zunächst davon ab, die Richtigkeit dieser Beschreibung historischer Methodik zu untersuchen, und frage nur, ob diese Kriterien Schieders dem Selbstverständnis der Rechtshistoriker von ihrer Wissenschaft entsprechen. Dieses Selbstverständnis ist keineswegs einheitlich und methodisch auch nicht reflektiert. Ich möchte trotzdem versuchen, drei Positionen des Verständnisses von rechtshistorischer Wissenschaft zu unterscheiden, die sich meiner Ansicht nach im neueren rechtshistorischen Schrifttum nachweisen lassen: 1. Die wohl verbreitetste Position ist diejenige, daß Rechtsgeschichte zum Verständnis der geltenden Rechtsordnung notwendig sei. "Aus dem geschichtlichen Geschehen soll Rechtsgeschichte den Sinngehalt und Zweck bestehender Rechtsformen und Rechtsnormen einsichtig machen und dadurch vor einem überspitzten Dogmatismus und Positivismus bewahrenl l ." Für diesen Ansatz interessiert zumindest programmatisch nicht das vergangene Recht als solches, sondern dieses Recht als Mittel zur Erkenntnis der Gegenwart. Ob diesem programmatischen Anspruch die Arbeit der Rechtshistoriker entspricht, mag man wohl bezweifeln. Er macht die Voraussetzung einer geradlinigen Evolution der Rechtsentwicklung und führt zu einer ausschließlich genetischen Legitimation des rechtshistorischen Unterrichts, was Mayer-Maly zu Recht kritisch hervorgehoben hatl!. Diese Legitimation der Rechtsgeschichte findet man nicht nur in rechtshistorischen Lehrbüchem, sie liegt z. B. auch den Formulierungen der neueren juristischen Prüfungs- und Ausbildungsordnungen zugrunde lS • 11 So Conrad: Deutsche Rechtsgeschichte I, S. XVII, ähnlich z. B. auch Kroeschell, S. 11. Eine genetische Methode der Rechtsgeschichte, die den Entwicklungsgedanken betont, wird auch von Ulrich v. Lübtow: Reflexionen über Sein und Werden in der Rechtsgeschichte, Berlin 1954, gefordert, insbes.
S. 33 ff.
1l! Mayer-Maly: Juristenzeitung 1971, S. 1. Daß ein solches Entwicklungsdenken "im Kern ungeschichtlich" sei, indem man der Geschichte einen Maßstab zu entnehmen versuche, wird auch von Böckenförde, a. a. 0., S. 16, eingewandt.
Rechtsgeschichte und Soziologie
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In der rechtsgeschichtlichen Literatur findet man in der Regel keine Begründung für den programmatisch vorausgesetzten Zusammenhang zwischen dem Verständnis des geschichtlichen Geschehens und dem juristischen Verständnis von Sinngehalt und Zweck des geltenden Rechts. Eine erkenntnistheoretische Begründung könnte diese Position in der von Gadamer entwickelten hermeneutischen Theorie finden, nach der historisches Verstehen nur mit Hilfe eines wirkungsgeschichtlichen Bewußtseins möglich wäre, das die historische überlieferung mit der Gegenwart vermitteW\ und in der im übrigen eine strenge Trennung zwischen juristisch-dogmatischer und historischer Auslegung von Rechtstexten überhaupt abgelehnt wird15 • Jedoch ist gegen diese Position von Wieacker in der Auseinandersetzung mit Gadamer mit Recht eingewandt worden, daß man dogmatisches und historisches Verstehen generell trennen müsse18• Im übrigen hat Wieacker ebenfalls bereits darauf hingewiesen, daß die Wirkungsgeschichte einer Rechtsnorm keineswegs die historische Erkenntnis der ursprünglichen Norm vermitteln müsse, sondern daß vielmehr der ursprüngliche Text vom Historiker unabhängig von der Wirkungsgeschichte verstanden werden müsse; die Wirkungsgeschichte könne dann selbst ein Gegenstand historischen Interesses und historischer Forschung sein 17• Eine Begrenzung des rechtshistorischen Interesses auf die bis in die Gegenwart wirkenden Rechtsinstitute führt konsequent dazu, daß man aus dem Forschungsprogramm der Rechtsgeschichte als ,Rechtsantiquitäten oder -raritäten' dasjenige ausschließen will, was ,zu fremdartig' oder ,zu altersschwach' ist18 • Bei dieser proble13 z. B. Bayerische Justizausbildungs- und Prüfungsordnung, § 5: "Die erste juristische Staatsprüfung erstreckt sich auf die Pflichtfächer und eine von dem Bewerber zu bestimmende Wahlfachgruppe mit ihren geschichtlichen ... Bezügen." Ähnlich auch die Formulierung in § 13, Ziff. 2. 14 Vgl. Gadamer: Wahrheit und Methode, 2. Aufl. Tübingen 1965, S. 307 ff., insbes. S. 311 und S. 323. Eine kritische Auseinandersetzung mit Gadamers Position kann hier nicht geleistet werden und ist im übrigen für den Bereich der Rechtsgeschichte bereits durch Franz Wieacker: Notizen zur rechtshistorischen Hermeneutik, Nachrichten der Akademie Göttingen, Phil.-hist. Kl. 1963, S. 1-22, und Emilio Betti: L'ermeneutica storica e la storicita dell'intendere, Annali della Facolta di Giurisprudenza di Bari 16 (1961), S. 1-28, vorgenommen worden. 15 Vgl. Gadamer op. cit. p. 310: Gleichheit der hermeneutischen Situation für Juristen und Rechtshistoriker, insofern die Vergangenheit in der Kontinuität zur Gegenwart gesehen wird. 18 Wieacker, Notizen, S. 13: Auch bei geltenden Gesetzen müsse man historisches Verstehen und Rechtsauslegung im Sinne der geltenden Rechtsordnung voneinander trennen. 17 Wieacker, Notizen, S. 9: Wieacker betont in diesem Zusammenhang ausdrücklich, daß auch Rechtsnormen ohne Kontinuität zur Gegenwart - d. h. mit unterbrochener oder überhaupt nicht existenter "Wirkungsgeschichte" Gegenstand legitimen rechtshistorischen Interesses sein könnten. 18 SO Z. B. Walter Schönfeld: Vom Problem der Rechtsgeschichte (Schriften der Königsberger Gelehrten Gesellschaft, Geisteswiss. Kl., 4. Jahr, H. 6, Halle 1927, S. 358). Schönfeld entwickelt diese These aufgrund der Voraussetzung,
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Peter Landau
matischen Selbstbeschränkung wird übersehen, daß gerade das Fremdartige und Abgestorbene uns unter Umständen die Erkenntnis der spezifischen Situiertheit der Gegenwart vermitteln kann, so wenn z. B. Rechtsordnungen ohne Gesetzgebung untersucht werdenl8 • Nur eine Rechtsgeschichte, die sich vom Vorverständnis der Gegenwart weitgehend befreit hat, kann auch als genuine historische Erkenntnis Gegenwartsbedeutung haben und in einem begrenzten Umfang zur Erkenntnis gegenwärtigen Rechts beitragen. Die Emanzipation der Rechtsgeschichte als einer historischen Wissenschaft setzt weiter auch voraus, daß die Rechtshistoriker zur Verwendung von Begriffen gegenwärtiger Dogmatik bei der Explikation historischer Sachverhalte eine prinzipiell kritische Haltung bezieht. Als richtigen Gesichtspunkt der Theorie von der Gebundenheit des Rechtshistorikers an Begriffe gegenwärtiger Dogmatik wird man mit Wieacker nur aufrechterhalten können, daß sich der Rechtshistoriker teilweise mit Erfolg der Begriffe gegenwärtigen Rechts als heuristischer Modelle bedienen kann!o. Daneben aber ist es möglich und notwendig, bei der Formulierung rechtshistorischer Erkenntnisse auch Begriffe zu verwenden, die sich nicht im gegenwärtigen Recht nachweisen lassen - es besteht allenfalls eine hermeneutische Bindung des Rechtshistorikers an die gegenwärtige Sprache, nicht an das gegenwärtige Recht. Die These vom unlösbaren Zusammenhang der Rechtsgeschichte mit der gegenwärtigen Rechtsordnung kann daher weder durch den Nachweis geradliniger Evolution noch durch die Benutzung heutiger Rechtsbegriffe als Erkenntniswerkzeuge gerechtfertigt werden, sondern nur damit, daß die Rechtshistoriker wie der Historiker überhaupt in der hermeneutischen Situation der Gegenwart steht. Die Bedeutung der Rechtsgeschichte für das Recht der Gegenwart scheint mir nicht größer oder geringer als die der Geschichte überhaupt für den heute lebenden Menschen zu sein. Eine Rechtfertigung des Erkenntnisinteresses für die Rechtsgeschichte mit der Begründung, daß auf der daß Rechtsgeschichte stets "Einleitungsgeschichte in die Gegenwart" sein müsse und die Fruchtbarkeit der Rechtsgeschichte durch die Dogmatik im Verein mit der Politik bestimmt werde. Unter Berufung auf Schönfeld auch Adolf Laufs: Rechtsentwicklungen in Deutschland, Berlin/New York 1973, S. X, für Ausschaltung der "Rechtsantiquitäten". 11 Bei Niklas Luhmann: Rechtssoziologie, Bd. 1, Reinbek 1972, S. 166 f.: Recht vorneuzeitlicher Hochkulturen. !O Wieacker: Notizen, S. 14. Weitergehend im Sinne der Benutzung von Begriffen gegenwärtiger Dogmatik zur Interpretation Emilio Betti: Moderne dogmatische Begriffsbildung in der Rechts- und Kulturgeschichte, Studium Generale 12 (1959), S. 87-96. Betti geht dabei davon aus, daß der spätere Jurist von der hohen Warte seines umfassenden Geisteshorizonts in der Lage sei, "die geschichtliche Entwicklung zu beherrschen, sowohl des positiven Rechts wie der Dogmen und des juristischen Denkens überhaupt" - in dieser Formulierung zeigt sich deutlich, daß die Voraussetzung evolutionärer Kontinuität bei der Rechtfertigung der Verwendbarkeit des modernen Begriffsapparats für die Rechtsgeschichte gemacht wird.
Rechtsgeschichte und Soziologie
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Ebene des Rechts im heutigen Zustand die früheren Rechtsformen aufbewahrt seien, bedeutet letztlich eine unbegründbare Vorentscheidung, die in ihrer Konsequenz die Rechtsgeschichte von der Geschichtswissenschaft trennen muß, in der auch das unwiderruflich Vergangene zum Forschungsgegenstand gemacht werden muß. Richtig bleibt jedoch an der These von der Zusammengehörigkeit von Rechtsgeschichte und Auslegung geltenden Rechts, daß sowohl eine umfassende sozialwissenschaftliche Analyse der gegenwärtigen Rechtsordnung als auch juristische Auslegung und Dogmatik ohne eine partielle rechtshistorische Orientierung nicht möglich ist, da die zeitliche Dimension der geltenden Rechtsnorm nicht eliminiert werden kann. Manche Ergebnisse der rechtsgeschichtlichen Forschung können somit zur Erkenntnis der Rechtsgegenwart beitragen; jedoch scheint mir dieser Gegenwartsbezug beim Rechtshistoriker nicht prinzipiell in größerem Umfang als bei Historikern anderer Teilsysteme der Gesellschaft gegeben zu sein. Daß der Rechtshistoriker aber überhaupt zur Erkenntnis der Rechtsgegenwart etwas beitragen kann - das macht die These vom ausschließlichen Vergangenheitsbezug des Historikers für den Gegenstandsbereich des Rechts problematisch. 2. Eine zweite Position des Selbstverständnisses der Rechtsgeschichte ist in den letzten Jahren insbesondere von Mayer-Maly in einem Aufsatz mit dem programmatischen Titel "Die Wiederkehr von Rechtsfiguren" vertreten worden. Er vertritt die These, daß es in der Rechtsgeschichte eine Permanenz der Wiederkehr von Strukturen gebe, nämlich bestimmten Modellen rechtlicher Regelung. Dies beruhe auf der Begrenzung des juristischen Inventariums, das immer wieder den Rückgrüf auf längst ausgebildete Rechtsfiguren unvermeidlich mache!l. Von diesem Standpunkt aus bekämpft er die Vorstellung, daß es in der Rechtsgeschichte eine geradlinige Evolution gebe. Rechtsgeschichte wird aus seiner Sicht zu einer Sammlung von in der Wirklichkeit erprobten Modellen, die ein Kapital an Information und Erfahrung vermitteln könnten!!. Zweifellos vermag diese Sicht der Rechtsgeschichte die Gegenwartsbedeutung rechtshistorischer Kenntnisse klarer zu begründen, als dies bei der vorher erwähnten genetisch-evolutionären Sicht der Fall ist. Kritisch muß zu Mayer-Malys These jedoch bemerkt werden, daß bei ihr die geschichtliche Dimension der Rechtsgeschichte völlig eliminiert wird. In Mayer-Malys Aufsatz ist diese Verdrängung der Geschichte aus der Rechtsgeschichte in der Formulierung greifbar, daß es im Recht nur selten wirklich Vergangenes gebe und daß die Figuren, 21 Mayer-Maly, a. a. 0., JZ 1971, S.3. Ähnlich im Ergebnis schon Wieacker: Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 426 f., der von der großen, aber begrenzten Typenzahl von Institutionen, Rechtsproblemen und Problemlösungen spricht. !! Mayer-Maly, S. 3.
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Peter Landau
Kategorien und Instrumente des Rechts mehr neben- als nacheinander stünden 23 • Rechtsgeschichte als Sammlung von Modellen läßt sich von Rechtsvergleichung nicht mehr methodisch unterscheiden. Offenbar wird diese Selbstbestimmung der Rechtsgeschichte keinem der Kriterien gerecht, die Schieder für die Geschichtswissenschaft genannt hat: sie will sich nicht mit Vergangenem beschäftigen, sie isoliert ihre Rechtsmodelle von der historischen Wirklichkeit; sie versteht sich nicht als Individualwissenschaft, sondern generalisiert. Trotzdem wird man nicht sagen können, daß dieses Selbstverständnis von Rechtsgeschichte die Rechtsentwicklung völlig verfehlt - denn in der Tat gibt es eine Wiederkehr von Rechtsfiguren trotz aller Singularität der Epochen, wie man vor allem an den großen Rezeptionsvorgängen der Rechtsgeschichte ablesen kann. Darüber hinaus wird der Rechtshistoriker aber auch bei unterschiedlichen Rechtsfiguren die Frage stellen müssen, ob eine Rechtsordnung ,funktionale Äquivalente' zu anderen Rechtsordnungen enthält24 - ein bekanntes Beispiel hierfür ist die Formulierung von Mitteis, daß das Lehnrecht das Verwaltungsrecht des Mittelalters gewesen sei25 • Ich möchte dazu meinen, daß Mayer-Maly eine Dimension der Rechtsgeschichte als Geschehensablauf zutreffend beschreibt. Wenn dieser methodische Ansatz völlig konträr zu den Schiederschen Kriterien der Geschichtswissenschaft ist, so beweist dies die Unangemessenheit der Kriterien für die rechtsgeschichtliche Forschung. Dieses Ergebnis wäre festzuhalten, auch wenn man die Thesen Mayer-Malys nicht für geeignet hält, um ein ausreichendes Selbstverständnis der Rechtsgeschichte zu begründen - es handelt sich um eine verkürzte, aber um keine völlig falsche Perspektive. Verkürzt ist die Perspektive Mayer-Malys nicht nur deshalb, weil sie die historischen Bedingungen der Rechtsinstitute weitgehend ausklammert, sondern auch darin, daß die Determiniertheit des Rechts durch soziale Faktoren dabei nicht berücksichtigt wird. Mayer-Maly beschreibt das Entstehen eines Rechtsinstituts als "wertende Auswahl aus dem begrenzten Vorrat juristischer Instrumentarien"to. Diese Bestimmung isoliert den Rechtsbereich vom gesamten sozialen Kontext - sie übersieht die Grenzen der subjektiven Entscheidungsmöglichkeiten bei Rechtsschöpfung und Rechtsfortbildung. Wir können somit die Beobachtung machen, daß die Isolierung der Rechtsgeschichte vom realhistori23 Mayer-Maly, a. a. O. Dagegen vgl. z. B. auch Luhmann: Rechtssoziologie I, S. 146: gerade die Unterschiedlichkeiten der älteren Rechtsordnungen seien herauszustellen. 24 Zum Begrüf der funktionalen Äquivalente vgl. Hans-Ulrich Wehler: Einleitung zu dem Sammelband "Geschichte und Soziologie", S. 24. !5 Heinrich Mitteis: Der Staat des hohen Mittelalters, 8. Auf!. Weimar 1968, S.19. 28 Mayer-Maly, S. 3.
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schen Prozeß sie auch von sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen und Erklärungsmöglichkeiten isolieren muß. Wenn diese Beobachtung zutrifft, so kann uns gerade die Unzulänglichkeit dieser "Modelltheorie" auf die enge Zusammengehörigkeit von Geschichte und Sozialwissenschaften verweisen. 3. Neben der Evolutionstheorie und der Modelltheorie könnte man ein drittes Selbstverständnis der Rechtsgeschichte beschreiben, das ich vereinfacht als Typentheorie bezeichnen möchte27 • Danach wird weder eine geradlinige Evolution des Rechts vorausgesetzt, noch werden Rechtsordnungen als jederzeit verfügbare Modelle gesehen. Vielmehr werden hier Rechtsordnungen als Teilgebilde innerhalb gesellschaftlicher Strukturen verstanden. Der Unterschied zur Modelltheorie liegt darin, daß ein Rechtsinstitut nicht als von den historischen außerrechtlichen Voraussetzungen ablösbares Gedankengebilde verstanden wird, sondern daß es im Rahmen der gesellschaftlichen Struktur einer bestimmten Epoche zu verstehen ist. Die in der Rechtsgeschichte erforschten Rechtsordnungen werden auch nicht vom gegenwärtigen Recht aus verstanden, sondern im Rahmen der gesellschaftlichen Bedingungen und Denkstrukturen ihrer Zeit. Solche Typenbegriffe werden häufig in der Rechtsgeschichte ganz unreflektiert verwendet - als Beispiele seien etwa genannt das Aktionensystem, das Lehnswesen, das Eigenkirchenwesen. Diese Begriffe sind von den rechtshistorischen Autoren von vornherein so gebildet, daß sie nicht wie ,Modelle' aus dem historischen Kontext gelöst und generalisiert werden können. Sie sind jedoch wesentlich für gesellschaftliche Strukturen längerer Perioden und dienen auch häufig zur Abgrenzung dieser Perioden nach Sachkriterien. Man kann sogar sagen, daß in der Regel rechtshistorische Periodisierungen nach den Orientierungspunkten des Auftretens oder Verschwindens dieser Real27 Von einem Begriff des "Typus" geht auch Thieme, a. a. 0., S. 273 f. aus; allerdings wird von ihm der Begriff des "Typus" zu sehr als etwas kontinuierlich Vorhandenes, jenseits der Geschichte Stehendes verstanden und sogar mit der biologischen Spezies verglichen. Im Ergebnis entspricht dieser Typusbegriff Thiemes wohl weitgehend dem Modellbegriff Mayer-Malys. Er deckt sich jedenfalls nicht mit der hier vorgeschlagen~n Verwendung des Begriffs "Typus". Auch Wieacker: Privatrechtsgeschichte, S. 426 f. spricht von Typen von Institutionen, die er einer begrenzten Zahl von gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Strukturen zuordnet. Der Zusammenhang dieser "Zuordnung" wird von Wieacker jedoch nicht näher untersucht, da er offenbar jede nähere Bestimmung als eine "metaphysische Ausdeutung" begreift, die nicht Aufgabe des Rechtshistorikers sei (so Wieacker, S.427). Ausdrücklich verweist auf "historical types" als Grundlage für eine "theory of law" Paul Vinogradoff: Outlines of Historical Jurisprudence, Introduction, London 1920, S. 160. Mit den Gedanken Vinogradoffs, der in dem genannten Werk eine erstaunliche Kenntnis der damaligen philosophischen und soziologischen wissenschaftstheoretischen Diskussion in Deutschland und Frankreich beweist, haben sich die deutschen Rechtshistoriker offenbar niemals näher auseinandergesetzt.
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typen erfolgen, so daß im Grunde den nach langen Perioden gegliederten Lehrbüchern ein Verständnis von Rechtsgeschichte im Sinne dieser kontingenten Typen zugrunde liegt. Diese Typenbegriffe der Rechtsgeschichte sind keine Besonderheit rechtsgeschichtlicher Forschung, sondern lassen sich auch in anderen Teilgebieten der Sozial- und Kulturgeschichte nachweisen, der Wirtschaftsgeschichte (z. B. Kapitalismus), der Kunstgeschichte (z. B. Manierismus, Barock), der Literaturgeschichte (z. B. Romantik, Naturalismus). Ohne die Bildung solcher Typenbegriffe wäre Rechtsgeschichte als ein spezieller Gegenstand wissenschaftlicher Forschung gar nicht von politischer Geschichte relativ gesondert darzustellen. Rechtsgeschichte ist daher in ganz besonderem Maße ein Teilgebiet der Geschichte, das von der ,longue duree', den Zeiträumen von Jahrhunderten, ausgeht, zum Unterschied etwa zur Geschichte der Ereignisse (,histoire evenementielle')18. Schon die erste große Darstellung rechtsgeschichtlicher Zusammenhänge über Jahrhunderte hinweg, Thomassins ,Ancienne et nouvelle discipltne de l'Eglise', erschienen 1678, teilt den Stoff in große Epochen auf, die erstaunlicherweise selbst in den neuesten Darstellungen dieser Spezialdisziplin der Rechtsgeschichte fast unverändert übernommen wurdenlU. Hier liegen offenbar Sachgesetzlichkeiten für Forschung und Darstellungsweise. Dabei sollte nicht übersehen werden, daß häufig die Epocheneinteilungen in der Rechtsgeschichte und der politischen Geschichte erheblich differieren - das bekannteste Beispiel dürfte sein, daß man in der Regel die "Privatrechtsgeschichte der Neuzeit" um 1100 beginnen läßt. Ob diese Differenzen in Epochenunterscheidungen sich wirklich aus Sachgesetzlichkeiten ergeben, wurde bisher selten untersucht80• Ob auf eine solche, Geschichte in typischen, sich über lange Zeitabläufe erstreckenden Strukturen beschreibende Darstellung noch der Name Geschichtswissenschaft anwendbar ist, müßte allerdings bei Voraussetzung der Gültigkeit der Schiederschen Kriterien zweifelhaft sein. Geschichte ist ja nach Schieder stets Individualwissenschaft, während hier im Rahmen längerer Epochen und räumlich auseinanderliegender Gesellschaften Generalisierungen vorgenommen werden. Inwiefern es Rechtsgeschichte ermöglicht, durch vergleichende Forschung über Epochen hinaus und im Vergleich verschiedener Kulturkreise einheitliche 18 Hierzu vgl. Fernand Brandei: Geschichte und Sozialwissenschaften. Die "longue duree", in: H. U. Wehler: Geschichte und Soziologie, S. 189-213. 18 Thomassin hat 5 Perioden: bis 300 n. Chr., 300--500, 500-800, 800-1000, seit 1000. Neuere Lehrbücher machen im allgemeinen nur um 800 keinen Epocheneinschnitt, so z. B. Hans Erich Feine: Kirchliche Rechtsgeschichte Bd. I, 5. Aufl. 1972. so Eine Kritik an der herkömmlichen Epochenabgrenzung der römischen Rechtsgeschichte bei M. J. Finley: Generalizations in Ancient History, in: Generalization in the Writing of History (ed. L. Gottschalk), Chicago/London 1963, S. 24-26.
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Begriffe für Kulturen zu bilden, die zueinander keine Beziehung hatten und zeitlich auseinanderliegen, kann hier noch unerörtert bleiben, ob es z. B. möglich ist, einen einheitlichen Begriff des Feudalismus für Westeuropa und Japan zu bilden. Otto Hintze hat die Möglichkeit derartiger Generalisierungen entschieden vertreten und an Einzelbeispielen durchgeführt31 • In Frage steht zunächst nicht die epochenunabhängige Generalisierung, sondern die Möglichkeit zur Bildung genereller Begriffe überhaupt für historische Forschung. Eine übernahme der neukantianischen Theorie der Geschichte als Individualwissenschaft oder idiographischer Wissenschaft ist allerdings in jüngerer Zeit für den Bereich der Rechtsgeschichte von Franz Wieacker vertreten worden. Seine Position hat er in der Privatrechtsgeschichte der Neuzeit in folgenden Sätzen zusammengefaßt: "Die Rechtsgeschichte ist, wie jede Geschichtsschreibung, idiographische Wissenschaft, d. h. sie hat es zu tun mit individuellen Vorgängen und Zuständen der geschichtlichen Welt. Solche Individualität kommt aber nicht den Institutionen, Begriffen und Systemen als solchen zu, sondern den äußeren Akten des menschlichen Bewußtseins und Denkens; allein in der unaufhörlichen Verschränkung und Wechselwirkung dieser Akte schreitet die Geschichte des Rechts fortS!." Wieacker begründet damit die weitgehende Eliminierung der Institutionen- und Dogmengeschichte aus seiner Darstellung; die Lehrsätze und Begriffe einer jeweils geltenden Rechtsordnung hätten als solche keine Geschichte, sondern seien nur Wandlungen im Bewußtsein des Dogmatikers und der Rechtsgenossen3l • Würde man mit dieser methodischen Reduktion der Rechtsgeschichte auf Bewußtseinsfakten Ernst machen, so bliebe von der Rechtsgeschichte eine Sammlung vereinzelter Informationen über Gesetzgebungsvorgänge, Gerichtsurteile und Juristenbiographien übrig. Natürlich legt sich auch Wieacker in seinen rechtshistorischen Arbeiten diese methodische Beschränkung nicht generell auf. Da Wieackers Thesen aber nur konsequente Schlußfolgerungen aus der von ihm übernommenen Ansicht von der Geschichtswissenschaft als Realwissenschaft darstellen, so macht die Fragwürdigkeit der Schlußfolgerungen die Unzulänglichkeit der übernommenen Theorie der Geschichtswissenschaft deutlich. Rechtsgeschichte ist ein Gegenstandsbereich der Geschichte, dem diese überkommene Theorie nicht gerecht wird. 31 Otto Hintze: Wesen und Verbreitung des Feudalismus (Sitzungsber. der Preuß. Ak. der Wiss. PhiI.-hist. Kl. XX, 1929; Nachdruck:: Gesammelte Abh., Bd. I Staat und Verfassung, S. 84-119). Kritisch zum allgemeinen Begriff des Feudalismus Otto Brunner: Feudalismus. Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte (in: Brunner, Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, 2. Auf!. 1968, S. 128-159, speziell zu Hintze, S. 157 ff.). 32 Wieack:er: Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. AufI. 1967, S. 17. 38 Wieack:er, a. a. O.
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Das bisherige Ergebnis unserer überlegungen ist also, daß der Bereich der Rechtsgeschichte nicht in dem Sinne von der Sozialwissenschaft abgegrenzt werden kann, wie es eine neukantianisch geprägte Wissenschaftstheorie versucht hat. Als Abgrenzungsmöglichkeit bleibt von den genannten Kriterien eigentlich nur übrig, daß sich die Rechtsgeschichte mit der Vergangenheit, die sozialwissenschaftliche Erforschung des Bereichs Recht mit der Gegenwart befasse - nämlich als Rechtssoziologie. Ob dieses simple Kriterium eine Abgrenzung erlaubt, muß allerdings außerordentlich problematisch bleiben. Setzt es doch als selbstverständlich voraus, daß die Sozialwissenschaft ihr primäres Erkenntnisobjekt in der Gegenwart habe. Dieses Selbstverständnis ist unter Soziologen generell heute umstritten; es sollte für den Bereich der Rechtssoziologie keineswegs ohne weiteres vorausgesetzt werden. Rechtssoziologie kann sehr wohl aus selbständiger Anschauung des historischen Materials wesentliche Gesichtspunkte für soziologische Begriffsbildung gewinnen und ihrerseits können die vom Soziologen idealtypisch entwickelten Begriffe für die rechtshistorische Arbeit äußerst fruchtbar werden. Ich denke in diesem Zusammenhang natürlich an die Rechtssoziologie Max Webers, die in bisher nicht wieder erreichter Könnerschaft die Ergebnisse rechtshistorischer Forschung für die Bildung idealtypischer Begriffe verwandte. Als früheres Beispiel aus dem 19. Jahrhundert ist vor allem Karl Marx mit seinen "Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie" zu nennen, die allerdings zu seiner Zeit nicht publiziert wurden und die rechtsgeschichtliche Forschung nicht beeinflußtenS4 • Wenn dies im Fall Webers dadurch begünstigt wurde, daß der Soziologe seinen wissenschaftlichen Weg mit einer rechtshistorischen Untersuchung begonnen hatte, so zeigt sein Werk doch deutlich, daß hier Erkenntnismöglichkeiten gegeben sind, die aufgrund der zunftmäßigen Abgeschlossenheit des modernen Wissenschaftsbetriebs heute seltener als zu Beginn des Jahrhunderts wahrgenommen werden. Man kann im Fall Webers auch nicht nur feststellen, daß die Rechtsgeschichte der Rechtssoziologie das Material liefert, sondern auch, daß die soziologische Begriffsbildung Webers ihrerseits von Rechtshistorikern übernommen wurde und zu neuen Gesichtspunkten in der historischen Forschung führte. Dies gilt etwa von Webers Begriff der ,Rechtshonoratioren' als Trägern der Rechtsschöpfung 35, der von Fritz Schulz in seiner ,Geschichte der römischen Rechtswissenschaft' übernommen und als Grundlage für die Unterscheidung verschiedener Perioden verwandt wurde38 • Wenn wir diesen Sachverhalt wechselseitiger Abhängigkeit von histo34
Karl Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Moskau
193!}';-1941. Zu Marx in diesem Zusammenhang demnächst P. Landau: Karl
Marx und die Rechtsgeschichte, in: Tijdschrift voor Rechtsgeschiedenis. 35 Max Weber: Rechtssoziologie, Neuwied 1967, S. 189 ff. und S. 207 ff. 36 Fritz Schulz: Geschichte der römischen Rechtswissenschaft, Weimar 1961.
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rischer Forschung und soziologischer Synthese auf eine Formel bringen wollen, so ließe sich sagen, daß der Rechtshistoriker realtypische Begriffe bildet, die dem Soziologen Maßstäbe für die Bildung eines idealtypischen soziologischen Begriffs liefern, worauf dieser idealtypische Begriff wiederum bei historischer Forschung als Klassifizierungsmerkmal verwandt werden kann. Ein neueres Beispiel dieser wechselseitigen Abhängigkeit von Rechtssoziologie und Rechtsgeschichte bietet die Rechtssoziologie Niklas Luhmanns. Er unterscheidet drei verschiedene Strukturen von Recht, die sich in einer historischen Aufeinanderfolge nachweisen ließen: 1. archaisches Recht einer auf Verwandtschaftsbindungen beruhenden Gesellschaft,
2. Recht vorneuzeitlicher Hochkulturen, das bereits eine verselbständigte Gerichtsbarkeit, aber noch keine kontinuierliche Gesetzgebung kennt, 3. schließlich positiviertes Recht als ständig durch Gesetzgebung zu veränderndes Recht. Die spezifischen soziologischen Folgerungen können hier außer acht bleiben - wichtig ist, daß Luhmanns Klassifizierung weitgehend auf rechtshistorischer Forschung beruht, wobei zuallererst Sir Henry Maine als Anreger genannt werden muß 37• Luhmann bekennt sich ausdrücklich zu einem Abbau der Barrieren zwischen Rechtsgeschichte und Rechtssoziologie: beide Disziplinen hätten keine unterschiedlichen theoretischen Konzepte38 • Die Soziologie kann für die Rechtsgeschichte aber nicht nur insofern bedeutsam sein, als soziologische Begriffe in der Rechtsgeschichte Anwendung finden und zur Synthese rechtshistorischer Einzelforschung beitragen können. Darüber hinaus ist auch die Übernahme bestimmter quantifizierender Methoden, die zuerst von den Sozialwissenschaften entwickelt wurden, in der Rechtsgeschichte ähnlich wie in anderen Bereichen der Geschichtswissenschaft, z. B. der Wirtschaftsgeschichte, möglichl t• Wenn man davon ausgeht, daß die Rechtsgeschichte allgemeine 37 Nämlich in bezug auf die Unterscheidung der beiden ersten Stufen. Luhmanns "archaisches Recht" ist das "ancient law" Maines in einer "primitive society", vgl. Henry Maine: Ancient Law, Neudruck London 1965 (Everyman's Library), ch. V, S. 67-101. 18 Luhmann: Rechtssoziologie Bd. I, S. 145. 30 William O. Aydelotte: Quantifizierung in der Geschichtswissenschaft, in: Wehler, Geschichte und Soziologie, S. 259-279 (auch in: American Historical Review 71, 1966, S. 803-825). Außerdem Aydelotte: Quantification in History, Reading/Mass. 1971. L. Gottschalk (Hrsg.): Generalization in the Writing of History, Chicago 1963. William O. Aydelotte/ Allan G. Bogue/Robert William Fogel: The Dimensions of Quantitative Research in History, Princeton 1972.
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Aussagen macht, so wird vielfach eine Verifizierung dieser Allgemeinaussagen ohne quantifizierende Methoden nicht möglich sein40 • Welche Grenzen hier bestehen, läßt sich zur Zeit nicht sagen. Jedenfalls ist es sehr wahrscheinlich, daß Methoden dieser Art etwa bei der Auswertung der Gerichtspraxis neuerer Zeiten überhaupt erst die Möglichkeit genauerer Aussagen über den Inhalt solcher Quellen schaffen. Notwendig scheint mir jedenfalls zu sein, daß die Rechtshistoriker die zwischen Historikern und Soziologen geführte Diskussion über quantifizierende Methoden überhaupt erst zur Kenntnis nehmen und die Verwertbarkeit dieser Methoden in ihrem Forschungsbereich prüfen. Sozialwissenschaftliche Erkenntnisse sind für den Rechtshistoriker auch deshalb notwendig, weil Rechtsgeschichte Teilgebiet der Geschichte der Gesellschaft ist41 • Eine voll in die Geschichtswissenschaft integrierte Rechtsgeschichte wird sich nicht damit begnügen dürfen, sich als eine Gedankengeschichte zu verstehen, in deren Hintergrund ,Politik und Wirtschaft schimmern,n, so wenig wie sich Wirtschaftsgeschichte auf eine Dogmengeschichte ökonomischer Theorien reduzieren läßt. Eine methodische Trennung von der allgemeinen Sozialgeschichte halte ich nur insofern für möglich, als der Rechtshistoriker sich primär mit dem Recht als Teilgebilde der sozialen Wirklichkeit beschäftigt, aber nicht in dem Sinne, daß er von den mit der jeweiligen sozialen Wirklichkeit nicht verbundenen ,Rechtswerten' auszugehen hätte. Genauso wie der Kunsthistoriker den Parthenongiebel nicht nur als Kunstwerk, sondern unter Umständen als perikleisches Staatsprogramm zu werten hat, wird der Rechtshistoriker die politische Programmatik weder beim Corpus Iuris Civilis, noch beim Code Napoleon eliminieren dürfen, wenn er rechtshistorische Aussagen machen will; und er wird ein Rechtsinstitut, z. B. das Eigentum, stets in seinen sozialen und ökonomischen Bezügen sehen müssen43 • Wenn man die Rechtsgeschichte programmatisch als Teilgebiet der Sozialgeschichte versteht, so bedeutet dies als konkrete Forderung für rechtshistorische Forschung, daß man bei der historischen Interpretation eines Rechtstexts die Totalität der Bezugspunkte in der Gesellschaft seiner Entstehungszeit zu erforschen hat. Insofern ist vom Interesse des Rechtshistorikers kein Faktor auszunehmen, der ihm einen Gesichtspunkt zur Interpretation rechtlich bedeutsamer Texte liefern kann. 40 Zur Verifizierung allgemeiner Aussagen durch quantifizierende Methoden vgl. Aydelotte: Quantifizierung in der Geschichtswissenschaft, S.259. 41 So auch Wilhelm: Zur juristischen Methodenlehre, S. 35: Rechtsgeschichte ist daher zugleich Geschichte des gesamten, konkreten Entwicklungsprozesses der Gesellschaft. 42 So aber Walter Hellebrand: Der Zeitbogen, Archiv f. Rechts- u. Sozialphilosophie 1963, S. 63. n Prinzipiell anders Wieacker: Notizen, S.7. Die Beispiele finden sich zum Teil mit konträrer Bewertung bei Wieacker.
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Was könnte es nun aber positiv für die Soziologie als Synthese der einzelnen Sozialwissenschaften bedeuten, daß rechtsgeschichtliche Ergebnisse für ihre Theoriebildung beachtet und verwertet werden? Geht man von der Möglichkeit einer ahistorischen sozialwissenschaftlichen Begriffsbildung aus, so wird man die Bedeutung historischer Forschungsergebnisse für solche Art von Theorie als recht gering bezeichnen können. Rechtsgeschichte wäre hier etwa für die rechtssoziologische Forschung bestenfalls ein Reservoir gelegentlich herangezogener Beispiele. Diese Prämisse könnte ich nicht teilen, sondern würde aus der wissenschaftsgeschichtlichen Entwicklung der letzten 100 Jahre den Schluß ziehen, daß sozialwissenschaftliche Theorien jeweils nur innerhalb eines geschichtlichen Rahmens gelten. Der geschichtliche Charakter der gesellschaftlichen Wirklichkeit muß als Ausgangspunkt für sozialwissenschaftliche Forschung akzeptiert werden, wenn man eine sozial~ wissenschaftliche Pseudo-Ontologie vermeiden will u . Wenn man jedoch prinzipiell die Zeitgebundenheit gesellschaftlicher Strukturen bejaht, so kann man auch in der primär gegenwartsorientierten sozialwissenschaftlichen Forschung die Vergangenheit nicht vollständig ignorieren - ja, es ist sogar methodisch fragwürdig, wenn man sich als Soziologe auf die Ergebnisse der Historiker verläßt, ohne zumindest in Grenzfällen auch zur selbständigen Überprüfung in der Lage zu sein. Für unser Gebiet müßte die Forderung lauten, daß der Rechtssoziologe zugleich zumindest Verständnis für historische Fragestellungen hat, wenn nicht gar Rechtshistoriker ist 45 • In der gegenwärtigen Diskussion um eine sozialwissenschaftliche Dimension der juristischen Ausbildung sollte nicht vergessen werden, daß die enthistorisierten Sozialwissenschaften der letzten beiden Jahrzehnte nicht jenes Maß an Kritikfähigkeit vermitteln können, das manche Reformer hoffnungsvoll von ihnen erwarten. Zum Schluß möchte ich mich noch einmal der Rechtsgeschichte zuwenden und eine Frage behandeln, die in der neueren Diskussion um eine an Strukturen orientierte Geschichte eine wichtige Rolle spielt. Man hat dieser Art von Geschichtsschreibung, die insbesondere von einer Schule französischer Historiker in der Nachfolge Mare Blochs vertreten wird, vorgeworfen, daß sie aufgrund einer Selbstbeschränkung auf das in langen Zeiten Unwandelbare nicht mehr in der Lage sei, historischen Wandel zu erfassen; sie schlage in eine neue Geschichtsmetaphysik um 48 • Historiker dieser Schule würden das vorrevolutionäre U Zu diesem Problem bereits sehr gut Hans Freyer: Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft, Leipzig/Berlin 1930, bes. S. 189 ff. U Hier wäre als Beispiel Hermann Ulrich Kantorowicz zu nennen, bei dem allerdings noch eine fast vollständige Trennung seiner wissenschaftlichen Arbeit als Rechtshistoriker und als Rechtssoziologe zu beobachten ist.
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Frankreich so gut verstehen, daß ihnen die französische Revolution unverständlich werde. Ein derartiger Einwand könnte auch gegen eine Rechtsgeschichte erhoben werden, die relativ fixierte historische Institutionen soziologisch erfassen will, ja er könnte sogar gegen die traditionelle Rechtsgeschichte geltend gemacht werden. Ich halte den Einwand dann nicht für zwingend, wenn die Rechtsgeschichte den Strukturbegriff nicht verabsolutiert. Sie muß auch Begriffe verwenden, die den Wandel von Rechtsordnungen, das Ingangsetzen von neuartigen historischen Prozessen, zu erklären vermögen. Umbrüche und Revolutionen dürfen nicht außerhalb des Gesichtsfelds der Rechtsgeschichte bleiben. Um gängige soziologische Begriffe zu verwenden, so wird sich die Rechtsgeschichte mit Prozessen exogenen Wandels von Rechtsorganen, aber auch endogenen Wandels, beschäftigen müssen. Da die Rechtsgeschichte nur einen Ausschnitt aus der sozialgeschichtlichen Wirklichkeit eingehend thematisiert, wird jede wirtschaftliche, kulturelle, politische Veränderung, die sich auf die Form der Rechtsordnungen auswirkt, in der rechtsgeschichtlichen Darstellung als exogener Wandel registriert, und oft ohne weitere überprüfung als Erklärungsmodell verwandt. Diese überprüfung müßte jedoch erfolgen, z. B. bei sogenannten Erklärungen für die Wiedergeburt des römischen Rechts im Mittelalter; die überprüfung des Gewichts einzelner Faktoren, z. B. beim mittelalterlichen römischen Recht die Frage des Einflusses einer ,Romidee' im Vergleich zum ökonomischen Wandel seit dem 11. Jahrhundert, läßt sich nur erreichen, wenn der Rechtshistoriker sich nicht nur mit dem rechtlichen Segment der geschichtlichen Entwicklung vertraut macht. Ist dies der Fall, so kann die Rechtsgeschichte auch durchaus Wandel, Umbruch und Revolution erfassen, ohne eine Orientierung an relativ permanenten Rechtsinstitutionen als Strukturen aufzugeben. Rechtsgeschichte sollte aber nicht nur fähig sein, exogene Einflüsse auf Rechtsordnungen zu registrieren, sondern auch den endogenen Wandel von Rechtsordnungen erfassen. Hieran fehlt es häufig an dogmatisch aufgebauten rechtshistorischen Darstellungen, die den Eindruck des Perfekten auch für Rechtsordnungen der Vergangenheit vermitteln. Aufgabe des Rechtshistorikers ist es aber auch, die Offenheit und Unausgeglichenheit historischer Rechtsordnungen nachzuweisen, und die relative Eigenständigkeit der Entwicklung von Rechtsnormen und Rechtsdogmen zu untersuchen, die es überhaupt erst ermöglicht, Rechtsgeschichte relativ selbständig zu betrachten, und die breite Einlaßpforten für den Wandel der Rechtsordnung durch die Interpretationskunst des Juristen bietet. Die Unausgeglichenheit einzelner Schichten von Rechtsordnungen ist insbesondere für ältere Rechtsordnungen .1 Dieter Groh: Strukturgeschichte als totale Geschichte, VSWG 58 (1971), S. 289-322, besonders S. 318 ff.
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charakteristisch - man denke nur an das Verhältnis des Pandektenrechts zum regionalen und lokalen Recht in Deutschland vor 1900 oder gar an das frühmittelalterliche Rechtn . Die Postulate der Geschlossenheit der Rechtsordnungen und der Lückenlosigkeit sind erst im 19. Jahrhundert im kontinentalen Rechtsdenken durchgedrungen48 ; die Anzeichen mehren sich, etwa in der Diskussion über die Rolle des Richters, daß man die fiktive Rolle dieser Begriffe allmählich erkennt. Endogener Wandel erfolgt in den verschiedensten Formen richterlicher und wissenschaftlicher Rechtsfortbildung - es wäre sicherlich unrichtig, hier jede Veränderung auf außerrechtliche Ursachen zurückzuführen. Das nicht durch die Gesellschaftsstruktur bedingte "begrenzte begriffliche Lernen im Recht"49 wird man neben dem Einfluß des sozialen Milieus und der jeweiligen Gesellschaftsstruktur in Rechnung stellen müssen. Die Feststellung und Beschreibung solchen Wandels in institutionengeschichtlichen Darstellungen kann durchaus innerhalb eines Rahmens erfolgen, der von einer lange Zeiträume umfassenden Struktur aus gewählt ist. Als Ergebnis möchte ich festhalten, daß mir die Wissenschaftsgeschichte des Fachs Rechtsgeschichte durchaus zu beweisen scheint, daß auch in einer an langdauernden Strukturen orientierten Geschichtsschreibung die Möglichkeit zur Erfassung sozialen Wandels gegeben ist. Diese fragmentarische Betrachtung über das Verhältnis der Rechtsgeschichte zu den Sozialwissenschaften, speziell zur Soziologie, sollte nicht beendet werden, ohne einiges über die Zukunft der Rechtsgeschichte im Universitätsbetrieb zu sagen. Bekanntlich klagen Rechtshistoriker zunehmend darüber, daß ihnen in juristischen Fakultäten und bei der Ausbildung der Juristen nur eine Rolle am Rande zugestanden werde. Einer Rechtsgeschichte, die sich darauf beschränkt, nur das historische Erbe des geltenden Rechts zu verwalten, könnte ich keine günstige Zukunftsprognose stellen. Mir scheint das Schicksal der Rechtsgeschichte in der Juristenausbildung unmittelbar mit der Entwicklung des Verhältnisses der Geschichtswissenschaft allgemein zur Sozialwissenschaft zusammenzuhängen. Eine positive Entwicklung für die Rechtsgeschichte sehe ich für den Fall, daß drei Bedingungen eintreten: a) Es müßte zu einer sozialwissenschaftlichen Orientierung der juristischen Fakultäten kommen. Juristische Ausbildung, die sich nur als Training im geltenden Recht versteht, kann die Rechtsgeschichte weitn Ansätze zu einer solchen Deutung für das Mittelalter bei Kroeschell: Deutsche Rechtsgeschichte I, S. 151. 48 Zur Lehre von der Lückenlosigkeit vgl. Wieacker: Privatrechtsgeschichte, S. 436 f. 49
Luhmann: Rechtssoziologie I, S. 189.
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gehend entbehren. Dies kann man z. B. anhand der amerikanischen Law Schools nachweisen, die fast gänzlich ohne Rechtsgeschichte auskommen. Die Gründe, die im 19. Jahrhundert zur starken Betonung der Rechtsgeschichte an den juristischen Fakultäten führten, sind gegen Ende des 20. Jahrhunderts weitgehend weggefallen - z. B. ist Geschichte schon lange nicht mehr Modewissenschaft! Nur wenn die Rechtswissenschaft in den juristischen Fakultäten zu einem Selbstverständnis gelangt, daß sie mehr als eine Interpretationswissenschaft sei, daß sie sich als Teil der Sozialwissenschaften verstehen müsse -, dann würde ich auch neue Möglichkeiten für die Rechtsgeschichte sehen. b) Zweite Bedingung wäre jedoch, daß sich das Erkenntnisinteresse der Sozialwissenschaften nicht prinzipiell auf die gegenwärtige Gesellschaft beschränkt. Viele Anzeichen deuten darauf hin, daß die Zeit der Selbstisolierung der Sozialwissenschaften vorüber ist, so daß ich bezüglich der zweiten Voraussetzung relativ optimistisch bin. c) Aber auch die Juristen müßten ein neues Verhältnis zur Geschichte gewinnen. Sie sollten sich nicht nur für das an der Geschichte interessieren, was wirklich oder vermeintlich im gegenwärtigen Recht fortlebt, sondern auch für das Andersartige im Recht, für Rechtszustände, die nicht oder nicht mehr die unsrigen sind, und für andersartige gesellschaftliche Voraussetzungen. Daher habe ich erhebliche Skepsis gegenüber einer Art von Rechtsgeschichte, die sich ihre Themen nur aus der Geschichte im mitteleuropäischen Raum in den letzten 150 Jahren holt. Dabei kommt nicht mehr heraus als relativ elementare Staatsbürgerkunde für Juristen. Die Erkenntnis von der Verschiedenartigkeit von Rechtszuständen in der Rechtsgeschichte könnte befreiend wirken, indem man das historisch Entwickelte als wandelbar versteht und dadurch eine unbefangene Haltung zu den rechtsgestaltenden Aufgaben des Juristen gewinnt. Den Satz des englischen Sozialhistorikers Asa Briggs: "Gerade durch die Erforschung der Geschichte, nicht durch Ausweichen vor der Geschichte, kommen wir davon los"50, könnte ich mir für mein Verständnis von Rechtsgeschichte zu eigen machen.
50 In Wehler: Soziologie und Geschichte, S. 249.
AUFGABEN, METHODEN UND GRENZEN EINER HISTORISCHEN KRIMINOLOGIE Von Karl S. Bader· Schon wieder ein neues Teilgebiet der Jurisprudenz, der Historie und der Geisteswissenschaften überhaupt? Ist der fachlichen Aufspaltung nicht längst genug? Sollten wir nicht eher versuchen, die Splitter wieder zu sammeln und die auseinanderstrebenden Teile zu vereinen? Die allgemeine Besorgnis um die Entwicklung des Spezialistentums, besonders im geisteswissenschaftlichen Bereich, ist sicherlich begründet. Aber hier, bei der "Historischen Kriminologie", verbirgt sich hinter der neuen Bezeichnung doch ein altes Anliegen strafrechtsgeschichtlicher Arbeit: der Wunsch, nicht nur Entstehung und Entwicklung strafrechtlicher Dogmen und Institutionen, sondern auch das wirkliche kriminelle Geschehen und die Mittel, ihm wirksam zu begegnen, je für eine Epoche der geschichtlichen Entwicklung kennenzulernen. Die Frage, die wir uns stellen, geht nicht auf ein fragwürdiges Novum aus, sondern bemüht sich um reale Möglichkeiten kriminalgeschichtlicher Forschung. Im Ganzen strafrechtsgeschichtlicher Arbeit überwiegt bisher das dogmen- und institutionengeschichtliche Element so sehr, daß die nicht einer vergangenen Sollens-, sondern einer ehemaligen Seinsordnung zugehörigen Tatsachen stark zurückgetreten sind. Seitdem Eduard Wilda1 mit seinem "Strafrecht der Germanen" erstmals die Bemühungen der historischen Rechtsschule mit den wissenschaftlichen Mitteln seiner Zeit auf das Gebiet des älteren Strafrechts übertrug, sind bei der Aufhellung strafrechtshistorischer Zusammenhänge bedeutende Fortschritte in Gesamt- und Einzelforschung erzielt worden. Es ist nicht unsere heutige Aufgabe, eine übersicht über die weit• Karl S. Bader, geb. 1905 in Waldau (Schwarzwald), war von 1953 bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1975 ordentlicher Professor für Schweizerische und deutsche Rechtsgeschichte in Zürich. Seine Hauptwerke sind: Studien zur Rechtsgeschichte des mittelalterlichen Dorfes, 3 Bde. 1957-1973; Ausgewählte Schriften zur Rechtsgeschichte und zur Landesgeschichte, 3 Bde. 1983/84. Dieser Aufsatz erschien erstmals in der Schweiz. Zeitschrift für Strafrecht 71 (1956), S. 17-31.
1 Ober W. E. Wilda vgl. jetzt die biographische Skizze von Hugo Sinzheimer: Jüdische Klassiker der deutschen Rechtswissenschaft (Deutsche Ausgabe, Frankfurt a. M. 1953), S. 111 ff.
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verzweigte Literatur der Strafrechtsgeschichte zu geben!, Einen gewaltigen Stoff trug vor allem Rudolf His in seinem zweibändigen Werk über "Das Strafrecht des deutschen Mittelalters" zusammen s, Aber gerade diese große und nach wie vor unentbehrliche Materialsammlung kommt dem Bedürfnis nach einer aus dem gesamten Zeit- und Rechtsgeschehen erfolgenden Würdigung nur in beschränktem Umfang entgegen. His kam vom modernen Strafrecht her; seiner Stoffanhäufung und Stoffeinteilung liegt letztlich, erkennbar schon in der mittelalterlichem Denken fremden Unterscheidung eines "allgemeinen" ("Die Verbrechen und ihre Folgen im allgemeinen") und eines "besonderen" Teiles ("Die einzelnen Verbrechen"), modernes Systematisierungsbedürfnis zugrunde. Zahlreiche spezielle Untersuchungen, vor allem über das Strafrecht einzelner Städtet, gehen weithin denselben Weg: sie wurden nicht von Historikern, sondern von Juristen unternommen und tragen, bewußt oder unbewußt, immer wieder modernes Gedankengut nicht nur in eine ehedem so nicht vorhandene Dogmatik, sondern auch bei Feststellung und Würdigung der tatsächlichen Erscheinungen in die geschichtlichen Zusammenhänge hinein. Eine Ausweitung gerade gegenüber dem die geistesgeschichtlichen und kriminalpolitischen Elemente vernachlässigenden Werk von His nahm in jüngster Zeit Eberhard Schmidt vor, indem er in lehrbuchartiger Form die "Geschichte der Strafrechtspflege" neben die Dogmengeschichte stellte und dabei der Geschichte kriminalpolitischen Denkens sowie vor allem den prozessualen Grundlagen die gebührende Beachtung schenkte5•
I Das große Gegenstück zu Wildas Werk stellt, in seiner Kompaktheit ungleich monumentaler, Theodor Mommsens "Römisches Strafrecht" (1899) dar - seinerseits wiederum mehr eine juristische als historische Leistung. Für die einheimische schweizerische Strafrechtsgeschichte bietet wichtiges Material Eduard Osenbrüggen, Das Alemannische Strafrecht im deutschen Mittelalter
(1860). 3 1 (Leipzig 1920); 2 (Weimar 1935). Dazu die lehrbuchmäßige Darstellung
von R. His, Deutsches Strafrecht bis zur Karolina (in: v. Below-Meineckes Handbuch der mittelalterlichen und neueren Geschichte), München und Berlin 1928.
4 Zu nennen sind vor allem die zahlreichen aus der Schule von W. v. Rohland hervorgegangenen Untersuchungen des mittelalterlichen Strafrechts deutscher Städte (vgl. dazu meinen Bericht über "Strafrechtsgeschichtliche Städtemonographien", Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins NF 51 [1937] 594 ff.). über Schweizerstädte etwa K. Metzger: Die Verbrechen und ihre Straffolgen im Basler Recht des späteren Mittelalters 1 (1931); E. Stutz: Das Strafrecht von Stadt und Amt Zug 1392-1798, Berner Diss. 1917; C. Moser-Nef: Die Freie Reichsstadt und Republik St. Gallen 5/6 (1951). Die gesamte monographische Literatur zur Strafrechtsgeschichte jetzt verzeichnet bei Planitz-Buyken, Bibliographie zur deutschen Rechtsgeschichte (1952) 223 f., 289 ff., 724 ff. i E. Schmidt: Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, Göttingen (1 1947; 2 1951). Dazu E. Delaquis in ZStR 62 (1947) 499 ff.
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Als ich Gustav Radbruch zum letzten Male sah und sprach, schilderte der schon von schwerem körperlichem Leiden Gezeichnete mir seine jüngsten Bemühungen um eine "Geschichte des Verbrechens". Ich muß gestehen, daß ich über den Plan des bedeutenden Rechtsphilosophen und Kriminalisten in einiges Staunen geriet; der Schwierigkeiten, so schien mir, waren doch gar viele - wie sollte ein Greis ihrer Herr werden? Radbruch selbst, von jeher ein Liebhaber historischer Betrachtung und ein Meister des Essays·, hatte allerdings wirksam vorgearbeitet, vor allem in seiner Studie über den Raub 7, und einige Arbeiten angeregt8 , die deutlich die Richtung seiner eigenen Bemühungen zeigen: die Strafrechts- mit der allgemeinen Geistes- und Kulturgeschichte zu verbinden. Das vielbeachtete Buch, das dann posthum erschien', erweist sich in allem als ein Zeugnis Radbruchschen Geistes. In 27 lose aneinandergereihten, das Skizzenhafte vielfach bewahrenden Abschnitten tritt er einen Gang durch Verbrechenserscheinungen von der Zeit des Tacitus bis zum beginnenden 19. Jahrhundert an. Dieses Buch, dem der Radbruch-Schüler Heinrich Gwinner Material hinzufügte und die letzte Gestalt gab1o, ist denn auch zum Anlaß der folgenden Gedanken und überlegungen geworden. Sein Untertitel - "Versuch einer historischen Kriminologie" - verwendet erstmals, soviel ich sehe, den wissenschaftlichen Begriff, um den wir uns im folgenden bemühen. Dabei sei vorweggenommen: Eine "Geschichte des Verbrechens" ist das Buch von Radbruch und Gwinner nicht. Es gibt eine Summe von Einzelbeobachtungen wieder, geistvoll aneinandergereiht und im Verein einen höheren Sinn, einen großen Zusammenhang suchend; aber eben keine "Geschichte des Verbrechens", wie der Kriminologe sie sich vorstellen und wünschen würde. In der Tat "Versuch" einer historischen Kriminologie - aber, so fragt sich der um rechtshistorische Gegebenheiten und Schranken Wissende: Gibt es eine "historische Kriminologie" als wirkliches und erreichbares Forschungsziel? Mit welchen Methoden soll sie arbeiten? Mit den erprobten der Rechtsgeschichte, die schwerlich zum Ziele führen, wenn es um Tatsachenforschung reinster Prägung • G. Radbruch: Elegantiae iuris criminalis. Sieben Studien zur Geschichte des Strafrechts (Basel 1938). Erweitert zu "Vierzehn Studien zur Geschichte des Strafrechts" in der zweiten Auflage, Basel 1950. In diesen Kreis mag auch Radbruchs Feuerbach-Biographie ("P. J. A. Feuerbach: Ein Juristenleben." Wien 1934) eingereiht werden. 7 G. Radbruch: Der Raub in der Carolina, in: Festschrift Pappenheim, Breslau 1931. Dazu dann H. Gwinner: Die Carolina und das Gaunertum, in: Beiträge zur Kultur- und Rechtsphilosophie, Radbruch-Festgabe (1948) 164 ff. 8 Vor allem Irene Kraus: Die Kriminalität des Dreißigjährigen Krieges auf der Grundlage der Werke Grimmelshausens, Heidelberger jur. Diss. 1950. , Radbruch/Gwinner: Geschichte des Verbrechens. Versuch einer historischen Kriminologie. Stuttgart 1951. Vgl. dazu die Rezension von Thomas Würtenberger, in: Sav. Z. f. Rechtsgeschichte 69 germ. Abt. (1952) 479 ff. lU Vgl. Vorwort 11.
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geht, oder mit denen der jungen strafrechtlichen Hilfswissenschaften, die wir heute mit einer wenig präzisen Sammelbezeichnung "Kriminologie" nennen? Was soll Aufgabe einer solchen historischen Kriminologie sein und wo liegen ihre vom Rechtshistoriker (und vom Historiker überhaupt) abzusteckenden Grenzenl1 ? I.
Wenn man "historische Kriminologie" treiben will, bedeutet dies, daß man die historischen Erscheinungen erforschen will, die in den Bereich dessen gehören, was man heute als Kriminologie bezeichnetu. Daraus ergibt sich zunächst, daß das Strafrecht als solches nicht im Mittelpunkt des speziellen Interesses einer solchen wissenschaftlichen Richtung stehen kannl3 • Natürlich werden sich zahlreiche Berührungspunkte zur herkömmlichen Strafrechtsgeschichte ergeben, und ein Blick in das von dieser schon seit langem aufbereitete Material zeigt, daß aus den vorliegenden Arbeiten auch für eine historische Kriminologie allerlei gewonnen werden kann. So bringen fast alle der eingangs summarisch genannten "Städtemonographien" für das mittelalterliche Strafrecht eine reiche Kasuistik, die wenigstens Schlüsse auf Art und Umfang der Kriminalität zuläßt 1'. Das eigentliche Anliegen der historischen Kriminologie wird aber in eine andere Richtung weisen. Da die moderne Kriminologie in der Hauptsache drei Gebiete krimineller Erscheinungen behandelt, nämlich kriminalbiologische, kriminalsQziologische und kriminalpsychologische Tatsachen und Verknüpfungen, wird zu fragen sein, ob es - zunächst theoretisch - überhaupt möglich ist, sich auf historischer Grundlage solchen Problemen zu nähern und für die moderne Erkenntnis mit deren Mitteln aus geschichtlichen Vorgängen zu lernen. 11 Die folgenden Darlegungen habe ich zunächst an einem der "Zürcher Ausspracheabende für Rechtsgeschichte" vorgetragen, wobei ich mannigfache Anregungen erhielt, die meine eigenen "überlegungen und Beobachtungen wertvoll ergänzten. Vor allem habe ich Herrn Prof. H. F. Pfenninger für wichtige Hinweise zu danken. U Auf eine eingehende Begriffsbestimmung muß hier verzichtet werden. Als "Kriminologie" verstehen wir im folgenden, im Gegensatz zur österreichischen Schule (Gross, Seelig), die kriminaltechnische und kriminaltaktische Elemente ("Kriminalistik" i. e. S.) ausschließende Erfahrungswissenschaft von Verbrechen und Verbrechern. Reiche Literatur über die Abgrenzungsversuche bei Karl Zbinden, Kriminalistik (Strafuntersuchungskunde), München 1954. 13 So auch Radbruch im Vorwort zu Radbruch/Gwinner, a. a. O. 5 ff. 14 Je mehr diese Arbeiten sich der Neuzeit nähern, um so wirksamer wird im allgemeinen die speziell kriminologische Ausbeute. Reich an Fakten ist etwa das Buch von G. Schindler: Verbrechen und Strafen im Rechte der Stadt Freiburg i. Br., 1520-1806 (1937), das im Gegensatz zu den meisten anderen Untersuchungen gerade das Recht nach Einführung der Carolina behandelt.
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Es ist unschwer zu erkennen, daß dies besonders schwierig ist, wo es sich um kriminalbiologische Elemente handelt. Kaum eine historische Quelle, die über das beginnende 19. Jahrhundert zurückreicht, liefert für präzise Beobachtungen kriminalbiologischer Art hinreichendes Material. Die Fragestellungen, die den Kriminalbiologen bewegen, sind ihrer Natur nach moderner Wissenschaft so ausschließlich verpflichtet, daß Beobachtungen älterer Autoren nur in geringem Maße Aufschlüsse geben können. Zudem fehlt es im Bereich der historischen Quellen für den Kriminalbiologen an dem vorzüglichen Objekt aller Untersuchungen: am lebenden Menschen, dessen Eigenschaften noch so farbige (und gefärbte) Berichte schlechterdings nicht ersetzen können15• In beschränktem Umfang kann etwa die Erbbiologie mit Stammbäumen von Verbrecherfamilien arbeiten, meist aber wenig mehr als dürre Daten und Namen eruieren. Damit mag man bestenfalls moderne Hypothesen stützen, kaum je aber gesicherte, und zwar naturwissenschaftlich-exakte Ergebnisse sichern. Die Beobachtungen reichen zudem meist nur über wenige Generationen zurück; das ältere Geschehen verliert sich im Dunkel geschichtlicher Anonymität. So mag es möglich sein, gewisse Gaunerfamilien ein Stück weit nach rückwärts zu verfolgen; rasch hört das Wissen aber auf, wenn wir etwa über das beginnende 18. Jahrhundert zurückgelangen wollen, schon wegen des Versagens der Familienregister, Kirchenbücher usw. Ähnlich liegen die Schwierigkeiten bei Untersuchungen über Zigeuner, Jenische und Karrner 16 • Nur ganz selten wird es gelingen, ältere Zusammenhänge mit voller Exaktheit aufzudecken, etwa dort, wo die Geschichte geschlossener Zwangsansiedlungen von Landfahrern von einem meist sehr späten Zeitpunkt ab Beobachtungen, dann jedoch meist mehr soziologischer als biologischer Art, zuläßt17 • So kann für die exakte Untersuchung des lebenden "Materials" wohl einiges Zusätzliche gewonnen werden; gerade der exakten naturwissenschaftlichen Methode wird sich der mehr oder minder zufällig überlieferte historische Bestand aber weitgehend entziehen. Wenig besser liegen die Dinge für die Erforschung der historischen Grundlagen der modernen Kriminalpsychologie. Natürlich ist es möglich, Lehrmeinungen und mehr oder minder gelungene Arbeitsmethoden aus älterem Schrifttum festzustellen. Wo es sich aber um historische 15 Ähnlichen Problemen begegnet auch die Medizingeschichte, die daher vielmehr Ärzte- und Wissenschafts-, als echte Kranken- und Krankheitsgeschichte betreibt. Vgl. etwa Paul Diepgen: Geschichte der Medizin. Die historische Entwicklung der Heilkunde und des ärztlichen Lebens 1 (1949). 16 Zuletzt Armand Mergen: Die Tiroler Karrner (1951) mit weiterer Literatur. 17 Zu verhältnismäßig gesicherten Ergebnissen kam etwa mein Freiburger Schüler K. H. May in seiner (ungedruckten) Diss. über "Die Neumühle bei Landstuhl. Kriminalsoziologische Studie an einem jenischen Dorf" (1951).
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Fakten in objecto handelt, hört unsere Weisheit bald auf. Das bisherige Ergebnis historischer Untersuchung psychischer Vorgänge muß, vom Standpunkt des Historikers aus, als minim bezeichnet werden. Besonders die Versuche jüngerer Zweige psychologischer Wissenschaft, etwa der Psychoanalyse, mit ihren aus dem modernen Weltbild gewonnenen Vorstellungen und Begriffen an geschichtliche Sachverhalte heranzugehen, darf man unbedenklich als insgesamt gescheitert ansehen. Im besten Falle entsteht ein historischer Psychologismus, mit dem die ernsthafte Forschung, die Geschichtswissenschaft und wohl auch die ernst genommen sein wollende Psychologie, nichts anfangen können l8 • Mag es dem Literaten selbst einmal gelingen, mit solcher modernem Denken entspringenden Methodik ein der historischen Wirklichkeit halbwegs entsprechendes Bild, etwa im Biographischen, zu zeichnen: zu exakter und systematischer Untersuchung reicht das historische Material nicht aus. Und wenn wir über die "großen" Persönlichkeiten der Geschichte aus den Quellen immerhin einiges erfahren: bei der Untersuchung des anonymen, im Halbdunkel schon seiner eigenen Zeit verbliebenen Verbrecherturns stoßen wir erst recht ins Leere l8 • Geistvolle Arbeiten wie etwa die von Hans v. Hentig20 können aus der Fülle einzelner Beobachtungen und vielfältiger Komparation, unter Zuhilfenahme auch des ethnologischen Materials, höchst wertvolle Anregungen bringen; um "Geschichte" im Sinne moderner kritischer Geschichtswissenschaft handelt es sich dabei aber nicht 2l • Selbst der im älteren und jüngeren Pitaval und ähnlichen kriminalgeschichtlichen Sammelwerken oder der von Anselm von Feuerbach in seiner "Aktenmäßigen Darstellung merkwürdiger Verbrechen" (1828/29) verarbeitete Stoff bedeutet historischen Eklektizismus und vermag wohl Sitten- und Kulturgeschichte da und dort zu beleuchten, nicht aber letztlich schlüssiges Material für einen Gesamtbestand an Verbrechenserscheinungen einer Epoche zu erbringen. Vielleicht liefert aber das, was zur Psychologie der Masse mit heutigen Denkmitteln aus historischen Quellen ermittelt werden kann, brauchbare Ergebnisse? Auch das möchten wir in genere bezweifeln. Wir 18 Erinnert sei etwa an die Versuche von Emil Ludwig, die für Historie und Psychologie unergiebig geblieben sind und wohl auch im literarischen Bereich keinen langen Bestand haben werden. 18 Damit versagt auch die historische Graphologie für unseren kriminalpsychologischen Zweig, da das überlieferte Material viel zu dürftig ist. Im übrigen bedürften die methodischen Möglichkeiten der graphologischen Untersuchung älterer Schriftzeugnisse einer besonders sorgfältigen hilfswissenschaftlich-historischen Nachprüfung. 20 Vor allem H. v. Hentig: Die Strafe 1: Frühformen und kulturgeschichtliche Zusammenhänge (1954). 21 Vgl. dazu meine Rezension in Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 5 (1955) 104 ff.
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können Massenverirrungen vergangener Zeit, etwa Juden- und Ketzerverfolgungen des Mittelalters!!, kaum je über verallgemeinernde Angaben zeitgenössischer Berichte hinaus auf ihre wirklichen psychologischen Hintergründe hin exakt verfolgen. Dasselbe gilt, sogar in verstärktem Maße, für die reiche, schier überreiche Literatur über Hexenverfolgungen23 • Man kann weiterhin Material über Hexenprozesse sammeln, Beschuldigungen von Anklägern und Aussagen der Gefolterten vergleichen, die ausgesprochenen und vollzogenen Strafen feststellen; man kann den Weg des Geistes zur allmählichen Erkenntnis des Wahnes nachschreiten - die wirklichen Hintergründe bleiben uns verborgen, und fast möchte man sagen, daß wir heute, nachdem ganze Bibliotheken über den Hexenwahn geschrieben worden sind, über die Psychologie der Hexenverfolger und ihrer Opfer weniger wissen als zuvor. Jedenfalls aber müssen alle Versuche, mit rational-wissenschaftlichen und speziell psychologischen Methoden diesen Gegenstand und andere Erscheinungen des Massenwahns zu erklären, apriori scheitern. Das Warum und Wieso des Unmenschlichen im menschlichen Zusammenleben bleibt uns, wohl auf ewig, verborgen. Keine Testmethoden, und was die moderne Psychologie sonst zur Verfügung zu stellen bereit ist, können uns darüber hinweghelfen. Günstiger scheint die Ausgangslage zu sein, wo es sich um Aufklärung kriminalsoziologischer Zusammenhänge im geschichtlichen Bereich handelt. Allerdings muß der Historiker auch hier vorausbemerken: jene von vielen Seiten als unübertrefflich und unentbehrlich gepriesene soziologische Methode, die sich nun auch historischer Vorgänge mit dem Urteil (und Vorurteil) des modernen Soziologen annimmt, stellt für die Geschichtsforschung im strengen Sinne bisher ebenfalls keine wirkliche Bereicherung dar4 • Auch hier werden moderne Begriffe und Vorstellungen auf andere Lagen im geschichtlichen Felde übertragen; das so gewonnene Geschichtsbild leidet dann unter den typischen Verzerrungen einer die .geschichtlichen Tatsachen nicht je aus ihrer Zeit heraus verstehenden (oder doch ernsthaft verstehen wollenden) Betrachtung!5. Die Kriminalsoziologie stellt zudem ein Stiefkind Dazu geistvolle Schilderungen bei RadbruchlGwinner, a. a. 0.37 ff. Reiche Angaben über das Schrifttum im Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, herausgegeben von Bächtold-Stäubli, vor allem Artikel "Hexe" (3 1930/31, Sp. 1827 ff.) von L. Weiser-Aall. Dazu jetzt Guido Bader: Die Hexenprozesse in der Schweiz, Zürcher jur. Diss. 1945. 24 Statt anderer Zeugnisse sei nur Alfred Webers "Abschied von der bisherigen Geschichte" (1946) genannt, wo das soziologische Element das historische nahezu völlig verdrängt. 25 Am schlimmsten dort, wo mit Elementen einer "reinen Soziologie" gearbeitet wird wie etwa bei der nordischen (skandinavischen) Schule, die versucht, alle ethischen Beziehungen und Bindungen abzustreifen, um zu einer "Soziologie an sich" zu gelangen. 22
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auch hier, nicht nur im Rahmen der allgemeinen Soziologie dar. Bisherige Versuche, etwa am "kleinen Objekt", z. B. bestimmter Gemeinden oder anderer Kollektivs (Quartiere usw.), zu sicheren Ergebnissen zu gelangen, führten nicht zu voll befriedigenden Ergebnissen 28 • Ähnlich wie bei kriminal-biologischen oder -psychologischen Untersuchungen mag man Einzelzüge des Verbrechertums einer Zeit oder der Anschauungen, die darüber in je einer geschichtlichen Epoche herrschten, herausarbeiten können. Radbruch, dem dies in seinen Essays immer wieder glänzend gelungen ist, weist selbst darauf hin, daß wir über das Gesamtgeschehen, über die Kriminalität im ganzen, mit unseren historischen Mitteln nicht viel aussagen können; fehlt es doch, auch nach seiner Erkenntnis, an dem auch für die heutige Kriminalsoziologie wichtigsten Beweismittel, einer brauchbaren Kriminalstatistik27 • Schlechthin alles, was wir über den Umfang kriminellen Geschehens, etwa im Mittelalter, erfahren können, bleibt unvollständig, bestenfalls symptomatisch und paradigmatisch. Für eines der Hauptanliegen moderner Kriminalsoziologie, die Frage der großen Kriminalitätsbewegungen28 , fehlen alle quellenmäßigen Voraussetzungen - übrigens nicht nur für das Mittelalter, sondern selbst für die neuere Zeit. Wissen wir zudem noch über Wesen und Wirkung der sogenannten "Dunkelziffer" Bescheid, so werden wir kaum in Versuchung geraten, aus geschichtlichen Grundlagen etwas von bleibendem Wert über das tatsächliche kriminelle Gesamtgeschehen in Zeit und Raum aussagen zu wollen.
11. Ganz so negativ, wie es nach den bisherigen, von einem theoretischen Ausgangspunkt her gewonnenen Darlegungen erscheint, braucht die Frage nach der Berechtigung und den Möglichkeiten einer historischen Kriminologie aber doch nicht beantwortet zu werden. Es kommt vor allem darauf an, die Ziele bescheidener abzustecken und sich der Grenzen historischer Erkenntnis bewußt zu bleiben. Diese ergeben sich für den Historiker vor allem aus der Quellenlage und aus dem Beweiswert der vorhandenen Zeugnisse. Dabei ist jedoch nicht von der Arbeitsweise des heutigen Kriminologen, sondern von den Methoden des Historikers auszugehen. 18 Eine von mir mit meinem Freiburger und Mainzer Schüler kreis angestellte Reihenuntersuchung über die Kriminalität mehrerer in ihrer sozialen Struktur verschiedenen Gemeinden Oberbadens erbrachte denn auch gerade dort, wo es sich um die historischen Grundlagen handelte, geringe Ergebnisse. 27 Radbruch/Gwinner, a. a. O. 7. 28 Dazu vor allem Wilhelm Sauer: Kriminologie als reine und angewandte Wissenschaft (1950) 440 ff.
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Für die Strafrechtsgeschichte besitzen wir ein vorab wichtiges, unentbehrliches Material im Gesetzesrecht. Es handelt sich um die Zeugnisse der Rechtsetzung, die wir herkömmlicherweise als "unmittelbare" Rechtsquellen bezeichnen 29 : förmliche Gesetze, Statuten, Weistümer, Ordnungen usw., die das "rechtliche Sollen" einer Zeit umreißen. Auch die Strafrechtsgeschichte hat dabei noch allerlei zu leisten. Einmal ist noch längst nicht das gesamte Material ediert oder auch nur bekannt; so fehlt uns, um nur auf ein Beispiel hinzuweisen, nach wie vor die Urfülle der in vielfach verschlungenem Zusammenhang stehenden Landes- und Gerichtsordnungen des 16. und 17. Jahrhunderts30 • Sodann muß festgestellt werden, daß das edierte oder sonstwie bekannt gewordene Material gerade nach der strafrechtsgeschichtlichen Seite hin noch weithin der Auswertung harrt31 • So wichtig nun diese Quellengruppe für die Strafrechtsgeschichte sein mag32 , so unergiebig erweist sie sich vielfach für die historische Kriminologie. Selten wird im Gesetzesrecht Wesentliches über das tatsächliche Geschehen ausgesagt33 • Man begnügte sich mit der Festlegung von Rechtsnormen, nahm mitunter wenig Rücksicht auf kriminalpolitische Bedürfnisse, sondern schuf das Recht nach einem vorgegebenen Denksystem, etwa nach scholastischen Kategorien oder nach der Wertordnung des Dekalogs, späterhin nach naturrechtlichen Überzeugungen. So finden wir im Gesetzesrecht oftmals Bestimmungen, denen für die praktische Strafrechtspflege ihrer Zeit offensichtlich geringe Bedeutung zukam, die man aber seitens einer von Gott oder von der Vernunft beauftragten Obrigkeit für besonders notwendig hielt34 • Auch dort, wo Präambeln auf die Verderbtheit der Welt im allgemeinen und auf diejenige der Zeit im besonderen hinweisen, ergibt sich wenig für die Feststellung einer tatsächlichen Kriminalität und ihrer zeitbedingten Eigenarten. 29 Dazu K. S. Bader: Zur rechtshistorischen Quellenlehre, ZSR NF 73 (1954) 265 ff. 30 Den gesamten Umfang des Materials lassen etwa die von F. Wintterlin und P. Gehring edierten "Württemberg. Ländliche Rechtsquellen" (1910/1941) erkennen. Die schweizerischen Ordnungen sind wenigstens zum Teil in der Sammlung schweizerischer Rechtsquellen erschlossen. 31 Für das Privatrecht unternimmt dies nunmehr G. K. Schmelzeisen: Polizeiordnungen und Privatrecht (1956). 32 Auch die Strafrechtsgeschichte wird jedoch gut daran tun, sich nicht nur auf diese Quellengruppe, sondern in stärkerem Umfange als bisher auch auf andere Zeugnisse des Rechtslebens, Urkunden usw., zu stützen. 33 Dürftig sind etwa die tatsächlichen Angaben der hochmittelalterlichen Landfriedensordnungen, die sich meist mit Sammelbezeichnungen wie rapina et incendium begnügen. Vgl. J. Gernhuber: Die Landfriedensbewegung in Deutschland bis zum Mainzer Reichslandfrieden von 1235 (1952), insbesondere 224 ff. Vgl. auch Radbruch/Gwinner 27 ff. 34 über die historischen Grundlagen des Rechtsgüterschutzes vgl. etwa Th. Würtenberger: Das System der Rechtsgüterordnung in der deutschen Strafgesetzgebung seit 1532 (1933); D. Oehler: Wurzel, Wandel und Wert der strafrechtlichen Legalordnung (1950), insbesondere 44 ff.
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Von weit größerer Bedeutung ist für eine kriminalgeschichtliche Tatsachenforschung der in seiner Gesamtheit nach wie vor unübersehbare Urkundenbestand. Bisher wurden überwiegend die älteren Urkunden, etwa bis zum 14. Jahrhundert, ediert; darin finden wir jedoch verhältnismäßig wenige Zeugnisse strafrechtlich und kriminologisch relevanten Inhalts35• Im Spätmittelalter mehren sich die Nachrichten; der gesamte Quellenbestand ist aber so riesig groß, daß er durch vollständige Editionen praktisch überhaupt nicht erschlossen werden kann, und so bleibt es denn meist bei gerade für unsere Zwecke wenig besagenden Regesten. Immerhin häufen sich jetzt, vor allem in den Städten, die Nachrichten über die tatsächlichen Erscheinungen der Strafrechtspflege38• Neben den Urkunden selbst besitzen wir für diese Zeit dann zahllose Gerichtsbücher, Urteilssammlungen, Stadt- und Blutbücher, wobei allerdings ein doppeltes zu beachten ist: im Vordergrund stehen einmal die Kapitalverbrechen, über deren Bestrafung getreulich berichtet wird, während Alltags- und Bagatelldelikte, für die Gesamtbeurteilung häufig charakteristischer als die in jeder Zeit sich wiederholende Schwerstkriminalität, häufig übergangen werden; sodann sind selbst die in Bücher eingetragenen Strafurteile und Vollzugstatsachen selten vollständig verzeichnet37• Eine Statistik über tatsächlich verhängte und vollstreckte Strafen läßt sich daher auch bei guter Quellenlage kaum je erstellen, und ein Urteil über das tatsächliche Gesamtgeschehen ist schon gar nicht möglich, weil wir viel zu wenig über die wichtigen Fragen der Verfolgungsintensität und die damit zusammenhängende große Unbekannte, die Dunkelziffer, wissen. Die Willkür, die das spätmittelalterliche Strafrecht kennzeichnet, läßt zudem stets der Vermutung Raum, daß man auf Fürbitte hoher Herren und Damen diesen oder jenen Verbrecher durch das lose Netz der damaligen Strafrechtspflege schlüpfen ließ 3s • Auch Gnade ließ man, und zwar sowohl bei der 35 Es ist dabei zu bedenken, daß das Strafurteil in mittelalterlicher Zeit nur selten schriftlich fixiert wurde. Große und berühmte Urkundenbücher, wie etwa das des Klosters St. Gallen, enthalten auch aus diesem Grunde nur in ganz geringem Maße Anhaltspunkte für das kriminelle Geschehen. Häufig wiederkehrende Klagen, etwa über Gewalttaten eines Klostervogtes, verraten ein weithin einförmiges Formular, das über die wirklichen Verhältnisse nichts besagt. 38 Eberh. Schmidt: Inquisitionsprozeß und Rezeption (1940). Reiche Angaben in den Monographien über das Strafrecht mittelalterlicher Städte. 37 Oft wurden solche Bücher, worauf ich bei meinem Referat in der Zürcher Gesellschaft hingewiesen wurde, auch erst viel später aus bruchstückartiger Überlieferung zusammengestellt und weisen dann natürlich große Lücken auf. 8S Über diese und andere ständische Rücksichtnahme vgl. H. Gwinner: Der Einfluß des Standes im gemeinen Strafrecht (1934). Speziell zu den Hexenprozessen W. Croissant: Die Berücksichtigung geburts- und berufsständischer sowie soziologischer Unterschiede im deutschen Hexenprozeß, Mainzer jur. Diss. (ungedruckt 1953).
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Verfolgung als auch bei der Vollstreckung, mit mitunter merkwürdiger Begründung walten3D • Zudem verhinderte das zu schweren Mißständen führende Asylrecht die Gleichbehandlung der Verbrecher40 • Wenn wir alle diese Fehlerquellen sorgsam berücksichtigen, läßt sich aus dem urkundlichen Bestand mancherlei über den tatsächlichen Umfang der Kriminalität des Mittelalters und der beginnenden Neuzeit sowie über Methoden der Verbrechensbekämpfung, auch über das reine Strafensystem hinaus, sagen - mit noch größerer Vorsicht vielleicht auch über Schwerpunkte der jeweiligen kriminellen Erscheinungen und über deren zeitweilige, von allerlei inneren und äußeren Tatsachen abhängige Verlagerung. Dabei mag das chronikalische Material das urkundliche da und dort ergänzen4l • Für die Neuzeit kommt zu diesem Quellenstoff noch die strafrechtliche Literatur hinzu. Schon die Anfänge eines wissenschaftlichen Schrifttums auf dem Gebiete des Strafrechts zeigen uns jenen Primat der dogmatischen Richtung, der - wenigstens bei uns in Mitteleuropa bis heute erhalten geblieben ist. Immerhin gibt es Ausnahmen, etwa dort, wo reines Fallrecht zusammengetragen wird, wie z. B. bei Benedikt Carpzow4!. Dem Ende des ancien regime gehören sodann die bereits erwähnten Sammlungen kapitaler und grotesker oder auch nur pittoresker Straffälle an wie die des Franzosen Fran!;ois Gayoz de Pitaval 43 , aus denen kein geringerer als Friedrich Schiller "Merkwürdige Rechtsfälle als ein Beitrag zur Geschichte der Menschheit" machteU - schon dies übrigens ein Hinweis auf eine eklektische und, gerade bei Schiller, nach ethischen Gesichtspunkten ordnende Methode, die den kriminologischen Wert des an sich reichen Materials wiederum beeinträchtigt. Bei aller Bedeutung, die Radbruch solcher und anderer, von ihm weit3D K. Beyerle: Von der Gnade im Deutschen Recht (1910) 15 ff. Reiches tatsächliches Material auch bei H. Rennefahrt: Grausamkeit und Mitleid im Rechtsleben des Mittelalters (nach bernischen und schweizerischen Quellen), in: Berner Zeitschrift für Geschichte und Heimatkunde 1949 17 ff. Zu den Auswirkungen fehlgeleiteter "Gnade" auch Moser-Nef, a. a. 0.516. 40 M. Siebold: Das Asylrecht der römischen Kirche mit besonderer Berücksichtigung seiner Entwicklung auf germanischem Boden (1930). Ergänzend, aber nicht überall überzeugend, o. Henssler: Formen des Asylrechts und ihre Verbreitung bei den Germanen (1954); dazu K. S. Kramer, ZRG 72 germ. Abt. (1955) 287 ff. 41 Wobei hier allerdings stärkere subjektive Elemente hervortreten und die Auswertung erschweren. Wichtig auch Aufzeichnungen von Vollzugsorganen, z. B. die von J. M. P. Endter 1801 herausgegebenen "Nachrichten" des Nürnberger Henkers "Meister Franz". f2 z. B. Practicae novae Imperialis Saxonicae Rerum Criminalium (1658). Mit einigem Vorbehalt verwertbar: Jakob Döpler: Theatrum poenarum oder Schauplatz derer Leibes- und Lebensstrafen (1963). 43 Causes celE~bres et interessantes (20 Bde. 1734 ff.), fortgesetzt von J. E. Laville (1788 ff.). 44 4 Teile, 1792/1795.
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gehend ausgeschöpfter Literatur für die Geistes- und Kulturgeschichte beimißt, wird man sich doch stets vor Verallgemeinerungen der so erstellten "Sittengemälde" und vor einer systematisch-exakten Auslegung der Zeugnisse hüten müssen. Es gibt, zumal in der zum Schöngeistigen hinneigenden Kriminalliteratur4s, eben auch Modeerscheinungen, die das Gesamtbild verwischen. Wesentliche und ständig wachsende Bedeutung kommt dann auch dem Bildmaterial zu, über das unsere Museen und Bibliotheken in reichem Maß verfügen48 • Vor allem die moderne Rechtsarchäologie, ein vielversprechender Zweig unserer heutigen Rechtsgeschichte47 , hat sich dieser Quellengruppe angenommen48 • Hier wird nicht so sehr die Straftat als solche, als vielmehr die Auffassung der Gesellschaft vom Wesen des Kriminellen und von den Mitteln und Möglichkeiten der Verbrechensbekämpfung im buchstäblichen Sinne sichtbar. Auch Quellen dieser Art bleiben jedoch individuelle Zeugnisse, die über die Gesamtheit des kriminellen Geschehens wenig besagen. Wir lernen Verbrechens- und Strafformen kennen, die Bekämpfungsorgane, vor allem den Henker4 ' und die schier unerklärliche Freude des Volkes an Schauerszenen der Strafjustizfio , die dahinterliegenden Antriebe und das Gesamtbild der tatsächlichen Vorgänge in einem negativen Sektor des sozialen Lebens aber bleiben uns verborgen. III.
Die "historische Kriminologie" existiert, so oder anders benannt, schon seit geraumer Zeit; Radbruch hat ihr einen zugkräftigen, aber, wie wir sehen, nicht ganz unverfänglichen Namen gegeben. Sie bedeutet, richtig verstanden, Tatsachenforschung neben der Geschichte des Strafrechts, eine Hilfswissenschaft, wie sie die moderne Kriminologie im Verhältnis zum heutigen Strafrecht darstellt. Eine neue Disziplin brauchen wir aus ihr deswegen noch nicht zu machen; es handelt sich mehr um eine neuerer rechtshistorischer Forschung wohlbekannte Methode. Was können wir für eine solche historische Kriminologie tun? Lohnt sich ein ernsthaftes Bemühen um diesen Seiten ast der Kriminalwissenschaften und der Rechtsgeschichte? Dazu Th. Würtenberger: Die Kriminalerzählung (1941). Ein umfassendes Material bietet etwa Hans Fehr: Das Recht im Bilde (Zürich, o. J.). ~7 K. v. Amira und Cl. v. Schwerin: Rechtsarchäologie (1943). 48 Neben der Rechtsarchäologie sind die Bemühungen der Rechtlichen Volkskunde zu beachten, die sich vor allem mit dem enge Berührung gerade mit Strafrecht und Straftat haltenden Rechtsbrauch beschäftigt. Anklänge an diese Richtung finden sich schon bei Eduard Osenbrüggen. 49 E. Angstmann: Der Henker in der Volksmeinung (1928). 541 K. S. Bader und G. Bader-Weiss: Der Pranger (1935) 159 ff. ~5
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Ich glaube, ja. Mit der Geschichte des Strafrechts allein ist es heute sicherlich nicht mehr getan. Wir wollen mehr wissen. Wir wollen wissen, ob die großen Wandlungen in der Sozialgeschichte in nachprüfbarer Weise das Gesamtbild der Kriminalität beeinflußt haben. Wir möchten wissen, wie sich Verbrechen und Verbrecher mit ihrer Zeit wandeln, wie es zu Tat- und Tätertypen kommt, nicht zuletzt, mit welchen - nicht nur strafrechtlichen - Mitteln man dieser Erscheinungen je und je Herr zu werden versuchte. Eine historische Kriminologie, recht verstanden und nach Lage unserer Quellen begrenzt, kann uns darüber einiges sagen. Überspannen dürfen wir unsere Erwartungen aber nicht. Wir müssen zufrieden sein, wenn es gelingt, Spiegelbilder zu schaffen. Das Gesamte werden wir nie erfahren, eine volle vergangene Wirklichkeit nie erfassen. Das vermag auch keine moderne Kriminologie, selbst wenn manche ihrer zu erkenntnistheoretischem Optimismus neigenden Vertreter dies glauben mögen.
HISTORISCHE RECHTSTATSACHENFORSCHUNG IN THEORIE UND PRAXIS Von David A. Funk* I. Zur Soziologie der Rechtsgeschichte Das Methodenproblem, welchem sich die Rechtsgeschichte heute gegenübersieht, gleicht den Problemen nahezu jeder anderen Wissenschaft: Frühere Erfolge in der Entwicklung von Methoden zur Lösung von Forschungsaufgaben führen zu sozialen Veränderungen innerhalb einer Disziplin, welche ihrerseits die Entwicklung neuer Methoden zur Lösung zukünftiger Forschungsfragen erschweren. Jede wissenschaftliche Disziplin wird bis zu einem gewissen Grade zu einer Gemeinschaft von Wissenschaftlern mit mehr oder weniger allgemein anerkannten Vorstellungen darüber, welche Arten von Belegen schlüssig, welche Forschungsmethoden geeignet und welche Formen der wissenschaftlichen Auseinandersetzung angemessen sind1 • Solche gemeinhin anerkannten methodologischen Grundlagen einer Disziplin führen leicht dazu, daß Kreativität und neue Entwicklungen in der Forschung nur soweit gedeihen, als sie über den Rahmen von Variationen des bereits Üblichen nicht hinausgehen. Diese Prozesse sind gerade bei der Rechtsgeschichte deutlich zu erkennen, wo gegenwärtig die Untersuchung von Dokumenten in ihrem historischen Zusammenhang, das Interesse für Wendepunkte in der Gesetzgebung und in der Entwicklung rechtlicher Institutionen sowie beschreibend-erzählende Abhandlungen über die Geschichte einzelner Normen im Vordergrund stehen. Diese traditionellen Fragestellungen und Methoden kamen bei den großen Standardwerken zur nationalen Rechtsgeschichte zum Zuge, wie sie im 19. und 20. Jahrhundert entstanden sind, und trugen zur Entstehung unseres
* Professor David A. Funk lehrt Rechtsgeschichte, Rechtssoziologie und Rechtsphilosophie an der School of Law der Indiana University in Indianapolis. Seine Ausbildung erhielt er am College of Wooster in Ohio (A. B.), an der Case Western Reserve University (J. D., LL. M.), an der Ohio State University (M. A.) sowie an der Columbia University (LL. M.). Unter seinen zahlreichen Veröffentlichungen sei auf Group Dynamic Law (New York: Philosophical Library, 1982) hingewiesen, worin sich Funk mit der Anwendung von Organisations- und gruppendynamischen Theorien auf das Privatrecht befaßt. 1 Vgl. Kai Erikson: Sociology and the Historical Perspective, in Wendel Bell/James A. Man: The Sociology of the Future: Theory, Cases, and Annotated Bibliography, 2. Aufl. New York 1977, S. 75 f.
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modernen geschichtlichen Selbstverständnisses bezüglich der Wandlungen des Rechts bei. Heute steht die Rechtsgeschichte jedoch vor der Frage, ob sie sich auch der Methoden der Rechtstatsachenforschung! bedienen kann und soll, um rechtsgeschichtliche Abhandlungen um eine neue Dimension zu erweitern, sei es bei der Bearbeitung alter oder beim Angehen neuer Fragestellungen. 11. Theorien der historischen Rechtstatsachenforschung Die Rechtsgeschichte ist ein Zweig sowohl der Geschichts- als auch der Rechtswissenschaft und kann sich daher nicht auf eine rein chronologische Beschreibung vergangener Rechtsnormen und -institutionen beschränken. Fragt sich der Rechtshistoriker - im Sinne Leopold von Rankes3 - "wie es eigentlich gewesen" ist, so wird die Rechtsgeschichte zu einer selbständigen Disziplin und bedarf damit einer Methode zur Beantwortung der Frage, warum es zu den fraglichen rechtlichen Entwicklungen gekommen ist. Rankes berühmtes Zitat und der Einfluß dieses Autors hat zwar die Rechtshistoriker des 19. Jahrhunderts ermuntert, sich auf kritische Quellenstudien - und zwar der ursprünglichsten und unverfälschtesten Dokumente - zu konzentrieren, was damals einen großen Fortschritt darstellte. Heute jedoch sollte die historische Rechtstatsachenforschung darüber hinaus dazu beitragen, das Warum der Ereignisse zu erklären. Von ihren beiden "Eltern" - der Geschichts- wie der Rechtswissenschaft - hat die Rechtsgeschichte eine konservative Grundhaltung geerbt, weshalb es nicht überrascht, wenn sich das "Kind" gegenüber neuen methodischen Ansätzen als besonders skeptisch erweist. Die meisten Historiker sind, sei es von Anfang an oder durch das Studium der Vergangenheit, eher konservativ', und dasselbe ließe sich von den meisten Juristen sagen, wobei wiederum offen bleiben kann, ob diese Tendenz von Anfang an vorhanden ist oder aber auf das Studium der bestehenden Rechtsordnung zurückzuführen ist. Dies soll nicht heißen, daß ihre Ansichten falsch wären; indessen sollten sich Rechtshistoriker wenigstens bewußt sein, daß diese Grundeinstellung sie auch in ihrer Arbeit beeinflussen kann. Schon gar nicht sollten sie zulassen, daß ihre Weltanschauung - welcher Art diese auch immer sein möge - sie in der Wahl der Forschungsmethoden einengt. 2 Zum Begriff der Rechtstatsachenforschung siehe Manfred Rehbinder: Sociology of Law: A Trend Report and Bibliography, Den Haag 1975, S. 15. 3 Leopold von Ranke: Geschichte der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1514, 3. Auf!. Leipzig 1885, S. V. 4 Alan Bullock: Is History Becoming a Social Science?, History Today 29
(1979), S. 760-767.
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Der vorliegende Beitrag ist der Darstellung von Theorie und Forschung der amerikanischen historischen Rechtstatsachenforschung gewidmet - in der Hoffnung, die Betrachtungen eines Amerikaners zu diesem Thema seien für europäische Rechtshistoriker von einigem Nutzen. Damit soll freilich nicht gesagt sein, amerikanische Rechtshistoriker seien ihren europäischen Kollegen in der übernahme empirischer Forschungsmethoden aus den Sozialwissenschaften voraus. In Europa und Amerika sind Historiker dazu übergegangen, solche Forschungstechniken bei der Untersuchung allgemeiner historischer Fragestellungen zu verwenden, und dasselbe gilt - in Europa wie in Amerika für manche Rechtshistoriker, worauf im II!. Abschnitt zurückzukommen ist. Wenn dabei vor allem von amerikanischen Arbeiten die Rede sein wird, so soll das nicht heißen, daß der hier darzustellende Standpunkt des Verfassers von amerikanischen Rechtshistorikern eher geteilt würde als von europäischen. Vielmehr mögen die hier darzustellenden Beispiele amerikanische wie europäische Rechtshistoriker ermuntern, in ihrer Forschungstätigkeit vermehrt Fragestellungen und Methoden der historischen Rechtstatsachenforschung zu berücksichtigen. Dabei mag es sich als notwendig erweisen, Forschungsmethoden, die sich in einem Lande bewährt haben, bei der übernahme in einer anderen Umgebung entsprechend den politischen und rechtlichen Gegebenheiten anzupassen. Die Rechtsgeschichte ist in hohem Maße auf gut erhaltene Regierungsdokumente angewiesen, welche nicht für alle Zeitabschnitte und Regionen in gleicher Weise zur Verfügung stehen, woraus sich für den Vergleich verschiedener Kontexte leicht asymmetrische Voraussetzungen ergeben. Vor allem ist die Anwendung sozialwissenschaftlicher Forschungstechniken auf quellenarme Zeitabschnitte mit großen Schwierigkeiten verbunden 5 • Die Methoden der historischen Rechtstatsachenforschung sind denjenigen sehr ähnlich, die in Längsschnittuntersuchungen der historischen Rechtssoziologie verwendet werden. Rechtshistoriker wie Rechtssoziologen untersuchen vergangene Ereignisse über eine bestimmte Zeitperiode hinweg, um ihre Hypothesen über die damalige Rechtswirklichkeit zu überprüfen. Dabei befaßt sich die historische Rechtstatsachenforschung im Vergleich zur Rechtssoziologie eher mit längeren und älteren Zeitepochen, bei deren Untersuchung sich die traditionelle Ausbildung des Rechtshistorikers als außerordentlich vorteilhaft erweist. Die Kenntnis einer Epoche und das Einfühlungsvermögen in ihre natürlichen zeitlichen Grenzen im Bereiche des Rechts erleichtern es dem Rechtshistoriker außerordentlich, aussagekräftige Hypothesen zu formulieren und verhältnismäßig wirkungsvolle Wege zu ihrer überprüfung zu finden. Seine Erfahrung in der Arbeit mit historischen 5
Dazu Erikson (FN 1), S. 63.
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Rechtsdokumenten und sein Geschick in der Berücksichtigung möglicherweise verlorener oder durch manche Urkundspersonen verfälschter Akten lassen seine Interpretation der fraglichen Epoche eher gerecht werden. Gleichzeitig mögen allerdings die bestehenden Traditionen seiner Disziplin ihn dazu verleiten, seine Untersuchung mit den üblichen Methoden durchzuführen und auf jene Teile der Quellen zu beschränken, die ihm die maßgeblichen rechtlichen Ereignisse der betreffenden Zeit zu enthalten scheinen. Gewiß mag die traditionelle historische Methode den einzig sinnvollen Weg darstellen, wo die Daten oder die Mittel zu deren Auswertung für empirische Forschungstechniken ungeeignet erscheinen, doch haben andererseits die meisten Sozialwissenschaften großen Nutzen daraus gezogen, daß ihre Forschungen durch Quantifizierung an Präzision gewonnen habenS. Infolgedessen sollte der Rechtshistoriker quantitativen Methoden, wie sie in der historischen Rechtssoziologie üblich sind, nicht ausweichen, wenn sich diese zur Erklärung historischer Ereignisse besser eignen als die gebräuchlicheren Untersuchungsmethoden der Rechtsgeschichte. Gewisse Historiker behaupten, die Geschichte habe vor allem das Einzigartige zum Gegenstand und könne sich - als ideographische Disziplin - daher nicht auch mit dem Allgemeingültigen, nomothetisch zu erklärenden, befassen7 • Bis zu einem gewissen Grade mag dies für alle Teilgebiete der Geschichtswissenschaft richtig sein, doch offensichtlich trifft dies für die politische und diplomatische Geschichte in stärkerem Maße zu als für die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Die bewußte Setzung einer Rechtsnorm hat nun einerseits manches mit, politischen und diplomatischen Ereignissen gemein, wie sie im betreffenden Teil der Geschichtswissenschaft beschrieben werden; andererseits weisen die allgemeinen sozialen Faktoren, die zum an sich einzigartigen Ereignis der Schaffung einer Rechtsnorm geführt haben 8 , viele Parallelen zu den nomothetisch zu erklärenden Entwicklungen auf, die Gegenstand der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte bilden, und außerdem verlangt die Erklärung der sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen einer bestimmten Rechtsnorm oder -institution häufig den Einbezug allgemeiner gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Prozesse. Infolge• Vgl. David A. Funk: Pure Jurimetries: The Measurement of Law in Deeision-Regulations, University of Pittsburgh Law Review 34 (1973), S. 375-428. 7 So Werner Cahnman/ Alvin Boskoff: Soeiology and History, London 1964, S.3f. 8 In Amerika, wo die Rechtssoziologie in die Teildisziplinen der "genetie soeiology of law" und der "operational soeiology of law" unterteilt ist, gehört die Analyse der Rechtsetzung zur ersteren dieser Teildisziplinen, während sich die letztere vor allem mit den Auswirkungen von Gesetzen, sog. impact studies, befaßt. Für eine kurze Bibliographie amerikanischer impact studies siehe David A. Funk: Major Funetions of Law in Modern Soeiety, Case Western Reserve Law Review 23 (1972), S. 257-306.
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dessen begibt sich der Rechtshistoriker, der in seinem Gegenstand allein nach dem Einzigartigen sucht, der meisten Werkzeuge zur Analyse der Ursprünge und Nachwirkungen eines Gesetzes oder einer Rechtsinsti tution. Ironischerweise erklärt sich ein großer Teil der Widerstände gegen die Verwendung empirischer Forschungstechniken in der Rechtsgeschichte aus der literarischen Form, in welcher in dieser Disziplin publiziert wird, und weniger aus irgendeiner durchdachten Beurteilung der Nützlichkeit dieser Forschungsmethoden8 • Empirische Untersuchungen werden gewöhnlich in Form eines Forschungsberichts mit Zusammenfassung und eingehender Datenanalyse veröffentlicht, kaum dagegen in der Form einer historischen Erzählung. Solche Forschungsberichte richten sich weit eher an den Intellekt als an die Emotionen des Lesers, sie werden viel häufiger von Fachleuten als von allgemein interessierten Lesern zur Kenntnis genommen, und sozusagen nie stellen sie so etwas wie gehobene Literatur dar. Nun hängt bei einigen kreativen Tätigkeiten - man denke etwa an Dichtung und Theater - alles von Stil und Art der Darstellung ab, während wissenschaftliche Auseinandersetzung in literarischer wie auch in Form eines Forschungsberichts möglich ist. Soweit nun die Geschichtswissenschaft sich als Wissenschaft versteht, welcher es in erster Linie darum geht, dem Leser ein genaues Bild der wirklichen Ereignisse zu vermitteln, dürfte die literarische Form der Darstellung von zweitrangiger Bedeutung sein. Für die Rechtsgeschichte dürfte dies in noch stärkerem Maße gelten, zumal die Nachfrage seitens der Öffentlichkeit nach rechtsgeschichtlichen Abhandlungen ohnehin geringer ist als etwa diejenige nach nationaler Geschichtsschreibung, richten sich doch rechtsgeschichtliche Abhandlungen meistens nur an ein kleines ausgewähltes Publikum. Umgekehrt ist, soweit mehr allgemein zugänglich verfaßte rechtshistorische Veröffentlichungen erforderlich sein sollten, um das Interesse einer breiteren Öffentlichkeit zu befriedigen, nicht einzusehen, wieso diese Art rechtsgeschichtlicher Arbeiten nicht im traditionellen Erzählstil geschrieben werden könnten, nur weil manche Veröffentlichungen im Bereiche der rechtshistorischen Grundlagenforschung, auf welche sich derartige Gesamtdarstellungen zwangsläufig stützen müssen, in der Form von Forschungsberichten abgefaßt sind. Offensichtlich eignet sich die historische Rechtstatsachenforschung eher für die Mikro-Ebene als für historische Gesamtdarstellungen10 , 8 Siehe z. B. Rohert W. Fogei: The Limits of Quantitative Methods in History, American Historical Review 80 (1975), S. 329-350 (338); Peter Laslett: History and the Social Sciences, International Encyclopedia of the Socia). Sciences vol. 6, New York 1968, S. 435; Frederick J. Teggart: Theory and Processes of History, Gloucester (Mass.) 1972, S. 74.
David A. Funk denn je allgemeiner die zu untersuchende rechtliche Erscheinung, desto schwieriger gestaltet sich die Kontrolle aller bedeutsamen Variablen. Umgekehrt ist damit jedoch die Gefahr von Irrtümern bei historischen Untersuchungen auf der Makroebene größer, und ihre Ergebnisse sind in stärkerem Maße Umdeutungen ausgesetzt als diejenigen von Untersuchungen auf der Mikro-Ebene. Immerhin dürfte es mit den gebotenen Einschränkungen auch bei rechtshistorischen Untersuchungen auf der Makro-Ebene möglich sein ,empirische Forschungstechniken in begrenztem Umfang zu verwenden. Rechtshistoriker, die an das Arbeiten allein gewöhnt sind, mögen auch empfinden, daß historische Rechtstatsachenforschung Gruppenarbeit, gewaltige Finanzmittel und unter Umständen sogar teure Computer erfordertl1 • Indessen lassen sich Datenbestände von begrenztem Umfang durchaus mittels traditioneller Methoden, d. h. von Hand, auswerten1!, und außerdem können durch eine Zufallsauswahl die auszuwertenden Daten auf eine noch überblickbare Zahl reduziert werden. Traditionell arbeitende Historiker ziehen es zudem ebenfalls häufig vor, einige von ihnen als typisch angesehene Einzelfälle herauszugreifen und anhand dieser - pars pro toto - Aussagen über das Ganze zu machen, sobald das Sichten aller verfügbaren Dokumente zu einem Thema ihre Möglichkeiten übersteigt oder aber deren detaillierte Beschreibung ihren Erzählstil unterbrechen würde l3 • Infolgedessen sollte gegen objektivere Methoden, um eine repräsentative Auswahl zu finden, nichts einzuwenden sein. Statistische Vergleiche zwischen den gefundenen und den nach Zufall zu erwartenden Verteilungen nehmen zwar bei zunehmender Größe der Auswahl an Zuverlässigkeit zu, doch stehen eine Reihe gröberer Verfahren zur Verfügung, die sich besonders für kleine Stichproben eignen14 • Eine Stichprobe der hierzu erforderlichen Größe ist auch für einen einzelnen Forscher durchaus zu bewältigen. Auch Forscher, die ohne erhebliche Mittel und allein arbeiten und nur relativ kleine Stichproben zur Verfügung haben, können sich bei rechtshistorischen Untersuchungen somit empirischer Forschungstechniken bedienen. 1~ H. Stuart Hughes: History as Art and as Science: Twin Vistas on the Past, New York 1964, S. 7. 11 Robert P. Swierenga: Computers and American History, The Journal of American History 60 (1974), S. 1045-1070 (1064 f.); Edward Shorter: The Historian and the Computer, Englewood Cliffs (New Jersey) 1971; Carl A. Lückerath: Prolegomena zur elektronischen Datenverarbeitung im Bereich der Geschichtswissenschaft, Historische Zeitschrift 207 (1968), S. 265-296. 12 David A. Funk: International Laws as Integrators and Measurement in Human Rights Debates, Ca se Western Reserve Journal of International Law 3
(1971), S. 123-161.
Dazu Laslett (FN 9), S. 439. So etwa der t-Test von Student, Yates korrigierter Chi-Quadrat-Test für kleine Stichproben, der Kolmogorov-Smirnov-Test usw. 13 14
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In Labor-Experimenten, und zwar namentlich in der Physik und Chemie, pflegt der Forscher zunächst theoretisch vorauszusagen, welche Folgen sich aus dem Experiment ergeben werden, und kontrolliert anschließend, ob die erwarteten Ergebnisse eingetreten sind. Forscher, die sich, wie u. a. die Rechtshistoriker, mit der Vergangenheit befassen, können sich dieser klassischen, auf Vorhersage künftiger Ereignisse gegründeter experimenteller Methode nicht bedienen. Allerdings befinden sich andere Naturwissenschaftler - wie Astronomen und Geologen - in einer durchaus vergleichbaren Lage, müssen doch auch sie ihre "kontrollierten Experimente" allein in ihrer Vorstellungswelt durchführen und sich der Logik einer nachträglichen Interpretation statt einer echten Vorhersage bedienen, um die Gültigkeit ihrer Hypothesen zu überprüfen. Dabei prüft der Forscher, ob, wenn die AntecedensBedingungen nach seiner Hypothese vorliegen, die Folgen derselben entsprechen beziehungsweise ob sich die Ereignisse gemäß seiner Hypothese abgespielt haben, wobei er alle anderen denkbaren Erklärungen (durch Einführung von Kontroll-Variablen) miteinbezieht. Diese Form eines Quasi-Experiments ist den Fragestellungen der Rechtsgeschichte offensichtlich eher angemessen als das klassische VorhersageExperiment, obwohl die Grundlagen beider Formen wissenschaftlicher Erklärung letztlich dieselben sind15• Sobald der Rechtshistoriker über eine reine Chronik der Ereignisse hinausgeht und zu erklären versucht, warum sich die Ereignisse gerade so und nicht anders abgespielt haben und welcher Art die Folgen waren, gleichen seine theoretischen Erklärungsansätze wissenschaftlichen Hypothesen in irgendeiner anderen Sozialwissenschaft. Wenn diese Erklärungsansätze einmal verifiziert sind, werden diese, aus unzähligen Einzelbeobachtungen gewonnenen theoretischen Abstraktionen, Teil des Ideengerüsts, welches irgendein rechtliches Phänomen innerhalb seines einzigartigen historischen Kontexts zu verstehen und anhand des Wertgefüges des Forschers zu würdigen erlaubt16 • über die allgemeinen Vorteile hinaus, wie sie oben dargestellt worden sind, haben die Methoden der historischen Rechtstatsachenforschung für den Rechtshistoriker mindestens drei weitere spezifische Vorzüge. 15 Robert F. Berkhofer Jr.: A Behavioral Approach to Historical Analysis, New York 1969, S. 279 f.; Louis Gottschalk: Generalization in the Writing of History, Chicago 1963; David A. Funk: Legal Futurology, Law Library Journal 73 (1980~, S. 625-633; Hughes (FN 10), S. 87. 16 Die Mehrzahl der Wissenschaftler ist der Ansicht, Werturteile über einzelne Ereignisse ließen sich letztlich nicht mit wissenschaftlichen Methoden überprüfen. Vertreten läßt sich demgegenüber jedoch die Auffassung, daß wissenschaftliche Methoden sich bei der überprüfung von Werturteilen in teleologischer Hinsicht verwenden lassen, siehe David A. Funk: Religion, Ethical Natural Consequentialism, and the Science of Justice, Capital University Law Review 8 (1979), S. 371-386.
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Zunächst ermuntert die Verwendung empirischer Forschungstechniken die Rechtshistoriker, ihre Forschungsstrategien und -methoden sorgfältiger zu überdenken17• Zweitens erleichtern sozialwissenschaftliche Forschungstechniken die Berücksichtigung sozialer und wirtschaftlicher Auswirkungen von Gesetzen auf die Bevölkerung, was zugleich erlaubt, die traditionelle Vorliebe der Rechtshistoriker für große Gesetzgeber aus den gesellschaftlichen Eliten etwas auszugleichen18• Schließlich ermöglicht die Quantifizierung der Daten echte interkulturelle Vergleiche, was zur Entwicklung einer wirklich vergleichenden Rechtsgeschichte beitragen könnte 1'. Selbstverständlich sind auch die Möglichkeiten der historischen Rechtstatsachenforschung nicht grenzenlos und ganz ohne Gefahren. Allerdings ist ohnehin zu erwarten, daß die Rechtsgeschichte auf absehbare Zeit hinaus weiterhin mit den traditionellen Methoden arbeiten wird, weshalb es unter den gegebenen Umständen bereits als Erfolg zu bezeichnen wäre, wenn die Rechtstatsachenforschung innerhalb der Rechtsgeschichte einen legitimen Platz erringen könnte.
In.
Beispiele historischer Rechtstatsachenforschung in Amerika
Rechtshistoriker, die sich durch die obigen theoretischen Ausführungen angesprochen fühlen, dürften sich für einige spezifische Beispiele empirischer rechtsgeschichtlicher Forschung in Amerika interessieren, und auch diejenigen, die dieser Methode skeptisch gegenüberstehen mögen, könnten der einen oder anderen dieser Untersuchungen gewisse Anregungen für ihre eigenen Forschungen entnehmen. Allerdings stellt die hier folgende Übersicht in keiner Weise eine vollständige Bibliographie oder einen Literaturbericht über alle einschlägigen amerikanischen Veröffentlichungen daro, sondern beruht auf einer Auswahl 17 Vgl. Robert Forster: Quantifying History, Journal of Interdisciplinary History 5 (1974), S. 303-312 (304). 18 James A. Inciardi/Alan A. Block/Lyle A. HalloweIl: Historical Approaches to Crime, Beverly Hills 1977, S. 138. 18 Ein Beispiel, was mit der Quantifizierung der Variablen auf internationaler Ebene auch im Bereich der vergleichenden Rechtsgeschichte erreicht werden könnte, liefert Robert B. Textor (ed.): A Cross-Cultural Summary, New Haven (Conn.) 1967. Auf über 1000 Seiten werden in diesem Werk 20 000 statistisch signifikante Korrelationen zwischen Variablen aus 400 Kulturen vorgelegt. 10 Englischsprachige rechtshistorische Veröffentlichungen werden in Nachschlagewerken in der Regel nach ihrem Gegenstand und nicht nach der verwendeten Methode erfaßt, so daß es beinahe unmöglich ist, einen Gesamtüberblick über alle veröffentlichten Arbeiten im Bereiche der historischen Rechtstatsachenforschung zu gewinnen. Die einzige dem Verf. bekannte Ausnahme stellt das Lexikon von Alfred de Grazia: The Universal Reference System, Princeton (New Jersey) 1969, dar, welches auch Stichwörter zur ver-
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einiger Arbeiten amerikanischer Autoren zur englischen oder amerikanischen Rechtsgeschichte. Wie nicht anders zu erwarten, hat ein großer Teil der empirischen rechtsgeschichtlichen Arbeiten Themen aus dem Bereich der Strafrechtsgeschichte, der Geschichte des Wirtschaftsrechts und der Geschichte des Besiedlungsrechts zum Gegenstand, wie denn auch in den Nachbardisziplinen, nämlich der historischen Kriminologie und Demographie sowie der Wirtschaftsgeschichte, empirische Forschungsmethoden verhältnismäßig stark dominieren. Wenn auch die übernahme der Methoden der nachstehend beschriebenen Forschungsprojekte in Europa gewisse Anpassungen erfordern dürfte, so mag dieser knappe überblick nichtsdestoweniger die thematische Breite und auch gewisse Mängel - der amerikanischen historischen Rechtstatsachenforschung illustrieren. 1. Eigentum und Testament
Die Geschichte des amerikanischen Westens stellte für Anderson/Hilll l geradezu ein "Labor" dar, um den Wandel des Eigentumsrechts im Zeichen sich ändernder Kosten und Vorteile im Zusammenhang mit Land, Wasser, Pferden und Vieh zu untersuchen. So führten etwa die abnehmenden Kosten der Kennzeichnung von Tieren mit Brandmalen und die billiger gewordene Einzäunung der Herden mit Stacheldraht zu einer zunehmenden gesetzgeberischen Regelung dieser Vorgänge. Zwar haben die Autoren die einzelnen Variablen nicht exakt quantifiziert, doch läßt ihre Untersuchung immerhin erkennen, wie genauere Maße von Kosten und Vorteilen mit der Veränderung des Eigentumsrechts einhergehen könnten. Eine Untersuchung Friedmans22 über die Testamente von 150 Personen, die in den Jahren 1850, 1875 und 1900 gestorben waren, zeigte anhand von Tabellen, jedoch ohne entsprechende Korrelationskoeffizienten, aufschlußreiche Veränderungen des Inhalts letztwilliger Verfügungen, und zwar insbesondere eine zunehmende Begünstigung des überlebenden Ehegatten. Je mehr zudem die Lebenserwartung der letztwillig verfügenden Personen zunahm und je mehr Zeit zwischen wendeten Methode enthält. In dessen Bd. 7 (Law, Jurisprudence, and Judicial Process) figurieren neben themenbezogenen Stichwörtern auch solche zur verwendeten Methode wie "tests", "statistics" und "quantitative". Bei anderen Nachschlagewerken erweisen sich Stichwörter wie "history and sociology", "historical sociology" und "history - statistical methods" als bester Einstieg auf der Suche nach Veröffentlichungen im Rahmen der historischen Rechtstatsachenforschung. !1 Terry L. Anderson/P. J. Hill: The Evolution of Property Rights, Journal of Law and Economics 18 (1975), S. 163-179. 22 Lawrence M. Friedman: Patterns of Testation in the 19th Century: A Study of Essex County (New Jersey) Wills, American Journal of Legal History 8 (1964), S. 34-53. 4'
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der Errichtung des Testaments und dem Tod des Erblassers verstrich, desto ausgeprägter wurden letztwillige Verfügungen zu einem planmäßig eingesetzten Mittel, um die gesetzliche Erbfolge ganz oder teilweise auszuschalten, und verloren mehr und mehr den Charakter einer hastigen Regelung der Hinterlassenschaft im Angesicht des Todes.
2. Scheidungsrecht und -verfahren In einer ausgezeichneten neueren Untersuchung wurden Scheidungsraten als Indikator für den Fortschritt der Frauen auf dem Wege zur Gleichberechtigung seit 1860 bis heute verwendet23 • Anhand von Grafiken, welche den Prozentsatz der gutgeheißenen Scheidungsklagen von Ehefrauen insgesamt und für die einzelnen Scheidungsgründe wiedergeben, ließen sich drei historische Abschnitte in der Entwicklung des Scheidungsrechts ermitteln, nämlich zunächst eine Periode vorwiegend wegen Ehebruchs ausgesprochener Scheidungen, gefolgt von einer Zeit, in welcher eine rechtliche Fiktion vorherrschte - und zwar gewöhnlich diejenige der "Grausamkeit", da Ehebruch schwierig zu beweisen und für die Parteien überdies oft peinlich war - und schließlich eine Epoche relativer Scheidungsfreiheit. Die Verwendung quantitativer Daten erlaubte aufschlußreiche Vergleiche der verschiedenen Staaten und Regionen Amerikas, aber auch solche mit England und Australien. Von Interesse wäre in diesem Zusammenhang auch ein Vergleich mit den bei Wolf, Lüke und Hax 24 wiedergegebenen und von Glass, Tiao und Maguire25 mit erheblichem statistischem Aufwand analysierten deutschen Scheidungsraten der Jahre 1881 bis 1914.
3. Handelsrecht und Konkursrecht In verschiedenen amerikanischen Untersuchungen wurden Methoden der Rechtstatsachenforschung verwendet, um der Beziehung zwischen dem Betreibungsverfahren und den wirtschaftlichen Verhältnissen nachzugehen. So fand Coleman 26 , daß die Zahl der bewilligten und abgelehnten Anträge auf Insolvenzerklärung einen brauchbaren Gradmesser der Wirtschaftslage hergibt, und zwar insbesondere nach 1789, und daß die damaligen Änderungen der Rechtsstellung des Gläubigers eine ver23 Lawrence M. Friedman/Robert V. Percival: Who Sues for Divorce?, Journal of Legal Studies 5 (1976), S. 61-82. 24 Ernst Wolf/Gerhard Lüke/Herbert Hax: Scheidung und Scheidungsrecht, Tübingen 1959. 25 Gene V. Glass/George C. Tiao/Thomas O. Maguire: The 1900 Revision of German Divorce Laws: Analysis of Data as a Time-Series Quasi-Experiment, Law and Society Review 5 (1971), S. 539-562. 28 Peter J. Co1eman: The Insolvent Debtor in Rhode Island 1745-1828, William and Mary Quarterly 22 (1965), S. 413-434.
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änderte Einstellung widerspiegeln. Priest27 untersuchte anhand der Zahl und der Geldbeträge in Gerichtsurteilen während der Wirtschaftskrise in den Jahren nach 1837 die Auswirkungen von Gesetzen, die in Illinois in den Jahren 1841 und 1843 erlassen worden waren und denenzufolge zwangsverwertete Gegenstände nicht unter zwei Dritteln ihres Schätzwertes versteigert werden durften. Nach den Ergebnissen dieser Studie blieben die Änderungen der gesetzlichen Bestimmungen über die Ermittlung des Schätzwertes eindeutig wirkungslos, während die Änderungen der Bestimmungen über die der Zwangsvollstreckung entzogenen Vermögensstücke der Schuldner in ihren Auswirkungen schwieriger zu beurteilen sind. Skilton28 bediente sich schließlich der Konkursstatistiken von Philadelphia (Pennsylvanien) sowie weiterer ökonomischer Daten aus dem 19. und 20. Jahrhundert, um die Wechselwirkung zwischen Wirtschaftszyklen und dem Druck auf den Gesetzgeber darzustellen, Zahlungsaufschub für Hypothekenschuldner und Entschuldungsprogramme zu verordnen.
4. Sozial- und Wirtschaftsgesetzgebung Brown29 gelangte in einer Untersuchung über die Armenhilfe in einer Grafschaft des Staates Wisconsin zum Ergebnis, daß dieselbe wirkungsvoll gewesen sei, da die bedürftigsten Personen wirklich in ihren Genuß gelangten, während weniger Notleidende auf den Weg der Selbsthilfe verwiesen worden seien. Brown liefert dazu eingehende Angaben über die Zahl der unterstützten Personen, deren familiäre Verpflichtungen, die Höhe und Dauer der Unterstützung usw., jedoch keine beschreibenden oder schließenden Statistiken. Amtliche Statistiken des Staates Washington über Schadenersatzleistungen an Arbeiter benützte Tripp 30, um den Zeitaufwand der Justizpersonen für die Beurteilung von Schadenersatzklagen von Arbeitern sowie um den Anteil zu ermitteln, welcher von den von den Arbeitern entrichteten Versicherungsprämien auf Versicherungsleistungen an geschädigte Arbeiter, auf Verwaltungsunkosten und auf Anwaltsgebühren entfiel. Obwohl die entsprechenden Gesetze darauf angelegt waren, den Arbeitern zu helfen, fand Tripp, 27 George L. Priest: Law and Economic Distress: Sangamon County, Illinois, 1837-1844, Journal of Legal Studies 2 (1973), S. 469-492. 28 Robert H. Skilton: Developments in Mortgage Law and Practice, Temple Law Quarterly 17 (1943), S. 315-384; ders., Mortgage Moratoria since 1933, University of Pennsylvania Law Review 92 (1943), S. 53-90; ders.: Government and the Mortage Debtar, 1929-1939, Temple Law Quarterly 18 (1943), S.61-143. 29 Elizabeth G. Brown: Poor Relief in a Wisconsin County, 1846-1866, American Journal of Legal History 20 (1976), S. 79-117. 30 Joseph F. Tripp: An Instance of Labor and Business Cooperation: Workmen's Compensation in Washington State (1911), Labor History 17 (1976), S.530-550.
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daß nur gerade 10 Prozent der einbezahlten Versicherungsprämien an Arbeiter (in Form von Versicherungsleistungen) gelangten, während die Verwaltungsunkosten 60 und die Anwaltshonorare 30 Prozent hiervon verschlangen, wobei der Verfasser bedauerlicherweise die Rohdaten nicht mitteilt, anhand welcher er diese Prozentsätze errechnet hatte. Im weiteren zeigte sich, daß zwar nur jeder elfte verletzte Arbeiter seinen Schadenersatz anspruch gerichtlich einklagte, daß diese Prozesse jedoch rund die Hälfte der Arbeitszeit der Richter beanspruchten. Thema einer weiteren amerikanischen Untersuchung 31 waren die unterschiedlichen Auswirkungen eines 1833 erlassenen englischen Gesetzes über die Beschäftigung von Kindern in Textilfabriken auf die einzelnen Kategorien von Industriebetrieben. Anhand zahlreicher wirtschaftshistorischer Daten und verschiedener Regressionsgleichungen zeigte sich, daß dieses Gesetz Fabriken mit Dampfmaschinen gegenüber wasserbetriebenen Werken begünstigte und insofern in seinen Wirkungen über den eigentlichen Kinderschutz weit hinausging.
5. Prozeßrecht und Richterschaft Die Vorliebe der Amerikaner für Fragen des Prozeßrechts findet ihren Ausdruck in einer Anzahl neuerer rechtsgeschichtlicher Arbeiten. Blumeu zählte und kategorisierte etwa 1041 Verfahren, die um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert in einer damals an der Siedlungsgrenze gelegenen Grafschaft Indianas abgewickelt worden waren, wobei er diese Daten mit keinerlei wirtschafts- und sozialgeschichtlichen oder rechtlichen Variablen in Beziehung setzte. Haskelll3 analysierte die Inanspruchnahme der Gerichte in New Haven (Connecticut) im 17. Jahrhundert nach dem Sozialstatus der vor Gericht erscheinenden Personen, wobei sich zeigte, daß hochgestellte Leute eher als andere geneigt waren, sich von sich aus an die Gerichte zu wenden. In einer sich auf dieselbe Epoche und Gegend beziehenden weiteren Untersuchung ging Baumgartnerl4 der Frage nach, inwiefern der soziale Status der Parteien die Erscheinungsweise vor Gericht (d. h. ob auf eigene Initiative oder aber auf Vorladung hin), den Prozeßausgang und eine allfällige kriminelle Bestrafung sowie die Art gegebenenfalls verhängter Ordnungsstrafen beeinflußte. Verschiedene neuere Arbeiten sind schließlich der kollek11 Howard P. Marvel: Factory Regulation: AReinterpretation of Early English Experience, Journal of Law and Economics 20 (1977), S. 379-402. 11 William W. Blume: Civil Procedure on the American Frontier, Michigan Law Review 56 (1957), S. 161-224. •• Thomas L. Haskell: Litigation and Social Status in 17th Century New Haven, Journal of Legal Studies 7 (1978), S. 219-241. 14 M. P. Baumgartner: Law and Social Status in Colonial New Haven, 1639-1665, Research in Law and Sociology 1 (1978), S. 153-174.
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tiven Biographie der amerikanischen und englischen Richterschaft gewidmet", wobei die - tabellarisch dargestellten - sozialen Herkunftsdaten wie die Stellung des Vaters, der Bildungsgang und der politische und berufliche Werdegang der Richter im Vordergrund stehen. Diese Art von Forschung ist an und für sich nicht allzu aussagekräftig, vermag aber immerhin einige Hinweise zu geben auf mögliche Einflüsse der sozialen Herkunft der Richter, auf die Arbeitsweise der Justiz und das gerichtliche Verfahren. Sie sind im übrigen unentbehrlich, um in weiteren Forschungen der Frage nachzugehen, ob die soziale Herkunft der Richter die gerichtlichen Entscheidungen - und gegebenenfalls in welcher Art von Fällen - beeinflußt. Sprague3S griff in diesem Zusammenhang die Frage auf, ob die Einteilung der Richter am amerikanischen Supreme Court in einen liberalen und einen konservativen Block - zusammen mit einer kleinen Zahl von (juristisch relevanten) Einstellungsvariablen - das Entscheidungsverhalten in 3000 Fällen zu erklären vermag, die der Supreme Court zwischen 1889 und 1959 zu entscheiden hatte und in welchen es um die Abgrenzung der Kompetenzen der Gliedstaaten gegenüber denjenigen des Bundes ging. Mit der stets heiklen Frage der Vakanzen am Supreme Court und den politischen Auswirkungen derselben befaßte sich eine einfallsreiche Studie von Morrison17• Unter Verwendung der Wahrscheinlichkeitsrechnung ermittelte er auf der Basis aller Vakanzen am Supreme Court zwischen 1837 und 1932 die Wahrscheinlichkeit, daß Präsident Roosevelt im Jahre 1937 einen Richter in das Oberste Gericht hätte ernennen können, und spekulierte anschließend darüber, ob Roosevelt seinen unpopulären Plan, die Zahl der Richter am Supreme Court zu erhöhen, wohl auch vorgelegt hätte, wenn er um die nicht geringe Wahrscheinlichkeit gewußt hätte, durch die Ernennung eines neuen Richters die verfassungsrichterliche Billigung seiner Sozialgesetzgebung erreichen zu können.
as Daniel Duman: A Social and Occupational Analysis of the English Judiciary: 1770-1790 and 1855-1875, American Journal of Legal History 17 (1973), S. 353-364; Kermit L. Hall: 240 Men: The Antebellum Lower Federal Judiciary, 1829-1861, Vanderbilt Law Review 29 (1976), S. 1089-1121; ders.: 101 Men: The Social Composition and Recruitment of the Antebellum Lower Federal Judiciary, 1829-1861, Rutgers-Camden Law Journal 7 (1976), S.199227 . • 1 John D. Sprague: Voting Patterns of the United States Supreme Court, Indianapolis 1968. Siehe dazu die Rezension von Glendon A. Schubert, dem führenden Vertreter des judicial behavioralism, in Journal of American History 55 (1969), S. 879. 37 Rodney J. Morrison: Franklin D. Roosevelt and the Supreme Court, History and Theory 16 (1977), S. 137-146.
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6. Strafrecht Mehr als irgendein anderer Aspekt der englischen und amerikanischen Rechtsgeschichte bildeten das Strafrecht, das Strafprozeßrecht und die Kriminalität Gegenstand empirisch-rechtshistorischer Untersuchungen. Anscheinend wurde allerdings nur in einer dieser Untersuchungen die Entwicklung des materiellen Strafrechts anhand empirischer Methoden untersucht, nämlich in der Arbeit von Berk u. a. 38 über annähernd 700 Änderungen des kalifornischen Strafgesetzbuches in den Jahren 1955 bis 1971, also während eines noch nicht weit zurückliegenden Zeitabschnittes. Analysiert wurde darin die Entwicklung von zwölf verschiedenen Arten von Strafrechtsnormen im zeitlichen Längsschnitt, wobei mittels einer multivariaten Auswertung der Daten die Ursachen der verschiedenen Entwicklungslinien ermittelt wurden. Die Arbeit von Berk u. a. vermittelt vor allem auch wertvolle Anregungen für Untersuchungen, die die Wandlungen von gesetzlichen Straftatbeständen i~ historischen Ablauf zum Gegenstand haben. Die übrigen Untersuchungen behandeln hauptsächlich Wandlungen im Erscheinungsbild der Kriminalität38 sowie im Strafprozeßrecht, nicht jedoch die Entwicklung des materiellen Strafrechts. 7. Strafprozeßrecht Zwei empirisch-rechtshistorische Untersuchungen sind einer typischen Erscheinung des amerikanischen Strafprozeßrechts gewidmet, dem sog. "plea bargaining". Bei diesem handelt es sich um eine Art "Vergleichsgespräch" zwischen dem Staatsanwalt und dem Verteidiger, bei welchem der erstere den letzteren dazu zu bringen versucht, bei einem von mehreren Anklagepunkten (oder bei einem weniger schwerwiegenden als dem eingeklagten) auf "schuldig" zu plädieren beziehungsweise den Angeklagten eine entsprechende "guilty plea" abgeben zu lassen, und dafür als "Gegenleistung" offeriert, die übrigen Anklagepunkte fallenzulassen. Kommt ein derartiger "Vergleich" zustande, so erübrigt sich wegen der strikten Parteimaxime des amerikanischen Strafprozeßrechts ein Geschworenengerichtsprozeß mit einem aufwendigen Beweisverfahren. Für den Staat erweist sich dieses informelle Verfahren zur Erlangung eines Schuldspruchs als vorteilhaft, weil dadurch nur begrenzt verfügbare zeitliche und personelle Mittel zur Aufklärung anderer 38 Richard A. Berk/Harold Brackman/Selma L. Lesser: A Measure of Justice: An Empirical Study of Changes in the California Penal Code, 19551971, New York 1977. 38 Um Überschneidungen mit dem Aufsatz von Beverly Smith im vorliegenden Bande zu vermeiden, wird die Darstellung der Literatur zur Geschichte der Kriminalität hier weggelassen (Anm. der Hg.).
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Verbrechen eingesetzt werden können, während andernfalls Polizeibeamte sich für ausgedehnte Zeugenbefragungen zur Verfügung halten und der Staatsanwalt und sein Mitarbeiterstab einen aufwendigen Prozeß vorbereiten müssen. Aus der Sicht des Angeklagten fällt vor allem ins Gewicht, daß er dank der Reduktion der Zahl und/oder der Schwere der Anklagepunkte eine geringere Strafe zu gewärtigen hat und daß die hohen Verteidigerkosten, die mit dem ordentlichen Verfahren verbunden zu sein pflegen, entfallen. Erleichtert wird dieses informelle Verfahren vor allem dadurch, daß Verbrecher häufig mehrere Straftatbestände zugleich erfüllt haben, so daß aus der Reduktion der Anklagepunkte eine spürbare Vereinfachung des Verfahrens resultiert. Allerdings scheinen diese verfahrensökonomischen Gesichtspunkte in der Praxis zum Teil eine geringere Rolle als andere Faktoren zu spielen. Dies jedenfalls ist das Ergebnis zweier empirisch-rechtshistorischer Untersuchungen von Heumann und Friedman. Heumann 40 hatte das Verhältnis zwischen der Zahl der tatsächlich durchgeführten Hauptverhandlungen und der Zahl aller Strafverfahren überhaupt in verschiedenen Grafschaften Connecticuts im Zeitraum von 1880 bis 1954 verfolgt. Friedmanu untersuchte den Anteil der durch "plea bargaining" erledigten Verfahren anhand einer Zufallsstichprobe aus der Gesamtzahl der durch den "Superior Court" von Alameda (Kalifornien) im Zeitraum von 1880 bis 1970 behandelten Verbrechen. Beide gelangten zum Ergebnis, daß die Zahl der anfallenden Strafverfahren die Quote der durch "plea bargaining" erledigten Verfahren kaum beeinflußte. IV. Schlußfolgerungen Die hier kurz erwähnten Untersuchungen sind für die amerikanische Rechtsgeschichte nicht unbedingt repräsentativ, und sie mögen zum Teil auch keine guten Beispiele empirisch-rechtshistorischer Arbeiten darstellen, doch vermitteln sie einen ungefähren Eindruck der Vielfalt von Forschungen, die in Amerika in diesem Bereich bisher unternommen worden sind. Einige der zitierten Arbeiten sind in methodischer Hinsicht nicht besonders anspruchsvoll und begnügen sich im wesentlichen mit der Auszählung von Daten und allenfalls der Berechnung von Prozentwerten, doch bilden derartige Rohdaten schließlich die Grundlage für anspruchsvollere quantitative Berechnungen. Auch könnten gerade diese relativ elementaren Untersuchungen - neben den einleitend angeführten Argumenten - andere Rechtshistoriker dazu veranlassen, diese 40 Milton Heumann: A Note on Plea Bargaining and Case Pressure, Law and Society Review 9 (1975), S. 515-528. U Lawrence M. Friedman: Plea Bargaining in Historical Perspective, Law and Society Review 13 (1979), S. 247-259.
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Art der Forschungsarbeit bei ihren künftigen Projekten stärker zu berücksichtigen. Zweifellos liefern die besseren der in Abschnitt !II zitierten Untersuchungen eine Reihe von Anregungen für die Analyse größerer historischer Datenbestände, wenn auch der Stil in der Darstellung der Ergebnisse sich von herkömmlichen rechtsgeschichtlichen Arbeiten stark unterscheidet. Indessen lassen sich die quantitativen Ergebnisse solcher Grundlagenstudien in übersichtswerken der Rechtsgeschichte ohnehin leicht in den üblichen Erzählstil überführen. Soweit sie in methodischer Hinsicht wissenschaftlichen Anforderungen entsprechen, würde die Rechtsgeschichte sogar sehr an Wissenschaftlichkeit gewinnen, wenn sie vermehrt auf solche empirisch abgestützten rechtshistorischen Untersuchungen zurückgreifen könnte.
NEUERE AMERIKANISCHE FORSCHUNGEN ZUR GESCHICHTE VON KRIMINALITÄT UND STRAFRECHTSPFLEGE Von Beverly A. Smith*
I. Einleitung Die Geschichte von Kriminalität und Strafjustiz1 befindet sich als eigenständige Disziplin nicht mehr auf dem Prüfstand. Wohl mögen einzelne Untersuchungen als zu wenig fundiert erscheinen, weil sie in methodischer Hinsicht nicht zu befriedigen vermögen, wichtige Tatsachen außer acht lassen oder in ihren Schlußfolgerungen über das Ziel hinausschießen; als Gebiet an sich hat die Geschichte der Kriminalität und Strafjustiz indessen sowohl innerhalb der Kriminologie als auch der Geschichtswissenschaft ihren festen Platz gefunden. Diese Entwicklung zur selbständigen Disziplin hat sich im wesentlichen während der letzten zehn Jahre abgespielt2• In kriminologischen Lehrbüchern und Standardwerken findet man dementsprechend heute gewöhnlich mehr als bloß eine obligate Seite über den historischen Aspekt des behandelten Gegenstandes, und in den Arbeiten von Historikern figuriert die Geschichte von Kriminalität und Strafjustiz gleichberech-
* Beverly A. Smith doktorierte an der Miami University in europäischer Geschichte mit einer Arbeit über die Gefängnisse in Irland am Ende des 19. Jahrhunderts. Nach Lehrtätigkeiten an der University of Cincinnati und an der Western Michigan University ist sie heute Assisten!lprofessorin an der Graduate School of Criminal Justice, the Nelson A. Rockefeller College of Public Affairs and Policy, the State University of New York at Albany, wo sie bereits während zweier Jahre als post-doctoral fellow gewirkt hat. Sie veröffentlichte in Zeitschriften wie "The Irish Jurist", "Medical History" and "Eire/Irland". Gegenwärtig konzentrieren sich ihre Interessen auf die Verhältnisse in den irischen Gefängnissen und die dortigen Kriminalitätsraten um die Mitte des letzten Jahrhunderts. 1 Die in Amerika heute weithin übliche Bezeichnung "criminal justice" als Inbegriff aller Teildisziplinen der Kriminologie (im europäischen Sinne) läßt sich wörtlich nicht sinngerecht übersetzen. Wo dieser Ausdruck im Original für sich allein auftaucht, wird er mit "Kriminologie" wiedergegeben; bei Verbindungen mit dem Wort "Geschichte" (history of criminal justice) wird als Übersetzung im folgenden "Geschichte der Kriminalität und Straf justiz" gewählt, da dies dem wirklichen Sinn am nächsten kommt (Anm. d. Hg.). I John A. Conley: Criminal Justice History as a Field of Research, Journal of Criminal Justice 5 (1977), 13-28; Michael S. Hindus: The History of Crime, Criminology Review Yearbook 1 (1979),217-241; Eric H. Monkkonen: Toward aDynamie Theory of Crime and the Police, Historical Methods Newsletter 10 (1977), 157-165.
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tigt neben Themen wie der Geschichte der Frauen, der rassischen Minderheiten, der Arbeiterbewegung, der Einwanderer, der Medizin, der Technik und der Bevölkerungsentwicklung. Außerdem veröffentlichen die Historiker der Kriminalität und Strafjustiz ihre Arbeiten gleichermaßen in historischen wie in kriminologischen und anderen sozialwissenschaftlichen Zeitschriften und Sammelwerken. Wie bei jedem anderen Fachgebiet - und namentlich bei jenen, die die Grenzen bereits etablierter Disziplinen überschreiten - bleiben allerdings noch manche Probleme ungelöst. Sowohl Historiker als auch Kriminologen neigen häufig dazu, die Geschichte der Kriminalität und Strafjustiz als ihre ausschließlich eigene Sache anzusehen, welche sich am besten mittels ihrer eigenen Erkenntnismethoden und Vorkenntnisse analysieren läßt, und beide halten sie gegenseitig die Methoden der anderen Disziplin für ungeeignet. Historiker betrachten die Kriminologen als Sozialwissenschaftier, die Hypothesen, die sie anhand der Verhältnisse der Gegenwart aufgestellt haben, anhand vergangener Personen und Institutionen überprüfen, wobei sie sich aufwendiger Computer-Programme bedienen und die gewonnenen Ergebnisse in nicht weniger komplizierter statistischer Form darstellen. Manche Historiker, und namentlich solche, die von sich behaupten, keinerlei Ideologie anzuhängen, halten einen solchen Ansatz für falsch: im günstigeren Falle würden Hypothesen den Forscher dazu verleiten, wesentliche Aspekte des Gegenstandes außer acht zu lassen, und im ungünstigeren Falle bestehe die Gefahr, daß die Ergebnisse derart zurecht gebogen würden, daß sie der Hypothese entsprächen. Die Verwendung moderner kriminologischer Theorien erweckt bei diesen Kritikern weiter den Verdacht des Verhaftetseins in der Gegenwart; so ließen etwa Anleihen bei Durkheim und Marx außer acht, daß jeder Mensch, wie genial seine Analyse auch immer gewesen sein möge, ein Produkt seiner eigenen Zeit bleibe. Schließlich könnten Statistiken die historische Wirklichkeit verfälschen: "lange Reihen quantitativer Analysen schaffen die Gefahr, daß der geschichtliche Charakter der so gewonnenen Ergebnisse verkannt wird 3 ." Kurz, viele Historiker beschuldigen andere Disziplinen der Unfähigkeit, historische Kriminelle und vergangene Einrichtungen der Strafjustiz in ihrem raum-zeitlichen Zusammenhang zu sehen, während doch alles und jedes als Teil eines geschichtlichen Ganzen gesehen werden müsse. Umgekehrt betrachten Kriminologen die Historiker gerne als Geisteswissenschaftler, die beseelt seien vom Wunsche, eine "gute" Geschichte zu schreiben, oder aber als Archäologen\ die sich durch Berge von 3
Robert A. Nye: Crime in Modern Societies, Journal of Social History 11
(1978),491-507 (504). 4 Hindus (FN 2), 218.
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Dokumenten hindurchfräßen und jede Einzelheit gewissenhaft verzeichneten, jedoch nicht über eine geistlose, fragmentarische Sicht hinausgelangten, deren Qualität viel zu sehr von der Sorgfalt und dem Einfühlungsvermögen des einzelnen Historikers abhänge. Zu lange auch hätten die Historiker Gräbern von Königen und Machteliten nachgeforscht und dabei die gewöhnlichen Leute vernachlässigt, welche Verbrechen begingen oder dieselben als Polizisten verfolgten. "Da die Untersuchung solcher Gruppen statistische Kenntnisse und anspruchsvolle Fragestellungen voraussetzt, fährt die Mehrzahl der Historiker denn auch fort, sich anderen Fragen zuzuwenden5 ." Bezeichnenderweise werde Geschichte denn auch viel zu oft als Selbstzweck, also ohne Gegenwartsbezug betrieben; in dieser Form könne sie jedoch nur wenig zur Lösung oder auch nur zum Verständnis heutiger kriminologischer Probleme beitragen. Natürlich handelt es sich bei den bei den hier geschilderten Standpunkten um Extrempositionen. Es wäre auch unrealistisch, wollte man eine ideale Zusammenarbeit zwischen Historikern und Kriminologen anstreben. Möglich erscheint indessen ein tragfähiger Kompromiß, zumal beide Disziplinen hierzu etwas beizutragen haben. Beispielsweise geben sich Kriminologen zunehmend Rechenschaft darüber, daß viele angeklagte Straftäter durch polizeiliches Ermessen, das "Plea bargaining"8 und Vorgänge im Rahmen der Strafzumessung, der Strafverfolgung entgehen, und es ist anzunehmen, daß dieselben Vorgänge die Zahl der Verurteilungen in der Vergangenheit beeinflußt haben. Historische Arbeiten zur Kriminalität und Strafjustiz lassen auf eine verhältnismäßig größere "Dunkelziffer" schließen, doch sollte deren Umfang nicht von der Untersuchung der überlieferten Daten oder Mutmaßungen über Art und Umfang der nicht registrierten Kriminalität abhalten, zurnal wenn sich solche auf heutige Methoden zur Schätzung des Dunkelfeldes stützen. Weiter gehen Kriminologen davon aus, daß die Polizei, die Gefängnisse und die Gerichte nicht voneinander losgelöst wirkende Gebilde sind, als welche sie Historiker zuweilen dargestellt haben7 • Monkkonen (FN 2), 164. Als "Plea bargaining" bezeichnet man das im amerikanischen Strafprozeß zur Regel gewordene Aushandeln des Schuldspruchs zwischen Staatsanwaltschaft und Verteidigung. Im Verlaufe dieser - zivilprozessualen Vergleichsgesprächen ähnlichen - Verhandlungen erklärt sich der zunächst nicht geständige Angeklagte bereit, ein Schuldbekenntnis (guilty plea) abzulegen, sofern sich der Staatsanwalt seinerseits bereitfindet, anstelle des ursprünglich vorgesehenen ein weniger schwerwiegendes Delikt einzuklagen oder bei der Strafzumessung Zugeständnisse zu machen. Da das Schuldbekenntnis im amerikanischen Strafprozeß mit seiner ausgeprägten Parteimaxime den Schuldspruch faktisch vorwegnimmt, entfällt damit für den Staatsanwalt die Notwendigkeit eines aufwendigen Schwurgerichtsprozesses (Anm. der Hg.). 7 Patricia O'Brien: Crime and Punishment as Historical Problem, Journal of Social History 11 (1978), 508-520 (515). 5
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Historiker wiederum betrachten solche Institutionen nicht isoliert von sozialen Verhältnissen und politischen oder wirtschaftlichen Umwälzungen, welche von Kriminologen oft vernachlässigt werden. Freilich vermag kein Historiker alles über die Kriminologie zu wissen, und ebenso unrealistisch erscheint die umgekehrte Variante. Auf allen Gebieten hat sich der Wissensbestand derart vermehrt, daß etwa ein Spezialist der Jugendkriminalität unmöglich mehr alle Einzelheiten des Strafvollzuges zu überblicken vermag. Um so vordringlicher erscheint daher eine Zusammenarbeit innerhalb einzelner Fachbereiche und über deren Grenzen hinweg, und ebenso wichtig erscheint ein Informationsaustausch mit Forschern in anderen Ländern, die über ähnliche Themen schreiben. Der vorliegende Aufsatz ist als kleiner Beitrag zur überbrückung dieser Gräben gedacht. Allerdings setzt der gewaltige Zuwachs an historischen Arbeiten zur Kriminalität und Strafjustiz während der vergangenen Jahre derartigen Bemühungen gewisse Grenzen, weshalb im folgenden vor allem seit 1975 erschienene Arbeiten erörtert werden sollen. Da größere Monographien und Lehrbücher systematisch in den Zeitschriften beider Disziplinen besprochen werden, befaßt sich der vorliegende Beitrag hauptsächlich mit Artikeln in amerikanischen Zeitschriften und einigen unveröffentlichten Doktorarbeiten. Allerdings werden dabei rechtshistorische Arbeiten i. e. S. nicht berücksichtigt, zumal andere8 sich dieser Aufgabe bereits angenommen haben, und auch Arbeiten zur Geschichte von Kriminalität und Strafjustiz in anderen Ländern müssen außer Betracht fallen. Der folgende überblick beschränkt sich somit auf Amerika und die Zeit von der kolonialen Epoche bis um 1900, wobei nach Antworten auf die folgenden Fragen gesucht werden soll: Was schreiben amerikanische Forscher über die Geschichte der Kriminalität und Strafjustiz ihres Landes? Wo liegen die Stärken und Schwächen dieser Arbeiten? Welche Einsichten ergeben sich daraus im Hinblick auf heutige Probleme und Forschungen im Zusammenhang mit Kriminalität und Strafjulttiz? 11. Die koloniale Epoche
Die meisten der neueren Untersuchungen zu unserem Thema befassen sich mit drei der insgesamt dreizehn ursprünglichen amerikanischen Kolonien, nämlich mit Massachusetts, New York und Virginia. Diese Einseitigkeit ist weiter nicht erstaunlich, standen diese drei Kolonien 8 James Willard Hurst: Old and New Dimensions of Research in United States Legal History, American Journal of Legal History 23 (1979), 1-20; Mark V. Tushnet: Perspectives on the Development of American Law, Wisconsin Law Review 1977, 81-110.
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doch seit langem im Mittelpunkt der Geschichtsschreibung zum kolonialen Amerika; außerdem haben die Rechtssysteme dieser drei Kolonien auf andere Kolonien und spätere Staaten eingewirkt, und schließlich waren alle drei Gegenstand von Pionier-Untersuchungen zur Geschichte der Kriminalität und Strafjustiz, von welchen Kai T. Eriksons "Wayward Puritans: A Study in the Sociology of Deviance'" als die bekannteste gelten darf. Nichts lag daher näher, als daß Historiker der Kriminalität und Strafjustiz auf dieser soliden Grundlage aufzubauen versucht haben. In der vorzüglichsten dieser neueren Untersuchungen rekonstruiert Eli Fabert8 die wirtschaftlichen, sozialen und geistigen Hintergründe der Kriminalität in einer Grafschaft des puritanischen Massachusetts im 17. Jahrhundert. Danach galten, kurz zusammengefaßt, nach puritanischer Ansicht alle Menschen als Nachkommen Adams und demzufolge als von Erbsünde gezeichnet. Vergehen im neuen Paradies des göttlichen Common-wealth von Massachusetts waren folglich in der gleichen Weise Verbrechen und Sünde wie auch Strafen für jene erste Sünde, und selbst Kirchenleute galten, wie Faber nachweist, als hiergegen ebensowenig gefeit wie Angehörige aller sozialen Schichten. Allerdings galten bereits damals die Umwelt und der (mangelnde) Familienzusammenhalt als wichtige Ursachen der Kriminalität. Nicht unähnlich unserer heutigen Besorgnis über die Entwicklung Jugendlicher, empfanden bereits die Puritaner die größten Ängste hinsichtlich der besonders beeinflußbaren Kinder. Diese bildeten denn auch oft das eigentliche Zielpublikum von Hinrichtungs-Predigten, wie sie unter dem Galgen oder vor der öffentlichen Hinrichtung in der Kirche in Anwesenheit der ganzen Gemeinde gehalten wurden11 • So wurden denn Kinder gewarnt, daß jede Missetat unvermeidlicherweise dasselbe Schicksal wie dasjenige des zum Tode Verurteilten nach sich ziehen werde, und daß Folgsamkeit gegenüber Eltern, Behörden und Gott den einzig richtigen Pfad darstelle. Andere Gruppen mit einer den Kindern ähnlichen Rechtsposition galten als ebenso gefährdet, vom rechten Weg abzukommen. So galten Diener, wenn sie sich fern ihrer Herrschaft aufhielten, angeblich als geneigt, das Vertrauen ihres Herrn (in welchem man eine Art Vaterersatz sah) zu mißbrauchen. Faber fand demgegenüber einen geringeren Anteil der Diener an der Gesamtkriminalität, als die Puritaner anzu• Kai T. Erikson: Wayward Puritans, New York 1969. t8 Eli Faber: Puritan Criminals: The Economic, Social and Intellectual Background to Crime in Seventeenth Century Massachusetts, Perspectives in American History 11 (1977/78), 81-144. 11 Ronald A. Bosco: Lectures at the Pillory: The Early American Execution Sermon, American Quarterly 10 (1978), 156-176.
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nehmen geneigt waren, und zudem handelt es sich bei ihren Delikten vorwiegend um Diebstähle und Sexualdelikte. Diese ökonomisch schwer benachteiligten Personen begingen demnach vorwiegend Delikte, denen in gewisser Weise der Charakter einer Rebellion gegen die erfahrene Unterdrückung anhaftet; denn die Frauen, die der Unzucht beschuldigt wurden, waren häufig ledig und ließen sich mit Männern ein in der Hoffnung, durch eine nachfolgende Heirat sozial aufsteigen zu können. - Eine andere verdächtige Gruppe bildeten die Indianer, und zwar wegen ihres angeblich chaotischen Familienlebens und einer gewissen verbliebenen Anhänglichkeit an ihre ursprünglichen Religionen, die für die Puritaner des Teufels waren. Nach Faber wurden Indianer am häufigsten wegen Trunkenheit und Müßiggang verurteilt, doch hätte er richtigerweise beifügen müssen, daß diese beiden Eigenschaften den Indianern vom Volksmund und in wissenschaftlichen Publikationen auch heute noch zugeschrieben werden. Sind Trunksucht und Müßiggang nun Eigentümlichkeiten der Indianer, oder haben über dreihundertfünfzig Jahre hindurch praktizierte Vorurteile diese immer wieder erwarteten Verhaltensweisen hervorgebracht? Ähnlich wie mit den Indianern verhält es sich mit den Schwarzen, die seltener in den Strafakten auftauchen, als die Puritaner vermutet haben mögen. Tatsächlich entstand die Verbindung von Schwarzen mit Kriminalität in der allgemeinen Vorstellung nicht mit irgendeiner Zunahme der Kriminalität dieser Gruppe, sondern im Zusammenhang mit der Zunahme (und damit der größeren Sichtbarkeit) der Schwarzen in der Gesamtbevölkerung. Hat vielleicht die zunehmende Konzentration der Schwarzen in den Städten während des 20. Jahrhunderts zu einer ähnlichen Zunahme ihrer Sichtbarkeit geführt? Einige von Fabers interessantesten Ergebnissen beziehen sich auf weiße, nicht zur Dienerschaft zählende Kriminelle, deren Umstände er anhand von Gerichts-, Steuer- und Gemeindeakten, sowie anhand von Gemeinde- und Familienchroniken rekonstruiert. Faber12 berichtet als überraschendstes Ergebnis seiner Studie die Entdeckung, daß die Mehrheit der Straftäter weder von Armut geplagt waren noch sonstwie aus der untersten Schicht der puritanischen Gesellschaft stammten. Bei näherer Betrachtung erscheint dieses Ergebnis allerdings weniger überraschend, hat Faber doch aus seinem Untersuchungsmaterial alle jene Personen ausgeschieden, deren sozialen Status er nicht in Erfahrung bringen konnte, was - da Inhaber von Ämtern und Reichtum nun einmal häufiger in Registern vorkommen als Habenichtse - zwangsläufig dazu führt, daß nicht zur Dienerschaft zählende (und besonders begüterte) Personen in seinem Material übervertreten sind. Sieht man von diesem Aspekt ab, so zeigt Fabers Analyse, daß Angehörige dieser begüterten 12
FN 10, S. 103.
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Gruppe unverhältnismäßig viele Straftaten gegen die Religion und die Autorität der weltlichen und geistlichen Würdenträger begingen. Nun waren diese Personen von ihrer Bildung her nicht nur am ehesten in der Lage, allgemein akzeptierte Glaubensinhalte in Frage zu stellen, sondern auch mehr als andere der Erwartung ausgesetzt, die Rechtgläubigkeit zu verteidigen. Ihre Abweichung von der Orthodoxie galt daher als schwere Bedrohung des Commonwealth, wie sich in den berühmten Ketzer- und Hexenprozessen zeigte. Erikson13 gelangte seinerseits in überzeugender Weise zu denselben Schlüssen, doch übertreibt er wohl die wirkliche Bedeutung dieser Prozesse, indem er sie und die Angeklagten derart in den Vordergrund stellt. Immerhin wurde etwa der Hexenwahn samt den darauf beruhenden Strafverfahren schon relativ kurze Zeit nach seinem Auftreten als Irrtum erkannt. Fabers grundlegende Leistung ist die Rekonstruktion der Familienverhältnisse gewöhnlicher Krimineller, die einige charakteristische Regelmäßigkeiten erkennen lassen, indem diese gehäuft aus Familien stammten, deren Zusammenhalt durch Tod, Marinedienst oder sonstige Abwesenheit des Familienoberhauptes beeinträchtigt worden war. Solche Familien waren häufig außerstande, ihren finanziellen Verpflichtungen nachzukommen, und oft wurden - und dies über mehrere Generationen hinweg - innerfamiliäre Zwiste gewaltsam ausgetragen, und zwar besonders in den Familien von Gewaltverbrechern. Als stärksten Zusammenhang fand Faber14 hingegen, daß Kriminelle sehr häufig aus Familien stammten, die mehr als ein delinquentes Mitglied aufwiesen. Im übrigen zeigt Fabers Untersuchung15 , daß der Glaube an die Möglichkeit, Kriminelle zu bessern, lange vor Ende des 19. Jahrhunderts auftauchte. Wohl hatten diese Kriminellen gegen göttliche und menschliche Gesetze verstoßen und dadurch das gesamte Commonwealth gefährdet, und wohl waren die Strafen öffentlich und die Identität der Missetäter allgemein bekannt, und doch wurden Verbrecher wieder in die Kirche aufgenommen, als staatliche Beamte gewählt und mit Personen aus stabilen Familien verheiratet. Massachusetts war von der Kirche geprägt, und so glaubte man eben an die Vergebung der Sünden. Darüber hinaus herrschte großer Mangel an Arbeitskräften, und es brauchte den Einsatz aller, um gemeinsam zu überleben. Obwohl sehr ausführlich und umfassend, läßt Fabers Artikel manche Fragen offen, welchen andere Forscher sich nunmehr zuwenden. So hat Oaks u eine Arbeit über zwei Sexualdelikte vorgelegt, nämlich Sodomie 13 14
15
FN 3. FN 10, S. 127-134. Ebd. S. 136-142.
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und Homosexualität, deren bloße Erwähnung damals einen Schauder auslöste. Lee1? und Konig 18 beschrieben die Bedeutung der Billigkeitsjustiz in den unteren Gerichten und die Vermischungen von Zivil- und Strafverfahren. Fabers und Greenbergs Untersuchungen1' - die letztere hat die Praktiken der Strafverfolgung in der Kolonie New York zum Gegenstand - könnten für ähnliche Studien über andere Kolonien wegweisend werden, doch muß sich erst noch erweisen, ob solche wirklich folgen werden. Notwendig wären außerdem Untersuchungen über die Epoche der Konföderation und der jungen amerikanischen Verfassung um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. Rechtshistoriker haben sich seit langem auf diesen Zeitabschnitt konzentriert, doch nicht die Historiker der Kriminalität und Strafjustiz, deren Interesse bisher hauptsächlich dem 19. Jahrhundert gegolten hat, und zwar vor allem der Epoche ab ungefähr 1835-40. 111. Das 19. Jahrhundert
In den Vereinigten Staaten wie auch in Europa konzentrierte sich bisher das Interesse der Geschichtsschreibung zur Strafjustiz und Kriminalität auf das 19. Jahrhundert, und dies gelegentlich zum Nachteil des Erkenntnisgewinns über andere Epochen. Es ist angesichts der zu diesem Zeitabschnitt vorliegenden Literaturfülle gänzlich unmöglich, alle neueren Arbeiten (und insbesondere Dissertationen) zu besprechen oder auch nur aufzuführen. Im Bemühen, die Richtungen der gegenwärtigen und zukünftigen Forschungen, ihre methodischen Schwächen und ihre Bedeutung für zeitgenössische Probleme in Kriminologie und Strafjustiz aufzuzeigen, werden die vorliegenden Arbeiten im folgenden nach thematischen Gesichtspunkten zusammengefaßt. Es folgen hier daher Abschnitte zur Quellenlage, zur Geschichte der politischen und kollektiven Gewalt, der "gewöhnlichen" Kriminalität, der Prostitution, der Kriminalität der Schwarzen, der Jugendkriminalität, der Polizei und der Gefängnisse. 1. Welche Quellen sind zu berücksichtigen? In einer der angesehensten sozialgeschichtlichen Zeitschriften haben neulich zwei anerkannte Forscher sich über die Frage auseinander18 Robert F. Oaks: Sodomy and Buggery in Seventeenth Century New England, Journal of Social History 12 (1978), 268-281. 17 Carol F. Lee: Discretionary Justice in Early Massachusetts, Essex Institute Historical Collections 112 (1976), 120-139. 18 David Th. Konig: Law and Society in Puritan Massachusetts, Essex County, 1629-1692, Chapel Hill (NC) 1979. u FN 10; Douglas Greenberg: Crime and Law Enforcement in the Colony of New York, 1691-1776, Ithaca (N.Y.) 1976.
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gesetzt, ob es sinnvoll sei, Daten über die Insassen lokaler Gefängnisse als Indikatoren der Kriminalitätsrate und der sozialen Merkmale Krimineller im 19. Jahrhundert zu verwenden. Im Grunde genommen streiten sich die beiden hier über eine unlösbare Frage: Soll man, wie Graff meint20 , lediglich eine einzige und möglicherweise erst noch unvollständige Datenquelle benützen, um darzustellen, wie eine einzelne Institution über Kriminelle dachte und sie behandelte, und um dadurch bisher unzugängliche Kenntnisse über einen bestimmten Zeitabschnitt oder einen bestimmten Ort der wissenschaftlichen Öffentlichkeit zu erschließen? Oder soll man, was Monkkonen21 vorzieht, so viele Datenquellen (Gerichtsakten, Armenlisten, Insassenlisten von Irrenanstalten usw.) wie nur immer möglich beiziehen, um ein vollständigeres Bild des damaligen abweichenden Verhaltens vermitteln zu können, und dies selbst auf die Gefahr hin, daß die verwendeten Indikatoren sich überschneiden oder gar unvereinbare Masse verschiedener Arten und Niveaus der Gewalt darstellen mögen? Die zutreffende Frage wäre vielleicht eher, warum diese beiden Arten der Forschung sich gegenseitig ausschließen sollten. Auch sollte der Gebrauch sozialwissenschaftlicher statistischer Auswertungsmethoden nicht dazu führen, daß andere Quellen aus dem Blickfeld verschwinden, die, wie etwa Zeitungen und belletristische Werke, ebensogut über zeitgenössische Anschauungen über abweichendes Verhalten Aufschluß geben mögen. 2. Politische und kollektive Gewalttaten Von Bedeutung sind solche zeitgenössische Ansichten etwa für Forschungen über politische Gewalttaten. Zwar mag die Gesellschaft, aus welcher der Gewalttäter stammte, solche Handlungen als Verbrechen betrachtet haben, welche sich durch irgendwelche höherrangigen Motive weder rechtfertigen noch entschuldigen ließen; gleichzeitig haben jedoch viele Gesellschaften die Anwendung von Gewalt geduldet oder gar begrüßt, soweit sie sich gegen rassische, ethnische oder politische Minderheiten richtete. Gewiß kannten die Vereinigten Staaten keine Bewegung, die sich mit Rußlands Anarchisten vergleichen ließe, doch gab es in Amerika zahlreiche Beispiele kollektiver Gewaltanwendung, und zwar in Form von Unruhen und Bürgerwehren. Die riesige Zahl und die mannigfaltigen Ursachen solcher Ereignisse machen es außerordentlich schwierig, einen Überblick zu gewinnen, doch hat R. M. Brown22 20 Harvey J. Graff: Crime and Punishment in the Nineteenth Century, Journal of Interdisciplinary History 7 (1977), 477--491; ders.: A Reply, Journal of Interdisciplinary History 9 (1979),465-471. 21 Eric H. Monkkonen: The Dangerous Class: Crime and Property in Columbus, Ohio, 1860-1885, Cambridge (Mass.) 1975; ders.: Systematic Criminal Justice History, Journal of Interdisciplinary History 9 (1979), 451--464.
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gerade hierüber eine Gesamtdarstellung vorgelegt, deren beeindruckender Quellenreichtum, vortreffliche Erzählkunst und herausfordernde Schlußfolgerungen noch auf längere Sicht kaum zu übertreffen sein dürften, wenn auch laufend informative, mehr spezialisierte Arbeiten vorgelegt werden, die sich auf unmittelbare Quellen stützen. So hat etwa Hennessy23 die Reihe von Unruhen untersucht, die im Anschluß an den amerikanischen Bürgerkrieg, also während der sogenannten Periode des Wiederaufbaus, die Südstaaten erschütterten. Diese Unruhen hatten manche Ursachen, doch zur Hauptsache handelte es sich um bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen weißen Demokraten der traditionellen, politisch und gesellschaftlich dominierenden Elite des Südens, die ihre Macht angesichts der militärischen Niederlage eingebüßt hatte einerseits und seit kurzem stimmberechtigten schwarzen Republikanern, welche von aus dem Norden stammenden Weißen unterstützt und häufig auch angeführt wurden, sowie republikanischen Südstaatlern andererseits. Dies waren im allgemeinen die politischen Gruppierungen in New Orleans während der Zeit des Wiederaufbaus, als im Juli 1866 ein Volksauflauf sich über die unvorbereitete schwarze Bevölkerung hermachte, welcher dabei von Weißen schwere Verluste zugefügt wurden. über ein Viertel der Gesamtbevölkerung waren Schwarze, von denen viele schon vor dem Bürgerkrieg die Freiheit erlangt hatten. Unter diesen freien Schwarzen gab es auch viele, die höhere Bildung und privaten Reichtum erworben hatten, so daß New Orleans über eine schwarze Elite verfügte, die die schwarzen Wähler in republikanischen politischen und gesellschaftlichen Vereinigungen führte. Nun waren diese - weißen wie schwarzen - Republikaner in den Wahlen von April 1868 erfolgreich. Als die NovemberWahlen näher rückten, waren die Demokraten fest entschlossen, die Macht wieder zu erlangen. Die Unruhen brachen aus, als Demokraten, welche hauptsächlich aus weißen Einwanderern bestanden, die schwarzen Republikaner während einer Kundgebung angriffen, wobei diese flohen, um vereinzelt bewaffnet auf den Schauplatz des Geschehens zurückzukehren, was eine Periode des Mordens auf beiden Seiten auslöste. Eine Armee zu halten, war den Südstaaten durch die Bundesgesetze über den Wiederaufbau verboten, was den republikanischen Gouverneur von Louisiana veranlaßte, unter Umgehung dieses Gesetzes eine städtische, aus Steuergeldern finanzierte Polizeitruppe für den Raum New Orleans aufzustellen, die in diesem Notfall jedoch versagte. Ein Drittel dieser Truppe waren Schwarze, die entweder in die Unruhen verstrickt waren oder aber sich fürchteten, ihre Häuser zu verlassen, 22 Richard M. Brown: Strain of Violence: Historical Studies of American Violence and Vigilantism, New York 1975. 23 Melinda M. Hennessey: To Live and Die in Dixie: Reconstruction of Race Riots in the South, Ph. D. Diss. Kent State University, 1978.
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wie Georges Cl{~menceau aus erster Hand zu berichten wußte, der damals für eine französische Zeitung in New Orleans als Korrespondent wirkte. Schließlich mußten Bundestruppen herbeigerufen werden, um die Ordnung wiederherzustellen. Ihr Ziel, die Wahlen überlegen zu gewinnen, haben die Demokraten im übrigen erreicht. Im Gegensatz zu den geschilderten Ereignissen werden heutzutage die Teilnehmer an städtischen Unruhen in der Öffentlichkeit und großenteils auch von Wissenschaftlern mit schwarzen Ghetto-Bewohnern gleichgesetzt. Die Ursachen und Teilnehmer an Unruhen haben sich im Verlaufe der amerikanischen Geschichte somit gewandelt, und es erscheint von daher auch nicht ausgeschlossen, daß künftige gewalttätige Unruhen gar nicht dem Bild der so oft untersuchten Ereignisse der sechziger Jahre unseres Jahrhunderts entsprechen werden. Bürgerwehren oder "Wachsamkeits-Komitees" sind ein anderes Beispiel kollektiver Gewaltanwendung in der amerikanischen Geschichte. R. M. Brown machte diesen Gegenstand zugänglich, als er 1969 in einem Arbeitsbericht zuhanden der "National Commission on the Causes and Prevention of Violence" über dreihundert gegenwärtige und vergangene Bürgerwehr-Gruppen aufführte, für welche er zugleich eine Definition vorschlug: "Hinter Bürgerwehren oder Wachsamkeits-Komitees steckt der Wunsch, die viel gepriesenen Güter des Lebens und des Eigentums durch Gewalt unantastbar zu machen, sobald die Präsenz von Gesetzesbrechern und marginalen Individuen in Gebieten mit schwacher und versagender Strafverfolgung den Anschein (und oft auch die Wirklichkeit) eines gesellschaftlichen Chaos schafft24." Allerdings muß man sich fragen, ob Historiker nicht auf die Propaganda der Bürgerwehren hereingefallen sind: Handelte es sich bei diesen Gruppierungen tatsächlich um Ordnungskräfte in sonst rechtlosen Ortschaften und Epochen, oder waren diese nicht eher Banden, die untereinander um Macht und Reichtum rangen? Fallen nicht einige oder gar die meisten dieser Gruppen unter Schafers25 Begriff des Pseudo-Überzeugungstäters, der politische Motive (bzw. in diesem Falle den Schutz der Mitbürger) vorschiebt, um Diebstahl, Rassismus oder Anti-Semitismus bequem verdecken zu können? War das Ermorden von Schwarzen, Juden, Katholiken oder Einwanderern eine Form der Rechtsdurchsetzung, oder handelt es sich hier nicht eher um Auswüchse von Vorurteilen und Emotionen, die die Gesellschaft niemals in ihren Gesetzbüchern verankern würde?
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Brown (FN 22), 97. Stephen Schafer: The Political Criminal, New York 1974.
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William F. Holmesz8 hat unsere Kenntnisse über Bürgerwehren und deren Definition wesentlich verfeinert durch seine Untersuchungen über jene Gruppen, die sich nachts bei ihren Unternehmungen mit weißen Mützen zu verkleiden pflegten. Diese maskierten Gruppierungen stellten eine halbwegs politische Bewegung von Leuten dar, die sich kollektiver Gewalt bedienten, um ihren Lebensstil oder ihr Territorium gegen jene zu verteidigen, die nach ihrer Vorstellung diese Ordnung bedrohten, nämlich Steuereinnehmer, unmoralisch lebende Weiße und freie SchwarzeZ7 • In einem Artikel im Journal of American History einer der beiden angesehensten historischen Zeitschriften der Vereinigten Staaten - befaßt sich Holmes mit den "Mondschein-Leuten" in Georgia, die nachts illegal Schnaps herzustellen pflegten und in den Jahren 1889-1895, mit weißen Mützen verkleidet, kollektiv Gewalttaten verübten, um - wie sie es sahen - ihr gutes Recht auf die gebührenfreie Herstellung und Veräußerung von Whisky zu verteidigen. Diese Gegend war von früher her bekannt für ihre gewaltsamen Auseinandersetzungen, hatten doch in den 1830er Jahren nächtliche Banden die Cherokee-Indianer heimgesucht und von ihren Ländereien vertrieben, und während des Bürgerkriegs hatten eigentliche GuerillaKämpfe zwischen den Anhängern der Nord- und der Südstaaten stattgefunden. Die während der Nach-Bürgerkriegszeit aktiven Ku-KluxKlan-Gruppen waren zwar um 1880 bereits wieder verschwunden, doch lieferten sie nunmehr den gewaltsam vorgehenden "Mondschein-Leuten" das Vorbild. Die meisten derselben waren kleine Bauern oder Pächter, für welche der hausgemachte Whisky kein steuerwürdiger Luxus, sondern eine wirtschaftliche Notwendigkeit darstellte. Hierauf Steuern entrichten zu müssen, hätte für diese Leute nicht bloß einen Einnahmeverlust bedeutet, sondern hätte sie möglicherweise um die schmale Gewinnmarge gebracht, die ihnen das Ausharren auf ihren Gütern finanziell ermöglichte. Angesichts der Knappheit von Ärzten und Apothekern diente der Whisky außerdem als Hausmedizin, deren Gebrauch und Handel auf einen alten Brauch zurückging. Im Laufe der 1880er Jahre wurden Geheimbünde ausdrücklich dazu gegründet, diesen Brauch und diese Einnahmequelle zu verteidigen. Diese Gruppierungen kämpften gegen - wie sie es empfanden - ungesunde Elemente in ihren Gemeinden, nämlich Prostituierte, Ehemänner, die ihre Frauen mißhandelten, und Schwarze, die die Vorherrschaft der Weißen in Frage stellten. Ihre hauptsächliche Zielscheibe waren indes26
William F. Holmes: Whitecapping: Agrarian Violence in Mississippi,
1902-1906, Journal of Southern History 35 (1969), 165-185; ders.: Moonshining and Collective Violence, Georgia, 1889-1895, Journal of American History 67 (1980), 589-611; ders.: Moonshining and Whitecaps in Alabama, 1893, Alabama Review 34 (1981), 31-49. 27 Holmes, Journal of American History, ebd. S. 609.
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sen Leute, die ihre Mitglieder wegen unerlaubten Brennens von Whisky angezeigt oder sich der Staatsanwaltschaft als Belastungszeugen zur Verfügung gestellt hatten, sowie Bundesbeamte, die die entsprechenden Steuern einzutreiben oder Schwarzbrenner zu verhaften hatten. Diese Personen zu töten, schworen sich die Mitglieder dieser "MondscheinGruppen" , und weiter versprachen sie sich, sich gegenseitig mit Alibis zu unterstützen und im Falle eines einschlägigen Strafprozesses zu weigern, als Geschworene mitzuwirken. Gegen 1893-94 standen die "Mondschein-Leute" einer großen Zahl von Bundesbeamten gegenüber, deren erklärtes Ziel es war, die Steuergesetze strikter durchzusetzen. Bis dahin hatten die Geriche des Staates Georgia - dank des Einflusses wenig objektiver, aus deren näherer Umgebung stammender Geschworener - die "Mondschein-Leute" regelmäßig freigesprochen, doch nun gingen Bundesstaatsanwälte, gestützt auf die erwähnten Bundesbeamten, dazu über, "Mondschein-Leute" der Nötigung!8 von Belastungszeugen anzuklagen. Obwohl nicht allzu viele der "Mondschein-Leute" von den Bundesgerichten in Atlanta, der Hauptstadt Georgias, verurteilt wurden, blieben diese Strafprozesse doch nicht ohne Auswirkungen auf die Angeklagten, zum al ihre Handlungen dadurch in ihrer eigenen Gemeinde bekannt wurden. Zwar hatten diese Gemeinden die "Mondschein-Leute" beschützt, sei es aus Furcht vor diesen selbst oder aus Angst vor der allgemein empfundenen Bedrohung durch die zentralisierenden Kräfte in Amerikazt , doch mit der Zeit führte die Gewalttätigkeit dieser Gruppe zu derartigen Auswüchsen, daß manche ihre Ängste überwanden. Der Ruf der Rechtlosigkeit, in welchem die ganze Gegend stand, zog nämlich auch andere Formen der Gewalttätigkeit an, die keinerlei Rückhalt bei der örtlichen Bevölkerung genossen; persönliche Racheakte forderten mehrere Menschenleben, und eine kriminelle Bande plünderte Postämter und Läden. Kaufleute, reiche Städter, Anti-Alkoholiker und gewisse Politiker, die diesen Geheimbünden schon immer feindlich gesinnt waren, taten sich folglich zusammen, um diesen ein Ende zu setzen. Denn die "Mondschein-Leute" bedrohten ihr Leben sowie ihr Hab und Gut, ohne daß sie von deren Aktivitäten einen Vorteil zu erwarten gehabt hätten. Ohne Rückhalt in der Bevölkerung vermag eine solche Gruppe indessen nicht zu bestehen. t8 Die Anklage lautete jeweils auf "conspiracy to violate the rights of person" (der Belastungszeugen), was wörtlich "strafbare Verabredung zur Verletzung der Persönlichkeitsrechte" (der Belastungszeugen) bedeutet. Da die Angeklagten auf die Einschüchterung möglicher Belastungszeugen abzielten, mag der europäische Straftatbestand der Nötigung dem wirklichen Sachverhalt am nächsten kommen (Anm. der Hg.). tt FN 27, S. 603.
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Holmes berücksichtigte alle erhältlichen Quellen, und seine ausgezeichnete Untersuchung dürfte nur schwer zu verbessern sein. Er vergleicht auch die "Mondschein-Leute" mit europäischen Formen kollektiver Gewalt, wie sie von Georges Rude, E. J. Hobsbawn und E. P. Thompson beschrieben wurden. Allerdings zieht er den wohl naheliegendsten Vergleich nicht, nämlich denjenigen mit den irischen Bauern vor der großen Hungersnot, die wirtschaftlich auf die illegale Herstellung gebrannter Wasser angewiesen waren und für die das Schnapsbrennen ebenso Ausdruck lokaler Verbundenheit wie auch einer wohlberechneten Provokation der englischen Verwaltung in Irland darstellte. Holmes hätte auch Vergleiche mit den Südstaaten ab 1960 anstellen können, wo die Gewalttätigkeit der dominierenden Weißen gegen Schwarze, die darauf folgende Entsendung von Bundesbeamten und die Anklageerhebung vor Bundesgerichten, als einzelstaatliche Gerichte die Anklage nicht zuließen oder aber Gewalttäter freisprachen, und schließlich das Nachlassen der Gewalttätigkeiten im Zeichen schwindender gesellschaftlicher Rückendeckung und zunehmender Bemühungen, fremde Investoren anzuziehen, unverkennbare und illustrative Parallelen zu den Ereignissen in Georgia am Ende des 19. Jahrhunderts aufwiesen. Freilich hat auch dieser Vergleich seine Grenzen: ging es in den 1890er Jahren in erster Linie um die Beendigung der illegalen Schnapsherstellung, wenn dabei auch der Kampf gegen Gewalttätigkeiten von Bedeutung war, so ging es in den sechziger Jahren dieses Jahrhunderts hauptsächlich um die Verhinderung weiterer Gewalttaten. 3. Die "gewöhnliche" Kriminalität Beim größten Teil der Kriminalität des 19. Jahrhunderts spielten Unruhen und kollektive Gewaltakte keine Rolle. Im folgenden ist daher auf Untersuchungen zur städtischen Kriminalität und über Kriminalitätsraten im 19. Jahrhundert einzugehen. Vorauszuschicken ist, daß amerikanische Forscher, die Statistiken des vergangenen Jahrhunderts heranziehen, anscheinend weniger weit fortgeschritten sind als ihre europäischen Kollegen, und dies, obwohl in der amerikanischen Kriminologie auf die korrekte Verwendung quantitativer Daten großes Gewicht gelegt wird. So befassen sich amerikanische Untersuchungen oft nur mit den frühesten Zeitabschnitten30 , konzentrieren sich auf verhältnismäßig kurze Zeiträume31 und/oder berücksichtigen nur einen eng umgrenzten geographischen Raum3!. 30 Michael Maltz: Crime Statisties: An Historical Perspeetive, Crime and Delinqueney 23 (1977), 32-40. 31 Monkkonen: The Dangerous Class (FN 21). 32 Theodore N. Ferdinand: Criminality, the Courts, and the Constabulary in Boston, 1702-1967, Journal of Research in Crime and Delinqueney 17 (1980),
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Freilich gibt es auch breiter angelegte Arbeiten, auf die hier besonders eingegangen werden soll. So hat Roger Lane nach seiner vielzitierten Untersuchung über Boston33 nunmehr eine Arbeit über Philadelphia34 vorgelegt, in welcher er verschiedene gewaltsame Todesarten (Selbstmord, Unfall, Mord) in ihrer historischen Entwicklung verfolgt, und zwar vor allem im Hinblick auf die Frage, ob in Gebieten mit hoher Mordrate Selbstmorde relativ selten vorgekommen sind und umgekehrt. Lanes Untersuchung ist, wie auch die Doktorarbeit von Naylor5 , charakteristisch für die mit Hilfe des Computers durchgeführten Forschungen am Center for Studies in Criminology and Criminal Law der University of Pennsylvania. Eine solche Verschmelzung von Altem und Neuem zu einem zusammenhängenden Bild sollte an sich aus der Sicht der Kriminologen wie auch der Historiker der Kriminalität und Strafjustiz gleichermaßen erwünscht sein, obwohl stärker beschreibende Untersuchungen durchaus ihre Berechtigung haben. So sollte man etwa bei einer Untersuchung über die Kriminalität in den Städten in der Vergangenheit den Einfluß des städtischen Milieus auf das Verhalten der Unterschicht nicht vernachlässigen30 • Die Kriminalität des 19. Jahrhunderts allein aus der Sicht der Unterschicht sehen zu wollen, hieße freilich, die Objektivität des Historikers aufs Spiel zu setzen, wie sich dies etwa am Beispiel einer Untersuchung von Harring 37 über die Unterdrückung von Wanderarbeitern - oder, wie sie die Behörden sahen, Vagabunden - in Buffalo im Staate New York in den Jahren 1892-1894 aufzeigen läßt. Harrings Ansatz ist marxistisch, wie bereits aus dem ersten Satz seiner Zusammenfassung38 hervorgeht, wo gesagt wird, der Klassenkampf bestimme das Recht in jeder Hinsicht. Während es schwierig oder gar unmöglich sein mag, zu beweisen, daß Klassenkämpfe das Recht unbeeinflußt gelassen hätten, so ist umgekehrt festzustellen, daß Harring in dieser wie auch in anderen Untersuchungen 3g den Nachweis dafür schuldig geblieben ist, daß 190-208; James F. Caye: Crime and Violence in the Heterogenous Urban Community: Pittsburg, 1870-1889, Ph. D. diss. University of Pittsburg, 1977. 33 Roger Lane: Policing the City: Boston, 1822-1885, Cambridge (Mass.) 1967. 34 Ders.: Violent Death in the City: Suicide, Accident, and Murder in Nineteenth-Century Philadelphia, Cambridge (Mass.) 1979. 35 Timothy J. Naylor: Criminals, Crime, and Punishment in Philadelphia, 1866-1916, Ph. D. diss. University of Chicago, 1979. 80 John T. Cumbler: The City and Community: The Impact of Urban Forces on Working Class Behavior, Journal of Urban History 3 (1977),427-442. 37 Sydney L. Harring: Class Conflict and the Suppression of Tramps in Buffalo, 1892-1894, Law and Society Review 11 (1977),873-911. 38 Ebd. S. 873. 3g Ders.: The Buffalo Police, 1872-1915, Ph. D. diss. University of Wisconsin, 1976; Harring/R. Blount: The Buffalo Police, 1872-1900, Crime and Social Justice 4 (1975), 5-14.
Beverly A. Smith der Klassenkampf der einzige oder auch nur der wichtigste Faktor bei der Unterdrückung der Wanderarbeiter in Buffalo gewesen wäre. Wie bei vielen anderen Arbeiten, die dem marxistischen Ansatz verpflichtet sind, sind auch bei Harrings Untersuchung Vorurteile, unzulässige Verallgemeinerungen und Widersprüche festzustellen. In den Jahren nach 1890 führten die wirtschaftlichen Umstände und landesweite Streiks dazu, daß zahlreiche Wanderarbeiter auf der Suche nach Arbeit durch den Eisenbahnknotenpunkt Buffalo reisten. Wie Harring vermutet, führte nun das Zusammentreffen mehrerer Ursachen zu einer dramatischen Zunahme der Verhaftungen von Wanderarbeitern und zu einer massiven Verschärfung der gegen sie verhängten Strafen. Dabei sieht er einen i'aktor darin, daß Buffalos aktive Gewerkschaftsbewegung diese Leute in einem Akt der Arbeitersolidarität unterstützt habe. Daran ist richtig, daß Gewerkschaftsführer die Arbeiterlager besuchten und dabei Lob und Besorgnis für diese Männer ausdrückten. Indessen sind Gewerkschaftsführer - wie Politiker überhaupt - auf Publizität erpicht, und die Arbeitslosen waren nun einmal ein Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Auch Harring muß zugeben, daß die Gewerkschaften vorwiegend aus amerikanischen und deutschen gelernten Arbeitern bestanden, die im allgemeinen Einwanderungsbeschränkungen als Mittel gegen die Arbeitslosigkeit begrüßtenco. Wieviele dieser Basis-Mitglieder mögen nun die Wanderarbeiter-"Armee" unter der Führung des aus Polen gebürtigen Grafen Rybakowski unterstützt haben? Mit Nahrungsmittelspenden und anderen Mitteln unterstützten polnische Angehörige der Arbeiterschaft die Durchziehenden, doch die Arbeiter von Buffalo insgesamt standen durchaus nicht geschlossen hinter einer Gruppe, die ihre hart erarbeitete Respektabilität und ihre allzeit prekären Arbeitsplätze gefährdete. Nun sollen nach Harring noch zwei weitere Faktoren die blutige Unterdrückung der Wanderarbeiter in den 1890er Jahren mitverursacht haben. Da ist einmal die Redeu von der Organisation einer klassenbewußten herrschenden Klasse in Buffalo, die, straff gegliedert, seit langem das politische Geschehen der Stadt kontrolliert haben sollet; an anderer Stelle gibt Harring hingegen zu, daß die herrschende Klasse sich erst vor relativ kurzer Zeit organisiert hatte, um ihre gemeinsamen Interessen zu wahren, und an wieder einer anderen Stelle wird mitgeteilt, die herrschende Klasse sei durchaus nicht "monolithisch" gewesen. Offensichtlich widersprechen sich diese Behauptungen. Was nun den dritten Faktor betrifft, der zur Unterdrückung der Wander4. FN 37, S. 883. 41 Cf
Ebd. S. 882. Ebd. S. 884.
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arbeiter geführt haben soll, nämlich die Aktionen eines verhältnismäßig wirksamen Polizeikorps, so sind Harrings Schlüsse durch die Belege bei weitem nicht mehr gedeckt. Nach Harring sollen die Polizisten mehr als nur tüchtige Hüter des Gesetzes gewesen sein, nämlich Agenten der herrschenden Klasse, wobei die Solidarität der Polizeiangehörigen mit ihrer eigenen (Arbeiter)Klasse durch eine Reihe von Vorkehrungen wie gute Besoldung, militärische Disziplin und eine Ausbildung, die die Interessenneutralität des Rechts betonte, ausgeschaltet worden sein soll; schließlich habe das Polizeikorps zu rund zwei Dritteln aus irisch- und zu rund einem Drittel aus deutschstämmigen Leuten bestanden, so daß es sich seiner ethnischen Herkunft nach deutlich von der damaligen Arbeiterschaft und insbesondere von den frisch zugewanderten Arbeitern unterschieden habe43 • Doch wie hoch waren die Gehälter der Polizisten im Vergleich zu jenen gelernter Arbeiter? Wie sah es bezüglich der militärischen "Disziplin" aus? Handelte es sich hier um mehr als die bloße übernahme militärischer Gradbezeichnungen wie Hauptmann oder Wachtmeister? Wieso sollen irisch- und deutschstämmige Gewerkschafter, nicht aber Polizisten derselben Abstammung die Wanderarbeiter unterstützt haben? Wie war es möglich, Polizisten, die auf das Ideal eines interessen-neutralen, "objektiven" Rechts hin geschult worden sein sollen, als Agenten eng definierter Interessenstandpunkte zu verwenden? Leider bleiben die Antworten auf diese Fragen das Geheimnis des Autors. Dafür sieht er in der Ernennung von Geschäftsleuten zu Polizeikommissaren, leitenden Offizieren und Kommandanten einen Versuch, die eigentliche Funktion der Polizei zu unterminieren, was indessen doch wohl eine jener Zeit kaum gerecht werdende Betrachtungsweise darstellt. Aus welcher anderen Reserve an qualifizierten Arbeitskräften hätten denn die Bürgermeister die Inhaber solcher Positionen rekrutieren sollen? Etwa aus dem Kreise der korrupten Politiker-Clique, die bereits andere städtische Dienstzweige kontrollierte? Leider lassen sich wichtige Fragen wie diese nicht lösen, ohne vulgär-marxistische Vorurteile über Bord zu werfen. Wahrscheinlich dürften auch in Zukunft die Gewaltdelikte im Vordergrund des Interesses der Historiker von Kriminalität und Strafjustiz stehen, während Vermögensdelikte eher von untergeordneter Bedeutung in der Forschung sein werden. Bemerkenswerterweise haben neuerdings jedoch auch die Gruppe der sogenannten Verbrechen ohne Opfer und die nichtangezeigten Delikte das Interesse einiger Historiker gefunden. Als erste haben die Kriminologen diese Themen entdeckt, deren Arbeiten den Historikern daher als Maßstab dienen. So erschienen kürzlich Untersuchungen zur Rolle einiger derartiger Delikte im 19. Jahrhundert, nämlich über Alkoholismus als Verbrechen oder medi43
Ebd. S. 888.
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zinisches Problem44 , Drogensucht45 , Drogengesetze U und GlÜcksspiele47 • Im weiteren hat Hagan48 eine hervorragende übersicht über die neuere Literatur zur Gesetzgebung gegen Alkohol- und Drogenmißbrauch, Prostitution und Sexualpsychopathie (sog. Sexualpsychopathen-Gesetze) vorgelegt, in welcher er der Bedeutung sozialer Werte, der Kriminalitätsdarstellung in den Massenmedien, der politischen Druckausübung durch Interessengruppen und den Bemühungen gewisser Eliten um die Entstehung dieser Gesetze nachgeht. Die Zahl der Variablen und die gefundene Komplexität der Kausalbeziehungen dürfte ausreichen, um von vorschnellen Erklärungsversuchen marxistischer oder dürkheimscher Prägung abzuschrecken. Zu den nichtangezeigten Delikten, die neuerdings die Beachtung von Historikern gefunden haben, gehört auch der körperliche Angriff auf den Ehegatten, und zwar gewöhnlich in der Form der Gewaltanwendung des Ehemannes gegen die Ehefrau. So hat Elizabeth Pleck,g eine - allerdings völlig unsystematische - übersicht über Entscheidungen von Berufungsgerichten, über einzel staatliche Gesetze und über die damalige öffentliche Meinung zum Thema der mißhandelten Ehefrau veröffentlicht. Ihre Folgerung, die amerikanische Justiz sei in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts diesbezüglich völlig unwirksam gewesen 50, trifft an sich zweifellos zu, doch ihre Behauptung, die informelle Regelung solcher Auseinandersetzungen durch die Familie, die Kirche, die Gemeinde oder Wachsamkeitskomitees habe diese Form der Gewalt nicht nur in vereinzelten Fällen abzustellen vermocht, entbehrt eines verläßlichen Nachweises, und ihre Ansicht, die heutige Strafjustiz gewähre mißhandelten Frauen einen wirksameren Schutz, findet in der Literatur zu diesem Thema keine Stütze. Völlig unbekümmert vergleicht Pleck auch Rohdaten über Verhaftungen wegen Mißhandlung des Ehegatten in Philadelphia, Baltimore und Charleston in den 1880er Jahren mit Daten für New York, Detroit und Edinburg in den 70er Jahren unseres Jahrhunderts, und dies ohne die stark angewachsene 44 A. Jaffe: Reform in American Medical Science: The Inebriety Movement and the Origin of the Psychological Disease Theory of Addiction, 1870-1920, British Journal of Addiction to Alcohol and Opiate Drugs 73 (1978), 139-148. 45 David T. Courtwright: Opiate Addiction in America, 1800-1940, Ph. D. diss. Rice University, 1979. 48 Gregory Y. Mark: Political, Economic, and Racial Influences on America's Frist Drug Laws, Ph. D. diss. University of California Berkeley, 1978. 47 D. C. E. Farnsley: Gambling and the Law: The Wisconsin Experience, 1848-1980, Wisconsin Law Review 1980, 811-878. 48 John Hagan: The Legislation of Crime and Delinquency, Law & Society Review 14 (1980), 603-628. 49 Elizabeth Pleck: Wife-Beating in Nineteenth-Century America, Victimology 4 (1979), 60-74. 50 Ebd. S. 64.
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Bevölkerung oder die Zunahme der Polizeikräfte in Rechnung zu stellen. Im weiteren verwendet Pleck Daten aus den Jahren nach 1920 als Belege für die Verhältnisse im 19. Jahrhundert. Für eine Historikerin beweist Pleck damit einen beklagenswerten Mangel an Sinn für die Veränderung von Einstellungen und Institutionen im Laufe der Zeit. Die Mängel der Arbeit von Pleck werden noch offenkundiger, wenn man sie mit der Untersuchung von Nancy Tomes51 über Gewaltanwendung zwischen Männern und Frauen in der Londoner Unterschicht in der Zeit von 1840 bis 1875 vergleicht. Durch die räumliche und zeitliche Begrenzung ihres Untersuchungsgegenstandes vermeidet sie PI ecks wenig aussagekräftige Verallgemeinerungen und vermag dafür anhand von Gerichtsakten und Artikeln in der Londoner Times einige typische Ursachen der Gewalt unter Ehegatten aufzuzeigen: Alkoholmißbrauch des einen Partners, wirtschaftliche Schwierigkeiten, ein Statusungleichgewicht zwischen dem arbeitslosen Ehemann und der arbeitenden Ehefrau und Unbotmäßigkeit der letzteren - vor allem, wenn sich eine solche Szene vor Kollegen des dermaßen gekränkten Ehemannes abgespielt hatte. Im weiteren glaubt Nancy Tomes ab ungefähr 1880 ein Abklingen der Gewalttätigkeit gegen Ehefrauen feststellen zu können, da der gesteigerte Lebensstandard zu einer stärkeren Übernahme von Maßstäben der Mittelschicht geführt habe. Dieser Folgerung wäre entgegenzuhalten, daß die Zugehörigkeit zur Mittelschicht Gewaltanwendung gegen den Ehepartner keineswegs ausschließt, wie sehr auch die Wertvorstellungen dieser Schicht solche Ausbrüche verpönen mögen. Eher mag die größere Verbreitung kleiner Einfamilienhäuser auf Kosten von Mietskasernen die öffentliche Wahrnehmbarkeit derartiger Ereignisse verringert haben.
4. Prostitution Von allen Frauen erhielten die Prostituierten den geringsten gesellschaftlichen und rechtlichen Schutz vor Gewalt. Ihres Berufes wegen war man allgemein der Ansicht, daß sie verdienten, was ihnen auch immer widerfuhr - und zwar in weit stärkerem Maße als unbotmäßige Ehefrauen. Wie in der Kriminologie, so stellt auch in der historischen Literatur die ProstitutionS2 die am häufigsten behandelte Form weiblicher Delinquenz dar. Bis vor kurzem befaßten sich die meisten Untersuchungen mit der Geschichte politisch-sozialer Reformbewegungen, die 51 Nancy Tomes: A "Torrent of Abuse": Crimes of Violence between Workings-Class Men and Women in London, 1840-1875, Journal of Social History 11 (1978), 328-345. 52 In diesem Zusammenhang ist zu beachten, daß seit Jahrzehnten die Prostitution in nahezu allen Bundesstaaten Amerikas kriminalisiert ist (Anm. der Hg.).
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sich die Ausrottung der Prostitution zum Ziele gesetzt hatten53, mit damaligen Ansichten über die Prostitution in der Literatur und in der ÖffentlichkeW' und mit der Prostitution in den Städten der amerikanischen Ostküste zu Beginn des 20. Jahrhunderts 55 • Ähnlich wie die Siedlungsgrenze vor mehr als hundert Jahren verschiebt sich das Interesse der Forscher, die die Geschichte der Prostitution untersuchen, nach Westen und Süden. Zu den festen Bestandteilen der rasch aufblühenden Städte, wie sie entlang der westlichen Siedlungsgrenze entstanden und durch die Western-Filme bekannt geworden sind, gehört - zumindest in diesen Filmen - die Dirne mit goldenem Herzen, die entweder den Helden der Filmgeschichte und/oder sich selbst bekehrt - oder beim Versuche dazu umkommt. Nach einer Untersuchung von Blackburn und Richards50 verfügten die Dirnen in Virginia City in Nevada allerdings über mehr Gold in ihren Taschen als in ihren Herzen. Ihr Geld stammte von Mineuren und anderen Abenteurern, die durch die Comstock-Lode-Silberfunde angezogen worden waren. Auf der Grundlage der Volkszählung von 1870 sowie dem Tagebuch und Artikeln eines dortigen Journalisten untersuchen Blackburn und Richards drei verschiedene Gruppen von Prostituierten: Weiße, Chinesinnen und Schwarze. Sie gehen davon aus, daß die tolerante oder zumindest zwiespältige Einstellung der Öffentlichkeit gegenüber Prostituierten eine ziemlich der Wirklichkeit entsprechende Anzahl derselben dazu veranlaßt habe, ihren Beruf auf den Volkszählungsformularen zutreffend anzugeben - eine recht gewagte Annahme, wenn man nicht nur an allfällige diesbezügliche Hemmungen der Prostituierten, sondern auch an an die Frauen denkt, die dieses Gewerbe (noch) nicht oder nur zeitweise - wenn andere Verdienstmöglichkeiten knapp waren hauptberuflich ausübten. Immerhin vermochten die Autoren eine ausreichende Zahl solcher Frauen zu ermitteln, um innerhalb jeder dieser drei Gruppen gewisse typische Merkmale erkennen zu können. Die kleinste dieser Gruppen bildeten vier schwarze Prostituierte - ein Hinweis auf die äußerst kleine schwarze Bevölkerung in Virginia City. Die nächst größere Gruppe, die Chinesinnen, waren erheblich jünger als die weißen Dirnen, waren alle in China geboren und lebten in einem 53 James Wunsch: Prostitution and Public Policy: From Regulation to Suppression, 1858-1920, Ph. D. diss. University of Chicago, 1976. 5' Carol A. Leonard: Prostitution and Changing Social Norms in America, Ph. D. diss. Syracuse University, 1979; Leslie Fishbein: Harlot or Heroine? Changing Views of Prostitution, 1870-1920, Historian 43 (1980), 23-35. 55 Alan Block: Women Criminals in Progressive New York, Contemporary Crises 1 (1977),5-22. " George M. Blackburn/Sherman L. Richards: The Prostitutes and GambIers of Virginia City, Nevada: 1870, Pacific Historical Review 48 (1979),
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abgetrennten Stadtteil, wo sie mit den übrigen Chinesen unter den rassistischen Vorurteilen gegen diese Einwanderergruppe zu leiden hatten. Entsprechend Virginia City's Gesamtbevölkerung bildeten die weißen Prostituierten die zahlenmäßig stärkste Gruppe, die zudem über mehr Besitz als irgendeine andere Kategorie von Frauen verfügte gleichgültig welchen Berufes. Zwei Drittel der weißen Prostituierten waren nicht in Amerika geboren, und die meisten von ihnen wohnten in gewissen Vierteln unter eher ärmlichen Verhältnissen mit ander&n Dirnen oder unverheiratet mit einem Mann zusammen. Allen drei Gruppen gemeinsam war, daß auffallend wenige Kinder mit Prostituierten zusammenlebten. Blackburn und Richards57 schreiben dies - wohl allzustark vereinfachend - den von Dirnen damals verwendeten Verhütungs- und Abtreibungsmethoden zu. Möglicherweise haben jedoch manche Dirnen ihre Kinder bei Verwandten in Obhut gegeben, schlicht im Stiche gelassen oder beim Ausfüllen der Volkszählungsformulare verschwiegen - was in einer Zeit, als Geburtsurkunden noch wenig gebräuchlich waren, wohl nichts Besonderes war. Daneben spielte zweifellos auch krankheitsbedingte Unfruchtbarkeit eine Rolle, wobei das Krankheitsrisiko nur eines unter vielen Gefahrenelementen im Leben einer Prostituierten darstellte. So wurden Dirnen im Zuge der in Virginia City üblichen Prozedur zur "Gebührenerhebung" häufig festgenommen, einzelne von ihnen wurden ermordet, viele erlitten die in ihrem Gewerbe und dem entsprechenden Milieu üblichen Gewalttätigkeiten, und schließlich forderten Drogen- und Alkoholmißbrauch ihre Opfer. Genau wie die Spieler und Goldgräber unter ihren Kunden, so versuchten auch sie ihr Glück und bezahlten für Verluste mit dem Leben. Tansey58 beschreibt die Rolle der Prostitution im politischen und im Wirtschaftsleben in New Orleans vor dem amerikanischen Bürgerkrieg. Auf der einen Seite standen jene, die die Bordelle, Ballsäle und Kaffeehäuser führten, welche Prostituierte zu benützen pflegten, ferner die Schnaps- und Lebensmittelhändler, die diese Lokale belieferten, die Fuhrunternehmer, die an die Kunden der Dirnen Kutschen ausmieteten, und schließlich einige der reichsten Grundeigentümer, die billige Häuser erstellten, um sie zu weit übersetzten Preisen an Bordellhalter und Dirnen zu vermieten. Diesen standen gegenüber die Politiker und Kaufleute, die an höheren Steuern interessiert waren, um die Hafen- und Eisenbahnanlagen der Stadt erweitern zu können, außerdem gewisse Ladenbesitzer, die fürchteten, durch die Prostitution würden Diebe angezogen, wodurch wiederum Hehlerwaren zu untersetzten Preisen auf Ebd. Richard Tansey: Prostitution and Politics in Antebellum New Orleans, Southern Studies 18 (1979),449-479. 57 511
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ihren potentiellen Absatzmarkt gelangten, ferner Geistliche, die den moralischen Verfall beklagten, den die Prostituierten symbolhaft verkörperten, Ärzte, die auf die schon eher greifbaren Gefahren von Geschlechtskrankheiten, Gelbfieber und Cholera hinwiesen, die in den Elendsvierteln grassierten, Schiffskapitäne, die die Trunkenheit und Faulheit ihrer Seeleute den bei Dirnen verbrachten Nächten zuschrieben, und schließlich Handwerker, die einen Wertverlust ihrer liegenschaften und eine moralische Gefährdung ihrer Familien befürchteten. Während einer gewissen Zeit gewannen diese Reformer die Vorherrschaft innerhalb der Stadtregierung, und sie benützten die Gelegenheit, um schärfere Strafbestimmungen gegen Prostituierte durchzusetzen. Gleichzeitig bauten sie allerdings den Bestand an städtischen Polizeikräften stark ab, um die freiwerdenden Mittel für ihre Ausbauprojekte zu verwenden. Die Widersprüchlichkeit dieser Politik und der fortdauernde Einfluß ihrer Widersacher bewirkten, daß die Reformer die Prostitution nicht zu beseitigen vermochten. Wer waren nun diese Prostituierten und ihre Kunden? Tansey vermochte zu zeigen, daß diese Frauen weiße und schwarze Arbeiterinnen waren, die, oft alleinstehende Fremde unter zwanzig Jahren, durch Arbeitslosigkeit und niedrige Löhne gezwungen waren, ihre sexuellen Dienste anzubieten. Wie aus amtsärztlich.en Berichten zu entnehmen ist, waren diese Mädchen seltener geschlechtskrank, als die Reformer zu behaupten pflegten, doch trafen Gewalt, Alkohol- und Drogenmißbrauch viele von ihnen schwer. Ihre Kunden waren größtenteils Arbeiter, die in der Stadt vorbeikamen. Die Bordelle dienten somit ihren sexuellen Bedürfnissen und stellten zugleicQ. die einzige Unterkunft dar, die diese Männer sich leisten konnten. Tansey und andere Autoren würden gut daran tun, die Prostitution auf dem Hintergrund der Geschichte der Geburtenkontrolle, der rechtlichen Stellung der Frauen in Amerika und dem Milieu der städtischen Arbeiterschicht zu untersuchen. Gingen Arbeiterinnen zu denselben Abtreibern wie Prostituierte? Betätigten sich die Nachbarn von Dirnen und Bordellen als Spione, die vor polizeilichen Zugriffen warnten, da sie die Polizei als gemeinsamen Feind betrachteten? Wurde Straßenmädchen mit derselben Einstellung begegnet wie den Insassinnen von Bordellen? Kehrten Frauen, die ihre unterbezahlten Saison- oder Teilzeitberufe zugunsten der Prostitution aufgegeben hatten, jemals in ihre angestammten Berufe zurück? Gab die enge Verbindung von weiblicher Kriminalität und Prostitution zu jenen frühen "wissenschaftlichen" Untersuchungen über kriminelle Familien Anlaß, die die kriminelle Veranlagung über die weibliche Linie zurückverfolgten58? 58 Nicolas F. Hahn: Too Dumb to Know Better: Cacogenic Family Studies and the Crirninology of Wornen, Crirninology 18 (1980), 3-25.
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Diese und andere Fragen harren einstweilen noch der Beantwortung in einem Gebiet, das als das meistuntersuchte der weiblichen Kriminalität im vergangenen Jahrhundert gelten darf. Die Prostitution für sich allein zu untersuchen, hilft in gewissem Sinne mit, das Vorurteil zu verewigen, wonach Frauen lediglich Sexualdelikte und sogenannte Statusdelikte begehen, d. h. solche, die die Verletzung einer geschlechtsspezifischen Norm beinhalten. Feministische Historikerinnen - im Gegensatz zu Historikerinnen, die sich als Feministinnen verstehen - müssen sich diese Einseitigkeit in besonderem Maße vorwerfen lassen, zum al das Thema Prostitution sich nur allzu gut dazu eignet, die Frauen als Opfer der männlichen Sinneslust hinzustellen. Sind Frauen den Männern wirklich gleichgestellt, so sind sie mit denselben menschlichen Schwächen behaftet und begehen dieselben Verbrechen wie diese, wenn auch ihre aktuelle Beteiligung an der Kriminalität in einer noch nicht genau auszumachenden Beziehung zu ihren gegenwärtigen Chancen steht. 5. Kriminalität der Schwarzen Wie die Disziplin der Frauen-Untersuchungen dazu beitrug, die Geschichte der Frauenkriminalität als Forschungsgegenstand zu entwickeln, so hat die Fachrichtung der Studien über Schwarze geholfen, das Interesse an der Geschichte der Kriminalität der Schwarzen vor und nach der Sklavenbefreiung zu wecken 60 • Eine weitere Parallele zur Geschichte der weiblichen Kriminalität liegt darin, daß - den feministischen Historikerinnen vergleichbar - manche Historiker der schwarzen Bevölkerung dazu neigen, ein einziges Delikt auf Kosten aller übrigen in den Vordergrund zu stellen, nämlich den Widerstand der Schwarzen gegen die Unterdrückung durch die Weißen, sei es in Form der Sabotage auf den Plantagen oder in Form des Massenaufstandes. Offensichtlich liegt diesen Forschern sehr viel daran zu beweisen, daß die Schwarzen die schlechte Behandlung durch grausame Herren und eine verständnislose Gesellschaft nicht widerstandslos hingenommen haben - eine menschlich sehr wohl verständliche Haltung dieser Forscher, die in gewisser Weise dem Stolz der Holocaust-Überlebenden und ihrer Nachkommen über die Kämpfer im Warschauer Ghetto gleicht. Immerhin haben diese Forscher guten Grund zu ihrer Betrachtungsweise, da Sabotage wie auch Aufstände von Schwarzen als Verbrechen behandelt wurden, die, wenn zumeist auch mit unverhältnismäßiger Strenge, so doch grundsätzlich entsprechend ihrer Schwere geahndet wurden. Auch haben Aufstände oder ihr drohender Ausbruch die Strafgesetze und die Arbeitsweise der Strafjustiz beeinflußt: ein grauenhaftes, tief einGO An vielen amerikanischen Universitäten werden heute Forschungen und Kurse zur Frauenfrage (womens studies) und zur Stellung der Schwarzen (black studies) angeboten (Anm. der Hg.).
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gefleischtes Rassenvorurteil und die rechtlichen Unbilligkeiten der Sklaverei ließen die Justiz für Schwarze des 19. Jahrhunderts zum Inbegriff allen Unheils werden. Nur bei Berücksichtigung dieser langfristigen Entwicklung der Kriminalität der Schwarzen läßt sich der Zugang finden zur Problematik der heutigen unverhältnismäßig hohen Kriminalitäts- und Gefangenenrate der Schwarzenu. Die meisten Kenntnisse über die Kriminalität der Schwarzen sind Literaturberichten zu entnehmen, welche nur zum Teil dieses Thema in den Vordergrund rücken. In einer Reihe aufschlußreicher Arbeiten vergleicht etwa Michael S. Hindus6! die Kriminalitätsraten und die Strafjustizsysteme von Massachusetts und Süd-Karolina von der Zeit kurz vor Ausbruch des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges bis ein gutes Jahrzehnt nach dem Bürgerkrieg. Die, wie er sich ausdrückt, "schwarze Justiz unter weißer Herrschaft"n untersuchend, befaßt sich Hindus 84 mit der Strafverfolgung gegen Schwarze in Süd-Karolina vor 1860, wobei er einen Vorbehalt voranstellt, den andere allzu oft übersehen haben, nämlich daß die Justiz auch an Weiße oft sehr ungleiche Maßstäbe anlegteG5 • Gegenüber Schwarzen war sie indessen fast immer von unnachsichtiger Strenge. Nach dem Buchstaben des Gesetzes konnten zwar Weiße für Verbrechen zum Nachteil von Schwarzen verfolgt werden, doch waren Schwarze als Zeugen nur soweit zugelassen, als sie keinem weißen Zeugen oder dem Staatsanwalt widersprachen. Da übergriffe von Weißen auf Schwarze und Grausamkeiten gegen diese gewöhnlich nur von schwarzen Zeugen wahrgenommen werden konnten, war es für weiße Angeklagte ein leichtes, sich durch einen Reini61 1979 betrug der Anteil der Schwarzen an der Gesamtbevölkerung in den USA rund 11,5 %, in den Gefängnissen dagegen waren rund 48 % der Insassen Schwarze (Sourcebook of Criminal Justice Statistics, 1979, ed. T. J. Flanagan et al., U.S. Government Printing Office, Washington 1980, Tab. 6.19; vgl. auch Scott Christianson: Our Black Prisons, Crime and Delinquency 27 (1981), 364-375). Es ist dabei umstritten, inwieweit diese Übervertretung der Schwarzen in den Gefängnissen durch eine höhere Kriminalitätsbelastung bedingt ist (siehe Carl E. Pope: Race and Crime Revisited, Crime and Delinquency 25 [1979], 347-357) (Anm. der Hg.). 62 Michael S. Hindus: Prison and Plantation: Criminal Justice in Nineteenth-Century Massachusetts and South Carolina, Ph. D. diss. University of California, Berkeley, 1975; ders.: Black Justice under White Law: Criminal Prosecutions of Blacks in Antebellum South Carolina, Journal of American History 63 (1976), 575-599; ders.: The Contours of Crime and Justice in Massachusetts and South Carolina, 1767-1878, American Journal of Legal History 21 (1977), 212-237; ders.: Prison and Plantation: Crime, Justice and Authority in Massachusetts and South Carolina, 1767-1878, Chapel Hill (NC) 1980. 63 Im Original lautet das Zitat "Black justice under white law", was wörtlich "schwarze Justiz unter weißem Recht" (oder "unter dem Recht der Weißen") bedeutet (Anm. der Hg.). 64 Hindus 1980 (FN 62). 65 FN 64, S. 130.
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gungseid zu entlasten - die, wie Hindus meint88 , logische Folge einer Staatsauffassung, die auf einer Verbindung aristokratischer Ehrbegriffe und weißer Vorherrschaft beruhte. So wurden denn nur selten Weiße für Morde an Sklaven angeklagt - selbst wenn diese das Eigentum Dritter waren -, und nur bei allergräßlichsten oder öffentlich begangenen Morden wurden die Täter - häufig Leute von geringem Ansehen - verurteilt87 • Soweit Schwarze in Strafprozessen eine Rolle spielten, erschienen sie fast ausschließlich in der Rolle des Angeklagten, und die meisten dieser Verfahren fanden nicht im wenigstens ansatzweise neutralen Gerichtsgebäude, sondern auf den Plantagen statt, wo die Herren Diebstähle, Kämpfe zwischen Sklaven derselben Plantage und gewisse Gewaltakte, die sich zwischen Sklaven und ihnen selber ereignet hatten, aburteilten. Wie die noch erhaltenen Akten belegen, war Diebstahl das weitaus häufigste Delikt der Schwarzen, während bei Weißen Körperverletzung dominierte - ein Muster, das wohl mehr die politische Struktur und verbreitete Ängste widerspiegeln, als für das wirkliche Verhalten typisch sein dürfte: Tatsächlich fürchteten sich die aristokratischen PlantagenBesitzer, die Süd-Karolina regierten, vor der Gewalt der weißen Unterschicht einerseits und den Diebstählen der schwarzen PlantagenArbeiter andererseits. Obwohl gestohlene Güter von den Sklaven meistens selbst verwendet wurden, glaubten die weißen Herren, daß die Sklaven diese gegen Schnaps einzutauschen pflegten. Dies war ihnen doppelt unangenehm, da sich einmal die Sklaven durch diese Handelstätigkeit ihre Autonomie zu erhöhen wußten und außerdem dadurch zu alkoholischen Getränken kamen, welche als Ursache von Müßiggang, Gewalt und Rebellion in Erscheinung traten. Dabei mußte ihnen der Diebstahl um so bedrohlicher vorkommen, als dieses Delikt häufig von Gruppen begangen wurde. Die hierfür am meisten verhängte Strafe war - wie auch bei anderen Delikten - das Auspeitschen. Bei Tötungsdelikten oder in Fällen, in die Sklaven verschiedener Plantagen verwickelt waren, hatten die Herren ihre Sklaven einem Gerichtsbeamten zu überantworten. Selbstverständlich stand ein Sklave niemals einer Geschworenenbank gegenüber, die sich aus gleichrangigen Personen zusammensetzte, sondern in dieser Funktion begegneten ihm vielmehr die Geschäftspartner, Nachbarn und Verwandten seines Anklägers, die alle auch Sklavenbesitzer waren und danach trachteten, für ihre Sklaven ein Exempel zu statuieren. Auch die Gerichtsbeamten, die selten über eine juristische Ausbildung verfügten, gehörten gleichermaßen zu diesen unter sich verfilzten, durch Inzucht gekennzeichneten 88
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Ebd. S. 132. Ebd. S. 134.
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Kreisen. Rechtsunkenntnis, ein Hang zur überreaktion in Zeiten verschärfter Rassenkonflikte, die Zulassung zweifelhafter Beweise, gesetzwidrige Besetzung des Gerichts, Ahndung nicht strafbarer Verhaltensweisen und die Wahl vorurteilsvoller Geschworener gaben dementsprechend wenig Anlaß, den Urteilen dieser Gerichte Vertrauen entgegenzubringen88 • Dazu kommt, daß Schwarze nur durch die Vermittlung ihres Herrn Berufung einlegen konnten, und dies bis 1833 selbst bei Todesurteilen, als deren automatische überprüfung durch ein höheres Gericht eingeführt wurde. Tatsächlich appellierten Eigentümer hin und wieder zugunsten ihrer Sklaven, sei es, weil sie sich - entsprechend dem Stil jener paternalistischen Gesellschaft - in echter Weise um sie kümmerten, sei es, weil sie von ihrer Unschuld überzeugt waren, oder sei es schlicht, weil sie sich gegen die Beschädigung ihres Eigentums durch Auspeitschen oder dessen Gefährdung in übervölkerten und ungesunden lokalen Gefängnissen wehren wollten, da nur im Falle der Hinrichtung eines Sklaven dessen Eigentümer eine Entschädigung erhielt, deren Höhe zudem unter dem Durchschnittspreis eines Sklaven lag. Alles in allem war die Rechtsprechung gegenüber Schwarzen somit nicht darauf angelegt, gerecht zu sein, und tatsächlich war sie dies denn auch nur äußerst selten89 • 6. Die Jugendkriminalität
Das während der letzten zwanzig Jahre am meisten beackerte Gebiet innerhalb der Geschichte der Kriminalität und Strafjustiz ist zweifellos die Jugendkriminalität, was zugleich einen verbreiteten Trend innerhalb der Kriminologie ganz allgemein widerspiegelt. Dahinter steckt die beharrliche, wenn wohl auch wirklichkeitsfremde Hoffnung, durch die Untersuchung der Jugendkriminalität ließen sich nicht nur bereits begangene Delikte analysieren, sondern das Problem der Kriminalität schlechthin "lösen", sei es, indem kriminelle Karrieren vorzeitig abgebrochen oder die am meisten gefährdete Altersgruppe der 16- bis 25jährigen von der Kriminalität ferngehalten werden könnten. Die Unerschütterlichkeit dieser Hoffnung ist wohl die wichtigste Erkenntnis, welche das Studium der Geschichte der Jugendkriminalität und ihrer strafrechtlichen Behandlung zu lehren vermag. Die folgende übersicht über die neuere Literatur zu diesem Thema ist notwendigerweise wiederum unvollständig, zumal viele historische Arbeiten über Jugendkriminalität außerhalb unseres Rahmens liegen und bereits anderswo 7o besprochen worden sind. Ebd. S. 150 f. Hindus 1976 (FN 62), S. 599. 70 Alexander W. Pisciotta: Theoretical Perspectives for Historical Analysis, Criminology 19 (1981), 115-130. 68 eg
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Einige neuere Untersuchungen sind der Frage gewidmet, welche Merkmale männliche und weibliche jugendliche Delinquenten aufwiesen und wie die Institutionen, in welchen sie untergebracht waren, hierauf reagierten. Barbara Brenzel71 hat die in der - 1856 gegründeten Lancaster (Massachusetts) State Reform School untergebrachten Mädchen untersucht. Diese waren im Alter von sieben bis sechzehn Jahren durch Vormundschaftsrichter und -beamte dort eingewiesen worden und blieben in der Anstalt, bis sie mit sechzehn Jahren als Hausboten verdingt wurden, was sie wiederum bis zum Alter von achtzehn Jahren zu bleiben pflegten. Die meisten dieser Mädchen waren - ähnlich wie die Mehrheit der delinquierenden Burschen - wegen Handlungen verurteilt worden, die nicht eigentliche Verbrechen darstellen, wohl aber gegen moralische Normen verstoßen, wie etwa Herumstreichen, Bettelei, Müßiggang, unsittliches Benehmen und Weglaufen von Zuhause; die übrigen gelangten in diese Anstalt, weil sie - ähnlich wie erwachsene weibliche Gefangene - kleine Diebstähle verübt hatten oder der Prostitution nachgegangen waren. Gut die Hälfte dieser Mädchen waren bereits in Amerika geboren, doch stammten die Eltern von neunzig Prozent aus anderen Ländern, und zwar - wie auch die eingewanderten Mädchen - zum weitaus größten Teil aus dem katholischen Teil Irlands, und über drei Viertel der Väter arbeiteten in schlecht bezahlten und wenig angesehenen Berufen. Anstelle einer sozialen erfuhren die Herkunftsfamilien dieser Mädchen eine geographische Mobilität, wodurch sie oft mehrmals während ihrer Jugend entwurzelt wurden, und zudem hatten wohl gegen zwei Drittel von ihnen wenigstens einen Elternteil durch Tod verloren. Das Sozialprofil dieser Mädchen widerspiegelt somit eine Art Mischung der Vorstellungen über die Ursachen der Jugendkriminalität im 19. und im 20. Jahrhundert: stand damals die Abstammung von armen, katholischen Einwanderern aus Irland im Vordergrund, so sind es heute Störungen im wirtschaftlichen, familiären, physischen und emotionalen Bereich, die als wesentliche Ursachen angesehen werden, wobei sich die Kriminalitätstheorien der verschiedenen Epochen weniger durch Ein- beziehungsweise Ausschluß bestimmter Faktoren als dadurch unterscheiden, daß sie die verschiedenen Ursachen ungleich gewichten. Auf den ersten Blick erscheint das Anstaltsregime in Lancaster entweder als Ausdruck religiöser, ethnischer oder von Klassenvorurteilen der reformerischen Gründer dieser Anstalt - oder aber als eine praktisch sinnvolle Behandlung der Insassinnen. So läßt sich etwa das 71 Barbara M. Brenzel: A Social Portrait of a 19th Century Reform School for Girls, Interchange 6 (1975), 11-22; dieselbe: Lancaster Industrial School for Girls, Feminist Studies 3 (1975), 40-53; dieselbe: Domestication as Reform: A Study of the Socialization of Wayward Girls, 1856-1905, Harvard Educational Review 50 (1980), 196-213.
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Gewicht, das auf die Ausbildung zur Hausboten-Arbeit gelegt wurde, als Versuch verstehen, die Einwanderer in die Schranken zu weisen und zugleich den sogenannten besseren Kreisen einen Dienst zu erweisen, aber auch als Beweis der realistischen Einschätzung der Anstellungsaussichten von Frauen aus der Unterschicht im 19. Jahrhundert, wobei diese Mädchen das Gelernte zugleich in ihrem eigenen Haushalt verwenden konnten. Wesentlich weniger gerechtfertigt war nach Ansicht von Barbara Brenzel demgegenüber die starke Dosis protestantischen Gedankengutes, die diesen Mädchen eingeimpft wurde, doch gilt es auch hier zu beachten, daß jene Reformer in einer Zeit wirkten, als viele Leute davon überzeugt waren, daß Frauen und Mädchen nach einem Fehltritt für immer verloren waren. Dieser verbreiteten Ansicht stellten die Reformer die Hoffnung entgegen, daß verwahrloste Mädchen gebessert werden könnten, und wenn sie hierfür die Unterstützung ihrer Zeitgenossen gewinnen wollten, so waren sie auf ein gewisses Maß an Achtbarkeit bei diesen angewiesen. Die Reformer glaubten daran, Lancaster könne zugleich Schulung und Ausbildung sowie eine moralisch intakte, gesunde Familienatmosphäre vermitteln. Brenzel meint zwar, hinter diesem äußeren Anschein habe sich ein stärkeres und naheliegenderes Interesse an einer repressiven sozialen Kontrolle verborgen, doch vereinfacht diese Erklärung wohl allzusehr die Vielfältigkeit und Widersprüchlichkeit der verfolgten Ziele. Standen die Angestellten in Lancaster hinsichtlich Herkunft und Schichtzugehörigkeit nicht irgendwo zwischen den Zöglingen und den Reformern? Würde dies, sollte es zutreffen, die Ansicht von Barbara Brenzel nicht weitgehend widerlegen, wonach die Insassinnen und die Reformer auf den entgegengesetzten Seiten einer unüberbrückbaren Kluft von Vorurteilen angesiedelt waren? Zum Thema der männlichen Jugendkriminalität hat Robert MenneF2 zwei Arbeiten über die Besserungsanstaltsfarm des Staates Ohio vorgelegt, wo den dort untergebrachten Burschen verschiedene landwirtschaftliche Tätigkeiten beigebracht wurden - und dies in einer ländlichen Gegend, weitab vom verderblichen städtischen Milieu, unter dessen Einfluß sie auf Abwege geraten waren. Beim Aufbau dieser landwirtschaftlichen Anstalt folgten die Beamten in Ohio zwei europäischen Vorbildern, nämlich der landwirtschaftlichen Kolonie von Mettray in Frankreich, die durch Frederic Auguste de Metz, einen Reformer des Strafvollzuges und Juristen am königlichen Hof, 1839 gegründet worden war, und der von Johann Heinrich Wichern in Hamburg errichteten Landerziehungsanstalt "Rauhes Haus". Dem Vorbild der Anfangsjahre Mettrays folgend, wurden die Insassen nicht nur 72 Robert M. Mennel: The Family System of Common Farmers'. Ohio History 89 (1980), 125-156, 279-327.
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durch die Angestellten, sondern gleichzeitig durch die Mitzöglinge beurteilt, so daß diese über Vergünstigungen und deren Entzug mitentscheiden konnten, wobei sich erfolgreiche Insassen über eine aufsteigende Skala von Vergünstigungen die Freilassung verdienen konnten. Die beiden ersten Leiter der Anstalt in Ohio zogen es vor, auf Körperstrafen zu verzichten, und erwarben sich so die Achtung und Zuneigung der Insassen. Beide vermochten sie - wie de Metz und Wichern - dieser Institution ihr persönliches Gepräge aufzudrücken. Um ihr Reformprogramm zu fördern, bemühten sich die beiden ersten Leiter, die Insassenpopulation durch Ausschluß gewisser Kategorien möglichst homogen zu halten. So wurden nur während der ersten Jahre einige Mädchen auf dieser Anstaltsfarm aufgenommen und, da bauliche und Ausbildungseinrichtungen für Mädchen fehlten, unter die unmittelbare Aufsicht weiblichen Personals gestellt, bis für sie anderswo eine besondere Anstalt errichtet wurde. Um die Jahrhundertwende, als sie zahlreicher geworden waren, wurden auch schwarze Jugendliche abgesondert, da sie - wohl auch ihrer geringen Zahl in den Anfangsjahren wegen - durch Mitzöglinge und Angestellte schikaniert worden waren. Weiter hatten den Anstaltsorganen die sechzehn- bis achtzehnjährigen Burschen Sorgen bereitet, da von diesen, zumal sie sich häufig schwererer Delikte schuldig gemacht hatten, ein ungünstiger Einfluß auf die jüngeren Insassen zu befürchten war - bis in den 1890er Jahren auch für diese Gruppe eine besondere Anstalt in Ohio errichtet wurde. Schließlich sträubten sich die Verantwortlichen gegen die Aufnahme besonders junger Burschen und Knaben, da diese - gelegentlich noch nicht zehnjährig - kriminelle Lebensstile anzunehmen und durch ältere Zöglinge sexuell mißbraucht zu werden drohten. Obwohl Homosexualität und Selbstbefriedigung in Berichten kaum je offen erwähnt wurden, bildeten diese Erscheinungen Gegenstand großer Besorgnis seitens der Anstaltsleiter, die von der Richtigkeit der viktorianischen Sexualmoral überzeugt waren. Während der ersten zwei Jahrzehnte des Bestehens dieser Anstalt konzentrierte man sich somit auf den "typischen" Insassen, d. h. einen dreizehnjährigen, in Ohio geborenen protestantischen Anglo-Amerikaner aus einer der eher dicht besiedelten Gegenden, dessen Vater und/ oder Mutter noch am Leben waren und der die normale Schulbildung und oft noch etwas Sonntagsschule mitbekommen hatte. Auffällig geworden war dieser Durchschnittsinsasse weniger durch Schnapskonsum als durch Fluchen, Faulenzen und Tabak-Kauen, und vorzuwerfen waren ihm kleine Diebstähle oder seine Schwererziehbarkeit73 • Im Hinblick auf ihr Alter, ihre Herkunft und die Deliktsbelastung erwiesen 73
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sich solche Jugendliche natürlich als ausgesprochen dankbare Objekte für Besserungsbemühungen. Unter dem dritten Anstaltsleiter wich der Reformcharakter einem rohen Repressionsklima, und während anderthalb Jahrzehnten herrschten eine unvergleichliche Gewalt, Unterdrückung, Zerstörungswut und Korruption des Personals74 : Mehrere Gebäude wurden durch Brandstiftung oder sonstige Feuer zerstört, wenigstens ein Insasse wurde durch Angestellte zu Tode geprügelt, und erstmals versuchten Zöglinge, Personalangehörige umzubringen. Weiter prügelten heuchlerische Aufseher in schwerster Weise Zöglinge wegen sexueller Vergehen, während sie sich - vor den Augen der Insassen - Mätressen hielten. Nichts veranschaulichte den Wandel der Anstalt jedoch drastischer als das Schweigegebot, das den Insassen jede gegenseitige Unterhaltung untersagte gewiß ein himmelweiter Unterschied zum einstigen Mitspracherecht der Zöglinge. Ohios Reformanstalt teilte somit das Schicksal vieler anderer Anstalten, die im 19. Jahrhundert gegründet worden waren: Auf einen verheißungsvollen, durch den Optimismus und die Persönlichkeit der Gründer geprägten Beginn folgte der Verfall von Leistung und Ansehen, sobald die Zahl und Zusammensetzung der Zöglinge sich gewandelt oder weniger ehrenhafte Leute die Leitung übernommen hatten. 7. Anfänge der Polizei
Ein weiteres oft untersuchtes Thema der Geschichte von Kriminalität und Strafjustiz im 19. Jahrhundert ist die Entstehung der städtischen Polizeikorps 75. Doch trotz der Fülle an einschlägigen Materialien ist eine der ersten und grundlegenden Fragen in diesem Bereich noch immer ungelöst, nämlich ob beim Aufbau der Polizei mehr die Armee oder bestimmte Berufe als Leitbild dienten. Vielleicht läßt sich diese Frage auch nicht in dieser einfachen Weise beantworten. Die Berufe des Arztes, des Juristen und des Lehrers haben alle ihre eigene Geschichte, doch keiner war bis zur Mitte des Jahrhunderts in einem Maße organisiert, das ihn als klares Vorbild beim Aufbau der Polizei hätte geeignet erscheinen lassen. Zudem verlief, wie Monkkonen 76 bemerkt, die Entwicklung der Polizei wenigstens in einer Hinsicht gegenläufig zu den erwähnten Berufszweigen, denn ein Merkmal der medizinischen und juristischen Berufe ist gerade die Freiheit, autonom die Maßstäbe fachmännischen Verhaltens zu bestimmen und die Rekrutierung des NachEbd. S. 319. Robert Liebman/Michael Polen: Perspectives on Policing in NineteenthCentury America, Social Science History 2 (1978), 346-360; Egon Bittner: The Rise and Fall of the Thin BIue Line, Reviews in American History 6 (1978), 421-428. 78 FN 2. 74
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wuchses zu ordnen, während die Polizei ihre Autonomie in diesen Bereichen eher einbüßte als auszubauen vermochte. Was den Leitbildcharakter des Militärs anbelangt, so läßt sich aus der Verwendung militärischer Gradabzeichen und Auszeichnungen nicht unbedingt schließen, daß die Polizeikräfte buchstäblich Armeen in den Straßen gewesen seien. Die Behauptung, Polizeikräfte hätten die Kommandostruktur und den Zusammenhalt von Armeen, führt letztlich zur Verewigung der unrichtigen Vorstellung eines "Krieges gegen das Verbrechen", die im Grunde genommen einen Konflikt gegen einen klar erkennbaren Feind voraussetzt, den man gewinnen oder verlieren kann. Allenfalls könnte man noch von einem Guerilla-Krieg sprechen, allerdings einem, der nie erklärt worden ist, bei dem keine Kapitulation erwogen wird und kein Waffenstillstand in Sicht ist. Die besten der neue ren Arbeiten zur Geschichte der Polizei sind in Buchform erschienen, die aufschlußreiche Vergleiche eher erlaubt als kürzere Veröffentlichungen. Das hervorragendste Beispiel hierfür ist Wilbur Millers Untersuchung über die Polizei in New York und London um die Mitte des 19. Jahrhunderts77 , in welcher er den Stil dieser beiden Polizeikorps miteinander vergleicht: hier die auf Wahrung aristokratischer autoritärer Herrschaftsformen bedachte, wenn auch nicht eigentlich unterdrückerische Londoner Polizei, die in einer relativ homogenen Stadt wirkte, dort die Polizei des ethnisch stark durchmischten New York, die einerseits über den innerstädtischen Auseinandersetzungen zu stehen hatte, andererseits dabei jedoch selbst Partei war, insofern sie Teil des demokratischen Systems war. David Johnson 78 , der die Geschichte der Polizeikorps in New York, Boston, Philadelphia und Chicago durch fast das ganze 19. Jahrhundert hindurch untersucht hatte, gelangte zum Ergebnis, daß die Polizei in jeder Stadt bedeutende und andauernde Beziehungen zu verschiedenen Arten von Kriminellen unterhielt. So wurden etwa "offizielle" Prostituierte geduldet und Informanten durch gegenseitige Zusammenarbeit gefördert, während Gewaltverbrecher - oft unter Gewaltanwendung bei der Verhaftung und bei der Einvernahme - unnachsichtig verfolgt wurden. Die Polizei teilte somit die Umwelt, viele Erfahrungen, die Umgangssprache und nicht zuletzt auch gewisse Interessen mit den Kriminellen. Da die Arbeiten von Miller7' und Johnson 80 bereits anderswo ausführlich besprochen worden sind - sie rezensierten sich dabei auch gegen77 Wilbur R. Miller: Cops and Bobbies: Police Authority in New York and London, 1830-1870, Chicago 1977. 78 David R. Johnson: Policing the Urban Underworld: The Impact of Crime on the Development of the American Police, 1800-1887, Philadelphia 1979. 70 Wilbur R. Miller: Police Authority in London and New York City, 18301870, Journal of Social History 8 (1975), 81-101, sowie FN 77. 80 FN 78.
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seitig -, soll hier auf deren Stärken und Schwächen nicht weiter eingegangen werden. Dafür sollen anstelle von Untersuchungen über die älteren Städte entlang der Ostküste im folgenden einige Arbeiten über andere Städte wenigstens kurz erwähnt werden: Untersucht wurde die Geschichte der Polizei beispielsweise in Cincinnati (Ohio) im Zeitraum von 1788 bis 19008 1, in Houston (Texas) zwischen 1878 und 194882 , in New Orleans (Louisiana) von 1805 bis 188983 und in Portland (Oregon) von 1854 bis 187484 • Besondere Beachtung verdient im folgenden jedoch John Schneiders Geschichte der Polizei von Detroit (Michigan), die dieser in einer Reihe von Artikeln vorgelegt hat85 • Entsprechend seinen bescheidenen Anfängen als kleine Siedlung an der Grenze zur Wildnis im frühen 19. Jahrhundert erhielt Detroit erst 1865 ein voll amtliches Polizeikorps. Beinahe wäre es zwar schon dreißig Jahre früher dazu gekommen, als Detroit durch eine Reihe von Krisen erschüttert wurde. So waren etwa in den 1830er Jahren viele Leute besorgt über die große Zahl von Schwarzen, Iren, Deutschen, Durchreisenden - und Kneipen. Im Jahre 1833 zwang ein Haufen Schwarzer den Sheriff, einen flüchtigen Sklaven freizulassen, der zu seinem Herrn hätte zurückgebracht werden sollen, und ein ähnlicher Zwischenfall ereignete sich sechs Jahre später. Zweimal wüteten in jenen Jahren Cholera-Epidemien, der kanadische Bürgerkrieg (1837) drohte, auf das benachbarte Detroit überzugreifen, und im Jahre 1839 kam es zu einer Reihe von Bramlstiftungen. Auf all diese Schwierigkeiten reagierte man in Detroit lediglich mit Ad-hoc-Maßnahmen, indem Patrouillen von Freiwilligen, Privatwächter, die städtische Miliz, mit amtlichen Kompetenzen ausgestattete Freischärler und Bürgerwehren zur Wahrung der Ordnung eingesetzt wurden. Da sich im Anschluß an den Börsenkrach von 1837 die wirtschaftliche und demographische Entwicklung Detroits verlangsamt hatte, waren die Geschäftsleute und Stadtväter - oft handelte es sich hier um dieselben Personen - der überzeugung, Detroit benötige keine reguläre Polizei und könne sich eine solche auch 81 Celestine E. Anderson: The Invention of the "Professional" Municipal Police: The Case of Cincinnati, 1788-1900, Ph. D. diss. University of Cincinnati,1979. 8% Louis Marchiafara: Institutional and Legal Aspects of the Growth of Professional Police Service: The Houston Experience, 1878-1948, Ph. D. diss. Rice University, 1976. 83 Dennis C. Rousey: The New Orleans Police, 1805-1889, Ph. D. diss. Cornell University, 1978. 84 Charles A. Tracy: The Evolution of the Police Function in Portland, Oregon, 1811-1874, Ph. D. diss. University of California, Berkeley, 1976. 85 John C. Schneider: Detroit and the Problem of Disorder: The Riot of 1863, Michigan History 58 (1974), 4-24; ders.: Urbanization and the Maintenance of Order: Detroit, 1824-1847, Michigan History 60 (1976), 260-281; ders.: Public Order and the Geography of the City: Crime, Violence and the Police in Detroit, 1845-1875, Journal of Urban History 4 (1978), 183-208.
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nicht leisten. So pflegten eben Kaufleute ihre Läden zu schützen, indem sie oder ihre Angestellten in einem oberen Stockwerk desselben Gebäudes schliefen. "Im wesentlichen waren die Aufgaben der Polizei damals immer noch Sache des einzelnen Bürgers, der sich durch geschlossene Fensterläden und ein Gewehr am Herd vor Verbrechern zu schützen pflegte86 • " Die Lage änderte sich in den 1850er und 1860er Jahren. Detroit wuchs während dieser Jahre zu einer Großstadt mit einem Geschäftsviertel in der Innenstadt und einem Industrie- und Eisenbahnquartier entlang den Ufern heran. In der durch Lagerhäuser und große Läden gekennzeichneten Innenstadt blieben nur wenige Wohnhäuser übrig, so daß kaum mehr ein argwöhnisch-forschendes Auge eines Anwohners darüber wachte, was nachts auf den spärlich beleuchteten Straßen vor sich ging. Industrie- und Schiffahrtsunternehmungen beschäftigten eine riesige Zahl durchreisender Arbeiter, die, da meistens unverheiratet, in den unzähligen Pensionen, Spielsalons, Kneipen und Bordellen einund ausgingen, von denen sich manche zwischen den Wohnvierteln und der Innenstadt befanden. "Die Geschwindigkeit, mit welcher sich solche Auswüchse in der Innenstadt breitzumachen vermochten, und die andauernd hohe Kriminalitätsrate im Geschäftsviertel mußten den Anschein erwecken, die begüterten Kreise befänden sich unter einer Art Belagerungszustand87 ." Den letzten Anstoß zur Gründung einer städtischen Polizeitruppe gaben die Zustände während des amerikanischen Bürgerkrieges, und zwar besonders jene während des Jahres 1863. Der Krieg hatte damals bereits zwei Jahre gedauert. Um die von der Union verlangten Truppenkontingente zusammenzubringen, organisierten zunächst der Staat Michigan und schließlich auch noch die Bundesregierung Truppenaushebungen, wobei die wenig populäre Möglichkeit bestand, sich durch Geldzahlungen von der persönlichen Dienstpflicht freizukaufen. Dazu kamen - kriegswirtschaftlich bedingt - starke Preissteigerungen bei fallenden Löhnen. In diesem Klima schoben gegen die Schwarzen eingestellte Detroiter Zeitungen und Demagogen diesen die Schuld am Krieg und allen sich hieraus für die Stadt ergebenden Schwierigkeiten in die Schuhe. Als Funke am Pulverfaß wirkte der Prozeß gegen einen Mischling und Gastwirt, dem vorgeworfen wurde, ein weißes und ein schwarzes Mädchen sexuell mißbraucht zu haben. Wie unter derartigen Umständen nicht anders zu erwarten, wurde der Angeklagte zu lebenslänglicher Freiheitsstrafe verurteilt. Während des Prozesses, als der Angeklagte vom Gefängnis zum Gerichtsgebäude gebracht wurde, versuchte ein Haufen Weißer zu verschiedenen Malen, ihn den begleiten88 87
Schneider 1976 (FN 85), S. 272. Schneider 1978 (FN 85), S. 193.
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den Beamten zu entreißen, um ihn zu lynchen. Als dies mißlungen war, schlug diese Menge andere Schwarze zusammen und setzte ihre Häuser in Brand. Nach diesen Erfahrungen waren auch die Führer Detroits überzeugt, daß die Stadt nicht mehr mit gewählten Stadtwächtern und einer jeweils hastig aufgebotenen Miliz auskommen könne, doch auch jetzt noch verschleppte der Stadtrat die Schaffung eines Polizeikorps erneut, bis im Jahre 1865 das Parlament des Staates Michigan eingriff88• Unter Verwendung von Karten - und seiner Kenntnisse als Geograph - legt Schneider überzeugend dar, daß Detroits Siedlungsstruktur, die die Schaffung eines Polizeikorps notwendig gemacht hatte, in gleicher Weise dieser Polizei die Erfüllung ihrer Aufgaben im Bereiche der Verbrechensverhütung und -verfolgung erleichterte. Das Aufkommen der Straßenbahnen in den 1870er Jahren führte zu einer stärkeren Verlagerung der Einwohner in die Außenbezirke der Stadt, wo nur geringe Polizeikräfte eingesetzt wurden, während das Schwergewicht der polizeilichen Anstrengungen auf der Innenstadt lag, wo sich am meisten Gewaltverbrechen ereigneten. Durch genaue Kenntnis dieser Zone und mit Hilfe von Informanten spürte die Polizei Gewaltverbrecher und gestohlene Güter auf. Weiter wurden Bordelle informell geduldet, solange sich die Prostituierten nur in den gewissen Quartieren aufhielten und Gewalt und Diebstähle zum Nachteil von Kunden ein bescheidenes Maß nicht überschritten. Sowohl die innere Differenzierung der Stadt wie auch die Polizeitaktiken weisen zu heutigen Verhältnissen große Ähnlichkeiten auf. Wie Schneider89 annimmt, war in den älteren und damit auch kompakteren Städten das Interesse der ordentlichen Leute besonders groß, vor Verbrechen geschützt zu werden, da sie - und namentlich die in der Stadtmitte lebenden führenden Kreise - gewissermaßen in unmittelbarer Nachbarschaft zu kriminellen und anderen schlecht beleumdeten Elementen wohnten. Aus diesem Grunde, so Schneider, habe man im 19. Jahrhundert in den Städten das Aufkommen einer fachmännisch arbeitenden Polizei allgemein mit viel Optimismus und Anteilnahme begrüßt. Hiergegen wäre jedoch einzuwenden, daß in kleineren Städten die gefährlichen Quartiere dichter neben den Wohnvierteln lagen, und daß auch in den Großstädten soweit hierüber Daten vorliegen - anscheinend nur wenige Kriminelle außerhalb ihrer eigenen Zone operierten, wenn auch gegenteilige Befürchtungen gehegt wurden. Woher nun also diese eher geringe Mobilität der Kriminellen? Schneider gibt hierauf keine Antwort, und er belegt auch nirgends, daß das, was er als den Optimismus des 19. Jahrhunderts in bezug auf die Polizei bezeichnet, wirklich mehr war als die übliche Rhetorik eines Großstadt-Bürgermeisters. 88 89
Schneider 1974 (FN 85). FN 85, S. 203.
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8. Straf justiz und Strafvollzug
Bis hierher lag das Schwergewicht der vorliegenden Übersicht auf verschiedenen Gruppen von Straftätern, nämlich politischen und unpolitischen, Männern und Frauen, schwarzen und weißen, jugendlichen und erwachsenen. Was geschah nun mit diesen Personen, wenn sie einmal von der Polizei, deren Entwicklung im vorstehenden Abschnitt besprochen worden ist, als Täter ermittelt waren? Die meisten dieser Fragen gehören zum älteren und bis vor kurzem produktiveren Gebiete der Rechtsgeschichte, in deren Rahmen zahlreiche Arbeiten über die Entwicklung des Strafprozesses, über den Erlaß von Gesetzen durch den Kongreß und einzelstaatliche Parlamente sowie Biographien von Richtern entstanden sind. Obwohl die Rechtsgeschichte und deren Fragestellungen für die Geschichte von Kriminalität und Strafjustiz zweifellos von Bedeutung bleiben werden, erscheint es im Rahmen dieses knappen Überblicks angezeigt, die Geschichte der Justiz zu überspringen und direkt der Geschichte des Strafvollzugs - und insbesondere dem Gefängnissystem für Erwachsene - nachzugehen. In Rezensionen von Arbeiten zur Geschichte von Kriminalität und Strafjustiz ist es inzwischen zum Gemeinplatz geworden, den Forschern den Rat zu erteilen, sich angesichts der Fülle von Arbeiten zur Geschichte des Strafvollzuges anderen Themen zuzuwenden. Für das fruchtbarste Werk zur Geschichte des Anstaltswesens im 19. Jahrhundert halten dabei viele David J. Rothmans Buch mit dem Titel: "The Discovery of the Asylum: Social Disorder in the New Republic"eo, das seit seiner Veröffentlichung zu ungeahnter Berühmtheit gelangt ist. Indem er zugleich Armenhäuser, Irrenanstalten und Gefängnisse zu untersuchen versuchte, vermag Rothman freilich keiner dieser Institutionen völlig gerecht zu werden. Auch beschränkt sich seine Untersuchung auf einen beschränkten geographischen Raum und Zeitabschnitt, nämlich im wesentlichen das Anstaltswesen vor dem amerikanischen Bürgerkrieg in den drei Städten New York, Boston und Philadelphia, die alle an der Ostküste liegen, weshalb seine Schlußfolgerungen selbst dann nicht ohne weiteres verallgemeinert werden können, wenn man unterstellt, er habe seinen Gegenstand umfassend dargestellt. Gerade zu diesem Punkt hat earl SchneiderUl jedoch zwei berechtigte Einwände erhoben. Einmal behauptet Rothman, die Entwicklung des Anstaltswesens durch die Reformer habe einem einzigen Zweck gedient, nämlich der Unterdrückung von auffälligen Personen, wobei das öffentliche Wohl und die Absicht der Besserung lediglich vorge80 David J. Rothman: The Discovery of the Asylum: Social Order and Disorder in the New Republic, Boston 1971. 81 Schneider 1979 (FN 85).
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schoben gewesen seien; Schneider gibt hier in überzeugender Weise zu bedenken, daß die Männer und Frauen, die sich für die Errichtung dieser Anstalten einsetzten, dies aus verschiedenen Beweggründen taten, zu welchen auch echt altruistische Motive zählten. Im weiteren behauptet Rothman, diese Institutionen seien rein amerikanischen Ursprungs gewesen, was durchaus nicht der Fall war. Bereits im Zusammenhang mit den oben besprochenen Anstalten für Jugendliche wurde auf die europäischen Vorläufer hingewiesen, und Schneider erinnert mit Recht an die Entwicklung des Gefängniswesens in England teils vor und teils parallel zu den von Rothman untersuchten Anstalten. Die pönologischen Strömungen in Europa wären indessen nur einer von mehreren Aspekten der Geschichte des Anstaltswesens, die mehr Beachtung verdienen würden, als sie in Rothmans Untersuchung gefunden haben. Ein Beispiel für die Fruchtbarkeit solcher vergleichender Untersuchungen stellt etwa John Reschs Artikel über das System des Erwachsenenstrafvollzugs in Ohio in den Jahren von 1850 bis 1900 dar, das als Nachahmung des irischen oder Crofton-Systems abgestufte Arten von Gefängnissen und eine anschließende überwachung des Ex-Häftlings vorsah»!. Reschs Untersuchung zeigt, wie schwierig es war (bzw. wohl immer noch ist), bewährte Einrichtungen anderswo nachzuahmen: nicht unähnlich gewissen heutigen Erscheinungen, versuchte Ohio das Crofton-System immer noch einzuführen, als dieses in Irland bereits wieder aufgegeben worden war. Die meisten Untersuchungen über Gefängnisse für Männer übergehen eine Reihe wichtiger Fragen wie etwa, welche Arten von Gefangenen dort inhaftiert wurden, welcher Herkunft die Wärter und Beamten waren, und welche Disziplinierungsmittel wie häufig Verwendung fanden - um nur drei Themen zu nennen. Untersuchungen über Frauengefängnisse liegen zwar in geringerer Zahl vor, behandeln dafür jedoch ihren Gegenstand auf breiterer Basis. Zu den besten unter diesen gehören die Arbeiten von Estelle B. Freedman8s , in welchen diese einer Vielzahl von Themen nachgeht, wie: die Vorstellungen in der Öffentlichkeit, bei Strafvollzugsbeamten und Gesetzgeber, über kriminelle Frauen im Wandel der Zeit; die Verbrechen dieser Frauen; die Ansichten von Frauen aus den Mittelschichten über ihre "gefallenen Schwestern"; die Bemühungen von Frauen und Männern im Hinblick auf eine Gefängnisreform und deren Auswirkungen auf die Frauen81 John P. Resch: Ohio Adult Penal System, 1850-1900, Ohio History 81 (1972), 236-262. 83 Estelle B. Freedman: An Historical Perspective on Female Correctional Institutions in the United States, 1870-1900, Feminist Studies 2 (1974), 77-95; dieselbe: Their Sisters' Keepers: The Origins of Female Corrections in America, Ph. D. diss. Columbia University, 1976; dieselbe: Their Sisters' Keepers: Women's Prison Reform in America, 1830-1930, Ann Arbor 1981.
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gefängnisse; die Errichtung von nach Geschlechtern getrennten Gefängnissen mit Frauen als Bewacherinnen von Frauen; die Ausbildung zur Hausarbeit als Mittel zur Hebung der Moralität der Insassinnen und ihrer Aussichten auf dem Arbeitsmarkt; der auf kleinen Häusern beruhende, familien-orientierte Baustil und die Führung solcher Anstalten; die Verbesserung der Ausbildung weiblicher Beamtinnen, die schließlich zur Ernennung von Frauen zu Anstaltsleiterinnen führte. Da Estelle B. Freedman hauptsächlich Anstalten in New York und Massachusetts untersuchte, sollten weitere Arbeiten über Frauengefängnisse in anderen Staaten unternommen werden, und zwar namentlich solchen, die später als jene entlang der Ostküste ihr Gefängnissystem aufbauten. Die Geschichte der Frauengefängnisse ist, wenn man sie auf dem Hintergrund des gesamten Strafvollzugssystems betrachtet, widersprüchlich. Einerseits hinkten sie der Entwicklung der Männerstrafanstalten hinten nach, da sie - zufolge der geringeren Zahl an Insassen, aber auch wegen gesellschaftlicher Vorurteile - weniger und vor allem weniger vielfältige Ausbildungsprogramme anzubieten hatten; andererseits leisteten die Frauengefängnisse Pionierarbeit in der Einteilung der Gefangenen, der individualisierten Behandlung, der Halbgefangenschaft und der vorzeitigen Entlassung. Da diese wichtigen Experimente von Frauengefängnissen ausgegangen waren, verdienen diese weiterhin das Interesse der Historiker. Die Historiker sollten außerdem die Mühe nicht scheuen, nach Tagebüchern und anderen Aufzeichnungen aus der Hand von Gefangenen und Beamten auf den unteren Rängen zu forschen. Gewiß verfügten die wenigsten Gefangenen über die Bildung, die Gelegenheit oder die Neigung, ihre Erfahrungen aufzuzeichnen, sieht man einmal ab von Gewerkschaftsführern und Oppositionellen, deren Berichte über ihre Gefangenschaft teilweise veröffentlicht wurden. Aber auch diese halbwegs autobiographischen Schilderungen sollten Historiker zur Kenntnis nehmen, haben doch zahlreiche religiösen, rassischen und politischen Minderheiten die Geschichte ihrer Gefangenschaft hinterlassen. Um einiges einfacher ist es wohl, die Schriften jener Frauen und Männer zu studieren, die die Gefängnisse reformieren, d. h. zumeist weniger ungesund und erniedrigend machen wollten. Doch auch hierüber liegen Arbeiten einstweilen nicht vor.
IV. Ergebnisse und Ausblick Tatsächlich bleibt in allen Bereichen der Geschichte von Kriminalität und Strafjustiz im 19. Jahrhundert noch vieles zu erforschen, obwohl zu dieser Epoche am weitaus meisten Veröffentlichungen vorliegen.
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Allerdings wenden sich immer mehr Autoren der Geschichte der Unruhen, der Kriminalität, der Gefängnisse und der Polizei während der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts zu. Leider ist es aus Platzgründen nicht möglich, hierauf weiter einzugehen, doch sei immerhin der Hinweis gestattet, daß diese Untersuchungen eine Brücke zwischen der Kriminologie einerseits und der Geschichte von Kriminalität und Strafvollzug andererseits schlagen könnten. So wissen wir etwa recht viel über die Jugendkriminalität in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und seit dem zweiten Weltkrieg, doch bemerkenswert wenig über die Entwicklung der Jugendkriminalität, ihre wissenschaftliche Erklärung und ihre Behandlung in den Zwischenkriegsjahren. Dabei wäre gerade dieser Zeitabschnitt besonders wichtig, und zwar u. a. wegen der wirklichen oder angeblichen Veränderungen der Moral in den zwanziger Jahren, den wirtschaftlichen Härten der Krisenzeit und des Ausbaus der Jugend- und Vormundschaftsgerichte. Quellen über diese Zeit sollten aufgespürt und gerettet werden, solange dies noch möglich ist, wie etwa Dokumente von Regierungsstellen, privaten Wohltätigkeitsorganisationen und Sozialarbeitern der zweiten oder gar dritten Generation, die alle Informationen enthalten mögen, zu denen Kriminologen und Historiker von ihrer Ausbildung und ihren besonderen Fragestellungen her in gleicher Weise Zugang hätten. Aus den Arbeiten zum 20. Jahrhundert und den bereits oben besprochenen Untersuchungen über frühere Zeitabschnitte bleiben nunmehr einige "Lehren" zu ziehen. So konnte etwa das Problem der Jugendkriminalität in keinem Zeitpunkt gelöst werden, obwohl man ihm seit Amerikas kolonialer Vergangenheit volle Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Ebenso werden Gefängnisse wohl immer von Gefangenen, Gefängnisreformern und späteren Autoren als grausam und barbarisch beschrieben, und zwar von letzteren selbst dann, wenn sie die Zustände in den Gefängnissen ihrer eigenen Zeit im Interesse der Abschreckung als durchaus gerechtfertigt empfinden. Auch gibt es wohl kein Strafvollzugsprogramm, das nicht zu einem früheren Zeitpunkt bereits erprobt worden wäre, sei es nun die Halbgefangenschaft, die Freiheitsstrafe von unbestimmter Dauer, die Vermittlung einer Berufsausbildung, die überwachung nach der Entlassung aus dem Gefängnis usw. Aufgabe des Historikers sollte es sein, dem Kriminologen wenigstens ansatzweise Antworten auf Fragen zu erteilen wie etwa, aus welchen Gründen Strafvollzugsprogramme scheiterten, wie es zu Veränderungen kam, wer daran beteiligt war usw. Die Antworten auf solche Fragen brauchen den Kriminologen und Praktiker des Strafvollzugs nicht von der Entwicklung und Einführung neuer Programme abzuhalten, ja es ist nicht einmal erforderlich, dieselben nach den Ergebnissen historischer Untersuchungen auszurichten. Eine der bedeu-
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tendsten Lehren der Geschichtsschreibung ist gerade, daß keine Zeit einer anderen völlig gleicht. Dazu kommt eine weitere, noch hintergründigere "Lehre": Die Geschichte der Kriminalität und Strafjustiz zeigt nicht einen stetigen Vormarsch auf jene vielgepriesenen Ziele des Fortschritts und der Besserung zu. Auf einer sehr grundlegenden Ebene schließlich liegt die Gemeinsamkeit der Kriminologen und Historiker: Beide befassen sie sich mit den Handlungen von Menschen, und notwendigerweise bleiben beide so fehlbar wie die, die sie untersuchen.
DIE KONSERVATIVE TRADITION IN DER LITERATUR ZUR AMERIKANISCHEN RECHTSGESCHICHTE Von Morton J. Horwitz· Eines der wichtigsten Merkmale der Literatur zur amerikanischen Rechtsgeschichte ist, daß sie - im Ckgensatz zur Verfassungsgeschichte - fast ausschließlich von Juristen geschrieben wurde. Dafür gibt es einige naheliegende Gründe. Das Studium der amerikanischen Rechtsgeschichte setzt notwendigerweise die Kenntnis der Rechtsdogmatik voraus, was, von hervorragenden, aber ausgesprochen seltenen Ausnahmen wie Leonhard Levys Studie über Chief Justice Shawl einmal abgesehen, die Historiker meistens abzuschrecken scheint. Sogar Perry Millers provokative Studie über die rechtlichen Vorstellungen vor dem amerikanischen Bürgerkrieg! konzentriert sich auf die juristische Rhetorik, wie sie von Juristen bei festlichen Anlässen, oft verbunden mit Eigenlob, zum besten gegeben wurde. Fast nie nimmt sich die Rechtsgeschichte jedoch ernsthaft der Lehre des positiven Rechts oder der Formen rechtlichen Denkens an. Vielmehr neigen sowohl Studien über den Juristenstand als auch solche über die juristische Ausbildung dazu, die Verhältnisse bei der Rekrutierung und Ausbildung von Anwälten in den Vordergrund zu stellen, während sie die Beziehung zwischen dem, was Juristen tun, und ihrer politischen Funktion außer acht lassen. Der Kontrast zwischen orthodoxer Rechtsgeschichte auf der einen und Verfassungsgeschichte auf der anderen Seite ist ebenfalls lehrreich. Verfassungsgeschichte war immer ein bedeutendes Thema für Historiker. Es bleibe dahingestellt, ob sich Historiker zur Verfassungsgeschichte wegen deren offensichtlichen politischen Gehalts hingezogen fühlen, oder ob dieser eine Folge des Interesses von Historikern ist. Die Verfassungsgeschichtsschreibung war jedenfalls immer beteiligt an Kontroversen über grundlegende politische Fragen der amerikanischen • Morton J. Horwitz ist Charles-Warren-Professor für die Geschichte des amerikanischen Rechts an der Harvard Law School. Sein Buch "The Transformation of American Law, 1780-1860" (1977) erhielt den Bancroft-Preis für amerikanische Geschichte und den Thomas J. Wilson-Preis der Harvard University Press. 1 Leonhard Levy: The Law of the Commonwealth and Chief Justice Shaw, Cambridge (Mass.) 1957. 2 Perry Miller: The Life of the Mind in Amerika, New York 1965. 7·
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Gesellschaft und der amerikanischen Vergangenheit. Im Gegensatz dazu nahm die Rechtsgeschichtsschreibung selten explizit an politischen Auseinandersetzungen teil. Größtenteils von Juristen geschrieben, ist sie ganz von juristischen Interessenstandpunkten geprägt. Ihr charakteristischstes Merkmal ist die überbetonung der Kontinuität und die entsprechende Vernachlässigung des Wandels. So befaßte sich die JuristenRechtsgeschichte vor allem damit, die Ursprünge von Rechtssätzen und Lehrmeinungen aufzufinden, wofür Holmes 3 Versuch, das Verschuldensprinzip in der Frühzeit des englischen Rechts nachzuweisen, ein besonders eindrückliches Beispiel darstellt (so etwa auch die Arbeiten von Langdell und Ames'). Der hervorragendste und einflußreichste Vertreter der orthodoxen Juristen-Rechtsgeschichte ist zweifellos Roscoe Pound. So findet man denn überall in der rechtshistorischen Literatur unreflektierte Spuren von Pounds Ansichten über die Rolle des Rechts und des Juristenstandes in der amerikanischen Gesellschaft. Bis vor kurzem schienen auch dem Verfasser dieses Essays die meisten dieser Annahmen der Einsicht eines neutralen Kenners der amerikanischen Rechtsgeschichte zu entspringen. Nach der Lektüre des neuesten Buches von James McClellan über "Joseph Story and the American Constitution"5 wurde dem Verfasser jedoch Pounds ideologischer Einfluß erst so richtig bewußt. So beruft sich McClellen auf die ganze Tradition der Juristen-Rechtsgeschichte, um eine zutiefst konservative Interpretation der Rolle des Rechts in der amerikanischen Gesellschaft vorzubringen, und zwar, wie ich glaube, zu Recht, beruhen doch die grundlegenden Denkfiguren dieser Art von Rechtsgeschichte auf stockkonservativen politischen Anschauungen, wenn sie auch im neutralen Gewand sachlicher und objektiver rechtsgeschichtlicher Feststellungen präsentiert werden. Es gibt viele und bedeutende ideologische Elemente in der JuristenRechtsgeschichte. Zwei wurden hier bereits erwähnt - die überbetonung der Kontinuität und die Suche nach den Ursprüngen. Im folgenden geht es darum, einige weitere dingfest zu machen und sodann zu zeigen, warum sie Teil der konservativen Ideologie des Rechts sind, die in Amerika spätestens seit dem Unabhängigkeitskrieg und in England seit Beginn des 17. Jahrhunderts dominiert. Soweit es darum geht, Kausalzusammenhänge aufzuzeigen, soll hier nur in Umrissen der Entwurf einer Theorie vorgestellt werden; im Vordergrund stehen dabei die politische Funktion der Professionalisierung, d. h. der Entste3 o. W. Holmes Jr.: The Common Law, Boston 1881 (Kap.III). , Christopher C. Langdell: Ca ses on The Law of Contracts, Boston 1871; James B. Ames: Lectures on Legal History, Cambridge (Mass.) 1913. 5 James McClellen: Joseph Story and the American Constitution: A Study in Political and Legal Thought, Norman (Oklahoma) 1971.
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hung eines besonderen Berufsstandes der Juristen und deren ideologische Auswirkungen auf die Rechtsgeschichte. Demgegenüber können hier die soziale Struktur des Juristenstandes oder die besondere Funktion des Rechts in der Gesellschaft während dieser Epochen nur am Rande gestreift werden, und gewisse zweifellos positive Auswirkungen der Ideologie des Rechts auf den Gang der anglo-amerikanischen Geschichte der letzten 350 Jahre müssen hier schließlich völlig übergangen werden. Beispiele dieser konservativen Tradition in der Literatur zur amerikanischen Rechtsgeschichte findet man zunächst in den rechtshistorischen Arbeiten von Roscoe Pound. Drei grundlegende Vorstellungen durchziehen dessen Schriften über das amerikanische Recht des 19. Jahrhunderts, denen geradezu die Bedeutung von Glaubensartikeln zukommen: An erster Stelle zu nennen ist hier das Bild vom erfreulichen und ruhmreichen Sieg des common law über die Anhänger Frankreichs bzw. über die Gegner Englands im Anschluß an den Unabhängigkeitskrieg sowie in den 1830er und 1840er Jahren, als sich bei der Auseinandersetzung mit deren Nachfahren, den Befürwortern einer Kodifikation des Rechts, dasselbe Schauspiel wiederholte. Zweitens gehört dazu die Einteilung der Geschichte in Perioden des Aufstiegs und des Zerfalls des Juristenstandes anhand sehr beschränkter Maßstäbe, die an Sachverstand und Ausbildung der Juristen angelegt wurden. Demgemäß beherrschte der Pöbel die Gerichte, bis glücklicherweise im 19. Jahrhundert der berufsmäßige Jurist auf der Richterbank Platz nahm. In ähnlicher Weise spricht man von einer Epoche des Niedergangs der Anwaltschaft allein deshalb, weil der Zugang zu diesem Beruf relativ offen war. Demzufolge erfahren wir in den meisten Schriften über die Anwaltschaft der Epoche J acksons, daß diese eine Periode des Niedergangs des Rechts gewesen sei, weil die Anforderungen an den Zugang zum Juristenberuf zurückgegangen seien. Alle diese Feststellungen gründen auf der wenig wahrscheinlichen Annahme, daß die langweilige rechtstechnische Litanei, das Blackstone-im-Mundeführen, das Plädoyer-Kopieren, kurz der Rechtsunterricht jener Epoche irgendwen zu einem besseren Juristen gemacht hätten. Nicht umsonst wurden einige der besten Richter jener Epoche - das bekannteste Beispiel hierfür wäre John Marshall - von ihren Zeitgenossen aufgrund ihrer fachlichen Kompetenz nicht als überragende Juristen angesehen. Diese Argumentationsweise verkommt schließlich vollends bei Leuten wie Chroust6 und McClellan5 , die die Qualität und Sachkenntnis der Anwälte anhand höchst selbstgefälliger und banaler zeitgenössischer Urteile über das fachliche Können zu messen versuchen. Zu viele Rich6 Anton-Hermann Chroust: The Rise of the Legal Profession in America, 2 Bde., Norman (Oklahoma) 1965.
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ter- und Anwaltsbiographien des 19. Jahrhunderts mit ihrem überschwenglichen Lob an einen Anwaltskollegen - "er war der beste Gerichtsredner seiner Zeit" - lassen überdeutlich erkennen, wie sehr die übernahme der Qualitätsmaßstäbe des Juristenstandes durch Historiker in jeder geschichtlichen Epoche ideologisch belastet ist. Bis dahin erwähnte ich zwei Hauptprämissen in Pounds Werk: Lobhudelei auf das common law und Feindseligkeit gegenüber der Kodifikation; Beurteilung der juristischen Kenntnisse und der Qualität der Anwaltschaft anhand enger und selbstgefälliger Maßstäbe. Diese zwei münden auf direktem Weg in eine dritte Prämisse, nämlich Pounds eigene, besondere antimarxistische "Medizin": "die anerkannte Rechtsüberlieferung" . Pound hat ohne Zweifel recht, wenn er in seinem Werk hervorhebt, daß die "anerkannte" oder "gelehrte" Rechtsüberlieferung das angloamerikanische Rechtssystem bis zu einem gewissen Grad von politischem und wirtschaftlichem Wandel unabhängig gemacht hat. "Eine ausschließlich ökonomische Interpretation ... ", schrieb er, "vernachlässigt die vorherrschende Denkart der Zeit, die des öfteren die wirtschaftliche Situation der Vergangenheit widerspiegelt, als sich das überlieferte Ideal gebildet hat7." Nehmen wir einmal an, dem sei so. Pounds Arbeiten vermitteln gewöhnlich den beruhigenden Eindruck, diese entscheidende, das Ideal prägende wirtschaftliche Epoche könne in sicherer zeitlicher Entfernung in der Vergangenheit angesiedelt werden. In demselben Artikel, wo er hervorhebt, daß die anerkannte Rechtsüberlieferung oft funktionell unabhängig vom wirtschaftlichen Einfluß einer früheren Epoche wurde, verrät er jedoch auch die besondere Blindheit der Juristen-Rechtsgeschichte, sobald sie sich mit näherliegenden Ereignissen befaßt. Die Tendenz zur Verschuldenshaftung und deren Rechtfertigung durch Autoren wie Holmes nämlich war, wie er schrieb, einfach das Ergebnis des Sieges des "common sense"8. Während es für uns nunmehr klar sein sollte, daß die Entwicklung der Verschuldenshaftung im 19. Jahrhundert Teil des Systems juristischen Denkens war, das sich dazu hingab, die Kosten der technischen Entwicklung zu senken, war es für Pound einfach die bessere Lösung - gemessen an irgendeinem unhistorischen, abstrakten und intellektuellen Kriterium des "common sense". Pounds Anrufung des "common sense" ist - historisch betrachtet Ausdruck der selbstzufriedenen und unkritischen Annahme der Juristen, daß die Art des "Denkens wie ein Jurist" historisch mehr oder weniger 7 Roscoe Pound: The Economic Interpretation of the Law of Torts, Harvard Law Review 53 (1940) 365 ff. 8 Ebd. S. 376.
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gleichbleibend ist. Daraus wird gefolgert, daß die Grundlagen des juristischen Denkens - mit all seinen Maßstäben für Relevanz, für gute und schlechte Argumente und seinen Auslegungsregeln (bezüglich Verbindlichkeit, Wortlaut und Sinn) - gleichzusetzen sind mit der Vernunft an sich. Und von der Vernunft wird schließlich angenommen, sie werde ihrerseits von historisch unveränderlichen Kriterien beherrscht. Das Ergebnis war, daß Rechtshistoriker wie Pound die Rechtsgeschichte in Begriffe " richtiger " und "falscher" Lösungen faßten, und zwar grundsätzlich ganz im Sinne wissenschaftlicher Richtigkeitskriterien. Indessen gab er nie ernsthaft die Kriterien an, aufgrund welcher er die Niederlage der Kodifikationsbewegung erfreulich fand, obwohl klar scheint, daß seine Sicht der Dinge im wesentlichen auf politischen Anschauungen beruht. Die Kodifikation war nämlich demokratische Rechtsetzung an sich, wogegen die Geltung des common law die Trennung von Recht und Politik aufrechterhielt. Erstere übertrug die Befugnis zur Rechtsetzung hauptsächlich an den ungebildeten Pöbel; letztere ermöglichte es dem Juristenstand, Ausmaß und Form des rechtlichen Wandels zu kontrollieren. Die Juristen-Rechtsgeschichte ist jedoch selten bereit anzuerkennen, daß sowohl die Forderung nach Professionalisierung des Juristenstandes als auch die von außen kommende Forderung, eine ideologische "Pufferzone" zwischen den Ansprüchen der Politik und denjenigen des Rechts zu schaffen, die anerkannte Rechtsüberlieferung selbst beeinflußt haben. Folglich wird die anerkannte Rechtsüberlieferung in den meisten Werken über amerikanische Rechtsgeschichte behandelt, als wäre sie nicht selbst ein geschichtlich bedingtes, wandelbares Produkt bestimmter Kämpfe, sondern eher, als sei sie eine Art metahistorischer Komplex an Werten, innerhalb welchem soziale Konflikte schon immer stattgefunden haben. Eines der bekanntesten Beispiele der vorherrschenden Art konservativer Rechtsgeschichte ist Anton-Hermann Chrousts zweibändige Studie "The Rise of the Legal Profession in America"8, die in hohem Maße auf Pounds Frühwerk aufbaut. Im Zusammenhang mit der Anwaltschaft während der ersten Jahre der amerikanischen Unabhängigkeit wiederholt Chroust die geläufige Ansicht, daß sich die meisten Anwälte, nur dürftig auf ihren Beruf vorbereitet, zu dessen Ausübung sich als wenig qualifiziert erwiesen hätten9 • Zur Stützung dieser Behauptung zitiert er lediglich die folgende Stelle aus Clarks Memoiren von Jeremiah Mason: "Die meisten Anwälte waren ungebildet, von schlechten Manieren und kümmerten sich kaum um moralische Grundsätze10• " g
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Chroust (FN 6) Bd. 2 S. 34. Ebd. S. 34 Anm. 112.
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Darf sich ein Historiker mit einer solch verdächtig selbstrechtfertigenden Sicht der Dinge zufrieden geben? Für Chroust besteht der Juristenstand des 19. Jahrhunderts einerseits aus "verantwortungsbewußten und erfahrenen Berufsleuten" und andererseits aus "Gaunern und Winkeladvokaten"u. Im Zusammenhang mit der Kodifikationsbewegung zur Zeit J acksons bemerkt Chroust, daß Frederick Robinsons berühmter Angriff gegen das common law aus dem Jahre 1834 "vom Juristenstand kurzum als Gegeifer eines desinformierten und voreingenommenen Aufrührers zurückgewiesen werden durfte'