Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung: Band 2: Sermones XXVII-CXXI 9783402034828, 3402034824


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Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Abkürzungsverzeichnis
Predigt 27
Predigt 28
Predigt 29
Predigt 30
Predigt 31
Predigt 32
Predigt 33
Predigt 34
Predigt 35
Predigt 36
Predigt 37
Predigt 38
Predigt 39
Predigt 40
Predigt 41
Predigt 42
Predigt 43
Predigt 44
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Predigt 59
Predigt 60
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Predigt 69
Predigt 70
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Predigt 73
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Predigt 75
Predigt 76
Predigt 77
Predigt 78
Predigt 79a
Predigt 79b
Predigt 80
Predigt 81
Predigt 82
Predigt 83
Predigt 84
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Predigt 87
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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung: Band 2: Sermones XXVII-CXXI
 9783402034828, 3402034824

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Mit seinen Predigten hat Nikolaus von Kues ein großartiges Zeugnis christlicher Theologie hinterlassen. In verschiedener Hinsicht nimmt sein Predigtwerk eine Sonderstellung ein: An Sachgehalt den Predigten Eckharts vergleichbar, stellen die Predigten ein einzigartiges Dokument ihrer Zeit dar. Zugleich bieten sie einen eigenen, noch vielfach unterschätzten Zugang zu Nikolaus von Kues, da sie an spekulativer Kraft dem philosophisch-theologischen Werk nicht nachstehen, im Gegenteil, oft durch die Verwendung kühner Bilder und klarer sprachlicher Prägungen diesem überlegen sind. Die fast 300 Predigten – mehr als die Hälfte stammen aus der Zeit, als Cusanus Bischof in Brixen war – eröffnen darüber hinaus ein breites Themenspektrum: Gottesbild, Anthropologie, Christologie, Schöpfung, Sakramentenverständnis, aber auch philosophische Spekulationen zur Erkenntnistheorie, Metaphysik, Zeitphilosophie, Ethik oder Ästhetik u.a. Bislang sind nur wenige Predigten übersetzt. Mit der vorliegenden Ausgabe wird erstmals das gesamte Predigtwerk des Nikolaus von Kues in deutscher Übersetzung zugänglich gemacht. Zudem geht jeder Predigt eine knappe Einleitung voraus: Angabe der kritischen Edition, Gliederung der Predigt und Hinweise auf Sekundärliteratur geben dem Benutzer die nötigen Hilfsmittel zu einer weiteren Beschäftigung an die Hand. Ferner werden direkte Zitate, die Cusanus verwendet, nachgewiesen; Erläuterungen zum Text werden, soweit sie für das Verständnis notwendig sind, gegeben.

Nikolaus von Kues PREDIGTEN Band 2

NIKOLAUS VON KUES

PREDIGTEN IN DEUTSCHER ÜBERSETZUNG Herausgegeben am Institut für Cusanus-Forschung von Walter Andreas Euler Viki Ranff Klaus Reinhardt und Harald Schwaetzer

BAND 2

ISBN 978-3-402-03482-8

Sermones XXVII–CXXI

Nikolaus von Kues

Predigten in deutscher Übersetzung Band 2

NIKOLAUS VON KUES

PREDIGTEN IN DEUTSCHER ÜBERSETZUNG Herausgegeben am Institut für Cusanus-Forschung von Walter Andreas Euler Viki Ranff Klaus Reinhardt und Harald Schwaetzer

NIKOLAUS VON KUES

PREDIGTEN IN DEUTSCHER ÜBERSETZUNG BAND 2 (Band XVII der Opera omnia)

Sermones XXVII–CXXI

© 2013 Aschendorff Verlag GmbH & Co. KG, Münster Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Die Vergütungsansprüche des § 54 Abs. 2 UrhG werden durch die Verwertungsgesellschaft Wort wahrgenommen. Gesamtherstellung: Aschendorff Druckzentrum GmbH & Co. KG, Münster, 2013 Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier ∞ ISBN 978-3-402-03482-8

Inhaltsverzeichnis Seite Vorwort ....................................................................................................... XIII Abkürzungsverzeichnis ................................................................................. XV Nikolaus von Kues: Sermones XXVII – CXXI ...................................................1 Predigt XXVII: Jesus autem emissa voce magna exspiravit Jesus aber schrie laut auf. Dann hauchte er den Geist aus ..................................3 Predigt XXVIII: Jesus autem emissa voce magna exspiravit Jesus aber schrie laut auf. Dann hauchte er den Geist aus ..................................9 Predigt XXIX: Accepistis Ihr habt angenommen .....................................................................................19 Predigt XXX: Constituite diem solemnem Setzt einen Festtag ein .....................................................................................27 Predigt XXXI: In nomine Jesu Vor dem Namen Jesu ......................................................................................33 Predigt XXXII: In nomine Jesu Vor dem Namen Jesu ......................................................................................37 Predigt XXXIII: In nomine Jesu Vor dem Namen Jesu ......................................................................................43 Predigt XXXIV: Oportuit Christum pati Christus mußte leiden .....................................................................................47 Predigt XXXV: Oportuit Christum pati Christus mußte leiden .....................................................................................49 Predigt XXXVI: Christ ist erstanden .........................................................................................55 Predigt XXXVII: Paraclitus autem Der Beistand aber............................................................................................59

VI

Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Predigt XXXVIII: Sanctus, sanctus, sanctus Heilig, heilig, heilig .........................................................................................79 Predigt XXXIX: Seraphin duabus alis Seraphim mit zwei Flügeln................................................................89 Predigt XL: Martinus hic pauper Martin, dieser arme .........................................................................................93 Predigt XLI: Confide filia! Vertrau, Tochter! ..........................................................................................107 Predigt XLII: Ecce, evangelizo Seht, ich verkünde euch ................................................................................125 Predigt XLIII: Alleluia. Dies sanctificatus Halleluja. Der geheiligte Tag .........................................................................133 Predigt XLIV: Dies sanctificatus Der geheiligte Tag .........................................................................................141 Predigt XLV: Alleluia. Dies sanctificatus Halleluja. Der geheiligte Tag .........................................................................145 Predigt XLVI: Alleluia. Dies sanctificatus Halleluja. Der geheiligte Tag .........................................................................149 Predigt XLVII: Alleluia. Dies sanctificatus Halleluja. Ein geheiligter Tag ........................................................................153 Predigt XLVIII: Dies sanctificatus Ein geheiligter Tag ........................................................................................159 Predigt XLIX: Ave Ave ...............................................................................................................169 Predigt L: Spiritus sanctus superveniet in te Der Heilige Geist wird über dich kommen ....................................................179 Predigt LI: Dicite filiae Sion Sprechet, Töchter Sions ................................................................................183

Inhaltsverzeichnis

VII

Predigt LII: Cum clamore magno et lacrimis offerens exauditus est pro sua reverentia Mit lautem Schreien und Tränen bittend ist er aufgrund seiner Ehrerweisung erhört worden ........................................191 Predigt LIII: Paradigma filiae adoptivae explanatur Das Beispiel der Adoptivtochter wird erläutert ..............................................195 Predigt LIV: Remittuntur ei peccata multa Ihr werden viele Sünden vergeben .................................................................201 Predigt LV: Maria optimam partem elegit Maria hat den besten Teil gewählt .................................................................215 Predigt LVI: Maria optimam partem elegit Maria hat den besten Teil gewählt .................................................................221 Predigt LVII: Sedete, quoadusque induamini virtute ex alto Bleibt sitzen, bis ihr mit Kraft aus der Höhe erfüllt werdet ............................225 Predigt LVIII: Sedete, quoadusque induamini virtute ex alto Bleibt sitzen, bis ihr mit Kraft aus der Höhe erfüllt werdet ............................241 Predigt LIX: Sedete, quoadusque induamini virtute ex alto Bleibt sitzen, bis ihr mit Kraft aus der Höhe erfüllt werdet ............................257 Predigt LX: Ego resuscitabo eum in novissime die Ich werde ihn auferwecken am Jüngsten Tag .................................................263 Predigt LXI: Ex Ipso, per Ipsum et in Ipso Aus Ihm, durch Ihn und in Ihm ....................................................................269 Predigt LXII: Memoriam fecit Ein Andenken hat er eingerichtet ..................................................................279 Predigt LXIII: Qui manducat hunc panem, vivit in aeternum Wer dieses Brot ißt, lebt in Ewigkeit .............................................................291 Predigt LXIV: Qui manducat hunc panem, vivit in aeternum Wer dieses Brot ißt, lebt in Ewigkeit .............................................................293 Predigt LXV: Fuit homo missus a Deo Ein Mensch ist von Gott gesandt worden ......................................................299 Predigt LXVI: Ut manifestaretur Damit offenbart werde ..................................................................................309

VIII

Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Predigt LXVII: Ut manifestetur Damit offenbart werde ..................................................................................313 Predigt LXVIII: Respexit humilitatem Er hat geschaut auf die Niedrigkeit ................................................................335 Predigt LXIX: Vidi civitatem Ich habe geschaut die Stadt ...........................................................................349 Predigt LXX: Vidi civitatem Ich habe geschaut die Stadt ...........................................................................361 Predigt LXXI: Maria optimam partem elegit Maria hat den besten Teil erwählt .................................................................365 Predigt LXXII: Respice, Deus Blicke, o Gott................................................................................................385 Predigt LXXIII: Quis es, ut responsum demus? Wer bist du, damit wir Antwort geben? .........................................................389 Predigt LXXIV: Tertia die resurrexit Am dritten Tage ist er auferstanden ...............................................................393 Predigt LXXV: Filius hominis vadit Der Menschensohn geht dahin ......................................................................399 Predigt LXXVI: Ein kurcze ler vnd auslegung vber den heyligen pater noster Eine kurze Belehrung und Auslegung über das heilige Vaterunser ..................403 Predigt LXXVII: Magna est fides tua: Fiat tibi, sicut vis Groß ist dein Glaube. Es geschehe dir, so wie du es wünschst ........................413 Predigt LXXVIII: Mortuus erat et revixit; perierat et inventus est Tot war er und ist wieder lebendig geworden; verloren war er und ist gefunden worden .......................................................417 Predigt LXXIXa: Pax Friede............................................................................................................421 Predigt LXXIXb: Pax Friede............................................................................................................425 Predigt LXXX: Qui ex Deo est, verba Dei audit Wer aus Gott ist, hört auf die Worte Gottes ..................................................427

Inhaltsverzeichnis

IX

Predigt LXXXI: Jesus est filius Dei Jesus ist der Sohn Gottes ...............................................................................429 Predigt LXXXII: Gaudium meum in vobis sit, et gaudium vestrum impleatur Meine Freude soll in euch sein, und eure Freude soll vollkommen werden .....................................................433 Predigt LXXXIII: Tristitia vestra vertetur in gaudium Eure Traurigkeit wird sich in Freude wandeln ...............................................439 Predigt LXXXIV: Amen, amen, dico vobis: Si quod petieritis Patrem in nomine meo, dabit vobis Amen, amen, ich sage euch: Wenn ihr den Vater in meinem Namen bitten werdet, wird er euch geben ................................................................................443 Predigt LXXXV: Sic veniet, quemadmodum vidistis eum euntem Er wird so kommen, wie ihr ihn habt gehen gesehen .....................................449 Predigt LXXXVI: Qui male agit, odit lucem Wer schlecht handelt, der scheut das Licht ....................................................453 Predigt LXXXVII: Veni, ut vitam habeant et abundantius habeant Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben ............455 Predigt LXXXVIII: Ego sum panis vivus Ich bin das lebendige Brot .............................................................................459 Predigt LXXXIX: Imperavit febri et dimisit illam Er hat dem Fieber befohlen, und es hat jene verlassen ....................................463 Predigt XC: Benedicta sit sancta Trinitas atque indivisa unitas Gepriesen sei die heilige Dreieinigkeit und ungeteilte Einheit ........................467 Predigt XCI: Compelle intrare, ut impleatur domus mea Nötige sie, einzutreten, damit mein Haus voll werde! ....................................471 Predigt XCII: Ait Maria: Magnificat anima mea Dominum Da sagt Maria: Hoch preiset meine Seele den Herrn ......................................475 Predigt XCIII: Appropinquantes ad Jesum publicani et peccatores, ut audirent illum Es waren da Zöllner und Sünder, die an Jesus herantraten, um ihn zu hören............................................................................................477

X

Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Predigt XCIV: Sperent in te omnes, qui noverunt nomen tuum, Domine, quoniam non derelinques quaerentes te Es hoffen auf dich alle, die deinen Namen, o Herr, kennen, weil du die nicht verläßt, die dich suchen ......................................................481 Predigt XCV: Eadem mensura, qua mensi fueritis, metietur vobis Ebendasselbe Maß, mit dem ihr gemessen haben werdet, wird euch zugemessen werden .......................................................................483 Predigt XCVI: Quodcumque solveris super terram, erit solutum et in caelis Was auch immer du auf Erden lösen wirst, wird auch im Himmel gelöst sein ..................................................................487 Predigt XCVII: Manducaverunt et saturati sunt Sie haben gegessen und sind satt geworden ....................................................493 Predigt XCVIII: Qui facit voluntatem Patris mei, qui in caelis est, ipse intrabit in regnum caelorum Wer den Willen meines Vaters tut, der im Himmel ist, der wird selbst eintreten in das Reich der Himmel .........................................497 Predigt XCIX: Deus in loco sancto suo; Deus, qui habitare facit unanimes in domo Gott in seinem heiligen Ort, Gott, der Einträchtige im Hause wohnen läßt, er selbst gewährt die Kraft und die Stärke seines Volkes .........................505 Predigt C: Complevitque Deus die sexto opus suum, et requievit die septima Und Gott hat am sechsten Tag sein Werk, das er erschaffen hatte, vollendet; und am siebten Tag ruhte er aus ....................................................509 Predigt CI: Respice, Domine, in testamentum tuum Schau, o Herr, auf deinen Bund ....................................................................513 Predigt CII: Venite, filii, audite me: Timorem Domini docebo vos Kommt, ihr Söhne, hört mich: Die Furcht des Herrn will ich euch lehren .....................................................517 Predigt CIII: Jesu praeceptor, miserere nostri Jesus, Meister, erbarme dich unser .................................................................519 Predigt CIV: Videte, ne contemnatis unum ex hiis pusillis Seht zu, daß ihr keines dieser Kleinen verachtet .............................................523

Inhaltsverzeichnis

XI

Predigt CV: Quaerite primum regnum Dei et iustitiam eius, et haec omnia adicientur vobis Suchet zuerst das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit, und all dieses wird euch hinzugefügt werden .................................................527 Predigt CVI: Deus visitavit plebem suam Gott hat sein Volk heimgesucht ....................................................................531 Predigt CVII: Estote parati: qua hora non putatis, filius hominis veniet Seid bereit! Ihr wißt nicht, zu welcher Stunde der Menschensohn kommen wird................................................................................................535 Predigt CVIII: Confide, fili, remittuntur tibi peccata tua Habe Vertrauen, mein Sohn, es werden dir deine Sünden vergeben ...............539 Predigt CIX: Ite ad exitus viarum, et quoscumque inveneritis, vocate ad nuptias Geht zu den Straßenecken hinaus, und, wen auch immer ihr findet, ruft zum Hochzeitsmahle ..............................................................................543 Predigt CX: Iam, patres et fratres, praelocutio sufficiet Nun, Väter und Brüder, ein kurzer Vorspruch wird genügen.........................549 Predigt CXI: Vigilate, quia nescitis diem neque horam Wachet, denn ihr wißt nicht den Tag noch die Stunde ..................................553 Predigt CXII: Lux in tenebris lucet, et tenebrae eam non comprehenderunt Das Licht leuchtet in der Finsternis, und die Finsternis hat es nicht erfaßt ............................................................................................................557 Predigt CXIII: Intrantes Sie traten ein .................................................................................................561 Predigt CXIV: Procidentes adoraverunt Sie fielen nieder und beteten an .....................................................................563 Predigt CXV: Anulo fidei suae subarravit me Dominus Mit dem Ring seines Glaubens hat der Herr mich verlobt .............................565 Predigt CXVI: Homines mirati sunt dicentes: Qualis est hic, quia venti et mare oboediunt ei? Die Menschen wunderten sich und sagten: Von welcher Art ist dieser, daß die Winde und das Meer ihm gehorchen? ...............................................571

XII

Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Predigt CXVII: Venite ad me omnes, qui laboratis et onerati estis, et ego reficiam vobis Kommt zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, und ich will euch erquicken...........................................................................577 Predigt CXVIII: Erunt primi novissimi et novissimi primi Die Ersten werden die Letzten sein und die Letzten die Ersten ......................581 Predigt CXIX: Diabolus reliquit eum et ecce, angeli accesserunt et ministrabant ei Der Teufel verließ ihn, und siehe, Engel traten herzu und dienten ihm .........587 Predigt CXX: Magna est fides tua, fiat tibi, sicut vis Groß ist dein Glaube, es geschehe dir, so wie du willst ..................................591 Predigt CXXI: Beati, qui audiunt verbum Dei et custodiunt illud Selig, die das Wort Gottes hören und es bewahren ........................................595

Vorwort Mit dem zweiten Band der Predigten in deutscher Übersetzung des Nikolaus von Kues liegen nun die Predigten XXVII bis CXXI vor. Sie wurden nach der kritischen Edition der Heidelberger Akademie-Ausgabe übersetzt (der vollständige Text der Edition ist im Internet bequem unter www.cusanusportal.de zugänglich) und, zumeist von den Übersetzern, mit einer einleitenden Zusammenfassung versehen. Predigten XXVII bis XXXIX übersetzte Frau Gabriele Neusius, die Übersetzung der Predigt XL stammt aus dem Nachlaß von Herrn Prof. Dr. Rudolf Haubst, Predigten XLI bis XLVI übersetzte Herr Prof. Dr. Wolfgang Lentzen-Deis, Predigten XLVII bis LVI übersetzten Herr Prof. Dr. Klaus Reinhardt und Herr Prof. Dr. Harald Schwaetzer, Predigten LVII bis LXI und LXXVI übertrug Herr Dr. Niels Bohnert, sowie Predigten LXII bis LXXV und LXXVII bis CXXI Herr Dr. Hermann Schnarr. Allen Übersetzern sei für die geleistete Arbeit von Herzen gedankt. Frau Dr. Viki Ranff, seit August 2009 Hochschuldozentin am Institut für Cusanus-Forschung, hat in mühevoller Detailarbeit die verschiedenen Teile des Bandes zu einem Ganzen geformt. Dafür sind ihr die übrigen Herausgeber zu großem Dank verpflichtet. Sprache und Stil der Übersetzer und die formale Gestaltung der jeweiligen Anmerkungsapparate wurden nicht vereinheitlicht. Zuweilen hat Cusanus sich bei der Zitation von Bibelstellen aus dem Gedächtnis in der Kapitelnummer geirrt. In diesen Fällen weicht die in Klammern hinzugefügte Schriftstelle von der cusanischen Bibelkapitelangabe im Predigttext ab. Die Herausgeber danken allen, die bei der Erstellung des Manuskriptes geholfen haben: Für Schreibarbeiten Frau Ingrid Fuhrmann, für Korrekturen Frau Margarete Eirich, Herrn Dominik Härter, Frau Stephanie Lawall, Frau Julia Marx und Herrn Henrik Preuß. Den Satz erstellte in bewährter Weise Frau Christiane Bacher, der hierfür gedankt sei. Herrn Dr. Dirk F. Paßmann vom Aschendorff-Verlag sei für die gute Betreuung des Bandes gedankt. Die Herausgeber verbinden den Dank an alle, die zur Entstehung des Bandes beigetragen haben, mit dem Wunsch, dass die Predigten des Cusanus zum tieferen Verständnis seines Denkens beitragen mögen. Trier, im November 2012 Walter Andreas Euler, Viki Ranff, Klaus Reinhardt, Harald Schwaetzer

Abkürzungsverzeichnis AC

Acta Cusana. Quellen zur Lebensgeschichte des Nikolaus von Kues. Im Auftrag der Heidelberger Akademie der Wissenschaften hg. von Erich Meuthen und Hermann Hallauer, Hamburg 1976ff.

BGPhThMA N.F.

Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters, Neue Folge, Texte und Untersuchungen, Münster 1970ff.

CCCM

Corpus Christianorum. Continuatio Mediaevalis, Turnhout 1971ff.

CCSL

Corpus Christianorum. Series Latina, Turnhout 1954ff.

CSEL

Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum, Wien 1866ff.

DW

Meister Eckhart: Die deutschen Werke, Stuttgart/ Berlin 1958ff.

ES33

Enchiridion symbolorum definitionum et declarationum de rebus fidei et morum, quod primum ed. Henricus Denzinger et quod funditus retractavit auxit notulis ornavit Adolfus Schönmetzer, aucta et emendata, Barcinone et al. 331965.

ES37

Enchiridion symbolorum et definitionum, quae de rebus fidei et morum a conciliis oecumenicis et summis pontificibus emanarunt/Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen, ed. Heinrich Denzinger, verb., erw. und ins Dt. übertr. von Peter Hünermann, Freiburg u.a. 371991.

etc.

etcetera

h

Nicolai de Cusa opera omnia iussu et auctoritate Academiae Litterarum Heidelbergensis ad codicum fidem edita, Hamburg 1932ff.

XVI

Koch

Josef Koch: Untersuchungen über Datierung, Form, Sprache und Quellen. Kritisches Verzeichnis sämtlicher Predigten, Heidelberg 1942 (CusanusTexte I/7).

Lag.

Editio Pauli Antonii de Lagarde, Leipzig 1868.

lin.

linea

LW

Meister Eckhart: Die lateinischen Werke, Stuttgart/Berlin 1936ff.

MFCG

Mitteilungen und Forschungsbeiträge der CusanusGesellschaft, Mainz 1961-1986; Trier 1989ff.

Missale Brix.

Missale secundum chorum ecclesia Brixinensis, Augsburg 1493.

n.

numero

p.

pagina

PG

Patrologia Graeca, ed. Jacques-Paul Migne, Paris 1857-1866.

PL

Patrologia Latina, ed. Jacques-Paul Migne, Paris 1844-1855.

sq./sqq.

sequens/sequentes: folgend(e)

Z.

Zeile

Die Abkürzungen der biblischen Bücher folgen denen der Einheitsübersetzung.

Nikolaus von Kues

Predigten in deutscher Übersetzung

Sermones XXVII – CXXI

Predigt XXVII Jesus autem emissa voce magna exspiravit Jesus aber schrie laut auf. Dann hauchte er den Geist aus Zeit: Fest: Ort: Zählung Koch: Edition: Deutsch:

19. April 1443 Karfreitag Trier1 20 h XVII/1, 1-10 in: Nikolaus von Kues: Predigten im Jahreslauf. In Verbindung mit Klaus Reinhardt eingeleitet und übersetzt von Harald Schwaetzer, Münster 2001, 31-35; ferner in: Der Prediger auf der Porta. Die Trierer Predigten des Nikolaus von Kues. Eingeleitet von Harald Schwaetzer. Übersetzt von Franz-Bernhard Stammkötter. Mit einem Vorwort von Klaus Reinhardt, Münster 2005, 53-58.

ZUSAMMENFASSUNG Nach der Feststellung, daß die Betrachtung der Passion Christi ein wirksames Mittel ist, um den Versuchungen der Welt zu widerstehen (n.1), legt Cusanus den Vers des Markusevangeliums aus, den er als Überschrift gewählt hat: Jesus wird mit Recht der Erlöser genannt, weil der Mensch sich wegen der Erbsünde und seiner menschlichen Natur nicht aus eigener Kraft mit Gott vereinen kann. Er bedarf der Erlösung durch Jesus Christus, um Rechtfertigung und Rettung zu erlangen (n.2). Jesus hat am Kreuz laut geschrien, weil durch das Wort des Herrn alles ins Sein gekommen ist und die fleischliche Welt zur Erlösung überwunden werden muß (n.3). Seinen Geist hauchte Jesus aus, um das Urteil Gottes über die Welt anzudeuten, die er am Beispiel Christi messen wird (n.4). Es folgen Ausführungen über Amt und Dienst in der Kirche (n.6-7) und das vernunftgemäße Beten (n.7).

LITERATUR Albert Dahm: Die Soteriologie des Nikolaus von Kues. Ihre Entwicklung von seinen frühen Predigten bis zum Jahr 1445 (BGPhThMA N.F. 48), Münster 1997, 205-235.

1

Späterer eigenhändiger Nachtrag des Cusanus in Cod. Cus. 220 und Cod. Vat. Lat. 1244; in Anwesenheit des Trierer Erzbischofs Jakob [von Sierck, 1439-1456].

4

Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Predigt XXVII Jesus aber schrie laut auf. Dann hauchte er den Geist aus (1) „Jesus aber schrie laut auf. Dann hauchte er den Geist aus.“ (Mk 15,37) Einführung: Wie nach Ansicht des Paulus nichts nützlicher ist „zu kennen als Christus, und ihn als Gekreuzigten“ (1 Kor 2,2). Christus kennen heißt, die Wahrheit kennen, weil er selbst die „Wahrheit“ (Joh 14,6) ist. Ihn als Gekreuzigten kennen heißt, die Heilmittel der Befreiung von allem Bösen kennen. Beispiele hierfür: „Alles, was in der Welt ist“ etc. (1 Joh 2,16). Gegen die Begierde des Fleisches ist nichts nützlicher, als des über alle Maßen harten und bitteren Leidens unseres Christus für uns zu gedenken. Gegen die Begierde der Augen oder die Habgier ist nichts hilfreicher als die ständige Erinnerung an die Entblößung des Gekreuzigten. Die Verachtung, , heilt die Selbstgefälligkeit. Allen Schmerz lindert es, wenn du bedenkst, daß kein Schmerz dem seinen gleichkommt etc. (Klgl 1,12). Drei Gedanken zu den Worten, der Erlöser und er habe einen Schrei ausgestoßen und dann den Geist ausgehaucht: Erstens, was „Erlöser“ bedeutet, und ob Jesus jener ist. Zweitens: Was ist jener Schrei des Erlösers? Drittens: Wie hauchte der Erlöser den Geist aus? (2) Zunächst: Inwiefern jener der Erlöser ist, in dem die ganze Welt heil und vollkommen wird. Er ist der „Erstgeborene der ganzen Schöpfung“ (Kol 1,15), an dessen Sein die ganze Schöpfung Anteil hat. Er ist „allein der Höchste“ (Ps 83[82],19)2 und faltet in sich alle Vollkommenheiten ein. Inwiefern er als der Höchste nicht so beschaffen sein kann, daß zwischen ihm und Gott irgendein vollkommeneres Geschöpf vermitteln könnte, weil ja er selbst „allein der Höchste“ ist. Und inwiefern er Mensch ist. Dann: Wie er in einzigartiger Weise unser Erlöser genannt wird, weil die menschliche Natur, da sie verständig ist, danach strebt, nicht nur zu sein, sondern zu leben, und nicht nur wie ein Tier zu leben, sondern zu erkennen. Sie strebt also aufgrund ihrer Veranlagung nach Unsterblichkeit, weil „die Weisheit unvergänglich ist“ (Weish 6,12). Daher kann der Mensch keine Ruhe finden, wenn er die unsterbliche Wahrheit nicht erfaßt. Da aber die menschliche Natur durch das Abirren der Stammeltern vom Weg der unvergänglichen Wahrheit und durch ihre Hinwendung zu einem Weg des Wissens aus eigener Anmaßung in den geschwächten Personen nicht aus eigener Kraft umkehren kann, da sie unwissend ist, ist sie darauf angewiesen, daß ihre eigene menschliche Natur im Erlöser mit Gott vereint sei, damit sie in sich einen Weg findet, auf dem sie die Wahrheit des Lebens erlangen kann.

2

Vgl. das Gloria der Messe: „Tu solus altissimus.“

Predigt XXVII: Jesus aber schrie laut auf. Dann hauchte er den Geist aus

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Der ist der Erlöser, in dem die Fülle der Vollkommenheit der zum Verkosten des Göttlichen geschaffenen Natur ist. Jesus aber ist dieser , wie uns kundgetan ist durch die Offenbarung Gottes, des Vaters, und durch seine eigenen Taten, die ihn als den Höchsten erweisen. Obwohl dieser Jesus der „Erstgeborene der ganzen Schöpfung“ (Kol 1,15) ist, wenn wir bedenken, daß seine Zeugung von Gott und vor aller Zeit ist, ist er dennoch uns und dieser Welt erst nach dem Ablauf einer langen Zeit seit Adam gegeben. In ihm ist alles, in ihm hat unsere Natur ihre ganze Vollkommenheit, „aus seiner Fülle empfangen wir alle“ (Joh 1,16). Wenn wir ihn als Erlöser annehmen, werden wir in ihm Rechtfertigung und Rettung erlangen etc. (3) Zweitens über seinen Schrei, wie er, der der Erlöser, „die Wahrheit und das Leben“ (Joh 14,6) ist, in seiner menschlichen Natur einen einzigen Schrei ausstieß: daß nur durch das Wort des Herrn (Ps 33[32],4.6) alles ins Sein gekommen sei und durch seine Kraft im Sein gehalten werde und zurückkehre und daß die menschliche Natur nur durch das Haupt, also durch ihn selbst, zum „Wort des Lebens“ (Phil 2,16) zurückkehren könne. Wenn aber der Mensch, der in diese Welt gekommen ist, nach dem Genuß des ewigen Lebens strebt, ist es unumgänglich, daß er diese Welt verläßt etc., weil das Reich des Lebens nicht von dieser Welt ist (Joh 18,36). Götzendienst und Laster, die ihn niederdrücken, und die ganze Welt muß er also verachten. Das ist der Schrei, mit dem unser Erlöser den Geist aushaucht, das heißt aus dieser Welt scheidet. (4) Drittens, wie er den Geist aushauchte. Zunächst ist zu beachten, daß er durch Leiden dazu gelangte, den Geist auszuhauchen. Das Leiden aber entsprach in ihm, der unser Haupt ist, dem Zustand der Vollkommenheit der menschlichen Natur, die in ihm, wo sie am vollkommensten ist, all unsere Schwachheit getragen hat (Jes 53,4), damit wir in ihm „alle gerettet werden“ (1 Tim 2,4). Weil wir aber in der menschlichen Natur den höchsten intellektualen Geist, eine verständige Seele und ein mit sinnlicher Wahrnehmung begabtes Leben vor uns haben, hat er dementsprechend in äußerster Einsichtskraft gelitten, als er, der wollte, daß in ihm „alle gerettet werden“ (1 Tim 2,4), die an ihn glauben, und so zu Kindern Gottes würden (Joh 1,12), vorhersah, daß es künftig zahllose Ungläubige geben werde. In der Klarheit des Verstandes hat er gelitten, als er sah, daß sich die Gläubigen meistens vom Verstand und der Unterscheidungsgabe abwenden und allzu oft in Sünde verfallen würden. In der sinnlichen Wahrnehmung hat er gelitten, als er vorhersah, daß auch die Gläubigen und Nicht-Irrenden unendliche Martyrien erleiden würden. Mit diesem unermeßlichen Leiden, in dem die Schwachheit aller eingefaltet ist, gelangte er also dazu, den Geist auszuhauchen, weil er so leiden wollte, wie er am Paschafest gelitten hat, als er sich anschickte, aus dieser Welt zum Vater hinüberzugehen, um als „Meister und Herr“ (Joh 13,1) durch die Tat zu lehren, auf welchem Weg man aus dieser Welt zum Vater gelangen könne, nämlich durch Verachtung all dessen, was dieser Welt angenehm ist.

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Er wollte auch durch ein solches „Urteil der Welt“ (Joh 12,31) dazu gelangen, den Geist auszuhauchen, damit wir belehrt würden, daß das Urteil Gottes über diese Welt und ihre Vermessenheit so ist, wie das Urteil der Welt über den war, der „die Wahrheit“ (Joh 14,6) ist. Denn dazu ist er in die Welt gekommen, daß er Zeugnis ablege über sie (Joh 18,37): So wie diese Welt die Wahrheit und Weisheit der anderen Welt als Torheit verdammt hat, so verurteilt Gott die Weisheit dieser Welt als Torheit (1 Kor 3,19). Die auf diese Welt beschränkte Verfassung aller Menschen wird in diesem Urteil erfahren, wie Gott über sie urteilt. Das irdische Reich, das dieser Welt zugewandt ist, wird von Gott so beurteilt werden, wie das Reich der Wahrheit in Christus in dieser Welt beurteilt worden ist. Soweit zu den einzelnen Punkten. (5) Die Leidensgeschichte ist in sieben Abschnitte gegliedert; denn alles, was in der Zeit geschieht, vollzieht sich in sieben Schritten.3 Der erste Abschnitt reicht von seinem Aufenthalt in Bethanien bis zu seinem Aufstieg auf den Ölberg; der zweite von da bis zu dem Moment, wo er vor Kaiphas, der dritte von da bis er vor Pilatus geführt wird, der vierte von da bis zur Geißelung, der fünfte von der Geißelung bis zur Verurteilung, der sechste von der Verurteilung bis zum Sterben, der siebte von da bis zur Grablegung. (6) Im ersten ist besonders bemerkenswert, wie sehr das kirchliche Amt im Dienen besteht. Das wird ersichtlich aus der Fußwaschung (Joh 13,1-17) und dem Urteil über den Wettstreit der Apostel (Mk 10,41-45). Dann, wie er, der „das Leben“ (Joh 14,6) war, sich hingab als Speise und Trank zum Leben, damit wir erkennen, daß die lebenspendende Nahrung, auch wenn wir sie in Einigkeit mit anderen Menschen empfangen haben, uns nur in ihm geistiges Leben gewährt. Das sieht man daran, daß er, wenngleich die Apostel den Kelch des Weines in Einheit und Liebe miteinander geteilt hatten, zur Erlangung des vollkommenen Lebens das Brot in seinen Leib verwandelte und darreichte, damit sie erkennten, daß das Brot des Lebens die Liebe ist, durch die die Kirche mit Christus, ihrem Haupt, geeint ist und durch ihn mit Gott. Drittens wird deutlich, daß die Kirche Christi, auch wenn sie viel Widriges erduldet an Haupt und Gliedern, niemals ganz zugrundegehen kann. Das zeigt sich an drei Dingen: daran, daß Christus für sie gebetet hat, der „wegen seiner Gottesfurcht erhört worden ist“ (Hebr 5,7); er betete für den wankelmütigen Petrus und seine Nachfolger, wie zum Beispiel: „ dein Glaube “ etc. (Lk 23,32) Und er wollte, daß das Sakrament des Leibes und Blutes zu seinem Gedächtnis gefeiert und bis zu seiner endgültigen Wiederkunft gespendet werde, wie es bei Paulus heißt (1 Kor 11,23-26). (7) Im zweiten ist das Augenmerk vor allem darauf zu richten, wie er dreifach betete: zuerst vernunftgemäß, daß die menschliche Natur, so wie sie ist, ohne den Kelch der Todesqual zur Erkenntnis der ewigen Wahrheit und Weisheit möge gelangen können. Und in der Betrachtung, als er sagte: „Wenn es möglich ist“ (Mk 14,35), sah er, daß das nicht füglich geschehen könne, weil diese Welt nichts mit jener gemein hat. Daher fügte er hinzu: „Es geschehe dein Wille“ (Lk 22,42). So fügte sich der geistige Intellekt bereitwillig in den Abschied, aber der Verstand, der eine gewisse Gemeinsamkeit mit der Sinneswahrnehmung hat, leistete noch Widerstand. Also „betete er ein zweites Mal“ (Mt 26,39) und „inständiger“ (Lk 22,43), und der Verstand, bestärkt durch einen Engel des Heiligen Geistes, wurde hingezogen zur Zustimmung. Aber die dem Leben eigene Sinnenhaftigkeit, die über den Körper hinaus nichts vom Leben wahrnehmen kann, leistete immer noch heftigsten Widerstand. Deshalb „betete er zum dritten Mal“ (Mt 26,44) und „geriet in Todesangst“ (Lk 22,43), bis der Verstand das Gefühl unterwarf und den Sieg davontrug etc. Zweitens ist zu bedenken, wie die göttliche Kraft in ihm erstrahlte, als er sagte: „Wen sucht ihr?“ (Joh 18,4), und jene zu Boden stürzten (Joh 18,6). Drittens seine Schwierigkeit, diese Welt zu überwinden, hinsichtlich des letzten Gebetes (Mk 14,35-39) und im Fall des Petrus (Mk 14,29f.66-72).

Predigt XXVIII Jesus autem emissa voce magna exspiravit Jesus aber schrie laut auf. Dann hauchte er den Geist aus Zeit: Fest: Ort: Zählung Koch: Edition: Deutsch:

19. April 1443 Karfreitag Trier 21 h XVII/1, 11-28 n.4 in: Predigten im Jahreslauf. In Verbindung mit Klaus Reinhardt, eingeleitet und übersetzt von Harald Schwaetzer, Münster 2001, 33f.

ZUSAMMENFASSUNG Cusanus überschreibt die Predigt mit dem gleichen Vers wie Predigt XXVII und stellt die Passion wiederum als Heilmittel gegen menschliche Laster vor (n.1). Die Auslegung des Verses ist thematisch gleich (n.2), aber ausführlicher. Jesus ist als Mittler zur Einigung zwischen Gott und Mensch in die Welt gekommen (n.3); sein Todesschrei ist der letzte Ruf Gottes an sein Volk, den er mit den Propheten begonnen über den Täufer in Jesus vollendet hat (n.4). Es folgt eine Darstellung der Passion (n.5-12), um die Anmaßung der Welt gegenüber der Wahrheit Christi zu demonstrieren (n.13).

LITERATUR Albert Dahm: Die Soteriologie des Nikolaus von Kues. Ihre Entwicklung von seinen frühen Predigten bis zum Jahr 1445 (BGPhThMA N.F. 48), Münster 1997, 205-235.

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Predigt XXVIII Jesus aber schrie laut auf. Dann hauchte er den Geist aus (1) „Jesus aber schrie laut auf. Dann hauchte er den Geist aus.“ (Mk 15,37) Zuerst eine Einführung darüber, wie die Erinnerung an das Leiden Christi vierfach nützlich ist: „zur Abwehr der drei Hauptlaster, zur Linderung der Trübsal und der Unzufriedenheit, zur Abwehr der unangebrachten Traurigkeit und zur Minderung der Strafe des Fegefeuers.“ Das wird abgetötet durch die Erinnerung an die Bitternis der Passion, durch die Armseligkeit „die Begierde der Augen“, durch seine Erniedrigung „die Selbstgefälligkeit“ (1 Joh 2,16). Daraus wird ersichtlich, welches „die Feinde des Kreuzes Christi“ (Phil 3,18) sind. Zweitens: Das Leiden Christi ist Würze für die lasche Buße etc.1 Drittens anhand eines Beispiels, wie ein Bruder durch die Betrachtung des Leidens von seiner Traurigkeit befreit wurde etc. Denn dieser ist Lösegeld für alle etc. (1 Tim 2,6) – Lasset uns beten etc. (2) „Jesus aber “ (Mk 15,37). Drei Dinge werde ich der Reihe nach sagen. Sie sind im Thema angedeutet: Erstens: Inwiefern ist Jesus der, der einen Schrei etc., das heißt der „Erlöser“? Zweitens: Was ist jener Schrei, der nach und nach ausgestoßen wurde, so daß er schließlich von Gott „laut“ gemacht wurde, weil sein Ausstoßen Aushauchen des Geistes war? Drittens: Wie hat er „den Geist ausgehaucht“? Die beiden ersten Teile werden ziemlich kurz, aber sehr nützlich sein, der dritte ausführlicher. Im ersten Teil werde ich deinen Intellekt im christlichen Glauben emporheben, im zweiten deinen Verstand erleuchten, im dritten deine Sinnlichkeit abtöten. (3) Zunächst werde ich in dem Namen „Jesus“ den Intellekt im Glauben emporheben. Denn es ist nicht nötig, daß du etwas anderes erkennst, wenn du gerettet werden willst. Du mußt nur glauben, daß „dieser der Erlöser ist“ (Joh 4,42), nämlich Jesus. Paulus : „Wer sich nähern will, muß glauben“ etc. (Hebr 11,6) Alle Menschen stimmen überein in der Überzeugung, daß unsere Seele unsterblich ist, und daß der Mensch, auch wenn er für eine bestimmte Zeit stirbt, auferstehen wird. Eine weitere Überzeugung ist allen Menschen eigen, daß unser Leben aus der „Quelle des Lebens“ (Ps 36[35],10) kommt, das heißt aus Gott, in dem alles Leben ist, weil nichts Vergängliches aus sich heraus etc. Alle mit Verstand begabten Menschen sind überzeugt, daß nichts Ewiges aus vergänglich Geborenem hervorgeht, es sei denn durch Einung mit dem Unsterblichen. Weil aber Gott der ist, der „allein die Unsterblichkeit bewohnt“ (1 Tim 6,16), ist nur der Mensch unsterblich, der mit Gott eins ist. Dieser Mensch aber 1

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faltet in höchster Vollkommenheit die Kraft der ganzen menschlichen Natur ein, denn es gibt in jedem nur eine einzige unversehrte Menschlichkeit, die in ihrer Vollkommenheit an der Göttlichkeit persönlich Anteil hat. Dieser Mensch ist daher der Retter aller, die sich ebenso der Natur nach wie in der vom Glauben geformten Liebe mit ihm verbinden. Das können weder Juden noch Heiden leugnen, wenn sie Verstand haben. Denn alle geben zu, daß sie für ihre Einung mit Gott zwingend einen Mittler brauchen. Darin aber sind sie verblendet, daß sie nicht glauben, daß Jesus dieser ist. Wir Christen aber bekennen, daß dieser Jesus, der gelitten hat, der Messias ist, in dem wir unser Heil suchen etc. Denn es ist unmöglich, daß ein Mensch, der nicht in seiner Person mit Gott vereint gewesen wäre, diese Taten bis hin zur sinnlich fühlbaren Annahme hätte vollbringen können, mit so klarem Verstand hätte ausgestattet sein können, mit so überragender geistiger Gelehrsamkeit hätte glänzen können. Wie hätte er nicht mit Gott geeint sein können, wo er doch, obwohl er Mensch war, handelte wie Gott, und obwohl er Gott war, handelte wie ein Mensch? Dionysius und Hilarius2 etc. Wir haben also einen Erlöser, der der Mittler ist, der alles erfüllt, „der Erstgeborene der Geschöpfe“ (Kol 1,15) etc. Dazu noch mehr. (4) Dieser Jesus hat von Anbeginn der Welt in seinen heilen Gliedern einen einzigen und allmählich anschwellenden Ruf ausgestoßen, der in dem Moment am lautesten wurde, als er den Geist aushauchte. Und das ist dieser einzige Ruf: daß es kein Leben gibt, außer im Wort, in dem alles erschaffen ist (Joh 1,3f.). Und wie die Welt ins Sein trat durch das Wort, so wird sie durch das Wort im Sein erhalten und zurückgeführt zum Ursprung. Diese Rückführung aber besteht darin, daß das Geringere durch das Höhere zurückgeführt wird, der Reihe nach, als Erstling von allen aber Jesus (1 Kor 15,23). Das Geringe kann aber nur zum Genuß der Glückseligkeit zurückkehren, wenn es aufhört, gering zu sein, Abschaum und Unrat, um so vom Geist erfüllt und für sie gerüstet zu werden. Deshalb ist es nötig, wenn wir zum Genuß der Süße der ewigen Seligkeit zurückkehren wollen, daß wir dazu in unserer Natur befähigt sind; dann, daß wir gemäß unserer Befähigung alles Verderbliche von uns stoßen und das vergängliche Leben und diese Welt geringschätzen; dann sollen wir das wahre Leben in seiner Reinheit und Gerechtigkeit diesem irdischen mit seinem sinnenhaften Streben vorziehen. Anders können wir nämlich nicht zurückkehren. Das ist jener laute Ruf, der in unserem Geist erschallt, von den Propheten unseren Ohren offenbart: daß wir den einen Schöpfer verehren, die Götzen verschmähen, die Tugend pflegen sollen, weil die Tugenden Voraussetzung des von uns ersehnten wahren Lebens sind; daß wir die Laster fliehen sollen, da sie vom Leben wegführen; daß wir beim Erlöser Schutz suchen sollen, in dem wir fähig werden, das sinnliche Leben geringzuschätzen etc.

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Hilarius: De Trinitate IX, c.5; Ps.-Dionysius Areopagita: Epistula 4 ad Gaium.

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Nachdem dieser Ruf viele Jahre lang erklungen und stetig angeschwollen war bis zu Johannes, der „die Stimme des Rufers in der Wüste“ (Mk 1,3) war und mit dem Finger auf den Erlöser zeigte, wurde dieser laute Ruf Mensch. Und nach vielen Steigerungen des Rufes in seiner Lehre und seinen Wundern hauchte er „mit den Geist aus“ (Mk 15,37) und zeigte so, daß das Schrecklichste von allem, nämlich der sinnlich wahrnehmbare Tod, um der Wahrheit willen gewählt werden mußte. (5) Über das dreifache Leiden: in der Kraft des Intellekts, im Verstand und in der Sinneswahrnehmung. Über das dreifache Gebet. Über den dreifachen Angstschrei. Im Intellekt : über die Untreue und die Unwissenheit etc.; im Verstand: über den Mangel der Sünder an Unterscheidungsgabe und Respekt; in der Sinneswahrnehmung: über die Auflösung des Zusammenhängenden etc. Das sinnliche Leiden läßt sich in sieben Abschnitte einteilen: Der erste handelt von dessen Beginn mit dem Mahl, der zweite vom Geschehen im Garten, der dritte von dem, was sich vor Annas, der vierte von dem, was sich vor Kaiphas ereignet hat, der fünfte von den Ereignissen vor Pilatus, der sechste von der Geißelung Jesu, der siebte von der Kreuzigung. (6) Erster Teil: Von den Überlegungen der Juden nach der Auferweckung des Lazarus, vom Plan des Kaiphas, vom Mahl in Bethanien am Sabbat vor Palmsonntag „im Hause des Simon“ (Mk 14,3) etc., über die Salbung etc. Wie „die Jünger entrüstet“ (Mt 26,8) waren, aufgehetzt durch Judas (Joh 12,3-5). Warum trug (Geld-)Säckchen bei sich? (Joh 12,6). Die Zurechtweisung der Jünger: „Was belästigt ?“ (Mk 14,6) etc. Die Menge aber wußte, daß Jesus dort war, etc. Am Palmsonntag zog Jesus in Jerusalem ein etc. Die Hohenpriester waren neidisch wegen der ihm erwiesenen Ehrerbietung und fürchteten etc. Jesus vertrieb die Händler aus dem Tempel etc. Niemand nahm ihn bei sich auf. Er kehrte nach Bethanien zurück. Am Montag kam er wieder nach Jerusalem und lehrte im Tempel. Man brachte eine Ehebrecherin zu ihm etc. Hungrig und durstig kehrte er nach Bethanien zurück. Dienstags kam er erneut in den Tempel, wo sie ihm viele Fragen stellten: über die Vollmacht, mit der er die Händler vertrieben und Wunder gewirkt hatte, über die Steuer, über die Frau, die sieben Männer hatte etc., über das wichtigste Gebot des Gesetzes etc. Und er erzählte viele Gleichnisse: von den Knechten, die in den Weinberg geschickt worden waren, von denen, die zur Hochzeit geladen waren etc. Und über die Weissagung, daß kein Stein auf dem anderen bleiben werde in Jerusalem (Mk 13,1f.) etc., als beim Verlassen des Tempels die Jünger auf das Gebäude wiesen. Dann sagte er zu ihnen: „Ihr wißt, daß in zwei Tagen “ (Mt 26,2) etc. Am Mittwoch kam er nicht in den Tempel, sondern hielt sich in Bethanien auf, vielleicht zusammen mit seiner Mutter. Wie die Juden, die unterdessen zusammenkamen, sagten: „Nicht am Festtag!“ (Mk 4,1f.) Wie Judas da zu den Juden kam etc.: „Was wollt ihr?“ (Mt 26,14f.) etc. Am Donnerstag in aller Frühe fragten ihn seine Jünger: „Wo sollen

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wir für dich das Paschamahl vorbereiten?“ (Mk 14,12) Und Christus trug Petrus und Johannes auf, in die Stadt zu gehen. Dort werde ihnen ein Mann mit einem Wasserkrug entgegenkommen etc. Wie sie gingen und die Vorbereitungen trafen. Und Christus kam gegen Abend. Zuerst sagte er: „Sehnsüchtig habe ich gewünscht“ etc. (Lk 22,15) Wie er aufstand, sich ein Tuch umband und ihnen die Füße wusch etc., bei Judas angefangen. Ebenso von Petrus: „Was ich tue, verstehst du nicht“ etc. (Joh 13,7) Herr, „du wirst nicht waschen“ etc. „Wenn nicht“ etc. (Joh 13,8) Dann, wie er an den Tisch zurückkam und sagte: „Ich werde nicht trinken“ etc. (Mk 14,25) „Wißt ihr, was ich getan habe?“ etc. „Ihr nennt “ etc. „Ein Beispiel “ etc. (Joh 13,12-15) Über die Einsetzung der Messe. Und er reichte Judas etc. Er sagte: „Amen, ich sage euch: Einer “ etc. (Mt 26,21) „Da waren sie sehr betrübt.“ (Mt 26,22) Wieder sagte er: „Amen, ich sage euch: Der mit mir ißt“ etc. (Mk 14,18-20) Und weil sie einzeln eintauchten, fragte jeder einzelne: „Bin ich es etwa, Rabbi?“ (Mk 14,19) So auch Judas, dem Christus erwiderte: „Du hast es gesagt.“ etc. (Mt 26,25) Petrus gab Johannes ein Zeichen etc. Christus : „Wem ich das eingetauchte Brot geben werde“ etc. (Joh 13,26) Satan fuhr in Judas durch das Stück Brot. Und Jesus sagte: „Was du tun willst, “ (Joh 13,27). „Es entstand ein Wettstreit“ etc. (Lk 22,24) „Die Könige der Völker“ (Lk 22,25) „Denn wer ist größer? Der bei Tisch liegt? “ „Ich aber “ (Lk 22,27). „Und er hielt ihnen eine lange Predigt“, und am Ende betete er ganz inständig für die Kirche, das heißt für die Apostel und ihre Nachfolger (Joh 13,36-17,26). Er sagte auch: „Noch kurze Zeit bin ich bei Euch“, und bald gehe ich fort, und „wo ich hingehe, könnt ihr nicht “ etc. (Joh 13,33) Petrus : „Wohin gehst du?“ etc. „Du wirst später folgen“ (Joh 13,36). Er sagte auch: Amen, ich sage euch: „Ihr alle werdet Anstoß nehmen“ etc. „Es steht geschrieben: Ich will den Hirten töten“ etc. (Mt 26,31) „Wenn aber “ etc. (Mt 26,32) Petrus aber erwiderte: „Auch wenn es nötig wäre“ etc. (Mt 26,35) „Amen ich sage dir: Noch bevor der Hahn “ etc. (Mt 26,34) Und Jesus sagte zu Petrus: „Simon, der Satan hat verlangt, sieben “ etc. (Lk 22,31) Petrus: Rabbi, „ich bin bereit, mit dir in den Tod oder in den Kerker zu gehen“ etc. (Lk 22,33) Bedenke: Dreimal hat Jesus dem Petrus gesagt, daß er ihn verleugnen werde, wie er ja sagt. Er sagte auch (Lk 22,35), daß ihnen nichts vom Nötigen gefehlt habe etc. „Wer keines hat, soll sich ein Schwert “ etc. (Lk 22,36) Wieder sagte er, daß das, was über ihn geschrieben stehe, bald in Erfüllung gehen müsse. Und sie erwiderten: „Sieh, hier sind zwei Schwerter!“ „Es ist genug“ (Lk 22,38). (7) Zweiter Teil: Nach dem Lobgesang „ging Jesus auf die andere Seite des Baches Kidron“ (Joh 18,1) zum Ölberg. In der Nähe lag das Landgut Gethsemani und ein eingezäunter Garten. Er betrat den Garten. „Judas kannte den Ort, weil häufig “

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(Joh 18,2). sagte zu seinen Jüngern: „Setzt euch hierhin!“ (Mt 26,36) Und er nahm drei mit sich etc., die anderen ließ er zurück. Da sagte er: „Meine Seele ist traurig“ etc. (Mt 26,38) „Bleibt hier sitzen“ (Mt 26,36) und: „Wachet und betet, damit ihr nicht in geratet!“ etc. (Mt 26,41) „Und er entfernte sich einen Steinwurf weit von ihnen“ etc. (Lk 22,41) Er warf sich nieder und betete: „Vater“ (Mk 14,36). „Es erschien ein Engel“ etc. (Lk 22,43) „Simon, konntest du nicht?“ etc. (Mk 14,37) „Er ging zum zweiten Mal weg“ (Mk 14,39). „Als er zurückkam, fand er sie schlafend“ etc. (Mk 14,40) „Er ging zum dritten Mal weg“ (Mk 14,41), und er flehte inständiger und geriet in Todesangst etc. (Lk 22,43) Zu den Jüngern : „Der Geist ist ja willig“ etc. (Mk 14,38) Er rief alle zusammen: „Ihr schlaft!“ etc. (Mk 14,41) „Es ist genug.“ (Mk 14,41) Seht, wie Judas nicht schläft, sondern eilt, mich auszuliefern. Wie der den Trupp anführte und „ihnen ein Zeichen gab mit den Worten: Der, den ich küssen werde“ etc. (Mk 14,44) Jesus ging ihm entgegen. „Judas gab ihm einen Kuß“ etc. (Mk 14,45) {5490 Wunden}3 „Wen sucht ihr?“ etc. „Jesus“ etc. „Ich bin es.“ (Joh 18,4) „Sie wichen zurück“ etc. (Joh 18,6) Sie standen auf. Die Jünger : „Sollen wir mit dem Schwert dreinschlagen?“ (Lk 22,49) Jesus : „Laßt gut sein“ (Lk 22,51). Er sagte noch einmal: Ihr sucht Jesus? etc. „Ich habe gesagt, “ (Joh 18,8). „Hört auf!“ etc. (Lk 22,51) „Petrus schlug “ etc. (Joh 18,10) Jesus sagte: „Steck das Schwert weg! den Kelch, den gegeben hat “? (Joh 18,11) Glaubst du nicht, daß ich den Vater bitten könnte? etc. (Mt 26,53) Und er heilte das Ohr etc. Sie ergriffen Jesus und fesselten ihn etc. „Wie gegen einen Räuber“ etc. (Mk 14,48) Aber „dies ist Stunde“ etc. (Lk 22,53) Alle ließen Christus im Stich und ergriffen die Flucht. „ ein junger Mann folgte “ (Mk 14,51). (8) Dritter Abschnitt: Man führte ihn nach Jerusalem, zuerst zu Annas. Johannes ging hinein (Joh 18,15). Petrus stand draußen, und Johannes führte ihn hinein (Joh 18,16). Die Diener wärmten sich, auch Petrus (Joh 18,18). „Die Tormagd“ etc. (Joh 18,17) „Ich weiß nicht, wovon du sprichst“ (Mt 26,70). „Ich kenne“ nicht etc. (Mt 26,72) „Und sofort der Hahn“ etc. (Joh 18,27) „Eine andere Magd“ etc. (Mt 26,71) Mit einem einzigen etc. „Mit einem Schwur leugnete er“ (Mt 26,72). Annas fragte Christus nach seiner Lehre und seiner Anhängerschaft. Christus : „Ich habe öffentlich gesprochen“ (Joh 18,20). „Einer gab Christus einen Backenstreich: So antwortest du dem Hohenpriester?“ (Joh 18,22) Christus : „Wenn ich etwas Falsches gesagt “ etc. (Joh 18,23) Annas fragte nach seinen Jüngern (Joh 18,19), aber Christus gab darauf keine Antwort. Da sagte einer von den Umstehenden über Petrus: Der da, etc. wirklich ein Jünger etc. „Geschwätz“ etc. (Mt 26,73) „Er begann zu schwören und

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zu fluchen; und im gleichen Augenblick krähte ein Hahn.“ (Mt 26,74) Jesus drehte sich um und schaute Petrus an (Lk 22,61), „und der erinnerte sich“ etc. (Mk 14,72), „und er ging hinaus“ etc. (Lk 22,62) (9) Vierter Abschnitt: Vor Tagesanbruch wurde Jesus von Annas zu Kaiphas gebracht (Joh 18,24). Dort waren die Schriftgelehrten und Ältesten versammelt, um Zeugenaussagen zu suchen etc. „Zuletzt aber “ etc. (Mt 26,60) „Wir haben gehört, wie er sagte: Ich kann niederreißen“ etc. (Mt 26,61) Da sagte Kaiphas: „Willst du nichts antworten etc.“ (Mt 26,62) „Er aber schwieg.“ (Mt 26,63) „Ich beschwöre dich “ etc. (Mt 26,63) Jesus: „Auch wenn ich es euch sage, ihr glaubt mir ja doch nicht; wenn ich euch etwas frage, “ etc. (Lk 22,67f.), und ihr werdet mich ja doch nicht freilassen. Und weiter sagte er: „Du hast es gesagt, ich bin es. aber sage euch: In Zukunft werdet ihr den Menschensohn zur Rechten der Macht Gottes sitzen und auf den Wolken des Himmels kommen sehen“ (Mt 26,64). Kaiphas „zerriß sein Gewand“ (Mt 26,65): „Ihr habt die Gotteslästerung gehört“ (Mk 14,64). „Was brauchen wir jetzt noch Zeugen?“ (Mt 26,65) „Was meint ihr?“ (Mt 26,66) Sie riefen wie mit einer Stimme: „Er ist schuldig und muß sterben!“ (Mt 26,66) Sie verbanden ihm die Augen, fesselten seine Hände, „sie spuckten ihn an“ (Mk 15,19) „ins Gesicht“ (Mt 26,67), verspotteten ihn die ganze Nacht, „sie schlugen ihn“ (Lk 22,64) : „Zeig, daß du ein Prophet bist!“ etc. (Mk 14,65) (10) Fünfter Abschnitt: Um die erste Stunde führten sie Jesus zu Pilatus. Aber sie betraten das Prätorium nicht etc. (Joh 18,28) „Als Judas aber sah“ etc., „ergriff ihn Reue“ etc. „Was geht das uns an?“ etc. „Mit einem Strick erhängte er sich.“ (Mt 27,3-6) Sie taten das Geld nicht in den Tempelschatz etc. Als Jesus gefesselt im Prätorium stand, wandte sich Pilatus an die Juden mit den Worten: „Was werft ihr ihm vor?“ etc. „Wenn er kein Übeltäter wäre“ etc. „Er sprach: Nehmt ihr ihn doch!“ etc. „Sie entgegneten: Uns ist es nicht erlaubt “ (Joh 18,29-31). Er fragte sie nach dem Grund; sie sagten: „Er ist schuldig“ etc. (Mt 26,66) aus drei Gründen: „Wir haben festgestellt, daß er unser Volk aufwiegelt“ (Lk 23,2) und das Gesetz ; außerdem hat er behauptet, er sei der Sohn Gottes; daher muß er nach dem Gesetz hingerichtet werden; zweitens hat er verboten, dem Kaiser Steuern zu zahlen (Lk 23,2); drittens, weil er gesagt hat, er sei ein König (Mk 15,2). Und „jeder “ etc. (Joh 19,12) Pilatus wandte sich an Jesus: „Hörst du nicht, was sie alles gegen dich ?“ Jesus antwortete nicht, so daß sich wunderte etc. Er rief ihn, da er abseits stand, und fragte ihn: „Bist du der König der Juden?“ Jesus : „Sagst du das von dir aus, oder haben andere es dir ?“ etc. Darauf erwiderte Pilatus: „Bin ich etwa ein Jude?“ Jesus sagte: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt.“ Pilatus fragte: „Also bist du doch ein König?“ Da antwortete Jesus: „Du sagst es, ich bin ein König.“ Und „dazu bin

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ich in die Welt gekommen, .“ Pilatus: „Was ist Wahrheit?“ (Joh 18,33-38) Im Evangelium des Nikodemus4 antwortet Christus, die Wahrheit sei vom Himmel etc. Gehe hier ein auf die vier guten Mütter, die böse Töchter zur Welt bringen: „die Wahrheit den Haß“,5 „die Vertrautheit die Respektlosigkeit“,6 die Liebe das falsche Urteil,7 die Tugendhaftigkeit den Neid8 etc. Als sich der Lärm gelegt hatte, sagte Pilatus: „Ich keinen Grund.“ (Joh 18,38) Sie aber bekräftigten ihre erste Anschuldigung: Er hat das Volk der Galiläer aufgewiegelt! etc. Pilatus schickte ihn zu Herodes. „Herodes freute sich“ etc. Jesus sprach kein Wort. schmähte ihn, ließ ihm ein weißes Gewand anlegen und schickte ihn zurück etc. (Lk 23,10f.) Pilatus, der erwog, ihn freizulassen, sagte: „Ihr habt mir diesen Mann ausgeliefert, weil er angeblich das Volk “ (Lk 23,14); seht, ich verhöre ihn in eurer Gegenwart, „aber auch Herodes“ etc. (Lk 23,15) „So will ich ihn züchtigen und geißeln lassen und dann freilassen“ (Lk 23,16). Die Juden : Wir haben ein Gesetz und nach diesem muß er sterben, weil er sich als Sohn Gottes ausgegeben hat (Joh 19,7). Als Pilatus diese Reden hörte, bekam er noch mehr Angst, weil er sah, daß jener ein besonderer Mensch war. Er sagte: „Woher bist du?“ Jesus gab keine Antwort. Pilatus fragte noch einmal: „Du sprichst nicht mit mir? Weißt du nicht, “ (Joh 19,8-10) Jesus aber entgegnete: „Du hättest keinerlei Macht “ (Joh 19,11). Da schickte seine Frau zu Pilatus : nichts für dich etc. (Mt 27,19) Da versuchte Pilatus auf anderem Weg, ihn freizulassen, nämlich wegen des Festtags: „Wen soll ich euch freilassen?“ (Mt 27,17) Die Anführer hetzten das Volk auf, den Barabbas zu fordern. Pilatus fragte: „Was soll ich dann mit Jesus machen, der Christus genannt wird?“ (Mt 27,22) Sie antworteten alle: „Kreuzige ihn!“ Pilatus aber fragte: „Was hat er denn Böses getan? Da schrien sie noch lauter: Ans Kreuz mit ihm“ (Mk 15,14). Denn „wenn du diesen freiläßt, “ (Joh 19,12). Jeder, der behauptet, er sei ein König, . Darauf sagt Pilatus: „Soll ich euren König kreuzigen? Sie antworteten: Wir haben keinen König“ etc. (Joh 19,15) (11) Sechster Abschnitt: Pilatus suchte weiter nach einem Weg, die Juden zufriedenzustellen; er ließ Jesus geißeln und ihm eine Krone aufsetzen, damit so 4

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Evangelium Nicodemi: Acta Pilati 3, 2 (ed. C. v. Tischendorf, Evangelia apocrypha, Leipzig 21876, p.230 [griech.] p.349 [lat.]; A. Vaillant: L‘Evangile de Nicodème, Genève-Paris 1968). Terenz: Andria, 41, zitiert bei Guilelmus Peraldus: Summa virtutum, pars 3, tr. 5: De iustitia, pars 15. Guigo II. Cartusianus: Scala Paradisi, c.8. Vgl. Bernhard von Clairvaux: Sermones super cantica canticorum, Sermo 9, n.2. Hieronymus: Epistulae 130 Ad Demetriadem, n.7.

Predigt XXVIII: Jesus aber schrie laut auf. Dann hauchte er den Geist aus

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Genüge getan werde. Zuerst zogen sie ihm die Kleider aus (Mt 27,28), als er nackt war, fesselten sie ihn und geißelten ihn. Dann legten sie ihm einen purpurfarbenen Mantel um, flochten eine Krone und setzten sie ihm wie einem König auf etc. (Mk 15,17), drückten ihm ein Rohr in die Hand, beugten das Knie , „spuckten ihn an“ etc., schlugen ihn etc. (Mt 27,29f.) Und ließ ihn hinaus vor die Menge führen und sagte: „Seht her, dies ist euer König!“ (Joh 19,13f.) Ich lasse ihn nach draußen führen zu euch, damit ihr erkennt, daß ich keinen (Joh 19,4). Sie schrien: „Kreuzige ihn!“ (Joh 19,6) Und nachdem er ins Freie getreten war, sagte er: „Seht, den Menschen!“ (Joh 19,5) Sie skandierten: „Hinweg mit ihm, hinweg mit ihm!“ etc. (Joh 19,15) „Pilatus wusch sich die Hände“. Ich bin unschuldig etc. „Seht ihr zu“. „Sein Blut über uns“ etc. Schließlich gab Pilatus nach und sprach das Urteil etc. (Mt 27,24-26) Beachte vier Punkte etc. (12) Siebter Abschnitt: Sie zogen ihm den Purpurmantel aus und seine eigenen Kleider wieder an (Mk 15,20). Sie luden ihm das Kreuz auf die Schulter (Joh 19,17), zwangen den Simon (Mk 15,21) und brachten zwei Räuber herbei (Lk 23,32). Viele Leute folgten ihm, die Frauen wehklagten. „Ihnen wandte er sich zu mit den Worten: Ihr Töchter Jerusalems, glücklich seid ihr, wenn ihr unfruchtbar seid, glücklich der Schoß, !“ „Den Bergen : Stürzt ein !“, den Hügeln: Begrabt uns etc. (Lk 23,27-30) Als sie auf Golgotha angekommen waren, das heißt Schädelstätte, gaben sie ihm Wein, der mit Galle vermischt war. Spr : „Gebt berauschenden Trank !“ Nachdem er das Kreuz auf die Erde gelegt hatte, zogen sie ihn aus. Das war sehr schmerzhaft, weil der Stoff an den Wunden klebte; dann streckten sie ihn aufs Kreuz. – Eine Bemerkung über den Nagel etc. Eine Bemerkung über die Aufrichtung des Kreuzes. Sie kreuzigten auch die zwei Räuber, sie nahmen seine Kleider und teilten sie unter vier etc. – Über das Würfeln etc. Über die Inschrift. Sie sagten: „Schreib nicht ‚König‘“ etc. (Joh 19,21) – Weise hier darauf hin, daß Pilatus ihn nur verurteilt hat, weil er gesagt hatte, er sei der König der Juden; sonst hätte er eine solche Inschrift nicht geschrieben. – „Die Vorübergehenden lästerten ihn“: „Ha, “ etc. (Mk 15,29), „anderen hat er geholfen“, soll er doch auf Gott vertrauen etc. „Wenn du Gottes Sohn bist“ etc. (Mt 27,42) Sein erstes Wort war: „Vater, vergib ihnen!“ etc. (Lk 23,34) Der Räuber zu seiner Linken : „Wenn du bist“ etc.; der zur Rechten antwortete: „Nicht einmal du fürchtest Gott?“ „Wir empfangen doch die gerechte Strafe für unsere Taten.“ „Denk “ etc. (Lk 23,39-42) Sein zweites Wort: „Noch heute wirst du mit mir sein“ etc. (Lk 23,43) Als Jesus seine Mutter sah etc. „und von jener Stunde an “ (Joh 19,26). „Es war um die sechste Stunde, da brach eine Finsternis herein und sie dauerte bis zur neunten Stunde“ etc. (Lk 23,44) „Um die neunte Stunde rief er: Eli“ etc. „Er ruft Elias“ etc. (Mt 27,46f.) „Ich habe

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Durst; einen mit Essig getränkten Schwamm“ etc. (Joh 19,28f.); und als er gekostet hatte, : „Es ist vollbracht.“ (Joh 19,30) Sein letztes Wort : „Vater, in deine Hände“ (Lk 23,46). „Und mit gesenktem Haupt“ (Joh 19,30). „Er stieß einen durchdringenden Schrei aus; dann hauchte er den Geist aus.“ (Mk 15,37) Und siehe, die Erde bebte, „die Felsen spalteten sich“, „der Vorhang riß entzwei“, „die Gräber öffneten sich“ etc. (Mt 27,51ff.) Als der Zenturio und die, die mit ihm Jesus bewachten, das gesehen und die furchterregende Stimme gehört hatten, : „ wahrhaft Gottes Sohn!“ etc. (Mk 15,39) „ schlug sich an die Brust“ etc. (Lk 23,48) Damit die Leichname am Sabbat nicht „forderten die Juden Pilatus auf, ihnen die Beine brechen zu lassen“ (Joh 19,31). Jesus „brachen sie nicht die Beine, sondern mit einer Lanze die Seite“ etc. (Joh 19,33) Er wurde vom Kreuz abgenommen etc. (13)9 Der Weg, auf dem Christus wandelte, ist der aus dieser Welt zum Vater. Das Urteil dieser Welt über Christus ist das Urteil Gottes über die Welt (Joh 12,31). Bedenke, daß so, wie die Welt Christus einschätzte, Gott die Welt : Denn „die Weisheit der Welt ist Torheit“ etc. (1 Kor 3,19) Wie die Welt in Christus die Wahrheit gestraft hat, so wird Gott die Anmaßung der Welt .

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Vgl. Predigt XXVII, n.4, 24-43.

Predigt XXIX Accepistis Ihr habt angenommen Zeit: Fest: Ort: Zählung Koch: Edition: Deutsch:

2. September 1443 Visitation der Kirche St. Simeon durch Erzbischof Jakob Trier 22 h XVII/1, 29-39 Des Cardinals und Bischofs Nicolaus von Cusa wichtigste Schriften in deutscher Übersetzung von Franz Anton Scharpff, Freiburg/Breisgau 1862, 617-622; ferner in: Der Prediger auf der Porta. Die Trierer Predigten des Nikolaus von Kues. Eingeleitet von Harald Schwaetzer. Übersetzt von Franz-Bernhard Stammkötter. Mit einem Vorwort von Klaus Reinhardt, Münster 2005, 59-68.

ZUSAMMENFASSUNG Cusanus reflektiert in dieser Predigt über sein Amt als Priester und Bischof; als Priester, der von Jesus als Stellvertreter eingesetzt worden ist, und als Bischof, der eine Visitation durchzuführen hat (n.1). Aber auch jeder einzelne Gläubige muß Jesus in der Beachtung der Gebote Gottes – den Regeln der Heiligen – nachfolgen, er betont vor allem die Nächstenliebe (n.3-5). Die Mönche leben dabei von der Welt abgewandt, da sie das Diesseitige abtöten wollen (n.6), ein Ziel, das auch die Weltkleriker anstreben sollen, obwohl ihnen ja Besitz gestattet ist (n.7). Aber auch der einzelne Gläubige soll sein Herz nicht an weltlichen Besitz, sondern an die Wahrheit Gottes hängen (n. 8-9), so daß er als Soldat Christi zum ewigen Leben kommen wird (n.10-11).

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Predigt XXIX Ihr habt angenommen (1) „Ihr habt angenommen, worin ihr steht und wodurch ihr gerettet werdet“, 1. Brief an die Korinther, 15. Kapitel (1 Kor 15,1f.) und in der Lesung des letzten Sonntags. Unser Hoherpriester, Jesus Christus, der die Himmel durchschritten hat (Hebr 4,14), hat in dieser katholischen Kirche, seiner Braut, „die er mit seinem Blut erkauft hat“ (Offb 21,2.9), „zur Erbauung seines mystischen Leibes“ (Eph 4,12) zu unserem Heil Priester zurückgelassen, die in seinem Auftrag handeln. Sie sind gleichsam die Nachfolger der Apostel, von denen Christus sagt: „Wer euch hört, hört mich“ (Lk 10,16). „Wie mich der lebendige Vater gesandt hat, so sende ich euch“ (Joh 20,21). Christus aber war gesandt „zu suchen und zu retten“ (Lk 19,10). So heißt er auch die Bischöfe als seine Stellvertreter, zu suchen und zu retten. Weil unser Bischof, den ihr hier persönlich seht, diese Sendung Christi auf sich genommen hat, hat er seit langem darüber nachgedacht, daß er von Gott dazu gesandt worden ist, zu suchen und zu retten, und daß alles andere eine unverzeihliche Nachlässigkeit wäre für jemanden, der sich dem bischöflichen Joch unterworfen hat. Aber durch viele öffentliche und private Aufgaben ist er bis jetzt von der Ausführung seines heiligen Vorhabens abgehalten worden. Jetzt aber, wo sich ihm die erste Gelegenheit bietet, kommt er zu euch, Brüder, als Dienern Gottes, um gemäß der Notwendigkeit des ihm anvertrauten Amtes zu suchen und zu retten, damit nicht im strengsten Gericht Gottes das Blut der ihm Anvertrauten von seinen Händen gefordert werde. Da die pastorale Sorge in der Visitation besteht, die Visitation aber im Ermahnen, Predigen, Bessern und Reformieren, hat mir der ehrwürdige Vater aufgetragen, mit dem, was die Ermahnung betrifft, zu beginnen, um so der Reihe nach zu den anderen Teilen der Visitation durch den ehrwürdigen Vater zu kommen. Wenn ich auch dem nicht genüge, was das angemessene Mahnen unter diesen Umständen erfordert, hat mich doch der Gehorsam gedrängt, zum Wort „des Lehrers der Völker“ (1 Tim 2,7) zu eilen und so meinen Auftrag zu erfüllen. Denn „ihr habt angenommen, worin ihr steht und wodurch ihr gerettet werdet“ (1 Kor 15,1f.). Paulus, der den Korinthern die Frohe Botschaft verkündet hat, daß sie durch den Tod Christi befreit und in seiner Auferstehung lebendig geworden seien, kam zu Ohren, einige hätten das Gerücht ausgestreut, es gebe keine Auferstehung von den Toten (1 Kor 15,12). Da schreibt er den Korinthern noch einmal, wie er selbst ihnen das Evangelium verkündet, das er gepredigt hat und das sie angenommen haben. So fällt auch mir nichts anderes ein, in Christus geliebte Brüder, was ich euch verkündigen sollte, als das, was ihr schon sehr gut kennt, erneut darzulegen, so gut ich es vermag.

Predigt XXIX: Ihr habt angenommen

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(2) Als unsere Väter, apostelgleiche Männer, bedachten, daß in der Frohbotschaft Christi alles enthalten ist, was Leben und Heil angeht, damit jeder einzelne Mensch in Christus Jesus auferstehen und in ihm ewig leben kann, wurde ihnen bewußt, daß es einerseits Unverzichtbares gibt, ohne das wir nicht in ihm auferstehen können, andererseits über das Notwendige Hinausgehendes, durch das nach einer vollkommeneren Ordnung die Seligkeit in ihm erlangt wird, wie hier auch Paulus zu glauben scheint, wenn er davon spricht, daß zuerst Christus, dann die, die zu Christus gehören, und alle nach einer bestimmten Reihenfolge auferstehen werden (1 Kor 15,23). Die aber, die nach einer vollkommeneren Ordnung in Christus auferstehen werden, sind die, die auch im diesseitigen Leben größere Vollkommenheit erreicht haben. Denn Christus sagt, nachdem er erklärt hat, niemand könne ohne Gottesund Nächstenliebe das Leben erlangen, daß der, der vollkommen sein will, all sein Hab und Gut verkaufen und den Erlös den Armen geben muß, um so Christus nachzufolgen. Und deswegen sagt er an anderer Stelle: „Selig die Armen im Geiste, denn ihnen gehört das Himmelreich“ (Mt 5,3). (3) Weil es nicht jedermanns Sache ist, sich selbst abzutöten, sondern nur derer, die das erfassen können (Mt 19,12), haben sich heilige und apostelgleiche Männer, die all ihren Eifer darauf richteten, vollkommen zu werden, „Regeln“ gegeben, mit deren Hilfe sie zum Weg der Vollkommenen strebten; sie verpflichteten jedoch nicht alle Gläubigen zur Einhaltung dieser Regeln, sondern nur die, die sich dafür entschieden haben, vollkommen zu werden. Die aber, die diese dem Evangelium entsprechende Lebensweise angenommen haben und die Regeln befolgen, nennt man Kanoniker oder Regularen. Das ist es, was ich euch verkünde, daß ihr nicht nur Kleriker seid, denen unter den Gläubigen als ihr Anteil zugefallen ist, göttlicher Besitz zu sein, so daß ihr Gottes Eigentum seid, sondern auch Regulare bzw. Kanoniker. Ihr habt euch durch Unterwerfung unter strengere Regeln an Gott gebunden, nach denen zu kämpfen ihr gehalten seid, damit ihr das Heil nach einer vollkommeneren Ordnung erlangt. „Ihr habt“ also für euch dieses Joch der Regeln „angenommen“ (1 Kor 15,1), so daß ihr Kanoniker seid. Und darin „steht ihr, dadurch werdet ihr gerettet“, denn wer die Hand an den Pflug legt und zurückschaut, taugt nicht für das Himmelreich (Lk 9,62). Denn jeder einzelne muß in der „Berufung, zu der er berufen ist“ (1 Kor 7,20), bleiben und ausharren, wenn er den Lohn erhalten will. Das bedeutet aber, standhaft bei dem angenommenen Evangelium zu bleiben und auszuharren. Denn ein Gelübde ablegen ist zwar ein Akt der Freiheit, die Erfüllung aber ein Akt der Notwendigkeit. Denn ihr konntet vorher nicht auf die Regeln der Heiligen verpflichtet werden, da ihr aber jetzt Kanoniker seid und dies angenommen habt, müßt ihr in dem standhaft sein, wodurch ihr allein gerettet werdet. (4) Die Ermahnung und die daran anschließende Visitation haben also kein anderes Ziel, als daß ihr wahrhaft in dem steht, was ihr angenommen habt, so daß ihr wirklich nach den Regeln der Heiligen lebt, „ohne euch selbst etwas vorzumachen“ (Jak 1,22), wie wenn ihr euch mit den Lippen und der Oberflä-

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

che der Worte Kanoniker nenntet, mit dem Herzen aber ganz weit von der Bedeutung des Namens entfernt wäret. Ihr seht doch im Gemeinwesen dieser Welt, wie verhaßt eine falsche Waage ist und wie sie Anstoß erregt. Denn wer als Bäcker oder Gerber oder sonstiger Handwerker auftritt und eine falsche Waage benutzt hat, um als reines Weizenbrot ein nur scheinbares und vorgetäuschtes zu verkaufen, der dient nicht nur nicht dem Gemeinwesen, dadurch daß er keine richtige, sondern eine falsche Waage benutzt, sondern er schadet ihm in hohem Maß. Deswegen werden die Arbeiten dieser Handwerker überprüft, damit sie berichtigt und in Ordnung gebracht werden. Daher lesen wir sehr oft in den Akten der heiligen Konzilien folgende Bestimmung: „Es wurde beschlossen“, daß jeder „gemäß der Herleitung seines Namens“1 zu leben hat: „der Mönch“ gemäß seiner Bedeutung als „Einzelner“, „allein“ und „traurig“,2 seine Sünden beweinend; der Kanoniker als „Regulierter“,3 der sich den Regeln der Heiligen unterworfen hat; der Bischof demnach als „Aufseher“;4 der Presbyter als der, der anderen den Weg des Heiles aufzeigt;5 und so verhält es sich auch mit den übrigen Bezeichnungen. Das ist die Summe meiner Ermahnung, daß ihr, so wie ihr den Namen des Kanonikers angenommen habt, dies auch in eurem Handeln unter Beweis stellt zu eurem Heil, das ihr dadurch erlangen werdet. (5) Aber vielleicht sagt einer der Jüngeren: Ich kenne die Bedeutung dieses Wortes nicht. Erläutere uns daher gründlich die Bedeutung des Wortes! Was haben wir angenommen? Wie müssen wir darin fest stehen? Und welche Rettung folgt daraus? Ich werde mir Mühe geben, auf diese drei Fragen kurz, aber befriedigend zu antworten. Zuerst werde ich erklären, was ihr angenommen habt; dann, wie ihr darin stehen sollt. Zuletzt werde ich kurz erklären, welchen Lohn ihr erhalten werdet. (6) Zum ersten Punkt sage ich, daß ihr etwas sehr Großes angenommen habt, weil ihr euch zu besonderen Dienern Christi gemacht habt, um Gott, der „Geist ist“ (Joh 4,24), im Geist zu dienen. Das bedeutet, daß ihr euch zum Lebenswandel der Heiligen bekennt, die allem Weltlichen abgeschworen haben, um sich ganz Gott zu weihen. In der Tat muß das Leben der Regulierten von der Welt abgewandt sein, damit sie das verkosten können, was im Himmel ist (Kol 3,2). Ihr dürft nicht glauben, daß wir uns sehr von den Mönchen unterscheiden. Denn die Heiligen stimmten überein in der Überzeugung, daß der 1 2 3 4 5

Decretum Gratiani: c.16 q.I, c. Ebd., c.8 (I, 763); das griechische „monos“ bedeutet „allein“, „einzeln“, das griechische „achos“ entspricht dem lateinischen Wort „tristis“, dem deutschen „traurig“. Dem griechischen Wort „kanon“ entspricht das lateinische „regula“ und das deutsche „Regel“. Das griechische Wort „episkopos“ ist abgeleitet von „episkopein“ und bedeutet im Deutschen „nachschauen“. Der Begriff „Presbyter“: Priester wurde gedeutet als „praebens iter“, das heißt „der, der den Weg weist“.

Predigt XXIX: Ihr habt angenommen

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Rückzug aus dieser Welt im Verzicht auf weltlichen Besitz, in der Abtötung des Fleisches und in der Aufgabe der Willensfreiheit besteht, um im Geist „Gott nahe sein“ (Ps 73[72],28) zu können. Ihr wißt doch, daß dies das Wesentliche aller Orden ist. Denn es sind diese Dinge, die das Diesseitige abtöten. Der heilige Johannes sagt, alles Weltliche bestehe in der Triebhaftigkeit des Fleisches, in der Habgier und der Selbstgefälligkeit (1 Joh 2,16). Es ist aber offenkundig, daß jene drei Dinge, die wir vorher aufgezählt haben, diese vertreiben. „Reine und unbefleckte Gottesverehrung“ (Jak 1,27) ist also die, die es versteht, den Schmutz dieser Welt von sich zu weisen. Die Regeln der Väter enthalten also nichts anderes als genau das, wodurch man Gott nahekommt, wenn man die Welt hinter sich gelassen hat. Und das ist das, was „ihr angenommen habt“ (1 Kor 15,1). (7) Nun sagt vielleicht einer: Wir haben keineswegs jene Striktheit des Lebenswandels angenommen wie die, „die der Welt gestorben sind“,6 die wir auch als Mönche bezeichnen. Denn wir dürfen sowohl eigenen Besitz haben als auch manche andere Dinge tun, die den Gestorbenen nicht anstehen. Dem antworte ich: Niemand kann leugnen, daß wir Kanoniker Ordensleute sein müssen, wenn wir uns in der Lebensweise auch von anderen unterscheiden, die an strengere Regeln gebunden sind. Denn trotz aller Unterschiede zwischen allen Orden der Welt stimmen sie in den zuvor berührten wesentlichen Punkten überein, sei auch die Regel einmal laxer, einmal strenger. So verläßt auch die der Kanoniker, wenngleich sie in ihrer Art lockerer ist, dennoch nicht den Bereich einer Ordensregel, weil wir, obwohl es uns gestattet ist, die Einkünfte der Kirche zu verwalten, von denen wir leben, dennoch nichts mit irgendeinem Recht beanspruchen können, was über unseren Bedarf an Nahrung und Kleidung hinausgeht. Und deshalb haben wir keine Vollmacht, etwas zu verschenken, zu vererben oder anderes zu tun, was Eigentümern zusteht. Gering ist also der Unterschied zwischen uns und denen, die nach Klosterregeln leben, wo einem einzigen die Verwaltung zusteht, während sie bei uns jedem einzelnen zugestanden wird, allerdings mit keinem anderen Recht als dort dem einen Vorsteher. Nur in puncto Eigentum und Nachfolgeregelung unterscheiden wir uns . Außerdem: Auch wenn wir vor den heiligen Weihen heiraten dürfen, kommt dennoch mit der Weihe das Gelübde der Keuschheit, weil es den Regeln der Väter entspricht. Öffentlich versprechen wir unseren Vorgesetzten Gehorsam. Also haben wir das Ordensleben angenommen, weil wir – wobei für Verpflegung und Kleidung gesorgt ist – uns verpflichtet haben, durch keuschen Lebenswandel im Fleisch und durch Gehorsam im Willen abgetötet, Gott zu dienen, damit wir gerettet werden. Das, Brüder, ist das Joch des Herrn, das „ihr angenommen habt“. (8) Jetzt antworte ich auf die zweite noch anstehende Frage, wie ihr fest in dem, was ihr angenommen habt, stehen könnt: Daß ihr dann steht, wenn ihr 6

Decretum Gratiani: c.16, q.8.

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

dem Herrn, in dessen Hand ihr euch begeben habt, nach der Bedingung eben dieses Herrn fleißig zu dienen euch bemüht. Denn weil Gott nichts von dieser Welt hat, da sein Reich nicht von dieser Welt ist, ist es notwendig, daß auch ihr mit ganzem Eifer diese Welt flieht. Denn dann werdet ihr sein Reich als Selige erlangen, wenn ihr „arm im Geiste“ (Mt 5,3) seid. Ihr werdet eine umso höhere Stufe seines Reiches erlangen, je geringer ihr diese Welt schätzt. Denn nur, wenn ihr euer Herz nicht an überflüssigen Reichtum hängt (Ps 62[61],11), wenn ihr die Wonnen des Fleisches verachtet, wenn ihr alle Überheblichkeit ablegt und in demütiger Unterwerfung euch selbst verachtend lebt, wird deutlich, daß „ihr in dem steht, was ihr angenommen habt“ (1 Kor 15,1). (9) Wenn ihr beherzigt, daß Gott die Wahrheit ist – er hat nämlich gesagt: „Ich bin die Wahrheit“ (Joh 14,6) und nicht: „ich bin die Gewohnheit“! – und ihn in Wahrheit verehrt und die Wahrheit selbst liebt, steht ihr in dem, was ihr angenommen habt. Das Gleiche sollt ihr in Bezug auf Gerechtigkeit, Gottesfurcht, Beständigkeit, Tapferkeit und Liebe erkennen. Denn Gott ist die reinste Tugend in Person, der kein im Laster Befangener dienen kann. Er „ist die Liebe“ (1 Joh 4,8). Also steht der nicht in dem, was er angenommen hat, der die Liebe nicht hat. Wenn ihr also in dem stehen wollt, was ihr angenommen habt, damit ihr gerettet werdet, dann liebet einander! „Liebet einander!“ (Joh 15,17) „Ihr seid Brüder“ (Mt 23,8) in Christus Jesus, der die Liebe ist. Erkennt, daß ihr darin steht, wenn ihr einander liebt! (Joh 13,34) Nicht „Hader soll es unter euch geben“ (2 Kor 12,20), nicht „Streit“ (Gal 5,20), als ob „ihr noch dem Fleisch verfallen wäret“ (1 Kor 3,2); nicht „Götzendienst“ und „Habgier“ (Eph 5,5 u.ö.) herrsche bei euch, sondern ein jeder soll seinem Nächsten das tun, was er selbst wünscht, daß man es ihm tut! Denn „Brüder seid ihr“ (Mt 23,8), damit ihr so fest in dem stehen könnt, was ihr angenommen habt. „Einer trage des anderen Last!“ (Gal 6,2) Keiner soll über den anderen richten! Wenn ihr zum Gotteshaus geht, dann achtet darauf, daß ihr nicht als Pharisäer oder „Spalter“7 erscheint, die sich selbst rechtfertigen, sondern erinnert euch an den gerechtfertigten Steuerpächter und erweist euch demütig vor Gottes Angesicht! Seid nicht mürrisch im Dienst dessen, dem an diesem Ort zu dienen ihr versprochen habt, sondern sorgfältig und eifrig, nicht nur mit dem Mund, sondern auch mit dem Herzen und den Gedanken! Denn Gott will dich ganz. (10) Wenn ihr darin steht, wie es sich für „Soldaten Christi“ (2 Tim 2,3) gehört, haltet ihr an dem fest, was ihr angenommen habt, und steigt auf „von Tugend zu Tugend“ (Ps 84[83],8); von der menschlichen Seinsweise werdet ihr zur engelgleichen geführt, von der Blindheit zum Sehen, vom Nichtwissen zum Wissen, von der Erde zum Himmel. Das also bedeutet „stehen“ (1 Kor 15,1): ein unaufhörlicher Aufstieg zu den Höhen. Soviel zur zweiten Frage. 7

Das hebräische Wort „Pharisäer“ wird (fälschlich) mit dem lateinischen „divisi“, das heißt „Abgespaltene“, gleichgesetzt.

Predigt XXIX: Ihr habt angenommen

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(11) Die dritte Frage war die nach der Rettung selbst, die den Standhaften versprochen ist. Ich gebe zur Antwort, daß das Herz des Menschen die äußerste Glückseligkeit nicht fassen kann, die „Gott denen versprochen hat, die ihn lieben“ (Jak 2,5). Denn das, was am meisten von allem, was ist, geliebt wird, ist das Sein selbst. Denn nichts ist dem Sein selbst so entgegengesetzt wie das Nicht-Sein. Das aber, was von allem, was lebt, am meisten geliebt wird, ist das Leben selbst. Denn für alle Lebenden gibt es nichts Schrecklicheres als den Tod. Das aber, was vom erkennenden Geist am meisten geliebt wird, ist das Erkennen. Das Nichtwissen bedeutet für ihn den Tod. So, wie für das Leben „Leben gleichbedeutend ist mit Sein“,8 so ist für den erkennenden Geist das Erkennen gleichbedeutend mit Sein. Du, mein Bruder, wirst also in all diesen Dingen die höchste und unzerstörbare Stufe der Erlösung erlangen: im „Sein“ die Ewigkeit der Existenz, im „Leben“ die Unsterblichkeit des Lebens, in der „Erkenntnis“ unzerstörbar die wahre Erfüllung aller Sehnsucht; und darin, in der eigentlichen intellektualen Schau, werden wir Gott so schauen, wie er ist (1 Joh 3,2) und Jesus Christus, unseren Herrn. Zu dieser Schau führe uns dieser Jesus, der Retter, der gepriesen sei von Ewigkeit zu Ewigkeit.

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Aristoteles: De anima II, c.4, Meister Eckhart: Sermo 2/II.

Predigt XXX Constituite diem solemnem Setzt einen Festtag ein Zeit: Fest: Ort: Zählung Koch: Edition: Deutsch:

25. März 1444 Verkündigung Koblenz 23 h XVII/1, 40-49 –

ZUSAMMENFASSUNG Cusanus betont das Gebot, die christlichen Feiertage einzuhalten und würdig zu begehen, da sich auch darin die Liebe zu Gott zeige (n.1), wobei die kirchlichen Feste ihren Ausdruck jeweils in Ritus, Intellekt und Gefühl finden (n.2). Gott hat den Menschen aus der selbst verschuldeten Sünde befreit und hat ihm von Anbeginn der Welt Gebote gegeben, um die Seele vor dem erneuten Abfall zu bewahren, so etwa die Beschneidung, die Speisegebote und das Ideal der Jungfräulichkeit; die Befolgung dieser Regeln ist der rituelle Aspekt der Gottesliebe (n.3-6). Dabei betont er seine Anthropologie der Würde des Menschen, der als Mikrokosmos die Krone der Schöpfung ist (n.7-8), obwohl ihn seine Unvollkommenheit stets zur Sünde verleitet (n.9). Allein die uneingeschränkte und tätige Liebe zu Gott bietet daher die Gewißheit, in die Gnade einzutreten (n.10-12).

LITERATUR Albert Dahm: Die Soteriologie des Nikolaus von Kues. Ihre Entwicklung von seinen frühen Predigten bis zum Jahr 1445 (BGPhThMA N.F. 48), Münster 1997, 170-174.

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Predigt XXX Setzt einen Festtag ein (1) „Setzt einen Festtag ein, dichtgedrängt bis zu den Hörnern des Altars!“ (Ps 118[117],27) An jedem Festtag muß man sich von knechtischen und körperlichen fernhalten: Jeremia im 18. Kapitel: „Nehmt euch in acht um eures Lebens willen und tragt am Sabbat keine Last!“ (Jer 17,21) Und das deswegen, weil der Herr sich an uns als heilig erweisen will, wie wir heute, am Mittwoch nach Laetare, beim Propheten lesen: „Als heilig werde ich mich erweisen an euch“ (Ez 36,23). Das bedeutet, daß wir in ihm geheiligt werden. Denn wer Gott liebt, wird von Gott wiedergeliebt, der „die Liebe ist“ (1 Joh 4,8). Wenn Gott verehrt wird, weil er „gut “ (Mk 10,18), wird der, der ihn verehrt, selbst gut, weil der Gute ist, von dem alles Gute kommt. So werden wir in ihm gerechtfertigt, weil er unsere Rechtfertigung ist. Heute ist also „Sabbat“ (Joh 9,14), wie es im heutigen Tagesevangelium heißt, der Sabbat, an dem der „Blindgeborene“ (Joh 9,1) geheilt wurde, was man „von Anbeginn der Welt noch nie gehört hatte“ (Joh 9,32). Weil jener Sabbat Tag der Ruhe ist, den Gott „gesegnet hat“ (Gen 2,3), müssen wir unsere Aufmerksamkeit darauf richten, wie sein festlicher Charakter begründet ist. Denn jedes Fest ist aus irgendeinem Grund eingesetzt worden. Es gibt aber kein höheres Fest als jenes, das eingesetzt wurde zur Erinnerung an unsere Erlösung und Rettung. Dieses ist mit Recht ein hoher Festtag, weil nichts erstrebenswerter ist als das ewige Leben. Daher müssen wir an diesem Feiertag, in dem der Anfang unserer Wiederherstellung liegt, ein feierliches und verschwenderisches Fest begehen, nicht einige vereinzelt, sondern alle dichtgedrängt „bis zu den Hörnern des Altares“ (Ps 118[117],27) Und wie wir dadurch, daß wir die Geschichte immer wieder erzählen, dieses Fest einigermaßen feierlich gestalten, dazu will ich einiges sagen. – Bittet um Gnade ! (2) „Richtet aus!“ etc. (Ps 118[117],27) Drei Dinge werde ich der Reihe nach ansprechen: Erstens, wie der sinnlich-äußere Charakter des Festes feierlich zu begehen ist; zweitens, wie der intellektuale; drittens, wie der affektive. Ersterer ist einfach und besteht in einer feierlichen Zeremonie, bei der die Kirche heute die Berichte über große Taten verliest, damit wir so dazu angeregt werden, mit allen Sinnen zu feiern. Der zweite ist erhabener, und es ist ein geistiges Feiern, wo der Intellekt einsetzt, um den Grund des ersteren zu sehen; erst dort beginnt nämlich die zweite, höhere Festlichkeit. Die dritte Stufe der Festlichkeit steht noch höher. Sie beginnt das Fest dort, wo sie durch den Intellekt sieht, daß mit größter Hingabe gefeiert und geruht werden muß.

Predigt XXX: Setzt einen Festtag ein

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(3) Weil ich schon an anderer Stelle1 über die Punkte zwei und drei gesprochen habe, will ich jetzt den ersten Teil aus dem Bericht des Evangeliums entwickeln. Denn „in jener Zeit wurde der Engel Gabriel gesandt“ etc. (Lk 1,26ff.) Immer wieder habt ihr gehört, daß Gott den Menschen aufrecht geschaffen hat und daß in unseren Stammeltern die Natur selbst sich von der aufrechten Haltung abgewandt und niedergebeugt hat; und daß die Gebeugtheit selbst sich nicht aus eigener Kraft wieder aufrichten konnte, da sie zu sehr in der Abwendung von der richtigen, aufrechten Haltung verkrampft war. Denn nichts Gebeugtes kann sich ohne höhere Kraft wieder aufrichten. Den Menschen, den er aufrecht geschaffen hat, hat er ins Paradies gesetzt, wegen der Sünde aber ist er verjagt worden und konnte nicht zurückkehren, weil ein Cherub mit Flammenschwert den Eingang des Paradieses bewachte (Gen 3,24). Der Mensch kehrte also in das ihm zugewiesene Land zurück und wurde sterblich, von Mühsal heimgesucht etc., und er wurde des Lebens beraubt. (4) Gott beschloß aber in seiner übergroßen Güte, den Menschen irgendwann auf den Weg des wahren Lebens zurückzuführen, und das obwohl es nur unter der Bedingung geschehen konnte, daß Gott selbst, der das wahre „Leben“ (1 Joh 5,20) ist, so die Menschennatur annahm, daß die Menschennatur, die in ihm Bestand hat, auch im Leben Bestand hat. Daher wählte er einen einzigen Sproß aus, „aus dessen reinstem Blut“2 er nach langer Zeit der Läuterung menschlichen Leib annehmen würde. Dieser Sproß aber, der von Adam ausging, entwickelte sich weiter bis zu Abraham, in dem er manche Läuterung empfing. Daher wollte er, daß das Gesetz der Beschneidung damals in Kraft gesetzt wurde. In der Folge hatte jeder Nachkomme dieses Abraham in unterschiedlicher Weise Anteil an diesem Blut. Aber noch ist dieses salzige Wasser von Adam an nicht durch soviel reinigenden Sand und saubere Filter geflossen, daß es vollständig rein wäre. Also gab Gott jenem Sproß im Lauf seiner Entwicklung viele weitere Reinigungsvorschriften, durch die er ihn frei von Verunreinigung halten und kontinuierlich weiter läutern wollte. Viel Zeit verging, bevor jene Reinheit bis zur höchsten Stufe entwickelt in irgendeinem menschlichen Wesen gefunden wurde. (5) Und beachte hier, warum Gott zahlreiche Reinigungs- und Reinhaltungsvorschriften gegeben hat; und wie Gott nicht nur Gebote gegeben hat, durch die die Seele vor dem Sturz in noch tiefere Gebeugtheit bewahrt würde und sich selbst wieder aufrichten könne, soweit das mit menschlichen Kräften möglich ist, damit sie für eine größere Gnade empfänglich werde, sondern auch, damit so durch eine Seele in Ausgewogenheit und tugendhafter Gesinnung auch der Körper weniger vergiftet werde. Denn die Leidenschaften der Seele prägen den Körper: Wir sehen ja, wie aus häufigem Zorn die Cholera entsteht etc. Außerdem wollte Gott durch 1 2

Den Verweis auf frühere Predigten hat Nikolaus nicht vor 1455 an dieser Stelle ergänzt. Er bezieht sich möglicherweise auf die Predigten L und LI. Vgl. Johannes Damascenus: De fide orthodoxa, c.46; Petrus Lombardus: Sententiae III, dist. 3, c.1.

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

ein Gebot erreichen, daß die Menschen vom Stamm Abrahams sich unreinen Fleisches enthielten und aller Dinge, die die körperliche Verfassung vergiften und dem Blut die Reinheit nehmen. Deshalb offenbarte Gott vielen, die Propheten genannt wurden, dieses Geheimnis, was er selbst zu tun beabsichtige, aber er nannte weder einen bestimmten Zeitpunkt noch andere Anhaltspunkte; sondern „als tiefes Schweigen “ etc. (Weish 18,14), das bedeutet: „In jener Zeit wurde Gabriel geschickt“ etc. (Lk 1,26) (6) So denke denn hier nach über den Adel der Jungfrau Maria im Hinblick auf ihre Seele und ihren Körper, weil es der höchste Grad an Reinheit ist, so erhaben, daß sie „voll der Gnade“ (Lk 1,28) ist unter allen, die der Gnade teilhaftig sind, und „gebenedeit unter den Frauen“ (ebd.). Denn so hervorragend ist die Jungfräulichkeit im Zustand der höchsten Gnade, daß sie mit der Fruchtbarkeit zusammenfällt. Aus gutem Grund ist jene „gebenedeit unter den Frauen“, die, obwohl sie Jungfrau ist, höchste Fruchtbarkeit ist; die, obwohl sie schwanger ist, züchtigste Jungfrau ist. Sieh: Unfruchtbarkeit ist kein Segen. Daher ist die Jungfräulichkeit nicht etwa besonders gottgefällig, weil sie unfruchtbar ist. Jungfräulichkeit in Fruchtbarkeit hingegen und Fruchtbarkeit in Jungfräulichkeit sind in höchstem Maß gottgefällig. (7) Im zweiten Teil geht es darum, daß wir diese Geheimnisse verstehen. Im Brief an die Epheser betete Paulus im ersten Kapitel, Gott möge ihnen, den Ephesern, dieses Verstehen eröffnen. Er sagte folgendes: „Wenn ich in meinen Gebeten an euch denke, , daß der Gott unseres Herrn Jesus Christus, der Vater der Herrlichkeit, euch den Geist der Weisheit und der Offenbarung gebe, damit ihr ihn erkennt. Er erleuchte die Augen eures Herzens, damit ihr versteht, zu welcher Hoffnung er euch beruft, welcher Reichtum seiner Herrlichkeit in den Heiligen ist, und wie unermeßlich groß seine Macht sich an uns erweist, die wir glauben aufgrund der Wirkung seiner Macht, die er an Christus erwiesen hat“ etc. (Eph 1,16ff.) So bete auch ich für euch und für mich, weil es nichts Nützlicheres und nichts Erfreulicheres zu wissen gibt. Denn darin liegt die Fülle allen Wissens. Christus erfassen heißt doch, den ganzen Schatz der Weisheit erfassen. In ihm nämlich „sind alle Schätze der Weisheit verborgen“ etc. (Kol 2,3) Auch Paulus „wußte nichts anderes als Christus und ihn als Gekreuzigten“ (1 Kor 2,2). Unwissenheit allein ist die Ursache allen Irrtums etc. (8) Deshalb soll die erste Frage lauten: „Was ist der Mensch?“ Antwort : Er ist „der sechste Tag“ (Gen 1,31), mit anderen Worten ein Mikrokosmos.3 Gott erschuf alles in seinem Wort. Sein Wort aber ist wie eine unendliche Kunst. Die Geschöpfe haben Anteil an dieser unendlichen Kunst. Jene Kunst aber, das Wort oder der ewige Geist, ist das unendliche Licht oder die Weisheit. Wie aber durch Teilhabe an diesem ewigen Licht alles Geschaffene schrittweise zum Sein gelangte, beschreibt Moses und fügt hinzu, wie im letzten, im sechsten Schritt, sozusagen zur Vervollkommnung der Schöpfung, er „den 3

Vgl. dazu De docta ign. III, c.3; De coni. II, c.14; Predigt XLIII, n.4, 5sq.

Predigt XXX: Setzt einen Festtag ein

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Menschen nach seinem Ebenbild erschuf“ (Gen 1,27). Den Menschen erschuf er nach oben, und er richtete ihn auf sich hin aus. Denn alle Lebewesen und Geschöpfe ruhen im Menschen sozusagen in ihrer Bestimmung. Der Mensch aber ruht nur am siebten Tag, am Sabbat. Der Sabbat aber ist das Licht, von dem wir nicht lesen, daß es „geschaffen“ ist, sondern: „Gott segnete den siebten Tag“ (Gen 2,2f.). Daher liegt die Ruhe des Menschen nur in jenem unerschaffenen Licht, das Sabbat genannt wird, und das Licht des Menschen ist nur im Sabbat gesegnet etc. (9) Die zweite Frage lautet: Was ist der Grund für den Sturz des Menschen in die Gebeugtheit? Moses beschreibt, daß es die Anmaßung . Denn der Mensch, der alle geschaffenen Naturen in sich eingefaltet , konnte sich hinwenden zu allen im Bereich des Menschen eingefalteten Naturen, und so konnte er dadurch, daß er sich nach unten wandte, zum menschlichen Tier werden. Daher sind manche wie Bären, andere wie Löwen, wieder andere wie Lämmer, andere wie Tauben und nochmal andere wie Schlangen etc. Aber der Mensch kommt nur am Sabbat zur Ruhe, das heißt im unerschaffenen Licht. Dieses aber hat er nicht in sich eingefaltet, er umschließt es auch nicht, weil der sechste Tag dem siebten unendlich unterlegen ist. Deshalb kann er es mit seinem Verstand nicht erfassen. „Also setzte Gott den Menschen ins Paradies“ (Gen 2,8.15), das heißt, die Seele, die „nach dem Ebenbild Gottes“ (Gen 1,26f.) geschaffen ist, setzte er in dieses irdische Paradies, wo sie viele Wonnen hat. Es gibt auch „vier Flüsse“ und den „Baum des Lebens“ etc. und den „Baum der Erkenntnis von Gut und Böse“ etc. (Gen 2,9ff.) Der Mensch aber hätte in seiner Einfalt leben und ruhen können im Licht des Sabbats. Aber er begehrte, Gott kraft eigener Erkenntnis zu erfassen, um so nicht in Gott, sondern in sich selbst zu ruhen und wissend zu sein wie Gott. Das würde bedeuten, daß er den Sabbat eingefaltet in sich selbst hätte. Aber da kam er zu Fall etc. Deswegen wurde er aus dem Paradies vertrieben und in das ihm eigene Land zurückversetzt, wo nur Disteln wachsen etc. Der Mensch kann also in sich das nicht erfassen, was er mit dem Intellekt sieht, um danach zu streben. Und darin liegt seine Unvollkommenheit und Gebeugtheit. Diese zu begradigen versucht er auf vielerlei Arten, um in sich Ruhe zu finden. Und so geriet er in einen Wald von Göttern, und Götzenbilder etc. (10) Die dritte Frage : Wie ist der Mensch zurückgeführt worden? Er wurde in dem Moment zurückgeführt, als die Menschennatur mit dem „Wort des Lebens“ (1 Joh 1,1) geeint wurde in Jesus, denn so wird es im Evangelium4 geoffenbart. „Jesus“ (Lk 1,31) ist nämlich sein Name, weil er der „Erlöser“5 ; und in Wahrheit „Gottes Sohn“ (Mt 16,16), weil Jesus etc. (11) Die vierte Frage : Wie werden wir dieser Gnade teilhaftig? Die Lösung : durch die Einung mit ihm, die durch den Glauben und die

4 5

Das Evangelium des Festes Mariä Verkündigung ist Lk 1, 26-38. Vgl. Predigt XXVII, n.1 und Predigt XXVIII, n.3.

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Liebe bewirkt wird etc. Und beachte das Beispiel vom Licht und der Farbe, wie du es an anderer Stelle6 hast. (12)7 Bilde die erste Frage über das Wort Gottes, und formuliere sie so: Heute lesen wir im Tagesgebet, wie Gottes Wort Fleisch angenommen hat. Was also ist „Gottes Wort“? Antwort : Es ist das, worin Gott alles erschaffen hat: „Er sprach, und so geschah es“ (Gen 1,3f.). Es ist die göttliche Kunst, es ist das unendliche Licht, das in allem erstrahlt, wie das Licht verschieden leuchtet in der Farbe. Und hier über dieses Thema wie an anderer Stelle.8 Denn alle Kunst ist geistiges Bild oder kognitive Kraft. In ihr ist alles von Ewigkeit her, so wie das Wort unseres Geistes das Denken ist, das in seiner Kunst alles künstlerisch Geschaffene einfaltet, jenseits von Zeit und Teilung. Die Kunstwerke falten die Kunst aus. Die Kirche oder das Haus ist im Künstler in uneingeschränkter Weise und ungeteilt, im eingeschränkten Kunstwerk auf verdichtete und zusammengefügte Weise etc. Und steige stufenweise in der Kunst empor, wie die höhere Kunst die minderwertigeren einfaltet und deswegen edler ist etc. So ist die unendliche Kunst die größte etc. Wie aber „durch das Wort alles geschaffen ist“ (Joh 1,3), und wie „die Werke der Dreifaltigkeit ungeteilt sind“,9 ein Beispiel in unserer Kunst, weil sie zuerst in der Vorstellung der Kunst etwas entwirft und sich dann den Entwurf zu eigen macht. „Er sprach und sah, daß es gut war“ (Gen 1,3f.) etc. Wie steigt man aber über die Geschöpfe empor zur unendlichen Kunst? Ich sage: so wie vom Kunstwerk zum Künstler, den wir nach seinem Werk als vollkommen beurteilen etc. Wie ist die Welt im göttlichen Wort? Ich sage, daß das Urbild der Welt, vergleichbar dem Modell in der Kunst, Gott ist: Sobald etwas an ihm teilhat, wird es verdichtet. Und so gehen die Geschöpfe hervor, wie beim künstlerischen Schaffen etc. Ebenso mit der Sonne: Wird ihre Kraft betrachtet, wie sie am Grund ihres Ursprungs ist, gibt es nur eine einzige große Sonnenkraft, in der alles Lebendige auf sinnlich wahrnehmbare Weise ist. Wird aber die Kraft verdichtet im einzelnen Lebendigen, das an ihr teilhat, bekommt sie entsprechend der Teilhabe einen anderen Namen, wobei die Kraft der Sonne in ihrer einfachen Einheit unzerstörbar fortbesteht. Steige also auf bis zum „Wort des Lebens“ (Phil 2,16): wie alles „in ihm Leben“ (Joh 1,4) und in der Entfaltung des Lebens an ihm Anteil hat: einmal als Pflanze, etc.

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Vgl. Predigt XXIII, n.5 und De docta ign. III, c.9. Im Abschnitt 12 werden die von Abschnitt 8-11 erörterten Fragen in anderer Anordnung behandelt. Wie Anm. 7. Vgl. Ambrosius: De fide ad Gratianum V, c.11, n.134; vgl. auch Augustinus: De Trinitate I, c.4, n.7 ; c.5 n.12; Meister Eckhart: Expositio Sancti Evangelii secundum Iohannem 3,34 (LW 3, n.360, p.304, 14 et nota 5).

Predigt XXXI In nomine Jesu Vor dem Namen Jesu Zeit: Fest: Ort: Zählung Koch: Edition: Deutsch:

5. April 1444 Palmsonntag Koblenz 24/I h XVII/1, 50-51 –

ZUSAMMENFASSUNG Cusanus betont, daß sich die Demut des Gläubigen nicht nur im körperlichen Akt des Kniefalls, sondern auch in der intellektuellen Ergebenheit ausdrückt (n.1). Deshalb hebt er hervor, daß die Wahrheit nur im Glauben gefunden werden kann. Jesus muß im Geist erkannt werden; deshalb ist das Studium der Heiligen Schrift so wichtig (n.2).

BEMERKUNGEN Der im Schlußsatz angekündigte dritte Teil folgt in Predigt XXXII.

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Predigt XXXI Vor dem Namen Jesu (1) „Vor dem Namen Jesu wird sich jedes Knie beugen“ (Phil 2,10), Brief an die Philipper, 2. Kapitel und Lesung vom Tag. Der Grund, warum sich jedes Knie beugen wird, ist der, daß das Wissen um Jesus jedem vernunftbegabten Geist geoffenbart werden wird; aus dem Wissen wird Demut ihm gegenüber erwachsen etc. Wie Paulus nichts anderes glaubte „zu wissen als Jesus und ihn als Gekreuzigten“ (1 Kor 2,2): Als Paulus bei seiner Verkündigung davon sprach, daß er teils erkenne, teils prophetisch rede (1 Kor 13,9), hat er Christus nicht durch prahlerisches, selbstgefälliges Begreifen erfaßt, sondern durch ein Begreifen, das durch die Kraft seines Glaubens emporgehoben wurde. Denn wir können in diesem Leben nicht zum Erkennen aufsteigen, es sei denn durch den Glauben, wie Jesaja sagt: „Wenn ihr nicht glaubt, werdet ihr nicht erkennen“ (Jes 7,9).1 Die Wahrheit kann also nur im Glauben berührt werden. Der Glaube aber ist die geoffenbarte Wahrheit, die in demütigem Begreifen angenommen wird, während sie durch den Versuch, sie mit unseren eigenen Kräften nicht berührt werden kann. Die ganze Verkündigung des Paulus aber bestand darin, das Evangelium zu erschließen, das ihm von Christus geoffenbart wurde, als er in den dritten Himmel entrückt war (2 Kor 12,2). Dieses Erschließen wird dazu unternommen, daß wir Jesus und seine Kreuzigung kennenlernen. Wir sollen Jesus allerdings nicht dem Fleisch nach kennenlernen, sondern geistig. Dem Fleisch nach kannten ihn Paulus (2 Kor 5,16) und die Apostel zwar von Anfang an als Menschen, den sie im Fleisch sahen, im Geist aber erst, als sie den Geist der Erkenntnis empfingen, mit dem sie von oben bekleidet wurden. Aber nicht einmal da erkannten sie ihn in diesem irdischen Leben, wie er wirklich ist, vielmehr „in einem Rätselbild“ (1 Kor 13,12); aber sie machten Fortschritte, solange sie lebten, um, durch das Fortschreiten im Diesseits heftiger entbrannt, in der Heimat inniger mit ihm vereint das herrliche Erkennen zu erlangen. (2) Ich will aber heute über das Wissen um Jesus sprechen, soweit Gott es gegeben hat, damit du weißt, daß sich vor seinem Namen mit Recht jedes Knie beugen muß (Phil 2,10). Über seine Kreuzigung werde ich am Karfreitag sprechen. Was das Wissen über Jesus angeht, wollen wir unsere Aufmerksamkeit auf die Lesung richten etc. Diese Lesung eröffnet uns Kenntnis von Christus und fordert uns auf, untereinander genauso gesinnt zu sein (Phil 2,5), etc. Dies ist also der Gedankengang aus der Lesung: Christus war seinem Vater „gehorsam 1

Cusanus zitiert Jesaja hier nach der Septuaginta.

Predigt XXXI: Vor dem Namen Jesu

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bis zum Tod“ (Phil 2,8); so sollen auch wir sein! Christus hat die Herrlichkeit verdient; so werden auch wir sie verdienen. „Jedes Tun Christi dient unserer Unterweisung.“2 Der Reihe nach sind drei Punkte aus der Lesung festzuhalten: erstens, was „Jesus“3 bedeutet; zweitens, wie „vor ihm sich jedes Knie beugen muß“ (Phil 2,10).

2 3

Quellen: Predigt II, n.28, 24. Predigt XX, n.11-14; Predigt XXVII, n.1-18; Predigt XXVIII n.2-4.

Predigt XXXII In nomine Jesu Vor dem Namen Jesu Zeit: Fest: Ort: Zählung Koch: Edition: Deutsch:

5. April 1444 Palmsonntag Koblenz 24/II h XVII/1, 52-56 –

ZUSAMMENFASSUNG Der Glaube des Christen drückt sich körperlich und geistig aus: durch die Kniebeuge und durch das Bekenntnis zu Jesus Christus; insgesamt ergibt sich so die christliche Gesinnung (n.1-2). Jeder Gläubige ist dabei aufgefordert, auch intellektuell nach der Erkenntnis Gottes zu streben – unter der Voraussetzung des Glaubens, denn dieser ist die Bedingung jeder Gotteserkenntnis (n.3-4). Erkenntnis und Glaube müssen sich vor allem auf Jesus Christus richten, denn er hat die Wahrheit gebracht, er ist der Weg, der zum ewigen Leben führt (n.5-6).

BEMERKUNGEN Diese Predigt setzt Predigt XXXI vom selben Tag fort.

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Predigt XXXII Vor dem Namen Jesu (1) . Zwei Dinge scheint Paulus in der Entrückung gesehen zu haben, im „dritten Himmel“,1 also im intellektualen Himmel, weil er sagt: „Ich weiß nicht, ob im Leib oder außerhalb“ etc. (2 Kor 12,2), zwei Dinge, die allein er zu wissen glaubte, nämlich „Christus und ihn als den Gekreuzigten“ (1 Kor 2,2). Und obwohl Paulus im intellektualen Himmel, jenseits allen Verstandes, Christus geschaut hat, konnte er ihn uns in diesem sterblichen Leben nicht so enthüllen, wie er ihn gesehen hat, weil er sinnlich so nicht erfahrbar ist; auch er sah ihn nicht, wie er sichtbar ist, das heißt „wie er ist“ (1 Joh 3,2), weil er so nur oberhalb des dritten Himmels und aller Himmel „zur Rechten des Vaters in Herrlichkeit“ (Apg 7,56)2 thront; außerhalb dieser Herrlichkeit ist er unsichtbar. Er aber sah ihn, den jede Zunge in seiner Herrlichkeit bekennen muß, nur im intellektualen Himmel. Paulus aber erschließt diese Schau, aus der sich zweierlei ergibt: die Kniebeuge und das Bekenntnis. Den Philippern legt er auf dem Weg der Vergegenwärtigung und der Belehrung über ihr Leben dar, wie sie Christen seien, wenn sie nach dem Vorbild Christi lebten. Denn vorher hatte er ihnen die Schau des Evangeliums verkündet und offenbart. Das rief er ihnen jetzt in Erinnerung, damit sie auch wüßten, wie sie Christus gegenüber gesinnt sein sollten und wie folglich untereinander. (2) So will auch ich, der unwissende und von allen geringste Diener der Kirche, gemäß dem Auftrag der Kirche auf dem Weg der Rückbesinnung Paulus folgend, erschließen, wie ihr Christus gegenüber gesinnt sein müßt, um zum Beugen der Knie und zum Bekenntnis zu gelangen, und wie untereinander. Dazu will ich drei Punkte anschneiden: Wie ihr zur Schau Christi im dritten Himmel irgendwie emporsteigen müßt; zweitens, wie ihr ihm, den ihr so in diesem Himmel gefunden habt, Ehrerbietung entgegenbringen müßt durch Kniebeuge und Bekenntnis; und drittens, wie ihr untereinander so gesinnt sein müßt wie gegenüber Christus. Das wird in Worten angedeutet. Zuerst dort, : „vor dem Namen Jesu“ (Phil 2,10); der Name ist Begriff oder intellektuale Schau. Zweitens an dieser Stelle: „ soll sich beugen“ (Phil 2,10). Drittens an der Stelle: „jedes Knie“ (Phil 2,10). Und noch klarer wird es in der Lesung , die wir bedenken wollen: „so sollt ihr gesinnt sein“ etc. (Phil 2,5) 1

2

Glossa ordinaria zu 2 Kor 12,2 (VI, 447): „Der dritte Himmel ist die geistige Schau, wenn weder die Körper noch deren Abbilder gesehen werden, sondern das Schauen des Geistes durch die wunderbare Kraft Gottes bewirkt wird.“ Wortlaut aus dem Gloria der Messe: „qui sedes ad dexteram patris“.

Predigt XXXII: Vor dem Namen Jesu

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In der Lesung wird angesprochen: erstens, wie Christus Jesus, obwohl in der Gestalt Gottes und Gott gleich, die Gestalt eines Sklaven annahm; zweitens, wie er „gehorsam wurde bis zum Tod am Kreuz“ (Phil 2,8); drittens, wie er deswegen hoch erhoben wurde. Soweit zum ersten Teil. Dann folgt, daß die Erhöhung Christi so groß ist, daß „jedes Knie sich beuge im Himmel, auf Erden und unter der Erde.“ (Phil 2,10) Zuletzt sagt er: „Seid untereinander so gesinnt!“ (Phil 2,5) (3) Aber Paulus zeigt uns Christus nicht so, wie er selbst ihn im dritten Himmel geschaut hat, sondern er beschreibt erzählend, was er gesehen hat. Daher ist zunächst festzuhalten, daß Paulus in den dritten Himmel geführt wurde auf dem Weg der Entrückung, damit er dort schaue. Die Entrückung ist der Glaube, der den Menschen außerhalb des Körpers entrückt; und zum Geheimnis des Schauens kann nur gelangen, wer durch den Glauben in den dritten Himmel, den Ort der intellektualen Schau, entrückt wird. Denn der Glaube wird nur im Intellekt gefunden. Dann also, wenn der Intellekt durch den Glauben entrückt ist, kann er schauen. Voraussetzung jeglicher Erkenntnis ist der Glaube; dem höchsten Schauen muß der größte Glaube vorausgehen. Wir haben ja das Zeugnis der Propheten und Heiligen, wie wir durch den Glauben zum Schauen gelangen, sowohl in diesem Leben als auch ganz besonders im zukünftigen. Denn diesen unseren Glauben, der notwendig ist für das zukünftige Schauen, hat Christus uns eröffnet, weil es „ohne den Glauben unmöglich“ (Hebr 11,6) ist, zum Schauen der Herrlichkeit Gottes zu gelangen. Zuerst will ich also einige Worte über den Glauben vorausschicken; siehe dazu in meiner ersten Predigt.3 Ich behaupte also, daß ihr nicht erkennen werdet, wenn ihr nicht glaubt, wie Jesaja sagt (Jes 7,9).4 (4) Das Erkennen des Wahren ist das Schauen oder das Zurruhekommen des Intellekts und die Erlangung der Gotteskindschaft,5 weil „Gott die Wahrheit ist“.6 Daher wird zur Gotteskindschaft zuerst die Annahme gefordert, die durch den Glauben geschieht. An der Stelle : „Allen, die ihn aufnahmen, “ (Joh 1,12). Auch Johannes der Täufer sagt: „Wer aber sein Zeugnis annimmt, beglaubigt, daß Gott wahrhaftig ist“ (Joh 3,33). Und in der Offenbarung steht über Jesus: „ keiner kennt, der ihn nicht annimmt“ (Offb 2,17). 3 4 5 6

Nikolaus bezieht sich hier auf Predigt IV, im Sinne von erste von allen und grundlegende, nicht als zeitlich früheste. Dazu: MFCG 7 (1969), 42-44. Die Jesaja-Stelle wird nach der Septuaginta zitiert (vgl. Predigt XXXI, n.1, 14f.). Was Nikolaus in Abschnitt 4 darlegt, ist die Grundlage dessen, was er im darauffolgenden Jahr (1445) im ersten Teil von De fil. dei erklärt. Augustinus: De libero arbitrio II, 15, 39 (CCSL 29, 264, 5f.); De Trinitate VIII, 2, 3.

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Durch den Glauben also gelangt man zum Wissen. So lehrt es Jesus in Johannes 8: „Wenn ihr bei meinem Wort bleibt, seid ihr wahrhaft meine Jünger“ (Joh 8,31); und daraus ergibt sich: Weil ihr wahrhaft Jünger seid, „werdet ihr die Wahrheit erkennen“ (Joh 8,32). Und da wir nichts Anderes erstreben als die Befreiung vom Unwissen, folgt daraus: „Die Wahrheit wird euch frei machen“ (Joh 8,32). Aus dieser Lehre Christi sehen wir, daß wir mit größtem und standhaftestem Glauben danach streben müssen, „von Gott belehrt“ (Joh 6,45) zu werden. Dann werden wir die Wahrheit erkennen, läßt er uns doch nach dem Glauben nur deshalb streben, weil wir anders nicht zur Wahrheit gelangen können. Der Glaube ist also das, ohne das wir nicht imstande sind, zur intellektualen Schau zu gelangen. Denn der Glaube ist der Weg zum Schauen der Wahrheit. (5) Die Wahrheit aber ist „von oben“ (Joh 3,31) und „vom Himmel“7 und aus einem anderen Reich; sie vergeht nicht, sondern lebt ewig. Sie zu erreichen ist dein Bestreben. Du suchst den Weg, aber kein Mensch dieser Welt kann ihn dir zeigen, weil die Wahrheit „nicht von dieser Welt ist“ (Joh 18,36). Man muß sich also an einen „himmlischen Menschen“ (1 Kor 15,47-49) wenden. Jenen suchst du, du wendest dich an viele Irdische, bis du zum größten Irdischen kommst, dem Täufer, und du sagst: Sag du mir, da du „der größte bist unter den von einer Frau Geborenen“ (Mt 11,11): Bist du der Christus, der vom Himmel kommen soll, um uns den Weg zu weisen? Er antwortet: „Ich bin es nicht“ (Joh 1,20). Stattdessen zeigt er mit dem Finger auf jenen, indem er sagt, daß der über allen steht, weil er „von oben“ (Joh 3,31) gekommen ist; „und er bezeugt, was er gesehen und gehört hat, aber niemand nimmt sein Zeugnis an“. „Wer es aber annimmt, bezeugt, daß Gott wahrhaftig ist“ (Joh 3,32f.) etc. Also wendest du dich an ihn selbst und fragst ihn, woher er sei. Er antwortet, daß er ein König sei, aber nicht von dieser Welt, und daß er in die Welt gekommen sei, um Zeugnis abzulegen für die Wahrheit (Joh 18,37). Du fragst: Wo ist der Weg? Er antwortet: „Ich bin der Weg“ (Joh 14,6), „ich bin die Tür“ (Joh 10,7-9) etc. Wenn also Christus, der vom Himmel ist, Zeugnis ablegt über das, „was er gesehen und gehört hat“ (Joh 3,32), muß man ihm Glauben schenken, denn wenn du ihm glaubst und durch ihn eintrittst, wirst du „Weide finden“ (Joh 10,9). Würde ein Fremder einen glaubwürdigen Ortskundigen nach dem Weg fragen und dem gezeigten Weg folgen, würde er in dem Moment, wo er den Ort erblickt, erkennen, daß jener die Wahrheit gesagt hat. Und bäte einer einen sehr erfahrenen Arzt um ein Heilmittel und dieser verordnete ihm eine Medizin, wird der Kranke, wenn er dem Arzt vertraut, in der verabreichten Medizin das Gewünschte finden. Deswegen beachte, daß er sagt: „und er wird Weideland finden“ (Joh 10,9) etc.

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Evangelium des Nicodemus (Acta Pilati, 3,2), von Nikolaus zitiert in Predigt XXVIII, n.10, 27-29: „Jesus sagt: Die Wahrheit ist vom Himmel.“

Predigt XXXII: Vor dem Namen Jesu

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(6) Welches ist also der Weg? Es ist der Glaube an Jesus, weil Jesus selbst wahrer Gott und wahrer Mensch8 ist. Wie komme ich durch diesen Glauben an das Ziel meiner Sehnsucht? Er wird antworten, daß du, Mensch, weil du glaubst, daß Christus wahrer Mensch und wahrer Gott, Gott aber das Ziel der Sehnsucht ist, durch diesen Glauben erfährst, daß der Mensch ans Ziel seiner Sehnsucht kommen kann, wenn er christusförmig wird. Und dies ist zu beachten: Weil das Ziel der Sehnsucht ja darin besteht, in Ewigkeit in der Wahrheit des unsterblichen Lebens zu bleiben, ist es nötig, demgemäß den Glauben an Christus zu haben und nicht im Fleisch, sondern im Geist zu wissen etc.

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Glaubensbekenntnis von Chalcedon (ES33, n.301).

Predigt XXXIII In nomine Jesu Vor dem Namen Jesu Zeit: Fest: Ort: Zählung Koch: Edition: Deutsch:

5. April 1444 Palmsonntag Koblenz 24/III h XVII/1, 57-60 –

ZUSAMMENFASSUNG Christlicher Glaube heißt für Cusanus das Bekenntnis zum Königtum Christi, die Verehrung seiner Person und die richtige Gesinnung der Gläubigen untereinander (n.1-2). Der Glaube ist dabei die Voraussetzung zur Erkenntnis der Wahrheit; der Unglaube kann die Wahrheit nicht finden (n.3). Der Intellekt muß sich aber zudem bemühen, die Person Jesu zu verstehen, um theologisch richtige Aussagen über seine Göttlichkeit zu finden und das Verhältnis des Sohnes zum Vater zu klären (n.4-5).

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Predigt XXXIII Vor dem Namen Jesu (1) „Vor dem Namen Jesu “ etc. (Phil 2,10) Zunächst soll das Geschehen gemäß dem Evangelium vorgestellt werden: wie unser König heute in Jerusalem eingezogen ist, und wie die, „die vor ihm hergingen und die, die ihm folgten, riefen: Hosanna“ etc. (Mt 21,9) Und daß alle das mit Fug und Recht taten, zeigt Paulus in seinem Brief (Phil 2,5-11). – Lasset uns beten etc. (2) Wie Paulus diesen Brief geschrieben hat; ferner, wie der Brief berichtet und wie er zu verstehen ist.1 Zunächst über jenes „daß“ (Phil 2,11); das legt er nämlich zugrunde, und das ist der Glaube; an dieser Stelle über den Glauben. Zweitens über eine Reihe von Erzählungen über Christus. Drittens über drei Folgen. Die erste: „Deswegen hat Gott ihn erhöht“ (Phil 2,9). Die zweite in Bezug auf die Geschöpfe: „damit vor dem Namen Jesu (Phil 2,10). Die dritte in Bezug auf die Gleichartigkeit : „Seid untereinander so gesinnt!“ (Phil 2,5) (3) Im ersten Punkt soll es darum gehen, inwiefern der Glaube notwendig ist zum Erkennen: „Wer sich nähert, muß glauben“ (Hebr 11,6); über die Tiefe des Glaubens, über das, was durch die Entrückung des Paulus besiegelt ist, und wie man in der Tiefe des Glaubens vordringt zum Schauen; und wie nach Paulus „Gott alles eingeschlossen hat im Unglauben, um sich aller zu erbarmen“ (Röm 11,32); und welches das Ziel des Glaubens ist. Und warum es unmöglich ist, daß die Ungläubigen zur letzten Wahrheit gelangen, weil sie nicht an sie glauben. Und wie der Glaube an Christus schon in diesem Leben nährt und führt, damit wir sehen, wohin wir geführt werden etc. (4) Zweitens heißt es in dem Brief folgerichtig: „Obwohl er Gott gleich war“ (Phil 2,6). Zum Verständnis dieser Aussage: inwiefern „Gott reine Wirklichkeit“2 ist und so „Ursprung, Mitte und Ziel“ aller Möglichkeit, und wir deswegen „in ihm sind und uns bewegen“ (Apg 17,28) und er „alles in allen wirkt“ (1 Kor 12,6). Damit dies stufenweise, aufsteigend vom sinnlich Wahrnehmbaren aus, erfaßt wird, soll es an dieser Stelle eine Handleitung geben, wie das Sehenkönnen unbegrenzt ist: Weder wird das Auge satt vom Sehen, noch das Ohr vom Hören. Das Schauen also, durch das das Sehen selbst das ist, was es ist, ist Wirklichkeit etc. Ohne Begrenzung sehen zu können zeigt, daß das absolut unendliche Schauen als Wirklichkeit Gott ist. Aber bemerke, daß das der Intellekt, nicht das Auge vollbringt. 1 2

Vgl. Predigt XXXI, n.2 und Predigt XXXII, n.1. Thomas von Aquin: Summa contra gentiles I, c.43; Summa theologica I, q.3, a.2; Bonaventura: In sententias I, dist. 43, q.3; Raimundus Lullus: Liber de praedicatione, dist. I partis 3, pars 1.

Predigt XXXIII: Vor dem Namen Jesu

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Und so steige auf von den sinnlich wahrnehmbaren Dingen zum Allgemeinsinn und von ihm zum Verstand, vom Verstand zum Intellekt. Und so wirst du einigermaßen sehen können, wie unübertroffen wahr es ist, daß ohne die eine, reinste Wirklichkeit nichts sein kann, wenn auch jene Wirklichkeit an sich (1 Joh 3,2) nicht faßbar ist, weil durch den Intellekt immer mehr erfaßt werden kann. Dann an der Stelle: „als Gott gleich“ (Phil 2,6) erwies er sich, nämlich er, Jesus, als Gott und als das Wort oder Name oder Gleichheit des Vaters. Der Sohn ist Gott Vater gleich im Göttlichen. Wie die Möglichkeit alles, was sie ist, durch die Wirklichkeit ist, und die Möglichkeit der Wirklichkeit angeglichen wird; die reinste und unendliche Wirklichkeit ist die Wirklichkeit der unendlichen Möglichkeit oder Kraft. Die Unendlichkeit der Wirklichkeit aber und die Unendlichkeit der Möglichkeit ist die ungeteilte Unendlichkeit, das heißt die Göttlichkeit. Also ist der Sohn dem Vater gleich, und er ist die Gleichheit3 selbst oder die Wahrheit, durch die alles das ist, was es ist. Denn alles, was ist, ist insoweit es ist, nicht kleiner und nicht größer, als es ist. Die Gleichheit des Allesseienden ist also die Wahrheit eines beliebigen Seienden, das ist, und so die Möglichkeit des Vaters und die absolute Gleichheit etc. (5) Es folgt: „wie ein Sklave“ (Phil 2,7). Jedes Geschöpf hat einen Schöpfer als Herrn, aber das mit Verstand ausgestattete Geschöpf muß ihn mit Hilfe des Verstandes als Herrn anerkennen. Und es wird als sklavisch bezeichnet, weil es Eigentum des Herrn ist etc. Daher wollte die unendliche Wirklichkeit, also der Vater, der unendliche wirkmächtige Macht hat, das heißt den Sohn, daß dieser Sohn wie ein Sklave werde. Das bedeutet, daß der Vater wollte, daß seine Macht im Bereich des Göttlichen in sich selbst begrenzt sei, damit so das größte Wirken in der Macht des Sohnes begrenzt sei.

3

Vgl. zu dieser Kennzeichnung Christi den augustinischen Trinitätsternar unitas – aequalitas – connexio: Einheit – Gleichheit – Verbindung.

Predigt XXXIV Oportuit Christum pati Christus mußte leiden Zeit: Fest: Ort: Zählung Koch: Edition: Deutsch:

10. April 1444 Karfreitag Koblenz „in monasterio“ 25 h XVII/1, 61-62 –

ZUSAMMENFASSUNG Christus mußte leiden und sterben, weil er der gute Hirte ist und weil er um der Gerechtigkeit willen Genugtuung für die Sünden der Menschen leisten wollte (n.1). Christus zeigt dabei im letzten Abendmahl, wie der einzelne in Liebe in der Welt leben soll; sein Gehorsam in der Passion verdeutlicht, wie der einzelne die Welt im Gehorsam und im Vertrauen auf Gott verlassen soll (n.2).

BEMERKUNGEN Daß „alles in sieben Schritten geschieht“, wie Cusanus in n.3 erklärt, ist eine geistliche Tradition, die er hier auf die Passion Christi anwendet. Vgl. etwa beim Straßburger Franziskaner und Zeitgenossen Meister Eckharts, Rudolf von Biberach († nach 1326): Die sieben Straßen zu Gott. Weite Verbreitung fand dieses Motiv etwa hundert Jahre nach Cusanus durch Teresa von Ávila († 1582): Die Seelenburg.

LITERATUR Albert Dahm: Die Soteriologie des Nikolaus von Kues. Ihre Entwicklung von seinen frühen Predigten bis zum Jahr 1445 (BGPhThMA N.F. 48), Münster 1997, 235-251, bes. 237-239.

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Predigt XXXIV Christus mußte leiden (1) „Christus mußte leiden und so eintreten in seine Herrlichkeit“, Worte Christi, Lukas, letztes Kapitel (Lk 24,26). „Christus mußte leiden“, weil „er der treue Zeuge “ (Offb 1,5). Und davor eine Einführung: in welcher Weise das treue Zeugnis des Herrn Weisheit an den Tag legt (Ps 19[18],8); und die Worte, die er zu Pilatus sprach: „Dazu bin ich geboren“ (Joh 18,37). Er mußte , weil „er der gute Hirte “ (Joh 10,11) etc. Und wie er gestorben ist, um Genugtuung zu leisten um der Gerechtigkeit willen, wie Anselm es darstellt etc.1 Er mußte , weil „er der Erstgeborene der Toten “ (Kol 1,18). Diesen Teil werde ich für das Fest der Auferstehung aufheben. Er mußte , weil „er der Lehrer “ (Mt 23,10), der „durch Wort und Vorbild“ (Joh 13,13) uns den Weg zur unvergänglichen Weisheit zeigt. (2) Die ganze Lehre Christi geht – nach dem Glauben – auf in der wahren Liebe. Daher will ich aufzeigen, wie Christus durch Wort und Vorbild gezeigt hat, daß die Liebe unerläßlich ist, um das wahre Leben zu erlangen. Erstens lehrt er uns, wie man in dieser Welt in der Liebe wandeln muß (Röm 14,15; Eph 5,2; 2 Joh 6). Dieser Teil umfaßt alles, was Christus beim Letzten Abendmahl getan hat. Zweitens lehrt er uns, wie man in der Liebe aus dieser Welt scheiden muß. Dieser Teil umfaßt die Taten Christi von der Stunde an, als er aus Jerusalem wegging „auf die andere Seite des Baches Kidron“ (Joh 18,1) bis zu seiner Auferstehung vom Tod. (3) Der zweite Teil, das heißt das Scheiden aus dieser Welt (Joh 13,1), vollzieht sich in sieben Schritten, weil alles in sieben Schritten geschieht.2 Zunächst vollzieht sich ein Wandel, wo der eigene Wille losgelassen und dem Gehorsam gegenüber dem geliebten Gott unterworfen wird. Und dieser Wille wird vom Abschiedsmahl bis zum Garten Gethsemane unter Beweis gestellt. Der zweite Abschnitt ist da, wo dieser Wille sich in der Gefangennahme und der Fesselung zeigt; das ist vom Garten bis zu Annas. Der dritte, wo er sich in der Gefangenschaft manifestiert: von Annas bis Kaiphas. Der vierte, wo sich der Wille bei der Anklage zeigt: von Kaiphas zu Pilatus. Der fünfte, wo der Wille bei der Verspottung zutage tritt: von Pilatus zu Herodes. Der sechste, wo der Wille bei der Geißelung zum Ausdruck kommt: von Herodes zu Pilatus. Der siebte, wo der Wille sich im Äußersten und Entsetzlichsten, nämlich im „schändlichsten Tod“ (Weish 2,20) zeigt: von Pilatus bis zur Kreuzigung.

1 2

Anselm von Canterbury: Meditatio redemptionis humanae. Vgl. auch Predigt XXXV, n.3, 1-51. Vgl. auch Predigt XXVIII.

Predigt XXXV Oportuit Christum pati Christus mußte leiden Zeit: Fest: Ort: Zählung Koch: Edition: Deutsch:

10. April 1444 Karfreitag Koblenz 26 h XVII/1, 63-68 –

ZUSAMMENFASSUNG Christus mußte leiden und sterben, um durch sein Opfer die Sünder zu retten und um Zeugnis für die unsterbliche Wahrheit abzulegen (n.1-2). Cusanus zitiert ausführlich Anselm von Canterbury, um darzulegen, daß Jesus freiwillig zur Wiederherstellung der Gerechtigkeit Gottes in den Tod gegangen ist (n.3). Dazu ist der Tod Christi aber auch ein Verweis auf die Herrlichkeit Gottes, die der im Diesseits verhaftete Mensch sonst nicht erkennen könnte (n.4). Die wahre Einsicht in die menschliche Natur und das Ziel des Lebens kann zudem nur intellektuell erfolgen (n.5). Die Passion Christi verdeutlicht drei Aspekte: Sie begründete das Meßopfer der Kirche; sie zeigt in der Flucht der Apostel und dem Verrat des Judas die menschliche Schwäche; sie gibt im Leiden Jesu ein Beispiel für christliche Leidensbereitschaft (n.6). Insgesamt zeigen das Handeln und Reden Christi, daß dieses Leben auf das jenseitige Leben ausgerichtet sein muß, der Gläubige soll es wie ein Werkzeug, ein Schiff oder ein Pferd auf dem Weg zu Gott gestalten (n.7).

LITERATUR Albert Dahm: Die Soteriologie des Nikolaus von Kues. Ihre Entwicklung von seinen frühen Predigten bis zum Jahr 1445 (BGPhThMA N.F. 48), Münster 1997, 235-251, bes. 240-247.

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Predigt XXXV Christus mußte leiden (1) „Christus mußte leiden und so in seine Herrlichkeit eintreten.“ (Lk 24,26) An diesem Tag des Jahres hat nach der Erinnerung der Kirche unser Herr Jesus Christus „den schmählichsten Tod“ (Weish 2,20) erlitten, da er „gehorsam war bis zum Tod, “ (Phil 2,8). „Die heilige Mutter Kirche“1 aber wollte, daß in jährlicher Wiederkehr die Erinnerung an sein Leiden ehrfürchtig wiederholt werde, weil daraus heilbringende Frucht erwächst. Siehe in einer anderen Predigt.2 (2) „Christus mußte leiden und so eintreten “. Christus mußte leiden, weil er „in diese Welt gekommen ist, um die Sünder zu retten“ (1 Tim 1,15). Um ihretwillen mußte er also leiden, damit sie durch sein Opfer gerettet würden. Noch einmal: „Christus mußte leiden und so in seine Herrlichkeit eintreten“, weil „seine Herrlichkeit das ewige Leben ist“,3 das unsterbliche. Zum unsterblichen Leben kann kein Sterblicher gelangen, wenn er nicht vorher seine Sterblichkeit abgelegt hat. Diese kann nur durch den Tod abgelegt werden. Christus mußte leiden, weil er nur so das entscheidende Zeugnis für die Wahrheit ablegen konnte; denn dazu war er geboren etc. (Joh 18,37) (3) Anselm fragt, „ob es wirklich eine zwingende Notwendigkeit dafür gab, daß der Höchste sich derart erniedrigte und der Allmächtige solche Mühen auf sich nahm, um etwas Notwendiges zu tun?“ Er antwortet: „Jede Notwendigkeit und jede Unmöglichkeit unterliegt seinem Willen. Was er will, muß notwendigerweise sein; und was er nicht will, kann unmöglich sein. Allein durch seinen Willen also macht er das, was er macht. Und weil dieser Wille immer gut ist, handelt er allein aus Güte. Das alles mußte die menschliche Natur notwendigerweise tun, um zu dem zurückgeführt werden zu können, wozu sie geschaffen worden war. Doch weder sie, noch irgendetwas, das nicht Gott ist, konnte dem gerecht werden. Denn der Mensch wird zu dem, wozu er bestimmt ist, nicht wiederhergestellt, wenn er nicht zur Ähnlichkeit mit den Engeln gelangt, bei denen es keine Sünde gibt. Das aber kann unmöglich ohne die Vergebung aller Sünden geschehen; Vergebung geschieht nicht ohne vorausgehende umfassende Buße. Diese muß so sein, dass der Sünder selbst oder irgendjemand an seiner Stelle Gott etwas von dem Seinen gibt, was nicht geschuldet ist, was alles übertrifft, was nicht Gott selbst ist. Denn wenn Sündigen bedeutet, Gott zu entehren – was der Mensch nicht tun dürfte –, fordern doch die unveränderliche Wahrheit und der klare Verstand, daß derjenige, der sündigt, Gott für die ver1 2 3

Augustinus: In Evangelium Iohannis, tr. 35. Dies bezieht sich wohl nicht auf Predigt XXXIV, sondern eher auf Predigt III, n.1-2 und n.9-14. Bonaventura: Commentarius in Lucam, 18, 30 (7, 467 ab n.51).

Predigt XXXV: Christus mußte leiden

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letzte Ehre etwas Größeres zurückgeben muß, als es das ist, weswegen er ihn nicht hätte entehren dürfen, selbst wenn zwangsläufig irgendetwas zugrunde geht, was nicht Gott selbst ist. Weil die menschliche Natur allein das nicht vermochte, sie aber ohne die geschuldete Buße nicht versöhnt werden konnte, kam die Güte Gottes zu Hilfe, damit nicht die Gerechtigkeit Gottes in seinem Reich die gegen die Ordnung verstoßende Sünde bestehen lasse. Und diese nahm der Sohn Gottes in seine Person auf, damit in dieser Person der Mensch Gott sei und die Macht habe, nicht nur alles Sein zu überwinden, das nicht Gott ist, sondern auch alle Schuld, die die Sünder zu begleichen haben. Und obwohl er für sich selbst frei von Schuld war, beglich er diese stellvertretend für die anderen. Denn kostbarer ist das Leben jenes Menschen als all das, was nicht Gott ist, und es überwindet alle Schuld. Denn wenn sein Tod jegliche Zahl und Schwere der Sünden besiegt, die außerhalb der Person Gottes vorstellbar sind, ist offenkundig, daß sein Leben besser ist als alle Sünden schlecht sind, die es außerhalb der Person Gottes gibt. Dieses Leben hat er als Mensch, der nicht wegen einer Schuld sterben mußte, da er kein Sünder war, freiwillig hingegeben zur Ehre seines Vaters, als er zuließ, daß man es ihm um der Gerechtigkeit willen nahm, damit er allen ein Beispiel dafür gebe, daß die Gerechtigkeit selbst dann nicht aufgegeben werden darf, wenn es das Leben kostet.“4 Sieh das Ganze. (4) Das gleiche auf andere Art so : Der Mensch, der von Adam abstammt, richtet, seinem natürlichen Ursprung gemäß, sein ganzes Verlangen auf das Leben im Diesseits. Denn der Mensch dieser Welt versteht es nicht, das zu erstreben, was gegen diese Welt ist, so wie das Auge nicht in der Lage ist, das Hörvermögen zu erstreben, sondern nur nach der Vollendung seiner Aufgabe strebt, gut zu sehen. Das irdische Verlangen drängt den Menschen aber, hier sein Verweilen zu suchen. Aber da der Mensch nicht wußte, daß er die Fähigkeit zu einem anderen Leben in sich trägt, konnte er nach jenem Leben auch nicht streben. Von Geburt an war der Mensch also unwissend. Damit er aber wissend werde und sein höchstes Ziel erreiche, hat die Weisheit sich in die menschliche Natur gehüllt. Und Christus, die Weisheit Gottes, Gott und Mensch zugleich, wurde unsere Weisheit (1 Kor 1,30), damit wir in ihm die Sehnsucht nach der anderen Welt verspüren. Und weil unsere hinfällige Natur nicht emporgetragen werden könnte, wenn nicht die irdischen Begierden in dieser unserer Natur abgetötet würden, ist Christus, in dem die Fülle ist, derjenige, der alles ersetzt, was uns mangelt. 4

Anselm von Canterbury: Meditatio redemptionis humanae (Fr. S. Schmitt 3, 86 sq., lin. 59-63; 69-97). Dieser Auszug aus der Meditation Anselms findet sich im Cod. Cus. 61, fol. 17rb, lin. 31-fol. 17va, lin. 12. Den Codex hatte Nikolaus aber nicht zur Hand, als er diese Predigt verfaßte; denn der Predigttext weicht an vielen Stellen von der Vorlage ab.

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Wir müssen also in ihm, der kam, um all unseren Mangel zu beheben, die Befreiung von all unseren weltlichen Begierden finden. Die Reinigung von diesen Begierden aber geschieht durch eine fühlbare Strafe. Deshalb etc. (5) Und gib acht: Wenn du erkennst, daß Christus die menschliche Natur aller Menschen hat, und daß er Mensch ist nicht in der Breite der menschlichen Gattung, aber auch nicht außerhalb ihrer, sondern als ihr vollkommenster Ausdruck, erkennst du klar, wie viel inniger deine menschliche Natur in ihm ist als in deinem Bruder, deinem Sohn oder deinem Vater. Erreicht sie doch in dieser überaus kostbaren Identität, die unter Wahrung individueller Differenz weitergegeben werden kann, erst „die ganze Fülle“ (Kol 1,19; Eph 3,19). Aber die menschliche Natur kann das Leben der anderen Welt nur im intellektualen Geist erstreben. Und weil das Ziel des geistigen Strebens das Ziel der Liebe oder der Sehnsucht ist, kann er sein Ziel auf dem richtigen Weg erreichen, wenn er sich „durch Christus zu Gott“ (2 Kor 3,4), dem Vater, hinwendet. Wenn er sich aber abwendet, verfehlt er das Ziel der Erlösung. Der zweite Abschnitt soll bis zum Osterfest aufgehoben werden. Der dritte soll so ausgeführt werden wie in der anderen Predigt, die ich am gleichen Tag im Münster gehalten habe.5 (6)6 Man kann die Passionsgeschichte in sieben Abschnitte unterteilen, wie an anderer Stelle .7 Im ersten ist besonders zu beachten, wie das Amt in der Kirche 8 besteht. Außerdem, wie Christus sich als lebendige Speise hingab; und über das Geheimnis der Messe und über die Kommunion einiges an dieser Stelle. Auch, daß die Kirche niemals vergeht. Im zweiten Teil über das dreifache Gebet: wie zuerst dem Intellekt die Trennung vom Körper äußerst hart erschien, so wie des Liebenden vom Geliebten etc. Ebenso, wie dem Verstand diese Trennung als Schmach vor Augen stand; und als Verhöhnung etc. Ferner, wie sich den Sinnen diese Trennung mit schlimmstem Schmerz darbot etc. Dann, wie in ihm die göttliche Macht erstrahlte: „Wen sucht ihr?“ (Joh 18,4) Dann, wie schwach die menschliche Natur sich erweist in der Flucht der Apostel. Ferner, wie groß die Tollkühnheit bei den Enttäuschten , die Habgier bei Judas etc. Ebenso, welche Anleitung zum Beten wir daraus ziehen müssen. Dann, wie wir in jeglicher Drangsal an unsere Freunde denken müssen, weil er gesagt hat: „Laßt diese gehen!“ (Joh 18,8) Ferner über die Güte Christi, der Malchus (Joh 18,10) heilte; und über die Verhärtung der Juden, die weder dadurch noch durch ihr Niederstürzen bekehrt wurden.

5 6 7 8

Predigt XXXIV, n.1, 13-n.3, 20. Für diese Predigt hat Nikolaus auch die folgende Einteilung der Passion in sieben Abschnitte niederzuschreiben begonnen, aber er hat sie verworfen. Predigt XXVII, n.5, 1-11; Predigt XXVIII, n.5, 8-13. Vgl. Predigt XXVII, n.6, 1-3.

Predigt XXXV: Christus mußte leiden

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Im dritten Teil müssen wir erwägen, wie er in entehrender Weise vom Garten zu Annas geschleppt wurde. Ebenso, wie er im Haus des Annas angeklagt wurde; und über seine Geduld. Dann über die falschen Zeugenaussagen. außerdem über die ungerechten Schläge; und hier: „Wenn dich einer schlägt“ etc. (Mt 5,39) Ferner über die drei Jünger, die Christus folgten: der eine floh nackt, der zweite war Petrus, der ihn verleugnete; und der dritte Johannes. Warum Gott es zuließ, daß Petrus verleugnete; sein Ausspruch etc. Wer jener Nackte? etc. (7) Du sollst verstehen, daß in Christus unsere Natur erneuert wird für das ewige Leben, so wie wir in Adam geschaffen sind, um in dieser Welt zu leben. Aber in erster Linie zeigt das ganze Handeln und Reden Christi, daß wir dieses Leben nur ausgerichtet auf das andere gebrauchen dürfen, nämlich als Werkzeug zum Hinübergehen, wie ein Schiff , um in See zu stechen. Denn niemand wird sich darum kümmern, ob das Schiff schön ist, ob es bemalt ist, ob es aus wertvollem Holz gebaut ist etc. Vielmehr wünschte er, das Schiff sei so beschaffen, daß es sich für die Schiffahrt gut eigne; also solide, haltbar, nicht zerbrechlich, nicht leckgeschlagen und geborsten, sondern unversehrt, dicht, nicht zu schwer beladen, eher zu wenig als zu viel, vielleicht sogar unbeladen, nur ausgestattet mit dem nötigsten Proviant etc. So möchte der, der auf Wanderschaft geht, keinen allzu fetten, ungehorsamen und störrischen Esel haben, auch kein wildes Pferd, sondern ein wohlgezügeltes, gutgenährtes, für die bevorstehenden schweren Anstrengungen geeignetes etc. Daher kommt es, daß Christus nicht in eine reiche Familie geboren wurde, die im Überfluß lebte, auch nicht in eine so arme, daß es am Nötigsten gefehlt hätte. „Er wurde geboren“ (Lk 2,11), wenn auch nicht in einem Königspalast, so doch nicht unter freiem Himmel. Wenn er auch keine Wiege hatte, so hatte er doch eine Krippe. Und wenn er auch keine Decke aus Leinwand hatte, so hatte er doch genügend Windeln.

Predigt XXXVI Christ ist erstanden1 Zeit: Fest: Ort: Zählung Koch: Edition: Deutsch:

12. April 1444 Ostern Koblenz 27 h XVII/1, 69-71 –

ZUSAMMENFASSUNG Cusanus verdeutlicht das Passionsgeschehen mit einigen Bemerkungen zur Anthropologie: Der Mensch ist die Einheit von Leib und Seele. Da diese Einheit im Tod verloren geht, ist der Mensch sterblich. Gott, der die aktualisierte Kraft der Erkenntnis ist, war nur in seinem angenommenen Menschsein sterblich; seine Göttlichkeit war immer unsterblich, so wie das Licht der Sonne weiterscheint, wenn das irdische Feuer schon verloschen ist (n.1-2). Die Auferstehung Christi ist eine Tatsache, die von den Aposteln verbürgt wird und von den Gläubigen angenommen werden muß (n.3); die Erwartung der eigenen Auferstehung ist Trost und Hoffnung der Christen (n.4).

LITERATUR Albert Dahm: Die Soteriologie des Nikolaus von Kues. Ihre Entwicklung von seinen frühen Predigten bis zum Jahr 1445 (BGPhThMA N.F. 48), Münster 1997, 235-251.

1

Das Fehlen eines lateinischen Predigttitels ist darauf zurückzuführen, daß Cusanus über ein deutsches Kirchenlied predigt.

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Predigt XXXVI Christ ist erstanden (1) „Christ ist erstanden“2 etc. Zum Verständnis dieses volkstümlichen Liedes will ich ganz kurz drei Punkte ansprechen: Erstens, wie wir verstehen müssen, daß Christus auferstanden ist; zweitens, wie die Auferstehung zu unserer Kenntnis gelangt ist; drittens, wie wir in ihm auferstehen müssen. (2) Zum ersten Punkt sollen drei Gedanken im Hinblick auf das Verständnis deutlich werden: erstens im Hinblick auf die Wortwahl des Kirchenliedes, zweitens im Hinblick auf die Möglichkeit der Auferstehung und drittens im Hinblick auf deren Notwendigkeit. Zunächst sollen die Begriffe erklärt werden: was bedeutet „Christus“, was „Auferstehung“, was „Marter“, was „Tröstung“ oder „Trost“ und was „kyrie eleison“? Zwei Überlegungen zur Möglichkeit : erstens, ob die Auferstehung Christus angemessen sein kann, obwohl er Gott ist und obwohl das Leben niemals von der Seele und dem Körper getrennt worden ist; denn Göttlichkeit ist Leben. Und an der Stelle soll angesprochen werden: „Was ist der Mensch?“ (Ps 8,5; Hebr 2,6) – natürlich die Einheit von Seele und Leib.3 Und was ist das Menschsein? Und wie blieb das Wesen des Menschseins geeint mit der Göttlichkeit und dem Leben? Der Mensch war doch gestorben. Und an dieser Stelle über das „Weizenkorn“ (Joh 12,24f.). Ferner, was ist Gott? – selbstverständlich „Geist“ (Joh 4,24; 2 Kor 3,17), das heißt aktualisierte Kraft der Erkenntnis. Zweitens, wie die Menschennatur in ein und derselben Person mit der göttlichen Natur vereint war und wie sie durch die Einheit mit der göttlichen Natur unsterblich war. Eingeschränkt durch die formale Verbindung mit dem Menschen Christus war sie sterblich; das bedeutet, daß das Leben oder die menschliche Gestalt den Menschen verlassen konnte, aber gleichzeitig in der Einheit des unsterblichen Gottes blieb; das heißt: „die Einheit von Körper und Seele hörte auf zu bestehen“.4

2

3 4

Zur Entstehung und Verbreitung dieses Kirchenliedes vgl. Walter Lipphardt: ‚Christ ist erstanden‘ (Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon I [1978] 1197-1201). Zur Textgeschichte: Philipp Wackernagel: Das deutsche Kirchenlied von der ältesten Zeit bis zu Anfang des XVII. Jahrhunderts (1867), Nr. 39-42. 935-951. Thomas von Aquin: Summa contra gentiles II, c.56-78; c.57; Summa theologica I, q.75-93. Thomas von Aquin: Summa theologica III, q.50, a.4 ad I.

Predigt XXXVI: Christ ist erstanden

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Daher war der Mensch sterblich, weil die „Trennung der Seele vom Körper“5 möglich war. Und daraus ergibt sich: Während die Menschennatur im Menschen besteht, solange er lebt, geht nach dem Tod des Menschen das Wesen des Menschseins oder das Menschsein im eingeschränkten, zählbaren Sein verloren. Ein Beispiel dafür ist das Sonnenlicht, das auch „eine Form des Feuers“6 ist. Nimm an, daß das Licht der Sonne durch seine Strahlen auf einem Spiegel ein Feuer entzündet, das Werg zum Brennen bringt: Der Schein jenes Feuers erlischt im Werg, wenn das Werg abgebrannt ist, aber in der Sonne erlischt er nicht. Daher ist jenes Licht wesensmäßig immerwährend in der Sonne vorhanden, weil es in ihr für immer hinzugefügt ist, aber im Feuer ist es, da nur eingeschränkt hinzugefügt, vergänglich entsprechend der Vergänglichkeit des Hinzugefügten. Ferner, wie die Auferstehung nur in Christus möglich war. Denn zur Unvergänglichkeit kann nichts auferstehen, das nicht im Unvergänglichen grundgelegt wäre. Dann, wie er auferstehen mußte. (3) Zum zweiten Punkt, wie zu unserer Kenntnis gelangt ist, heißt es, „durch viele Beweise“ (Apg 1,3) oder Zeichen, damit sie gläubig angenommen würde, wie es in der Apostelgeschichte im ersten Kapitel heißt. Diese Beweise sollen in ihrer Erfahrbarkeit erklärt werden. Dann, inwiefern sie Zeichen sind zum Verstehen der Auferstehung, sozusagen der Sinn der Schrift in Bezug auf die Auferstehung. (4) Drittens, inwiefern jene Auferstehung „unser Trost“ (2 Kor 1,5) ist: , weil unsere Natur auf Unsterblichkeit ausgerichtet ist. Zweitens, „weil unser Leben in Christus verborgen ist“ (Kol 3,3). Wenn wir „Christus gehören“ (1 Kor 3,23), werden wir auch in ihm auferstehen, „der der Erstgeborene der Toten ist“ (Offb 1,5; Kol 1,18). Ferner drittens, weil wir durch den moralischen Schriftsinn belehrt sind, wie wir zu einer glücklichen Auferstehung gelangen können, wenn wir mit Christus sterben, weil wir dann auch mit Christus auferstehen (Röm 6,8).

5 6

Plato: Phaidon 67d 4f.; Bernhard von Clairvaux: De divinitate Sermo 116; Thomas von Aquin: Summa contra gentiles II, c.57. Meister Eckhart: In Ecclesiasticum 24, 29. In Cod. Cus. 21, fol. 81vb notiert Nikolaus am Rand zu der Stelle: „ein hervorragendes Beispiel“.

Predigt XXXVII Paraclitus autem Der Beistand aber Zeit: Fest: Ort: Zählung Koch: Edition: Deutsch:

31. Mai 1444 Pfingsten Koblenz 28 h XVII/1, 72-100 –

ZUSAMMENFASSUNG Der Heilige Geist unterweist den Menschen, durch ihn berührt er das geistige Sein, der Geist gibt die Kraft, das Wort Gottes zu predigen und zu verstehen (n.1). Auch die Predigt Christi konnten die Apostel ohne den Beistand des Geistes nicht verstehen; damit seine Predigt nach seiner Himmelfahrt in der rechten Weise weitergegeben wird, hat er die Sendung des Heiligen Geistes versprochen (n.2-3). Der Geist Gottes zeigt sich dabei in verschiedenen Formen, aber alle zur Erkenntnis befähigten Geschöpfe sind in ihrer Erkenntnis auf den Geist als den Garanten der Wahrheit angewiesen (n.4-7). Obwohl Jesus den guten Geist Gottes verkündet hat, neigen die Menschen wegen ihres freien Willens dazu, dem bösen Geist zu folgen. Es kommt daher für den einzelnen darauf an, den richtigen Geist zu erkennen, der die Tugenden verbindet und das Ziel jedes intellektuellen Strebens sein soll, um so auch richtig handeln zu können, denn in einer schlechten Handlung ist niemals der Geist Gottes (n.8-14). Der Beistand des Geistes kann jedoch nicht durch menschliche Anstrengung erlangt werden, er ist ein Geschenk allein aus Gnade; deshalb zeigt sich das Wirken des Geistes besonders in der Liebe, die das Leben der Seele ist. Die Abwesenheit des Geistes zeigt sich dagegen in der Sünde (n.15-19). Weil der Geist der Ausweis der Liebe Gottes ist, wird er auch Tröster, Lehrer und Ermutiger genannt (n.20-21).

BEMERKUNGEN Im Manuskript der Predigt finden sich drei Abschnitte, die Nikolaus zwar konzipiert, dann aber verworfen und neu verfaßt hat, davon sind zwei die Skizzen einer Einleitung. Da sie das gleiche Thema behandeln, zeigen diese Entwürfe, daß Nikolaus seine Predigten nicht als Gelegenheitsarbeiten gesehen, sondern sich intensiv mit seinen Themen auseinandergesetzt hat.

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

LITERATUR Klaus Reinhardt: L‘Esprit Saint, comme accomplissement de la Trinité, d‘après les Sermons de Nicolas de Cues pour la Pentecôte, in: La Trinité chez Eckhart et Nicolas de Cues, Marie-Anne Vannier (éd.), Paris 2009, 155-168, bes. 157f.162-164. Albert Dahm: Die Soteriologie des Nikolaus von Kues. Ihre Entwicklung von seinen frühen Predigten bis zum Jahr 1445 (BGPhThMA N.F. 48), Münster 1997, 174-177.

Predigt XXXVII: Der Beistand aber

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Predigt XXXVII Der Beistand aber (1) „Der Beistand aber, der Heilige Geist, den der Vater in meinem Namen senden wird, wird euch alles lehren und euch an alles erinnern, was ich euch gesagt habe“ (Joh 14,26). „Die Gnade des Heiligen Geistes“ (Apg 10,45), dessen Herabkunft auf die Kirche wir Jahr für Jahr mit einem Fest begehen, stehe uns bei. Gott, der Vater, schuf den Menschen, Gott, der Sohn, erschuf ihn neu, Gott, der Heilige Geist, unterweist ihn. Wir haben eine Art natürliches Sein, so daß wir in der diesseitigen Welt das sind, was wir sind, und zwar vom Vater. Über dieses sterbliche Sein hinaus haben wir die Fähigkeit, zum ewigen, geistigen Sein zu gelangen, und zwar durch die Wiedergeburt im Sohn. Dieses geistige Sein berühren wir im Geist mit Hilfe des Heiligen Geistes. Ich will daher über diesen Heiligen Geist sprechen, unter dessen Führung wir jetzt aufbrechen zur Verheißung, und in dem wir die Glückseligkeit erlangen am Ende unseres Strebens.1 Da aber niemand angemessen über Gott, den Heiligen Geist, sprechen kann, wenn in ihm nicht der Geist spricht, und da „der dem Irdischen verhaftete Mensch das nicht annimmt, was vom Geist kommt“ (1 Kor 2,14), wollen wir beten, daß der Geist in mir rede und daß euer Geist vom Geist des Wortes Gottes, das ich darlegen werde, angeregt werde und daß in uns allen der Geist das Feuer der göttlichen Liebe ausgieße in einer Flamme, die nach oben steigt: „Komm Heiliger Geist, erfülle die Herzen derer, die an dich glauben, und entzünde in ihnen das Feuer deiner Liebe“2 etc. (2) Als er in Kapharnaum predigte (Joh 6,63), sagte Christus den Zuhörern, die seine Worte mit ihren Sinnen leibhaftig aufnahmen, seine Worte Geist und Leben. Und weil die körperliche Anwesenheit Christi und der äußere Umgang mit ihm als Mensch dem auf die Sinneswahrnehmung bezogenen Teil der Seele der Apostel einiges Neue und Erstaunliche einprägte und Christus ein Sämann des Wortes war, der umherzog und das Evangelium verkündete, waren im menschlichen Erdreich der Apostel jene Worte haftengeblieben, wie sie ausgesprochen und ausgesät worden waren, in ihrem sprachlichen Gewand. Aber sie konnten keine Frucht bringen, ohne in ihrer sinnlichen Wahrnehmbarkeit zu sterben (Joh 12,24), denn ihre Herzen waren verdorrt. Und so, wie der Mensch sich in seiner inneren Vorstellungskraft einen Menschen nicht vorstellen kann, solange dieser sichtbar gegenwärtig ist, konnten daher die Apostel Christus nicht im Geist erfassen, ohne daß er sich der Sinneswahrnehmung entzog. Denn er 1

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„Bewegung“, „Streben“, „Trachten“, „Trieb“, „Antrieb“, „Antriebskraft“, „Tätigkeit“ sind Bedeutungsnuancen des lateinischen Wortes „motus“. Wo diese Begriffe in der Übersetzung dieser Pfingstpredigt vorkommen, steht im lateinischen Text durchgehend „motus“. Missale Romanum, Graduale vom Pfingstsonntag.

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

sagte: „Wenn ich nicht weggehe, wird der Beistand nicht kommen“ (Joh 16,7). Daher berichtet das Evangelium folgendes: Bisher „habe ich gesprochen, während ich noch bei euch bin, der Beistand aber etc., er wird euch lehren“ etc. (Joh 14,25) Diese Unterweisung des Geistes konnten die Apostel nur vom Heiligen Geist erhalten, um zu erkennen, daß „die Worte Christi Geist und Leben sind“ (Joh 6,63). (3) Christus aber versprach, den „Geist der Wahrheit“ (Joh 14,17) zu senden, wenn er in den Himmel aufgefahren sei. Das ist so zu verstehen: Nachdem er gesagt hatte, er selbst sei das Leben und die Wahrheit, versprach er den Aposteln seinen Geist, das heißt den „Geist der Wahrheit, der vom Vater ausgeht“ (Joh 15,26), weil niemand sagen kann, Jesus Christus sei wahrhaftig Gott und Mensch, wenn nicht aus diesem Geist (1 Kor 12,3). Und niemand kann zum Vater rufen: „Abba, Vater!“ (Röm 8,15), wenn nicht aus dem Geist der Wahrheit. Denn allein „der Sohn kannte den Vater“ – und daher nennt er den, den er erkennt, Vater – und sonst keiner, außer dem, „dem der Sohn es offenbart“ (Mt 11,27). Jener aber, dem der Sohn es offenbart, ist der, der in seinem Geist „den Geist der Wahrheit“ „und der Offenbarung“ (Eph 1,17) empfangen hat. Freilich hat Christus den Aposteln als seinen Freunden alles ausführlich erzählt (Joh 15,15). Aber sie konnten es nicht im Geist aufnehmen (Joh 16,12), und so verstanden sie das Erzählte nicht mit geistiger Lebendigkeit. Damit sie aber das, was er selbst ihren Ohren mitgeteilt hat, auch im Geist verkosten könnten, hieß er sie, zu bleiben und „die Verheißung des Vaters zu erwarten“ etc. (Lk 24,49) (4) Denn das ist der Weg, auf dem man von der sinnlichen Wahrnehmung zur geistigen gelangt, nämlich staunend zu lauschen und die Werke Gottes zu schauen, die er „in Christus gewirkt hat“ (Eph 1,20); und zu verharren und nicht abzuschweifen, sondern darüber zu meditieren und mit unerschütterlichem Glauben die Enthüllung der verborgenen Dinge im Heiligen Geist zu erwarten und ohne Unterlaß zu beten“, wie die Apostel zehn Tage lang etc. Denn nachdem die Apostel zehn Tage lang mit größtem Verlangen „im Gebet verharrend“ (Apg 1,14) den Heiligen Geist erwartet hatten, kam er am elften Tag herab. Wir wollen die Geschichte betrachten etc. Wir wissen aus dem Bericht, wie der Heilige Geist nach der Erwartung kam und unter welchen Zeichen (Apg 2,1-13). Das Evangelium sagt aber, daß nur der, „der am Wort Christi festhält“ (Joh 14,23), den Vater und den Sohn in sich beherbergen kann, und daß ihm der Heilige Geist gesandt wird, der „die ganze Wahrheit lehren wird“ (Joh 16,13) etc. Wir wollen das Evangelium insgesamt betrachten: „Wenn jemand mich liebt“ (Joh 14,23) etc. (5) „Der Tröster aber“ etc. (Joh 14,26) Weil es hier um den Heiligen Geist als Beistand geht, müssen wir uns bewußt machen, daß es vielfältige Arten von Geist gibt. Denn es gibt den „Geist des Herrn“ (Weish 1,7), der Schöpfer ist. Es gibt den Geist, der Geschöpf ist. Der Heilige Geist, der Schöpfer ist, ist die „Verbindung von Vater und Sohn“ oder „von Einheit und Gleichheit“: „von der

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Einheit kommt die Gleichheit“, „von der Einheit und der Gleichheit die Verbindung“3 etc. Hier ist also der Geist die Kraft der Verbindung aller Geschöpfe und das, was die Platoniker „Weltseele“4 nennen, andere „Schicksal“, wieder andere „göttliche Fügung“, den Dingen unabänderlich verhaftet.5 Denn so, wie „aus der Einheit die Andersheit hervorgeht“6 oder die Möglichkeit und aus der Gleichheit die Wirklichkeit der Möglichkeit bzw. die Gestalt, im Vergleich zu der es nichts Größeres oder Kleineres gibt, so geht aus der Verbindung die Bewegung hervor. Denn nichts kann von der Möglichkeit in die Wirklichkeit geführt werden außer durch Bewegung. So sehen wir in den handwerklich hergestellten Dingen, wie die Form durch Bewegung entsteht. Also geht „die Bewegung der Welt“7 aus der unendlichen Verbindung hervor. Gott ist also allmächtig und die absolute Notwendigkeit selbst, durch die die Möglichkeit der Dinge besteht. Er ist die unendliche Weisheit, durch die die formale Unterscheidung und Einteilung entsteht. Er ist die unendliche Güte, durch die die Anziehung entsteht. Er erschafft also, ordnet und zieht an sich. (6) Also geht aus dem Geist der Gesamtheit die „Bewegung der Welt“8 hervor, und an dieser Bewegung gibt es verschiedene Arten von Teilhabe: je anders im Intellekt, im Verstand in den Sinnen. Denn manche Dinge haben Anteil an dieser Bewegung der Verbindung, um zu sein, andere um zu leben, andere um zu erkennen. „Der Geist des Herrn erfüllte den Erdkreis“ (Weish 1,7) etc. „Sende deinen Geist, und sie werden erschaffen“ (Ps 104[103],30) etc. Wir Menschen aber haben Anteil an dieser Bewegung der Welt nicht nur, um zu sein, nicht nur um zu leben, sondern um zu sein und zu leben und das wahre Sein der Allmacht, das wahre Leben der ewigen Weisheit und die wahre Güte in ihrem Ursprung geistig zu verkosten. (7) Also finden die niederen Geschöpfe, die am Geist der Gesamtheit im Schatten Anteil haben, ihre Ruhe darin, das zu sein, was sie in dieser Welt sind. Die Tiere aber finden ihre Ruhe darin, daß sie sinnenbezogen leben. Die zur Erkenntnis befähigten finden ihre Ruhe im Erfassen des Lebens und des intellektualen Seins, das heißt in der Erkenntnis des Wahren. Denn „das Wahre ist Gegenstand des Intellekts.“9 Unser Geist aber hat einen lebenserhaltenden Trieb,10 durch den er den Körper dazu bringt, am Leben zu bleiben; 3 4

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Augustinus: De doctrina christiana I, c.5; Theodericus Carnotensis: Lectiones De Trinitate V; Johannes Saresberiensis: De septem septenis, sect. 7. Theodericus Carnotensis: Tractatus De sex dierum opere; ders.: Glossa De Trinitate II; Petrus Abaelardus: Theologia summi boni I, c.6; Conc. Senonense inter Errores Petri Abaelardi. Boethius: De consolatione philosophiae IV; Thomas von Aquin: Summa theologica I, q.116, a.3. Theodericus Carnotensis: Commentarius de Trinitate II; Lectiones De Trinitate II. Johannes Scotus Eriugena: De divisione naturae II, c.23. Vgl. Anm. 7. Thomas von Aquin: Summa theologica I/II, q.9, a.8; q.3, a.7. Vgl. Anm. 1.

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dieser Trieb aber kommt nur in Kindern und Toren zum Vorschein. Als „Abbild Gottes“ (Gen 1,26) verfügt er über eine Antriebskraft, aus der heraus er sich alles macht, weil Ähnlichkeitsbilder der Dinge . Dieser Antrieb findet Anwendung bei denen, die Verstand haben. Diese beiden Antriebskräfte hat unser Geist durch die natürliche Teilhabe am Geist der Welt seinem Rang entsprechend, weil er verständig ist. Aber durch diese Kräfte kann er nicht zur Ruhe gelangen. Denn wenn auch sein Trachten auf die Wahrheit zielt, kann er die Wahrheit durch den lebenserhaltenden Trieb nicht erlangen, sondern das vergängliche Leben; auch nicht durch die Tätigkeit des Verstandes, durch die er sich Bilder der Dinge macht, weil die Bilder nicht die Wahrheit selbst sind, sondern unendlich ihr unterlegen. Daher kommt in ihnen jegliches menschliche Streben zur Ruhe, nämlich entweder im sinnenhaften Leben dieses an die Stelle Gesetzten oder in einem irgendwie unsterblichen, aber doch sinnenhaften Leben. Und darin bestand das Unwissen aller, daß niemand der Sinnenhaftigkeit der Dinge oder der bloßen Ähnlichkeit mit der Wahrheit entgehen konnte. Und daher setzten sich alle die diesseitige Welt als Ziel. (8) Christus aber, der „die Wahrheit“ (Joh 14,6) ist, belehrte uns über eine andere, geistige Welt und ein geistiges Reich und machte uns in sich selbst dafür empfänglich. Christus zeigte uns, daß der Geist, der sein Ziel außerhalb von Gott im Diesseits festmacht, „ein böser Geist“ (Mt 12,43) ist, der nicht zur Ruhe kommt, weil sein Streben nicht auf die Wahrheit ausgerichtet ist, wo allein der Intellekt Ruhe findet, sondern weg von der Wahrheit, auf Phantasiebilder. Daher ist all den Geistern, deren Haupt „der Herrscher dieser Welt“ (Joh 12,31) ist, ein falsches und irriges Streben eigen. Aber der „Herrscher dieser Welt vermag in Wirklichkeit nichts“ (Joh 14,30) gegen den Geist Christi, so wie die Dunkelheit keine Macht über das Licht hat. Vielmehr weicht sie bei der Ankunft des Lichts, und ihre Macht wird zunichte, wie das Evangelium lehrt. Es gibt also etliche intellektuale Naturen, die sich in die Finsternis der Unwissenheit gehüllt haben und sich vom Guten, Wahren und Richtigen entfernen; aber auch andere Geister, die nach dem Guten, Wahren und Rechten streben. Und das entdecken wir im Streben unseres Geistes. Denn wenn auch unser Geist von Gott gut geschaffen ist, unterliegt sein Streben, obwohl es vom Verstand gelenkt ist und in recht hohem Maß teilhat an der göttlichen Antriebskraft, dennoch dem freien Willen. Wenn er sich also vom Guten abwendet und zum Falschen und Bösen strebt, dann gibt er diesem Antrieb seine Zustimmung. Jenes Streben aber, dem er so zustimmt, ist von irgendetwas scheinbar Gutem überzeugt. Man sagt daher, wir würden durch die Versuchung eines bösartigen Anstifters zu diesem Streben angestachelt. Deshalb glauben wir, ein böser Geist als Versucher gebe uns diese Dinge ein. Daher versichern die Gelehrten, jeder Mensch habe einen bösen und gleichzeitig einen guten Geist. Aber dieser böse Geist führt im allgemeinen zum Bösen und untersteht den Befehlen derjenigen Ratgeber, die darin wetteifern, zu verführen. Wenn man daher zur Sünde der Ausschweifung neigt, kommt dieser Trieb vom „Geist der Unzucht“.

Predigt XXXVII: Der Beistand aber

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Und ebenso bei den übrigen . Denn jeglicher Antrieb, sich durch irgendein spezielles Vergehen von Gott abzuwenden, entsteht durch irgendeinen Herrscher dieser Welt. Aber alle Herrscher dieser Welt unterstehen dem einen, von dem in diesem Evangelium . (9) So sind alle „Kräfte“ (Röm 8,38) intellektuale Geister. Und es sind die Kräfte, die zu den Tugenden bewegen und uns ihnen geneigt machen. Sie sind verschiedene Geister des einen höchsten Fürsten, das heißt des höchsten Geistes, und sie haben Anteil an der guten Natur, weil sie sich ihm zugewandt haben und ihm zuwenden. Denn die einzelnen Geister wirken so, wie sie sind, nämlich abwendend von der „Kraft des Höchsten“ (Lk 1,35), die der Heilige Geist ist, weil sie sich abgewandt haben, oder hinwendend, weil sie sich hingewandt haben. Christus aber sagt, daß „ihre Engel“, die aller Menschen, „immer schauen das Angesicht des Vaters“ (Mt 18,10). Diese Engel tragen Sorge für uns – der Psalmist : „Seinen Engeln hat er befohlen “ (Ps 91[90],11) – und behüten uns mit wunderbarem Eifer. Sie verwenden die äußerste Sorgfalt darauf, uns dem Höchsten darzubieten. Denn sie wissen, daß sie dadurch Gott wohlgefällig dienen, wie Origenes11 sagt. (10) Steige also in jeglichem Streben auf ein Ziel hin auf zu einem gewissermaßen verdichteten Ursprung dieses Strebens, und erkenne dort die göttliche Kraft oder den schützenden Engel. Du siehst einen Antrieb in der Gattung des Löwen, einen anderen in der des Wolfes, noch einen anderen in der des Schafes. Und so verhält es sich mit allen verschiedenen Naturen je nach ihrer Gattung. Bekenne also, daß diese Kraft, die du in allen artbedingt zusammengehörigen in Verschiedenheit bestehen siehst, in eingeschränkter Weise an der Kraft Gottes teilhat. Die „Kraft Gottes“ aber wird bisweilen „Engel“ genannt, wie bei den Christen. Philo,12 der ein Platoniker war, sagt, sie werde auch als „Daimonia“, gewissermaßen als wissendes Lebewesen bezeichnet. Daher gibt es verschiedene Geister: solche, die die Bewegungen der Elemente, solche, die die Bewegungen der Sterne, solche, die die Bewegungen des Verstandes und solche, die die Bewegungen der Sinne bestimmen etc. Dennoch gibt es nur einen göttlichen Geist, an dem in so unterschiedlicher Weise Teilhabe besteht, und der so vielfältig ist, wie bei der Orgel ein Luftzug in den verschiedenen Röhren und Pfeifen aufgenommen wird als einer an sich und vielfältig in der Wirkung, je nach der Verschiedenheit der aufnehmenden Pfeifen. So unterliegen alle Reiche ganz bestimmten Geistern in ihrer je eigenen Art des Herrschens, wie man über das Perserreich etc. bei Daniel (Dan 10,13.20) lesen kann. Auch die universale Kirche untersteht einem Lenker, und zwar die ganze Kirche, wie es in der Offenbarung des Johannes (Offb 2,1 u.ö.) heißt. Das gilt auch für die Trierer Kirche, für jedwede Gemeinschaft, sei es eine geistliche oder weltliche etc.

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Origenes: Peri archon, praef. 10; Contra Celsum V, c.4; Libellus de oratione, n.11. Philo: De gigantibus, c.4, n.16; De somniis (libri), liber I, n.141.

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(11) Und man muß feststellen, daß, so wie der göttliche Geist Liebe oder Nächstenliebe oder Verbindung ist, alle diese Kräfte oder Geister Wahrer der Einheit und des Friedens sind. „Böse“ aber sind „die Geister“, die sich vom Frieden und der Liebe abgewandt haben, denn sie sind Einflüsterer der Spaltung. Bedenke also, welche Kriege unter den Geistern ausgetragen werden und welches Unheil aus dem Sieg der bösen kommt! Weil es einerseits Geister gibt, deren Streben von Gott kommt, andrerseits solche, deren Streben vom „Herrscher der Welt“ (Joh 14,30) ist, wird der Mensch irregeführt, dem die „Unterscheidung der Geister“ (1 Kor 12,10) abgeht, wenn „Satan sich tarnt als Engel des Lichts“ (2 Kor 11,14). Wir haben also den Auftrag, nachzudenken und die Geister zu prüfen, ob sie von Gott sind (1 Joh 4,1). Aber wenn nicht der Heilige Geist uns unterweist und uns Worte der Wahrheit eingibt, werden wir kein Unterscheidungsvermögen erlangen. Vielmehr wird uns, wie Paulus sagt, mit dem Heiligen Geist „die Unterscheidung der Geister“ (1 Kor 12,10) gegeben. „Der Geist des Herrn“13 (Lk 4,18) ist es also, durch den die Bewegung aller Dinge, die sich bewegen, zustandekommt und in dem alle Dinge , die sich bewegen, weil er „Ursprung, Mitte und Ziel“14 aller Bewegung ist, der „alles zusammenhält“ (Weish 1,7), alles erfüllt. (12) Was den dritten angeht, nämlich : Zu wem wird er gesandt? Hier ist zu sagen, daß der Heilige Geist zu denen gesandt wird, die aufnahmefähig sind im Intellekt und im Affekt, deren Geist zum „Einen, Wahren und Guten“15 strebt. (13) Wie müssen wir uns vorbereiten, damit uns der Heilige Geist gesandt wird? Ich sage: Da der Heilige Geist die Kraft Gottes ist, wird er nur in einen tugendhaften Geist gesandt. Denn in einem unaufrichtigen und tugendlosen kann keine Kraft sein. Vielmehr muß der Geist tugendhaft sein für sein Streben nach dem „Einen“, dem „Wahren“ und dem „Guten“. In erster Linie jedoch , daß er nur nach dem Einen strebt, der das Sein selbst ist, das heißt dem Vater, nur nach dem Wahren, das heißt dem Sohn, nur nach dem Guten, das heißt dem Heiligen Geist. Denn das Streben, das auf das Eine, Wahre, Gute ausgerichtet ist, ist es, worin Vater, Sohn und Heiliger Geist wohnen kann. Wer Gott allem, „was in der Welt ist“ (1 Joh 2,15), vorzieht, strebt weg von der Welt, die in vielfacher Zertrennung und „unter der Macht des Bösen steht“ (1 Joh 5,19), hin zum Vater. Wer die Wahrheit allem vorzieht, strebt weg von der trügerischen Irreführung dieser Welt hin zum Sohn Gottes. Wer das Gute in seiner Reinheit erwählt, läßt alles scheinbar Gute dieser Welt hinter sich. Wer seinen Geist an dieses Streben gewöhnt, macht ihn tugendhaft. Denn der 13 14

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Missale Romanum, Introitus vom Pfingstsonntag. Dieser Ternar findet sich in einem Exzerpt des Cusanus aus Proclus: Commentarius in Platonis Parmenidem (Cod. Argent. 84); vgl. dazu: Rudolf Haubst: Die Thomasund Proklos-Exzerpte des „Nicolaus Trevirensis“ in Codicillus Straßburg 84, in: MFCG 1 (1961), 17-51, hier: 28. Meister Eckhart: Prologus in Opus Propositionum, n.4-13; Expositio sancti Evangelii secundum Iohannem (1,11).

Predigt XXXVII: Der Beistand aber

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Mensch wird ganz und gar tugendhaft sein, wenn sein Geist nicht zuläßt, daß das Streben seiner Sinne von diesem Weg abkommt, sondern mit Zügel und Sporen seinen irdischen Leib bezähmt. Denn dieser schmückt sein Haus „mit Klugheit, Tapferkeit, Gerechtigkeit und Mäßigung“,16 damit in ihm die theologischen Tugenden „Glaube, Hoffnung und Liebe“ (1 Kor 13,13) bestehen können. Er muß beachten, daß die „Worte“ Christi „Geist und Leben sind“ (Joh 6,63). Er muß jene festhalten, bei ihnen verweilen, darüber nachdenken und bedenken, daß er nicht im Geist sein kann, wenn die sinnlich erfahrbare Gegenwart nicht verschwindet. Er muß beten und flehen etc. (14) Das Haus muß sorgfältig bereitet werden! Es muß gereinigt werden vom Schmutz der Sünden, weil der Geist nicht wie ein Schwein ist etc. Und die irdische Gesinnung muß abgelegt werden, weil „der irdisch gesinnte Mensch das nicht erfaßt, was Geist ist“ (1 Kor 2,14). Bernhard17 : „Wie Wasser und Feuer sich nicht vertragen, so ist es auch mit den fleischlichen und geistigen Wonnen.“ Und das heißt, die „unreinen Geister“ (Mk 1,27 u.ö.) vertreiben. „Erschaffe in mir ein reines Herz, Gott!“ (Ps 51[50],12) etc. Nach der Reinigung muß man schmücken mit verschiedenen Bildern frommer Betrachtungen. Ebenso muß durch die Beharrlichkeit des Gebets eingeladen werden, weil er nicht wie ein Spaßvogel ist, der ungeladen zu einer Hochzeit geht etc. Die Apostel beteten für sich und andere (Apg 8,15). Der Eingeladene kam schnell: „Ich sprach den Wunsch aus, und mir wurde Klugheit gegeben; ich flehte, und der Geist der Weisheit kam zu mir.“ (Weish 7,7) Und an den dritten Tagen18 müssen wir ihn anrufen, nicht in den letzten etc. Bei Lukas im letzten : „Ihr aber, bleibt , bis ihr mit der Kraft von oben bekleidet werdet!“ (Lk 24,49) Und achte darauf, in welcher Gesellschaft die Apostel waren, als sie den Heiligen Geist anriefen; nämlich in derjenigen der Mutter Maria etc. So bemühe dich! Außerdem mußt du ihm mehr dienen als der Welt, dem Geist mehr als dem Bauch etc. In Jesaja 42 : „Sieh, mein Knecht, ihn will ich aufnehmen. mein Erwählter, an ihm hat meine Seele Gefallen. Ich habe meinen Geist auf ihn gelegt“ (Jes 42,1). Über Johannes den Täufer heißt es: „Der Knabe aber wuchs heran und wurde stark“ (Lk 1,80) durch den Heiligen Geist etc. Man muß ihm auch ein Bett bereiten, weil er nicht wie ein Müller ist, der im Lärm schlafen kann etc. Jesaja schreibt: Auf dem Niedrigen und Sanftmütigen wird er ruhen (Jes 11,2). Und du mußt auch seine Dienerschaft aufnehmen, weil er kein einfacher Bauer ist.

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Bonaventura: Breviloquium, pars 5, c.4; Hugo Ripelin von Straßburg: Compendium theologicae veritatis, V, c.33. Bernhard von Clairvaux: Epistula 2 Ad Fulconem, n.10. Mit „den dritten Tagen“ sind die Tage der Entscheidung und der Erlösung gemeint. Vgl. Gen 22,4; 2 Sam 20,4; Hos 6,2; 2 Makk 13,12; 1 Kor 15,4.

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

(15) Wie ist der Heilige Geist in uns? Zweifach ist Gott in der Schöpfung: entweder „durch das Wesen, die Anwesenheit und die Macht“,19 und so überall; oder indem er unentgeltlich und geistig Gnadengaben schenkt; so in diesem Fall. Daher kommt er mit einem Geschenk. an die Römer, 5 : „Die Liebe des Herrn wurde in unsere Herzen ausgegossen durch den Heiligen Geist, der uns geschenkt ist.“ (Röm 5,5) Durch „unentgeltlich geschenkte Gnade“20 wird niemand gerettet, wohl aber durch „Gnade, die angenehm macht“,21 das heißt durch die Liebe, weil er ohne den Heiligen Geist nicht gerettet wird etc.: „Wenn ich die Liebe nicht hätte, wäre ich nichts“ (1 Kor 13,2). Diese Liebe verbindet die Seele durch das Verlangen innig mit Gott und wird „erquickende Liebe“22 genannt. Und sie befiehlt allen Kräften der Seele und des Leibes, dem Geliebten überall und jederzeit zu dienen etc. Sie wird auch „Liebe der Begierde“23 genannt, weil sie begierig danach verlangt zu dienen; oder man nennt sie tätige oder praktische Liebe. Es gibt eine weitere Stufe, durch die sie dazu anregt, daß der Geliebte von allen geliebt, gelobt und gebenedeit wird etc. Und daraus fließt die Nächstenliebe und sie entspricht dem Heiligen Geist, wenngleich „ungeteilt sind die Werke der Dreifaltigkeit“,24 weil sie als Geschenk daherkommt etc. Der Heilige Geist kommt heiligend, weil er heilig ist. (16) Wie erkennt man die Sendung des Heiligen Geistes? Ich sage, daß die Sendung des Heiligen Geistes so beschrieben wird: „Es ist ein Voranschreiten der Liebe von Vater und Sohn“ zur Schöpfung „zur Heiligung dieser Schöpfung.“25 Allein die rationale und intellektuale Natur kann geheiligt werden, denn allein sie ist „empfänglich für Gott“26 „durch den Intellekt und den Affekt.“27 Und nichts anderes ist die Heiligkeit als „angenehm machende Gnade“28 oder Liebe, die der Heilige Geist bei seiner Ankunft eingießt. Aus dem Nachdenken über die Sünden entsteht zuerst Furcht vor der Härte des Urteils und der Strafe, und sie ist eine „sklavische Furcht“,29 aber sie ist „der Anfang der Weisheit“ (Ps 111[110],10). Dann besinnt sie sich auf die guten Gaben, die der Schöpfer gegeben hat, und auf die Kränkung und errötet etc. Und diese Furcht 19 20 21 22

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25 26 27 28 29

Petrus Lombardus: Libri Quatuor Sententiarum I, dist. 37, c.1. Thomas von Aquin: Summa theologica I/II, q.111, a.1. Ebd. Petrus Aureoli: Scriptum super primum Sententiarum I, Sent. Dist. 1, sect.7, n.62; Johannes Capreolus: Defensio Theologiae divi Thomae Aquinatis, dist. 1, q.1, a.2, concl. 6; Henricus Harp(h): Theologia Mystyca III, c.12, Sermo 16. Thomas von Aquin: Summa theologica I/II, q.26, a.4. Vgl. Ambrosius: De fide V, c.11, n.134; vgl. auch Augustinus: De Trinitate I, c.4, n.7; c.5, n.12; Meister Eckhart: Expositio Sancti Evangelii secundum Iohannem 3,34 (LW 3, n.360, p.304, 14 et nota 5). Augustinus: In Evangelium Iohannis (16,13f.), tract. 99, n.9; Thomas von Aquin: Summa theologica I, q.43, a.6. Augustinus: De Trinitate XIV, c.8, n.11. Augustinus: Enarratio in Psalmum 118,20, Sermo 8, n.4. Thomas von Aquin: Summa theologica I, q.43, a.3. Augustinus: De spiritu et littera, c.32, n.56.

Predigt XXXVII: Der Beistand aber

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des Herrn, durch die der Heilige Geist zuerst in den Geist eintritt, ist „anfanghaft“;30 aber sobald sie nicht über ihre Situation, nicht über die Strafe nachdenkt, sondern darüber, was zur Ehre Gottes und zur Ehrfurcht vor ihm gereicht, wird sie „sohnhaft“,31 und das ist die erste Gabe. Dann wird der Geist gottgefällig, das heißt auf großzügige Weise gütig. Daher strengt er sich an, „Gott alles zu vergelten, was er geschenkt hat“ (Ps 116[115],12) und dem Nächsten um seiner selbst willen an Mitleid , was er vermag. Und das ist die zweite Gabe. Aber weil dafür Unterscheidungsgabe vonnöten ist, kommt die „Gabe der Einsicht“, welche die übernatürliche Fähigkeit zur Unterscheidung in praktischen Dingen ist. Und weil einer solchen die Widrigkeiten der Versuchungen begegnen, folgt „die Gabe der Tapferkeit“, dann „die Gabe der Klugheit“, um mit glühendem Eifer das zu befolgen, was man sich vorgenommen hat etc. Und das sind Gaben aus dem Bereich des tätigen Lebens. Dann folgt „die Gabe des Intellekts“ im beschaulichen Leben, durch die man die wunderbare Macht Gottes und seine „staunenswerten Werke“ (Offb 15,3) erkennt. Und hier über sein Gesetz etc. Dann „die Gabe der Weisheit“, damit man verkostet, wie „gütig der Herr ist“ (Ps 34[33],9) etc. Bemerke: Die sichtbare Sendung ist durch Zeichen belegt, die unsichtbare ist ohne Zeichen. (17) Wie muß man über die Unterschiede der Gaben denken? Ich sage, daß es Geistesgaben gibt, mit denen die angenehm machende Gnade nichts zu tun hat, wie „die sklavische Furcht“32 und der „ungeformte Glaube“,33 andere , mit denen nicht immer , wie die Gabe des Zungenredens, des Wunderwirkens und des Weissagens. Andere gibt es, in denen immer Heiligkeit gegeben ist; mehr noch, sie sind die Heiligung der Schöpfung, wie die Liebe, die „den Menschen Gott liebenswert macht“34 oder ihn angenehm macht, das bedeutet heiligen. So wird der Heilige Geist in der Eingießung der Liebe geschenkt. Denn sie ist die Tugend der Tugenden und deren „Urbild“,35 indem sie ihnen die Fähigkeit verleiht, Verdienste zu erwerben, die die anderen Tugenden ohne sie gar nicht hätten, weil ohne Liebe der Mensch nichts ist etc. (1 Kor 13,3) Augustinus im 15. Buch „Über die Dreifaltigkeit“: „Allein die Liebe macht den Unterschied zwischen den Kindern Gottes und denen des Verder-

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Petrus Lombardus: Sententiae III, dist. 34, c.4; Bonaventura: Commentarius in IV Libros sententiarum III, dist. 34, pars. 2, a.2, q.1; Thomas von Aquin: Summa theologiae II/II, q.19, a.8. Petrus Lombardus: Sententiae III, dist. 34, c.3. Vgl. Anm. 29. Petrus Lombardus: Sententiae III, dist. 23, c.4; Bonaventura: Commentarius in IV Libros sententiarum III, dist. 23, a.2, q.2; Thomas von Aquin: Summa theologica II/II, q.4, a.4sq. Bonaventura: Commentarius in IV Libros sententiarum I, dist. 17, pars 1, q.3; Thomas von Aquin: De veritate, q.27, a.2 ad 5 primum. Petrus Lombardus: Collectanea in epistolas Pauli ad Romanos 1,17; Bonaventura: Commentarius in IV Libros sententiarum III, dist. 36, q.6sq.

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bens.“36 Aber die Liebe kann keine Haltung sein, die aus häufig wiederholten Handlungen zu erwerben wäre, da menschliche Übungen, wie sehr auch immer man sich bemüht, nicht auf übernatürliche Weise bis ans letzte Ziel gelangen können in der Art, wie die Liebe den Geist antreibt, sich sowohl hier als auch im Reich des Vaters auszudehnen. Sie ist vielmehr eine Haltung, die von Gott in Gestalt des Heiligen Geistes angemessen eingegossen wird. Und sie ist unter den geschaffenen Gaben die vorzüglichste, ja sogar gewissermaßen „eine gewisse Teilhabe“37 an der unerschaffenen Gabe, das heißt am „Heiligen Geist“, von dem sie unmittelbar ausfließt in den Geist des Verstandes und subjektiv in den Willen, alle Seelenkräfte belebend und auf Gott hin ausrichtend. (18) Denn wie der Heilige Geist das Band und der unlösliche „Leim“38 ist, durch die Vater und Sohn einander und uns lieben, so ist die Kraft der Liebe ein Band, durch das wir uns in unserem Wesen liebend an Gott binden und in Gott mit dem Nächsten zusammengeschweißt werden. Und das heißt, daß „Gott in uns bleibt und wir in ihm“ (1 Joh 4,13); nicht wie gewöhnliche Freundschaften Menschen wegen eines ehrenwerten, erfreulichen oder nützlichen Gewinns zum politischen Miteinander zusammenbringen, vielmehr ist diese die höchste im göttlichen und seligmachenden Einvernehmen. Sie hat eine Rangfolge, weil sie in erster Linie „über sich selbst hinaus“39 auf Gott um seiner selbst willen . Denn wer „sich zu Gott bekennt, wenn er ihm Gutes tut“ (Ps 49[48],19), liebt sich selbst mehr als Gott und steht außerhalb der Liebe. An zweiter Stelle wird er „zu sich selbst“40 geführt, damit er sich als teilhaftig an der Herrlichkeit Gottes liebt; drittens zu dem, was „neben ihm“41 ist, damit seinen Nächsten sozusagen als Gefährten in der Glückseligkeit ; wer aber den Nächsten nicht um Gottes willen liebt, sondern sich selbst in ihm, „ist nicht in der Liebe“ (1 Joh 4,18); viertens dahin , daß er „unter sich“42 ist, das heißt im Körper, damit er ihn ernährt, beherrscht, kasteit, um der Seligkeit teilhaftig zu werden. Aber es ist keine Liebe, „sein den Begierden verfallenes Fleisch“ zu lieben etc. (Röm 13,14) (19) Da aber die Liebe das Leben der Seele ist, ist jede Sünde, die gegen die Liebe verstößt, eine Todsünde. Die Geringschätzung bewirkt nämlich die Todsünde, weil sie der Liebe entgegensteht etc. Und so ist jede Sünde in hohem 36 37 38

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Augustinus: De Trinitate XV, c.18, n.32. Thomas von Aquin: Summa theologica II/II, q.23, a.3 ad 3. Gregor von Nyssa: Commentarius in Canticum Canticorum (6,9) Oratio 15; Augustinus: Enarrationes in Psalmos 62,9, n.17; Thomas von Aquin: Super IV Libros in sententiarium III, dist. 27, q.2, a.1 ad 11; Summa theologica I/II, q.86, a.1 ad 2. Augustinus: De doctrina christiana I, c.23, n.22; Petrus Lombardus: Sententiae III, dist. 28, c.1 und Hugo Ripelin von Straßburg: Compendium theologicae veritatis V, c.30 zitieren diese Augustinusstelle. Vgl. Anm. 39. Vgl. Anm. 39. Vgl. Anm. 39.

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Maß gegen den Heiligen Geist gerichtet; aber es werden einige Sünden aufgezählt, die als grundsätzlich gegen den Heiligen Geist gerichtet gelten. „Denn es gibt einige Sünden gegen den Vater, die begangen werden aus Schwäche gegenüber der Macht, die dem Vater zukommt; einige gegen den Sohn aus Unwissen gegenüber der Wahrheit oder Weisheit, die dem Sohn zukommt; einige gegen die Güte, die dem Heiligen Geist zukommt. Und jene, die aus Bosheit begangen werden, gelten als gegen den Heiligen Geist; so die Boshaftigkeit, die das geringschätzt und verschmäht, wodurch die Sünde vermieden werden könnte.“43 „Und weil Barmherzigkeit und Gerechtigkeit Gottes uns zu Hoffnung und Furcht anregen, sind Hoffnungslosigkeit und Anmaßung Sünden gegen den Heiligen Geist. Zwei gehören zum Bereich der Gaben Gottes: die Erkenntnis der Wahrheit und der Beistand der inneren Gnade; gegen diese richten sich ‚die Bekämpfung der erkannten Wahrheit‘, um freier zu sündigen, und ‚der Neid auf die dem Bruder geschenkte Gnade‘; denn der Neid will verhindern, daß die Gnade in der Welt wächst. Zwei Dinge sind auch in der Sünde, die uns zurückhalten müßten, nämlich die Schändlichkeit oder Regelwidrigkeit der Tat und die Bedeutungslosigkeit oder kurze Dauer des Vorteils, der mit der Sünde erreicht wird. Zuerst erniedrigt man sich aus Mangel an Bußfertigkeit, das heißt durch den Vorsatz, nicht zu bereuen; zweitens durch Verstocktheit, denn sie verfestigt die Entschlossenheit des Geistes, der Sünde anzuhängen.“44 Für diese Sünden gibt es keine Entschuldigung, und deswegen „werden sie nicht vergeben“ (Mk 3,29 u.ö.). Weil aber die Barmherzigkeit Gottes einigen zu Hilfe eilen kann, so daß sie „es sich zu Herzen nehmen“ (Jes 46,8) und Zerknirschung über bestimmte Sünden an sich heranlassen, erlangen auch sie Vergebung etc. (20) Warum wird der Heilige Geist allgemein Lehrer, Befreier, Ermutiger, Tröster etc. genannt? Ich sage: deshalb „Lehrer“, weil er die Wahrhaftigkeit des Lebens lehrt gegen die Heuchelei und die Neigung zum Betrug; ebenso die Wahrheit der Gerechtigkeit gegen die Habgier, die Wahrheit des guten Rufes gegen die Zügellosigkeit, die Wahrheit der Gerechtigkeit gegen die Überheblichkeit, die den Menschen daran hindert, Selbsterkenntnis zu erlangen. Außerdem befreit er den Menschen aus der Sklaverei. „Das Gesetz des Geistes und des Lebens in Christus hat“ Paulus „frei gemacht vom Gesetz der Sünde und des Todes“ (Röm 8,2). Im 2. Brief an die Korinther, Kapitel 3, heißt es: „Wo der Geist des Herrn , da Freiheit“ (2 Kor 3,17). Er macht stark im Guten, so wie Johannes „in der Wüste“ (Mt 3,1) „vom Geist gestärkt wurde“ (Lk 1,80) etc. Außerdem steht er dem, der ihn aufnimmt, bei und verteidigt ihn gegen jeglichen Gegner. „Der Geist des Herrn hat die Himmel geschmückt“ (Ijob

43 44

Thomas von Aquin: Summa theologica II/II, q.14, a.1-4. Thomas zitiert hier teilweise wörtlich aus Richard von St. Viktor: Tractatus de spiritu blasphemiae. Thomas von Aquin: Summa theologica II/II, q.14, a.2; hier stimmen Cusanus und Thomas im Wortlaut eher überein mit Bonaventura: Breviloquium, pars 3, c.11, als mit Petrus Lombardus: Sententiae II, dist. 43, der Augustinus: De sermone Domini in monte I, c.22, n.73 zitiert.

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

26,13). Ebenso entflammt er seinen Gastgeber, ihn zu lieben. Im Brief an die Römer heißt es im 5. Kapitel: „Die Liebe Gottes ist ausgegossen “ (Röm 5,5). Ebenso nimmt er ihn seinerseits als Gast in seinen Palast auf: „Dein guter Geist geleitet “ (Ps 143[142],10) in sein Land etc. „Von jetzt an, spricht der Geist, “ (Offb 14,13). Ebenso haben wir durch ihn die Vergebung der Sünden, den Sieg über die Feinde, die Herrlichkeit der Gaben, die Gnade der Belohnungen. Zum ersten : Ezechiel, Kapitel 36: „Ich werde reines Wasser über euch ausgießen, und ihr werdet rein werden“ (Ez 36,25) etc. „Erschaffe mir ein reines Herz“ (Ps 51[50],12) etc. Im 2. an die Korinther 7: „Wir wollen uns reinigen“ (2 Kor 7,1) etc. Zweitens: „Der Geist des Herrn kam über Samson, und er zerriß den Löwen“ (Ri 14,6). Der Löwe ist der Teufel; in 1 Petrus 5 : „Euer Widersacher ist der Teufel“ (1 Petr 5,8). Drittens: bei Jesaja 11: „Aus der Wurzel wird ein Reis entstehen“ und so weiter bis an die Stelle: „auf ihm der Geist des Herrn“ (Jes 11,1f.) etc. Viertens: „Das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken, sondern Gerechtigkeit und Friede und Freude im Heiligen Geist“ (Röm 14,17). (21) Ebenso ist er „Tröster“ (Joh 14,16). Denn er erleuchtet den Intellekt, indem er den Glanz der Erkenntnis eingießt; er entflammt den Affekt, indem er die Glut der Liebe gibt; er heilt den Affekt, indem er den Schmerz der Versuchung mildert; er macht den geistigen Genuß zu einem Vergnügen, indem er die Süße der Gottergebenheit schenkt. Sieh, wie der Heilige Geist Wasser, Feuer, Salböl etc. ist und all das, was sprießen, reinigen oder heilen läßt. Sieh, wie das Feuer lodernd wächst durch den Wind der Widrigkeit, weil es so den Geist hat etc. „In der Drangsal hast du mir Raum verschafft“ (Ps 4,2) etc. „Voll Freude kehrten die Apostel von der Versammlung des Hohen Rates zurück, weil sie für würdig befunden worden waren, “ (Apg 5,41).

Predigt XXXVII: Der Beistand aber

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XXXVII A Erste, von Nikolaus verworfene Niederschrift (1) „Der Beistand aber, der Heilige Geist, den der Vater senden wird“ etc. (Joh 14,26) Gott schuf den Menschen, er nahm ihn an Kindes statt an, er weist ihn an zu herrschen. Der Vater erschafft , in seinem Sohn nimmt er an, im Heiligen Geist unterweist er . Erstens über die Geschichte von der Herabkunft des Heiligen Geistes. Zweitens: Christus nennt den Heiligen Geist „Beistand“ (Joh 14,26). Zuerst wird gefragt, was der Geist ist: „ruach“ (Gen 1,2) und „pneuma“ (Joh 3,8) etc. An dieser Stelle…45 (2) Beachte, wie „die Antriebskraft der Welt Geist ist“.46 Weil die diesseitige Welt ist, in der es, wie Johannes sagt, den Trieb der Begierde bzw. der „Begierde der Augen“ gibt, die man auch „Habgier“ nennen kann, oder „des Fleisches“, die „Wollust“ genannt wird, oder der „Selbstgefälligkeit“, die „Stolz“ genannt wird (1 Joh 2,16), faltet der Geist dieser Welt oder der Herrscher dieses Triebes alle derartigen Triebe ein. Diesem Trieb der Begehrlichkeit untergeordnet gibt es besondere Triebe der Ausschweifung, des Zorns, der Mißgunst etc. Daher gibt es „sieben Geister“ (Lk 11,26), die dem „Herrscher dieser Welt“ (Joh 14,30) zur Seite stehen. Diese sieben haben viele noch speziellere Triebe unter sich, so wie es viele Triebe der Ausschweifung etc. gibt. Und aus diesen Trieben erkennen wir sieben Arten von allgemeinen Antriebskräften der Welt. (3) Erkenne außerdem: Da nun der Geist die Antriebskraft des Alls ist, ist er folglich ein „natürliches Streben“47 zum „Sein“, zum „Leben und Erkennen“48 und er ist vom Guten und gut. Und so wie über der Natur die Gnade steht, so daß uns im Sohn Gottes die Möglichkeit gegeben ist, ein anderes „Sein, Leben und Erkennen“ zu erreichen als das natürliche dieser Welt unserer Schöpfung, nämlich das einer anderen Welt, zu der wir streben können, so ist uns die Möglichkeit gegeben, nach dem Erlangen dieser Verheißung zu streben. Daher ist dieses Streben, das dem mit Verstand begabten Geist gegeben ist, damit er von dieser Welt nach oben streben kann, wenn er will, „Streben der Gnade“;49 und dieses Streben erlangen wir durch die Gnadengabe des Heiligen Geistes. Also faltet der Heilige Geist jedes Streben im Schatz der Güte ein, das ein Streben der Liebe ist. Aber es gibt sieben Arten des Strebens der Liebe, die die „sieben Geister“ sind, die dem Heiligen Geist zur Seite stehen, dem Herrscher der jenseitigen Welt, das heißt der Welt der Liebe. Und ihnen untergeord45 46 47 48 49

Hier bricht der Text ab. In der Handschrift folgt eine Lücke von drei Zeilen. Vgl. Anm. 8. Thomas von Aquin: Summa contra gentiles II, c.42 und III, c.23; Summa theologica I/II, q.6, a.4; q.9, a.6. Vgl. Predigt XXVII, n.2. Thomas von Aquin: Summa theologica I/II, q.114, a.8.

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net sind viele einzelne heilige Antriebskräfte der göttlichen Liebe; und diese alle sind Tugenden. Außerdem ist dieser Antriebskraft die Möglichkeit des Strebens nach der Herrlichkeit beigegeben. Und dieses Streben ist nicht irgendeiner Kraft gegeben, sondern es ist der Heilige Geist selbst, der das intellektuale Streben der Gnade über die intellektuale Welt hinaus zur Sohnschaft Gottes in Gang setzt. (4) Und so erfasse nun als Eigenart dieses Antriebs, daß er Antrieb zum „Sein, Leben und Erkennen“ ist, und daß er gut ist, da er vom guten Geist kommt. Aber die intellektuale Natur hat , sich Ähnlichkeitsbilder aller zu machen und dank der Freiheit des Willens so zu streben, wie sie will. Dieses Streben aber, das in der Möglichkeit der intellektualen Natur liegt, ist entweder nach innen oder nach außen . Nach innen ist es intellektuales Prinzip, nach außen reiner Trieb. Das Streben, das auf den Urgrund, nach innen gerichtet ist, ist das der Einung von Liebe und Frieden. Das nach außen gerichtete ist das der Spaltung. Das Streben der Liebe ist der Heilige Geist, der „Fürst des Friedens“ (Jes 9,5); das Streben der Spaltung ist der „böse Geist“, der Herrscher des Unfriedens. Dieses Streben nach Frieden erstrahlt im allgemeinen in sieben Kräften, die die „sieben Geister“ sind, die den Fürsten des Friedens unterstützen. Und sie haben unter sich andere Geister, in denen die göttliche Kraft, die die Liebe ist, entsprechend den verschiedenen Antriebskräften der Liebe aufleuchtet. Entsprechend ist die nach außen gerichtete Antriebskraft, die der Spaltung, das Streben der diesseitigen Welt außerhalb des Intellekts. In ihm ist keine Wahrheit. Und es ist der Trieb der Begierde, wie Johannes sagt: „Alles, was in der Welt ist, ist entweder Begierde der Augen oder des Fleisches oder Selbstgefälligkeit“ (1 Joh 2,16). Also ist dieser Trieb, durch den man vom Wahren weggeführt wird und sich dazu hinwendet, Anderes, Äußerliches zu begehren, „böser Geist“, der „Herrscher dieser Welt“ (Joh 14,30) genannt wird. Dieser Trieb der Begierde scheint in sieben Arten auf, die die sieben Todsünden sind. Und jene Geister der Triebhaftigkeit sind der Geist des Stolzes, der Ausschweifung etc. Und weil es verschiedene Triebe der Ausschweifung gibt, unterstehen dem Geist des Stolzes zahlreiche Geister; und so mit den übrigen. (5) Außerdem gibt es schließlich das höchste und großartige Streben, das der Übertragung. Durch dieses wird die Überführung der intellektualen Natur aus der intellektualen Welt ins Reich Gottes bewirkt. Und durch die Gnade Jesu Christi ist uns die Möglichkeit gegeben, in ihm hinübergeführt zu werden. Das Streben der Übertragung aber, durch das wir hinübergeführt werden, ist der Heilige Geist. Denn er ist jener Geist, der vom „Vater und vom Sohn“50 gehaucht wird und der sich in den Worten zeigt, die sinnlich wahrnehmbar von Christus ausgesprochen worden sind, und er ist kein „Geist von dieser Welt“ (1 Kor 2,12). Wenn wir daher die Worte des Vaters und des Sohnes in unserem Geist aufnehmen und bewahren, was nur durch „Glaube, Hoffnung und Liebe“ (1 Kor 13,13) gelingen kann, wird uns vom Vater im Namen des Sohnes der 50

Aus dem Credo der Messe.

Predigt XXXVII: Der Beistand aber

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Geist gesandt, der uns „alles lehren und alles eingeben wird“ (Joh 16,13); und zwar so, daß unser Geist, die göttliche Antriebskraft des Heiligen Geistes erlangend, vom Glauben voranschreitet zu einem solchen Schauen, daß „die lebendige Hoffnung“ (1 Petr 1,3) in uns ist, das Reich des Lebens zu erlangen, zu dem wir glücklich hinübergeführt werden als von eben diesem Geist von der Liebe in Liebe Verwandelte. (6) „Gott ist Geist“ (Joh 4,24). Und wir können mit Hilfe des „Geistes“ eine gewisse absolute, nicht eingeschränkte, allmächtige und ewige Kraft erkennen. Im Wesen der absoluten Kraft liegt also eine einigende Kraft, die eine starkmachende Kraft ist, die der Vater ist; eine gleichmachbare oder starkmachbare Kraft: der Sohn; und eine der Verbindung oder das Starkmachen: Diese ist der Heilige Geist.51 Zuerst ist zu bedenken, inwiefern „Gott Geist ist“ (Joh 4,24). Daher : So wie Gott unendliche, allen Sinnen unbekannte Kraft ist, so ist jeglicher Geist den Sinnen unbekannt, wie Christus sagt, daß „wir nicht wissen, woher der Geist kommt oder wohin er geht“ (Joh 3,8). Daher wird jene Kraft, die lebendig oder bewegt ist, „Geist“ genannt, wie auch der Wind „Geist“ genannt wird, wie es bei Johannes im 7. und im 14. Kapitel52 heißt; über das Brausen des Geistes; und Gen 1: „Und der Geist des Herrn schwebte “ (Gen 1,2). Der Geist also, wie er in den Geschöpfen zu finden ist, ist Kraft, an der sie Anteil haben. Denn ebenso wie Gott Geist ist, ist er Schöpferkraft, weil Gott durch sein Wort alles erschafft und Kraft verleiht im „Hauch seines Mundes durch das Wort des Herrn“ etc. (Ps 33[32],6) Er gleicht dieser Kraft jene an, die Feuer genannt wird. Dionysius53 im letzten Kapitel der „Himmlischen Hierarchie“, wo um dieses . Diese allmächtige Kraft erschafft alles. Führe Beispiele an aus der Glasbläserei54 und der Sprache etc. (7) Aber die Schöpfung ist frei. Daher wollte Gott Teilhabe gewähren an dieser eigentlich nicht mitteilbaren Kraft, damit die Geschöpfe besser an ihr teilhaben könnten. An der Einheit der Kraft im absoluten Sein aber kann es keine Teilhabe geben. Die Einheit und Selbigkeit ist, so wie sie ist, unteilbar. Daher gibt es Teilhabe an der Einheit in Vielheit. Die Vielheit aber kann an der Einheit nur in unterschiedlichen und untereinander geordneten Stufen teilhaben. Denn das ist Teilhabe an der Einheit in der Vielheit, das heißt an dem Einen nach der bestmöglichen Ordnung. Denn diese Ordnung ist die Ähnlichkeit mit der Einheit in der Vielheit, wie der Apostel sagt: „Alles, was von Gott ist, ist geordnet“ etc. (Röm 13,1)

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Solche Ternare auf -ivus/-ans, -abilis, -are sind eine Spezialität des Raimundus Lullus; vgl. Rudolf Haubst: Das Bild des Einen und Dreieinen Gottes in der Welt nach Nikolaus von Kues, Trier 1952, 60-83. Die Stellenangaben sind nicht korrekt, es handelt sich vielmehr um Joh 3,8 und 7,38f. Ps.-Dionysius Areopagita: De caelesti hierarchia, c.15 § 2; vgl. auch Predigt XX, n.10. Vgl. De gen., n.163f., p.117f.

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

XXXVII B Zweite, von Nikolaus verworfene Niederschrift der Gliederung (1) 1444 am Pfingstfest in Koblenz. „Der Beistand aber, der Heilige Geist, den der Vater in meinem Namen senden wird, er wird euch alles lehren und euch an alles erinnern, was ich euch gesagt habe“ Johannes im 14. Kapitel seines Evangeliums (Joh 14,26). Wir haben ein natürliches Sein, so daß wir das sind, was wir sind, und dies von Gott dem Vater und Schöpfer aller . Wir haben die Möglichkeit zum übernatürlichen, das heißt geistigen und göttlichen Sein, durch die Wiedergeburt im Sohn. Dies erreichen wir im Heiligen Geist (Joh 3,5). Und so „Natur, Gnade und Herrlichkeit“55 vom dreifaltigen Gott. Wir sind Geschöpfe, die in der diesseitigen Welt wandeln, in der Hoffnung auf die Verheißung des Sohnes, zu der wir unter Führung des Heiligen Geistes gelangen etc. (2) Das Thema lautet, wie „der Vater den Heiligen Geist senden wird“ etc. (Joh 14,26) Zuerst wollen wir den Bericht aus der Apostelgeschichte betrachten, das heißt wie das vonstatten gegangen ist, als der Heilige Geist zu den Jüngern gesandt wurde etc. Thema ist : „Der Beistand aber, der Heilige Geist“ etc. (Joh 14,26) Hier wird gefragt, was der Heilige Geist ist, und nach „ruach“ (Gen 1,2) und „pneuma“ (Joh 3,8; 14,26), und was der Geist insgesamt ist, und welche verschiedenen Arten von Geist es gibt. Zweitens über die Tätigkeit des Verstandes: Wie kommt , daß jeder verständige Geist gut geschaffen ist und dennoch nicht immer zum Guten strebt? (3) Zunächst soll vorausgeschickt werden, wie die Sendung des Heiligen Geistes als geschichtliches Ereignis beschrieben wird. Zuerst, was der Geist ist und wie alle Antriebskraft vom Geist und über die Verschiedenheit der Geister und wie sie die Antriebskräfte bestimmen und zuletzt über den Heiligen Geist, der heiligt und verwandelt etc. (den weiteren Verlauf dieser Niederschrift [B] s.o. n.13).

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Vgl. Guilelmus Altissidorus: Summa aurea I, c.16; Augustinus: Epistula 187 Ad Dardanum, c.2-6, n.3 und c.12, n.35; Petrus Lombardus: Sententiae I, dist. 37, c.1, n.333 und c.3, n.338; Bonaventura: Commentarius in IV Libros sententiarum I, dist. 37, pars 1, a.3, q.2.

Predigt XXXVII: Der Beistand aber

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XXXVII C Dritte, von Nikolaus verworfene Niederschrift (1) „Der Beistand aber“ etc. (Joh 14,26) Zuerst soll eine Nacherzählung der Ereignisse vorausgeschickt werden. Zweitens soll durch Auslegung der Bibelstelle eine Untersuchung über den Geist unternommen werden. Drittens werden wir – weil in der Bibelstelle gesagt wird, daß ihn „der Vater sendet“, – sehen, zu wem er gesandt wird. Viertens, weil es heißt, er sei „Tröster“ und „Lehrer“, werden wir sehen, was der Geist in uns bewirkt. (2) Zum ersten Punkt bezüglich der Nacherzählung des Geschehens soll die Tageslesung vorgetragen werden. Zum zweiten soll zunächst gesagt werden, inwiefern der Heilige Geist ein „Band“ ist bzw. die „Verbindung von Einheit und Gleichheit“ und warum er „Hauch“ genannt wird, nämlich wegen seiner Unsichtbarkeit, wie die Luft und der Wind. Man nennt ihn „spiritus“, „ruach“ oder „pneuma“. Dann, wie der Geist alle Verknüpfung einfaltet. Und weil die Verknüpfung der Form mit der Materie aus einem Antrieb kommt, ist der Geist die „Antriebskraft des Alls“, die „Weltseele“ genannt wird oder „Weltordnung“ oder „göttliche Fügung“, den Dingen innewohnend etc. Dann, wie dieser Antrieb ist, sei es auf das Sein, sei es auf das Leben, sei es auf Erkenntnis. Ferner, wie jeder spezielle Antrieb dem intellektualen Antrieb untergeordnet ist, auch jeder Antrieb der Einung, so daß jede Art, da sie unter einer bestimmten Kraft in Gang kommt, über sich die intellektuale Kraft hat, an deren Tätigkeit jedes beliebige Individuum in eingeschränkter Weise teilhat. (3) So sind in der Tat die Kräfte, die wir „Engel“ nennen, die diese spezifischen, grundlegenden Antriebskräfte des Elementarischen, Lebendigen, Empfindenden und Lebenspendenden etc. lenken. Daher gibt es Engel bzw. Kräfte, die über den Antrieb des Feuers oder dessen Kraft gesetzt sind. Andere herrschen über die der Luft, andere über die des Wassers, andere über die des Landes, wieder andere über die der aus der Erde hervorkommenden Mineralienverbindungen etc. Denn die Kraft des göttlichen Geistes, die eingeschränkt auf eine bestimmte Art der Tätigkeit in einem Sein, das Anteil an ihr hat, betrachtet wird, ist die Kraft, die als engelhaft oder gesandt bezeichnet wird. Denn so ist sie geschenkt oder gesandt vom Geist des Alls. Die Einheit also einer spezifischen Antriebskraft, an der in verschiedener Weise den Individuen Anteil gegeben wird und die in ihrer losgelösten Gestalt betrachtet wird, wird als „abgetrennter Geist“ oder als „Fähigkeit zur Einsicht“ oder als „daimon“, was soviel bedeutet wie wissendes Lebewesen56 etc., oder als „Engel“ bezeichnet, unter dessen Leitung jene Antriebskraft steht. So nehmen wir ja auch in 56

Über den Ursprung dieser antiken Etymologie vgl. Platon: Cratylus 389b; Isidor von Sevilla: Etymologiae VIII, c.11, § 15; vgl. Predigt XXXVII, n.10, 12-14.

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den Bewegungen der Sterne, wo wir die Vielfalt der Kraft sehen, vielfältige lenkende Geister wahr. So wissen wir auch aus der Schrift, daß jeder Gemeinschaft, die zur einen Kirche, zu einem Reich oder einer Genossenschaft verbunden ist, ein Vorsteher gegeben ist. (4) Dann ist die Aufmerksamkeit auf den intellektualen Geist zu richten, weil er in sich die Kraft des freien Willens in seiner Tätigkeit hat; denn er macht sich Ähnlichkeitsbilder aller Dinge. Deshalb kann jeglicher intellektuale Geist nach außen oder nach innen, auf die Mitte hin, streben. Also ist die intellektuale Bewegung nach außen auf diese geschaffene Welt gerichtet; die nach innen ist gerichtet auf den Urgrund von allem; fahre zu diesem Punkt fort, wie du an anderer Stelle57 hast. Weil aber unsere Natur intellektual und körperlich ist, hat sie ein doppeltes Streben: eines, den Körper am Leben zu halten, und das andere, um sich Ähnlichkeitsbilder der Dinge zu machen, und um sich nach außen zu wenden zur Welt oder nach innen zum Ursprung. Daher stehen dem Menschen zwei Geister zur Verfügung: ein guter und ein böser. Etc. (Die Fortsetzung dieser Niederschrift s.o. n.12).

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Niederschrift A, n.4, 7-29 und De docta ign. II, c.10 und 11.

Predigt XXXVIII Sanctus, sanctus, sanctus Heilig, heilig, heilig Zeit: Fest: Ort: Zählung Koch: Edition: Deutsch:

7. Juni 1444 Dreifaltigkeitssonntag Koblenz 30 h XVII/1, 101-115 –

ZUSAMMENFASSUNG Die Kirche preist Gott mit dem Gesang der Seraphim als den heiligen Herrn (n.1). Da niemand Gott so kennen kann, wie er ist, muß der Glaube der intellektuellen Reflexion über Gott vorausgehen, und der Glaube preist den heiligen Gott (n.2-3). Die Heiligkeit Gottes wird von Jesaja und in der Offenbarung des Johannes in vielen Bildern ausgemalt, die das eigentlich Unsagbare zu beschreiben versuchen. So wie in diesen Bildern die Engel zum Thron Gottes fliegen, muß sich der menschliche Geist zur intellektuellen Schau Gottes erheben (n.4-9). Gott ist das absolute Sein, der Mensch und die Welt haben Anteil an diesem Sein und sind sein Abbild. Aus der Betrachtung der Natur kann somit auch theologische Erkenntnis gewonnen werden, etwa zur Frage der Trinität (n.10-15). Die trinitarische Struktur zeigt sich zudem in der Anthropologie: Auch das Menschsein ist drei-einig. (n.16).

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Predigt XXXVIII Heilig, heilig, heilig (1) „Heilig, heilig, heilig ist Jehova Sabaoth. Die ganze Erde ist erfüllt von seiner Herrlichkeit“ (Jes 6,3). Unsere Bibel1 hat : „Heilig, heilig, heilig Herr Gott der Heere. Erfüllt ist die ganze Erde von seiner Herrlichkeit.“ Das griechische Dreimalheilig lautet so: „Hagios, hagios, hagios kyrios sabaoth“ etc. In der Messe singen wir: „Heilig, heilig, heilig, Herr Gott Sabaoth. Erfüllt sind Himmel und Erde“ etc.2 Und weil wir uns anschicken, über diesen heiligsten Gesang der Seraphim zu sprechen, den Jesaja vom göttlichen „Geist“ (Offb 4,2) empfangen hat, lasset uns beten, etc. (2) In der Lesung des heutigen Tages lesen wir: „O Tiefe !“ etc. (Röm 11,33) Im Bemühen, den Römern verständlich zu machen, daß durch den Glauben alles erfaßt wird und nicht durch Wissen, und daß die Geheimnisse Gottes, das, was man über Gott nicht wissen kann, durch Gnade, nicht durch Rechtsanspruch auf wunderbare, gleichsam unbegreifliche Weise , sagte Paulus: „O Tiefe des Reichtums, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes!“ etc. (Röm 11,33-36) Er wollte so die unfaßbare Größe Gottes selbst zeigen, und nicht nur, daß sie unbegrenzt und in sich unsagbar ist, sondern auch, daß die Geschöpfe an ihr teilhaben, wie „die Sonne in ihrem Umlauf unsichtbar ist“3 und in ihrer Kraft, die Dinge durch diese am Einfluß der Sonne teilhaben. Er fügte hinzu: „Wer kennt die Gedanken des Herrn, oder wer war sein Ratgeber, oder wer hat ihm als erster etwas gegeben?“ etc. (Röm 11,34f.), gleichsam um zu sagen: Wenn es irgendein Verstehen der Werke Gottes gäbe, dann wäre es nötig, daß man auch die „Gedanken des Herrn“ kennte, weil „Verstehen bedeutet, eine Sache aus ihrer Ursache zu erkennen“.4 Denn die „Gedanken des Herrn“ sind Gott. Das aber, was in Gott ist, weiß niemand außer Gott, so wie auch niemand weiß, was im Menschen ist, außer der Mensch oder der Geist des Menschen. (3) Also kennt niemand die Weisheit Gottes, außer Gott , und ebenso wenig die Macht, durch die er Schöpfer ist. Daher „gibt es keinen Grund für die Werke des Herrn“ (Koh 8,17), vielmehr „machte er , wie er wollte“ (Ps 135[134],6). Und er wollte , weil er Gott ist. So trägt auch niemand mit einem Rat zu „seiner Weisheit“ bei, die „unermeßlich ist“ (Ps 147[146],5), weil sie unbegrenzt ist. dem Unbegrenzten und der Fülle kann nichts hinzugefügt werden. Aber weil das so ist, fährt fort: Wer gab ihm als erster und wird ihm zurückerstatten?, gleichsam um zu sagen: Weil das so ist, daß aus der Tiefe seines Reichtums an Erkenntnis und Weisheit, die nicht erfaßt 1 2 3 4

Vulgata. Missale Romanum Pii V, Ordinarium Missae. Guillelmus de Lanicia: Diaeta salutis, tit. 5, c.3. Thomas von Aquin: De veritate, q.10, a.10 ad 5.

Predigt XXXVIII: Heilig, heilig, heilig

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werden können, alle Dinge das sind, was sie sind, kann die Schöpfung nicht anders, als Gott zu preisen in dem, was ist. Denn wenn die Schöpfung Gott etwas gegeben hätte, hätte er es vergolten, weil er gerecht und gut ist. Und weil er nichts von der Schöpfung hat, vielmehr die Schöpfung alles von ihm hat, hat sie alles, was sie hat, von der uneingeschränkten Gnade und unendlichen Güte Gottes, „weil aus ihm, durch ihn und in ihm alles ist“ (Röm 11,36). Ihm sei „Ehre und Ruhm von Ewigkeit zu Ewigkeit!“ (Röm 16,27) „Aus ihm“ als Ursprung, „durch ihn“ als Mittler, „in ihm“ als Ziel (Röm 16,27), weil er „Wirk-, Form- und Zweckursache“5 von allem ist. Er ist Schöpfer, Bewahrer und Verherrlicher etc. Also kann jedes Geschöpf, das über einen gesunden Verstand verfügt, wenn es das berücksichtigt, nur das sagen, was hinzufügt: Ihm sei „Ehre und Ruhm von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen.“ (Röm 16,27) Es wird also nichts Anderes sagen als „heilig, heilig, heilig“ etc. (Jes 6,3) Und das war ja unser Thema. (4) Jesaja aber sagt: „Ich sah den Herrn sitzen auf einem hohen und erhabenen Thron. Und das, was unter ihm war, erfüllte den Tempel. Seraphim standen darüber. Jeder hatte sechs Flügel. Mit zweien verhüllten sie ihr Gesicht, mit zweien ihre Füße; und mit zweien flogen sie und riefen einander zu und sagten: Heilig, heilig“ etc. „Und die Türschwellen erbebten von der Stimme der Rufenden. Und das Haus füllte sich mit Rauch. Und ich sagte: Weh mir, ich bin verstummt, weil ich ein Mann mit unreinen Lippen bin! Und ich wohne inmitten eines Volkes mit unreinen Lippen und habe den König, den Herrn der Heere mit meinen Augen gesehen. Da flog einer der Seraphim zu mir, in der Hand ein Stück Kohle, das er mit einer Zange vom Altar genommen hatte. Und er berührte meinen Mund und sagte: Siehe, hiermit habe ich deine Lippen berührt, und dein Unrecht wird getilgt, und deine Sünde wird gesühnt. Und ich hörte eine Stimme, die sagte: Wen soll ich senden?“ etc. (Jes 6,1-8) Beachte, daß Jesaja, als er „vom Geist ergriffen“ (Offb 4,2) war, den Herrn auf einem erhabenen Thron sitzen sah etc. Denn er wird nicht anders gesehen als in der Höhe des Herrscherthrones, und er wird „von weitem“ (Lk 18,13) gesehen, weil der Thron erhöht war. „Und was unter ihm war, erfüllte den Tempel“ (Jes 6,1). Denn „der Herr“ ruhte „in seinem heiligen Tempel“ (Ps 9,5), „sitzend auf einem erhabenen Thron über den Cherubim“ etc. (Ps 99[98],1) „Den Tempel“ (Jes 6,2), in dem er saß, „erfüllte“, was unter dem Thron war, das heißt die „himmlischen Kräfte“.6 Lyra : „Im hebräischen heißt es: und sein, das heißt des Gewandes, Saum erfüllte den Tempel.“7 „Und Seraphim“ etc. (Jes 6,2) Sie standen nämlich unterhalb jenes Thrones; denn sie berühren ihn nur von unten. Und sie hatten Flügel für drei Bewegungen: nämlich die Bewegung des Gehens, wie man mit den Füßen umhergeht, die Bewegung des Erkennens, wie man den Blick schweifen läßt, und die Bewegung des Entrücktwerdens, wie man fliegt. Aber sie konnten sich weder 5 6 7

Zu dieser dreifachen Ursache vgl. unten, n.10. Ps.-Dionysius Areopagita: De caelesti hierarchia, c.11. Nikolaus von Lyra: Postilla in Is 6,7 (Glossa ordinaria IV, 86).

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durch verstandesmäßige noch durch vernunftmäßige Annäherung helfen. Weil sie wußten, daß diese Bewegungen zu schwach waren, verhüllten sie mit den Flügeln der Möglichkeit ihr Gesicht und ihre Füße. Diese Flügel setzten sie nicht in Bewegung, sondern nutzten sie lieber zur Verhüllung, damit sie nicht zum Hindernis würden. Mit zwei Flügeln aber flogen sie, das heißt, daß sie durch das Entrücktwerden des zur Erkenntnis befähigten Geistes und der brennenden Sehnsucht getragen wurden. Denn sie wurden durch die geistige Fähigkeit, das Wahre zu erfassen, dazu geführt, zu fliegen, und durch die Leidenschaft des Willens dazu, „einander zuzurufen: Heilig, heilig“ etc. (Jes 6,3) Und beachte, wie wirkmächtig jener Ruf ist, weil „die Türschwellen des Hauses “ „und das Haus sich mit Rauch füllte“ (Jes 6,4). Ferner beachte, daß Jesaja, nachdem er jene Worte, die sie einander zuriefen, gehört hatte, sagte: „Weh mir, ich bin verstummt!“, und den Grund hinzufügte, „weil ich ein unreiner Mann bin“ etc. (Jes 6,5) Beachte auch, wie „einer der Seraphim zu ihm flog“ etc. Denn das Fliegen des Seraphs führt den Geist dazu, sich im Tempel dem Altar zu nähern und „mit einer Zange ein Stück glühende Kohle“ „vom Altar“ zu nehmen, mit dem er „die Lippen berührte“, damit sie rein würden. (Jes 6,6f.) Und dieser ist würdig, zu rufen und gesandt zu werden, denn es ist der Ruf und die Sendung der Seraphim etc. (5) Der Seraph reinigt nicht . Er verkündet nur, daß gereinigt worden ist. Gott ist es, der reinigt. So verhält es sich auch mit dem Priester etc. Daraus ersiehst du, daß die Prediger Verkündigungspflichten ausüben. Aber was soll der Prediger rufen? Zu allererst wird er freilich rufen: Heilig, heilig“ etc. Und er wird es „dem anderen“ (Jes 6,3) zurufen, so daß sie zugleich rufen, und die, die schweigen, weil „ihre Lippen befleckt sind“ (Jes 6,5), wird er reinigen durch ihr Sündenbekenntnis, mit glühender Kohle vom Altar wird er sie reinigen. (6) Erwähne bei diesem Punkt eine andere Vision, des Johannes in der Offenbarung, Kapitel 4. Denn als Johannes „vom Geist ergriffen“ (Offb 4,2) hinaufstieg, sah er im Himmel einen Thron und darauf saß einer etc. hier über die „vierundzwanzig Throne und die Ältesten, die Kränze trugen“ (Offb 4,4). „Und vom Thron gingen Blitze, Stimmen und Donner aus. Und sieben Fackeln brannten vor dem Thron. Das sind die sieben Geister Gottes. Und vor dem Thron war etwas wie ein gläsernes Meer, ähnlich wie Kristall; und in der Mitte des Thrones und um ihn herum vier Lebewesen, vorne und hinten voller Augen: Das erste wie ein Löwe, das zweite wie ein Stier, das dritte hatte ein menschliches Antlitz, das vierte glich einem fliegenden Adler. Und jedes einzelne hatte sechs Flügel. Sie ruhten nicht bei Tag und Nacht und riefen ohne Unterlaß: Heilig, heilig, heilig ist der Herr, der allmächtige Gott, der ist, der war und der kommen wird“ (Offb 4,5-8) etc. – Lies die Stelle nach. (7) „Der Ruf aber ist: ‚Heilig‘“ etc. (Jes 6,3), und es riefen nur die, die flogen. „Sie flogen aber mit zwei Flügeln“ (Jes 6,2): Der eine ist der Flügel des Intellekts, der andere der des Affekts. Bereiten wir den Intellekt zum Flug, wie der Flügel bereitet wird, das heißt, daß wir die Möglichkeit der intellektualen

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Bewegung soweit wie möglich in die Wirklichkeit ausdehnen sollen. Der Vogel aber hat keine Bahn in der Luft, über die er fliegt, sondern er setzt das voraus, zu dem er hinstrebt. Also geht der Intellekt, der fliegen will, um „heilig“ rufen zu können, mit Hilfe des Glaubens zunächst davon aus, daß es die heiligste „Dreifaltigkeit in Einheit“ gibt.8 Denn dreimal „heilig“ rufen und in der Einzahl „Herr“ hinzufügen bedeutet, an die Existenz der „Dreifaltigkeit in Einheit“ zu glauben. Und wer ruft, seine Herrlichkeit erfülle die ganze Erde (Jes 6,3), glaubt, daß die Vollkommenheit oder Fülle der ganzen Schöpfung von ebendieser Dreifaltigkeit in Einheit und durch sie und in ihr besteht. Wenn er aber dies voraussetzt, ruft er noch nicht, vielmehr wünscht er, das zu schauen, was er doch in tiefstem Herzen trägt, ihm sozusagen verschwenderisch von den göttlichen Gnadenschätzen eingegeben. Denn „der Glaube kommt vom Hören“ (Röm 10,17), aber was immer wir hören, begehren wir zu sehen, so als sei ohne das Schauen alles gestaltlos, was mit dem Gehör aufgenommen wird. Also bedeutet Voranschreiten zur intellektualen Schau des Wahren, das man in gläubigem Hören aufgenommen hat, auf intellektuale Weise zu fliegen oder wie ein Seraph oder ein Engel. (8) Aber der Glaube an die Dreifaltigkeit wurde uns durch vielfältige Worte der Heiligen eingegeben. Doch von der „Gnade Gottes“ kommt es, daß wir zum Glauben gekommen sind. Es würde lange dauern, aufzuzählen, durch welche Worte der Heiligen des Alten und des Neuen Testaments, aber es genügt, daß wir den Glauben haben. Spannen wir also die Flügel aus, um zu dem fliegen zu können, was wir im Glauben erfaßt haben. (9) Wir wollen also sagen, daß am Flügel selbst drei Reihen Federn sind: Es sind kleine, mittlere und große. Mit den kleinen können wir nicht in die Höhe aufsteigen, wenn uns die großen nicht unterstützen. Das Fliegen, das den kleinen Federn entspricht, ist das in niederen Bereichen, das heißt in den Bereichen des Sinnlichen, das Fliegen, das den mittleren angemessen ist, ist das in den Bereichen des Verstandes und der Gelehrsamkeit, das Fliegen schließlich, das den größten gemäß ist, ist das in den höchsten Höhen des Intellekts. Bei der ersten Art des Fliegens bewegen wir uns auf Spuren, bei der zweiten im Bild, bei der dritten in der Wahrheit selbst. (10) Beginnen wir also und streben wir nach der Vermehrung des Glaubens, das heißt nach dem Verständnis dessen, was wir glauben, aufgrund dessen, was wir mit den Sinnen wahrnehmen! Wir sehen nämlich an den künstlerisch hergestellten Dingen, daß alles, was entsteht, von irgendjemand, aus irgendetwas und zu irgendetwas hergestellt wird. Der Künstler schafft die Form des Kunstgebildes mit Hilfe seines künstlerischen Geschicks zum Zweck des Guten. Wenn wir also ein Standbild sehen, das das Werk eines Bildhauers ist, erfassen wir in ihm zuerst, daß es ein von irgendeinem Bildhauer geschaffenes Standbild ist, daß es durch die vollkommene Kunstfertigkeit des Bildhauers vollkommen geformt ist, 8

Symbolum Quicumque; Ps.-Augustinus: Sermo 384, c.2; Petrus Lombardus: Sententiae I, dist. 3, c.3.

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

daß es vom Ergebnis her eine gute Darstellung des Bildhauers ist. Aus der Übung der Kunstfertigkeit entsteht doch die Kunst – „durch Schmieden wird man Schmied“9 – und so entsteht Kunst aus der Übung des Künstlers. Und die Kunstfertigkeit ist in der Kunst wie der Vater im Sohn; die Kunst in der Kunstfertigkeit wie der Sohn im Vater. Das aber, was den Schöpfer in seinem Werk bewahrt, ist die Freude, die das Gut ist, das aus Übung und Kunstfertigkeit hervorgeht. Im Kunstwerk erfassen wir also drei Ursachen, nämlich „eine Wirkursache, eine Formursache und eine Zweckursache“.10 Und sie sind nicht dasselbe. Dennoch fallen sie in der Einheit des Meisters zusammen, der „Wirkursache, Formursache und Zweckursache“ ist. (11) Und achte darauf, daß du aus der Tatsache, daß die Freude den Werkenden im Werk bewahrt, gut verstehen kannst, wie die Zweckursache in der Wirkursache und in der Formursache enthalten ist und umgekehrt. Und weil die „Kunst die Natur nachahmt“,11 steigen wir so von den natürlichen Dingen auf zum Meister der Natur, indem wir sagen: Wir sehen die natürlichen Dinge, zum Beispiel sehe ich den Menschen und sage: Dieser Mensch kann nicht aus sich heraus natürlich sein; er ist vielmehr menschlicher Natur durch den Meister; er ist vollkommen gestaltet durch die vollkommene Weisheit des Meisters; in ihm erstrahlt die Güte des Meisters durch seine Bestimmung; denn er ist zur Natur gehörig, und das nur „von“ der allmächtigen Natur, und er kann nur „durch“ die Kraft der allmächtigen Natur zur Natur gehörig sein, und außerhalb der allmächtigen Natur kann er nicht zur Natur gehörig sein. Das sagt Paulus in seinem Brief über das „Sein“ (Röm 11,36). So könnte man noch andere Beispiele anführen. Das Wesen der vollkommenen Meisterschaft ist dreifach, weil in ihm die Übung, die Kunst und die Freude sind: die Übung: „woraus“, die Kunst: „wodurch“, der Genuß: „worin“.

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11

Sprichwort, vgl. Karl Friedrich Wilhelm Wander: Deutsches Sprichwörter-Lexikon, 4. Bd., Leipzig 1876, Sp. 274. Diesen Gedanken von Gott als Wirkursache, Formursache und Zweckursache könnte Nikolaus schon 1424/25 bei Heymericus de Campo kennengelernt haben. Cf. Heym. de Campo: Compendium divinorum, tract. 2 (Cod. Mog. 610 fol. 121 recto). Nach De beryllo, c.16 (h XI/1 p.16, 1-3) und De ven. sap., c.7 (h XII n.18) ergeben sich zwei Stränge von Quellen: a.) Aristoteles: Physica II, c.7 (B 198 a 24sq.); Albertus Magnus: Lib. II, Physica, Tract. 2, c.22 (Borgnet 3, 159 ab); Bonaventura: In Sent. II, dist. 38, a.1, q.2 ad 6; Thomas von Aquin: In Physicam expositio II, lect. 11 (Maggiòlo [1954], p.117, n.242; p.119, n.246). b.) Ps.-Dionysius Areopagita: De divinis nominibus, c.4 § 7; Albertus Magnus: Super Dionysium De divinis nominibus, c.4 (Ed. Colon. 37/1, n.86, p.192, 7-25); ders.: In Dionysii De caelesti Hierarchia, c.4 (Borgnet 14, 104 ab); Henricus Bate: Speculum divinorum et quorundam naturalium, pars 3, c.18 (ed. E. van de Vyver 2 [Louvain-Paris 1967], 220-227). Aristoteles: Physik II, c.2; vgl. Kurt Flasch: Ars imitatur naturam, Frankfurt/M. 1965, 265-306.

Predigt XXXVIII: Heilig, heilig, heilig

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(12) Denn wir wissen, daß alles das, was wir bestehen sehen, nicht das „absolute Sein“12 selbst ist. Außerhalb des „absoluten Seins“13 kann nichts sein; denn wenn es außerhalb ist, existiert es nicht. Weil wir aber dieses Sein, zum Beispiel diesen Menschen, sehen, ist das Sein des Menschen bzw. der Mensch nicht, „alles, was ist“.14 Denn auch der Himmel ist und andere ohne Zahl. Wenn daher der Mensch ist, ist er „Sein von etwas her“.15 Er hat Anteil am Sein, damit er sein kann. Und der Mensch kann nicht durch etwas Anderes sein als durch das Sein. Denn wenn es etwas Anderes wäre als das Sein, könnte es nicht die „Gestalt des Seienden“16 geben; durch das Sein selbst also ist er. Und er kann nicht wegen etwas anderem sein als wegen des Seins und nicht in etwas anderem als im Sein, wie Paulus in seinem Brief sagt (Röm 11,36). Da also alles das, was „dieses Etwas“17 ist, so beschaffen ist „vom“ absoluten Sein her „und durch es und in ihm“ oder seinetwegen, steht fest, daß das absolute Sein der dreifaltig-eine Gott ist. Und daher heißt es in der Offenbarung des Johannes, Kapitel 4: „Vier Lebewesen“ (Offb 4,8), die die gesamte Natur in je vierfachem Hervortreten verkörpern, hören nicht auf, „bei Tag und bei Nacht “ etc. Sie sagen: „Heilig, heilig, heilig“ dem drei-einen Gott, „der ist“ etc. (Offb 4,8), weil sie „von ihm, durch ihn und in ihm“ (Röm 11,36) alles das sind, was sie sind. Und dann, als die vier Lebewesen dem, der auf dem Thron saß, Ehre und Lobpreis erwiesen, traten die „vierundzwanzig Ältesten“ (Offb 4,4), die Richter etc. „vor den hin, der saß und legten ihre Kränze ab mit den Worten: Würdig bist du, Herr, unser Gott, Ruhm und Ehre und Macht zu empfangen, weil du alles geschaffen hast und alles durch deinen Willen war und ist.“ (Offb 4,10f.) (13) Ebenso sehen wir in allem Geschaffenen den dreifaltig-einen Gott, da es in irgendeiner Weise an ihm teilhat, denn je ähnlicher ein Geschöpf Gott ist, desto mehr ist es dreifaltig-eines. Führe ein Beispiel an für „Einheit, Gattung und Ordnung“: Augustinus.18 Ferner für „Zahl, Gewicht und Maß“ (Weish 11,20),19 ferner für „Einheit, Wahrheit, Güte“20 und für „sein, können, tätig sein“;21 ebenso die Wechselbeziehung der Endungen „-tivum,

12 13 14 15 16 17 18 19 20 21

Meister Eckhart: Prologus in opus propositionum (LW 1, n.3, p.166, 13-167, 1); Expositio Sancti Evangelii secundum Iohannem (1, 3) (LW 3, n.52, p.43, 11sq.). Thomas von Aquin: In Sent. I, dist. 8, q.2, a.1; Meister Eckhart: Processus, Col. III ad 4. Theodoricus Carnotensis: Commentarius Victorinus (n.99, p.502, 70-72). Meister Eckhart: Sermo 23. Boethius: Quomodo substantiae in eo quod sint bonae sint, II. Aristoteles: Categoriae, c.5 sec. Versionem Boethii (Arist. Lat. 1/I-V [1961], p.10, 29-p.11, 12); Thomas von Aquin: Summa theologica I, q.75, a.2 ob 1 et ad 1. Augustinus: De Trinitate VI, c.10, n.12. Angabe der Versnummer nach der Einheitsübersetzung. Petrus Lombardus: Sententiae I, dist. 3, c.1 (19713, p.70,32-p.71,19). Ps.-Dionysius Areopagita: De caelesti hierarchia, c.11.

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-bile, -are“.22 In allen Geschöpfen, den niedrigsten und den höchsten, ist „Wesen, Kraft und Tätigkeit“.23 Das ganze Wesen eines Geschöpfes besteht aus Möglichkeit, Wirklichkeit und der Verbindung . Die Möglichkeit strebt danach, die Wirklichkeit aus sich hervorzubringen; aus der Möglichkeit und der Wirklichkeit entsteht Ruhe und Freude. Denn das Sehvermögen bringt seine Wirklichkeit hervor, und es entsteht das Sehen, in dem die Freude und die Ruhe des Schauens liegen. Genauso entsteht aus dem Erkenntnisvermögen die Kenntnis oder Weisheit, so daß der Intellekt aus seiner Möglichkeit die Wirklichkeit hervorbringt; und aus beidem geht Freude und Ruhe hervor. Und da nichts eins ist, das nicht dreifaltig wäre, ist das absolute Sein selbst, von dem alles ist, was ist, und an dem alles teilhat, dreifach-eins. Also sind absolute Möglichkeit, absolute Wirklichkeit und absolutes Wirken in der Einheit des absoluten Seins. Ohne diese Wechselbeziehungen, die den kleinsten Federn der Flügel entsprechen, die in dieser sinnlich wahrnehmbaren Welt fliegen, kann überhaupt nichts gefunden werden. Denn alles, was in den Geschöpfen ist, ist unleugbar in vollkommenster Weise im Schöpfer, da doch die Schöpfung nur offenbar gewordenes Ähnlichkeitsbild Gottes ist. (14) Weitere Federn des Flügels sind die mittleren, die an den kleineren und den größeren Anteil haben. Mit ihnen wird die Bewegung freier, und diese Bewegung findet sich in den mathematischen Gleichnissen, die als nicht zur Materie gehörig betrachtet werden. Und dieses Fliegen geschieht durch das geschulte Fliegen des Intellekts, das man im belehrten Nichtwissen24 vor sich hat, wenn es um „Einheit, Gleichheit und Verknüpfung“25 geht. Und da gibt es ein Beispiel des Augustinus,26 damit wir sehen, wie es in der Einheit des Wesens eine Unterscheidung der Personen gibt, und daß „Gott Gott gezeugt hat“,27 aber nicht „sich selbst oder einen anderen Gott“.28 Hilarius29 gibt ein Beispiel von den Lichtern, aus dem man verstehen kann, wie die Selbigkeit des Wesens in den drei Personen besteht. Ein anderes Beispiel gibt Augustinus30 bezüglich des Intellekts, des Wissens und der Liebe – wie weiter oben ,31 – aus dem ersichtlich wird, daß es in Gott keinerlei „räumliche Unterscheidung“32 gibt und keine Vermischung der Substanz. 22

23 24 25 26 27 28 29 30 31 32

Raimundus Lullus: Liber correlativorum innatorum, dist. 2; zu den typisch Lull’schen Ternaren vgl. Rudolf Haubst: Das Bild des Einen und Dreieinen Gottes in der Welt nach Nikolaus von Kues, Trier 1952, 60-83. Vgl. Anm. 20. De docta ign. I, c.7-10. Predigt XXII, n.20-22. Augustinus: De doctrina christiana I, c.5, n.5. Thomas von Aquin: Super IV libri Sententiarum I, dist. 4, q.1, a.2. Ebd., a.3. Hilarius: De Trinitate VI, c.12; VII, c.29. Augustinus: De Trinitate IX, c.4, n.4; c.12, n.18. Augustinus: De Trinitate IX, c.4, n.4. Thomas von Aquin: Summa contra gentiles IV, c.11.

Predigt XXXVIII: Heilig, heilig, heilig

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(15) Die großen Federn führen über all das hinaus, dorthin, wo alle Bezeichnungen zur Ruhe kommen, wo jeder logische Schluß aufhört, wo das ist, was mit dem Auge des Intellekts gesehen wird. Das kann nicht ohne Mangel beschrieben werden, da es unsagbar ist, wie Johannes in der Offenbarung über das „himmlische Jerusalem“ sagt, das nicht definierbar ist, weil es kein irdisches Gemeinwesen gibt, das es darstellen könnte, weder in Bezug auf die „Tore“, noch in Bezug auf die „Plätze“, noch in Bezug auf die „Mauern“ (Offb 21,1027). Vielmehr ist es entsprechend jeder Definition einer Stadt keine Stadt, und entsprechend jedem Verständnis von Mauer hat es keine Mauern; und so weiter. Wer so fliegt, nimmt in der Tat nichts auf, was mit irgendeinem Namen nennbar wäre. Wenn man dem Menschen einen Namen gibt, geht man mit dem Intellekt um ihn herum in einer Art Begreifen, und man bildet sich eine Vorstellung. Wenn aber Gott benannt wird und bei jemandem eine Vorstellung entsteht, ist es in Wirklichkeit keine Bewegung des Intellekts im Flug. Denn Gott bedeutet nichts, was du erfassen kannst, sondern jenseits allen Intellekts offenbart er dir größte Unendlichkeit. So mit der Dreifaltigkeit. Und beachte zu diesem Punkt Dionysius, „Über die mystische Theologie“, wo er verneint, daß der wahre Gott dreifaltig-einer ist etc.33 (16) Ich sehe, daß ihr alle Menschen seid. Durch das Wesen des Menschseins seid ihr also Menschen. Ich sehe, daß ihr viele seid. Daher liegt im Wesen des Menschseins das, worin die Vielheit der Menschen besteht. Und so gibt es die Einheit, weil es die Einheit ist, woraus die Vielheit , weil die Vielheit die Ausfaltung der Einheit ist. Ich sehe, daß ihr verschieden seid. So wie die Ungleichheit aus der Vielheit folgt und aus ihr entsteht, so entsteht daher im Wesen des Menschseins aus der Einheit das, worin die Ungleichheit besteht. Die Ungleichheit aber hat Bestand durch die Gleichheit. Daher liegt im Wesen des Menschseins die Einheit, aus ihr die Gleichheit. Ich sehe, daß ihr einzeln und voneinander getrennt seid. Aber die Teilung oder Trennung geht aus der Vielheit und aus der Ungleichheit hervor. Daher findet sich im Wesen des Menschseins das, worin die Teilung besteht, die „aus der Einheit und aus der Gleichheit hervorgeht“,34 und das ist die Verbindung. Daher erkennen wir im einfachsten Wesen des Menschseins: Aus ihm, durch es und in ihm sind die Menschen das, was sie sind. Und so könnten die Menschen nicht durch das Menschsein sein, wenn es nicht drei-einig wäre.

33 34

Ps.-Dionysius Areopagita: De mystica theologia, c.5. Theodoricus Carnotensis: Commentarius De Trinitate II, n.38, p.80, 67sq.; Commentarius Victorinus, n.84, p.499, 74-77 und 79.

Predigt XXXIX Seraphin duabus alis Seraphim mit zwei Flügeln Zeit: Fest: Ort: Zählung Koch: Edition: Deutsch:

7. Juni 1444 Dreifaltigkeitssonntag Koblenz 29 h XVII/1, 116-118 –

ZUSAMMENFASSUNG In einer Zusammenschau der Visionen der Herrlichkeit Gottes bei Jesaja und Ezechiel deutet Cusanus mit der Offenbarung des Johannes das dreifache anbetende Rufen der Engel als Lobpreis der Dreifaltigkeit. Die Flügel der Seraphim werden als Bild des menschlichen Affektes und des Intellektes gesehen, mit denen die Sehnsucht des Menschen zu Gott fliegt. Die drei Flügelpaare der sechsflügeligen Seraphim werden auf Glaube, Hoffnung und Liebe gedeutet. Furcht und Verlangen als Antriebe führen den Menschen dazu, die Furcht zu überwinden und vom Tod zum Leben zu streben. Die Flügel der Seele tragen die Sehnsucht des Abbildes der Dreifaltigkeit zur wahren Dreifaltigkeit. Wenn die Federn der Flügel schmutzig sind, müssen sie durch Taufe und Buße gereinigt werden.

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Predigt XXXIX Seraphim mit zwei Flügeln (1) „Seraphim flogen mit zwei Flügeln und riefen einander zu: Heilig, heilig, heilig der Herr der Heere. Die ganze Erde ist erfüllt von seinem Ruhm.“ Jesaja, Kapitel 6 (Jes 6,2f.). Ezechiel sah „die Herrlichkeit Gottes“ (Ez 8,4 u.ö.) in der Umgebung des Kebar und „Lebewesen mit vier Gesichtern“ (Ez 1,15); und sie hatten jeweils vier Flügel. Und Räder sah er, in denen „der Geist des Lebens“ (Ez 1,20) war. Johannes schaute im 4. Kapitel der Offenbarung die Herrlichkeit Gottes und „vier Lebewesen ringsum“ (Offb 4,6) und „vierundzwanzig Älteste“ etc. (Offb 4,10) Beachte, wie Johannes die beiden Visionen des Jesaja und des Ezechiel miteinander verbindet. Im Brief an die Römer scheint der Apostel diese Visionen in dem Sinn auszulegen, daß sie gleichsam die Tiefe des Reichtums der Weisheit Gottes verkörpern etc., „denn von ihm und durch ihn und in ihm “ (Röm 11,36). Das ist die Schlußfolgerung aller Visionen. Betrachten wir also ganz kurz den Brief: „O Tiefe!“ etc. (Röm 11,33) Und: „denn aus ihm “ etc. (Röm 11,36) Füge dem Brief hinzu: Dies ist der Grund des Rufs der Seraphim: „Heilig, heilig“ etc. (Jes 6,3) (2) Geh an dieser Stelle auf jene Vision ein; erzähle sie zunächst so, wie Jesaja sie beschreibt. Beschreibe dann zu ihrer Erklärung die zwei Flügel, den einen als Flügel des Affekts, den anderen als Flügel des Intellekts.1 Über die dreifache Reihe der Federn, die die Richtung bestimmen: Die ersten, kleinsten Federn sind die des Glaubens, die zweiten die der Hoffnung. Die dritten und größten sind die der Liebe. Darüber, wie „es unmöglich ist“, daß wir zur Erkenntnis gelangen „ohne den Glauben“ (Hebr 11,6). Wie der Glaube führt. Im Glauben bricht man auf, in der Hoffnung schreitet man voran, in der Liebe gelangt man ans Ziel. Zwei Dinge sind es, die antreiben: Furcht und Verlangen. Weil die Seele glaubt, daß es Leben nur im dreifaltig-einen Leben gibt und außerhalb dieses Lebens den Tod, trachtet sie danach, dem Tod zu entrinnen, weil sie fürchtet, vom Tod verschlungen zu werden, und sie spannt ihre Flügel aus. Also geht die erste Bewegung aus von der Furcht. Wenn sie dann beginnt, sich vom Tod weg zu bewegen und dem Leben entgegenfliegt, sehnt sie sich danach, im Leben Ruhe zu finden; und je mehr sie sich durch die Abwendung vom Tod dem Leben nähert, desto mehr wird sie vom Leben lebendig gemacht und ihre Bewegung wird lebhafter, die Federn größer etc. 1

Johannes Gerson: De mystica theologia I, consi. 8. Als Gewährsleute nennt Gerson Augustinus, Hugo von St. Victor, Guillelmus de Alvernia und Thomas von Aquin. Das genannte Werk Gersons besaß Cusanus schon in ganz jungen Jahren (Cod. Argent. 84), vgl. MFCG 5 (1965), 21-23. Vgl. auch Predigt XXXVIII, n.7, 3f.

Predigt XXXIX: Seraphim mit zwei Flügeln

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(3) Aber beachte hier, daß der Glaube lebendig sein muß, damit er das Abbild der Dreifaltigkeit zur wahren Dreifaltigkeit hinführen kann, das heißt daß die Federn nicht schmutzig sein dürfen, daß vielmehr der Schmutz durch Taufe und Buße abgewaschen sein muß: durch die Taufe im Namen der Dreifaltigkeit; durch die Buße in einem dreifachen Werk: „durch Reue, Bekenntnis und Wiedergutmachung“.2 Auch die Reue ist dreifach: in Vorsatz, werk und Unterlassung. Das Bekenntnis von der eigenen Schuld und Unzulänglichkeit und dem Lob Gottes. Wiedergutmachung geschieht auf dreifache Weise: durch Gebet, Fasten und Almosen (Tob 12,8; Mt 6, 2.6.16). Durch diese Wiedergutmachung wird die verfluchte Dreieinigkeit der Welt zunichte gemacht, die durch ihre Last nach unten zieht: durch das Gebet der Hochmut, durch Fasten die Ausschweifung des Fleisches, durch Almosen die Habgier. Dann kann der Glaube dreifach berührt werden: in den Verheißungen, den Geboten und den Sakramenten. Und man gelangt zur dreifachen Hoffnung, nämlich „Vergebung“ zu erlangen, „Gnade“ zu finden und „die Herrlichkeit“3 zu erringen, – um zur dreifachen Liebe aufzusteigen, die kommt „aus einem reinen Herzen“ (1 Tim 1,5), das frei ist von der Todsünde, „einem guten Gewissen“ (ebd.), ohne böse Absichten sowie „einem echten Glauben“ (ebd.), das heißt ohne Heuchelei. Mit diesen „Flügeln einer Taube“ (Ps 68[67],14; 55[54],7) wirst du fliegen und Ruhe finden. Außerdem gibt es den Flügel des Intellekts, der drei Reihen von Federn hat etc.; wie an anderer Stelle. (4) Außerdem werden wir so hingeführt zur Betrachtung des Bildes der Erhabenheit und wir sagen: „Kostet“ aus dem Affekt „und seht“ aus dem Intellekt, „wie lieblich der Herr ist“! (Ps 34[33],9) An dieser Stelle etwas über das Lob der Dreifaltigkeit entsprechend dem Gottesdienst.

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Petrus Lombardus: Sententiae IV, dist. 16, c.1. Bernhard von Clairvaux: Sermones de diversis, Sermo 45, n.6.

Predigt XL Martinus hic pauper Martin, dieser arme Zeit: Ort: Fest: Zählung Koch: Edition: Deutsch:

11. November 1444 Mainz Fest des heiligen Martin 31 h XVII/2, 119-138 –

ZUSAMMENFASSUNG Cusanus stellt den Mainzern den Patron ihres Domes, den hl. Martin, als Vorbild und Brückenbauer zum Himmel vor. Dieser führt als Anführer viele Mitstreiter zum Himmel, die mit ihm einen gemeinsamen „mystischen Leib“ bilden. Drei verschiedene Hörergruppen mit je eigenen Fragen spricht Cusanus an: Die gebildeten Geistlichen fragen nach der Trinität und dem Weg zur Gotteserkenntnis. Die Laien interessieren sich für die leiblich-sichtbare Tätigkeit, mit der Martin die himmlischen Reichtümer errungen hat. Schließlich vermutet Cusanus, daß einzelne nach einem Vorbild im beschaulichen Leben suchen (n.1-2). Die erste Gruppe verweist er auf den Weg der Armut. Was Teile hat, ist nicht Gott. Deshalb führt es den Menschen zu Gott, wenn er sich durch Anspruchslosigkeit und Einfachheit der Teile entledigt. Der hl. Martin konnte auf dem Weg der Armut die absolute Einheit Gottes und ihn als den Dreieinen berühren, da nach dem augustinischen Ternar „unitas-aequalitasconexio“: „Einheit-Gleichheit-Verbindung“ die Vielheit aus der Einheit, die Ungleichheit aus der Gleichheit und die Unterschiedenheit aus der Verbindung kommt. Jedes Geschöpf hat an diesem Prinzip teil. Martin stieg vom Sinnenfälligen über das Rationale in den Himmel der Einsicht empor. Er suchte in seiner Menschennatur nach demjenigen, der diese Natur zuinnerst mit Gott vereint lebt und fand so zu Christus, für den er alle anderen Schätze verkaufte (n.3-8). Aus alledem ergibt sich, was die zweite Gruppe sucht. Alles, was er war und besaß, gab er Christus hin, damit Christus in ihm wohne. Geist und Leib machte er ihm dienstbar und erfüllte nach dem Vorbild Christi die Gebote und die evangelischen Räte. Allen gegenüber war er barmherzig. Dies führt Cusanus im Folgenden anhand der Vita des hl. Martin aus, zu dessen Fürbitte die seinem Patrozinium Unterstehenden Zuflucht nehmen sollen (n.9-14). Schließlich zeigt Cusanus den am beschaulichen Leben interessierten Hörern, daß Martin in allen Pflichten nie das Gebet vernachlässigte. Die Armut

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

führte ihn über beständiges Gebet zur Gottesschau. Der einsichtsfähige Geist Martins blieb beständig auf die Wahrheit bezogen. Der Christ lernt so, das Gute an sich zu suchen und nicht in dem, das am Guten nur teilhat. Frei geworden, betrachtet er in allem die Güte des Schöpfers (n.15-19).

LITERATUR Hermann Schnarr: Zur Filiation der Handschriften mit Cusanus-Predigten an Hand der Martinspredigt v. J. 1444 zu Mainz, in: (MFCG 12), 137-154. Marc Aeilko Aris: Vos Moguntini. Nikolaus von Kues (1401-1464) predigt den Mainzern, in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 50 (1998) 191-217.

Predigt XL: Martin, dieser arme

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Predigt XL1 Martin, dieser arme (1) „Martin, der arme, anspruchslose Mann, reich geht er in den Himmel ein. Mit himmlischen Hymnen wird er geehrt.“2 Das sagt die heilige römische und die gesamte katholische Kirche von dem hochseligen Brückenbauer Martin, unserem Patron. Für uns als Glieder der Kirche bedarf es da keiner weiteren Begründung, um dasselbe im Lied zu bekräftigen, damit unser Bekenntnis allen kund sei. Heilige Kirchenleiter wollten es so, daß wir, – um die Wundertaten Gottes zu verkünden, der „in seinen Heiligen wunderbar ist“ (Ps 68[67],36), und um aus dem Beispiel vorbildlicher Taten Mut zu schöpfen, uns an diesem heiligen Tage die Zeit nehmen, um im Buche der Pilgerschaft unseres Schirmherren zu sehen: wie er in diesem Leben „arm und anspruchslos“ wandelte, wie er aus diesem Leben „reich zum Himmel ging“, und wie er nun, im Frieden begründet, „mit himmlischen Hymnen geehrt wird“. Das soll uns zeigen: So müssen wir wandeln, wenn wir zum himmlischen Throne gelangen wollen, indem wir an dem Bekenntnis zu unserem Brückenbauer, der die Himmel durchschritten hat, festhalten (Hebr 4,24). Ihr, Mainzer, tut auch, indem ihr dieses Fest begeht, nicht nur mit der auch bei den andern Gläubigen üblichen Aufmerksamkeit etwas, wozu ihr gehalten seid; sondern, wie die Vaterliebe Gottes diesen überaus liebenswürdigen Oberpriester euch als Anführer gegeben hat, so müßt ihr auf eine ganz besondere Weise auf seine Wegspuren achten. Unter seinem Banner seid ihr ja willkommen und sehr erwünscht. So sollt ihr, eurem Wegweiser auch im Leben konform, nach ihm geprägt werden und siegreich einzuziehen verdienen. Als „Reicher“ nämlich „geht er in den Himmel ein“, von vielen und kraftvollen Soldaten begleitet, die Glieder seines Leibes sind. Er wacht nämlich beständig über seine Herde und nimmt an Reichtümern zu, wenn sein „mystischer Leib“3 am „großen Tage“ (Jer 30,7) groß sein wird. Dann aber wächst „sein Leib“ zu einem Tempel Gottes, wenn er durch das Vorbild seines Lebens viele durch das Band des göttlichen Geistes zum gleichen Sieg über diese Welt mit sich verbindet. Nach göttlicher Anordnung sind wir nun also zusammengekommen, damit ihr von mir als irgendeinem hört, wie unser Patron aus diesem Tal der Mühsal triumphierend emporstieg, und damit wir auf ihn hinblickend nach Kräften dasselbe tun. Deshalb laßt uns ihn bitten, daß er uns die „Mutter der Barmher-

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Der vorliegende Text gibt die Übersetzung von Rudolf Haubst wieder. Responsorium nach der 8. Lesung der Matutin am Fest des hl. Martin sowie Antiphon zu den Laudes und zur Vesper nach dem Breviarium Romanum Pii V. Vgl. Predigt XXIX, n.1, 7f.

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zigkeit“ huldreich mache. Diese möge uns die erwünschte Gnade erflehen. Indem wir sie kindlichen Sinnes grüßen, laßt uns sprechen: „Sei gegrüßt, Maria!“ (2) Wie mir scheint, klopft ihr, die ihr hier seid, um auf den Spuren unseres glücklichen Patrons Belehrung zu finden, gemäß den drei Ständen, die ihr bildet, mit einer dreifachen Frage bei mir an. Unter euch gibt es ja einige wohlunterrichtete Geistliche und im göttlichen Gesetze Bewanderte; diese sangen in der Matutin,4 daß der heilige „Martin zum Glauben an die Trinität“ kam. Deren Verlangen ist es, zu hören, auf welchem Weg unser Wegweiser aus der heidnischen Unwissenheit zur Erkenntnis der Einheit und Dreieinheit Gottes und zur Kenntnis unseres Christus gelangt ist. Denn unser Gott ist ein „verborgener Gott“ (Jes 45,15), den Augen aller Weisen fern; und Christus, der doch so lange bei den Aposteln war, blieb dennoch unerkannt (Joh 14,9); und „das Unerkannte wird nicht geliebt“.5 Unser Martin, der Christus aus ganzem Herzen liebte, muß ihn danach nicht nur oberflächlich, sondern klar erkannt haben. Daher brennen mehrere nach einer Darlegung, welchen Weg er, unser Patron, einschlug, um den Messias zu finden. An zweiter Stelle sehe ich unter euch einige Laien, die gekommen sind, um zu hören, auf welchem Wege leiblich-sichtbarer Tätigkeit dieser unser Oberpriester in dieser Welt die himmlischen Reichtümer errungen hat, so daß er sich weder zu sterben fürchtete noch zu leben weigerte6 und als Reicher in den Himmel einging. Wie ich vermute, sind da auch einige, die am beschaulichen Leben des tieffrommen Martinus Aufrichtung suchen; sie erwarten dies von dem wunderbaren Weg, auf dem er, „mit Augen und Händen immer dem Himmel zugewandt, mit seinem unbesiegten Geist nie zu beten nachließ“,7 weshalb er mit himmlischen Hymnen geehrt wird. Darüber werde ich das Wenige sagen, das Gott mir bei meiner Unzulänglichkeit auf die Verdienste Martins als meines Patrons hin eingeben möchte. (3) Für die Erstgenannten gilt es nun, zu einer Betrachtung eines hohen und wichtigen Themas das Ohr aufmerksam zu öffnen. Meine These: Der Weg, auf dem unser Martin zur Erkenntnis Gottes und unseres Christus geführt wurde, ist der Weg der Armut und der Anspruchslosigkeit, weil er zu den Reichtümern des Himmels, wo der Schatz des gelehrten

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Breviarium Romanum Pii V, 1. Nokturn, 2. Antiphon und Responsorium nach der 1. Lesung vom Fest. Augustinus: De Trinitate X, c.1, n.1 (CCSL 50, p.311, 2sq.). Sulpicius Severus: Epistulae III, n.14 (CSEL 1, p.149, 4). 3. Antiphon zu den Laudes und in der 2. Vesper; Breviarium Romanum Pii V, Responsorium nach der 3. Lesung in der 1. Nokturn des Martinsfestes. Sulpicius Severus: Epistulae III, n.14 (CSEL 1, p.149, 11sq.). 4. Antiphon zu den Laudes. Breviarium Romanum Pii V, Responsorium nach der 2. Lesung in der 1. Nokturn des Martinsfestes.

Predigt XL: Martin, dieser arme

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Sekretärs hinterlegt ist (Mt 13,52), auf keinem anderen Wege gelangen konnte. Denn da unser Gott die absolute, nicht auf dies oder das eingeschränkte Seiendheit ist, paßt das Nichtshaben zu ihm. Der Weg der Armut bedeutet: sich des Habens entledigen. Wenn Gott auf diesem Weg gesucht wird, wird er gefunden. Demgemäß sagt Severus in seiner Lebensbeschreibung:8 „Ich schwöre bei Jesus und unserer gemeinsamen Hoffnung: Nie habe ich aus einem Munde eine solche Fülle von Wissen, Scharfsinn und klarer Rede gehört“, und dann: „Es ist erstaunlich, daß einem nicht wissenschaftlich Gebildeten auch diese Gabe nicht fehlte.“ Daher vermute ich, daß dieser heilige Mann in solcher Einfachheit auf sich nahm. (4) Alles also, was Teile hat, ist nicht Gott. Aber sich der Teile entledigen, das ist der Weg der Anspruchslosigkeit und der Einfachheit. Deshalb führt dieser Weg zu Gott. Gott ist also nicht etwas, das einen Anfang hat, sondern er ist der absolute Anfang ohne Anfang. Gott existiert also nicht in Vielheit; denn die Vielheit hat einen Anfang, nämlich die Einheit; doch „Gott ist einer“ (Dtn 6,4; Mk 12,29; Gal 3,20), nicht mehrere. Gott ist nicht in der sinnenfälligen Welt; denn dort herrscht die körperliche Größe, nicht die Einfachheit. Er ist auch nicht in der rationalen Welt; denn dort herrscht Vielheit, nicht die einfache Einheit. Mithin ist Gott weder der Himmel noch die Sonne, weder der Jupiter noch der Mond, weder Feuer noch Luft, noch Wasser, noch Erde, noch ein Demiurg, noch Pluto usf. Noch ist er irgendetwas Sichtbares, Hörbares, Schmeckbares, Riechbares, Berührbares. Gott ist auch nichts, das die Bewegung des pflanzlichen oder des sinnlichen, des rationalen oder intellektualen Lebens in sich hat. Also weder Baum noch Stein noch Metall, auch nicht Tier, Mensch oder Engel. Denn er ist nichts von denen, die etwas haben, sondern der Schatz selbst, von dem alles Haben kommt. (5) Es gibt ja Dinge, die nur sind; sie haben Sein. Dieses Sein aber, das sie haben, kann nur von Ihm kommen, der die absolute Seiendheit ist. Oder wie könnte all das, was ist, ohne die Seiendheit sein? Denkt man also Seiendheit weg, so läßt sich nichts konzipieren, das Sein hätte. Sodann gibt es Seiende, die haben Leben. Dieses Leben, das sie haben, haben sie mithin nicht aus sich; denn „nichts kann die Ursache seiner selbst sein“.9 Sie haben es auch nicht von etwas anderem; denn etwas anderes als das Leben gibt kein Leben. Sondern sie haben es von dem absoluten Leben selbst, ohne das nichts Seiendes Leben haben kann. es gibt Seiende, die haben Einsicht; diese haben sie mithin vom absoluten Intellekt. 8 9

Sulpicius Severus: Vita, c.25, n.7 (CSEL I, p.135). Thomas von Aquin: De potestate, q.7, a.8; Summa contra gentiles I, c.18.49. Summa theologica I, q.2, a.33. Eckhart: Expositio libri Sapientiae (7,24a) (LW 2, n.132, p.470,3).

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So ist also Gott, auf dem Wege dieser Armut gefunden, der reichste Schatz. Von ihm fließt ja alles, was man haben kann. Er selbst ist das Gute, das alles gibt. Denn er ist das Sein des Seienden, das Leben der Lebenden und das intellektuale Licht der Einsichtigen. (6) Unser Heiliger konnte auf diesem Wege nicht nur die absolute Einheit, die Gott ist, berühren, sondern auch den dreieinen Gott. Denn entweder faßte er mehrere Geschöpfe in den Blick, oder irgendeines. Wenn mehrere, so sah er: Sie sind mehrere, ungleich und von einander unterschieden. Die Mehrheit kommt aus der Einheit, die Ungleichheit aus der Gleichheit, die Unterschiedenheit aus der Verbindung.10 So sah er: Das Prinzip ist dreieinig. Faßte er irgendein Geschöpf in den Blick, so sah er, daß dieses Einheit, Gleichheit und Verbindung hat. „Die Einheit ist die Seiendheit selbst“; die Gleichheit ist das formgebende Prinzip des „nicht-mehr und nichtminder“, so daß ein jedes Ding das ist, was es ist; und die Verbindung: Durch sie wird die Seiendheit als solche dem formgebenden Prinzip verbunden. Diese Dreieinigkeit hat jedes Ding von dem dreieinen Gott, der Einer ist: „Die Einheit ist der Vater, die Gleichheit der Sohn, die Verbindung der Heilige Geist.“11 (7) Auf diesem Wege kam der hochselige Martin12 zu staunender Bewunderung und „ging als Reicher in den Himmel ein“. Der Himmel ist ja der Höhepunkt unseres Aufstiegs. Als er also das Sinnenfällige hinter sich ließ und zum Rationalen aufstieg und, indem er auch dieses unter sich aufgab, in den Himmel der Einsicht einging – nur in der Einsicht wird ja Gott, der „die Wahrheit“ ist, erreicht, – da fand er sich angekommen an der Quelle des Guten, das sich allem mitteilt. Und wie reich ist er da geworden! „Das Himmelreich ist nämlich einem verborgenen Schatz ähnlich.“ (Mt 13,44) Doch obwohl er von einer unermeßlichen Freude durchdrungen wurde, weil er an der Quelle des Guten angelangt war, fand er, daß er das Ersehnte nicht erreichen konnte. Es war nämlich ein unendliches Licht, das seine Augen nicht wahrzunehmen vermochten; als er es schauend zu erfassen suchte, da wurden sie vielmehr geblendet. Es war nämlich ein „verzehrendes Feuer“ (Dtn 4,24; Hebr 12,29),13 das nicht ergriffen und festgehalten werden konnte. Er fand indes auch, daß Er nicht wollen konnte, daß Er nicht gesehen, verkostet, erlangt und in Besitz gehabt werde. Daher suchte er, durch wen Er gesehen und in Besitz gehabt werde. Und er konnte nur in der Natur der Menschheit suchen – er fand sich ja als Menschen vor – und das Verkosten durch das Gute in dieser mit dem höchsten Verlangen erstreben. Er fand also,

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Eckhart: Expositio libri Sapientiae (1,14a) (LW 2, n.37, p.358,5-7; n.38, p.359,5360,1). Augustinus: De doctrina christiana I, c.5, n.5 (CCSL 32, p.9). Vgl. oben Anm. 2. Proklos: Theologia Platonica I, c.19, p.92, 17-19.

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daß dies „Naturverlangen“ der menschlichen Natur innewohne, und, weil er dieses von der Quelle des Guten habe, daß es „nicht vergeblich“ sei.14 Er wußte aber, daß keine Kreatur höher und vollkommener sein kann als die, die in der unmittelbarsten und innigsten Einigung in der Ader ihres Seins subsistiert.15 So sah er im Himmel der Einsicht, daß er nur in jenem Vollkommensten, der „allein der Höchste“16 und aufs höchste mit aller Gnade erfüllt ist, den göttlichen Schatz zu erlangen vermöge. (8) Er fand also „den Schatz“, den seine Einsicht von ferne schaute, „im Acker“ seiner Natur. Dieser war nämlich nur sein, wenn er ihn „kaufte“; und er konnte ihn nur kaufen, wenn er „alles verkaufte, was er hatte“. Christus war dieser Acker, ohne den er , wie er sah, des Schatzes verlustig ginge. Niemand kann ja an dem Schatz teilhaben, wenn er nicht teilhat am Acker; und diesen kann er nicht haben, wenn er irgendetwas behält. So verkaufte er alles und machte sich zum Diener des Schatzmeisters Christus; und um dem Schatzmeister möglichst erwünscht zu sein, steuerte er höchst freigebig und freudig alles, was er hatte, bei. Dies zum ersten Punkt. (9) Um nun auch dem zweiten Fragekreis zu genügen, sage ich denen, die eine Information über das tätige Leben des hochseligen Martin erwarten, daß sich sein Lebensweg leicht aus dem schon Gesagten ergibt. Da er nämlich „alles, was er hatte, verkaufte“, so blieb ihm nichts, weil er nichts hatte, das er nicht empfing. Da er also alles empfing, betrachtete er alles als Geschenk. Er war ja „der Arme und Anspruchslose“, dem nichts verblieb, was er hatte (Mt 13,44). Dies also war der Weg unseres heiligen Patrons: so zu wandeln, wie es sich für den Knecht ziemt, der, um in der Freiheit Christi frei zu sein, sich Christus verkauft. Er hatte also nicht das Leben, sondern er sagte: „Nicht ich lebe“, der ich mein Leben, das ich hatte, Christus verkauft habe, sondern jener „Christus lebt in mir“ (Gal 2,20), dem mein Leben gehört. Er hatte kein Wollen oder Nichtwollen, weil sein Wille nicht ihm, sondern Christus gehörte. Er hatte nicht einen lebendigen Leib. Denn das Leben des Leibes ist das Leben, das von der Seele ausgeht. Doch dieses Leben war das Christi. Deshalb gehörte auch das Lebensgefühl in ihm Christus. Wozu dies alles? Damit sein

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Aristoteles: De caelo I, c.4 (271 a33). De anima III, c.9 (432 b21sq.). Albertus Magnus: Liber II Physicorum, tract. 2, c.17 (ed. Borgnet 3,150b-151a); Super Dionysii Epistula V (Ed. Colon. 37/I, n.12, p.404, 58-65). Thomas von Aquin: Summa theologica I, q.75, a.6 in corp.; Summa contra gentiles II, c.55 (Opera 2, p.40a, n.7). Augustinus: Confessiones I, c.6, n.10 (CCSL 27, p.5, 55-58); Eckhart: Expositio sancti Evangelii secundum Iohannem (8,44) (LW 3, n.481, p.413, 10sq.). Apol. doct. ign. (h II p.25, 18sq.). Rudolf Haubst: Nikolaus von Kues als Interpret und Verteidiger Meister Eckharts (Freiheit und Gelassenheit. Meister Eckhart heute, ed. U. Kern [1980] 79-82). Gloria der Messe: „Tu solus altissimus.“

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Leben, das er Christus geweiht hatte, im Leben Christi verborgen sei (Kol 3,3). So wohnte Christus in ihm, weil er selbst in Christus lebte. Seine Glieder waren keine anderen als die des ihm einwohnenden Christus. (10) Der „arme“ Christus, der da sagte, der Menschensohn habe nichts, wo er sein Haupt hinlegen könne (Lk 9,58), der „anspruchslose“ wie „ein Wurm und kein Mensch“ (Ps 22[21],7), sowie „die Verachtung des Volkes“ (Jes 49,7; 53,3), wohnte in ihm. Für ihn war also Leben dasselbe wie Sterben; denn über allen Gegensätzen wandelte er gleicher Weise; er verstand es, Überfluß zu haben und Mangel zu leiden, und „er fürchtete sich weder zu sterben noch weigerte er sich zu leben“.17 Er überdachte deshalb die heiligen Berichte in den Evangelien, da er wußte, daß Christus keinerlei Vollkommenheit fehlen konnte, und das, was er dort in der Lehre Christi fand, machte er sich zu eigen. Die Lehre Christi, die dem Geiste Christi entströmte (Joh 16,13; 1 Kor 12,3), zeigte ihm nämlich, welchem Leibe dieser Geist Christi einwohne. Darum machte er seinen Leib dem Geist Christi dienstbar (1 Kor 9,27), indem er zugleich mit den Geboten auch die Räte zur Vollkommenheit erfüllte. Zweifellos war er nämlich höchst tugendhaft; er ist ja „allen alles geworden“, um alle zu gewinnen (1 Kor 9,22). Er erlangte nämlich nicht nur die „politischen Tugenden“, sondern auch die „läuternden“ und die „des geläuterten Gemütes“, und durch sie näherte er sich den göttlichen, den „exemplarischen“ so, daß er „heroisch“ zu nennen ist.18 Es widerstand ihm nämlich, Schmeichlerisches anzuhören, oder daß er tugendhaft oder heilig sei. Nachdem er sich nämlich schon vor seiner Taufe Gott geweiht hatte, erwies er sich, ein Katechumene im Kriegsdienst, als Knecht des barmherzigen Gottes; er teilte seinen Soldatenmantel mit dem Armen und verdiente es, daß Christus ihm erschien. (11) Durch „das Bad der Wiedergeburt“ (Tit 3,5) wurde er im 18. Lebensjahr, als seine Eltern noch Heiden waren, ein Glied Christi.19 Er „widersagte dem Teufel und seinem Pomp“20 und folgte Christus, den er anzog. Nach zwei Jahren gab er den weltlichen Kriegsdienst auf, da er vorhatte, ein „Soldat Christi“ (2 Tim 2,3) zu werden; er ging zum heiligen Hilarius von Poitiers, um als Neugetaufter durch diesen heiligen und hochgelehrten Mann in der Gesinnung Christi unterwiesen zu werden, und ließ sich in den Klerikerdienst

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Sulpicius Severus: Epistulae III, n.14 (CSEL 1, p.149, 4). Breviarium Romanum Pii V, Responsorium nach der 3. Lesung und 3. Antiphon zu den Laudes. Macrobius: In somnium Scipionis I, c.8 § 5-10 (ed. J. Willis [Leipzig 21970] p.37, 22-39, 10). Sulpicius Severus: Vita, c.3, n.5 (p.113 ,26-114,1); c.2, n.1 (p.111, 27sq.); c.5, n.3 (p.115, 13sq.). Aus der Taufliturgie. Ambrosius: De sacramentis I, c.2, n.5 (SC 25, p.55, 21-56,2); De mysteriis, c.2, n.5 (SC 25, p.109, 6-8); Caesarius von Arles: Sermo 12, n.3 (CCSL 10, p.59-60).

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aufnehmen. Er wurde Exorzist und kehrte zurück und gewann die Mutter für das Joch Christi (Mt 11,29), während der Vater im Heidentum verharrte. Inzwischen wurde Hilarius von dem arianischen Konstanz in die Verbannung geschickt. Deshalb zog der in Pannonien geborene und zu Pavia aufgewachsene heilige Martin nach Mailand, wo er in einem Kloster den katholischen Glauben verteidigte. Dabei wurde er durch den arianischen Auxentius persönlich angefeindet. Deshalb zog er sich mit einem Priester auf die Insel Gallinaria zurück. Dort infizierte er sich durch das Essen von Nieswurz; er machte das Kreuzzeichen über sich und wurde durch seinen Glauben geheilt. Als Hilarius zurückkehrte, eilte er ihm entgegen. Er wurde zum Priester geweiht und trat ins Kloster ein,21 wo er ein sehr strenges Leben führte. Dann wurde er gegen seinen Willen auf den bischöflichen Stuhl von Tours erhoben und leitete die dortige Kirche. Am zweiten Meilenstein erbaute er ein Kloster. In diesem sammelte er achtzig Mönche . Die „hatten alles gemeinsam“ (Apg 4,32). Die Gesunden enthielten sich des Weines. Sie widmeten sich der Lesung und dem Gebet. Wenige waren mit Schreiben beschäftigt. Martin gab nie das Mönchsleben auf.22 (12) Immer war er um die Unterweisung bemüht, auf welchem Wege man durch Christus zu Gott gelangt; und daß dies dann leicht geht, wenn man die Welt und ihre Reize verläßt. Durch Fasten, Nachtwachen und Beten quälte er seinen Leib. Bei strengster Selbstzucht ließ er keine Weichlichkeit zu, in Sack und Asche ruhend, allen Reizen entfliehend. Sehr gütig und sanftmütig war er und barmherziger, als es sich schildern läßt, trauernd und „weinend mit den Weinenden“ (Röm 12,15). So groß war sein Eifer, Bedrängten zu helfen, daß er in Trier zur Befreiung vieler, denen die Enthauptung drohte,23 durch leibliche Anwesenheit, nicht im Geiste, an der Bischofsweihe eines Exkommunizierten teilnahm.24 Bei seiner Rückkehr bezeugte ihm ein Engel, daß er Gott damit beleidigt habe. Lange spürte er, daß die Kraft zu heilen in ihm geschwächt war. Doch Gott verzieh ihm, als er das bereute, weil er in die Enge getrieben und aus Mitleid zustimmte.25 So war er die Liebenswürdigkeit selbst sowie der Trost und der Arzt aller. (13) Und durch dieses christusförmige Leben „ging der arme, anspruchslose Martin als Reicher in den Himmel ein“. Denn je ärmer, verachteter und demütiger er in dieser Welt war, umso reicher war er an himmlischen Tugenden und wunderbaren Kräften.

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Sulpicius Severus: Vita, c.6, n.6 (p.117, 5-10). Ebd., c.10, n.1-2 (p.119, 26-120, 3). Sulpicius Severus: Dialogi III, c.11-13 (CSEL I, p.208-211) und Chronica (ibid., p.103). Ebd. Ebd.

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Daher verdiente er, in die Schatzkammer des Erlösers, seines Herrn, unseres Christus, der unsere Rettung ist, einzugehen, so sehr, daß Christus durch ihn wunderbare Heilungen wirkte und jeder Martin leicht als einen besonders erwählten Knecht Gottes hätte erkennen können, der Christus aufs beste gefiel. Man liest nicht, daß Martin irgendetwas von dem fehlte, was anderen Heiligen verliehen war. Ihm ward die Gnade der Propheten und Apostel zuteil. Durch Handauflegung heilte er viele Kranke, auch solche, die von Geistern geplagt wurden (Lk 6,18). Drei Tote weckte er auf. Oft erfuhr er eine Gemeinschaft mit den Engeln. Auch die seligste Jungfrau Maria, Agnes und Thekla besuchten ihn vertraulich; und wie die Überlieferung erzählt, unterließen es auch Petrus und Paulus nicht, ihn zu besuchen. Die Zeit reicht nicht aus, um auch nur kurz die Wunder aufzuzählen, die durch ihn im Leben und nach seinem Tode gewirkt worden sein sollen.26 Wie man liest, hat unser Martin, an himmlischen Tugendkräften überreich, den Vögeln und wilden Tieren geboten, alle Kranken geheilt und die Seinen auf einzigartige Weise geliebt. Als er diese weinen und wehklagen hörte: „Warum verläßt du uns, Vater?“ oder: „Welchem Los überläßt du uns Einsame?“, da weinte er mitleidvoll mit und sprach zum Herrn: „Herr, wenn ich deinem Volk noch nötig bin, so weigere ich mich nicht, die Mühe“ auf mich zu nehmen.27 Tapfer überwand er die Anfechtungen durch Dämonen. Seinen Tod und seine Verherrlichung voraussehend, schalt er den Teufel, der in seiner Todesstunde da stand, eine bluttriefende Bestie; an ihm habe sie nichts.28 So verließ seine edle Seele, welche Engel mit „himmlischen Hymnen“ geleiteten, den heiligen Leib. Den Tod durch einen Verfolger starb er zwar nicht. Der Palme des Martyriums ging er dennoch nicht verlustig. Er verschied ja mit dem vollen Reichtum von Tugenden in jungfräulicher Reinheit. Auf hohem Thron ist sein Platz. (14) Lernt nun, ihr Martinianer, Martin zu folgen in dem Gleichmut des Lebens, so daß euch das Widrige nicht mehr erregt als das Glück. „Fürchtet den Herrn“ (Jos 24,14; 1 Sam 12,24; Ps 34[33],10), damit ihr an allem Überfluß habt! Auf ihn werft euer Denken! (1 Petr 5,7; Ps 55[54],23) Glaubt ihm, denn er wird euer Helfer sein, und ihr braucht nicht zu fürchten, was Menschen euch antun (Ps 118[117],6; Hebr 13,6). Glaubt dem Vorsteher , daß die Barmherzigkeit des Herrn zur Zeit der Trübsal denen beisteht (Sir 35,26), die mit ganzem Glauben darum bitten! Eifert der Güte und Liebenswürdigkeit eures vorbildlichen Patrons nach! Sorgt, daß ihr „Christi Wohlgeruch“ (Kor 2,15) seid! Nehmt vertrauensvoll in lauterem Glauben zu eurem Schirmherren eure Zuflucht mit der Bitte, daß er euch

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Jacobus de Voragine: Legenda aurea, c.166 (ed. Th. Graesse [31891], p.750). Sulpicius Severus: Epistulae III, n.10 und 11 (CSEL I, p.148, 8-17). Ebd., n.16 (CSEL I, p.149, 16-18).

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nicht verlasse; denn er ist gütig und fühlt mit den Seinen. Er wird auch euch bei keinem Mißgeschick verlassen, wenn ihr ihn nicht verlaßt. Ihr habt einen „großen Brückenbauer, der die Himmel durchschritten hat“. An ihm und seinem Bekenntnis haltet fest! (Hebr 4,14) Unter seinem Banner betrachtet euch als sicher, denn zur Zeit der Bedrängnis werdet ihr durch ihn die Wiederherstellung des Heiles erlangen, gemäß dem, was wir gestern sangen: „O, alles Lobes würdiger Mann! Um seiner Verdienste willen wird jeder vom Unglück befreit, der ihn mit ganzem Herzen anfleht.“29 Dies zum zweiten Punkt. (15) An dritter Stelle scheinen einige Hingegebene, die da stehen, am Beispiel unseres seligen Martin eine Einführung ins beschauliche Leben zu verlangen. Denn ohne die zahlreichen Aufgaben, die Martin oblagen, namentlich die ihm anvertraute Sorge um die vielen Leute, zu vernachlässigen, ließ sich dieser „gute Hirte“ (Joh 10,11-21) durch diese Dienste doch nie dazu hinabziehen, das Gebet zu unterlassen. Im sichtbaren aktiven Leben erfüllte er seine Pflicht; doch sein Wandel war unaufhörlich im Himmel (Phil 3,20). Mit allen Kräften, nämlich mit „Augen“ und „Händen“, hielt er sich ja an den Himmel der geistigen Einsicht, um unverrückbar darin zu verharren. Deshalb unterbrach auch sein unermüdlicher Geist nicht die Innigkeit hingebenden Gebetes. Er folgte dabei der Anleitung Christi, der „ohne Unterlaß zu beten“ befahl (1 Thess 5,17). So war immer entweder Christus mit ihm im Gespräch, wenn er las, oder er mit Christus, wenn er betete. (16) Auf keinem anderen Wege als dem der Armut und Anspruchslosigkeit gelangte der in den fleischlichen Leib eingekerkerte Geist30 zu dieser Vollkommenheit, daß er nicht im Fleische, sondern bei den Engeln im Himmel war, von himmlischen Hymnen umgeben. Denn die „Armen im Geiste“, sie werden im Geiste „Gott schauen“ (Mt 5,3.8). Denn „Gott ist Geist“ und kann nur „im Geist angebetet werden“ (Joh 4,24). Gott, der die Wahrheit ist, kann nur durch das Einsichtsvermögen geschaut werden, das für das Wahre aufnahmefähig ist. Und wenn dieses zum Wahren als dem Ziel, in dem es ruht, hinbewegt wird, um die Wahrheit in ihrer quellhaften Reinheit zu erfassen, dann wird es auch von dieser bewegt. Was also ist in uns auf die Wahrheit bezogen, wenn nicht der einsichtsfähige Geist? Dieser kommt ja nur im Wahren zur Ruhe. Von der Wahrheit her ist er also gleichsam das Siegel der Wahrheit. Deshalb gibt es in uns kein anderes wahres Sein, das zu wahrhaftem Leben fähig ist, als das einsichtige Leben unserer vernünftigen Seele. Wer den Mut hat, gemäß dem Geist zu leben, übt sich darum durch die Enthaltung von allem, was das sinnliche Streben ergötzt, so lange in die Ge-

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Dritte Antiphon aus der ersten Vesper zum Fest des hl. Martin. Platon: Phaidon 82e. Eckhart: Predigt 17 Qui odit animam suam (DW 1, p.285, 2-4).

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wohnheit ein, nichts von dieser Welt zu haben, um nicht befleckt zu werden, bis er für die Sinnlichkeit völlig unanfällig wird.31 Und ein solcher ist „arm im Geiste“, auch wenn er mehreres in dieser Welt zu besitzen scheint, da er von nichts besessen wird. Die nämlich als „Reiche“ irdische Güter besitzen, werden von diesen besessen. (17) Welches Ergötzen, meinst du, hat der an der Welt, der bedenkt, daß diese „im argen liegt“ (1 Joh 5,19) und daß Übel und Tod darin herrschen? Ja, wer Sein und Leben und ein Verkosten dessen erstrebt, was das Leben und Sein beglückt, ein Verkosten, das in freudvoller Einsicht besteht, der verguckt sich nicht an dieser Welt, die er „haßt“ (Lk 14,26), weil jeder, der sie liebt, von ihrem bösen Beherrscher verführt wird; er umfaßt vielmehr mit ganzem Herzen das Reich Christi; nämlich das Reich des Weges zu Gott, der der Inbegriff alles Erstrebenswerten ist, und das Reich des Lebens in immerwährender Freude und das Reich der Wahrheit, in dem nichts Unwahres sich findet; das ist nicht von dieser trügerischen Welt. Dort verweilt er beglückt in geistiger Schau, indem er das Ewige und Dauerhafte betrachtet. Ihn verlocken die sinnlichen Reize dieser Welt nicht. Denn er weiß in sicherer Überzeugung, daß sie lügenhaft von der Wahrheit wegführen und vergängliche Scheingüter der Sinnenwelt sind, die in ewiger Gegnerschaft unserer geistigen Welt widerstreitet, in der das wahre Leben ist (1 Joh 2,1). (18) Wer dagegen zaudert und nicht „die Welt besiegt“ (Joh 16,33; 1 Joh 5,4), wer sich verleiten läßt, zu hören, zu sehen, zu betasten, und meint, später könne er das abtun, der gibt die Beschauung auf; denn er sieht nicht das Gute in sich, sondern in dem, das am Guten nur teilhat. Wer siegt, ist wie aus dem Kerker befreit. Ihn hält die Furcht nicht zurück. Aus den Widrigkeiten dieser Welt befreit, wende er, dem „Sterben Gewinn ist“ (Phil 1,21), wie ein aus dem Kerker befreiter Geist sich der himmlischen Freiheit, aus der er kommt, und dem eigenen Vaterland (Röm 8,5-21) zu. Das heißt: Entlassen aus dem sinnengebundenen Kriegsdienst dieser Welt, an den er durch den Leib sklavisch gebunden ist, darf er ungehemmt für die eigene geistige Aktivität frei sein. Alles, was in dieser Welt zum Sinnesobjekt wird, nährt die Beschauung dessen, der dies durchdringend darin die Güte des Schöpfers betrachtet; ähnlich wie die Ohren den Klang der Worte erfassen, aber der Geist begnügt sich nicht mit dem Klang, sondern im Klang betrachtet er die Ursache, nämlich die Intention dessen, der ihn hervorbringt. (19) Es gibt also keinen anderen Weg, den Geist unermüdlich im Gebet oder in beständiger Hingabe zu halten, als überhaupt nichts zu haben, sondern nur gehabt zu werden. Wer nämlich Gott hat, der wird gehabt, ähnlich wie der Leib das Leben hat von der Seele – dieses Haben ist Gehabtwerden –, hat die

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Thomas von Aquin: Summa theologica II/II, q.142, a.1.

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Seele, die Vernunftleben hat, dieses von Gott dem Wort; dieses Haben ist Gehabtwerden vom Wort. Jene „Engel“ sind die Bürger der intellektualen Welt; ihre Mitbürger sind die beschaulichen Geister. Indem sie Gott ehren, werden sie geehrt. Mit ihnen hat Gott den beschaulichen Worten des heiligen Martin Zutritt gewährt. Deshalb ist er „mit himmlischen Hymnen geehrt“.

Predigt XLI Confide filia! Vertrau, Tochter! Zeit: Ort: Fest: Zählung Koch: Edition: Deutsch:

22. November 1444 Mainz 24. Sonntag nach Dreifaltigkeit und Tag der heiligen Cäcilia 32 h XVII/2, 139-165 Wolfgang Lentzen-Deis: „Den Glauben Christi teilen“, Stuttgart 1991, 182-186.

ZUSAMMENFASSUNG Predigt XLI „Vertrau, Tochter“ markiert eine Wende in der christologischen Verkündigung des Nikolaus von Kues, die sich in den anschließenden Predigten XLII-XLVI manifestiert. Die ausführlich ausgearbeitete Predigt XLI beginnt mit einem Vorspann („Prothema“), in dem noch nicht das eigentliche Thema behandelt wird. Er soll hinführen zu dem Gebet, mit dem damals jede Predigt begonnen wurde. Nikolaus tut das, indem er seine Hörer über den Sinn und Zweck der Verkündigung und das rechte Hören des Wortes Gottes unterweist. Dabei verwendet er ein Gleichnis, in dem er die Prediger mit Bäckern vergleicht. Die Ausführungen stellen komprimiert und anschaulich dar, was Nikolaus unter einer Predigt versteht (n.1-3). Im Hauptteil der Predigt XLI entwickelt er in einem ersten Abschnitt, wie Jesus Christus, das lebendige Wort Gottes, im Inneren der menschlichen Seele erfahren werden kann (n.4-5). Die drei weiteren Abschnitte stellen die Rolle von Glaube (n.6-17), Hoffnung (n.18-21) und Liebe (n.22-32) in der Gottesbegegnung dar.

BEMERKUNGEN Die Übersetzung des Prothemas ist eine überarbeitete Fassung der o.g. deutschen Übersetzung. Der Hauptteil von Predigt XLI, n.4-32, wurde neu übersetzt.

LITERATUR Marc Aeilko Aris: Vos Moguntini. Nikolaus von Kues (1401-1464) predigt den Mainzern, in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 50 (1998) 191-217.

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Predigt XLI Vertrau, Tochter! (1) „Vertrau, Tochter, dein Glaube hat dich geheilt“ (Mt 9,22). Wenn Christus im 4. Kapitel bei Matthäus und im 4. Kapitel bei Lukas sagt, daß „der Mensch nicht allein vom Brot lebt“, sondern auch „vom Wort Gottes“ (Mt 4,4; Lk 4,4), dann belehrt er uns über eine zweifache Nahrung, eine des Leibes und eine des Geistes. Der Geist wird durch das Wort oder den Logos oder den Sinngrund wiederhergestellt. Und so macht Christus häufig ein Mahl oder eine Speise für den Leib zu Sinnbildern für die Nahrung des Geistes, indem er selbst, das Wort Gottes, zum Mahl lädt, es bereitet, dabei bedient etc. (Mt 26,20-29; Mk 14,17-25; Lk 22,14-23; Joh 13,1-14) So glaube ich, daß ein Prediger wie der Bäcker oder Koch einer Speise ist, der aus der Fülle der Schriften ein Wort Gottes in Empfang nimmt und es für eine Mahlzeit backt oder kocht. (2) Es gibt aber unterschiedliche Bäcker und Köche. Es gibt gewisse Bäcker, die aus einem Weizenteig sehr gutes Brot zu machen wissen, ein sehr edles Brot. Und sie mahlen das Korn gut, um bis zum Mark zu gelangen, und aus diesem Mark oder Fett machen sie das Brot, das für Könige oder edelste Geister bestimmt ist. Und es wird das Brot Christi genannt, „das fett ist und Königen zur Lust gereicht“ (Gen 49,20). Andere machen aus demselben Korn nicht so gutes und reichhaltiges Brot, denn obgleich sie auch den Weizen mahlen, fehlt ihnen die Fähigkeit, bis zum Mark zu gelangen. Und dennoch machen sie weißes und süßes und gutes Brot, das aber gröber ist als das vorherige. Wieder andere machen aus dem gleichen Weizen grobes Brot, weil sie den Weizen nicht gut mahlen und ihn, nachdem er zerbrochen worden ist, nicht absondern, sondern die äußeren Kleieteile sich mit den anderen vermischen lassen. Und dieses Brot ist immer noch gut zur Ernährung gröberer Gemüter. Es gibt Bäcker, die aus demselben Weizen Brote backen für Adelige, so daß es auserlesenes Gebäck ist, und für die Niedrigsten Kleiebrote und mittlere Mischbrote. Aber selten findet man an verschiedenen Orten die gleichen Bäcker und nicht einmal an einem Ort. Auch liegt es nicht in der Macht des Bäckers, immer gleich gutes Brot herzustellen. (3) Schätzt so auch die Prediger ein, da auch zwischen ihnen ein großer Unterschied besteht. Doch sind jene gute Prediger, die das „Weizenkorn“ (Joh 12,24), das Christus ist, gut mahlen können, so daß sie bis zum Fettmark vorstoßen und dann verschiedene Brote für die verschiedenen Gruppen machen können, für die Adeligen, die Mittleren und die Niedrigsten. Und sie liefern der Kirche jene Brote zugleich, so daß jeder entsprechend seiner Art etwas findet, das ihn stärkt. Und der Bäcker kann nicht immer gleich gutes Brot backen, da dies von der Gnade Gottes abhängt. Auch ihr sollt nicht darauf euer Augenmerk richten, wer der Bäcker ist, sondern auf das Brot, denn wenn ihr keinen Hunger habt, könnt ihr das gute Brot nicht beurteilen. Aber wenn ihr aus Sehnsucht das Brot schmeckt und es anschaut, werdet ihr seine Süßigkeit erfassen. Und wer Hunger hat und Brot bekommen kann, wird nicht nach den Bedingungen des

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Bäckers fragen, wie er lebt, welcher Nation er angehört oder ob er reinlich ist, sondern ihm wird es nur um das Brot gehen. Und wenn er das Brot nicht haben kann, das seiner Lebensbedingung und seinem Stand angemessen ist, etwa edles Brot, wer edel ist, nimmt er auch anderes an, weil er Hunger hat. Deshalb, Geliebte, erweise sich niemand von euch als nicht hungrig! Wenn ihr aber „hungrig seid, werdet ihr mit Gütern erfüllt“. Und wenn ihr voll und abstoßend „reich“ seid, werdet ihr „leer ausgehen“ (Lk 1,53). Jene aber sind nicht hungrig, die neugierig die Bedingungen des Bäckers oder Kochs wissen wollen, bevor sie essen, oder auch jene, die das Brot nicht für allseits sauber gereinigt halten und deshalb darauf verzichten, davon zu nehmen, oder jene, welche sich an der Menge des Brotes stören, denn wenn sie hungrig wären, würden sie die Menge nicht verschmähen, sondern für eine spätere Mahlzeit aufbewahren. Aber auch jene Niedersten und Groben, die gewohnt sind, Kleiebrot zu essen, und die das feine Gebäck ablehnen oder umgekehrt, sind nicht eigentlich hungrig. Denn wenn sie warten, bis alle Brote durch den Bäcker aus dem Ofen gezogen worden sind, finden sie das gewohnte Brot, „ein jeder nach seiner Rangordnung“ (1 Kor 15,23). Ich rate dennoch, daß ihr lernt, edel zu werden und euch edlere Nahrung geben zu lassen, weil der Mensch auch vom Brot der Engel essen kann, wenn er sich darum bemüht, sich anzupassen. Laßt uns also beten, daß der Bäcker die Gnade erhält, uns „das Brot“ zuzuteilen, „das alle Süßigkeit in sich enthält“ etc. (Weish 16,20)1 (4) „Vertrau, Tochter! Dein Glaube hat dich geheilt“, im neunten Kapitel bei Matthäus (9,22) und im Evangelium des Tages.2 Aus dem Evangelium entnehmen wir vier sehr bewundernswerte Lehren für die Gegenwart: Die erste ist: Dieser Meister, der die Volksmenge lehrte und der Frau mit der Aussage: „Sei zuversichtlich, Tochter! Dein Glaube hat dich geheilt!“ Geheimes eröffnete, war Jesus, „der Ursprung, die Mitte und das Ziel“ allen Seins, allen Lebens und aller Einsicht. Die zweite ist: Im Glauben bricht man zu ihm auf. Die dritte ist: In der Hoffnung wird er berührt. Die vierte: In der Liebe wird er umfaßt und festgehalten. (5) Die erste Lehre wird entwickelt: Weil der Synagogenvorsteher vor Jesus niederfiel, als er ihn um das Leben seiner toten Tochter bat, bekannte er ihn als den Geber des Lebens, den er anbetete und von dem er das Leben erbat (Mt 9,18). Das Leben kann nur vom absoluten Leben oder vom Quellgrund des Lebens gegeben werden. So entnehmen wir dem Bekenntnis des Vorstehers: Er bat Jesus, den Ursprung, seiner toten Tochter das Leben wiederzugeben. Obgleich sie seine Tochter war, bekannte er, daß nicht er ihr das Leben geschenkt hat, sondern daß es Gott ist, der durch ihn das Leben gab, und daß die Tochter Gott den Lebensgeist zurückgegeben hat, da es bei Lukas im achten Kapitel heißt: „Und der Geist kehrte in sie zurück“ (Lk 8,55). Entnimm daher dem

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Vers nach dem Hymnus der Vesper des Fronleichnamsfestes. Evangelium vom Fest der hl. Cäcilia: Mt 9,18-26.

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Bekenntnis des Vorstehers, daß das Leben nicht im Tod endet, das Leben unseres Geistes, um dessen Rückgabe er nach dem Tod seiner Tochter bat. Das Ende ist also Leben, auch nach der Loslösung des Geistes vom Körper, die als Tod bezeichnet wird. Der Synagogenvorsteher sieht einen Menschen und ein Geschöpf vor sich. Obgleich er mit den leiblichen Augen, die nur ein körperliches Geschöpf erfassen können, ein Geschöpf sieht, sieht er mit den Augen des Geistes in ihm Gott, und er sieht ihn deshalb als das „Alpha und Omega“ (Offb 1,8; 21,6; 22,13). Er betete „den Erstgeborenen der ganzen Schöpfung an“ (Kol 1,15). Die Frau aber, die um die Gesundheit, das heißt um den Erhalt des Lebens bat, bekannte, daß er selbst das Leben sei, durch das alles Leben erhalten werde und daß diese Kraft Gottes nicht nur dem Gewand Gottes, das heißt dem Fleisch, mitgeteilt worden sei, sondern auch dem Gewand des Fleisches bis hin zum Saum des Gewandes; nicht als ob das Kleid heile, sondern sie wollte bekennen, daß die überströmende Gnade Christi bis zum Saum des Gewandes überfließe. Daher bekannte sie den Messias selbst oder den, der „wie keiner seiner Gefährten“ (Ps 45[44],8) durch die Salbung mit der Fülle der Gnade mehr als der Hohepriester Aaron gesalbt worden ist. Denn die Salbung des Aaron beruht auf vermittelter Gnade; die Salbung Christi aber ist die des machtvollen Urhebers, der den Anderen „aus seiner Fülle“ (Joh 1,16) mitteilt. Der Synagogenvorsteher wie auch die Frau haben ihr Bekenntnis durch die Evidenz von Wundertaten als wahr erfahren. (6) Die zweite Lehre entnehmen wir dem Evangelium, wie der Vorsteher und auch die Frau glaubend auf ihn zugingen, als sie von Christus hörten, daß er der Heiland sei. Der Glaube ließ sie aufbrechen. Die Dritte entnehmen wir den Worten der Frau, die zu sich spricht: „Wenn ich sein Gewand berühre etc.“ (Mt 9,21b) Sie hoffte also, von Christus die Gesundheit zu erlangen, und so schloß sie sich ihm an. Die Hoffnung führte sie dazu, den Heiland zu berühren. Die Hoffnung, die den Vorsteher beseelte, führte so den Heiland dazu, die Tochter zu berühren und zu heilen. Aber viertens stellen wir fest, daß der vollendete Glaube oder Vertrauen die Liebe entzündet, so daß in Gebet und Flehen die Sehnsucht aufleuchtet. Diese Liebe gibt als Form dem Glauben und Vertrauen oder der Hoffnung die Vollendung, und sie ergreift, bindet zusammen und verwandelt. Darum beachte: Von Christus wird Heilung erbeten, und er gibt zur Antwort, daß Glaube und Vertrauen das gewähren, was geliebt und erbeten wird. Aus Sehnsucht wird nur erbeten, was geliebt wird. Der Heiland wird geliebt und heilt. Die Liebe heilt, weil die Liebe die Liebe des Heilands ist. Der Liebe ist somit das Geliebte inne. Darum ist der geliebte Heiland in der Liebe. „Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott und Gott in ihm“ (1 Joh 4,16). Vollendet sind Glaube und Vertrauen, die ein durch die Liebe geformter Glaube sind; das ist der Glaube, von dem der Heiland sagt, er heile. Deshalb halten wir fest: Wer Christus nicht kennt und nicht zu ihm aufbricht, und wer aufbricht, ihn aber dennoch nicht berührt, und wer aufbricht und ihn berührt, ihn aber dennoch nicht ergreift und festhält, der ist des Heils beraubt. Es sei unsere heutige Übung, in diesen Punkten nachhaltig zu verweilen

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und schrittweise die Lehre tief zu verkosten, damit unser Geist durch die Erfahrung der Süße eines jeden immer intensiver erbaut werde. (7) Sprechen wir zunächst über die erste Lehre und suchen wir in uns, was Jesus ist. Denn wenn wir Jesus nicht in uns finden, werden wir ihn überhaupt nicht finden. Jede Bewegung spielt sich innerhalb der Grenzen einer Art ab. Denn jedes Wesen kommt in seiner arteigenen Natur zur Ruhe. Die Art ist nämlich ein bestimmter Bereich, der jede individuelle Bewegung ihrer Natur umfaßt. Daher bewegt sich nichts außerhalb ihres Bereichs, sondern die Bewegung eines jeden Wesens zielt darauf, die Vollkommenheiten seiner Art zu erreichen, außerhalb derer es nach seinem Urteil nicht vollkommen werden kann. Ja, nach seinem Urteil ist sogar jede Vollkommenheit in seinem Bereich enthalten. Deshalb ist ein Auge dadurch nicht beunruhigt, daß es nicht hört oder nicht schmeckt; denn es hält Hören, Schmecken, Berühren oder Riechen nicht für eine Vollkommenheit, die vom Auge erstrebt werden muß. Das Auge strebt darum nur danach, zu sehen und im Sehen jede Vollkommenheit zu haben, die durch Sehen erreicht werden kann. Und daher ist das Auge unruhig, solange es noch nicht alles Sehbare gesehen hat. So ist auch das Ohr unruhig, solange es nicht alles Hörbare gehört hat, wie Salomon sagt: „Das Auge wird nicht satt vom Sehen und das Ohr nicht vom Hören“ (Koh 1,8). Auf gleiche Weise bewegt sich auch jedes Individuum einer Art nur innerhalb der Grenzen seiner Art. Ein Hund zum Beispiel könnte nicht wollen, daß er eine Katze, ein Esel, ein Vogel oder ein Fisch wäre. So kann auch der Mensch nicht danach streben, von einer anderen Art zu sein, auch nicht ein Engel. (8) Der Mensch kommt aber in seiner Art des vernunftbegabten Lebewesens, das einen Intellekt hat, nicht zur Ruhe, wenn er nicht als Unsterblicher die Vollkommenheit seiner Art erlangt. Der Mensch will deshalb in seiner Menschennatur, in der er bleiben will, alle Vollendung erreichen! Der Mensch aber hat Leben. So möchte er nur vollkommenes und nicht mangelhaftes Leben haben. Und da das vernunfthafte Leben vollkommener ist als das sinnenhafte, das auch die Tiere haben, deshalb will er im vernunfthaften Leben Vollkommenheit haben. Denn lieber möchte der Mensch gar nicht sein, als nicht vernunfthaftes Lebewesen sein, weil es für den Menschen nicht erstrebenswert ist, ein unvernünftiges Lebewesen einer anderen Art zu sein. Also erstrebt jeder Mensch, in seiner Menschennatur vollkommenes und nie endendes vernunfthaftes Leben zu haben. So strebt er danach, auf vollkommene Weise alles Erkennbare zu erkennen; denn wie das Sehen das Leben des Auges ist, so ist das Erkennen das Leben der intellektualen Seele. Nie wird also der Intellekt durch ein partikuläres Erfassen von Erkennbarem gesättigt, weil seine Bewegung nicht zur Ruhe kommt, wenn er nicht alles Erkennbare erreicht. So ist das Wollen durch Erlangung von Gütern nur zu sättigen, wenn es alles Gute erlangt. Der Mensch kommt nur dann zur Ruhe, wenn er in seiner Menschennatur das Leben erlangt, das der Sinngrund allen Lebens ist, die Wahrheit, die der Sinngrund alles Wahren und Erkennbaren ist, und das Gute, das der Sinngrund alles Guten und Erstrebenswerten ist. Und da diese Bewegung dem Men-

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schen aus seiner Menschennatur eigen ist, folgt daraus, daß der Mensch, der sich weder vergeblich noch außerhalb der Art bewegt, in der Art der Menschennatur selbst die Ruhe der Bewegung erreichen kann. (9) Die Menschennatur aber ist eine einzige, durch die alle Menschen Menschen sind. Und der Eine hat keine andere Menschennatur als der Andere, obwohl der eine Mensch nicht der andere ist, so wie dieses Weiße nicht jenes Weiße ist, obgleich die Weißheit eine einzige ist, durch die sowohl dieses als auch jenes weiß ist. Die Menschennatur kann aber auch nicht ohne den Menschen sein; denn das bedeutet, daß es eine Menschennatur gibt. Der Mensch nämlich ist das Sein der Menschennatur. Die Bewegung meiner Menschennatur geht also dahin, daß ich in einem Menschen meiner Menschennatur die Ruhe erlange. Da aber nichts Größeres oder Besseres gesagt oder ausgedacht werden kann als das, ohne das ich nicht zur Ruhe kommen kann, nämlich: das Leben ohne Untergang, die Wahrheit ohne Trug und das Gute ohne jegliches Übel, daher sage ich, dies sei Gott. Gott ist nämlich das Größte und Beste, im Vergleich zu dem etwas Größeres oder Besseres nicht gedacht werden kann. Das aber, im Vergleich zu dem nichts Größeres oder Besseres gedacht werden kann, ist die Ruhe und das Ziel der Bewegung des intellektualen Geistes. Somit läuft die Bewegung meiner Menschennatur darauf hinaus, daß ich in einem Menschen meiner Menschennatur Gott erreiche. (10) Ich finde also in mir selbst einen Menschen meiner Menschennatur, der so Mensch ist, daß er auch Gott ist. Und dieser Mensch ist es, in dem allein ich in meiner Menschennatur die Ruhe finden kann. Denn die Ruhe ist Gott. Jener Mensch also, der auch Gott ist, ist der, auf den hin sich alle Menschen gemäß ihrer Menschennatur bewegen. Und dieser ist Jesus Christus, der Gepriesene. Dieser Jesus war als Verborgener der „von allen Völkern Ersehnte“ (Apg 2,8); er kam nach langem Erwarten in diese Welt und hat sich, wie Dionysius an Gaius3 sagt, dadurch gezeigt, daß er – obgleich er Mensch war – über jeden Menschen hinaus gehandelt hat als Einer, „der Macht hat“ (Mt 7,29 par.): Er ist auf dem Meer gewandelt, hat Kranke geheilt, „er hat Blinden das Gesicht wiedergegeben“ (Lk 7,21), den Toten das Leben. Durch diese Zeichen hat er sich freilich auch als Gott erwiesen, obwohl er „dem Aussehen nach wie andere Mensch war“ (Phil 2,7). Als daher Christus, wie Lukas im siebten Kapitel berichtet, von den Jüngern des Johannes gefragt wurde, ob er selbst es sei oder ein Anderer erwartet werde, antwortete er, sie sollten dem Johannes berichten, wie Blinde, Lahme und Aussätzige geheilt würden (Lk 7,19-22). Als Johannes der Täufer dies hörte, daß nämlich die Mängel des Menschen durch Jesus geheilt würden, erkannte er ihn als den wahren Messias, und zwar als den, der all unsere Mängel auffüllt. Und das ist die Offenbarung unseres Messias, der Jesus genannt wird, nämlich die Erlösung, die durch ihn selbst geschieht, wie man in diesem Evangelium sieht.

3

Ps.-Dionysius Areopagita: Epistola 4 ad Gaium, (CD 2, p.160f.).

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(11) Wir finden also, daß Jesus, der die Tochter des Vorstehers auferweckt und die Frau vom Blutfluß geheilt hat, „der Menschensohn“ (Mk 2,10 par.), unser Bruder ist, „der Erstgeborene der ganzen Schöpfung“ (Kol 1,15), durch den wir in unserer Menschennatur das Ziel des Friedens und der Ruhe, die Vollendung der vernunfthaften Bewegung unseres Geistes erreichen. Dieser ist also jener Fürst, den „die ganze Schöpfung seufzend“ (Röm 8,22) ersehnt; denn jedes Geschöpf sehnt sich danach, auf eine bestmögliche Weise zu sein, und dies kann auf keine andere Weise sein als in dem Menschen, der alle niedrigeren Naturen in seiner geistigen umfaßt, der dann auch Gott ist, zu kosten aber und zu sehen in der unaussprechlichen Freude, die das lebendige „Leben unseres Geistes“ (Jes 38,16; Röm 8,6) ist. Eben das, wodurch wir „leben, bewegt werden und sind“ (Apg 17,28), – das ersehnt seufzend jedes vernunftbegabte menschliche Geschöpf „mit unaussprechlichen Seufzern“ (Röm 8,22), solange es noch nicht in jener Herrlichkeit des Genießens ist. Alles ersehnt also nichts Anderes als unser Haupt und unseren Ursprung, den Sohn Gottes, „den Erstgeborenen der Schöpfung“ (Kol 1,15), durch den jedes Geschöpf ins Sein hinausgeht und in den es zurückzukehren erwartet und so lange seufzt, bis es zur Ruhe zurückkehrt, wie Paulus im 8. Kapitel im Brief an die Römer schreibt (Röm 8,19.22). (12) Soweit die Ausführung des ersten Teiles, durch die wir belehrt werden können, wie wir Christus in uns finden, und daß er selbst unsere Vollendung ist, die alles erfüllt, was wir erstreben, und die unsere Bewegung zur Ruhe kommen läßt, da wir in unserer Menschennatur selbst in ihm das göttliche Leben und alles Ersehnte erreichen werden. Er ist der Sohn Gottes von Natur aus, und wir erlangen „in ihm die Annahme an Sohnes Statt“ (Röm 8,23; Gal 4,5), so daß auch wir „Kinder Gottes durch ihn“ (Röm 8,16) sind. Er ist der „Erbe des Alls“ (Hebr 1,2), und wir sind „in ihm“ (Eph 1,10) Erben, weil „Miterben“ (Röm 8,17). Er ist die Wahrheit, und wir werden in ihm die Wahrheit erfassen, so daß wir in der Wahrheit sind, so wie er selbst die Wahrheit ist. Wir sind also in ihm Weise, Erkennende, Lebende, wir freuen uns in ihm und erfassen in der ewigen Ruhe die Herrlichkeit der Heiligen in unaussprechlicher Freude. Denn in eben der Menschennatur, die für ihn und uns eine einzige ist, werden wir ihm als unserem Haupt wie die Glieder dem Leib in der triumphierenden Kirche geeint, so wie er selbst dem Vater geeint ist, da ja die Natur der Gottheit für beide nur eine einzige ist. Und dies ist eine unermeßliche Freude, die „uns niemand wegnehmen wird“ (Joh 16,22). Dies sei so zum ersten Punkt gesagt. (13) Zum zweiten Punkt: Wie gehen wir durch den Glauben auf den Heiland zu? Denn alles, was uns in Bewegung setzt, ist Glaube. Wenn der Bauer nicht den Glauben hätte, daß die Erde den Samen mit Früchten zurückgäbe, würde er dann zum Säen angeregt werden? Wir haben alle Brot durch Glauben, ohne den wir keine Saatfelder hätten. Geschehen nicht auch neue Anpflanzungen aus einem Glauben? Da der Winzer glaubt, daß der Weinstock innerhalb von drei Jahren Frucht bringen wird, pflanzt er jetzt, und so wird er durch Glauben bewegt. Wenn der Glaube fehlte, hätten wir keine Früchte vom Wein-

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stock, von den Obstbäumen und den anderen Bäumen und Pflanzen. Müssen wir nicht auch Glauben haben, wenn wir ungebildet und unwissend zu einem Lehrer gehen, um Lesen und Schreiben oder eine andere Kunstfertigkeit zu erlernen? Ohne Glauben würden wir kein Wissen aufnehmen. Jedem Begreifen geht Glauben voraus. Auch unsere Vernunft begreift nur, wenn sie durch Glauben zur Erkenntnis bewegt wird, wie Jesaja sagt: „Wenn ihr nicht glaubt, erkennt ihr nicht“ (Jes 7,9). Ich sage: Wie die Wahrheit nur durch den Glauben erreicht wird, so auch die Falschheit; denn nur der Glaubende wird getäuscht. Der Teufel täuscht auch nur die, die ihm glauben. Auch Welt und Fleisch täuschen nur Glaubende. Hinter all unseren Unternehmungen, ob wir dabei reich oder arm werden, steht ein Glauben, wie das bei Kaufleuten offensichtlich ist. (14) Wer also bewegt wird, das wahre Heil zu erlangen, der muß glauben, daß das wahre Heil erlangt werden kann und zwar, daß es durch Christus und in Christus erlangt werden kann. Wer so glaubt, der begreift in seinem Inneren das, was er zu erlangen hofft, obgleich er es nur im „Rätselbild“ (1 Kor 13,12) sieht oder erkennt. „Und dieser Glaube wird als Gerechtigkeit angerechnet“ (Röm 4,5), weil der Mensch seine höchste Geisteskraft, nämlich seinen Intellekt, Gott opfert und ihm weiht, indem er ihn zum Diener Gottes macht. Der Intellekt macht sich dann zum Diener, wenn er den Glauben annimmt. Denn der Intellekt möchte aufgrund seiner Freiheit eher einsehen als glauben. Aber er unterwirft sein Einsehen der Dienstbarkeit und nimmt vertrauend den Glauben an, so wie ein Kranker dem Arzt glaubt, um gesund zu werden und nicht nach der Beschaffenheit der Medizin fragt, bevor er sie nimmt, sondern einfach dem Arzt glaubt. Dadurch, daß er so dem Arzt glaubt, bekennt er sich als krank und unwissend, und er erkennt den Arzt als jemanden an, dem zu glauben ist. Wenn ein Arzt besonders glaubwürdig und höchst angesehen ist, kann es vorkommen, daß du glaubst, seine Hand heile dich, heißt es doch: Die Hand des Arztes heilt den Kranken. So berichtet das Evangelium, daß die Frau durch die Berührung geheilt wurde, weil sie glaubte. (15) Der heilige Paulus sagt im ersten Kapitel des Römerbriefs, daß „der Gerechte aus dem Glauben lebt“ (Röm 1,17). So scheint der Glaube eine Nahrung unseres Geistes zu sein, der im Geist eine Ernährung bewirkt, so wie leibliche Speise das im Magen tut. Denn der Mensch wird nur durch den Glauben an eine Erquickung dazu bewegt, Speise zu sich zu nehmen. Wenn er glaubt, die Speise habe Nährwert, nimmt er sie zu sich; wenn nicht, nimmt er sie nicht zu sich, selbst wenn sie gut wäre. So verhält sich auch ein jedes Lebewesen. Wenn eine Speise eingenommen wird, bewirkt sie Ernährung entsprechend der Natur dessen, der sie einnimmt. Die Speise wirkt im Menschen anders als in einem Tier, etwa in einem Hund oder Löwen und wieder anders in einem jungen Menschen als in einem alten. Wenn er aber nicht glaubt und deshalb die für sein Leben notwendige Speise nicht zu sich nimmt, wird er ohne Nahrung nicht leben können. Deshalb wird derjenige nicht leben, der zwar glaubt, leben zu können, aber an das Brot des Lebens, das Christus ist, nicht glaubt und es nicht nimmt. Ebenso wird jener nicht überleben, der glaubt, seine Natur könne durch

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Nahrung erquickt und wieder hergestellt werden, aber dennoch nicht glaubt, daß diese Nahrung in Speise und Trank enthalten ist. Es ist also nötig, daß ein gläubiger Geist glaubt, alles Ersehnte zu erlangen und zwar dies durch den Heiland. Sonst wird er nicht dazu bewegt, beim Heiland seine Ruhe zu finden. Daraus folgt, daß alle vernunftbegabten Seelen, die nicht an das ewige Leben glauben oder die zwar daran glauben, aber nicht an das ewige Leben in Christus, wegen ihres Unglaubens den „Weg der Wahrheit“ (2 Petr 2,2.21) zum Leben verlieren. Sie werden nicht auf das Leben hin bewegt, das zu erlangen sie nicht glauben; das gilt auch für jene, die bewegt werden, weil sie glauben, aber nicht durch den, der der „Weg der Wahrheit“ zur Erlangung des Lebens ist. Jede Seele, die glaubt, das Leben oder das Heil von einem Anderen als dem Heiland erlangen zu können, glaubt nicht auf die rechte Weise und befindet sich nicht auf dem Weg zum Leben, sondern weicht vom Leben ab und wird sich den Tod zuziehen. Und deshalb sind alle magischen Praktiken und aller Aberglaube verdammungswürdig. Wie der Apostel sagt, wird nur „der Gerechte das Leben aus dem Glauben“ (Röm 1,17) haben. (16) Darum ist auch auf das zu achten, was dann sagt: Wenn die Menschen sich vom Weg der Vernunft abwenden hin zu einem tierischen Leben und tierisches Verhalten annehmen nach Art der Vögel, der Vierfüßler oder der Schlangen, dann ist der Mensch kein Mensch, kein vernunfthaftes Lebewesen mehr, sondern ein tierischer Mensch; er verhält sich nach Art der Vögel, was beim Menschen Hochmut bedeutet, oder er frönt nach Art der Vierfüßler dem Bauch und den sinnlichen Ausschweifungen oder er müht sich nach Art der Schlangen unersättlich in irdischer Habgier. Es gibt diese Dreiheit der einen Welt. Denn der Apostel Johannes sagt, die Welt sei bestimmt von „Fleischeslust, Augenlust und Hochmut des Lebens“ (1 Joh 2,16). Wer sich somit zu dieser lügnerischen Einheit und Dreiheit hinkehrt und das Bild des „verdorbenen Menschen“ (Röm 1,23) der Wahrheit des dreieinen Gottes vorzieht, der ist ein Götzendiener und nicht ein Glaubender. Obgleich er Glauben auf der Zunge haben mag, so erneuert dieser Glaube in ihm nicht den vernunfthaften Geist, damit er zu geistlichem Leben bewegt würde, sondern er verkommt vielmehr zur verdorbenen Natur eines tierischen Menschen, so daß es immer schlimmer um den Menschen wird und er immer mehr wie ein Tier lebt und dem Tod seines Geistes verfällt. (17) Daher gilt, was Simeon im zweiten Kapitel des Evangeliums nach Lukas (Lk 2,34) sagt: Wie Christus zur Auferstehung und zum Untergang Vieler bestimmt worden ist, so ist der Glaube an Christus für die Gerechten Auferstehung und für die Ungerechten Untergang und Todesspeise, weil er sie durch den Glauben nicht zum Leben, sondern zum Gericht führen wird. Denn ein solcher Mensch wird durch die Vernunft selbst als Kind des Todes beurteilt, da der Glaube einen solchen Menschen zwar als Christen ausweise, sein Geist aber, der diese Speise empfangen hat, tierisch sei. Wer diese Speise des göttlichen Lebensgeistes einem tierischen Geist ausgeliefert hat, wobei er sich zwar mit dem Mund Christ nennte, mit „dem Herzen aber weit weg“ (Mt 15,8) wäre, weil

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sein Herz dieser Christus feindlich gesinnten Welt angehört, der würde lügen, wenn er behauptete, nicht von dieser Welt, sondern von Christi Reich, dem Reich des Lebens und der Wahrheit, zu sein. Darum gilt: Unser Glaube ist der Glaube an die letzte erfüllende Ruhe, eine Speise für Edle, er „besiegt diese Welt“ (1 Joh 5,4), das heißt eine Welt, über die er aussagt, daß sie nichts zum wahren Leben beiträgt. Dieser Glaube setzt unseren Geist auf den rechten Weg. Jeder, der das Leben sucht und davon abweicht, gerät in die Irre, da es unmöglich ist, „ohne diesen Glauben Gott zu gefallen“ (Hebr 11,6). Das sei zum Zweiten gesagt. (18) Drittens: Heilung wird durch die Hoffnung erlangt. Hoffnung aber besteht in vollendetem Glauben, einem Glauben, der nicht zögert, wie wir von Christus im Evangelium belehrt werden: „Vertrau, Tochter! etc.“ (Mt 9,22) Das ist auch die Predigt aller Heiligen, des Jakobus, des Johannes, des Paulus und der Anderen. Durch den ohne Zögern vollzogenen, ganzen und vollkommenen Glauben begibt sich der Glaubende auf den Weg und erlangt die Heilung. Wenn er sich aber auf dem Weg hin und her dreht wie der Wind oder wie unruhiges Wasser, so erlangt er das Erhoffte nicht; wenn er aber ganz fest vertraut, obwohl er das, was er erhofft, nicht sieht, dann kann er von Gott nicht verlassen werden. Deshalb gilt: Wenn du Gott „mit ganzem Herzen suchst“ (Dtn 4,29; 6,1; Mt 22,37; Mk 12,30.33), ist er die Güte selbst, welche die auf ihn Hoffenden nicht verlassen kann, sondern alle selig macht, die auf ihn hoffen. Der hl. Martin sagt: Wenn jemand in großen Versuchungen und Gefahren auf den Herrn vertraut, wird er nicht Angst davor haben, was ein Mensch ihm antun könnte (Ps 118[117],6; Hebr 13,6). So haben alle Heiligen das erhoffte Heil erlangt, weil ein totaler Glaube sie das Heil in dem erlangen ließ, der ihre Hoffnung und ihre Kraft und ihr Halt war. Und deshalb haben sie alle „nichtige Hoffnung“ (Sir 34,1) dieser verderblichen Welt von sich gewiesen; sie setzten ihre Hoffnung weder auf das, was dem Fleisch noch auf das, was dem von Hochmut beherrschten Geist Lust bereitend erscheint, noch vertrauten sie den Schätzen des Geldes. Sie fürchteten die Widerstände und Belastungen dieser Welt nicht, sondern vertrauten fest auf Gott, und sie hielten tapfer aus in Feuer, Eisen, Wasser, Schwert und allen Qualen „die selige Hoffnung erwartend“ (Tit 2,13). Und so erlangten sie das Heil wie die heilige Cäcilia, deren Fest wir heute feiern. Sie ist in standhaftem Glauben hinübergegangen zu der Herrlichkeit, die sie zu erlangen hoffte. Sie verachtete diese Welt und alles, was in der Welt ist, alle Begierde des Fleisches, alle Habsucht, alle Gewaltherrschaft, ja sogar dieses sinnenhafte Leben. Sie tat dies im Vertrauen auf die Verheißung des himmlischen Bräutigams, der sie heute durch das Martyrium in das himmlische Reich hinübergeführt hat. (19) So laßt auch uns das Vertrauen nicht auf die Kraft des Körpers, auf großen Reichtum, auf viele Freunde und auf leibliche Schönheit setzen, da unser Leben ein Wind ist und „wie das Gras und die Blume des Feldes vergeht“ (Ps 103[102],15f.; Jes 40,6; 1 Petr 1,24).

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Wie eine Kürbispflanze, die nicht aufrecht stehen kann, sich an einen Stock anlehnt etc., so laßt auch uns nicht auf uns selbst, sondern allein auf „den Stärksten“ (Gen 33,20; 46,3; Num 16,22; Jos 22,22) vertrauen. Und wir werden mutig sein und uns aus Widrigkeiten nichts machen. Wir werden wie Diener eines mächtigen Fürsten sein, die durch die Macht ihres Herrn gestärkt werden. Im Buch der Sprichwörter heißt es: „Der Gerechte vertraut und wird ohne Furcht sein wie der Löwe“ (Spr 28,1). Denn das Vertrauen nimmt die Angst der Verzweiflung weg, gibt Mut zur Vollkommenheit und widersteht allen Verführungen. Betrachte, wie Gott die vertrauende Susanna vor dem falschen Richterspruch rettete (Dan 13,1-64) und den hl. Martin vor dem Teufel und den Räubern etc.4 Unser Jesus ist wahrhaftig. Vertrauen wir ihm aus ganzem Herzen und gehen wir mit jener Frau zu ihm und sprechen wir mit ihr: Wenn wir auch nur sein Gewand anrühren, werden wir heil (Mt 9,21), und betrachten wir seine wunderbare Kraft, die einer Pflanze gegeben worden ist, die bis zum Saum einer Christusstatue wuchs und jeden Blutfluß geheilt hat, wie in einer Kirchengeschichte5 überliefert wird. Denn wir haben einen treuen Arzt von höchster Autorität, der den Geist heilt und bewirkt, daß der Geist den Leib in seiner Kraft heilt, die er seinen Aposteln verlieh, damit sie den Kranken, die vertrauen, die Hände auflegten und sie so in seinem Namen heilten. Wenn wir gläubig sind, ist es dann nicht notwendig, zu bekennen, daß auf diesem Weg alle, die auf Christus vertrauen, geheilt werden und daß ihre Heilung zum erhofften Heil des Geistes beiträgt und ihm nicht entgegensteht? (20) Ihr Frauen, laßt die törichten Sorgen, mit denen ihr euch oft in abergläubischem Vertrauen bemüht, und nehmt zur Kenntnis, daß die Wirkung, die ihr zuweilen seht, nicht echt ist, sondern eine Täuschung. Sie bleibt verborgen durch das Einwirken des Geistes, der eben durch ein täuschendes Vertrauen, das er für wahr hält, gekräftigt wird. Deshalb tritt die Krankheit nicht hervor, sondern der umnebelte Geist verbirgt sie, obwohl sie insgeheim ungeheilt bleibt. Manchmal kann es allerdings auch sein, daß eine Heilung oder eine Erkrankung auf natürliche Weise entsteht. So kann der Geist durch eine neue gute Erfahrung zu sehr aufgeheitert und die belebende Kraft so eingeengt werden, daß die Glieder des Körpers erlahmen und erst durch ein neues Übel geheilt werden oder umgekehrt. In einem Beispiel wird erzählt, wie die einen Menschen überfallende Angst lähmt. So haben drei Ärzte nacheinander einen vierten Gesunden intensiv untersucht und ihn fälschlicherweise als unterernährt diagnostiziert und daraus eine Krankheit abgeleitet. Und so wurde er aufgrund der Einbildung einer vermeintlichen Entkräftung als todkrank erklärt und mit verbundenen Augen einhergeführt, so daß er keine Lebenskraft mehr spürte und sich dem Tod ganz nahe fühlte. Es kommt häufig vor, daß der Leib verändert wird, wenn Leid den Geist beeinflußt, so daß die Ärzte von ‚physischen Lähmungen‘ spre-

4 5

Vgl. Sulpicius Severus: Vita sancti Martini, c.5, n.4-6. Vgl. Eusebius von Cäsarea: Ecclesiastica historia VII, 18, 1-2.

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

chen. Einem Christen ziemt es jedoch nicht, auf unvernünftige, abergläubische Praktiken zu vertrauen, denn da mischt sich oft der böse Geist ein. Der Christ wende sich hingegen an Christus und vertraue ihm, und er bitte darum, ihm in seinem Namen mit ehrfürchtigem Gebet die Hände aufzulegen. (21) Und bei der Handauflegung soll gebetet werden: „Herr, du hast gesagt, ‚wenn einer einen Glauben wie ein Senfkorn habe, könne er einen Berg von hier nach dort versetzen‘ (Mt 17,19), und zu Petrus, der zweifelte, als er auf dem Wasser wandelte, hast du gesagt: ‚Du Kleingläubiger, warum hast du gezweifelt?‘ (Mt 14,31) und zu der kranken Frau hast du gesagt: ‚Vertrau, Tochter! Dein Glaube hat dich geheilt‘ (Mt 9,22). Nimm diese Schwäche von dem kranken Gläubigen, der auf deine Kraft vertraut, dem ich nach deinem Gebot in deinem Namen, der Jesus heißt, die Hände auflege.“ Vertrau auf diese und ähnliche Andachtsformen, denn „die Barmherzigkeit Gottes ist gütig“ (Jak 5,11), und er erhört alle, die auf ihn hoffen, wie uns der Apostel Jakobus im 5. Kapitel seines Briefes belehrt. Soviel zum dritten Punkt. (22) Viertens habe ich gesagt, daß die Liebe zusammenbindet. Die Liebe ist nämlich die Form oder das Leben aller Tugenden. Denn „wenn ich die Liebe nicht hätte, wäre ich tönendes Blech“ (1 Kor 13,1) und hätte nichts an Leben, wie durch den Apostel klar wird. Deshalb ist sie die „Wurzel der Tugenden“, wie Augustinus sagt und wie es in „De paenitentia“ dist. 2 „Radix“6 belegt wird. Aus dieser Wurzel wächst das Mark des Mitleidens, die Blüte guten Mitgefühls, das Blatt guter Zurede, die Frucht der guten Tat. Denn sie selbst (die Liebe) ist das Formgebende in allen Tugendkräften, da sie das alles überragende „Band der Vollkommenheit“ (Kol, 3,14) ist. Und sie ist das festeste und stärkste Band: „Stark wie der Tod“ (Hld 8,6). Wer deshalb wahre Liebe zu Christus hat, der die Liebe selbst ist, den trennt auch der Tod nicht von ihm oder sonst irgendetwas in dieser Welt. Wer aber die rechte Liebe haben will, der muß alle Angst und unvollkommene Liebe zurücklassen; denn wer sich fürchtet, liebt noch nicht vollkommen. Furcht bedeutet, daß der Fürchtende außer dem Geliebten auch sonst nichts verlieren will. Nicht-Verlieren-Wollen bedeutet Anhänglichkeit an das, was man nicht verlieren will. Aber die vollkommene Liebe richtet sich auf einen einzigen Geliebten. Wer die Liebe aufteilt und Verschiedenes liebt, der liebt weniger, als er lieben kann. „Die Liebe vertreibt alle Furcht“ (1 Joh 4,18) und fürchtet nur, den Geliebten zu beleidigen. Deshalb hat derjenige, der Christus vollkommen liebt, keine Angst, etwas zu verlieren, weil er nichts liebt als ihn und alles seinetwegen. (23) Beachte! Was bindet alles so zusammen, daß es das ist, was es ist? Es ist gewiß die Liebe, die das Band der Einheit und der Eintracht ist. Wird diese Welt nicht dauerhaft zu der einen Welt zusammengebunden durch eine Liebesbindung, die alles durchzieht, was in der Welt ist? Das gilt auch für ein Reich,

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Nikolaus scheint sich hier auf das Decretum Gratiani 2,23 und De paenitentia 13 zu beziehen. Vgl. h XVII, App. II, n.26, 6f.

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eine Nation, einen Staat, ein Haus, ein Geschlecht oder eine Familie etc. Wenn du das bedenkst, wirst du einsehen, daß auch das sinnenhafte Leben nicht anders als durch Liebe bestehen kann. Denn Seele und Leib haben einen gewissen gemeinsamen Geist. Er gehört der Natur der Seele an, insofern die Seele hinabsteigt, um den Leib zu beleben; er gehört der Natur des Leibes an, insofern der Leib aufsteigt, um das Leben zu empfangen. Dieser Geist ist das Band, denn die Seele will den Leib beleben, das heißt, sie will im Leib sein, weil sie den Leib liebt; und der Leib liebt die Seele, ohne die er nicht existieren kann. Aber so wie jedes Ding auf das Nichts und auf den Tod und auf seine Zerstörung zugeht, da das zusammenhaltende Band, die Liebe, sich auflöst, so hört der Leib auf zu leben, wenn ihm die Kraft jenes Geistes fehlt. Wenn die „natürliche Wärme“7 versagt, dann versagt auch jener Geist, der ohne Wärme nicht sein kann; und so entsteht der Tod oder die Trennung dadurch, daß das Band der Seele vergeht. (24) Und beachte, daß sich Gott zur Seele verhält wie die Seele zum Leib. Denn der Leib hat aus sich nur Leben, wenn es ihm von der Seele gegeben wird. Und wenn der Leib leben will, ist es nötig, daß die Seele ihm Leben mitteilt. Und dann steigt jener verbindende Geist, der das Leben des Leibs ist und vorher von der Seele hinabgestiegen war, als dem Körper mitgeteiltes Leben wieder auf. So wie das Leben unserer Seele von dem „wahren Leben“ (1 Tim 6,19) her existiert, so wird es unserer Seele durch einen gnadenhaften Abstieg des wahren Lebens mitgeteilt, wodurch wir das sind, was wir sind. „Zuvor hat Gott uns geliebt“ (1 Joh 4,19), der „nichts hassen kann, was er geschaffen hat“ (Weish 11,25). Er hat uns nicht gegeben, nur zu sein, wie er „die Sonne aufgehen läßt über Gute und Böse“ (Mt 5,45), sondern er gab uns auch solch ein intellektuales Leben, durch das unser Geist sich aus dem ihm geschenkten intellektualen Leben nach oben erheben und mit dem „Quell des Lebens“ (Ps 36[35],10) verbinden kann, so wie der Leib mit der Seele verbunden ist, um das Leben der Seele zu leben. Aber wie der Leib sich nicht anders mit der Seele verbinden kann als durch den warmen Geist, dem ständig eine ursprüngliche Flüssigkeit zuströmt, die durch eine nährende Flüssigkeit8 warm gehalten wird, so ist auch unser intellektualer Geist nicht anders mit seinem Leben verbunden als durch die Wärme intellektualer Liebe. Die Liebe verbindet also unseren intellektualen Geist mit der Quelle des Lebens, so daß er mit ihm ganz innig verwoben ist, so wie das Leben des Leibes mit dem Leben der Seele. Allein die Liebe ist die Vollendung, durch die wir in unserem Leben das geliebte Leben besitzen.

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Der Begriff der „natürlichen Wärme“ findet sich schon bei Aristoteles. Vgl. h XVII, 195, App II zu n.23. Die Unterscheidung zwischen einer „ursprünglichen Flüssigkeit“ und einer „nährenden Flüssigkeit“ scheint Nikolaus von Thomas von Aquin (Commentum in libros IV Sententiarum II, dist. 30, q.2, a.1 ad 3 u.ö.) übernommen zu haben. Vgl. h XVII, 159, App. II zu n.24, 22-24.

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(25) Und beachte, daß unser Lebensgeist, der Intellekt, eine gewisse Liebe ist. Denn was ist das Leben, recht betrachtet, anderes als Liebe oder Heiterkeit oder Freude? Und deshalb nennen wir das ewige Leben eine ewige Freude. Aber es gehört zur Natur der Liebe, niemals zu ruhen; so bezeichnet Salomon die Liebe mit einem Bild als ein waches Herz in einem schlafenden Leib (Hld 5,2). Auch gehört die Freiheit zur Natur der Liebe, denn die Liebe bewegt sich frei wegen ihres Adels und kann nicht gezwungen werden. Und wenn sie einem Zwang unterliegt, kann sie keine wirkliche Liebe sein, sondern ist vorgetäuscht, so wie wir manchmal aus Furcht vor der Rute oder der Folterstrafe vorgeben, einen Prälaten oder Fürsten zu lieben. So gilt auch: Wer etwas liebte, um etwas Schönes zu erhalten oder um ein Übel zu vermeiden, der liebte nicht wahrhaft und vollkommen, sondern er liebte eher sich und das für ihn Angenehme als den, den er liebt. Die reine Liebe ist von Natur aus frei. Wenn es in der Natur der Liebe liegt, sich in den Geliebten umzuwandeln, so wie der Freund ein anderes Ich wird und der Liebende im Geliebten ist, dann ist auch unser Geist frei, insofern er – wie vorher gesagt – Liebe ist, und er kann sich nach oben oder nach unten wenden. So wendet er sich durch eine Liebe, das heißt durch sich selbst, zum Haltlosen und Mangelhaften hin und macht sich dort fest und verwandelt sich in das, was von ihm geliebt wird. Und wenn er sich dort befindet, wird er auch dort bleiben, nachdem der Leib ihn verlassen hat, da er in die Natur dessen, was er geliebt hat, umgewandelt worden ist. Darum wird er in haltloser Unsicherheit ohne Freude, Frieden und Ruhe gefoltert werden, wie das der Natur dessen entspricht, in das er sich umgewandelt hat. (26) Lassen wir daher los, wenn wir durch diese Welt pilgern, und bemühen wir uns darum und suchen wir das Gute, das uns Halt gibt, das, was uns unter der Hinsicht des Guten als beglückend und liebenswürdig erscheint. Denn „die Welt und ihre Begehrlichkeit wird vergehen“ (1 Joh 2,17), wie Johannes im Kanonischen Brief schreibt.9 Kehren wir um zum Quell der Liebe und des unfehlbar Guten, wo die alles ersehnende Wahlfreiheit des liebenden Geistes zu ihrer Erfüllung gelangt. Sonst kann es geschehen, daß wir in unglückseliger Weise ständiger Veränderlichkeit verfallen sein werden, wenn wir uns bei unserem Hinscheiden dem Veränderlichen zugekehrt finden, denn Christus sagt im 16. Kapitel des Johannesevangeliums (Joh 16,33), wie wir in ihm den Frieden, in der Welt aber Bedrängnis haben werden. Wer die Welt liebt, wird oft in Bedrängnis sein, weil er sieht und erfährt, daß ihm das, was er liebt, entzogen wird. Wer aber Christus liebt und sich keinen Kummer um die Welt macht, den wird auch keine Widerfahrnis dieser Welt bedrängen, weil die Welt nichts zu bieten hat, das man beklagen müßte, wenn es weggenommen würde. Die Freundschaft mit dieser Welt ist somit die Feindin des Friedens und sie ist die

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Seit dem Dekret des Papstes Damasus I. im Jahre 382 werden Kanonische Briefe die sieben Briefe des Neuen Testaments genannt, die nicht von Paulus, sondern von anderen Aposteln geschrieben wurden. Vgl. h XVII, 156 App. II zu n.21.14.

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Feindin Gottes (Jak 4,4b), weil Gott der Friede ist. Und so führt sie weg von Gott und vom Frieden. (27) Die Ehe kann uns gleichnishaft eine Einsicht eröffnen. Du, der du frei bist, kannst mit einer jeden freien Frau den Ehevertrag schließen. Du erwägst, mit welcher du das tun möchtest. Du wählst eine aus, die sich dir unter der Rücksicht des Liebenswerten darstellt; denn sie ist schön, jung und reich. Aber wenn du dich mit ihr so verbunden hast, daß du weiterhin deine eigenen Wege gehst, wie du es tatest, als du noch frei warst, und wenn du heute die Eine und morgen eine Andere liebst, dann wird die Begegnung mit jener, die du erwählt hast, unstet, unbeständig, unruhig und friedlos sein. Ist es nicht ein unseliger Zustand, ständiger Unruhe verfallen zu sein? Das Gleiche gilt auch für eine Jungfrau, die heiraten will. Ein Anderer aber achtet nicht auf die goldenen Schuhe der Frau und auf ihre äußere Gestalt, sondern er fragt nach der inneren Schönheit, ob sie tugendhaft, friedfertig, ehrbar und klug sei. Und obgleich ihr Auftreten und ihr Erscheinungsbild nicht liebenswert sind, wählt er gerade sie aus und verbindet sich mit ihr. Er wird für immer glücklich sein. In seinem Haus ist alles in Frieden, er wird mit dem Lebensnotwendigen reich ausgestattet sein und seine Tage in Ehre und Freude verbringen. So geht es auch der Seele, die in dieser Welt sucht, wen sie lieben und mit wem sie sich verloben soll, mit dem flüchtigen oder mit dem dauerhaften Leben. Und sie wird eins mit dem Leben, das sie erwählt. Wie Paulus uns darüber belehrt, daß derjenige, der sich an eine Dirne hängt, ein Leib mit ihr wird (1 Kor 6,16), so ist es andererseits mit Christus. Und im hohen Ehesakrament wird abgebildet, wie die Seele, die sich mit dem Leben, das heißt mit Christus verlobt, „Bein vom Bein und Fleisch vom Fleisch“ (Gen 2,23) Christi ist. Er ist der Bräutigam der Seele, den sie erwählt hat, und sie wird durch Liebe in ihn verwandelt. Und in der ganzen Zeit, in der wir hier pilgern, haben wir Entscheidungsfreiheit. Und am Ende der Zeit liegt unsere Entscheidung fest, und es gibt keinen Raum mehr für eine Umkehr. (28) Denken wir darüber nach, damit wir in unserer Freiheit nicht getäuscht werden und meinen, es sei noch viel Zeit, uns zu bekehren. Denn der Herr kommt „wie der Dieb in der Nacht“ (1 Thess 5,2) und wird seine Ankunft nicht vorher ankündigen (Mt 24,43ff.; Lk 12,39ff.; 2 Petr 3,10; Offb 3,3; 16,15). Und du könntest vor deiner Bekehrung sterben. Es ist so wie bei einem Adeligen, der an seiner Konkubine aus bäuerlichem Stand hängt, die er liebt. Da er sich in Liebe zu ihr hingezogen fühlt, wird er sie nicht wegschicken, auch wenn er getadelt wird und von ihm verlangt wird, sie aufzugeben und eine Adelige zu heiraten, damit er adelige Erben zeuge. Es kommt ihm keinesfalls in den Sinn, seine Konkubine irgendwann einmal zu lassen und eine andere zu heiraten. Das aber zieht sich in der Zeit bis zu seinem Alter hin, und er stirbt, ohne seine Konkubine zu verlassen. Und so wird er nicht in Nachkommen weiterleben, und sein guter Ruf ist gestorben etc. Lassen wir uns nicht dadurch täuschen, wenn wir sehen, daß manche lange leben, wissen wir doch, daß viel mehr Menschen vor unserem Alter sterben. „Tun wir also die guten Werke“ des Lebens

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und der Liebe, „so lange wir Zeit haben“ (Gal 6,10). Halten wir daran fest, ohne anderweitige Erwartungen, weil nichts Besseres erwählt werden kann. Eine anderweitige Erwartung setzt voraus, daß etwas Besseres erlangt werden kann. Wo das unmöglich ist, hat sie keinen Platz. (29) Ich sagte schon, daß die natürliche Wärme, ohne die der Geist den Leib mit dem Leben der Seele nicht verbindet, durch eine ursprüngliche Flüssigkeit erhalten wird und diese durch eine nährende Flüssigkeit. Dazu ist zu bemerken: Wie alle Glieder und diese ganze Welt dem Leib zum Ziel des Lebens dienen, so dient der Leib, seine Glieder und die ganze Welt unserem Geist und dem Ziel seines Lebens. Was den Leib angeht, so beachte: Die natürliche Wärme ist wie das Feuer in einer Lampe; die ursprüngliche Flüssigkeit ist wie das Öl, das die Flamme nährt. Das Öl wird ständig verbraucht; aber es wird neues Öl ergänzend zugeführt, und so bleibt es stets erhalten. Es ist wahr: Wenn das erste Öl alt wird, verdickt es und wird hart und trübe. Und es nährt die Flamme nicht richtig, weil es erdig ist und die zündende Kraft des frischen Öls nicht aufnimmt. So ist es auch mit uns. Denn unsere ursprüngliche Flüssigkeit, die die Wärme aufrecht erhält, braucht zusätzliche Wärmekraft. Die ursprüngliche Flüssigkeit haben wir von unseren Eltern mitbekommen. Und damit sie weiterhin erhalten bleibt, hat die Natur den Leib mit seinen Gliedern geschaffen. Und da sie nicht Gleichheit an einem Ort vorfand – denn wir ernähren uns aus dem, was wir sind – schuf sie ein Lebewesen, das gehen kann, damit es die ihm entsprechende Nahrung suche. Sie gab ihm Hände, damit es etwas von einem anderen Ort herüberhole, Augen, damit es sehe, ob etwas da ist, Ohren, damit es höre, wo es suchen soll, Zähne zum Kauen, den Magen zum Verdauen, die Leber, um die Speise zu verarbeiten, Entsprechendes ist auch von den anderen Organen zu sagen. Und sie gab ihm das Erfindungstalent hinzu, damit es auf Feuer koche, damit es säe, pflanze, baue, webe etc. (30) Dann gab ihm die Natur diese Erde gleichsam als Vorratskammer, aus der er alles, was der Ernährung dient, herausholen kann: Wein, Brot, Fleisch, Pflanzen und das, was zum guten Leben beiträgt: Metalle, Steine, Hölzer, Heilpflanzen etc. Sie gab Wasser für die Fische, für die Mühlen, zum Durstlöschen, zur Fortbewegung etc. Sie gab die Luft für das Atmen, für den Regen, für den Wind und die Windmühlen, die Sonne zur Beleuchtung und zur Erwärmung der Luft und zur Verteilung der Früchte etc., den Mond zur größeren Fruchtbarkeit der Pflanzen und zur Bewegung des Meereswassers etc. Alles, was Gott in dieser sichtbaren Welt geschaffen hat, siehst du mit größter Sorgfalt dem Ziel dienen, daß dem Leib das Leben nicht fehlt und daß die ursprüngliche Flüssigkeit, welche die natürliche Wärme bewahrt, eine Zeit lang erhalten bleibt und daß der Geist, der den Leib an sein Leben bindet, nicht aufhört zu wirken. Aber da es unmöglich war, am Ende ein Scheitern zu verhindern und eine Wiederherstellung übergroße Mühe erfordert, sah die Natur, daß der menschliche Leib nicht für immer am Leben zu erhalten sei, und sie erfand eine Weise, auf dem Weg der Zeugung Samenflüssigkeit eines sterblichen Körpers für ein anderes Lebewesen der gleichen Art zu verwenden, so daß das Lebewesen individuell

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nicht auf immer, aber wenigstens als Art leben kann. Und so sagt man, Vater und Mutter lebten dem sinnenhaften Leben nach in ihren Kindern. Und deshalb werden die sterblichen Lebewesen auf höchst natürliche Weise zum Fortpflanzungsakt gereizt, damit das sterbliche Lebewesen in seinem Kind weiterlebt. (31) Wenn du betrachtest, wie alles im Dienst der Erhaltung des Lebens steht, beginnt dein Geist zu sehen, wie gut Gott ist, und er beginnt zu staunen. Und dein Geist braucht den Leib und die Sinne, die Vorstellungskraft, die Vernunft und alle deine Kräfte, um über alle Werke Gottes zu staunen, und aus dem Staunen entsteht Liebe in der Bewunderung der Güte des Schöpfers, der all das geschenkt hat zu dem Zweck, daß der intellektuelle Geist in dieser Welt angeregt wird, sich zu ihm zu bekehren; daß wir durch Staunen von der Möglichkeit zur Wirklichkeit geführt werden wie bei der Bewegung eines Eisens auf einen Stein, wie Feuer von der Möglichkeit zur Wirklichkeit des Seins aufsteigt, wobei das Feuer grenzenlos werden kann. Und durch die Bewegung äußerer Brutwärme wird die natürliche Wärme eines Eies aufgeweckt, damit ein lebendiges Küken daraus hervorgeht. Ich bin der Auffassung, daß unser intellektualer Geist in der Ordnung der Welt die unterste intellektuale Stufe einnimmt, so daß er entsprechend seiner Natur die Möglichkeit hat zu erkennen, aber nicht wirklich erkennt. Doch wird er durch das bewundernde Staunen aufgeweckt und von der Möglichkeit zur Wirklichkeit geführt. Dieses Aufwecken geschieht durch den Anreiz der Sinnesbilder, die aus der Sinnenwelt empfangen werden, so daß der Intellekt wach wird, wenn er bewundert. Das Staunen läßt den Staunenden danach fragen, was das denn sei, das ihn zum Staunen antreibt. Und so ist das Staunen wie ein Wächter, der mit lauter Stimme den Gehörsinn erschüttert und den Schlafenden aufweckt, damit er wach wird. Dann wird unser Intellekt, der gleichsam schläft und sich hinsichtlich des intellektualen Lebens, des Erkennens oder Wachens, in der Möglichkeit befindet, in die Wirklichkeit versetzt, so daß er wach ist. Und in diesem Augenblick wird er entflammt, so daß er in erkennender Liebe zu dem entbrennt, der der Geber von allem ist. Denn wenn das Sinnesbild einer Farbe sich dem Auge einprägt, dann spürt der Geist, wie ihm im Auge etwas entgegenkommt. Und so wendet sich die mit den Sinnen begabte Seele diesem Sinnesbild zu und im Staunen fragt sie, wer hinter diesem Sinneseindruck steht. Der Intellekt aber wird gereizt, mittels des Sinnesbildes über den Gesichtssinn nach der Wesenheit zu fragen. Er stellt etwa fest, daß eine bestimmte Gestalt ein Mensch ist. Der Intellekt staunt über das, was ein Mensch ist, und so wird er in Bewegung versetzt, die Wahrheit, die Seinsheit oder die Einheit des Menschen in Wirklichkeit zu erkennen. Und so verhält das Erkennen sich auch sonst. (32) Ich meine, daß dies die Ursache ist, warum der intellektuale Geist für eine Zeit lang mit dem Leib vereint ist. Seiner untersten intellektualen Natur nach schläft er und ist nur in der Möglichkeit. Durch die Gestalt dieser Welt wird er zur Erkenntnis, zum Leben und Wachen in Wirklichkeit angeregt! Der ganze Leib und die ganze Welt dient somit unserem Geist, damit er zur Liebe des Lebens angeregt wird.

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Und so kann er durch eine Liebesbindung und nach dem Maß dieser Liebesbindung, mit der er dem geliebten Leben anhängt, ähnlich leben wie die anderen Geister, die Engel, die in der Wirklichkeit des Lebens leben. Und damit wir das Leben ergreifen, laßt es uns deshalb mit größter Liebe lieben! Diese Liebe gewähre uns Gott, der „die Liebe ist“ (1 Joh 4,8), der in Ewigkeit Gepriesene.

Predigt XLII Ecce, evangelizo Seht, ich verkünde euch Zeit: Ort: Fest: Zählung Koch: Edition: Deutsch:

25. Dezember 1444 Mainz Weihnachten 33 h XVII/2, 166-174 Wolfgang Lentzen-Deis, „Den Glauben Christi teilen“, Stuttgart 1991, 187-195.

ZUSAMMENFASSUNG In den fünf Weihnachtspredigten XLII, XLIII, XLIV, XLV und XLVI aus dem gleichen Jahr 1444 greift Nikolaus das beliebte mittelalterliche Einteilungsprinzip der „dreifachen Geburt“ Christi auf. Es umfaßt die „ewige Zeugung“ des Wortes Gottes, die „zeitliche Geburt“ Christi und die „geistliche Geburt“ der Gläubigen in Christus. Anders als in früheren Predigten wird jetzt die geistliche Geburt in den Herzen zum Hauptgegenstand der Verkündigung in dem damaligen Triduum: Weihnachten, Fest des heiligen Stephan und Fest des heiligen Evangelisten Johannes. Nach Ambrosius überliefert Paulus Dogmatisches bezüglich der zeitlichen und ewigen Geburt Christi, bezüglich unserer Geburt jedoch Ethisches (n.1). Die Volkszählung bei der Geburt Christi wird allegorisch ausgelegt und auf das Beschreiben des ganzen Erdkreises mit dem Verstand und dessen Rückgriff auf das Gedächtnis bezogen. Die Zählung beginnt mit Christus (n.2). Aus der Seele, dem „Haus Davids“, kommen Joseph und Maria als Bilder für Intellekt und Liebe. Letztere gebiert aus der Liebe die Liebe beim Aufstieg zur Spiegelschau, denn sie wird nicht vom Intellekt schwanger (n.3). Die Liebe gebiert im Haus des Lebensbrotes, das niemandem gehört, wo nichts Eigenes gefunden wird. Der Sohn wird im Menschen geboren und setzt sich so allen Versuchungen aus (n.4). Allein die Krippe ist der geeignete Ort für den Sohn der Liebe des unsterblichen Lebens (n.5). Den Hirten als Wächtern und lenkenden Kräften des leiblichen Lebens erscheint der stehende Engel als hohe und kraftvolle geistige Erkenntnis (n.6) und verkündet die Geburt des Erlösers als Inbegriff des Lebens im Glauben (n.7). Nun werden drei Zeichen der Geburt ausgelegt: 1. Das Licht entwickelt die intellektuale Wahrnehmung. Es erleuchtet, wärmt und befruchtet uns. Bei unserer Wiedergeburt aus dem Geist nehmen wir Weisheit, Glanz und Bild des Sohnes in uns auf (n.8-9). 2. Das zweite Zeichen besteht darin, daß wir mit den Engeln Gott unablässig die Ehre geben (n.10). 3. Das dritte Zeichen ist der Friede, der aus Übereinstimmung, Demut und Stille besteht (n.11). Die

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Teilhabe am Licht entfaltet sich stufenweise. Der Tag ging leuchtend auf, erleuchtete die Seelen, zeugte durch Belehrung aus Kindern der Finsternis Kinder des Lichtes und führte unseren Geist zur Kindschaft. Drei Aspekte will Cusanus in den folgenden Tagen auslegen: 1. Die geistliche Geburt als Kinder Gottes, 2. Das Entreißen unserer menschlichen Natur aus Finsternis, Unvollkommenheit und Tod, 3. Ewigkeit, Ursprung, Sinn, Ziel, Sabbat und Ruhe des geheiligten Tages (n.12).

BEMERKUNGEN Die Übersetzung ist eine überarbeitete Fassung der o.g. deutschen Übersetzung. Bemerkenswert ist die allegorische Auslegung der Weihnachtsgeschichte in den Predigten XLII, XLIII und XLIV.

LITERATUR Wolfgang Lentzen-Deis: „Den Glauben Christi teilen“, Stuttgart 1991. Klaus Reinhardt: Das Thema der Gottesgeburt und der Gotteskindschaft in den Predigten des Nikolaus von Kues, in: Nikolaus von Kues als Prediger (Philosophie interdisziplinär 11), Regensburg 2004, 61-78, bes. 63-70. Ders.: L’idée de naissance de Dieu dans l’âme chez Nicolas de Cues et l’influence d’Eckhart, in: Marie-Anne Vannier (éd.): La Naissance de Dieu dans l’âme chez Eckhart et Nicolas de Cues, Paris 2006, 85-99. Marc Aeilko Aris: Vos Moguntini. Nikolaus von Kues (1401-1464) predigt den Mainzern, in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 50 (1998) 191-217.

Predigt XLII: Seht, ich verkünde euch

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Predigt XLII Seht, ich verkünde euch (1) „Seht, ich verkünde euch eine große Freude, die allem Volk zuteil geworden ist, denn heute ist uns der Erlöser in der Stadt Davids geboren, Christus der Herr“ nach Lukas 2.1 Der Apostel überliefert Dogmatisches und Ethisches, wie Ambrosius2 im Kommentar zum Brief an die Epheser darlegt. Und im Brief an Titus, den wir in der ersten Messe lesen, unterweist er Titus, daß die „Menschlichkeit und Güte“ (Tit 3,4) unseres Herrn Jesus Christus erschienen ist, und daß sie uns belehrt, „uns von der Gottlosigkeit und den fleischlichen Begierden loszusagen und nüchtern, fromm und gerecht in dieser Welt zu leben“ etc. (Tit 2,11f.) So ist an der Geburt Christi Dogmatisches, das sich auf seine zeitliche und ewige Geburt bezieht; anderes ist ethischer Art und bezieht sich auf unsere Geburt. „Wir müssen“ nämlich „wiedergeboren werden“, wie der Herr sagt (Joh 3,7).3 An drei Tagen werde ich also kurz über die dreifache Geburt sprechen und die drei Evangelien des gegenwärtigen Festes zitieren: heute das erste aus der ersten Messe; morgen das zweite aus der Messe am frühen Morgen; am Sonntag, am Fest des hl. Johannes, das dritte, das dieser Evangelist geschrieben hat.4 Ich werde das erste Evangelium, das von der geistlichen Geburt handelt, durch die Christus in uns geboren wird, mit einer schönen Betrachtung auslegen; morgen das zweite über die zeitliche und übermorgen das dritte über die ewige Geburt. – Laßt uns beten etc. (2) Das Evangelium sagt: „Es erging ein Befehl“ etc. (Lk 2,1) Wenn die Geschichte des Evangeliums erzählt wird, ist zu bedenken, daß man zu dem verborgenen Christus nur gelangen kann, wenn „der gesamte Erdkreis beschrieben“ (Lk 2,1) wird; und: Als der Befehl vom Beherrscher dieses Weltreiches ausging, war Jesus noch nicht geboren. Er ist vielmehr der Letzte von allen, die zu beschreiben sind; er vollendet gleichsam alle Beschreibung. Wenn das weltliche Verlangen fordert, den ganzen Erdkreis zu beschreiben, dann „beginnt der Statthalter Quirinius von Syrien“ (Lk 2,2). Der stellt den Verstand dar; denn der beschreibt alles, und es ist der Verstand, der beginnt. Er wird „Statthalter von Syrien“ genannt. Syrien bedeutet „erhaben“. Denn auf erhabene Weise führt der Verstand den Vorsitz.

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Aus dem Evangelium der ersten Weihnachtsmesse des Missale Romanum (Lk 2,10f.). Es handelt sich um den Kommentar: In epistulam B. Pauli ad Ephesios des Theodor von Mopsuestia. Vgl. h XVII, 166, App. II zu n.1,5-6. Nikolaus legt den Text der Vulgata zugrunde, der zu seiner Zeit in der Liturgie verwandt wurde. Es handelt sich um die drei Evangelien der drei Weihnachtsmessen des Missale Romanum: Lk 2,1-14; Lk 2,15-20 und Joh 1,1-14.

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Wenn aber der Verstand den ganzen Erdkreis zu beschreiben beginnt, dann greift er auf das Gedächtnis zurück, das seine Provinz ist, in dem verschiedenerlei Städte liegen. Denn dort sind die Wohnstätten dessen, was gesehen, gehört, berührt etc. wird. Alles nämlich, was gesehen werden kann, tritt in je seine Stadt ein, wo sich der Wohnsitz der Sinneseindrücke des Sichtbaren befindet. So verhält es sich auch mit dem Hörbaren und Berührbaren. (3) Und wenn der Verstand alles beschreibt, was er mit Verstand beschreiben kann, dann kommen aus dem „Haus Davids“ (Lk 2,4), nämlich aus dem edlen Antlitz (Gen 29,17; 39,6; Est 2,7; Hld 2,14), aus der Seele, die ein Bild Gottes (Gen 1,26f.) ist, Joseph und die ihm anverlobte schwangere Frau Maria, das sind die höchsten Seelenkräfte: der Intellekt und die Liebe. Die Liebe aber wird dem Intellekt anverlobt; denn ohne Intellekt wird diese nicht gefunden. Die Liebe wird aber nicht durch den Intellekt schwanger, sondern die Liebe wird durch die Liebe des Geliebten schwanger. Und daher ist die Seele die Erleuchtete und die Erleuchtende wie Maria, die so zu verstehen ist. Die Liebe nämlich ist dazu schwanger, daß sie die Liebe hervorbringen kann, durch die sie dem Geliebten verbunden wird. Denn die Liebe wird nur dem durch Vermittlung des Sohnes verbunden, der die Liebe der Liebe ist. Und dann, nachdem die ganze Welt beschrieben worden ist und der Aufstieg zur Spiegelschau5 geschieht, ist die Zeit gekommen, „daß Maria gebiert“ (Lk 2,7). Die Liebe gebiert aber nicht in ihrem Eigenbereich, sondern „in der Stadt Davids“ (Lk 2,4); sie ist die Stadt des Angesichts der Schönheit; in der Stadt, die Bethlehem heißt, was soviel wie Haus des Brotes bedeutet. (4) Im Haus des Brotes oder des Lebens, das ist bei der Erquickung des Lebens, wo das Leben Nahrung ist, dort wird der Geist, dessen Nahrung das Leben ist, erquickt, weil der Geist des Lebens vom Leben erquickt wird. In diesem Haus wird der Sohn geboren, der Erstgeborene im Liebenden. Denn dem Leben selbst ist nichts früher als die Sehnsucht, daß es lebe. Bei der Beschreibung (Lk 2,1), das heißt bei der Reise durch die Welt, findet die Seele nicht das Leben. Wenn sie aber mit ihren Kräften zu dem edlen Antlitz aufbricht, zu der hinreißenden Schönheit in sich selbst, um in das Haus des Lebensbrotes zu gelangen, dann bricht die schwangere Liebe auf, damit sie den Sohn gebiert, der ihr Leben ist. Auch wird er geboren „in der Herberge“ (Lk 2,7), die niemandes Eigentum ist, sondern ein öffentlicher, allen zugänglicher Ort. Diese Liebe des Lebens ist nur in der Herberge, wo nichts Eigenes gefunden wird. In der Herberge dieser Welt wird also der Sohn des Lebens geboren, wenn

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Die „Spiegelschau“ beschreibt Nikolaus etwa in De fil. Dei, c.3: Er nennt den menschlichen Geist „einen lebendigen, mit intellektualer Erkenntnis begabten Spiegel“, der aufsteigen kann zur Spiegelschau in Christus, dem vollkommenen, unbegrenzten Spiegel Gottes, in dem der menschliche Geist sich selbst und alles zu schauen vermag, wie es ist. Vgl. Wolfgang Lentzen-Deis: „Den Glauben Christi teilen“, Stuttgart 1991, 81.

Predigt XLII: Seht, ich verkünde euch

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Maria und Joseph nach Bethlehem etc. „Selig, die arm sind im Geiste, denn“ sie sehen wie Joseph, daß „ihnen das Himmelreich gehört“ (Mt 5,3). Das Himmelreich ist das Leben etc. Aber da der Sohn in der Herberge geboren wurde, das ist im Menschen, der sich zur Herberge gemacht hat, heißt das, er hat sich allen Versuchungen ausgesetzt.6 Der Mensch paßt sich den Anderen an und befindet sich in einer allgemeinen und öffentlichen Herberge. Er ist ein Gesellschaftswesen etc. Daher kommt dies: Wenn der Mensch in der Herberge, nämlich in dieser Welt, sich über alles Rechenschaft gegeben hat, was in der Welt ist, wendet er sich zu dem, der erleuchtet. Dann wird das Licht und das Leben in der Herberge geboren. (5) Aber er kann, wenngleich er sich im Haus des Brotes, das heißt im Haus der Kirche, in der Herberge dieser Welt befindet, das Leben nur behüten, wenn er den Neugeborenen in „Windeln wickelt“ (Lk 2,7), das heißt, wenn er die Wärme, nämlich die Geburt der ewigen Liebe, mit großer Sorgfalt gegen eindringende Kälte schützt. Dann „findet sich“ in dieser Welt, das heißt „in der Herberge kein Platz“ zum Niederlegen außer in „der Krippe“ (Lk 2,7). Die Krippe ist nämlich das Gefäß, das die Nahrung für das leibliche Leben enthält. Denn es gibt keinen Ort, kein Bild und Gleichnis, wo der Sohn der Liebe des unsterblichen Lebens niedergelegt werden könnte als in diesem sinnenhaften Leben, das ein Bild oder Ort oder Gefäß oder Kleid des geliebten Lebens oder des Sohnes der Liebe der erleuchteten Seele ist. (6) „Und es waren Hirten in jener Gegend“ (Lk 2,8). Denn wenn die Seele sich erhebt und in jener Gegend zur Spiegelschau aufsteigt, gibt es viele Hirten, die „Nachtwache über ihre Herde halten“ (Lk 2,8). Solche Wächter sind nämlich die vielen, das leibliche Leben sorgfältig lenkenden Kräfte, die furchtsam und ohne Licht ihre Nachtwache halten. Diese lenkenden Kräfte wachen nämlich mit viel Sorgfalt darüber, daß der Leib nicht ermattet, und sie behindern oft die Spiegelschau, bis „der Engel vor sie hintritt“ etc. (Lk 2,9) Von einem Stehen des Engels ist die Rede; gemeint ist eine hohe und kraftvolle geistige Erkenntnis, die höher als menschliches Vermögen ist. Aber diese Kraft, die hingerissen und losgelöst wie die Erkenntnis der Engel ist, steht und verweilt bei den Hirten und erschreckt sie durch strahlende Helle, denn sie sorgen sich nur um das Leben der Herde. Dann „fürchten sie sich“ (Lk 2,9) allerdings, denn das sinnenhafte Leben fürchtet den Tod, wenn für es danach keine Aussicht auf ein anderes, besseres Leben besteht. (7) Und der Engel sprach: „Fürchtet euch nicht! Seht, ich verkünde euch“ etc. (Lk 2,10) Dann nämlich verkündet die von aller Einschränkung befreite geistige Erkenntniskraft „eine große Freude“, wenn sie sieht, daß in ihr der „Erlöser geboren ist“ (Lk 2,11), welcher der Inbegriff des Lebens im Glauben und seine Erwartung in der Hoffnung ist etc. Und das Zeichen der Geburt ist

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Der in h in kleinerer Schrift wiedergegebene Abschnitt ist im Codex C hinzugefügt und wieder gestrichen worden. Vgl. h XVII, 169, App. I zu n. 4, 17-26.

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

das Finden des Kindes etc. Wenn die Liebe des ewigen Lebens im Menschen, in dessen „Herberge“ gefunden wird, wie ein geliebtes Neugeborenes „gewickelt und niedergelegt in einer Krippe“ (Lk 2,7) – aus der das tierische Leben, dem die Sorge der Hirten gilt, seine Nahrung nahm –, so ist dies das „Zeichen“ (Lk 2,12) etc. Wenn das erfahren wird, und wenn die Hirten dem beipflichten, dann singt mit dem Engel die große Zahl der himmlischen Heerscharen: „Ehre etc.“ „und Friede auf Erden“ etc. (Lk 2,14) (8) Drei Zeichen der Geburt Christi müssen wir beachten. Erstens: Wenn wir mit den Engeln „Ehre sei Gott in der Höhe“ (Lk 2,14) singen, das heißt, wenn sich unser Intellekt dem Erhabenen, das über dieser Welt ist, zuwendet und sich dort festmacht, dann wird in ihm das Licht geboren, durch das er zur Gotteskindschaft umgeformt wird. Gott ist die Wahrheit. Das Licht ist die „Entwicklung“7 intellektualer Wahrnehmung. Wie also ein Lehrer das Licht des Wissens eingibt, indem er aus einem ungelehrten Schüler einen gelehrten Lehrer und aus einem Ungebildeten einen Gebildeten macht, so gibt uns die ewige Vernunft ihr Licht ein und „erzieht uns dazu“ (Tit 2,12), „Kinder des Lichtes“ (Joh 12,36) zu werden und „das wahre Licht“ (Joh 1,9) wahrzunehmen, das wie das Licht der Sonne in uns dreierlei bewirkt: Es erleuchtet, wärmt und befruchtet uns. (9) Damit wir wahre Christen und „Kinder Gottes“ werden, müssen wir also „noch einmal geboren werden“ (Joh 3,3.7), nicht den Begierden und Genüssen des Fleisches gemäß, weil das die Geburt aus Eva ist, sondern entsprechend der keuschen Haltung der Jungfrau, weil das die Geburt „aus dem Geiste“ (Joh 3,68) ist. Dann aber werden wir aus dem Geiste über diese Welt hinaus geboren, wenn wir das Licht und die Erleuchtung der Erlösung des Sohnes Gottes in uns aufnehmen, der die „Weisheit“, der „Glanz“ und „das Bild“ (Weish 7,26; 1 Kor 1,30) ist etc. Denn dann „sagen wir uns von den irdischen Begierden los“ (Tit 2,12), wenn in uns die ewigen gezeugt worden sind. Dann verlassen wir das, „was der Welt angehört“ (1 Joh 2,18), wenn wir es durch die Erleuchtung der Wahrheit als Übel erkennen. Christus kann in uns aber nicht geboren werden, und wir werden auch nicht als „Kinder Gottes“ wiedergeboren, wenn wir „noch fleischlich“ (1 Kor 3,3) eingestellt sind, wenn in uns noch Streit, Habgier und Stolz etc. herrschen. Das nämlich sind Zeichen dafür, daß uns das Licht fehlt, und wir noch „in der Finsternis“ (1 Thess 5,4) sind, wie Paulus sagt. Christus ist nur dort, wo diese Welt nicht ist. Wir müssen den Adam entsprechenden alten Menschen ablegen und den neuen Menschen anziehen (Eph 4,22-24), der dem Geist Christi entspricht etc. Und beachte, daß diese Geburt wunderbar ist und über die Natur hinausgeht. Und zu dieser hat uns Christus der Erlöser durch seine Lehre berufen, wie der Apostel sagt: „Er belehrt uns, uns

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Bei der Übersetzung des Wortes „eruditio“ (wörtlich: Bildung) mit „Entwicklung“ kann für den heutigen Leser mitklingen, was mit der „Entwicklung eines Fotos“ gemeint ist, bei der eine belichtete fotografische Schicht sichtbar gemacht wird.

Predigt XLII: Seht, ich verkünde euch

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von der Gottlosigkeit loszusagen“ etc. (Tit 2,12) Wenn wir wiedergeboren werden wollen, müssen wir also durch Lossagen von den weltlichen Begierden zu einem nüchternen, frommen und gerechten Leben (Tit 2,12) gelangen. (10) Das zweite Zeichen besteht dementsprechend darin, daß wir mit den Engeln unaufhörlich Gott die Ehre geben. Denn wer nicht erleuchtet ist und sich nicht zur Quelle des Lichts bekehrt, sondern noch in der Finsternis ist, gibt Gott nicht die Ehre. Denn jeder Sünder, der sich von Gott abgekehrt hat, ehrt und verherrlicht ihn nicht, auch wenn er glaubt; sein Herz ist unverständig (Röm 1,21), und daher verfallen solche einer verworfenen Gesinnung (Röm 1,28), wie der Apostel im 1. Kapitel seines Briefs an die Römer sagt. Und wie daher die Kinder Gottes daran zu erkennen sind, dass sie Gott die Ehre geben, so die Kinder des Teufels an der Gotteslästerung. Denn die Gotteslästerung ist eine teuflische Redeweise. Und an dieser Stelle ist über die Blasphemie zu sprechen etc.8 (11) Das dritte Zeichen ist der „Friede guten Willens “ (Lk 2,14). Der Sohn Gottes ist nämlich die Ehre des Vaters und „unser Friede“ (Eph 2,14). Die also nicht friedfertig sind, dürfen nicht „Kinder Gottes“ (Mt 5,9) genannt werden. Denn „sein Ort ist in Frieden geschaffen worden“ (Ps 76[75], 39). Friede besteht aus Übereinstimmung, Demut und Stille. Wer nämlich seinen Willen dem göttlichen Willen gleichförmig macht, ist im Frieden. „Wer vermag ihm zu widerstehen und Frieden zu haben?“ (Ijob 9,4), was so viel bedeutet wie: Niemand. Siehe an anderer Stelle.10 (12) „Der geheiligte Tag ist uns aufgeleuchtet“.11 Kommt, laßt uns anbeten! Der geheiligte Tag ist der Glanz des „ewigen Lichts“ (Weish 7,26) und eben „der siebte Tag“, von dem man nicht liest, er sei von Gott geschaffen worden, sondern „an ihm habe er geruht, und er habe ihn gesegnet“ (Gen 2,3) etc. Und alle anderen Tage gibt es nur, weil sie an diesem Tag teilhaben. Manches hat auf der untersten Stufe teil am Licht wie die Elemente, manches auf der Stufe des vegetativen Lebens, manches auf der des sinnlichen Lebens, manches auf der des geistigen Lebens. Durch die Stufen werden diese Tage zum Ausdruck gebracht. Denn Gott schuf alles zugleich: „Er sprach, und es ist geworden.“ (Ps 33[32],9) Doch Mose beschreibt eine stufenweise Entfaltung durch die Teilhabe am Licht und am Tag etc. Dieser Tag ging auf dreifache Weise leuchtend auf. Denn er erleuchtete die Seelen, indem er sie umformte, so wie Licht Erleuchtbares erleuchtet und wie Feuer entzündet. So ging der Tag leuchtend auf und zeugte aus Kindern der Un-

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Von der Blasphemie handelt Predigt XVIII, n.10.13 (h XVI, 286ff.). Die wörtliche Übersetzung von Ps 76[75],3 lautet: „Sein Zelt entstand in Salem“ (Einheitsübersetzung). Vgl. Predigt XVI, n.14. Graduale der dritten Weihnachtsmesse. Nach Niederschrift der Predigt hat Nikolaus in n.12 eine neue Einleitung für das gesamte weihnachtliche Triduum mit dem Titel „Der geheiligte Tag“ geschrieben, ohne den Text unter n.1 zu streichen. Vgl. die Vorbemerkung zu n.12 unter der Überschrift „Exordium novum“ in h XVII, 173.

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wissenheit und der Finsternis Kinder des Lichts; und dies, indem er durch das Zeigen der Wahrheit „belehrte“, wie der Apostel Paulus sagt in seinem Brief an Titus (Tit 2,12), der in der Nacht verlesen wurde. Und durch diese Erleuchtung wird unser Geist durch die Aufnahme des Lichts zur Kindschaft geführt. Und diese Erleuchtung strahlte oft gewissermaßen durch die Sterne auf, das heißt die Propheten und Heiligen. Doch das war nicht der Tag oder die Sonne selbst, sie ist heute aufgestrahlt oder „das Licht selbst im Sonnenrad“.12 Über diesen Tag, wie er uns aufgeleuchtet ist, damit wir geistlich als Kinder Gottes geboren würden, werde ich heute das erste Evangelium, nämlich das der Messe in der Nacht, auslegen. Auf andere Weise leuchtete er in unserer sinnenhaft-leiblichen Menschlichkeit so auf, dass unsere Menschennatur in seinem Licht der Finsternis, der Unvollkommenheit und dem Tod entrissen wurde, worüber ich morgen sprechen werde. Drittens ist uns der geheiligte Tag nicht nur geistlich durch die Gnade in unserer Seele oder sinnenhaft erfahrbar in unserer Natur aufgeleuchtet, sondern auch in sich selbst, in seiner Ewigkeit, als Ursprung und Sinn, Ziel, Sabbat oder Ruhe. Und darüber werden wir am Sonntag entsprechend dem Evangelium des heiligen Johannes wieder etwas sagen. Schauen wir also auf das Evangelium, das beginnt: „Es erging ein Befehl“ etc. (Lk 2,1) Siehe dazu anderswo!13

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Das Zitat ist entnommen: Wilhelm von Lanicea: De diaeta salutis (Von der Lebensweise des Heils), tit.5, c.3. Vgl. h XVII, 102, App. II zu Predigt XXXVIII, n.2, 10f. Vgl. Predigt XVIII, n.4-11.

Predigt XLIII Alleluia. Dies sanctificatus Halleluja. Der geheiligte Tag Zeit: Ort: Fest: Zählung Koch: Edition: Deutsch:

25. Dezember 1444 Mainz Weihnachten 34 h XVII/2, 175-184 Wolfgang Lentzen-Deis: „Den Glauben Christi teilen“, Stuttgart 1991, 196-205.

ZUSAMMENFASSUNG In den fünf Weihnachtspredigten XLII, XLIII, XLIV, XLV und XLVI aus dem gleichen Jahr 1444 greift Nikolaus das beliebte mittelalterliche Einteilungsprinzip der „dreifachen Geburt“ Christi auf. Es umfaßt die „ewige Zeugung“ des Wortes Gottes, die „zeitliche Geburt“ Christi und die „geistliche Geburt“ der Gläubigen in Christus. Anders als in früheren Predigten wird jetzt die geistliche Geburt in den Herzen zum Hauptgegenstand der Verkündigung in dem damaligen Triduum: Weihnachten, Fest des heiligen Stephan und Fest des heiligen Evangelisten Johannes. Bemerkenswert ist die allegorische Auslegung der Weihnachtsgeschichte in den Predigten XLII, XLIII und XLIV. Drei Geburten Christi werden als Predigtinhalte der kommenden drei Tage benannt: geistlich in uns, indem wir zu Kindern Gottes werden durch den Hervorgang des Wortes, nämlich der gezeugten Weisheit; die zeitliche Geburt Christi in der Menschwerdung, schließlich die ewige Geburt des Sohnes vom Vater (n.1). Durch die Beschreibung des ganzen Erdkreises leuchtet das Licht dieses Tages in uns auf. Wir erkennen die Geburt Christi in uns am Kind, das in Windeln gewickelt ist. Andere erkennen seine Geburt in uns daran, daß wir Gott die Ehre geben und den Menschen, die guten Willens sind, Frieden wünschen (n.2). Der Mensch als Mikrokosmos läßt seinen Verstand berechnen, wieviel die Geschöpfe wert sind, die ihm unterstehen und ihm zur Ehre gereichen. Er will seine Stufen der Teilhabe am Licht kennen (n.3). Der Geist wird in den Leib wie in ein Paradies gesetzt. Durch falsches Wissenwollen wollte der Mensch Gott gleichgestellt werden. Außerhalb des Paradieses sollte er nun Gott suchen (n.4). Durch menschliche Verstandesbemühungen konnte er Gott nicht erreichen, sondern nur durch den Glauben, durch den Jesus ihn zur Ruhe und zum Sieg führt (n.5). Am siebten Tag und in Bethlehem wurde der Mensch nach dem Aufstieg über die sechs Weltalter für ein Leben des Geistes geboren (n.6). Die Seele erkennt, nachdem sie alles durchwandert hat, daß nur Jesus sie ins Land des Lebens führen kann (n.7). Der Geist läßt alles zurück, um von der

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Helle des Lebens erleuchtet zu werden und so die Gotteskindschaft zu empfangen (n.8), indem er Heil, Licht und Leben vom Heiligen Geist empfängt (n.9). Den Kräften des schlußfolgernden Denkens wird verkündet, daß der Verstand, der Logos oder das Wort geboren ist, in dem jede Verstandesbewegung zur Ruhe kommt (n.10). Wenn Jesus, die Liebe des geistlichen Lebens, geboren worden ist, ist dies eine intellektuale Geburt des Lichtes, die durch Windeln vor der Kälte geschützt werden muß (n.11). Am Einstellungswandel gegenüber irdischen Gütern erweist sich die Geburt des Heilandes (n.12). Andere können am Lebenswandel erkennen, in wem Christus geboren wurde (n.13). Die Heiden, die Christus noch nicht kennen, werden zur Umkehr eingeladen (n.14). Maria und alle übrigen Heiligen sollen um Fürsprache angerufen werden, damit Gott die Suchenden erleuchte und zur Weisheit führe (n.15).

BEMERKUNGEN Die Übersetzung ist eine überarbeitete Fassung der o.g. deutschen Übersetzung.

LITERATUR Wolfgang Lentzen-Deis: „Den Glauben Christi teilen“, Stuttgart 1991. Klaus Reinhardt: Das Thema der Gottesgeburt und der Gotteskindschaft in den Predigten des Nikolaus von Kues, in: Nikolaus von Kues als Prediger (Philosophie interdisziplinär 11), Regensburg 2004, 61-78, bes. 63-70. Ders.: L’idée de naissance de Dieu dans l’âme chez Nicolas de Cues et l’influence d’Eckhart, in: Marie-Anne Vannier (éd.): La Naissance de Dieu dans l’âme chez Eckhart et Nicolas de Cues, Paris 2006, 85-99. Marc Aeilko Aris: Vos Moguntini. Nikolaus von Kues (1401-1464) predigt den Mainzern, in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 50 (1998) 191-217.

Predigt XLIII: Halleluja. Der geheiligte Tag

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Predigt XLIII Halleluja. Der geheiligte Tag „Halleluja. Der geheiligte Tag ist uns aufgeleuchtet. Kommt, ihr Völker, und betet ihn an, denn heute ist ein großes Licht auf Erden erschienen!“1 (1) Es gibt eine Geburt Christi, in der er geistlich oder im Geiste täglich in uns geboren wird, wie die Erkenntnis und die Wahrheit in einem Unwissenden. Die Wahrheit ist aber das Licht des intellektualen Geistes und der Geist ein Bild des Lichts, weil „Gott Geist ist“ (Joh 4,24) und „Licht, in dem keine Finsternis“ (1 Joh 1,5) gibt. Wir werden aber zu „Kindern des Lichts“ (Joh 12,36; Eph 5,8; 1 Thess 5,5) oder zu Kindern Gottes, wenn der Glanz des Lichtes den Geist erleuchtet und in das Licht hinüberträgt. Denn dann „werden wir ihm ähnlich sein“ (1 Joh 3,2), der Licht vom Licht ist. Und so wird er täglich im Geiste „heiliger Seelen“ (Weish 7,27) geboren: durch den Hervorgang des Wortes, das heißt der gezeugten Weisheit, von Gott dem Vater zum Geist des vernunftbegabten Geschöpfes zu dessen geistlicher und gnadenhafter Erleuchtung. Denn wenn er auch wesenhaft überall ist, so ist er das doch nicht durch das Gnadenlicht. Und über diese Geburt werde ich heute einiges sagen. Es gibt eine andere, die zeitliche Geburt Christi, in der „das Wort Fleisch geworden und unter uns gewohnt hat“ (Joh 1,14); darüber werde ich morgen sprechen. Es gibt eine höchste und ewige Geburt, in der von Ewigkeit her der Sohn vom Vater geboren wird; davon werde ich am Johannestag kurz einiges berühren. Laßt uns also beten: Halleluja etc. (2) Ich werde das Evangelium der ersten Messe vorausschicken: „Es erging ein Befehl von Kaiser Augustus“ (Lk 2,1). Die Geburt unseres Herrn Jesus Christus aus Maria der Jungfrau wird in ihrem geschichtlichen Ablauf dargelegt. Und da er selbst der Erlöser ist, wie der Engel zeigt, so laßt uns sprechen: Halleluja. Der geheiligte Tag etc. Denn wenn dieser Tag unserer Erlösung aufgeleuchtet ist, den wir, wenn wir emporgerissen werden wie ein engelhafter Geist, in uns schauen können, müssen wir Gott geziemend loben wegen des geheiligten Tages etc. Damit aber das große Licht dieses geheiligten Tages in uns, die wir Erde sind, so aufleuchtet, daß wir ein Gebet höchster Hingabe verrichten können, müssen wir aus dem Evangelium erfragen, wie wir dazu gelangen. Und das Evangelium sagt uns, daß dies durch die Beschreibung des gesamten Erdkreises geschieht. Zweitens: An welchem Zeichen können wir selbst erkennen, daß Christus in uns geboren ist? Das Evangelium sagt: „Dies ist das Zeichen: Ihr werdet ein Kind finden, in Windeln gewickelt“ etc. (Lk 2,12) Drittens: Woran erkennen andere, daß Christus in uns geboren ist? Das Evangelium antwortet: Daran, daß wir Gott die Ehre geben und „den Menschen auf Erden, die guten Willens sind, den Frieden“ wünschen (Lk 2,14). Wer also „im Geist und in der Wahrheit“ (Joh 4,23) heute mit der

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Alleluia-Vers im Graduale der dritten Weihnachtsmesse des Missale Romanum.

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Mutter Kirche singt: „Halleluja. Ein heiliger Tag“ etc., der hört, „was der Herr in ihm spricht“ (Ps 85[84],9), da er in ihm geboren ist, und er ruft alle zu seiner Anbetung herbei, damit sie das Licht empfangen. (3) Zum ersten Punkt nun, nämlich der Beschreibung des Erdkreises, muß man wissen, daß die Natur des Menschen den Erdkreis beherrscht, weil „du ihm alles zu Füßen gelegt hast“ (Ps 8,8). Da die menschliche Natur alles in sich enthält und die Welt im Kleinen ist, will der Mensch das, was unter ihm ist, beschreiben und die Reichtümer berechnen, die ihm zur Ehre gereichen. Und er wendet sich an den Statthalter Syriens, was soviel bedeutet wie Erhabenheit, das heißt, er wendet sich an den Verstand, damit er seinen Reichtum berechne. Und er beschreibt alles, was nach dem Bericht der Genesis (Gen 1,3-31) an den unterschiedlichen Tagen vor dem Menschen geschaffen worden ist. Und er will diese Stufen der Teilhabe am Licht oder an den Tagen kennen, um zu wissen, wie sehr Gott ihn am sechsten Tag (Gen 1,31) über alles erhoben und ihn unmittelbar auf die Höhe der Engel und einsichtigen Geister gestellt hat; wie „Gott ihn zwar aus Erde geschaffen hat“ (Gen 2,7), aber nicht wollte, daß die Erde seine Wohnung sei, sondern ihn von der Erde ins Paradies versetzt hat, damit er vom „Baum des Lebens“ (Gen 2,9) lebe. (4) Denn der Geist, der „nach dem Bilde Gottes geschaffen ist“ (Gen l,26f.), wird in den Leib wie in ein Paradies gesetzt, in dem die vier Ströme sind sowie das „Holz des Lebens“ und der „Baum des Wissens“ (Gen 2,8-15). Doch der Mensch wollte im Paradies in seiner Natur das Wissen erlangen, durch das er Gott gleichgestellt würde. Und so verlor er das Leben, das er hatte. Denn das Leben des Geistes ist reines Gnadengeschenk und kann keineswegs aus Wissen entstehen. Der Mensch hat mithin in seiner Einsicht Nichtwissen, da er vom CherubEngel, dem Wächter des Paradieses und des natürlichen Zugangs zur Erlangung des Lebens, daran gehindert wird, auf dem Weg des Wissens in das unsterbliche Leben einzugehen. Der Mensch wurde daher durch sein eigenes Wissen, das den lebendigen Gott nicht erkennen kann, in eine Existenz außerhalb des Ortes des Lebens versetzt. Und auf seiner Erde suchte Adam, das heißt der Mensch, unter vielen „Mühen“ nach dem Leben. Doch die Erde brachte nur „Dornen und Disteln“ hervor (Gen 3,17f.). Aber Gott hat geduldet, daß der Mensch eine bestimmte Zeit im sinnenhaften Leben verbringe, damit er das wahre Leben, das Gott ist, suche, ob er ihn vielleicht „ertasten könne“, wie Paulus im 17. Kapitel der Apostelgeschichte (Apg 17,27) sagt. (5) Der Mensch wird also von großer Hoffnung geleitet, eines Tages das Leben wiederzufinden und zum Baum zurückzukehren. Und er zog aus und wurde beim Suchen in den Wald von Ägypten geführt, das heißt in eine größere Dunkelheit seiner Verstandesbemühungen. Die Philosophen wohnen nämlich in einem Wald, da sie vielfältige und unterschiedliche Meinungen vertreten und sich verschiedene Götter und verschiedene Lebensbäume schaffen, ein jeder

Predigt XLIII: Halleluja. Der geheiligte Tag

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nach seinem Gutdünken. Und der Mensch fand dort weder Ruhe noch das, wonach er suchte. Er verließ Ägypten, ging in die Wüste, gab die menschlichen Wissensbemühungen auf und unterstellte sich göttlicher Belehrung. Und durch die Gnade gelangte er aus dem Wald der Vielgötterei heraus zu dem einen Gott. Dies vermochte er aber nur in der Wüste des Glaubens, und er konnte nicht kosten und sehen, wie gütig der Herr ist (Ps 34[33],9). Deshalb hörte er nicht auf zu seufzen. Da versprach ihm Gott das Land der Verheißung, wenn er nicht wieder abwiche nach Ägypten, das heißt in den Wald. Und durch Jesus wurde der Mensch in das Land geführt, in dem „Milch und Honig fließen“ (Ex 3,8.17; 13,5; Bar 1,20), und zur Ruhe nach dem Sieg über alle Feinde. (6) Und das ist der geheiligte Tag. Denn als der Mensch die sechs Zeitalter der am Licht teilhabenden Tage hindurch aufstieg, gelangte er im siebten Zeitalter, das heißt auf der höchsten Stufe des Aufstiegs, zum Sabbat. Da wurde nämlich der Mensch geboren, der das Ziel der Beschreibung und die Ruhe der Bewegung ist. Er wurde nicht nach dem allgemeinen Lauf der Natur, sondern über die Natur hinaus vom Heiligen Geist für ein Leben des Geistes geboren in der Stadt Davids, in Bethlehem; denn Bethlehem ist das Leben des „schönen Angesichts“ (Gen 29,17; 39,6; 1 Sam 16,12; Est 2,7; Hld 2,14) das heißt der Seele, die „Gottes Bild“ (Gen 1,27) ist. (7) Nachdem die Seele nämlich alles durchwandert hatte, was sich auf dem ganzen Erdkreis vorfindet, fand sie darin keinen Frieden, weil sie nicht am Sabbat, sondern an den Tagen vor dem Sabbat auf die Suche gegangen war. Dann kehrt sie zu sich selbst zurück, und da sie die Schönheit ihres Antlitzes sieht, stellt sie fest, daß eine so große Schönheit in diesem allem nicht zur Ruhe kommen kann, sondern nur in dem Siegel der Ewigkeit, aus dem sie herausgerückt ist. Und sie weiß nicht, wo sie ausruhen solle. Sie spricht: O Herr, ich habe mein Angesicht nicht auf das gerichtet, was ich beschrieben habe, sondern zu dir hinauf. Und darum bin ich unruhig, bis ich zurückkehre. Zeige mir dein Angesicht (Ps 80[79],4.8.20), damit ich zu dem aufbreche, von dem ich ausgegangen bin! Mose ist mir nun gestorben, da ich sehe, daß er mich durch das Gesetz nicht ins Land des Lebens führen konnte. Gib mir einen anderen Führer! Und es wird dir Jesus gegeben. Er führt dich in das Land, indem er dir das Leben des Geistes und das himmlische Leben zeigt. Und bei ihm findest du Ruhe, weil er selbst der Sabbattag ist. Und du wirst ein Sohn Gottes und des Lichtes sein. (8) Wenn also deine Seele, edel von Angesicht, weil Bild Gottes, sich in Bethlehem, das heißt im Haus des Brotes, angesiedelt hat, wird sie vom Geist Jesu dazu angeleitet, ihr Leben, da sie ja Geist ist, aus dem geistlichen Brot zu nähren. Dann wird Maria in der Seele schwanger, das heißt die Seele trägt eine vom Heiligen Geist befruchtete Liebe in sich, die sie, von Christus belehrt, empfangen hat, und so erleuchtet gelangt sie zur „Fülle der Zeit“ (Gal 4,4) und „gebiert ihren erstgeborenen Sohn“ (Lk 2,7). Nachdem nämlich der vernunftbegabte Geist sich bemüht hat, Gott zu kosten und zu sehen, wie gütig er ist (Ps 34[33],9), und alles durchwandert hat und den ganzen Erdkreis und alles Geschaffene beschrieben hat, kehrt er zu sich selbst

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

zurück. Er betrachtet sein schönes Angesicht und erkennt, daß diese seine Schönheit das Bild unsterblichen Lebens an sich trägt; und so läßt er alles zurück, auch diese „weltlichen Begierden“ (Tit 2,12), und wendet sich der strahlenden Helle des Lebens zu, um von ihr erleuchtet zu werden. Und das ist die Gotteskindschaft etc. (9) Wenn nämlich in deiner glühenden Sehnsucht die Liebe des geistlichen und intellektualen Lebens geboren wird, dann wird es „nicht aus dem Willen des Fleisches“ oder „des Mannes“ (Joh 1,13), sondern vom Heiligen Geist, dem Geiste des Sohnes Gottes, geboren. Dann ist durch die Hoffnung in dir das, was du glaubst. Das Leben ist in dir nur im Geiste. So wird dein Geist hier durch die Hoffnung und hernach auf herrliche Weise zur Gotteskindschaft verwandelt. Denn daß das Heil in dir ist, besagt nichts anderes, als daß du heil bist; daß in dir das Licht gezeugt ist, besagt nichts anderes, als daß du erleuchtet bist, daß das Leben in dir gezeugt ist, nichts anderes, als daß du lebst. Weil „uns heute der Retter geboren ist“ (Lk 2,11), der uns zu einem Leben führt, damit wir in ihm erlöst sind, in der Ruhe des Sabbats, nämlich des gesegneten Tages, auf den keine Nacht mehr folgt, deshalb heißt es: Halleluja. Dieser geheiligte Tag etc. (10) Laßt uns zweitens etwas über das Zeichen anschließen, durch das einer erkennt, daß Christus in ihm geboren ist. Die Hirten, das heißt die rationalen Kräfte der Seele, denen die Sorge um die Herde, das heißt um den Bereich des animalischen Lebens, anvertraut ist, zu dem unsere Gebundenheit an die Sinne gehört, wachen in der Nacht; denn der Verstand befindet sich in einer Nacht von Meinungen. Und durch den Engel, das heißt den mit Einsicht begabten Geist, der ihnen beisteht – der Intellekt steht ja dem Verstand bei, den er erleuchtet –, wird ihnen verkündet, daß der Erlöser geboren worden ist. Es ist, als ob der Engel sagte: „Obwohl ihr wacht, seid ihr in der Nacht und seht nicht. Darum verschafft euch Gott wegen eures angestrengten Wachens durch mich das Licht, das euch fehlt; da der Erlöser geboren ist.“ Dem umherirrenden Verstand konnte keine größere Freude mitgeteilt werden als die Verkündigung der Geburt des Retters, dessen Belehrung das Licht ist, das jeden Verstand erleuchtet. Aber diese Freude kann nur erfaßt werden, wenn der Intellekt, das heißt der Geist, sie verkündigt. Es wird also den Hirten, das heißt den Kräften des rationalen Denkens und den schlußfolgernden Bemühungen der Seele, verkündet, daß der Verstand oder der Logos oder das Wort geboren worden ist, in dem jede Verstandesbewegung ihre Ruhe findet. Und Er ist der Hirt der Hirten und nährt den vernunftbegabten Geist mit dem wahren Leben. (11) Und während der Intellekt dies den Sinnesorganen mit der Verkündigung der „großen Freude“ (Lk 2,10) über die Geburt Christi mitteilte, fragten die Hirten der Herde nach einem Zeichen, wie sie das erfahren könnten. Und er sprach zu ihnen: „Ihr werdet ein Kind finden“ etc. (Lk 2,12) Es ist, als sagte der Intellekt: Der Mensch als ein politisches und soziales Wesen gleicht zwar einer Herberge, welche die Verlockungen dieser Welt zuläßt. Es steht aber darin nur eine Krippe zur Verfügung, wo die Tiere gefüttert werden. Aber gerade in der Herberge, an der Stelle, wo die Tiere und das Sinnesleben ihr Futter

Predigt XLIII: Halleluja. Der geheiligte Tag

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holen, findet man ein neugeborenes Kind, das mit Vernunft begabt und gut behütet und in „Windeln gewickelt“ (Lk 2,12) ist. Wenn nämlich in der erleuchteten Seele, die Maria genannt wird, Jesus, die Liebe des geistlichen Lebens, geboren worden ist, dann ist diese Liebe eine intellektuale Geburt des Lichtes; und sie muß gut in Windeln gewickelt werden, damit sie in der Kälte nicht zugrundegeht. (12) Daher gilt: Wenn du einst ein sündiger Mensch warst und wie eine Herberge, und wenn du nichts anderes hattest als ein Gefäß oder eine Krippe für die Nahrungsmittel der tierisch-sinnlichen Bedürfnisse, weil du von keiner anderen Sorge getrieben warst als herrlich in dieser Welt zu leben mit gefüllten Scheunen und einem reichen Speisemeister, und wenn du dich nur darum kümmertest, schönen Schmuck für deinen Leib zu besitzen, viel Gold und Edelsteine und Schönheit, um der Welt zu gefallen, sowie Weisheit, um damit zu glänzen etc., wenn nun in dir Jesus geboren wird, dann besteht das Zeichen darin, daß Jesus gerade dort in der Krippe gefunden werden muß, damit in ihr fortan nicht mehr das Animalische beherrschend ist, sondern der Verstand, damit nicht mehr dieses Leben, sondern ein anderes, nicht mehr das Leben der Sinnlichkeit, sondern das des Geistes. Wenn nämlich ein solches Zeichen gefunden wird, dann siehst du, daß der Heiland geboren ist. Wenn ihr also feststellt, daß eure Einstellung sich gewandelt hat, dann singt: Halleluja. Ein geheiligter Tag ist aufgeleuchtet! etc. (13) Drittens soll von dem Zeichen die Rede sein, durch das von anderen erkannt wird, in wem Christus geboren ist. Das Evangelium antwortet: Nachdem Jesus geboren und dies den Hirten durch den Engel verkündet worden war, „erschien eine große Schar“ etc. (Lk 2,13) Denn wenn unser intellektualer Geist dem Sinnesleben angekündigt hat, in ihm sei der Erlöser geboren, ist sein Lebenswandel nicht mehr länger im Irdischen wie zuvor, sondern im Himmlischen. Darum preist er Gott zusammen mit „dem himmlischen Heer“ (Lk 2,13) und der „Kriegsschar Gottes“, weil er ihn „der Finsternis entrissen hat“ (Kol 1,13); und er wünscht „allen Menschen, die guten Willens sind“ (Lk 2,14), den Frieden, den er gefunden hat. Wenn du nämlich siehst, daß der, den du als Sünder gekannt hast, sich in seinem sittlichen Leben zur Christusförmigkeit bekehrt hat, daß er „gütig und von Herzen demütig“ (Mt 11,29) ist, Frieden stiftend – denn „selig, die Frieden stiften“ (Mt 5,9) –, daß er sich von Christus bilden läßt und „sich von den weltlichen Begierden losgesagt hat und besonnen, fromm und gerecht lebt“ (Tit 2,12) und sich dem Willen Gottes angleicht, demütig gehorcht und einen beschaulichen Geist hat, wenn er reich ist an Werken der Barmherzigkeit und dieses Leben geringschätzt und Gerechtigkeit und Wahrheit, das heißt das Leben des Geistes, vorzieht und den Nächsten liebt, dann erkennst du aus diesen Zeichen, daß er in Christus neugeboren und Christus in ihm geboren worden ist. Der geheiligte Tag ist also denen aufgeleuchtet, die den alten Menschen abgelegt und den neuen, dem Bild Gottes entsprechenden Menschen angezogen haben (Eph 4,22.24; Kol 3,9f.), die sich dem Ewigen, den

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

unsterblichen Tugendkräften, zugewandt haben und nicht länger dem Irdischen anhingen und darin ihr Herz verankerten. Sie singen also: Halleluja etc. (14) Und da hinzugefügt wird: „Kommt, ihr Völker, betet an!“ etc.,2 deshalb, o ihr Heiden, die ihr Christus noch nicht in euch gefunden habt, kommt jetzt und betet an! Bekennt eure Unwissenheit, eure Herzenshärte, eure Liebe zur Welt! Bedauert es, daß ihr den Heiligen Geist nicht empfangen habt, der euch zur Liebe der geistlichen Wirklichkeiten führen würde. Durchbetet die Nacht, bittet beständig und aus vollem Glauben! Noch inständiger betet im Todeskampf, damit wie Blutstropfen aus euch alles herausgeschwitzt werde, was in eurem Geist von dieser Welt ist, damit der Geist frei sei von der Liebe zur Welt! Reinigt ihn vom alten Sauerteig durch Tränen! (15) Und ruft bei der Anbetung die Hilfe der Heiligen an, damit euch Verzeihung und Abtötung der Liebe zu dieser Welt und Sehnsucht nach dem geistlichen Leben erfleht wird. Tretet mit Vertrauen in die Herberge ein. Joseph treibt euch nicht zurück. Grüßt Maria: O Mutter der Gnade, Mutter der Barmherzigkeit, Königin des Himmels, Mutter Gottes und des Retters, gütige und milde, zeige uns den Sohn, der das väterliche Licht der Gottheit ist! Sie wird es nicht abschlagen, sondern antworten: Er ist zu eurem Heil geboren worden. Denn wegen euch Menschen ist er vom Himmel herabgestiegen und hat in mir Fleisch angenommen vom Heiligen Geist und ist Mensch geworden und liegt in der Krippe. Werft euch vor ihm nieder und schüttet eure Herzen vor ihm aus! Er wird euren Geist mit seinem Geist erleuchten, damit ihr weise seid und Kinder der ewigen Weisheit werdet und aufhört, Kinder dieser vergänglichen und sterblichen Welt zu sein!

2

Zweiter Vers nach dem Alleluia im Graduale der dritten Weihnachtsmesse des Missale Romanum.

Predigt XLIV Dies sanctificatus Der geheiligte Tag Zeit: Fest: Ort: Zählung Koch: Edition: Deutsch:

26. Dezember 1444 Fest des heiligen Stephanus Mainz 35 h XVII/2, 185-186 Wolfgang Lentzen-Deis: „Den Glauben Christi teilen“, Stuttgart 1991, 206f.

ZUSAMMENFASSUNG In den fünf Weihnachtspredigten XLII, XLIII, XLIV, XLV und XLVI aus dem gleichen Jahr 1444 greift Nikolaus das beliebte mittelalterliche Einteilungsprinzip der „dreifachen Geburt“ Christi auf. Es umfaßt die „ewige Zeugung“ des Wortes Gottes, die „zeitliche Geburt“ Christi und die „geistliche Geburt“ der Gläubigen in Christus. Anders als in früheren Predigten wird jetzt die geistliche Geburt in den Herzen zum Hauptgegenstand der Verkündigung in dem damaligen Triduum: Weihnachten, Fest des heiligen Stephan und Fest des heiligen Evangelisten Johannes. Bemerkenswert ist die allegorische Auslegung der Weihnachtsgeschichte in den Predigten XLII, XLIII und XLIV. Den Hirten ist das Licht in einer sicheren, sinnenfälligen Erfahrung aufgeleuchtet (n.1). Die Vernunft, die nur das mit den Sinnen Aufgenommene erfaßt, wird durch den Intellekt erleuchtet (n.2). Die Vernunftkraft hinterlegt die vom Intellekt vermittelte Botschaft in ihrem Gedächtnis und verkündet diese in verständlicher Weise (n.3). Das Finden dieses Lichtes geschieht durch Schlußfolgerung (n.4).

BEMERKUNGEN Die Übersetzung ist eine überarbeitete Fassung der o.g. deutschen Übersetzung.

LITERATUR Wolfgang Lentzen-Deis: „Den Glauben Christi teilen“, Stuttgart 1991. Klaus Reinhardt: Das Thema der Gottesgeburt und der Gotteskindschaft in den Predigten des Nikolaus von Kues, in: Nikolaus von Kues als Prediger (Philosophie interdisziplinär 11), Regensburg 2004, 61-78, bes. 63-70.

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Ders.: L’idée de naissance de Dieu dans l’âme chez Nicolas de Cues et l’influence d’Eckhart, in: Marie-Anne Vannier (éd.): La Naissance de Dieu dans l’âme chez Eckhart et Nicolas de Cues, Paris 2006, 85-99. Marc Aeilko Aris: Vos Moguntini. Nikolaus von Kues (1401-1464) predigt den Mainzern, in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 50 (1998) 191-217.

Predigt XLIV: Der geheiligte Tag

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Predigt XLIV Der geheiligte Tag (1) „Der geheiligte Tag ist uns aufgeleuchtet etc.“1 Gestern haben wir gehört, daß den wachenden Hirten in der Nacht ein Licht aufgegangen ist, ein Licht des Glaubens im Geiste, nämlich das Licht des Heilands, den sie im Geist empfingen durch die Botschaft des Engels, die sie hörten.2 Heute laßt uns betrachten, wie ihnen das Licht in einer sicheren, sinnenfälligen Erfahrung aufgegangen ist. Sie fanden den Heiland, wie es ihnen verkündet worden war. (2) „Die Hirten sagten“ etc. (Lk 2,15) Wir müssen alles in uns selbst suchen. Der Engel ist die dem Leiblichen entrissene intellektuale Kraft. Sie wird durch eine Loslösung emporgehoben, und ihre Erhebung ist zugleich der Abstieg der Gnade und des Lichtes in sie selbst. Und das Licht ist ihr Leben, denn es ist die Wahrheit. Den rationalen Kräften, die zum Schutz der Herde und unserer Sinnlichkeit bestimmt sind, steht der Intellekt bei und erleuchtet die rationalen Kräfte durch das ihm mitgeteilte göttliche Licht, indem er ihnen das verkündet, was von droben ist. Denn die Vernunft gelangt nicht dorthin, da sie nur das erfaßt, was vorher mit den Sinnen aufgenommen wurde. Daher befindet sie sich im Hinblick auf das Göttliche in der Nacht. Aber da sie als schlußfolgernde und diskursive Kraft unruhig ist, hält sie Wache über die Herde und verarbeitet die aufgenommenen Sinneseindrücke. Sie wird also durch den Intellekt, der ihr die Botschaft von oben kündet, erleuchtet; und sie erschrickt in diesem neuen Licht, da es nicht aus ihrem Bereich stammt. Aber wenn sie es aufnimmt, freut sie sich; und „in diesem Licht sieht sie das Licht“ (Ps 36[35],10) und sagt: „Ehre!“ (Lk 2,14) (3) Dann hört der Intellekt auf, seinen Einfluß auszuüben, und die Vernunftkraft sucht in sich, ob sie durch ihr schlußfolgerndes Denken das ihr vorher mitgeteilte und durch den Glauben empfangene Licht in sich selbst wiederfinden kann. Sie möchte es sehen, das heißt es mit den Augen der Vernunft wiederfinden, und so durchläuft sie mit Eile und Eifer die Voraussetzungen des Glaubens. Und sie findet das Wort, das vorher geworden war. Sie verkündet allen diese Botschaft so, daß sie als wahr verstanden wird; weil die von der Vernunft vorgetragene Botschaft von den Menschen mit Begeisterung und Bewunderung entgegengenommen wird. Sie hinterlegt sie im Wissensschatz ihres Gedächtnisses, wo sie die Erleuchtungen gesammelt hat. Das ist die erleuchtete Zelle oder Maria. Sie hat sie in ihrem Innern zusammengetragen, um sich selbst davon zu nähren und durch einen Aufstieg über das geschaute und gefundene Licht hinaus in sich ein immer größeres Licht zu erzeugen. (4) Du mußt wissen, daß dieses Finden schlußfolgernd geschieht, denn es geschieht durch die rationalen Kräfte: Joseph, der Mann, ist der Obersatz, Ma-

1 2

Alleluia-Vers im Graduale der dritten Weihnachtsmesse des Missale Romanum. Vgl. Predigt XLIII.

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

ria, die mit ihm verlobte Frau, der Untersatz, und das Kind ist die gesuchte Schlußfolgerung. Dann entsteht eine größere Freude, und die Vernunft erhebt sich zur Ehre und zum Lob Gottes und des Lichtes, wie es dem Evangelium zu entnehmen ist. So sah auch Stephanus Christus in seiner Vernunft, den er schon vorher im Glauben aufgenommen hatte etc.

Predigt XLV Alleluia. Dies sanctificatus Halleluja. Der geheiligte Tag Zeit: Ort: Fest: Zählung Koch: Edition: Deutsch:

26. Dezember 1444 Mainz Fest des hl. Stephanus 36 h XVII/2, 187-190 Wolfgang Lentzen-Deis: „Den Glauben Christi teilen“, Stuttgart 1991, 208-210.

ZUSAMMENFASSUNG In den fünf Weihnachtspredigten XLII, XLIII, XLIV, XLV und XLVI aus dem gleichen Jahr 1444 greift Nikolaus das beliebte mittelalterliche Einteilungsprinzip der „dreifachen Geburt“ Christi auf. Es umfaßt die „ewige Zeugung“ des Wortes Gottes, die „zeitliche Geburt“ Christi und die „geistliche Geburt“ der Gläubigen in Christus. Anders als in früheren Predigten wird jetzt die geistliche Geburt in den Herzen zum Hauptgegenstand der Verkündigung in dem damaligen Triduum: Weihnachten, Fest des heiligen Stephan und Fest des heiligen Evangelisten Johannes. Bemerkenswert ist die allegorische Auslegung der Weihnachtsgeschichte in den Predigten XLII, XLIII und XLIV. Die Predigt behandelt drei Themen: Grund und Zweck der Menschwerdung, deren Weise und schließlich die Frage, wer den Sinn der Menschwerdung an sich erfahren kann (n.1). Der Mensch hat sein Ziel nicht in sich selbst, sondern im siebten Tag. Er sollte auf sein Erhobenwerden im Gehorsam warten, aber er sündigte (n.2). Die Frage, ob das Teilhabenkönnen an der Ruhe die Menschwerdung Gottes in Christus grundsätzlich voraussetzt oder ob diese nur der Erlösung des Menschen diene, läßt sich auflösen dadurch, daß durch die Menschwerdung alles sein Ziel im Wort Gottes erreicht (n.3). In der Menschwerdung des Wortes kommt die Schöpfermacht in sich selbst zur Ruhe (n.4). Im Menschen als Einfaltung aller Geschöpfe gelangt die ganze Schöpfung zur Ruhe durch die Annahme der menschlichen Natur durch den Schöpfer. Es zeigt sich, in welcher Weise Christus der Erstgeborene der ganzen Schöpfung ist (n.5). Da es bei Gott keine Zeit gibt, ist bei ihm alles gegenwärtig, Christus ist der Ranghöchste (n.6).

BEMERKUNGEN Die Übersetzung ist eine überarbeitete Fassung der o.g. deutschen Übersetzung.

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

LITERATUR Wolfgang Lentzen-Deis: „Den Glauben Christi teilen“, Stuttgart 1991. Klaus Reinhardt: Das Thema der Gottesgeburt und der Gotteskindschaft in den Predigten des Nikolaus von Kues, in: Nikolaus von Kues als Prediger (Philosophie interdisziplinär 11), Regensburg 2004, 61-78, bes. 63-70. Ders.: L’idée de naissance de Dieu dans l’âme chez Nicolas de Cues et l’influence d’Eckhart, in: Marie-Anne Vannier (éd.): La Naissance de Dieu dans l’âme chez Eckhart et Nicolas de Cues, Paris 2006, 85-99. Marc Aeilko Aris: Vos Moguntini. Nikolaus von Kues (1401-1464) predigt den Mainzern, in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 50 (1998) 191-217. Viki Ranff: Christus als Vollendung und Ziel des Universums bei Nikolaus von Kues, in: Cusanus Jahrbuch 3 (2011) 41-54, hier: 46f. Dies.: Gibt es eine absolute Prädestination Christi zur Menschwerdung bei Hildegard von Bingen und Nikolaus von Kues?, in: Der Gottes-Gedanke des Nikolaus von Kues. Akten des Symposions in Trier vom 21. bis 23. Oktober 2010 (MFCG 33), 229-245, bes. 238-240.

Predigt XLV: Der geheiligte Tag

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Predigt XLV Halleluja. Der geheiligte Tag (1) „Halleluja. Der geheiligte Tag ist uns aufgeleuchtet“1 etc. Wie versprochen, bin ich heute gekommen, um die zeitliche Geburt unseres Herrn Jesus Christus zu erläutern, wie nämlich Christus von der Jungfrau Maria geboren worden ist.2 Laßt uns beten. Im Evangelium heißt es: „Die Hirten sagten“ etc. (Lk 2,15-20) Da wir soeben im Evangelium die Zeugen der Geburt unseres Herrn Jesus Christus gehört haben, singen wir zu Recht: „Halleluja. Der geheiligte Tag etc.“ Betrachten wir erstens den Grund und den Zweck der Menschwerdung, zweitens die Weise der Menschwerdung und drittens: Wer sind diejenigen, die den Sinn der Menschwerdung an sich erfahren, und wer sind die, die ihn nicht erfahren? Und fügen wir ein Gebet an. (2) Zum ersten ist zu bemerken, daß der Mensch am „sechsten Tag“ (Gen 1,31) erschaffen worden ist und daß er die Vollendung der Schöpfung ist. Und wie alle Tage vor dem sechsten zeigen, daß alle Geschöpfe ihr Ziel im Menschen erlangen, so hat der Mensch sein Ziel nicht in sich selbst, sondern im „siebten Tag“ (Gen 2,1). Er wurde dazu geschaffen, um in der Heiligung und im Segen Gottes über die ganze Schöpfung zur Ruhe zu gelangen in der Erfassung „des Lebens“ und des „ewigen Lichtes“ am „siebten Tag“ (Gen 2,2f.; Ex 20,11). Damit aber der Mensch vom sechsten Tag zur Ruhe emporgehoben werde, wurde ihm befohlen, im Gehorsam zu verharren und zu warten, daß der, der ihn „aus Erde“ gebildet und ihm „den Lebensatem eingehaucht hat“ (Gen 2,7), ihn in die Ruhe versetze; aber der Mensch sündigte etc. (3) Es gibt ein zweifaches Verständnis des Grundes der Menschwerdung: Gewisse Theologen berufen sich auf das, was der Engel den Hirten gesagt habe und sehen den Grund im Heil und in der Vollendung und Ruhe aller Geschöpfe und darin, daß die vernunftbegabte Kreatur am intellektualen Leben bis hin zur Erfüllung ihrer Friedenssehnsucht nur teilhaben könne, wenn das Wort Gottes die vernunftbegabte Natur annähme. Andere verstehen die Menschwerdung im Sinne der Wiederherstellung des durch die Sünde gefallenen Menschen. Das ist die Auffassung der meisten katholischen Theologen. Wir können aber beide Betrachtungsweisen in eine auflösen und sagen, daß die Menschwerdung geschehen ist, damit alles sein Ziel, zu dem es geschaffen wurde, im Wort Gottes erlange, sei es, daß der Mensch nun im Stammvater oder aus sich selbst durch die Sünde gefehlt hat. (4) Ich sage, daß die Menschwerdung des Wortes die Vollendung und Ruhe der Schöpfung ist. Denn in diesem Werk kommt die Schöpfermacht in sich selbst zur Ruhe, wie du es anderswo dargestellt findest. Von Seiten der Macht 1 2

Alleluia-Vers im Graduale der dritten Weihnachtsmesse des Missale Romanum. „natus de Spiritu Sancto ex Maria virgine“ (Text des alten römischen Symbolum Apostolicum).

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Gottes hätte jedes Geschöpf, gleich welcher Vollkommenheit es ist, vollkommener geschaffen werden können. Wenn aber ein Geschöpf eine solche Vollkommenheit in sich hat, daß es personal in Gott gründet, so ist damit die Schöpfermacht, die Gott selbst ist, zur Vollendung gelangt; denn dann steht nichts Mittleres zwischen der Schöpfung und dem Schöpfer, und es handelt sich um eine Vereinigung, die nicht enger sein könnte. Es handelt sich hierbei um die Ruhe der Schöpfermacht in sich selbst. (5) Da der Mensch die Einfaltung aller Geschöpfe ist, konnte die ganze Schöpfung in ihrer Natur die Ruhe nur erlangen, wenn sie vom Schöpfer durch die Annahme der menschlichen Natur in eine personale Einheit aufgenommen wurde. Deshalb nennen wir Christus den „Erstgeborenen der ganzen Schöpfung“ (Kol 1,15); nicht seiner Göttlichkeit nach, sondern als Christus, als Gott und Mensch; nicht aufgrund seiner Erscheinung in der Zeit; denn das „ewige Wort“ (Joh 1,1-3), in dem die Schöpfung gründet, existiert vor aller Zeit. So ist Christus „vor aller Schöpfung“ (Sir 24,5). Seine Erscheinung, die unseretwegen in der Zeit erfolgte, ändert für den Schöpfer, dem das Geschöpf zugehört, nichts am Status seiner Erstgeburt; so wie im Geiste eines Künstlers das Vollkommene früher ist, nämlich das geplante Haus, das in der Ausführung freilich das Letzte ist. So sagen wir, daß alles seinetwegen geschaffen worden ist und daß er früher ist. Da er Einer ist, ist auch die Welt Eine. Und seinetwegen ist alles, was in der Welt ist, das, was es ist. Deshalb sagt Christus: „Bevor Abraham war, bin ich“ (Joh 8,58). Und so sagt Christus im dritten Kapitel bei Johannes, daß er „in die Welt gesandt worden ist, damit die Welt durch ihn gerettet werde“ (Joh 3,17). (6) Beachte gut und genau, daß es bei Gott keine Zeit gibt! Alles, was bei uns vergangen oder zukünftig ist, ist bei ihm gegenwärtig. Bei ihm ist Adam nicht vor Christus noch Christus vor Adam. Denkst du dir also alle Geschöpfe zugleich, wie sie immer vor dem Angesicht Gottes sind, so besteht jene Vielheit von Geschöpfen, die unser Intellekt unter der Kategorie des Vielen begreift, bei Gott in einer gewissen Einheit der Rangordnung. So ist Christus als der Höhere Anfang und Haupt. Wenn du dir eine Königsfamilie, die einen Sohn hat, zugleich als ganze vorstellst, dann gibt es eben darin, weil es sich um den einen Königshof handelt, aufgrund der Vielheit eine Rangordnung. Denn der Erste in der Familie ist der Sohn; er ist das Haupt und der Erste; ihm folgt der Hofmeister, dann die Begleiter etc. In dieser Rangordnung spielt die Zeit keine Rolle, da der Sohn in der Familie höher steht, auch wenn er altersmäßig jünger ist.

Predigt XLVI Alleluia. Dies sanctificatus Halleluja. Der geheiligte Tag Zeit: Fest: Ort: Zählung Koch: Edition: Deutsch:

27. Dezember 1444 Fest des hl. Johannes, des Evangelisten Mainz 37 h XVII/2, 191-192 Wolfgang Lentzen-Deis: „Den Glauben Christi teilen“, Stuttgart 1991, 211f.

ZUSAMMENFASSUNG In den fünf Weihnachtspredigten XLII, XLIII, XLIV, XLV und XLVI aus dem gleichen Jahr 1444 greift Nikolaus das beliebte mittelalterliche Einteilungsprinzip der „dreifachen Geburt“ Christi auf. Es umfaßt die „ewige Zeugung“ des Wortes Gottes, die „zeitliche Geburt“ Christi und die „geistliche Geburt“ der Gläubigen in Christus. Anders als in früheren Predigten wird jetzt die geistliche Geburt in den Herzen zum Hauptgegenstand der Verkündigung in dem damaligen Triduum: Weihnachten, Fest des heiligen Stephan und Fest des heiligen Evangelisten Johannes. Bemerkenswert ist die allegorische Auslegung der Weihnachtsgeschichte in den Predigten XLII, XLIII und XLIV. Drei Teile werden skizziert: Der ewige Tag, die Frucht seines Aufleuchtens und die Danksagung (n.1). Der Johannesprolog nennt elf Bestimmungen des Wortes. Cusanus erläutert, wie die Trinität erklärt werden kann: als Ursprung, Wort und Liebe der einen Ewigkeit, nämlich als Übereinstimmung zwischen dem Sein und dem Einen durch Einheit, Gleichheit und Verknüpfung. In der Mitteilung des Wissens wirken Intellekt, vernünftiges Wort und Atemhauch zusammen. Dies ist ein Abbild dessen, wie Gott dem Menschen die Schätze seiner Weisheit zeigte, um diesen sich ähnlich zu machen (n.3).

BEMERKUNGEN Die Übersetzung ist eine überarbeitete Fassung der o.g. deutschen Übersetzung.

LITERATUR Wolfgang Lentzen-Deis: „Den Glauben Christi teilen“, Stuttgart 1991. Klaus Reinhardt: Das Thema der Gottesgeburt und der Gotteskindschaft in den Predigten des Nikolaus von Kues, in: Nikolaus von Kues als Prediger (Philosophie interdisziplinär 11), Regensburg 2004, 61-78, bes. 63-70.

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Ders.: L’idée de naissance de Dieu dans l’âme chez Nicolas de Cues et l’influence d’Eckhart, in: Marie-Anne Vannier (éd.): La Naissance de Dieu dans l’âme chez Eckhart et Nicolas de Cues, Paris 2006, 85-99. Marc Aeilko Aris: Vos Moguntini. Nikolaus von Kues (1401-1464) predigt den Mainzern, in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 50 (1998) 191-217.

Predigt XLVI: Halleluja. Der geheiligte Tag

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Predigt XLVI Halleluja. Der geheiligte Tag (1) Halleluja. Der geheiligte Tag1 etc. Wie der Tag des Tages, der auch das Wort des Vaters ist, uns im fleischgewordenen Wort aufgeleuchtet ist, soll durch die Erklärung des folgenden Satzes aus dem Johannesevangelium erläutert werden: „Im Anfang war das Wort“ (Joh 1,1). Wir beten mit dem hl. Augustinus etc. Diese Predigt hat drei Teile: Der erste handelt vom ewigen Tag, der zweite von der Frucht seines Aufleuchtens, der dritte von der Danksagung. (2) Das Evangelium: „Im Anfang“ etc. (Joh 1,1-14) soll betrachtet werden. Das Evangelium benennt elf Bestimmungen des Wortes. Bevor zur Auslegung des Evangeliums geschritten wird, soll die Trinität erklärt werden: Wie zu einer Kenntnis des Ursprungs und des Wortes und der Liebe der einen Ewigkeit zu gelangen ist etc.; wie die Trinität Einheit ist. Beachte, was die Umgangssprache auf die Frage sagt: Was ist der Mensch? In der Umgangssprache antwortet man immer: „Dat ist eyn mentz; dat ist eyn dire; dat ist eyn hultz.“ Immer besteht eine Übereinstimmung zwischen dem Sein und dem Einen. Seiendheit und Einheit fallen ineins und treffen auf alles zu, was erschaffen worden ist. So kommt die Seiendheit, die auch Einheit ist, auch dem Ursprung zu, von dem jedes Geschöpf stammt, etc. Du kannst so sagen: Die Einheit kommt dem Ursprung zu; doch der Begriff der Einheit ist die Gleichheit; und aus diesen beiden geht die Verknüpfung hervor. (3) „Im Anfang war das Wort etc.“ (Joh 1,1) Nichts Gewordenes kann aus sich selbst sein. Der Ursprung ist also ewig. Und da alles, was ist, von einem Ursprung ist, hat der Ursprung alles, was er verursacht hat, durch etwas verursacht. Wenn zum Beispiel mein Intellekt in dir Wissen verursachen will, kann der Intellekt das nur mittels der Vernunft. Die Vernunft ist das Wort des Intellekts. Der Intellekt läßt das Wort, durch das er den Schüler einsichtig machen will, über die Sinne annehmen, und zwar durch den Atem. Denn er zieht beim Atmen Luft ein; er umkleidet das Vernunft-Wort mit der Luft und stößt sie aus in die Welt, so daß das Nicht-Sinnenfällige sinnenfällig wird und vom Schüler durch die Ohren auf Weise der Sinne und durch den Glauben in die Seele aufgenommen wird etc. So erzeugt er etwas, das ihm ähnlich ist etc. So scheint es Gott der Vater gemacht zu haben. Denn er wollte uns „die Schätze seiner Weisheit“ (Kol 2,3) zeigen, damit „wir ihm ähnlich würden“ (Joh 3,2); und er hat sein Wort mit Fleisch umkleidet etc. – Dies ist eine hinreichend zutreffende Ähnlichkeit. Und so ist offenkundig das Wort des Vaters, „durch das alles geworden ist“ (Joh 1,3), vor allem, und es ist ewig und deshalb Gott etc.

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Alleluia-Vers im Graduale der dritten Weihnachtsmesse des Missale Romanum.

Predigt XLVII Alleluia. Dies sanctificatus Halleluja. Ein geheiligter Tag Zeit: Fest: Ort: Zählung Koch: Edition: Deutsch:

1. Januar 1445 Beschneidung des Herrn Mainz 38 h XVII/2, 193-199 –

ZUSAMMENFASSUNG Obwohl das Thema der Predigt die Beschneidung Jesu ist (n.1), beginnt Cusanus mit einigen Überlegungen zur Symbolik der Zahlen (n.2-3). Nach einer ausführlichen Gliederung (n.4-6) wird Jesus als die Erfüllung des Gesetzes vorgestellt. Er mußte auch beschnitten werden, damit die Reinheit des Gesetzes beibehalten wird. Zudem ist Jesus auch die Erfüllung der Prophezeiungen und jeder Weisheit (n.7), er wurde wie ein Weinstock beschnitten (n.8), sein Name zeigt mit Jesaja, daß er zwar die Ursache jeder Veränderung und des menschlichen Denkens ist, aber auch jede Bewegung in ihm wieder zur Ruhe kommt (n.9-11).

LITERATUR Marc Aeilko Aris: Vos Moguntini. Nikolaus von Kues (1401-1464) predigt den Mainzern, in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 50 (1998) 191-217.

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Predigt XLVII Halleluja. Ein geheiligter Tag (1) „Halleluja. Ein geheiligter Tag ist für uns angebrochen. Kommt!“ etc.1 Wir kennen höchste und wunderbarste Darstellungen des aufgehenden Tages des Herrn, des Wunderbaren, des Friedensfürsten (Jes 9,5). Heute wollen wir über eine anschauliche Darstellung dessen nachdenken, was bei der Beschneidung kundgetan wurde, nach Ablauf von sieben Tagen, am achten, bei der Verleihung des Namens „Jesus“, und dabei beten, daß wir durch Fürsprache der glorreichen Jungfrau Maria erleuchtet werden vom ganzen Licht der Erkenntnis etc., wie Paulus in den Briefen an die Epheser (Eph 1,16-18) und die Kolosser (Kol 1,9-13) betet. (2) Das Evangelium ist kurz und knapp, aber inhaltsreich und tiefgründig: „Als acht Tage vergangen waren“ etc. (Lk 2,21) Daraus müssen wir zuerst beachten, daß der achte Tag bedeutet: nach dem Ablauf von Tagen. Zweitens ist festzuhalten, daß dies der Tag der Beschneidung ist; drittens, daß der Beschnittene den Namen Jesus erhielt. (3) Zum ersten wollen wir einige Überlegungen anstellen über die Zeit, nämlich über die Tage und ihre Namen und über die Siebenzahl der Tage, über die Kalenden, die Nonen, die Iden und die Monate; ferner über das Jahr etc. Dann über die Siebenzahl, inwiefern sie die Zahl der menschlichen Natur ist, hinsichtlich des Fötus im Mutterleib, und welche Planeten darauf Einfluß haben. Zunächst, wie in sieben Stunden der Same gesammelt wird, wie er sieben Tage bis zur Leibesfrucht zerfällt, in siebenmal sieben Tagen lebendig wird im siebten Monat vollendet wird etc. Nach der Geburt legt er vom der Unfähigkeit zu sprechen bis zur Beherrschung der Sprache sieben Jahre zurück, zweimal sieben, um ein Knabe zu werden, dreimal sieben bis zum Heranwachsenden, viermal sieben bis zur Vervollkommnung seiner Statur und zum jungen Mann, sieben mal sieben bis zum Vollbesitz seiner Kräfte und seiner Männlichkeit, neun mal sieben bis zum Verfall, der im 63. Lebensjahr beginnt, das man als Schicksalsjahr bezeichnet, zehnmal sieben Jahre bis zur Gebrechlichkeit etc. Und beachte: wie im Mutterleib mit der Zahl der Monate , so außerhalb des Mutterleibes mit der Siebenzahl der Jahre. Und so ist die Achtzahl immer die Wiederkehr nach der Vollendung. Genauso dreht sich die diesseitige Welt sieben Zeitalter bis zum achten. Es sind siebenhundert Jahre, in denen die Monarchie erstarkt, wie bei den Römern und den Babyloniern; dann entwickelt sie sich rückläufig. „Es gibt sieben Geister Gottes“ (Offb 4,5), durch die unser Geist in Bewegung gesetzt wird, wie in der Offenbarung des Johannes etc. Es gibt sieben böse Geister. Und aller Vollendung ge1

Missale Rom. Pii V: In nativitate Domini in Graduali tertiae missae.

Predigt XLVII: Halleluja. Ein geheiligter Tag

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schieht in sieben , die Erneuerung im achten, wie in der Musik, weil der achte Ton den ersten wiederholt, aber in abgewandelter Form. Dann über die Kirche, wie sie gelenkt wird am Beispiel der verschiedenen Septenare in der Offenbarung des Johannes. Und wenn „der siebte Engel die Tuba bläst“ (Offb 11,15), ist der Dienst vollbracht etc. (4) Halte zunächst fest: „Als acht Tage vorüber waren und beschnitten werden sollte“ etc. (Lk 2,21) Erstens über die Vollendung der Zeit: Im Genesis im 2. : „Und am siebten Tag vollendete Gott sein Werk, das er geschaffen hatte, und er ruhte am siebten Tag“ etc. (Gen 2,2) Daher ist zunächst neben dem Evangelium einiges bezüglich der Vollendung der Zeit zu bedenken. Zweitens, weil es heißt: „er sollte beschnitten werden“ (Lk 2,21), ist zu schauen, was es mit der Beschneidung auf sich hat. Drittens, weil es heißt, man habe ihm den Namen Jesus gegeben, müssen wir nachdenken über den Namen unseres Gottes und Erlösers. (5) Zum ersten wollen wir drei Dinge betrachten: erstens nämlich, wie wir die Zeit messen nach dem Lauf der Sterne; das ist die Art und Weise der Heiden und Astrologen. Zweitens, wie wir aus dem Bekannten in der Zeit das Verborgene messen; und wir können feststellen, daß auf diese Weise die Juden rechnen, weil sie den Anfang der Welt festlegen etc. Drittens messen wir die menschlichen Dinge anhand der Göttlichen; das ist die Methode der Christen. Die Heiden nach den Sternen, die Juden nach den Geschehnissen der Bibel, die Christen nach Christus. (6) Zum ersten : „Die Zeit ist das Maß der Bewegung“.2 Und an dieser Stelle über die Tage, die Jahre, die Siebenzahl der Planeten etc. Zum zweiten : über das Alter der Welt; über die Urbilder: wie die eine Zeit vor dem Gesetz das Urbild der Zeit unter dem Gesetz war; über die sieben guten und die sieben bösen Geister; und über die Berechnung der Entstehung des Menschen aus der Welt; und über das Ende der Welt und die „Fülle der Zeit“ (Gal 4,4), das heißt als die Welt auf der höchsten stufe stand, nämlich zur Zeit der Geburt Christi; und wie diese Welt im Abstieg begriffen ist und nach Meinung der Gelehrten dem Greisenalter entgegengeht etc. Und über die Weissagungen, die aus Zeichen entnommen werden, wie Christus im Evangelium sagt: „Wenn ihr das gesehen habt“ etc. (Mt 24,33) „Lernt aus dem Gleichnis vom Feigenbaum!“ (Mt 24,32) und wenn der Himmel morgens rot ist etc. (Mt 16,2f.) Und über die Lehre des Heinrich von Hessen,3 wie wir aus der Anordnung der Leuchten dieser Welt, das heißt der Prälaten und Großen des Reiches, die Zukunft vorhersehen können. Zum dritten : wie die Christen in Christus die Ordnung der Kirche sehen müssen, worüber an anderer Stelle4 ; und wie Christus das Maß ist, mit 2 3 4

Aristoteles: Physica IV, c.12. Henricus de Hassia (Henricus de Langenstein): Epistola concilii pacis und Epistola de futuris periculis ecclesiae. Predigt XXIII, n.2-9 und 18-27; vgl. Predigt XXVII, n.6, 16-18.

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

dem alle Christen gemessen werden. Wenn sie wissen wollen, ob sie heiligmäßig , sollen sie auf Christus schauen. Ob sie „Kinder Gottes“ (Mt 5,9) , ob sie tugendhaft, ob sie gut oder böse , können sie bei ihm sehen. (7) Jesus ist das Heil oder die Erfüllung, die „Fülle“ (Gal 4,4) oder Vollendung von allem. Jesus ist die Vollendung der Beschneidung, weil sie seinetwegen dem gläubigen Abraham aufgetragen wurde, dem die Verheißung gegeben wurde, daß aus seiner Nachkommenschaft der hervorgehen werde, der „der Segen aller Völker“ (Sir 44,25) sei. Damit also „die Nachkommen Abrahams“ (Joh 8,33) unvermischt bewahrt würden, wurde die Beschneidung angeordnet; und sie wurde unablässig durchgeführt, wo es wegen der Vermischung der Völker zur Unterscheidbarkeit nötig war. Sie wurde also in ihm vollendet. Jesus ist die Erfüllung des Gesetzes. Denn das Gesetz war dazu gegeben worden, daß das Volk, aus dem Jesus kommen würde, rein sei. Und deshalb war es jenem Volk nicht erlaubt, unreine Speisen zu essen. Und es war nicht erlaubt, ohne Regel zu leben; so wie die regieren, die den Adel des Ursprungs bewahren wollen, damit so „die Söhne Abrahams“ (Gal 3,7) sich nicht ihrer Abkunft von Abraham unwürdig erwiesen, dem die Verheißung zuteil geworden war, sondern das Werk Abrahams fortsetzten. Jesus aber ist die Erfüllung und das „Ende des Gesetzes“ (Röm 10,4). Jesus ist die Erfüllung der Opfer und der Prophezeiungen. Jesus ist die Erfüllung der Natur. Jesus ist „die Erfüllung der Tugend“.5 Jesus ist die Erfüllung der Gerechtigkeit, er ist die Erfüllung des Wissens und der Wissenschaft, er ist die Erfüllung der Weisheit, die Erfüllung all dessen, was wißbar ist. Und daher wußte Paulus, der alles wußte, nur Christus. Jesus ist die Erfüllung der Urbilder, die Erfüllung der Zeit, die Erfüllung des Maßes, „in ihm alles“ (Röm 11,36). Jesus ist die Erfüllung des geistigen Forschens: Er ist „der makellose Spiegel“ (Weish 7,26), in dem alles erstrahlt, wonach geforscht wird. (8) Beachte ferner, daß die Beschneidung geschieht, wie Weinstöcke und Bäume beschnitten werden. Denn Abraham war nicht nur geboten worden, daß die Sippe seiner Nachkommen nicht vermischt werde, sondern auch, daß seine Nachkommenschaft gereinigt werde durch das Wegschneiden der überflüssigen fleischlichen Lust. Aber die ganze Beschneidung nutzte nichts, weil „der Ackerboden verflucht“ (Gen 3,17) war, in den jener Baum eingepflanzt war, nämlich die menschliche Natur. Dieser Baum schob daher ständig Wurzeln in die Erde und wurde von ihr genährt. Aus diesem Grund konnte die Beschneidung die Arglist der Erdenbewohner nicht überwinden. Daher grünte und blühte „das Reis aus der Wurzel Jesse“ (Jes 11,1) ohne Ackerboden. Und zwar deswegen, weil es in den Himmel verpflanzt wurde. Und das Reis wurde in den „Baum des Lebens“ (Gen 2,9) eingepfropft, der von göttlicher Natur ist, in Christus Jesus. Und deswegen sagt er selbst, er sei „der Weinstock, der Vater aber der Winzer“ (Joh 15,1) und gibt damit eine Unterweisung: Wenn wir in unserem Leben Frucht bringen wollen, müssen wir „die Reben“ (Joh 15,5) jenes Weinstocks sein etc.

5

Thomas von Aquin: Summa theologica III, q.7, a.2.

Predigt XLVII: Halleluja. Ein geheiligter Tag

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(9) Beachte auch, wo das Evangelium sagt, „ den Namen , den der Engel genannt hatte, noch ehe “ (Lk 2,21). Jesaja sagt: „, den der Mund des Herrn bestimmt hat“ (Jes 62,2). Daraus ersiehst du, daß die Namensgebung aus der Bewegung des Wortes oder des Denkens kommt. Ebenso, wie Gott die Dinge mit Namen kennt, bevor sie in der Zeit sind, und bei ihm keine durch die Zeit bedingte Veränderung geschieht. Und so war Jesus „bei Gott“ (Joh 1,1) immer als „eingeborener “ (Joh 1,18) und „Erstgeborener“ (Kol 1,15), als „Haupt“ (1 Kor 11,3) und „König“ (1 Tim 6,15) aller Geschöpfe, wenn er auch nach Abraham in der Welt erschien etc. Ferner, daß kein Ding einen genauen Namen hat. Denn in jedem beliebigen Ding finden sich „Wesen, Kraft und Tätigkeit“.6 Durch die Tätigkeit gelangen wir zum Begriff der Kraft, durch die Kenntnis der Kraft zum Begriff des Wesens, das heißt zur Kenntnis des „Warum“7 des Wesens, aus der Erfahrung; und wir benennen das Wesen aus dem Verständnis der Kraft. So nennen wir die Seele „Seele“, weil wir in ihr die Kraft des Beseelenden finden; so nennen wir sie „Denkvermögen“, weil wir in ihr die Kraft des Denkens finden; so nennen wir sie „Geist“, weil sie erkennen kann. Etc. Aber das Wesen der Seele ist nicht nennbar, weil es das übertrifft, was der Verstand erfassen kann. Daher ist die Seele etwas, das all diese genannten und noch unzählige weitere Kräfte hat, und aller Verstand weiß nicht, „was“ das „ist“. So mit Gott etc. (10) Zur Erinnerung. Drei aus dem Evangelium: Inwiefern Jesus die Erfüllung jeder sinnlich wahrnehmbaren Bewegung ist; hier: „Nachdem acht Tage vergangen waren“ etc. (Lk 2,21) Ferner, wie er die Erfüllung jeder rationalen Bewegung ist; hier: „und der Knabe beschnitten werden sollte“ (ebd.). Ebenso ist er die Erfüllung jeder intellektualen Bewegung; hier: „Man gab ihm den Namen Jesus, den der Engel genannt hatte, noch ehe “ (ebd.). (11) Zunächst über die sinnlich wahrnehmbare Bewegung: Es ist eine Bewegung, die mit den Sinnen wahrgenommen wird, wie zum Beispiel die Bewegung des Himmels, die kreisförmig verläuft, und die Bewegung der Natur und der Lebewesen etc. An dieser Stelle über die acht Tage, inwiefern in der Oktav die Erfüllung liegt, weil jede Bewegung die Ruhe zum Ziel hat. Die Fülle der Bewegung oder der Zeit ist erreicht, wenn alles zur höchsten Stufe gelangt ist. Jede Bewegung kommt in Christus zur Ruhe: die des Himmels, der Erde, des Meeres und alles dessen, was der unbewegliche Gott geschaffen hat. Es gibt die rationale Bewegung: Das ist die Bewegung, die aus Denken hervorgeht, wie zum Beispiel der Anstoß zur Beschneidung – diese Bewegung steht über dem Trieb des Tieres oder der Bewegung des Himmels – oder der Anstoß des Gebotes der Enthaltsamkeit und der Keuschheit etc. Alle jene Bewegungen gelangen in Christus zur Ruhe. 6 7

Ps.-Dionysius Areopagita: De caelesti hierarchia, c.11; De divinis nominibus, c.4 § 1. De coni. I, c.5 (h III 19 ad lin. 7 et adnot. 16, p.199).

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Ebenso gibt es eine intellektuale Bewegung, die eine engelhafte Bewegung ist: Und es ist eine Bewegung oberhalb des Verstandes hin zur Ruhe der Erkenntnis der Wahrheit. Und sie fand ihre Ruhe in Christus, weil er „das Wort“ (Joh 1,1) und „der Begriff“8 und „der Name“ (Phil 2,9f.) und „der Erlöser“ (Lk 2,11) ist etc.

8

Meister Eckhart: Expositio Sancti Evangelii Secundum Iohannem (1,12); Hugo de S. Victore: De sacramentis II, pars 6, c.2.

Predigt XLVIII Dies sanctificatus Ein geheiligter Tag Zeit: Fest: Ort: Zählung Koch: Edition: Deutsch:

6. Januar 1445 Erscheinung des Herrn Mainz 39 h XVII/2, 200-212 –

ZUSAMMENFASSUNG Der Name Gottes ist nicht erfaßbar, selbst Salomo und David haben diesen Namen nicht gewußt (n.1-2). Gott verhält sich dabei zu seiner Schöpfung wie die Sinnesorgane zur sinnlichen Wahrnehmung, von der sie grundsätzlich getrennt sind: Im Bereich der Geschöpfe kann der Name Gottes nicht gefunden werden (n.3-4). Gott kann nur aus dem Verstand erkannt werden, der auf das Höchste geht und Gott ist das Vollkommene (n.5). So wie das Auge aber das Licht zum Sehen benötigt und es daher liebt, so liebt der Intellekt das Licht der Offenbarung Gottes (n.6-7). Dieses Licht der Offenbarung beschreiben die Heilige Schrift und alle Heiligen; ein Licht, das zum demütigen Wissen der geschenkten Offenbarung führt (n.8-10). Bis auf das Tetragramm sind daher alle geläufigen Gottesnamen nur menschliche Konstruktionen (n.11-12). Die Namen der Geschöpfe hingegen sind vom menschlichen Intellekt gegeben aufgrund ihrer jeweiligen Unterschiede (n.13-14). Dieser Unterschied muß aber in der Geschöpflichkeit selbst deutlich werden, denn hinsichtlich der Tatsache der Unterschiedenheit von Gott sind alle Teile der Schöpfung gleich (n.15-16). Der Name Jesu wurde von Gott durch einen Engel mitgeteilt, weil auch die Namen der bekannten Engel sich auf Gott – das Licht – beziehen (n.17-18), ähnlich wie irdische Gegenstände nach ihrer Form oder ihrem Material benannt werden (n.19-20). Seinen eigenen, von Gott in der Schöpfung gegebenen Namen kann der Mensch nur im unverhüllten Licht der Gnade Gottes finden (n.21-23). Deshalb wird der Mensch zu Jesus geführt, weil allein dessen Name von Gott kommt und daher angemessen ist; selbst das Tetragramm muß dahinter zurückstehen (n.24-31).

LITERATUR Marc Aeilko Aris: Vos Moguntini. Nikolaus von Kues (1401-1464) predigt den Mainzern, in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 50 (1998) 191-217.

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Predigt XLVIII Ein geheiligter Tag (1) „Ein geheiligter Tag“1 etc. So lautet der achte Wechselgesang. Aus dem Evangelium wollen wir zwei festhalten: erstens, daß jener Knabe, der „in Bethlehem geboren“ (Mt 2,1) ist und „den Namen Jesus erhielt“ etc. (Mt 1,25; Lk 1,31; 2,21), von Königen gefunden wurde. Und hier soll das dargelegt werden, was am Tag der Beschneidung ausgelassen worden ist, im Bezug auf den Namen „Jesus“ (Lk 2,21), und wie der Retter gesucht und gefunden wird. Zweitens erfahren wir, wie sie „niederfielen und ihn anbeteten“, als sie ihn gefunden hatten, und „ihm Geschenke darbrachten“ (Mt 2,11). Bezüglich des ersten Punktes wollen wir nachdenken über den Namen Gottes, den Namen der Schöpfung und den Namen „Jesus“. (2) Abraham2 fragte nach dem Namen Gottes, und Gott sagte: „Warum fragst du nach meinem Namen, der wunderbar ist“ etc.? (Ri 13,18) Warum wunderbar? Weil er nicht erfaßt werden kann. Denn dies ist die einmütige Überzeugung aller klugen , daß sein Name nicht nennbar ist, weil „sein Name wunderbar ist auf der ganzen Erde“ (Ps 8,2.10). Daher sagt David, daß „seine Hoheit erhaben ist über alle Himmel“ des Intellekts. „Sie künden seinen Ruhm“ aus gutem Grund, „und seine Werke verkündet das Firmament“ etc. (Ps 19[18],2) Und Salomo steigt im vorletzten der Sprüche im Geist hinauf und wieder herab, aber den Namen Gottes findet er nicht. Vielmehr kann man das, was er sagt, im Text sehen, weil er die Vision eines Mannes beschreibt, „mit dem Gott und der – ermutigt dadurch, daß Gott bei ihm verweilt – sagt: Ich bin der törichtste aller Menschen und habe keinen Menschenverstand“ (Spr 30,1f.). Und nachdem er einige Taten Gottes aufgezählt hat, sagt er: „Wie ist sein Name und wie der seines Sohnes, wenn du es weißt? Jede Rede Gottes ist vom Feuer durchglüht“ etc. (Spr 30,4f.) (3) Was also erfaßt die Schöpfung von Gott? In seinen Werken erfaßt sie ihn als staunenswert, aber ihn selbst erfaßt sie nicht. Sieh: Wo findet man die Namen der Farben? Doch wohl im Bereich der Sehkraft. Denn wo die Sehkraft verlorengegangen ist, gibt es keine Farbe. Beim Blinden ist keine Farbe; denn in dem Bereich, den er erfassen kann, findet der Blinde keine Farbe. Also gehört die Farbe zum Bereich der Sehkraft. Aber keine Farbe erfaßt die Sehkraft; denn die Sehkraft ist nicht farbig. Also ist die Sehkraft außerhalb jeglicher Reichweite der Farbe; und die Sehkraft wird im Bereich der Farbe eher als nichts denn als etwas beurteilt, weil es im Bereich der Farbe keinen Namen oder 1

2

Missale Romanum Pii V, In nativitate Domini in Graduali tertiae missae; vgl. Predigt XLIII, lin. 1-3, nicht Predigt XVIII, wie fälschlich im Apparat der kritischen Edition angegeben. Nicht Abraham, sondern Moses (Ex 3,13-15) und Manoach (Ri 13,6.17f.) fragten nach dem Namen Gottes.

Predigt XLVIII: Ein geheiligter Tag

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keinen Begriff gibt, außer dem der Farbe. Und die Farbe könnte nichts bestimmen oder benennen, was nicht farbig ist. Und wenn Gott im Bereich der Farbe gesucht wird, wird nur das Beste der Farbe gefunden, das heißt das, worin die Vollkommenheit und Schönheit jeglicher Farbe besteht etc. (4) So mit allen anderen Sinnen. So wie also aus diesem Grund das Auge im Mittelpunkt der Sehkraft keine Farbe hat, so daß sie Anfang, Mitte und Ende aller Farbe ist, was in gleicher Weise für die anderen Sinne gilt, so hat der Gemeinsinn nichts von den einzelnen Sinnen, der Intellekt nichts von all dem, was zum Bereich des Verstandes und der Sinne gehört, so daß er sich zu diesen Dingen verhält wie das Auge zu den Farben. So verhält sich Gott zu den Geschöpfen. Im Bereich aller Geschöpfe kann man also weder Gott noch seinen Namen finden, es sei denn gemäß der Natur jenes Bereichs, nämlich nach der äußersten dort in jenem Bereich möglichen Vollkommenheit.3 Die äußerste Vollkommenheit aber ist intellektual. Sie nennt Gott reinen Intellekt, das heißt Wahrheit, und reinen Affekt, das heißt gut; und ebenso mit den übrigen . (5) Aber einen solchen Namen Gottes gibt es nicht, wie aus dem eben Gesagten ersichtlich ist. Also ist gemäß allem geschaffenen Intellekt Gott eher „nichts“, weil er nicht zu den mit dem Verstand erfaßbaren Dingen gehört, als etwas, weil jener Bereich das nicht begreift, was nicht erkennbar ist. Und weil jedes Wort aus dem Intellekt hervorgeht, wenngleich es Verstand ist – denn das Wort ist nichts anderes als Intellekt im Verstand – daher wird Gott durch den Intellekt im Verstand benannt; weil der Intellekt in seinem Himmel die Werke Gottes erfaßt – er findet nämlich Kräfte, Mächte etc. –, benennt er Gott im Verstand, weil er in seinem Bereich im Hinblick auf die vom Urgrund verursachten Dinge nichts Höheres und Vollkommeneres findet etc.; so wie wir den Schmied, der aus Gold und Silber herstellt, Goldschmied nennen nach dem Höherwertigen etc. (6) Aber jetzt müssen wir unsere Aufmerksamkeit darauf richten, daß das Sehvermögen, wenn es auch nur das Farbige erfaßt, dennoch das Licht erfaßt, das sich dem Sehvermögen farblos mitteilt. Doch es erfaßt das Licht nicht so, daß es dieses in Wahrheit bestimmen könnte, weil es nicht zum Bereich der Farbe gehört. Denn es weiß nicht, was das Licht ist, wenn es ihm auch Freude bereitet und über die Maßen angenehm ist, weil es ohne jenes Licht nichts in seinem Bereich erfassen könnte. So also wie sich das körperhafte Licht zum 3

Seine Überzeugung, daß der Mensch Gott nicht angemessen benennen kann, kommt auch in einer Randnotiz zum Ausdruck, die Nikolaus eigenhändig in einem seiner Bibelkorrektorien vermerkt hat (Tractatus de correctione bibliae, Cod. Cus. 12, fol.1). Dort heißt es, bezogen auf die Aussage des Textes, daß dem hebräischen Gottesnamen „Elohim“ die lateinische Übersetzung „Deus“, dem Tetragramm (JHWH), das gelesen wird, als stünde im Text „Adonai“, das lateinische „Dominus“ entspricht: „Beachte, daß Gott nach dem Verstand des Menschen ‚Herr‘ genannt wird.“ Vgl. Marc-Aeilko Aris: Sorge um den Bibeltext, in: Horizonte. Nikolaus von Kues in seiner Welt, Trier 2001, n.99, 125f.

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Sinnesorgan Auge verhält, so verhält sich das geistige Licht zum geistigen Auge, das heißt zum Intellekt, wie auch Augustinus im 11. Buch „Vom Gottesstaat“, im 3. Kapitel, sagt, daß es nicht unangemessen sei, das so zu sagen. Denn jenes geistige Licht teilt sich dem Denkvermögen mit, wird aber nicht endgültig erfaßt, denn dieses Licht ist außerhalb des Bereiches der mit dem Intellekt faßbaren Dinge, aber so, daß in ihm der Intellekt alles in seinem Bereich Erkennbare so erfaßt, wie das Auge alles erfaßt, was zum Bereich des Sehvermögens gehört. (7) So also wie für das Auge das körperhafte Licht wunderbar und unaussprechlich, aber sehr angenehm ist – , ohne das es nicht sehen kann und ohne das nichts sichtbar ist, so daß es das Licht selbst ist, durch das und in dem alles Sehen geschieht – so ist offensichtlich das intellektuale Licht, durch das und in dem Erkenntnis geschieht, göttlich und wunderbar und unaussprechlich oder unnennbar über alle Maßen angenehm. Und es ist das Licht der Offenbarung und der Gnade. Denn so wie das Licht den Augen die Farben enthüllt und das Sehen verwirklicht, das nur in der Möglichkeit vorhanden war, so ist dieses Licht das Licht der Offenbarung und der Gnade, indem es unserem Intellekt das Erkennbare enthüllt. (8) Und das ist in etwa das, was alle Weisen, Propheten und Heiligen uns in den Schriften verkünden, daß nur durch die Offenbarung Gottes selbst Erkenntnis möglich ist. Daher sagt David: „Nimm den Schleier von meinen Augen! Und ich werde sehen“ etc. (Ps 119[118],18), weil wir aus eigener Kraft nichts können. Und das ist es, was Salomo zu sagen scheint an der angeführten Stelle. Nachdem er unsere Unkenntnis des Namens Gottes und des Sohnes vorausgeschickt hat, sagt er: „Jedes Wort Gottes ist denen ein feuriger Schild, die auf ihn hoffen. Füge seinen Worten nichts hinzu, sonst gibst du dich als Lügner zu erkennen!“ (Spr 30,5f.) (9) Wir lernen also von allen Heiligen, daß ohne jenes Licht nichts im Menschen ist, wodurch er in seinem Bereich irgendeinen Anteil am Leben haben könnte. Denn sehen heißt für das Auge leben. So „heißt erkennen für den Intellekt leben“.4 Also lebt der Intellekt nicht, wenn er dieses Licht nicht hat. Daher ist dies die ganze Überlieferung aller Weisen, daß wir erkennen sollen, daß wir aus unserer Vermessenheit nicht so leben können, wie es einem intellektualen Leben entspricht; daß wir eine Lehre ziehen sollen aus den Beispielen des Sturzes des Engels Luzifer und des Menschen Adam, die sich damit brüsteten, dieses Licht nicht durch Gnade, sondern aus eigener Vortrefflichkeit zu haben, weil sie dem Höchsten gleich sein wollten, der allein keinen anderen braucht. (10) Und wir sollen zur Demut hingeführt werden im Bewußtsein, daß alle Offenbarung und das Leben uns unentgeltlich geschenkt wird, damit wir jene erlangen. So lehrte Salomo, dem Gott dies offenbart hat, nämlich, daß die Weisheit ein Gnadengeschenk ist, nichts anderes über die Art und Weise, sie zu erlangen, als daß man eifrig nach ihr streben solle mit Hilfe der Liebe, und daß 4

Meister Eckhart: Expositio Sancti Evangelii secundum Iohannem (17,3), LW 3, n.679, p.593, 2-3 und Sermo 54/I, LW 4, n.528, p.445, 8-9.

Predigt XLVIII: Ein geheiligter Tag

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man sie erbitten solle, wie er selbst sie erbat: „Sende mir die Weisheit, die an deiner Seite thront!“ etc. (Weish 9,4) Dies unterstreicht er im 2. Kapitel des Buches der Sprüche (Spr 2,4), nämlich daß man sie mit großem Eifer suchen muß, wie man nach Geld sucht. Und dann wird sie geschenkt, weil die Weisheit von Gott kommt und „aus seinem Mund die Klugheit hervorgeht“ (Spr 2,6). Denn „alle Weisheit kommt von Gott, dem Herrn“ etc. (Sir 1,1) „Sende aus dein Licht und deine Wahrheit. Sie haben mich geführt“ etc. (Ps 43[42],3) (11) Und so kennen wir aus der Tradition der Heiligen Schriften einige Offenbarungen bezüglich des Gottesnamens, wie diejenige des Tetragramms und anderer göttlicher Namen; aber es gibt nur einen Namen jenseits des intellektualen Bereichs, nämlich „Jehova“. Er ist nicht aus dem intellektualen Bereich, weil er nicht erkannt wird, und er bezeichnet nicht Gott selbst gemäß irgendeiner Einsicht, sondern besteht als Ursache jeglichen Denkens und jeglicher Einsicht etc.; darüber siehe an anderer Stelle.5 (12) Es gibt noch andere Gottesnamen, aber aus dem intellektualen Bereich, von denen uns einige von starkem Intellekt erklärt worden sind, die durch heilige Auszeichnung mit dem Lichte der Offenbarung unter den anderen hervorstachen. Das sind zum Beispiel die Namen Gottes, über die der heilige Hieronymus in seinem Brief6 etc. Andere Namen sind die der Philosophen der Chaldäer, Griechen, Ägypter, heidnischer Völker und Sprachen. Wieder andere eines jeden frommen Mannes, der Gott in verschiedener Weise benennt etc. Aber darüber an anderer Stelle.7 Soviel zum ersten Teil des ersten Abschnitts. (13) Im zweiten um den Namen der Geschöpfe. Der Begriff ist die Ursache der Benennung. Der Begriff kommt aus dem Intellekt. Die Tätigkeit des Verstandes vergibt Namen. Und es ist zu bedenken, daß so, wie das Licht Ursache der Farben ist – denn Farbe ist nur die Grenze des Lichts im Durchsichtigen – die göttliche Gnade Ursache der Dinge ist, von der Paulus sagte, daß er durch sie das sei, was er war. Und der selige Augustinus sagt im 2. Buch „Über den freien Willen“,8 daß die Seele durch eine unveränderliche, von oben lenkende Wahrheit geformt wird, die tief in ihrem Innern wohnt. (14) Also ist der Name eines jeden Dinges nur die Grenze des Namens Gottes; denn das Geschöpf ist nichts aus sich. Also ist offenkundig, daß das Geschöpf, soweit es aus sich ist, keinen Namen hat außer dem Namen „Nichts“. Und soweit es aus Gott ist, hat es keinen Namen außer dem Namen „Gott“, so wie der Sohn eines Menschen „Mensch“ genannt wird. Aber die Verschiedenheit der Begrenzung des Lichtes der Gnade ist die Ursache für die Abweichung der Geschöpfe von der Einheit des Lichtes. Sodann bekommt das Geschöpf einen 5 6 7 8

Predigt I, n.2-7; Predigt XX, n.7; Predigt XXIII, n.35. Hieronymus: Epistola 25 Ad Marcellam. Predigt XXIII, n.35. Augustinus: De libero arbitrio II, c.17, n.45.

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

unterscheidenden Namen aufgrund irgendeiner Beschaffenheit, durch die es sich von einem anderen unterscheidet. (15) Von daher ist ein Geschöpf dort nicht benennbar, wo es keine Verschiedenheit der Geschöpfe gibt, nämlich im Licht. Und es ist nicht benennbar, wenn es außerhalb dieses Lichtes ist, weil es außerhalb davon nichts gibt. Es ist auch nicht benennbar aus der Grenze, wo jenes Licht begrenzt wird, weil das Licht weder in irgendetwas außerhalb seiner selbst begrenzt werden kann, weil es außerhalb von ihm nichts gibt, noch in sich begrenzt wird, weil es keine Grenze der Grenze gibt. Daher ist kein Geschöpf so begreifbar, wie es ist. (16) Deswegen kommt seine Benennung aus dem Verstand, der verschiedenartige Tätigkeit wahrnimmt und sich von ihr erhebt zur Kraft der Sache und der Sache selbst, die er nicht erfaßt wie sie ist, sondern in der Tätigkeit, die von ihr ausgeht, dadurch daß er sie benennt nach dem Ergebnis oder nach sonst einem unterscheidenden Merkmal. Und du mußt wissen, daß dies die Ursache dafür ist, daß der Verschiedenheit des Denkens die Verschiedenheit der Benennung ein und derselben Sache entspricht. Aber der wahre Name ist unaussprechlich; und alle Namen, die durch die Verstandestätigkeit vergeben werden, erklären in einer gewissen Annäherung den wahren Namen einer Sache, den wir im Bereich des Verstandes nicht erfassen können. (17) Niemand kann also wissen, was er ist oder welcher sein Name ist, es sei denn im Licht seiner letzten Herrlichkeit und Glückseligkeit. Und so wird nur der, „der gesiegt hat“ (Offb 2,11 u.ö.) seinen Namen erfahren, der ihm „neu“ sein und geoffenbart werden wird, und der so beschaffen sein wird, daß „der Mund“ eines Menschen ihn nie „genannt hat“ (Jes 62,2). Und so liegt es auf der Hand, daß die Verdammten ihren Namen nie erfahren werden. Und Erkenntnisfähigkeit stirbt, weil sie das Leben, das Erkennenkönnen bedeutet, verlieren wird etc. Der aber ist „im Buch des Lebens“ eingeschrieben, der einen Namen hat, und in Gott lebt das Wissen um den, den er mit Namen kennt, so wie Gott sagt, er kenne Moses beim Namen, der „im Buch des Lebens“ eingeschrieben war (Ex 33,12 u.ö.). Der dritte ist der Name Jesus. Und das ist der vom Engel gegebene Name, das heißt vom Intellekt im Bereich des Verstandes, weil „er sein Volk retten wird“ etc. (Mt 1,21) Jesaja sagt, „der Mund des Herrn hat genannt“ (Jes 62,2) diesen Namen. Und der Evangelist sagt, daß es „der Engel“ (Lk 2,21) war. Folgere daher, daß der Engel „der Mund des Herrn“ ist, weil Gott nicht zum Verstand spricht, es sei denn durch den Intellekt. Aus jener Überlegung also, die sich aus dem Erlösungswerk ergibt, wurde der Knabe, „der in Bethlehem geboren ist“, „Jesus“ (Mt 2,1) genannt. Zu diesem Thema siehe an anderer Stelle.9 Beachte im Hinblick auf das Buch des Lebens die Offenbarung (Offb 3,5 u.ö.). (18) Entnimm daraus das Geheimnis, daß die Engel nur Namen haben, in denen die Grenze des Lichtes anklingt, nämlich „Michael“; wie „Stärke 9

Predigt XXX, n.3; Predigt XLVII, n.7-9.

Predigt XLVIII: Ein geheiligter Tag

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Gottes“: „Gabriel“, „Raphael“ etc., das heißt, wo jenes Licht erstrahlt in der Grenze der Stärke oder in der Grenze des Heils, entsprechend der Deutung ihrer Namen.10 Und man findet keine Namen der intellektualen Geistwesen außer einigen Begrenzungen des göttlichen Lichts gemäß dem Bereich des Intellekts. So verhält es sich auch mit den anderen in ihrem jeweiligen Bereich. (19) So erhält in der Mathematik eine Figur ihren Namen aus der Grenzlinie der Oberfläche: Dreieck, Viereck, Sechseck etc., weil sie von so vielen Winkeln umschlossen wird. So wird auch Gold unterschiedlich benannt, weil es unterschiedlich in seiner Gestalt begrenzt ist; denn man nennt es Kelch, man nennt es Leuchter, Becher, Ring etc. So gibt man auch dem göttlichen Licht, obwohl es ein einziges ist, verschiedene Namen nach der verschiedenen Begrenzung. Wer aber weiß, daß jener Leuchter aus Gold ist, nennt ihn goldenen Leuchter. (20) Und wer weiß, daß die Farbe des Regenbogens von der Grenze des Sonnenlichts herrührt, kann die Farbe des Regenbogens als lichte Farbe bezeichnen oder definieren. Und dieses zweite ist das treffendere Beispiel. So würde der, der wüßte, woher die Schöpfung kommt, ihr dementsprechend einen Namen geben. Aber solange niemand den Namen Gottes weiß, von dem alles , kann er auch den Namen der Schöpfung nicht wissen, der Ähnlichkeitsbild des Namens Gottes ist. (21) Daraus kannst du entnehmen, wie der Mensch, wenn er nach seinem Namen sucht, Gott suchen muß, um seinen wahren Namen zu finden. Denn er muß alle Begrenzungen aufheben, die sein Name darstellt, dann wird er in sich das Licht finden, wie Dionysius lehrt durch Wegnahme aufzusteigen, wie es die tun, die den Löffel im Holz suchen: Sie nehmen die Grenzen weg, durch die die Materie des Holzes begrenzt wird, bis sie zu der gesuchten Form kommen. Und dann ist das, was der Intellekt durch den Glauben im Holz sah, bevor es mit den Sinnen wahrnehmbar war, den Sinnen gegenwärtig geworden. So müssen wir, die wir im Diesseits mit dem Verstand Gott suchen, alles wegnehmen, damit Gott, der uns im Glauben gegenwärtig ist, bevor er mit dem Verstand gesucht wird, auch dem Auge des Intellekts gegenwärtig werde. (22) Aber es liegt nicht in unserer Macht, durch welchen Aufstieg und welche Abstraktion auch immer, zum reinen, unvermischten Licht vorzudringen, ebenso wie der Bildhauer im Holz die Form, die er zuerst im Intellekt als Idee sieht, nicht durch irgendeine Weglassung erreichen kann, ohne daß doch immer noch etwas von dem bleibt, was er hätte wegnehmen müssen und noch nicht weggenommen hat, um zur reinen Idee, so wie sie ist, zu gelangen. Daß Gott im irdischen Leben nicht geschaut werden kann, hat er in Exodus, Kapitel 33, dem Moses offenbart, als der darum bat, sein Gesicht sehen zu dürfen (Ex 33,18-23) etc. (23) Wir wissen also, daß wir im Licht der Gnade oder im unverhüllten Licht oder im Leuchten eines Sterns dereinst zu einem Ort geführt werden können, „wo der König der Juden ist“ (Mt 2,2), wenn wir gewissenhaft gelebt und 10

Michael: Wer ist wie Gott? – Gabriel: Gott macht stark. – Raphael: Gott heilt.

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

gesucht haben. Aber in seiner Klarheit, so wie er ist, finden wir ihn nicht, vielmehr führt uns das Licht zu Jesus, damit wir im Kind den König sehen. Denn wenn wir den göttlichen Dionysius lesen, der diese Aufstiege erklärt, dann werden wir auf Jesus zurückverwiesen, der der „Abglanz“ des Vaters ist etc., damit wir durch Vermittlung des Glanzes, den wir in Jesus finden, der uns in der Menschennatur gleich ist, gerettet werden, wenn wir im Kind den König der Herrlichkeit erkennen, das heißt, wenn wir im Menschenkind, das noch nicht wie ein König aussieht, im Diesseits den König der Ewigkeit erkennen. (24) Zum dritten, nämlich dem Namen „Jesus“, müssen wir jetzt bedenken, wie alles Unvermögen und aller Mangel, alle Schwäche und Unwissenheit in Jesus und in seinem Namen und im Wissen um ihn Erfüllung finden. Denn wenn Jesus selbst uns mit Namen bekannt wird, weil er der Erlöser ist, dann ist dies die Offenbarung, wo wir alles finden, was wir ersehnen. (25) Wir werden aber zu Jesus geführt als zu dem, worin wir in unserer Natur alle Fülle oder Vollkommenheit zur Höhe erhoben finden. Denn das Licht, das wir in unserer Natur in Jesus finden, ist nicht das gebrochene Licht, das die erkennbaren Dinge einschränkt, sondern es ist die Offenbarung des Lichtes, in dem wir das eigentliche Licht „über allen Mächten Kräften“ (Eph 1,21)11 und allen Bewohnern des intellektualen Bereichs erkennen. Denn kein anderer „Abglanz“ (Hebr 1,3) ist Jesus als der des Vaters und „das Abbild seines Wesens“ (ebd.) und das Licht selbst in lebendiger und wahrer Person. (26) Und daher sind die Erleuchtungen Jesu, die von ihm als Vorbild und Lehrer ausgegangen sind, nicht aus dem Bereich der diesseitigen Welt, sondern aus dem Bereich des Vaters und der Ewigkeit. Durch sie wurden wir dazu geführt, zu verstehen, daß dieser Name ihm angemessen ist, weil aus seinem Wirken nichts als Erlösung floß, und daß er deswegen der Erlöser ist und sein Name Jesus. Und das ist „der Name, der größer ist als alle Namen im Himmel, auf der Erde und unter der Erde“ (Phil 2,9f.). „Denn es gibt keinen anderen Namen, in dem das Heil ist“ (Apg 4,12). (27) Wir finden daher Jesus als Medizin und als Arzt, zu dem wir in unserem Bereich gelangen können, weil er Mensch und Geschöpf ist, wir in ihm zur Ruhe kommen und uns erkennen, weil er Gott ist und „Jesus“ (Mt 1,21) genannt wird wegen der Erlösung, die dem Schöpfer obliegt. Zu retten kommt nämlich dem zu, dem es zukommt das Sein zu geben. Aber er wäre nicht der Erlöser, wenn er außerhalb unserer Natur stünde und wir nicht an ihm teilhaben und nicht zu ihm gehören könnten. (28) „Jesus“ ist also der Name des Erlösers, der uns auf ewig rettet. Er besagt in seiner Bedeutung, daß der, der diesen Namen trägt, Gott und Mensch ist, Schöpfer und Geschöpf. Wen also danach dürstet, Weisheit zu erlangen, wie die Magier, und wer sie gewissenhaft erstrebt, wird vom Licht der Gnade zu Jesus geführt, damit er zu dem Mittler gelangt, ohne den die Natur des Suchenden nicht empfänglich wäre für die gesuchte Herrlichkeit. 11

Vgl. Meister Eckhart: Expositio Libri Sapientiae 2, n.45.

Predigt XLVIII: Ein geheiligter Tag

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(29) Du mußt aber wissen, daß der Name Tetragramm nicht von ungefähr als „unaussprechlich“ bezeichnet wird, weil er nichts anderes ist als die Einheit aller Laute. Denn wenn du es recht bedenkst, dann ist Jehova nichts anderes als die Zusammenstellung der Vokale in einer Einheit. JHVH sind vier Buchstaben. Und Tetragramm bedeutet soviel wie „vier Buchstaben“. Dennoch wird es nicht durch diese Buchstaben ausgedrückt, sondern es sind die Punkte der Aussprache, die als vier Vokale bezeichnet werden, nämlich „i“, „e“, „o“, „a“. Und beim „v“ ist der Buchstabe das Zeichen der Aussprache „o“, wenn er selbst auch ein „v“ ist. Denn „o“ und „v“ fallen als Vokale zusammen in der Wurzel des Klangs. Daher gibt es im griechischen Alphabet kein „v“ und im hebräischen kein „o“. Und so weißt du, daß nach Ansicht der Lateiner im Namen „Jehova“ nichts als vollkommener Klang ist; denn „h“ ist kein Buchstabe. „Unaussprechlich“ ist also dieser Name, der allen Klang in sich einfaltet. Ob du daher die griechische oder die hebräische oder die lateinische Sprache betrachtest: Nichts anderes hat diesen Namen als das, was alles in sich einfaltet, wodurch ein klangvolles Wort gebildet wird. Er ist also das Urbild der Wörter. Daher ist er das Ideal, ohne das kein Wort klingend werden kann; denn ohne Vokal entsteht kein Wort. Daher ist er das Wort Gottes, nämlich das göttliche Wort, durch das und in dem jedes Wort . (30) „Jesus“ aber heißt im Hebräischen „Jesua“.12 Und das bedeutet Wort Gottes mit dem heiligen Buchstaben, der „sin“13 heißt; und „sin“ wird übersetzt als „Ausspruch“, also sozusagen als ausgesprochenes Wort Gottes. Jesua oder Jesus ist also das ausgesprochene Gotteswort. Das ausgesprochene Wort Gottes aber ist das, wodurch „alles geworden ist“ (Joh 1,1-3): Denn „er sprach, und es geschah“ (Ps 33[32],9). Was also bedeutet „Jesus“, wenn nicht Erfüllung des ausgesprochenen Wortes Gottes oder Rettung und Vollendung? Das merke dir! Und daher „bestimmte der Mund Gottes“ (Jes 62,2) diesen Namen, wie der Prophet Jesaja sagt. Denn Gott spricht durch den Intellekt, der Intellekt durch den Verstand und der Verstand durch die Sinne etc. (31) „Ich will hören, was Gott in mir spricht“ etc. (Ps 85[84],9) Ferner über den Namen „Ich“: wie Gott in Genesis 17 sagt: „Ich, der allmächtige Gott“ (Gen 17,1); und: „Ich bin“ (Gen 17,3); und „Ich bin der Ichbin-da“ (Ex 3,14). Und Christus sagt: „Ich bin das Alpha und das Omega“ (Offb 1,8 u.ö.). Daher steht „Ich“ nur Gott und dem Herrn Jesus zu, weil alles andere an seine Stelle Gesetzte nicht aus sich selbst Bestand hat, weil seine Substanz nicht die Ewigkeit ist etc.

12 13

Der hebräische Name lautete zunächst Jehôšûa', dann Jēšûa', das die Septuaginta als Ἰησοῦς wiedergibt. Der mittlere Buchstabe „šin“ im Namen Jesu ist in Wirklichkeit ein Überbleibsel der Wurzel jš', die im Hebräischen soviel wie Hilfe oder Rettung bedeutet.

Predigt XLIX Ave Ave Zeit: Fest: Ort: Zählung Koch: Edition: Deutsch:

20. März 1445 Verkündigung 1 Koblenz 40 h XVII/3, 213-224 –

ZUSAMMENFASSUNG Wenn Menschen einander grüßen, bedeutet das nicht nur den bloßen Gruß, sie wünschen auch gutes Gelingen oder das Wohlergehen des Anderen, sein Wachstum zum Guten (n.1-3). Als der Engel Maria grüßte, war diese aber bereits gerettet, was er mit seinem Gruß auch ausdrücken wollte (n.3). Wie Maria daher gefühlt hat, daß Gott in ihr ist, so soll das Denken sich klar machen, daß jede Frucht seines Intellekts allein aus Gott kommt, daß Gott also in ihm ist (n.4-5). Der Gruß „Ave“, den Cusanus als „a ve“ (sei ohne Weh!) interpretiert, muß daher dreifach verstanden werden: Er ist Geschenk allein aus Gnade; Maria besaß dieses Geschenk in vollkommener Weise, und das Geschenk dieses Grußes allein führt zur Ruhe der Glückseligkeit (n.6); diese Erklärung stützt auch die Bibel (n.7-9). Maria war der erste Mensch, dem diese Ruhe geschenkt wurde, sie hat als erste von Gott die Fülle der Gnade erhalten (n.10-12).

LITERATUR Klaus Reinhardt: Gottes Geburt in der menschlichen Seele nach den Predigten des Nikolaus von Kues zum Fest Mariä Verkündigung, in: Meister Eckhart und Nikolaus von Kues, hg. von Harald Schwaetzer und Georg Steer (MeisterEckhart-Jahrbuch 4), Stuttgart 2001, 35-48, hier: Der Sermo XLIX Ave (Koblenz 1445) und sein Umfeld, 40-42.

1

Aufgrund des frühen Ostertermins wurde die Feier des Festes Verkündigung des Herrn (25. März) auf diesen Tag vorgezogen, vgl. die Praenotanda in der kritischen Edition.

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Predigt XLIX Ave (1) „Ave“. Lukas 1 (Lk 1,28). Ein lobenswürdiger Brauch ist es bei Inangriffnahme einer beliebigen Sache, daß Freunde einander gutes Gelingen wünschen. So sehen wir es ja bei einzelnen Anfängen: wenn die Fundamente von Häusern gelegt werden, wenn es zu einer Veränderung unseres Zustandes kommt, sei es bei der Eheschließung, sei es beim Eintritt in einen Orden oder auch bei der Einsetzung in ein führendes Amt. In gleicher Weise wünscht ein Freund dem anderen, wenn wir den Jahreswechsel begehen, in Wort und Zeichen Wohlergehen. Wir aber, die wir uns für unseren christlichen Namen Ruhm erwerben und Christi Mutter, Bruder und Schwester sind (Mt 12,50), wenn wir den Willen des Vaters Christi tun, weil dann in uns Christus geboren wird, wenn wir den Willen Gottes, des Vaters, ausführen – die Ausführung des Willens ist nämlich die Sohnschaft; es wird dann nämlich unser Geist in das Wort Gottes übertragen, welches ihn in sich aufnimmt, weil es die aufgenommene Sohnschaft fruchtbar werden läßt –, müssen an diesem großen Tage, an dem Maria, die Jungfrau, den König des Himmels und der Erde und unseren Retter empfing, Maria, die für uns den König und Retter empfing, dessen Reich kein Ende kennt, desto andachtsvoller grüßen, je größer und nützlicher und dauerhafter der Beginn dieser Sache ist etc. Laßt uns also Maria grüßen. (2) „Ave“ ist eine einzige Aussage, und das Wort bezeichnet dann entweder einen Ausdruck der Zustimmung oder der Bitte. Insoweit es für Maria das Erste meint, insoweit für uns das Zweite. Denn wir müssen am heutigen Tage füreinander wechselseitig Heilswünsche sprechen. Es ist nämlich der erste Tag des Jahres,2 des Zyklus der Erschaffung des Menschen und seines Falles sowie der Wiedererschaffung des Menschen und seiner Rettung. Die Erschaffung des Menschen fand am ersten Freitag, dem Tag der Venus statt, und in Adam sind alle geschaffen; in ihm sind wir auch alle gefallen, getrieben von dem Geist des Todes vermittels Eva. In Jesus Christus ist an demselben Tage unser Menschsein, gewirkt vom Heiligen Geist und vermittels der Jungfrau Maria, vom Fall des Todes zum ewigen Leben erhoben worden. Die Sünde Adams führte uns auf den Weg des Todes, so daß unsere Pilgerschaft beständig sterblich und auf den Tod hin ist, wie das Holz, welches ins Feuer geworfen ist, brennt, damit es zu Asche wird. Wenn deshalb der Mensch sich auf dem Wege des Todes vor dem Tode zu hüten bemüht, tut er nichts anderes, als daß er sein Leben verliert. Denn es bekleidete sich der Mensch mit Fellen, bearbeitete die Erde, damit er gegen den Tod gewisse Heilmittel gewin2

Vgl. dazu Hermann Grotefend: Taschenbuch der Zeitrechnung des deutschen Mit11 telalters und der Neuzeit, Hannover 1971, 11f.

Predigt XLIX: Ave

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ne. Er glaubt, die sinnlichen Freuden auf dem Wege des Todes seien lebenspendend, und in völligem Unwissen verstrickte er sich um so mehr in den Tod wie ein Hase ins Netz: Je mehr der sich bemüht zu springen, daß er hinausgelange, um so mehr wird er verstrickt. Christus aber kam, um uns zu lehren, daß man dem Tod nicht anders als durch den Tod entkommen könne, weil es das Leben ist, welches durch den Tod erlangt wird. Deswegen zeigte er, daß alle Beunruhigung dieses Lebens Werke der Verstrickung in den Tod sind, und er lehrte uns, die Werke des Todes abzulegen. Diese sind Beunruhigungen derart, daß wir Überfluß haben, während der andere Schaden leidet, wenn wir gegenüber dem anderen nicht so handeln, wie wir wollen, daß an uns gehandelt wird (Mt 6,19-22). Wünschen müssen wir uns deshalb wechselseitig mit Bitten voller Liebe Segen, damit dieser Tag uns der Anfang des Wachstums unserer Rettung sei. „Grüßen“3 bedeutet in der Volkssprache nichts anderes als dem anderen ein Wachstum des Guten zu wünschen. Laßt uns füreinander also in wechselseitiger Liebe bitten, einer für den anderen, damit ihm zur Rettung voranschreitet die Wiederkunft der Erinnerung an unsere Rettung in Christus Jesus, weil einander zu grüßen, vom Frieden gehalten, den Christen ziemt (2 Kor 13,12). (3) „Ave“. Zuerst muß man aufmerksam sein darauf, daß der Engel nicht in der Form des Wunsches gebeten hat, daß sie Rettung erlange. Sondern sie selbst hat verwirrt überlegt, was diese Begrüßung sei (Lk 1,29). Denn der Engel war nicht geschickt, daß er sie durch das Leben führe, sondern damit er ihr verkünde, daß sie bereits Rettung erlangt habe. Und er spricht: „Ave, voll der Gnade!“ (Lk 1,28) Aufmerksam sein muß man darauf, daß Gott, der Schöpfer, die Jungfrau gegrüßt hat, wie sie selbst später bekennt: „Denn er hat Großes an mir getan“ etc. (Lk 1,49) Und der Engel verkündet dieses. Sehen muß man deshalb: Was meint diese Begrüßung durch Gott? Der Engel verkündet ihr doch „Ave“ und daß sie voll der Gnade sei und die Gegenwart Gottes und daß sie gepriesen sei unter allen Frauen durch die Frucht ihres Leibes. Die aber so begrüßt ist, wird Maria genannt, deren Leibesfrucht gepriesen (Lk 1,42) ist, und diese ist Jesus. (4) Zuerst müssen wir betrachten, daß diese Begrüßung an die Weise angepaßt werden kann, wie der denkende Geist zu Maria wird, das heißt ein von göttlichem Licht erleuchteter Turm.4 Wenn nämlich die Weisheit, die aus dem Munde des Höchsten hervorgeht, in die Seelen der Heiligen einzieht, dann nimmt sie selbst zum ersten Mal allen Anstoß des Übels und des Dun-

3 4

Im Original auf Deutsch. Vgl. Richard de S. Laurentio: De laudibus B. M. V. XI, c.5, n.2 (ed. Borgnet 36, 574a); Ps.-Albertus Magnus: Mariale, q.29 § 2 (ed. Borgnet 37, 61b).

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

kels hinweg und versetzt sie in einen Zustand ohne Weh, so daß ihr „a ve“ gesagt werden kann.5 Denn es ist kein anderes Licht als das der Wahrheit, welches den denkenden Geist von allem Weh seiner Unruhe befreien kann. Wenn also dieses Licht kommt, bewirkt es eine Seele, die voll eines Blitzstrahles ist, so daß das Licht der Gnade teilhat am Licht des Wahren, welches sich als Gnadengeschenk in den denkenden Geist herabsenkt, wo die Weisheit in den Söhnen der Menschen ihr Entzücken findet (Sir 4,12). Sie fühlt nämlich, daß ihr Gott mit ihr ist. Denn das denkende Leben hat allein Ruhe in seinem Gott, der das Licht der Wahrheit oder die absolute Wahrheit ist. Das nämlich ist Gott, in dem alles Streben zur Ruhe kommt. So ist denen, die den Genüssen des Gaumens ergeben sind, der Magen ihr Gott (Phil 3,19) etc. So wird die Seele durch die Anwesenheit des Wahren mit dem Lichte der Wahrheit schwanger, weil das gute Wort in ihr empfangen ist, und dieses ist die Preisung als Fruchtbarkeit unter den Frauen: Diese sind umso mehr gepriesen, je fruchtbarer sie sind, weil die Fruchtbarkeit die Vollkommenheit der Frauen ist. Und darum sind diejenigen, die fruchtbarer sind, unter den Frauen gepriesener. Gepriesen ist folglich jenes Denken, welches in sich die Weisheit empfängt, damit es mit der Weisheit schwanger sei. Und deswegen ist gepriesen die Frucht ihres Leibes (Lk 1,42). Die empfangene Weisheit kann nämlich nichts anderes als die Frucht der Weisheit gebären. Und diese ist die gepriesene Frucht, weil sie die Frucht des Lebens und der Unsterblichkeit ist. (5) Diese Frucht aber ist, wenn sie das Leben und die Rettung ist, Jesus. Denn jeder denkende Geist wird nicht anders Frucht hervorbringen, als wenn er einen mit Christus schwangeren Geist besitzt und Christus die Frucht seines Leibes ist, der die Wahrheit und das Leben ist (Joh 14,6). Diese Verkündigung geschieht durch den Engel des Intellektes, also die höchste Natur, die allein für das göttliche Licht mit ihrem intellektuellen Auge aufnahmefähig ist. Gott nämlich, der Geist ist (Joh 4,24), wird nur im Geiste gesehen, und wenn er wahrgenommen wird, wird er im Geiste wahrgenommen, so daß „sie sich freut über Gott ihren Retter“ und weil „er die Niedrigkeit seiner Magd“, seiner Kreatur, „angesehen hat“ (Lk 1,47f.). Dann tut der Intellekt dem Denken kund, daß das große Licht herabsteigt, und es empfängt diese Erleuchtung die Ratio, und sie wird zu einem „Ave“ „voll der Gnade“ mit Gott, und „Maria“, der „erleuchtete Turm“, weil die hohe Ratio dazu befähigt wird, hinaufzusteigen in ihrem Licht in die Höhe des Begreifens der ewigen Wahrheit der Weisheit. Und die Erleuchtete wird ihrerseits befähigt, alle Sinneswahrnehmung zu erleuchten, und sie gebiert die gepriesene Frucht.

5

Es handelt sich hierbei um ein lateinisches Wortspiel. Das Wort „Ave“ wird lautgleich in zwei Worte getrennt: in die Präposition „a“ und die Interjektion „ve“ bzw. „vae“. Das „a“ wird im Text wie „sine“: „ohne“ verstanden. „Vae“ bedeutet „Weh“.

Predigt XLIX: Ave

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In dieser mystischen Begrüßung ist Maria, die Mutter, über allen reinen Menschen voll der Gnade, weil sie selbst die Demütigste war, deren magdliche Demut Gott angesehen hat und sie selig gemacht hat, wie alle Geschlechter erzählen (Lk 1,48). (6) „Ave“ kann dreifach verstanden werden; denn es ist gleichsam „ohne Weh“ oder Böses. So gibt es zwei Wendungen: Es ist das „vollkommene Geschenk, das herabsteigt vom Vater der Lichter“ (Jak 1,17), welches in sich Maria, voller Gnade, und die Anwesenheit des Herrn und die Preisung der Fruchtbarkeit und die rettende Frucht hat; zweitens wird „Ave“ begriffen als Imperativ; und dieses im doppelten Sinne: entweder zustimmend oder gratulierend, indem es das „Ohne Weh sein“ verkündet, oder aber wünschend und bittend, indem es darum betet, daß es ohne Weh sein möge. Dreierlei folglich müssen wir aus dem Evangelium schöpfen: Erstens, was dieses alles überragende Geschenk Gottes sei: von uns alles Weh zu nehmen; und dieses wird ausgedrückt durch die Worte, die dem „Ave“ im Evangelium folgen, nämlich „voll der Gnade“. Zweitens, wie die selige Maria über alle Geschöpfe hinaus dieses Geschenk hatte, weil sie Gnade gefunden hatte etc., wie es im Evangelium heißt (Lk 1,30). Denn der Engel verkündet ihr in zustimmender Begrüßung, sie sei ohne Weh, und drückt den Grad des Geschenkes aus, weil sie die Mutter Gottes und des Menschen ist etc. Drittens, wie niemand die Ruhe der Glückseligkeit erlangen kann, wenn er nicht zum „Ave“ gelangt, und deswegen wünscht Gott bittend, Du seiest ohne Weh. Damit du dieses sein kannst, wollte er, daß das heiligste Evangelium zu deiner Erkenntnis ausgelegt wird, wodurch du belehrt wirst, wie du dahin gelangen kannst. Schauen wir in den Text des Evangeliums! (7) Was das erste betrifft, was das „Ohne Weh“ sei, sagt die Reihe des Evangeliums, daß „ohne Weh sein“ heißt, durch göttliche Offenbarung zu wissen, daß man ein solcher ist durch die Fülle der Gnade, durch die Anwesenheit des göttlichen Geistes, welcher ist der Herr, der den Geist lebendig macht,6 und durch die Macht der Fruchtbarkeit durch das Wirken des Geistes und durch die Rettung bringende Frucht. Wenngleich nämlich der Geist, bevor er dieses wußte, furchtsam war, weil er glaubte, er sei nicht fähig zu den Werken, welche die Natur des Fleisches übersteigen, wenn er sie als ihm aufgetragen erblickt, wird er doch ruhig, um das in Angriff zu nehmen, was über seine Natur ist, nachdem er Sicherheit über das Geschenk der gesuchten und gefundenen Gnade erhalten und hat, daß der Geist, der in ihm ist, in seiner Überschattung alles bewirken kann und nachdem er durch ein Beispiel darin bestätigt wird. Und hierin liegt die Vollendung, die ohne alles Weh ist, wo der Geist bereit ist (Mt 26,41), alles, was über der Schwäche seiner Natur liegt, unerschrocken in 6

So im Credo der Messe: „Et in Spiritum Sanctum Dominum vivificantem“.

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Angriff zu nehmen, wie der Wille Gottes so, wie er im Himmel ist, also im Heiligen Geist, auch auf Erden im geschaffenen Menschen sei (Mt 6,10). Auf diesem Wege hatte Paulus Macht ohne Weh und Makel, weil er durch den Heiligen Geist, der in ihm war, zu allem befähigt war (Eph 3,20). Diese Geschenke des Geistes sind aber verschiedene; denn dem einen ist der Geist der Weisheit verliehen, dem anderen der Geist des Rats etc. (Jes 11,2; 1 Kor 12,4-11) Stephanus hatte den Geist der Tapferkeit in aller Fülle. So wirkten alle Heiligen, durch die Fülle der Gnade und des Geschenks des Geistes ohne Weh, über die Natur hinaus Früchte des Lebens. (8) An diesem Reichtum der Gnade haben die Heiligen in demselben Heiligen Geist verschieden Anteil. Doch die ruhmreiche Jungfrau Maria überragt den gesamten Reichtum aller anderen. Deshalb ist hinsichtlich des zweiten Punktes zu betrachten, daß sie ohne Weh und Mutter ohne Weh ist. Eva ist Mutter Weh, Maria Mutter ohne Weh. Denn Christus Jesus ist jener Mensch, welcher Gott ist, in dem jeder Mensch seine Rettung haben kann und ohne den jeder Mensch im Weh verbleibt. Christus aber ist der Sohn Gottes und Mariens. Mutter der Gnade ist folglich Maria, weil sie die Mutter dessen ist, von dessen Fülle wir alle empfangen (Joh 1,16). Die Himmel tauen, und die Wolken regnen den Gerechten (Jes 45,8), und es öffnet sich die Erde der geheiligten Jungfrau, und den Tau nimmt sie in sich auf, welcher in die Quelle des Wassers gewandelt (Ps 114[113],8) ist. Maria ist ein Aquaedukt geworden, und ein großer Fluß hat von der Quelle seinen Ausgang genommen, nämlich Jesus, von dem alle Heiligen erquickt werden wie fruchtbare Äcker, die durch Teilhabe am Fluß der Gnade Jesu Christi gewässert werden. (9) Wir wollen das Evangelium erneut vornehmen und sagen, daß unser Gott, weil er die menschliche Natur, nachdem er sie von seiner unendlichen Güte ausgeschlossen hatte, in der göttlichen wiederherstellen und die zeitliche Natur der ewigen einen, dem sterblichen ein göttliches und unsterbliches Leben säen wollte, von Anfang an schloß, dieses müsse in der Weise geschehen, wie es der göttlichen Natur möglichst geziemend sei, nämlich so, daß das göttliche Wort die menschliche Natur anlege, die es vom reinsten Blut der heiligsten und keuschesten Jungfrau nehme. Er wollte aber dieses Geheimnis nach vielen allgemeinen prophetischen Offenbarungen der ruhmreichsten Jungfrau enthüllen, die er aus allen auswählte, und die Inkarnation wurde hinausgezogen, bis daß die schönste unter allen Jungfrauen aus der Wurzel Jesse hervorging. Nachdem sie aber, die dem Allerhöchsten ein geheiligtes Tabernakel war, in das Alter gekommen war, daß sie gemäß der Natur Mutter zu sein vermochte, schickte am 25. März Gott, der Vater, den Engel Gabriel in die Stadt in Galiläa mit Namen Nazareth etc. (Lk 1,26) (10) Hier ist zu bemerken, daß keine vernünftige Seele, wenn sie nicht Maria und von Gott begrüßt und wenn ihr nicht vom Engel die Begrüßung offenbart ist, die Seligkeit der Ruhe besitzen kann. Wenn sie nämlich nicht eine solche ist,

Predigt XLIX: Ave

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daß ihr das „Ave“ zukommt, dann ist sie außerhalb der Ruhe. Wenn sie frei von Gnade ist, entbehrt sie der Ruhe, die allein in der Fülle ist. Wenn Gott abwesend ist, ist der Geliebte abwesend. Der Liebende aber kann nur im Geliebten Ruhe finden. Wenn deshalb die Seele nicht schwanger ist mit dem Geist des göttlichen Wortes und den Retter gebiert, wird sie nicht gerettet werden. Das ist es nämlich, was Christus sagte, daß den Willen des Vaters zu tun heiße, Mutter zu sein (Mt 12,50). Niemand wird folglich gerettet, wenn er nicht auch den Retter in sich empfängt; seine Frucht ist die Rettung. Deswegen beachte, daß die Seele, obgleich das Licht der Gnade vom Vater der Lichter (Jak 1,17) herabsteigt in sie, dennoch nur gerettet ist, wenn es aufgenommen wird und Frucht bringt. Als Beispiel dient im Evangelium das Gleichnis vom unfruchtbaren Feigenbaum (Mt 21,18-21). Denn es steigt vom Himmel der Tau der Gnade, und wenn sich die Erde nicht öffnet und ihn aufnimmt und wenn die Wurzeln ihn nicht an sich heranziehen, daß sie Frucht bringen, dann wird der Baum im zweiten oder dritten Jahr ausgerissen aus der Erde und ins Feuer geworfen. Es muß sich nämlich unsere Erde öffnen und den Retter hervorsprießen lassen (Jes 45,8). (11) Aber betrachte aufmerksam, wie du dahin wirst gelangen können. Denn dann bist du dahin gelangt, wenn dir wahrhaft wird gesagt werden können: „Ave“. Wenn nämlich keine Leidenschaft, kein Weh, die Seele heimsucht von dem allen, was in dieser irdischen Welt geschieht, dann folgt „Maria“. Wenn es dich nämlich nicht quält, arm oder reich, jung oder alt, verachtet oder geehrt zu sein, Freunde oder Söhne zu behalten oder zu verlieren, in Entbehrung oder Vergnügung zu leben und schließlich zu leben oder zu sterben, dann wird dir wahrhaft „Ave“ gesagt werden können. Dann nämlich hat nichts an Dunkelheit, nichts an Schatten, nichts an Phantasien, nichts aus dieser sinnlichen Welt Kraft in dir, sondern das Leben, welches das Licht der Welt ist (Joh 8,12), welches die Fallstricke und Listen des sinnlichen Lebens zeigt wie die Lampe in der Nacht die Gefahren und Gräben eines Weges. Zu Recht wird darum „Maria die Erleuchtete“ jene Seele genannt, die voll der Gnade etc. Dort weichen alle Machenschaften des Teufels etc. (12) Wie die Heiligen dieses Evangelium deuteten, das Verständnis in umfangreichen Büchern darlegend, unter denen des Albertus Magnus „Lob der ruhmreichen Jungfrau Maria“ in seiner Deutung hervorragend verfährt, dazu einige einzelne Worte. Erstens, wie der Engel Gabriel, der als „Gott stärkt mich“ verstanden wird,7 geschickt ist. Ihn begreifen wir gemeinhin als Erzengel, obgleich der Text ihn nur Engel nennt. Der Bote der Wiederherstellung des Lebens näm7

Ps.-Albertus Magnus: Mariale, q.2 § 5 und 8 (ed. Borgnet 37, 10a und 14a); Hieronymus: Liber interpretationis hebraicorum nominum (CCSL 72, 140).

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

lich, der Stärkung der gefallenen Natur und der verwirrten Jungfrau, ist Gottes Tapferkeit etc. Dieser Engel wurde nicht von einem anderen Engel geschickt, sondern von Gott, damit erkannt werde, daß es sich um das höchste, göttliche und geheime Mysterium handele, was er verkündet. Hierbei beachte, daß Gott durch den Engel unmittelbar spricht und nicht durch die verschiedenen Stufen der Engelsordnungen, so daß er selbst zu den höchsten, diese zu den mittleren, diese wiederum zu den untersten und die untersten zu den Menschen spräche etc. Danach hab Acht auf das, was folgt, wie der Engel in eine Stadt geschickt ist, also in eine Einheit der Bürger; denn in der Einheit und im Frieden ist sein Ort (Ps 76[75],3). Jene Stadt war in Galiläa, also in der „Wanderschaft“ etc.8 Und obwohl Nazareth nur eine kleine Stadt ist, geht dennoch von ihr die Prophetie: „Nazarener wird er genannt werden“ (Mt 2,23). Der Bote ist also in der Gestalt einer Blüte der Jugend in die Stadt der Blüte zur Blüte der Jungfräulichkeit zur Zeit der Blüten geschickt worden, um der Blüte Frucht zu verkünden. Nazareth wird als Blüte, Sprößling, Heiligkeit oder Heiliger der Heiligen gedeutet.9 Deshalb wird der Nazarener zu Recht Heiliger der Heiligen genannt (Dan 9,24). Es wird auch als Salbung oder Weihe gedeutet. Der Messias, der auch der Christus ist, wird folglich an dem Ort, der auch die Salbung ist, verkündet. So klein war dieser Ort, daß Nathanael zweifelte, ob irgendetwas Gutes aus ihm stammen könne (Joh 1,46). Deshalb beachte hier, wie Gott das Niedrige erwählt: einen niedrigen Ort, eine niedrige Magd etc., weil die Niedrigkeit bei Gott der allerschönste Schmuck ist etc. Geschickt wurde der Engel zur Jungfrau (Lk 1,26f.), die Jungfrau zur Jungfrau.10 Und sie war verlobt (ebd.). Es ist erstaunlich, daß jene Tätigkeiten, welche göttlich sind, uns gemäß dieser Welt widrig und feindlich erscheinen: „Der König der Könige“ (1 Tim 6,15) wird in Nazareth an einem unwürdigen und unscheinbaren Ort empfangen; eine Jungfrau hat ihn empfangen, die verlobt war. Sie war verlobt, damit es gemäß dem Gesetz und der Natur keine Unmöglichkeit war, daß die Welt ihn aufnahm; aber sie war eine Jungfrau, damit sie gemäß der göttlichen unvermischbaren Klarheit eine möglichst gleichgestaltete Mutter sei, gleichsam, wenn ich so sagen darf, wie ein Arzt das Heilmittel zur Gesundheit unter einer ange8

9

10

Es handelt sich um eine gebräuchliche Etymologie, die Cusanus etwa auch in Predigt CCXXXIX verwendet. Vgl. Hieronymus: Liber interpretationis Hebraicorum nominum (CCSL 72, 140). Vgl. zu dieser gängigen Etymologie: Hieronymus: Liber interpretationis Hebraicorum nominum (CCSL 72, 137). Bei Cusanus ferner Predigt CL, in: Predigten in deutscher Übersetzung Bd. 3, n.4, 160. Daß auch der Engel Gabriel eine Jungfrau war, wird bei Ps.-Albertus Magnus: Mariale, q.4 erörtert, woran Cusanus sich hier anlehnt.

Predigt XLIX: Ave

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nehmen Farbe verbirgt, damit es so empfangen werde und die Heilung bewirke. Dieser Text des Evangeliums verdeutlicht unseren Glauben und schließt die Phantasien vieler Irrender aus. Beachte, wie die Gelehrten viele Gründe anführen, warum sie verlobt war; sieh dazu nach in der Postille von Hugo.11 Der Name des Mannes war Joseph aus dem Hause David (Lk 1,27). Warum wird das gesagt? Weil verheißen war, daß Christus aus jenem Hause kommen werde etc. Siehe in der Postille.12 „Und der Name der Jungfrau war Maria“ etc. (Lk 1,27) Siehe einzelnes weiter in der Postille von Hugo.13

11 12 13

Hugo de S. Caro: Postilla in Matth., gedruckt: Köln 1621, Band 6, fol. 5v. Ebd., fol. 131rb. Ebd., fol. 131rb-va.

Predigt L Spiritus Sanctus superveniet in te Der Heilige Geist wird über dich kommen Zeit: Ort: Fest: Zählung Koch: Edition: Deutsch:

20. oder 25. März 1445 oder 14461 unbekannt Verkündigung 41 h XVII/3, 225-228 –

ZUSAMMENFASSUNG Der Mensch ist durch die Geburt Knecht seiner fleischlichen Existenz und ist daher sterblich (n.1). Die Sterblichkeit ist eine Folge der Erbsünde. Ohne diese wäre das Leben Freiheit, Freude und Liebe (n.2). Durch die Sünde des ersten Adam kam die Sterblichkeit in die Welt, der zweite Adam brachte die Möglichkeit der Wiedergeburt: Das Geheimnis besteht darin, daß der Mensch im intellektualen Geist neu geboren und zur wahren Gotteskindschaft geführt wird (n.3-5). Eine Form dieses Geistes ist das belehrte Nichtwissen (n.6).

1

Vgl. zur Datierung die Praenotanda in der kritischen Edition.

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Predigt L Der Heilige Geist wird über dich kommen (1) „Der Heilige Geist wird über dich kommen, und die Kraft des Allerhöchsten wird dich überschatten. Deshalb wird, was aus dir geboren wird als Heiliges, genannt werden Sohn Gottes“. Lukas 1 (Lk 1,35). Die Ordnung: Zuerst wird gesprochen über den Anfang, wie oben,2 und das Evangelium „Gesandt wurde“ (Lk 1,26-38). Man muß wissen, daß Lukas hier die erste Lehre erläutert, die Christus als Lehrer in Israel den Nikodemus lehrte, wie es Johannes im dritten Kapitel schreibt. Denn es ist die Geburt, in welcher der Geist eingesät ist in das von der Erde genommene Fleisch, gemäß dem in Adam alle sterben (1 Kor 15,22), weil der Geist gemäß Adam sich abgekehrt hat von Gott hin zum sinnlichen Gebiet der Welt, so daß er ein Knecht des Fleisches ist und nur das bedenkt, was des Fleisches ist (Röm 8,5). Dessen Frucht ist die Frucht des Fleisches, weil das sinnliche Leben das Ende seiner Bewegung ist. (2) Wie aber die Natur gefallen ist, beschreibt das Buch Genesis. Denn der böse Geist, der sich von Gott abgekehrt hat, riet der Mutter der Lebendigen (Gen 3,20), Eva, die vom Manne gebildet war, und sie selbst dem Adam, daß sie sich abkehrten von der Vorschrift des Willens Gottes. Weil der Wille Gottes das Leben des Geistes ist, fiel die Natur aus dem Leben in den Tod. Sie wollte nämlich die menschliche Natur in Gott verwandeln vermittels des Ungehorsams und fiel in den Tod. Die Zeichen aber, daß der Geist tot ist, werden hieran ersichtlich: Das Leben des Geistes ist nämlich Freiheit, Freude, Liebe und Verstehen des wahrhaft Geliebten. Aber unser Geist, wie er aus Adam ist, ist „Weh, weh, weh, weil er auf der Erde wohnt“ (Offb 8,13), und „die irdische Wohnung beschwert ihn“ (Weish 9,15). Doch ist er in die Sklaverei des ihn Beschwerenden geführt worden. Denn er kann nicht anders als für diesen Sklavendienst zur Verfügung zu stehen. Wenn er sich einmal heimlich zu entziehen trachtet, findet er sich als ohnmächtig und schwach und den Aufstand des widerstehenden Fleisches mächtiger als sich. Deshalb ist jedes Werk unvollkommen und, wenn er sich bemüht, auf seiner Erde den Samen des Geistes unter Mühen und Kümmernissen zu erwecken, findet er Disteln und Dornen etc. (Gen 3,18) (3) Aber Christus sagte dem Nikodemus, wie das Reich Gottes sei, zu dem zu gelangen der Geist die Möglichkeit hat. Aber dieses kann nur geschehen, wenn der Mensch von neuem geboren wird (Joh 3,3). Diese Geburt erkannte der fleischverhaftete Nikodemus nicht, obgleich er ein großer Rabbi war. Deswegen erklärte Christus ihm die Art dieser Wiedergeburt nur so, daß sie geistig

2

Vgl. n.1 und n.9 der vorangehenden Predigt.

Predigt L: Der Heilige Geist wird über dich kommen

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erfolge „aus dem Geiste“ (Joh 3,6). Aber es wird die Art erklärt durch den Engel in den Worten unseres Themas: „Der Heilige Geist“ etc. Wir haben also die Tatsache vorliegen, daß hier uns ein Geheimnis eröffnet ist, wie wir wiederum im Geiste geboren werden und wie der wiederum im Geiste Geborene jener ist, der sich dem Geist Gottes angleicht, also dem Willen Gottes, und daß dieser ein Bruder Jesu ist und Maria und der Sohn Mariens etc. Denn wer den Willen meines Vaters tut etc. (Mt 12,50) Belehrt werden wir also durch das Evangelium, wie wir wiederum im Geiste geboren werden. (4) Denn es lehrt die Genesis, wie wir gemäß dem Fleische geboren sind; diese Geburt ist dem Geist entgegen. Der Geist hat nämlich weder Fleisch noch Knochen, sondern er ist dem Fleisch entgegen, wie das Leichte dem Schweren und das Feine dem Groben. Es heißt nämlich in der Genesis, wie zuerst die Erde in ihrer Ordnung bestand und daß aus jener dann das Fleisch entstand und in jenes der Geist eingepflanzt wurde und daß aus jenem Menschen Adam Eva ward und daß der Geist des Todes Eva in Versuchung führte. Verstehe recht: „des Todes“, nämlich der intellektuelle Geist! Denn die Schlange hat einen animalischen schlauen Geist. Das will sagen, daß der Geist der Animalität, welcher der Erde anhaftet, den denkenden Geist in Übereinstimmung mit ihm zieht. Und Eva verführte Adam, und aus der Übereinstimmung ist das Werk des Todes geboren worden. – Schau das nach im einzelnen. Hieraus erhalten wir, daß der Geist in den Kindern Adams in die Gefangenschaft des Todes geführt worden ist. (5) Aber ein zweiter Adam entstand – nicht daß die Erde eher war als die Ordnung, sondern eher als die Ordnung war der Geist, in den eingesät worden ist die jungfräuliche Erde, von aller Fleischlichkeit unberührt, geheiligt etc. in der Weise, wie es hier gesagt wird. Schöpfen müssen wir hieraus die Art der notwendigen Wiedergeburt. Denn wir müssen die Gnade suchen, und wir werden sie finden: „Suchet und ihr werdet finden!“ (Mt 7,7) Wenn wir sie haben, weil wir gehorchen, wird in unsere Stadt, die zu blühen beginnt, geschickt als ein englischer Geist, der uns stärkt, Gabriel. Er wird uns auf auffordernde Weise sagen, daß wir „ohne Weh“3 sein sollen. Das bedeutet, daß wir alle unsere überflüssige Beunruhigung des Fleisches aufheben und alles mit Gleichmut ertragen, was auch immer uns Gott zuteil werden läßt. Dann ist in uns die Fülle der Gnade, und er selbst, der Herr etc. Und „der Heilige Geist wird über dich kommen“ (Lk 1,35) etc. (6) Ebenso füge eine kontemplative Andacht an. Ebenso betrachte das Beispiel, wie der Heilige Geist über dich kommen wird etc.: einmal in belehrtem Nichtwissen, dann über die Bienen,4 drittens über die Sonnenstrahlen. Ebenso über den Wind, der Schnee bringt. Ebenso über das Sakrament etc. 3 4

Vgl. zu „ohne Weh“ (a vae) die vorangehende Predigt. Gemeint ist die seit Aristoteles überlieferte ungeschlechtliche Vermehrung der Bienen, vgl. Aristoteles: De generatione animalium III (759 a8-11).

Predigt LI Dicite filiae Sion Sprechet, Töchter Sions Zeit: Ort: Fest: Zählung Koch: Edition: Deutsch:

21. März 1445 Koblenz Palmsonntag 42 h XVII/3, 229-236 –

ZUSAMMENFASSUNG Die Ankunft Jesu kann auf mehrfache Weise verstanden werden: seine fleischliche Ankunft, seine geistige oder sakramentale Ankunft in der Seele und seine Ankunft beim Jüngsten Gericht. Seine fleischliche Ankunft hat er bereits in der Menschwerdung vollzogen (n.1-2). Gott hat die Menschen mit dem Denkvermögen ausgestattet, damit sie auch seine Ankunft im Geist erfassen können; daher erkennen die Menschen, daß sie zwar über den nicht erkenntnisfähigen Tieren stehen, sich aber den Engeln unterordnen müssen (n.3-5). Auch die Gebote Gottes werden durch das Denkvermögen erkannt; der Mensch versteht, daß diese Gebote gut und gerecht sind und in der Aufforderung zur Nächstenliebe ihren höchsten Ausdruck finden (n.6-9). Um aber den Willen Gottes auch durch die Sinne zu verdeutlichen, kam Jesus in die Welt, um das Reich Gottes zu verkündigen und die Menschen auch so zur Erkenntnis der göttlichen Gebote anzuleiten (n.10-12). Deshalb ist es für jeden unerläßlich, die Gebote Gottes genauso treu wie Abraham einzuhalten und ihnen vor allem mehr als den Gesetzen der Menschen zu folgen. Denn Gott wird im Jüngsten Gericht sehr genau sehen, wer im Leben ein „Münzwechsler“ und wer ein Christ war. Das gilt auch für Könige, Bischöfe und Kanoniker (n.13-15).

LITERATUR Albert Dahm: Die Soteriologie des Nikolaus von Kues. Ihre Entwicklung von seinen frühen Predigten bis zum Jahr 1445 (BGPhThMA N.F. 48), Münster 1997, 251-266, bes. 253-257.

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Predigt LI Sprechet, Töchter Sions (1) „Sprechet, Töchter Sions: Siehe, dein König kommt zu dir.“ Im 21. Kapitel des Matthäusevangeliums (Mt 21,5). Doch Zacharias sagt im neunten Kapitel: „Freue dich recht, Tochter Sion! Brich in Jubel aus, Tochter Jerusalem! Siehe, dein König wird zu dir kommen als Gerechter und Retter“, und „er selbst ist arm“ (Sach 9,9). Zuerst die Geschichte des Evangeliums, dann über die vierfache Ankunft. Denn es gibt seine Ankunft im Fleische: darüber gestern;1 es gibt seine Ankunft in uns, und zwar zweifach: geistig und sakramental; es gibt seine Ankunft in den Wolken; es gibt die Ankunft zum Gericht. (2) Es kommt im Fleische der „König aller Erde, Gott“ (Ps 47[46],8) – im ersten Brief an Timotheus steht: „Selig und allein mächtig ist der König der Könige“ (1 Tim 6,15) –, damit in ihm Erfüllung findet das Reich aller Geschöpfe. Denn weil der Schöpfer allmächtig ist und sich ein Königreich geschaffen hat, ist sein Königreich nur dann vollkommen, wenn es in ihm seine Bestimmung findet. König ist er selbst deshalb durch Natur, weil in ihm wie in der Erfüllung aller möglichen Vollendung der Geschöpfe jedes einzelne Geschöpf wie in seinem Ziele ruht. (3) Wenn Gott alles, was kein Denken hat, dem Denken unterworfen hat: Schafe und Rinder, alles Vieh der Wiesen (Ps 8,8), dann ist der Mensch König gemäß der Natur des Adels des Denkens über alle bloßen Lebewesen durch ebendieses Denken. Je vollkommener das Denken in einem Menschen ist, desto mehr hat er selbst gemäß der Natur, wie Aristoteles sagt, Anteil an der Herrschaft.2 Deshalb sagt der Weise im achten Kapitel der Sprüche: „Durch mich regieren die Könige“ etc. (Weish 8,15), und anderswo: „Weh, ihr Länder, deren König ein Knabe ist“ (Koh 10,16). Folglich steht fest, daß die Engel, die ein klareres und weniger in Schatten versenktes Denken haben, den Menschen vorgesetzt sind. Aber es gibt keinen Zweifel, daß das absolute Denken selbst, an dem teilzuhaben für alle natürlichen Herrscher ihre Grundlage ist, der König des Gesamts von Sein und Leben ist. (4) Wenn also auf irgendeine Weise das Denken im Menschen stufenweise gesteigert werden könnte, so daß einer auf einer Stufe des Denkens stünde, ein anderer auf einer höheren Stufe, dann gäbe es eine Teilhabe an der Herrschaft gemäß den Graden des Denkens, so daß dem einen die Herrschaft über ein Landgut, dem anderen diejenige über eine Stadt, einem dritten eine solche über einen Hofstaat, wieder einem anderen diejenige über eine Provinz anvertraut

1 2

Vgl. Predigt XLIX und L. Aristoteles: Politik I, c.1 (1252a 31-32).

Predigt LI: Sprechet, Töchter Sions

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werden müßte. Wenn das unendliche Denken in einem Menschen ohne jedes Maß gefunden würde, dann wäre jener Mensch zweifellos gemäß der Natur ohne Grenze und Einschränkung König; seine Macht reichte „von einem Ende zum anderen“ etc. (Weish 8,1) (5) Aufgrund dieser Betrachtung macht das Wort oder das in Christus Jesus inkarnierte Denken aus sich heraus offenkundig, daß es selbst, wenn es auch sein könnte, daß es nicht der Schöpfer wäre, dennoch nichtsdestoweniger „der König der Könige und der Herrscher der Herrscher“ wäre etc. (1 Tim 6,15) aufgrund der Überragendheit seiner denkenden Natur, die bei allen Dingen die Ursache des Regierens ist. Hieraus erhalten wir, wie er selbst unser König ist und darum wir seine Diener und Knechte. Wenn wir seine Knechte sind, dann müssen wir dieses empfinden, wie Paulus in seinem Brief sagt (Phil 2,5), was in Christus Jesus ist etc., nämlich daß wir deswegen, weil wir selbst nicht einfach nur Knechte sind wie er selbst der absolute König ist, ihm nicht gehorchen müssen gemäß dem „was“, das heißt in demjenigen, in dem er uns erscheint, sondern indem wir ihm gehorchen bis zum „Schrecklichsten alles Schrecklichen“, also „bis zum Tod am Kreuz“ (Phil 2,5), bis zum schändlichsten Tod am Kreuz. (6) Wir wissen aber, daß der wahre König uns nichts Böses vorschreibt, sondern alle seine Herrschaft zum Ziele des Guten hin ordnet. Wenn auch deshalb dieses hart und rauh erscheint, während es sich ereignet, ist es doch äußerst süß in seinem Ende. Niemand zweifelt, daß geschehen muß, was das Denken diktiert. Was also die Vorschriften unseres Königs sind, das sind Vorschriften des reinen, nämlich uneingeschränkten, gerechten, wahren, guten, vollendeten, tapferen, weisen etc. Denkens, nämlich jenen zu lieben, der alles dieses gab, was du hast, und das Vermögen zum Ergreifen alles dessen, was du willst: des Lebens und des Todes in deiner Hand. Und erscheint er dir darum nicht als der Beste, Allmächtige, Großzügigste und Gerechteste? Wer ist nun jener? Er ist sicherlich der „Herr der Kräfte“, der „König der Herrlichkeit“ (Ps 24[23],10), der Vater und Ursprung denkenden Seins, Lebens und Erkennens. (7) Lieben muß ich deshalb die Kraft im Absoluten, weil derjenige Fürst der Kräfte ist, welcher der Beste und durch sich selbst liebenswert ist und von dem „alle gute Gabe“ stammt etc. (Jak 1,17) Zweitens zweifelt niemand daran, daß, wenn Gott geliebt werden muß, der doch die Wahrheit und die Gerechtigkeit ist, nichts ihm vorgezogen werden kann. Wer folglich irgendetwas der Wahrheit vorzieht, obwohl Gott die Wahrheit ist, der zieht irgendetwas Gott vor. Dieses geht gegen sein denkendes Sein, und er gibt sich selbst damit den Tod. (8) Eine andere Vorschrift des Denkens lautet, daß du das tun sollst, was du willst, daß man es dir tue (Mt 7,12). Wenn du dieses tust, liebst du Gott und deinen Nächsten.

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Welcher Mensch würde nicht bestätigen, daß er diesen Vorschriften des Denkens gehorche? Weder Judas noch ein Heide kann das leugnen. Wenn einer ein Mensch ist, so verfügt er über Denken. Unser König schreibt uns nichts anderes vor, als daß du das tust, bei dem du, wenn du es nicht tun würdest, dich selbst verdammen müßtest. Unser König schreibt nichts anderes vor. (9) Aber er fügt an, daß niemand vor ihm zu wissen vermag, weil niemand ein Auge hat, um über den gestirnten Himmel hinaus oder Unkörperliches zu sehen. Niemand hat Tote gehört etc. Doch das Denken, das in allem anderen ist, war gemäß irgendeinem Maß. Keines Denken vermochte den Anfang seiner selbst zu erreichen, wie wenn ein gerade geborenes Kind auf einer Insel ausgesetzt würde. Dieses einsame Kind könnte bis zu den Jahren der Jugend nichts finden, wenn es über seinen Ursprung nachdächte. Wenn einer kommen würde, der Vater gewesen wäre und Kinder gezeugt hätte und ihm erzählte, wie er im Mutterleibe für neun Monate gewesen wäre etc., würde er es nur schwer glauben, weil er argumentierte, daß ein Mensch ohne Ein- und Ausatmen nicht lebt; er wäre folglich erstickt. (10) Deshalb kam Christus und erzählte vom Ursprung unseres Geistes vom Himmel her und vom Ziel und vom Leben, welches im Königreiche des Vaters unseres Geistes ist, und er versprach dieses Königreich denen, welche die Vorschriften beachten. Sie haben ihm nicht geglaubt und sagten: Wie könnte es ein anderes Leben geben als dieses in dieser Welt, dem wir uns untreu werden sehen? Sobald wir das Gebiet ändern, ersticken wir in Erde und Wasser, im Feuer werden wir verbrannt! Etc. Christus aber insistierte darauf, daß sie glaubten und dieses für wahr nähmen, weil das unendliche Denken, das alles durchstreift und erreicht und so das Vergangene und das Zukünftige als Gegenwärtiges sieht, wenngleich das Denken dieser Menschen es nicht erreicht, dennoch dieses weiß und Zeugnis darüber ablegt, und sein Zeugnis ist wahr (Joh 21,24). (11) Und dies würde erfahren, wer es begriffe. Weil die Lehre nicht durch das kleine und verdunkelte Denken der Menschen aufgenommen wurde – „Das Licht leuchtete in der Finsternis, aber die Finsternis hat es nicht ergriffen“ (Joh 1,5) – fügte er viele Wunder hinzu, die über die Verstehenskraft des Denkens hinausgehen, damit sie seinem Zeugnis wenigstens glaubten, da das absolute Denken dieses aus seiner Kraft heraus tat, was die Denkfähigkeiten der Menschen nicht zu begreifen vermochten und dennoch als wirklich und wahr sahen. Er wollte sie überzeugen, daß sie vom König und Ursprung allen Denkens nicht entschuldigt seien in ihrem Nicht-Aufnehmen, wenn sie nicht das, was sie selbst in ihrem Denken lobten, auch erreichten. Weil auch dieses nicht dazu ausreichte, daß die Menschen dieses Leben dem Leben des Geistes vorzögen, sagte ihnen der allerfrömmste König: Die Sünde brachte die Unwissenheit in die Welt, so daß sie „ins Böse gesetzt ist“ (1 Joh

Predigt LI: Sprechet, Töchter Sions

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5,19), so daß in ihr der Fürst der Lüge und der Finsternis herrscht. „Ein guter Hirte setzt seine Seele ein “ etc. (Joh 10,11) (12) Weil nicht geleugnet werden kann, daß dieses das größte Zeugnis für ein anderes ewiges Leben ist, wenn jenes als Zeugnis gegeben wird, daß er, um jenes zu erlangen, den freiwilligen Tod wählte, so daß er mit dem Zeugnis seines Blutes den Glauben des Evangeliums oder der guten Verkündigung des Lohnes bekräftigte. Weil er gestorben ist, damit wir lebendig würden und damit wir glaubten, daß er es sei, der vom Himmel herabgestiegen ist (Joh 3,13), um Himmlisches zu verkünden, damit wir durch ihn hinaufsteigen sollten, muß man dieses glauben, ohne das niemand gerettet werden kann und aufgrund dessen wir hoffen das Verkündigte zu erlangen durch unseren König und durch das wir es erreichen. (13) Beachte: Genesis 22 über den Gehorsam Abrahams; wie jener Gehorsam Gott wohlgefällig war; denn er war ein alter Mann und hatte von seiner Frau nur einen Sohn, nach dem er keinen weiteren mehr erwarten konnte. Jenen hieß Gott ihn opfern ohne Grund und aufgrund eigenen Anspruchs etc. Eine Segnung aus dem Gehorsam: wie in jenem Samen alle gesegnet sind (Gen 22,18). Christus hatte den vollendeten Gehorsam, Philipperbrief, Kapitel 2 Hebräerbrief, Kapitel 5, weil dieser „bis zum Tode“ reichte. Viele gehorchen bis hin zu Schlägen, zu Schmähungen, zum Kerker, aber bis zum Tode zu gehorchen ist vollendeter Gehorsam. Ebenso müssen wir dieses in uns wahrnehmen, „was auch in Jesus Christus“ war (Phil 2,5), daß wir nämlich nicht Gott wie den Menschen gehorchen. Denn die Magd muß ihrer Herrin gehorchen, aber mehr Gott; so auch der Knecht seinem Herrn, aber mehr Gott (Apg 4,19). Hieran sieh, daß ebenso, wie Christus im Gehorchen die Haltung eines Menschen annahm, derjenige, der Gott, dem Herrn, gehorchen muß, die Art eines Ochsen im Joch annehmen muß, wie der Prophet sagt: „Geworden bin ich wie ein Ochse im Joch vor dir“ (Ps 73[72],22f.). Was Gott betrifft, so darf ich ihn nicht nach dem Grund seines Gebotes fragen noch nach meinem Denken über sein Gebot urteilen, sondern ich habe zu gehorchen, wie Abraham Gott, der ohne Grund bei der Opferung seines Sohnes gehorchen wollte. Aber der Mensch darf dem Menschen nicht gehorchen wie ein Ochse im Joch, sondern wie ein Mensch, der an erster Stelle Gott untergeben ist und erst an zweiter Stelle dem Menschen. Wenn deshalb ein Mensch etwas befiehlt, was gegen die Gebote Gottes ist, darf man ihm nicht gehorchen etc. Deshalb beachte hier: Gehorche Gott so, wie du mußt. Betrachte, ob du dann, wenn du Gott , wie ein treuer Knecht seinem Herrn und wie die Augen der Knechte und Mägde auf ihren Herrn (Ps 123[122],2) gerichtet sind, ob du dabei deine Augen so auf Gott gerichtet hast etc. Ebenso: Wenn du nicht das Gesetz hältst und nicht gehorchst, dann bist du bereits gerichtet.

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Betrachte, mit welcher Hingabe du hingestreckt betest, daß dir die Strafe des Todes erlassen werde, wenn du ihr verfallen bist; wenn du auf dem Meer in Gefahr bist, wie du entkommen mögest etc. Lerne darum zu bereuen und auf solche Arten zu gehorchen etc. (14) Ebenso bemerke, wie heute dein König milde eingetreten ist und fröhlich empfangen wurde (Mt 21,5). Er zeigt heute, daß er König ist, und er zeigt die Eigenschaften, die zu einem König gehören, nämlich sein Königreich zu besuchen und zu verbessern wie ein König und Richter diejenigen, die nicht recht handeln: Er wirft die Händler aus dem Tempel etc. (Joh 2,14ff.) Du magst hieran die Betrachtung anschließen, von welcher Art ein solcher Richter in Gerechtigkeit sein wird, wenn er nicht milde kommt, sondern schrecklich zum schrecklichen Gericht, wo er untersuchen wird, ob der „Tempel Gottes, der ihr seid“ (1 Kor 3,16), rein bewahrt ist, wie das Haus Gottes eines der Hingabe und des Gebetes oder Gespräches des Menschen mit Gott und Gottes mit dem Menschen sein muß (Mt 21,13). In dir nämlich spricht Gott und du zu ihm, wenn du in dich selbst hineingehst. Denn er selbst ist das Zentrum der Seele und das „Reich der Himmel ist in euch“ etc. (Lk 17,21) (15) Wenn er sieht, daß du ein Münzwechsler bist und in dir eine kaufende und verkaufende Seele empfangen hat, dann wird er dich von sich und in die äußerste Finsternis stützen (Mt 22,13). Denn er will, daß in deinem Tempel nur eine einzige und seine königliche Münze gefunden wird, die sein Bild und seine Inschrift (Mt 22,20) trägt. Er fordert nämlich von dir eine schreckliche Rechenschaft: daß du ihm zeigst die eine, dir gegebene Münze mit seiner Inschrift, wobei er von dir sagt: Weil du dem Namen nach ein Mensch bist, zeige mir dieses Bild unversehrt und nicht verfälscht, nämlich so, daß du ein Mensch bist und nicht daneben noch andere und bestialische und falsche Münzen hast! Denn die Inschrift sagt, daß du ein Mensch seist; aber ein Mensch ist ein denkendes Lebewesen3 etc. Sieh, wie beschmutzt das Bild der Münze ist, weil das Denken vermischt ist und durch Tauschaktionen mit kaufenden und verkaufenden Münzwechslern die Seite gewechselt hat; das Bild erscheint nicht mehr himmlisch, sondern irdisch etc. So auch von den Königen, Bischöfen, Kanonikern etc. Ebenso fordert er von dir, , ob du ein Christenmensch seist, daß du die Münze herzeigst, wenn du ein Christenmensch bist; wenn du ein Religiose bist, zeige deine Münze etc. Wenn du ein Benediktiner bist, zeige etc. etc. Auch gibt es kaufende und verkaufende Münzwechsler, die ihre Zuneigung auf verschiedene Liebschaften richten. Aber Gott will keine andere Seele als eine reine und geeinte. „Eine ist meine Taube, vollkommen“ etc. 6. Kapitel des Hohenliedes (Hld 6,8). Die Liebe Gottes zieht wie ein Magneteisen, aber wenn du

3

Vgl. Alkmaion: Frg. 1a: ζῶον λόγον ἔχον.

Predigt LI: Sprechet, Töchter Sions

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kein reines Eisen bist etc. 4. Kapitel des Briefes an die Epheser: „Seid eifrig bedacht, die Einheit des Geistes im Bande des Friedens zu bewahren.“ (Eph 4,3) Es ist die Liebe, welche das Leben und die Einheit mit Gott und dem, was Gottes ist, bewahrt, nämlich dem Nächsten, wie das Faß, daß der Wein nicht überfließt, und der Lohn der Mühen etc.

Predigt LII Cum clamore magno et lacrimis offerens exauditus est pro sua reverentia Mit lautem Schreien und Tränen bittend ist er aufgrund seiner Ehrerweisung erhört worden Zeit: Ort: Fest: Zählung Koch: Edition: Deutsch:

26. März 1445 Koblenz Karfreitag 43 h XVII/3, 237-239 –

ZUSAMMENFASSUNG Gott ist Fleisch geworden, um die Menschen zur wahren Erkenntnis seiner Lehre zu führen (n.1-3). So kann der Mensch wissen, daß er einen unsterblichen Geist hat, der ihm im Akt seiner Erschaffung geschenkt wurde und nicht, wie Platon behauptet hat, schon immer existiert hat. Ohne die Fleischwerdung Jesu wäre der Geist zu schwach, um den Weg zur Rettung zu finden. Erst der menschgewordene Christus brachte die nötige Stärkung (n.4-6).

LITERATUR Albert Dahm: Die Soteriologie des Nikolaus von Kues. Ihre Entwicklung von seinen frühen Predigten bis zum Jahr 1445 (BGPhThMA N.F. 48), Münster 1997, 251-266, bes. 257-260.

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Predigt LII Mit lautem Schreien und Tränen bittend ist er aufgrund seiner Ehrerweisung erhört worden (1) „Mit lautem Schreien und Tränen bittend ist er aufgrund seiner Ehrerweisung erhört worden“. Hebräerbrief, 5. Kapitel (Hebr 5,7). „Wenn ihr deswegen heute seine Stimme hört, dann verschließet nicht eure Herzen“ (Ps 95[94],8). (2) Ich finde die Liebe als Grund für den Tod Christi. Denn „so hat Gott die Welt geliebt“ etc. (Joh 3,16) „Herabgestiegen ist er vom Himmel“ (Joh 3,13), damit er uns in den Himmel hinaufsteigen läßt. Dieses ist aber geschehen in bester und übereinstimmendster Ordnung. Denn weil der Mensch weder sich noch Gott kannte, hat er sich als Mensch nicht seinem Ziele zugeneigt, das er ja nicht kannte, und er hat auch die Erbschaft des Lebens nicht erwartet, sondern wanderte in der Dunkelheit des Nichtwissens. Es kam das Wort, das erleuchtet (Joh 1,9), vom Himmel und nahm Fleischesgestalt an, daß es in Ähnlichkeit mit dem Fleische uns Menschen erleuchten, das Verborgene erschließen und das unsterbliche Königreich des Geistes verkünden könnte. (3) Alles folglich, was nach einem Rabbi und Lehrer, Herrn oder Meister, der vorschreiben und ausrichten will, auszusehen scheint, hat er zu dem Zweck angenommen, daß seine Lehre begriffen werde. Seine einfachen Schüler, die nicht durch die Autorität einer anderen fremden Lehre gefangen waren, unterwies er auf schlichte Weise und lehrte in aller Öffentlichkeit, des Menschen Anfang sei auch sein Vermögen. (4) Seine Lehre war diese, daß der Mensch von Gott stammt, von dem er einen unsterblichen Geist hat, der nicht aus dieser vergänglichen Welt herrührt, sondern aus der geistigen Welt, wo das Reich Gottes ist und das selige und ewige Leben, und daß dieser Geist das Vermögen hat, zu Gott zurückzukehren, von dem er durch die Schöpfung seinen Ausgang genommen habe, wenn er dem Leben dieser Welt jenes geistige Leben vorzieht. Aber nicht aus eigener Kraft, weil der Geist des Menschen niemals im rein geistigen Leben war, weil er nicht existierte, bevor er in einem irdischen Körper war. Denn falsch schaute Platon, daß die Seelen existierten, bevor der Mensch existiert.1 Die irdische Wohnung, welche den Geist beschwert, wäre ihm andernfalls nicht natürlich; deshalb wäre sie ihm eine Qual und höllisch. Deshalb wird unser Geist, aus Gott durch die Schöpfung ins Sein übergehend, im Körper

1

Neben den in h XVII, p.238 genannten Stellen vgl. Platon: Phaidon, 72e und Phaidros, 247c.

Predigt LII: Mit lautem Schreien und Tränen bittend

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geschaffen, damit er durch Übung, zu der er vermittels des Körpers aufgerufen ist, sich lebendige Flügel erwirbt, um ins geistige Reich aufzusteigen; diese Flügel sind Intellekt und Affekt. Zweitens lehrte er, daß dazu, daß unser Geist ins Königreich geführt werden könnte, weil er, wenn er auch Flügel des Verlangens danach hätte, dennoch zu schwach wäre, wenn Gott nicht den Geist des Menschen mit dem göttlichen Leben geeint hätte, damit so durch den Herabstieg des unendlichen Lebens zum Geist des Menschen jeder Geist des Menschen durch Teilhabe an jenem gestärkt wäre. wie wenn jener Gelähmte an jenem Schafsteich schon den Glauben hätte, daß er geheilt zu werden und von seiner Lahmheit zu genesen, also von dem vergänglichen und bejammernswerten Leben in ein reines hinübergebracht zu werden vermöchte (Joh 5,1-15). Daran glaubte er; aus Glaube entstand Hoffnung und dann Liebe zu diesem Leben. Aber er vermochte nicht, sich in das Wasser der Rettung, wo der himmlische Geist war, zu begeben, weil er ein Gelähmter war. Solange er folglich keinen Menschen hatte, der ihn trug, blieb er gelähmt. Ein ähnliches Gleichnis liegt auch in dem auf dem Wege Verwundeten, der durch den Samariter nach Jerusalem geführt und geheilt wurde (Lk 10,30-35). Deswegen war dieses Christi Verkündigung, daß er nämlich in das Reich des Lebens einzugehen vermöchte, aber nur durch ihn, weil er selbst es ist, in dem alle Ausbesserung von Fehlern liegt, „der Weg“ (Joh 14,6), „das Tor“ (Joh 10,7), die Speise des Lebens (Joh 6,51) etc., von der die Propheten kündeten etc. (6) Aber die Finsternis hat diese Lehre nicht begriffen, weil wie der Knabe, der auf einer Insel ausgesetzt war, das Denken nicht aufzusteigen vermochte, um an seinen Ursprung zu gelangen. Und die Menschen wollten lieber sich als ihm Glauben schenken etc. Deswegen hat er überlegt, sie dahin zu führen, daß sie ihm aufgrund der gezeigten Wunder glaubten (Joh 2,23; 10,37f.). Schließlich bekräftigte er durch seinen Tod die Wahrheit etc.

Predigt LIII Paradigma filiae adoptivae explanatur Das Beispiel der Adoptivtochter wird erläutert Zeit: Ort: Fest: Zählung Koch: Edition: Deutsch:

26. April 1445 Koblenz Karfreitag 44 h XVII/3, 240-248 –

ZUSAMMENFASSUNG Cusanus leitet diese Predigt mit einer ausführlichen Erzählung ein: Die Adoptivtochter eines Königs wurde von einem Betrüger auf eine einsame Insel verschleppt und dort großgezogen, schließlich hielt sie ihn für ihren Vater. Der König ließ sie durch seinen Sohn suchen. Er fand sie auch, aber sie weigerte sich zunächst, die Wahrheit über ihren richtigen Vater zu glauben und mit dem Sohn die Insel zu verlassen. Der Betrüger wollte die Tochter nicht hergeben. Darauf entspann sich ein Kampf zwischen beiden, der mit dem Tod des Sohnes und des Betrügers endete; das Mädchen erkannte nun die Wahrheit und blieb voller Trauer und in Liebe zum Sohn: Auf ihre Bitte hin erweckte der König den Sohn wieder zum Leben, aber der Sohn blieb beim König, die Tochter schmückte sich daher als seine Braut und schickt ihm die jungfräuliche Frucht ihres Leibes, bis sie dereinst wieder mit ihm vereint sein wird (n.1-9). Diese Erzählung ist ein Bild für Christus und seine Braut, die Kirche: Jesus war dem Vater gehorsam, er liebt seine Braut und ist ihr treu. Seine Braut, die Kirche, weiß um seine Treue, sie schmückt sich für ihn und bleibt mit ihm im Sakrament verbunden (n.10-15).

LITERATUR Albert Dahm: Die Soteriologie des Nikolaus von Kues. Ihre Entwicklung von seinen frühen Predigten bis zum Jahr 1445 (BGPhThMA N.F. 48), Münster 1997, 251-266, bes. 260-266.

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Predigt LIII Das Beispiel der Adoptivtochter wird erläutert (1) Damit die einfachen Zuhörer zu einem klareren Verständnis an die Hand genommen sind, wird ein Beispiel vorausgeschickt. Es hatte ein König eine Adoptivtochter, die durch einen Betrüger auf eine Insel entführt war und dort als Verschleppte lebte. Weil jener Betrüger sie viele Jahre lang in seinen Gebräuchen aufzog, faßte sie eine gewisse Liebe zu ihm. (2) Es ließ sie der König durch seinen eingeborenen Sohn suchen. Als dieser sie in der kummervollen Einsamkeit fand, eröffnete er ihr ihren Ursprung und ihre Adoption zur Tochter des höchsten Königs und ihr Miterbesein und daß er geschickt sei vom Vater, sie zurückzuholen. Und als sie vieles wissen wollte über die Wahrheit dessen, was er gesagt hatte, und der Sohn antwortete, vermochte er sie nicht leicht davon zu überzeugen, daß sie einen anderen Vater für besser halten sollte und daß sie selbst eine Königin von jenem würde, wie er sie auch nicht zu überzeugen vermochte, daß sie selbst von einem Vater und einer Mutter auf natürlichem Wege geboren und neun Monate im Mutterleibe gewesen sei etc. Denn es schien ihr, daß das Denken dieses nicht einsehen könnte, und deswegen wollte sie es nicht glauben. Deshalb wies sie alles lange als Lüge zurück. Aber mit Hilfe vieler Wunder und Zeichen begann er ihren Glauben ein wenig zu erwecken; doch der Betrüger riet ihr, so sehr er es vermochte, daß sie nicht glauben sollte. (3) Sie selbst hörte dennoch dem Sohne zu, sah ihn, wie er so liebenswert war, und glaubte ihm. Und weil sie erfuhr, daß der Sohn sie so brennend liebte, liebte auch sie ihn sehr. Aber nachdem sie gewahr geworden war, daß sie aufgrund des Ortes ihres Aufenthaltes und ihrer Gemeinschaft mit dem Betrüger so viele Makel auf sich gezogen hatte und daß der Sohn des Königs um dieselben wußte, da wünschte sie geliebt zu werden und geriet in Furcht, sie könne niemals geliebt werden. Es schmerzte sie, und sie ließ nicht ab, zu klagen und zu jammern. Obgleich der Sohn ihr Trost zusprach, versetzte sie dennoch, sie vermöchte nicht zu verstehen, daß er sie lieben könnte, weil sie doch so schändlich und krank geworden sei. (4) Der Sohn wollte aber nicht, daß sie sich so peinigte, und besann sich darum, wie er sie trösten könnte. Und keine andere Möglichkeit fand er, als daß er ihre Fehler selbst annehme. Er nahm folglich des jungen Mädchens Fehler an, damit sie selbst Mut schöpfe aus dieser Ähnlichkeit und so getröstet wäre. Er ordnete aber an, daß er sie gemäß dem Gebot seines Vaters ins Königreich zurückführe. Als er sie über das Wasser fuhr, ihr das Reich des Vaters und den Weg dahin zeigte, folgte ihnen der Betrüger, daß er sie hielte. Es gab deshalb eine große Schlacht am Gestade des Wassers, wo ein Weg ins Königreich begann. Es wappnete sich der Königssohn mit seinen Waffen und nahm den Kampf mit dem Betrüger auf, damit er das junge Mädchen zum

Predigt LIII: Das Beispiel der Adoptivtochter wird erläutert

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Vater gehen ließe. Und wie sie kämpften, da unterwarf der Königssohn den Betrüger und band ihn unlöslich mit eisernen Ketten. Aber als er gebunden wurde, verletzte der Betrüger, schon unterlegen, den Sohn, der bald, nachdem er den Betrüger gebunden und in den Feuersee gestürzt hatte, auch starb. Als das junge Mädchen sah, daß der Königssohn um ihretwillen gestorben war, war es ihr vollkommen klar, daß alles wahr war, was durch den Tod bewiesen war. Sie blieb dort voller Trauer. Am Ort seines Todes errichtete sie ein kleines Haus und hängte seine Waffen dort auf, um ihren Bräutigam niemals aus der Erinnerung zu verlieren, der sie doch bis zum Tode geliebt hatte etc. (7) Als sie deshalb ganz aus ihrem Innern heraus so zu Gott klagte, sprach sie: Es hat mir mein Bräutigam, der nicht zu lügen vermochte, gesagt, daß du, König, jener wärest, der ihn geschickt hat, und sein Vater, so daß er keinen anderen Vater hat als dich, Gott, und gemäß seiner Ähnlichkeit mit meiner Natur eine Jungfrau als Mutter. Wenn also du, der du Gott bist, diesen Sohn ohne einen männlichen Samen von einer Jungfrau hast lassen geboren werden können und für mich sterben, dann mache, daß er um meinetwillen lebt, weil er mich vergeblich aus der Einsamkeit herausgeführt hat, wenn ich seiner nicht genießen darf etc. (8) Und so ist der Sohn vom Vater wieder auferweckt worden; ihm blieb bis heute seine Braut treu, im Gedenken an seine Treue bis zum Tode. Genährt wird nämlich ihre Liebe durch die Speise der Erinnerung an den Tod, und sie wird unverdorben und keusch in dieser höchsten Treue bewahrt. Wenngleich der Sohn lebt, so ist er aber doch beim Vater. Wie er selbst von seinem Vater und einer Jungfrau herstammt, so zeugt auch er selbst mit seiner jungfräulichen Braut, die er liebt, Miterben durch den Geist seiner Liebe, die seine Braut zu ihm hat, wie er selbst vom Vater, der in den Himmeln ist, durch den Geist der Liebe des Vaters in dieser Welt von einer Jungfrau geboren ist. (9) Seine Braut schickt ihm aber alle Tage die Frucht ihres Leibes und Miterben, in denen sie selbst nach und nach ins Königreich aufsteigt. Sie schmückt sie gemäß den Waffen ihres Bräutigams und in Ähnlichkeit mit ihm, damit sie dem Vater willkommen sind und in das Reich des Sieges eintreten, die Waffen und Zeichen des Siegers und des Schutzes hintragend. Deshalb wird den Sterbenden dieses Zeichen vor Augen gestellt etc. Exodus 12: „Mit Blut bestrichen werden beide Pfosten“ etc. (Ex 12,7) Dieses geschieht, bis die Zahl der Erwählten erfüllt ist. Diese Zahl ist es, wie die Körperteile der Braut, in denen der Geist des Bräutigams ist, so daß sie nicht Braut und Bräutigam sind – damit die Glieder der Braut so auch die Glieder des Bräutigams seien, damit vermittels der Braut, die des Bräutigams ist, auch diese Glieder des Bräutigams sind. Das ist das Gleichnis Christi und der Kirche, seiner Braut. (10) Anhand dieses Beispiels, demütige Seele, die du Braut Christi bist, mußt du gewahr werden, wie dein Bräutigam, Gott und Mensch, vom Vater in diese Welt geschickt, dazu da ist, daß er dir die Wahrheit deines Ursprungs eröffne, dich dazu führe, daß du erkennst, daß du in der Hand des Betrügers

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

bist, daß er dir den Glauben eröffne und die Sehnsucht entflamme, in das Reich des Lebens zu gelangen, zu dem dich der König des Lebens an Kindes statt annahm, und , wie zu dem Ziele, daß du erkennest, daß dein Vater in den Himmeln dich liebt. Er selbst hat seinen eingeborenen Sohn dir als Bräutigam gegeben und, damit er dein Bräutigam sein könne und du ihn lieben könntest, wollte er, daß sein Sohn von einer Jungfrau geboren und ganz und gar herrlich sei. Er überließ es demselben Sohne, daß er dich aufs zärtlichste liebte und durch die Liebe dahin brächte, daß du, indem du ihm folgst, zum Vater gelangtest. (11) Es kam der Sohn, dem Vater in allem gehorchend, und unterwies dich in der Wahrheit: Er eröffnete, wozu du an Kindes statt angenommen seiest; und weil du dieses nur schwerlich glauben wolltest, machte er sich selbst zu deinem Arzt und liebevollsten Diener, damit du ihn zu lieben begännest und aufgrund seiner wunderbaren Pflege glaubtest. Und es geschah, daß er dich nur mit Mühe überredete zu lernen, daß er dich liebt. Als du aber sahest, daß er dich liebte, zweifeltest du, ob er es nur vortäuschte, weil du dich aufgrund deiner Gemeinschaft mit dem Kuppler als schändlich, einäugig und schwach betrachtetest etc. Deshalb hat er, um dich seiner Liebe sicher zu machen, zu deiner Tröstung dieselben Schwächen sich erwählt. Weil die Liebe schon festgezurrt zu sein begann, wollte der Sohn dem Vater gehorsam sein und dich am Strick der Liebe (Hos 11,4) in seine Nachfolge ziehen gemäß dem Wort: „Ziehe mich hin zu dir! Zu dir werden wir laufen!“ (Hld 1,4) (12) Er führte dich deshalb zum Bad der Taufe, durch die du aus der inselhaften Verstrickung dieser Welt heraustratest. Aber der Betrüger folgte dir; er ist der böse Geist, der überaus neidische; er hielt dich, daß du deinem Bräutigam nicht folgen konntest. Damit deshalb der Sohn dem Vater gehorsam wäre und in beispielhafter Tat erwies, daß alles wahr sei, was er verkündete, ging er den Kampf mit dem Betrüger an, obwohl er doch wußte, daß er von ihm als dem Fürsten dieser Welt, dem Lügner, vieles bis hin zum Kreuzestod erleiden würde. Er siegte, indem er starb und für dich „mit lautem Schreien und Tränen bat“ (Hebr 5,7). Diese Stimme ist im Himmel gehört worden. 12. Kapitel der Apokalypse: „Ich hörte eine laute Stimme“ etc. „Nun ist das Heil angebrochen“ (Offb 12,10). (13) Verhärte darum heute, Christenseele, wenn du seine Stimme hörst, dein Herz nicht! (Ps 95[94],8) Für dich nämlich ruft er und wird erhört aufgrund seiner Ehrerweisung (Hebr 5,7). Betrachte aufmerksam, wie er um deinetwillen in den Kampf zog, wie er aufs treueste und beständigste kämpfte, wie er, indem er siegte, gestorben ist. Betrachte, wer jener Bräutigam ist; denn er ist der herrlichste, weiseste, tugendhafteste, edelste etc. , wie der Jahrestag seines Todes zu feiern ist. Betrachte, wie unablässig das Gedenken an seinen Tod in deinem Herzen bewahrt werden muß, weil du keinen anderen solchen Bräutigam finden wirst. Siehe, wie die keuschen Frauen über ihre tugendhaften Bräutigame weinen und wie sie dieselben unkeusch nach dem Weinen ganz leicht vergessen etc.

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(14) Erwecke dich, daß du mitleidest, wenn du hörst, dein Herr, der Bräutigam, leide. Welche Magd ist nicht dazu getrieben, wenn sie ihren edlen Herrn leiden sieht, in ähnlicher Weise zu leiden? Etc. Betrachte, daß, wenn Christus, der um deinetwillen geschickt ist, nur zum Vater zurückkehren konnte, wenn er litt, wie es am Ende des Lukasevangeliums steht (Lk 24,26), deswegen auch du leiden mußt, damit du das Haus oder Königreich, in dem du nicht geboren bist, betreten kannst. Welche scheue Zurückhaltung empfindet man, daß der Herr aus dem Kriege heimkommt, von tödlichen Wunden durchbohrt, und ein unverletzter gemeiner Soldat mit ihm mitregieren will! Als er dies betrachtete – im dritten Kapitel des Briefes an die Philipper (Phil 3,10), wollte Paulus eine Leidensgemeinschaft mit Christus haben etc.: „Wenn wir mitleiden, werden wir auch mitregieren.“ (15) Zerfleischen muß folglich der „Soldat Christi“ (Röm 8,13; Kol 3,5) sein Fleisch, und hierdurch die Ertötung der Begierden des Fleisches etc. Denn wenn du gesund sein willst, der du schwach bist und von dieser Welt, dann mußt du das faulende Fleisch abschneiden etc. Ein Räuber leidet es nämlich lieber, daß ihm eine Hand abgeschnitten wird, als daß er das Leben verliert. Leidensfähigkeit muß demnach der Christ in allem Unbill haben: Diese Fähigkeit muß durch das Brot des Gedächtnisses an die Leidensfähigkeit Christi genährt werden, in Bedrängnissen, in Armut, in Verachtung etc.

Predigt LIV Remittuntur ei peccata multa Ihr werden viele Sünden vergeben Zeit: Ort: Fest: Zählung Koch: Edition: Deutsch:

22. Juli 1445 Koblenz ? Fest der hl. Maria Magdalena 51 h XVII/3, 249-265 –

ZUSAMMENFASSUNG Maria Magdalena war eine Sünderin, trotzdem wurde sie von Jesus geliebt und angenommen (n.1-2). Diese Liebe drückt sich auch in der Gerechtigkeit Gottes gegenüber allen Menschen aus, die besonders der Barmherzigkeit verpflichtet ist. Deshalb ist die Nächstenliebe das höchste Gebot, da die Liebe zum Geringsten die Liebe zu Christus ist (n.3-4) und alle Menschen Anteil an der Wahrheit Christi haben (n.5). Wie das Beispiel der Maria Magdalena zeigt, darf die Mildtätigkeit aber nicht aus pharisäischem Hochmut erfolgen, sondern sie muß aus einer tiefen persönlichen Demut stammen (n.6-9), denn Jesus selbst hat durch seine Fleischwerdung das größte Vorbild der Barmherzigkeit gegeben, was die Pharisäer nicht begriffen haben (n.10-11). Im Gleichnis des Geldverleihers und der beiden Schuldner zeigt Jesus, daß es nicht auf die Größe, sondern auf die Vergebung der Schuld ankommt und Maria Magdalena ihre Sünden vergeben werden, da sie in Demut bittet, während der Pharisäer voll Hochmut herabblickt (n.12-16). Die Macht Jesu, alle Sünden zu vergeben, ist nicht nur ein Aufweis seiner Gottheit, sondern auch Anlaß zu Glauben und Hoffnung der Christen (n.17-19). Die Sünde ist das freiwillige und bewußte Handeln gegen die Gebote Gottes, die durch das Licht der Einsicht und durch die Lehren Jesu allen bekannt sind (n.20-25). Somit ist die Sünde auch ein intellektuelles Vergehen, eine bewußte Entscheidung gegen die Liebe Gottes und eine Unterwerfung unter den Geist der Finsternis. Die Todsünde trennt die Seele für immer von Gott, die läßliche nur auf Zeit; es gibt aber auch Sünden aus geistiger Verwirrung, die am leichtesten verziehen werden (n.26-29).

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Predigt LIV Ihr werden viele Sünden vergeben (1) „Ihr werden viele Sünden vergeben, weil sie viel geliebt hat“ (Lk 7,47). Daß Maria Magdalena eine Sünderin war und viele Sünden begangen hat und daß sie viel geliebt und deshalb in der Vergebung der Sünden größte Gnade erlangt hat, das zeigen die vorher genannten Worte Christi. Auf welche Weise die Liebe, die „eine Menge Sünden zudeckt“ (1 Petr 4,8), das bewirkt, daß eine Seele, die mit dem Geist der Finsternis erfüllt war, voll des Heiligen Geistes und so aus dieser Welt in das Reich der Glückseligkeit versetzt wird, das können wir heute am Beispiel der Maria Magdalena sehen. Denn sie ist Maria, die in der Stadt lebende Sünderin, verachtet von dem Pharisäer, voll mit allen möglichen Vergehen und mit sieben bösartigen Geistern, wie Markus sagt (Mk 16,9), die heute zur Umarmung des Bräutigams, des menschgewordenen Wortes, emporgehoben wird gemäß jenem Wort Ezechiels (Ez 16,6): „Ich sah dich in deinem Blut zappeln und ich sagte zu dir, als du blutverschmiert dalagst: Lebe“, und wenig später: „Ich breitete meinen Mantel über dich und bedeckte deine Schande“ (Ez 16,8), „ich habe dich in Wasser gebadet und dein Blut von dir abgewaschen und dich mit Öl gesalbt und dich in bunte Gewänder gehüllt“ (Ez 16,9f.) etc. Damit ich imstande bin, in würdiger Weise darüber etwas zu unserem Heil Nützliches vorzutragen, wollen wir beten. (2) Erstens über das Evangelium und gemäß dem Thema. Danach wollen wir über drei Dinge sprechen, nämlich über die Sünde, über die Ursache der Vergebung und über deren Wirkung. (3) „Ein gewisser Pharisäer bat Jesus, er möge mit ihm speisen“ (Lk 7,35). Das bewirkte die göttliche Vorsehung, daß der, der gekommen war, um die Sünder zu retten, gebeten wurde, mit einem Pharisäer zu speisen, damit er auf solche Weise angemessener retten konnte. Denn er, der das Wort des Lebens, die Speise, das Brot und die Erquickung des Lebens ist, erduldete es, daß er, als ob er ein der Erquickung Bedürftiger wäre, von einem Kranken, der sich wie ein Gesunder und Reicher gab, gebeten wurde, daß er so rette. Christus bietet sich täglich in der Person des Bedürftigen dar, um den Ernährenden zu nähren. Wunderbar ist diese Lehre Christi. Damit ich Nahrung für meinen Menschengeist erlange, muß ich einen anderen Menschen nähren. „Was du willst, daß es dir geschehe, das tue einem anderen an.“ (Mt 7,12)1 Wenn dir einer von Rechts wegen etwas schulden würde, der nicht in der Lage ist, seine Verpflichtung zu erfüllen, dann werden wir von dem Vergeltung erlangen, der die Gerechtigkeit selbst ist, nämlich von Gott, der alles Gute vergilt, so daß nichts Gutes unbelohnt bleibt. Es vergilt also die Gerechtigkeit nicht

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Vgl. auch Predigt XXIII, n.25 (dort weitere Stellen) und Predigt LI, n.8.

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weniger als geschuldet, da sie Gerechtigkeit ist, und sie schaut nicht darauf, was ich tue, sondern vielmehr auf den Affekt, damit sie vergeltende Gerechtigkeit sei entsprechend ihrer herausragenden Stellung, mit der zusammenfällt die Freigebigkeit, die Güte und die über Gebühr praktizierte Barmherzigkeit, indem sie nämlich das Hundertfache einlöst, für das Vergängliche das Unvergängliche, für Blei Gold, für die zeitliche Erquickung das ewige Leben. (4) Wir Menschen sind alle Brüder in dem einen Menschen Christus, welcher der Menschensohn ist und das Band der Einigung unserer menschlichen Natur mit der göttlichen, der Schöpferin aller Dinge. Christus hat nämlich jeden Unterschied der Entfernung weggenommen, so daß in ihm der Barbar und der Skythe nicht verschieden sind, sondern Brüder. Wenn ich also dem Bruder in Christus Barmherzigkeit erweise, erlange ich in Christus, der die Fülle der Gnade ist, nach seiner großen Barmherzigkeit Vergeltung; das nämlich, was der Nächste nicht zurückgeben kann, obwohl er dazu verpflichtet ist, wird jener zurückgeben, in dem der Nächste mächtig ist, nämlich Christus, in dem der Bruder in Christus mächtig ist, da in Christus seine Menschheit, welche die Menschheit Christi selbst ist, voll jeder Gnade und aller Reichtümer ist. Denn meine Menschheit ist in Christus meinem Ursprung, nämlich dem Wort, durch das ich geschaffen bin, geeint. So auch die jedes Menschen. Daher geschieht das, was einem der Geringsten geschieht, Christus selbst (Mt 25), da die Menschheit jedes Menschen, sei er groß oder gering, in Christus seinem Ursprung geeint ist. Ein jeder also vergilt in Christus nicht wie in einem anderen, sondern wie in seiner mit dem Ursprung des Lebens geeinten Menschheit. Und so gibt die mit dem Leben geeinte Menschheit das göttliche Leben zurück, wenn ich sie mir im Menschen zur Schuldnerin gemacht habe. Es ist eine Rückgabe, des Lebens nämlich, wenn die dem Leben in Christus geeinte Menschheit mich Menschen zur Teilhabe aufnimmt, daß so ich Mensch in meiner Menschheit, die in Christus Jesus ist, die Teilhabe am göttlichen Leben erlange, das der Menschheit in Christus geeint ist, so wie ich darin, daß ich dieser Mensch bin, aufgrund der Teilhabe an der Menschheit das menschliche Leben erlangt habe. (5) Jenes habe ich durch die Einschränkung und Bestimmung der Art der Menschheit erlangt, daß ich durch die solcherweise eingeschränkte Menschheit, die in ihrem Abstieg und Abfall von ihrer vollen Wahrheit und Vollkommenheit in vielerlei Mängel verstrickt ist, dieser so geartete Mensch bin, daß die Menschheit in eingeschränkter Weise in diesem Individuum Bestand hat, wo sie partizipiert wird, wenn auch die Menschheit selbst in sich nicht teilbar oder einschränkbar ist, wie sie eine in ihrer Art von allem losgelöste Wesenheit darstellt. Aber die Menschheit in Christus hat nicht auf diese eingeschränkte Weise Bestand, sondern bleibt in ihrer höchsten Höhe, wie er selbst sagt (Joh 10,29): „Was mir der Vater gegeben hat, ist größer als alles“, so daß er „allein der

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Höchste“ (Ps 83[82],19)2 ist gemäß der Natur seiner Menschheit, die nicht von der Wahrheit abfällt, sondern ihr anhaftet. Es haftet nämlich die reinste Menschheit der Wahrheit ihres Wesens an, welches das Wort Gottes ist, durch das alles geworden ist (Joh 1,3). Wenn daher auch alle Menschen durch Teilhabe an der Menschheit Menschen sind, so wird dennoch die Menschheit selbst in keinem Menschen auf dieselbe Weise partizipiert wie in dem anderen: im einen klarer, im anderen dunkler, allein in Christus, wie sie in Wahrheit ist, in allen sonst mit dem Abfall von der Wahrheit der Reinheit und der Vollkommenheit. Wir erreichen also das dunkle und auf vielfältige Weise mangelhafte menschliche Leben, weil wir teilhaben an der Menschheit in ihrem Abfall von der Wahrheit. Aber weil die Menschheit Christi in der Wahrheit ihres Wesens dem Wort des Lebens geeint ist, kann sie sich jenem Menschen, wo sie dunkel und mit vielen Mängeln partizipiert wird, in dem höheren Grad der Wahrheit des Wesens und Lebens des Wortes, in dem sie ihren Bestand hat, mitteilbar machen oder mitteilen, damit auf diese Weise wir mangelhafte Menschen dadurch, daß Christus sich für uns mitteilbar macht, das göttliche Leben erlangen, wie ein unwissender Schüler die Vollkommenheit erreicht, wenn er durch Teilhabe an der Lehre des Meisters selbst wie der Meister sein wird (Lk 6,40). So gibt es eine gewisse gemeinsame und spezifische Natur des Lehrers und des Schülers, die, weil sie im Lehrer die vollkommene Meisterschaft erlangt, im Schüler aber eine unvollkommene, als vollkommene vervollkommnet und den Unvollkommenen durch Teilhabe an ihr zu sich ruft. So wendet das vollkommene göttliche Leben durch Ernähren zu sich selbst hin, und die Nahrung ist die Teilhabe. (6) Kehren wir zum Text des Evangeliums zurück und überlegen wir, wie jene bewundernswerte inkarnierte Weisheit das so eingerichtet hat, daß sie von einem Pharisäer gebeten wurde, in dessen Haus zu kommen und mit ihm zu speisen, aber so, daß die Handlung, die nach Gottes Vorsehung durch eine Sünderin geschehen sollte, nicht durch das „anständige“ Verhalten des Pharisäers verhindert werden konnte. Es war nämlich der Dünkel und Stolz der Pharisäer, daß sie, als ob sie die Guten wären, nicht mit den Sündern verkehrten; und derart war ihre Überzeugung, daß die Guten durch die Bösen beschmutzt werden, daß dies auch im gegenwärtigen Tagesevangelium und an vielen anderen Stellen zutage tritt. Um daher diesen bösen Geist des Stolzes von den Pharisäern wegzunehmen, duldete es Jesus, daß er gebeten wurde, damit er, nachdem er so gebeten ins Haus eintrat und sich setzte, nicht aus Anstandsgründen die Sünderin zurückweisen konnte, die mit der Gabe der Salbe eintrat. (7) Es sagt aber der Text: „Und siehe da, als eine Frau, eine in der Stadt lebende Sünderin, erfuhr, daß Jesus sich im Hause des Pharisäers zu Tisch gelegt hatte, brachte sie ein Alabastergefäß mit Salbe.“ Diese Sünderin scheint in jener Stadt wegen der Offenkundigkeit ihrer Sünden bei allen so bekannt gewesen zu sein, daß sie ohne einen anderen Eigennamen einfach die Sünderin hieß. Wer

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Vgl. das Gloria der Messe: „Tu solus altissimus.“

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sie aber war, das offenbart das gegenwärtige Fest der Kirche, die sie mit Maria Magdalena identifiziert, wenn sie bestimmt, daß dieses Evangelium heute gelesen wird; oder wir erkennen wenigstens daraus, daß Maria Magdalena, von der Christus sieben Dämonen ausgetrieben hat, wie der Evangelist Markus am Ende sagt (Mk 16,9), die Sünderin war, die sich so zum Herrn hingewendet hat. Diese Sünderin wachte und beobachtete mit großer Sorgfalt, wohin der Erlöser ging, den sie mit brennendem Verlangen suchte. Schon hatte sie das Alabastergefäß mit einer Salbe, die ohne Zweifel sehr kostbar war und womit man die Großen und Hervorragenden zu salben pflegte, zubereitet. Durch diese den Vornehmen so angenehme Gabe wollte sie den Richter der Lebenden und Toten, den Messias selbst, den König der Könige der Erde versöhnen. Und weil das, was die Sünderin sich zu tun vorgenommen hatte, nur geschehen konnte, wenn Jesus saß, deshalb brachte sie das Alabastergefäß herbei, als sie erfahren hatte, daß er sich im Hause des Pharisäers zu Tisch gelegt hätte. Sie achtete nicht darauf, daß sie bemerkt oder zurückgewiesen werden konnte, sie schaute allein darauf, ob sie Jesus sitzend antreffen konnte, um die Werke der Liebe zu erfüllen. „Die Liebe hat alle Furcht vertrieben“ (1 Joh 4,18) und hat nicht zugelassen, daß sie ein Auge vom Geliebten abwendete, um auf ihre übelbeleumundete weibliche Verfassung und auf den in offenkundiger Besorgnis harten Pharisäer zu achten, daß auf diese Weise Furcht oder Scham sie zurückhielte. Weil sie nun also die in einem kühlen, duftenden Alabastergefäß verwahrte Salbe beigebracht hatte, trat sie unerschrocken ein. Es bewirkte nämlich die äußerste Notwendigkeit eines Arztes, wo alles Erröten aufhört, daß sie, obwohl nicht geladen, zu den Tischgenossen hinzutrat, weil sie wußte, daß dort der Arzt saß und daß jede Verzögerung eine tödliche Gefahr darstellte. Sie war nämlich trunken von Liebe (Hld 2,5) und irrsinnig vor Schmerz, so daß sie sich nicht mehr an die alten Gepflogenheiten erinnerte. (8) „Sie stand rückwärts zu seinen Füßen und begann, seine Füße mit ihren Tränen zu benetzen. Sie trocknete seine Füße mit ihren Haaren und küßte sie und salbte sie mit Öl.“ Die Scham ließ sie rückwärts stehen, weil sie ihre Sünden erkannte und sich für unwürdig erachtete, ihr Gesicht seinem Gesicht zu präsentieren. Aber während sie sich als Sünderin erkannte und zurückstand, richtete sie ihr Gesicht auf die Füße des Erlösers und wandte sich in Demut den Füßen zu, um durch ihre Tränen zu zeigen, daß sie schuldig ist, und durch das Benetzen seiner Füße mit Tränen, daß sie gekommen ist, um den Richter gnädig zu stimmen. Sie, die einst die Dienerin des Fürsten dieser Welt war, hat angeboten, Dienerin des Königs zu sein, dessen Reich nicht von dieser Welt ist. Sie hat alles, was sie hatte, für seinen Dienst dargeboten: die Seele, die sie vergoß im Regen der Tränen, den ganzen Leib, als sie den Augen gebot, die Quelle der Tränen zu öffnen, um zu benetzen, als sie mit ihren Händen die Füße des Herrn wusch, als sie ihn mit ihren Haaren trocknete, als sie ihn mit ihrem Kuß küßte, als ihr ganzer Körper sich krümmte und anlegte, um dies gut zu bewerkstelligen, als sie alle Glieder und Werke aus dem Reich der Finsternis in das Reich des Lichtes

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versetzte, als sie auch in den äußerlichen Gütern durch die Salbe zu gefallen suchte, um so alles, was früher vom Ziel und vom Heil abgelenkt war, auf das Ziel und das Leben hinzuordnen. (9) Oh, mit welchem Glauben hat diese Frau den Erlöser gesucht! Mit welcher Liebe hat sie so viele Tränen vergossen, so oft die Füße getrocknet und mit so vielen liebevollen Küssen die Füße berührt! Mit welch kostbarster Salbung des anhaftenden, eindringenden und angenehm erfrischenden Öles hat sie, was sie konnte, unauslöschlich geprägt und gefestigt! Ich glaube, daß die Evangelisten nicht ohne das größte Geheimnis auf verschiedenartige Weise diese Übung der zurückkehrenden sündigen Seele beschreiben. Denn Matthäus, Markus und Lukas (Mt 26,8; Mk 14,3; Lk 7,4-9) sagen, das sei geschehen im Hause des Simon, den Lukas Pharisäer, die anderen aber einen Aussätzigen nennen; Johannes aber sagt, im Hause der Martha und eben der Maria, ihrer Schwester (Joh 12,2f.), sei es geschehen. Matthäus und Markus sprechen von dem über dem Haupt des Erlösers ausgegossenen Öl, wobei sie das Benetzen mit Tränen und das Abtrocknen mit den Haaren verschweigen; Johannes wiederum spricht vom Abtrocknen der Füße mit den Haaren, läßt aber das Benetzen mit Tränen weg. (10) Diese Verschiedenheit kam auf Gottes Wink hin vielleicht darum zustande, daß niemand glaube, der Weg der zurückkehrenden Seele sei auf eine einzige sinnliche Art und Weise beschränkt, sondern daß er vielmehr glaube, es sei nur notwendig, daß jede Seele durch die sich ergießende Salbung Christus berühre, worin die Evangelisten bezüglich der Salbung übereinstimmen, und den so Gesalbten in sich begrabe, wie Christus sagt, daß das Begräbnis die Ursache der Salbung sei. Dort nämlich ruht Christus und schläft in Frieden, wo er als Gesalbter bestattet wird, mag nun jene Salbung von den Füßen Christi aufwärts erfolgt sein oder vom Haupt Christi abwärts. Denn der Geist, der Christus als den Sohn Gottes bekennt, sei es in der Ordnung, daß die Menschheit nach oben der Gottheit geeint wird durch ihre höchste Erhebung, oder sei es in der Ordnung, daß das Wort Fleisch geworden ist durch seine barmherzige, herabsteigende Erniedrigung, dieser Geist salbt Christus mit seiner sich ausgießenden Salbung als den König der Himmel, den er in sich verbirgt wie einen Schatz, der in ihm ruht, in dessen Kraft er das Ziel der Sehnsüchte erreicht. Solche Salbung ist es, mit der das Gesalbtwerden vom Heiligen zusammenfällt, wie es im kanonischen Johannesbrief heißt (1 Joh 2,20): „Ihr habt die Salbung vom Heiligen und kennt alles“, wo davon die Rede ist. (11) „Als aber der Pharisäer, der ihn eingeladen hatte, das sah, dachte er bei sich: Wenn er wirklich ein Prophet wäre, müßte er wissen, wer und was das für eine Frau ist, die ihn berührt; er wüsste, daß sie eine Sünderin ist.“ (Lk 7,39) Die in der Stadt weilende Sünderin wurde deswegen eingeführt, damit es dem Pharisäer nicht verborgen bleibe, daß sie eine Sünderin sei. Der Pharisäer, der Jesus bat, was dasselbe ist wie der ihn einlud, sagte daher bei sich, natürlich nicht mit dem Munde, sondern im Geist, indem er argumentierte: Christus sei nicht der alles wissende Prophet, wenn ihm die Situation der Frau, von der die

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Stadt wußte, verborgen geblieben sei, wie wenn Christus, obwohl Fremder, durch die Gabe der Prophetie das wissen mußte, was den Bewohnern des Ortes aufgrund der gewohnheitsmäßigen Erfahrung bekannt war. Daher sagt er: „Wenn er wirklich ein Prophet wäre, müßte er wissen, wer und was das für eine Frau ist, die ihn berührt, daß sie nämlich eine Sünderin ist.“ Und er folgert bei sich: „Das aber weiß er nicht, weil er nicht zulassen würde, daß sie ihm die Füße salbt, wenn er wüßte, daß sie eine Sünderin ist.“ Aber Christus, der alles wußte, weist den nicht richtig argumentierenden Pharisäer mit Hilfe eines Gleichnisses zurecht und sagt: „Simon, ich habe dir etwas zu sagen.“ Jener aber erwidert: „Meister, sprich!“ Er, Jesus, nennt Simon mit seinem Eigennamen, damit er aufmerksamer ist, weil er ja zu ihm seiner Belehrung wegen spricht. Deshalb wird er von Simon auch Meister gerufen, als ob er ihn wie einen Meister zu hören hoffe. (12) „Ein Geldverleiher hatte zwei Schuldner. Der eine schuldete ihm fünfhundert Denare, der andere fünfzig. Als sie ihre Schulden nicht bezahlen konnten, erließ er sie beiden. Wer wird ihn nun mehr lieben?“ Um vom Pharisäer einen schlechten Begriff wegzunehmen, führt er das Gleichnis von zwei Schuldnern an, das heißt, von mehreren, daß die Rede im Plural nicht auf zwei, sondern auf beliebig viele andere Schuldner bezogen ist. Jene aber wurden gehalten, nicht nur die ihnen geborgte Grundsumme zurückzuerstatten, weil der, der geliehen hatte, ein Wucherer war und über das entliehene Kapital hinaus Zinsen einfordern wollte. Wie der Schöpfer, der uns vernunftbegabten Geschöpfen das Leben nach der Vernunft gegeben hat, nicht damit es in uns ohne Frucht träge dahin fließt und so zu ihm, dem Herrn aller Dinge, gleichsam als unfruchtbare Leihgabe zurückkehrt, sondern damit es aus sich heraus die Frucht des vernünftigen Lebens hervorbringt und so zum Schöpfer wie zu einem Wucherer zurückkehrt, der nur zufrieden ist, wenn über die Verwaltung seines Gutes Rechenschaft abgelegt ist, wie Christus uns durch das Gleichnis von den Talenten und vom Vergraben des einen (Mt 25,14-30) und von dem zu beseitigenden unfruchtbaren Baum (Lk 13,6-9) belehrt. Als von beiden Rechenschaft über ihre Geschäftsführung gefordert wurde und jeder in größerem Maße Schulden hatte, der eine fünfhundert, der andere fünfzig, das heißt, der eine viel, der andere zehnfach weniger, und als beide nichts hatten, was sie zurückgeben konnten, da schenkte er beiden die Schuld. Weil derjenige, der schenkte, nicht zum Schenken gezwungen war – er war ja ein Geldverleiher –, so schenkte er also aus freiem Willen. Wenn der Geldverleiher aber gewillt war, in gleicher Weise den großen und den kleinen Betrag zu schenken, dann kam das aus der ungleichen Liebe der Schuldner. Denn wenn der zu mehr Verpflichtete3 nicht mehr geliebt hätte als der zu weniger Verpflich-

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Die Übersetzung folgt hier dem Text der Handschriften, nicht der Konjektur der Editoren.

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tete, sondern in gleichem Maße, dann hätte keine Ursache bestanden, bei den Schuldnern dem mehr Verpflichteten mehr zu erlassen. (13) „Simon antwortete: Ich nehme an, der, dem er mehr geschenkt hat. Jener aber sagte: Du hast recht geurteilt.“ Christus nimmt aus dieser Antwort Simons den Vordersatz für die Schlußfolgerung, dem Simon zu sagen, daß er, Christus, durchaus nicht in Unkenntnis über die Situation der Frau sei. Aber er begann ihm zu zeigen, wie die Liebe eine Menge Sünden zudeckt, die Liebe, die jene erwiesenermaßen hat, und daß deshalb ihre Situation ihn nicht davon abhalten durfte, ihr Barmherzigkeit zu erweisen. (14) „Dann wandte er sich der Frau zu und sagte zu Simon: Siehst du diese Frau? Ich kam in dein Haus und du hast mir kein Wasser für meine Füße gegeben. Diese aber hat meine Füße mit Tränen benetzt und mit ihren Haaren getrocknet. Du hast mir keinen Kuß gegeben; diese aber hat, seit ich eingetreten bin, – andere Bücher haben richtiger: seit sie eingetreten ist –, nicht aufgehört, meine Füße zu küssen. Du hast mein Haupt nicht mit Öl gesalbt; diese aber hat mit Salbe meine Füße gesalbt.“ Drei Dinge zählt Christus auf, die Gästen nach der Gewohnheit des Ortes und der Zeit erwiesen werden sollten und die Christus vom Pharisäer nicht erwiesen wurden, wohl aber von der Frau, und das nicht gewohnheitsmäßig, sondern auf ausgezeichnete Weise und mit großer Liebe. So war es üblich, die Füße zu waschen, aber nur mit gewöhnlichem Wasser, nicht mit dem Wasser, das durch die Bächlein der Augen aus dem Zusammendrücken des Geistes, der im Herzen wohnt, ausgepreßt wurde. Der Kuß von Mund zu Mund wurde angeboten, nicht das Küssen der Füße, und nicht mit beständiger Wiederholung; aber die Frau hörte nicht auf, fortzufahren. Mit Öl wurde das Haupt gesalbt; aber die Frau hat die kostbaren Salben an den Füßen angewandt. Wie sehr also wurde dieser Gast im Haus des Herzens der Frau aufgenommen, dem so viele Zeichen der Verehrung und der Liebe entgegengebracht wurden. (15) Jene Frau also, die sich als Schuldnerin erkannte, hat sich aus dem Innersten heraus zur Sühne dargeboten, die sie nicht leisten konnte. So große Zeichen der Liebe hat sie in dem fremden Haus gesetzt und so den Mangel des Gastgebers durch eine so große Glut des Geistes ersetzt. Also werden ihr nach deinem Urteil, Simon, „viele Sünden vergeben, weil sie viel geliebt hat“. Denn nachdem in der Ausführung des Werkes sich zeigt, wozu die Liebe fähig ist, und nachdem bekannt ist, daß sie das Letzte ihrer Möglichkeit ausschöpfte, wie kann dann noch etwas da sein, in dem sie schuldig bliebe, der nichts übrig geblieben ist, das sie noch darbringen könnte? Die große Liebe also, durch die in Wahrheit ihr Herz entflammt wird, wie die Zeichen des Weinens, der Küsse und der Salbe beweisen, bewirkt, daß nach demselben Maß durch den Nachlaß des Richters die Vergehen ausgebrannt werden, so daß ihr viele Vergehen erlassen werden, die viel geliebt hat, so wie bei dem, dem weniger nachgelassen wird, das ein Zeichen ist, daß er weniger liebt. (16) Nachdem er so aus dem Herzen des Pharisäers das schlechte und irrige Urteil entfernt hat, damit so derjenige, der das wahre Brot ist, denjenigen im Geist

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speist, der ihn zu einer körperlichen Erquickung eingeladen hat, wandte er sich an die Frau und sagte: „Deine Sünden sind dir vergeben“, damit so jene weinende Frau sich darüber freue, daß sie das mit so glühendem Geist gesuchte Heil nach so vielen fortgesetzten Küssen, die vom Beginn ihres Kommens das ganze Essen hindurch in überreichem Maße andauerten, gefunden und jene Stärkung des Geistes erreicht habe, die sie so sehr unter den Tischgenossen suchte. (17) „Da begannen die anderen Gäste unter sich zu sagen: Wer ist der, der sogar Sünden nachläßt?“ Das ist die Ursache, warum das alles nach Ort, Zeit und Anwesenheit der Gäste im Voraus bestimmt worden war, daß diese nämlich aufgrund der Bewunderung so bedeutender Dinge, wie sie in der Rechtfertigung eines Sünders liegen, zum Staunen gebracht wurden und über Christus nachdachten, nicht wie über einen Menschen, sondern wie über den, der Sünden vergibt, was nicht Sache eines reinen Menschen, sondern des Schöpfers ist. Denn der, welcher der Schöpfer ist, ist auch der, welcher rechtfertigt. Wie nämlich die Erhebung aus dem Nichts zum Sein Allmacht erfordert, so ist auch für die Versetzung des Sünders in den Stand der Rechtfertigung keine geringere Kraft notwendig. Allein die unendliche Güte kann das bewirken; das liegt nicht in der Fähigkeit einer endlichen Kraft. Denn wie wird ein Toter sich selbst zum Leben erwecken, wenn die Kraft des Lebens in ihm geschwunden ist? So wird auch die Bosheit sich nicht zur Gerechtigkeit aufrichten, da ja die Gerechtigkeit selbst im Gottlosen völlig ausgelöscht ist. Es ist also Sache desselben, das zu bewirken, dessen Sache es ist, etwas aus dem Nichts und aus dem Tod zum Leben zu bringen. So haben die Gäste die Nahrung des Geistes erlangt, daß sie Christus begreifen als den, der Sünden vergibt, rechtfertigt, wiederherstellt und rettet gemäß dem Leben des Geistes. (18) Damit sie darauf achteten, wie in dieser Rechtfertigung das geistliche Mühen des zu Rettenden um Gehorsam, das im Glauben besteht, hinzutreten müsse, sagte Jesus zur Frau: „Dein Glaube hat dich gerettet. Gehe hin in Frieden!“, um so diese, indem sie darüber staunten, durch die Nahrung der Lehre zu stärken, daß nämlich nur der Gläubige das Heil erlangen kann und daß jener Glaube in eins fällt mit dem Erlöser, so daß das, was des Glaubens ist, des Erlösers ist. Denn als Christus sagte: „Deine Sünden sind dir vergeben“, war er es, der vergeben hat, wie die anderen Gäste richtig erkannten. Jetzt aber sagt er, daß ihr Glaube sie gerettet habe. Es war also der Glaube, der sie gerettet hat, Christus selbst, der die Sünden vergeben hat. Christus rettet also nicht, wenn man nicht glaubt, daß er der Retter ist. Der Glaube, der zu Christus als dem Retter hinzutritt, bewirkt, daß Christus rettet und daß so die Rettung Sache Christi und des Glaubens ist, nicht als ob das zwei Prinzipien wären, so daß der Glaube das eine und Christus ein anderes wäre, sondern vielmehr durch den Ineinsfall beider Prinzipien, so daß Christus der Glaube ist, der rettet. Denn der Geist, der den Glauben an Christus hat, geht in die Einheit mit Christus über, so daß der Akt der Rettung nicht auf Christus als einen vom Geist des Geretteten Getrennten zurückgeht und auch

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

nicht auf den Glauben als eine Kraft, die nicht Christus ist, sondern auf den Akt eines einzigen, der Christus der Retter und der Glaube des Geretteten ist. (19) Derjenige, der so die Rettung erlangt, weil er selbst durch den Glauben in Christus und Christus durch die Rettung in ihm ist, wird von Christus aufgefordert, in Frieden zu gehen. Denn er ist schon an das Ende des Weges gelangt, in dem die Ruhe ist, so daß er es nicht weiter nötig hat, zu wandern, um den Frieden zu suchen (Ps 34[33],15), sondern im gefundenen Frieden ist, wie der unwissende Schüler, der lange einen Lehrer sucht und ihn schließlich findet, zufrieden ist, weil er den, den er gesucht, gefunden hat. Freilich ist er damit dem Lehrer noch nicht ähnlich. Darum wandelt er, auch wenn er den Lehrer gefunden hat, im Frieden, nämlich indem er voranschreitet. Das möge über das Evangelium genügen etc. (20) Über die Sünde. Zum Verständnis dessen, was gemeinhin über die Sünde gesagt wird, verweise ich auf die Lehre des heiligen Johannes in seinem kanonischen Brief, der im dritten Kapitel (1 Joh 3,19-22) sagt: „Daran erkennen wir, daß wir aus der Wahrheit sind, und in seiner Gegenwart ermuntern wir unsere Herzen. Denn wenn unser Herz uns tadelt, – Gott ist größer als unser Herz und weiß alles. Geliebteste, wenn das Herz uns aber nicht tadelt, haben wir Zutrauen zu Gott. Was auch immer wir erbitten, werden wir empfangen, weil wir seine Gebote halten und das tun, was vor ihm wohlgefällig ist.“ Darüber sagt Christus im Johannesevangelium, Kapitel 3 (Joh 3,20f.): „Wer böse handelt, haßt das Licht [...], damit seine Taten nicht aufgedeckt werden. Wer aber die Wahrheit tut, kommt zum Licht, damit seine Werke offenbar werden, weil sie in Gott getan sind.“ Und in diesem Sinne sagt Christus im neunten Kapitel des Johannesevangeliums zu den Pharisäern (Joh 9,41): „Wenn ihr blind wäret, hättet ihr keine Sünde.“ Daraus wird klar, wie unser Geist aus der Wahrheit ist, deren Licht er in sich trägt. Johannes, Kapitel 1: „Das Licht leuchtet in der Finsternis“ (Joh 1,5). „Er war das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet, der in diese Welt kommt“ (Joh 1,9). Das löste bei dem Propheten David große Freude aus, und er sagte: „Gezeichnet ist über uns das Licht deines Angesichts, Herr. Du hast Freude in mein Herz gegeben.“ (Ps 4,7f.) (21) Die Intelligenz, die in uns ist, wird in höchster Sehnsucht zur Wahrheit hingezogen als zu ihrem Leben und ihrem Urbild; da sie deren Abbild ist, hat sie in sich ein gewisses Urteilsvermögen, um zu wissen, was die Werke des Lichtes sind. Jenes ewige Gesetz, das so in uns leuchtet, zeigt den unsterblichen Geist der Intelligenz, wie er das Gesetz der Wahrheit ist, die unvergänglich ist. In uns haben wir also den erkennenden Geist, der aus der Wahrheit ist, der uns belehrt, wenn wir etwas Tadelnswertes gegen jenes ewige Gesetz getan haben; denn unser Herz, das heißt, das einsichthafte Herz, tadelt uns. Aber da Gott größer ist als unser einsichthaftes Herz, weil er der Quell des Lichtes der Erkenntnis ist, aus dessen Ausfluß unsere Seele das Licht der Erkenntnis erlangt hat, darum kennt Gott alle unsere inneren Geheimnisse.

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(22) In uns also erfahren wir, daß wir bei Gott als tadelnswert beurteilt werden oder aber nicht. Und indem wir das erkennen, überreden, das heißt, untersuchen wir unsere Herzen in seiner Gegenwart. Dort nämlich erfahren wir aufgrund der Zurechtweisung durch unser Herz, daß wir vor Gott tadelnswert sind; „wenn uns aber unser Herz nicht tadelt, haben wir Vertrauen“ (1 Joh 3,21) etc. Da niemand Schmerz empfinden kann, wenn ihn nicht sein Herz tadelt, ist klar, daß die Reue über die Sünde aus dem göttlichen Licht der Erkenntnis entspringt. Wenn uns aber unser Herz nicht tadelt, finden wir nichts, über das wir Schmerz empfinden; wir sehen vielmehr, daß wir nicht in die Finsternis gefallen sind, sondern in der Wahrheit des Lichtes stehen; deshalb „haben wir Vertrauen zu Gott“ etc. Wir urteilen also, wie der heilige Johannes sagt, daß wir dann die Gebote beachten und das tun, was Gott gefällt. Deshalb besteht die Sünde darin, das Gebot des Lichtes zu übertreten und nicht die Gott wohlgefälligen Werke des Lichtes zu tun, weil er das Licht der Wahrheit ohne Finsternis ist. Sünde bedeutet also gegen das Licht der Einsicht zu verstoßen. So lehrt uns Christus im 15. Kapitel des Johannesevangeliums: „Wenn ich nicht gekommen wäre und zu ihnen gesprochen hätte, hätten sie keine Sünde. Jetzt aber haben sie keine Entschuldigung“ (Joh 15,22); denn der völlig Unwissende hat beim Akt der Sünde eine Entschuldigung, weil er nicht gegen das Licht der Einsicht verstößt. (23) Deshalb ist darauf zu achten, daß das Licht der Einsicht, das wir im Ähnlichkeitsbild des göttlichen Lichtes, der Wahrheit selbst, tragen, das Licht der Vernunft, und zwar das natürliche Licht der Vernunft ist, ohne das unsere Vernunft keine vollkommene Vernunft ist. Darüber steht im Brief an die Römer, Kapitel 1 und 2 (Röm 1,18-2,19) sehr schön, wie wir in jenem Licht das sehen, was zum Gesetz gehört, nämlich den Geber des Lebens, und wie wir in Gott den Bruder, nämlich den Nächsten, lieben müssen, wie auch wir geliebt zu werden wünschen. (24) Doch wir sehen in diesem Licht nicht die Kraft des Geistes, die dessen Vereinigung mit der nackten Wahrheit selbst ist, wo das höchste Glück herrscht. Aber Christus, dessen vernünftige Einsicht der göttlichen Wahrheit geeint ist wie der Glanz dem Strahl – wie auch jeder vernünftige Geist auf seine Weise in einer gewissen Distanz wie die Ähnlichkeit oder das Bild dem Urbild, wie die erleuchtete Luft dem Glanz des Strahles, – Christus also ist gekommen und hat uns gelehrt, wie wir die Gottessohnschaft erlangen können. Dieses Licht ist das Licht der Gnade, das unsere Einsicht durch den Glauben an Jesus Christus erlangt. (25) Das göttliche Licht der Einsicht, das sich durch Christus, der gekommen ist, reichlich verströmt hat, ist die Salbung, die uns alles lehrt; man verstößt gegen sie, wenn man Christus nicht glaubt und den Nächsten nicht liebt, wie der heilige Johannes im kanonischen Brief an der vorher zitierten Stelle des dritten Kapitels sagt (1 Joh 3,23): „Das ist sein Gebot“, das heißt, das des ewigen Lichtes, „daß wir an den Namen seines Sohnes Jesus Christus glauben und einander lieben.“

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

(26) Wer also Christus nicht aufnimmt, obwohl er das Licht der Vernunft zu haben scheint, in dem er sieht, daß Gott zu verehren und der Nächste zu lieben ist, der bleibt dennoch im Dunkel der Unwissenheit, weil er nicht das Licht der Gnade empfängt, das den Geist zur Gottessohnschaft trägt. Niemals wird ein solcher, er mag tun, was er will, zur Ruhe des Geistes der Einsicht gelangen können, die in der Erfassung der Wahrheit, wie sie ist, besteht, da in seinem natürlichen Licht jeder menschliche Geist unfähig ist zu einer solchen Schau; diese Unfähigkeit kann nur im inkarnierten Wort behoben werden. Wer also nicht das Glaubenslicht der Gottessohnschaft erlangt hat, in dem bleibt die Sünde, weil er jene höchste Seligkeit, die er weder glaubt noch erhofft, nicht erreichen kann. (27) Nach diesen Ausführungen ist es ganz klar, daß eine Todsünde von uns dann begangen wird, wenn wir die Gebote des Lichtes der Einsicht übertreten. Denn ein solches Licht lehrt uns, die rechte Ordnung zu wahren, die darin besteht, daß das unveränderliche Gut dem veränderlichen, das Ehrenhafte dem Nützlichen, Gottes Wille unserem Willen, die Vernunft der Sinnlichkeit vorgezogen werden soll. Die Verkehrung dieser Ordnung ist, da sie nicht mit dem Licht der Einsicht übereinstimmen kann, die Sünde der Abkehr vom Leben und darum Todsünde. Mag daher auch gesagt werden, die Zustimmung der Vernunft bewirke die Todsünde in der Verkehrung der rechten Ordnung, so ist doch nach dem vorher Gesagten das wohl zu bedenken, daß nämlich von der Vernunft dann, wenn sie unterliegt, gesagt wird, sie stimme zu. Als Vernunft stimmt sie niemals zu; aber die Bewegung des Geistes der Finsternis, der Welt und des Fleisches ist stärker, mag sie, das heißt, die Vernunft auch Einspruch erheben. Weil aber die Einspruch erhebende Vernunft siegen kann, obwohl ihr eine gewisse Gewalt angetan zu werden scheint, deshalb wird ihr dennoch die Gefangenschaft angerechnet. Wenn sie deshalb so in den Dienst des Geistes der Finsternis fällt, wird sie desto strenger zur Verantwortung gezogen, je freier in ihr die Kraft zu widerstehen war, wie die Nachlässigkeit bei einem Prälaten Todsünde ist, wenn er einen Untergebenen von einer schweren Sünde abhalten kann und es nicht tut. (28) Jene Regungen des Geistes der Finsternis werden also Versuchungen genannt, weil sie eher versuchen, als daß sie der Vernunft Gewalt antun, deren Macht über all das hinausgeht, was zu dieser Welt und ihrem Fürsten gehört. Der Versuchung nachzugeben ist schändlich für den, der die Macht hat sie zu besiegen; auf der anderen Seite kann es dem nicht angerechnet werden, der nicht fähig ist zu widerstehen. Deshalb gibt es in den ersten Regungen, die noch nicht durch das Urteil der Vernunft gelenkt werden, keine Übertretung; wo aber die widerstrebende Vernunft es erlaubt, der Sinnlichkeit zuzustimmen, da geht die Ordnung der Gerechtigkeit zu Bruch und es entsteht die Sünde, wie vorher ausgeführt wurde. (29) Manchmal aber kommt es zu einer gewissen Verwirrung in der Ordnung, ohne daß damit eine Verkehrung der Gerechtigkeit verbunden wäre, weil nämlich das veränderliche Gut nicht dem unveränderlichen vorgezogen wird

Predigt LIV: Ihr werden viele Sünden vergeben

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etc.; das ist Sünde, aber eine der Verzeihung würdige Sünde, ohne die der Gebrechlichkeit der Natur wegen kaum jemand sein kann. Die Todsünde macht, ähnlich wie die unheilbare Lepra, die Seele für immer unfähig dazu, Braut Christi zu werden, da die Braut Christi ohne Makel sein muß. Die läßliche Sünde macht die Seele auf Zeit dazu unfähig, bis sie gereinigt wird; deshalb ist sie wie die Krätze, von der es verschiedene Arten gibt: Einige sind schnell zu reinigen, andere sind wie ein Ausschlag, andere sind dem Aussatz ähnlich und schwierig zu heilen.

Predigt LV Maria optimam partem elegit Maria hat den besten Teil gewählt Zeit: Ort: Fest: Zählung Koch: Edition: Deutsch:

15. August 1445 Koblenz Mariä Himmelfahrt 45 und 46 h XVII/3, 266-271 –

ZUSAMMENFASSUNG Maria wird mit Recht die Gottesgebärerin genannt, sie steht daher über allen Heiligen, sie hat alle Apostel und Theologen erleuchtet (n.1-4). Jesus kam zu Martha und Maria, diese wandte sich ihm zu und richtete ihre Seele auf ihn; ihr Geist hat das Beste gewählt (n.5-7). Martha, Maria und Jesus sind Bilder für Verstand, Vernunft und Wahrheit; der Verstand ist bekümmert, weil er nicht die Einsicht der Vernunft erfaßt, die aber nur in einer gänzlichen Hinwendung zur Wahrheit zu erreichen ist (n.8). Jesus ist zudem auch das Leben und der Weg; der Weg, der zum Leben führt und auf dem alle entweder Martha oder Maria folgen müssen (n.9-10). Aber sowohl der aktive als auch der kontemplative Weg müssen der unbedingten Liebe folgen. Die kontemplative Liebe ist jedoch höher zu bewerten, da die Liebe zu Gott ewig, die Liebe in den Werken dagegen vergänglich ist (n.11-13).

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Predigt LV Maria hat den besten Teil gewählt (1) „Maria hat den besten Teil gewählt, der wird nicht von ihr weggenommen werden“ (Lk 10,42); deshalb heißt es heute: „Erhoben ist die heilige Gottesgebärerin über alle Chöre der Engel zu den himmlischen Reichen.“1 Indem ich über die heilige „Theotokos“ zu sprechen mich anschicke, über die niemand in genügender Weise sprechen kann, weil sie die Gottesgebärerin ist, die in ihrem Schoß den umschloß, den der Weltkreis nicht fassen kann, habe ich das aufgegriffen, was die heilige Kirche singt: „Erhoben ist“ etc. Lasset uns beten etc. (2) Drei Dinge werden im Thema berührt, nämlich daß sie „Maria“ ist, das heißt, die Erleuchtete, und dementsprechend Jesus „die Wahrheit“ (Joh 14,6), die eingetreten ist um zu erleuchten; ferner, daß sie „den besten Teil gewählt hat“ (Lk 10,42) und so Jesus als das „Leben“ (Joh 14,6) eingetreten ist; und schließlich, daß dieser Teil „nicht weggenommen werden wird“ (Lk 10,42) und so Jesus als der „Weg“ (Joh 14,6) oder die Form eingetreten ist etc. (3) Das Fest aller Heiligen steht insoweit tiefer als dieses Fest, als keiner so erhoben worden ist über die Chöre der Engel. Sie hat nämlich die gesamten Reichtümer aller Heiligen übertroffen (Spr 31,29); denn „sie hat den besten Teil gewählt, der nicht von ihr weggenommen werden wird“ etc. Da wir zusammengekommen sind, um uns über den allerglücklichsten Hinübergang der seligen Maria zu freuen, die heute in den Himmel aufgenommen wurde, wollen wir zum Evangelium hinabsteigen, damit wir schneller zu dem geführt werden, was die heilige Kirche heute über sie durch das Evangelium eingibt etc. (4) „Jesus trat ein“ etc. (Lk 10,38-42)2 Erstens, was heißt „Jesus“? Zweitens, da er die „Wahrheit“ ist (Joh 14,6), wollen wir das Evangelium so auslegen, daß wir sagen, wie Jesus, der die Wahrheit ist, in das Burgstädtchen der Menschheit eintrat und im Haus oder in der Seele der Martha oder im Verstand aufgenommen wurde, und wie im Haus des Verstandes Maria, die Erleuchtete, zu Füßen der Wahrheit und des Objektes sitzt, um durch das Sitzen klüger zu werden; und wie sie sitzend hört, und Martha oder der Verstand im Sorgen bekümmert ist; und wir wollen vom Wort reden, wie es das „eine Notwendige“ (Lk 10,42) ist, bis zum Ende.

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Römisches Brevier, Antiphon zur ersten Nokturn der Matutin. Das Evangelium vom Fest Mariä Himmelfahrt war Lk 10,38-42: „Factum est autem, dum irent, et ipse intravit in quoddam castellum.“

Predigt LV: Maria hat den besten Teil gewählt

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Nach dieser Auslegung wollen wir sagen, wie Maria, die Gottesgebärerin, über die Chöre aller Engel, das heißt, der intellektuellen Geister, erhoben ist. Denn da das Wort selbst in ihre Seele aufgenommen wurde, hörte sie alle seine Worte und bewahrte sie, so daß sie zur Erleuchterin aller Apostel und heiliger Doktoren, ja selbst der Engel wurde, wie Albertus Magnus3 sagt etc. (5) Zweitens trat Jesus, das heißt das „Leben“ (Joh 14,6), in das Burgstädtchen4 der Menschheit ein, und die Seele empfing Leben vom Leben. Und dieses Leben vollzieht sich, wie das der Martha, in häufiger Geschäftigkeit; so hat der Mensch viele Sorgen und Kummer um das sinnliche Leben. Aber im Haus der Seele selbst, wo das Leben ist, befindet sich Maria, die leer ist für das Leben des Wortes, damit sie von dem einzigen Wort des Lebens lebt etc. Und wie die heilige Gottesgebärerin in der Erlangung des Lebens erhoben ist über die Chöre der Engel. (6) Drittens, wie „Jesus in ein gewisses Burgstädtchen eintrat“ etc. als der „Weg“ (Joh 14,6), nämlich um Ordnung, Maß oder Form zu geben, und als die Liebe. Diese Liebe, die durch den Geist Jesu in unsere Herzen gesät wird, wird in der Seele Marthas so aufgenommen, daß sie Werke der Liebe vollbringt, und in der Seele Marias so, daß sie Werke der Kontemplation tut etc. Aber „Maria ist erhoben“ etc. Denn als Jesus in das Burgstädtchen der Menschheit eintrat, nahm diese ihn wie Martha in ihr Haus auf und wie Maria saß sie etc. (7) „Maria hat den besten Teil gewählt, der nicht von ihr weggenommen werden wird.“ (Lk 10,42) Hier kann man merken, wie das kontemplative Leben hier mit der Wahl beginnt und im künftigen Leben ewig fortgesetzt wird, weil er nicht von ihr weggenommen werden wird. Man kann hier auch darauf hinweisen, daß die Seele, die Maria ist, das Beste wählt, indem sie sich zu dem Einen hinwendet, das notwendig ist, und daß sie durch diese Wahl beständig in der Ewigkeit befestigt wird, wie die Engel, die richtig gewählt haben, durch ihre Wahl gefestigt worden sind. Man muß auch darauf aufmerksam machen, daß wir hier belehrt werden, wie jene Seele, die den besten Teil gewählt hat, in die Unsterblichkeit eintritt, die ihr nicht weggenommen werden wird. Daher ist etwas anderes die Unvergänglichkeit, etwas anderes die Unsterblichkeit. Der Geist, der den besten Teil wählt, wählt die Möglichkeit, im intellektuellen Leben zu leben, in das er versetzt wird, damit er in dem einen Notwendigen ist, das die Notwendigkeit des Lebens selbst ist, weil das Leben nicht nicht sein kann und weil das so vom Geist gewählte Leben nicht weggenommen werden kann. Aber der Geist, der nicht das Beste wählt, sondern das, was am Guten nur teilhat, wird, da dieses so gewählte Gut nicht das „eine Notwendige“ ist, im Guten nach-

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Ps.-Albertus Magnus: Mariale q.29 §2 (ed. Borgnet 37,61b). Zum Burgstädtchen vgl. Meister Eckhart: Predigt 2.

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

lassen und dieses Gut wird von ihm weggenommen werden. Es bleibt jedoch der Geist, von dem es weggenommen wird, unvergänglich bestehen, weil der Text sagt: „Er wird von ihr weggenommen werden“ (Lk 10,42), als ob das Wegnehmen nicht Vernichtung bedeutete, wenn es heißt „von ihr“, als ob sie nach dem Wegnehmen weiter bestehen würde. So ist also etwas anderes die Unsterblichkeit, in der allein Gott, der das „eine Notwendige“ selbst ist, lebt, und etwas anderes die Unvergänglichkeit, die eine Ablösung von der Zeit meint, etc. (8) „Jesus trat ein“ etc. Erstens betrachte, wie Jesus, als er in ein gewisses Burgstädtchen eintrat, von Martha aufgenommen wurde. Das wird so ausgelegt, daß das Eintreten mit dem Aufnehmen in eins fällt. Martha ist der Verstand, Maria die Vernunft,5 Jesus die „Wahrheit“ (Joh 14,6). Wenn die Wahrheit in das Burgstädtchen, das heißt in den vollkommenen Menschen eintritt, wird sie vom Verstand aufgenommen, der sich um sehr viele Dinge kümmert und sorgt; aber die Vernunft sitzt zu Füßen der Wahrheit, weil ihr Objekt die Wahrheit ist, und hört, was die Wahrheit, ihr Herr, in ihr spricht. Der Verstand ist bekümmert, und zwar auch deshalb, weil der Verstand nicht alles erreichen kann. Und er sagt zur Wahrheit, die er bedient, warum er sie alleine bedienen läßt und nicht auch die Vernunft heranzieht etc. Die Wahrheit aber antwortet, daß ihr Sorgen Kummer mit sich bringt, und daß nur eines notwendig ist und daß die Vernunft, welche die Sorge um das Viele abgelegt und das Eine gewählt hat, den besten Teil gewählt hat, der nicht weggenommen werden wird. (9) Jesus ist auch das „Leben“ (Joh 14,6). Wie wird das Evangelium unter diesem Aspekt ausgelegt? Das rationale Leben6 steigt hinab in das Burgstädtchen und wird von der Seele aufgenommen, die den Leib beseelt und besorgt ist etc. und die zugleich sitzt, hört etc. Insofern als die Seele von dem Leben Leben empfängt, durch das sie den Leib belebt, ist sie Martha, die sich viele Sorgen macht, um dem Leben zu dienen. Denn sie ordnet alle Sinne und Mühen auf das Leben hin: Sie sät, kultiviert die Erde, baut, pflanzt etc. Und sie kümmert sich um alles um des Lebens willen. Aber die Seele, die das kontemplative Leben hat, wendet sich zu dem „einen Notwendigen“ hin, weil „der Mensch nicht allein vom Brote lebt, sondern von jedem Wort“ (Dtn 8,3; Mt 4,4) etc.; sie wendet sich zu diesem Wort und trifft die Wahl, dort zu leben; daher ist es ihr Leben und sie trennt sich, sich loslösend, von der Vielheit etc. (10) Schließlich ist Jesus auch der „Weg“ (Joh 14,6). Es tritt also der Weg oder die Ordnung in das Burgstädtchen oder in den Menschen ein und wird auf aktive oder kontemplative Weise aufgenommen. Daher wandeln die Men-

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Die lateinischen Termini sind „ratio“ und „intellectus“. Ratio meint also hier das niedere, diskursive oder operative Erkenntnisvermögen im Unterschied zur schauenden Vernunft. Nikolaus von Kues hält diese terminologische Unterscheidung nicht durch. In Nummer 9 und 11 verwendet er „ratio“ als Übersetzung von „logos“. Gemeint ist der göttliche Logos, vgl. Anm. 4.

Predigt LV: Maria hat den besten Teil gewählt

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schen, die Jesus aufnehmen, entweder auf dem Weg der Martha oder auf dem der Maria. (11) Das Burgstädtchen kann die Kirche bedeuten. Dementsprechend soll das Evangelium vom aktiven und vom kontemplativen Leben ausgelegt werden. Das Evangelium sagt: „Jesus trat ein“ etc. Zuerst wollen wir wissen, was Jesus ist. Er selbst gibt von sich Zeugnis, daß er „der Weg, die Wahrheit und das Leben“ ist (Joh 14,6). Er ist der Weg oder die Art und Weise oder die Ordnung so, daß die Wanderer zur Heimat notwendigerweise durch ihn hinschreiten, weil durch diesen Weg oder diese Tür (Joh 10,7) der Eingang zum Reich eröffnet wird. In die Gestalt der Menschheit trat also Jesus oder die göttliche Vernunft7 ein, damit er dem Menschen Weg der Rückkehr zur Heimat sei. Indem so die Vernunft in den Menschen eintrat, wurde der Weg oder die Ordnung von der Seele aufgenommen, die vernünftig ist und darauf bedacht, entweder wie Martha Werke der Vernunft zu tun oder wie Maria die Vernunft zu betrachten. Auf doppelte Weise also wird der Weg oder die Ordnung im Burgstädtchen der Menschheit aufgenommen, nämlich entweder im Haus oder in dem einen Menschen aktiv oder kontemplativ. Wenn er aktiv aufgenommen wird, dann wird er aufgenommen im Sorgen und Bekümmertsein um vieles; wird er aber kontemplativ aufgenommen, dann wird er aufgenommen durch die Abwendung vom Vielen und die Hinwendung zum „einen Notwendigen“ (Lk 10,42). Da jener, der sich dem Dienst des Sorgens zuwendet, nicht etwas Festes, sondern etwas Verwirrendes und Unruhiges wählt, wird von ihm weggenommen werden, weil er nicht das Beste oder das Bessere gewählt hat, in dem allein die Ruhe besteht. Wer aber die Kontemplation gewählt hat, hat den besten Teil gewählt, der nicht weggenommen werden wird. (12) Die Ordnung also oder der Weg ist die Liebe. „Gott ist die Liebe“ etc. (1 Joh 4,8) Diese Liebe oder Zuneigung steht entweder fest in dem „einen Notwendigen“, dem allein sie dient, oder sie schreitet fort zum Nächsten durch den Aufweis von Werken. In diesem Sinne wird das Evangelium auf die erste Weise ausgelegt, daß nämlich der Weg, welcher die Zuneigung oder die Liebe im eigentlichen Sinn ist, eintrat in die menschliche Gestalt und durch irgendeine Seele, wie etwa durch Martha, in ihr Haus aufgenommen wurde, weil die Seele der Tempel des Herrn ist (1 Kor 3,16) etc.; aufgenommen nämlich wurde die Liebe durch den Erweis ihrer Werke, und durch eine andere Seele wurde sie aufgenommen durch das bewundernde Hinschauen auf die Liebe. (13) Das Evangelium sagt, daß es zwei Schwestern sind, weil Töchter der Liebe. Die Seele, die sich sorgt um die Werke der Liebe, weil sie meint, die Liebe sei so groß, daß man ihr auf solche Weise gehorchen müsse, möchte, daß ihre Schwester auch so sei, weil sie ihrem Urteil nach nicht in der Liebe ist,

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Der lateinische Terminus ist „ratio“ als Übersetzung von „logos“, vgl. Anm. 4.

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

wenn sie bei ihr keine Werke der Liebe sieht. Sie ruft also der Liebe, der sie dient, zu und sagt: „O Liebe, da meine Neigung und Sorge, die Werke der Liebe zu erfüllen, die ich selbst nicht in genügendem Maße ausführen kann, so groß ist, und da meine Schwester auch eine Tochter der Liebe ist und oft und ausdauernd in ihrer Demut dasitzt, um die Gebote der Liebe zu hören, warum befiehlst du ihr nicht, mir zu helfen?“ (Lk 10,40) Und er antwortete etc. Daraus ersehen wir, wie die Liebe, die sich im Tun von Werken zeigt, aufgehoben wird, nicht aber die Liebe, die dem Einen zugewandt ist. Daraus ergibt sich: Die Werke der Liebe vergehen und werden zum Einen aufgelöst. Die Wahl des Einen aber wird nicht weggenommen werden.

Predigt LVI Maria optimam partem elegit Maria hat den besten Teil gewählt Zeit: Ort: Fest: Zählung Koch: Edition: Deutsch:

15. August 1445 Koblenz Mariä Himmelfahrt 47 h XVII/3, 272-273 –

ZUSAMMENFASSUNG Maria ist in den Himmel aufgenommen worden, weil sie den besten Teil gewählt hat (n.1). In jeden einzelnen Menschen ist das Wort Gottes als Abbild gelegt, weshalb alle nach Christus als Weg zum wahren Leben suchen. Deshalb kam er in die Welt, um die Menschen zu belehren (n.2-3). Die Welt freut sich über diese Belehrung. Sie soll sich Maria als die erste Erleuchtete zum Beispiel nehmen, sich mit ihr freuen und ihr nachfolgen (n.4).

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Predigt LVI Maria hat den besten Teil gewählt (1) „Maria hat den besten Teil gewählt; der wird ihr nicht genommen werden“ (Lk 10,42). Da wir hier aus dem Beispiel der Maria Magdalena ersehen, daß die Wahl des Besten in dieser Welt darin besteht, ewig im Besten festzustehen, und da Maria, die Mutter Gottes, ohne Zweifel mehr als alle Frauen dieser Welt „den besten Teil gewählt hat“ (Lk 10,42), deshalb haben wir aufgrund des Evangeliums die Gewißheit, daß sie, die jetzt aufgenommen ist in den Himmel, im Besten feststeht. Deshalb singt die Kirche: „Sie ist erhoben über die Chöre der Engel zu den himmlischen Reichen“1 etc., und in Offb 12,1 heißt es: „Ein großes Zeichen ist am Himmel erschienen“ etc. (2) Das Wort Gottes hat sein Abbild in uns gelegt. Weil es „logos“ oder „ratio“ ist,2 wollte es im rationalen Geist aufleuchten; in ihn hat es die Sehnsucht nach Wahrheit, die Sehnsucht nach Leben und das ewige Gesetz gelegt, durch das er in die Wahrheit und das Leben eintreten kann. Christus ist das Wort, welches „die Wahrheit, das Leben und der Weg“ (Joh 14,6) ist. Wir erstreben aber die Wahrheit; also erstreben wir Christus. Wir erstreben das Leben; das heißt, wir erstreben Christus. Wir suchen, auf welchem Weg wir dahin gelangen; Christus ist der Weg, weil „Gott die Liebe ist“ (1 Joh 4,8.16) etc.; die Liebe ist der Weg zum wahren Leben. Wir alle fühlen, wie das unserem Verstand eingeprägt ist, weil es niemanden gibt, der nicht zur Wahrheit hingezogen wird; es gibt niemanden, der nicht Unsterblichkeit begehrt, und niemanden, der nicht liebt. Aber in dieser Welt wissen wir nicht, was Wahrheit, was Leben, was Weg, Gesetz oder Liebe ist. Deshalb kam Christus in diese Welt, um uns das alles zu zeigen. Sehen wir uns jetzt das Evangelium an. (3) Jesus, unser Meister, kam in diese Welt, um uns zu belehren, wie wir jene Wahrheit, wie jenes Leben, wie jene Liebe wählen müssen, die zu dem „einen Notwendigen“ (Lk 10,42) gehört. Dann nämlich wählen wir den besten Teil, der nicht weggenommen werden wird. Daraus folgt: In jenem „einen Notwendigen“, das so auf beste Weise gewählt ist, werden wir die ewige Ruhe erreichen. (4) Zuerst , wie alles Fleisch sich freuen und Lob hervorbringen soll etc., weil die Mutter und die ganze Menschheit erhöht worden ist.3 Und da muß man beten. 1 2 3

Antiphon I zur ersten Nokturn am Fest Mariä Himmelfahrt. Entgegen der Punktierung der kritischen Edition rechnen wir diesen Nebensatz nicht zum vorangehenden Satz. Es kann auch übersetzt werden: „weil die Mutter und die Menschheit allein erhöht worden ist“.

Predigt LVI: Maria hat den besten Teil gewählt

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Sodann , wie diese Worte aus dem Evangelium genommen sind, und dabei, wie der Sinn des Evangeliums auf diesen Gedanken hinausläuft, und wie in diesen Worten drei Punkte betrachtet werden können: Erstens, wie da, wo von Maria die Rede ist, die „Erleuchtete“ uns in den Worten des Evangeliums als Turm der Stärke (Ps 61[60],4) hingestellt wird zu unserer Belehrung. Zweitens, wie wir durch das Evangelium belehrt werden, daß Maria, die Erleuchtete, den besten Teil gewählt hat. Drittens über die Aufnahme in den Himmel, wo es heißt: Er wird nicht weggenommen werden. Bezüglich des ersten Punktes, der für die Gelehrten bestimmt ist, müssen wir darauf achten, wie das Wort oder der göttliche Verstand etc., wie oben. Bezüglich des zweiten Punktes müssen wir darauf achten, wie Maria gewählt hat, und das auf dieses Evangelium anwenden und ein wenig von der Geschichte hinzufügen. Bezüglich des dritten Punktes, der für die kontemplativen Menschen bestimmt ist, müssen wir den Aufstieg über die Chöre der Engel4 hinzubedenken etc. Zum ersten können wir drei Dinge bedenken, zum zweiten in ähnlicher Weise, zum dritten etc.

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Vgl. Predigt LV, n.1, 3f.

Predigt LVII Sedete, quoadusque induamini virtute ex alto Bleibt sitzen, bis ihr mit Kraft aus der Höhe erfüllt werdet Zeit: Ort: Fest: Zählung Koch: Edition: Deutsch:

5. Juni 1446 Mainz Pfingsten 52 h XVII/4, 275-293 –

ZUSAMMENFASSUNG Das Umherschweifen des Menschen in dieser Welt zielt auf Ruhe und Frieden jenseits der Bewegung und Zeit, da der Geist auf Ewiges und Unsterbliches angelegt ist (n.1-2). Cusanus will untersuchen, was bei der Aussendung des Heiligen Geistes geschehen ist und auf welche Weise. In den folgenden Tagen bedenkt er, was die „Kraft aus der Höhe” ist und wie wir mit ihr erfüllt werden (n.3). Mit Christus sollten die Jünger aufstehen (Joh 14,31), um seine Liebe kennenzulernen (n.4) und im Geist zu wandeln (n.5). Durch Christus sind sie im Vater und ein Geist mit ihm (n.6-7). Dies bewirkt die Liebe (n.8). Die Welt verfolgt diejenigen, die in Christus bleiben (n.9-11). Aus der Begegnung mit dem Auferstandenen erkannten sie, daß der Leib sich dem Geist unterordnet und der menschliche Geist vom göttlichen Geist belebt wird (n.12-13). In wachsender Hingabe beteten sie bis zum Pfingsttag (n.14-15). Lieben und Geliebtwerden fallen in eins wie Erkennen und Erkanntwerden. Wer Gott liebt, wird von ihm erkannt, in dem Lieben und Erkennen eins sind. Durch Christus sollen wir das Glück zu fassen bekommen (n.16-19). Gott kommt auf dem Wege der Offenbarung und Erkenntnis und der Mensch kommt zu Gott, um in ihm zu wohnen. Wer das Wort Christi bewahrt, liebt Gott. Im Lieben kraft der Gnade und im Geliebtwerden liegt die Teilhabe an der vollkommenen Liebe (n.20-23). Kommen und Bleiben fallen in Gott in eins. Er kommt zu uns und wir zu ihm, was im Zusammenfall der Gegensätze dasselbe ist. Die Kraft der Predigt Christi, des Gesandten des Vaters, liegt in der Liebe (n.24-26). Wie der Vater und der Sohn in den gottliebenden Menschen Wohnung nehmen, kann der Mensch nur im Heiligen Geiste verstehen, der als Tröster den Menschen emporführt (n.27-28). Der Vater ist der Liebende, der Sohn das Liebenswerte und der Heilige Geist das Lieben selbst (n.29). Christus schenkt Frieden, der durch nichts zu stören ist. In der Freude Christi, der als Gesandter geringer ist als der Sendende, freut sich auch der Jünger (n.30-32). Christus beruft Einfältige, die den Glauben leichter fassen können (n.33). Wer den Geist Christi hat, ist frei und befiehlt dem Geist dieser Welt (n.34). Zum Empfang des Geistes dienen Reinigung von den Sünden, Fasten und Beten (n.36).

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

LITERATUR Marc Aeilko Aris: Vos Moguntini. Nikolaus von Kues (1401-1464) predigt den Mainzern, in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 50 (1998) 191-217.

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Predigt LVII Bleibt sitzen, bis ihr mit Kraft aus der Höhe erfüllt werdet (1) „Bleibt sitzen, bis ihr mit Kraft aus der Höhe erfüllt werdet“, schreibt Lukas im letzten Kapitel (Lk 24,49). Denn wir können dem Begehren des Geistes nur entsprechen, wenn wir mit Kraft aus der Höhe erfüllt werden. Und wir dürfen unter keinen Umständen anders als im „Geist“ wandeln, da der Lehrer der Völker spricht: „Laßt euch vom Geist leiten“ (Gal 5,16). (2) Denn weil wir in dieser Welt „keine bleibende Stadt haben“ (Hebr 13,14), sondern Umherschweifende sind, so strebt folglich unser Umherschweifen zu irgendetwas anderem hin. Also, wenn jede Bewegung ihr Ende nicht in sich selber hat, sondern in der Ruhe, dann strebt auch die Bewegung unseres Umherschweifens einem Ende in Frieden und Ruhe zu. Und da Friede und Ruhe das Ende von Bewegung sind, so wird jener Friede nicht in der Zeit sein, da die Zeit nicht das Ende von Bewegung ist, sondern mit der Bewegung mitläuft, wie das Maß mit dem Gemessenen. Friede ist also das Ende der Zeit ebenso wie das Ende von Bewegung. Wir streben folglich in unserem Umherschweifen, durch das wir als Menschen, die im vollen Besitz der Vernunft sind, umherschweifen, nach einem beständigen und ewigen Frieden. Zu diesem aber gelangen wir nicht, wenn wir die Straße der Begierde des Fleisches einschlagen, denn das Ende dieser Bewegung ist nur größere Unbeständigkeit und Verderbnis. Daher bleibt uns nur übrig, zumal da in uns eine vernünftige Bewegung ist, auf der Straße der Begierde des Geistes einherzugehen, da unser Geist selbst durch eine ihm innewohnende Begierde auf das Ewige und Unsterbliche zueilt. (3) Und weil uns nun dieses hochheilige Fest der Herabkunft des Heiligen Geistes in die Kirche dazu auffordert, daß wir in der heiligsten Begierde des Geistes, gleichsam in feuriger Glut einhergehen sollen, und daß wir zu diesem Zweck zunächst noch „sitzen bleiben sollen, bis wir mit Kraft aus der Höhe erfüllt werden“, deswegen ist es nützlich, daß wir, um unseren Geist aufzurichten, auf daß er mit Kraft erfüllt werde, uns ins Gedächtnis zurückbringen, was bei der Aussendung des Heiligen Geistes geschehen ist und auf welche Weise es geschehen ist. Zweitens ist es nützlich, soweit es möglich ist, zu untersuchen, was die „Kraft aus der Höhe“ sei. Und drittens, auf welche Weise wir mit dieser erfüllt werden. Das erste behandle ich heute, das zweite am morgigen Tag, das dritte am dritten Tag. Lasset uns beten, daß uns „ein guter und aufrichtiger Geist“ gegeben werde, „der von Neuem in unser Herz einziehe“ (Ps 51[50],12), durch die Vermittlung der ruhmvollen Jungfrau, die wir grüßen wollen. (4) „Bleibt sitzen“.

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Wir wollen die Verhandlung beginnen, indem wir die Erzählung aus dem Evangelium vorausschicken. Als Christus nach dem Mahl seinen Jüngern einiges über das Reich Gottes eröffnete und daß er selbst, Christus, gekommen sei, viele Geheimnisse darüber zu verkündigen, und als er sich, soweit die Fassungskraft der Jünger reichte, offenbarte, wobei er bedachte, daß sie den Geist vor seiner Verherrlichung nicht haben könnten: da veranlaßte er sie – wie man es aus Johannes 14 vernimmt – und sich selbst zur Erwartung des Heiligen Geistes, indem er sagte, daß sie aufgrund der Werke glauben müßten, auf welche Weise er „im Vater“ (Joh 14,10f.20) sei und der Vater in ihm (Joh 14,10f.), weil der Vater, der sich in ihm aufhalte, die Werke wirke und rede, und daß sie darum durch ihn zur Offenbarung des Vaters kämen, und daß er selbst sich ihnen offenbaren werde, wofern sie seine Gebote hielten, denn dann liebten sie ihn und dadurch seien sie aufnahmefähig für den Heiligen Geist, der ihnen auf sein Bitten hin vom Vater gegeben werde, und daß dieser Geist so sein werde, daß die Welt ihn nicht werde fassen können, weil er „der Geist der Wahrheit“ (Joh 16,13) sei, den die Welt weder kenne noch sehe, und daß sie selbst, die Apostel, dadurch, daß sie Glauben und Liebe hätten, ihn erkennen würden, weil er in ihnen bleiben werde, und daß sie dann, wenn sie den Geist erhalten hätten, erkennen würden, auf welche Weise er selbst im Vater und der Vater in ihm sei, weil sie seine Offenbarung begreifen würden. Hierzu sagte Judas, nicht der Judas Ischariot: „Herr, warum ist es so, daß du dich nur uns offenbaren wirst und nicht der Welt? Er antwortete ihm: Wenn jemand mich liebt, wird er an meinem Wort festhalten“ (Joh 14,22f.). „Steht auf, wir wollen weggehen von hier“ (Joh 14,31). (5) Die Bedeutung des Endes des Evangeliums hängt gänzlich von diesen Worten ab: „Steht auf, wir wollen gehen!“ Von ihnen ausgehend muß man folglich überlegen, auf welche Weise Christus den Auftrag des Vaters hatte, sich bis in den Tod gehorsam zu zeigen: Und zwar ist er zu dem Zweck, daß die Bereitschaft seines Geistes offenkundig würde, aufgestanden und hieß die Apostel mit ihm aufstehen, daß sie sowohl mit ihm gingen, als auch seine Liebe kennenlernten. Und am Ende sagte er ihnen vieles, damit sie im Geiste wandelten: auf welche Weise sie in ihm und er in ihnen sei, und daß sie Frucht daraus hervorbrächten, daß sie in ihm seien, wobei er das Beispiel vom Weinstock und der Weinrebe anführte. (6) Und er eröffnete ihnen, auf welche Weise sie durch diese Rede gereinigt waren, damit sie erkannten, daß sie im Geiste in ihn eingehen und in ihm bleiben müßten, weil sie durch den Geist des Wortes gereinigt seien. Denn durch die Rede werden nicht die Ohren gereinigt – sie werden vielmehr verletzt – und auch sonst nichts Körperliches, sondern vom erkenntnisfä-

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higen Geist wird der Schatten der Unwissenheit weggenommen; und so tritt der Geist ins Licht und wird gereinigt. (7) Er meint also: Insofern, als ihr durch die Rede, die ihr gehört habt, zu Reinen gemacht seid, nämlich im Geiste, insofern müßt ihr auch in mir sein, so daß ihr also im Geiste in mir seid, wie auch ich im Vater, in dem ich anders nicht sein kann, weil der Vater Geist ist. Im Geist kann ich ja nicht anders als auf geistige Weise sein. So seid auch ihr notwendigerweise in ihm, in dem ich im Vater bin, nämlich im Geiste, so daß ihr auf geistige Weise in mir seid. Dann werdet ihr viel geistige Frucht bringen, und alles, worum ihr in diesem Geist, der in mir besteht, bittet, werdet ihr erlangen, weil ihr so durch mich im Vater seid, weil ihr durch mich ein Geist (1 Kor 6,17) mit ihm seid. (8) Daß aber euer Geist in meinem Geist ist, kann nur die Liebe bewirken. Es gibt nämlich im Geist so etwas wie eine einende Kraft, durch die er sich zu etwas von ihm Ersehntem hinübertragen kann. Und dies ist die Wanderkraft des Geistes, eine Kraft, durch die er jenseits der Zeit und unvermittelt rein geistig auf das ausgeht, was er begehrt, um im Geliebten Ruhe zu finden. Denn wie der körperliche Stoff durch sein eigenes Gewicht bis zur Ruhelage fällt, so der Geist durch die Liebe, wie Augustinus im 13. Buch der Bekenntnisse sagt.1 (9) Wenn ihr also, spricht Christus, in mir, der ich das Wort Gottes bin, Frieden habt und in keinem anderen, dann seid ihr wahrhaft in mir, ohne Verstellung (Weish 7,13), mit liebevollem Verlangen. Wenn ihr aber derart in mir bleibt, werdet ihr euch um die Welt und ihre gesamten Widrigkeiten nicht kümmern, weil ihr jene Dinge, die der Welt angehören, nicht liebt, da ihr solche seid, die in meinem Geiste ruhen; und so wie die Welt mich verfolgen wird, so auch meinen Geist in euch. Denn die Welt, gegen die ihr in meinem Geiste Zeugnis ablegen werdet, wie auch ich es getan habe, wird euch nicht lieben können, weil sie schlecht ist und auf Bosheit gegründet (1 Joh 5,19). Ihr werdet in diesem Geiste Gegner der Welt sein; und daher wird euch die Welt verfolgen, und der Geist, der Beistand, der in euch kommen wird, wird Zeugnis über mich ablegen. „Und ihr werdet Zeugnis ablegen, die ihr von Beginn an bei mir seid“. Und um dieses Zeugnisses willen „werden sie euch aus den Synagogen ausstoßen“, weil sie glauben damit „Gott einen Dienst zu leisten“, und zwar aus dem Grunde, daß sie weder mich, das heißt das Wort Gottes, kennen noch den Vater (Joh 15,27-16,3). (10) Nach diesem begann Jesus den Grund darzulegen, aus dem er diese Dinge jetzt zum ersten Mal sagte, wobei er hinzufügte, daß er jetzt im Begriff sei, von ihnen wegzugehen und zu ihm zurückzukehren, der ihn gesandt hatte.

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Augustinus: Confessiones XIII, c.9, n.10 (CCSL 27, p.246sq., n.10, 8-17).

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Und als die Jünger deswegen betrübt wurden, fügte er hinzu, daß er ihnen wahrheitsgemäß sage, daß es für sie nützlich sei, daß er ginge. Denn sonst komme der Beistand nicht (Joh 16,7). Nachdem er aber die körperliche und fühlbare Anwesenheit von ihnen genommen habe und durch den Tod und das Leiden aus der Welt zum Vater ginge, von dem her er in die Welt gekommen sei, danach schicke er jenen Geist unter sie, durch den sie gestärkt würden, sowohl die Welt zu überführen, als auch sich in Gott zu befestigen. Und weil sie viele Geheimnisse, die er ihnen noch zu sagen hätte, nicht tragen könnten, weil sie den Geist noch nicht hätten, darum müßten sie jenen Geist mit großer Ungeduld erwarten. Denn weil er ein „Geist der Wahrheit“ sei, so werde er sie alle Wahrheit lehren und ihnen alles, was er selbst hört, sagen (Joh 16,12-15). Denn weil er der Geist des Vaters sei, werde durch ihn der Vater in ihnen reden und das Zukünftige ankündigen und ihn selbst verherrlichen. Dazu sagte er noch: „Denn er wird von dem, was mein ist, empfangen und es euch verkündigen. Alles, was der Vater hat, ist mein“ (Joh 16,14-15). (11) Er stärkte sie aber in der Betrübnis, die alsbald in den Verfolgungen über sie kommen sollte, indem er ihnen sagte, auf welche Weise diese sich ihnen in Freuden verwandeln würde, und daß diese ihre Betrübnis, derentwegen sie jetzt im Begriffe stünden, aus der Welt hinauszugehen, der Betrübnis einer Frau gleiche, die für die Zeit der Geburt Schmerzen aushalte und danach Freude habe, weil ein Mensch in der Welt geboren wurde (Joh 16,20-22), und daß sie auf ihn zurückblicken sollten, der er Sieger über die Welt sei, und dabei darauf vertrauen sollten, daß auch sie Sieger sein würden. Schließlich ließ er eine Rede zur Verherrlichung des Sohnes, der den Vater verherrlicht, sowohl für die Seinen als auch für diejenigen, die noch zum Glauben an ihn kommen würden, dem Munde entströmen und gab den Aposteln den Auftrag, indem er sie so, wie er selbst vom lebendigen Vater ausgesandt worden war, um den Namen des Vaters und das Himmelreich zu offenbaren, in die Welt hinaussandte. Dann gab er sich selbst als Schlachtopfer hin für das Heil aller und starb am Kreuz. (12) Danach erstand er und zeigte durch viele Beweise, daß er lebte (Apg 1,3) auf eine für diejenigen, die zu ihm hintreten wollten, angemessene und förderliche Weise, um so durch verschiedene Erscheinungen die Herzen der Apostel und Jünger für die Aufnahme des Heiligen Geistes geeignet zu machen. Denn sie sahen, wie Lukas sagt, anhand vieler Beweise, daß er lebte (Apg 1,3), und daß dieses Leben nicht in einem sterblichen und einem stofflichen Raum in meßbarer Ausdehnung einnehmenden Körper sei, weil er durch geschlossene Türen zu ihnen einging. So wurden sie dahin geführt, daß sie das unverderbliche Leben des belebenden Geistes erfaßten. Und so wurden sie durch die verschiedenen Erscheinungen dahin geführt, daß sie bereits dazu geneigt waren, das Leben des Geistes in sich aufzunehmen, der die Macht hat, durch sein Leben den dem Verderben ausgelieferten Körper zu beleben und dann den Körper, wenn dieser aus Verderbnis und Tod aufersteht, mit seinem unverderblichen Leben zu erfüllen und zur Teilhabe an ihm so an sich zu ziehen, daß er fein, beweglich, unempfindlich und

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herrlich ist und der geistigen Natur unbeschadet seiner körperlichen Natur teilhaftig werden kann. (13) Hieraus nun sahen sie leicht ein, daß jener Körper dem Geist ganz und gar ergeben ist und jedem Befehl desselben gehorcht, und – wenn nämlich der Geist selbst durch das ihm innewohnende Gewicht der Liebe in den Geist, der Gott ist, hineinsinkt – auf welche Weise dann der Geist, der das absolute Leben ist, so beschaffen ist, daß er jenen Geist mit dem wahren und ewigen Leben in sich belebt, und durch diesen wiederum den Körper, so daß er ein solcher Erbe und Sohn (Röm 8,17; Gal 4,7) sei; und daß derjenige, der jenen sieht, auch den Vater sieht (Joh 14,8). So begannen sie sich denn geistlicher Betrachtung zuzuwenden und die Worte Christi zu verstehen, die sie zuvor nicht aufnehmen konnten. (14) Nachher verstanden sie durch ein anderes Gleichnis, daß Christus das Leben ist, wie es der Weinstock hat, und sie das Leben sind, wie es die Weinrebe hat, und daß sie im erstgeborenen Sohn durch die Liebe das Verhältnis eines Adoptivkindes, das heißt die Teilhabe am Leben des Sohnes Gottes, erlangen konnten. (15) Als sie nun so zur geistlichen Einsicht erhoben waren, wurde Jesus aus ihren Augen in den Himmel aufgenommen, wo er sitzt zur Rechten der Kraft des Vaters (Apg 1,9), damit auch die Anwesenheit des verherrlichten Körpers sie nicht mehr daran hindere, daß sie im Verlangen nach dem Beistand erglühen könnten. Und als er aufgenommen wurde, wies er sie an, daß sie sich nicht aus Jerusalem entfernen, sondern auf die Verheißung des Vaters warten sollten, die sie durch seinen Mund gehört hatten (Apg 1,4), denn er hatte ja gesagt, daß er nach nicht vielen Tagen wiederkommen werde. So waren also die Apostel versammelt und verharrten mit seiner Mutter Maria im Gebet (Apg 1,14), damit so die leidenschaftliche Hingabe bei der Erwartung der ersehnten Gabe vermehrt werde. Vor Liebe ermattend wandten sie sich also zehn Tage hindurch andauernd und beständig zum Gebet, denn sie wußten, daß der himmlische Vater den guten Geist denen gibt, die ihn bitten (Lk 11,13). Als also „der Pfingsttag gekommen war“ (Apg 2,1) etc., wie es in Kapitel 2 der Apostelgeschichte heißt und in der Lesung etc. (16) „Bleibt sitzen, bis“ etc. Erstens ist aus dem Evangelium zu merken, daß uns eine bewundernswerte Unterweisung darüber gegeben wird, wie der Geist der Einsicht über jeden Gegensatz hinwegschreiten soll. Denn wir bekommen gesagt, wie Gott zu lieben und von Gott geliebt zu werden in eins zusammenfallen: „Wenn jemand mich liebt, so wird er vom Vater geliebt werden“ (Joh 14,23), und kurz zuvor: Wer vom Vater geliebt wird, der wird auch vom Sohn geliebt (Joh 14,21). Somit fallen Lieben und Geliebtwerden zusammen.

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Diese Theologie hat Christus an vielen Stellen offenbart: Wie die Tatsache, daß er selbst im Vater ist, auch bedeutet, daß der Vater in ihm ist, und die Tatsache, daß die Jünger in ihm sind, auch bedeutet, daß er in den Jüngern ist. Und im vierten Kapitel des Jakobusbriefes heißt es: „Nähert euch Gott, und er wird sich euch nähern“ (Jak 4,8). Dieser Theologie gibt der Apostel Johannes in seinem kanonischen Brief Ausdruck: „Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm“ (1 Joh 4,16). Denn das bedeutet es, in Gott zu bleiben: daß Gott in demjenigen bleibt, der in ihm bleibt. Dies ist die Theologie von Paulus im vierten Kapitel des Galaterbriefes: „Nun aber, da ihr Gott erkannt habt“, das heißt, „von Gott erkannt worden seid“ (Gal 4,9). Offenbar fällt Erkennen mit Erkanntwerden zusammen. Ebenso sagt er auch anderswo im Korintherbrief (1 Kor 14,38), daß, wer nicht kennt, nicht gekannt wird, womit er sagen will, daß Nicht-Kennen und Nicht-Gekanntwerden auf dasselbe hinauslaufen, ebenso wie Erkennen und Erkanntwerden. Ebenso sagt er im achten Kapitel des Briefes an die Römer: Im Geist zu sein bedeutet, daß der Geist in ihnen wohnt (Röm 8,5.9-11). Wer also im Geist ist, in dem ist der Geist. Wer im Geist wandelt, in dem wandelt der Geist. Wer im Geist lebt, in dem lebt der Geist und nicht das Fleisch, dessen „Begehren sich gegen den Geist richtet“ (Gal 5,17). (17) Und noch eine andere Theologie hat uns Christus kurz zuvor offenbart: daß er sich demjenigen offenbart, der ihn liebt (Joh 14,21); dies spricht auch Paulus an. Diese Theologie muß man beachten, wenn man einen Zweifel beseitigen will. Denn wenn einer, der nicht erkennt, nicht erkannt werden wird und Gott in dieser Welt nicht erkannt werden kann, weil, wie Christus sagt, die Welt ihn nicht sieht (Joh 17,25) und ihn nicht kennt, wie gelangt man dann in den Besitz des Glücks, das heißt des ewigen Lebens, das doch gerade in der Erkenntnis Gottes besteht? Vergleiche Johannes 17.2 Ferner: Christus hat doch gesagt: Fürchte dich nicht, du kleine Herde, denn mein Vater hat beschlossen, euch das Reich zu geben (Lk 12,32). Deswegen sagt der „Lehrer der Völker“ (1 Tim 2,7) im 8. Kapitel des ersten Korintherbriefes: „Wer etliches zu wissen vermeint, hat noch nicht erkannt, wie er erkennen muß. Wer aber Gott liebt, der ist von ihm erkannt“ (1 Kor 8,2f.). Seht, auf welche Weise die Liebe sagt, daß der Glaube dann vollendet sei, wenn man das, was man liebt, auch erkennt! Daher besagt die christliche Theologie, daß „durch Liebe gestalteter Glaube“3 Erkenntnis ist, mit der das Erkanntwerden zusammenfällt. (18) Und diese Theologie führt uns ohne weiteres auf eine andere, nämlich das Zusammenfallen der Eigenschaften in Gott. Denn wenn einer Gott liebt, wird er 2 3

Vgl. Joh 17,3: „in illis“ – das heißt in den Mitgliedern der römischen Gemeinde. Vgl. Predigt XXVIII, n.3 ad lin.24.

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von Gott geliebt, wie es in unserem Evangelium (Joh 14,23) heißt, nämlich: Wenn einer Gott liebt, wird er von Gott erkannt, wie Paulus sagt (1 Kor 8,2f.). Darum sind Lieben und Erkennen in Gott eins. Wer also Gott liebt, erlangt alles Gut; er bekommt von Gott das Leben, den Frieden, die Ehre, und dasselbe gilt für alle Dinge, die Gott zugesprochen werden können, da sie alle in Gott mit der Liebe eins sind. (19) Dies halte ich für die Lehre Christi: daß man lieben soll gemäß dem Vermögen des Geistes, der entsprechend seiner Natur über diese zeitliche, vergängliche Welt hinaus die beständigen und ewigen Dinge lieben kann, das heißt die Wahrheit und die Tugenden. Christus will uns also durch die Liebe zum Leben, soweit wir mit unserer Vernunft daran teilnehmen, dahin bringen, daß wir das Glück zu fassen bekommen und jeden unserer Mängel durch ihn, Christus, ergänzen, damit uns so durch seine Gnade nichts fehle, so sehr wir auch nur eine kleine Herde sind und aus eigener Kraft niemals dazu fähig wären, ohne seine Vermittlung das Ziel der Begierde unseres Geistes zu begreifen. (20) Zweitens ist zu beachten, daß das Evangelium folgendes sagt: „Wenn einer mich liebt, dann wird er mein Wort behalten und mein Vater wird ihn lieben, und wir werden zu ihm kommen“ etc. (Joh 14,23) Es ist offenkundig, daß das „Reich Gottes“ (Lk 10,9) darin besteht, daß Gott zum Menschen kommt und bei ihm seine Wohnung nimmt (Joh 14,23); denn dies bedeutet, daß Gott, der überall anwesend ist, auf dem Wege der Offenbarung und Erkenntnis kommt, und in dieser Erkenntnis liegt ja das freudige und ewige Leben der Vernunft, wie es im 17. Kapitel des Johannesevangeliums heißt (Joh 17,2f.). Und das bedeutet nach der Regel des Zusammenfalls nichts anderes, als daß der Mensch zu Gott kommt und in ihm seine Wohnung nimmt, wie Jesus im selben Kapitel 14 des Johannesevangeliums sagt: Er gehe und bereite ihnen einen Ort, und er werde sie bei sich aufnehmen (Joh 14,3); und in gleicher Weise sagt Christus ein wenig weiter oben über diese Wohnungen: „Im Haus meines Vaters sind viele Wohnungen“ (Joh 14,2). (21) Aber, wie Paulus im vierten Kapitel des ersten Korintherbriefs sagt: „Nicht im Reden erweist sich das Reich Gottes, sondern in der Kraft“ (1 Kor 4,20). Daher wird das Reich nicht wegen der Rede gegeben – eben weil es sich nicht im Reden erweist –, sondern weil es die Kraft der Rede bewahrt. Die Kraft der Rede aber ist der belebende Geist, und die Rede ist der Buchstabe (2 Kor 3,6). Der belebende Geist aber ist Gott, der „der Geist“ (Joh 4,24) und „die Liebe“ (1 Joh 4,16) und „das Leben“ (1 Joh 5,20) ist. Die ganze Rede Christi ist folglich Wort des Lebens, wie Petrus im 6. Kapitel des Johannesevangeliums sagt (Joh 6,68). Deswegen bedeutet die Rede Christi zu bewahren dasselbe, wie Gott zu lieben. Denn die Rede Christi, die bewahrt werden soll, handelt von nichts anderem als dem, was man bewahren muß, um von Gott geliebt zu werden.

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Liebe bringt also Gegenliebe mit sich, so daß es einen Zusammenfall von Lieben und Geliebtwerden gibt. Die ganze Rede Christi, mag sie nun die Form einer Belehrung oder die eines Gebotes haben, ist darum in ihrer Kraft Liebe. (22) O welch bewundernswürdige Lehre, daß wir nur durch Liebe Gott dem Vater dienen sollen! Und diesen Dienst hat der Lehrer uns, obwohl wir uns vom Vater abgewandt hatten, ermöglicht, weil er uns ansah, wie sehr es uns aus eigener Kraft unmöglich ist; in sich selbst hat er ihn uns gnädigerweise möglich gemacht, und zwar durch die Gnade, die wir in ihm einzig durch die Liebe in der Freiheit des Geistes erreicht haben. Und was ist das für ein Dienst? Gewiß steht jener Dienst über dem Zusammenfall der Gegensätze. Denn Lieben ist Dienst derart, daß es kein Dienst ist, sondern Freiheit, wie im siebten Kapitel des ersten Korintherbriefs geschrieben steht (1 Kor 7,21-24). So ist Dienen dasselbe wie Herrschen. So ist ein Diener, der einen liebt, wie ein Freund, dem man nichts verschweigt. Denn Mitbürger und Hausgenossen Gottes sind diejenigen, die so dienen. (23) O welch bewundernswürdige Vergeltung dieses Liebesdienstes! Denn der Liebende erlangt vom Geliebten ebensoviel Liebe, wie er diesem zuwendet. Wenn du dich rückhaltlos seiner Liebe mit der ganzen Kraft des Geistes hingibst, erlangst du ebensoviel vom Geliebten, weil er die Liebe selbst ist. Wenn also die Vergeltung ebenso groß ist wie die Liebe, dann ist deine Liebe das Maß der liebenden Vergeltung, wie Christus im siebten Kapitel des Lukasevangeliums sagt: „Ihr sind viele Sünden vergeben, weil sie viel geliebt hat. Welchem aber nur wenig vergeben wird, der liebt nur wenig“ (Lk 7,47). Ja, deine Liebe ist dein Leben oder deine Vergeltung selbst, denn Gott ist Liebe (1 Joh 4,8) und Vergelter schlechthin. So ist deine Liebe, wenn sie auch nicht Gott ist – sie ist ja nicht die vollkommene, sondern nur deine Liebe – dennoch eine Vergeltung – zwar keine vollkommene, aber immerhin deine. So ist nun deine Liebe dein Leben, weil sie die Teilhabe an der vollkommenen Liebe und am vollkommenen Leben ist, so daß deinem Aufstieg zur Liebe ein Abstieg der Liebe in dich entspricht. Denn die Liebe ist eine Kraft, die die Liebenden umgestaltet, wie Dionysius sagt.4 (24) Drittens ist anzumerken, wie Gottes Liebe darin besteht, daß Gott kommt und bleibt. Darum fällt das Kommen Gottes mit seinem Bleiben zusammen. Man sagt aber, daß er durch die Liebe komme, weil auch wir durch die Liebe zu ihm kommen. Denn – wie er an anderer Stelle sagt – daß zu ihm alle Beladenen kommen, bedeutet, daß sie erquickt werden (Mt 11,28). Wenn wir – arm, weinend, betrübt und unvollkommen wie wir sind – um seinetwillen zu ihm kommen, dann kommen zu uns Erfüllung und Fülle. Zu Gott kommen bedeutet also, das Ziel der Wünsche zu erlangen. 4

Vgl. Ps.-Dionysius Areopagita: De divinis nominibus, c.4 § 13 (Dionysiaca 215 sec. versionem Ambrosii Trav.).

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Durch die Theologie des Zusammenfalls der Gegensätze erkennen wir also: daß Gott, der seinem Wesen gemäß überall ist, zu uns kommt, ist dasselbe, wie daß wir zu ihm kommen. Ebenso macht es keinen Unterschied, ob das Leben in uns kommt oder wir ins Leben kommen. Und da sein Kommen zu uns unser Kommen zu ihm ist, ist unser liebender Geist ein Tempel des geliebten Gottes und sein feurigstrahlender Himmel, und der Geliebte selbst ist die Ruhe, der Himmel und der Friede des liebenden Geistes. (25) Viertens ist anzumerken, daß die Kraft des ganzen Predigtwortes Christi in der Liebe liegt, die die Erfüllung des Gesetzes ist, wie der Apostel sagt (Röm 13,10) und wie oben ausgeführt ist. Daher hält derjenige, der nicht liebt, nicht am Wort fest (Joh 14,24). Wer in diesem einen Punkte „Anstoß erregt“, hat sich, wie Jakobus sagt, „an allen vergangen“ (Jak 2,10). Denn an keinem Wort Christi hält derjenige in Geisteskraft fest, der nicht liebt. Dies führt Paulus weiter aus und sagt, daß kein Werk den Geist beleben könne, wenn es nicht in Liebe geschehe, im 13. Kapitel des ersten Korintherbriefes (1 Kor 13,1-3). (26) Fünftens ist anzumerken, wie er sagt, sein Wort stamme nicht von ihm, sondern von dem, der ihn gesandt hat (Joh 14,24). Denn an ebendieser Evangelienstelle sagt er zweimal, daß das Wort oder auch die Worte seine seien, weil er wie ein Gesandter das Wort hat; dieses ist aber zugleich auch nicht seines, eben weil er nur ein Gesandter ist (Joh 14,10.24). Denn wer Gesandter und Apostel ist, der spricht zwar, indem er den Willen dessen, der ihn gesandt hat, erfüllt, selbst Worte aus; aber es sind eben Worte eines Gesandten. Diese sind offenbar nicht die seinen, weil sie auf Befehl dessen ausgesprochen werden, der ihn gesandt hat, und in ihnen drückt sich der Wille dessen aus, der ihn gesandt hat. Nur weil der Gesandte sie vorbringt, sind sie auch Worte dessen, der sie vorbringt. Richtiger aber würde man sie nach dem, der sie vorbringt, Vorbringungen nennen: Wie ein Sohn der Sohn eines Vaters ist, so ist das Wort eines Gesandten das Wort dessen, der ihn ausgesandt hat. (27) Sechstens ist die Stelle anzumerken, wo er sagt: „Das habe ich zu euch gesagt, während ich noch bei euch bin“ (Joh 14,25), denn dieser Abschnitt offenbart uns, wie er selbst die Worte gesprochen hat, die dadurch, daß er noch bei den Menschen in dieser Welt ist, reden können. Diese Worte nun, die so ausgedrückt werden, können niemanden, der nicht den Geist hat, darüber belehren, wie der Vater und er selbst, Christus, ihre Wohnung bei denjenigen bereiten, von denen sie geliebt werden. Denn wie eine Wohnung bei den Menschen in dieser Welt keinen Eindruck von der Wohnung der Himmelsbürger vermitteln kann, weil es keinem Menschen in den Sinn gekommen ist, was Gott denjenigen, die ihn lieben, bereitet hat (1 Kor 2,9), so kann auch die Sprache, die die Menschen hier sprechen, wenn sie von Gott und der Herrlichkeit der Glückseligen redet, nicht verstanden werden, weil eine sinnenhafte Sprache, wenn sie von der geistigen Herrlich-

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keit redet, ohne Geist nicht verstanden wird – wie wenn einer aus Rom die Sprache Roms in Alemannien und im Gespräch mit Alemannen gebrauchte: Denn sie würde unter diesen Umständen nicht verstanden, es sei denn durch einen Dolmetscher oder dadurch, daß der Geist der Einsicht über die Zuhörer käme und sie eröffnete. Und daher heißt es weiter: „Der Beistand aber, “ (Joh 14,26). (28) Siebtens ist anzumerken, daß der Beistand ein Tröster ist. Denn jedesmal, wenn unser Geist seufzt und von dem Begehren entbrannt ist, die Dinge, die ihm in Gestalt sinnenhafter Zeichen gegenwärtig sind, zu verstehen und zu begreifen, findet er Tröstung, wenn er sich über die sinnenhaften Zeichen erhebt und zum losgelösten Dasein emporgerissen wird, so daß er die Dinge selbst berührt. Dies aber geschieht durch die Aussendung des Heiligen Geistes, des Beistandes und Trösters, der ein Gelehrter und Lehrer ist und ein Zuträger von Worten nach Art eines Gesandten, gleichsam als sei die Tatsache, daß das Wort oder Christus gemäß seiner leiblichen Gegenwart von uns geht, gleichbedeutend damit, daß die Kraft oder der Geist auf alle leibliche Gegenwart dieser Welt herabkommt. Denn der Geist des Wortes ist nicht der Geist dieser Welt, sondern der himmlische Geist, den die Welt nicht fassen kann (Joh 14,17). Und daß Christus gemäß der Gegenwärtigkeit dieser Welt von uns geht, ist dasselbe, wie daß wir uns ihm nähern gemäß dem Geist der anderen Welt. Und daß der Geist des Vaters und des Wortes oder des Sohnes zu uns gesandt wird, ist dasselbe wie daß wir mit der Kraft aus der Höhe erfüllt werden, wie Lukas im letzten Kapitel sagt (Lk 24,29). (29) Daher, weil der Wille des Vaters auch der des Geistes oder die Kraft des Wortes ist, gehört derselbe Geist auch zu jeder der beiden Personen. Folglich ist der Geist das Lieben selbst, das vom Liebenden und Liebenswerten herabsteigt; innerhalb des Wesens der Liebe ist somit der Liebende der Vater, der Liebenswerte der Sohn und das Lieben von beiden der Heilige Geist. (30) Achtens ist anzumerken, auf welche Weise Christus sagt: „Frieden hinterlasse ich euch, “ (Joh 14,27). Als nämlich Christus, schon im Begriffe, sich von ihnen zu entfernen, den Seinen in seinem Testament den Frieden hinterließ und ihnen diesen seinen Frieden schenkte, da fügte er hinzu: „nicht einen Frieden, wie die Welt ihn gibt, gebe ich euch“ (Joh 14,27); als wollte er damit sagen, daß der „Friede Christi“ (Kol 3,15) alles Verstehen übersteigt (Phil 4,7), weil er keinem Ding der sinnenhaften Welt entspricht, sondern die Ruhe ist, die der Geist angesichts der Widrigkeiten bewahrt, die ihm in dieser Welt begegnen können. Diesen Frieden hatten die Apostel als Geschenk von Christus erhalten, denn mit geistlicher Freude nahmen sie alles Günstige und Widrige gleichermaßen hin, indem ihnen „im Überfluß leben und Mangel leiden“ (Phil 4,12), Gesundsein und Kranksein, Sterben und Leben dasselbe war, wie Paulus von sich selbst bezeugt.

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O welch tiefer Friede ist doch der „Friede Christi“ (Kol 3,15), in den diese Welt keinerlei Störung hineintragen kann! (31) Neuntens ist anzumerken: „Euer Herz lasse sich nicht verwirren“ (Joh 13,1.27). Nachdem Christus sein Testament gemacht hatte und gesagt hatte, daß er gehen werde, sah er, wie die Jünger vor der Ankunft des Beistandes und Trösters verwirrt waren; denn ohne den Geist waren sie für jenes Geschenk des Vaters Christi nicht empfänglich und konnten daher in Verwirrung geraten, weil er sagt: „Ich gehe fort und komme wieder zu euch zurück“ (Joh 14,28). Denn daß er von ihnen fort und zum Vater geht, der Geist ist, bedeutet, daß er selbst im Geist zu ihnen zurückkommt. Sie brauchten also, wenn sie dies sorgfältig beachtet hätten, nicht verwirrt zu sein. Und wenn sie ihn lieb hätten, würden sie sich freuen, denn der Vater ist größer als er (Joh 14,28). Freude hat der Liebende am Wohlergehen des Geliebten, wie Johannes der Täufer sagt, daß die Freunde des Bräutigams ihre volle Freude darin haben, daß sie die Freude des Bräutigams hören und sehen (Joh 3,29), wie es weiter oben im Johannesevangelium, im dritten Kapitel heißt. Darum besteht die volle Freude aller Christen, der Freunde Christi, in der Freude des Bräutigams der Kirche, der unser Haupt ist. Das bezeugt der größte unter allen von einer Frau Geborenen (Mt 11,11), nämlich Johannes der Täufer, von sich selbst. Das sagt auch Christus im 15. Kapitel des Johannesevangeliums: „Dies habe ich euch gesagt, damit meine Freude in euch ist und damit eure Freude vollkommen wird“ (Joh 15,11). Das scheint auch Paulus in den Briefen an die Epheser und an die Kolosser zu erklären, daß unsere Freude in der Freude Christi und unser Leben im Leben Christi verborgen ist; und daher erlangen wir in ihm das Glück (Eph 3,9; Kol 3,3f.). (32) Zehntens bemerke ebendort: „Der Vater ist größer als ich“ (Joh 14,28). Denn insofern als Christus in dieser Welt ist, ist er vom Vater ausgegangen; insofern als er aus der Welt fortgeht, kehrt er zum Vater zurück. Der Vater ist im Sohn und der Sohn ist im Vater; und „wie der Vater, so der Sohn“.5 Dann aber ist er gar nicht vom Vater ausgegangen, sondern ist im Vater. Vom Vater ausgehen heißt, die Gesandtschaft in der Welt übernehmen und diejenige Gestalt annehmen, die für die Gesandtschaft geeignet ist, damit sie sich der Welt offenbaren könne. Und dies bedeutet Abstieg und Erniedrigung. Folglich ist der Vater größer insofern, als derjenige, der einen aussendet, größer ist als der Ausgesendete. Die Gleichheit des Vaters6 übernahm die Gesandtschaft und nahm die dafür passende Gestalt an. Und so erniedrigte sie sich, indem sie Gesandtengestalt annahm; aber nachdem sie die Aufgabe der Gesandtschaft und Erniedrigung erfüllt hatte, kehrte sie dorthin zurück, wo sie war, nämlich in die Gleichheit mit 5 6

Symbolum Quicumque Ps.-Athanasianum (ES37, n.75,7-8). Vgl. De docta ign. I, c.8.9 (h I p.17, 13-22; p.19, 9-10, n.23.26).

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dem Vater. Und so wird dieser Text richtig verstanden, wenn man nämlich daran denkt, daß die Gleichheit die Aussendung angenommen und erfüllt hat. Daß er aber die Gesandtschaft zu Ende führte und in die Herrlichkeit zurückkehrte, die er hatte vor der Erschaffung der Welt (Joh 17,5.24), steht im siebzehnten Kapitel des Johannesevangeliums. (33) Elftens: „Jetzt schon habe ich es euch gesagt, bevor es geschieht, damit ihr, wenn es geschehen ist, zum Glauben kommt“ (Joh 14,29). Daran ist zu bemerken, daß Christus, auf jede zweckdienliche Weise um unsere Rettung bemüht, die ungebildeten Apostel, die er sich erwählt hatte, mit sinnenhaften Beweisen zum Glauben geführt hat. Ebenso heißt es an einer ähnlichen Stelle im 16. Kapitel des Johannesevangeliums: „Jetzt wissen wir, daß du alles weißt. Darum glauben wir, daß du von Gott ausgegangen bist“ (Joh 16,30). Denn wenn nicht die Einfältigen und Ungebildeten durch sichtbaren Beweis zuverlässig erkannt hätten, daß der Geist Christi über die Grenzen aller Zeit hinaus alles wußte, so daß ihm die Zukunft so bekannt war wie die Gegenwart, dann wären sie nicht zum Glauben an seine wunderbare und dabei ganz einfache Lehre gekommen. Diese besagt nämlich, daß durch Liebe unsterbliches Leben erlangt werden kann und durch Glauben der Geist der anderen Welt, der diese Welt untergeordnet ist und der sie weichen muß und für die die Weisheit dieser Welt Torheit ist (1 Kor 3,19). Die Klugheit dieser Welt also, die in ihrem gedankenlosen Wahn allein durch sich nach dem Leben zu streben versuchte, entkräftete Christus durch Einfachheit. Und jene Einfältigen, die mit solcher Klugheit, welche der Einfachheit des Glaubens entgegensteht, nicht vertraut waren, wählte er deswegen aus, damit sie den Glauben desto leichter fassen könnten. Darum war es dann auch notwendig, sie mit irgendeinem sinnenhaften Beweis dahin zu führen, daß der Glaube in ihnen eine Grundlage bekam. Dieser Grund für die Berufung der Einfältigen wird auch von Paulus im ersten Kapitel des ersten Korintherbriefes gegen das Ende hin ausdrücklich erwähnt (1 Kor 1,26-31). Und Christus selbst sagt: „Nur wenn ihr wie ein Kindlein geworden seid, “ (Mt 18,3f.). Ist doch im Kind ein gehorsamer, einfältiger und belehrbarer etc. Geist. Die Kinder sind nämlich gelehrige Schüler Gottes (Joh 6,45). Und als Christus vom Heiligen Geist erfüllt frohlockte, sagte er: „Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels, weil du das vor den Weisen und Klugen verborgen und den Unmündigen offenbart hast“ (Mt 11,25; Lk 10,21), im zehnten Kapitel des Lukasevangeliums. (34) Zwölftens steht geschrieben: „Es kommt der Herrscher dieser Welt; und über mich hat er keine Macht“ (Joh 14,30). Daraus läßt sich entnehmen, daß der Geist Christi und aller Christen – das heißt all derjenigen, die den Geist Christi haben – ein freier Geist ist, der dem Herrn dieser Welt (Joh 12,31; 14,30), das heißt dem Geist der fleischlichen Begierden, nicht untertan ist. Und wie der Geist Christi die Welt besiegt hat – Johannes 16 –, so auch jeder, der seinen Geist hat. Im Geiste Christi befiehlt man den Mächten der Finsternis und dieser Welt, und sie weichen zurück, als ob sie schon besiegt seien.

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(35) Dreizehntens steht geschrieben: „Aber die Welt soll erkennen, “ (Joh 14,31). Daraus läßt sich folgendes entnehmen: Damit wir erkennen, daß man Gott so lieben soll, daß man gemäß seinem Gebot bis in den Tod geht, hat sich damals unser Haupt, das in der Liebe des Vaters wandelte und seine Gebote erfüllte, willig erhoben und auch andere als seine Zeugen sich erheben lassen, und sich zum Ort des Leidens aufgemacht. (36) Im Folgenden werden wir kurz anmerken, wie gemäß dem ersten Kapitel der Apostelgeschichte die Apostel zusammen mit Maria und hundertzwanzig anderen Frauen und Jüngern einmütig im Gebet und in Betrachtung verharrten (Apg 1,14), weil sie erwarteten mit der Kraft aus der Höhe erfüllt zu werden (Lk 24,49). Denn ebenso wie sie sollen auch wir uns verhalten, wenn wir mit der Kraft aus der Höhe erfüllt werden wollen, indem wir uns sorgfältig vorbereiten und reinigen und durch die Reinigung von den Sünden das Tierische ablegen, weil „ein tierischer Mensch nicht aufnimmt, “ etc. (1 Kor 2,14), wie es im zweiten Kapitel des ersten Korintherbriefes heißt. Schweinische und unreine Geister7 muß einer austreiben, der mit aufrechtem Geist erneuert werden will (Eph 4,23). Der Psalmist sagt: „Erschaffe mir, ein reines Herz, “ (Ps 51[50],12). Außerdem muß man sein Herz mit verschiedenen Bildern heiliger Andacht schmücken. Ebenso muß man den Heiligen Geist durch Beständigkeit des Gebets einladen, wie es die Apostel taten, die auch für andere beteten, wie es im achten Kapitel der Apostelgeschichte heißt (Apg 8,15). Denn wenn er eingeladen wurde, kommt er. „Ich bat, und mir wurde Verstand gegeben; ich flehte, und der Geist der Weisheit kam in mich“ (Weish 7,7); und zwar am dritten, nicht am letzten Tag etc.8 Mögest du in Gesellschaft Mariens und der Apostel sein; diese sollst du um Hilfe anrufen! Merke hierbei, warum die Heiligen im Gebet zusammenkommen, nämlich weil er in deren Versammlung herniedersteigt. Ebenso mußt du mehr ihm als der Welt dienen, dem Geist mehr als dem Bauch, – die Apostel fasteten noch etc.; Jesaja 42: „Seht, das ist mein Knecht, ich will ihn aufnehmen; mein Erwählter, meine Seele fand Gefallen an ihm, ich habe meinen Geist auf ihn gelegt“ (Jes 42,1) – wie Johannes der Täufer dem Geist mehr als dem Bauch diente. Und darum wurde der Geist des Kindes stark (Lk 1,80). Ebenso muß man ihm ein Lager bereiten, wie Jesaja sagt: Über dem Demütigen und Ruhigen wird er ruhen.9

7 8 9

Zu den „schweinischen Geistern“ vgl. Mk 5,1-20. Der Sinn des Satzendes ist unklar; vgl. aber im Apparat der kritischen Ausgabe zu Predigt XXXVII, n.14, 19f. Dieser Satz findet sich so nicht bei Jesaja, vgl. aber Jes 11,2; 61,1; 63,11.

Predigt LVIII Sedete, quoadusque induamini virtute ex alto Bleibt sitzen, bis ihr mit Kraft aus der Höhe erfüllt werdet Zeit: Ort: Fest: Zählung Koch: Edition: Deutsch:

6. Juni 1446 Mainz Montag nach Pfingsten 53 h XVII/4, 294-312 –

ZUSAMMENFASSUNG Was der Mensch vermag, soll er tun, um den Geist Gottes zu empfangen und zur Unterscheidung der Geister zu gelangen. Dazu nimmt er wie ein Schiffer Gefahren in Kauf, um den Hafen des Heiles zu erreichen (n.1-2). Daß er geliebt wird, glaubt der Mensch nur in Liebe (n.3). Der Geist fällt von seiner Wesensart ab und geht zugrunde, wenn er die Liebe nicht annimmt (n.4). Diese Liebe schenkt der Vater dem Menschen, indem er den Sohn hingibt und dem Menschen als Retter sendet (n.5-6). Wenn der Mensch Liebe und Licht Christi nicht annimmt, verurteilt er sich selbst, da der Geist des Menschen nur darin zu Ruhe und Glück kommen kann. Wer wider besseres Wissen das Böse wählt, wendet sich vom Licht ab und verurteilt sich selbst, da Gott das Licht und die Wahrheit ist. Beide sucht, wer Gott sucht, und so findet er die Glückseligkeit (n.7-10). Wie Gott ist auch der an ihm teilhabende Geist in dieser Sinnenwelt unerreichbar. Als sinnlicher Vergleich kann jedoch das Feuer dienen (n.11-13). Die Vielheit entstammt der Einheit und bringt aus der Kraft Gottes eine Ordnung hervor, die ein Höchstes, Mittleres und Geringstes hat, je nach dem Maß der Teilhabe an der Kraft des göttlichen Geistes – entweder rein geistig oder körperlich. Die höchste Kraft ist geeint, eingefaltet und unausgedehnt; die je geringere faltet die Ausdehnung und Veränderung in verschiedenen Maßen aus. Die mittleren Naturen sind aus beiden zusammengesetzt (n.14-19). Die höchsten Naturen können sich in Freiheit Gott zuwenden oder von ihm abwenden (n.20). Die verschiedenen Arten der Ein- und Ausfaltung drücken sich in den Engelchören aus, die je nach ihrer Nähe zu Gott ein mehr oder weniger zusammengezogenes Sein haben. Die von Gott sich abwendenden Geister sind gewissermaßen Engel Satans (n.21-22). Allen geordneten Bewegungen steht eine je eigene Erkenntniskraft vor (n.23-24). Der Mensch hat an der höchsten, mittleren und untersten Stufe teil und kommt nur an der Quelle der Ewigkeit zur Ruhe (n.25-26). Verschiedenartige Geister veranlassen den Menschen, sich Gott oder der Welt zuzuwenden. Jede derartige Bewegung wird von einem entsprechenden Geist unterstützt (n.27-29). Da der Mensch nicht aus sich zur Gotteserkenntnis

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kommen kann, führt ihn der Heilige Geist dorthin. Erschaffung, Annahme an Sohnesstatt und Unterweisung des Menschen sind die Werke der drei göttlichen Personen. Unser Geist kann unterscheiden, ob die Geister aus Gott sind und aus Liebe, Friede und Wahrheit stammen (n.30-33). Durch Fasten, Keuschheit und Tugenden kann der Mensch die tierischen Antriebe überwinden, wenn der edle Geist im Menschen durch den Engel des großen Rates siegt (n.35-36). Durch den in uns wirkenden Geist besitzen wir eine göttliche Natur (n.37).

BEMERKUNGEN Cusanus wendet in n.21 die neuplatonische Auffassung der Einfaltung und Ausfaltung auf die dionysische Lehre der neun Engelschöre aus dessen „Himmlischer Hierarchie” an und verbindet sie mit seiner Theorie des „contractum” oder der „Verschränkung”.

LITERATUR Marc Aeilko Aris: Vos Moguntini. Nikolaus von Kues (1401-1464) predigt den Mainzern, in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 50 (1998) 191-217.

Predigt LVIII: Bleibt sitzen, bis ihr mit Kraft aus der Höhe erfüllt werdet

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Predigt LVIII Bleibt sitzen, bis ihr mit Kraft aus der Höhe erfüllt werdet (1) „Bleibt sitzen, bis “ (Lk 24,49). Gestern haben wir die Niederkunft der Kraft aus der Höhe (Lk 24,49) in die katholische Kirche ein wenig im Sitzen betrachtet, indem wir uns die Geschehnisse ins Gedächtnis zurückriefen. Wie heute das Pfingstfest seinen Fortgang nimmt, so werden auch wir unsere sitzende Betrachtung fortführen, damit wir die unerklärliche und unsagbare Kraft, soweit wir es vermögen, untersuchen und preisen, auf daß wir wissen, welchen Geistes wir sind. Nicht als ob wir in der Lage wären, alles darüber zu wissen – der Geist unserer Vernunft kann aus sich heraus seiner Beschaffenheit nicht nachspüren, das erhellt aus folgenden Worten, die Christus an die Apostel richtete: „Ihr wißt nicht, welches Geistes ihr seid“ (Lk 9,55), wie im 9. Kapitel des Lukasevangeliums steht. Aber wir wollen in unserem geringem Maßstab nach der Lehre Christi genau das tun, was wir tun können, um unseren Geist zur Aufnahme des Geistes des Herrn (Weish 1,71) bereit zu machen, der uns zum letzten Ziel unserer Wünsche bringt. Dabei müssen wir irgendwie auf eine Unterscheidung der Geister bedacht sein. (2) Denn ebenso wie ein guter Wind in der Luft den treibenden Schiffer zum windstillen Hafen bringt, den er ohne ihn nicht erreichen kann, so sind wir ohne den Geist der anderen Welt nicht imstande, von dieser Welt zum himmlischen Frieden gebracht zu werden.2 Und ebenso wie der Schiffer, wenn er nur selbst der Gefahr entrinnt, sich nicht darum bekümmert, daß sein Schiff zerschellt – wie Paulus in der Apostelgeschichte riet (Apg 27,22-25) –, so brauchen auch wir uns nicht zu bekümmern, wenn wir durch den Geist des Herrn zum Hafen des Heils geführt werden und dies mit aller Gefahr für den Leib geschieht. Und weil wir ohne den Geist nicht hinübergelangen, wollen wir uns darum bemühen, einen guten Geist (Lk 11,13) zu haben, der uns in das wahre Land des ewigen Glücks führt, ohne uns im übrigen darum zu kümmern, wie wir dorthin gelangen, ob mit nur einem Auge oder mit nur einem Fuß, wie Christus sagt (Mt 18,8f.; Mk 9,44-46), oder wie auch immer. Denn ein Kauffahrer, der zum Goldberg unterwegs ist und diesen schon in Sichtweite hat, wirft, wenn er in Seenot gerät, unbesorgt seine Waren aus dem Schiff, solange er nur den Berg erreicht, wo sich ein unerschöpflicher Schatz befindet, der den ganzen Verlust wettmacht. 1 2

Vgl. auch den Introitus vom Pfingstsonntag. Der hier ausgedrückte, im Deutschen nicht angemessen wiederzugebende Gedanke beruht darauf, daß lat. „spiritus“ sowohl Windhauch als auch Geist bedeutet.

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Lasset uns beten um Gnade und Geist etc. (3) „Bleibt sitzen, bis “ (Lk 24,49). Es ist unserem Vorhaben angemessen, wenn wir das Evangelium vorausschicken und an ihm bemerken, wie „Gott“, der die „Liebe“ und der „Geist“ ist (1 Joh 4,8.16), geradezu lieben muß, weil er die Liebe ist, und nur denjenigen, der ihn auch liebt, weil er sagt: „Ich liebe diejenigen, die mich lieben“ (Spr 8,17), denn die Liebe kann nicht anders als gegenseitig sein. Und diese Gerechtigkeit und Gleichheit der Liebe kam aus dem Überfluß ihrer liebevollen Güte unserer Liebe gnädig zuvor und schickte uns zuerst ihren Sohn als Gesandten der Liebe, damit er uns die Liebe des Vaters verkünde, auf daß alle, die den Gesandten der Liebe aufnähmen, ihm auch glaubten, was nur durch die Liebe geschehen kann. Denn daß man geliebt wird, glaubt man nur in Liebe; ebenso wie auch die Liebe nur in Liebe aufgenommen wird: Sie sollen nicht zugrunde gehen, sondern das ewige Leben haben (Joh 3,15f.). Denn wer weder die Liebe aufnimmt noch den Gesandten der Liebe, der geht zugrunde, weil es einzig die Liebe ist, die ihn erfreut und ernährt. Daher ist einzig in der Liebe ein echtes und beständiges und erfreuliches Leben möglich. Denn die Liebe ist es, wodurch die Liebenden ununterbrochen freudig erquickt werden. (4) Der Geist also, der allein die Liebe aufnehmen kann, geht zugrunde, wenn er sie nicht hat, durch die er lebt, wie unser Körper zugrunde geht, wenn er den Geist nicht aufnimmt. Denn wenn der Geist den Körper eines Lebewesens lebendig machen will und sich kraft seines natürlichen belebenden Wesens dem Körper soweit angleicht, daß dieser Anteil an ihm haben kann, und wenn der Körper ihn dann nicht aufnimmt, dann geht der Körper zugrunde. Und das bedeutet, daß er im Hinblick auf das einzige Leben zugrundegeht, in dem er auf freudige Weise sein kann. Er wird nicht zunichte, sondern geht hinsichtlich seiner Wesensart zugrunde, das heißt, er fällt vom Leben ab. Aber wenn der belebende Geist in seinem Verstand sieht, daß der Körper nicht dazu geneigt ist, das Leben aufzunehmen, dann schenkt er ihm alles, was er hat, damit er geheilt werde und belebt werden könne. (5) Und es kann keine größere Liebe in ein und demselben Menschen sein als die Liebe des Geistes zum Körper, wie sehr sich auch der Körper in seiner Fleischlichkeit dagegen auflehnen mag. Ebenso, wie sehr auch die Welt von Widerstreben und vom Bösen beherrscht ist (1 Joh 5,19), kann es doch keine größere Liebe (Joh 15,13) geben als die Liebe Gottes zur Welt, für die er alles, was er hat, verschenkt. Denn alles, was der Vater hat, gehört dem Sohn (Joh 16,15), wie Christus sagt. Der Sohn ist also all das, was der Vater hat. Dann aber gibt der Vater alles hin, damit die Welt nicht zugrunde gehe (Joh 3,16), wenn er, der Liebende, den Geliebten hingibt, das heißt wenn der Vater den Sohn hingibt. Denn der Vater, insofern er Vater ist – er ist ja nichts anderes als nur Vater, weil das Väterliche an ihm nichts anderes ist als er selbst, der Vater –, hat nichts

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als seinen Sohn; wie ein Liebender, insofern er Liebender ist, nichts hat als seinen Geliebten. Und daher gab Gott seinen eingeborenen Sohn hin (Joh 3,16). „Eingeboren“ sagt er, um klar auszudrücken, daß der Vater, insofern er Vater ist, nichts zurückgehalten hat, was er nicht hingegeben hätte, damit die Welt nicht zugrunde gehe. (6) „Er sandte seinen Sohn nicht, um zu richten, sondern damit die Welt gerettet würde“ (Joh 3,17). So ist denn Dahingeben dasselbe wie Aussenden. Und „er sandte ihn nicht aus, um zu richten“, denn das Richten schließt immer eine Verurteilung ein, und vor seinem Angesicht sind ja alle Geschöpfe unrein. Daher sandte er ihn als Retter, dessen Aufgabe es ist, zu retten, und nicht als Verurteiler. Und daher wird jeder, „der an ihn glaubt“ (Joh 3,18), weil er ihn aufnimmt, auch die Rettung haben, eben weil er den Retter als Retter aufnimmt. Darum „wird er nicht gerichtet“ oder verurteilt. (7) Wer aber nicht an ihn glaubt, ist schon verurteilt (Joh 3,18). Damit will er uns sozusagen den theologischen Lehrsatz vermitteln, daß die Verurteilung nicht von Gott her ist, der die Rettung, das Leben und die Freude ist, sondern von demjenigen her, der den eingeborenen Sohn nicht mit gläubigem Geist aufnimmt. In vergleichbarer Weise ist das Licht das Mittel, durch das das Auge etwas Sichtbares erfaßt. Das Auge also, das dieses Mittel aufnimmt, gelangt durch es zur Ruhe; denn das Auge kommt in der Wahrnehmung des Sichtbaren zur Ruhe. Wenn es aber das Mittel nicht aufnimmt, dann erfaßt es das Sichtbare nicht; und zwar nicht, weil das Licht daran Schuld hätte, sondern weil das Licht nicht aufgenommen wird. Und genau das wird auch gleich im Text ausgedrückt, daß nämlich das Urteil, mit dem jener verurteilt wurde, die Folge davon war, daß er, der Verurteilte, sich abgewendet hatte, indem er das Licht, das „in der Dunkelheit leuchtet“ (Joh 1,5), nicht in Liebe aufnahm, sondern mehr als am Licht an der Dunkelheit hing. Denn wenn wir die Lehre Christi, die das Licht ist, nicht einsehen und folglich gut handeln wollen, weil wir die Dunkelheit dem Licht vorziehen, dann erreichen wir die Verurteilung; und sobald wir das, was wir mehr lieben, das heißt die Dunkelheit, erlangt haben, ist unser einsichtsfähiger Geist verurteilt. Denn wenn der einsichtsfähige Blick in der Dunkelheit der Unwissenheit durch seine eigene Liebe herumgeführt wird, so wird er verurteilt; denn sein Leben besteht darin, das Wahre zu erfassen. Ebenso ist der Gesichtssinn in der Dunkelheit verurteilt, weil er nicht das erreichen kann, worin er sein Glück oder seine Ruhe findet. (8) Warum aber die Menschen dahin kommen, daß sie die Dunkelheit dem Licht vorziehen, sagt er gleich darauf: Denn ihre Taten sind böse (Joh 3,19). Die bösen Taten selbst, die wir tun, können ohne die Seele als Täterin nicht geschehen; sie selbst gewöhnen daher das Begehren des Geistes an sich, indem sie es an sich ziehen, genauso wie unanständige Gespräche gute Sitten verderben.

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Und infolge dessen ist zu beachten, daß böse Taten, eben weil sie böse sind, die Seele, ihre Täterin, vom Guten abwenden; denn diese wendet sich immer dem zu, was sie gerade tut. Ungeteilt widmet sich ja der Geist dem, was er jedesmal tut, je nachdem, wohin ihn seine Absicht drängt. (9) Wenn also „das Licht in die Welt kommt“ (Joh 3,19) – das heißt, wenn in deinem Geist ein Licht aufgeht, durch das Du siehst, was du tun sollst –, du aber vielmehr die Dunkelheit wählst, weil du nicht das wählen willst, wovon du bei Licht siehst, daß du es wählen sollst, dann erkennst du, daß du mit Recht durch dich selbst verurteilt bist. Daher haßt, wer böse handelt, das über uns erschienene Licht von Gottes Angesicht (Ps 4,7), das uns lehrt, daß man nicht so handeln soll. Denn wenn er das Licht der Einsicht liebte, die in ihn kommt, dann würde er sie aufnehmen. Und weil es jenes Licht ist, das böse Taten offenbart, weil es geurteilt hat, daß sie nicht hätten geschehen dürfen, deswegen „kommt“ derjenige, der Böses tut, „nicht zum Licht, damit seine Taten nicht aufgedeckt werden; wer aber die Wahrheit tut, kommt zum Licht“ (Joh 3,20). (10) Denn das Licht ist das Licht oder die Offenbarung der Wahrheit. Wer also so handelt, wie es das Licht offenbart, der bleibt in der Wahrheit und tut die Wahrheit. Er „kommt zum Licht, damit offenbar wird, daß seine Taten in Gott vollbracht sind“ (Joh 3,21). Merke auf! Ich frage: Wieso kommt derjenige, der böse handelt, nicht zu Gott, damit er nicht überführt werde, und ist gerade deswegen schon verurteilt? Die Verurteilung liegt gerade darin, daß er nicht zu Gott kommt. Aber weil jenes Licht das Licht der Wahrheit und die Wahrheit selbst ist, die Gott ist, deswegen kommt derjenige, der die Wahrheit tut, zum Licht. Und das ist die Glückseligkeit. Und hierin offenbart sich uns, wie unser Geist, weil ihm göttliches Licht innewohnt, bestrebt ist, böse Taten zu verheimlichen und gute offenkundig zu machen. Soviel zum Evangelium etc. (11) „ sitzen, bis “ (Lk 24,49). Vollkommen im Geist wandeln (Röm 8,4) können wir in der Betrachtung des reinen Geistes und der geistlichen Natur. Weil aber „Gott Geist ist“ (Joh 4,24) und jene sucht, die ihn im Geist anbeten (Joh 4,23f.), wie Christus im vierten Kapitel des Johannesevangeliums sagt, und weil Kraft dasselbe ist wie Geist, wie im Thema unserer Predigt (Lk 24,49), darum hat alles, was ist, soweit es am Sein teilhat, auch an der Kraft teil. Denn Gott ist „alles in allem“ (1 Kor 15,28), wie der Apostel Paulus sagt, eben weil er Gott ist; und dadurch ist alles, was ist, das, was es ist. Denn „der Geist Gottes hat den Erdkreis erfüllt, und dadurch, daß er alles enthält, kennt er jeden Laut“ (Weish 1,7). Weil er nämlich „den Erdkreis erfüllt hat“ (Weish 1,7), das heißt den ganzen Bereich der Geschöpfe, deswegen ist er in allem alles (1 Kor 15,28). Und weil jener Geist das ist, „was alles enthält“ (Weish 1,7), deswegen ist alles in ihm (Röm 11,36).

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Und er ist wie die Kenntnis eines Lautes (Weish 1,7). Denn wie das Wesen eines bedeutungstragenden Lautes die geistige Bedeutung des Lautes ist, so ist der Geist Gottes das reine Wesen alles Geschaffenen. (12) Daher gilt: Wie Gott in dieser Welt unerreichbar ist, weil ihn diese Welt weder kennen noch sehen kann – er ist ja der Geist, den die Welt nicht fassen kann (Joh 14,17), wie Christus im vierzehnten Kapitel des Johannesevangeliums sagt – so und in keinem anderen Sinne ist auch das Wesen einer Sache, das Geist ist, der am Geist Gottes teilhat, in dieser sinnenhaften Welt unerreichbar. Jeder Geist3 verhält sich also wie eine Bewegung; denn auch die Bewegung der Luft, die Wind heißt, nennt man, weil die Bewegung auch eine geistige, das heißt eine unsichtbare ist, Geist, wie gestern in der Lesung aus dem zweiten Kapitel der Apostelgeschichte: Vom heftigen Sturmwind (Apg 2,2). Außerdem lesen wir im ersten Kapitel der Genesis über den Geist, der „über den Wassern schwebte“ (Gen 1,2). Hierher gehört auch der „Sturmwind, “ (Ps 148,8). Daher wird die Bewegung, die auf Hebräisch „Ruach“ oder „Nefesch“, auf Griechisch „Pneuma“ heißt, Wind genannt. Und wie wir von diesem Wind nicht wissen können, „woher er kommt oder wohin er geht“ (Joh 3,8), so vermögen wir auch von dem Wesen des Geistes nicht zu wissen, woher es kommt oder wohin es geht, wie Christus im dritten Kapitel des Johannesevangeliums sagt. (13) Aber damit wir vom Geist das begreifen, was wir begreifen können, müssen wir beachten, auf welche Weise der Geist Kraft oder Fähigkeit oder Macht ist. Und zwar ist er Gott insofern, als er vollkommene Kraft ist, durch die alle Dinge geschaffen sind. Schöpferische Kraft ist also Gott. Wenn wir also jene geistige Kraft mit einem körperlichen Gleichnis erfassen wollen, dann ist jene Kraft gleichsam wie das Feuer in dieser stofflichen Welt, wie es Dionysius im fünfzehnten Kapitel der Himmlischen Hierarchie schön herleitet, wo er vierundzwanzig Erscheinungsformen des Feuers anspricht, die, wenn auch nur ganz von ferne, immerhin ein Gleichnis der göttlichen Kraft wiederzugeben scheinen. Denn er ist an sich unsichtbar und erscheint nur im Feurigen; unsichtbar ist er in alle körperlichen Dinge eingesät und geht eingemischt in allem mit einher, frei von allen Einschränkungen der Unreinheit, unaufhaltbar, alles überwindend, leuchtend, mit den Sinnen nicht erfahrbar, mitteilsam – denn ein Brand steckt den anderen an –, ohne dabei je weniger zu werden. Mehr darüber ebendort. Diese allerschaffende Kraft ist wie die auf alle Dinge, die auf der Erde entstehen, einwirkende wärmende Kraft der Sonne; das äußert auch Paulus im zwölften Kapitel des ersten Korintherbriefes (1 Kor 12,6). Und dafür gibt es viele Beispiele: bei der Orgel; bei einem Menschen, der verschiedene Reden in ein und demselben Geist vorbringt; bei ein und derselben Rede, die von verschiedenen Zuhörern verschieden aufgenommen und verstan3

Vgl. zum Folgenden Anm. 2.

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den wird, weil der eine mehr am Geist oder an der Einsichtsfähigkeit teilhat als der andere; beim Glasmachen, wo man durch das Blasen mit dem Mund verschiedene Gefäße hervorbringt. (14) Und weil es eine unabhängige Kraft oder Allgewalt gibt, die sich folglich nicht so vermehren kann, wie sie an sich ist, nämlich einzig und unabhängig, deswegen entstehen mehrere Geschöpfe, die an ihr teilhaben. Die Vielheit ist also eine Entfaltung der Einheit, die von der unendlichen Kraft der Einheit abfällt. Denn wie eine Zahl die Kraft der Einheit ausfaltet, indem sie aus der unbegrenzten Kraft der Einheit zur begrenzten Kraft einer Zahl abfällt, so geht die Vielheit der Dinge aus einer unendlichen Kraft hervor, von der sie abfällt, nämlich von deren unendlichen Einheit zu einer endlichen Vielheit. Die Vielheit der Seienden aber hat so, wie sie es vermag, auf eine bessere Art an der Einheit der unendlichen Kraft teil. Deswegen hat die Vielheit, soweit sie es vermag, einiger an der Einheit teil. (15) Daher gilt: Weil die Ordnung eben diese Teilhabe an der Einheit in der Vielheit ist, ist alles, wie Paulus sagt, „was von Gott stammt, geordnet“ (Röm 13,1). Ja, wie die Einheit das ist, was die Ordnung in der Vielheit herbeiführt, so ist die göttliche Kraft, wenn sie als Schöpferin angesehen wird, die Kraft der Ordnung, so daß also die Ordnung die Welt ist – diese wird wegen der Schönheit, die aus der Ordnung kommt, „Kosmos“ genannt – und ihre Kraft Gott. Alles Bestehende besteht kraft einer Ordnung, wie die Harmonie kraft einer harmonischen Ordnung oder eines harmonischen Verhältnisses, die Herrschaft kraft einer herrschaftlichen Ordnung, der Mensch kraft einer menschlichen Ordnung; und dasselbe ist bei den Regierungen und allen bestehenden Dingen festzustellen. Deswegen geht „ein Reich, das in sich gespalten ist“, (Mt 12,25) zugrunde, wie Christus sagt; denn indem es von der Einheit der Ordnung abfällt, fällt es von der Kraft ab. (16) Die Welt besteht folglich kraft einer Weltordnung. Die Welt ist also eine Ordnung der Einheit in der Vielheit ihrer Teile. Da nun für eine Ordnung wenigstens drei Dinge notwendig sind, nämlich ein Höchstes, ein Geringstes und ein Mittleres, so hat diese Welt entweder in höchstem Maße oder in geringstem Maße oder in einem mittleren Maße Anteil an der Kraft des göttlichen Geistes. (17) In den am höchsten stehenden Teilen der Welt findet man also jene Kraft, die auf eine vorwiegend geistige Weise an jener hohen und edlen Kraft der Freiheit des vollkommenen Geistes teilhat. Daher sind die höchsten Geschöpfe der göttlichen Kraft und hohen Macht sehr ähnlich, denn sie haben in sich eine Kraft, die an der hohen Freiheit und großen Feinheit der Schöpferkraft teilhat; und zwar sind sie Kräfte des Erkennens, welche die Bilder der Dinge durch sich selbst hervorbringen, wann immer sie wollen, wie Gott die Wesenheiten der Dinge durch seine Kraft hervorbringt. Und deswegen sind diese Kräfte des Erkennens weit entfernt von jeder ausgedehnten, körperlichen und teilbaren Größe, weil sie Kräfte sind, die an der ersten absoluten Kraft in höchster Weise teilhaben.

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Eine Kraft ist also um so stärker, in je höherem Maße sie geeint, eingefaltet und unausgedehnt ist. Und darum ist die göttliche Kraft die stärkste, weil sie im höchsten Maße eine und einfach ist. Folglich ist diese Kraft der höheren Natur über eine zusammenhängende Größe und alle Zeit und alles, was es derartiges gibt, erhaben. (18) Die Kraft der geringeren Natur aber besteht im Wesentlichen in der Ausfaltung der Ausdehnung und Veränderung, wo die Kraft nur zusammengezogen im Körper vorhanden ist. Denn wie in der höheren Natur die Ausfaltung der göttlichen Kraft noch nicht zur Ausfaltung übergegangen ist, soweit es diese Welt betrifft, sondern sich noch einfaltet und alles Körperliche mit ihrer Geistigkeit umfängt und durchdringt, so verhält sich die unterste Natur in entgegengesetzter Weise, weil das Körperliche die Kraft, an der es teilhat, in sich aufsaugt, so daß sie in ausgefalteter Weise in den Körper zusammengezogen ist. (19) Die mittleren Naturen sind aus den beiden anderen zusammengesetzt. Die höchste Kraft wird so begrenzt, daß sie das ganz einfache vernünftige Sein ist, die geringste so, daß sie das vielfach zusammengesetzte körperliche Sein ist, die mittlere so, daß sie ein daraus gemischtes Lebendiges ist. So erfahren wir, daß „Sein, Leben und Erkennen“4 in der Welt eine Ordnung der göttlichen Kraft ist. (20) Die höchsten Naturen haben infolge ihrer edlen Art Freiheit in der Bewegung: Entweder wenden sie sich auf dem Weg der Einung zu ihrem Urgrund hin – und dies ist die Bewegung der Wahrheit, des Lebens, der Liebe, des Friedens und der Ruhe, weil sie zur lebendigen Quellkraft hinführt, die ihre Ursache und ihr Ziel ist – oder sie bewegt sich nach draußen und wendet sich zur Welt hin – und das ist der Weg des Hasses, der Trennung, der Unruhe, der Unwissenheit, des Todes und der Dunkelheit, weil es die Abwendung vom Quellgrund und der Wahrheit ist und die Hinwendung zu einem bloßen Schattenbild des Guten. Demzufolge sind die Kräfte getrennt von oder hingewendet zu Gott. (21) Und die göttlichen Kräfte sind dem Rang nach in dreimal dreifacher Abstufung unterschieden, so daß bei ihnen die Kraft der Ordnung einig in der Verschiedenheit der an ihr teilhabenden und sich zu ihr hinwendenden Geister widerstrahlt. Und diese Geister bekommen ihre Namen gemäß der Eigenart, durch die sie, wie es die Heiligen erfahren haben, an der göttlichen Kraft teilhaben, wie zum Beispiel die seraphischen Engel, die cherubinischen Engel, und so weiter. Denn die einen Engel haben an der Kraft, ihrer Gattung entsprechend, auf solche, nämlich seraphische Weise Anteil, die anderen auf cherubinische, und so weiter. Und ein Geist hat wiederum auf je eigene, besondere Art an dieser seiner Gattung entsprechenden Weise Anteil; so hat zum Beispiel Michael so an der Art eines Erzengels teil, daß er gewissermaßen „Gottes Stärke“ insoweit ist, wie 4

Bei „Sein, Leben und Erkennen“ handelt es sich um einen von Augustinus geprägten und gern gebrauchten Ternar, den Cusanus gleichfalls sehr häufig verwendet.

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es eben einem Erzengel zukommt. Und das gleiche gilt für alle anderen Namen der Engel, die meistens auf „el“ enden, so daß wir begreifen, daß ein Engel nichts anderes ist als Gottes Kraft, die so in seinem Rang zusammengezogen ist. (22) Über die Zustände der anderen, von Gott abgewandten Geister, welche Mächte der Finsternis (Eph 2,2; 6,12; Kol 1,13) sind, erjagen wir die Einsicht, daß es Engel sind, die sich zur Trennung gewendet haben, gewissermaßen satanische Engel; und daher heißt diese Bewegung von der Wahrheit weg und hin zur Welt „Herrschaft der Welt“, weil sie zu dieser hingewandt ist, und die Bewegung der göttlichen Kräfte heißt göttliche „Herrschaft“ (Kol 1,16), weil sie zu Gott hingewandt ist. Danach haben alle Geister an der Herrschaft der absoluten Kraft teil, weil sie hohe und abgetrennte „Mächte“ sind. Sie sind folglich den Bewegungen der zusammengezogenen Kräfte vorgeordnet. (23) Daher sind alle für eine Art charakteristischen Kräfte, die eine Ordnung der Bewegung einer Vielzahl von Seienden, welche an jener Kraft in der Verschiedenheit der Bewegung teilhaben, in sich einfalten, einem erkennenden Lenker untertan, der gewissermaßen die getrennte Kraft jener spezifischen Ordnung ist, an der jene Seienden in ihrer Vielheit so verschiedenartig teilhaben. So sehen wir nämlich eine Vielzahl von Lebewesen an der Löwenkraft teilhaben, und zwar in je verschiedener Löwenbewegung, die auf eine Einheit zurückgeht. Dieser Art folglich ist, sagen wir, die Kraft des Erkennens vorgeordnet, die die Vielheit in der Einheit der spezifischen Ordnung beständig regiert. Die regierende Kraft des Erkennens nennen wir die Vorgesetzte von allen Bewegungen, die einer Art zukommen und an denen die Einzelwesen in ihrer Vielheit je unterschiedlich teilhaben, und zwar in dem Sinne, daß jeder einer Art zukommende Unterschied in der Kraft und der Bewegung aufgelöst wird zu einer abgetrennten Kraft, wobei diese Verschiedenheit in der dieser Art zukommenden Einheit wie in der Kraft der Ordnung, die immer eine Kraft des Erkennens ist, eingefaltet wird und von ihr insofern, als sie an sich teilhaben läßt, ausgefaltet wird, so daß auf diese Weise der Geist, der Gott ist und an dem man allein durch den Geist des Erkennens teilhaben kann, „alles in allen“ (1 Kor 15,28) ist und „durch die Hand eines Engels alles tut“, wie Rabbi Moyses sagt,5 oder anordnet (Apg 7,53), wie der heilige Stephanus im siebenten Kapitel der Apostelgeschichte sagt. (24) Von da ausgehend muß man sich über die beeinflussenden Himmelsgeister, Sonnengeister, Mondgeister und die übrigen ähnliche Vorstellungen machen. Denn wir sagen ja, daß allen geordneten Bewegungen, die bei all ihrer Verschiedenheit durch die Ordnung auf die ihrer Art zukommende Einheit zurückgehen, eine Kraft vorsteht, die eine Erkenntniskraft ist; denn durch bloße Fügung und Zufall können diese Dinge nicht geschehen, bei denen die Einheit in der ihrer Art zukommenden Ordnung in schöner Weise widerstrahlt. 5

In der kritischen Ausgabe konnte die exakte Stelle nicht nachgewiesen werden.

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So lesen wir, daß geordneten Reichen Geister vorstehen, wie im Buch Daniel (Dan 10,13.20f.), und ebenso den Gemeinden, wie in der Offenbarung (Offb 1,20; 2,1.8.12.18; 3,1.7.14), und überhaupt jeder geordneten Versammlung. Denn, wie Optatus Milevitanus im zweiten Buch „Gegen Parmenianus“ sagt:6 Dann hat das Lehramt der Kirche einen Engel, der ihr beisteht; und wie Hieronymus sagt: Dann hat die römische Kirche nicht nur einen Engel als Beschützer, sondern ohne Zweifel ist sie auch beseelt von apostolischem Geist, dessen Sitz sie innehat, wie er im Brief an Hilarius am Ende schreibt.7 Ebenso ist über die anderen Bischofssitze in gleicher Weise zu sprechen. (25) Folglich: Weil der Mensch ein Lebewesen ist, das aus einer höheren, geistigen und einer geringeren, körperlichen Natur zusammengesetzt ist, hat er in seiner höheren Natur eine Ordnung, die gemäß Stufen der Macht entfaltet ist, nämlich jene Kraft, die der körperlichen Natur am nächsten steht, und jene, die an der Natur der abgetrennten Intellekte teilhat, und eine mittlere, so daß die Kraft der Ordnung so, wie sie es jeweils vermag, in diesem Teil widerstrahlt. Ebenso ist auch die körperliche Natur eine in besondere Stufen gegliederte Einheit. Also entfaltet sich die menschliche Kraft in eine geistige und höchste, eine körperliche und geringste und eine mittlere und ist somit eine Kraft menschlicher Ordnung. (26) Die höchste Stufe der menschlichen Ordnung ist die, durch deren Vermittlung sich der Mensch auf dem Weg der Einung in sein Inneres und auf dem Weg der Liebe zum Quellgrund des Lebens bewegen kann. Denn die göttliche Kraft, die das wahre Sein der Erkenntnis verleiht, gibt der erkennenden Natur die Kraft, das wahre Leben an der Wurzel und Quelle der Ewigkeit zu kosten. Und deswegen kommt jede erkennende Natur nur beim Begreifen des Wahren und somit bei Gott, der die Wahrheit ist, zur Ruhe. (27) Obwohl die Bewegung, die im Begehren des Geistes besteht, von dessen Natur ausgeht und zum Mittelpunkt des Lebens, das heißt zu Gott hinführt, ist diese Bewegung seines Begehrens in der tätigen Ausübung ihrer Kraft schwach, weil sie freiwillig ist und von Mächten abhängt, die dem Körper und der Welt zugewandt sind. Denn ohne Unterstützung der geringeren Mächte kann sie nichts in die Wirklichkeit überführen. Und deswegen schwankt sie in ihrer Bewegung vielfach. Denn immer wenn sie dazu angestoßen wird, sich geistig auf dem Wege der Liebe zum Mittelpunkt aufzumachen, dann kommt auch dieser Anstoß von einem guten Geist, der zu Gott hingewendet ist; denn ein zu Gott hingewendeter Geist strebt danach, die Bewegung des menschlichen Geistes zu Gott hinzuwenden, und ein von Gott abgewendeter, sie von ihm abzuwenden. 6 7

De conc. cath., I, c.6 (h XIV n.36, 1-5); Predigt XXI, n.8, 13-14. Ein Brief des Hieronymus an Hilarius ist nicht überliefert, vgl. aber De conc. cath. II, c.34 (h XIV n.256, 33-34), wo Cusanus auf das Decretum Gratiani, pars 2 Causa 24, q.1, c.14 (ed. Friedberg I, p.970) verweist.

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Wenn also der Geist den Weg in die Welt einschlägt, dann tut er dies auf Anregung eines bösartigen Geistes hin. (28) Die Bewegungen aus der Welt hin zur Wahrheit, zum Frieden und zur Ruhe sind vielfältig, mögen sie auch alle in der Kraft der Bewegung der Liebe eingeschlossen sein. Daher wird jede beliebige Bewegung von irgendeiner Kraft unterstützt, so daß die „dienenden Geister“ (Hebr 1,14), die solchen göttlichen Bewegungen vorstehen, unseren Geist unterstützen und ihn mit sich führen. Und ebenso hat uns Christus im sechzehnten Kapitel des Lukasevangeliums (Lk 16,22) unterwiesen, wie jene Engel, durch deren Befehlsgewalten der Geist in Bewegung gesetzt wurde, auf daß er zu Gott gelange, sich zu einem solchen Geist gesellen, wenn er diese Welt verläßt, und ihn vor Gott bringen. (29) Ebenso stehen auch den verschiedenen Bewegungen der Begierde bösartige Geister (Lk 8,2) vor. Die Begierde hat freilich die erste Stelle inne und schließt in sich alle weltlichen Bewegungen, wie uns der Heilige Johannes im kanonischen Brief belehrt (1 Joh 2,14-16). Daher, wenn bösartige Eingebungen unseren Geist befallen, damit er sich nach draußen bewege, dann führen sie ihn in das Reich, in dem Habgier oder Hochmut oder Vergnügungssucht herrschen; und diesen Reichen stehen die Fürsten der Finsternis vor, wie man im vierten Kapitel des Lukasevangeliums (Lk 4,1-13) und im zweiten Kapitel des Epheserbriefes (Eph 2,2f.) liest. Es gibt auch in jedem beliebigen Reich viele ausgedehnte Provinzen, wie es viele Erscheinungsformen von Hochmut, Habgier oder Vergnügungssucht gibt, denen jeweils ein bösartiger Geist vorsteht. Daher begleiten jene bösartigen Geister, durch deren Herrschaftsbereiche der Geist seinen Weg nimmt, ihn mit Verführungen und Schmeicheleien und scheinbaren Gütern, um ihn entblößt und, unfähig zurückzukehren, vor den Fürsten der Finsternis zu bringen. (30) Und weil sich unser menschliches Erkenntnisvermögen in seiner Schwäche nicht selber durch den Verstand oder die Wahrnehmung dazu verhelfen kann, die Wahrheit, die Gott ist, zu erreichen – denn Gott ist nicht durch den Verstand erreichbar, noch auch die Wahrheit, so wie sie an sich ist, sondern immer nur ein Abbild der Wahrheit –, darum blieb der Mensch unwissend, von dichtem Schatten und Verführungen umgeben und jenen Gewalten der Luft und der Finsternis unterworfen. Den Beweis dafür liefert der Apostel im zweiten Kapitel des Epheserbriefes (Eph 2,2) und an anderen Stellen (Eph 6,12; Kol 1,13). (31) Deshalb wollte Gott im Menschen gleichsam wie in der Natur, in der die Welt ist, eins sein, auf daß er „Mikrokosmos“ genannt werde, seine Schöpferkraft zum Ziel bringen und vollenden, seine Macht, die er durch viele Generationen vor den Menschen verborgen hatte, offenbaren und die menschliche Schwäche der Gewalt der Fürsten der Finsternis entreißen (Kol 1,13) und zur höchsten Höhe bringen. Dabei sah er über die Zeiten der Unwissenheit hinweg (Apg 17,30), wie Paulus im siebzehnten Kapitel der Apostelgeschichte sagt, und sandte seinen eigenen Sohn, in dem er die ganze Welt wiederherstellte (Eph 1,10). Wenn wir an ihn glauben, werden wir im Heiligen Geist wiedergeboren und

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empfangen das geistliche Licht als unseren Anteil am Licht des Geistes Christi. Mit ihm vereint werden wir in dieser Welt durch Glaube, Hoffnung und Liebe Adoptivsöhne (Röm 8,15; Gal 4,5; Eph 1,5) Gottes und der Auferstehung des Lebens in ihm und empfangen so den Heiligen Geist, der ein Geist des Hinübertragens ist, in dem wir aus dieser Welt mit herrlichem Entzücken in das Reich des ewigen Friedens hinübergetragen werden. (32) Daher ist es offenkundig, wie wir zuerst durch die Kraft des Vaters, des Schöpfers, ins Sein kommen – das ist ein Sein der Natur. Dann erlangen wir durch die Kraft des Wortes, das Fleisch geworden ist, die Möglichkeit der Gotteskindschaft – das ist ein Sein der Gnade. Schließlich erlangen wir diese Möglichkeit der Gotteskindschaft durch die Kraft des Heiligen Geistes – das ist ein Sein der Herrlichkeit. Gott, insofern als er Vater ist, erschafft den Menschen; im Sohn nimmt er ihn an Sohnes statt an, im Heiligen Geist unterweist er ihn, damit er das Reich erlangt. (33) Folglich kann unser Geist sehr wohl Geister unterscheiden und prüfen, ob sie aus Gott stammen (Joh 8,47; Apg 5,39), das heißt, ob sie zur Bewegung der Liebe, des Friedens und der Wahrheit anregen oder antreiben, oder ob sie andere Geister sind, um dann die geistige Bewegung anzunehmen oder zurückzuweisen. Und er sieht, wie er im Geist Christi wiedergeboren werden muß und wie er sein Erkenntnisvermögen in dessen Dienst gefangen halten muß, damit der Geist und die Kraft Christi in ihm wirken und ihn von den Toten auferstehen lassen und zum Leben führen, so wie sie auch Christus auferstehen ließen. So wird unser Geist dadurch, daß der Geist Christi und dessen Kraft in ihm wohnen, und in der Einheit mit Christus dazu fähig, die Adoption der Söhne Gottes zu erlangen, und er wird im Leben der Freude zusammen mit Gott herrschen, der auf ewig gepriesen sei. (34) Erjagt werden können die Geister infolge des einer Art zukommenden Unterschiedes der Bewegungen, wie die Philosophen über die Geistwesen gesagt haben, daß es ebenso viele Geistwesen gibt wie Planetenkreise und so viele Planetenkreise, wie es unterschiedliche Bewegungen im himmlischen Bereich gibt. Denn jene Kraft, die von der Bewegung ausgefaltet wird, kann man Gewalt oder Geist nennen etc. Daher können wir, wenn wir in verschiedenen Einzelwesen der gleichen Art denselben geistigen Antrieb finden, einen Geist benennen, an dessen Kraft die Einzelwesen teilhaben. Und so ist der Himmel oder das Reich jenes Geistes gewissermaßen jene Art gleichsam eines Planetenkreises, dem er vorsteht. Ebenso erfahren wir verschiedene und je einer Art zukommende Bewegungen oder Antriebe in den Elementen und von den Dingen, die sich aus den Elementen zusammensetzen: von Mineralien, Pflanzen, empfindenden Lebewesen, und vermuten auch daher, daß es verschiedene Geister gibt. Und diese Geister sind Geister des Erkennens, weil sie auf erkennbar regelmäßige Weise und gemäß einer einzigen Ordnung eine Bewegung hervorbrin-

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gen; und jene Geister sind nichts anderes als diejenigen abgetrennten Geistwesen, die die Arten oder die Planetenbahnen lenken. (35) Daher neigt die Art des Menschen, soweit sie tierisch ist, durch den Antrieb ebendieses tierischen Anteils zu einer Bewegung fleischlicher oder tierischer Begierde. Aber weil dem Menschen ein ihm eigener edler Geist vorsteht, widersteht er dieser Neigung durch die Macht dieses nur ihm eigenen Geistes. Und daß dieser Geist in uns ist, erfahren wir dadurch, daß wir der Neigung des Fleisches durch Fasten, Keuschheit und Tugendübungen widerstehen können. Wir haben also über die Neigung hinaus, die gemäß ihrer tierischen Art dem Fürsten dieser Welt (Joh 12,31; 14,30; 16,11) untersteht, einen Geist, der frei, hoch und edel ist und der keinem Lenker untertan ist, es sei denn, daß er selbst der Unterordnung zustimmt. (36) Der Herr über den tierischen Anteil bietet aber alle Kräfte auf, ihn sich zu unterwerfen und zu seinem Knecht zu machen. Und der Geist unterwirft sich ihm, wenn er in der Sünde den tierischen Begierden dient. Wenn aber dieser Geist des Menschen sich den Geist des tierischen Anteils unterwirft, so daß also die Tiernatur ihm dient und hilft, seine geistigen Wünsche zu erfüllen – und diese sind, entsprechend der Natur des Geistes, der ihnen vorsteht und der Gott ist, der beste Antrieb zu geistigem Leben und geistiger Wahrheit –, dann löst er sich vom Körper der Tiernatur und kehrt zum Himmel zurück, dem ein „Engel des großen Rates“ (Jes 9,6),8 das heißt die unendliche Kraft Gottes vorsteht: Denn jene unendliche Kraft ließ den Menschen, soweit es seine Tiernatur betrifft, aus Erde erstehen. (37) „Und Finsternis lag über dem Angesicht der Erde“ (Gen 1,2). Ebenso liegt auch jetzt noch die Macht der Finsternis über dem Angesicht der irdischen Tiernatur. Aber „er blies in ihn den Lebensatem“ (Gen 2,7), so daß der Mensch durch diesen Lebensatem als Ebenbild und Gleichnis Gottes erschaffen wurde und ins Leben trat. Daher besitzen wir insofern, als wir diesen Geist haben, der nach dem Vorbild Gottes in uns erschaffen ist, eine göttliche Natur (oder einen göttlichen Antrieb), die uns von der Tiernatur ablöst – denn die Macht der Finsternis hat in uns keinen Besitz – und in einen Bereich des Lichtes hinüberträgt, wo der Himmel des Lichtes ist, das Gott ist, „in dem es keine Finsternis gibt“ (1 Joh 1,5). (38) Erwäge auch folgendes: Wie es unter dem Fürsten der Finsternis9 viele Mächte der Finsternis gibt, die „dienende Geister“ (Hebr 1,14) sind und die zur Bewegung der Begierde gemäß dieser Welt der Finsternis anleiten – diese Bewegungen mögen zwar gemäß dieser Welt angeordnet sein, sie sind es aber nicht gemäß der Welt, aus der der Geist der Erkenntnis stammt, der für die Liebe zum Wahren und Guten empfänglich ist und dieses an der Quelle kosten kann –,

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Vgl. den Introitus der Tagesmesse „In Nativitate Domini“. Predigt LI, n.11, 18f.

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ebenso gibt es viele Geister des Lichtes, die auch Engel genannt werden, die „dienende Geister“ sind und zum Teilhaben „am Reich des Lichtes“ anleiten, dem Gott vorsteht, der ruhmvolle Schöpfer aller Dinge. Daher hat der Mensch, der einerseits auf verschiedene Weisen versucht werden kann, damit er nach dem Willen des Fürsten der Finsternis in die Knechtschaft geführt werde, andererseits auch Beschützer und Helfer, die ihm den Trieb zum Licht hin eingeben.

Predigt LIX Sedete, quoadusque induamini virtute ex alto Bleibt sitzen, bis ihr mit Kraft aus der Höhe erfüllt werdet Zeit: Ort: Fest: Zählung Koch: Edition: Deutsch:

7. Juni 1446 Mainz Dienstag nach Pfingsten 54 h XVII/4, 313-319 –

ZUSAMMENFASSUNG Die Kraft Gottes erschafft durch ihre Gnade den Geist, erschafft ihn in größerer Gnade neu und bringt ihn in größter Gnade zu Ehren (n.1). Wie er uns erfüllt, gilt es zu erfahren, damit wir ihn und das Evangelium nicht schuldhaft ablehnen. Cusanus erzählt dazu ein Gleichnis von drei Königssöhnen (n.2-3). Nur durch den Menschgewordenen kann der Mensch zu Gott aufsteigen. Wer dieses Ziel aus der Kraft des Verstandes erlangen will, ist blind. Wer Gott vermittels des Gottmenschen zu erreichen versucht, geht durch die Tür in den Schafstall der Heiligen. Ihm öffnet der Heilige Geist als Türhüter (n.4-5). Dies illustriert auch das Gleichnis vom Guten Hirten (n.6). Hirten, die sich selbst weiden, gefallen Gott nicht und die Schafe wollen nicht auf sie hören. Dies gilt in Kirche, Staat und jedem Wesen. Ein Hirte soll die Menschen dazu anleiten, in größerer Fülle zu leben (n.7-10). Wir erhalten Anteil an der Kraft aus der Höhe, die den Menschen emporführt, wie Cusanus an einem Beispiel erläutert (n.11). Christus erhielt diese Kraft vom Vater und darf sie uns in der Taufe mitteilen (n.12-13). Dies ist die Gotteskindschaft, die man nur erlangen kann, wenn man ganz dem Sohn gehört und im Geist lebt (n.14-15). Sie gibt Anteil am Heiligen Geist, der alle Kräfte auf Gott ausrichtet, in Gott selbst den Vater mit dem Sohn verbindet und den Menschen in enge Freundschaft mit Gott führt, die das Höchste und Beglückendste ist (n.16).

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Predigt LIX Bleibt sitzen, bis ihr mit Kraft aus der Höhe erfüllt werdet (1) „Bleibt sitzen, bis ihr mit Kraft aus der Höhe erfüllt werdet“ (Lk 24,49), steht im letzten Kapitel des Lukasevangeliums geschrieben. Wir sitzen an zwei Tagen und betrachten diese Kraft aus der Höhe, die die Kraft Gottes ist, die in ihrer Gnade den Geist erschafft, in größerer Gnade ihn wiedererschafft und in größter Gnade zu Ehren bringt. (2) Wir sind heute zusammengekommen, um etwas über die Art, wie wir mit dieser Kraft erfüllt werden (Lk 24,49), zu hören. Denn wenn wir nicht mit dieser Kraft erfüllt sind, nachdem wir erfahren haben, daß wir für sie empfänglich sind, dann werden uns Schmerzen und Seufzer bis in alle Ewigkeit in ihrer Gewalt haben. Christus lehrt, wie er der Fall vieler und die Aufrichtung vieler (Lk 2,34) ist, und daß diejenigen, die das Evangelium oder die Gute Nachricht vom Himmelreich nicht hören, es besser haben werden als diejenigen, die es zwar hören, aber nicht erfassen oder gar verachten, wie im zehnten Kapitel des Lukasevangeliums (Lk 10,16) und im fünfzehnten Kapitel des Johannesevangeliums (Joh 15,20) geschrieben steht. Denn ihr Wurm stirbt niemals, und das Feuer erlischt niemals (Mk 9,44), wie im neunten Kapitel des Markusevangeliums steht. (3) Angenommen, ein sehr mächtiger König, etwa der König von England, hätte drei Söhne, die ihm entführt und in ein fernes Land, etwa nach Italien, gebracht würden, und der König sandte einen Boten aus, sie zu suchen, damit sie in ihre Erblande und zur Teilhabe an der Königsherrschaft zurückgebracht würden. Sie aber hätten, weil sie im Kindesalter entführt wurden, keine Kenntnis von ihrer Herkunft und glaubten, Italiener zu sein; und dort wurden sie verkauft und in die Sklaverei geführt. Der Bote findet nun einen, verkündet ihm seine Geburt und Abstammung und den Wunsch seines Vaters und bringt ihn zurück. Er findet noch einen zweiten; und um diesen zurückzubringen, bietet er ihm an, ihn aus der Sklaverei zu befreien und sich an seiner Stelle in die Sklaverei zu begeben. Aber weil diesem sein italienisches Vaterland angenehm ist, in dem er sich so lange aufgehalten hat und wo er etwas hat, das er liebt, so wird er von solcher Liebe zurückgehalten und zögert. Dann stirbt das, was er liebte, und die Sklaverei wird ihm so recht beschwerlich. Da schmerzt es ihn unaufhörlich, daß er nicht auf den Vorschlag des Boten eingegangen und zurückgekehrt ist. Und er empfindet viel größeren Schmerz als der dritte Sohn, der nicht gefunden wurde, weil er weiß, daß er ein Königssohn ist; der dritte aber weiß es nicht etc.1 1

Dieses Beispiel benutzt Nikolaus von Kues auch in anderen Predigten, vgl. LI, n.9, 617, LII, n.6, 2-5, LIII.

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(4) Evangelium: „Amen, amen, das sage ich euch: Wer nicht durch die Tür hineingeht“ (Joh 10,1-10) etc. Christus sagte zu dem Blindgeborenen, den er heilte, daß er in die Welt gekommen sei, „damit die Blinden sehend und die Sehenden blind werden.“ Als die Pharisäer das hörten, fragten sie, ob etwa auch sie blind seien. Er antwortete: „Wenn ihr blind wärt, hättet ihr keine Sünde. Jetzt aber sagt ihr: Wir sehen. Darum bleibt eure Sünde.“ (Joh 9,39-41) Danach fährt er fort: „Amen, amen, “ (Joh 10,1-10) etc. (5) Daher kann das Evangelium in dem Sinne verstanden werden, daß jene blind sind, die glauben, daß sie sehend seien und aus eigener Kraft in den Schafstall eintreten könnten, das heißt in die Gemeinschaft der Heiligen oder die „Gemeinschaft der Erstgeborenen“ (Hebr 12,23). Denn der Mensch kann nur durch den menschgewordenen Gott zu Gott dem Vater aufsteigen. Denn der Mensch kann nicht in einen Bereich aufsteigen, der außerhalb seiner Art liegt, eben weil er ein Mensch ist und das Vermögen seiner Kraft innerhalb der menschlichen Art eingeschlossen wird. Das Leben seines Geistes aber ist Gott, der von keinem menschlichen Vermögen erreicht werden kann. Wer also glaubt, daß er insofern, als er Mensch ist, das Unsichtbare sehen könne, der ist wahrhaft blind in seinem Verstand. Somit ist einer, der danach strebt, mit seinem Verstand voranzuschreiten und der in seinem Verstand selbst den Weg zu besitzen glaubt, wahrhaft blind, weil er seine Anstrengung darauf verwendet, anderswo hinaufzuklettern, und „nicht durch die Tür hineingeht“ (Joh 10,1). Wer aber zugibt, daß er machtlos ist, weil er weiß, daß Gott nur durch einen Menschen erreicht werden kann, der auch Gott ist – denn nur ein solcher eignet sich als Vermittler – und wer glaubt, daß Christus diese Tür und dieser Weg ist, der „geht durch die Tür hinein“ (Joh 10,1) in den Schafstall der Heiligen. Und wer an diese Tür klopft, dem wird vom Türhüter, der der Heilige Geist ist, geöffnet. (6) Dasselbe zeigt sich anders in der Weise, wie Jesus uns offenbaren will, wie er selbst der Weg zur Weide sei, weil er in die Welt gekommen ist, damit diejenigen, die nicht sehen, sehen mögen. Denn wenn das Auge nicht sieht, fehlt ihm sein eigentliches Lebenselement. Ebenso verhält es sich mit der Erkenntnisfähigkeit, die nichts weiß. Denn er wollte sagen, daß er gewissermaßen als die Tür zur Weide des geistigen Lebens gekommen sei, weil er gekommen ist, damit sie das Leben in Fülle haben (Joh 10,10). Und das sagt er durch ein Gleichnis. Denn jener Hirte, der auf diesem Weg einhergeht, um die Schafe zu weiden, betritt durch Christus die Weide, weil jene die Weide Christi ist, die niemand sonst hatte. Denn niemand, der danach fragt, was ihm gehört, geht durch die Tür der Weide Christi.

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Denn Christus setzte, um das Heil seiner Schafe zu gewinnen, sein eigenes Heil ein; und alles Seine, sogar sich selbst wandte er daran, daß seine Schafe heil sein und im Überfluß leben sollten. (7) Ebenso haben wir hier einen Hinweis darauf, wie die Regierungsgewalt über Christen, wenn sie diesen Weg und diese Tür nicht hätte, ungeordnet ist und Gott nicht gefällt; was die Ursache der Auflehnung ist; warum die Schafe nicht auf die Stimme des Hirten hören wollen, warum sie ihn nicht erkennen etc.: nämlich weil er „anderswo eingestiegen ist“ (Joh 10,5). „Anderswo eingestiegen“ ist derjenige, der, obwohl er ein Hirte der Schafe sein soll, kommt, um etwas anderes zu weiden, nämlich sich selbst und die Seinen etc. (8) Das Evangelium lehrt uns, daß Christus die Tür des Schafstalles ist, durch die jeder Geist, der ein Hirtenamt des Vorsitzes innehat, eintreten muß, um die Weiden zu finden (Joh 10,9), die das Leben in Fülle gewähren. Denn wer die Weiden des Lebens sucht, kann sie nur im Garten des Lebens finden; und dieser Garten hat „den Weg“ (Joh 14,6), das heißt Christus, oder „die Tür“ (Joh 10,1) als nur ihm zustehendes Eigentum. (9) Denn der wahre Hirte, der es liebt, seine Schafe zu erquicken, sie zu weiden und sich gehorsam zu machen, muß die Schafe auf diesem Weg Christi und durch diese Tür hineinführen und herausführen und so mit den Schafen durch die Tür eintreten und nicht anderswo, damit er nicht „ein Dieb und ein Räuber“ sei. Ein Gleiches gilt auch für jeden Geist des Vorsitzes beim Menschen, soweit er Glieder seiner geringeren Macht benötigt. Denn wenn der Hirte sich selbst für das Heil und das Leben der Schafe opfert und nur kommt, wenn er vom Vater ausgesandt wurde, wie Christus, dann ist der Gehorsam der Untergebenen groß, die nichts erhalten als das Futter des Lebens und sehr gehorsam sind und dem Hirten folgen. Und hier berühren wir jede Ursache von Gehorsam, soweit die Führer in jedem Staat betroffen sind, und jede Ursache von Ungehorsam; denn sie gehen nicht durch die Tür, das heißt durch Christus, zur Herrschaft hinein, sondern anderswo, das heißt um zu herrschen, zu schlachten (Joh 10,10) etc. (10) Ebenso wie im Staat gilt dies folglich in jedem beliebigen Wesen. Denn der Geist erhebt sich durch die Tür, das heißt durch Christus hindurch, im Menschen zu einer neuartigen Regierung – weil er bereit ist, um der Weide des Lebens willen in Trennung und Tod einzuwilligen, gehorchen ihm dort alle Mächte und hören auf seine Stimme –, und indem dieser Geist einund ausgeht, findet er die Weide, damit sie in größerer Fülle leben (Joh 10,10). Jesus ist gekommen, damit die Menschen nicht nur aus dem Leben ihres Geistes, sondern in größerer Fülle leben (Joh 10,10). Ebenso der Hirte und Führer, der zur Regierung kommt: damit die Untergebenen nicht nur in ihrer früheren Lebensweise erhalten werden, sondern auch in größerer Fülle leben (Joh 10,10), in Frieden, Reichtum und mit den übrigen Gütern versehen, ist er ein wahrer und geliebter Hirte, der gehört wird und der auf dem Weg, der Christus ist, einhergeht.

Predigt LIX: Bleibt sitzen, bis ihr mit Kraft aus der Höhe erfüllt werdet

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Ebenso ist auch der Geist, wenn er den Menschen dazu anleitet, daß er in größerer Fülle lebt (Joh 10,10) als in diesem Leben des Fleisches, nämlich im Leben des Geistes, ein Geist nach Christi Art. (11) Abgesehen davon, daß wir „mit Kraft aus der Höhe erfüllt werden“ (Lk 24,49), das heißt über eine Kraft verfügen, die uns zur Höhe des Himmels bringt, müssen wir auch bedenken, daß diese Kraft aus der Höhe eine hohe und große Gnade ist, an der unser vernünftiger Geist teilhat, weil er sie von der göttlichen Kraft selbst geschenkt bekommt. Vergleichbar ist ein gelehrter, in einer edlen, ganz besonderen und äußerst nützlichen Kunstfertigkeit geübter Mechaniker, der einen Sohn gezeugt und ihm auf dem Wege der Zeugung das tierische Leben gegeben hat. Später läßt er ihn an seiner Gelehrsamkeit teilhaben und schenkt ihm einige Kunstfertigkeit, indem er ihn unterweist, so daß er also durch ein Geschenk der Gnade mit dieser Kunstfertigkeit erfüllt wird; denn wenn sie ihm nicht auf dem Wege des Schenkens mitgeteilt würde, könnte er sie nicht erlangen. Der Vater aber schenkt sie ihm, damit er durch sie in dieser Welt ohne Schaden ehrbar und lobenswert lebe, der ansonsten zwar lebte, jedoch auf mühselige Weise, unglücklich und leidvoll. (12) Ebenso hat Gott, der Vater, Christus Jesus, seinem eingeborenen Sohn (Joh 1,18; 3,16; 1 Joh 4,9), den Geist vernünftigen Lebens geschenkt und ihm damit das höchste Geschenk gemacht, damit er in ewiger Herrlichkeit in der Welt oder im Reich seines Vaters lebe. Und er hat diesem seinem Sohn die Macht gegeben, dieses Geschenk des Vaters allen mitzuteilen, die gläubig danach streben. Und so erlangen wir alle, die wir in Christus getauft sind, dieses höchste Geschenk der Kraft durch die Einheit unseres Geistes mit dem Geist Christi. (13) Wir alle nämlich, die wir durch die Taufe in den einen Leib Christi aufgenommen wurden, wurden mit dem einen Geist getauft und getränkt (1 Kor 12,13), wie es im zwölften Kapitel des ersten Briefes an die Korinther und im dritten Kapitel des Briefes an die Galater (Gal 3,27f.) heißt. Daher schreibt der Apostel im ersten Kapitel des Briefes an die Epheser: „Indem ihr glaubt, habt ihr das Siegel des verheißenen Heiligen Geistes empfangen, der das Unterpfand des Erbes ist, das wir erhalten sollen, der Erlösung, durch die wir Gottes Eigentum werden, zum Lob seiner Herrlichkeit.“ (Eph 1,13f.) Und so ist offenkundig, auf welche Weise wir gnädig gerettet sind durch den Glauben, und zwar nicht aus eigener Kraft; denn es ist Gottes Geschenk (Eph 2,8), wie es im zweiten Kapitel des Briefes an die Epheser heißt. (14) Wer also durch den Glauben an Christus von dieser höchsten Kraft der Gotteskindschaft erfüllt werden will, muß Christus ganz angehören, weil die Kindschaft nur im Sohn erlangt werden kann.2

2

Anstelle des im Text der Edition stehenden „habere“ wird der Übersetzung die varia lectio „haberi“ zugrunde gelegt.

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Verlangt einer aber danach, Christus anzugehören, dann müssen sein Fleisch und damit seine Leidenschaften und Begierden gekreuzigt werden (Gal 5,24), wie im Brief an die Galater im fünften Kapitel zu lesen ist. Denn aus dem Geist lebt derjenige, in dem der Geist des Lebens Christi ist. Darum muß er auch im Geist wandeln und darf, wie es im fünften und sechsten Kapitel des Galaterbriefes heißt, ganz und gar keine „Werke des Fleisches“ vollbringen, wie etwa Unzucht, Unreinheit, leerer Ruhm etc., sondern nur Werke des Geistes, wie etwa „Liebe, Freude, Friede, Langmut, Geduld, Güte“ (Gal 5,19-24) etc. Denn wie die „Werke des Fleisches“ (Gal 5,19) verdorben sind, so ist auch die Frucht eines solchen Werkes verdorben; und wie die Werke des Geistes ewig, belebend und erfreulich sind, so ist auch die Frucht eines solchen Werkes Geist. Denn was der Mensch sät, wird er auch ernten (Gal 6,7), wie an derselben Stelle, im sechsten Kapitel des Briefes an die Galater, steht. (15) Dieser Geist, der ein Geist väterlicher Liebe ist, weil er der Geist des Sohnes Gottes ist, den Gott in unsere Herzen sendet (Gal 4,6), wenn wir im gestalteten Glauben3 vor ihn hintreten, in Christus wie in ein Gewand eingehüllt – dieser Geist ist jener, „in dem wir rufen: Abba, Vater“ (Röm 8,15; Gal 4,6), wie im dritten Kapitel des Briefes an die Galater geschrieben steht. Es ist ein Geschenk der Gnade, das wir durch unsere eigenen Verdienste nicht erlangen können, weil menschliche Anstrengungen, soviel sie sich auch bemühen, uns doch nicht in jener übernatürlichen Weise zum äußersten Ziel bewegen können, wie es die Liebe sowohl hier als auch im Vaterland vermag. Aber eine rechte Haltung wird uns durch den Heiligen Geist auf angemessene Weise eingeflößt. (16) Und unter den geschaffenen Gaben ist diese die vortrefflichste, ist sie doch etwas wie eine Teilhabe an einer ungeschaffenen Gabe, nämlich am Heiligen Geist, von dem aus sie unmittelbar in den verständigen Geist und subjektiv in den Willen fließt, wobei sie alle Kräfte der Seele belebt und auf Gott richtet. Denn wie der Heilige Geist ein unauflöslich verbindender Leim ist, durch den der Vater und der Sohn einander und uns lieben, so ist die Kraft der Liebe gewissermaßen eine Verknüpfung, durch die wir uns in Liebe mit Gott zu verbinden vermögen und in Gott, der unser Nächster ist, zusammengeleimt werden. Und das ist mit dem Ausdruck gemeint, daß Gott in uns bleibt und wir in Gott (1 Joh 4,12f.16), – nicht so, wie Menschen um eines ehrenvollen, erfreulichen oder nützlichen Gutes willen moralische Freundschaften aufgrund ihrer Teilnahme am Staatsleben anknüpfen; vielmehr ist diese Freundschaft die höchste in ihrer Teilnahme am Göttlichen und Beglückenden.

3

Vgl. zu der Formel Predigt LVII, Anm. 5.

Predigt LX Ego resuscitabo eum in novissimo die Ich werde ihn auferwecken am Jüngsten Tag Zeit: Ort: Fest: Zählung Koch: Edition: Deutsch:

8. Juni 1446 Mainz Mittwoch nach Pfingsten; Fest des hl. Bonifatius 55 h XVII/4, 320-327 –

ZUSAMMENFASSUNG Der Heilige Geist heißt „heilig“, weil er heiligt. Der Märtyrer legt aus der Kraft des Heiligen Geistes Zeugnis für Christus ab. Deshalb wurde der hl. Bonifatius zu Recht in das Verzeichnis der Heiligen aufgenommen (n.1-3). Das Leben muß zu dem, was noch nicht lebt, aber belebbar ist, herabsteigen (n.4-5). Anziehen des Empfängers des Lebens durch Gott, Kommen des Angezogenen und AnSich-Reißen des Lebens ähnlich einem lernwilligen Schüler bewegen sich aufeinander zu, um schließlich theologisch zusammenzufallen (n.6-7). Die Auferweckung bewirkt Christus, aber danach folgt der Schritt zum Leben oder zum Gericht. Die Stimme Christi erinnert an das eigentliche, unverderbliche Menschsein (n.8-9). Das Hören der Stimme führt zum Leben; das Auferstehen geht dem Voranschreiten zum Leben voraus (n.10-11). Christus offenbart uns das verborgene Leben, worin die Auferstehung besteht, da es seine Aufgabe ist, am Jüngsten Tag den Vater zu offenbaren, denn die Anziehungskraft des Vaters wirkt durch den, der von ihm gesandt wurde (n.12-13). Durch Hören dessen, was der Sohn vom Sehen kennt, gehen wir vom Glauben zum Verstehen über, da wir anders nicht zur Ruhe kommen als auf dem kürzesten Weg, der Christus ist (n.14-15).

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Predigt LX Ich werde ihn auferwecken am Jüngsten Tag (1) „Ich werde ihn auferwecken am Jüngsten Tag“ (Joh 6,44) lesen wir im sechsten Kapitel des Johannesevangeliums und im Evangelium des heutigen Tages. Wir haben in diesen Tagen über den Heiligen Geist gesprochen, der „Heilig“ heißt, weil er heilig macht. Ebendieser Heilige Geist war in Christus, der sich selbst zur Heiligung der Seinen aufopferte, wie er selbst im siebzehnten Kapitel des Johannesevangeliums sagt: „Für sie heilige ich mich selbst“ (Joh 17,19). Wer folglich Zeugnis für den Sohn ablegt, so wie Christus für den Vater, der legt Zeugnis für die Wahrheit ab (Joh 15,26). Und weil „Gott die Wahrheit ist“,1 hat er den Heiligen Geist Gottes. Was auf Griechisch „Martyria“ heißt, heißt auf Lateinisch „testimonia“, Zeugnisse. All jene, die Zeugnis ablegen, indem sie den Sohn verherrlichen, haben den Heiligen Geist empfangen, denn keiner kann sagen: Jesus Christus, wenn er nicht im Heiligen Geist redet (1 Kor 12,3). Denn wer es ausspricht, daß Jesus Christus der Sohn Gottes ist und dies im Heiligen Geist sagt, der hat den Geist Gottes in sich, und dieser ist „der Geist der Wahrheit“ (Joh 14,17; 15,26). (2) Daher hat Christus im ersten Kapitel der Apostelgeschichte gesagt: „Ihr werdet die Kraft des Heiligen Geistes empfangen, der auf euch herabkommen wird, und ihr werdet meine Zeugen sein“ (Apg 1,8) etc. Seht, wie das Zeugnis über Christus das Empfangen des Heiligen Geistes voraussetzt. Und wer Zeugnis ablegt durch sein Blut, der gibt sichtbar zu erkennen, daß er den Heiligen Geist hat. Und weil sich diese dienende Kirche, die anhand sichtbarer Zeichen urteilt, nicht täuschen kann, wenn sie Martyrer kanonisiert, von denen sie sicher weiß, daß sie mit ihrem Blut Zeugnis abgelegt haben, darum verehrt sie jenen als Heiligen. Denn er hatte den Heiligen Geist; ohne diesen hätte er kein Zeugnis abgelegt. Und wenn er den Geist Christi hatte, dann herrscht er mit Christus. (3) Und weil das so ist, wurde der allerseligste Martyrer Bonifatius, der erste Oberpriester dieses Bischofssitzes, zu Recht von der heiligen Römischen Kirche in das Verzeichnis der heiligen Martyrer aufgenommen; denn er hat Zeugnis abgelegt für das Wort des Lebens (1 Joh 1,1; Joh 6,68) mit seinem Blut. – Wir sind also an diesem Ort zusammengekommen, um Gott zu ehren zum Gedächtnis des heiligen Bonifatius, und um uns dessen Leben in Erinnerung zu rufen, damit er uns ein Vorbild sein möge. Lasset uns beten um Gnade. (4) „Ich werde ihn auferwecken “ (Joh 6,44).

1

Vgl. Predigt XXXII, n.4, 2-3.

Predigt LX: Ich werde ihn auferwecken am Jüngsten Tag

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Wir wollen zunächst das Evangelium betrachten: „Niemand kann zu mir kommen, wenn nicht der Vater, der mich gesandt hat, ihn zieht; und ich werde ihn auferwecken am Jüngsten Tag“ (Joh 6,44). Als die Juden murrten, weil er gesagt hatte, er sei lebendiges Brot, das vom Himmel herabkommt (Joh 6,41), da antwortete er: „Murrt nicht! Niemand kann zu mir kommen“ (Joh 6,43f.) etc. Beachtet, daß er sagt: „der mich gesandt hat“ (Joh 6,44), gleichsam als ob er sagte: Der Vater zieht durch mich, weil er mich gesandt hat; und „Ich bin die Tür“ (Joh 10,7), wie gestern . (5) Wer möchte also zur Quelle des Lebens kommen, die der Vater ist? Denn Vater heißt er als Ursprung und Geber des Lebens. Und keiner der Juden war über diesen Punkt im Zweifel. Wer dies sagt, der kann auch nicht leugnen, daß das Leben etwas Belebbares, das in sich noch kein Leben hat, an sich zieht. Wie könnte denn etwas, das nicht lebt, zum Leben kommen, wenn nicht durch das lebenspendende Leben? Und weil etwas, das nicht lebt, auch keine lebendige Bewegung in sich hat, muß das Leben zu dem, was belebt werden soll und noch nicht lebt, herabkommen. In diesem Sinne sagt Christus, das Leben sei herabgestiegen vom Himmel des Lebens. (6) Dieses Herabsteigen ist die Aussendung des Lebens oder der Sohn des Vaters des Lebens; denn das, was vom Vater des Lebens gesandt wird, ist der Sohn des Lebens. Und der Annahme des ausgesandten Lebens durch das nicht Lebendige entspricht die Anziehung des nicht Lebendigen zum Leben. So fällt das Kommen zum Leben mit der Anziehungskraft des Lebens selbst zusammen, wie die Regel des Zusammenfalls besagt. Und anderswo, im sechzehnten Kapitel des Lukasevangeliums, heißt es, das Himmelreich werde von Gewalttätigen an sich gerissen (Lk 16,16; Mt 11,12). Ebensogut könnte man sagen: Ein Schüler, der belehrt werden will, tut der Lehre Gewalt an, weil er sich sorgfältig darauf vorbereitet, daß der Lehrer sie ihm einflöße. Aber der Lehrer sendet seine Lehre durch das Wort zum Schüler, und die Unwissenheit des Schülers wird durch den Lehrer zur Erkenntnis hin gezogen, so daß die nicht lebende oder unwissende Erkenntnisfähigkeit zur Kenntnis des Wortes kommt. Ebenso zieht der Vater des Lebens durch das Wort des Lebens alles an, was zum Leben kommen soll. Und sowohl die rege Aufmerksamkeit dessen, der kommen will, als auch der Antrieb dessen, der kommt, sind insofern gewalttätig, als sie das Leben an sich reißen wollen. So bewegen sich Anziehen, Kommen und An-Sich-Reißen aufeinander zu, um schließlich theologisch zusammenzufallen. (7) Es folgt: „Und ich werde ihn auferwecken am Jüngsten Tag“ (Joh 6,44). Es ist zu beachten, daß er sagt: „Und ich“ (Joh 6,44) etc. Denn weiter oben, im fünften Kapitel des Johannesevangeliums, sagt er: „Die Stunde kommt, in der alle, die in den Gräbern sind“ (Joh 5,28) etc. Dort sagt er nicht „ich“.

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Daraus muß man ableiten, daß die allgemeine Auferstehung aus den Gräbern vom Sohn Gottes bewirkt wird, mögen sie danach zum Leben oder zum Gericht gehen. (8) Etwas anderes ist daher die Auferweckung aus den Gräbern (Mt 26,53), durch die die Toten aus den Gräbern herauskommen (Mt 26,53) und dann alle mit solcher Auferweckung auferweckt werden durch die Macht des Wortes oder der Stimme des Sohnes. Denn ein Toter kann nur auferstehen, wenn er die Stimme des Sohnes Gottes hört (Joh 5,25.28), das heißt, wenn er die Kraft der Auferstehung aus dem Sohn empfängt, in dem das Menschsein aller Menschen mit der Ewigkeit vereinigt ist, so daß jeder Mensch in ihm, in dem sein Menschsein unverderblich und unsterblich ist, vom Tod aufersteht. Aber nach der Auferstehung vom Tod fehlt noch der Schritt zum Leben oder zum Gericht. (9) Das Gericht bedeutet die Verdammung; das erhellt daraus, daß es nicht das Leben ist. So ist klar, wieso die Bösen vom Tod auferstehen und doch nicht zum Leben gelangen, sich nicht einmal von ferne dem Leben nähern können: Sie tragen ja die Last des Urteils. Daher sind sie wie noch nicht Gestorbene, die fortwährend nach dem Tod verlangen. Folglich sind es diejenigen, die die Stimme des Sohnes im Gedenken an das eigentliche, unverderbliche Menschsein hören, die aus den Gräbern herauskommen. (10) Ferner verhält sich die Stimme des Sohnes Gottes wie das Leben des Geistes: Diejenigen, die sie hören, werden leben, auch wenn sie sterben (Joh 11,25); diejenigen, die sie nicht hören, werden im Geist nicht leben. Solches Hören ist ein erkennendes In-sich-Aufnehmen, woran man ohne weiteres erkennen kann, daß jene „hören“, von denen der Psalmist sagt: „Ich will hören, was Gott“ zu mir „redet“ (Ps 85[84],9), und das sind gerade diejenigen, in denen der Geist des Lebens ist. Übereinstimmend damit erklärt Paulus im achten Kapitel des Römerbriefes (Röm 8,11), die Toten können nicht durch einen anderen Geist auferstehen als durch den Geist, durch den Christus auferstanden sei. (11) Christi Geist des Lebens, der in den Seelen der heiligen Abgeschiedenen ist – er ist es also, der redet, und in ihm hören sie und leben. Und deswegen sagt er: „Ich bin die Auferstehung und das Leben“ (Joh 11,25). Denn die Auferstehung zum Leben ist die vollkommene Auferstehung; denn diejenigen, die so auferstehen, sind „Söhne Gottes“, wie es im zwanzigsten Kapitel des Lukasevangeliums heißt: „Sie sind Söhne Gottes, weil sie Söhne der Auferstehung sind“ (Lk 20,36). Und weil die Heiligen nicht zum Gericht kommen, sondern vom Tod zum Leben übergehen (Joh 5,24), wie im fünften Kapitel des Johannesevangeliums steht, daher ist dieser Übergang, da er am „Jüngsten Tag“ des Menschen geschieht, ein Voranschreiten zum Leben.

Predigt LX: Ich werde ihn auferwecken am Jüngsten Tag

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Vor diesem Voranschreiten steht die Auferstehung, wie ja auch ein Sitzender zuerst aufsteht, bevor er losschreitet. (12) Christus ist es, in dem das Leben aller Lebenden verborgen (Kol 3,3) ist; und wenn der Übergang vom Glauben zum Begreifen geschieht, dann wird das Leben, das für den Glauben „verborgen“ (Kol 3,3) und nur durch die Hoffnung lebendig war, durch diese Offenbarung auferstehen – wie für die Augen etwas Verborgenes gewissermaßen tot ist, und, wenn es enthüllt wird, lebendig wird. Darum, spricht Christus, wird gesagt, daß wir durch die Offenbarung von den Toten zum Leben auferstehen. So bewirkt Christus, der Offenbarer unseres verborgenen Lebens durch den Glauben an Gott, wenn er uns unser verborgenes Leben offenbart, unsere Auferweckung. Denn niemand kennt den Vater, der das Leben der Lebenden2 ist, außer dem Sohn und dem, dem es der Sohn offenbaren will (Mt 11,27). Es ist also Sache des Sohnes, den Vater zu offenbaren und die Quelle unseres Lebens zu enthüllen. Deshalb ist es an ihm, den Menschen am Jüngsten Tag aufzuerwecken (Joh 6,44), das heißt am Ende dieses Zeitraumes, der in der Pilgerschaft besteht; dahin wurde er durch den Vater herbeigezogen, wie vorausgeschickt ist. (13) Er fügt hinzu: „Es steht geschrieben: Alle werden Schüler Gottes“ (Joh 6,45). Hier weist er auf eine Anziehungskraft des Vaters hin, wie ich es vorhin im Beispiel getan habe, daß nämlich diese Anziehungskraft auf dieselbe Weise wirkt, wie wenn Schüler durch Zuhören und emsiges Lernen den Lehrstoff aufnehmen. Und er fügt hinzu: „Niemand hat den Vater gesehen“ (Joh 6,46) etc. Er legt das aus, was er oben gesagt hat, „der mich gesandt hat“ (Joh 6,44), daß nämlich diese Anziehungskraft des Vaters durch denjenigen wirkt, der vom Vater gesandt wurde, weil nur er, da er von Gott kommt, diesen sieht. Daher sagt der Sohn, er verkündige uns das, was er beim Vater gesehen habe. (14) Wir hören also im Wort des Sohnes das, was der Sohn gesehen hat. Bemerke dabei den Unterschied zwischen dem, was wir nur durch Hörensagen erfahren können, und dem, was wir sehen. So erfahre ich durch Hörensagen auf dem Weg des Glaubens, was du mir über ein Land erzählst, das mir unbekannt, dir aber aus eigener Anschauung bekannt ist. So gehen wir vom Hören zum Sehen über, das heißt vom Glauben zum Verstehen; und zwar werden wir vom Hörensagen derart angezogen, daß wir zum Sehen zu gelangen suchen, weil wir anders nicht zur Ruhe kommen. Und so sind wir hier Hörende, dort aber Sehende und Kostende (Ps 34[33],9). (15) Er fügt hinzu: „Wer an mich glaubt, hat das ewige Leben“ (Joh 6,47). Indem er sagt: „Wer an mich glaubt“ (Joh 6,47), offenbart er, daß er der kürzeste Weg ist, auf dem wir zu allem kommen, was wir wünschen können. Denn die Anziehungskraft des Vaters wird gerade dadurch wirksam, daß wir an den Sohn glauben. 2

De ludo globi I (h IX n.38, 15).

Predigt LXI Ex Ipso, per Ipsum et in Ipso Aus Ihm, durch Ihn und in Ihm Zeit: Ort: Fest: Zählung Koch: Edition: Deutsch:

12. Juni 1446 Mainz Dreifaltigkeitsfest 56 h XVII/4, 328-342 –

ZUSAMMENFASSUNG Mit einigen Worten über die Dreifaltigkeit will Cusanus eher das Staunen anregen als die Unbegreiflichkeit Gottes deutlich machen. Dazu führt er zahlreiche Bibelstellen über das Wesen und den Weg des Menschen an. Wenn der Same des geistigen Lebens aus der Kraft Gottes in uns wirken soll, müssen wir darüber nachsinnen, daß wir aus Staub sind (n.1-3). Wenn eine höhere Entwicklungsstufe möglich werden soll, muß zunächst die niedere überwunden werden (n.4-5). Das irdene Gefäß weltlicher Weisheit wird zerstört, um die himmlische Weisheit zu gewinnen, da die irdische Welt ein Gleichnis für die kommende Welt ist (n.6-8). Gott erlaubt dem Menschen Schwächen, um ihm in Christus den Reichtum aller Gnaden erweisen zu können (n.9-10). Gott ist die vollkommene, unerreichbare Unendlichkeit selbst und die Ursache allen Seins (n.11-12). Auf dem Weg des Aufstiegs zur Ursache können wir das Wesen der Dinge nicht erfassen. Beim Versuch, sich ein wenig dorthin zu erheben, deutet Cusanus die Bewegungen der Seraphim nach Jes 6 als Erkennen der Dreifaltigkeit durch die Seraphim (n.13-14). Im Flug der Vernunft können sie erkennen, was uns verborgen ist, wenn wir nicht durch eine Reinigung dazu gebracht werden, die Herrlichkeit Gottes im Glauben zu sehen (n.15-16). Alles, was Gott dem Menschen schenkt, befindet sich in Gott und ist somit Gott. In allen seinen Namen ist Gott die unendliche, ganz einfache Kraft (n.19). In Fruchtbarkeit, Nachkommenschaft und Verbindung hat der Mensch an Gott Anteil. Diese drei sind miteinander verwoben, wie Cusanus anhand eines Syllogismus vorführt (n.20-23). Diese Ternarstruktur wendet er auf die menschlichen Seelenkräfte an (n.24-26), um durch einen Aufstieg zur Trinität, soweit es erlaubt ist, größere Gottesnähe zu erreichen.

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Predigt LXI Aus Ihm, durch Ihn und in Ihm (1) „Aus ihm, durch ihn und in ihm ist die ganze Schöpfung.“ „Ihm sei Ehre und Ruhm in Ewigkeit“ (Röm 11,36; 16,27) lesen wir im elften Kapitel des Römerbriefes und in der Epistel der heutigen Messe (Röm 11,33-36). Wir wollen einiges Wenige über die allerheiligste Dreifaltigkeit sagen – mehr auf eine Weise, die zum Staunen anregen soll, als mit dem Ziel, die Unbegreiflichkeit Gottes, der drei und doch einer ist, deutlich zu machen, damit wir erhoben werden, um ihn zu ehren und zu preisen. Zuerst aber lasset uns um Gottes Gnade beten. (2) An einer Stelle, wo der Apostel Paulus eine sehr tiefsinnige Schlußfolgerung zieht, daß nämlich Gott alle in den Ungehorsam eingeschlossen hat, um sich aller zu erbarmen (Röm 11,32), fährt er fort: „O Tiefe des Reichtums“ (Röm 11,33) und endet: Ihm sei Ehre und Ruhm (Röm 11,36; 16,27). An vielen anderen Stellen äußert derselbe Apostel folgende Schlußfolgerung: Wie wir, von Natur aus Kinder des Zorns (Eph 2,3), Bedürftige sind, mit Mängeln behaftet und unwissend unter der Herrschaft des Fürsten der Finsternis (Eph 6,14; Joh 14,30); wie aber Gott „in seiner Güte für uns“ wollte, daß wir „in Christus Jesus“ Barmherzigkeit erlangen, um den Reichtum „seiner Gnade“ zu zeigen (Eph 2,7); in Christus hat er alles, was im Himmel und auf Erden ist, wiederhergestellt in ihm (Eph 1,10), wie er dies im ersten und zweiten Kapitel des Epheserbriefes schreibt, damit niemand im Fleisch sei, der sich seiner selbst rühmen könne, sondern wer sich rühmen will, der rühme sich des Herrn (1 Kor 1,31), wie er im ersten Kapitel des ersten Korintherbriefes schreibt. (3) Und als Zeichen dafür, daß das Übermaß der Kraft von Gott und nicht von uns kommt, tragen wir einen Schatz in irdenen Gefäßen (2 Kor 4,7), wie es im vierten Kapitel des zweiten Korintherbriefes heißt; gleichsam als würde er sagen: Wir, die wir im Fleisch sind, tragen gewissermaßen einen göttlichen Samen in einem irdenen Gefäß. Denn wir sind von Gottes Art (Apg 17,28f.), steht im siebzehnten Kapitel der Apostelgeschichte geschrieben, insofern nämlich, als wir einen Geist haben, der als Ebenbild Gottes geschaffen ist, gleichsam einen Samen des Lebens, der das Leben befruchten kann, nicht gemäß dem Fleisch, sondern gemäß ihm, das heißt Gott, dessen Ebenbild er ist. Aber dieser Same kann sich nicht aus eigener Kraft verwirklichen und aufgehen, sondern nur aus dem Übermaß der Kraft Gottes (2 Kor 4,7). Ebenso enthält das Weizenkorn (1 Kor 15,37; Joh 12,24) sozusagen einen Schatz pflanzlichen Lebens in einem irdenen Gefäß (2 Kor 4,7), das heißt in dem aus den

Predigt LXI: Aus Ihm, durch Ihn und in Ihm

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meisten Elementen der Erde zusammengesetzten Stoffgemisch;1 aber dieser Schatz kann nur aufgehen und in Wirklichkeit pflanzliches Leben werden, wenn es eine höhere Kraft, nämlich die der Sonne, bewirkt. Und das Übermaß der Kraft der Sonne wirkt, indem es den Samen des pflanzlichen Lebens in Tätigkeit setzt, wenn sich das Korn in der Erde verbirgt und das irdene Gefäß absterben läßt, damit dieses Gefäß es nicht daran hindern kann, viele Frucht hervorzubringen. In gleicher Weise müssen auch wir, wenn anders der Same des geistigen Lebens durch das Übermaß der Kraft Gottes zur Tat schreiten soll, dieses irdene Gefäß demütig in der Erde verbergen, woher es seinen Ursprung hat, und darüber nachsinnen, wie wir Staub von Staub sind, um uns ganz und gar nicht zu rühmen. (4) Dabei wird uns Gott seine zuvorkommende Gnade geben wie einen Regen, der die Erde unserer sinnenhaften Natur benetzt, so daß die Härte der Rinde, die der Bewegung des Geistes widersteht, sich auflöst. Ferner gibt er die Gnade, die angenehm macht, indem seine hohe Kraft das Leben des Geistes von der Möglichkeit in die Wirklichkeit umsetzt, so daß es Frucht hervorbringt. Und ebenso, wie es nicht an der Sonne liegt, wenn sie in einem Getreidekorn nicht die Kraft des sinnenhaften Lebens wirkt, sondern am Bauern, der das Korn nicht so aussät, daß es der Sonne zugewandt ist, ebenso liegt es nicht an der Kraft Gottes, wenn sie uns nicht alles eingibt, was nötig ist, um das Leben des Geistes in die Wirklichkeit umzusetzen, wenn wir die gebührende Hinwendung auf sie vollzogen haben. Der Maßstab der gebührenden Hinwendung ist aber Christus, der Herr, durch den nach Gottes Beschluß die Welt gerichtet werden wird. Denn seinen Spuren zu folgen, bedeutet zur Vollkommenheit zu gelangen durch ihn, ohne den niemand die ruhmreiche Frucht des Lebens erreichen kann. (5) Daher mußt du beachten, wie das Übermaß der Kraft in deinem göttlichen Samen, der der anderen Welt angehört, durch ihre Tätigkeit bewirkt, daß du in dieser Welt die Abtötung des Fleisches übst. Denn, wie das Beispiel vom Samenkorn lehrt, muß die stoffliche Kraft, die in einem gewissen harmonischen Mischungsverhältnis der Grundstoffe im Korn besteht, zuerst abgetötet werden, bevor sie das sinnenhafte Leben erlangen kann. Und wenn in einem Tier das tierische Leben entstehen soll, muß zuerst das pflanzliche sterben. Und wenn das vernünftige entstehen soll, muß zuerst das tierische sterben. Und so muß, wenn etwas von der Möglichkeit in die Tat überführt werden soll, die Möglichkeit sterben, so daß es sie nicht mehr gibt, wenn anders es die Tat geben soll. 1

Das hier mit „Stoffgemisch“ wiedergegebene lat. „elementatum“ ist ein terminus technicus des Nikolaus von Kues, der wörtlich „das aus Elementen Zusammengesetzte“ bedeutet; vgl. etwa De coni. II, c.5.

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

(6) Wenn wir also danach streben, einen Bruchteil der anderen Welt zu erfassen, der dem entspricht, was wir in dieser Welt haben und worin jener Bruchteil der anderen Welt wie ein Schatz in einem irdenen Gefäß aufgehoben ist, dann muß das, was von dieser Welt ist, abgetötet werden, damit der Schatz herausgenommen werden kann. Daher sagt Paulus an anderer Stelle: Wenn einer weise sein will, und zwar gemäß der Weisheit der anderen Welt, die in der Weisheit dieser Welt wie in einem irdenen Gefäß verborgen ist, „dann soll er töricht werden“ gemäß dieser Welt (1 Kor 3,18f.). In dieser Weise tötet man also jenes irdene Gefäß der weltlichen Weisheit ab, so daß man durch die Höhe der Kraft Gottes weise wird. „Denn die Weisheit dieser Welt ist Torheit vor Gott“, wie Paulus im dritten Kapitel des ersten Briefes an die Korinther schreibt (1 Kor 3,19). (7) Und so können wir verstehen, wie aus einem Teil sein Gegenteil entsteht: Aus der Armut, das heißt aus der Abtötung des Reichtums dieser Welt, entsteht geistiger Reichtum, und aus der Abtötung der Freude dieser Welt entstehen die Freuden der anderen; und ebenso in jedem einzelnen Ding, wie aus der Lehre Christi im sechsten Kapitel des Lukasevangeliums (Lk 6,20-25) und an anderen Stellen deutlich hervorgeht. Beachte auch die Ursache dieser Zusammenhänge: Diese sinnenhafte Welt ist nämlich ein Gleichnis oder eine Gestalt der ewigen und geistigen Welt, die das „Reich Gottes“ (Lk 17,21; Joh 3,3-5; Röm 14,17; Offb 12,10) ist; aber die Gestalt dieser Welt vergeht, wie Paulus sagt (1 Kor 7,31), weil man Gleichnis und Bild ablegt, wenn man zum Wahren und Vollkommenen gelangt. (8) Das Leben dieser Welt ist also nicht das Leben selbst, sondern nur ein Bild und Schatten des wahren Lebens; das Gleiche gilt von Weisheit, Klugheit, Freude und allen anderen Dingen. Daher muß man jene Gleichnisse abtöten, die den Samen der Wahrheit auf eine intellektuale Weise in sich tragen; so gelangt man, indem man Schatten und Abbild fahren läßt, zum Urbild. Beachte auch folgendes: Wie die Freude dieser Welt das Abbild und der Schatten der Freude im Reich Gottes ist, so ist die Trauer dieser Welt das Abbild der Trauer im Reich des Fürsten der Finsternis. Hieraus magst du erschließen, wieviel Freude die Heiligen im Reich Gottes haben und wieviel Trauer die Verdammten. Und diese Betrachtung ist äußerst nützlich. (9) Wir kehren nun wieder zu dem Apostel zurück und sagen, daß alle Dinge das sind, was sie sind, damit die Herrlichkeit des großen Gottes offenbar werde. Daher sollst Du, der Mensch, alle Dinge, die an dich herankommen oder dir von Gott geschenkt werden, mit solcher Bewunderung der Güte Gottes annehmen und sagen: Mir hat Gott das Sein gegeben, um die Größe seiner Güte an mir, der ich nichts war, zu erweisen, damit ich durch seine allmächtige Kraft das sei, was ich

Predigt LXI: Aus Ihm, durch Ihn und in Ihm

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nun bin. Er hat mich als Menschen geschaffen, um an mir seine große Kraft zu erweisen, wenn er mich einst zur Gesellschaft der Engel erheben wird. Er hat mich schwach und gebrechlich gemacht, um seine Kraft an mir zu erweisen, wenn er an mir Erhabenes wirken wird. Er erlaubt mir zu sündigen, um die Kraft seines Erbarmens und seiner Gnade an mir zu erweisen, wenn ich mich zu ihm bekehrt haben werde. Er erlaubt mir zu irren, um die Kraft seiner Weisheit an mir zu erweisen, durch die er es vermag, mich zum Licht der Erkenntnis des Wahren zu erheben. Er hat allen Menschen erlaubt zu sündigen, damit alle seiner Gnade bedürftig seien, um den Reichtum seiner Gnaden in Christus Jesus zu erweisen, dem Heiland aller. (10) Sprich nach unzähligen solchen Aussagen folgendes mit Paulus: Er erlaubt mir, schwach zu sein, „damit die Kraft Christi in mir Wohnung nehme“, „die sich in der Schwäche vollendet“ (2 Kor 12,9). Weil ich der erste der Sünder bin, „habe ich Erbarmen gefunden, damit Christus Jesus seine ganze Langmut beweisen konnte, zum Vorbild für alle, die in Zukunft an ihn glauben, um das ewige Leben zu erlangen“ (1 Tim 1,16). Und wenn du in dieser Weise hinaufgestiegen bist, wirst du mit demselben Paulus rufen: „Dem König der Ewigkeit, dem unvergänglichen, unsichtbaren, einzigen Gott, sei Ehre und Herrlichkeit in alle Ewigkeit. Amen“ (1 Tim 1,17), wie er im ersten Kapitel des ersten Briefes an Timotheus schreibt. Hier soll außerdem die Stelle: „O Tiefe des Reichtums, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes!“ (Röm 11,33) ausgelegt werden, wie an anderer Stelle ausgeführt.2 Soweit der erste Teil der Predigt zur Einführung des Themas. (11) Beim zweiten Teil handelt es sich um eine Erläuterung des Themas insofern, als die gepriesene Dreieinigkeit für uns darin zum Ausdruck kommt. Bezüglich dieses Teils ist noch zu beachten, daß Gott – wie derselbe Paulus im letzten Kapitel des ersten Briefes an Timotheus sagt – in unzugänglichem Licht wohnt, weswegen niemand ihn gesehen hat noch je zu sehen vermag (1 Tim 6,16), weil jenes Licht das intellektuale Sehvermögen übersteigt. Er kann also darum nicht gesehen werden, weil er unsichtbar ist, und man kann sich nichts vorstellen, was ihm „ähnlich“ (Apg 17,29) wäre – nach Kapitel 17 der Apostelgeschichte – und in keines Menschen Herz ist es eingegangen (1 Kor 2,9). Also kann er auch nicht genannt werden, sondern ist unaussprechlich. Daher, wegen dieses seines Wohnortes, den er in unzugänglichem Licht bewohnt (1 Tim 6,16) und der seine gepriesene Göttlichkeit selbst ist, kann er weder nach seiner Einheit noch nach seiner Dreiheit genannt werden, sondern sein Name ist „größer als alle Namen“, die man im Himmel oder auf Erden (Phil 2,10) nennen kann, wenngleich ohne ihn nichts nennbar ist, weil „aus ihm und durch ihn und in ihm“ (Röm 11,36) alles Nennbare genannt wird. Somit ist Gott die vollkommene unerreichbare Unendlichkeit selbst. 2

Vgl. Predigt XXXVIII, n.2, 1-21.

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(12) Auf eine andere Weise wird Gott betrachtet insofern, als er, unser Gott und der Schöpfer aller Dinge, in der Welt existiert wie die Ursache im Verursachten. Weil nun aus ihm und durch ihn und in ihm alle Dinge (Röm 11,36) gleichsam das Verursachte in der Ursache sind, steigen wir von den verursachten Dingen zur Dreiheit der Ursache auf, wie denn ohne ihn nichts gemacht ist, sondern alles durch ihn (Joh 1,3), und er selbst der dreifachverursachende Urgrund ist. So spricht hier Paulus, der Gott den Dreieinen nennt insofern, als sein Wesen die Ursache alles Seins ist. (13) Aber wie können wir es erreichen, daß wir den dreifachen und doch einen Gott sehen? Auch ist es weder uns möglich, ihn auf dem beschriebenen Weg des Aufstiegs von den verursachten Dingen zur Ursache zu erfassen, noch ist es mir möglich, etwas darüber mitzuteilen, weil das Wesen oder die Washeit, auch das eine Art Bestimmende und in einer Art Zusammengezogene, nur mit einem „daß es ist“ berührt werden kann. Ebenso vermögen wir auch das Menschliche nicht durch ein Begreifen seiner Washeit zu sehen, sondern sehen nur im Nachhinein an den Menschen, die am Menschlichen teilhaben, „daß es ist“. (14) So werden wir uns denn ein wenig zu dem „daß es ist“ der göttlichen Dreifaltigkeit in einer gewissen Höhe unserer Erleuchtung erheben können, wobei uns der Glaube leiten wird, um mit den seraphischen und evangelischen Geistern,3 die im Heiligen Geiste sind, zu rufen: „Heilig, heilig, heilig ist der Herr“ etc. (Jes 6,3; Offb 4,8), wie es bei Jesaja im sechsten Kapitel und in der Offenbarung im vierten Kapitel geschrieben steht. Jesaja aber erzählt, wie er „den Herrn auf einem erhöhten Thron sitzen“ (Jes 6,1) sah etc. – siehe dazu an anderer Stelle!4 Beachte hierbei, wie Jesaja, als er im Geiste war, sah auf einem hohen Thron und daß die Seraphim mit den Flügeln ihrer Macht ihr Gesicht und ihre Füße bedeckten (Jes 6,1f.). Denn besonders dieses ist bemerkenswert, wie sie mit zwei Flügeln die Füße, die Mittel der sinnenhaften Bewegung, bedeckten und mit zwei Flügeln das Gesicht, auch ein Mittel der Bewegung, und zwar der Erkenntnis – denn durch das Gesicht geschieht die Erkenntnis. Die anderen Flügel hatten sie über das Gesicht in die Höhe gehoben, und so, das heißt durch eine Bewegung der Entrückung, flogen sie ins Paradies, wie man es auch von Paulus im elften5 Kapitel des zweiten Korintherbriefes (2 Kor 12,2-4) sowie im zweiundzwanzigsten Kapi3

4 5

Mit „evangelischen Geistern“ spielt Cusanus auf die entsprechenden Visionen der aus Mensch, Löwe, Stier und Adler (den Evangelistensymbolen) bestehenden Wesen an, vgl. Ez 1,5-14; Offb 4,7. Vgl. Predigt XXXVIII, n.4, 1-65. Der kritische Apparat in h XVII gibt verschiedene Möglichkeiten an, auf welche Korinther-Stelle Cusanus sich beziehen könnte. Keine davon entspricht dem angesprochenen Thema, weder 1 Kor 6, noch 1 Kor 11, noch 2 Kor 11, wie der Lesetext von h ausweist, sondern 2 Kor 12,2-4.

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tel der Apostelgeschichte (Apg 22,9-11) liest, oder wie ich es an anderer Stelle ausgeführt habe.6 Hieraus ist in Wahrheit abzuleiten, daß die seraphischen Geister die Dreiheit in der Einheit und die Einheit in der Dreiheit verehrten,7 wie auch Moses, als er sagte: „bereschit bara elohim“,8 und die anderen Propheten. Darum riefen die Seraphim, als sie flogen. Denn im Flug der Vernunft kommt man zu jenem göttlichen Rufen etc. (15) Wir aber, die wir nach Jesajas Wort mit unreinen Lippen (Jes 6,5) etc. in dieser Welt unter Sündern leben, wir können nicht so rufen, weil wir nicht fliegen. Aber im Glauben berühren und sehen wir den Herrn der Heere (Jes 6,3) und die fliegenden seraphischen Geister, und wir erreichen das Rufen, wenn uns ein seraphischer Geist Reinigung verschafft mit einem glühenden Stück Kohle vom Altar (Jes 6,6) Gottes. Dann rufen wir und werden ausgesandt, damit wir das seraphische Amt in dieser Welt unter dem Volk versehen. Und beachte, wie der seraphische Geist sich dem Prediger nähert, wenn es diesem zu Bewußtsein kommt, daß er unrein ist, und er durch die Höhe der Erkenntnis, die feurige Kohle des Eifers und der Glut Gottes gereinigt wird, sodaß er, entflammt, furchtlos, mit gereinigten Lippen im Feuer der Liebe ruft und verkündigt etc. (16) Wer also seine Hörer so weit bringen will, daß sie wie die Seraphim rufen, der muß sie dahin führen, daß sie wenigstens im Glauben den Herrn auf einem hohen Thronsitz erhöht (Jes 6,1; Offb 4,9) sehen und wie das ganze Haus von seiner Herrlichkeit erfüllt ist (Ps 72[71],19) etc. Beachte: Wenn wir durch den Glauben dahin gebracht werden, daß wir Gott, den Schöpfer, sehen können, dann sehen wir, wie Himmel und Erde von seiner Herrlichkeit erfüllt sind (Jes 6,4). (17) Ich werde euch so im Glauben führen, weil ihr glaubt, daß es Gott gibt und daß er der Beste und Schöpfer aller Dinge ist. Und so seht ihr denn ihn selbst in der Höhe (Sir 43,10; Mk 11,10; Lk 19,38; Hebr 11,6); denn wenn ihr durch alle Geschöpfe bis zu den Seraphim aufsteigt, seht ihr immer noch nicht ihn, weil die Geschöpfe unter ihm stehen und er selbst noch über den Seraphim auf dem erhabenen Thron. Und obgleich er über allem steht, ist er doch in allem; denn, wie Paulus im siebzehnten Kapitel der Apostelgeschichte sagt: Obgleich er nicht in Tempeln wohnt, die von Menschenhand gemacht sind – er ist ja der Baumeister von allem –, ist er doch nicht fern von jedem einzelnen, denn in ihm leben wir und bewegen wir uns (Apg 17,24.27f.). Und an anderer Stelle sagt er, daß er über allem und in allem ist (Eph 4,6). So siehst du denn, wie „aus ihm, durch ihn und in ihm alles ist“ (Röm 11,36). 6 7 8

Vgl. Predigt XXXI, n.1, 19-21; Predigt XXXII, n.3, 1-20; Predigt XXXIII, n.3, 3-5. Das Zitat stammt aus dem Symbolum „Quicumque“ (ES37 n.75). Es handelt sich um Gen 1,1 im hebräischen Text; deutsch: „Im Anfang schuf Gott .“

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(18) Du siehst, daß Gott keines von den Dingen ist, die man anfassen oder benennen kann, obgleich er „alles in allen“ ist. Ebenso ist die Menschheit nicht einer der Menschen, und dennoch sind alle Menschen aus ihr, durch sie und in ihr das, was sie sind. Und darum kann die Menschheit keinem Menschen fern sein, denn in ihr sind, leben und bewegen sich alle Menschen insofern, als sie Menschen sind, wie sie es in Gott, dem Schöpfer tun insofern, als sie Geschöpfe sind. (19) So sehen wir denn, daß alle Geschöpfe alles das, was sie haben, durch ein Geschenk Gottes haben. Er kann aber nichts geben, was er nicht hat. Folglich hat Gott alles, was sich in der Schöpfung befindet, aber nicht so, daß er etwas anderes hätte als sich selbst, da außer ihm nichts sein kann. Und so ist sein Haben ein Sein. Alles, was sich in den Geschöpfen befindet, befindet sich also in Gott, das heißt: ist Gott. Aber die Vielheit ist nichts anderes als die Einheit, an der die Geschöpfe in dieser Weise teilhaben. Darum sind all die vielen Dinge, die sich bei den Geschöpfen finden, Teilhabe der einen unendlichen Kraft, die sich, in ganz unterschiedlicher Weise aufgenommen, in ihnen befindet. Und die je unterschiedliche Art der Aufnahme bedingt ihre unterschiedlichen Namen. Gott ist also eine unendliche, einige und ganz einfache Kraft, die das ganze Haus seiner Schöpfung erfüllt. Wir benennen diese Kraft, an der die Geschöpfe teilhaben, auf eine Weise mit Sein, auf eine andere mit Leben, auf eine andere mit Erkennen, auf eine andere mit Wahrheit, auf eine andere mit Güte. Deswegen nennen wir Gott auch das Gute, das Leben, das Wesen, und dasselbe gilt von allem derartigen. Daher wollen wir mit all jenen Namen, die wir in dieser Weise Gott beilegen, nichts anderes sagen, als daß Gott die unendliche, ganz einfache Kraft ist etc. (20) Wir finden aber im Bereich des Menschen drei Dinge, die ganz natürlich sind und ohne die diese Welt nicht bestehen könnte: „Fruchtbarkeit, Nachkommenschaft und Liebe“ oder Verbindung. Denn weil diese Welt an der göttlichen Kraft, also an der vollkommenen Ewigkeit und Unsterblichkeit, die Gott allein bewohnt (1 Tim 6,16), nicht teilhaben kann, daher hat sie an der vollkommenen Ewigkeit, hinter die sie zurückfällt, auf verschiedene Weisen Anteil. Und zwar hat diese sinnen-hafte Welt an ihr mit Zeit und Bewegung Anteil und verfällt somit in Unbeständigkeit und Verderbnis. Wenn nun diese göttliche Kraft, an der diese Welt auf solche Weise teilhat, nicht „Fruchtbarkeit, Nachkommenschaft und Liebe“ als Bestandteile ihres Wesens hätte, und zwar so, daß diese drei die ganz einfache Kraft selbst wären, an der die Schöpfung auf die ihr eigene Art teilhat, dann könnte diese Kraft nicht so allmächtig und natürlich sein, daß diese Welt von ihrer Herrlichkeit hätte erfüllt werden können, so daß diese Welt tatsächlich existierte. Man findet also in dem Wesen, an dem die Welt teilhat, „Fruchtbarkeit, Nachkommenschaft und Verbindung“, und diese Dreiheit hat es durch ein Ausfließen empfangen – im ersten Kapitel der Genesis steht ja geschrieben: „Seid fruchtbar und vermehrt euch“ (Gen 1,28) –; und daher ist sie im Schöpfer

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selbst wie in einer Quelle: Vergleiche Jesaja im letzten Kapitel, wo Jesaja anhand der Tatsache, daß Gott anderen die Zeugungskraft gegeben hat, nachweist, daß auch er selbst sie habe (Jes 66,9). (21) Beachte dabei recht wohl, daß diese „Fruchtbarkeit, Nachkommenschaft und Verbindung“ das einfache Wesen jeder beliebigen Sache selbst ist; und jene drei bekommen unterschiedliche Namen in den Höheren und Geringeren, in den Gattungen, Arten und Einzelwesen etc. Denn in allem, was es gibt, findet man, „wodurch es ist“ – das ist die Fruchtbarkeit –, „was es ist“ – Nachkommenschaft – und „Verbindung“. Man findet in der Gattung der Tiere Fruchtbarkeit, Nachkommenschaft aus dieser und Verbindung, die zusammen das einfache Wesen des Tieres ausmachen. Ebenso bei den Arten. (22) Daher machen im Wesen des Menschengeschlechtes „Fruchtbarkeit, Nachkommenschaft und Verbindung“ das Menschliche selbst aus. Und die Fruchtbarkeit bringt aus dem ganzen Wesen die Nachkommenschaft hervor; und die Fruchtbarkeit ist in der Nachkommenschaft, und die Nachkommenschaft in der Fruchtbarkeit; und in der Verbindung der Liebe ist Fruchtbarkeit mit Nachkommenschaft, und die Verbindung ist in der Fruchtbarkeit und der Nachkommenschaft. Und darum nennt einer, der die menschliche Fruchtbarkeit nennt, auch wenn er die Nachkommenschaft und die Verbindung nicht nennt, dennoch das Wesen selbst, weil in der Fruchtbarkeit Nachkommenschaft und Verbindung inbegriffen sind. (23) Beachte auch, daß es im Wesen des vollkommenen Syllogismus drei Voraussetzungen gibt: die „propositio maior“, die „propositio minor“ und die „conclusio“; und die drei Voraussetzungen sind nichts anderes als eben der Syllogismus. Und in der „propositio maior“ sind die „propositio minor“ und die „conclusio“ dem Vermögen nach enthalten: Das ist die Fruchtbarkeit des Syllogismus. Und die „propositio minor“ ist die Nachkommenschaft der Fruchtbarkeit, weil sie aus der „propositio maior“ ausgefaltet wird; und die „conclusio“ ist die Verbindung beider etc. Daher liegen in der „propositio minor“ die „propositio maior“ und die „conclusio“: die „propositio maior“, weil sie eine Ausfaltung von größerer Kraft ist, und die „conclusio“, weil sie in ihr eingefaltet wird. Dasselbe gilt für die „conclusio“. Daher, wenn man die Sache so verstehen könnte, daß die „propositio maior“ der Syllogismus wäre, und ebenso die „propositio minor“ und die „conclusio“, so wäre dies gewissermaßen ein Vergleich, wenn auch ein entfernter. (24) Ebenso verhält es sich mit dem Beispiel in der vollkommenen Unterweisung. Denn im Wesen der vollkommenen Unterweisung liegen Wirken, Kunst und Genuß: aus dem Wirken die Kunst, aus Wirken und Kunst der Genuß.

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Und weil wir „dadurch, daß wir etwas verfertigen, Handwerker sind“,9 ist das Wirken die „Fruchtbarkeit“, die Kunst die „Nachkommenschaft“, der Genuß die „Verbindung“. Und der Vergleich mit der zeitlichen Unterweisung kommt der ewigen Unterweisung der Schöpfung näher. So ist im Wesen der Übung der Täter die „Fruchtbarkeit“; das, was getan wird, die „Nachkommenschaft“; und das Tun selbst, das vom Täter und dem, was getan wird, ausgeht, die „Verbindung“. (25) In gleicher Weise findet man diese Überlegung von Fruchtbarkeit und Nachkommenschaft in der Seele: Die Erinnerung ist die „Fruchtbarkeit“, die Vernunft die „Nachkommenschaft“, der Wille die „Verbindung“ oder die Liebe oder der Genuß. So gibt es im Wesen der Erkenntnis eine Fruchtbarkeit des Erkennens, eine Nachkommenschaft – das Erkennbare selbst – und eine beiden gemeinsame Verbindung, die darin besteht, daß man den fruchtbaren Erkenntnisvorgang selbst und die erkennbare Nachkommenschaft erkennt. Auf ähnliche Weise wäre auch über die Liebe oder den Willen zu sprechen, und dasselbe gilt für alle Dinge, die sind und die nur sein können, indem sie am dreieinigen göttlichen Wesen teilhaben. Wegen dieser Teilhabe haben sie ihre Natur, die aus „Fruchtbarkeit, Nachkommenschaft und Liebe“ in der Einfachheit des Wesens besteht; ohne diese drei können sie keine Natur haben und nicht auf natürliche und vollkommene Weise sein. (26) Und die vernünftigen Naturen haben auf ihre eigene Weise an diesem dreieinigen Wesen Anteil, so, daß „Fruchtbarkeit, Nachkommenschaft und Liebe“ vernünftig sind, wie sie beim Menschengeschlecht menschlich, bei den Pflanzen pflanzlich und bei den Elementen elementar sind. Und auf diesem Wege kommen sie mit der Heiligen Schrift überein, die „die Fruchtbarkeit“ den Vater, den Sohn „die Nachkommenschaft“ und „die Liebe“ den Heiligen Geist nennt. Wenn wir bei der Untersuchung des dreieinigen göttlichen Wesens so weit aufsteigen, wie es uns erlaubt wird, so verhilft uns dies, wie ich meine, zu größerer Nähe.

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Cusanus verwendet an dieser Stelle eine sprichwörtliche Redensart „fabricando fabri sumus“, entsprechend der deutschen Wendung „Durch Schmieden wird man ein Schmied“, vgl. Predigt XXXVIII, n.10, 13-14.

Predigt LXII Memoriam fecit Ein Andenken hat er eingerichtet Zeit: Ort: Fest: Zählung Koch: Edition: Deutsch:

16. Juni 1446 Mainz Fronleichnam 57 h XVII/5, 343-353 in Auszügen in: Des Cardinals und Bischofs Nicolaus von Cusa wichtigste Schriften in deutscher Übersetzung von Franz Anton Scharpff, Freiburg i. Br. 1862, 593-596.

ZUSAMMENFASSUNG Zunächst wird das Thema eingeführt (n.1). Im Anschluß daran erläutert Cusanus im Prothema die Aufgabe des Predigers (n.2). Daran schließt sich die Gliederung an (n.3). Die eigentliche Predigt zerfällt in drei Teile entsprechend den drei göttlichen Tugenden von Glaube, Hoffnung und Liebe. Der erste Teil behandelt die Eucharistie als die wunderbare Speise des Glaubens (n.4-8). Voraussetzung der Feier dieses Tages ist die Absonderung von der Welt und ihrem Getriebe (n.4). Die äußeren Zeichen führen uns zu geistigen Dingen, vom Zeichen zum Bezeichneten (n.5). Die Prozession bedeutet ein Eintreten in das Haus Gottes, hin zu Christus (n.6). Die zeichenhaften Handlungen kennzeichnen zugleich unseren Glauben an Christus (n.7). Das Eintreten in die Kirche zum Altar macht uns teilhaftig der Gemeinschaft mit Christus (n.8). Der zweite Teil spricht von der Speise der Hoffnung (n.9-13). Die Einsetzung dieses Sakramentes ist das erhabenste Wunder (n.9). Die Wunder der Schöpfung (n.10). Das größte Wunder ist die Verwandlung von Brot und Wein in den ganzen Christus (n.11). Der Verzehr des verwandelten Brotes und Weines läßt uns hoffen, mit Christus im ewigen Leben vereint zu sein (n.12). Durch Empfang des Brotes, der Speise der Hoffnung, empfangen wir das Leben (n.13). Der dritte Teil ist der Speise der Liebe gewidmet, durch die wir mit den natürlichen und übernatürlichen Gaben beschenkt werden (n.14-26). Das Sakrament der Eucharistie ist das Vermächtnis der Liebe Christi (n.14). Die Speise der Liebe nährt das Leben des Geistes (n.15). Der Glaube ohne Liebe ist kalt (n.16). Die Wohltaten Gottes fordern, daß man ihn liebt (n.17). Die Wohltaten Gottes im Einzelnen: die Erde (n.18), das Wasser, die Luft und das Feuer (n.19), die Sonne, die Sterne, die Engel, die Heiligen (n.20), die Geschenke der Gnade, vor allem in der Güte Christi (n.21). Die Eucharistie garantiert die Gemeinschaft mit Christus (n.22). Die Vernunft wird durch den Glauben zur

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Einsicht in das Sakrament geführt (n.23). Die Liebe Gottes nährt unseren Geist (n.24). Gott selbst besucht uns in der Gnade dieses Sakramentes der Liebe (n.25). Wer kann der Größe dieser Liebe widerstehen? (n.26). Den Schluß bildet eine kurze Zusammenfassung (n.27).

BEMERKUNGEN Die Predigt stellt eine kurze Lehre über das Sakrament der Eucharistie dar. Cusanus hat sie, wohl nachdem er sie gehalten hat, zu einem Eucharistietraktat mit dem Titel „De sacramento“ ausgearbeitet.

Predigt LXII: Ein Andenken hat er eingerichtet

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Predigt LXII Ein Andenken hat er eingerichtet (1) „Ein Andenken an seine Wundertaten hat der Barmherzige eingerichtet und der Erbarmer hat als Herr Speise denen gegeben, die Ihn fürchten.“ (Ps 111[110] ) Der wunderbare Gott hat wunderbare Werke vollbracht und zahlreich sind die wunderbaren Zeugnisse seiner Werke. Aber damit er von allen seinen Wundertaten uns ein Andenken zurücklasse, hat er sich denen, die ihn fürchten, zur Speise gegeben. Wir feiern jetzt dieses Fest zum Gedächtnis an dieses Werk, das über alle seine Werke hinaus bewundert werden muß. Feste sind nämlich Erinnerungen an Taten: Wie das Fest der Zelte, , weil die Söhne Israels in der Wüste fern von den Häusern in jenen waren, und das Paschafest, weil sie durch das Rote Meer hindurchgegangen sind etc. Lasset uns beten um die Gnade, würdig das Andenken an die Einsetzung des Sakramentes zu begehen, durch das wir durch Leben erquickt werden im Leben unseres Geistes etc. (2) Und der größte Nutzen, das Wort des Herrn aus dem Munde des Predigers zu hören; weil der Prediger in der Erinnerung ein Geschehen erneuert, stachelt er die Vernunft an zum Begreifen des Abgebildeten, entflammt das Verlangen und ruft Seufzer hervor. Von daher sorgt er dafür, daß er die Darbringung des großen Opfers bewirkt und durch das Wort Gottes die Glieder Satans verwandelt, so daß sie „Glieder Christi“ (1 Kor 6,15) sind, so wie durch das Wort am Altar das körperhaft materielle Brot in das Brot des ewigen Lebens verwandelt wird. Denn so wie der Priester des Alten Testamentes das sterbliche Opfertier geschlachtet und in das Feuer geworfen hat, damit der Rauch zum Herrn aufsteige, indem er ihn selbst für die Sünde des Darbringenden selbst befriedet, der in dieser Opferung selbst sich als Angeklagten bekennt, wie das Opfertier, das er zum Tode darreicht, so bewirkt der Prediger, der dem Volk die Sünden eröffnet, daß er sie zum Bekenntnis hinführt, und daß sie sich als Angeklagte bekennen. Und dann führt er zur Opferung und in das Feuer und bindet los den „Wohlgeruch der Süßigkeit“ (Lev 4,31). (3) Über die dreifache Speise, die uns der Herr heute geben wird aufgrund der Erinnerung an seine Wundertaten, das heißt den Glauben, die Hoffnung und die Liebe, weil er barmherziger Erbarmer und Herr . (4) Zuerst will ich sprechen, auf welche Weise Gott an diesem Tag „das Andenken an seine Wundertaten eingerichtet hat“ (Ps 111[110],4) etc., da er wollte, daß wir diesen Tag zum Andenken als Fest feiern und so in der Weise bestimmter Zeremonien in den heiligen Zeichen abbilden, was wir glauben. Und dieser Teil wird kurz dargelegt aufgrund der Bezeichnung des Geschehens.

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Wir beeilen uns nämlich heute, indem wir uns absondern weg von dieser Welt und dem, was von der Welt ist, wie da sind Äußerungen der Traurigkeit und Sorgen dieses Tals der Tränen (Ps 84[83],7) und Ermüdungen körperlich mühseliger Anstrengungen. Und wir begehen diesen Festtag ruhend in der Freude des Geistes, so daß wir für die Betrachtung des uns verheißenen heiligen Landes frei werden, die wir bis dahin noch in der Wüste sind; denn, indem wir frei werden, sehen wir, „wie süß der Herr ist“ (Ps 34[33],9). (5) Es wollte aber der gütige und barmherzige Gott, daß wir in dieser streitenden Kirche durch Zeichen unterrichtet werden: Durch sinnlich wahrnehmbare Zeichen sollen wir entflammt werden zu innerem Verlangen und durch Zeichen sollen wir von den äußeren zu den inneren und von den sinnlich wahrnehmbaren zu den geistigen geführt werden, von den Zeichen zum Bezeichneten. Was wir aber getan haben, sollten wir abwägen. (6) Das Sakrament der Eucharistie hat in unser aller Namen der Priester umhergehend in seinen Händen getragen. Wir alle haben vor ihm Kerzen in unseren Händen getragen. Wir alle sind singend vorausgegangen in reinen seidenen und leinenen Gewändern. Alle haben wir uns Seite an Seite Christus beigesellt. Alle sind wir im ganzen Schmuck einmütig dem Lamm gefolgt, wohin auch immer es gegangen ist (Offb 14,4). Indem wir reingewaschene Gewänder trugen, haben wir uns vorbereitet wie Bräute, die im Angesicht des Bräutigams gefällig und angenehm erscheinen wollen. Alle sind wir von der äußeren Welt in das Haus Gottes eingetreten; mit dem Klang der Glocken sind wir alle ins Innere bis zum Altar vorgegangen; alle haben wir dort das Sakrament Gott, dem Vater, dargebracht; alle sind wir in ihm, , als Opfer dargebracht; alle sind wir zur Gemeinschaft mit ihm zugelassen und durch das Sakrament der Eucharistie erquickt worden. (7) Dies haben wir freilich durch sinnlich wahrnehmbare Bewegung auf dem Wege eines Zeichens getan. Was aber diese Zeichen bezeichnen, welches die Wunder sind und wessen Gedächtnis sie begehen sollen, und wer der Geist sei, der sich darunter verbirgt, das wollen wir bedenken. Denn es ist nichts anderes als die Kennzeichnung unseres Glaubens. So wie wir nämlich in sinnlich wahrnehmbarer Weise unter den sinnlich wahrnehmbaren Zeichen Christus getragen haben, so müssen wir freilich glauben, daß er selbst geistigerweise ohne Zeichen in unserem Geist getragen werden muß. Der Geist aber, in dessen Mitte Christus, der das Licht der Welt ist, getragen wird, muß heilig sein wie der Priester, der das Siegeszeichen des Militärdienstes für Christus trägt, welches der Sieg des Glaubens ist, der die Welt besiegt (1 Joh 5,4); und er muß wie brennende Kerzen leuchten in reiner Liebe und geistiger Freude. Denn das Leben kann nur in Freude wohnhaft sein, so wie das geistige Leben nur in der Liebe oder in der geistigen Freude.

Predigt LXII: Ein Andenken hat er eingerichtet

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Und die Zeichen dieser Freude sind Äußerungen der Reinheit, Gesänge, Hymnen, Verbrüderung, Anstand, Nachfolgen den Fußspuren etc. (8) Sobald man dann die Kirche betritt, müssen wir glauben, daß wir von dieser Welt in den Himmel oder die heilige Wohnstatt Gottes und die geschmückteste Welt, erfüllt von den Wohlgerüchen heiliger Gebete mit Freude und dem Glockenschlag eintreten werden bis hin zum Altar, – das heißt bis hin zu Christus selbst, der Opfertier, Altar und Opfer ist – und daß wir dort Gott dem Vater Christus, der in uns ist, und uns selbst in ihm darbringen werden, und daß Gott der Vater dieses Opfer annehmen wird und uns in Christus seiner Gemeinschaft teilhaftig mache und durch ewiges Leben erquicke. Und das zum ersten . (9) Die Speise unserer Hoffnung müssen wir aus dem Andenken an die wunderbare Einsetzung dieses Sakramentes schöpfen. Denn die Einsetzung dieses Sakramentes ist durch Christus so vollzogen worden, daß Brot in den Leib und Wein in das Blut Christi unter den sinnlich wahrnehmbaren Gestalten zur geistigen Speise verwandelt wird. Das ist nämlich das erhabenste von allen Wundern. (10) Gott hat alles in wunderbarer Weise geschaffen; und wenn man eine Überlegung anstellt, gibt es nichts von allem, in dem letztendlich etwas anderes als Bewunderung gefunden werden soll, und zwar so, daß er, so wie unser Gott verborgen ist, so alles geschaffen hat und von allem die Wesenheit verborgen, daß wir nichts zu wissen vermögen, wie es ist. Aber unter den , die er erschaffen hat, sind einige, über die sich das Volk im einzelnen wundert: Zum Beispiel wie der Same, sobald Wärme darüber kommt, sich plötzlich in Seidenwürmer verwandelt; wie die Frau Lots plötzlich in eine -Säule verwandelt wird; wie die Wasserquellen Hölzer, Leder etc. in Steine verwandeln; wie der Magen Brot in Fleisch und Wein in Blut ; wie aus Asche ein Glas ; wie plötzliches Feuer aus dem Feuerstein durch Schlagen herausspringt; wie der Storch in einem Ei ; wie der Berg im Auge eines Vögelchens ; wie in jedem beliebigen Teil eines Spiegels die Welt , so wie sie im ganzen Spiegel gewesen ist; wie ein Baum im Senfkorn ; wie alle Menschen in Adam ; wie der Magnet das Eisen anzieht und von der Schwere löst; wie dasselbe Sichtbare in vielen Augen und dasselbe Hörbare in vielen Ohren und die eine Tiernatur in vielen Tieren und die eine Menschheit in vielen Menschen ; und eine einzige Kerze unendlich entzündet, ohne sich zu verringern und eine Quelle immer Wasser spendet; und jeder beliebige Teil des Wassers Wasser etc.;

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und aus einer Blume die Biene Honig, die Spinne Gift ; und die Sonne das Wachs aufweicht, den Lehm verhärtet. Viele Wunder davon gibt es in der Welt; und in dir selbst hast du ähnliche; eine einzige Seele ist in dir, die den Körper lebendig macht, als ganze im Ganzen und jedem Teil, im Auge sieht, im Ohr hört, im Magen verdaut und verwandelt etc. (11) Das Wunderbarste aber ist, daß ein Geschöpf, nämlich das Brot, in das Fleisch Christi verwandelt wird, das heißt in den ganzen Christus, in Gott und in einen lebendig beseelten Menschen, und der Wein in den ganzen Christus, das heißt in das Blut und daher folglich in den ganzen Christus, so daß kraft der vom Priester mit bestimmter Absicht vorgetragenen Worte unter Mitwirkung von Christus die Transsubstantiation des Brotes in das Fleisch Christi geschieht, das nicht ohne Blut, Seele und Gottheit ist; so wird auch in uns durch die Tätigkeit unserer Seele mittels der Wärme des Magens das Brot in unsere wesenhafte Natur verwandelt, das heißt in das Fleisch, das in uns nicht ohne Blut und Seele besteht. So wie aber die Fähigkeit unserer Kraft nur gemäß einem Maß ist, in diesem Körper mittels der natürlichen Wärme des Magens diese Tätigkeit auszuführen, das heißt das Brot, das des Lebens entbehrt, in Leben zu verwandeln, damit es lebendiges mit Empfindung ausgestattetes Fleisch sei, so liegt es allein in der Fähigkeit Christi, welche die Fülle aller an Kraft teilhabenden Kräfte ist, in der Kraft des Wortes, das heißt der geistigen, die Substanz des Brotes, abgesondert von aller Quantität und Akzidenz gedacht, in das Fleisch Christi, gleicherweise in seiner reinen wesenhaften Wahrheit verstanden, zu verwandeln, so daß unter den akzidentellen der ganze Leib Christi als wahrer in jeder beliebigen ganzen Hostie und in jedem beliebigen ihrer Teile ist. Und weil allein durch die Vernunft, welche die Substanz von den Akzidenzien entkleidet, die reine Substanz berührbar ist, wenn auch nicht so, wie sie ist, so ist allein durch den Glauben, der eine Kraft der Vernunft ist, dies berührbar und nicht durch irgendeine Sinneswahrnehmung oder ein Schlußverfahren des Verstandes. (12) Dieses bewundernswerte Sakrament gibt uns eine Speise, damit wir stark und gekräftigt werden in der Hoffnung, die wir von Christus haben, das heißt, daß wir in ihm selbst zur Sohnschaft Gottes hinübergenommen werden. Wenn nämlich die Substanz des Brotes und Weines in den Leib und das Blut Christi durch Christus mittels des Priesters verwandelt werden kann, ohne daß Christus, während die Weihe sich vollzieht, irgendetwas zuwächst oder abnimmt, während der Verzehr geschieht, werden wir in dieser Speise durch stärkste Erhärtung gefestigt, so daß wir hoffen können, daß unser vergängliches Wesen durch Christus zur Christusförmigkeit hinübergetragen werden kann, damit wir so in der Einheit mit ihm das ewige Leben erlangen. (13) O wunderbare Speise, wieviel an Wonne und Freude gießt du unserer Hoffnung ein, weil du uns dorthin führst, daß wir gestärkt über jedes Geschöpf

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hinauszugelangen suchen, so daß wir nur Sättigung finden, wenn wir über alles Erfreuliche dieser Welt, über alle Schönheit des Himmels und der Erde und der Dinge, die in ihnen sind, hinaus in die Christusförmigkeit umgeformt werden. Denn was bedeutet es, das Brot in dich zu verwandeln, wenn nicht dich in das Brot? Sobald du, o Herr, nämlich das Brot in deinen Körper verwandelst, teilst du dann nicht dem Brot das Leben zu? Denn was bedeutet es, daß das Brot in unser Fleisch verwandelt wird, anderes als daß die Seele hinabsteigt in das Brot, um es lebendig zu machen? So bist also du, o Herr, meine Hoffnung, „meine Stütze und meine Zuflucht“ (Ps 18[17],3; 71[70],3) etc., du meine erhabene Speise und „Brot des Lebens!“ (Joh 6,35.48) Und sobald wir dich als das Brot des Lebens empfangen, werden wir in das Leben verwandelt, freilich nicht in ein Leben, dem irgendetwas an Leben fehlen könnte, sondern in das vernunfthafte Leben, das jegliches sinnlich empfindende und verstandesmäßige Leben umfaßt, das alle Wonne und alle Freude „in sich enthält“ (Weish 16,20). Und auf diese Weise finde ich die Speise meiner Hoffnung im wunderbaren Andenken an dieses Sakrament. Und dies betreffs des zweiten . (14) An dritter Stelle hat er uns, die wir ihn selbst fürchten, eine Speise zur Nahrung für die Liebe gegeben. Unser Herr selbst hat uns „bis zum Tode“ (Phil 2,8) geliebt und sein Leben dahingegeben, damit wir leben sollten. Das Lebendigmachen aber wird für die hier in dieser Welt Pilgernden durch Essen und Trinken erhalten. Von daher, weil der Herr selbst im Begriff war, in sinnlich wahrnehmbarer Weise von uns zu gehen, hat er das Andenken an seine Liebe hinterlassen, durch die er uns durch seinen Tod lebendig gemacht hat. Damit er deshalb alles auf die größtmögliche und vollkommenste Weise erfüllte, was die größte Liebe ausführen kann, hat er es in die Machtvollkommenheit seiner Schüler und Nachfolger gelegt, die er bis ans Ende, das heißt in höchster Weise, geliebt hat, ihn selbst in diesen gegenwärtig zu haben – es sind dies die Hauptnahrungsmittel des Lebens – das heißt im Weizenbrot und Wein; so sollen diejenigen, die essen und trinken, durch das sinnlich wahrnehmbare Kauen und den Genuß des Kelches und Christus in sakramentaler Weise gegenwärtig haben, unermüdlich das Andenken an den sinnlich wahrnehmbaren Tod Christi feiern; und die Vernunft soll erfassen, auf welche Weise das uns durch den Tod Christi gegebene geistige Lebendigmachen erhalten wird mittels des geistigen Verzehrens seiner selbst, so daß mit dem begierigsten Verlangen die Speise des Lebens umfaßt wird. (15) Und daher ist dies eine Speise der Liebe, das heißt sich zu erinnern an die wunderbaren Werke der größten Liebe. Wessen Liebe nämlich nicht aufgrund eines Wohlwollens, von dem es ein größeres nicht geben kann, genährt wird, in jenem ist notwendigerweise kein

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Leben des Geistes, der die Liebe ist. Denn sie sind teuflische Salamander, die nicht im Feuer warm werden. Und dazu, daß ihr, die ihr meistenteils grünende Hölzer und tote Kohlen seid, durch Einhauchung des Geistes des Herrn durch mich unwürdigstes Werkzeug die Speise der Liebe verkosten könnt, will ich an die Freigebigkeit und Wohltätigkeit des Schöpfers und unseres Herrn Jesus Christus erinnern. Zuerst aber sollen die Wohltaten der Natur bedacht werden, durch die „wir leben und sind“ (Apg 17,28), und dann die übernatürlichen . (16) Wenn nämlich Gott als der Geber geglaubt und erkannt würde, wie könnte man ihn nicht lieben? Wenn man ihn daher als todbringend und durch Kälte tötend glaubt, wird er auch nicht geliebt! „Die Dämonen glauben und erzittern“ (Jak 2,19), aber sie lieben nicht. Teuflisch ist also ein Glaube, zu glauben und nicht zu lieben! Wer sollte den nicht lieben, der ihm das Augenlicht geschenkt hat? Warum wird der nicht geliebt, der Sein und Leben gegeben hat? Was bist du, wenn nicht eine Anhäufung und eine Masse von Geschenken Gottes? Was besitzt du, was du nicht empfangen hast? Daher bist du nur ein Scheiterhaufen und eine Masse von Feuer, in größten Brand gesetzt von den Wohltaten Gottes. Während du das, was du besitzt, aufzählst, bringst du viele Fackeln der Liebe in Erfahrung. Richte die Aufmerksamkeit auf die teuflischen Wunder, weil das ganze Feuer in dir kalt und gefroren ist. Sieh nach bei Wilhelm von Paris im Buch über die göttliche Redekunst gegen Ende, wo darüber .1 (17) Und dazu, daß du nicht vorübergehend, sondern dauerhaft und beständig dich erwärmst, denke nach: Wie? Wenn der größte König seinen ganzen weitverzweigten Hausstand dazu geordnet hätte, daß sich dir gefällig erweisen und alles, was sie dir zuteilen, anordnen sollen, daß du gut und froh lebst, ja wenn er selbst sogar nicht aufhörte, dir durch sich selbst ununterbrochen beizustehen, dich zu beschützen, dich zu erhalten, , der auch dich ruft, daß du zur Erbschaft des Reiches gelangen mögest, ja nicht die Königsherrschaft, sondern sich selbst als Lohn dir darbietet, wenn du willst, müßte dieser König von dir nicht verdientermaßen über alles aus ganzem Herzen geliebt werden? (18) Sieh also, was der Herrscher über Himmel und Erde, dein Schöpfer, dir zugeteilt hat! Hat er nicht alles, was „im Himmel und auf Erden“ (Ps 135[134],6) , geordnet, daß es dir zu Diensten steht? Denn schwinge dich auf von der Erde! Sie selbst ist gleichsam die Vorratskammer, von der dir Gott Nahrung und Kleidung, Wein und Brot, Tiere, „Schafe und Rinder“ (Ps 8,8) herausführt, damit sie dich nähren, dich kleiden, dich fahren; Leinen, daß du es gebrauchst, Steine, daß du dir Gebäude errichtest als Mittel zur Bewahrung, Metalle, Gold und Silber, Steine, Pfeffer, Spezereien, Seide etc.

1

Wilhelm von Paris: De Rhetorica Divina c.49 (Paris. I, p. 393A-B).

Predigt LXII: Ein Andenken hat er eingerichtet

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(19) Blicke auf das Wasser: Wie große Dienstleistungen bringt es dir in Fischen, Vögeln, in Mühlen, Schiffsreisen, Bädern, Erfrischungen, Trinken etc. Ebenso : Was die Luft? Im Bezug auf die Atmung, auf die Erfrischung des Geistes, ebenso bezüglich des Windes, der reinigt, durch die Meere führt, die Windmühlen , bezüglich der wasserreichen Wolken und des abendlichen Regens etc. Was betreffs des Feuers, das Heilmittel gegen die Kälte, gegen üble Verdauungsbeschwerden und vorzeitiges Essen ; betreffs der nächtlichen Beleuchtung etc. (20) Was betreffs der Sonne, die die Leuchte des Tages für dich und die Tiere ist, die die Frucht reifen läßt, die Luft erwärmt, die Keime herausführt. Was betreffs aller Sterne, die alle zusammentreffen, damit sie Einfluß nehmen auf deine Existenz? Was über die Engel, betreffs ihres Wachens und Schutzes gegenüber bösen Widerwärtigkeiten, betreffs der Leitung im Guten? Was über die Heiligen betreffs der Vermittlung und Erhörung beim Fürsten, Gott? Denn alles deinetwegen! Ja sogar auch die Hölle selbst, damit sie dich durch Erschrecken vom Bösen zurückziehe, damit sie denen, die gegen dich sündigen, eine gerechte Strafe zuteile, und die bösen Geister, damit du, auch wenn sie versuchen, als Sieger gekrönt wirst und dich in Widerwärtigkeiten als tugendreich erweist. Alles nämlich tragen sie für dich zusammen. (21) Darauf steige empor zu den unendlich Geschenken der Gnade, weil er dich berufen hat, das ewige geistige Leben in ihm, der das Leben ist, zu besitzen! Auch ist er dazu Mensch geworden, daß du jenes zu erlangen vermagst; er hat sich allem unterworfen; er hat dich unterwiesen und dich auf die rechten Wege geführt. Schließlich hat er dir die Wahrheit gezeigt, indem er sie selbst durch seinen Tod bekräftigt hat und „durch viele Zeugen“ (2 Tim 2,2), die in ihrem Blute dir „Zeugnis für die Wahrheit“ (Spr 31,28) abgelegt haben. Und als er aus dieser Welt scheiden wollte, hat er selbst, der dich allein aus reiner Güte geschaffen hat, sich allein aus reiner Güte erniedrigt bis zur Menschwerdung und zum Tode, damit er dich erhöhe; auch ist er, der beschlossen hat, entsprechend der höchsten Seligkeit „bis zur Vollendung“ (Mt 28,20) mit dir zusammen zu sein, aufgefahren, damit er das Versprechen bezüglich der Erlösung in der glorreichen Glückseligkeit erfülle. (22) In gleicher Weise blieb er auch mit dir in dieser Welt zurück, wo die Wahrheit nur im Bilde berührt wird, auf die Weise, auf welche es passend ist, dir in dieser Welt eine Teilhabe an seiner Gemeinschaft zu schaffen, das heißt unter der sakramentalen Gestalt, unter sinnlich wahrnehmbaren Zeichen, damit du ihn im Vaterland gemäß dem Verhältnis jenes Reiches des Lebens, „so, wie er ist“ (1 Joh 3,2), und hier in dieser Welt gemäß den Bedingun-

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

gen dieser Welt in Gestalt und Rätselbild (1 Kor 13,12) genießen kannst, dort freilich durch Erfassen desselben, der das Leben ist, in offenbarem Blick der Schau, das ist: durch die reine und klare Einsicht in die Wahrheit ohne Rätselbild; diese einzusehen bedeutet, ihr im ewigen Leben geeint zu werden; und hier durch den Glauben, das ist durch ein Geschenk, vermöge dessen die Vernunft über sich hinaus in einem Rätselbild das Wahre unter den Gestalten verborgen berührt. (23) Denn unsere Vernunft sieht nicht das Leben in Brot und Wein, auch das körperliche; sondern unter Führung durch die Natur weiß sie, daß es da ist; und sie besinnt sich auf jene zur Kräftigung. Und wofern sie durch den Glauben sich auf Brot und Wein zur Kräftigung des sinnlich wahrnehmbaren Lebens besinnt, findet sie dort die Kräftigung, worauf sie sich unter Führung durch die Natur besinnt, und nicht in allem anderen, weil sie zu jenen nicht geführt wird. So sieht sie im Brot des Himmels nicht das Leben des Himmels, sondern sie wird durch die Gnade des Glaubens geführt, daß sie dort die Kräftigung des Geistes suche; und dort findet sie diese. (24) Hier also wird die Liebe unseres Geistes am meisten genährt, wofern er nämlich das Vorausgeschickte und die überaus große Liebe Gottes betrachtet, mit der er uns zuvor geliebt hat und nicht aufhört zu lieben, sondern ohne Unterlaß fortfährt. Auch liebt er uns nicht wegen irgendetwas, was ihm fehlt und bei uns vorhanden wäre, da gerade er selbst die Güte selbst ist. Und er liebt uns auch nicht, damit er geliebt wird, da er die Liebe selbst ist. Und daher hört er dann nicht auf, uns zu lieben, sobald wir verlassen sind wegen des Greisenalters, wegen Krankheit, wegen Armut, wegen Häßlichkeit, wegen Lepra, wegen welcher auch immer schreckenerregenden Krankheit. Ja er liebt uns immer in gleicher Weise. Ja sogar, sobald wir sterben und wir für alle Menschen ein Abscheu sind, hört er nicht auf, uns zu lieben, weil sein Sein Liebe ist und sein Sein sein Wirken ist; daher liebt er, wenn er ist. (25) Und weil er uns so liebt, schenkt er uns immer reichlich Gnade, wenn wir sie angenommen haben wollten; immer barmherzig, wenn wir um Barmherzigkeit gebeten haben, ein Arzt, der uns nicht im Stich läßt; auch wenn wir von allen verachtet gewesen sein sollten, er selbst unsere Zuflucht. Er selbst nährt, besucht und tröstet unter den sakramentalen Gestalten uns ohne Unterschied, Gesunde und Kranke, Könige und Knechte, Reiche und Arme, Weise und Törichte. Er bemüht sich durch die Macht der Liebe, mit der er uns liebt, unseren Geist in seinen Geist der Liebe umzuwandeln, so wie ein Herrscher durch seinen Willen den Willen eines Untergebenen, den er liebt, in seinen Willen hinüberbringt.

Predigt LXII: Ein Andenken hat er eingerichtet

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Und er hat das Sakrament der Liebe, in welchem er durch das Wort die Substanz des Brotes in seinen Leib verwandelt, für uns als das höchste Denkmal dieser Umwandlung eingesetzt. (26) Wer also kann sich verbergen vor seiner Liebesglut (Ps 19[18],7)? Denn nur ein Geist, der durch ein teuflisches Wunder von unendlicher Kälte abgetötet ist, unempfindlich und unbeweglich wie etwas von Eiseskälte unauflöslich , kann nicht von dem so großen Blitzstahl des Lichtes erleuchtet werden, von einem so großen Brand nicht erwärmt werden, von einer so großen Süße nicht versüßt werden, von so großer Liebe nicht entflammt werden, von so viel Wein der Freude nicht berauscht werden, von so viel Süßigkeit der Speise nicht erquickt werden, von so großem Ergötzen nicht ergötzt werden, von so großer Freude nicht erfreut werden und von so großem Gut nicht gut gemacht werden. (27) So also ist das Andenken an dieses Sakrament eine bewundernswerte Speise des Glaubens, weil der barmherzige Gott dieses selbst eingesetzt hat; es ist eine wunderbarere Speise der Hoffnung, weil Gott, der Erbarmer, es eingesetzt hat, daß die Substanz des Brotes in sein Fleisch und die des Weines in sein Blut verwandelt werden sollen; es ist die bewundernswerteste Speise der Liebe, weil der Herr, der Schöpfer von allem und Spender alles Guten, es als Andenken an die Liebe, „mit der er uns geliebt hat“ (Eph 2,7), eingesetzt hat. Wir wollen uns also von dieser Speise des Lebens ernähren, damit wir in das immerwährende Leben umgeformt werden, wo ein Leben ohne Tod in Ewigkeit herrscht! Amen.

Predigt LXIII Qui manducat hunc panem, vivit in aeternum Wer dieses Brot ißt, lebt in Ewigkeit Zeit: Ort: Fest: Zählung Koch: Edition: Deutsch:

unbekannt; nach R. Haubst: 16. Juni 1446 (?) nach J. Koch: nach 1452 unbekannt; nach R. Haubst: Mainz (?) Fronleichnam 64 Anhang h XVII/5, 354-355 –

ZUSAMMENFASSUNG Der Entwurf ist neben der Angabe des Themas über verschiedene Einteilungen und Gliederungspunkte nicht hinaus gediehen. Danach soll die Predigt in einem ersten Teil vom sakramentalen Brot handeln, in dem Christus gegenwärtig ist. Dazu werden Evangelium wie Epistel herangezogen. In einem zweiten Teil soll von denjenigen gesprochen werden, die dieses Brot essen.

BEMERKUNGEN Da der Predigtentwurf nur in der Salzburger Handschrift G vorliegt, die wahrscheinlich erst nach 1452 entstanden ist, ist die Predigt höchstwahrscheinlich erst nach 1446, zwischen 1446 und 1452, entstanden.

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Predigt LXIII Wer dieses Brot ißt, lebt in Ewigkeit (1) „Wer dieses Brot ißt, lebt in Ewigkeit.“ (Joh 6,59) Der erste Teil über das Brot. Zuerst wird über das Brot im Evangelium berührt, und zwar wie Christus, der die Speise des Lebens ist, . Zweitens wird in der Epistel berührt, wie Christus, der die Speise des Lebens ist, uns unter den Gestalten von Brot und Wein, welches körperliche Speisen sind, gegeben wird, und Ursache der Einsetzung . Zuerst vom Evangelium : Es soll zuerst berührt werden, wie der Stoff durch Johannes , und dort spreche ich zuerst : „Wer dieses Brot ißt, lebt in Ewigkeit.“ (2) Erstens über das Brot, zweitens über das Essen, drittens über die Frucht. (3) Der erste Teil über das Brot wird durch ein Wort dargelegt, weil das Brot Christus der Herr ist, der sagt: „Ich bin das Brot.“ (Joh 6,51) Das ist eine Betrachtung über Christus, wie er selbst das Wort des Vaters ist und das Leben gewährende Brot ist, weil „nicht vom Brot allein “ (Mt 4,4). Es ist eine Betrachtung über Christus, wie er Mensch ist. Wir sind Menschen aus Geist, Seele und Körper, wie Augustinus es überliefert „Über das Glaubensbekenntnis“,1 und wir bedürfen der Nahrung. (4) Über das Brot, das durch den Verzehr ewiges Leben gewährt; das ist unsere erste Betrachtung; und über jenes Brot wird im Evangelium überliefert; und über das Sakrament ebendesselben wird in der Epistel überliefert. Zuerst wollen wir aus dem Evangelium schöpfen, wer dieses Brot da ist. Zweitens wollen wir über das Sakrament einiges aus der Epistel schöpfen. (5) Der zweite Teil von den Essenden : Zuerst, was bedeutet essen, aus dem Evangelium, was essen unter den sakramentalen Gestalten .

1

Vgl. Augustinus: De fide et symbolo, c.10 § 23 (CSEL 41, p.28, lin.9-15).

Predigt LXIV Qui manducat hunc panem, vivit in aeternum Wer dieses Brot ißt, lebt in Ewigkeit Zeit: Ort: Fest: Zählung Koch: Edition: Deutsch:

undatiert; nach R. Haubst: 16. Juni 1446 (?); nach J. Koch: wahrscheinlicher an einem Fronleichnamsfest nach 1446 unbekannt; nach R. Haubst: Mainz (?) Fronleichnam 64 h XVII/5, 356-359 mit wenigen Auslassungen in: Des Cardinals und Bischofs Nicolaus von Cusa wichtigste Schriften in deutscher Übersetzung von Franz Anton Scharpff, Freiburg i. Br. 1862, 454456.

ZUSAMMENFASSUNG Mit der Aufstellung des Themas verbunden ist die Angabe der Gliederung in drei Teilen, von denen allerdings nur der erste Teil ausgearbeitet vorliegt (n.1). Der erste Teil, der vom Brot handelt, zerfällt wiederum in zwei Abschnitte: die Notwendigkeit des Glaubens und die Gründe für die Einsetzung der Eucharistie. Der Glaube ist notwendig zur Erfassung der lebendigmachenden Speise des geistigen Lebens, nämlich Jesus, der das Brot des Lebens ist (n.2-5). Erst der Glaube erfaßt Jesus als die Speise des Lebens (n.2). Über sinnlicher Wahrnehmung und vernünftigem Wissen steht der Glaube (n.3-4). Allein der Glaube erfaßt das Vermächtnis Jesu in diesem Sakrament (n.5). Zum Empfang dieser Speise gehört notwendig die Sukzession der Darreichung des Brotes des Lebens von Jesus über die Apostel und deren Nachfolger (n.6). Als Gründe für die Einsetzung der Eucharistie werden genannt: Erhaltung des geistigen Lebens, die Verbundenheit mit Christus und die Verbundenheit der Gläubigen untereinander (n.7-9). Die Einsetzung bedeutet ein sichtbares Zeichen (n.7). Das Sakrament hat einheitsstiftende Kraft (n.8) und begründet die Kirche (n.9).

BEMERKUNGEN Hinsichtlich der Datierung gilt für diese Predigt Ähnliches wie für die vorhergehende Predigt LXIII; vgl. Koch, 84.

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Predigt LXIV Wer dieses Brot ißt, lebt in Ewigkeit (1) „Wer dieses Brot ißt, lebt in Ewigkeit (Joh 6,59).“ Drei Punkte werde ich der Reihe nach besprechen: Erstens über das Brot, zweitens über das Essen oder den Verzehr des Brotes, drittens über die Frucht. (2) Der erste Teil über das Brot wird folgendermaßen ausgeführt: Da Christus das lebendigmachende Leben ist und unser Leben ohne Speise nicht erhalten werden kann, ist er selbst, der Geber des Lebens ist, auch der Erhalter; daher ist er das Brot des Lebens (Joh 6,35.48); und, wie er Brot oder Speise des Lebens ist, das kann dann nur im Glauben berührt werden. Denn jenes, das lebendig macht, ist der Geist (Joh 6,64). Der Geist aber kann nicht erkannt werden, „von wo er kommt und wohin er geht“ (Joh 3,8), wie es die Lehre Christi ist. Er kann also nicht mit Hilfe des Wissens berührt werden. Weil wir aber zum Geist des Lebens (Röm 8,2) kommen müssen, wenn wir das Leben zu erlangen uns bemühen, und dies mit Hilfe des Wissens nicht schaffen können, ist es nötig, daß dies mit Hilfe jener Kraft geschieht, die über dem Wissen ist, welche der Glaube ist. (3) Jener Glaube aber, der das Leben des Geistes berühren soll, muß notwendigerweise siegreich (1 Joh 5,4) und kämpfend sein und die Vernunft in den Gehorsam gegen Christus nehmen, wie im zehnten Kapitel des Zweiten Briefes an die Korinther , daß der Glaube so siegreich und tugendreich ist (2 Kor 10,5). Die Tugend aber wird nur im Widerstreit vollendet. Daher ist es nötig, daß jener Glaube, damit er in tugendreicher Weise vollendet werde und stark sei, Schwierigkeiten habe, und zwar umso mehr, je tugendreicher er sein soll. Wenn aber der Glaube selbst von so großer Kraft sein soll, daß er im Geiste das ewige Leben des Geistes berührt, ist es nötig, daß er der kraftvollste ist, und daher auch der siegreichste. Daher müssen die entgegenstehenden Dinge sehr einleuchtend sein und solche, die durch ihr Sich-Zeigen am meisten den Glauben bekämpfen, wie es die Gewißheit ist, die in der Sinneswahrnehmung liegt; denn da nichts in der Vernunft ist, was nicht zuvor in der Sinneswahrnehmung gewesen ist, ist es Aufgabe der größten Tugendkraft des Glaubens, die Vernunft gefangen zu nehmen, damit sie das glaube, dessen Gegensatz die Sinneswahrnehmung anzeigt. (4) Von daher trifft es zu, daß Christus sich als das Brot des Lebens jenen, unseren vernünftigen Geistern, darbietet, die durch Besiegung der sinnlich wahrgenommenen Dinge sich als durch den Glauben Gefangene erweisen und unzweifelhaft das für wahr glauben, was die Sinneswahrnehmung leugnet. Das trifft freilich allein aus dem Grunde zu, weil er an den, den er als Mensch wahrnimmt, als den Sohn Gottes glaubt. In der Folge dieses Glaubens glaubt er alles, was jener aussagt und als frohe Botschaft verkündet gleichsam mit den Worten Gottes, bei dem nichts unmöglich ist (Lk 1,37).

Predigt LXIV: Wer dieses Brot ißt, lebt in Ewigkeit

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Je unmöglicher aber irgendetwas gemäß dieser Weise , um so möglicher bei ihm selbst zum Aufweis seiner Allmacht und seiner großen Herrlichkeit (Lk 18,27). Er hat aber gezeigt, daß das Evangelium als die Speise des Lebens die Unterweisung besitzt, weil es Wort des ewigen Lebens (Joh 6,69) und die Rechtfertigung, so daß es eine einzige Speise des Lebens ist, des fleischgewordenen Wortes, des Wortes wie eines, das die Frohbotschaft verkündet und Fleisch geworden ist wie ein rechtfertigendes Opferlamm, wie es erhellt aus dem Fortgang des Textes des sechsten Kapitels des Johannes. (5) Weil aber dazu, daß durch den Glauben aufgrund eines Sieges über das Gegensätzliche der Erscheinung der sinnlich wahrnehmbaren Welt „das Brot des Lebens“ (Joh 6,35.48) berührt wird, es nötig gewesen ist, daß zu jeder Zeit dieser Kampf besteht, damit so diese für uns immer notwendige Speise immer durch den tugendreichsten Glauben berührt werden kann, deswegen hat er, im Begriff, von dieser Welt zu scheiden, versprochen, mit uns sein zu wollen bis ans Ende der Zeit (Mt 28,20) auf eine Weise, auf welche uns seine so geartete Anwesenheit zum Ergreifen des Lebens bringe. Und weil er gesehen hat, es komme am meisten der Ergreifung des Lebens zu, daß er, die Speise des Geisteslebens, sich unter sinnlich wahrnehmbaren Gestalten, die eine körperliche Speise darstellen, das heißt von Brot und Wein, ebenso verberge, wie er, als er selbst körperlich erschienen ist, die wahre Speise des Geisteslebens verborgen in einem aus Brot und Wein, das heißt aus Fleisch und Blut, genährten Leib in sich getragen hat, daher hat er aus dieser Welt scheidend uns ein Sakrament hinterlassen, in welchem Christus selbst, der die vernunfthafte Speise ist, unter den sinnlich wahrnehmbaren sakramentalen Zeichen verborgen ist. So wie er , während er körperlich einherwandelte (Hebr 5,7), eine Speise des Lebens in Fleisch und Blut verborgen in sich getragen hat, damit in jenen, in denen ein sterblicher Körper die vorübergehende Erquickung vergänglichen Mannas erlangt, auch der Geist durch den Glauben die Speise des vom Himmel herabsteigenden unvergänglichen Brotes (Joh 6,59) erlange; folglich ist es der Glaube, der gleichsam den Geist durch seine Glut in das lebendige Brot einfließen läßt, damit er im Leben lebt, so wie der Magen in seiner Glut es ist, der die Speise vom Brot des vergänglichen Mannas an sich zieht, damit er erquickt werde. (6) Wie er selbst gleichsam vom Vater als Lehrer im „Wort des Lebens“ (1 Joh 1,1), das er in Besitz hatte, gesandt war, indem er die Speise des Lebens verschaffte und sich als Speise darbot, so hat er deswegen die Apostel und Jünger und deren Nachfolger bis ans Ende der Zeit (Mt 28,20) gesandt, wie auch er selbst vom Vater gesandt gewesen ist, damit auch sie selbst im Wort des Lebens die Speise des Lebens verschaffen und ihn selbst wie eine Speise des Lebens in den körperlichen Speisen darbieten. Und so siehst du, wie in der Verkündigung der Frohen Botschaft die Speise des Lebens beschafft wird so wie in einem Darbringen; und die Verkündigung

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

der Frohen Botschaft ist um so vollkommener, je mehr Frucht sie hervorbringt. Und oft ist gerade in ihr selbst das süßeste Darbringen des mystischen Leibes Christi, wie du es anderswo hast.1 Das Evangelium2 soll angesehen werden. (7) Der zweite kleine Teil des ersten Teiles ist über das sakramentale Brot, das uns Christus hinterlassen hat zur „Erinnerung an seine Wunder“ (Ps 111[110],4). Zuerst wollen wir im Zusammenhang dieses Teiles den Grund der Einsetzung berühren. Und der eine ist am Anfang berührt worden, das heißt, daß Christus so mit uns ist, daß wir durch den Glauben das Nahrungsmittel des Lebens zu schöpfen vermögen, das heißt, da er mit uns wie ein rechtfertigendes Opferlamm ist, das „für das Leben der Welt“ (Joh 6,52) dahingegeben worden ist auf eine Weise, auf welche er durch die Sinneswahrnehmung nicht berührt werden kann, daß wir aufgrund eines starken Glaubens in der Darbringung des in sichtbaren Zeichen enthaltenen unsichtbaren Opferlammes das Leben zu schöpfen vermögen.3 (8) Ein anderer Grund der Einsetzung wird aus der Reihe der Texte des Lukas und anderer hervorgelockt, der im Einzelnen angemerkt werden muß, das heißt, daß Christus „das Brot genommen hat“, „Danksagend es gebrochen hat“, seinen Jüngern es gegeben hat mit den Worten: „Nehmet hin und esset!“ „Dies ist mein Leib, der für euch hingegeben wird“ (Lk 22,19; Mt 26,26-28; Mk 14,22-24); nach Lukas: „Tut dies zu meinem Gedächtnis“ (Lk 22,19); damit wollte er zeigen, sein wahrer Leib müsse für jene dahingegeben werden, so daß er freilich sogar sein Leben dahingab, so wie jenes Brot, das er zu seinem Leib gemacht hat, ein einziges und geteilt auch für jeden beliebigen gewesen ist; und jeder, der davon ißt, ist erquickt; so vom Kelch. So wie von daher Christus, das lebendig machende Leben, den ganzen Leib der Gläubigen in der Einheit des Lebens eint, so daß er selbst das Leben ist und die Gläubigen der Leib, so hat er dieses Sakrament eingesetzt, damit gerade in ihm er selbst die Speise des Lebens ist und die an diesem einen Brot Teilnehmenden ein einziger Leib Christi , die von diesem einen Brot des Lebens erquickt sind. Von daher wollte Jesus, daß auf jenes Gedächtnis hin, daß er selbst, der das Leben ist, dahingegeben worden ist, für die Gläubigen das Brot geweiht und den Gläubigen dahingegeben werden soll. (9) Von daher muß angemerkt werden, daß vom Gläubigen verlangt wird, daß er am Leib Christi teilnimmt, der im Sakrament des Brotes ist, damit er so bekennt, daß er das Gedächtnis an die Hingabe Christi für ihn 1 2 3

Vgl. Predigt XII, n.33; Predigt LXII, n.2; De sacramento, n.15, 14-17. Vgl. Missale Romanum, Evangelium vom Fronleichnamsfest, Joh 6,56-59. Das in den Mss. überlieferte und in die Edition als Adverb übernommene „contente“ möchte ich hier anders verstehen und auflösen als Partizip von „continere“, also „contentae“, und die Übersetzung danach ausrichten.

Predigt LXIV: Wer dieses Brot ißt, lebt in Ewigkeit

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behält, und dies in der Einheit des mystischen Leibes Christi; in diesem zur Existenz zu bringenden Leib nimmt er teil am Brote der Gläubigen und zugleich zusammen mit jenem mystischen Leib an der Einheit mit Christus, der im Sakrament partizipiert wird. Die Liebe zum Nächsten genügt nämlich nicht, wenn jene nicht auch in Gott gründet. Von daher liegt der Gegenstand des Sakramentes im Bezug auf die Notwendigkeit des Heiles, das heißt, daß du ununterbrochen in der Einheit des Leibes Christi und Hauptes, nämlich Christus, bist. Anders kannst du nicht im Leben sein. Dann ist es nötig, daß du das Sakrament dieser Einheit empfängst, so daß du mit dem Munde zeigst, daß du an eine solche Eingliederung glaubst bezüglich der Notwendigkeit des Heiles. Und so merke gut an etc.

Predigt LXV Fuit homo missus a Deo Ein Mensch ist von Gott gesandt worden Zeit: Ort: Fest: Zählung Koch: Edition: Deutsch:

24. Juni 1446, Frühmesse in der Johanneskirche Mainz Geburt Johannes des Täufers 59 h XVII/5, 360-368 –

ZUSAMMENFASSUNG Nach der Aufstellung des Themas und einer daran anschließenden Einleitung (n.1) folgt eine Gliederung, die vier Teile angibt, von denen uns aber nur der erste Teil schriftlich vorliegt (n.2). Die Grundtendenz in diesem überlieferten Text ist es, aufzuzeigen, wie die Geburt Johannes des Täufers ausgerichtet ist auf das Kommen Christi. Zuerst (n.3-7) vergleicht Cusanus die Geburt des Johannes mit der Geburt von Isaak und der von Jesus. Grund für diesen Vergleich ist das Problem, warum Johannes nicht der dem Abraham verheißene Nachkomme ist, in dem alle Völker gesegnet sein sollen. Der Glaube ist notwendig bei der Verheißung einer wunderbaren Geburt (n.3). Die wunderbare Geburt Isaaks, des Sohnes von Abraham und Sara (n.4). Die Ähnlichkeit zwischen der Geburt des Isaak und des Johannes: die Ankündigung durch einen Engel (n.5). Die Bedingung für die Geburt Christi, des Messias (n.6). Isaak ist Nachkomme dem Fleische nach, Johannes aber sowohl dem Fleische als auch dem Geiste nach (n.7). Der zweite Punkt (n.8-11) behandelt das Wirken Gottes beim Zustandekommen der Geburten, die über das gewöhnliche Naturgesetz hinausgehen. Die Mitwirkung Gottes bei einem Geschehen über den gewöhnlichen Lauf der Natur hinaus gibt es nur aus einem schwerwiegenden Grund (n.8). Die gewöhnlichen Bedingungen der Geburt eines Menschen (n.9). Verschiedene Formen der Unfruchtbarkeit bei einer Frau, zum Beispiel bei Elisabeth und bei Anna, und deren Aufhebung durch das Wirken der Gnade Gottes (n.10). Die Geburt des Johannes wird durch das Wirken Gottes ermöglicht gegen den gewohnten Lauf der Natur (n.11). Ein dritter Punkt (n.12-17) nennt als Grund für das Wirken Gottes bei den wunderbaren Geburten das Hinführen zur Geburt Christi. Christus als der dem Abraham in Isaak verheißene Nachkomme (n.12). Johannes ist der von Zacharias ersehnte Nachkomme dem Geiste nach (n.13). Eine noch größere Ausnahme vom Naturgesetz als bei den beiden Geburten von Isaak und Johannes, nämlich die Geburt aus einer Jungfrau, erfordert das entsprechende größere Gut (n.14). Eine

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

solche Ausnahme erfordert auch einen größeren Glauben (n.15). Durch Isaak hat Abraham Christus dem Fleische nach geschenkt, Johannes als Nachkomme Abrahams hat auf Christus hingewiesen (n.16). Von Abraham erfolgte bis auf Jesus hin eine Reinigung des Blutes; bei Johannes erfolgte durch die Propheten bis zu ihm ein immer deutlicher werdendes Hinweisen auf Christus (n.17). In einem Anhang (n.18-21) hat Nikolaus sich Notizen gemacht zum Glauben Abrahams (n.18), zu Eva als der Mutter aller Menschen (n.19), zu anderen Beispielen von wunderbaren Geburten aus dem Alten Testament (n.20), über die Aufgabe des Johannes, Jesus anzukündigen (n.21).

BEMERKUNGEN Die genaue Angabe zu Datum, Ort und Zeit zeigt, daß Cusanus an diesem Tag zwei Mal gepredigt hat; vgl. dazu Predigt LXVII.

Predigt LXV: Ein Mensch ist von Gott gesandt worden

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Predigt LXV Ein Mensch ist von Gott gesandt worden (1) „Ein Mensch ist von Gott gesandt worden, dem der Name Johannes eigen war. Dieser kam zum Zeugnis, damit er Zeugnis ablegte vom Licht“ (Joh 1,6f.), im ersten Kapitel des Johannesevangeliums . Wir begehen das Fest eines engelgleichen Menschen, einer brennenden prophetischen Leuchte, über dessen Geburt sich viele freuen. Damit wir, die wir uns zusammen freuen, übergossen werden mit geistlicher Freude, – , die wir an diesem Ort zusammenkommen und im Begriff sind, die Wunder seiner Taten zu hören, – laßt uns daher um die Gnade bitten. (2) Vier der Reihe nach : Erstens: auf welche Weise Johannes Mensch geworden ist; zweitens: über seine Sendung; drittens: über den Namen des Gesandten; viertens: über den Grund Sendung. Bezüglich des ersten Punktes soll aus dem ersten des Lukas die Geschichte des Evangeliums bedacht werden (Lk 1,5-25.57-80). Bezüglich des zweiten Punktes, das heißt seine Sendung betreffend, entsprechend dem ersten Kapitel des Evangeliums nach Markus (Mk 1,1-8) und dem des Lukas (Lk 1,13-17), dem dritten Kapitel des Evangeliums nach Matthäus (Mt 3,1-12) und dem siebenten Kapitel des Evangeliums nach Lukas (Lk 7,27) aufgrund des Zeugnisses Christi: „Ich sende meinen Engel vor Deinem Angesicht“ (Mk 1,2 par.) etc. Bezüglich des dritten Punktes entsprechend dem ersten Kapitel des Lukasevangeliums: „Johannes ist sein Name.“ (Lk 1,63) Bezüglich des vierten Punktes entsprechend dem ersten Kapitel des Johannesevangeliums: „Johannes legt Zeugnis ab“ (Joh 1,15) etc., „damit offenbart werde in Israel“ (Joh 1,31) etc.; und nach dem fünften Kapitel des Johannesevangeliums: „Ihr habt geschickt zu Johannes und jener hat Zeugnis “ (Joh 5,33) etc. (3) Bezüglich des ersten Punktes soll die Geschichte ausgebreitet werden, wie seine Geburt gesehen werden soll; und dort sollen mehrere Dinge angemerkt werden: Erstens, wie gerade der heilige Johannes nicht von Seiten des Heiligen Geistes geboren ist, das heißt „aus dem Glauben“ (Gal 3,7) wie Christus. „Selig, die Du geglaubt hast“ (Lk 1,45) etc., im ersten Kapitel des Lukasevangeliums. Und dieser Punkt ist anzumerken: Wenn nämlich Johannes derjenige gesegnete Samen Abrahams gewesen wäre, in dem alle Stämme gesegnet werden sollten, wäre er der Gesalbte, , gewesen, und er wäre allein durch den Geist wegen des Glaubens empfangen gewesen, so wie Abraham Gott geglaubt hat und dies angerechnet worden ist etc. (Gen 15,6)

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Und dafür siehe Paulus im dritten Kapitel des Briefes an die Galater; denn dort heißt es, weil „Abraham Gott geglaubt hat, ist ihm dies auch zur Gerechtigkeit angerechnet worden“, weil „der Gerechte aus dem Glauben lebt“ (Gal 3,7.11); dann ist ihm jener Same verheißen worden, in dem alle gesegnet werden, damit sie wahre Söhne Abrahams sind, das heißt eines gerechten und gläubigen Vaters. So wie auch jene Söhne aufgrund des Glaubens den Segen erlangen müssen im Samen Abrahams, so mußte auch jener Same allein durch den Glauben empfangen werden ohne jede Unterstützung der Natur. Und dies hat für uns die heilige Elisabeth, erfüllt vom Heiligen Geist, ausgerufen, indem sie im ersten Kapitel des Lukasevangeliums zu Maria sagt: „Selig, die Du geglaubt hast, daß das in Erfüllung gehen wird, was Dir vom Herrn gesagt worden ist“ (Lk 1,45) etc. Und weil Zacharias, der Vater des Johannes, nicht geglaubt hat, wie es im ersten Kapitel des Lukasevangeliums berichtet wird, deshalb ist er stumm geworden bis zu dem Tag etc. (Lk 1,20.22) (4) Mach eine Bemerkung bezüglich Abrahams und Saras, wie sie beide in ihren Tagen auch schon fortgeschritten sind. Denn Abraham war neunundneunzig Jahre und Sara neunzig (Gen 17,17.24), der das eigentlich Weibliche schon fehlte (Gen 18,11). Und weil Abraham einen Erben erbeten hat (Gen 15,2-6), hat daher der Herr ihm auch verheißen, den Sproß aus ihrem Schoß so zu vermehren wie die Sterne des Himmels (Gen 22,17); und er hat geglaubt etc., im fünfzehnten Kapitel der Genesis (Gen 15,6). Und mach auch eine Bemerkung aus dem siebzehnten Kapitel der Genesis, wie er betreffs Sara einen Sohn verheißen hat; ihn und seinen Nachkommen werde er segnen in Ewigkeit (Gen 17,16). Und darauf ist Abraham beschnitten worden nach der Verheißung etc. (Gen 17,24) (5) Stelle auch eine Betrachtung an , wie eine gewisse Übereinstimmung besteht zwischen der Geburt des Isaak und der Johannes des Täufers, da beide durch die Ankündigung eines Engels und über den gewöhnlichen Lauf der Natur hinaus (Gen 15,4; 17,1; 18,10.14; Lk 1,11-17). Johannes aber ist unter all denen, die von Frauen geboren worden sind, heiliger gewesen; und der Sohn Abrahams bezüglich des Samens der Verheißung, Isaak, ist ähnlicher als irgendein anderer auch immer vor ihm, und zwar so, weil die Geburt des Johannes der Geburt des Isaak gleichförmiger gewesen ist als irgendeine andere Geburt auch immer; denn über das Naturgesetz hinaus und von gerechten und gehorsamen Eltern, die unsicher waren. Und es war sowohl im Samen Isaaks die Verheißung der Fruchtbarkeit des Fleisches als auch im Samen des Johannes die Verheißung der Fruchtbarkeit des Geistes, wie der Same Abrahams in Isaak unter den von einer Frau Geborenen

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der fruchtbarste und der Same des Zacharias, des Priesters, in Johannes der von einer Frau Geborenen der heiligste . (6) Weil daher die Erfüllung aller Fruchtbarkeit gemäß dem Geiste und dem Fleische in einer gemäß dem Geiste höchsten und gemäß dem Fleische reinsten Person sein mußte, die Gott vor seinen Gefährten gesalbt hat (Ps 45[44],8; Hebr 1,9) und die, weil gesalbt, der Christus, ist, infolgedessen mußte Christus aus der unbeflecktesten Jungfrauschaft, welche auch die fruchtbarste ist, hervorgehen auf Grund von unerschütterlichem Glauben und dem Heiligen Geist etc. Bedenke gut, wie die Erfüllung jeder Zeugung gemäß der Fruchtbarkeit des Fleisches aufgrund ungeschwächter Fruchtbarkeit sein muß etc. (7) Merke an: Sara hat sich Söhne gewünscht, weil sie einen Nachkommen gemäß dem Fleische liebte; und als sie sah, daß sie unfruchtbar war, hat sie deshalb Abraham die Magd untergeschoben (Gen 16,1-3). Abraham aber hat sich Söhne gewünscht, damit er in seinem Samen weiter lebe und einen Nachfolger habe (Gen 15,2-6). Deswegen hat er Gott gebeten, er möge Ismael segnen, nicht durch eine dringende Aufforderung anstelle eines Sohnes aus Sara, wie es im siebzehnten Kapitel der Genesis (Gen 17,18). Daher ist Isaak aus Sara geboren worden außerhalb der Hoffnung von Sara, damit Sara einen Nachkommen erlangen möge, und folglich Abraham einen Erben aus der Freien (Gal 4,22), der mehr geliebt und ihm mehr eigen . So ist Isaak gemäß einer gewissen Liebe zum Fleisch oder zu einem Nachkommen der Sara, die einen Nachkommen ersehnte, entgegen einer Hoffnung geboren worden. Johannes der Täufer ist gemäß dem Wunsche des Priesters Zacharias, der einen Nachkommen ersehnte gemäß dem Priestertum und dem Geiste und nicht gemäß dem Fleische, entgegen der Hoffnung als Sohn gegeben worden, wie es aus dem ersten Kapitel des Lukasevangeliums erhellt (Lk 1,18). (8) Das Gebären einer Frau, die über die Natur hinausgehend gebiert, geht hervor aus der Gnade Gottes und bewirkt etwas Großes. Denn aus einem schwerwiegenden Grunde verändert Gott, der Gesetzgeber, die Naturgesetze. Sobald daher eine Frau über die Natur hinausgehend gebiert, bedeutet dies, daß entweder bei einer mit einem Mangel behafteten Frau Unfruchtbarkeit oder Fruchtbarkeit bei einer Jungfrauschaft vorhanden ist. Der unfruchtbaren Sara, bei der die Unfruchtbarkeit einer mit einem Mangel behafteten Frau vorhanden war, hat er also einen Sohn gegeben; so hat er einen Sohn der Anna (1 Kön 1,20) und einen Sohn der Elisabeth (Lk 1,24f.57) gegeben. Aber Gott hat weder der Sara noch der Anna noch der Elisabeth einen Sohn gegeben wenn nicht um einer schwerwiegenden Sache willen: Der Sara hat er den Isaak gegeben, weil er den Samen Abrahams aus einer Freien vervielfältigen und gerade in diesem Samen alle Völker segnen wollte, damit dieser Same aufgrund einer einzigartigen Gnade gesegnet sei in vervielfältigender und Nachkommen schaffender Fruchtbarkeit.

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Und wie man erkennt, daß die Gnade und der Segen aus Gott stammen, hat von da an jener Same begonnen sich fortzupflanzen über die Natur hinaus, ja sogar nach der Natur nach Ausbleiben der weiblichen Eigenschaften, so wie wenn nach dem Dahinschwinden des Sommers ein Baum zu grünen beginnt bei eintretendem Winter, da schon von den Bäumen die Blätter abgefallen und die Früchte abgeerntet sind. Von daher ist so ein menschlicher Same auf dem Weg der Gnade vervielfältigt worden. Die menschliche Leibesfrucht in der unfruchtbaren Anna ist nicht infolge der Lebenszeit, sondern infolge der Schwäche der Natur aufgrund der Gnade . (9) Gott, der alles gegründet hat und mit seinen Gesetzen das All lenkt, verändert nicht die allgemeinen Gesetze, außer wegen einer schwerwiegenden und sehr nutzbringenden Sache. Und diese Ausnahme, die vom Gesetzgeber innerhalb des Laufes der Natur wegen eines öffentlichen Gutes gemacht wird, entspringt aufgrund der Gnade und Güte des Gesetzgebers und wegen eines allgemeinen Gutes. Es hat der Schöpfer der Natur festgesetzt, durch welches Gesetz die Natur selbst vorgehen solle im Hervorbringen und Erzeugen von Sprößlingen, und einzigartiger gerade in der menschlichen Natur, und zwar daß Mann und Frau ein Fleisch (Gen 2,24; 1 Kor 6,16; Eph 5,31) sind zu gemeinsamer Fruchtbarkeit, und daß der Nachkomme von ihnen selbst gezeugt werde zu rechter Zeit, das heißt in der Fruchtbarkeit der Zeit nach den Jahren der Mannbarwerdung und vor dem Greisenalter. Auch hat er in die Frau weibliche Zeichen mütterlicher Fruchtbarkeit gesetzt, damit sie bei deren Auftreten weiß, daß sie in mütterlicher Weise befruchtet werden kann, und daß sie weiß, daß sie nach deren Verschwinden unfruchtbar wird. (10) Wir finden aber, daß nach der festgesetzten Zeit der Natur die Einheit des Fleisches von Mann und Frau durch göttliches Geschenk sowohl in Abraham und Sara als auch in Zacharias und Elisabeth die Fruchtbarkeit besessen hat, bei denen mehr als gewiß wegen des fortgeschrittenen Alters nach dem allgemeinen Gesetz eine Leibesfrucht offenbar unmöglich gewesen ist. Wenn aber auch die unfruchtbare Anna durch ein Geschenk Gottes den Samuel geboren hat, konnte dennoch diese Unfruchtbarkeit sogar durch eine gewisse natürliche Reinigung aufgehoben werden, da sie ja noch innerhalb der Jahre des Naturgesetzes verharrte. Durch ein Geschenk Gottes ist dies deshalb vollbracht worden, daß diejenige, die lange Zeit unfruchtbar war, fruchtbar werde und den Propheten Samuel zur Welt brächte und nach diesem auch noch andere Kinder, weil ihr die zeitlichen Umstände der Natur noch zur Verfügung standen. (11) Anders ist es aber bei den bereits genannten, wo eine einzige und über jede Möglichkeit der Natur hinausgehende Geburt gegeben worden ist, wo auch nicht die Heilkunde oder irgendetwas Natürliches zu Hilfe kommen konnte; so sollte erkannt werden, daß dies allein durch ein Geschenk des höchsten Gottes

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vollbracht worden ist wegen schwerwiegender Dinge und des allgemeinen Nutzens. So wie daher dem Abraham von der freien Sara Isaak geschenkt worden ist, obwohl die Eltern selbst, wenn sie auch gerade dies wünschten, dennoch nicht daran im vollen Sinne glaubten, ist es vollbracht worden wegen der Gerechtigkeit einerseits und des Glaubens und des Gehorsams der Eltern andererseits: „In Deinem Nachkommen soll gesegnet sein“ (Gen 22,18), heißt es im zweiundzwanzigsten Kapitel der Genesis. Sieh dort nach! So ist dem Zacharias wegen der Gerechtigkeit, des Glaubens und des Gehorsams von Elisabeth Johannes geschenkt worden, obwohl die Eltern, wenn sie auch gerade dies wünschten, dennoch nicht daran glaubten, wie dies bezüglich Isaak aus dem fünfzehnten, dem siebzehnten und achtzehnten Kapitel der Genesis (Gen 15,6; 17,17; 18,10-12) und bezüglich Johannes aus dem ersten Kapitel des Lukasevangeliums (Lk 11,18-20) klar erhellt. (12) Dieses bedeutsame Gut, das aus diesen wunderbaren Geburten erwartet werden sollte, ist in Hinsicht auf Isaak anfangs gewesen, daß gemäß den Wünschen Abrahams sein Nachkomme das Erbe für die gesamte Erde erlangen solle, und zwar so diesen Segen erlangen solle, daß in jenen Samen alle Völker gesegnet werden sollten (Gen 22,18; 26,4), wie es auch der Herr versprochen hat, der wußte, daß dies der Wunsch des gläubigen Abrahams sei, weil in seinem Samen der Fruchtbarkeit, in Isaak, alle Völker gesegnet sein sollen. Daher hatte dieser Same Abrahams in sich eine Segnung in Richtung auf irgendeinen einzigen Menschen als Nachfolger entsprechend dem Isaak, damit gerade in ihm alle Völker gesegnet werden sollten, wie es Paulus im Brief an die Römer (Röm 4,2f.16; 9,7) und Galater (Gal 3,16.29) ausführlich ableitet. Daher ist Christus dem Fleische nach dieser Same Abrahams, in dem alle Völker gesegnet werden. (13) Zacharias aber wünschte sich, da er das höchste Priesteramt bekleidete, einen Sohn von Elisabeth, seiner Ehefrau, nicht einen, der ihm ein erbberechtigter Nachfolger dem Fleische nach sein werde, sondern gemäß dem priesterlichen Geheimnis und dem Geiste nach, wie dies ganz klar aus dem ersten Kapitel des Lukasevangeliums herausgeholt wird , wo der Engel sagt, daß sein Flehen erhört worden sei (Lk 1,13). Dann beschreibt er die Heiligkeit des Sohnes, der ihm geboren werden wird, das heißt, daß der Sohn selbst den Geist der Kraft des Elias (Lk 1,17) erlangen wird, und einen derartigen , in welchem im Vergleich zu allen von einer Frau Geborenen der Segen der Heiligkeit im höchsten Grade ist. (14) Und weil diese zwei Geburten, das heißt die des Isaak und die des Johannes, über die Natur hinaus aufgrund des Wunsches gerechter Eltern, über den Lauf der Zeit hinaus aufgrund eines Geschenkes Gottes gegeben worden sind, obgleich die Eltern nicht daran glaubten, so daß das Zeitlichkeitsgesetz eine gnadenhafte Ausnahme erfahren hat wegen der heiligen Wünsche der Eltern und deren Gerechtigkeit, ist damals zum Zwecke eines allgemeinen Gutes diese Ausnahme zugelassen worden.

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Daher mußte dieses allgemeine Gut, auf das hin diese Ausnahmen angeordnet werden, aus der höchsten Machtfülle und Güte Gottes hervorgehen; das heißt nicht so wie bei Isaak ist über den Zeitumstand hinaus eine Ausnahme gemacht worden, sondern auch bezüglich der Notwendigkeit der Vermischung des männlichen Samens mit dem mütterlichen, so daß so nicht bezüglich des Zeitumstandes, sondern bezüglich des Gesetzes der Notwendigkeit des Zusammenkommens der Samen auch das Naturgesetz so außer Kraft gesetzt wurde. (15) Und so beinhaltet das Naturgesetz, daß zur Fruchtbarkeit notwendigerweise zwei erforderlich sind, das heißt die Einheit des Fleisches von Mann und Frau und jene in dem Zeitumstand ; so wie in den zweien, nämlich in Sara und Elisabeth, eine Ausnahme gefunden wird bezüglich des zweiten der Gerechtigkeit und der heiligen Wünsche wegen, mögen sie auch nicht glauben; so soll bezüglich des ersten eine Ausnahme gefunden werden der Gerechtigkeit, des heiligsten Verlangens und gerade des standhaftesten Glaubens wegen. Der Same Abrahams, in dem alle Völker gesegnet sein werden (Gen 22,18), mußte also aufgrund einer höheren und gütigeren Ausnahme ans Licht hervorgehen als Isaak und Johannes, das heißt mit einer geringeren Notwendigkeit des Beistandes der Natur wegen des stärksten Glaubens der Mutter. Und daher sagt Elisabeth zu Maria: „Selig, die Du geglaubt hast“ (Lk 1,45) etc. Und sie ist dann selbst vom Heiligen Geist erfüllt gewesen, als sie dies sagte, wie es im ersten Kapitel des Lukasevangeliums (Lk 1,41) heißt. (16) Auch ist anzumerken, daß Isaak und Johannes Dienste leisten zu dieser Geburt der Jungfrau. Denn Abraham hat durch Isaak dieser Welt Christus dem Fleische nach gegeben; und Abraham hat dieser Welt Christus dem Geiste nach gegeben. Christus ist der Welt durch Abraham dem Fleische und dem Geiste nach offenbart worden. Die Jungfrau Maria ist aus der Nachkommenschaft Abrahams gemäß Isaak jene gewesen, die uns Christus dem Fleische nach ohne männlichen Samen gegeben hat. Und Johannes, ebenfalls aus der Nachkommenschaft Abrahams gemäß Isaak, hat uns auf Christus hingewiesen. (17) Überlege gut, wie von Abraham dieser gesegnete Same hervorgehen mußte, über den das zweiundzwanzigste Kapitel der Genesis , nämlich: „Bei mir selbst habe ich geschworen“ (Gen 22,16) etc., und , daß Gott sich diesen Nachkommen Abrahams ausgewählt hat und ihnen, , Gesetze und die Beschneidung gegeben hat, damit die Welt gerettet werde; und , daß er wollte, daß gereinigt würde bis zu seinem Zeitpunkt, bis kommen werde „die Fülle der Zeit“ (Gal 4,4), und daß dann dieser Same so in diese Welt komme, daß ihm nicht ein Hinweiser fehlen möge. So wie also dieser Same von Abraham durch Isaak dem Fleische nach abstammen mußte und so vielfältige Reinigungen aufnehmen mußte, so mußte auch die Hinweisung auf ihn anwachsen.

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Daher sind viele Propheten aus dem Samen Abrahams geboren worden, die von weitem auf jenen Samen hingewiesen haben, in den Gott die Fülle des Segens und der Gnade legen wollte. So wie also Maria die fruchtbare Mutter selbst gewesen ist, in welcher der Same Abrahams derartig ohne jeden Makel und jedwede Teilung gewesen ist, so ist auch in Elisabeth der Same der Hinweisung gewesen. (18) Wissen sollst Du, daß Paulus im vierten Kapitel des Briefes an die Römer schreibt, daß Abraham „nicht infolge von Mißtrauen zweifelte, sondern durch den Glauben gestärkt worden ist“ (Röm 4,29). Dasselbe sagt er über Sara: Gerade durch den Glauben empfing die unfruchtbare Sara die Kraft in der Empfängnis etc., wie es im elften Kapitel des Briefes an die Hebräer heißt (Hebr 11,11). (19) Stelle auch eine Überlegung an aus dem dritten Kapitel der Genesis, wie Adam seine Frau Eva nennt, weil sie Mutter aller Lebenden (Gen 3,20). Daher wollte Gott, daß gemäß dem Gesetz, das er der Natur anerschaffen hat, die Frau Mutter aller Lebenden sein sollte, und hat für die Frau, daß sie Mutter sei, zwei Notwendigkeiten hinzugefügt, das heißt, daß sie fruchtbar sei und daß ein Fleisch (Gen 2,24; 1 Kor 6,16; Eph 5,31) mit dem Manne . Jene Fruchtbarkeit der Frau ist aber auf zwei Grenzen hin eingeschränkt, das heißt, daß die Natur gesund und reif sei. Die Gesundheit beruht auf der Beschaffenheit des Körpers, die Reife auf den zeitlichen Bedingungen, das heißt solange die weiblichen Eigenschaften im Fluß sind. Die eheliche Verbindung verlangt im Manne in ähnlicher Weise die Zeugungskraft, die eine Reife der Zeit verlangt. (20) Gott hat zu Isaak gesagt: „Und gesegnet werden in deinem Samen alle Völker der Erde, und zwar deshalb, weil Abraham meinem Worte gehorcht hat“ (Gen 26,4); im sechsundzwanzigsten Kapitel der Genesis. Ebenso ist Rebekka unfruchtbar gewesen, das fünfundzwanzigste Kapitel der Genesis (Gen 25,21). Zu Jakob : „Und gesegnet werden in Dir und Deinem Samen alle Stämme der Erde“ (Gen 28,14), das achtundzwanzigste Kapitel der Genesis . Die unfruchtbare Rachel hat zuerst den Joseph geboren, darauf den Benjamin, das dreißigste Kapitel der Genesis (Gen 30,23ff.). Im dreizehnten Kapitel des Buches der Richter wird von Manoach und seiner unfruchtbaren Frau und von Samson (Ri 13,3); und mach eine Bemerkung über die Vision. (21) Merke: Christus hat gesagt, so im siebten Kapitel des Lukasevangeliums und im elften des Matthäusevangeliums, daß „Johannes mehr als ein Prophet ist“ (Mt 11,9; Lk 7,26), indem er das über ihn geschriebene Wort anfügt: „Siehe, ich sende aus meinen Engel vor Dein Angesicht, der bereiten wird Deinen Weg vor Dir“ (Mt 11,10; Lk 7,27; Ex 23,20). Daraus hast Du, daß die Aufgabe der Verkündigung der frohen Botschaft eine engelgleiche ist und mehr als eine prophetische.

Predigt LXVI Ut manifestaretur Damit offenbart werde Zeit:

Ort: Fest: Zählung Koch: Edition: Deutsch:

undatiert, 24. Juni; nach R. Haubst 1446 (?); wahrscheinlicher an einem Johannestag nach 1446 nach J. Koch, vielleicht sogar erst 1451 unbekannt; nach R. Haubst: Mainz (?) Geburt Johannes des Täufers 65 h XVII/5, 369-371 –

ZUSAMMENFASSUNG Nach Aufstellung des Themas ist einzig die Einleitung so formuliert, wie sie auch vorgetragen worden sein kann. Sie betont die christologische Ausrichtung dieser Predigt zum Fest Johannes des Täufers (n.1). Es folgt dann eine Gliederung für die ganze Predigt, die zwei Teile umfassen soll (n.2). Darauf folgt eine sehr detaillierte Auflistung von Punkten, die im zweiten Teil behandelt werden sollen – immer unter dem in der Einleitung genannten christologischen Aspekt (n.3-4).

BEMERKUNGEN Da die Predigt nur in der Handschrift G überliefert ist, ist die Datierung von Rudolf Haubst sehr zweifelhaft. Vgl. die Bemerkung zu Predigt LXIII. Da sie sich inhaltlich weitgehend mit Gedanken aus Predigt LXVII berührt, wird sie nach dieser entstanden sein.

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Predigt LXVI Damit offenbart werde (1) „Damit offenbart werde in Israel, weswegen ich gekommen bin“ (Joh 1,31), im ersten Kapitel des Johannesevangeliums. Heute werden wir hören, wie Johannes der Täufer, dessen Fest der Geburt wir mit Jubel feiern, in diese Welt gekommen ist, damit uns Christus offenbar gemacht werde; und wir werden im Geiste den größten Trost empfangen, sobald wir einmal eingesehen haben, daß eine göttliche Fügung so vorsorgend wie gnadenhaft alles ausgerichtet hat, damit in uns zu seiner Herrlichkeit Christus geboren werde. Denn es ist eine einzige Welt wegen des einzigen Sohnes Gottes; es ist Abraham, es ist Isaak, es ist Jakob und alle Propheten und Johannes, „mehr als ein Prophet“ (Mt 11,9; Lk 7,26), und alles, was auch immer im Himmel und auf Erden ist, um seinetwillen. So wie durch ihn alles ist, so ist er auch selbst das Ziel von allem. Und er selbst ist von der Jungfrau Maria um unseretwillen Mensch geworden,1 damit wir um seinetwillen seien. Also laßt uns um die Gnade bitten. (2) Die Worte des allerseligsten Johannes des Täufers, die wir im Thema vorausgeschickt haben, besagen, Johannes selbst sei gekommen auch zum Zweck der Offenbarung Christi. Zuerst wollen wir sehen, auf welche Weise er in die Welt gekommen ist (Joh 2,31) anhand der Geburt des Johannes. Und dazu leistet uns das Tagesevangelium gute Dienste (Lk 1,57-68). Zweitens wollen wir sehen, auf welche Weise er selbst Christus geoffenbart hat, und das aufgrund seiner Geburt, seiner Lehre und des Beispiels seines Lebenswandels. Bezüglich des ersten Punktes wollen wir die Geschichte betrachten: „Es ist in den Tagen des Herodes gewesen“ (Lk 1,5-25) bis zum Ende. (3) Bezüglich des zweiten Teiles , wie diese Geburt des Johannes uns lehrt, daß Johannes gekommen ist, „damit Christus geoffenbart werde“ (Joh 1,31). Zuerst wollen wir daraus hervorholen, daß er so empfangen und geboren worden ist, daß über das Gewohnte der Natur hinausgehend . Und dort soll angemerkt werden: Was ist das Gewohnte? Welches sind die Geburten, – durch Geburt, Lebenswandel, Name, Wort und Werk hat er „das über das Gewohnte hinaus“ gezeigt – und welches sind von jenen die Gründe der Geburt?

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Vgl. das Credo der Messe.

Predigt LXVI: Damit offenbart werde

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Dann wollen wir gerade das aufgrund der Ähnlichkeit herausholen, daß er selbst für den Messias gehalten worden ist, daß er die Stimme des Wortes, daß er die „Leuchte“ (Joh 5,35) des Lichtes, daß er unter den Geborenen heiliger gewesen ist, daß er alles getan hat wie Christus durch Taufen, durch Verkünden der frohen Botschaft etc. zu dem Zwecke, „damit geoffenbart werde“. Und dort soll überlegt werden, wie Johannes Christus erst nicht erkannte und es danach ihm geoffenbart worden ist, damit offenbart werde. Dort sprich über die Offenbarung, die ihm und Petrus (Mt 16,17f.) zuteil geworden ist. Ebenso, wie er sich würdig gemacht hat durch seinen Lebenswandel, damit ihm geglaubt werde. auch über den Nutzen des Zeugnisses, weil die Kirche ihren Ursprung genommen hat; sprich über Andreas, Johannes und Petrus (Mt 4,18-22; Mk 1,16-19.29; 13,3; Joh 1,40-42) etc. über die Ursache seines Namens, wie in der Tat der Name darauf hinweist, daß er selbst gekommen ist, damit Christus geoffenbart werde. Er hat gemäß seinem Namen die Gnade durch Jesus angekündigt, wie dann aus der Stelle: das Himmelreich leidet Gewalt (Mt 11,12). , wie : So wie Maria voller Gnade Mutter ist, so ist Johannes durch die Gnade Gottes Vater in der Erzeugung der Erkenntnis . Bezüglich der Lobeserhebungen des Johannes dort, daß er die Seele des Menschen , weil ein Vergleich mit ihm zu anderen wie die Seele des Menschen zu einem anderen Lebewesen . Wie in ihm selbst gleichsam die menschliche Vernunft vollendet ist – wie beim Bau eines Hauses – zum Hinweisen, das heißt durch den prophetischen Weg des Verkündens der frohen Botschaft und durch sein Beispiel des Führens. Wie er selbst auf Christus hinweist, wenn er sagt, er sei unwürdig, die Sandalen zu lösen etc. (Mk 1,7; Lk 3,16; Joh 1,27) Wie er gesagt hat, Gott sei unsichtbar etc. (Joh 1,15.18) Wie Christus vom Himmel gekommen ist und Himmlisches redet, und wie jener weiß, wer aufnimmt (Joh 3,12.31). Wie der Sohn den Geist hat, und „nicht nach Maß“ (Joh 3,34). Ebenso, wie der Gläubige das Leben hat und der Ungläubige nicht, sondern den Zorn. Ebenso, wie Christus dieses Zeugnis bestätigt; ebenso, wie er bekräftigt. Und dort über die Boten des eingekerkerten Johannes etc. (Mt 11,2-11; Lk 7,18-23) (4) Auf alle Fragen bezüglich des eingekerkerten Johannes gibt es nur eine Antwort: „Damit offenbart werde“ (Joh 1,31) etc. Johannes ist gekommen, damit offenbart werde; er ist so gekommen, damit offenbart werde; er hat so gelebt, damit offenbart werde; er hat so gewirkt, damit offenbart werde; er hat so gelehrt, damit offenbart werde; er hat so gesprochen, damit offenbart werde; er hat sich so verhalten, damit offenbart werde; er ist so gestorben, damit offenbart werde. Er ist so der Stimme (Mk 1,3; Joh 1,23), der

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

brennenden Leuchte (Joh 5,35), dem Propheten (Mt 11,9; 14,5; Lk 1,76; 7,26.28), dem Engel (Mt 11,10; Mk 1,2; Lk 7,27) und allem, was das Verborgene offenbar macht, verglichen worden, damit dies als Wahres gewußt werde; das bedeutet, daß er gekommen ist, damit offenbart werde. Alles ist eine gewisse Offenbarung der Kraft Gottes oder des Wortes; alle Menschen eine Offenbarung des fleischgewordenen Wortes, und die nächste Ähnlichkeit mit Christus, in welcher er am nächsten geoffenbart wird, ist Johannes.

Predigt LXVII Ut manifestetur Damit offenbart werde Zeit: Ort: Fest: Zählung Koch: Edition: Deutsch:

24. Juni 1446 Mainz Geburt Johannes des Täufers 60 h XVII/5, 372-393 Ein Auszug in: Des Cardinals und Bischofs Nicolaus von Cusa wichtigste Schriften in deutscher Übersetzung von Franz Anton Scharpff, Freiburg i. Br. 1862, 530.

ZUSAMMENFASSUNG Das Thema nimmt Nikolaus aus dem Johannesevangelium, das Prothema aus einer Predigt des Jordan von Quedlinburg. Johannes der Täufer ist die Leuchte, die zum Licht führt. Damit ist die christologische Ausrichtung der Predigt ausgesprochen (n.1). Es lassen sich drei Haupteile unterscheiden. Der erste Teil nimmt Stellung zur wunderbaren Geburt von Johannes dem Täufer in der Reihe anderer wunderbarer Geburten mit einer Ausnahmeregelung in Bezug auf das Naturgesetz (n.2-11). Zunächst wird die Geburt des Johannes in eine Reihe anderer wunderbarer Geburten gestellt (n.2-8). Die zwei Hauptpunkte des Naturgesetzes hinsichtlich der menschlichen Fortpflanzung und Beispiele von Ausnahmen sowohl vom ersten als auch vom zweiten Hauptpunkt: Sara, Elisabeth und Maria (n.3). Zwischen diesen drei Geburten besteht eine Ähnlichkeit: die Ankündigung durch einen Engel (n.4). Diese Ankündigung soll Glauben erwecken (n.5). Der Glaube besiegt die Furcht und den Zweifel an der Möglichkeit des Angekündigten bei Abraham und Sara (n.6). Das Gleiche gilt für Zacharias (n.7). Der Glaube von Maria (n.8). Dann geht Nikolaus auf die Begründung einer solchen Ausnahmeregelung ein: Das außerordentliche Gut, weswegen jeweils die Ausnahmeregelung vom Naturgesetz erfolgte (n.9-11), bei Abraham (n.9), bei Maria (n.10). Der Same Abrahams ist ausgerichtet auf das Erscheinen Christi dem Fleische nach; in Zacharias ist die wunderbare Geburt ausgerichtet auf das Erscheinen eines Nachkommen als Offenbarer Christi (n.11). Der zweite Teil zeigt die Aufgabe Johannes des Täufers: Die Ankündigung des Messias und Vermittlung der Erkenntnis Christi (n.12-27). Als Vorläufer Christi unterscheidet er sich von diesem: Ähnlichkeit und Unterschiede zwischen Johannes und Christus (n.12-16). Johannes vermittelt uns die

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Erkenntnis Christi, den Maria geboren hat (n.12). Durch seine wunderbare Geburt ist Johannes ein Ähnlichkeitsbild von Christus, das aber auch Unähnlichkeit aufweist (n.13). Maria und Johannes in Bezug auf die Urschuld (n.14). In Johannes haben wir den allernächsten Hinweis auf Christus (n.15). Die Frage: Wie und wann hat Johannes Christus erkannt? Die Vorläuferfunktion gipfelt in der These, daß Johannes der letzte Priester des Alten Bundes gewesen ist und Petrus der erste des Neuen Bundes. Im Priestertum Christi aber fallen beide in eins. Er ist sowohl der letzte Priester des Alten wie der erste des Neuen Bundes (n.16). Weiterhin werden die Zeugnisse von Johannes für Christus und die von Christus für Johannes untersucht (n.17-23). Johannes hat sich als Vorläufer würdig gemacht durch seine Lebensweise (n.17). Johannes bezeugt das Erscheinen der Gnade Gottes (n.18). Johannes bringt das Reich Gottes zur Erkenntnis des Menschen (n.19). Durch die Hinweise des Johannes wird in uns Christus der Erkenntnis nach geboren (n.20). Obwohl Johannes der „Größte“ ist, nennt er sich doch unwürdig gegenüber der Größe Christi (n.21). Das Zeugnis des Johannes (n.22). Bestätigung dieses Zeugnisses durch Christus (n.23). Im Anschluß daran wird die Frage nach den Wundern behandelt. Warum hat Johannes im Gegensatz zu Jesus keine Wunder gewirkt? (n.24-27) Johannes war nur die Aufgabe des Zeugnisses zuteil (n.24). Johannes fragt nach den Wundern Jesu (n.25). Ist die Frage des Johannes als Zweifel zu verstehen? (n.26) Die Klugheit des Johannes wird durch Jesus bezeugt (n.27). Der dritte Teil hat erbaulichen Charakter (n.28-31). Sowohl das Leben, vor allem seine Absonderung von der Welt und seine Enthaltsamkeit (n.28-30), als auch die Lehre (n.31) Johannes des Täufers haben Vorbildfunktion für den Christen. Eine abschließende Zusammenfassung bringt noch einmal die überragende Geistesgröße Johannes des Täufers zum Ausdruck (n.32).

BEMERKUNGEN Charakteristisch für diese Predigt ist, daß Cusanus sich darin auf eine Fülle von direkten und indirekten Zitaten sowohl aus dem Alten als auch aus dem Neuen Testament stützt und so seine These von der Vorläuferfunktion des Johannes ausführt. Die inhaltlichen Parallelen mit Predigt LXVI und deren handschriftliche Überlieferung lassen den Schluß zu, daß die vorliegende genau datierte Predigt als die frühere gelten muß und als Vorlage für die Stichpunkte von Predigt LXVI gedient hat.

Predigt LXVII: Damit offenbart werde

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Predigt LXVII Damit offenbart werde (1) „Damit offenbart werde in Israel, deswegen bin ich gekommen“ (Joh 1,31), im ersten Kapitel des Johannesevangeliums. Er selbst „ist der von Gott gesandte Mensch gewesen, dessen Name Johannes war. Er kam zum Zeugnis, damit er Zeugnis ablegte vom Licht“ (Joh 1,6f.), ebendort bei Johannes. Augustinus hat, wie man es in der Postille des Jordan findet, gesagt, daß man aus den Büchern der Platoniker das Evangelium des Johannes hat: ,,Im Anfang war das Wort“ bis dahin: ,,Es ist ein Mensch von Gott gesandt worden, dem der Name Johannes zu eigen war“ (Joh 1,1-8), weil jene Worte dort nicht enthalten sind. Aber man liest ebendort gut: ,,Und die Seele des Menschen, obgleich sie Zeugnis ablegt vom Licht, ist dennoch selbst nicht das Licht. Und so ist Johannes das Licht, wie die Seele des Menschen.“1 Und folgendes merke an, daß der Vergleich der Seele zum Körper ist, jener Vergleich des Johannes zu allen vor ihm vom Weibe Geborenen ist. Und so wie die Seele des Menschen, damit sie in sich Zeugnis ablege vom Worte oder der göttlichen Vernunft, mehr teilhat an der Vernunft als die Seele eines anderen Lebewesens, so in Johannes mehr als in den anderen Menschen. Daher wird uns das unberührbare göttliche Licht mittels der Leuchte, die Johannes ist (Joh 5,35), gezeigt, und er ist die Leuchte, die uns den Weg zum Licht bereitet. (2) Aus der evangelischen Geschichte, die uns der heilige Lukas (Lk 1,57-68; 1,5-25) beschrieben hat, haben wir die wunderbare Geburt des allerheiligsten Johannes gehört. Im Umkreis davon tritt uns etwas entgegen, das überdacht werden muß, – ihr, die ihr überlegt –, daß der allmächtige Gott der Natur ein ordnungsgemäßes Gesetz so gegeben hat, daß er für sich die schonende Gnade vorbehalte, die eine Ausnahme davon zuläßt. Die griechischen Moralphilosophen sagen, daß die Tugend der Epikie, die eine das Gesetz aufhebende und erläuternde Tugend ist, der gütigen Gnade der Fürsten untrennbar anhafte, so daß die höchste Autorität nicht durch ihr eigenes allgemeines Gesetz eingeschränkt ist, weil sie wegen eines öffentlichen Gutes vorsorgen muß, obwohl ein Gesetz dagegen steht. Eine solche gewisse Machtvollkommenheit hat die Kraft Gottes über das Gesetz hinaus bei der Geburt des allerseligsten Johannes angewandt, wie es die Geschichte erzählt. Aber der Grund für die Ausnahme besteht im öffentlichen Nutzen, das heißt nämlich, „daß er Zeugnis ablege vom Licht“ (Joh 1,8).

1

Jordan von Quedlinburg: Opus Postillarum et Sermonum Jordani de Tempore, Sermo LXXVI (Hain 9438).

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Dazu will ich aber gewisse Dinge in Euer Gedächtnis zurückführen, damit wir durch ein liebevolles Staunen zu verborgeneren Geheimnissen unserer Erlösung hingeführt werden. (3) Gott, der den Menschen geschaffen hat, wollte, daß Eva Mutter aller Lebenden (Gen 3,20) werde, wie man es im dritten Kapitel der Genesis liest. Aber dazu, daß sie Mutter sei, hat er zwei Hauptpunkte eines Naturgesetzes hinzugefügt, die der Lust des Fleisches innewohnen, das heißt die Einheit des Fleisches mit dem Manne und beider Fruchtbarkeit. Dagegen lesen wir, daß der zweite Hauptpunkt des Naturgesetzes, – das heißt sobald jene, die Mutter sein sollte, unfruchtbar gewesen ist, – bei Sara und Elisabeth außer Kraft gesetzt war – dagegen in Maria der erste –; folglich gingen die beiden ersten Geburten umso weniger aufgrund der Lust des Fleisches hervor, als die Mütter infolge des vorgeschrittenen Alters in der Unfruchtbarkeit gewesen sind, als sie von ihren Männern empfangen haben; die dritte Geburt aber zutiefst von keiner Lust, weil sie, , nicht vom Manne empfangen hat. Wir lesen daher, daß bei diesen mit einer solchen Gewißheit die Gnade der Ausnahme so hinzugekommen ist, daß es keinen Zweifel bezüglich der Gnade gibt. Denn Sara wußte, sie war verschlossen, daß sie nicht gebar. Und nachdem sie eine Greisin geworden war und ihr die weiblichen Eigenschaften abhandengekommen waren, hat sie von Abraham empfangen, wie im sechzehnten und achtzehnten Kapitel der Genesis (Gen 16,1f.; 18,11) . So hat auch die unfruchtbare Elisabeth, nachdem sie schon „in ihren Tagen vorangeschritten war“ (Lk 1,18), wie es im ersten Kapitel des Lukasevangeliums , von Zacharias empfangen. Auch wenn sie in ihren Tagen nicht vorangeschritten gewesen wären, hätte daher der Mangel der Unfruchtbarkeit durch irgendeine Unterstützung der Natur aufgehoben werden können. Dies kann man vermuten, wenn nicht einmal nach langer Zeit der Unfruchtbarkeit, sondern mehrmals eine geboren hätte, wie man es bezüglich Rebekkas (Gen 25,21) im fünfundzwanzigsten Kapitel der Genesis und bezüglich Rachels (Gen 30,1) im dreißigsten Kapitel der Genesis und bezüglich der Ehefrau des Manoach (Ri 13,2-24) im dreizehnten Kapitel des Buches der Richter liest. Und diejenigen, die die Unfruchtbarkeit durchbrochen haben, sind bedeutende Männer gewesen, nämlich Jakob, Joseph und Samson, so wie auch Anna (1 Kön 1,2.19f.) durch ein Geschenk Gottes die Unfruchtbarkeit durchbrochen hat im Propheten Samuel, den sie gebar und nach ihm noch mehrere, wie man es im ersten Buch der Könige im ersten Kapitel liest. Daher ist klar, daß nur aufgrund einer gewissen und einzigartigen Gnade der zweite Hauptpunkt des Naturgesetzes bei Sara und Elisabeth außer Kraft gesetzt war.

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Und zuletzt ist dagegen der erste Hauptpunkt des Naturgesetzes in Maria außer Kraft gesetzt gewesen, die, obwohl sie keinen Mann erkennt, empfangen hat, wie sie selbst zum Engel sagt: „Wie soll dies geschehen, da ich keinen Mann erkenne?“ (Lk 1,34), im ersten Kapitel des Lukasevangeliums. (4) Diese dreimaligen Ausnahmen werden in beinahe ähnlicher Ordnung beschrieben; all jene sind nämlich in einer einzigen Geburt begrenzt. Denn Sara hat nach dem Isaak nicht mehr geboren, auch Elisabeth nach dem Johannes nicht, und auch Maria nach Jesus nicht mehr, so daß man die Geburt als Grund für die Ausnahme einsieht. Außerdem sind diese Geburten noch vor der Empfängnis durch die Kraft Gottes und einen Engelsdienst angekündigt worden. Im siebten Kapitel der Apostelgeschichte werden wir durch den heiligen Stephanus belehrt, wo wir lesen, im Alten Bund habe Gott etwas getan, damit wir einsehen, daß dies „durch die Hand eines Engels“ (Apg 7,35) ausgeführt worden ist. So müssen wir freilich das im siebzehnten Kapitel der Genesis in der Hand eines Engels durch Gott Verkündete verstehen; dort sagt Gott zu Abraham: „Sara, deine Frau, wird Dir einen Sohn gebären, und Du wirst seinen Namen Isaak nennen“ (Gen 17,19). Daß diese Ankündigung aber durch die Hand eines Engels geschehen ist, das lehrt uns der allerseligste Märtyrer Stephanus an der angeführten Stelle. Und das wird auch durch das zweiundzwanzigste Kapitel der Genesis bewiesen; dort : „Es hat aber der Engel des Herrn den Abraham zum zweiten Male vom Himmel herab gerufen und gesagt: Bei mir selbst habe ich geschworen, spricht der Herr“ (Gen 22,15f.). Und wird es bewiesen aufgrund des zweiunddreißigsten Kapitels der Genesis (Gen 32,31) und des dreizehnten des Buches der Richter (Ri 13,13), in welchen Kapiteln in gleicher Weise eine Betrachtung angestellt wird, daß jener, der Herr genannt wird, dessen Name Wunderbarer ist, auch „Engel“ genannt wird, im dreizehnten Kapitel des Buches der Richter und im ersten Kapitel des Lukasevangeliums (Lk 1,11.13.17.19.26); dort sagt Elisabeth, daß das, was der Engel zu Maria gesagt hat, der Herr gesagt hat: „Selig, die du geglaubt hast“, was „dir vom Herrn gesagt worden ist“ (Lk 1,45); auch im ersten Kapitel des Johannesevangeliums : „Niemand hat Gott jemals gesehen“ (Joh 1,18). Eine solche Ankündigung in der Hand eines Engels ist auch die des Johannes gewesen, wo der Engel sagt: „Elisabeth wird dir einen Sohn gebären und du wirst seinen Namen Johannes nennen“ (Lk 1,13). In ähnlicher Weise ist Jesus angekündigt worden durch einen Engel, der sagt: „Siehe, du wirst empfangen in deinem Schoß und du wirst einen Sohn gebären und du wirst seinen Namen Jesus nennen“ (Lk 1,31), im ersten Kapitel des Lukasevangeliums . Genannt wurde jener Engel Gabriel, gleichsam Stärke Gottes.2 Denn aufgrund der Stärke der Kraft Gottes sind diese über die Hauptpunkte des Naturgesetzes hinausgehenden vollbracht worden. 2

Vgl. Hieronymus: Liber interpretationum Hebraicorum nominum (CCSL 72, 140; Lag. 64,24f.)

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(5) Diese Ankündigung aber ist mit der ausdrücklichen Nennung des persönlichen Namens geschehen, damit die Eltern wissen sollen, daß auf den tiefen und ewigen, unbegreiflichen Ratschluß Gottes hin, nicht etwa aus Zufall, dieses, was über das Naturgesetz hinausgeht, wegen eines gewissen schwerwiegenden Zieles sich ereignet; und diese , die gerecht und heilig sind, sollen wissen, daß ihr sehnsüchtiges Verlangen erhört wird, wofern sie nur glauben, auch wenn die Erfüllung verlangt, daß das Naturgesetz sich zurückzieht. Also geschieht die Ankündigung, damit man zum Glauben gelangt. „Denn der Glaube“ nimmt seinen Anfang „vom Hören“ (Röm 10,17). Während Hohes durch Gerechte sehnlichst erwünscht und jenes als Zukünftiges angekündigt wird, bevor das Naturgesetz, das besagt, das Angekündigte sei unmöglich, durch den Glauben besiegt werden kann, entsteht von daher zuerst Furcht und dann Verwirrung bezüglich der Art und Weise, nicht im Bezug auf das, was ersehnt und erbeten wird, weil nichts ersehnt wird, was nicht erhofft wird, nichts erhofft wird, was nicht geglaubt wird. Daher behauptet das Verlangen und die Bitte, die das Sehnen anzeigt, nicht die Unmöglichkeit im Ersehnten, daß derjenige das nicht geben kann, von dem es erbeten wird, sondern hinsichtlich der Art und Weise des Erlangens gibt es eine Verwirrung, insofern als wegen der Abweichung von den Gesetzen des gewöhnlichen Naturverlaufs etwas versprochen wird. (6) Von daher hat Abraham vom Herrn gewünscht, einen Erben zu erhalten, damit sein Same sich vervielfältige und in höchster Weise sich über die Erde erhebe. Dies hat er gewünscht zu einer Zeit, da er wußte, daß seine Frau unfruchtbar und zum Gebären unfähig war. Und „hat er Gott geglaubt“ (Gen 15,6), als der ihm einen solchen Nachkommen verheißen hat. Während er aber hinsichtlich der Gewißheit hin und her schwankte, befiel ihn Furcht, im fünfzehnten Kapitel der Genesis . Und da ihm jener ersehnte Erbe, der aus seiner unfruchtbaren Ehefrau geboren werden sollte, versprochen wird, in der Ankündigung sogar seines Namens, damit jede Gewißheit ihm zur Verfügung gestellt werde, „ist Abraham auf sein Angesicht gefallen und hat in seinem Herzen gelacht und gesagt: Meinst Du, daß einem Hundertjährigen noch ein Sohn geboren wird? Und wird die neunzigjährige Sara noch gebären?“ (Gen 17,17) So hat auch Sara gelacht hinter der Tür und gesagt: „Nachdem ich alt und stumpf geworden bin und mein Herr ein alter Greis, werde ich mich da noch um Lust bemühen?“ (Gen 18,10.12), wie dies im fünfzehnten, siebzehnten und achtzehnten Kapitel der Genesis enthalten ist. Aufgrund dieses Lachens und der Worte vermuten wir, daß ebendieselben eine verwirrende Unruhe bezüglich der Art und Weise gehabt haben. Aber diese verwirrende Unruhe ist dann auch beseitigt worden, so daß bezüglich der Art und Weise das Gesetz des gewöhnlichen Naturverlaufs nicht bewirkte, daß diese zweifeln; daher fügte der Verkünder hinzu: „Warum hat Sara“, deine Ehefrau „gelacht und gesagt: Werde ich alte Frau wohl noch gebären? Wird das wohl für

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Gott nicht eine schwierige Sache werden?“ (Gen 18,13f.) im achtzehnten Kapitel der Genesis. Von daher ist dann jeder Wankelmut in Abraham und Sara ausgelöscht worden, so daß sie dann aufgrund von Gottes felsenfest glaubte, sofern die Hauptpunkte des Naturgesetzes nicht im Wege stehen, wie es Paulus im vierten Kapitel des Briefes an die Römer (Röm 4,2) nachweist in Bezug auf Abraham, und auf Sara im elften Kapitel des Briefes an die Hebräer (Hebr 11,11). (7) So hat auch Zacharias, der heilige Priester, da er ja eine unfruchtbare Ehefrau hatte, sein inständiges Flehen strömen lassen für einen heiligen Sohn und einen großen Priester und von großer Tugend, der „dem Herrn ein vollkommenes Volk bereiten“ (Lk 1,17) könne. Und als ihm der Engel verkündigte, daß sein Bitten erhört sei, da er einen solchen Sohn von Elisabeth erhalten werde, da befiel ihn Furcht. Zacharias hat nicht geglaubt, daß dies Gott unmöglich sei, was er erbeten hat, sondern er strauchelte bezüglich der Art und Weise aufgrund der unfruchtbaren Elisabeth, indem er den Worten des ankündigenden Boten keinen Glauben schenkte. Aber der Engel hat die Verwirrung darüber aufgehoben, da er sagte, er sei Gabriel, der vor Gott stehe, und gesandt sei, um diese Frohe Botschaft zu verkündigen. Und zum Zeichen dafür hat er die Sprachfähigkeit von ihm genommen (Lk 1,19). Und es soll eine Bemerkung gemacht werden zum Text, der besagt, der Engel habe gesagt: „Du wirst stumm sein und nicht sprechen können bis zu dem Tag, an dem dies geschehen soll, deswegen, weil du meinen Worten nicht geglaubt hast“ (Lk 1,20). Er sagt nicht: deswegen, weil du nicht geglaubt hast. Denn er glaubte dann doch; und als er nach Erfüllung seines Amtes von da zurückkehrte, erkannte er, um den verheißenen zu erlangen, Elisabeth, die dann auch empfangen hat, wie im ersten Kapitel des Lukasevangeliums (Lk 1,23f.). (8) So hat auch die glorreichste Jungfrau Maria im Wissen darum, daß Israel ein Knabe verheißen sei, in dem alle Völker gesegnet werden sollten, zu Gott gebetet, er solle seiner Barmherzigkeit gedenken, so wie er gesprochen zu den Vätern, zu Abraham und seinem Samen in Ewigkeit (Lk 1,54f.). Und da sie selbst Jungfrau war und wußte, daß entsprechend dem ersten Hauptpunkt des Naturgesetzes dies auf natürliche Weise unmöglich ist, ersehnte sie darüber hinaus noch sich als Jungfrau und Mutter dieses verheißenen Knaben aufgrund einer wunderbaren und äußerst ausgezeichneten Liebe, durch welche sie den Segen für alle in jenem Knaben wünschte. Daher trat der Engel mit einem Gruß an sie selbst heran. Und da sie verwirrt war und bei sich dachte, „was für ein Gruß dies sei“, fügte er unmittelbar hinzu: „Fürchte Dich nicht, Maria. Denn Du hast Gnade gefunden. Und Du wirst empfangen“ (Lk 1,29-31) etc.

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Der Engel erklärt also, welcher Art das Verlangen der Jungfrau gewesen ist, das sie selbst durch die Gnade gefunden hat. Das nämlich hat sie durch die Gnade gefunden, was er über den Knaben zum Ausdruck bringt. Das also hat sie ersehnt. Aber Maria zweifelt hinsichtlich der Art und Weise und sagt: „Wie soll dies geschehen, da ich keinen Mann erkenne?“ (Lk 1,34) Der Engel hat ihr die Art und Weise eröffnet, gleichsam als ob er sagte: Du sollst nicht zweifeln wegen der allgemeinen praktischen Erfahrung der Natur! „Der Heilige Geist“ (Lk 1,35) etc. So hat er sie selbst zum unerschütterlichsten Glauben geführt, so daß sie gerade das, was sie zuvor gewünscht hat, aufgrund eines festen Glaubens nach Beseitigung aller Ungewißheit hinsichtlich der Art und Weise erhoffte, indem sie sagt: „Mir geschehe nach Deinem Wort.“ (Lk 1,38) So hat auch Elisabeth voll des Heiligen Geistes (Lk 1,41) ausgerufen und Maria angesprochen: „Selig, die Du geglaubt hast, daß vollbracht werden wird“ in dir all das, „was dir vom Herrn gesagt worden ist“ (Lk 1,45). Und so erhalten wir, daß diese drei übernatürlichen Geburten beinahe dieselben ausnahmestiftenden und gnadenhaften Gestalten gehabt haben, so wie sich diese einem, der in der rechten Weise überlegt, offenbaren. (9) Danach soll hinsichtlich gerade dieser wunderbaren Geburten betrachtet werden, welcher Art dieses öffentliche Gut gewesen ist, das die Ursache der ausnahmestiftenden Verfügung über das Naturgesetz gewesen ist. Und zuerst hat es im Bezug auf den Sohn Abrahams aus Sara eine gewisse äußerst schwerwiegende und öffentliche Ursache gegeben, nämlich, daß aufgrund des gläubigen Abraham durch das bedeutendste Geschenk der Gnade aus der freien und unfruchtbaren, gläubigen Sara die Nachkommenschaft vervielfältigt werde; in diesem einen Nachkommen soll Abraham zu dessen Nachfolger geleitet werden, in dem alle Menschen durch den Glauben den Segen erlangen sollen, so wie Abraham selbst, obwohl er ein Greis und Sara unfruchtbar war, durch den Glauben erlangt hat, daß er „Vater vieler Völker“ (Gen 17,4) und Vater des von Ewigkeit zu Ewigkeit und bis in die Ewigkeit gesegneten Samens geworden ist (Gen 18,18; 22,28; 26,4; Ps 89[88],5). Daß dies wahr sei, erhellt aus dem ersten Kapitel des Lukasevangeliums (Lk 1,42.68) und aus Paulus, dem Brief an die Römer (Röm 4,16-18) und dem an die Galater (Gal 3,9) und an verschiedenen Stellen. Denn so kann man es aus den im Hymnus des Magnifikat ausgedrückten Worten der Jungfrau Maria und dem ersten Kapitel des Lukasevangeliums entnehmen, weil Gott einen gewissen Knaben Israel versprochen hat, „so wie du gesprochen hast zu unseren Vätern, Abraham“ (Lk 1,55), und durch das, was Gott über diesen Knaben zu Abraham gesprochen hat wie Zacharias voll des Heiligen Geistes in dem prophetischen Lied, das in dasselbe Kapitel des Lukasevangeliums eingefügt ist: ,,Gepriesen sei Gott, der Herr“ (Lk 1,68), das heißt er wolle doch Barmherzigkeit üben, worüber auch die Jungfrau Maria spricht, und dies ,,gemäß dem Andenken an seinen Bund“ (Lk 1,72). Dieser Bund ist freilich durch Gott selbst mit einem Eid bekräftigt worden, da er Abraham, unserem

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Vater, geschworen hat, ihm nämlich einen Samen zu geben, in dem alle Völker gesegnet werden sollen (Gen 22,18). Darüber im zweiundzwanzigsten Kapitel der Genesis, wo Gott sagt: „Bei mir selbst habe ich geschworen. Weil du diese Sache getan hast und deinen Sohn nicht geschont hast um meinetwillen, werde ich dich segnen und deinen Samen vervielfältigen so wie die Sterne und den Sand, der am Strand des Meeres ist. Dein Same wird in Besitz nehmen die Pforten deiner Feinde, gesegnet werden in deinem Samen alle Völker der Erde, weil du meinem Worte gehorsam gewesen bist“ (Gen 22,16-18). Im sechsundzwanzigsten Kapitel der Genesis hat der Herr so zu Isaak gesprochen: „Gesegnet werden in deinem Samen alle Völker der Erde, deswegen, weil Abraham meinem Worte gehorsam gewesen ist“ (Gen 26,4f.). Und im achtundzwanzigsten Kapitel der Genesis hat er zu Jakob gesagt: „Gesegnet werden sein in dir und deinem Samen alle Stämme der Erde“ (Gen 28,14). (10) Dies ist auch die Anspielung der seligen Jungfrau Maria, während sie sagt: „So wie er gesprochen hat zu unseren Vätern, zu Abraham und seinem Samen“ (Lk 1,55). Daher hat die Jungfrau Maria, als sie schwanger war, gesagt: „Empfangen hat Israel seinen Knaben“ (Lk 1,54), demgemäß freilich den verheißenen, der dieser Same ist, wie auch Paulus im dritten Kapitel des Briefes an die Galater (Gal 3,16) ausführt, Verheißungen seien dem Abraham gesagt worden nicht in vielen Samen, sondern in dem Samen, der Christus ist. Von daher sagt auch die Jungfrau Maria, sie dürfe selig genannt werden bei allen Völkern, weil er diese großen Dinge an ihr getan hat (Lk 1,1.48f.), das heißt, daß sie diesen Samen, in dem alle Völker gesegnet sein sollen, selbst im Schoße empfangen hatte, und deswegen, weil sie als die Mutter des Samens von allen Völkern selig und unter allen Frauen gesegnet genannt werden sollte. So haben wir also, daß dieser Same Abrahams in Isaak, dem Sohn von der unfruchtbaren Sara, eine göttliche Ausnahmefügung empfangen hat, damit aus dem gläubigen Abraham der Gott getreueste und Gott angenehmste und geliebteste Samen sich erhebe, von dessen Fülle der Gnade alle Völker gesegnet werden sollen. O wie schwerwiegend ist diese „Ausnahmefügung des verborgenen Geheimnisses“ (Eph 3,9), die allen Söhnen Abrahams, das heißt den Gläubigen, den größten, das heißt den letzten und unvergänglichen Trost zuteilt, wie Paulus es im dritten Kapitel des Briefes an die Galater (Gal 3,7-9) ableitet! Wenn wir nämlich Söhne Abrahams sind, sind wir Gläubige, und wir dürfen als Same Abrahams hoffen, daß wir aufgrund von freier Gläubigkeit den Segen erlangen können, der dem zahlreich, wie die Sterne des Himmels sind (Gen 22,17), gemachten Samen Abrahams durch den Glauben in dem einen Samen, das ist in Jesus, dem Erlöser, versprochen worden ist. (11) Christus also, der Heilige der Heiligen (Dan 9,24), war in dem auf Isaak übertragenen Samen Abrahams verborgen.

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Und darin ist jeder Same Abrahams in den wahren und gläubigen Söhnen Abrahams geheiligt, weil gerade in dem einen Samen Abrahams „Christus dem Fleische nach“ (Röm 9,5) in der Kraft sich verborgen hält; nach der Fülle der Zeit (Gal 4,4) und den geschuldeten Reinigungen infolge der Vorschriften der Beschneidung und des mosaischen Gesetzes ist er, in der Jungfrau Maria empfangen, uns geboren worden. Es ist also „der Same Abrahams“ (Hebr 22,16) auf wunderbare Weise auf Isaak übertragen worden; indem die Welt erkennt, wie gnadenvoll dies durch die Macht Gottes geschehen ist, setzt er folglich die schwerstwiegende Ursache voraus und, soweit es gegeben wird, weist eine Spur hin auf die Menschwerdung des Erlösers. Der Same des Priesters Zacharias aber entsteht in gleicher Weise für eine auf ein Ziel ausgerichtete Ursache; er erlangt die Fruchtbarkeit gnadenhaft in der unfruchtbaren Elisabeth, das heißt so wie Christus, auf den hin alle Völker des Segnens kommen, gemäß dem Fleische der Welt gezeigt werden sollte als der Sohn Abrahams und Erbe gemäß dieser Welt, sollte folglich er auch der Welt gezeigt werden durch einen Samen Abrahams als Erbe und Sohn Gottes gleichsam als jener, in dem gerade „die Fülle der Gottheit körperlicherweise“ (Kol 2,9) ist, daß er so wirke, daß alle Völker gesegnet werden in ihm selbst. Dem Abraham ist nämlich ein Same verheißen worden, in dem „die Völker gesegnet werden“ (Gen 22,18; 26,4). Allmählich ist in der Folge eine Reinigung dieses Samens geschehen; und ein Hinweisen bei den Propheten, die im Geiste der Meinung waren, daß dieser Same sich der Geburt nähere, und die dementsprechend über jenen nah oder auch entfernt auf dessen Ankunft hinwiesen. Johannes ist aber aus dem Samen Abrahams geboren. In ihm ist der Same gereinigt gewesen, daß freilich gemäß der Reinheit von Keuschheit und Heiligkeit nach Abwaschung der Urschuld im Vergleich zu allen geborenen nicht irgendetwas zu Reinigendes zurückblieb; dieser Same ist sogar der am meisten gereinigte gewesen gemäß der Ausnahme der Zeugung des Isaak, so freilich, daß gemäß jenem Weg, auf dem die Gnade die Natur überschreitet, im Gesetz der Fruchtbarkeit der Eltern nichts derartiges zurückbliebe, das gereinigt werden müßte, damit er selbst desto eher „unter den von Frauen Geborenen“ ein solcher sein werde, im Vergleich zu dem „kein Größerer aufstehe“ (Mt 11,11). (12) Johannes ist uns also dazu über die Natur der Fruchtbarkeit der Eltern hinaus gegeben worden als Sohn eines Hohenpriesters, damit uns Christus auf dem Wege der Erkenntnis sichtbar werde gleichsam wie von einem Vorläufer, der die Ankunft des Sohnes Gottes ankündigt, so wie er uns von der Jungfrau Maria dem Fleische nach sichtbar geworden ist. Denn so hat auch Zacharias uns darauf hingewiesen, indem er voll des Heiligen Geistes sagt: „Und du wirst Prophet des Allerhöchsten genannt werden. Denn du wirst vor dem Angesicht des Herrn seine Wege bereiten“ (Lk 1,76).

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Und genau das bezeugen über ihn auch Christus und der Engel, im ersten und siebten Kapitel des Lukasevangeliums (Lk 1,17; 7,26-28), im elften des Matthäusevangeliums (Mt 11,11), im ersten des Markusevangeliums (Mk 1,2-4), im fünften des Johannesevangeliums (Joh 5,32-36) ; darüber im Thema und im ersten und dritten Kapitel des Johannesevangeliums (Joh 1,6-8.19-27; 3,27-31). Maria aber hat die Gnade der Ausnahmefügung erlangt, die keine existierende Mutter jemals erlangt hat, daß sie als Jungfrau gebäre und gewiß diesen Samen Abrahams, in dem „alle Völker gesegnet werden sollten“ (Gen 22,18), zur Welt bringe, der durch den heiligen Johannes der Welt gezeigt werden sollte; folglich ist aufgrund einer höchsten Ausnahmefügung der Geburt einer Jungfrau jener Höchste und von allen Völkern Ersehnte (Hag 2,8 Vulg.) entsprungen, der eine solche äußerst gnadenhafte Ausnahmefügung verdiente, weil in ihm selbst die letzte Stufe der Erwartung und das Ziel ist, auf den hin alle vorhergehenden Ausnahmefügungen hingeordnet worden sind. (13) Schon jetzt kann für den Gläubigen in genügender Weise feststehen, auf welche Weise die wunderbare Geburt des heiligen Johannes für uns auf andachtsvollste Weise gepriesen werden muß, weil sie unseretwegen in der Form der Ausnahme verfügt worden ist, damit nämlich in ihm selbst, dem gleichsam aufs äußerste gereinigten Samen des Segens Abrahams gemäß Isaak, von einer unfruchtbaren Mutter und dem heiligen Greis Zacharias uns die Kenntnis Christi eröffnet werde wie in einem sehr nahen Abbild der Heiligkeit und Gerechtigkeit, so wie in einem sehr nahen Abbild der Wahrheit. Johannes ist nämlich so sehr ein nahes Abbild Christi gewesen, daß alle bezüglich Johannes die Meinung faßten, er selbst sei der Messias, so im dritten Kapitel des Lukasevangeliums (Lk 3,15). Und aus dem Kreis der Pharisäer schickten sie Leute zu ihm, um diesbezüglich etwas zu wissen, im ersten Kapitel des Johannesevangeliums (Joh 1,19-28) . In ähnlicher Weise haben die meisten, während Christus nach dem Tod des Johannes wunderbare Dinge wirkte, geglaubt, Johannes sei von den Toten auferstanden, wie im neunten Kapitel des Lukasevangeliums (Lk 9,17.19) . Daher ist der Same Abrahams in Isaak und den übrigen Patriarchen und Propheten, den Nachfolgern von Isaak, der Reihe nach allmählich gereinigt worden und ist bis zur höchsten Stufe gemäß dem Weg der Zeugung Isaaks zu Johannes gelangt; folglich ist Johannes selbst gemäß der ausnahmeverfügenden Begnadung des Isaak aufgrund einer Vermischung eines Mannes und einer Frau der heiligste und gesegnetste Same Abrahams und so sehr nahe bei Christus, wie die Stimme dem Worte ist. Denn er selbst ist „die Stimme des Rufenden in der Wüste“ (Mk 1,3 par.), in dem das geistige Wort verborgen ist, welches die Stimme ankündigt. Und es gibt keine bessere Art und Weise das geistige Wort anzukündigen als durch die Stimme. Daher sagt Christus, er sei die Leuchte gewesen, die den in der Finsternis wandelnden vorausgeht, damit sie den Weg sehen, im siebten Kapitel

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des Johannesevangeliums (Joh 8,12) . Die Leuchte aber trägt in sich das Licht und die Leuchte weist auf das Licht hin wie die Stimme auf das Wort. Christus ist also das „Licht“ (Joh 1,12) und Johannes die „Leuchte“ (Joh 5,35) Christi, so wie die Menschheit in Christus die Leuchte der Gottheit ist, wie es Johannes in der Geheimen Offenbarung sagt (Offb 21,23; 22,5). Daher verhält sich Johannes so zur Menschheit Christi wie die Menschheit Christi zur Gottheit. Wenn daher auch Johannes ein derartiger ist, im Vergleich zu dem „kein Größerer ersteht“ (Mt 11,11), er dennoch zu Christus zutiefst unverhältnismäßig, so wie die Leuchte zutiefst unverhältnismäßig zum Licht und die Stimme des Rufenden zum Wort; auch ist er nicht heiliger als die Jungfrau Maria, die Christus wie sich selbst ausgeschlossen hat, als er sagte, unter den von einer Frau Geborenen sei niemand heiliger als Johannes erstanden. Er sagt nämlich „unter den Geborenen“ und „unter den von einer Frau Geborenen“ (Mt 11,11) und unter denen, die erstanden sind. Denn die glorreiche Jungfrau, da sie das geheiligte Zelt des allerhöchsten Gottes gewesen ist, ist zu keinem Zeitpunkt jemals ein Glied Satans gewesen, und so ist sie nicht „erstanden“ (Mt 11,11). Johannes aber ist zu irgendeiner Zeit infolge der Urschuld Gott entfremdet gewesen; aber er ist nachher außerdem noch durch die Gnade im Mutterleib „erstanden“ (Mt 11,11). (14) Wenn daher auch Maria in der Lust des Fleisches gemäß dem Naturgesetz empfangen ist und somit dem ursprünglichen Fehler der Natur unterlag, fehlte ihr dennoch zu keiner Zeit die Gnade, so daß die heiligmachende Gnade mit der Zeit der Eingießung der Seele zusammentraf. Und daher grüßt sie der Engel wie voll der Gnade und gebenedeit unter den Frauen (Lk 1,28), und die Mutter des Johannes, Elisabeth, erfüllt vom Heiligen Geist, „hat ausgerufen“, sie gerade sei gesegnet unter allen Frauen, weil „Mutter des Herrn“ (Lk 1,41f.). So liest man es nicht über den heiligen Johannes, der erst nach einer Zwischenzeit die Gnade des Heiligen Geistes erlangt hat, so daß er sich erst dann als geheiligt im Mutterschoß erhob, da er im sechsten Monat über die Ankunft dessen jubelte (Lk 1,15), von dessen Fülle der Gnade er selbst behauptet, daß er und alle sie empfangen (Joh 1,16). (15) Aber das, was wir in Johannes zu bemerken haben, ist die Tatsache, wie gerade er der allernächste Hinweis auf Christus ist. Denn Johannes „ist von Gott gesandt gewesen“ (Joh 1,6), um den Weg dem Herrn zu bereiten (Mk 1,2f.) gleichsam wie in prophetischer Kraft vorherschreitend. Denn alles das, was der kommende Christus gleichwie in der Kraft des Wortes Gottes des Vaters und des Heiligen Geistes tun sollte, das hat Johannes in vorangehender Weise getan, indem er gleichsam die Materie zur Aufnahme der Form passend gemacht hat. Johannes verkündigte nämlich das Reich Gottes als Frohe Botschaft, eine Frohe Botschaft, die vor ihm noch niemals verkündigt worden ist; er taufte mit Wasser und hat alles andere getan, was früher noch nicht getan worden war und dessen Vollendung er auf Christus hin ausgerichtet hat.

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Denn er hat gesagt, die Verkündigung der frohen Botschaft und die Taufe in der Kraft Gottes und des Heiligen Geistes, der die Leben spendende Formkraft ist, seien auf Christus gerichtet, auf ihn aber richte sich, durch Vorhergehen jenes figürlich im Bade des Wassers abzubilden. So wie sich nämlich Isaak (Gen 22,6-14) seinem Vater gegenüber bis zum Tode als gehorsam gezeigt hat, daß er für Gott ein Opfer werde und darin auf Christus, das wahre Opfer, in der Weise einer vorbildhaften Gestalt von Ferne hinweist, so verweist auch Johannes aus allernächster Nähe auf Christus. Und dazu ist er von Gott gesandt gewesen; und deswegen hat er alles getan, was er getan hat, das heißt, daß er seiner Sendung Genüge geleistet hat, indem er Zeugnis vom Lichte, Christus gegeben hat (Joh 1,7). Und daher sagt er, wie man es im ersten Kapitel des Johannesevangeliums liest: „Damit offenbart werde in Israel, deswegen bin ich gekommen nur mit Wasser taufend“ (Joh 1,31), und weiter unten: Und „der mich gesandt hat zu taufen mit Wasser, jener hat mir gesagt: Über dem du den Geist herabsteigen und über ihm verharren siehst, der ist der, der tauft im Heiligen Geist. Und ich habe ihn gesehen und habe Zeugnis abgelegt, daß dieser der Sohn Gottes ist.“ (Joh 1,33f.) (16) Auch muß überlegt werden, daß er ebendort sagt: „Und ich kannte ihn nicht“ (Joh 1,13.33), da Christus, weil er von Johannes nicht erkannt worden ist, von niemandem erkannt worden ist, wie die Juden es über Christus bekennen im siebten Kapitel des Johannesevangeliums (Joh 7,26f.) und Christus über sich selbst im achten Kapitel des Johannesevangeliums sagt: „Ihr wißt nicht, woher ich komme“ (Joh 8,14), und ebendort im selben Kapitel: „Auch kennt ihr mich nicht.“ (Joh 8,19) Ja sogar seine Brüder glaubten nicht an ihn, im siebten Kapitel des Johannesevangeliums (Joh 7,5). Daher konnte Christus, während er in der Welt wandelte, nicht erkannt werden wenn nicht durch eine Offenbarung des Vaters. Zwei aber sind es, denen der Vater es offenbart hat, damit jene es den anderen offenbaren, nämlich dem heiligen Johannes dem Täufer und dem heiligen Petrus. Von daher hat es der Vater dem heiligen Johannes offenbart, der gleichsam der unter den von Frauen Geborenen größte und heiligste letzte Priester des Alten Bundes gewesen ist, bis zu dem hin „alle Propheten und das Gesetz prophezeit“ (Mt 11,13) haben elften Kapitel des Matthäusevangeliums, zur Offenbarung all dessen, was wie eine Vorgestalt vorausgegangen ist, wie es Johannes selbst im ersten Kapitel des Johannesevangeliums (Joh 1,15.27.30.34) bekennt. Und er hat es dem Petrus offenbart als dem größten und heiligsten ersten Priester des neuen Bundes, wie es Christus sagt, daß nicht Fleisch und Blut, sondern der Vater ihm dies geoffenbart hat, im sechzehnten Kapitel des Matthäusevangeliums (Mt 16,17); so ist Christus der erste und letzte Priester (Hebr 5,6; 7,17; Ps 110[109],4) in der Weise des Ineinsfalls, in dem das ganze Priestertum des Alten Gesetzes gleichsam wie im Ziel zusammengeschlossen wird und das ganze Priestertum des Neuen Gesetzes begonnen wird gleich-

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

sam wie im Ursprung, so daß das Priestertum Christi zugleich Alpha und Omega (Offb 1,8; 21,5; 22,13) allen Priestertums ist. Von daher hat das Priestertum des Johannes im Hinweisen auf den bestanden, der hinwegnimmt die Sünden der Welt (Joh 1,36), und , um ein Volk in der Aufnahme jenes zu erleuchten und zu reinigen (Lk 2,17; Mal 3,3). Von solcher Art ist auch das Priestertum des Petrus gewesen. (17) Wieviel uns aber das Zeugnis des Johannes förderlich ist, dazu muß angemerkt werden: Johannes hat sich, als er von Gott gesandt worden war, um Zeugnis abzulegen (Joh 1,6) vom Sohn, zuvor würdig gemacht als einer, dem geglaubt werden sollte. Er ist nämlich von einer solchen Heiligkeit des Lebens gewesen, daß er all das nicht trank, was berauscht (Lk 1,15; Mt 11,18), und die Welt, weil sie voller Lüge , floh und sich in die Wüste begab (Lk 1,80; 3,3; Mt 3,1; Mk 1,4) und von Heuschrecken und wildem Honig lebte und sich mit einem ledernen Gürtel kleidete (Mt 3,4; Mk 1,6). Und da sein Leben und seine Lehre derartig waren, daß er durch keine Reizmittel der Welt oder des Lebens von der Gerechtigkeit und Wahrheit, die er seinem Leben vorangestellt hat, wie sein Tod zeigt, weggezogen werden konnte, da hat er bei allen Zeugnis ablegen können vom Lichte, „damit alle durch ihn glauben“ (Joh 1,17); denn er war nicht nur ein vorgetäuschter, sondern ein wahrer Verehrer der Wahrheit, und man hatte ihn aufgrund langer Erfahrung erfunden; auch hat man ihn für einen solchen gehalten und begriffen. (18) Und erwäge, von wie großer Wirksamkeit das Zeugnis des Johannes gewesen ist; denn als er Jesus dahergehend gesehen hat und sagte: „Siehe, das Lamm Gottes“ (Joh 1,35), folgten zwei seiner Jünger Jesus, von denen einer Andreas gewesen ist; und Andreas führte Petrus, seinen Bruder, herbei und sagte: „Wir haben den Messias gefunden“ (Joh 1,41) etc., im ersten Kapitel des Johannesevangeliums . Siehe, wie aus dem Zeugnis des Johannes der Messias anerkannt wird! Auch ist anzumerken, daß nicht ohne Grund Johannes gleichsam Gnade Gottes genannt worden ist.3 Denn da er Zeugnis über Christus ablegen sollte, durch den die Gnade geschaffen worden ist, wird Johannes mit Recht Zeuge Christi genannt. Johannes selbst sagt nämlich über Christus: „Von seiner Fülle haben wir alle empfangen Gnade für Gnade, weil das Gesetz durch Moses gegeben worden ist, Gnade und Wahrheit durch Jesus den Christus“ (Joh 1,16f.), im ersten Kapitel des Johannesevangeliums . Er selbst hat also dargelegt, daß die Zeit der Gnade herbeigekommen sei, und dies sei die Zeit der Gnade, da ja die Wahrheit geschaffen worden sei durch Jesus Christus. Mit dem Kommen der Gnade also weicht die Härte des mosaischen Gesetzes. Aber jene Gnade, die die Härte des Gesetzes weichen macht, ist nicht deswegen 3

Vgl. Hieronymus: Liber interpretationum Hebraicorum nominum (CCSL 72, 146; Lag. 69,16f.).

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eine Gnade, gleichsam als wäre sie eine Ausnahmeregelung im Bemühen, sondern weil die Wahrheit geschaffen worden ist durch Jesus Christus. Weil wir daher „von der Fülle Christi alle empfangen haben“ (Joh 1,16), daher haben wir auch die Gnade in Christus erlangt, durch den die Wahrheit geschaffen worden ist. (19) Und merke an, daß er sagt: Das Gesetz ist durch Moses gegeben worden, aber die Gnade und Wahrheit ist durch Jesus Christus geschaffen worden (Joh 1,17). Was nämlich durch Moses gegeben worden ist, daß es getan werde, das ist durch Jesus Christus so getan worden, daß es nicht nötig ist, daß es noch weiter so getan werde. Und so ist Christus „die Vollendung des Gesetzes“ (Röm 10,4), so wie die Wahrheit die Vollendung eines Bildes. Und so ist in der Vollendung des Gesetzes in Christus uns die Gnade und Wahrheit geschaffen worden, die wir zum Gesetz nicht verpflichtet sind, weil wir, wenn Christus in uns ist, in Christus dies erfüllt haben, durch dessen Gnade wir erlöst werden. Indem daher Johannes ein vollkommenes Volk in der Predigt der Taufe der Buße und der Vergebung bereitete (Mk 1,4; Lk 3,3), um die Menschen dieser Gnade teilhaftig zu machen, und das Himmelreich denen, die die Gnade Christi erlangen sollten, verkündete, hat er dadurch das Himmelreich, bis in seine Zeit unbekannt, zur Kenntnis der Menschen gebracht. Und er hat solche Wege zum Aufstieg zu diesem selbst aufgezeigt, daß sich das immer verborgene Reich nicht weiter zu verbergen vermochte und geraubt wird gleichsam wie etwas, das Gewalt erleidet, wie Christus sagt, daß das Himmelreich von der Zeit des Johannes an Gewalt erleidet, weil die Gewalttätigen und im Eifer Entbrannten durch die Wege, die Johannes gezeigt hat, fortfahren und es selbst rauben, im elften Kapitel des Matthäusevangeliums (Mt 11,12). Und die Wege des Johannes sind die Wege der Aufnahme der Gnade Christi. (20) Und so, wie daher die selige Jungfrau Maria voll der Gnade gewesen ist über alle Frauen hinaus, weil Mutter des Messias, so hat auch Johannes eine Gnade über alle von einer Frau Geborenen hinaus besessen, weil er der mystische Vater Christi gewesen ist; denn so wie Maria uns Christus geboren hat, so hat auch Johannes durch das Hinweisen auf ihn ebendenselben in uns durch Erkennen geboren. In hohem Maße sind wir dem heiligen Johannes verpflichtet, und zwar niemandem von den Menschen mehr, nach Maria. Denn er selbst hat uns diese Schatzkammer des Heiles eröffnet, wie Maria uns geschenkt hat. Wer merkt, was für ein Unterschied ist zwischen den Juden, – sie kennen gleichwie die Christen Christus dem Fleische nach als Sohn von Maria, aber sie erkennen Christus nicht gemäß der Offenbarung des Johannes – und den Christen, die Christus kennen, weil sie das Zeugnis des Johannes aufgenommen haben, jener weiß , welche Lobeserhebungen dem heiligen Johannes zu bezeigen jeder Christ gehalten ist.

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(21) Man muß hier, glaube ich, die wunderbare Vorsehung Gottes bemerken, daß das Licht, welches Gott ist (1 Joh 1,5), in der finsteren Welt aufgenommen und auf dem Wege der Erkenntnis umfaßt wird. Denn Johannes, gemäß der Etymologie seines Namens „Gottes Gnade“ oder „in dem die Gnade ist“,4 ist dazu in die Welt gesandt, daß er Zeugnis ablege vom Licht, mag der auch selbst nicht das Licht sein (Joh 1,7f.), der Zeuge des Lichtes ist, mag er auch nicht der Bräutigam sein, sondern „der Freund des Bräutigams“ (Joh 3,29), obwohl er so hoch geschätzt worden ist, daß alle ihn für „mehr als einen Propheten“ (Mt 11,11) hielten, weil er auch mehr als ein Prophet gewesen ist, wie Christus es im elften Kapitel des Matthäusevangeliums und im siebten des Lukasevangeliums (Lk 7,28) über ihn selbst bezeugt; nichtsdestoweniger sagte er, er sei nicht würdig, die Schuhriemen der Sandalen Christi zu lösen (Joh 1,27), so daß er in sich ein Zeugnis von Christus eröffnet. Und darin hat Johannes, der größte von allen von Frauen Geborenen, nicht irgendetwas hinzu gedichtet, sondern er unterrichtete die Zuhörer darüber, von welcher Art man den Christus einschätzen muß, wenn er selbst, der von allen für den Messias gehalten wurde, unwürdig ist zum geringsten Dienst am Messias. Daher hat er gezeigt, daß Christus, den er Sohn Gottes nannte (Joh 1,34), in unverhältnismäßiger Weise alle, die in der Menschheit erscheinen können, überragt, da er in voller Klarheit darauf hinweist, daß alle Menschen für den niedrigsten Dienst an diesem unwürdig sind in einer Einschätzung, durch die er selbst für den Größten gehalten worden ist und sich doch als Unwürdigen erklärt hat. Darauf sagte er, daß die so große Erhabenheit Gottes über aller unserer geistigen Schau sei, so daß niemand von den Menschen ihn selbst jemals gesehen hat; aber er fügt hinzu, daß der eingeborene Sohn Gottes, der im Schoße des Vaters ist, dies geoffenbart hat (Joh 1,18); er verkündigt darin die über alle Menschen hinausragende wunderbare Kraft Christi, daß allein Christus es ist, der Gott den Vater zu sehen vermag, der geoffenbart hat, daß niemand Gott gesehen hat; er erklärt durch dies alle alten Schriften, welche von Erscheinungen Gottes sprechen. Darauf hat er eröffnet, daß Christus vom Himmel herabgestiegen ist, weil er sagt, er sei von oben gekommen und sei deswegen über allen, und daß so wie jener, der von der Erde ist, Irdisches redet, so der Himmlische Himmlisches (Joh 3,31); und weil er vom Himmel gekommen ist, wo das Reich der Wahrheit ist, ist er der Bote der Wahrheit und verkündigt diese himmlischen Dinge, die er gesehen und gehört hat (Joh 3,32). (22) Daher fügt er im dritten Kapitel des Johannesevangeliums hinzu, daß, „wer sein Zeugnis aufgenommen hat, wird kenntlich machen, daß Gott wahrhaftig ist“ (Joh 3,33), weil der, „den er gesandt hat, die Worte Gottes spricht“ (Joh 3,34); dieser hat den Geist nicht nach Maß, weil Gott den Geist nicht nach Maß gibt, um wieviel mehr hat er dem Sohn den Geist nicht nach Maß gegeben, den er liebt und in dessen Hand er alles gelegt hat (Joh 3,35). 4

Vgl. Hieronymus: Liber interpretationum Hebraicorum nominum (CCSL 72, 146; Lag. 69,16f.).

Predigt LXVII: Damit offenbart werde

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Daher, „wer an den Sohn glaubt, hat das ewige Leben. Wer aber ungläubig dem Sohn gegenüber ist, der wird das Leben nicht sehen, sondern der Zorn Gottes verharrt über ihm“ (Joh 3,36). Ein solches Zeugnis nämlich von einem Menschen über Christus ist niemals gehört worden. Dies ist nämlich das Zeugnis dessen, der sagt, er sei nicht Christus (Joh 1,20), sondern vor jenem vorhergesandt, damit er Zeugnis bringe über ihn selbst, wie im dritten Kapitel des Johannesevangeliums . Und dieses allerhöchste und untadelige Zeugnis zieht Christus für sich herbei gleichsam als das Zeugnis eines anderen, für jede Ausnahme Größeren; denn auch Christus selbst weist im fünften Kapitel des Johannesevangeliums auf, daß dieses wahr sei, indem er sagt: „Ein anderer ist es, der Zeugnis ablegt über mich, und ich weiß, daß sein Zeugnis wahr ist, weil er es über mich ablegt. Ihr habt zu Johannes geschickt, und er hat Zeugnis abgelegt von der Wahrheit. Ich aber empfange nicht ein Zeugnis von einem Menschen, sondern ich sage dies, damit ihr gerettet werdet. Jener war eine brennende und leuchtende Laterne. Ihr aber habt nicht jubeln wollen zur Stunde in ihrem Lichte“ (Joh 5,32-35). (23) Siehe, wie Christus das Zeugnis des Johannes nicht anficht, sondern billigt, das Johannes selbst auf die Frage der Juden ablegt, die zu Johannes geschickt haben; – sie haben gehört, daß so nichts Verdächtiges in dem Zeugnis gefunden werden konnte, das durch die Befragung eher abgenötigt als freiwillig dargeboten worden ist. Und ein Zeugnis für das Johannes-Zeugnis fügt er ebendort im fünften Kapitel des Johannesevangeliums hinzu gleichsam als das schwerer wiegende Zeugnis, da er die Werke, die er gewirkt hat, die ihm der Vater gegeben hat, anbindet, daß so die Werke und der Vater, der die Werke gegeben hat, Zeugnis ablegen (Joh 5,36f.; 3,36) dafür, daß die wahr sind, die Johannes über ihn selbst gesagt hat, auch daß Christus diese tun muß, wie die Schriften es verkünden (Joh 5,39). (24) Es ist darin im Einzelnen zu überlegen, daß Johannes nicht irgendein Wunder vollbracht hat, wie gegen Ende des zehnten Kapitels des Johannesevangeliums (Joh 10,41), sondern ihm ist allein das Zeugnis des Rufes anvertraut gewesen, wie ebendort , daß er „die Stimme des Rufenden in der Wüste war“ (Joh 1,23). Daher mußte das Zeugnis des Johannes nicht bekräftigt werden, wenn nicht durch die Autorität des Johannes selbst, eines äußerst zuverlässigen Mannes, weil es das Zeugnis dessen war, der den Weg hat bereiten müssen (Jes 40,3; Mt 3,3; Mk 1,3; Lk 3,4); und so das vorbereitende Zeugnis . Von daher war es dem Johannes nicht gegeben, Wunder zu wirken, als er für den Messias gehalten worden war. Wenn er die Kraft zu Wundern gehabt hätte, hätte er bezüglich Christi nicht verkündigen können, was er verkündigt hat, sondern er wäre vielmehr für den Messias gehalten worden. Aber die Wunder allein weisen noch nicht darauf hin, daß jener der Messias ist, der Wunder wirkt. Denn viele vor und nach Christus haben die Macht zu Wundern gehabt, die Gott durch diejenigen gewirkt hat, die dennoch nicht der

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Messias gewesen sind; sondern sie haben jene Kraft nicht wie Christus gehabt, der wie „einer, der Macht hat“ (Mt 7,29; Mk 1,22; Lk 4,32), Befehle erteilte den Geistern (Mk 1,27; Lk 4,36) und dem Fieber (Mt 8,15; Mk 1,31; Lk 4,39) und dem Sturm (Mt 8,26; Mk 4,39; Lk 8,24). Nicht so haben die anderen in ihrem eigenen Namen gewirkt, sondern im Gottes und Christi. Wenn aber die Propheten und die Schriften und Johannes, der „mehr als ein Prophet“ (Mt 11,9) war, über den Messias eine Ankündigung machen, daß dieser der Messias sei, und wenn dem Johannes, der durch den Hinweis mit dem Finger5 jeden Zweifel hinsichtlich der Person, des Ortes und der Zeit beseitigt, nicht geglaubt wird, dann muß man ihm wenigstens glauben, sobald das Wirken zusammengeht mit dem Hinweisen auf den Messias; gemäß den Schriften wird dieses Zusammengehen zugesagt. Und so ist jene Vergewisserung des Zeugnisses der Hinweisung auf Christus freilich ein Wirken, das vom Vater über die Natur hinaus gegeben worden ist, die der Messias darin, daß er der Sohn Gottes , durch das Geschenk des Vaters, der ihn liebt und ihm alles schenkt, in seiner Vollmacht hat. (25) Als Johannes damals „in Fesseln“ (Mt 11,2) gewesen ist und die bewundernswerten Werke Christi ihm berichtet wurden, damit er beurteilen könne, ob irgendein anderer solche wunderbaren Dinge wirke und ob der Messias, um noch größere Werke zu vollbringen, im Begriff sei zu kommen, oder ob er es selbst sei, „der kommen solle“ (Mt 11,3), so daß er der Messias sei und solches vollbringe, hat er deshalb zu dem Wundertäter zwei Jünger gesandt, nicht wie zu dem, den er, als er taufte, als den Sohn Gottes erkannt hat, sondern wie zu dem Vollbringer der Wunder, den er nicht kannte. Er hat nämlich gewußt, daß der Messias in der Mitte der Juden sei und noch nicht zu Kenntnis gekommen war, den er selbst getauft hat, dennoch wohl wissend, daß er nach ihm kommen werde (Joh 1,26f.). Als er daher noch nicht gestorben war und hörte, daß große Wunder geschehen, weil die Auferweckung eines Jünglings, des einzigen Sohnes einer Mutter, verbreitet worden war in ganz Judäa und ringsum in der ganzen Gegend, und weil gerade dies dem Johannes seine Jünger gemeldet haben, wie es im siebten Kapitel des Lukasevangeliums gesagt wird (Lk 7,11-18), da hat Johannes, als er von jenen Werken hörte, wie es auch im elften Kapitel des Matthäusevangeliums berichtet wird, zwei Jünger geschickt, um zu sagen: „Bist Du der, der da kommen soll? Oder erwarten wir einen anderen?“ (Mt 11,3) (26) Jesus wußte, daß Johannes nicht im Zweifel war über den, den er getauft hat, sondern über jenen Vollbringer der Wunder, der einen Toten auferweckt hat, damit er dem Johannes aufgrund der Werke zeige, daß er jener sei, den er in der Taufe als den Sohn Gottes erkannt hat; und er antwortet auf die Worte der Frage nicht mit einem Wort, sondern mit einem Hinweis auf die Taten, indem er sagt: Geht hin, „meldet dem Johannes, was ihr gesehen habt: 5

Der Hinweis auf den Finger Johannes‘ des Täufers findet sich oft in den Predigten des Nikolaus von Kues; vgl. die Angaben zu Predigt XXXII, n.5, 13-14.

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Blinde sehen, Lahme gehen umher, Taube hören, Tote stehen auf, den Armen wird die Frohe Botschaft verkündet. Und selig der, der an mir nicht Anstoß nimmt“, wie es im elften Kapitel des Matthäusevangeliums (Mt 11,4-6) und im siebten des Lukasevangeliums (Lk 7,22f.) . Gleichsam als ob er sagte: Johannes mag wissen, daß einige irgendwelche teilweise Gnadengaben des Wunderwirkens erlangt haben oder erlangen können, dennoch, sobald er gehört hat, daß mir eine allgemeine Macht des Wunderwirkens und der Heilungen an Körper und Geist gegeben worden ist, wird er erkennen, daß ich jener bin, auf den er hingewiesen hat, daß er die Fülle der Gnade besitze, von dem alle anderen Gnade um Gnade empfangen (Joh 1,16). Und dann wird er wissen, daß ich jener bin, der, nachdem er abgenommen hat und in den Kerker geworfen worden ist (Mt 14,3), wachsen (Joh 3,30) und, obwohl er vor ihm geworden ist, nach ihm selbst kommen soll (Joh 1,27), so wie all dies ihm über mich sowohl durch die Schriften als auch durch den Vater in außerordentlichster Weise geoffenbart worden ist (Mt 3,16f.; Mk 1,10f.; Lk 3,22; Joh 1,32f.). (27) Von daher betrachtet Christus die bewundernswerte Klugheit des Johannes, das heißt nämlich: Er hat zu ihm selbst gesandt, damit er durch eine solche Frage ihn besser offenbare und den zurückkehrenden und strauchelnden Jüngern bestätige, daß jener aufgrund der Werke der Messias sei; über ihn hatten gerade die Jünger zu ihm selbst den Zweifel zusammen mit der Bewunderung der Werke gebracht, und ihn, den er zuvor durch das Wort offenbart hatte, zeigt er jetzt, daß er sich selbst durch die Werke offenbar mache. Da bricht jetzt Christus folgendermaßen in das Lob des Johannes aus: Was zu sehen seid ihr in die Wüste hinausgegangen? „Ein Rohr vom Winde hin- und herbewegt?“ (Mt 11,7) das heißt ein leeres, unbeständiges und nur erscheinendes? Gleichsam als ob er sagte: Nein! Auch nicht einen in weichliche Gewänder so gekleidet, so wie sich die kleiden, die in den Häusern der Könige sind (Mt 11,8), sondern „mehr als einen Propheten“ (Mt 11,9) zu sehen, seid ihr hinausgezogen. „Über ihn steht geschrieben: Siehe, ich sende meinen Engel vor deinem Angesicht her, der bereiten wird deinen Weg vor dir.“ (Mt 11,10) Amen. „Amen, ich sage Euch: Unter den von einer Frau Geborenen ist keiner größer erstanden als Johannes der Täufer.“ (Mt 11,11) Siehe! Daraus hast du: Johannes, der nicht ein vom Wind hin- und hergetriebenes Rohr ist oder von diesen geschmeidigen Weichlingen, die in den Häusern der Könige nach dem Rad der Fortuna in unbeständiger Weise im Wirbel gedreht werden, hat nicht zu Christus gleichsam wie ein an ihm Zweifelnder geschickt, – denn er hatte gezeigt, daß Jesus der Sohn Gottes ist – oder er ist gleichsam wie in der Härte der Gefangenschaft schwach geworden, sondern wie einer, der „mehr als ein Prophet“ , und hat wie Elias den Weg für die Kenntnis Christi besser bereitet gemäß dem ihm von Gott anvertrauten Auftrag.

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Und diese Dinge, die so angemerkt werden müssen, treten uns jetzt vor Augen. (28) Wir müssen uns aber zwecks Unterweisung der Sitten zwei Punkten zuwenden, das heißt zur Lebensweise des heiligen Johannes und zu seiner Lehre. In seiner Lebensweise müssen wir bemerken, daß jeder entsprechend seinem eigenen Maßstab ihm folge; wesentlich strenger die, die sich Gott mehr geweiht haben und die sich mehr zur Vollkommenheit verpflichtet haben. Während er Knabe war, suchte er, um sich nicht in der Welt zu beflecken, „im zarten Alter eine Höhle der Wüste“6 auf, wohl wissend, daß in der Jugend die Hinneigung zu Ausschweifungen noch leicht von ausschweifenden Dingen weggezogen wird. Daher müssen die Knaben in angemessenen Klausuren, in Furcht und strenger Obhut erzogen werden, damit sie gleichsam wie in der Wüste nichts von Ausschweifung sehen oder hören, nichts Berauschendes trinken, nichts Verschwenderisches und Genußsüchtiges verkosten, damit sie sich an diese Enthaltungen gewöhnen und den zukünftigen Versuchungen mühelos nicht nachgeben. (29) Es sind dann die Heranwachsenden auf ihre eigene Art und Weise ähnlich in der Wüste zu erziehen, damit sie schlechte Gespräche und Gesellschaften meiden. Unermüdliche Arbeit muß von ihnen geleistet werden, so daß der Körper sich daran gewöhnt, sich zu ermüden, damit nicht durch Müßiggang das Laster sich einschleicht. Auch sollen sie in keiner Weise frei sein für Gelage und Zechereien; und sie sollen auch nicht irgendetwas an Zeit zur Verfügung haben, zu der sie nicht irgendetwas tun müßten; folglich soll die Zeit immer Einspruch erheben und ermahnen, jetzt müsse dies, dann jenes getan werden: Zu dieser Stunde müsse man aufstehen, dann müsse nach der Waschung zuerst gebetet werden; so an dem einen Tag, so am anderen, auf solche Weise an dem einen Tag, auf solche an dem anderen, und dies in siebenfacher Verschiedenheit: Am Sonntag soll man bedenken, was die ganze Woche über getan worden ist, sowohl was schlecht , als auch was unterlassen worden ist; und dann soll das Vernachlässigte noch erfüllt werden. Im Gedächtnis sollen die Freunde behalten werden, die noch leben und die schon gestorben sind, und das an jedem Tag vor dem Schlafengehen. Und man soll für sie selbst immer irgendetwas erbitten oder etwas anderes Gutes in ihrem Namen tun. Dann muß eine Ordnung in den Arbeiten gegeben werden, damit alles in einer guten Ordnung geschehe und der Teufel den ganzen Menschen immer beschäftigt finde. (30) Männer und Ehefrauen und ein jeder sollen auf ihre Weise „Wein und Berauschendes“ (Lk 1,15) und allen berauscht machenden Trank

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Aus dem Hymnus zur Matutin am Fest Johannes des Täufers.

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meiden, und mehr als alle die ehrenwerten Frauen, Priester, Studierende, Weise und Leiter des Volkes. Und richte die Aufmerksamkeit auf den Absturz vieler wegen üppiger Gelage und Unmäßigkeit bei berauschenden Getränken, und darauf, auf welche Weise es zu einem frommen Christen gehört, den Wein der Reue (Ps 60[59],5), nicht der berauschenden Trunkenheit zu trinken. Dieser Wein der Reue freilich ertränkt nicht durch ein Trunkenmachen, sondern er entflammt den Geist durch die göttliche Liebe. Darüber anderswo.7 Wir wollen nach allem den Widerwärtigkeiten nicht nachgeben, indem wir gleichsam dieser Welt8 auch dieses Leben der Gerechtigkeit vorziehen, sondern wir wollen entsprechend unserer Sendung die Verfehlungen aufweisen, auch wenn man deswegen sterben müßte, wie der heilige Johannes gestorben ist! (31) Bezüglich der Lehre müssen wir anmerken, so wie es im dritten Kapitel des Lukasevangeliums überliefert wird, daß uns Johannes zur Buße aufruft, weil die Buße seine Predigt ist, und daß wir uns nicht rühmen sollen, gleichsam als wären wir Söhne Abrahams oder Adelige oder Reiche, weil es „bei Gott kein Ansehen der Personen gibt“ (Röm 2,11) und Gott mächtig ist, aus Steinen uns ähnliche Wesen zu erwecken (Lk 3,38; Mt 3,1-12; Joh 8,39; Gal 3,7). Man darf sich also im Angesichte Gottes, der alles vermag, nicht irgendeines Geschenkes von ihm rühmen, sondern alle müssen wir uns demütigen, um würdige Früchte der Reue zu vollbringen (Lk 3,8; Mt 3,9), damit wir dem zukünftigen Zorn entfliehen (Lk 3,7). In uns allen müssen wir betrachten, daß das Beil der Abtrennung unseres Lebens an die Wurzel unseres Lebensbaumes gelegt ist, so daß wir, einmal abgeschnitten, in das Feuer geworfen werden, wenn wir keine Frucht gebracht haben (Lk 3,9). Wir wollen solche sein, die wechselseitige Liebe in Werk und Almosen zeigen dadurch, daß wir nach unserem Bedürfnis auch den Bedürfnissen des Nächsten gern zu Hilfe eilen! Wir sollen, ein jeder in seiner Berufung, leben, wie es einem jeden an seiner Stelle zu leben bestimmt ist: Niemanden sollen wir betrügen, niemanden zerrütten, wenn uns die Macht dazu gegeben ist, zufrieden mit dem Lohn unseres Kriegsdienstes (1 Tim 1,8). Das ist die kurze und fruchtbare Lehre des heiligen Johannes. (32) Johannes der Täufer hat schon im Mutterleib in hervorragendem Maße den Geist der vernünftigen Fassungskraft der menschlichen Natur erlangt: Wenn die vernunftbegabte menschliche Seele die hohe Fähigkeit im Prophezeien erlangen kann, wie in Elias, dann hat sie Johannes in herausragender Weise erlangt! Wenn sie die engelgleiche Kraft der Ankündigung, die der Verkündigung der frohen Botschaft, und die der Belehrung erlangen kann, wie sie die meisten 7 8

Vgl. Predigt V, n.12 und n.13. Die Übersetzung folgt hier der Lesart des Pariser Druckes.

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Priester erlangt haben, die auch Engel genannt werden, wie es der Prophet Maleachi sagt (Mal 3,1), dann hat auch Johannes gerade diese in höchstem Maße erlangt! Wenn die vernunftbegabte Seele die heldenhafte Kraft des gereinigten Geistes erlangen kann, so daß sie in keiner Weise vom Guten und Wahren, in dem allein sie ruht und alles andere verachtet, wegbewegt werden kann, so hat Johannes jene erlangt, der dieses Leben und alle Schmeichelkünste dieses Lebens für nichts erachtet hat, wie es sein Leben und sein Martyrium zeigen.

Predigt LXVIII Respexit humilitatem Er hat geschaut auf die Niedrigkeit Zeit: Ort: Fest: Zählung Koch: Edition: Deutsch:

2. Juli 1446 Mainz Mariä Heimsuchung 61 h XVII/5, 394-405 –

ZUSAMMENFASSUNG Mit der Aufstellung des Themas verbindet Cusanus einen Hinweis auf das Tagesevangelium (n.1). In einem ersten Teil behandelt er dann das Wunder der jungfräulichen Geburt Jesu (n.2-22). Ein erster Abschnitt legt dar, daß der Gegensatz von möglich und unmöglich für Gott keine Rolle spielt, da er die absolute Notwendigkeit ist (n.2-7). Gott als absolute Notwendigkeit steht über dem Naturgesetz. Die Alternative „möglich – unmöglich“ betrifft sein Handeln nicht (n.2). Daher glaubt Maria dem Engel (n.3). Es bleibt die Frage nach der Art und Weise der Verwirklichung von erfahrungsgemäß unmöglichem Geschehen (n.4). Gottes Handeln ist nicht an eine Art und Weise wie geschöpfliches Handeln gebunden (n.5). Gottes Wirken ist durch die Gnade bestimmt; das bedeutet das Herabkommen des Heiligen Geistes (n.6). Jesus ist der Sohn Gottes, weil er ohne irdischen Vater ist (n.7). Im Folgenden zieht Cusanus eine Parallele zwischen der wunderbaren Geburt Jesu und der geistigen Wiedergeburt; beide sind gottgewirkt (n.8-16). Die Geburt Jesu ist Modellfall für unsere Wiedergeburt (n.8). Daher werden auch wir Söhne Gottes (n.9). Wiedergeburt geschieht nicht auf der Ebene des Fleisches (n.10). Auf die Frage des Nikodemus (n.11) ist die Antwort: Die Wiedergeburt geschieht durch den Glauben in der Taufe (n.12). Jesus als Lehrer aus Gott ist Garant der Wahrheit im Gegensatz zu Nikodemus, dem Lehrer in Israel (n.13). Die Beispiele aus der irdischen Welt sind nur entfernte Ähnlichkeitsbilder der himmlischen Welt (n.14). Allein der Menschensohn kann von den himmlischen Dingen berichten (n.15). Die Wiedergeburt führt zum ewigen Leben; das verdeutlicht das Symbol der erhöhten Schlange in der Wüste (n.16). In einem dritten Abschnitt wird gezeigt, wie unsere geistige Wiedergeburt in Maria exemplarisch vorgebildet ist (n.17-21). Wiedergeburt setzt Empfängnis voraus. Diese geschieht durch den Glauben (n.17). Die Kirche, in der sich unsere geistige Empfängnis vollzieht, ist wie der Schoß der Jungfrau (n.18). Bevor Jesus leiblich von Maria empfangen wurde, war er schon geistiger Weise in ihrer

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Seele empfangen (n.19). Maria wird so die Mutter aller Gläubigen (n.20). Die Annahme des „Wortes des Lebens“ bringt uns ins Reich Gottes (n.21). Der zweite Teil bildet eine knappe Auslegung der einzelnen Verse des Magnificat (n.23-35). Lobpreis und Jubel in Gott für die Gnade, Lk 1,46 (n.23-24). Demut vor Gott Lk 1,47 (n.25). Magd des Herrn bedeutet Liebe zum Herrn. Alle Geschlechter haben im Sohn Gottes die Möglichkeit, Söhne Gottes zu werden und damit das Ziel, die Vollkommenheit zu erreichen gemäß Lk 1,48 (n.26-28). An Maria ist das Größte geschehen; die absolute Heiligkeit des Namens Gottes, Lk 1,49 (n.29-30). Die Allmacht und Barmherzigkeit Gottes, Lk 1,50f. (n.31). Indem Gott die Niedrigen anschaut, erhöht er sie; die Güte Gottes nimmt alle Mängel weg, Lk 1,52f. (n.32-33). Das Kind, das Maria empfangen hat, ist die Erfüllung aller Mängel, Lk 1,54 (n.34). Das ist die Erfüllung der Verheißungen Gottes, Lk 1,55 (n.35).

BEMERKUNGEN Im Zusammenhang mit der Predigt ist der Dialog „De visitatione“ überliefert, der auch gedanklich eng mit der Predigt verbunden ist.

Predigt LXVIII: Er hat geschaut auf die Niedrigkeit

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Predigt LXVIII Er hat geschaut auf die Niedrigkeit (1) „Er hat geschaut auf die Niedrigkeit seiner Magd“ (Lk 1,48), im ersten Kapitel des Lukas . Das Evangelium: Und Maria machte sich auf (Lk 1,39) etc. Weil der Engel der glorreichen Jungfrau gesagt hatte, daß Elisabeth, die Verwandte Marias, noch in ihrem Alter empfangen habe (Lk 1,36). Daher machte sich Maria, als der Engel sich von ihr zurückzog, auf und ging weg etc. (2) Und es muß überlegt werden, wie die Ankunft des heiligen Johannes auf Christus hin ausgerichtet gewesen ist. Damit nämlich Maria glaubt, durch das Wirken des Heiligen Geistes könne ohne jede Schwierigkeit das geschehen, was das Gesetz der gewohnten Natur als möglich verweigert, führt der Engel an, daß unfruchtbare und alte Verwandte Elisabeth empfangen habe, weil bei Gott kein Wort unmöglich ist (Lk 1,37). Als daher Maria dieses hörte, daß Verwandte über jede Art und Weise des Naturgesetzes hinaus deshalb empfangen hat, weil bei Gott kein Wort unmöglich ist, sieht sie die Frage, die sie dem Engel gestellt hat, als sie sagte: „Wie soll das geschehen?“ (Lk 1,34), als gelöst an; das heißt, daß durch das Wirken des Heiligen Geistes jedes Wort Gottes Wirklichkeit wird, weil möglich und unmöglich Gott nicht berühren; denn er ist über jedem möglich und unmöglich die reine absolute Notwendigkeit. Weil folglich sein Wille absolute Notwendigkeit ist, kann daher das, was er will, nicht nicht sein. Sondern so, wie er selbst absolute Notwendigkeit ist, so kann jedes, was er zu sein gewollt haben wird, nicht der Notwendigkeit des Seins entfliehen. Von daher sind möglich und unmöglich gewisse Weisen , die unter das Urteil des Verstandes fallen, so daß das eine möglich genannt wird, ein anderes unmöglich. Gott aber, der über jedem Abstrahieren und These ist und all dem, was der Verstand berührt, ist selbst die absolute Notwendigkeit. (3) Nach Erledigung der Frage nach der Art und Weise, das heißt, daß Gott, der nicht durch die Art und Weise eingeschränkt wird, ohne diese oder jene Art und Weise in seinem Wort alles wirkt, hat Maria geglaubt aufgrund des Beispiels Elisabeths, daß das ihr verkündete Wort für Gott nicht unmöglich sei. Und daher gibt sie ihrem Glauben Ausdruck und sagt: „Siehe, ich bin die Magd des Herrn; mir geschehe nach deinem Wort!“ (Lk 1,39) (4) Es muß auch noch eine Überlegung gemacht werden hinsichtlich dessen, als Maria zu dem Engel sagte: „Wie soll das geschehen, da ich keinen Mann erkenne?“ (Lk 1,34); denn Maria zweifelt hinsichtlich der Art und Weise und drückt den Grund ihres Zweifels aus; sie fügt die gemäß dem Lauf der Natur notwendige Empfängnis, das heißt die Vermischung mit einem Mann, hinzu.

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Und der Engel sagt, daß „der Heilige Geist“ (Lk 1,35) etc. Und er sagt, nicht auf solche Weise, sondern „es wird der Geist kommen“ etc. Und damit Maria nicht wiederum hinsichtlich der Art und Weise, wie der Heilige Geist über sie kommen soll, zweifelt, fügt der Engel hinzu: „Und die Kraft des Allerhöchsten wird dich überschatten.“ (Lk 1,35) (5) Wie wenn er sagte: Du sollst nicht glauben, daß der Heilige Geist über kommt in irgendeiner Weise eines Kommens, wie man von einem Ort zu einem Ort kommt in der Weise des Abstiegs, wie etwas Schweres herabsteigt, entweder eine Taube von einem Turm zum Wasser oder ein Strahl von der Sonne zur Erde oder auf irgendeine andere Weise, welche auch immer, weil die Wirkweisen Gottes losgelöst sind von jeder Art und Weise; so daß Gott das Absolute selbst ist und die Art und Weise Geschöpf; so daß all das Geschöpf ist, was er dazu, daß es irgendeine Art und Weise sei, festsetzt; so daß dazu, daß ein Mensch sei, festgesetzt wird, daß er ein Lebewesen von solcher Art sei; und dazu, daß ein Löwe, auf solche Art und Weise; und dazu, daß ein Mensch gezeugt werde, wird eine solche Art und Weise festgesetzt. So über das Weltall. Alle Arten und Weisen also, die notwendigerweise zu irgendeinem zusammenkommen, daß es wird, zeigen einen Mangel. Von daher ist in Gott nicht irgendeine notwendige Art und Weise, daß er ist oder handelt oder kommt oder von oben herabkommt, weil seine Kraft absolut und allmächtig ist, uneingeschränkt und nicht zusammengezogen auf eine Art und Weise. (6) Deshalb sagte der Engel: „Die Kraft des Allerhöchsten wird dich überschatten“ (Lk 1,35), wie wenn er sagte: Daß nach meinen Worten der Heilige Geist über dich herabkommen soll, das sollst du verstehen, es sei dies, daß der Heilige Geist auf dich herabkommt, das heißt, daß die Kraft des Allerhöchsten dich überschattet. Denn Gott, der von keinem Ort ausgeschlossen ist, kommt durch die Gnade in die Seele, sobald durch die göttliche Kraft die Seele Gott gefällig wird. So kommt er durch die Heiligung, sobald durch die göttliche Kraft die Seele heilig wird; so durch die Rechtfertigung, sobald sie gerecht wird; und so von den einzelnen. So durch die Erschaffung, sobald durch die göttliche Kraft ein Geschöpf entsteht; so durch die Empfängnis in der glorreichen Jungfrau nach dem Wort des Engels: „Siehe, du wirst empfangen“ (Lk 1,31), sobald durch die göttliche Kraft in der Jungfrau ein Sohn empfangen worden ist. (7) Weil von daher dieser ohne die Art und Weise einer männlichen Vermischung durch die Kraft des Allerhöchsten, die die Jungfrau überschattet, empfangen worden ist, deshalb wird er Sohn Gottes genannt werden (Lk 1,32), sagt der Engel. Denn so wie die Söhne eines Vaters aufgrund dessen Söhne genannt werden, weil sie durch die väterliche Kraft, die im Samen des Vaters ist, empfangen worden sind, so wird Jesus Sohn Gottes genannt gemäß der Empfängnis der Jung-

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frau, weil er nicht auf die Weise der Kraft des Samens eines Vaters empfangen gewesen ist. Auch konnte er nicht ohne eine Kraft empfangen werden. Daher wird er durch die Kraft des Allerhöchsten, der über jeder Art und Weise ist, der der gepriesene Gott ist, empfangen und Sohn ebendesselben genannt werden, – (8) so wie in der Wiedergeburt des Geistes. Denn ohne eine Kraft können wir nicht von neuem geboren werden, da ohne diese in unserer Seele eine geistige Geburt sich nicht vollziehen kann. Es kann jene Kraft auch nicht gemäß irgendeiner Art und Weise sein, weil in uns ein derartiger Geist nicht auf eine Art und Weise geboren werden kann, auf die irgendetwas sinnlich Wahrnehmbares geboren wird; denn aus sinnlich wahrnehmbaren Weisen kommt nur eine sinnlich wahrnehmbare Geburt. Dazu, daß in uns eine geistige Geburt sich vollzieht, die alles durchforscht, auch die Tiefen Gottes (1 Kor 2,6), und die in glücklichster Weise lebt, ist es von daher nötig, daß dies durch die Kraft des Allerhöchsten, der unsere Seele überschattet, geschieht, weil der Heilige Geist über herabkommt. Überschatten bedeutet, in schützender oder heilender Weise teilhaben lassen, wie der Schatten des Petrus geheilt hat (Apg 5,15); und der Psalmist sagt: „Unter dem Schatten deiner Flügel beschütze mich.“ (Ps 17[16],8) (9) Und deshalb wird das, was dann geboren wird, Sohn Gottes genannt werden. Jene Geburt nämlich, in der wir so wiedergeboren werden, ist aus der Kraft Gottes; daher Sohn Gottes. Von daher belehrt uns die jungfräuliche Empfängnis, auf welche Weise wir von neuem im Geist wiedergeboren werden; diese ist notwendig, wie es Jesus im dritten Kapitel des Johannesevangeliums zu Nikodemus sagt (Joh 3,3-7); der heilige Petrus erklärt sie in seinem kanonischen Brief, auf welche Weise jene nicht „aus vergänglichem Samen“ geschieht, „sondern durch das Wort des lebendigen, in Ewigkeit währenden Gottes“ (1 Petr 1,13). (10) Von daher , wie Christus beispielhaft erklärt: So wie in der Luft ein wehender Hauch entsteht, der dennoch ohne eine Kraft dort nicht entstehen kann, wo er nicht war, und dennoch jene Kraft nicht berührt werden kann, weil man nicht weiß, „von wo“ jener Wind „kommt“ „oder wohin er geht“ (Joh 3,8), so ist, wofern in der Seele der Geist entsteht, der die Seele in eine Bewegung zur göttlichen Liebe setzt, jener Geist es, der die Seele lebendig macht, und er wird in der Seele geboren, so wie der Wind die Luft und in der Luft gezeugt wird. Und der Wind ist nichts anderes als lebendige Luft oder Bewegung, und so wird die Luft von neuem geboren. So ist auch der Geist nichts anderes als die lebendige Seele, und durch die Belebung wird sie von neuem geboren. Und sobald sie so ist, dann weiß man, daß dies aus der lebendigmachenden Kraft hervorgeht. Aber jene, die so Ursprung und Ziel des Geistes ist, kann nicht berührt werden. Von daher ist die Art und Weise über jeder Art und Weise, sondern wird

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in einem Ähnlichkeitsbild berührt, so wie das vom Fleisch gezeugte Fleisch ist. Da der Geist als so geboren gefunden wird, weiß man, daß er aufgrund des Geistes, nicht auf die Weise des Fleisches , sondern auf die Weise, die über jede Weise ist. (11) Als von daher Nikodemus nicht zweifelte, daß die Aussage Christi wahr sei, – er bekannte ja, daß er Meister und von Gott gekommen sei (Joh 3,2) – hat er dennoch in bezug auf die Wiedergeburt hinsichtlich der Art und Weise gezweifelt, indem er den Grund seines Zweifels hinzufügte: „Auf welche Weise kann ein Mensch geboren werden, da er ein Greis ist? Er kann doch nicht in den Leib seiner Mutter eingehen und von neuem geboren werden?“ (Joh 3,4) Jesus antwortet ihm, wie Nikodemus selbst von der Geburt gesprochen hat, durch die man in diese Welt eintritt; aber Christus selbst richtet sich auf den, der in das Reich Gottes eintreten soll, das „nicht von dieser Welt ist“ (Joh 18,36); Fleisch und Blut können es nicht in Besitz nehmen (1 Kor 15,50). (12) Von daher sind diejenigen, die geboren werden, um in diese Welt einzutreten, zuvor im Schoß gewesen, in dem sie empfangen, belebt und schließlich geboren worden sind. Sofern sie aber einmal so geboren sind, dann sind sie in dieser Welt, in der sie von neuem empfangen und lebendig gemacht werden müssen nicht dem Fleische nach, wie im mütterlichen Schoß, sondern dem Geiste nach, so daß die Geburt ein Eintreten in das Reich Gottes ist. Und dies ist eine Empfängnis aufgrund des durch die Liebe geformten Glaubens. Durch den Glauben nämlich empfängt der Geist, dessen Sakrament das Wasser der Taufe ist; es zeigt, daß die Gläubigen wiedergeboren sind gleichsam in der Weise wie neugeborene Kinder (1 Petr 2,2). Der Heilige Geist aber macht diese Empfängnis lebendig, und er ist die Kraft der Liebe, ohne die die Seele das Leben nicht besitzen kann. Denn allein durch die Liebe wird die Seele bewegt; so wie nämlich der Hauch, der Wind ist, die Luft bewegt, so die Liebe die Seele. (13) Als daher Nikodemus bis dahin bezüglich der Art und Weise zweifelte mit der Aussage: Auf welche Weise wird dies geschehen?, sagte Christus: „Du bist Lehrer in Israel und weißt dies nicht? Wahrlich – wahrlich ich sage dir: Was wir wissen, davon sprechen wir, was wir gesehen haben, davon legen wir Zeugnis ab. Und ihr nehmt unser Zeugnis nicht an“ (Joh 3,10f.); gleichsam als ob er sagen wollte: Da du Lehrer in Israel bist und dies nicht weißt, darfst du nicht fragen: Wie wird dies geschehen? Wenn dies nämlich hinsichtlich der Art und Weise etwas Wißbares wäre, wüßtest du, der du Lehrer in Israel bist, es sehr wohl. Dann fügt er noch hinzu: „Was wir wissen, davon reden wir“ (Joh 3,11), gleichsam als ob er sagte: Du darfst nicht wiederum fragen, auf welche Weise dies geschieht, sondern mir Glauben schenken. Denn du hast früher mich Lehrer genannt und daß ich von Gott gekommen bin.

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„Der Lehrer in Israel“ (Joh 3,10) muß dem Lehrer aus Gott (Joh 3,2) glauben, weil jener, der Lehrer aus Gott ist, wie alle Lehrer das sagt, was er weiß, und bezeugt, was er gesehen hat. Aber die Lehrer in Israel nehmen sein Zeugnis nicht an, weil sein Wissen in deren Lehramt nicht hineingehört. Von daher glauben sie nur, was sie in ihrem eigenen Lehramt berühren. (14) Dann fügt er noch hinzu: „Wenn ich von irdischen Dingen zu euch geredet habe und ihr nicht glaubt, wie werdet ihr glauben, wenn ich zu euch von himmlischen Dingen sprechen werde?“ (Joh 3,12), indem er zu verstehen geben wollte: Ich habe schon von irdischen Dingen über den Hauch der Luft zu euch gesprochen, wie jener „Geist weht, wo er will“ (Joh 3,8), und die Stimme wird gehört, und dennoch weiß man nicht, von wo sie kommt oder wohin sie geht. Und dies sind der sinnlich wahrnehmbaren und dieser irdischen Welt; und das, was ich in einem Ähnlichkeitsbild davon gesagt habe, sei so für jeden, der aus dem Geiste geboren ist (Joh 3,5); das heißt, daß in ihm der lebendige Geist einer Geburt und einer großen Macht ist, dessen Stimme gehört wird, so wie jene Stimme Christi gehört wurde, die aus der Macht des Geistes hervorgegangen ist, und man dennoch nicht weiß, von wo sie kommt oder wohin sie geht. Sie sollten nämlich glauben aufgrund des irdischen Beispiels, daß man nicht fragen darf, auf welche Weise das geschieht, was nicht auf eine irgendwie wißbare Weise geschieht. Von daher fügt er hinzu: „Wenn ich zu euch von himmlischen Dingen sprechen werde“, wie „werdet ihr glauben“? (Joh 3,12), wie wenn er sagte: Die himmlischen Dinge, die nichts mit den irdischen gemein haben, weil sie durch kein Ähnlichkeitsbild von irdischen Dingen in hinreichender Weise beispielhaft erklärt werden können, werden von euch niemals erfaßt werden, die ihr dem Lehrer, von dem ihr behauptet, er komme von Gott, nicht glaubt, auch wenn er euch durch irdische Beispiele führt. (15) Er fügt hinzu: „Und niemand steigt zum Himmel empor, wenn nicht der, der vom Himmel herabgestiegen ist, der Menschensohn, der im Himmel ist“ (Joh 3,13), und erklärt den Grund für die Schwierigkeit eines Glaubens an die himmlischen Dinge. Denn da ihr nicht glauben wollt, wenn ihr nicht den Grund einseht, wie auch dann , da niemand durch seine eigene vernunfthafte Kraft bis in den Himmel aufsteigen kann, so daß er das sieht, was durch den, der jenes weiß und gesehen hat, berichtet und bezeugt wird? Denn allein jener, der vom Himmel herabgestiegen ist, das heißt der Menschensohn, von dem auch ihr aufgrund seiner Werke, die ihr gesehen habt, behauptet, daß er von Gott gekommen sei, jener „steigt auf in den Himmel“ und „ist im Himmel“ (Joh 3,13). Und deswegen werdet ihr durch keinen Aufstieg mit dem Verstand die himmlischen Dinge berühren, die ihr nicht Himmlische seid.

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Allein der Menschensohn, da er die Menschheit gemäß der Bedingung dieser Welt angenommen hat, das heißt in Fleisch und Blut, scheint vom Himmel herabgestiegen zu sein, wie auch ihr sagt, er sei von Gott gekommen. (16) Von daher, da die Vernunft dieses Menschensohnes aufgenommen worden ist durch das Wort des Vaters, das Gott ist, steigt daher diese Vernunft auf in die verborgenen Geheimnisse Gottes, die himmlische Dinge genannt werden, weil sie von den irdischen weit entfernt sind, so daß so Herabsteigen Aufsteigen und weder Herabsteigen noch Aufsteigen, sondern im Himmel sein im Menschensohn in eins fallen. Und daher ist dieser der, der sich gleichsam wie die in der Wüste emporgehobene Schlange (Num 21,9) verhält; diejenigen, die durch den Glauben hinzutreten und die Schlange selbst anblicken, das heißt sich zu ihr selbst wenden und das Heil gegen die Verletzung suchen, haben in der erhöhten Schlange das Heil gegen den giftigen Biß der Schlangen der Wüste erlangt. So „muß auch der Menschensohn erhöht werden, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde gehe, sondern das ewige Leben habe“ (Joh 3,14f.). Von daher zieht Christus den Schluß, daß die Wiedergeburt zum Reich Gottes eine Befreiung ist, die ein Zugrundegehen nicht zuläßt, sondern jene Wiedergeburt besitzt ewiges Leben. Da aber jene Wiedergeburt den Aufstieg zum himmlischen göttlichen und ewigen Leben gewähren soll, und da niemand aufsteigen kann wenn nicht der, der herabgestiegen ist, der Menschensohn, daher ist es nötig, daß jene Wiedergeburt durch den Glauben an den erhöhten Menschensohn geschieht. (17) Und es muß angemerkt werden, wie diese Geburt durch den Glauben empfangen, durch die Hoffnung bewahrt und durch die Liebe lebendig gemacht wird. Und sie ist eine geistige, weil der Glaube in der Vernunft ist, die geistig ist. Von daher ist diese Geburt von geistiger Natur. Und es wird das gezeugt, was durch den Glauben empfangen ist, das heißt Christus. Von daher wird in uns Christus geistigerweise durch den Glauben gezeugt. Daher werden wir dann im Geiste wiedergeboren, sobald im Geist Christus in uns geboren wird. Und dann, weil Christus im Himmel ist, dann sind auch wir durch den Glauben in dieser Welt wie der im Schoße empfangene Christus. Und sofern wir diese Welt verlassen, sind wir wie der geborene Christus. Der Glaube also an die Empfängnis Christi in uns, der die Empfängnis der Wiedergeburt bewirkt, geht über in die vollkommene Geburt und Wiederzeugung, sobald wir den Schoß dieser Welt verlassen. (18) Von daher ist diese Kirche Christi gleichsam wie der Schoß der Jungfrau, außerhalb derer es nicht möglich ist, daß es eine Empfängnis Christi gibt. Und so wie die Jungfrau Maria im Glauben empfangen hat, wurde auch daher alles, was ihr gesagt worden war, vom Herrn in ihr selbst erfüllt, wie es erhellt aus der Bezeugung der heiligen Elisabeth, die voll des Heiligen Geistes gewesen ist (Lk 1,41). So entsteht auch jede geistige Empfängnis Christi aus dem Glauben, und alles wird erfüllt werden, was dem Gott Glaubenden von Gott gesagt wird.

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Wer also an den erhöhten Menschensohn glaubt gleichsam wie an den, in dem er Rechtfertigung, Verherrlichung, Auffahrt in den Himmel und ewiges Leben zu erlangen nicht zweifelt und diesen Glauben durch die lebendig machende Liebe überformt, in dem wird alles erfüllt werden, weil seine Seele empfangen und den Sohn gebären wird, der heilig sein wird und „groß, und Sohn des Allerhöchsten genannt werden wird“ (Lk 1,31). Und dies ist die Empfängnis, die „nicht aus dem Blute und dem Willen des Fleisches oder eines Mannes, sondern aus Gott ist“ (Joh 1,13). (19) Von da soll betrachtet werden, daß Christus zuvor in der Seele Marias empfangen gewesen ist, so daß sie selbst eine derart im Geiste Wiedergeborene war, daß das Wort in ihr selbst Fleisch wurde (Joh 1,14). Und das teilt uns der Engel mit, wo er sagt, daß sie selbst so sehr voll der Gnade (Lk 1,28) sei, weil der Herr mit ihr sei. Und diese ist selbst die Fülle der Gnade, das heißt, daß der Herr in der Seele ist. Sie selbst hatte in der Seele vom Worte, das sie aufgenommen hat, empfangen, daß sie in die Gotteskindschaft hinüberging, als der Herr mit ihr war. Sie hat nämlich geglaubt, daß sie im Sohn Gottes, der zu ihrer Zeit im Umgang mit den Menschen erscheinen sollte, für sich das Heil erlangen werde und hat gebetet, daß das geschehe, was sie gefunden hat. Aber sie hat jene Gnade gefunden, daß sie als Jungfrau Mutter wurde, und daß in ihr das Wort Fleisch annahm. Das also hat sie ersehnt; deshalb hat sie an das Wort des Heiles aller geglaubt, und daß dieses selbst Fleisch annehmen müsse. So hat sie durch den Glauben das Wort empfangen. Und durch diese Wiedergeburt ist ihr Geist in die Gotteskindschaft hinübergegangen. Und deswegen hat sie Gnade gefunden (Lk 1,30) bei dem, der mit ihr war (Lk 1,28), so daß sie verdientermaßen dem, der mit ihr war, als Mutter das Fleisch verschaffte. Sie war nämlich die Tochter eines Königs, und ein König hat ihre Schönheit begehrt (Ps 45[44],11f.). „Er hat nämlich auf die Niedrigkeit seiner Magd geschaut.“ (Lk 1,48) (20) Und von daher ist die Wiedergeburt in der Jungfrau, die der Empfängnis Christi vorausgegangen ist, in um so höherem Maße für das Heil Marias notwendig, weil ohne jene es keinen von der Zahl der Herrschenden im seligen Leben gegeben hätte, so wie niemand von allen ohne jene Wiedergeburt in das Reich Gottes eintreten kann. Aber nicht jedem ist es zum Heil notwendig, daß er Fleisch dem Wort darbietet, das Fleisch werden soll. Mag es für uns auch notwendig sein, daß das Wort Fleisch annimmt. Weil von daher Maria als Mutter dem Wort das Fleisch mitteilt, hat sie das getan, was uns allen zur Erlangung der Gotteskindschaft notwendig ist. Sie selbst teilt uns also die Gotteskindschaft mit, die den Sohn der Welt gegeben hat, in dem allein wir die Gotteskindschaft erlangen können.

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Siehe, wie Maria die Mutter aller (Gen 3,20) ist, die uns alle als Söhne Gottes in dem einzigen Sohn gezeugt hat! (21) Es scheint nämlich, daß unsere Wiedergeburt auf dem Wege der Demut emporgehoben wird in das Wort, so wie das Wort auf dem Wege der Demut herabsteigt ins Fleisch, so daß das himmlische und unsichtbare Wort ausgesprochen und so von neuem geboren wird, sobald es eine sinnlich wahrnehmbare Menschheit angenommen hat, was zutiefst mit den Sinnen nicht wahrnehmbar gewesen ist. Und so sagen wir, die wir in dieser sinnlich wahrnehmbaren Welt sind, daß wir von neuem geboren sind, sobald wir „das Wort des Lebens“ (Phil 2,16) annehmen, das nicht von dieser sichtbaren und sinnlich wahrnehmbaren Welt ist, sondern vom Reich Gottes. (22) Und so ist das Wort in der Jungfrau von neuem geboren worden, daß es Menschensohn sei zu dem Ziel, damit wir von neuem geboren werden als Söhne Gottes. Damit er selbst für alle Menschen geboren werde, deswegen ist er von einer Jungfrau geboren worden; und er, der für alle geboren ist, hat auf Erden keinen Vater, dessen Sohn er wäre. So sagt Maria: „Er hat sich Israels, seines Knechtes, angenommen.“ (Lk 1,54) Denn das allgemeine Volk Gottes, gleichsam Israel, das ist „der Gott sehende Mann“,1 „hat er aufgenommen als seinen Knecht“ (Lk 1,54). Und daher nennt sich Christus „Menschensohn“ (Joh 3,14) und nicht dieses oder jenes Vaters, sondern des Menschen, so daß so die jungfräuliche Geburt eine allgemeine Geburt, das heißt des Menschen ist und nicht dieses ; so wie die Allgemeinheit des Empfangens in einer Jungfrau ist, die unbestimmt ist, daß sie von diesem oder jenem Manne empfange, solange sie noch nicht durch einen Mann verletzt ist, so ist die Geburt aus der Jungfrau eine allgemeine Geburt, das heißt des Menschen, und nicht dieses . Von daher ist Jesus der Sohn Gottes, der der Vater von allem ist. Und der Prophet Ezechiel, der die Gestalt Christi vorbildlich darstellt, ist mit diesem Namen von Gott berufen worden, weil er nicht zürnend, sondern demütig, menschlich und mild war, damit er Christus in rechter Weise in einer vorbildlichen Gestalt vorausging (Ez 2,8). Und das mag so darüber gesagt sein. (23) Wir wollen nun den Lobgesang Marias der Reihe nach ansehen. Nachdem Elisabeth zu Maria gesagt hat: Selig, die du geglaubt hast, daß all das vollendet werde, was dir vom Herrn gesagt worden ist (Lk 1,45), sagte Maria: „Hochpreiset meine Seele den Herrn“ (Lk 1,46); wie wenn sie sagte: Weil du, Elisabeth, meine Verwandte (Lk 1,36), die du in dir den Propheten des Allerhöchsten trägst, ausrufst, daß ich „unter den Frauen“ (Lk 1,42) gesegnet und darum selig , weil ich den mir durch den Herrn verkünde1

Hieronymus: Liber interpretationum Hebraicorum nominum (CCSL 72, Lag. 75,21).

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ten Worten des Engels geglaubt habe, und weil deswegen, weil ich geglaubt habe, alles in mir zur Vollendung geführt werden soll, was so hervorragend ist, daß es alles Große überragt, daher preist meine Seele verdientermaßen jenen Herrn, der wollte, daß ich Jesus, den Erlöser, empfangen und gebären soll, der „groß“ sein wird, wie er „Sohn des Allerhöchsten“ (Lk 1,32) ist. Nur hochpreisen nämlich kann meine Seele den Herrn, der diese groß und voll der Gnade macht. (24) Und mein Geist, der das Leben und die liebevollste Bewegung meiner Seele ist, kann nur in Gott, meinem Heil, jubeln (Lk 1,47). Wie nämlich könnte der Geist in einem anderen jubeln als in Gott, der die Liebe ist, das Heil und sein Leben? (25) Sobald ich von daher betrachte, o Herr, wie du, obwohl du der Allerhöchste bist, auf die Niedrigkeit deiner Magd geschaut (Lk 1,48) und es für würdig befunden hast, dieses niedrige Magdwesen als Wohnstatt zu bewohnen, dann ist der Jubel im Geiste überaus groß. Denn die Niedrigkeit in der Seele wird so sehr vom liebevollen Auge Gottes angeschaut, daß die Empfängnis der Seele, das heißt der Geist, in Jubel ausbricht, so wie Johannes, empfangen „im Schoße“ der Elisabeth, „jubelt“ (Lk 1,44), sobald Elisabeth in ihrem Hause die vom Worte Gottes schwangere Maria gegrüßt hat. Dann empfängt der Geist einen großen Jubel, sobald das, was er liebt, etwas Großes ist, und er erfährt, daß seine knechtliche und magdliche Niedrigkeit nicht zurückgewiesen wird, sondern mit liebevoller Wechselseitigkeit angeschaut wird. (26) Von daher ist dann der Jubel in einfacher Weise im Geiste ausgesprochen, sobald der Herr „die Niedrigkeit seiner Magd“ (Lk 1,48) anschaut; denn nichts Größeres oder Höheres für die Magd als den Herrn. Es ist also der größte Jubel im liebevollen Geist der Magd, die nicht Magd ist wenn nicht die ihres Herrn, den allein sie liebt, sobald sie erfährt, daß die magdliche Niedrigkeit dem Herrn angenehm und diese in der Wechselseitigkeit der Liebe angeschaut wird. Wie groß ist von daher der Jubel gewesen, sobald als der Herr die Magd so sehr geliebt hat, daß er diese durch Anschauen, das heißt durch seinen Geist, der die Liebe ist, zur Mutter seines Eingeborenen macht! (27) Aufgrund dieser Fruchtbarkeit nämlich „werden mich selig preisen alle Geschlechter“ (Lk 1,48). Denn weil in dem menschgewordenen eingeborenen Sohn Gottes „alle Geschlechter“ einen solchen Segen erlangen können, daß auch sie zur Sohnschaft Gottes erhöht werden, werden sie verdientermaßen mich, die Mutter dieses hochgebenedeiten Sohnes, „seligpreisen“. Ja, sie werden selig schlechthin und absolut gleichsam als die Seligste verkünden. (28) So wie nämlich jedes Geschlecht, mag es nun vergangen sein oder mag es folgen, die Erfüllung der Vollkommenheit des Zieles und der Ruhe in diesem einzigen eingeborenen Sohn Gottes allein zu besitzen vermag und alle Gnaden der Fruchtbarkeit aller Frauen auf diese Geburt hin wie zu dem Ziel

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hingeordnet werden, „werden mich alle Geschlechter seligpreisen“ (Lk 1,48), weil Mutter der Mütter aufgrund der Fruchtbarkeit aller Fruchtbarkeiten . So wie nämlich diese sinnlich wahrnehmbare Welt ein gewisses Ähnlichkeitsbild einer anderen vernunfthaften ist und auf jene, von der sie durch Ähnlichkeit abhängt, durch die Wahrheit hingeordnet ist, so hängt die menschliche Fortpflanzung von Geschlecht zu Geschlecht von dem eingeborenen Sohn Gottes durch die Ähnlichkeit ab und ist auf ihn hin durch die Wahrheit hingeordnet. (29) Jede Fortpflanzung der Geschlechter also wird mich seligpreisen als die Fortpflanzerin des Eingeborenen, weil er an mir so Großes getan hat (Lk 1,49a), im Vergleich zu dem es Größeres nicht geben kann; und dieses ist mir durch jenen geschehen, der allein mächtig ist, bei dem kein Wort unmöglich ist (Lk 1,37). (30) Und sein Name ist heilig (Lk 1,49b), nicht gleichsam geheiligt, sondern in absoluter Weise heilig; durch Teilhabe daran sind alle heiligen Dinge heilig. (31) Und jener ist selbst der mächtige Herr, dessen Name heilig ist, weil er die absolute Macht und der unendlich mächtige Herr ist, dessen Barmherzigkeit die, die ihn fürchten, erfahren haben von Geschlecht zu Geschlecht (Lk 1,50). Denn die ihn selbst in Demut fürchten, hat er in barmherziger Weise beschützt; aber in der Macht, die er in der Kraft seines Armes gewirkt hat, „zerstreut er die in ihres Herzens Sinn Hoffärtigen“ (Lk 1,51). (32) Er selbst ist es, der „die Gewalttätigen vom Throne stürzt“ (Lk 1,52). Alle vom Thron gestürzten Gewalttätigen sind durch die Macht des Herrn gestürzt worden. Und er selbst „hat erhöht die Niedrigen“. Denn diese Wunderkraft Macht ist die, welche die Barmherzigkeit selbst ist, so daß sie auf die niedrigen Dinge schaut. Und dieses Schauen ist ein mit dem Auge der Barmherzigkeit Hinblicken auf diese; dieses Hinblicken ist eine Erhöhung. (33) Denn die Barmherzigkeit der göttlichen Macht „hat die Hungrigen erfüllt mit Gütern“ (Lk 1,53), weil sie alles , was ihn aufnimmt, auffüllt. Und deswegen, weil die Reichen ihn nicht aufnehmen, der die Erfüllung jeder Vollkommenheit ist, daher läßt er jene leer ausgehen. „Die Reichen“ (Lk 1,53) nämlich, obgleich sie mit zeitlichen Gütern angefüllt scheinen, werden dennoch leer hinausgeschickt werden, da sie ja zu diesen ihren Reichtümern das Herz hinwenden und Gott nicht aufnehmen. Jede vernunftbegabte Seele nämlich ist ohne die Wahrheit eitel und leer. (34) Von daher fügt sie hinzu: „Er hat sich Israels, seines Knechtes, angenommen, eingedenk seiner Barmherzigkeit“ (Lk 1,54); wie wenn sie sagte: Dieser mächtige und gütige Herr, der angeschaut hat die Niedrigkeit seiner Magd (Lk 1,48), da er Gott ist, der barmherzig ist und die Erfüllung jedes Mangels, hat das an mir getan, daß „er sich angenommen hat seines Knechtes Israel“ (Lk 1,54); folglich ist freilich dieses Kind, das ich durch die Kraft des Allerhöchsten empfangen habe, genau das Kind, das die Erfüllung aller Mängel ist, und in dem

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Israel, das ist die Allgemeinschaft der Menschen, die Gott sehen,2 lebt, wie in seinem Kind der Vater lebt. (35) Und das hat jetzt der barmherzige Gott selbst getan „eingedenk seiner Barmherzigkeit“, „so wie er gesprochen hat zu unseren Vätern, Abraham und seinem Samen in Ewigkeit“ (Lk 1,55). Diese den Vätern gemachte Verheißung bezüglich des hochgebenedeiten Samens, in dem alle Völker gesegnet werden sollen, hat jetzt, „eingedenk seiner Barmherzigkeit“ (Lk 1,54), in mir Israel empfangen. Und dies mag in Kürze über den Lobgesang Mariens gesagt sein für jetzt.

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Vgl. Hieronymus: Liber interpretationum Hebraicorum nominum (CCSL 72, Lag.75,21).

Predigt LXIX Vidi civitatem Ich habe geschaut die Stadt Zeit: Ort: Fest: Zählung Koch: Edition: Deutsch:

undatiert; 24. oder 25. Juli 1446 nach R. Haubst; 1446 oder später nach J. Koch unbekannt; Kloster Schönau nach R. Haubst Ein Kirchweihfest 67 h XVII/5, 406-419 in Auszügen: n.18-n.20: Des Cardinals und Bischofs Nicolaus von Cusa wichtigste Schriften in deutscher Übersetzung von Franz Anton Scharpff, Freiburg i. Br. 1862, 451.

ZUSAMMENFASSUNG Nikolaus entwirft in dieser Predigt eine eindrucksvolle Lehre von der Kirche. Er entwickelt sie, indem er sie mit der Schöpfungslehre und der Christologie verbindet und aus diesen beiden eine Ekklesiologie ableitet. Er beginnt nach Aufstellung des Themas aus der Geheimen Offenbarung zu dessen Einführung mit einem ausgedehnten Proömium über das Verhältnis von sichtbarer Welt zur unsichtbaren. Sinnlich wahrnehmbare Bilder sollen zur Darstellung übersinnlicher Dinge dienen (n.1). Im Anschluß daran werden drei Gliederungspunkte angegeben. Der erste Punkt soll handeln von dem Bild der neuen Stadt Jerusalem (n.3-5), der zweite vom Bild des Verhältnisses zwischen Bräutigam und Braut (n.6-24), der dritte vom Schmuck der Braut. Davon liegt uns der dritte Teil nicht schriftlich vor (n.2). Im ersten Teil (n.3-5) erläutert Nikolaus im Einzelnen: Die Einheit sichert den Bestand alles Seienden und sie ist Liebe (n.3). Diese Liebe hat trinitarische Struktur (n.4). Die irdische, vergängliche Stadt Jerusalem ist Bild für das unvergängliche Jerusalem (n.5). In dem wesentlich umfangreicheren zweiten Teil kommen folgende Punkte zur Sprache: Synagoge und Kirche gehen auf Abraham zurück. Die Synagoge ist gebunden an das Gesetz und das irdische Jerusalem (n.5). Die Kirche ist die freie Gemeinde des himmlischen Jerusalem (n.7). Die Gründung der Kirche liegt vor dem Sündenfall. Sie ist eingesetzt als Vereinigung Christi mit seiner Braut, der Kirche; Bild dafür ist die eheliche Gemeinschaft von Adam und Eva (n.8-9). Wie alle Menschen in Adam sind, so die Schöpfung im Logos, Christus (n.10). Daher kann der Schöpfer mit dem Künstler verglichen werden (n.11). Die Kirche ist auch eine künstlerische Einheit von Gebäude, Altar und Opfer. Zweck der Kirche ist das Opfer, und zwar das Opfer Christi, der auch zugleich Ziel der ganzen Schöpfung ist (n.12-13). Das Seiende kann nicht ins Nichts zurücksinken. Das bestätigt eine Deutung von Joh 8,58:

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Ehe Abraham war, bin ich (n.14-15). Das Verhältnis von So-sein und Da-sein wird erläutert durch den Sehsinn und das Denken (n.16). Das Unvollkommene muß vollkommen werden durch Ablegen der Unvollkommenheit und Anlegen der Unsterblichkeit nach Paulus (n.17). Maria ist die Mutter Jesu, wie die Kirche unsere Mutter ist, in deren Schoß wir wiedergeboren werden (n.18). Diese neue Geburt setzt eine Empfängnis im Geiste voraus (n.19). Für diese geistige Geburt ist der Glaube notwendig (n.20). Hier ist die Koinzidenz zu beachten: In der Kirche geboren werden bedeutet zugleich in sich die Kirche zu empfangen (n.21). Das Beispiel des Windes aus Joh 3,8 zeigt die Einschränkung der menschlichen Erkenntnis über das wahre Wirken des Geistes (n.22). Das Gleichnis von der Gärung des Mostes und dessen Klärung zu Wein dient zur Erläuterung unserer Wiedergeburt durch den Glauben (n.23). Das Bild von Braut und Bräutigam symbolisiert das Verhältnis von Kirche und Christus. In der Kirche wird durch die Kraft des Heiligen Geistes der Gläubige als Sohn gezeugt (n.24).

BEMERKUNGEN Die Datierung von Rudolf Haubst und die Verlegung nach Kloster Schönau als Ort, wo die Predigt gehalten worden sein soll, ist nicht mehr als eine höchst unwahrscheinliche Vermutung; vgl. Literatur.

LITERATUR Hermann Schnarr: Beobachtungen zu einem noch unveröffentlichten PredigtText des Nikolaus von Kues, in: Einheit und Vielheit. FS für Karl Bormann, Würzburg/Altenberge 1993, 218-220. Vgl. auch den Aufsatz von Wendelin Knoch: Ekklesiologische Aspekte in den frühen Predigten des Nikolaus von Kues, in: Nikolaus von Kues als Prediger, hg. von Klaus Reinhardt und Harald Schwaetzer, Regensburg 2004, 29-44. Leider ist durch die zeitliche Beschränkung die vorliegende Predigt darin nicht berücksichtigt.

Predigt LXIX: Ich habe geschaut die Stadt

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Predigt LXIX Ich habe geschaut die Stadt (1) „Ich habe die heilige Stadt, das neue Jerusalem, gesehen, vom Himmel herabsteigend, von Gott bereitet und geschmückt so wie eine Braut für ihren Mann“ (Offb 21,2), im einundzwanzigsten Kapitel der Geheimen Offenbarung. Das Reich Gottes ist ein derartiges, daß etwas ihm ähnliches nicht in des Menschen Herz eingedrungen ist. Zu ihm sind wir als Adoptivsöhne in Jesus Christus, dem eingeborenen Sohn Gottes, alle berufen worden, die wir Söhne Abrahams (Gal 3,7) sind, der Vater des Glaubens und vieler Völker (Röm 4,16f.; Gen 17,5) ist, , die durch den Glauben bezüglich des gesegneten Samens dem Abraham verheißen worden sind (Gal 3,8f.16.29). Denn weder vermag ein Auge zu sehen noch ein Ohr zu hören noch eine Vernunft einzusehen, was Gott denen bereitet hat, die ihn lieben (1 Kor 2,9; Jes 64,4). Da es aber in dieser Welt nur in Bild und Rätsel (1 Kor 13,12) berührt werden kann, weil diese Welt ein Abbild der Wahrheit ist und das Reich der Wahrheit nicht von dieser Welt ist, wie Christus, der die Wahrheit ist (Joh 14,6), sagt, sein Reich sei nicht von dieser Welt (Joh 18,36), daher kann uns in dieser Welt der göttliche Strahl nicht anders leuchten, wenn nicht verdeckt durch irgendwelche abbildhaften Schatten. Wir fragen also in dieser Welt aufgrund der Dinge, die uns hier sichtbar erscheinen und vergänglich sind, nach den Dingen, die nicht gesehen werden können und die ewig sind (2 Kor 4,18). Christus aber hat uns vieles über das Reich Gottes, hinführende Gleichnisbilder, offenbar gemacht, während er das Reich als Frohe Botschaft verkündete. Aber Johannes der Evangelist führt uns in das Gleichnisbild der Stadt Jerusalem hinein; auf das und auf anderes wollen wir unser Augenmerk richten. (2) Zuerst wollen wir den Text aus dem einundzwanzigsten Kapitel der Geheimen Offenbarung ansehen und aus jenem einiges herausholen betreffs der neuen Stadt Jerusalem. Zweitens wollen wir bezüglich Bräutigam und Braut schauen, was ihm dieses wohl bedeuten soll. Drittens betreffs des Schmuckes der Braut, sobald sie eingehen soll in die Freude ihres Herrn (Mt 25,21.23), und da einiges über die Freuden des Paradieses. (3) Bezüglich des ersten muß angemerkt werden: Obgleich es in dieser Welt nichts Bestehendes gibt, in dem nicht das Himmelreich widerscheint, da jedes Bestehende in Liebe, Eintracht oder Frieden Bestand hat, hat etwas auch nur insofern Bestand, als dort Eintracht herrscht und daher, weil der Geist lebendigmachend ist, Liebe und Freude.

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Denn Traurigkeit und Haß trocknen aus und machen tot, und nach jeder Traurigkeit kehren wir zur Freude zurück gleichsam wie zum Leben, ohne die der Geist nicht lebt, der lieber nicht sein will als immer in Traurigkeit sein ohne Hoffnung auf Freude. Das Reich des ewigen Lebens besteht im Heiligen Geist, der Liebe ist, Freude und Fröhlichkeit (Röm 14,17). (4) Weil die Einung Liebe ist, daher ist die Einung auch Einung von Einheit und Gleichheit; daher ist die Einung von Einheit und Gleichheit der Geist der Verbindung oder der Liebe; und es ist der Heilige Geist der Einheit wie des Ursprungs oder Vaters und der Gleichheit wie des Sohnes. Die Gleichheit kann nämlich nur Gleichheit der Einheit sein. Daher erhellt, auf welche Weise der Bestand eines jeden Seins in der Liebe oder Verbindung der Einheit und der Gleichheit liegt. Und so ist in jedem Beliebigen, das Bestand hat, ein Ähnlichkeitsbild des himmlischen Reiches, das heißt des Reiches der Liebe oder des Bestandes jedes Bestehenden. Das himmlische Reich ist nämlich die absolute Einheit von Einheit und Gleichheit in der Liebe; und die Gleichheit der absoluten Einheit herrscht in der absoluten Liebe, welche die Verbindung von Freude und Fröhlichkeit ist. Daher sagen wir am Ende von Gebeten: „Durch unseren Herrn Jesus Christus, der mit Dir lebt und regiert in der Einheit des Heiligen Geistes“, so daß das ewige Reich nicht etwas anderes ist, als daß der ewige Vater, der die Einheit ist, und der ewige Sohn, der die Gleichheit ist, in der Einheit des Heiligen Geistes, der die Liebe ist, in ewiger Weise leben. (5) Deshalb, weil man Stadt ,,eine Einheit von Bürgern“1 nennt und sie gleichsam wie ein Reich irgendeines Königs ist wie zum Beispiel des Königs von Jerusalem, daher, damit der Engel Johannes und uns durch Johannes zur Anschauung des ewigen Reiches emporhebe, wendet er sich zu Jerusalem, wie zu etwas, das auf sinnlich wahrnehmbare Weise gewußt wird; er will uns von der sichtbaren und irdischen vergänglichen Stadt zum himmlischen Reich, zum wahren himmlischen, das heißt zum geistigen Jerusalem emporheben. Und das tut Johannes, damit wir nach der Betrachtung der Stadt der Welt mit ihren Mängeln einsehen, daß jene, die von der Welt ist, ein Bild der anderen ist, die ohne Mangel in lauter Frieden, Freude, Schönheit, Glückseligkeit und immerwährendem Schmuck besteht. Und dazu nimmt er sinnlich wahrnehmbare, unvergängliche und kostbare , wie Gold, Edelsteine, Speise und Trank des Lebens; und er bemüht sich in jenen bis dahin, den Geist noch höher zu erheben zum absoluten, mit lauter Gutem angefüllten Leben, wo die Wahrheit ist, die Ruhe und Glückseligkeit des Geistes. soll der Text angesehen werden. Und so soll der erste Teil ausgearbeitet sein. 1

Vgl. Isidor von Sevilla: Etymologiae XV, c.1, n.1; IX, c.4, n.2.

Predigt LXIX: Ich habe geschaut die Stadt

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(6) Bezüglich des zweiten Teiles. Der Apostel Paulus schreibt an die Galater im vierten Kapitel, unser Vater Abraham habe zwei Söhne gehabt: einen von der Sklavin, der entsprechend seiner Mutter von sklavischer Art gewesen ist; – denn ein Sohn von einer Sklavin, der ein Teil der Mutter ist, ist von sklavischer Art – und einen anderen von der unfruchtbaren und freigeborenen Sara (Gal 4,22f.). Er sagt auch, wie dies mit Hilfe einer Allegorie (Gal 4,24f.) verstanden werden muß, das heißt es hat irgendein gläubiges Volk, da Abraham der Vater des Glaubens , in Sklavenart gegeben, weil es Sklavendienste geleistet hat; und von jenem Volk – so sagt er – wird eine Gemeinde gegründet, die Synagoge genannt wird. Und dieses Volk, das so zum Sklavendienst gemäß den Vorschriften des auf dem Berge Sinai gegebenen Gesetzes Jerusalem bewohnt hat, das an jenen Berg angrenzt, dieses Jerusalem freilich ist von dieser Welt. (7) Ein anderes Volk aus der Freigeborenen gibt es nur gemäß dem Glauben an die Verheißung, und es begründet die freie Gemeinde, die nicht an die Bewahrung des Gesetzes gefesselt ist. Und dieses besitzt die Kirche, die das himmlische Jerusalem bewohnt. Daher ist diese Stadt Jerusalem, die von oben ist, unsere Mutter, wie er ebenda sagt (Gal 4,26). Denn sie selbst ist die Mutter, die uns empfängt in dieser Welt und gebiert, bis wir diese Welt verlassen. Von daher ist sie selbst die Stadt, die durch ihre eigentümliche Geburt erbaut wird, so wie Eva herangewachsen ist vom Mädchen zur vollkommenen Frau durch eigene Kraft, durch die sie die Nahrung in die Natur des Ernährten umgewandelt hat. Dennoch ist diese ihre eigene Kraft, die so im Mädchen gewesen ist, die Kraft ihres Hauptes (1 Kor 11,2), ihres Mannes Adam gewesen, durch die er ihr wie dem Fleisch von seinem Fleisch und dem Bein von seinem Bein (Gen 2,23) zugeteilt hat. Daher ist so in gewisser Weise die Kirche; sie ist die Braut und Ehefrau Christi, die aus ihrer Kraft, die sie von Christus hat, wächst in eine Vergrößerung, so daß sie vollkommen und angenehm sei dem Bräutigam. Und dies wird uns in der Lesung eröffnet, die wir in der Messe gehört haben, wo an der zweiten Stelle Johannes sagt, daß die Stadt Jerusalem die Braut und Ehegemahlin des Lammes ist (Offb 21,9). (8) Und hier muß betrachtet werden, wie Paulus uns im fünften Kapitel des Briefes an die Epheser belehrt, daß jenes große Sakrament der Ehe vor dem Sündenfall im Paradies als etwas Großes zwischen Christus und der Kirche eingesetzt worden ist, wie er es ebendort ableitet (Eph 5,32). Aufgrund dessen urteile ich, daß man in einzigartiger Weise anmerken muß, vor dem Sündenfall sei dieses große Sakrament eingesetzt gewesen. Und Christus sagt im Evangelium des Matthäus im neunzehnten Kapitel, Gott habe folgende Worte gesagt: „Deswegen wird der Mensch

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verlassen“ (Mt 19,5f.) etc., und fügt hinzu, „ deshalb nicht zwei, sondern ein Fleisch“. Der Text der Genesis sagt, Adam habe gesprochen. Aber Adam ist in Schlaf versetzt gewesen, gleichsam hatte er verschlossene Augen, und hat dieses große Sakrament Christi und der Kirche nicht sehen können. Aber jener, der gesehen hat, nämlich Gott, der hat durch Adam die Worte des großen Sakramentes gesprochen. Adam aber hat die Worte des Sakramentes der fleischlichen Ehe ausgesagt, die das große Sakrament vorbildlich darstellt. (9) Daher sind Christus und die Kirche wie ein Einziges, nicht wie zwei im Geiste, das Ziel der Schöpfung. Und so gehen sie der Erschaffung Adams und Evas voraus; und es geht auch voraus das wahre Sakrament Christi und seiner Braut der Gestalt des Sakramentes von Adam und Eva. Daher ist Christus bei Gott dem Vater „der Erstgeborene der ganzen Schöpfung“ (Kol 1,15), weil „Haupt der Kirche“ (Eph 5,23; Kol 1,18); und die Kirche, die wie Fleisch von seinem Fleisch und Bein von seinem Bein ist, ist unter ihm und durch ihn und seinetwegen, wie in Adam und Eva dieses abgebildet worden ist, so wie Eva wegen Adam gewesen ist (Gen 2,18). Und Paulus leitet dies ab, auf welche Weise die Kirche besteht, daß Christus ganz erfüllt werde so wie das Haupt in der Fülle des Körpers, an die Epheser im ersten Kapitel gegen Ende (Eph 1,23; Kol 1,18); so wie die menschliche Natur in dem Manne Adam wie im Haupte besteht, hat sie die Erfüllung der Unversehrtheit in Eva erreicht, die aus ihm wie im Körper des Hauptes der Mannheit erschaffen worden ist. Daher ist sie Männin genannt worden im zweiten Kapitel der Genesis (Gen 2,23). Darüber oben durch Paulus . (10) Von daher muß betrachtet werden, wie Gott uns alle, die wir aus Adam sind, in dem einen Adam erschaffen hat, in dem wir alle gewesen sind wie in einem Vater dem Fleische nach, mögen wir auch nacheinander in dieser Welt erschienen sein, von der Möglichkeit in die Wirklichkeit geführt. Aber bei jenem, bei dem alles in Wirklichkeit ist und nichts entsprechend einem Früher in Möglichkeit und einem Später in Wirklichkeit, sind wir alle gewesen, wie wir jetzt entsprechend dieser Welt in Wirklichkeit sind, weil der Fluß der Zeit im Jetzt der Ewigkeit ist. (11) Gott hat also alles zugleich erschaffen, wie Salomon sagt (Sir 18,1). So wie er daher in einem Menschen alle Menschen geschaffen hat, wie es in der Apostelgeschichte im siebzehnten Kapitel (Apg 17,24.26), so hat er in der einen Schöpfung, die Welt genannt werden kann, alle Geschöpfe geschaffen. Durch Erschaffen der Welt hat er alles erschaffen, wie er durch Erschaffen des Menschen alle Glieder des Menschen erschaffen hat, so wie ein Künstler zuerst die ganze Kirche entwirft, die in der Zeit entfaltet wird. Und das, was anderen etwas Zukünftiges ist, die in der Zeit sehen werden, daß die Kirche nacheinander entfaltet wird, ist dem Künstler gegenwärtig. (12) Darauf : So wie der Künstler die Kirche entwirft, die nicht Kirche ist ohne Altar, so daß der Altar ein Teil der Kirche ist,

Predigt LXIX: Ich habe geschaut die Stadt

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und ist das Ziel der Kirche der Altar, und das Ziel des Altares ist die Darbringung des Meßopfers; diese ist ein Zeichen der Ehrerbietung gegenüber Gott. So hat Gott die ganze Welt geschaffen in dem einen Jetzt der Ewigkeit gleichsam als eine einzige Kirche. Auf diesem Altar, der Christus ist, ist er selbst auch das höchste Opfer der Ehrerbietung gegenüber Gott; in ihm fällt der Altar mit dem Opfer in eins, so daß er selbst das vollendete Ziel sowohl der Geschöpfe ist als auch der Ursache von deren Erschaffung. (13) So wie daher das Ziel allem vorausgeht gleichsam wie das, woraufhin alles hingeordnet wird, so ist Christus nicht aufgrund der Zeit vor den Geschöpfen, sondern der Erstgeborene, weil Ziel aller Geschöpfe (Kol 1,15), mag er auch gemäß dieser zeitlichen Welt nach Adam und Abraham erschienen sein. Christus ist also „Alpha und Omega, Erster und Letzter, Ursprung und Ziel“ (Offb 22,13) nach dem letzten Kapitel der Geheimen Offenbarung; denn er selbst ist Ziel aller Geschöpfe. Alle Geschöpfe kommen nämlich in ihm zur Ruhe. Denn die Schöpfung hat in ihm das Höchste erreicht, nämlich die hypostatische Union mit der Quelle ihres eigenen Seins, das heißt mit Gott, so daß in der Einheit der Person das Geschöpf mit dem Schöpfer ist. Nachdem daher der Schöpfer alles seiner selbst wegen gewirkt hat (Spr 16,4), ruht daher dann die Schöpfung dort, wo sie in der Einheit der Person mit dem Schöpfer geeint ist. Und so ist dieses Geschöpf, in dem alle Geschöpfe Ziel und Ursprung haben. So wie also Christus zuvor bei Gott ist, weil er Ziel der Schöpfung , so hat durch ihn selbst auch die Jahrhunderte geschaffen, wie Paulus sagt (Hebr 1,2), weil die Jahrhunderte in ihm wie in Ziel zur Ruhe kommen. So wie wir daher alle in Adam gewesen sind – nicht auf sinnlich wahrnehmbare Weise, wie wir heute sind, – so ist Adam immer gewesen, so lange die Welt gewesen ist, mag auch nicht auf sinnlich wahrnehmbare Weise gemäß dieser sinnlich wahrnehmbaren Welt . (14) Und niemals hat Adam aufgehört noch wird er aufhören noch werden wir aufhören noch wird irgendeines der Seienden aufhören in seiner Wesenheit, die gemäß Dionysius unvergänglich ist,2 mag sie auch in jeweils berücksichtigender Weise und gemäß unserer verstandesmäßigen Wissenschaft, die zusammen mit der Zeit die Dauer der Dinge mißt, in das Nichts zu fallen scheinen. Das nämlich, dem Gott Sein verliehen hat, kann nicht in das Nicht-Sein stürzen, mag es auch im So-Sein und auf die Weise, wie es erscheint, nicht fortbestehen. (15) Daher hat Johannes der Täufer gesagt: „Nach mir kommt der, der vor mir geschaffen worden ist.“ (Joh 1,30) Und dies darf nicht nur gemäß der Gott-

2

Vgl. Ps.-Dionysius: De divinis nominibus, c.4 § 23.

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heit verstanden werden, weil gemäß der Gottheit, wie Athanasius sagt, der Sohn nicht gemacht und nicht geschaffen ist, sondern gezeugt vom Vater.3 Es muß also verstanden werden, daß Christus früher geschaffen worden ist auf die oben erwähnte Weise, so wie auch das , das Christus gesagt hat im achten Kapitel des Johannesevangeliums: „Bevor Abraham wurde, bin ich“ (Joh 8,58), den Juden sagen will, daß er, obwohl er Abraham nicht mit einem solchen Blick, mit dem in dieser Welt das Sichtbare gesehen wird, gesehen hat, dennoch sagt, er sei, bevor Abraham so sichtbar wurde. Er sagt nicht, er habe gesehen, sondern er sei, nicht als ob er damals gesehen worden sei, weil er nicht auf diese Weise gewesen ist, auf welche er in sinnlich wahrnehmbarer Weise sichtbar gewesen ist, sondern auf jene Weise, auf welche das Sein vorausgeht dem So-Sein: Das Sein geht nämlich dem So-Sein voraus. (16) Und sobald das Sein ein So-Sein annimmt, scheint es vorher nicht gewesen zu sein, weil es ohne ein So-Sein nicht etwas Sichtbares gewesen ist, so wie die Farbe nicht von der Wesenheit eines Dinges ist, weil es Dinge gibt, die nicht mit Farbe versehen sind, so zum Beispiel Töne und Süßes und Warmes. Wenn daher einem nicht mit Farbe versehenen Seienden zustieße, daß es farbig würde, würde der Sehsinn urteilen, daß dieses Ding zuvor nicht gewesen sei, weil er nicht daran rührt, daß es möglich ist, daß ein nicht-sichtbares Ding existiert. So leugnet der Gesichtssinn, daß es eine Rose im Winter im Rosengarten gibt, weil er jene allein im Sommer erfährt. Denn der Gesichtssinn berührt nicht die Seinsweise in der Möglichkeit, auf welche Weise die Rose im Winter im Rosengarten ist, sondern er berührt allein die Seinsweise in der gegenständlichen Wirklichkeit. Das nämlich, was ein sichtbarer Gegenstand ist, sagt er, habe Sein, weil außerhalb dieser Weise der Sichtbarkeit nichts Sichtbares ist und folglich auch gemäß dem Sehsinn nicht als ein Sein erfaßt werden kann. (17) Daher muß folgerichtig überlegt werden, wie Gott „Mann und Frau erschaffen hat“ (Gen 1,27) und diese im Sakrament der Einheit des Fleisches verbunden hat zum Zwecke des großen Sakramentes, das in der Einheit des Geistes besteht. Denn in der Ausfaltung des großen Sakramentes der Einheit des Geistes geht das Sakrament der Einheit des Fleisches voraus, wie Paulus im Brief an die Korinther im dreizehnten Kapitel sagt: Zuerst das, was tierisch, und nachher das Geistige (1 Kor 15,46). Denn das letzte in der Ausführung ist das erste in der Absicht. Denn die Einheit des Geistes muß eine unvergängliche sein und die vergängliche Natur Unvergänglichkeit anziehen; – auch die sterbliche eine unsterbliche, die durch die Zeit fließende und unbeständige eine beständige und bleibende .

3

Vgl. Symbolum Quicumque (ES33, n.75 [n.39]).

Predigt LXIX: Ich habe geschaut die Stadt

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Wenn also die vergängliche und sterbliche menschliche und vernunftbegabte Natur überkleidet werden (2 Kor 5,4) soll mit Unsterblichkeit, ist es zuvor notwendig, daß das Unvollkommene als etwas Zerstörbares entfaltet werde, bevor es das wird, was vollkommen und beständig ist, wie es ebendort Paulus ableitet. (18) Um daher einsehen zu können, auf welche Weise Jerusalem unsere Mutter ist, müssen wir unsere Aufmerksamkeit darauf richten, daß so wie die Jungfrau Maria die Mutter Christi ist, welcher der Menschensohn ist, auch die Kirche so unsere Mutter ist, so daß wir Söhne Gottes sind. Christus, der von Ewigkeit her der Sohn Gottes oder das Wort gewesen ist, ist von neuem empfangen worden in Maria und aus deren Schoß geboren, so daß er in der Menschheit Menschensohn ist. Wir, die wir in der Menschheit geboren sind, so daß wir Menschensöhne sind, werden, sofern wir so geboren sind, so von neuem im Schoße der Mutter Kirche empfangen, so daß wir aus dem Schoße der Mutter Kirche als Söhne Gottes geboren werden. (19) Es ist aber nötig, daß diese Empfängnis im Geist ist, weil die Kirche, als Braut in der Einheit des Geistes dem Bräutigam Christus geeint, uns im Geist von neuem gebiert. Daher empfängt die allumfassende Kirche von dem in sie selbst herabkommenden Heiligen Geist uns nicht aus einem anderen als aus der Kraft des Allerhöchsten, so daß der Empfangene ein Gottessohn ist. Da nun daher dein Geist von neuem geboren werden muß, damit er in der Einheit der Kirche sei, die die Braut Christi ist, ist es nötig, daß er aufgenommen wird in den Schoß der Kirche. Und er wird dann aufgenommen in den Schoß der Kirche, die Fleisch vom Fleische Christi und Bein von seinem Bein ist, sobald Geist Christus anzieht. Und dies kann nicht geschehen wenn nicht durch die verwandlungsfähige Kraft des Geistes, die Zuneigung oder Liebe ist und die der Heilige Geist ist. Durch die heilige Liebe also geht der Geist über in die neue Empfängnis, damit er von neuem geboren werde. Aber der Liebe muß notwendig der Glaube vorausgehen. Es kann nämlich der vernunftbegabte Geist nur auf vernunfthafte Weise durch die Liebe hinübergetragen werden. Daher führt die Liebe ihn nicht zu etwas gänzlich Unbekanntem. Deshalb wird er durch die Liebe nur dazu bewegt, was er als etwas Liebenswertes glaubt. (20) Der Glaube ist es also, durch den im Schoß der Kirche unser Geist empfangen wird, damit er von neuem geboren wird als ein Sohn Gottes, das heißt der Glaube an Christus , daß er der Sohn Gottes sei und daß in ihm selbst, der Mensch ist, der Geist des Menschen die Gottessohnschaft berühren kann. Durch diesen Glauben, der so in der Kirche verkündet wird und die Gläubigen eint, eint jener daher uns den Gläubigen, die Glieder Christi sind durch den Glauben; und er stellt uns in den Schoß der Mutter Kirche, die der aus den Gliedern Christi zusammengefügte Leib Christi ist (1 Kor 12,27; Röm 12,4; Eph 1,22f.; 5,29f.; Kol 1,18); in diesem Körper ist der

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eine Geist Christi, dem sich unser Geist unterwirft und sich allmählich durch die Liebe eint, so daß er so in ihn selbst mehr und mehr verwandelt wird, so lange bis wir, entkleidet von dieser Welt des vergänglichen Fleisches (Röm 13,12; Eph 4,22-25; Kol 3,8f.), wiedergeboren werden im auf Christus hin verwandelten Geiste; wir werden , wie wir zur Wiedergeburt empfangen gewesen sind, die Sohnschaft Gottes erreichen. (21) Auch muß eine Bemerkung gemacht werden zum Zusammenfall, ohne den diese höchste Wiedergeburt nicht begriffen wird; denn so wie der eine Glaube an Christus in allen Christen ist, so die eine Kirche in allen . Daß du daher im Schoß der Kirche empfangen wirst, bedeutet, in dir die Kirche zu empfangen. Und das heißt, daß du von neuem geboren wirst gemäß dem Geist als Sohn Gottes, was bedeutet, daß der Sohn Gottes in dir geboren wird. Denn diese Wiedergeburt, die auf den lebendigmachenden Geist (1 Kor 15,45) hin wirklich ist, besitzt eine gewisse Ähnlichkeit, die Christus im dritten Kapitel des Johannesevangeliums anspricht in Bezug auf das Wehen des Windes (Joh 3,8). Denn eine ruhige Luft, tauglich, nach allen Verschiedenheiten des Ortes hin bewegt zu werden, empfängt in sich einen gewissen Schwung; folglich entsteht ein starker Wind, so daß die ganze Luft so in Bewegung gerät, gleichsam als sei sie lebendig; und dennoch weiß man nicht, woher jene Bewegung kommt oder wohin sie sich richtet. So in der vernunftbegabten Seele, die wegen der Freiheit der Entscheidung tauglich zu jeder geistigen Bewegung ist. Von daher empfängt sie selbst in sich den Glauben und wird so angestachelt zum Begreifen durch die lebendige Bewegung der Liebe. Und so wird die Seele, die nicht im Besitz von Leben und Bewegung gewesen ist, wieder in einen lebendigen Geist zurück befreit, so daß so wie die Luft von neuem geboren worden ist als Wind, so die Seele von neuem geboren worden ist als Liebe zum Begreifen dessen, was sie durch den Glauben empfangen hat, das heißt die Sohnschaft Gottes durch den Glauben an Christus als den Sohn Gottes. (22) Es kann aber nicht gewußt werden, woher diese lebenspendende Geburt entsteht oder wo sie begrenzt wird. Sondern das allein wird gewußt, daß so wie das vom Fleisch Geborene Fleisch ist, so das vom Geist Geborene Geist ist (Joh 3,6). Und weil in uns jene Bewegung im Geiste ist, um die himmlischen geistigen Dinge zu erlangen, wissen wir, daß sie, , selbst aus dem von oben herabkommenden Heiligen Geist ist. Da aber jener Geist der unerkennbare Gott ist und er das ewige Leben ist, können wir dann nicht wissen, woher oder wie dies geschieht, weil das Woher und das Wie keinen Ort bei Gott haben. Aber wir wissen, daß von der Gnade Gottes, das heißt vom Heiligen Geist, diese Bewegung in uns ist, die unsere Seele hinüber vom Tod zum Leben führt und bewirkt, daß sie aufersteht auf den lebendig machenden Geist (1 Kor 15,41) hin, welcher der Geist Christi (Röm 8,9) ist. (23) Mach eine Anmerkung zum Gleichnisbild: auf welche Weise zuerst in der Traube der Most, der ausgepreßt wird, empfangen wird; darauf der Most

Predigt LXIX: Ich habe geschaut die Stadt

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durch den Geist der Gärung von neuem geboren wird, und gemäß einer größeren Reinigung der Gärung ein klarer und süßer Wein entsteht. So haben wir, auf welche Weise wir durch den Glauben an Christus wiedergeboren werden auf den lebendig machenden Geist Christi hin; und so werden wir auch durch die Mutter Kirche wiedergeboren, so daß wir der Leib Christi sind, der selbst die Mutter ist, die durch den Geist Christi lebendig gemacht wird. (24) Daher ist Christus wie ein Bräutigam, die Kirche wie eine Braut. Und in der Kirche wird der Sohn Gottes gezeugt durch den Heiligen Geist, und die Kraft des Allerhöchsten, welche der fleischgewordene Sohn Gottes ist, wird in unserem Geist überschattet, so wie der Bischof der dienende Bräutigam seiner Kirche ist und im Geist seines Wortes die Kraft Christi überschattet wird in seiner Kirche; und empfangen wird der, der durch den Glauben zuvor in dem Bad der Taufe von neuem geboren worden ist, so daß er jetzt im Schoß der Kirche von neuem empfangen worden ist. Daher ist das Amt des Bischofs, wie das des Paulus, gleichsam wie das des Bräutigams, der im Brief an die Galater im vierten Kapitel schreibt: „Meine Kinder, um die ich wiederum Geburtswehen erleide, solange bis Christus in Euch geformt wird“ (Gal 4,19). Und das bedeutet, daß Christus in ihnen geformt wird, das heißt, daß in ihnen selbst der Geist Christi ist. Und das ist , sobald sie selbst empfangen worden sind in seinem Leib, welcher die Kirche ist.

Predigt LXX Vidi civitatem Ich habe geschaut die Stadt Zeit: Ort: Fest: Zählung Koch: Edition: Deutsch:

undatiert; nach R. Haubst 25. Juli 1446 oder später; nach Koch nach 1446 oder noch später unbekannt; nach R. Haubst Kloster Schönau Kirchweih 68 h XVII/5, 420-421 –

ZUSAMMENFASSUNG Predigt LXX ist nur als Entwurf überliefert. Nach Angabe des Themas (n.1) ist am ausführlichsten der Gedanke der Unterscheidung vom Abbildcharakter der zeitlichen Welt und deren Abhängigkeit von einer ewigen Welt, auf die wir hingeordnet sind, ausgeführt (n.2). Sodann werden drei Gliederungspunkte genannt jeweils mit Stichworten für die Ausführung derselben. Im ersten Teil soll über die Stadt, das neue Jerusalem als Ziel unseres Strebens gesprochen werden, zugleich auch über die Kirche als Gemeinschaft (n.3). Der zweite Teil soll über diese neue Stadt als Braut des Lammes handeln, das heißt über das Verhältnis Christi zur Kirche (n.4). Im dritten Teil soll die Ausstattung und Beschaffenheit der Braut dargelegt werden (n.5).

BEMERKUNGEN Die handschriftliche Überlieferung und einige inhaltliche Berührungspunkte zeigen einerseits die Abhängigkeit von Predigt LXIX, lassen aber auch den Schluß zu, daß der Entwurf erst auf oder nach der Legationsreise entstanden ist. Zur Datierung von Rudolf Haubst vgl. die Bemerkung zu Predigt LXIX.

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Predigt LXX Ich habe geschaut die Stadt (1) „Ich habe die heilige Stadt geschaut, das neue Jerusalem, herabsteigend vom Himmel vom Herrn bereitet“ (Offb 21,2) etc., im einundzwanzigsten Kapitel der Geheimen Offenbarung . (2) „Wir haben hier keine bleibende Stadt“ (Hebr 13,14), sondern streben zu einer anderen, unvergänglichen, wo wir herrschen sollen in Ewigkeit; – von hier aus also das Reich, das nicht beschrieben werden kann in dieser Welt, da es das Reich der Wahrheit ist, die Wahrheit, die nicht von dieser Welt ist (Joh 18,36) und nur durch Zeichen beschrieben werden kann – wir wissen, daß das, was in dieser Welt existiert, so wie ein Bild von einer anderen , wie dem Moses gesagt worden ist, er solle ein Zelt in der Wüste errichten, wie er es auf dem Berge gesehen hat (Ex 25,40; 26,30; Apg 7,44; Hebr 8,5); und weil daher in einer anderen Welt, wo der Frieden schaffende König herrscht, Gott zusammen mit den Menschen ist ringsum im Tempel und in der heiligen Stadt, in welcher der Tempel uns dieses ewige Reich sinnbildlich darstellt, und weil in diesem Tempel dieser streitenden Kirche, der aus einem weltlichen Haus mit der Weihe in ein Haus Gottes umgewandelt worden ist, in dem wir Erbetenes erlangen, machen wir es daher auch so, wie Salomon die Feier der Tempelweihe in Jerusalem vollzogen hat; gibt es auch das Gedächtnis an diese Weihe, damit auch wir in der Freude emporgehoben werden; so wie durch den Dienst des Hohenpriesters das weltliche Haus durch die Weihe in ein Haus Gottes umgewandelt wird, so werden auch wir, die wir den höchsten Priester haben, der in die Himmel emporgedrungen ist (Hebr 4,14), durch ihn und in seinem Blut geweiht werden zum Hause Gottes, damit in uns Gott Wohnung nimmt etc. (3) An erster Stelle wollen wir die Beschreibung des Johannes in der Geheimen Offenbarung bezüglich der Stadt (Offb 21,10-21), zu der wir streben, kurz prüfen und dies bezüglich des Punktes, wo er sagt „Stadt“; das bedeutet „eine Einheit von Bürgern“.1 Und dort , auf welche Weise es zu einem Reich gehört, durch eine Verbindung etc. . Und berührt wird dort bezüglich der Gemeinschaft der Kirchen, und wie sie rein bewahrt werden muß, damit sie gut Vorbildcharakter etc. Auf welche Weise die Griechen und auf welche Weise die Anhänger Mohammeds . (4) An zweiter Stelle darüber, daß er sagt, die Stadt sei die Braut und Gattin des Lammes (Offb 21,19), das „der Erste und der Letzte“ (Offb 22,13) ist. Und dort, wie zwischen dem Bischof und der Kirche ein Ähnlichkeitsbild besteht etc. 1

Vgl. Isidor von Sevilla: Etymologiae XV, c.1, n.1; IX, c.4, n.2.

Predigt LXX: Ich habe geschaut die Stadt

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(5) An dritter Stelle die Anrede an die Braut: wie sie Braut sein soll dem Lamm, das heißt wie die Braut überlegt hat, was sie durch ein Geschenk erhalten hat; und im Einzelnen: wie sie Verstand und Vernunft und das vernunfthafte Licht erhalten hat.

Predigt LXXI Maria optimam partem elegit Maria hat den besten Teil erwählt Zeit: Ort: Fest: Zählung Koch: Edition: Deutsch:

15. August 1446 Mainz Mariä Himmelfahrt 62 h XVII/5, 422-441 –

ZUSAMMENFASSUNG Nach Aufstellung des Themas entwickelt das Proömium (n.1-2) die Tendenz der Interpretation des aus dem Tagesevangelium genommenen Themas, das die Geschichte von Martha und Maria berichtet. Nikolaus zieht eine Parallele zwischen den beiden Schwestern, vor allem zwischen Maria Magdalena und der Gottesmutter Maria, die mit dem „besten Teil“ die Glückseligkeit erwählt haben. Was die beiden Schwestern erreicht haben, das muß im höheren, ja höchsten Maße von Maria, der Gottesmutter ausgesagt werden. Dann werden drei Gliederungspunkte genannt: Erleuchtung (illuminatio), freie Wahl (electio) und Glückseligkeit (felicitas). Diese bestehen in einem bestimmten Verhältnis: Die Erleuchtung ist die Voraussetzung für die richtige Auswahl, die zur Glückseligkeit führt. Der erste, umfangreichste Teil über die Erleuchtung (n.3-20) entwickelt eine von der neuplatonischen Philosophie inspirierte Einheitsmetaphysik. Das Eine Notwendige aus dem Evangelium wird identifiziert mit dem absoluten Einen. Eine hochspekulative Theorie über dieses Eine zeigt die seinsmäßige Vorrangstellung dieses Einen Notwendigen vor allen anderen Einzelseienden. Die menschliche Vernunft als Abbild der ewigen Vernunft, des Logos, strebt nach der Wahrheit und dem Leben (n.3). Die menschliche Vernunft, die gebunden ist an einen Körper, kann daher nicht die volle Wahrheit berühren (n.4). Um diesem Mangel zu begegnen, hat Gott in Jesus die absolute Vernunft in die Welt gesandt, um die Menschen zu unterrichten über den Weg zur Wahrheit (n.5). Zwei Wege gibt es für die Vernunft: Hinwendung zum Vielen und zur Verwirrung oder Hinwendung zum Einen und zur Ruhe (n.6). Die vielen Dinge führen nicht zur Ruhe, sondern zur Verwirrung (n.7). Das Eine ist das Notwendige und als Urbild das Maß der Vollkommenheit (n.8). Die Philosophen, Platon und Dionysius, zeigen das Eine als Ursprung von allem (n.9). Das Eine hat seine Vorrangstellung aus sich selbst (n.10). Das Eine ist vor jeder Andersheit und nicht vervielfältigbar (n.11). Die Geschöpfe stehen zum Einen im Verhältnis der Ähnlichkeit und der Verähnlichung in jeweils einzigartiger Weise (n.12). Die Wahrheitssuche in den vielen Dingen hat nur Sinn, wenn in

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ihnen das Eine als ihre Ursache gesucht wird (n.13). Alle Geschöpfe sind nur insofern, als sie ein Eines sind in Verähnlichung an das Eine (n.14). Die Wahrheit erreichen wir nur in der ähnlichmachenden Angleichung an das Eine (n.15). Die Berührung des Einen mit der Vernunft vermittelt Ruhe und Beglückung (n.16). Ein Beispiel aus der Erfahrungswelt der sinnlichen Wahrnehmung kann die Abhängigkeit von und Teilhabe am Einen erläutern (n.17). Wie die menschliche Vernunft in ihrer Erkenntnis die Kraft zu einen hat, so hat das absolute Eine die Kraft die Dinge zu einer Einheit zu führen (n.18). Maria Magdalena hat zu Füßen Jesu sitzend das Eine Beste gewählt, Maria, die Gottesmutter, aber in weit höherem Maße (n.19). Die Vernunft, ausgerichtet auf das Gute, verkostet in ihrem Streben das Eine Notwendige als das Beste, wie es auch Maria, der erleuchtete Turm, verkostet hat (n.20). Die Erleuchtung über das Wesen des Einen Notwendigen führt so zum zweiten Punkt. Der zweite Teil, über die rechte Auswahl (n.21-28), zeigt die beiden christlichen Lebensformen, das tätige Leben (vita activa) und das der Betrachtung gewidmete Leben (vita contemplativa). Die beiden Lebensformen stehen nicht in Konkurrenz zueinander, sondern die tätige Lebensform ist die Vorstufe für die kontemplative Lebensform. Das Haus der Schwestern symbolisiert die Kirche, die Schwestern selbst zwei Lebensformen des Christen, die eine bezogen auf die Liebe zum Nächsten, die andere bezogen auf die Liebe zu Gott (n.21). Die Werke der Nächstenliebe können sehr viel an Verwirrung bringen, sind aber auch als Vorstufe zur zweiten Lebensform dienlich (n.22). Die zweite Form christlichen Lebens kann bis zur Entrückung des Geistes in die Sphäre des Einen gelangen (n.23). Die Anwesenheit Gottes in der entrückten Seele (n.24). Der Aufstieg von der sinnlichen Wahrnehmung zur Entrückung des Geistes (n.25). Die drei Stufen der Kontemplation (n.26). Maria, die Gottesgebärerin, hat in der aktiven Lebensform die höchste Stufe erreicht (n.27), ebenso in der kontemplativen Lebensform (n.28). Der dritte Teil, über die Glückseligkeit (n.29-35), behandelt im Anschluß daran das Strebensziel des christlichen Lebens. Sie beinhaltet das ewige, unvergängliche Leben, wie es die Gottesmutter im höchsten Maße erlangt hat, woran uns das Fest der Aufnahme Mariens in den Himmel erinnert. Eine Überleitung führt zum dritten Punkt: das Ziel der Pilgerfahrt der Seele (n.29). Allein die Liebe gewährt der Seele das ewige Leben (n.30). Die Liebe als das Leben der Seele vermag das Eine Notwendige als das Beste zu erlangen (n.31). Würde der Seele das Eine Notwendige genommen, verliert sie das Leben (n.32). Die Jungfrau Maria hat die Gnade des glückseligen Lebens erlangt (n.33), und zwar in höherem Maße als alle anderen Heiligen (n.34). Dies bezeugt auch ihr Tod und ihre Aufnahme in den Himmel (n.35).

Predigt LXXI: Maria hat den besten Teil erwählt

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BEMERKUNGEN Nikolaus hat des Öfteren über die beiden christlichen Lebensformen gepredigt. In der vorliegenden Predigt benutzt er z.B. Predigt VIII als Quelle, führt dies aber weiter aus.

LITERATUR Jasper Hopkins: Marta y María como símbolos de la unidad y la alteridad: comentarios sobre el Sermón LXXI de Nicolás de Cusa, in: Jorge M. Machetta/Claudia d’Amico (ed.): Nicolás de Cusa: identidad y alteridad Pensamiento y diálogo, Buenos Aires 2010, 137-149.

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Predigt LXXI Maria hat den besten Teil erwählt (1) „Maria hat den besten Teil gewählt, der nicht von ihr genommen wird“ (Lk 10,42), im zehnten Kapitel des Lukasevangeliums. Wir feiern den Festtag, an welchem in der glorreichen Jungfrau Maria, die unsere gütigste Fürsprecherin bei Sohn ist, unsere menschliche Natur besteht als eine, die über die Chöre der Engel hinaus zu den himmlischen Reichen erhoben worden ist. Indem wir sie heute lobpreisen, kommen wir an diesem Ort zusammen, damit wir durch die Mutter der Barmherzigkeit selbst es verdienen, Verzeihung und Gemeinschaft mit ihr in den himmlischen zu erlangen; wir wollen sie grüßen und zu erlangen suchen, daß ich über deren Aufnahme etwas zu unserer Erbauung in würdiger Weise zu sagen vermag. (2) Die Worte des Themas können einem mit Vernunft begabten Geist, der „den besten Teil erwählt hat“, passend gedeutet werden, so wie auch das Evangelium (Lk 10,38-42) selbst durch seine Überlegung dem Feste angemessen ist. Denn wenn zu den Füßen Jesu zu sitzen und sein Wort zu hören und in dem Einen Notwendigen frei zu sein und jenen Teil zu wählen, der ein solches Bestes ist, das niemals weggenommen wird, wenn das in Maria Magdalena wahr ist, ist es auch in Maria selbst am allerwahrsten, die Theotokos ist, das heißt Gottesgebärerin. Daher können wir gemäß dieser Überlegung zu unserer Belehrung bedenken, daß es das Ziel unserer vernunftbegabten Natur ist, die Glückseligkeit zu erlangen. Jener aber geht die Wahl voraus. Man muß nämlich die Glückseligkeit auf die Weise der Vernunft zu erlangen suchen; daher geht die freie Wahl voraus. Es kann aber das völlig Unbekannte nicht erwählt oder ersehnt werden; also geht die Erleuchtung der Wahl voraus. Gemäß diesen drei wollen wir etwas entnehmen. (3) Und was die Erleuchtung betrifft, müssen an erster Stelle die Gelehrten betreffs der Worte Christi eine gewisse tiefgründige Lehre entnehmen, zum Beispiel auf welche Weise unser vernunftbegabter Geist teilhat am Wesen der göttlichen Vernunft, die Wort oder Logos genannt wird. Und deswegen spüren wir aufgrund jenes göttlichen Lichtes, das „jeden Menschen, der in diese Welt kommt, erleuchtet“ (Joh 1,9), daß diese durch ein eingeborenes Verlangen in uns in der Möglichkeit des Auffassens diese sind, die das fleischgewordene Wort ist, wie er bekennt, nämlich die Wahrheit, das Leben und der Weg (Joh 14,6). Wenn nämlich die göttliche Vernunft, nach deren Ebenbild unsere Vernunft geschaffen ist, und von der sie das Licht der Vernunft hat, jene zu sein bekennt, nicht verwunderlich, wenn wir infolge eines großen Verlangens uns zur Wahrheit hinneigen, zum Leben, das heißt dem wahren und unvergäng-

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lichen, und daß in uns das ewige Gesetz ist wie in seinem Abbild, welches der Weg zur Wahrheit und zum Leben ist. (4) Weil aber unsere Vernunft, die Licht vom göttlichen Licht ist, „leuchtet in der Finsternis“ (Joh 1,5) dieser körperlichen und fleischlichen Substanz, so, daß ihre geistige Natur im körperlichen Dunkel nicht begriffen werden kann, ja sogar nur fähig ist, – der vernünftige Geist existiert gleichsam wie in einem fleischlichen Kerker – durch die Fenster eines Körpers geistige Nahrung zu erjagen, bleibt alle Nahrung, da sie durch ein sinnlich wahrnehmbares Mittel geschöpft wird, in einem Mißverhältnis, so daß sie nicht wahr und lebenspendend und so weit geformt ist, wie es der vernünftige Geist zustande bringt. Daher vermag die im Fleisch verkörperte Vernunft das Gesuchte nicht in Wahrheit zu berühren, so wie auch das Auge durch ein unreines Mittel, zum Beispiel ein gefärbtes Glas, nicht die Wahrheit eines Gegenstandes berühren kann. (5) Auf diese Unwissenheit herabblickend sandte Gott die absolute Vernunft selbst oder das Wort oder den wesensgleichen Sohn ins Fleisch, damit er uns unterrichte, auf welche Weise wir die ersehnte Wahrheit und das Leben, das es in dieser Welt nicht gibt, zu berühren vermöchten. Und gerade darüber hat uns auf eine ausgebreitete und leicht faßliche und kurze Weise in diesem Evangelium (Lk 10,38-42) unterrichtet; dort belehrt er uns, auf welche Weise die vernunftbegabte Seele, die in Martha ebenso gewesen ist wie in Maria, eine zweifache Übung im Aufsuchen der Wahrheit oder des Lebens oder des Weges beherrschen kann, so daß sie sich so im Geiste ernährt, das heißt entweder in der Vielheit einer häufigen Übung oder im Umkreis einer einzigen Übung. Was in der Vielheit ist, ist Verwirrung stiftend und zeitgebunden und besitzt nicht die Wahrheit, das Leben oder den Weg, weil die Wahrheit als unverwirrbare dauerhaft ist. Und das, was den Geist mit unvergänglichem Leben ernähren soll, kann nicht etwas in mehrere Dinge Geteiltes sein, in die hinein die Verwirrung stiftende Unbeständigkeit fällt. Daher ist das Sichabmühen im häufigen Dienst (Lk 10,40) um viele Dinge kein Sichfortbewegen auf dem Weg zum ewigen und unzerstörbaren Gesetz. (6) Deshalb, weil nun einmal die vielen Dinge dem Geist, der den Frieden sucht, Beunruhigung einbringen, daher ist das Eine notwendig, daß der Geist wähle. Das Eine nämlich ist das Einigende, daher das LebendigMachende und das Ewig-Machende. Die Vernunft kann also entweder jenen Teil wählen, der , sich nach unten gewandt in den Dienst um die vielerlei Dinge hin und her zu wenden, die ohne vielfältige Aufteilung nicht sein können und die daher Verwirrung stiftend sind, oder er kann nach oben gewandt frei sein im Einen, welches der Ursprung ist, in sich bestehend ewig und in Ruhe, frei von jeder Verwirrung; wenn sie, , das Eine Notwendige als Ziel erwählt, erwählt sie den besten Teil, der nicht von ihr genommen wird, in dem sie auf die Weise der Ewigkeit Ruhe findet.

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Die vielerlei Dinge nämlich, weil sie viele sind, können weder aus sich sein noch durch sich bestehen noch in sich ruhen, da der Ursprung der Vielheit das Eine Notwendige ist. Denn das, was notwendig ist zur Existenz der vielerlei Dinge, ist das Eine, ohne das es nicht möglich ist, daß die vielen sind. (7) Das Eine also, das notwendig ist zum Bestand der vielen Dinge, ist Ursache, Ursprung, Mitte und Ziel, aus dem, durch das und in dem (Röm 11,36) die vielen Dinge bestehen. Sich also zu ermüden in den vielen Dingen ist nicht der rechte Weg, zur Ruhe fortzuschreiten, da die vielen Dinge nichts aus sich heraus besitzen, sondern allein das Eine ist deren Ruhe. Aber allein das Eine, da es das Ziel der Sehnsucht des vernunftbegabten Geistes ist, ist so notwendig, daß allein in ihm selbst wie in dem in absoluter Weise Notwendigen der vernunftbegabte Geist gleichsam wie im Ursprung, der Mitte und dem Ziel seiner selbst und seines Verlangens, das heißt der Wahrheit, des Lebens und der Ewigkeit, in glückhafter Weise Ruhe finden kann, weil allein dann der Geist nach einer vollendeten Reflexion über sich selbst zurückkehrt. Denn er berührt nicht so das Ziel gleichsam wie in einem Anderen, so wie der, der in der Vielheit das Ziel sucht. Dieser kann nämlich das Ziel nur in einem Anderen finden; und daher findet er es nur in der Weise des Anderen, und zwar so sowohl in mangelhafter als auch Verwirrung stiftender Weise. Wer aber in dem Einen Notwendigen das Ziel sucht, findet es nicht wie in einem Anderen, sondern wie in dem Einen Notwendigen. (8) Das Eine nämlich berührt sich in seinem Einen Notwendigen, durch das es ein Eines ist, allein in unvergänglicher Weise, so wie die Form eines Siegels im Wachs allein in einer Weise ohne Mängel sich berühren kann im Siegel, dessen Abbild es ist. Denn es berührt sein eigenes Maß in der Wahrheit allein dort. Denn das Urbild ist auch das wahre Maß des Abgebildeten. Und so wie der Schüler vollkommen ist, so bald als er so wie der Lehrer geworden ist und dann die Ruhe berührt, so erlangt unsere Vernunft in vollendeter Weise in dem Einen Notwendigen die Ruhe, das heißt in der unendlichen Vernunft selbst, weil nicht wie in irgendeiner anderen, sondern der uns eigenen. Sobald sie nämlich als in jener ruhend erschienen sein wird, wird sie sein so wie jene, wie wir aus der Lehre der Heiligen in hinreichender Weise unterrichtet werden. (9) Und nun können wir, gleichsam belehrt aufgrund dieser Lehre Christi, die tiefsinnigsten Bemühungen aller Philosophen, die denen, die sich darum bemühen, sehr schwer verständlich erscheinen, mit einer leicht Erklärung begreifen. Die Platoniker nämlich, so wie es aus dem Buche „Parmenides“ Platons erhellt, wenden sich ab von der Vielheit zum Einen und stimmen überein, daß das Eine in der Tat die absolute Notwendigkeit selbst ist und der Wesensgrund von allen Dingen, die sind.

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Alles nämlich ist nur insoweit, insoweit es ein Eines ist, wie es Boethius sagt „Über die Einheit und das Eine“.1 Und das in absoluter Weise Eine ist alles in der Weise der Einheit, wie es Dionysius sagt gegen Ende „Über die göttlichen Namen“.2 Es faltet nämlich alles zusammen wie die Ursache. (10) Es geht nämlich das Eine allem voraus, wie unsere deutsche Volkssprache es uns lehrt, weil wir vor jedem Aussprechbaren immer die Einheit vorausschicken. Wir sagen nämlich ein Mensch, eine Wesenheit, eine Vereinigung, eine Substanz, eine Quantität, ein Engel, eine Tugend, und so bezüglich eines jeden Einzelnen. Daraus haben wir jedes Aussprechbare nach dem Einen. Durch es selbst, aus ihm selbst und in ihm selbst haben alle Dinge auf ihre eigene Weise teil am Einen; und das Eine ist auf unaussprechliche und unzuordenbare Weise über alles hinaus emporgehoben. Was auch immer benannt wird, ist weniger als dieses selbst, so wie was auch immer von einem Staatsgebilde benannt wird, weniger ist als dieses selbst, weil mit dem Namen Staatsgebilde alles in der Weise der Zusammenfaltung zusammenkommt, was es im Staatsgebilde gibt. So , was auch immer vom Universum , weniger als das Eine. Daher wird Martha, die durch die vielfältigen Dienste zu den vielen Dingen herabsteigt, verdienter Maßen in Verwirrung versetzt, weil allein durch das Eine alle Dinge sind. (11) Denn das Eine, da es Eines ist, kann nicht aus einem Anderen sein, weil vor jeder Andersheit die Einheit ist, und zwar so, daß die Andersheit ein Abfall von der Einheit oder ein Mangel im Zugang zum Einen ist. Es handelt also das Eine wie ein Eines; das heißt so wie es Aufgabe des Warmen ist, warm zu machen, und des Kalten, kalt zu machen, so ist es Aufgabe des Einen, zu einen. Von daher: Das Handeln des Einen ist es, zu seiner eigenen Einheit das Nicht-Eine zu rufen. Und da das Eine seiner Natur nach unvervielfältigbar ist, – weil zwei Mal das Eine nicht das Eine ist, sondern etwas anderes als das Eine, nämlich zwei – steigt deshalb dann, sobald das Eine das Nicht-Eine, das heißt das reine Nichts, zu seiner eigenen unberührbaren Einheit ruft, das Geschöpf empor in Verähnlichung. So hast du: Weil das Eine , deshalb alle . Und so ist bei allen Dingen das Eine das Notwendige. So erhebt sich also das, was zutiefst nichts an Einheit besitzt, das heißt das reine Nichts selbst, durch die Allmacht des Einen in die Verähnlichung mit dem Einen.

1 2

Vgl. Dominicus Gundissalinus: De unitate et uno (Herders Bibliothek der Philosophie des Mittelalters 11, S. 3, 8-9). Vgl. Ps.-Dionysius: De divinis nominibus, c.4 § 35.

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Jedes Geschöpf also, da es nicht sein kann wenn nicht als ein Eines, wird sich in einer ähnlichmachenden Angleichung an das absolute und übererhabene Eine finden. (12) Mehrere Geschöpfe können aber nicht den einen und ebendenselben Grad der ähnlichmachenden Angleichung haben, da das Eine unvervielfältigbar . Daher wird jedes Geschöpf auf seine eigene einzigartige Weise in der ähnlichmachenden Angleichung an das absolute Eine gefunden. Da aber mehrere Geschöpfe nur in der ähnlichmachenden Angleichung an das absolute Eine gefunden werden, werden sie von daher in der Verschiedenheit der Einzigartigkeit übereinstimmend sein; und das ist die Harmonie der Welt. Jedes Geschöpf also, so wie es vom Einen hat, daß es ein Eines ist, so hat es auch zur Einheit zu führen. Daher wird jedes Wirken der Geschöpfe gleicherweise in der ähnlichmachenden Angleichung gefunden. Sofern das Warme warm macht, ruft es das Nicht-Warme zu sich. Da aber bis zur Identität mit seiner unberührbaren Einheit das Nicht-Warme nicht berühren kann, daher erhebt es sich in die ähnlichmachende Angleichung. So bezüglich der Vernunft, deren Wirken in der ähnlichmachenden Angleichung gefunden wird, da es ihre Aufgabe ist, das Nichtvernunfthafte zur Einheit mit ihr zu rufen. So in allen natürlichen und kunstgefertigten Dingen. (13) Und daher ist dies die bewundernswerteste Lehre Christi: Wer auch immer die Wahrheit suchen will, soll sich nicht ermüden in der Vielheit der seienden Dinge, das heißt, daß er untersuche, was der Himmel oder was die Erde und so bezüglich aller ; denn wenn dies alles für sich betrachtet wird, wird nichts an Wahrem in diesen selbst wie in den vielen Dingen gefunden werden, sondern Verwirrung des Geistes, weil er nach unendlichen ermüdenden Bemühungen in Erfahrung bringt, nichts an Genauigkeit berührt und die Zeit unnütz vertan zu haben. Aber sobald er in allen Dingen sich zum Einen wendet, dann erfährt er das Eine selbst als die absolute Notwendigkeit von allem, weil , wie Dionysius3 sagt, das absolute Eine daher alles . Denn die Ursache der Ursachen und eines jeden Seins ist nicht eine andere, wenn nicht, weil das Eine ist. Dieser sucht in allen Dingen den Frieden und die Ruhe, weil er das Eine als die notwendige Ursache von allem berührt; dieser benutzt in richtiger Weise das mit dem Finger Gottes geschriebene Buch,4 das heißt die geschaffene Welt, der jedes Geschöpf als eine ähnlichmachende Angleichung weiß, der weiß, daß der eine Himmel in der ähnlichmachenden Angleichung an das absolute Eine sich 3 4

Vgl. Ps.-Dionysius: De divinis nominibus, c.13 § 2. Bonaventura: Breviloquium, pars 2, c.11 (Opera 5, 229a). Vgl. Predigt VIII, n.16, 16-17.

Predigt LXXI: Maria hat den besten Teil erwählt

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erhoben hat aus dem Nicht-Einen gerufen, und daß er sich umso mehr angenähert hat in der ähnlichmachenden Angleichung an das Eine, je mehr er sich vom Nicht-Einen emporhebt. (14) Dieser ruht zu den Füßen der sinnlich wahrnehmbaren Welt, so daß er hört, was in ihm der vernunftbegabte Geist spricht, weil er in jedem beliebigen Geschöpf wie in einer ähnlichmachenden Angleichung an das Eine das Eine Notwendige selbst erblickt und es selbst erwählt. Er sieht dort einen Baum und da einen Stein und dort ein Lebewesen und da einen Stern. Von daher sieht er leicht ein, da all jene in der Einheit allein übereinstimmen, daß folglich alle diese vom Einen her sind, von dem sie haben, daß sie in einem Einen geeint sind. Und weil etwas nicht sein kann wenn nicht ein Eines, haben alle ihre Einheit von der einzigen . Weil aber der Baum nicht Stern ist und auch nicht Stein, daher ist er nicht der Wesenheit nach von dem Einen, daß er Baum oder Stein oder irgendetwas anderes Benennbares sei, sondern das absolute Eine ist vor allem Benennbaren. Und alles auf eine Weise Benennbare, auf die es als ein Eines benannt wird, hat , zu dem es berufen ist, weil es das unvervielfältigbare Eine nicht berührt. Und daher besteht es in der ähnlichmachenden Angleichung, so daß der eine Himmel eine solche ähnlichmachende Angleichung an das Eine ist, die Himmel genannt wird, und ein Mensch ähnlichmachende Angleichung an das Eine ist, die Mensch genannt wird, und eine Wesenheit ähnlichmachende Angleichung an das Eine ist, die Wesenheit genannt wird, und eine Tugend ähnlichmachende Angleichung an das Eine ist, die so genannt wird. (15) Und dies ist die Leichtigkeit der schwierigen : Wir sollen da sitzen und erkennen, daß in allem das Eine Notwendige und alles in ähnlichmachender Angleichung an dieses besteht, und sollen hören, auf welche Weise in unserem Verstand alle Dinge das Eine aussprechen, und daß alle sich bemühen, das Eine selbst auszudrücken durch ähnlichmachende Angleichung, und daß sie es dennoch nicht bewirken können, weil die ähnlichmachende Angleichung immer vom Einen abfällt. Unsere vernünftige Einsichtskraft, hingeneigt zum Wahren, wendet sich so hin zur Wahrheit, der Gleichheit oder der höchsten Stufe der ähnlichmachenden Angleichung an das Eine und sie rührt an das unberührbare Eine, weil es allem Einsehbaren und Sagbaren vorausgeht, in der höchsten Stufe der ähnlichmachenden Angleichung mit der Gleichheit, das heißt freilich: in der Wahrheit des Einen selbst. Denn die Wahrheit des Einen ist die höchste Genauigkeit der Ähnlichkeit. Von daher ist diese Genauigkeit, welche Wahrheit genannt werden kann, jene, in der unsere Vernunft das absolute Eine anzurühren begehrt. Wir werden angeregt zur Wahrheit hin, weil die Wahrheit die höchste Gleichheit mit dem Einen ist. Sobald betreffs des Goldes wie das wahre Gold hervorgebracht wird, dann nämlich läßt nichts anderes

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als Gold zu. Das Wahre also ist höchste Gleichheit und ähnlichmachende Angleichung, indem es nichts an Andersheit zuläßt. (16) Sobald wir daher das Eine in der Wahrheit berühren, die auch Logos oder Wort oder Sohn genannt wird, berühren wir das Eine selbst, so wie es ist, das heißt in einem genauen Ähnlichkeitsbild. Und so das Eine zu berühren, ist, es selbst zu berühren, wie es durch die Vernunft berührbar ist, mag es in sich auch jede Vernunft überragen. Und wofern es so durch die Vernunft berührt wird, wird dann in der Wahrheit das vernunfthafte Leben in den Zustand der Ruhe und der Beglückung gelangen, das dann nicht aufhören kann. Und so würde der erwählte Teil des Einen Notwendigen niemals weggenommen werden von der Seele. Und weil die heilige Lesung des Evangeliums uns unterweist, daß Maria zu Füßen Jesu gesessen und die Lehre Christi gehört hat (Lk 10,39), dann müssen auch wir dies herausholen: Es sind dies Worte Christi gewesen, um Maria, die erleuchteter Turm genannt wird,5 zu unterweisen, auf welche Weise der Geist, der nach Unsterblichkeit des vernunfthaften Lebens aus dem innersten Verlangen seiner Natur heraus strebt, wie der erleuchtete Turm belehrt worden ist, sobald er weiß, daß das, was er erstrebt, das Eine ist, was nicht in der aufgeteilten Vielheit gefunden wird; gleichwohl könnte ohne es selbst nichts sein. (17) Gleichsam wie wenn ein lebendiges Auge die Wahrheit des Lebens suchen wollte, um zu wissen, wo es wahrhaft lebt, das Auge sich nicht zu irgendeinem der Glieder des Körpers hinwenden darf, so als ob es von jenem das Leben hätte; denn kein derartiges ist Ursache oder Wesensgrund seines Lebens, obgleich ihm die Glieder einzureden scheinen, ihm das Leben zu geben, zum Beispiel die Hände, die mit Nahrung bedienen und der Magen, der sie verdaut, und der Mund und die Zähne und alle anderen Glieder, die scheinbar zusammenwirken, daß das Auge lebt. Denn all jene so unterschiedenen lebendigen Glieder sind nicht das wahre Leben des Auges, sondern am wahren Leben des Auges auf ihre eigene Weise Teilhabende; jedes beliebige Glied von ihnen besitzt das Leben auf seine Weise in der ähnlichmachenden Angleichung an das ursprunghafte Leben, zu dem sie hingewandt sind und in dem sie Ruhe finden, dem alle dienen. Jene leben nämlich zusammen mit dem Auge aufgrund des einen Lebens, das die Seele ist. Sobald daher das Auge der Meinung wäre, in jenen Vielen sei die Quelle seines eigenen Lebens, fände es auch, daß das Leben in diesen selbst sich in Verwirrung befindet; es geriete in Verwirrung, der Meinung gewesen zu sein, in den vergänglichen Dingen die Wahrheit seines eigenen Lebens. Von daher: Sobald es sieht, daß die Hand in Leben nachläßt, weil sie verdorrt, und es nichtsdestoweniger noch lebt, weiß es, daß das

5

Vgl. Hieronymus: Liber interpretationis Hebraicorum nominum (CCSL 72, p.147, Lag.70,1: Maria illuminata; p.152, Lag.74,21: Maria illuminans vel illuminata), vgl. auch Predigt XLIX, n.5, 18-19.

Predigt LXXI: Maria hat den besten Teil erwählt

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Leben der Glieder von dem einen wahreren Leben abhängt, das nicht ermattet in seiner Wahrheit, auch wenn ein Glied ermattet. Zu dem einen Leben also, durch dessen Teilhabe jedes Leben der Glieder das ist, was es ist, wendet es sich gleichsam wie zu der einzigen und notwendigen Ursache aller lebendigen Glieder, das heißt zur Seele selbst, – und zwar zu ihr , wie sie den besten Teil erwählt – gleichsam wie zur Wahrheit seines eigenen Lebens, und pflegt sie und liebt sie wie die Quelle seines Lebens. Und es würde das Leben vom Auge nicht weggenommen werden, solange das Auge in der Einheit des Lebens der Seele geeint verharrt. Und dann sieht es, auf welche Weise die lebendigen Glieder, wie die lebendige Hand, der Magen etc. um ihrem Leben zu dienen dieses nicht durch ein Zusammenlegen des Lebens haben. (18) Die Vernunft besteht im Menschen gleichsam wie Gott in der Welt. Sie ist nämlich nicht versenkt , sondern losgelöst. Die eine Vernunft selbst ruft alle Dinge zu sich, so daß sie leben in der Einheit ihres Lebens. Aber ihre Einheit ist unvervielfältigbar. Alle Glieder des Menschen haben das Leben in ähnlichmachender Angleichung an ihr Leben, indem sie auf ihre Weise an ihrem Leben teilhaben. In gleicher Weise aber teilt sich in einheitsstiftender Weise das Leben der vernunftbegabten Seele selbst mit; sie wird aber in mannigfaltiger ähnlichmachender Angleichung in den verschiedenen Gliedern gefunden, anders nämlich und in dunkelster Weise in den Haaren und Fingernägeln, anders in den Händen und noch klarer in den Augen. So verhält sich das absolute Eine selbst bezüglich aller Glieder dieser Welt, deren jedes beliebige auf seine eigene Weise ein Eines ist in ähnlichmachender Angleichung an das absolute Eine. Und so wie die eine Vernunft in ihrer Einheit alle auf ihre Weise zu einer Einheit zusammenfaltet, das ist in vernunfthafter Weise, so das absolute Eine alles in der Weise der Einheit in absoluter Weise . Und so wie wir von den ausgefalteten durch die Vernunft in zur Einheit führender Weise zur Zusammenfaltung geführt werden, so daß wir ein klein wenig die Einheit der Vernunft zu berühren vermögen, so werden wir von den vielen Einheiten in zur Einheit führender Weise emporgehoben zum absoluten Einen, so daß wir zu dem Einen Notwendigen gelangen, was deshalb das Beste , weil das übererhabene Eine ist. Aufgabe des Guten ist es nämlich, zu sich zu rufen und gut zu machen, weil das Eine Beste, dessen Aufgabe es ist, zu einen, das absolute Eine ist, genau und in höchster und bester Weise angeglichen. (19) Wenn also Maria Magdalena zu den Füßen Jesu sitzend (Lk 10,39) aufgrund des Hörens seiner Worte zur Wahl des Besten auf ihre Weise, das heißt freilich wie Maria Magdalena, gelangt ist, o wie ist dann die in hervorragender Weise über alle Himmel emporgehobene Jungfrau Maria zur Wahl des Besten

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geführt worden, die es verdient hat, Mutter Jesu und des Wortes und des Lichtes und der Vernunft und der Wahrheit zu sein! O wie hoch über alle vernunfthafte Schauung hinaus hat sie selbst jenes unsichtbare Eine geschaut, und mit wie gesundem Geschmack jene Eine Quelle des Lebens gekostet! Wenn David dazu erhoben worden ist, daß er sagt: „Kostet und seht, wie gütig der Herr ist“ (Ps 34[33],9), hat gerade sie selbst verdientermaßen je höher als alle Propheten um so vollkommener dieses selbst geschaut und verkostet, bei dem die Quelle des Guten ist, die allein dies Eine Gut ist, nach dem alle streben. Sie hat also selbst diesen „besten Teil erwählt, der nicht von ihr genommen wird“ (Lk 10,42), weil zu wählen Einswerden ist. (20) Dem Besten geeint ist also die auswählende Kraft Marias, das heißt der vernunfthafte Geist. Es kann also die Seele nicht abgewandt werden vom wählbaren durch sich selbst Besten, weil es Grund seiner Wahl ist. Wenn alle Dinge das Gute von Natur aus erstreben,6 dann kann die Vernunft es niemals nicht wählen, da sie ja nun einmal vernunfthafterweise das Beste erwählt hat. Dann aber wählt sie vernunfthafterweise, sobald sie in vernunfthafter Weise das Eine Notwendige selbst vorausverkostet hat. Und dieses Verkosten kommt aus der Anordnung der Speisung des Lebens des Geistes, die durch die Erleuchtung des Wortes Gottes geschieht, das erleuchtet, wie Maria Magdalena sitzend durch Hören des Wortes Jesu erleuchtet wurde. Obgleich daher viele Töchter oder vernunftbegabte Seelen, erleuchtet durch das Wort des Lebens, auf dem Weg der Wahl des Besten Reichtümer gesammelt hatten (Spr 31,29), ist allein jener in höchster Weise erleuchtete Turm, Maria,7 die Gottesgebärerin, über die Welten hinausgeschritten, so daß ihr verdientermaßen jenes in Erhabenheit zukommt, von dem das Evangelium sagt, daß es die Sünderin Maria Magdalena erlangt hat. Und das zum ersten Teil. (21) An zweiter Stelle kann die Lesung des heiligen Evangeliums verstanden werden, daß sie die lebenstiftende Übung eines jeden Christen zum Ausdruck bringt, und dies freilich auf eine derartige oder ähnliche Weise. Denn als Jesus in diese Welt gleichsam wie in eine gewisse Burg (Lk 10,38) des Universums eingetreten war, ist er in einem Hause der Burg aufgenommen worden, das heißt in der Kirche, die sein Haus genannt wird. Und eben in diesem Hause, wo Jesus aufgenommen worden ist, sind zwei Schwestern, welche die Übungen eines Christenmenschen symbolisieren; mögen sie auch verschieden sein, sind sie dennoch in ebendemselben Hause der zwei Schwestern: Die eine Übung ist die bezüglich der Liebe zum Nächsten, die andere bezüglich der Liebe zu Gott. 6 7

Vgl. Aristoteles: Ethica Nicomachea I, c.1 (A 1094 a 2-3). Vgl. oben Anm. 5 zu Hieronymus.

Predigt LXXI: Maria hat den besten Teil erwählt

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Bezüglich der Liebe zum Nächsten ist die Übung in Martha abgebildet, die Jesus aufgenommen hat und sich in zahlreichen Diensterweisen abmühte (Lk 10,40). Die Werke, die wir Christus erweisen, den wir speisen, tränken, besuchen auch im Nächsten, sind als Werke der Christen Gott angenehm, weil die Werke der Barmherzigkeit um Christi willen in der Liebe zum Nächsten geleistet . (22) Aber sie haben sehr viel Verwirrung, weil nicht immer die Geneigtheit des Gemütes im Dienst vorhanden ist, entweder aufgrund der Gebrechlichkeit des Fleisches oder aus Mangel an zum Dienst nötigen Dingen oder wegen Rücksichtslosigkeit und Ungehorsam derer, die einen Dienst erweisen sollen, oder aufgrund vieler anderer Hindernisse, die oft Verwirrung herbeiführen, so wie körperliche Ermüdungen, Nachlässigkeit, Lauheit etc. Dennoch ist diese Lebensform Gott angenehm und verdienstvoll in vielerlei Hinsicht, um wieviel mehr der Wirkende selbst eine größere Liebe gehabt hat; und es soll die Lebensform derer sein, die als Christen Fortschritte machen wollen. Denn nach dem Gregor8 ist es notwendig, daß die Christen auf dem Felde der Handlungen durch die leiblichen und geistigen Werke der Barmherzigkeit sich als glaubhaft erweisen und durch derartige heilige Übungen im häufigen Dienst an Christus abmühen, damit sie so zu einer christusförmigen Haltung gelangen, die Demut und Herzensgüte ist; folglich können sie sich so nach Überwindung der Verwirrungen und Zerbrechen der Widerwärtigkeiten zu dem Einen Notwendigen und Besten zutiefst hinwenden. (23) Darauf gibt es dann die Lebensform, die dieser folgt, Gott in einfacher Weise durch die gottförmige Liebe anzuhangen; das bedeutet, nach den Mühen des aktiven Lebens, wobei einer durch rechtmäßige Übungen das Fleisch bezähmt hat und bezüglich der ihm von Gott erwiesenen Wohltaten sich in der Liebe dem Nächsten barmherzig gemacht hat, zum Sabbat der Ruhe zu gelangen und in dieser irdischen Weltzeit frei zu sein, das heißt auch zu sehen, wie gut der Herr ist (Ps 34[33],9); folglich werden so in ihm selbst weder Habsucht noch Stolz noch Ausschweifung noch Gefräßigkeit noch Trägheit noch Zorn noch Neid einen Platz haben, sondern allein Demut. Dann nämlich hat er sich schon gewöhnt an den Reiz der heiligen Gebete und der Zerknirschung des Herzens; nach Befreiung von den Geschäften der Welt erstrebt er allein in der Liebe zu Gott mit dem Auge des Geistes die Freude der Glückseligkeit mit heißem Brand des Verlangens durch ein Vorverkosten und, so weit das durch ein göttliches Geschenk zugestanden wird, ein SichAufschwingen in entrückender Weise zu ihm selbst in einem Außer-sich-Sein des Geistes.

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Vgl. Gregorius Magnus: Moralia in Iob VI, c.37, n.59 (CCSL 143, p.329, lin.142159), vgl. Predigt VIII, n.12, 19-21.

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Dies ist der beste Teil des christlichen Lebens, der nicht weggenommen würde. Denn hier wird es begonnen, und in der Ewigkeit wird es vollendet. Hier aber wird es begonnen durch Sitzen und Nachdenken zu den Füßen Jesu in der Demut Jesu selbst, durch Nachdenken, nicht oberflächlich, sondern durch Anziehen jener Form und Aufnehmen seines Wortes im Ohr des Herzens, auf welche Weise er in diese Welt eingetreten und in ihr gewandelt ist. (24) Das Wort aber, das aus dem Haupte der Gottheit herausfließt, ist nicht von dieser Welt, sondern von einer anderen, so daß der sich der Kontemplation Widmende, so entflammt durch das Verlangen nach der Glückseligkeit, seine ganze Daseinsform auf die himmlischen Dinge setzt. Dann nämlich, sobald er so mit ganzem Bemühen zu den himmlischen Dingen hin seufzt, wird aufgrund der Glut der Liebe das Herz geweitet und es wird durch das Zeugnis des Bewußtseins gefühlt, daß Gott anwesend ist; und er wird geistigerweise mit dem Auge der Seele, welches die Vernunft ist, geschaut. Sobald er nämlich in brennender Weise ersehnt wird, ist er anwesend, und dort bereitet er eine Wohnung (Joh 14,2.23), und er bringt sich in jene heiligen Seelen hinein (Weish 7,27). Aufgrund dieser süßen Heimsuchung, durch die er so gleichsam wie ein augenblicklicher Blitzstrahl zeigt, daß er anwesend ist, geht eine Erhebung des Geistes hervor und in den Armen des Geliebten beginnt er ein klein wenig zu seufzen, so daß er nicht nur in ergötzlicher Weise, sondern zarter Weise ihm anhängt; folglich wird er gleichsam mit einer gewissen Gewalt von der Wahrnehmung aller sichtbaren Dinge und dem Gedächtnis abgezogen und vergißt beinahe sich selbst, gemäß jener Stelle aus dem Hohen Lied: „Ich schlafe, und mein Herz wacht“ (Hld 5,2), ähnlich einem Träumenden, der noch nicht schläft. Und diese Liebe zu Gott, begründet durch die Vernunft, macht den Geist trunken und verbindet ihn, von den äußeren Dingen abgelöst, mit seinem Gott. Und je kraftvoller die Liebe und je durchleuchteter die Vernunft , um so kraftvoller reißt sie den Geist zu sich, bis er schließlich alles, was unterhalb von Gott ist, abwirft und gleichsam in einem strahlenden Licht verharrt. (25) Das sinnliche Wahrnehmungsvermögen nämlich für sich vermag Weniges kaum in unbedeutender Weise gedanklich zu durchdringen. Emporgehoben durch die Eingebung eines göttlichen Lichtes schaut es zugleich umso mehr, je höher es über sich selbst hinaus emporgehoben wird. Und weil der Körper das sinnliche Wahrnehmungsvermögen beschwert und herabdrückt und die Geschäfte dieser Welt die Seele zu sich selbst zurückrufen, daher ruft sie mit Paulus: „O ich unglücklicher Mensch! Wer wird mich befreien vom Leib dieses Todes?“ (Röm 7,24) Denn die betrachtende Seele gleitet sofort zurück zu den niedrigen Dingen und nährt sich aus der Erinnerung an die Dinge, die sie in wonnevoller Weise geschaut hat. So berühren fromme Männer infolge des umschriebenen Lichtes heimlich und zart etwas und kehren unter Seufzen zurück zu ihrer Finsternis gemäß dem

Predigt LXXI: Maria hat den besten Teil erwählt

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heiligen Gregor.9 Und auf dieser Stufe offenbaren sich die verschiedenen Arten der Frömmigkeit, das heißt Jubelgesang, Trunkenheit des Geistes, Dahinschmelzen und geistliche Fröhlichkeit. Darauf gelangt man zur Entäußerung des Geistes, bald entsprechend der Stärke der Frömmigkeit, bald entsprechend der Stärke des Staunens, bald entsprechend der Stärke des ausgelassenen Jubels, so daß der menschliche Geist sogar sich selbst nicht begreift, sondern über sich selbst emporgehoben in die Entäußerung hinübergeht. Denn die Flamme, die über menschliches Maß hinaus emporgewachsen ist, löst den Geist des Menschen auf wie Wachs, so wie herausragend Licht das Sehvermögen verdunkelt; und oft wird er infolge der Betroffenheit von der überirdischen Schönheit entfremdet durch die Stärke des überschwenglichen Jubels, sobald er einmal die innersten Dinge der überirdischen Köstlichkeit verkostet und in die Entäußerung des Geistes durch das Übermaß eines ekstatischen Tanzes geführt wird. Und so lange wir dies in uns nicht fühlen, lieben wir zu wenig, weil diese sich nur aus einer glühenden Liebe heraus ereignen. (26) Und es können die Stufen der Kontemplation gekennzeichnet werden aufgrund des Evangeliums, weil die unterste Stufe der Ausweitung gekennzeichnet wird im Sitzen zu den Füßen Jesu. Die Liebe nämlich veranlaßt dies, daß sitzt und sich anpaßt an die Aufnahme des Wortes des Geliebten. Die zweite Stufe der Erhebung des Geistes wird darin gekennzeichnet, daß der Geist durch das Wort des Lebens genährt und nach oben emporgehoben wurde, daß er das wahre Leben schaue. Die dritte Stufe der Entäußerung wird gekennzeichnet in der Auswahl des Besten selbst. Der Geist nämlich, dem das überirdische Leben offenbar gewesen ist, ist hinübergegangen in ein Sich-selbst-entfremdet-Sein durch das Auswählen jenes besten Lebens. (27) Aber unter allen Menschen hat Maria, die Gottesgebärerin, sowohl im aktiven als auch im kontemplativen den besten Teil gehabt. Sie selbst ist nämlich die Heiligste gewesen, weil das durch den Allerhöchsten geheiligte Zelt (Ps 46[45],5) . Von daher ist sie selbst die wahre Martha gewesen, die in ihrem Hause das Wort Gottes gastlich aufgenommen und sich in zahlreichen Diensterweisen um es abgemüht und die Werke der Barmherzigkeit in höchstem Maße ausgeübt hat. Denn da jene Werke aufgrund einer größeren Liebe Stufen besitzen, – entweder weil mehr für einen Bedürftigen oder mehr für einen würdigen Bedürftigen oder aufgrund einer größeren auferlegten Wirkung oder aus mehr als notwendig und weniger als überflüssig, – kamen all diese im höchsten Maße in der Jungfrau Maria zusammen; denn in ihr selbst hat die größte Liebe zu allen Geschöpfen dem am meisten Bedürftigen 9

Vgl. Gregorius Magnus: In Ezechielem II, hom. 2, n.12 (PL 76, 955A-B).

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

erwiesen; niemand Ärmerer nämlich hat unter den Erdenpilgern einem Ärmeren als Jesus, dem würdigsten Armen, erwiesen, weil niemand ein würdigerer Bettler als Jesus . Denn ein Werk der Barmherzigkeit ist größer, wenn es durch einen Bischof als durch einen Laien in gleicher Weise einem Bedürftigen angetan wird. Daher das größte das, was für Gott die größte Wirkung der Barmherzigkeit aufwendet; denn sie hat an Stelle von Gütern elenden Gefangenen Gott als Lösegeld gegeben, den Ausgehungerten zur Wegzehrung, den sich Abmühenden zum Lohn, den Kranken zum Heilmittel. Und mit ihm selbst hat das Himmelreich gegeben. Sie hat nicht die Werke der Barmherzigkeit aus Überfluß getan, sondern aus Notwendigem: Ihrem Sohn, dem Allerärmsten und Fremden hat sie vom eigenen Blut ein vielfarbenes Untergewand (Gen 37,3.23) gemacht, im Schoße ihres Leibes hat sie gastliche Aufnahme bereitet, von ihrem eigenen Leibe hat sie ihn genährt und gesäugt. (28) Und Maria selbst ist in aller Vortrefflichkeit kontemplativ gewesen, von der der Geliebte im Hohen Lied zu sagen scheint: „Wer ist diese, die aufsteigt durch die Wüste?“ (Hld 3,6) etc. und: „Wer ist diese, die voranschreitet gleichsam wie die aufgehende Morgenröte?“ (Hld 6,9) etc. und: „Wer ist diese, die aufsteigt von der Wüste her, reichlich versehen mit Köstlichkeiten, bemüht um den Geliebten?“ (Hld 8,5) Da sie selbst nämlich in geistigem Verkosten die Süße des Einen selbst vor allen Sterblichen voraus tiefer und lichtvoller verkostet hatte, ist sie über alle betrachtende Schau hinausgeschritten (Spr 31,29). Gott nämlich kann nicht außer im höchsten Maße geliebt werden, sobald er einmal mit der Vernunft in höchstem Maße berührt wird. Auch wenn andere Menschen irgendeinmal im Hingerissensein den Speichel, der vom Haupte der Gottheit in den Mund herabsteigt, verkosten mögen, kann dennoch der Leib nicht hinunterschlucken, da der Geist durch Aufregungen zerstreut ist und aufgrund der Erinnerung durch Phantasiebilder umnebelt nicht zu sich selbst zurückgeht, weil er durch die Begierden verlockt ; und er kehrt nicht durch das Verlangen nach dem ewigen Heil zu sich selbst zurück. Und wenn er unter vieler Schwierigkeit zurückkehrt, geschieht dies, weil er nicht in rechter und voller Weise früher die Süße des Herrn verkostet hat, wie Gregor darüber in den Moralischen Betrachtungen .10 Aber die selige Maria hat in voller Weise verkostet und hat, von der ewigen Sehnsucht und frei von Hochmut entflammt, ununterbrochen mehr gehungert und gedürstet nach Erfassen eines so großen Gutes in einer ewig währenden Umarmung. Von da aus ist sie immer gewachsen. Und so ist der beste Teil niemals von ihr weggenommen gewesen. Und dies zum zweiten Teil. 10

Vgl. Gregorius Magnus: Moralia in Iob XXXI, c.12, n.19 (CCSL 143B, p.15641565, lin.53-90).

Predigt LXXI: Maria hat den besten Teil erwählt

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(29) Es kann auch drittens das Evangelium verstanden werden, auf welche Weise Jesus uns eröffnet, was wir nach diesem Leben erwarten sollen, so daß gemäß den Worten des Themas so die dreifache Einsicht uns für jetzt genügen möge, könnten auch viele andere gegeben werden. Denn im Thema wird Maria genannt, deren Deutung „Erleuchtung“ ist,11 damit wir so die Erleuchtung der suchenden Vernunft ausschöpfen, so wie wir es im ersten Teil berührt haben. Dann wird gesagt: „Sie hat den besten Teil erwählt“ (Lk 10,42), damit wir daraus schöpfen, was für das christusförmige Gefühl das Erwählenswertere sein muß; und diesen haben wir im zweiten Teil berührt. Zuletzt wird hinzugefügt: „der nicht von ihr genommen werde“ (Lk 10,42), und demgemäß sollen wir ausschöpfen, welches das Ziel der Pilgerfahrt unserer Seele sein wird gemäß ihren Möglichkeiten, das heißt gemäß der Vernunft und der gefühlsmäßigen Leidenschaft, worüber wir jetzt ein wenig hinzufügen wollen. (30) Von daher erhalten wir zuerst, auf welche Weise die Werke der Barmherzigkeit, die viel Unruhe haben, nicht gefunden werden im Reich der anderen Welt, das ein Reich des Friedens ist. Denn dort ist niemand bedürftig. Deshalb sind alle Werke, die in dieser Welt getan werden können, in wie hohem Maße auch immer sie selbst lobenswert sein mögen, nicht von Dauer, sondern gehen zu Ende. Und derentwegen wird in keiner Weise ein ewiger Friede gegeben, da diese Werke nichts vom Ewigen haben. Aber allein die Liebe, von der die Werke Zeichen sind, ist jene, die nicht aufhört und auch nicht nachläßt, sobald die Werke aufhören, sondern sie ist aus derselben Region, aus der auch die unsterbliche Seele ist; sie verläßt diese nicht, weil in ihr selbst die Seele verwurzelt ist. So wie nämlich das Leben der Seele dem Menschen das Leben gewährt und das Leben des Menschen verwurzelt ist im Leben der Seele, so ist die Liebe das Leben der Seele. Und das Leben der vernunftbegabten Seele, wie es vernunftbegabt ist, ist in der Liebe verwurzelt. (31) Die Liebe aber ist die Kraft, die die Leidenschaft der Seele mit ihrem Leben eint, das das Eine selbst, das Wahre und das Gute ist, so wie das Leben des sinnenbestimmten Körpers in der Einung mit der sinnenbestimmten Seele besteht, welches Band freilich Liebe genannt wird. Daher hindert die Unfähigkeit zu Werken der Liebe nicht die Einung der Seele zu ihrem Leben. Wer aber die Liebe erlangen will, muß wissen, wo er das Leben der Seele suchen muß; denn wenn er dieses selbst wird finden können, kann er dies nur lieben. Und daher lehrt uns das Evangelium, wie es nur das Eine Notwendige gibt, daß alle das sind, was sie sind oder erstreben. Wenn nach dieser Erkenntnis dieses erwählt wird, geschieht dies aus Liebe und aus liebendem Willen. Dann wird der Wählende ihm, , ge-

11

Vgl. oben Anm. 5 zu Hieronymus.

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

eint, und niemals wird er von diesem seinem von ihm selbst gewählten Besten getrennt werden. (32) Wir wissen also aus diesem Evangelium: Die Seele, die sich nicht durch Auswählen zum Einen Notwendigen wendet, sondern zu anderen Dingen – was auch immer dies sein mag –, daß jene niemals in Frieden sein wird.12 Alle nämlich, die sie außer dem Einen ausgewählt haben wird, können ihr nicht ein beruhigtes Leben gewähren, weil sie es zu geben nicht im Besitz haben. Allein das Eine ist die Quelle des Lebens, die im Überfluß zu geben vermag. Weggenommen aber würde all das, was außer dem Einen Notwendigen gewählt wird. Und das bedeutet für die liebende Seele selbst zu sterben, sobald das Geliebte weggenommen wird, so wie es für den sehenden Gesichtssinn sterben bedeutet, sobald ihm der sichtbare Gegenstand weggenommen wird. Dann nämlich sieht er nichts, nicht weil das Auge erblindet wäre, sondern weil ihm das Sichtbare gefehlt hat; so wie der Magen nicht aufhört nach Speise zu streben, sobald die Speise weggenommen wird, sondern eher gequält wird, weil er mehr hungert und weniger hat. So die Abwesenheit oder Abwendung vom Wahren der Tod der Vernunft, weil sie nicht hat, wovon sie sich nährt. (33) So also wird gemäß der Feuerglut der Liebe die Seele ihrem Leben verbunden, das nicht von ihr genommen wird, da es die ewig sprudelnde Quelle des Lebens ist. Da aber gemäß dem Grad der Liebe die Seele die Glückseligkeit erreicht, steht in genügender Weise für sich fest, daß die Jungfrau Maria die Glückseligkeit über alle Geister hinaus erlangt hat. Sie selbst hat nämlich, wie Gott es durch den Engel bezeugt (Lk 1,28.30), die volle Gnade erlangt in der höchsten Teilhabe an der absoluten Fülle des in ihr fleischgewordenen Wortes. Und aus diesem Grunde schreiten die Heiligen voran und singen Loblieder auf sie. So beweist es Hieronymus im Brief an Paula und Eustochium, indem er schreibt: „Wenn einige Heilige die Gnade erreicht haben, daß sie durch Hymnen singende Engelschöre im Triumph zum himmlischen Vaterland eingegangen sind, dann hat Maria eine solche Gemeinschaft nicht gefehlt; „Schreckenerregend wie die Schlachtreihe der Festungen geordnet“ (Hld 6,3.9), hat sie eine Menge himmlischer Geister in den Himmelspalast hineingeführt, wie man glauben muß.“13 (34) So erweist Albertus14 die Vorzüge anderer Heiliger durch Aufzählen , die Tod vorausgesagt haben wie Martinus, , die 12 13 14

Im lateinischen Text ist hier ein Anakoluth; die Übersetzung versucht, dies nachzuahmen. Der Brief ist nicht von Hieronymus, sondern von Paschasius Radbertus; vgl. CCCM 56c, c.4 §22, lin.180-186. Zum Folgenden vgl. Ps.-Albertus: Mariale, q.129; 131; 132 (ed. Borgnet 37); Richardus de Laurentiis: De laudibus B.M.V. X, c.1 (unter den Werken Alberts ed. Borgnet 36).

Predigt LXXI: Maria hat den besten Teil erwählt

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ohne Schmerzen gestorben sind wie Johannes, , die sogleich in die Herrlichkeit aufgenommen worden , die nicht die Verwesung geschaut haben (Apg 2,31; 13,37) etc. Die Bundeslade ist aus Akazienholz von Sechem gewesen, was nicht zugrundegeht, in der das Manna gewesen ist (Ex 25,10; Hebr 9,4) etc.; sie stellt Maria dar; Johannes hat sie am Himmel gesehen in der Geheimen Offenbarung etc. Wie daher David die Bundeslade im Triumphzug hineinführte, so hat, wie man glauben muß, Christus die Lade seiner Ruhe hineingeführt gemäß jenem : „Erhebe dich in die Ruhestätte, Du und die Lade Deiner Heiligung.“ (Ps 132[131],8) Wenn die Heiligen Kronen und Goldkränze erlangt haben etc., ist in allem sie selbst über alle hinaus erhoben! Und Johannes hat in der Geheimen Offenbarung dieses „große Zeichen am Himmel“ geschaut: „Ein Weib, umgetan mit der Sonne, den Mond zu Füßen, bekrönt“ (Offb 12,1) etc. (35) Hier soll eine köstliche Betrachtung hinzugefügt werden über den Tod und die Himmelfahrt Mariens durch die Chöre der Engel bis dahin, sie als Königin „zur Rechten im goldenen Gewande“ (Ps 45[44],10) ewiger Herrlichkeit steht, zu der uns auf ihre Fürsprache hin Christus, ihr immer gepriesener Sohn, führen möge.

Predigt LXXII Respice, Deus Blicke, o Gott Zeit: Ort: Fest: Zählung Koch: Edition: Deutsch:

undatiert; nach R. Haubst 11. September 1446; nach Koch nach 1446 oder noch später unbekannt; nach R. Haubst Frankfurt am Main an einem dreizehnten Sonntag nach Trinitatis 66 h XVII/5, 442-445 –

ZUSAMMENFASSUNG Die Predigt hat Entwurfcharakter. Nach Angabe des Themas (n.1) ist der erste Teil (n.2-3) einer Interpretation der Epistel gewidmet. Es wird die Frage nach der Rechtfertigung erörtert. Das Gesetz mit seinen Vorschriften bringt keine Rechtfertigung, sondern erst Christus, der Mittler zwischen Gott und Menschen. Der zweite Teil (n.4-5) soll im Anschluß an die Epistel das Tagesevangelium erklären, bleibt aber unvollständig. Soweit das alttestamentliche Gesetz das Naturgesetz entfaltet, bleibt es gültig. Aber erst der Glaube an Christus als den Sohn Gottes kann das ewige Leben vermitteln.

BEMERKUNGEN Die handschriftliche Überlieferung erweist die von Haubst vorgenommene Datierung und Lokalisierung dieser Predigt als unbegründete Vermutung. Der Entwurf ist nur in einer Salzburger Handschrift überliefert, die wahrscheinlich erst nach 1451 entstanden ist.

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Predigt LXXII Blicke, o Gott (1) „Blicke, o Gott, auf Deinen Bund und vergiß nicht die Seelen deiner Armen.“ (Ps 74[73],19) Das ist der Introitus der Messe.1 (2) Aus der Epistel (Gal 3,16-22), die erzählt, daß der Bund die dem Abraham angesagte Verheißung sei, soll betrachtet werden, daß ohne eine Vermittlung der Mensch nicht zu Gott gelangen kann. Entweder ist also ein Mittler oder das Gesetz verheißen worden. Die Vermittlung muß aber eine Rechtfertigung sein, das heißt, daß wir durch einen vermittelnden Vermittler gerechtfertigt werden zur Erlangung der Glückseligkeit. Es kann aber nicht behauptet werden, daß das Gesetz rechtfertigt. Denn die Überlieferung des Gesetzes folgte der dem Abraham gemachten Verheißung „vierhundert und dreißig Jahre hindurch“ (Gal 3,17) und er, , hat keine trügerische Verheißung gemacht. Denn „der von Gott bekräftigte Bund“ ist ein derartiger, daß er uns eingesetzt hat als Miterben seines Sohnes (Röm 8,17). So erlangen wir die Erbschaft nicht aufgrund des nach dem Bund geschaffenen Gesetzes, sondern aufgrund des Bundes, in dem die Verheißung ist, die dem „Abraham und seinem Samen“ (Lk 1,55), das heißt Christus, gemacht worden ist. Von daher können wir aus dem Gesetz heraus unsere Rechtfertigung nicht begründen, gleichsam als ob uns aufgrund eines Verdienstes der Gerechtigkeit die dem Abraham verheißene Erbschaft geschuldet sei, weil wir das Gesetz bewahren. Denn das Gesetz rechtfertigt nicht, weil es selbst „wegen der Übertretungen gegeben worden ist“ (Gal 3,19). Da nun also einmal das Gesetz „wegen der Übertretungen gegeben worden ist“ und es diejenigen, die es übertreten, bestraft, bringt es denjenigen nichts, die es befolgen. Und so rechtfertigt es diejenigen, die es befolgen, nicht, indem es sie straflos entläßt, und seine Befolger leben in ihm selbst, weil es allein die Übertreter straft. (3) Infolgedessen „ist wegen der Übertretung“ das Gesetz „gegeben worden, solange bis der Same kommt, dem er das durch einen Engel Angeordnete in der Hand des Mittlers verheißen hatte“ (Gal 3,9). Der Engel aber hat das von Gott Angeordnete verkündet, was dem Samen Abrahams versprochen wurde, nämlich Christus, in dessen Hand alle Verheißungen sind. Der Mittler ist nicht der eines einzigen, sondern Gott ist der Einzige. Also ist der Mittler zwischen Gott und dem Menschen Christus. Von daher ist nicht ein Gesetz gegeben worden, „das lebendig machen kann“, anders „gäbe es aufgrund des Gesetzes Gerechtigkeit“ (Gal 3,21); „son1

Vgl. Missale Romanum, Introitus zur Messe am 13. Sonntag nach Pfingsten.

Predigt LXXII: Blicke, o Gott

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dern die Schrift zieht den Schluß, daß alles unter der Sünde steht, damit die Verheißung aufgrund des Glaubens an Jesus Christus den Gläubigen gegeben werde.“ (Gal 3,22) Und so sagt es die Lesung. (4) Es scheint aber, daß Paulus vom Gesetz nur hinsichtlich der rituellen Gebräuche spricht, da er ja sagt, das Gesetz sei wegen der Übertretung gegeben, solange bis der Same käme. Denn durch die Ankunft des Mittlers hat das Gesetz der Natur, das unter den von Moses gegebenen Gesetzen ausgefaltet ist, nicht aufgehört, wie es das Evangelium (Lk 10,23.37) zeigt. Denn Christus hat den Gesetzeslehrer gefragt, was er im Gesetz lese, und sagt: „Tu dies und lebe!“ (Lk 10,28) Er hat also das Gesetz gebilligt – dieses ist in der Liebe zu Gott und dem Nächsten enthalten –, mag man dies auch von anderen Gesetzesvorschriften sagen können; offenbar haben sie bis auf Christus hin bestanden. Und Paulus erklärt, daß jene Gesetzesvorschriften buchstäblich nach der Ankunft Christi nicht mehr verpflichten, weil das Joch durch die Gnade des Mittlers aufgehoben worden ist. Wir sind nämlich nicht mehr zur Beschneidung verpflichtet und auch nicht zu anderen derartigen , weil sie nicht in der Liebe zu Gott und zum Nächsten enthalten sind. Ohne Liebe nämlich zu Gott und dem Nächsten kann der Erwachsene nicht leben durch ewiges Leben, sondern darin allein soll er genügen, das heißt Gott und den Nächsten zu lieben zur Erlangung des verheißenen Erbes, hält Paulus fest. Das merke gut an! (5) Denn jene Verheißung können wir nur erlangen in dem einen Samen Abrahams, das heißt Christus (Gal 3,16), in dem alle Völker gesegnet werden (Gal 3,8; Gen 12,3; 18,18; 22,18; 26,4), in dem der Geist des Lebens ist, der die Toten lebendig macht, wie er selbst sagt, daß „die Toten, die die Stimme des Sohnes Gottes hören werden, leben werden“ (Joh 5,25). Daher ist es notwendig, nicht allein Gott und den Nächsten zu lieben, sondern auch zu glauben, daß Christus als der Mittler der Sohn Gottes und des Menschen der Erbe und wir in ihm „Miterben“ (Röm 8,17) . Dementsprechend sollen wir die Worte des Evangeliums verstehen: „Dies tu, und du wirst leben“ (Lk 10,28), das heißt wenn du sonst fähig bist, weil du gläubig und aus denen , denen die Verheißung des Lebens gemacht worden ist, das heißt den wahren Söhnen Abrahams (Gal 3,7), das ist den Gläubigen, die an die Verheißung in Samen, nämlich Christus, glauben, dann wirst du, wenn du das getan haben wirst, leben. Denn die Liebe zu Gott und dem Nächsten kann bei einem Ungläubigen nicht auf die Weise sein, wie sie im Gesetz und im Evangelium niedergelegt ist und der Gesetzeslehrer zitiert hat. Es hat nämlich der Gesetzeslehrer gefragt, was er tun müsse, damit er das ewige Leben besitze. Darin bekannte er nämlich offensichtlich, daß der Mensch das ewige Leben zu besitzen vermag. Das ewige Leben aber ist Gott. Er hat also geglaubt, daß der Mensch den Besitz oder die Erbschaft des Reiches des ewigen Lebens erlangen kann.

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Wenn er aber dies für möglich gehalten hat, hat er an jenen Samen geglaubt, dem die Verheißung gemacht worden ist, und daß in ihm jene Segnung erlangt werden konnte. Die Frage hat also den notwendigen Glauben vorausgesetzt. Und das, was durch den Glaubensbesitz folgen soll, das wird im Evangelium aufgestellt etc.

Predigt LXXIII Quis es, ut responsum demus? Wer bist du, damit wir Antwort geben? Zeit: Ort: Fest: Zählung Koch: Edition: Deutsch:

undatiert; nach R. Haubst und J. Koch nach 1446 oder noch später unbekannt an einem vierten Adventssonntag 63 h XVII/5, 446-450 –

ZUSAMMENFASSUNG Das Thema regt zu einigen Bemerkungen zur Gestalt Johannes des Täufers an, die inhaltlich in Predigt LXVII näher ausgeführt sind (n.1). Es folgt eine Gliederung in drei Punkten (n.2), die im folgenden Text allerdings nur stichwortartig notiert sind. Zu Beginn des ersten Punktes „Wer bist Du?“ (n.3-5) bringt Nikolaus eine kurze Erörterung der Praesuppositionsdialektik zur Frage der Erkenntnis. Erkenntnis Gottes ist die Voraussetzung für die Erkenntnis aller anderen Seienden (n.3). Jede Frage, so auch die der Juden, setzt etwas voraus, wonach gefragt wird (n.4). Die Frage nach dem „Was“ ist auf Johannes anzuwenden (n.5). Der zweite Punkt „Die Stimme des Rufenden“ (n.6-9) beleuchtet das Verhältnis Johannes des Täufers zu Jesus. Ausgehend von den Möglichkeiten einer Ich-Aussage (n.6) wird dieses Verhältnis wie das von Stimme und Wort (n.7) und wie das von Licht zu brennender Leuchte (n.8) behandelt. Um die Stimme zu hören und das Licht zu sehen, muß man in die Wüste gehen, das heißt die Welt verlassen (n.9). Der dritte Gliederungspunkt „Über die Buße“ (n.10) enthält nur eine kurze Notiz über die zwei Wege „nach unten“ oder „nach oben gewandt“.

LITERATUR Zu der in den Nummern 3-4 kurz entwickelten Praesuppositionsdialektik vgl. Klaus Kremer: Nicolaus Cusanus: „Jede Frage über Gott setzt das Gefragte voraus“ (Omnis quaestio de deo praesupponit quaesitum), in: Concordia Discors. Studi su Niccolò Cusano e L‘umanesimo europeo offerti a Giovanni Santinello, Festschrift für Giovanni Santinello (Medioevo e Umanesimo 84), Padova 1993, 145-180, wieder abgedruckt in: Ders.: Praegustatio naturalis sapientiae. Gott suchen mit Nikolaus von Kues, Münster 2004, 147-178.

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Predigt LXXIII Wer bist du, damit wir Antwort geben? (1) „Wer bist Du, damit wir Antwort geben?“ Und: „Ich bin die Stimme des Rufenden in der Wüste. Richtet gerade den Weg des Herrn!“ (Joh 1,22f.) So steht es im ersten Kapitel des Johannesevangeliums und im Evangelium (Joh 1,19-28) des vierten Sonntags im Advent. Und es soll das Evangelium selbst auseinandergesetzt und eine Einführung gegeben werden, auf welche Weise Johannes gekommen ist, „damit er Zeugnis ablege vom Licht“ (Joh 1,7). Mach eine Anmerkung über Johannes: Warum wird er die Seele des Menschen genannt in den platonischen Büchern nach Augustinus?1 Ebenso , auf welche Weise Johannes antwortet, er sei nicht der Christus (Joh 1,20). Dort : Was bedeutet Christus? Was Elias? Was der Prophet? (Joh 4,25; 1,21.25) (2) Zuerst soll gesprochen werden : „Wer bist Du?“ (Joh 1,22) Zweitens über die Stimme des Rufenden in der Wüste (Joh 1,23; Lk 3,4; Jes 40,3). Drittens über die Buße (Lk 3,3). (3) Ebenso muß man bezüglich des ersten Punktes wissen, daß das Sein vorausgesetzt wird in der Frage: Was ist? Und deshalb ist das Sein Gott, der in jeder Frage vorausgesetzt wird. Und wenn nicht das Sein gewußt würde, kann auch nicht das Dieses-oder-jenesSein gewußt werden. Und deshalb kann nichts gewußt werden, wenn Gott nicht gewußt wird. Und da das Leben der Vernunft Einsehen ist, kann die Vernunft nicht im Leben sein, wenn sie Gott nicht weiß, weil sie dann alles nicht weiß. Gott ist, weil er in jedem Zweifel vorausgesetzt wird. Daher ist er die unendliche Gewißheit selbst, die Genauigkeit, die Notwendigkeit etc. (4) Ebenso zweifelten diejenigen, die den Johannes fragen, nicht, daß es den Christus, den Elias oder den Propheten geben kann. Und dort : Was bedeutet der Mensch, der vorausgesetzt wird in Christus, Elias und dem Propheten? Und darüber ausführlicher. (5) Und bedenke, wie Johannes weder Christus noch Elias noch der Prophet , indem man Prophet auf die Weise begreift, wie Paulus sagt, daß wir teils wissen und teils prophezeien (1 Kor 13,9). Denn Johannes bekennt, er sei gewiß hinsichtlich des Hinweisens auf Christus. Und daher sehen wir ,,mehr als einen Propheten“ (Mt 11,9; Lk 7,26) aufgrund der Beobachtungen sowohl in der Wolke2 als auch im Zeichen (Joh 1,32f.; Mt 3,16f.; Mk 1,10f.; Lk 3,21). 1 2

Vgl. dazu Predigt LXVII, n.1 und die dazu angegebene Quelle. Vgl. dazu Predigt CLXXVI, in: Predigten in deutscher Übersetzung Bd. 3, 329, n.1.

Predigt LXXIII: Wer bist du, damit wir Antwort geben?

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Und merke die drei Stufen der Heiligen an.3 (6) Ebenso merke zum zweiten Punkt an: „Ich bin die Stimme des Rufenden“ (Joh 1,23; Lk 3,4; Jes 40,3), wie das Ich im eigentlichen Sinne gemäß Platon Gott zukommt. Er sagt: „Ich bin“ (Ex 3,14) etc. Und wer sagt ,,Ich“ und fügt etwas hinzu, zeigt, daß er nicht Ich in absoluter Weise ist, sondern ein derartiges oder sonstiges Ich, so daß er als Geschöpf nur ein gewisser göttlicher Widerschein ist in zusammengezogener Weise. (7) Ebenso , auf welche Weise ,,die Stimme des Rufenden“ . Wie in der Stimme das Wort ist, in der Stimme des Johannes Christus. Und dort , auf welche Weise Johannes der letzte Priester des Alten Bundes ist, Petrus der erste Priester des Neuen und so Christus Ende und Anfang in zusammengefalteter Weise.4 Und über die Stimme des Johannes dort etwas ausführlicher; und auf welche Weise alles, was Johannes gewirkt hat, nur auf dieses Ziel , „daß er Zeugnis ablege“ (Joh 1,7) etc.5 (8) Merke an: Christus sagt im fünften Kapitel des Johannesevangeliums, eine brennende und lichtspendende Leuchte (Joh 5,35) , und er selbst sagt, er sei die Stimme (Joh 1,23). So ist die Stimme eine Leuchte. Denn so wie in der Stimme das Wort ist, das den Verstand erleuchtet, so in der Leuchte das Licht. Christus nennt sich Licht (Joh 8,12; 9,4; 12,35.46), den Johannes Leuchte etc. Der Verstand ist ein geistiges Licht etc. Wir werden nämlich durch den Verstand erleuchtet: Da manche Dinge, die gesagt werden, dunkel sind, werden sie durch den Verstand erleuchtet, wie zum Beispiel in den mathematischen und physikalischen Dingen etc. (9) Ebenso darüber, daß er gesagt hat, er sei die Stimme des Rufenden in der Wüste. Denn die Stimme, die Licht ist, wird nicht gehört, wenn nicht in der Absonderung oder der Wüste. Es muß nämlich die Welt verlassen, wer die Weisheit hören soll, deren Reich nicht von dieser Welt ist (Joh 18,36). Die Welt besitzen wir, damit wir zum Fragen angestachelt werden; aber im Suchen ist es nötig, sich von der Welt zurückzuziehen. (10) Ebenso merke an: Was bedeutet, den Weg des Herrn zu bereiten? (Joh 1,23; Lk 3,4; Jes 40,3) Es bedeutet nämlich, Buße zu tun. Der eine Weg ist mehr nach unten gewandt, ein anderer mehr nach oben gewandt; und jener ist der Weg des Herrn, und auf jenen hin ausgerichtet muß man Buße tun etc.

3 4 5

Hier bezieht sich Nikolaus auf frühere Predigten, so auf Predigt VII, n.29; Predigt VIII, n.35-38; Predigt XIV, n.1. Das ist weiter ausgeführt in Predigt LXVII, n.16. Die christologische Funktion Johannes’ des Täufers ist weiter ausgeführt in den Predigten LXVI und LXVII.

Predigt LXXIV Tertia die resurrexit Am dritten Tage ist er auferstanden Zeit: Ort: Fest: Zählung Koch: Edition: Deutsch:

24. März 1448 Koblenz Ostern 69 h XVII/5, 451-457 –

ZUSAMMENFASSUNG Nach Aufstellung des Themas (n.1) gibt Nikolaus eine Gliederung in drei Teilen. Jeder dieser drei Teile soll einer bestimmten Art von Zuhörern gewidmet sein; den Gelehrten, den einfacheren Gemütern und den Gottgeweihten. Von den drei genannten Teilen liegt uns nur der erste schriftlich skizziert vor (n.2). Für die beiden anderen verweist Nikolaus auf andere Predigten zum gleichen Festtag (n.11). Im Anschluß an das Thema unterscheidet Nikolaus allegorisch drei Tage. Diese sind gegliedert wie in „De docta ignorantia“ in Schöpfer, Schöpfung und Vollendung. Der erste Tag (n.3-6) ist der absolute Ursprung. Der zweite Tag (n.7-9) ist die Ausfaltung des absoluten Ursprungs, mit einem Ausblick auf eine mögliche Vollendung in der Verbindung des göttlichen Logos mit einer menschlichen Natur (n.9). Der dritte Tag (n.10-11) ist der, der einen Anfang hat, aber kein Ende. Mit der Auferstehung beginnt der dritte Tag, die Vollendung des ewigen Sabbats (n.10). Diese Vollendung zeigt sich in dem Verhältnis der drei Tage zueinander, vor allem des zweiten zum dritten (n.11). Am Ende des Entwurfs stehen eine Reihe von Gedanken und Hinweisen auf Bibelstellen, die der Einführung des Themas dienen sollen (n.12).

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Predigt LXXIV Am dritten Tage ist er auferstanden (1) „Am dritten Tag ist er auferstanden.“ (1 Kor 15,4) (2) Entsprechend meiner Gewohnheit will ich den ersten Teil für die Gelehrten machen, denen ich etwas sagen möchte über die Auferstehung des dritten Tages in einem tiefen Sinne. Den zweiten Teil will ich machen für die einfachen , denen ich die Geschichte der Auferstehung eröffnen möchte. Den dritten Teil will ich machen für die Gottgeweihten, die ich auf dem Weg der drei Tage bis zur Aufopferung führen will. (3) Indem ich den ersten Teil in Angriff nehme, betrachte ich die drei Tage. Der erste Tag ist der, welcher der einzige ist und „im Anfang“ (Gen 1,1; Joh 1,1). Dieser Tag ist im Ursprung, der Ursprung aber ist ewig. Wenn er nämlich nicht ewig wäre, wäre er von irgendetwas her. Denn nichts, was einen Anfang hat, hat sein Sein von sich, sondern von einem anderen, welches der Ursprung ist; und es selbst ist vom Ursprung her Entsprungenes. Der Ursprung aber ist ewig. Der Tag also, der im Ursprung ist, ist der ewige. Dies ist der Tag, der Ursprung ohne Anfang ist. (4) Und so wie im Licht sich alles zeigt, so sind in jenem Tag alle Dinge wie in einem lebendigen Lichte. Und es ist dieser Tag der Ewigkeit der Wesensgrund oder der Logos der Dinge. Denn ein Ding erscheint in der Wahrheit nur im Wesensgrund. Wissen ist eine Sache durch die Ursache erkennen. So ist der Wesensgrund die Wahrheit der Dinge. So sind alle Dinge, die sind, im ewigen Wesensgrund ohne Anfang. Denn der Wesensgrund ist die Ursache; es fällt nämlich in eins zusammen: Ursache, Wesensgrund und Ursprung, weshalb ewige . Dieser Wesensgrund ist die Kunst oder ewige Weisheit, in der und aus der und durch die alles ist; es ist die schöpferische Kunst, die jedes Erschaffbare zusammenfaltet, die Kunst der Allmacht, die alles Mögliche zusammenfaltet. Und daher kann ihr nichts zuwachsen; nichts kann von ihr weggenommen werden, weil sie alles ist, was sein kann. Diese göttliche Kunst ist das Wort, durch das alles geschaffen wird (Joh 1,3), und sie ist die ewige Kunst der ewigen Vernunft. Weil die ewige Vernunft diese aus sich in ewiger Weise heraus entläßt, umfaßt sie sie selbst in ewiger Liebe. Auch kann nicht das Wort oder die Kunst die Vernunft selbst nicht umfassen, durch die sie vernünftigen Wesens ist. Und so sind im ersten Tag, der die Wahrheit, die Kunst oder die ewige Weisheit ist, alle Dinge vom Ewigen her ohne Anfang die zur Weisheit gehörende Kunst selbst, welche der Sohn des Vaters ist. (5) Diesen Tag benennt Moses, er sei der einzige ohne Anfang; in diesem einzigen Tag ist alles eins, was an einem anderen Tag als verschieden gefunden

Predigt LXXIV: Am dritten Tage ist er auferstanden

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wird, wie es Johannes sagt, auf welche Weise alles, was geschaffen worden ist am zweiten Tag als Verschiedenes, im Worte selbst ein Einziges war, nämlich ewiges Leben oder lebendiger Wesensgrund (Joh 1,1-4). Und dieser Tag ist nicht von irgendeiner Zeit, sondern David nennt ihn den heutigen an der Stelle: „Heute habe ich dich gezeugt.“ (Ps 2,7) Und nichts anderes ist es zu sagen: „Heute habe ich gezeugt“, wie es der Vater zum Sohn sagt, als daß der Vater immer den Sohn zeugt und daß das Zeugen gleichewig ist mit dem Zeugenden, so wie das Sehen mit dem Sehenden und das Einsehen mit dem Einsehenden und das Wissen mit dem Wissenden. Aber so wie das Gewußte zusammenfällt mit dem Wissen und das Eingesehene mit dem Einsehen, so kann es für Gott nichts Neues geben, sondern in seinem Einsehen ist immer alles Einsehbare Eingesehenes gewesen und in seinem Wissen ist immer alles Wißbare gewußt gewesen und in seiner schöpferischen Kunst ist alles Erschaffbare immer erschaffen. Und so wie das Einsehen dem Einsehenden gleichewig ist, so auch das Eingesehene, das zusammenfällt mit dem Einsehen; so bezüglich der übrigen . (6) Von daher fällt auch mit dem Dauern des ewig Dauernden selbst in gleicher Weise jedes, was eine Dauer hat, zusammen, wie im ,,Heute“ die ganze Zeit. Es kann nämlich keine Zeit geben außerhalb des Heute. Von daher wird dieser Tag als ,,Heute“ benannt, außerhalb dessen nichts ist, so wie die Zeiten außerhalb des Heute nicht sind. Und dies ist der erste Tag, ohne Anfang, welcher das Wort Gottes ist, Wesensgrund, Wort, Kunst oder Weisheit, die alles zusammenfaltet. Und er ist ein einziger und einfacher. (7) Der zweite Tag, der einen Anfang und ein Ende hat, , welcher die vielfältige Ausfaltung des ersten einfachen Tages ist. Von daher „stößt“ der erste „Tag diesem Tag das Wort aus“ (Ps 19[18],3). Dies ist nämlich der Tag, welcher alles in einem ausgefalteten Ähnlichkeitsbild des ersten Tages besitzt. So wie nämlich die Zeit das Ähnlichkeitsbild der Ewigkeit ist, so von allem: Was wir in der Zeit sehen, führt das Bild der Ewigkeit . Wenn nämlich die Kunst der Ewigkeit in scharfsinniger Weise betrachtet wird, dann scheint es klar, wie alles Zeitliche von dieser Kunst derart abhängt, daß es allein insofern Sein hat, als in ihm selbst die Kunst der Ewigkeit widerstrahlt. In diesem ersten Tag also sind alle zeitlichen Dinge die Kunst der Ewigkeit selbst. Im zweiten Tag ist die Kunst der Ewigkeit alles das, was zeitlich ist. (8) Und wende deine Aufmerksamkeit darauf, wie die Wahrheit des Abbildes das Urbild ist. Denn je wahrer das Abbild ist, umso wahrer der Widerschein des Urbildes. Das Abbild in sich ist nichts, sondern alles das, was im Abbild ist, ist das Urbild. Und überlege, wie die Unendlichkeit der Kunst, wie sie Unendlichkeit ist, nicht besser widerleuchten kann wenn nicht in der Einheit der Vielheit.

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Vielheit ist nämlich nicht ohne Mehrheit, Mehrheit nicht ohne Andersheit; in der mannigfachen Andersheit der Abbilder leuchtet als harmonische Einheit das unendliche Urbild auf eine so bessere Weise, wie es vermag. So siehst du, daß der urbildhafte Wesensgrund der göttlichen Kunst in diesem Tag ist. (9) Aber weil bis jetzt die Gesamtheit der mannigfaltigen Abbilder der Kunst, welche ohne verschiedene Stufen der Teilhabe an der Kunst nicht sein können, nicht zur vollkommenen Ausfaltung der Kunst gelangen würde, wenn nicht die Kunst selbst in ihrer vollkommenen Fülle der höchsten Stufe, welche größer nicht sein kann, sich ausfalten würde, steigt von daher wegen dieser Vervollkommnung des Universums die ewige Kunst in das Abbild, gleichsam wie wenn die Kunst der Schneiderei, aus der alle Gewänder hervorgehen, in ein Gewand, das aus der Kunst herausgegangen ist, so herabsteigen würde, daß die Kunst der Schneiderei selbst nicht nur widerstrahlte in diesem Gewand, das von dieser ausgegangen ist, sondern auch so wäre, daß aus dem Gewand und der Kunst ein einziges Wesen würde. So strahlt in allen Dingen die ewige Vernunft des Schöpfers wider, aber klarer in den mit Vernunft begabten Geistern; diese verhalten sich gleichsam wie Gewänder oder aufnehmende Behältnisse. Damit alles erfüllt werden sollte und einzeln jeder Mangel der vergänglichen Vernunft, das heißt der menschlichen Natur, aufgehoben werden sollte, von daher hat die Vernunft oder ewige Kunst als Schöpfungskunst der ewigen Vernunft eine menschliche Natur angezogen, so daß die Kunst selbst ein einziges Wesen würde mit dem Kunstwerk, und so die Kunst im Kunstwerk zur Ruhe kommen würde, sobald es einmal ein einziges in der Vollendung mit diesem wäre. (10) Der dritte Tag ist der, der einen Anfang, aber kein Ende hat; und es ist der Tag, an dem das Hinabsteigen der Kunst in das vergängliche Kunstwerk nach Zurücknahme des Vergänglichen zum Unvergänglichen zurückkehrt. Dann nämlich ersteht die urbildliche Kunst selbst, die im Abbild gestorben gewesen zu sein schien, wieder auf durch den Sieg in der Unterwerfung der vergänglichen Dinge, in denen sie starb. Dann alles neu (2 Kor 5,17; Offb 21,5), sobald einmal der zweite Tag, der am Abend des ersten Tages begonnen hat, durch den Abend des Sabbats begrenzt, übergeht in die Ruhe des unbegrenzbaren Sabbats. Die Heiligung des zweiten Tages feiern wir am Tag der Geburt des Herrn, indem wir singen: „Der geheiligte Tag ist uns aufgegangen. Kommt“1 etc. (11) Den Jubel des dritten Tages beginnen wir heute, weil „dies der Tag ist, den der Herr gemacht hat“ (Ps 118[117],24). Der erste Tag, da er eines Anfangs entbehrt, ist über uns; ihn können wir nur im zweiten erfassen, so wie die Ursache in den Wirkungen. Und 1

Vgl. Missale Romanum, Graduale der dritten Messe von Weihnachten.

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daher singt die Kirche von ihm selbst am zweiten Tag, wie jener „Tag als geheiligter erstrahlt“ im zweiten Tag, so wie die Männlichkeit Adams in Eva der Männin (Gen 2,23). Und deshalb wird jener Tag der Männlichkeit männlich benannt; – jener Tag im männlichen Geschlecht; in diesem Geschlecht hat der Tag keine Mehrzahl. Dieser Tag aber ist der Tag der Kirche, die aus vielen eine einzige ist; zusammen mit ihrem Haupte Christus zum Siegeszug der Unsterblichkeit auferstehend bringt sie zum Ausdruck, daß heute nicht ein Tag der Mühsal ist, wie es der zweite Tag ist. An diesem wird gesagt: „Kommt ihr Völker, betet an.“ (Ps 95[94],6)2 An diesem gebiert Eva oder die Kirche in Trübsal (Gen 3,16); aber ist sie freudig gestimmt und äußert ihre Freude. Und das soll so gesagt werden über die drei Tage bezüglich des ersten . Die restlichen zwei Teile sind in anderen Predigten zu diesem Tag.3 (12) Zuerst die Einführung des Themas. Das Ziel unseres Glaubens ist unsere Rechtfertigung in Christus, wie es der Apostel sagt: „Gekreuzigt“ (Röm 6,6-11) etc. Weil die Auferstehung wegen der Rechtfertigung ist, von daher ist es offenbar, daß unser ganzer Glaube ohne die Auferstehung eitel ist, wie es der Apostel im fünfzehnten Kapitel des ersten Briefes an die Korinther ableitet (1 Kor 15,14). Die Erfüllung unseres Glaubens also liegt in der Auferstehung. Erstens: wie Paulus sagt, daß Christus die Kraft und Weisheit Gottes ist (1 Kor 1,24); er sagt, er sei das Antlitz Gottes (1 Kor 13,12; 2 Thess 1,9); er sagt, daß er selbst Gott , welcher „alles in allem“ (1 Kor 15,28) ist; er sagt, daß er vor der Zeit ist und durch ihn die Welt geschaffen (Hebr 1,2; Joh 1,3.10); er sagt, daß er in die Welt gekommen ist und wahrer Mensch gewesen ist (1 Tim 1,15; 2,5; Gal 4,4; Phil 2,7); er sagt, daß er wahrhaft tot gewesen ist (1Kor 15,3; 1 Thess 4,14) und zu den unterirdischen Räumen der Erde hinabgestiegen ist (Eph 4,9); er sagt, daß er auferstanden ist (1 Kor 15,4; 1 Thess 4,14; 2 Thess 2,8) und der Erstgeborene aus den Toten (Kol 1,18); er sagt, daß er alles unter seine Füße unterwerfen werde (Eph 1,22), und daß wir in ihm auferstehen sollen (Kol 2,12; 1 Thess 4,16; 1 Kor 15,22); er sagt, daß er das Haupt der Kirche (Eph 5,23) und wir die Glieder (Eph 5,30; 1 Kor 6,15; 12,27); er sagt, daß er fernerhin unsterblich (1 Tim 1,17).

2 3

Vgl. Anm. 1. Vgl. Predigt XII; Predigt XXXVI.

Predigt LXXV Filius hominis vadit Der Menschensohn geht dahin Zeit: Ort: Fest: Zählung Koch: Edition: Deutsch:

6. April 1449 Koblenz Palmsonntag 70 h XVII/5, 458-461 Des Cardinals und Bischofs Nicolaus von Cusa wichtigste Schriften in deutscher Übersetzung von Franz Anton Scharpff, Freiburg i. Br. 1862, 499f. in Auszügen.

ZUSAMMENFASSUNG Vom Thema ausgehend, das als Wort Jesu eine tiefere Bedeutung beinhaltet als es der bloße Wortlaut vermuten läßt (n.1), wird das „Hingehen“ Jesu auf den Menschen bezogen, der mit Jesus auch wie Jesus gehen soll und muß, um in den Himmel, das Reich Jesu, eintreten zu können (n.2). Wie Jesus, obwohl Sohn des Vaters, wiedergeboren wird durch die Geburt in seiner Mutter, so muß der Mensch wiedergeboren werden für das Reich Christi in der Taufe und Buße als Glied Christi (n.3). Erst dann wird es dem Menschen möglich, zusammen mit Christus als Vorbild seinen Weg zu gehen (n.4). Abschließend nennt Nikolaus anhand der liturgischen Texte des Tages fünf vorbereitende Übungen und Überlegungen für das Gehen mit Christus (n.5). Die ganze Predigt hat den Charakter eines Entwurfes.

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Predigt LXXV Der Menschensohn geht dahin (1) „Der Menschensohn geht dahin.“ (Mt 26,24) Jesus spricht von sich selbst, auf welche Weise „der Menschensohn dahin geht, so wie es geschrieben steht über ihn“ (Mt 26,24) etc. Zahlreich sind die äußerst tiefen und zutiefst unerklärbaren Geheimnisse, die in allen und jedem einzelnen Worte Christi verborgen liegen, da er selbst die Wahrheit ist (Joh 14,6), die spricht; und in der sinnlich wahrnehmbaren Einfachheit der Worte liegt wie in einer menschlichen Knechtsgestalt verborgen die unzugängliche Tiefe des göttlichen Wortes. Knechtsgestalt hat nämlich die Gestalt des Herrn und Gottes angezogen, wie es der Apostel sagt in der Lesung (Phil 2,5-11). Lasset uns also beten. (2) Unter anderen Betrachtungen wollen wir unsere Aufmerksamkeit auf die Worte des Themas richten, die wir auf das gegenwärtige Fest beziehen wollen, damit wir etwas von einer geistlichen Süße daraus schöpfen. Wir wollen zuerst überlegen, auf welche Weise Christus sich Menschensohn nennt und sagt, er gehe dahin, wie es geschrieben steht über jenen. Wir sollen nämlich eilen, daß wir bereit sind, mit ihm zu gehen. Er selbst nämlich ist es, der vom Himmel gekommen ist und allein uns zum Himmel führen kann. Es ist also nötig, daß wir zusammen mit ihm Eines sind, weil allein gerade er in den Himmel eintreten kann. Der herabgestiegen ist, ist gerade der, der aufgestiegen ist (Joh 3,13). Es ist also nötig, daß wir wandeln so wie er selbst wandelt (1 Joh 2,6), und Eines mit ihm sind. So wie nämlich ein toter Pelz, den du anziehst, mit dir vor das Antlitz des Königs gelangt, so wirst du auch, wenn du mit Christus vereint sein wirst, mit ihm eintreten . Es ist aber nötig, daß du ihm mehr verbunden bist, das heißt, daß du wie ein Glied von ihm bist (1 Kor 6,15; 12,27; Eph 5,30). Über Glied etc. (3) Und mach eine Anmerkung dazu: So wie Christus in die Welt kommt, sobald der Sohn des Vaters im Schoße der Mutter von neuem geboren wird, so ist es auch nötig, daß du von neuem geboren wirst im Geist durch die Wiedergeburt des Glaubens in der Taufe. Du wirst also zuerst wiedergeboren. Dann, wenn du wiederum Glied des Fürsten dieser Welt (Joh 14,30) geworden bist, ist es nötig, die Wiedergeburt zu wiederholen durch das Sakrament der Buße. Überhaupt aber ist es nötig, daß du durch die Wiedergeburt hinübergetragen wirst von der Herrschaft dieser Welt zum Reiche des Himmels. So wie nämlich der Sklave weder einen Vertrag schließen noch irgendeinen Akt eines freien Menschen ausüben kann, wenn er nicht vom Sklavesein

Predigt LXXV: Der Menschensohn geht dahin

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zur Freiheit hinübergetragen worden ist, so auch nicht der Mensch, wenn er nicht von der Welt zum Reiche Christi hinübergetragen worden ist. (4) Sobald aber nun einmal der Mensch so hinübergetragen ist, gleichsam von einer stürmischen See zum Hafen versetzt, so daß er zu wandeln vermag, dann muß er überlegen, wie er mit Christus aufbrechen kann. Denn in Christus wird er alles finden, weil er Menschensohn und daher Bruder aller ist. Ähnlicherweise wird er in jeder menschlichen Weise des Hinübergehens gefunden. Wenn du nämlich Diener bist, ist er selbst auch Diener, wenn Sklave, Sklave, wenn Meister, Meister, wenn König, König etc. Alles in ihm selbst (Eph 1,10; Kol 1,16f.). Aber was ist er selbst in allem? Gewiß ist er selbst demütig und mild von Herzen (Mt 11,29), gerecht (Mt 27,19; 1 Tim 4,8; 1 Petr 3,18; Offb 16,5) und friedenstiftend (Mt 5,9; Kol 1,20). Du mußt nämlich so wandeln und sein Joch tragen, das süß und leicht ist (Mt 11,30). Werft also weg die schweren Lasten der Sünden, welche den Lauf mit Christus hindern! Seht, wie die Sünden beschweren. Beschwert nicht die Ausschweifung? Beschwert nicht die Genußsucht? Und die übrigen Laster? Was ist süßer und was leichter, als Gott zu verehren und dem Nächsten nicht zu tun, von dem man nicht will, daß es einem angetan wird (Tob 4,16) etc.? (5) Wenn wir also mit Christus gehen wollen, müssen wir die Aufmerksamkeit darauf richten, so zu handeln, wie wir es heute gelesen und uns die Tat Christi vergegenwärtigt haben. Zuerst ist es nötig aus Ägypten auszuziehen, gewaschen zu werden im Roten Meer, zu verharren in der Wüste, und gemäß der Lesung;1 diese soll betrachtet werden, daß wir ohne Murren vom Himmel das Brot aufnehmen (Ex 16,8) etc. Zweitens ist es notwendig darauf zu achten, daß wir nach der Waschung und Buße entgegengehen dem Erlöser, unserem König, der König von Natur aus , und wir ihn aufnehmen und in ihm selbst die Milde und Strenge betrachten etc. Dort das Evangelium2 ! Drittens ist es nötig, daß wir höher gerissen werden mit Paulus in der Lesung,3 daß wir Christus, den wir wie einen König empfangen haben, erkennen etc. Und dort über die Lesung. Viertens ist es nötig, daß wir Christus folgen durch den Tod gemäß Leiden.4 Und am Ende die Oration des Tages: „Allmächtiger“5 etc., welche alles zurückführt auf Demut und Geduld etc.

1 2 3 4 5

Vgl. Missale Romanum, Lesung zur Segnung der Palmzweige, Ex 15,27-16,7. Vgl. Missale Romanum, Evangelium zur Segnung der Palmzweige, Mt 21,1-9; nach dem Missale Treverense, Mk 11,1-10. Vgl. Missale Romanum, Lesung vom Palmsonntag, Phil 2,5-11. Vgl. Missale Romanum, Passio Domini nostri Jesu Christi secundum Matthaeum, Mt 26,1-27,66. Vgl. Missale Romanum, die Oration der Messe von Palmsonntag.

Predigt LXXVI Ein kurcze ler vnd auslegung vber den heyligen pater noster Eine kurze Belehrung und Auslegung über das heilige Vaterunser Zeit: Ort: Fest: Zählung Koch: Edition: Deutsch:

Zwischen dem 1. und 4. März 1451 Kirchhof von St. Stephan in Wien Fasching 71 h XVII/6, 463-474 Koch, Josef/Teske, Hans: CT/I7: Die Auslegung des Vater unsers in vier Predigten, Heidelberg 1940, 96-121; ebd., 5f. zu früheren Übersetzungen.

ZUSAMMENFASSUNG Anfang, Fortsetzung und Ziel aller Dinge sind im Vaterunser enthalten, das unausschöpflich ist. Durch irdische Weisheit war dieser Weg nicht zu finden (n.1-3). Durch Christus, das Wort, wurde alles geschaffen. Er lehrt die Jünger, worum sie beten sollen (n.4-6). Der Vater ist Einer und Ursprung alles Vielen (n.7-8), von dem der Mensch Gott am Nächsten ist (n.9). Wenn er den Willen Gottes tut, heiligt er seinen Namen (n.10-11). Das Reich Gottes kann in Besitz nehmen, wer friedfertig ist, nicht an seinem Besitz hängt und in Liebe lebt (n.12-13). Gottes Wille schuf alles aus dem Nichts und soll sich im Menschen erfüllen, der alle Geschöpfe umfaßt (n.14-15). Um des Menschen willen nahm Gott die menschliche Natur an, um ihn mit sich zu vereinigen, sofern er mit dem Leib der Kirche verbunden ist (n.16-18). Der geistlichen Speise ist ihre Kraft äußerlich nicht anzusehen (n.19-21). Das irdische Brot soll man nicht aus Habgier für sich behalten (n.22-23). Die Barmherzigkeit Gottes ist größer als alle Sünden der Welt für denjenigen, der auch selbst vergibt. Denn die Sünde gegen den Vater ist größer als diejenige unter Brüdern. Daher muß ein Bruder dem anderen vergeben, damit seine guten Werke Frucht bringen können (n.24-26). Gegen die Anfechtungen brauchen wir das Geleit Gottes, um das wir bitten und mit dem wir mitwirken sollen, statt die Gelegenheit zur Sünde zu suchen (n.27-29). Gott soll uns von allem Übel, der Hölle, befreien und uns zum Himmel führen, in dem es kein Übel mehr gibt (n.30).

LITERATUR Kurt Gärtner: Die Vaterunserpredigt des Nikolaus von Kues, in: Klaus Reinhardt und Harald Schwaetzer (Hg.): Nikolaus von Kues als Prediger (Philosophie interdisziplinär 11), Regensburg 2004, 45-59.

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Volker Mertens: Stimme und Schrift in der Predigt des Nikolaus von Kues, in: Nikolaus von Kues als Prediger (Philosophie interdisziplinär 11), Regensburg 2004, 9-27, bes. 18-20. Ders.: Die Predigt des Nikolaus von Kues im Kontext der volkssprachlichen Kanzelrede, in: Die Sermones des Nikolaus von Kues. Merkmale und ihre Stellung innerhalb der mittelalterlichen Predigtkultur. Akten des Symposions in Trier vom 21. bis 23. Oktober 2004 (MFCG 30), 171-190, bes. 188-190.

Predigt LXXVI: Eine kurze Belehrung und Auslegung

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Predigt LXXVI Eine kurze Belehrung und Auslegung über das heilige Vaterunser (1) Zuerst soll von dem Gebet des heiligen Vaterunser gesprochen werden, das der allerhöchste Meister, unser lieber Herr Jesus Christus, seine lieben Jünger gelehrt und uns zur Unterweisung darüber hinterlassen hat, wie und um was wir bitten sollen. Das sind so hohe Worte, daß alle Lehrer, die je gelebt haben und die jemals geboren werden, den Sinn dieser Worte nicht vollends auslegen können und die heiligen Apostel, obwohl seine Jünger , nur menschliche Worte hörten und dachten, er sei nur ein vollkommen weiser Mensch, und zu der Zeit noch nichts von seiner göttlichen Natur wußten und um die Bedeutung, die in den Worten enthalten war. (2) Man sagt von dem Sentenzenbuch,1 das alle Schulen und Lehrer für das höchste Buch halten – und das mit Recht –, daß das Vaterunser noch tausendmal mehr enthalte. Wenn man seinen Anfang befragt, so sagt es, woher alle Dinge ihren Anfang und ihr Sein haben; seine Fortsetzung, , wie alle Dinge von demselben Sein ausgehen; und weiter, wohin alle Dinge wieder gelangen sollen. Das alles enthält das Vaterunser und alles, was wir nötig haben und was wir darüber hinaus noch begehren können. (3) Daß das wahr ist, hat der Herr Christus Jesus bewiesen: daß es hier kein Bleiben gibt noch geben kann, und daß wir danach streben müssen, in kurzer Zeit aus der Fremde zu dem Ewigen zu kommen, von wo die Seele ausgegangen ist. Er bewies in Wahrheit, als er durch sein Leiden aus der Welt schied, daß es hier kein Bleiben gebe. Wir brauchten jemanden, der uns jenen Weg zeigte und lehrte, den viele Philosophen und kluge Meister nicht finden konnten, obwohl sie viel darüber nachdachten mit großer Anstrengung. All ihre war aber umsonst, bis das ewige Wort durch den Willen Gottes des himmlischen Vaters herabkam zu uns armen Menschen. Was viele tausend Jahre verborgen war, das wurde uns da offenbar durch seinen einzigen Sohn, unseren Herrn Jesus Christus. (4) Von dem Wort hat Sankt Johannes der Evangelist geschrieben: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort“ (Joh 1,1). „Alle Dinge wurden durch es geschaffen, und ohne es wurde nichts geschaffen“ (Joh 1,3). Hierfür nimm ein Gleichnis: Ein Mensch hat in seinen Gedanken den Willen, ein Wort zu sprechen, doch niemand weiß, was das Wort ist und Nutzen bringen wird, bis daß es ausgesprochen und offenbar gemacht wird. erst bemerkt man, wie gut es ist und welchen Nutzen es bringt, und ein Mensch sagt es dem anderen, und es bringt Nutzen all denen, die es fortan hören. Und dieses einzige Wort können tausend Menschen ebensowohl hören wie ein Mensch, und es ist auch in den Ohren

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Liber Sententiarum des Petrus Lombardus.

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

jedes einzelnen Menschen für sich ganz und gar ungeteilt. Ebenso ist das ewige Wort ausgegangen aus dem Willen Gottes des himmlischen Vaters, durch das wir angeleitet und gelehrt werden, den Weg zu gehen von dem Jammertal zu den ewigen Freuden. (5) Aber wie oder um was Du bitten sollst, über alles das wirst Du belehrt; was Du für Seele und Leib benötigst, das findest Du im heiligen Vaterunser, das der oberste Meister, unser lieber Herr Jesus Christus, der Sohn des lebendigen Gottes, seine lieben Jünger gelehrt hat und uns zur Unterweisung hinterlassen hat, all denen, die zum Glauben an ihn kommen würden. Einmal sagten die Jünger des Herrn Jesus Christus: „Herr, lehre uns beten.“ Da sagte er: „Wenn ihr beten wollt, sprecht so: Vater unser, der du bist in den Himmeln, geheiligt werde dein Name, zu uns komme dein Reich, dein Wille geschehe sowohl im Himmel als auch auf der Erde. Unser tägliches Brot gib uns heute, und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern, und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von Übel. Amen.“ (Lk 11,1-4) (6) Damit nun die Worte des hochwürdigen Gebetes verstanden und gelehrt werden können nach ihrer Bedeutung – obwohl alle Lehrer, die je waren und jemals sein werden, den Sinn der geheimnisvollen Worte unmöglich ergründen können, gemäß menschlichen Erkenntnisfähigkeit –, so ist es für uns dennoch nötig, etwas davon zu wissen – wie wir darüber von den heiligen Lehrern unterwiesen werden –, was ihre [der Worte] Bedeutung in sich faßt, Gott zum Lob und zum Heil unserer Seele etc. (7) „Vater unser“ Was nun ein Vater ist, das findet man in der Natur: daß ein Vater ein Anfang anderer Dinge ist, die aus ihm kommen oder fließen. Der Sohn kommt vom Vater, der Zweig und die Frucht vom Baum, das Wasser von der Quelle und so immer weiter und weiter. Gott der Vater ist der eine Ursprung aller Dinge, die im Himmel und auf der Erde sind, die erdacht werden können, kommt von sich allein und ist doch dreifaltig der Person nach und ist doch nur eins. Und aus dem Einen kommt das Viele, und das Viele ist doch nur eins; denn jede Zahl hat ihren Anfang in der Eins und muß enden mit der Eins, und keine Zahl kann ganz sein, wenn man eins wegnimmt. (8) Eins ist das Viele und das Viele ist doch nur eins: Gott der Allmächtige ist eins, und alle Dinge gehen und kommen aus ihm , das ist das Viele. Ebenso sind drei nur eins, und eins ist drei. Das sollt ihr folgendermaßen erkennen: Eins, eins, eins. Das erste Wort ist eins, das letzte Wort ist eins, das mittlere ist eins, und die drei sind doch nur eins. Ist das etwa nicht wahr? Es ist vor tausend Jahren und allezeit immer wahr gewesen und ist auch in alle Ewigkeit wahr. Sankt Augustin, der heilige Lehrer, sagt: „Frage den Himmel, alle Geschöpfe und alle Elemente, ob sie Gott seien oder in sich selbst ihr Sein haben.

Predigt LXXVI: Eine kurze Belehrung und Auslegung

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Sie werden sagen: Nein. Woher dann? Von Gott dem Allmächtigen allein, der uns geschaffen hat.“2 (9) „Der du bist in den Himmeln“ In den Himmeln sind alle Dinge beschlossen und haben ihr Wesen von den vier Elementen; so der Mensch eine vernünftige Seele von Gott, der im Himmel ist, und den Leib von der Erde und den Elementen. Der Seele nach sind wir vor allen Geschöpfen Gott am nächsten. Darum sollen wir ihn erkennen, soviel es uns hier möglich ist, vor allen Geschöpfen. Zwar sind Pferde, Esel, Hunde und anderes Vieh und Getier auch aus den vier Elementen geschaffen, ebenso wie es der Mensch dem Leibe nach ist. Aber eine vernünftige Seele hat nur der Mensch. So ist jedes von Gott geordnet nach seiner Eigenart, jedoch entsprechend seiner Aufgabe und seinem Wesen; wie wir es an unserem eigenen Leib bemerken, daß jedes Glied seine Aufgabe hat, auf die es hingeordnet ist. Ebenso soll die Seele Gott dem Allmächtigen dienen und liebhaben durch die Erkenntniskräfte der Seele, sonst kann er [der Mensch] nichts tun. Das Auge sieht alle Farben: rot, weiß, schwarz. Die Ohren sehen keine Farben, ebenso hören die Augen nicht, was man singt oder sagt. Aber der Verstand innen in der Seele vernimmt es, bewahrt es und versteht es, was dies oder das ist, wie und woran alle Dinge durch Unterscheidung erkannt werden. Und so wird Böses an Gutem erkannt, Rotes oder Schwarzes an Weißem und der Schöpfer am Geschöpf, das er geschaffen hat. (10) „Geheiligt werde dein Name“ Durch ihre Namen erkennt man alle Dinge, soweit etwas in einem solchen Gleichnis erkannt werden kann, Peter und Paul, eines und das andere. Aber im Namen des Vaters erkennt man alle Dinge, sie seien klein oder groß. Denn Gott ist so vollkommen, daß es nichts Größeres geben kann. Es kann auch nichts so klein sein, daß Gott mit seiner Macht darin wäre. Hierfür nimm ein Gleichnis: Gott hat dem Senf oder der Mohnkapsel solche Kraft gegeben, daß ein davon mit seiner Kraft diese ganze Welt erfüllen könnte. Denn eins kann tausend hervorbringen, und diese tausend wieder jedes tausend, das ist tausendmal tausend, und auf diese Weise würden so viele tausend immer mehr und mehr, daß die ganze Welt davon voll würde. Dadurch versteht man die große Mächtigkeit Gottes und seines heiligen Namens. (11) Wie soll er aber geheiligt werden? Er ist ja doch zuvor schon heilig. Das ist so zu verstehen: Sein Name soll hier in uns geheiligt werden mit Lob und mit Ehren, damit uns verliehen werde, daß wir ihn in Ewigkeit mit allen Engeln und Heiligen loben und ehren und mit ihnen fröhlich sprechen: „Heilig, heilig, heilig, Herr Gott Sabaoth! Voll sind Himmel und Erde Deiner Herrlichkeit. Gelobt sei Gott in der Höhe!“ Und so wird der Name Gottes in einem jeden frommen Christenmenschen hier auf Erden geheiligt, der den Willen Gottes tut und vollbringt. 2

Vgl. Augustinus: Confessiones X, c.6, n.9, ed. L. Verheijen (CCSL 27), Turnhout 1981, 159, 20-160, 43.

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

(12) „Zu uns komme dein Reich“ Du sollst nicht denken, daß das Reich Gottes zu dir komme. Nein, nicht so! Vielmehr komme die Gnade des Heiligen Geistes zu dir und leite und lehre dich, in Frieden zu leben gegenüber Gott und deinem Nächsten, damit du auf diese Weise hier mit ihm vereinigt wirst, damit du zu dem Reich kommst, wo ewiger Friede und Vereinigung sind. Wenn du dieses Reich besitzen willst, dann mußt du mit einem friedfertigen Herzen leben, anders kannst du dorthin nicht kommen. Denn „ein Reich, das geteilt ist, kann nicht bestehen“, wie in dem Evangelium des Herrn geschrieben ist und gesprochen aus seinem göttlichen Mund: „Omne regnum in se divisum desolabitur“ etc. (Mt 12,25) (13) Das ewige Reich Gottes und das Reich dieser Welt sind sehr weit voneinander entfernt. Wenn wir nun von dem vergänglichen Reich zu dem ewigen kommen wollen, so muß das durch unseren Herrn Jesus Christus und sein heiliges Verdienst geschehen, und müssen alles das endgültig verachten und, wenn es nötig ist, alles um Gottes willen bereitwillig aufgeben, was wir hier besitzen: Haut und Haar und das Leben dazu. Der König und alle Fürsten haben es hinter sich lassen müssen, es sei ihnen lieb oder leid. Alle Dinge sind hier ungleich zugemessen und verteilt in dem gegenwärtigen Reich dieser Welt. Denn der Leib ist wider den Geist, der böse Mensch wider den guten, und wo Zwietracht ist, da kann die Liebe nicht sein. Darum kann es [das Reich dieser Welt] nicht bestehen. Aber im Reich Gottes sind alle Dinge vereint in der Liebe, die in Ewigkeit bleibt. Ja, mögen auch alle anderen Tugenden, der Glaube und die Hoffnung, ein Ende nehmen, so bleibt doch die Tugend der Liebe in Ewigkeit im Willen Gottes. (14) „Dein Wille geschehe sowohl im Himmel als auch auf der Erde“ All das, was zuinnerst ist oder sein kann, das hat einen Ausfluß, und geschieht nach dem Willen Gottes. Es gibt auch kein Ding, das drei Eigenschaften infolge des Ausflusses der heiligen Dreifaltigkeit hätte: Es hat sein Wirken,3 seine Kraft und seine Substanz auf Erden. Durch diesen Ausfluß bewirkt die Kraft bei allen Dingen, daß eins das andere gebiert und eins aus dem anderen wächst nach dem Willen Gottes, auch im Himmel . Was hat der allmächtige Gott angesehen, bevor er Himmel und Erde und alle anderen Dinge geschaffen hat? Gar nichts. Er bedarf auch keines Werkzeugs dazu. Als er wollte, da war es geschehen, und aus nichts. Das war der Wille Gottes. (15) Der Wille Gottes soll in uns geschehen, inwendig, in der Seele der Vernunft und des Verstandes, die wir vom Himmel empfangen haben, und auf der Erde, das heißt in unserem Leib, den wir von der Erde haben. Somit soll es unser Bitten und unsere Absicht sein, daß wir hier an Leib und Seele vereint werden im Willen Gottes, der in uns geschehe und vollbracht werde. Der Mensch schließt alle Geschöpfe ein. Danach soll er leben, und nicht nach dem Fleisch. Das ist der Esel, den soll die Vernunft reiten mit dem Zaum, damit er sie nicht in die Irre trage auf einen anderen Weg des Verderbens. Und 3

Konjektur von Koch/Teske, 106, Anm. zu Z. 23ff.

Predigt LXXVI: Eine kurze Belehrung und Auslegung

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so geschieht der Wille Gottes auf der Erde, das heißt in unserem Leibe, der Erde ist, wie im Himmel geschieht. (16) „Gib uns heute unser tägliches Brot“ Der Mensch hat zwei Naturen, die Seele und den Leib, und ein jedes muß gemäß seiner Speise leben und von solchem Brot, wie es ihm angemessen ist. Und jedes von ihnen kann ohne sein Brot nicht leben; denn wir sind Wanderer und Pilger hier. Die Seele bedarf des geistlichen Brotes, wenn sie durch Sünden schwach wird, zu ihrer Stärkung, und auch, wenn sie von hinnen scheiden muß, als Gefährten. „Das ist das lebendige Brot, das vom Himmel gekommen ist“ (Joh 6,50f.). Dieses muß unser Geleit von hinnen und zurück sein, wenn wir an der Seele genesen wollen. Dieses Brot hat Gott nicht von Adam her genommen, denn dieser war verdammt. Er und alle seine Nachkommen waren Menschen und mußten sterben. Wenn wir nun wieder zur Gnade und zum ewigen Leben kommen sollten, mußte Gott die menschliche Natur an sich nehmen, damit der Mensch mit Gott vereint würde, damit es einen Mittler gäbe zwischen Gott und dem Menschen. (17) Da erhebt sich die Frage, ob es notwendig gewesen sei, daß Gott die menschliche Natur angenommen hat. Ja, es war ganz und gar notwendig für uns arme Menschen zu unserer Erlösung. Aber für Gott den Herrn war es nicht notwendig, er bedarf dessen auch nicht, ihm ist auch kein Nutzen daraus gekommen. Denn Gott ist ein so vollkommenes Gut, daß er alle Dinge, die er geschaffen hat, hundertmal besser hätte machen können ohne alle Mühe. Aber sich selbst kann er nicht besser noch vollkommener machen, und er ruht in sich selbst. Was aber hat ihn dazu gebracht, daß er Mensch geworden ist? Nichts anderes als die große Liebe, die er zu uns gehabt hat. „Wie wir durch unseren ersten Vater Adam alle starben, so sind wir in Christus, dem Herrn, alle wieder zum Leben erweckt worden“ (1 Kor 15,22). (18) Wir sagen: unser Brot. Wir sind alle Glieder der heiligen christlichen Kirche und werden geistlich gespeist; denn die Seele fließt aus von Gott. Von dieser Speise lebt sie,4 wie leiblich alle Glieder, die am Menschen sind – Hände, Finger, Füße, Haare und Nägel – ihre Speise erhalten, solange sie zusammengefügt und mit dem Leib vereint sind. Wird aber abgetrennt von dem Leib, dann kann ihm die Speise von Seiten des Leibes nicht zu Hilfe kommen. Ebenso ist es mit den geistlichen Gliedern der heiligen römischen Kirche. Ein Glied, das abgetrennt und weggeschnitten ist, sei es mittels des Bannes oder durch Ketzerei – kein gutes Werk kann ihm zustatten kommen. (19) Wir sagen: Gib uns heute unser tägliches Brot. Heute, nicht morgen: bin ich vielleicht tot. Darum gib es uns heute, damit wir nicht sterben; denn es ist ein Brot des Lebens. Das erkennen wir durch den Glauben. Wie natürliches Brot vor mir liegt: Ich sehe es wohl, aber die Kraft, die es in sich hat, die sehe ich nicht. Aber ich glaube , wenn ich es nehme, und 4

Statt des in der Leithandschrift überlieferten „sy leben“ wird „sy lebet“ übersetzt. Vgl. den Lesartenapparat zur Stelle.

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

es den Leib nährt und speist, daß es wahr ist. – Noch ein Gleichnis für das geistliche Brot: Ein Arzt gibt einem Kranken eine Arznei, die ihn gesund machen kann. Der Kranke sieht und weiß nicht, was das ist. Wollte er sie aber nicht nehmen, bevor er wüßte, wie und woraus sie gemacht wäre, dann könnte er so lange zweifeln und danach fragen, daß er vielleicht während dieser Zeit stürbe. So käme er zu spät für sich selbst, dem doch mit solcher Arznei gut geholfen wäre. Darum soll man sich sehr um bemühen. (20) Wer solche hohe Dinge erfahren und wissen will, und dies am allerwenigsten wissen kann, der nehme als Gleichnis einen Feuerstein: Der ist an sich selbst von kalter Natur und ist grob und dunkel anzusehen; doch hat er in sich verborgen helles Licht und solche Hitze, daß man damit eine ganze Stadt niederbrennen könnte. Darum ist es große Torheit von den Menschen, wenn sie solche hohe Dinge wissen wollen , wie dieses und jenes sein könne, während sie nicht einmal das Allermindeste davon wissen können, was für Eigenschaften Gott der Herr einer kleinen Mücke in ihrer Natur verliehen hat. Und solche Menschen richten ihre Gedanken nur auf sichtbare, leibliche Dinge wie die Speise und das, was man sieht und anfassen kann. (21) Nein, nicht so! Du mußt es geistlich verstehen; denn die leibliche Speise, die man sieht und greift, wird verzehrt, nimmt ab, wird weniger und zu nichts. Das tut die Speise der Seele nicht, die bleibt in Ewigkeit; denn die Seele wird in Ewigkeit leben. Darum bedarf sie ewiger Speise, die nicht weniger wird noch abnimmt, sondern sich täglich mehrt. Hierfür nimm ein Gleichnis an einem kleinen Licht: Man zündet an ihm eines, zwei, zehn oder hunderttausend an, und doch wird es um nichts weniger, wie viel man auch davon nimmt. (22) Nun soll von dem leiblichen Brot gesprochen werden. Gib uns heute unser tägliches Brot. Wir sind Glieder Christi – mag einer auch Papst, Kaiser, König sein –, der Reiche wie der Arme. Das Brot ist unser, wir sind alle Kinder Gottes, und was wir haben, das haben wir von Gott, der unser aller Vater ist. Darum, wer mehr von Gott empfangen hat, als er zu seinem Stand bedarf, und es den Armen und Bedürftigen vorenthält – dem, der der rechtmäßige Erbe dieses Gutes vor Gott ist, dem enthältst du das Seinige vor und bist ein Räuber. Aber es dauert nicht lange, und du mußt es doch lassen, und es läßt dich auch. Und es wird vielleicht einem anderen von Gott , der ein besserer Verwalter Gottes ist als du und sich das ewige Leben damit verdient, während du auf ewig um deiner Habgier willen brennen mußt. Wird es andererseits Eigentum eines Bösen, der es mit Sünden vertut, dann ist deine Strafe umso größer und vermehrt sich täglich immer mehr durch jede Sünde, so lange das Gut dauert. (23) Und das ist nur über diejenigen gesprochen, die auf gute Weise erworbenes Gut im Überfluß und habgierig bei sich behalten und nicht fortgeben, wie es der reiche Mann tat, der in der Hölle begraben wurde. Wie geschieht aber erst denen, die ihr Gut unrechtmäßig, mit Stehlen, mit bösen Machenschaften, Raub oder Betrug unter ihre Verfügungsgewalt zusammenbringen und ihren Kindern viel davon hinterlassen, die es ebenfalls für sich behalten? Und es ist zu fürchten, daß seine Kinder mitsamt einem selbst bis ins dritte oder vierte Glied wegen des

Predigt LXXVI: Eine kurze Belehrung und Auslegung

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bösen Gutes verdammt werden, die dich dort in Ewigkeit verfluchen werden: Ach, wie gut hast du es dann gemacht, daß du es [dein Gut] hier bösartig und rücksichtslos zusammengebracht hast, dort aber ewigen Jammer mitsamt den Deinen leiden mußt ohne Ende etc. (24) „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“ Die Schuld ist unser, und unser ist die Schuld und nicht Gottes. Soll unsere Schuld vergeben werden, durch wen soll das geschehen? Nur durch Jesus Christus und die heilige christliche Kirche wird uns vergeben alle unsere Schuld, wie groß, wie schwer, wie lang sie sei. Und hätte ein Mensch, wenn das möglich wäre, aller Menschen Sünden getan, dann wäre die gesamte Schuld immer noch für ganz klein einzuschätzen im Vergleich mit der Barmherzigkeit Gottes und dem Schatz der heiligen christlichen Kirche, daran soll der Mensch nicht zweifeln. Und könnte der Teufel Reue empfinden, der der Anfang aller Sünden ist, so könnten sie ihm vergeben werden; so groß ist die Barmherzigkeit Gottes. Aber wegen seiner Hoffart kann er keine Reue haben, wegen seiner eigenen Bosheit. (25) Was ist die Schuld? Gott den Rücken zu kehren und sich von ihm zu entfernen, freiwillig und entgegen der Liebe zum Nächsten, der ein Kind Gottes ist; und Gott erzürnst du in seinen Kindern. Willst du nicht deinem Nächsten um Gottes willen vergeben, dann wird dir von Gott auch nicht vergeben, wenn du bittest, daß dir deine Sünden vergeben werden, wie du deinen Schuldigern vergibst. Wie du willst, daß deinem Nächsten geschehe, so soll auch dir geschehen, und nicht anders. Darum vergib, dann wird dir auch vergeben! (26) Du willst, daß dir Gott vergebe, weil du ein Christenmensch und getauft bist und ein Kind Gottes genannt wirst. Also handle, wie dich dein Vater gelehrt hat: Vergib deinem Bruder eine Kleinigkeit, der auch ein Kind und Sohn Gottes ist. Du hast dich schuldig gemacht gegen Gott, den Allmächtigen und deinen Vater. Das ist etwas sehr Großes; soll dir das vergeben werden, so vergib deinem Bruder irgendeine Kleinigkeit, die er gegen dich begangen hat, seinen Bruder. Die geistlichen Rechtsbücher zeigen uns an, wie groß die Sünde eines Sohnes ist, der seinem Vater Leid zufügt. Es ist viel größere Strafe und Buße darauf gesetzt, als wenn er seinem Bruder Leid zugefügt hätte. Diese großen Unterschiede bedenke und vergib, auf daß dir vergeben werde. Sonst sind alle deine guten Werke, deine Almosen, dein Gebet, alles verloren und zunichte ohne Versöhnung mit deinem Nächsten, wie unser lieber Herr Jesus Christus selbst gesagt hat: „Hat dein Bruder etwas gegen dich, so lege dein Opfer nieder und versöhne dich mit deinem Bruder!“ (Mt 5,23f.) (27) „Und führe uns nicht in Versuchung“ Wir sind alle hier in dieser Welt in Versuchung, von vielen Feinden werden wir versucht. Darum müssen wir um Frieden und Geleit bitten. Denn wir sind auf dem Weg, daß wir hinweg sollen aus der Fremde dieser Welt zu dem Vaterland. Wer Geleit hat, der geht sicher; wer aber um Geleit weder bittet noch es begehrt, der wird oft gefangen und kommt zu Schaden. Diejenigen, die gewohnheitsmäßig sündigen, wandern ohne Geleit und sondern sich ab und wer-

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

den verblendet in der Finsternis der Sünde, so daß sie das wahre Licht nicht sehen können. Es weicht von ihnen ganz so, wie die Sonne untergeht, dann kommt die finstere Nacht. (28) Die Versuchungen sind so viele und so stark, daß ein jeder Mensch, er sei gut oder böse, wohl Hilfe von Gott braucht, damit er nicht verlassen werde in der Versuchung; denn wir werden dauernd angefochten und versucht von dem eigenen Fleisch, von der Welt und von dem Teufel. Diesen drei Feinden können wir kaum widerstehen, wir brauchen Hilfe von Gott; denn er will uns nicht verlassen. Aber wir müssen auch unseren Fleiß daran setzen. Wollten wir nur kräftig um Hilfe bitten, hätten aber nicht den Willen, von den Sünden abzulassen, dann würden wir von Gott auch verlassen. (29) Man findet leider viele Menschen, die mit ihrem bösen Willen der Versuchung zuvorkommen und nicht abwarten, daß sie versucht werden; sie bringen sich selbst in Versuchung und wollen den Ort und die Gesellschaft, die dazu Anlaß geben, nicht meiden und alles, was ihnen Anlaß zu Sünden gibt. Solch einer begibt sich freiwillig in Versuchung. Wäre das nicht ein törichter Mensch, der sich seinem Feind freiwillig in die Hände gäbe, dem er doch leicht entgehen könnte? Er hat kein Recht, zu sagen, daß ihn Gott verlassen habe. Vielmehr hat Gott ihm seinen Eigenwillen gestattet; denn Gott will niemanden gegen seinen Willen im Himmel haben. (30) „Sondern erlöse uns von Übel. Amen“ Es gibt hier nirgends einen Ort, wo kein Übel wäre. Wir sind dem Fleisch nach Adams Kinder und „von Jugend auf zum Übel geneigt“ (Gen 8,21). „Von Übel“, das heißt: Von Sünden. Alles Übels ist die Hölle voll und böse über alles Böse. Nichts ist so böse, daß man doch etwas Gutes darin fände, nur in der Hölle ist nichts Gutes, sondern alles Übel und alles Böse ohne Ende. Darum sollen wir Gott, den Herrn, bitten, daß er uns von dem Übel der Sünde erlöse, die ein Weg ist zu allem Übel, das heißt zur Hölle. Was ist „ von Übel?“ Das ist der Himmel und die ewige Freude und ewige Wonne; und nichts Besseres gibt es oder kann es geben, als an dem Ort , wo alles Übel ein Ende hat. Das verleihe uns der allmächtige Gott durch seinen eingeborenen Sohn, unseren Herrn Jesus Christus, mit der Gnade des Heiligen Geistes. Amen.

Predigt LXXVII Magna est fides tua: Fiat tibi, sicut vis Groß ist dein Glaube. Es geschehe dir, so wie du es wünschst Zeit: Ort: Fest: Zählung Koch: Edition: Deutsch:

21. März 1451 München Sonntag „Reminiscere“ (2. Fastensonntag) 72 h XVII/6, 475f. –

ZUSAMMENFASSUNG Nach der Nennung des Themas (n.1) folgt eine Homilie über dasselbe mit dem Ziel, die Demut als Voraussetzung für die Erhörung einer Bitte zu erweisen (n.2-6). Am Beginn steht eine allegorische Auslegung von Mt 15,22: Das Überschreiten der eigenen Grenzen. Die kanaanäische Frau symbolisiert die vernünftige Seele, die anima rationalis, die belehrt werden kann. Die besessene Tochter ist Symbol für das Sinnenleben, das animalische Leben, vita sensibilis. Die Grenze ist die intellektuale Kraft, virtus intellectualis, der menschlichen Natur. Es gibt eine Möglichkeit der Überschreitung dieser Grenze, nämlich durch den Glauben. Jenseits dieser Grenze ist das Reich Christi, das nicht von dieser Welt ist (n.2). Allein innerhalb der menschlichen Natur kann der Mensch Erlösung finden und zur Ruhe kommen. Barmherzigkeit zu erlangen, bedeutet das Heil und die Erlösung (n.3). Die Vorbedingung zum Erlangen der Barmherzigkeit: Die Seele muß sich bewaffnen mit dem Geist Christi, mit dem dieser den Fürsten der Finsternis besiegt hat (n.4). Auch die Demut, die sich im Niederfallen vor Jesus zeigt, macht die Frau noch nicht fähig für die Barmherzigkeit. Erst das Bekenntnis der eigenen Unwürdigkeit befähigt zum Erlangen der Barmherzigkeit und damit des Heiles, der Erlösung (n.6).

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Predigt LXXVII Groß ist dein Glaube. Es geschehe dir, so wie du es wünschst (1) „Groß ist dein Glaube. Es geschehe dir, so wie du es wünschst.“ (Mt 15,28) (2) Aus dem Evangelium muß angemerkt werden, auf welche Weise man aus seinen eigenen Grenzen (Mt 15,22) hinausgehen muß, um das Heil zu erbitten, weil ,,keiner da ist, der das Gute tun will, auch nicht ein einziger“, und ,,alle unnütz “ (Röm 3,12). Ebenso verstehe mit Hilfe der Frau die Seele als eine, die belehrbar ist. Mit Hilfe der Tochter verstehe das mit den Sinnen fühlbare Leben, das gequält wird von einem bösen Geist, weil es dem Fürsten der Finsternis (Eph 6,12; Lk 22,53; Kol 1,12) untertan ist. Und es ist die Tochter im Menschen, weil er das Leben von der vernunftbegabten Seele hat. Und die vernunftbegabte Seele sieht, daß die Tochter in Versuchung geführt und von einem bösen Geist gequält wird, und zwar durch tausend Kunstgriffe; sie kann die Quälerei nicht hindern, da Herrschaft stark ist, die sie aus ihrer eigenen Kraft nicht unterdrücken kann; geht sie aus ihren Grenzen hinaus, das heißt sie überschreitet die Grenzen der ihr eigenen Kraft der Vernunft und sucht , wie die Tochter befreit werden kann. Und nimmt sie Zuflucht zu einer Kraft, die jede Vernunft überragt. Und durch den Glauben wird sie zu Jesus geführt, weil sie geglaubt hat, daß jene in Jesus ist; sie hat gehört, daß von ihm eine allgemein heilende Kraft ausgeht. Daher: Das Gebiet, wo Jesus gleichsam als Erlöser gefunden wird, ist nicht von dieser Welt, wie er selbst sagt: ,,Mein Reich ist nicht von dieser Welt“ (Joh 18,36); sondern es ist nötig, daß die Seele aus der Welt ihrer eigenen Kraft hinausgeht und Christus in seiner Welt sucht. Und das kann nur durch den Glauben geschehen. (3) Sobald also die Seele mittels des Glaubens begreift, daß Jesus der Erlöser ist, dann kann sie die Hoffnung haben, an ihn heranzutreten nur innerhalb der Menschheit, nicht außerhalb unserer Natur, in der wir Ruhe finden. Denn alles, was Gott wirkt, war sehr gut (Gen 1,31). Deshalb wird jedes beliebige in seiner eigenen Art Ruhe finden. Es sucht also der Mensch das Heil innerhalb seiner menschlichen Art. Deshalb liegt in der artgerechten menschlichen Natur das einzige Gebiet für diejenigen, die das Heil suchen und andere des Heiles, zu dem der Suchende nur durch den Glauben gelangen kann. Daher gelangt die verwirrte Seele der Frau, bewegt durch den Glauben, bis zu dem Ort, wo der Mensch Jesus gewesen ist, von dem sie geglaubt hat, daß er der übermenschliche Erlöser . Und aus einer flammenden Bewegung des Glaubens heraus und der Hoffnung, vom Erlöser Erlösung zu erlangen, ruft sie: „Herr, erbarme dich“ (Mt 15,22) etc.; gleichsam als ob sie sagte: Da du der Erlöser bist, habe ich es nur nötig, daß du dich meiner erbarmst. Denn wenn so , dann weicht die Krankheit. Denn nur die Barmherzigkeit

Predigt LXXVII: Groß ist dein Glaube

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des Erlösers ist Erlösung. So wie nämlich das Mitleid des Menschen, der will und nicht kann, aus der Barmherzigkeit entspringt, so die Erlösung aus der Barmherzigkeit dessen, der will und es vermag. (4) Aber der Erlöser erhört nicht, weil bis dahin in der Bittenden noch nicht die Fähigkeit ist. Denn es ist notwendig, daß die Seele, die den Fürsten der Finsternis besiegen soll, so durch den Geist Christi bewaffnet ist, der allein ihn besiegt hat (Joh 16,33). Weil es daher allein jener Geist ist, dem alle bösen Geister weichen, ist es dann notwendig, daß unser Geist die Stärke des Geistes Christi anziehe (Gal 3,27; Röm 13,14), wenn er den Dämon besiegen soll. Und weil nicht jeder, der schreit ,,Herr, Herr“, eingetreten ist in jenen Geist (Mt 7,21), deshalb ist er bis dahin noch unfähig, jene Kraft aufzunehmen. Er wird umso mehr bis zur Aufdringlichkeit entflammt. Aber er erreicht bis dahin noch nichts, sondern fremde hält er dafür, auch wenn Begnadete eintreten. (5) Sie tritt heran „und fällt vor ihm nieder“ (Mt 15,25). Darin, daß sie vor ihm niederfällt, zeigt sie Demut, weil sie vor dem Erlöser, den sie als Mensch sieht, gleichsam wie vor Gott niederfällt. Daher ist der Glaube gewachsen; denn sie hat geglaubt, daß der jede Heilung gewähren müsse, vor dem sie wie vor Gott niederfällt. Und sie hat gerufen: „Herr, hilf mir!“; gleichsam als ob sie sagte: Ich erbitte Barmherzigkeit von dem frömmsten Menschen und Hilfe von dem mächtigsten Gott. Aber sie war bis dahin noch nicht aufnahmefähig. Daher sagt Jesus: „Es ist nicht gut, etc. .“ (6) Weil sie daher bekennt, sie sei nicht würdig im Vergleich zu den Söhnen, die vom Hause Israel gewesen sind, weil jene in eigentümlicherer Weise Gott verbunden sind etc., bewegte sie sich aber nicht weg, da Jesus sie Hund nannte; sondern sie hielt sich bis dahin für zu gering und weniger würdig, indem sie sich beim „Brot der Söhne“ (Mt 15,26) wie ein „Hündchen mit den Körnchen“ (Mt 15,27) begnügen will etc.; da war sie aufnahmefähig. Jesus hat also berücksichtigt, daß jener Glauben groß war, der sie so demütig gemacht hat. Und er hat gesagt: ,,O Frau, .“ (Mt 15,28)

Predigt LXXVIII Mortuus erat et revixit; perierat et inventus est Tot war er und ist wieder lebendig geworden; verloren war er und ist gefunden worden Zeit: Ort: Fest: Zählung Koch: Edition: Deutsch:

27. März 1451 Landshut Samstag nach dem Sonntag „Reminiscere“ (2. Fastensonntag) 73 h XVII/6, 477f. –

ZUSAMMENFASSUNG Der kurze Entwurf behandelt vor allem die Freude. Es läßt sich eine Zweiteilung ausmachen. Nach der Aufstellung des Themas (n.1) wird zuerst allgemein über die Freude über die Bekehrung eines Sünders gesprochen (n.2-5). Dann folgt entsprechend dem Tagesevangelium die Erklärung darüber, wie die Versöhnung des verlorenen Sohnes geschieht (n.6). Zunächst erklärt Nikolaus die Vorgehensweise Jesu, indem er auf die Stellung des Gleichnisses vom verlorenen Sohn innerhalb von Kapitel 15 des Lukasevangeliums hinweist: eine Aneinanderreihung von Gleichnissen über die Freude im Himmel und dann erst die des Vaters (n.2). Das folgende Kapitel 16 hat ebenfalls die Freude zum Thema: Man soll sich diejenigen zu Freunden machen, die sich schon im Himmel freuen (n.3). Das Suchen und das Auffinden des Sünders durch Christus bereitet Freude (n.4). Versöhnung ist Rückkehr, Sünde ist Trennung (n.5). Daran schließt sich jetzt eine allegorische Erklärung des Gleichnisses vom verlorenen Sohn an (n.6).

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Predigt LXXVIII Tot war er und ist wieder lebendig geworden; verloren war er und ist gefunden worden (1) „Tot war er und ist wieder lebendig geworden; verloren war er und ist gefunden worden“ (Lk 15,32), im fünfzehnten Kapitel des Lukas und im Tagesevangelium1 . (2) Merke: Die Vorgehensweise jenes Kapitels erklärt, wie die Freude vollkommen ist über die Bekehrung eines einzigen Sünders. Und das macht Christus klar zuerst in dem Gleichnis von dem verlorenen hundertsten Schaf und den neunundneunzig in der Wüste zurückgelassenen (Lk 15,4-7) etc. Er zieht den Schluß, auf welche Weise die Freude im Himmel so ist über einen einzigen Sünder, der Buße tut, als über neunundneunzig, die nicht bedürfen. Und mache eine Bemerkung über die Freude im Himmel. Ebenso spricht er danach über die Freude „vor den Engeln Gottes“ (Lk 15,10), indem er das Gleichnis von der verlorenen Drachme (Lk 15,8-10) anführt. danach führt er das Gleichnis vom verlorenen Sohn an und spricht über die Freude des Vaters (Lk 15,11-32). (3) Dann fügt er im sechzehnten Kapitel hinzu, wie wir uns Freunde machen sollen mit dem Mammon der Ungerechtigkeit (Lk 16,9). Denn da Freude im Himmel ist über die Bekehrung eines einzigen Sünders, und er sagt, das Himmelreich sei den Armen nach seinem Wort: „Selig die Armen, denn ihrer ist das Himmelreich“ (Mt 5,3; Lk 7,20), dann sagt er , daß wir uns jene zu Freunden machen sollen mit dem Mammon der Ungerechtigkeit (Lk 16,9), die sich, wie er sagt, freuen über die Bekehrung etc. Sobald nämlich einer es zustande bringt, daß sich die Armen in dieser Welt freuen, dann freuen sich die Armen im Himmel, die in den ewigen Wohnungen (Lk 16,9) sind; und jene nehmen in der Tat dich mit Freude in ihre ewigen Wohnungen auf, weil du diese oder deren Brüder oder Christus in ihnen aufgenommen hast. Und dies ist nichts anderes als Miterbe Christi (Röm 8,17) zu sein, durch den man aufgenommen wird zu seinem Reich. Und das Gleichnis von Lazarus (Lk 16,19-31) erklärt, daß die nicht von Christus aufgenommen werden, die ihn in den Armen nicht aufgenommen haben (Mt 25,41-45) etc. (4) Merke, wie Christus „kommt, zu suchen, was verloren“ (Lk 19,10) war vom Hause Israel, das heißt von den Söhnen Gottes (Röm 8,16; Gal 3,26f.). 1

Vgl. Missale Romanum, Evangelium vom Samstag nach dem zweiten Fastensonntag, Lk 15,11-32.

Predigt LXXIII: Tot war er und ist wieder lebendig geworden

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Und „er kam, zu suchen und heil zu machen“, und so soll es auch sein Stellvertreter auf Erden machen etc. Ebenso merke an, wie das Finden etwas Freudenreiches ist, weil es das Ziel der Bewegung des Suchenden ist. Und die Freude dieser Welt des Suchenden und Findenden und der Sich-mit-Freuenden ist ein Gleichnis , wie die Bekehrung des Sünders eine freudenreiche ist. Daraus hole heraus, wenn das Finden ein Ähnlichkeitsbild hat etc., so auch das Verlieren. Daher müssen wir aus dem Evangelium heraus schöpfen, wie der Sünder stirbt und verlorengeht, und wie er zurückkehrt, und wie jeder Sünder sündigt gegen den Himmel und gegen die Engel und gegen den ewigen Vater; denn so wie sich freuen über die Rückkehr, so sie verletzt im Sünder. (5) Denn die Rückkehr ist Versöhnung; Sünde ist Trennung. Merke also, wie jeder Mensch, der ohne Sünde ist, in einer Vereinigung mit Gott, den Engeln und Heiligen ist. Und deswegen folgt in der Taufe, sobald die Abschwörung an den Satan vollzogen worden ist, die Vereinigung mit Christus, das heißt mit Gott, den Engeln und Heiligen. Und so bricht der Sünder diese Bündnisverträge. (6) Merke, wie das Gleichnis angewandt werden kann auf eine doppelte Art von getauften und in Christus wiedergeborenen Menschen; in der Tat sind diese durch die Wiedergeburt christusförmige Adoptivsöhne Gottes (Röm 8,15) geworden, weil sie Christus angezogen (Gal 3,27) haben, und so für Christus Miterben, also Erben Gottes so auch Söhne (Röm 8,17). Es fordert der eine Sohn sein zustehendes Erbteil (Lk 15,12), das heißt wieviel vom Reiche er in der Lage ist aufzunehmen; das heißt wieviel er selbst mit seiner Vernunft von der zukünftigen Herrlichkeit begreifen kann. Und jener geht weg vom Vaterhaus, das ist die Kirche, in der der Vater wohnt. Und mit Dirnen (Lk 15,30), das ist mit Vergnügungen der Weisheit dieser Welt, braucht er alles auf, weil er den Glauben und die ganze Wahrheit verliert, die allein die Vernunft ernährt. Denn da er einmal versucht, außerhalb des Glaubens zu suchen etc., verbraucht er sein ganzes Hab und Gut (Lk 15,14); und da er einmal gerne von der Wahrheit essen würde, hat er auch nicht von den Schoten , der ihm gäbe (Lk 15,16). Dann kehrt er zurück zur Einsicht, und in seinem innersten Herzen sagt er zu sich: „Wie viele Lohnempfänger“ gibt es etc., (Lk 15,17). Das ist: Wie viele gibt es, die, obwohl sie nicht Söhne sind, sondern bis dahin Lohnempfänger, weil sie für Lohn dienen und noch nicht die Sohnesliebe haben! Die Liebe ist die wahre Caritas, die nicht sich sucht etc. Jene haben in der Kirche das Brot wegen des Glaubens.

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Du aber wirst zutiefst vor Hunger sterben (Lk 15,17), da im Bereich des Fürsten der Finsternis (Eph 6,12; Lk 22,53; Kol 1,12), welcher außerhalb des Glaubens ist, nur der reine Schatten des Nichtwissens ist. „Ich will mich“ also „aufmachen und gehen“ (Lk 15,18) etc.

Predigt LXXIXa Pax Friede Zeit: Ort: Fest: Zählung Koch: Edition: Deutsch:

30. März 1451 Regensburg Dienstag nach dem Sonntag „Oculi“ (3. Fastensonntag) 74 h XVII/6, 479f. –

ZUSAMMENFASSUNG Nach der Nennung der Exposition des Themas (n.1) folgt eine Homilie über das Evangelium des Tages (n.2-6). Der Wille des Vaters ist die Rettung aller Menschen (n.2). Darauf erläutert Nikolaus die Einbettung des Tagesevangeliums in eine Reihe von anderen Gleichnissen (n.3). Es folgt eine Erklärung der zwei Grundgedanken des Tagesevangeliums (n.4). Es besteht ein Zusammenhang zwischen menschlichem und göttlichem Handeln bei der Suche nach dem Vergehen und der Verzeihung (n.5). Vergehen gegen den Nächsten ist zugleich Vergehen gegen Gott (n.6). Beten in der Gemeinschaft und Frage nach der Zahl der Vergebung (n.7).

BEMERKUNGEN Über die besonderen Umstände in Regensburg und die darauf fußende Wahl des Themas vgl. die angegebene Literatur.

LITERATUR Hermann Schnarr: Beobachtungen zu einem noch unveröffentlichten Predigttext des Nikolaus von Kues, in: Einheit und Vielheit. FS für Karl Bormann, Würzburg/Altenberge 1993, 211-238.

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Predigt LXXIXa Friede (1) „Friede“ (Lk 10,5). Als Jesus einmal seine Jünger ausgesandt hat, bei Lukas im 10. Kapitel (Lk 10,1-12), hat er aufgetragen, sie sollten, in welches Haus auch immer sie einträten, zuerst sagen: „Friede diesem Haus“ (Lk 10,5) etc. Daher : „Schön sind daher die Füße derer, die den Frieden als frohe Botschaft verkünden.“ (Jes 52,7; Röm 10,15) Auch ermahnt uns das Tagesevangelium1 dazu: „Wenn sich vergangen hat, “ (Mt 18,15) etc., daß wir über den Frieden sprechen sollen. Denn nichts anderes wird im Evangelium ausgedrückt, als daß wir, wenn wir keinen Frieden mit dem Nächsten gehalten haben, für den ewigen Frieden nicht aufnahmefähig sein werden. (2) Das Evangelium hat die Absicht, uns zu unterrichten: So wie Gott der Vater will (Mt 18,14), daß alle gerettet werden, und diejenigen sucht, die verloren waren (Mt 18,11; Lk 19,10; 1 Tim 2,4), wie es aus den zwei vorhergehenden Gleichnissen im achtzehnten Kapitel des Matthäus (Mt 18,12-14.23-35) heraus zeigt; so ist es sein Wille, daß auch wir erstens tun sollen, – das heißt unser Bemühen soll es sein, daß niemand zugrunde geht – und zweitens den suchen sollen, der zugrunde gegangen ist, und nachdem wir ihn gefunden haben, drittens Freude darüber empfinden sollen. So wie daher Gott der Vater nicht nur sucht, sondern über den Gefundenen auch Freude empfindet (Mt 18,13; Lk 15,7), und die Freude Frieden ausdrückt und als Folge die Vergebung der gegen Gott begangenen Sünde, so will er, daß auch wir nicht nur vergeben, sondern uns auch freuen sollen, weil ja jener, der uns beleidigt hat, zurückkehrt und um Verzeihung bittet etc. (3) Richte dein Augenmerk also darauf, daß dieses Evangelium sich so nicht in der Bibel findet wie im Text des Meßbuches; denn bei Matthäus hat nicht, daß Jesus zurückblickend dem Petrus sagte: „Wenn einer gesündigt hat“ (Mt 18,15), sondern der Text schließt sich einfach an den Schluß des Gleichnisses vom verlorenen und gefundenen Schaf an (Mt 18,12f.), das heißt freilich, daß es nicht der Wille des Vaters ist, daß irgendeiner von den Schwachen zugrunde gehe (Mt 18,14); und daran wird unmittelbar angebunden: „Wenn aber einer gesündigt hat“ (Mt 18,14) etc. Wie wenn es sagen wollte: Weil jener der Wille des Vaters ist und weil dein Wille sich dem Vater gleichformen soll, deshalb sollst auch du wollen, daß niemand zugrunde gehe. Daher : „Wenn einer gesündigt hat“ etc.

1

Vgl. Missale Romanum, Evangelium vom Dienstag nach dem dritten Fastensonntag, Mt 18,15-22.

Predigt LXXIXa: Friede

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(4) Von daher scheint das Evangelium zu besagen, erstens: wie wir mit aller Sorgfalt und Vorsicht den Sünder, der sich gegen mich vergangen hat, suchen müssen, damit er gerettet werde, zweitens: Daß ich verzeihen und barmherzig sein muß, so wie auch unser Vater barmherzig ist (Lk 6,36) etc. Zuerst zu der Stelle: „Amen, wahrlich ich sage“ (Mt 18,18); von dieser Stelle her drückt das Evangelium aus, auf welche Weise ich barmherzig sein muß; und dies erhellt aus dem Text dort, : „Hinzutretend “ Simon „Petrus: (Mt 18,21) Denn die Frage, wie oft muß ich vergeben etc., setzt voraus, daß Christus über die Vergebung gesprochen hat. Und aus der Textstelle: „Gewonnen hast du eine Seele“ (Mt 18,15) etc. erhellt dies, daß der Bruder die Seele verliert, sobald er den Bruder beleidigt: „Wer seinem Bruder sagt “ (Mt 5,22), „wird der Hölle verfallen“. (5) Eine verwunderliche Lehre ist das daher, daß ich, der ich beleidigt worden bin, suchen muß, daß der Bruder nicht zugrunde gehe, der mich beleidigt hat etc. Und weil ich gehalten bin, betreffs des Heiles des Bruders in Sorge zu sein, ist es dann notwendig, daß ich vergebe. Denn wenn ich binden werde, wird er gebunden sein (Mt 18,18); wenn ich das Vergehen vergebe, vergibt Gott, so daß, wenn der Bruder mir ein Lamm wegnimmt und ich nicht vergeben will, er bei Gott nicht Vergebung erlangen wird, so lange er mein Lamm behält; so hängt die Verzeihung bei Gott von meiner Vergebung ab. Ich bin also gehalten, eine Beleidigung zu vergeben etc. O heilsame Gerechtigkeit! (6) Daher: „Wenn zwei von euch einmütig sind“ (Mt 18,19) etc. Denn sobald einmal Vergebung zwischen Zweien stattgefunden hat und sie einmütig zusammen die Meinung haben werden, daß sie Gott anflehen wollen, er möge Nachsicht üben gegenüber den wechselseitigen Vergehen oder denen des anderen, dann werden sie immer erreichen. Wenn du nämlich mich beleidigt hast und ich dir verziehen habe, dann hast du, indem du mich beleidigst, Gott beleidigt; jene Beleidigung vergibt Gott, wenn wir einmütig bitten; es wird uns zuteil werden, wie geartet auch immer diese Beleidigung gewesen ist. (7) „Wo nämlich zwei oder drei versammelt sind “ (Mt 18,20), das heißt in der Liebe nach Lyra.2 Und merke: Jener Text scheint den Grund für das zuerst Gesagte auszudrücken; denn jener ist in der Mitte aller Versammelten, in dessen Namen sie versammelt sind (Mt 18,20). Und indem daher zwei einmütig sind, um vom Vater zu bitten, wie es vorausgeschickt ist, weil sie im Namen des Vaters zusammengekommen sind „auf Erden“, dann haben jene den Vater,

2

Vgl. Nicolaus de Lyra: Postilla zu Mt 18,20.

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

„der im Himmel ist“ (Mt 18,19), „in ihrer Mitte“. Er hört also und erhört; denn so ist er „in deren Mitte“ (Mt 18,20), wie er herbeigesehnt wird. „Dann tritt Petrus heran“ etc. „Herr, wie oft“ : „Siebzig Mal sieben Mal“ (Mt 18,21f.), das heißt ohne Zahl, so oft – wie oft etc.

Predigt LXXIXb Pax Friede Zeit: Ort: Fest: Zählung Koch: Edition: Deutsch:

1. April 1451 Regensburg Donnerstag nach dem 3. Fastensonntag 74 h XVII/6, 481 –

ZUSAMMENFASSUNG Aus diesen Notizen läßt sich in etwa die gehaltene Predigt rekonstruieren. Eine Gliederung in drei Teilen kann man erschließen. Der erste Teil war dem Frieden gewidmet (n.1-2). Der zweite Teil legt das Tagesevangelium aus (n.3). Der dritte Teil hatte wahrscheinlich die Aufgabe des Kardinallegaten, die Verkündigung des Jubiläumsablasses, zum Thema (n.4). Im einzelnen lassen sich folgende inhaltliche Punkte ausmachen. Der Friede aus der Rechtfertigung aus dem Glauben an die Trinität nach dem Römerbrief (n.1). Der Friede nach Dionysius Ps.-Areopagita: Ohne Frieden kann nichts existieren (n.2). Gedanken aus dem Tagesevangelium: Die Synagoge und das Haus Petri: Heilung eines einzigen in der Synagoge – Heilung aller im Hause Petri; die Heilung durch Handauflegung; die Verkündigung des Reiches Gottes als Reich des Friedens nach dem Tagesevangelium (n.3). Notizen zum Gedanken der Versöhnung aus Altem und Neuem Testament: Über das Jahr der Wiedergutmachung nach Jesaja: 1. Über Jesus als Tag des Sabbats nach Lk 6,5 und Mt 12,8 2. Jesus ist größer a. als der Tempel nach Joh 2,19 b. als Salomo nach Mt 12,42 (n.4).

BEMERKUNGEN In der handschriftlichen Überlieferung ist dieser Entwurf nicht als selbständige Predigt überliefert, sondern zusammen mit der vorhergehenden. Daß es sich aber um Notizen für eine ursprünglich selbständige Predigt handelt, zeigt der Bezug zum Evangelium des Tages. Vgl. auch den Hinweis aus der Bemerkung zur vorhergehenden Predigt.

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Predigt LXXIXb Friede (1) Ebenso, wie beim ersten Mal1 über den Frieden, der dem Glauben folgt, wie im fünfzehnten2 Kapitel des Briefes an die Römer : „Als Gerechtfertigte aus dem Glauben haben wir den Frieden“ (Röm 5,1); auf welche Weise der Glaube an die Dreieinigkeit berührt wird im Frieden, im Wort wie in einem Zeichen und dem damit Bezeichneten. (2) Ebenso über den Frieden nach Dionysius, wie ohne Frieden nichts sein kann, und wie Gott „der Friede ist, der alles überragt“3 (Phil 4,7) etc. (3) Aus dem Evangelium,4 im vierten Kapitel des Lukas : zuerst, wie von der Synagoge in das Haus des Petrus “ (Lk 4,38) etc. Ebenso, wie er in der Synagoge einen Einzigen heilt (Lk 4,33-35), im Hause des Petrus alle nach Sonnenuntergang (Lk 4,40). Ebenso, wie er jedem einzelnen die Hand aufgelegt hat (Lk 4,40) etc. Ebenso über das Reich Gottes: wie er gesandt worden ist, um jenes zu verkünden als Frohe Botschaft (Lk 4,43) etc. (4) Merke: Zuerst muß gesprochen werden über Jesaja etc. und zwar auf welche Weise über das Jahr der Versöhnung (Lk 4,19; Lev 25,8-12) ; und auf welche Weise er selbst, , der Tag des Sabbats etc. dem sechsten Kapitel des Lukas (Lk 6,5) und dem zwölften des Matthäus (Mt 12,8). Ebenso, wie er selbst sagt, er größer als der Tempel (Joh 2,19; Mt 14,58; 15,29; 26,61; 27,40); ebenso mehr als Salomon (Mt 12,42) etc.

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Bei der ersten Predigt in Regensburg über das gleiche Thema. Hier handelt es sich um einen Fehler, ob von Nikolaus selbst oder dem Abschreiber, ist nicht zu entscheiden. Dionysius Ps.-Areopagita: De divinis nominibus, c.11 § 1-5 (Corpus Dionysiacum 1, p.217, 5-221, 12). Vgl. Missale Romanum, Evangelium vom Donnerstag nach dem dritten Fastensonntag, Lk 4,38-44.

Predigt LXXX Qui ex Deo est, verba Dei audit Wer aus Gott ist, hört auf die Worte Gottes Zeit: Ort: Fest: Zählung Koch: Edition: Deutsch:

11. April 1451 Nürnberg Sonntag „Judica“ (5. Fastensonntag) 75 h XVII/6, 482 –

ZUSAMMENFASSUNG Die überlieferten Notizen lassen uns vermuten, daß das aus dem Tagesevangelium genommene Thema nach zwei Seiten hin interpretiert worden ist, zunächst nach der Bedeutung von „aus Gott“, und dann vor allem auf die Bedeutung des „Wortes“ hin. Geburt und Wiedergeburt des Menschen geschehen aus Gott. Dies wird erläutert durch eine Parallele: Schüler – Lehrer, Mensch – Gott (n.1). In einem zweiten Teil wurde die Offenbarung des Wortes behandelt. Sie ist nur durch sich selbst möglich und in einer dem Empfänger angemessenen Weise. Ferner sollte über das Verhältnis von Offenbarung und Wahrheit gesprochen werden, dann über Wahrheit und Gutheit; dazu soll eine Bemerkung zu Blasphemie sowie über die Juden gemacht werden (n.2).

BEMERKUNGEN Die Notizen zu dieser Predigt sind als einzige überliefert von den insgesamt sechs von Nikolaus in Nürnberg gehaltenen Predigten. Von den anderen wissen wir aus einer Nürnberger Chronik. Daraus wissen wir auch, daß der Legat unter großer Anteilnahme der Zuhörer in Nürnberg gepredigt hat; vgl. dazu die von Josef Koch angeführten Quellen in CT I/7, 91.

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Predigt LXXX Wer aus Gott ist, hört auf die Worte Gottes (1) „Wer aus Gott ist, hört auf die Worte Gottes“ (Joh 8,48). Auf welche Weise , der aus Gott ist, durch die Wiedergeburt . Da soll dargelegt werden die Geburt des Menschen und Wiedergeburt. Und : wie die Schüler auf die Worte des Lehrers hören und so, wie der Platoniker auf Platon etc. Und deshalb können sie nur aus Gott sein, wenn von Gott belehrbar . Und : wie das Evangelium die Offenbarung des Wortes Gottes ist und wie das Wort nur durch sich selbst sich offenbaren kann. Und sobald es sich offenbaren soll, ist es nötig, daß es eine angemessene Form annimmt für jenen, dem die Offenbarung zuteilwerden soll. (2) Zuerst soll berührt werden, wie alles ist, damit die Wahrheit geoffenbart werde. Und so will die Wahrheit offenbart werden, und daher sind alle, die sie selbst berührt haben, äußerst begierig nach Offenbarung. Die Wahrheit ist Gutheit. Das Gute verströmt sich selbst etc. Ebenso über die Gotteslästerung etc. Ebenso über die Juden.

Predigt LXXXI Jesus est filius Dei Jesus ist der Sohn Gottes Zeit: Ort: Fest: Zählung Koch: Edition: Deutsch:

2. Mai 1451 Bamberg Sonntag „Quasi modo geniti“ (Weißer Sonntag) 76 h XVII/6, 483f. –

ZUSAMMENFASSUNG Anhand des sowohl aus dem Tagesevangelium als auch aus der Lesung vom Tage genommenen Themas (n.1) will Nikolaus in seiner Predigt die Bedeutung aufzeigen, die der Glaube an Jesus als den Sohn Gottes für jeden Menschen haben kann, nämlich die Möglichkeit, das ewige Leben zu erlangen. Drei Zeugnisse führt Nikolaus aus der Schrift für Jesus als Sohn Gottes an: Die Werke Jesu an anderen nach dem Tagesevangelium, die Werke Jesu in Bezug auf sich selbst nach der Lesung, das Zeugnis der Dreieinigkeit nach der Lesung (n.2). Die Wahrheit dieser Zeugnisse bestätigen die Wunder Jesu, seine Taufe als Gottgeborener, die Stimme des Vaters, daher die Dreieinigkeit (n.3). Was bedeutet für den Gläubigen der Glaube an Jesus, den Sohn Gottes? Die Erhöhung der menschlichen Natur durch Jesus als Sohn Gottes und die Folge für die menschliche Natur aus der Gottessohnschaft Jesu: die Unsterblichkeit (n.4).

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Predigt LXXXI Jesus ist der Sohn Gottes (1) Jesus ist der Sohn Gottes, (1 Joh 5,5; Joh 20,31) sowohl im Evangelium,1 als auch in der Epistel.2 (2) Um das zu beweisen, führt Johannes ein dreifaches Zeugnis an, und zwar das der Werke, die er für andere gewirkt hat durch Zeichen und Wunder, der Werke, die er auf sich selbst hin , und das Zeugnis des Vaters und des Wortes und des Geistes etc. Und so wie „jene drei ein Eines sind“ (1 Joh 5,7f.), so auch das Eine Zeugnis der Dreieinigkeit. Auf dieses erste Ziel hin ist das Evangelium geschrieben, wie es hier am Ende gesagt wird: „Dies aber ist geschrieben, “ (Joh 20,31). Auf das zweite und dritte ist die Epistel des Johannes geschrieben, wie er im fünften Kapitel sagt: „Dies“ schreibe ich Euch aber, „damit ihr wißt, “ (1 Joh 5,13) etc. Das Ziel dieses Glaubens aber ist , daß wir, indem wir das glauben, das ewige Leben erlangen, wie hier am Ende , „damit die Glaubenden das Leben “ (Joh 20,31), und in der Epistel: „Dies schreibe ich euch, damit“ „Ihr das ewige Leben habt, die Ihr glaubt im Namen des Sohnes Gottes“ (1 Joh 5,13) etc. (3) Er beweist, daß das Zeugnis wahr ist bezüglich der Wunder aufgrund der Werke, die niemand von den Menschen hat vollbringen können; und er beweist, daß er selbst der Sohn Gottes gewesen ist, weil er die Welt besiegt hat (1 Joh 5,4) durch Wasser und Blut (1 Joh 5,6; Joh 19,34); und der Geist bezeugt dies (1 Joh 5,6; Joh 19,35), und zwar , als er den Geist ausgehaucht hat mit Rufen (Mk 15,37; Mt 27,50). Denn damals haben die Ungläubigen den Glauben angenommen, „indem sie sagten: „ wahrhaft der Sohn “ (Mt 27,54). Sobald er daher durch das Wasser kam (1 Joh 5,6), nämlich das Taufwasser, kam er gleichsam als ein aus Gott Geborener (1 Joh 5,4); denn im Glauben an eine andere Welt, zu der nur die Reinen werden gelangen können, ist er gewaschen worden von Johannes (Mt 3,13-17 parr.), und da er nun einmal so sehr das Leben der anderen Welt dem vorgezogen hat, weshalb er jenes Blut vergossen hat, hat er Zeugnis abgelegt , daß er der Sohn Gottes . Aber die väterliche Stimme ist gehört worden, während der Heilige Geist auf ihn herabstieg: „Dieser ist Sohn, “ (Mt 3,17). Daher haben Vater, Wort und Geist Zeugnis gegeben, auf welche Weise Jesus der Sohn Gottes ist.

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Vgl. Missale Romanum, Evangelium vom Weißen Sonntag, Joh 20,19-31. Vgl. ebd., Epistel vom Weißen Sonntag, 1 Joh 5,4-10.

Predigt LXXXI: Jesus ist der Sohn Gottes

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(4) Von daher: Da dies feststeht, daher keinen Zweifel , daß Jesus, der in allem sowohl Mensch als auch wie ein Mensch in der Welt umhergewandelt ist, der Sohn Gottes gewesen ist.3 Das also muß geglaubt werden. Und so glauben wir, daß die menschliche Natur durch den Sohn Gottes angenommen worden ist; diese menschliche Natur ist in der Tat der Unsterblichkeit geeint worden. Dies wird bewiesen durch die wahrhaftige Auferstehung. Von da erhellt, daß unsere Natur in Christus Jesus dem ewigen Leben geeint worden ist. Wir können also das ewige Leben erreichen, , die wir Menschen von ebenderselben Natur sind, aber nicht in einem anderen wenn nicht in ihm selbst, wie es Johannes sagt im fünften Kapitel seines kanonischen Briefes: „Und dies ist das Zeugnis, daß Gott uns das ewige Leben gegeben hat. Und dieses Leben ist in seinem Sohn“ (1 Joh 5,11).

3

Vgl. Hilarius von Poitiers: De Trinitate IX, c.5 (CCSL 62A, p. 375, 5-7).

Predigt LXXXII Gaudium meum in vobis sit, et gaudium vestrum impleatur Meine Freude soll in euch sein, und eure Freude soll vollkommen werden Zeit: Ort: Fest: Zählung Koch: Edition: Deutsch:

3. oder 6. oder 13. April 1451 Bamberg Ausstellung der Reliquien 77 h XVII/6, 485-488 –

ZUSAMMENFASSUNG Das Thema, das am Ende des Tagesevangeliums steht, bestimmt die Richtung, auf die hin die Auslegung desselben erfolgen soll: die Bindung unseres Lebens an das Leben Christi (n.1). Die Erklärung des Bildes vom Weinstock: Jesus als der wahre Weinstock liefert die beste Frucht, den Geist, der zur Herstellung jedes Weines nötig ist (n.2). Dieser Geist ist der Wesensbestand des Weines. Der beste Wein, als ein Maximum an Qualität gedacht, hätte kraft des in ihm wirkenden Geistes die Macht, alles Wasser durch Vermischung mit ihm in Wein zu verwandeln (n.3). Christus als der wahre Weinstock verkörpert dies. Er verbindet die menschliche Natur mit der Unendlichkeit (n.4). Der wahre Weinstock ist nur ein einziger (n.5). Nur die Frucht dieses wahren Weinstocks kann Leben und damit verbunden Freude vermitteln (n.6). Die Verbindung der Rebe mit dem Weinstock ist notwendig für das Leben der Rebe; das ist ein Bild für die Kirche und die Gemeinschaft mit Christus (n.7). Bleiben in Christus bedeutet Verbundenheit mit dem Wort der Weisheit (n.8). Der wahre Schüler verherrlicht den Lehrer wie der Weinstock, dessen Reben reiche Frucht bringen (n.9). Verharren in der Liebe ist die Einung durch den Heiligen Geist, der die Liebe ist, mit Christus (n.10). Bewahren der Gebote Christi ist, den Geboten der Vernunft, die identisch sind mit dem ewigen Gesetz, zu folgen (n.11). Die Freude Christi ist zugleich die Freude seiner Jünger, daher auch unsere (n.12).

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

BEMERKUNGEN Die Bestimmung des Datums ist kontrovers. Die Rubrik der Handschrift gibt den 13. April an. Das Fest der Ausstellung der Reliquien war im Jahre 1451 aber am 6. April. Nach Alfred Wendehorst war Nikolaus vom 23. April bis 5. Mai in Bamberg. Daher dürfte die Angabe in der Rubrik auf einem Abschreibfehler beruhen. Die AC geben den 3. April als Termin für die Predigt an.

LITERATUR Alfred Wendehorst: Zum Itinerar des Kardinals Nikolaus Cusanus (1451), in: FS Friedrich Hausmann, Hg. Herwig Ebner, Graz 1977, 554f.

Predigt LXXXII: Meine Freude soll in euch sein

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Predigt LXXXII Meine Freude soll in euch sein, und eure Freude soll vollkommen werden (1) „Meine Freude soll in euch sein, und eure Freude soll vollkommen werden“ (Joh 15,11), im Evangelium.1 Merke an, wie Jesus vieles Köstliche gesprochen hat, unter anderem freilich: „Ich bin der wahre Weinstock“ (Joh 15,1) etc. Und er fügt hinzu: „Dieses habe ich euch gesagt, damit Freude“ (Joh 15,11) etc. Es soll also angemerkt werden, daß diese äußerst köstliche Frohbotschaft von daher die Offenbarung oder gute Ankündigung des ewigen Lebens und der himmlischen Königsherrschaft ist, für die es kein Ende gibt;2 denn sie zeigt, auf welche Weise unser Leben, wie wir Söhne der Verherrlichung sind, nur aus dem Leben Christi ist. (2) Von daher merke das Ähnlichkeitsbild: „Ich bin der wahre Weinstock“ (Joh 15,1) etc. Denn jener ist allein der wahre Weinstock, der in der Vollkommenheit keine Vermehrung aufnimmt. Wenn nämlich Gold wahrer sein kann, kann es vollkommener sein; so ist wahres Gold vollkommen. Christus aber wird dem wahren Weinstock verglichen, weil er selbst die Wahrheit ist und in allem den Vorrang hält. Welches ist aber der wahre Weinstock wenn nicht jener, der der Baum des Lebens ist? Daher ist im Weinstock eine einzige Kraft vom Himmel und von der Erde. Vom Himmel hat er den himmlischen Geist, da er eine gewisse Natur hat, wie wir aus Frucht erfahren. Denn der Baum wird an seiner Frucht erkannt (Lk 6,44; Mt 7,20). Wir finden aber in seiner Frucht einen gewissen Geist der Quintessenz, die vom Himmel ist. Und diese Erfahrung machen wir, weil er nach oben strebt. Sein Zentrum ist oben. So wie sich das Schwere nach unten bewegt, so jener Geist nach oben. Und ohne jenen Geist gibt es keinen Wein. (3) Daher ist der ganze Wesensbestand des Weines in jenem Geist. Dazu erfahren wir eine gewisse andere Natur außer jener geistigen; und jene ist eine aus Elementen bestehende, die in sich alle Elemente besitzt. Denn sie besitzt Erde, Luft, Wasser und Feuer. Und jener Geist, der von feuriger Natur zu sein scheint, erhält sich bei diesem Element, nachdem sich der Geist der ätherischen Natur abgetrennt hat. Oder besser : In einem guten Wein erfahren wir viel an Geistigkeit; im besten , der vom besten und wahren Weinstock kommt, ist eine so große Geistigkeit, daß sie nicht größer sein kann. Daher wird der eine Wein so stark gefunden, daß er ein Drittel an Wasser vertragen kann. Ein anderer wird gefunden, der kann die Hälfte 1 2

Missale Romanum, Evangelium vom Fest eines Märtyrers in der Osterzeit, Joh 15,1-11. Credo der Messe: „cuius regni non erit finis“: „Seines Reiches wird kein Ende sein.“

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

vertragen. ein anderer wird gefunden, der die Gleichheit , und noch ein anderer, der das Doppelte . Wenn es daher vielleicht einen derartigen Wein gäbe, der nicht stärker sein könnte, ist offenbar, daß jener alles Wasser der Welt ertrüge und in Wein verwandelte. Und merke: wie er verwandelte und nicht verwandelt würde. Und so wie jener Wein so sein würde, daß er Geist , auf ähnliche Weise Christus so Mensch, daß er Gott . (4) Daher: So wie jener Wein in seiner Natur die ganze Kraft des Weines so zusammenfaltete, daß er überdies intensiver und mächtiger als aller zugleich gesammelte Wein wäre, der jemals entsteht oder sein wird, so faltet Christus alle Vollkommenheit aller Menschen in sich zusammen. Und so merke, wie im Weine eine doppelte Natur ist: eine ätherisch himmlische und eine aus Grundstoffen bestehende irdische. Und so ist im Menschen bezüglich der Seele und des Körpers. Aber in Christus, da er wie der beste Wein ist, im Vergleich zu dem ein vollkommenerer nicht gegeben werden kann, ist dann die Macht von jenem verbunden der Unendlichkeit. Die Unendlichkeit aber ist Gott. Daher hast du, daß Christus, da er wie die Kraft des Weines vom wahren Weinstock ist, dann Gott und Mensch ist, dann darüber hinaus jener Weinstock ist; in sich unversehrt und in jungfräulicher Erde hat er das Wachstum empfangen. Und es gibt nur die einzige Erde der geheiligten Jungfrau und den einzigen Weinstock und den einzigen Winzer, den himmlischen Vater und die einzige wachstumsfördernde Wärme. (5) Um daher einen solchen Wein zu besitzen, ist es notwendig, daß du einen Weinstock und eine fruchtbare Erde und himmlische oder sonnenhafte Wärme und einen Winzer hast. Und wenn es der wahre Wein sein soll, ist es nicht möglich, daß er irgendetwas von einer fremden Mischung habe, so daß nicht auch jenes den wahren Weinstock suche. Und es kann nur einen einzigen Weinstock geben; denn wenn es mehrere , dann könnte jeder beliebige vollkommener sein durch Hinzufügung der Vollkommenheit von anderen. Und so gibt es nur einen einzigen Weinstock, eine einzige Erde, einen einzigen Winzer und einen einzigen Einfluß der Sonne: Die Erde die Jungfrau, der Weinstock ist Christus, die Sonnenwärme der Heilige Geist, der Vater vom Himmel der Winzer. (6) Dieser Weinstock, der Frucht bringen soll, kann nur die Frucht der Freude und des Lebens bringen. „Wein erfreut (Ps 104[103],15). Von daher: Da das Leben nur Freude ist, deswegen nennen wir das ewige Leben eine ewige Freude. Dann ist jener Weinstock der Baum des unendlichen Lebens und der ewigen Freude. Unmöglich ist es also, daß irgendeiner das Leben hat, wenn er es nicht vom Baum des Lebens hat, der Christus ist.

Predigt LXXXII: Meine Freude soll in euch sein

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Die Frucht des Todes, die Adam gegessen hat (Gen 3,2-6), stammt daher vom verbotenen Holz der Anmaßung, die Frucht des Lebens vom niedrigen Weinstock in der Mitte des Paradieses etc. Wenn also einer das ewige Leben haben soll, ist es nötig, daß es nicht ein anderes Leben von jenem, , ist als jenes von Christus. Denn es gibt nur ein einziges ewiges Leben und einen einzigen Baum des Lebens und einen einzigen Weinstock. (7) Die anderen also, die leben, sind notwendigerweise die Reben dieses wahren Weinstocks. Daher: Wenn auch die Rebe nicht der Weinstock ist, hat sie dennoch nur Sein im Weinstock. Nichts hat die Rebe, was sie nicht vom Weinstock empfinge. Wenn du also vom Baum des Lebens stammst und nachher durch Sünde abgetrennt worden wärest, ist offenbar, daß du nicht die Werke des Lebens hast, weshalb auch nicht die Frucht des Lebens. Hier eine schöne Betrachtung über Christus und die Kirche angemerkt werden. Es ist also nötig, daß Folgendes notwendigerweise wahr ist: Die Einung der Rebe mit dem Weinstock und des Weinstocks mit der Rebe ist dazu notwendig, daß die Rebe Frucht bringt. Weil aber der Weinstock der wahre ist, dann „bringt der, der in Christus bleibt und Christus in ihm, vielfältige Frucht“ (Joh 15,5). Er, , erklärt das Vorausgehende, indem er sagt: „Weil ihr ohne mich nichts tun könnt“ (Joh 15,5), so wie die Rebe ohne den Weinstock. (8) Daher ist Christus „die Quelle des Lebens“ (Ps 36[35],10) etc. Und richtig bindet er daran: „Und wenn einer nicht in mir bliebe, wird er hinausgeworfen so wie die Reben und er wird verdorren; und man sammelt ihn und wirft ins Feuer, und er verbrennt“ (Joh 15,6) etc. „Wenn ihr in mir bleibt und meine Worte in euch bleiben, so möget ihr bitten, um was auch immer ihr wollt, und es wird euch erfüllt werden.“ (Joh 15,7) Merke an, wie dies ein Bleiben im Sohn Gottes ist, was bedeutet, sein Wort bleibt in euch. Dann möchtest du weise sein, sobald einmal die Weisheit in dir bleibt. Dann lebt der Körper, sobald er einmal im Leben der Seele ist, und das heißt, sobald einmal die Seele im Körper bleibt etc. (9) „Darin ist mein Vater verherrlicht, daß ihr sehr viel an Frucht bringt und meine Jünger werdet.“ (Joh 15,8) Merke gut, wie der Winzer verherrlicht wird, wenn sein Weinstock, den er gepflanzt hat, ein solcher ist, daß seine Reben die meiste Frucht bringen, und sobald sie wahre Schüler der Weisheit des Vaters sind. So als ob er sagte: Darin wird Plato verherrlicht, daß die platonische Lehre viele solche Schüler hervorbringt, die sehr viel Frucht bringen. (10) So „wie geliebt hat, “ (Joh 15,9) Er zeigt, daß er nur über die Einung gesprochen hat, welche Liebe ist. Denn jene Einung und das Verharren der Rebe etc. gibt es nur in der Liebe. So wie daher die Liebe, mit der der Vater den Sohn liebt, der Heilige Geist und der Geist des Vaters ist, so ist die Liebe, mit der der Sohn seine Jünger liebt, der Heilige Geist, der der Geist

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

des Sohnes ist. Die Jünger werden also Christus nur verbunden durch die Liebe; und diese Liebe ist der Geist Christi. Die Belehrbaren werden der Weisheit nur durch die Liebe zur Weisheit geeint; und diese Liebe ist der verbindende Geist. Das bedeutet also das Bleiben am Weinstock, das heißt in der Liebe zu Christus, wie er sagt: „Bleibt in meiner Liebe.“ (Joh 15,9) (11) Und , wie dies geschieht, fügt er an: „Wenn ihr meine Gebote bewahrt, “ (Joh 15,10). Merke: Sobald Christus in uns spricht oder die ewige Weisheit, dann spricht jene in unserer Vernunft. Denn Christus ist die Weisheit und die unendliche Vernunft. Die Gebote der Vernunft sind die Gebote des ewigen Gesetzes, das die Weisheit des Vaters ist. Und so wie die Kunst nur Sein hat in der Vernunft, dann verharrt sie auch , sobald sie die Gebote bewahrt. Denn nicht anders kann die vernunfthafte Kunst verharren , wenn nicht im Bewahren der Gebote der Vernunft. Ihr Verharren ist nämlich das Bewahren dessen, durch das sie ins Sein gesetzt wird. Und dieses Bewahren ist Verharren und das Verharren ist Lieben. Und merke an: Sobald die Vernunft der Kunst gebietet durch das, was ihre Gebote bewahrt, bleibt zu bewahren, zu gehorchen, zu verharren, zu lieben dasselbe etc. Christus aber ist „gehorsam gewesen bis zum Tode“ (Phil 2,8); so auch wir Christus . Dann , wie Christus in der Liebe zum Vater bleibt, so auch wir etc. (12) Es folgt: „Dies habe ich euch gesagt, “ (Joh 15,11). Sieh jetzt, wie die Freude, in der wir ein freudenreiches Leben besitzen, nichts anderes ist wenn nicht die Freude Christi. Und in jener ist die Erfüllung unserer Freude, so wie es Johannes der Täufer gesagt hat: Die Freude Christi ist die des Bräutigams und unsere Freude ist wie die der Freunde des Bräutigams, die wir uns in der Freude des Bräutigams freuen (Joh 3,29). Sieh, daß in der ewigen Freude nur das Leben Christi ist und seine Freude, in der die Erfüllung unseres Lebens und unserer Freude ist.

Predigt LXXXIII Tristitia vestra vertetur in gaudium Eure Traurigkeit wird sich in Freude wandeln Zeit: Ort: Fest: Zählung Koch: Edition: Deutsch:

16. Mai 1451 Würzburg Dritter Sonntag nach Ostern 78 h XVII/6, 489-491 –

ZUSAMMENFASSUNG Die Predigt ist eine Homilie über das Tagesevangelium, aus dem auch das Thema genommen ist, das die Trauer und Freude über den Transitus Christi zum Ausdruck bringt. Eine Ankündigung der Verfolgung Christi ist zugleich eine der Apostel. Daraus ergibt sich eine Parallele zwischen dem Transitus Jesu und dem der Apostel. Eine Bemerkung über das Sprechen Jesu in Gleichnissen beschließt die Einleitung (n.1). Die Sendung Jesu ist die Verkündigung des Vaters, die nur er leisten kann nach den Zeugnissen aus dem Johannesevangelium und dem ersten Johannesbrief (n.2). Betont wird die Notwendigkeit des Heiligen Geistes dafür, daß man Zeugnis ablegen kann für Jesus als den Christus (n.3). Aufzeigen einer Koinzidenz von Weggehen und Herantreten Jesu (n.4). Die Gabe des Geistes in dieser Welt ist ein Geschenk und Teilhabe am Heiligen Geist (n.5). Die Verschiedenheit dieser Teilhabe ist notwendig (n.6). Die Bedingung für den Empfang des Heiligen Geistes ist der Weggang Christi. Trauer und Freude über diesen Weggang, der zugleich ein Wiederkommen besagt (n.7).

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Predigt LXXXIII Eure Traurigkeit wird sich in Freude verwandeln (1) „Eure Traurigkeit wird sich in Freude verwandeln.“ (Joh 16,20) Als Jesus den Aposteln seinen Hinübergang von dieser Welt zum Vater (Joh 13,1) eröffnet hat, hat er auch den Hinübergang der Apostel von dieser Welt zum Vater eröffnet. Denn wie er sagt im fünfzehnten Kapitel des Johannes: ,,Wenn sie mich verfolgt haben, werden sie auch euch verfolgen. Wenn sie mein Wort “ (Joh 15,20), von daher muß man seine Aufmerksamkeit darauf richten, wie Christus vom Vater gekommen ist, um den Vater zu verkündigen; und dieser kann nur durch den Sohn verkündigt werden. Daher sagt er im sechzehnten Kapitel: ,,Es kommt die Stunde, da ich nicht mehr in Gleichnissen zu euch spreche, sondern ich ganz offen über meinen Vater euch Kunde geben werde.“ (Joh 16,25) Solange also die Apostel den Heiligen Geist nicht gehabt haben, nämlich den Geist der Wahrheit, haben sie jene Verkündigung nur in Gleichnissen begreifen können. (2) So wie also Christus gekommen ist, um den Vater zu verkündigen, den die Juden Gott genannt haben (Joh 8,41), wie er selbst sagt, so sind die Apostel gesandt gewesen, um den Sohn Gottes zu verkünden: Christus der Apostel Gottes des Vaters, die Apostel die Gesandten Christi. Philippus sagte: ,,Zeige uns den Vater und genügt.“ (Joh 14,8) Christus antwortet: ,,Wer mich sieht, sieht auch den Vater.“ (Joh 14,9) Daher haben die Apostel den Vater nur im Sohn verkündet; denn niemand kennt den Vater wenn nicht der Sohn und , dem der Sohn offenbaren wollte (Mt 11,27). So wie also Christus, wie Johannes der Täufer sagt, den Vater verkündigt hat, weil er allein ihn sieht und von daher niemand das Zeugnis des Vaters hat wenn nicht der Sohn (Joh 1,18f.), so die Apostel das Zeugnis Christi: ,,weil wir nämlich gesehen haben und unsere Hände betastet haben“ (1 Joh 1,1) etc., wie Johannes in kanonischen ; und am Ende des fünfzehnten Kapitels des Johannes : ,,Und ihr werdet Zeugnis geben, weil ihr von Anfang mit mir seid.“ (Joh 15,27) (3) Aber niemand kann von der Wahrheit ein Zeugnis benennen, wenn er nicht das Zeugnis in sich selbst hätte, das heißt den Heiligen Geist zu besitzen. Niemand kann nämlich sagen: ,,Jesus Christus, wenn nicht im Heiligen Geist“ (1 Kor 12,3). So ist es dazu, daß die Apostel Zeugnis für Jesus ablegen, notwendig, daß sie den Heiligen Geist haben. (4) Aber sie könnten ihn nicht haben, wenn Christus nicht aus der sinnlich wahrnehmbaren Welt wegginge. Es kann nämlich der Wesensgrund der Harmonie nicht angeschaut werden, wenn nicht durch den verklingenden Ton der Stimme. Durch den Ton wird die vernünftige Kraft zur Bewunderung angestachelt, aber nach der Anstachelung hindert die Fortdauer den Philosophierenden etc.

Predigt LXXXIII: Eure Traurigkeit wird sich in Freude verwandeln

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Die Werke Christi haben die Verwunderung der Apostel angeregt; aber, während er eine sinnlich wahrnehmbare Anwesenheit darbot, konnte der Geist nicht besessen werden, in dem Gott, der Geist ist, allein sichtbar ist. Deshalb sagt er: „Wenn ich nicht weggegangen sein werde“ (Joh 16,7) etc. Also hat sich Christus zurückgezogen in sinnlich wahrnehmbarer Weise, damit er in wahrhafter Weise herantrete. Daher sagt er: ,,Es ist euch nützlich, daß ich weggehe.“ (Joh 16,7) Und so ist Weggehen ein tieferes Herangehen. (5) Und obgleich Paulus den Heiligen Geist besitzt, sagt er dennoch: „Teils erkennen wir und teils prophezeien wir.“ (1 Kor 13,9) Daraus haben wir, daß wir in dieser Welt nicht aufnahmefähig sind für das Unmeßbare; denn alles Unmeßbare und Unendliche etc. ist nicht von dieser Welt. Die Wahrheit nämlich, wie sie ist, ist nicht von dieser täuschungsanfälligen Welt, sondern Rätselbilder (1 Kor 13,12) der Wahrheit. Aus diesem Grund hatte allein Christus den Geist ohne Maß. Und daher sagt er: ,,Ihr nennt mich Meister und Herr“ etc. ,,Ich bin es nämlich auch.“ (Joh 13,13) Alle Apostel hatten den Geist wie Schüler, nicht wie der Lehrer, in getrennter Weise. Deshalb haben alle durch eine gewisse Teilhabe jenen Geist erlangt und nicht den Geist an sich. Und diese Teilhabe ist ein Geschenk. Von daher wird die Einfachheit des göttlichen Geistes Christi von uns in allen Christen durch Teilhabe gewonnen in der Mannigfaltigkeit der Gaben ; auch ist es nicht möglich, daß es Teilhabe nicht mit Mannigfaltigkeit gibt. (6) Von daher: So wie in den verschiedenen Sinnen der unterscheidende Geist in mannigfaltiger Weise partizipiert wird, so der Heilige Geist in den mannigfaltigen vernunftbegabten Seelen . Und weil die Sehkraft die unterscheidende Kraft nur in sichtbarer Weise partizipiert und auch die Hörkraft in hörfähiger Weise, dann ist Christus so wie wenn er die Kraft jeder Unterscheidung wäre in einem einzigen Organ. So wie über die Sterne und die Sonne. Denn in der Sonne ist die ganze Kraft des Lichtes, welches im Monde nur auf mondhafte Weise, im Saturn auf saturnhafte Weise ist etc. Aber obgleich nicht die ganze Kraft der Unterscheidung im Auge ist, hast du dennoch im Auge eine Unterscheidungskraft, durch die du in dir ein Zeugnis hast, daß die Seele wahrhaft vernunftbegabt etc. (7) Von daher wende jetzt deine Aufmerksamkeit darauf: Nachdem im Evangelium1 Christus eröffnet hat, wie die Apostel dulden müssen um seines Namens willen (Joh 15,20f.; 16,2f.), und daß diese Welt sie so verurteilen wird gleichsam als Feinde Gottes, weil Gott in dieser Welt nicht erkannt wird und das verehrt wird, was den in dieser Welt Lebenden Nutzen gewährt, hat er eine Voraussagung gemacht über die Ankunft des Geistes (Joh 14,16.26; 16,7) und daß jener Geist von ihm empfangen soll, weil der „Geist der Wahrheit“ (Joh 16,13; 14,17; 15,26) ; und indem er ihnen ankündigt etc. fügt er hinzu: ,,Eine kleine Weile werdet ihr mich nicht sehen“ (Joh 16,16) etc.

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Vgl. Missale Romanum, Evangelium vom dritten Sonntag nach Ostern, Joh 16,16-22.

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Und betreffs der „kleinen Weile“ hat es unter ihnen eine größere Frage (Joh 16,18) gegeben. Da hat dann Christus erklärt: ,,Wahrlich “ (Joh 16,20) etc. Denn Christus ist traurig gewesen, als er von dieser Welt hinweggegangen ist (Mt 26,38; Mk 14,34) etc. Er hat geweint und gefleht etc. Dennoch freute sich die Welt etc. Aber diese Traurigkeit hat bis zu einer kleinen Weile gedauert (Joh 16,20). Während die Traurigkeit so andauerte, wird er nicht gesehen, sondern, indem zurückweicht, tritt die Freude herzu und er wird gesehen, weil er zum Vater geht (Joh 16,16f.). Dort nämlich wird der Sohn gesehen nach der Traurigkeit, weil er selbst sieht etc.

Predigt LXXXIV Amen, amen, dico vobis: Si quod petieritis Patrem in nomine meo, dabit vobis Amen, amen, ich sage euch: Wenn ihr den Vater in meinem Namen bitten werdet, wird er euch geben Zeit: Ort: Fest: Zählung Koch: Edition: Deutsch:

30. Mai 1541 Erfurt Fünfter Sonntag nach Ostern 79 h XVII/6, 492-495 –

ZUSAMMENFASSUNG Nach der Aufstellung des Themas aus dem Tagesevangelium (n.1) folgt eine Bemerkung zu den Adressaten des Wortes Jesu (n.2). Das Ziel der Bitten an den Vater ist Liebe zu Jesus (n.3). Der Vater ist zwar der Adressat der Bitten, kann aber nur über den Sohn, nämlich Jesus, erreicht werden (n.4). Die Erhörung der Bitten vermittelt Freude über die Erfüllung der Bitte (n.5). Die Weisheit des Vaters ist Ziel der Bitten und spendet ewiges Leben und ewige Freude (n.6). Jesu Reden ist zunächst noch gebunden an Gleichnisse (n.7). Vorbedingung der Liebe des Vaters ist die Liebe zu Jesus. Der Vater aber ist in der Ewigkeit (n.8). Der Ausgang Jesu vom Vater und sein Tod in dieser Welt offenbaren den Vater, der in einer anderen, geistigen Welt ist (n.9). Das Reden Jesu ist zuletzt ganz offen, ohne Gleichnis (n.10).

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Predigt LXXXIV Amen, amen, ich sage euch: Wenn ihr den Vater in meinem Namen bitten werdet, wird er euch geben (1) „Amen, amen, ich sage euch: Wenn ihr den Vater in meinem Namen bitten werdet, wird er euch geben.“ (Joh 16,23) (2) Verfolge den Text weiter und bemerke zuerst: Zu welchen spricht er, das heißt zu Menschen, die sich Gott unterworfen haben und dem Lehrer, und belehrbar für Gott (Joh 6,4) sein werden und Jünger Christi. Aufmerksam beachtet werden muß, was der Mensch , und was der von Gott erwählte Mensch , –„Ich habe euch erwählt“ (Joh 15,16) – und was jener erbitten kann. Denn was erbittet der Jünger, wenn nicht, daß er handle wie der Lehrer? (3) Und merke den Text, wo er sagt: ,,Ich sage euch“ und ,,ihr werdet bitten“ (Joh 16,23) etc. Denn was ist bitten anderes als jenes aus ganzem Herzen erstreben, was geglaubt und erhofft wird? Daher ist jener der wahre Jünger, der glaubt, daß Jesus der Sohn Gottes ist; und jener kann nur Christus lieben, wie es am Ende des Evangeliums1 . Wie könnte denn die Vernunft ihr Leben, das heißt die Wahrheit, von der sie Sein hat und lebt, nicht lieben? Wer also glaubt, daß Jesus vom Vater ausgegangen ist (Joh 16,27f.), jener liebt ihn notwendigerweise, weil er glaubt, er ist derjenige, durch den alles . Er weiß, daß er das Brot des Lebens (Joh 6,35) ist und alles, was erhofft werden kann etc. (4) Der Text sagt: ,,in meinem Namen“ (Joh 16,23). Denn der „Vater der Erbarmungen“ (2 Kor 1,3) kann den Bittenden nicht das Leben und das Heil verweigern, wenn sie im Leben und im Erlöser, das heißt in der Erkenntnis oder im Glauben an den Sohn , dieses erbitten. Der Vater ist nämlich nur im Sohn erkennbar. Und daher kann im Namen des Sohnes nichts anderes erbeten werden als das Zeigen des Vaters, wie Philippus sagt: „Zeig uns den Vater, und genügt uns.“ (Joh 14,8) Dieses Zeigen ist Erkenntnis und diese Erkenntnis ist das Leben der Vernunft, deren Einsehen zu leben bedeutet. Und diese Bitte vermag niemand als zutiefst Unwissender zu tun; es ist nämlich nötig, daß er wisse, allein im Namen des Sohnes kann diese Forderung geschehen. Deswegen haben die Apostel bis zu jenem Zeitpunkt nicht irgendetwas in seinem Namen erbeten, in welchem Namen allein das Leben der Vernunft oder die Erkenntnis des Vaters erbeten werden kann. (5) Von daher haben die Apostel nicht irgendetwas im Namen Christi erbeten, weil sie nicht den Glauben hatten, es würde ihnen in diesem Namen alles gewährt. Er ermuntert sie und sagt: „Bittet, und ihr werdet empfan-

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Vgl. Missale Romanum, Evangelium vom fünften Sonntag nach Ostern, Joh 16,2330, hier bes. 16,30.

Predigt LXXXIV: Amen, amen, ich sage euch

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gen, so daß eure Freude vollkommen sei.“ (Joh 16,24) Dann aber ist deren Freude notwendigerweise vollkommen, sobald sie auf dem Wege der Erfahrung finden, daß sie zu jenem wunderbaren Wissen gelangt sind; das bedeutet: Allein im Glauben an Jesus erreichen sie alle alles, was sie erbitten. Mach eine Bemerkung bezüglich der vollkommenen Freude, so wie wenn einer das Manna betrachten möchte, in welchem die Juden die sinnlich wahrnehmbare lebenspendende Speise gefunden haben entsprechend jedem Verlangen des sinnlich wahrnehmbaren Geschmacks. Denn was auch immer die Juden entsprechend einem solchen Verlangen erbeten haben, haben sie gefunden und empfangen. Das Manna ein Vorbild Christi. Daher sagt Christus, daß in jener Speise eine solche Speisung war; aber diejenige, die aßen, sind gestorben (Joh 6,49), weil es die Speise dieser sinnlich wahrnehmbaren Welt gewesen ist. Er selbst aber nennt sich Brot vom Himmel (Joh 6,50), das unsterbliches Leben gewährt. Daher merke an, daß so wie im sinnlich wahrnehmbaren Manna die unsichtbare Speise gewesen ist, so im sinnlich wahrnehmbaren Christus die geistige und unsterbliche . Und merke an: Ich frage: Wie ist im Manna die sichtbare Eigenschaft gewesen? ist dann die unsichtbare Süße gewesen? Wie ist die allein für den vernunfthaften Glauben empfängliche Speise gewesen? Daher ist Christus das Brot oder das verborgene Manna, was niemand kennt wenn nicht der, der es aufnimmt. (6) Denn der sichtbare Mensch die Süße und Weisheit des Vaters, und in jener gewährt der Vater das Leben. Unser Vater ist der Vater von allem Sein, Leben und Denken. Er selbst gewährt alles, was die Vernunft ernähren kann, damit sie in ewiger Weise im Sohn lebt oder in der Schöpferkunst oder in seiner Weisheit, so wie der Vater einer Lehre durch das Mittel der Meisterschaft oder der Kunst in der sinnlich wahrnehmbaren Stimme dem Schüler Speise Lehre gewährt. O wie groß war die Freude für die Apostel, da sie im Namen Jesu gebeten und empfangen haben, indem sie sahen, daß sie alles Erbetene erreicht haben. Gewiß war die Freude vollkommen (Joh 16,24), so wie , als ihnen die dämonischen Geister gehorcht haben (Lk 10,17; Mk 16,17), wie wenn Schüler, die mit höchstem Verlangen alles zu wissen erstreben würden, ein abgekürztes Wort des Aristoteles, kurz und schnell begreifbar, fänden, und daß sie in jenem, was auch immer sie bezüglich der ganzen Wissenschaft des Aristoteles zu wissen erstrebten, erreichen würden. Gewiß hätten sie eine große Freude; aber noch größere, wenn sie auch das Wissen Platons dazu , auch wenn des Hypokrates etc. ; aber die größte , wenn sie die Erfahrung machten, daß dort in absoluter Weise die Kunst alles Wißbaren wäre. Offenbart ist aber, daß der Vater alles durch das Wort oder die Vernunft erschaffen hat. In der Vernunft also oder in Jesus, in dem die göttliche Vernunft selbst sich in körperlicher oder vollkommener und wesenhafter Weise verhält, alles zu glauben und zu hoffen und zu bitten und dort aufgenommen zu werden,

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

ist das Ziel jeder Untersuchung, weil zu wissen bedeutet, eine Sache durch Ursache erkennen etc. (7) Merke, wie er gesagt hat: „Dies in Gleichnissen “ etc., indem er hinzufügt: „Es kommt die Stunde, da spreche ich nicht mehr in Gleichnissen zu euch, sondern ganz offen werde ich euch vom Vater verkünden“ (Joh 16,25) etc. Siehe, wie im Namen des Sohnes bitten nur ein Gleichnis über die Ankündigung des Vaters ist, wie wenn einer über die bewundernswerte Einsicht des Aristoteles sprechen wollte und irgendein Buch zeigte, das dessen ganze Lehre enthielte. Unwissende sähen daher den Aristoteles nur gleichnishaft; nachdem man jene aber zur Einsicht, die hinter dem Buchstaben verbirgt, führte, würden jene ohne Gleichnisse in der Vernunft, obwohl sich das Herausragende unter dem Buchstaben verbirgt, die Einsicht des Aristoteles ohne Rätselbild in der eigentümlichen Gestalt sehen auf eine Weise, wie der Sohn Gottes „Wesensgestalt“ (Hebr 1,3) des Vaters genannt wird. Sobald man dazu gelangt ist, daß der Vater so im Sohn verkündet worden ist (Joh 16,25), dann wird, wie Christus sagt, im Namen des Sohnes der Vater gebeten, weil nur dort irgendetwas erbeten werden kann. Und dann ist es nicht nötig, daß der Sohn den Vater bitte, weil die Liebe bewirkt, daß der Vater nicht verweigert etc. (8) „Der Vater selbst nämlich liebt “ (Joh 16,27) etc. Merke, wo er sagt: ,,Weil ihr mich geliebt habt und geglaubt habt“ (Joh 16,27), und wie niemand vom Vater geliebt werden kann wenn nicht derjenige, der Jesus liebt, und niemand ihn liebt wenn nicht wer glaubt, daß er ausgegangen ist vom Vater. „Ich bin ausgegangen vom Vater und bin in die Welt gekommen“ (Joh 16,28) etc. Merke, wie der Vater nicht von dieser Welt ist; denn der Vater ist Geist. Der Geist ist aber nicht von dieser sinnlich wahrnehmbaren Welt. Was nämlich gesehen wird, ist der Zeit unterworfen. Die Ewigkeit also ist nicht von der sichtbaren Welt; und diese sichtbare oder sinnlich wahrnehmbare Welt ist , in der der Fürst der Finsternis oder der Fürst dieser Welt (Joh 12,31; 14,30; 16,11) herrscht. (9) Ausgegangen also ist der Sohn des ewigen Vaters vom unsichtbaren Reich des Vaters (Joh 16,27f.; 13,3) in diese Welt, damit er sich diese Welt unterwerfe, so daß er so alles Gott dem Vater unterwerfe (1 Kor 15,27f.) und den Fürsten der Welt besiege (Joh 12,31). Daher konnte er jenen nicht besiegen, außer sobald man in der Welt Jesus für besiegt hielte. Deswegen hat er durch den Tod den Tod vernichtet. Und der Vater ist der Welt durch den Tod des Sohnes geoffenbart worden; und jene Offenbarung ist der Sieg. Er ist also vom Vater gekommen gleichsam als Licht einer Lampe, das herabsteigen und leuchten und entzünden und aufhören zu brennen und wiederum aufsteigen soll, so wie man es von der Lampe und österlichen Kerze in Jerusalem liest, oder so wie der Lehrer, der eine verborgene Kunst durch sinnlich wahrnehmbare Worte in einem einzigen Gebiet weitergibt und dann abreist etc.

Predigt LXXXIV: Amen, amen, ich sage euch

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(10) Es sagen ihm die Jünger: ,,Siehe, jetzt sprichst du offen“ (Joh 16,29) etc. Denn zuvor hatte er gesagt: ,,Eine Weile“ (Joh 16,16) etc., und die Jünger verstanden dies nicht, weil es verborgen und in Gleichnissen war. Und bevor sie ihn fragten, hat Jesus ihnen gesagt, wie sie über dies fragen sollen; und er sprach vieles. Jetzt spricht er ganz offen, wie er die Welt verlassen will etc. Es sagen die Jünger, wie er jetzt offen gesprochen hat ohne Gleichnis: ,,Eine Weile und ihr werdet sehen“ (Joh 16,16.19) etc. Und weil er klar darauf antwortet, was sie selbst untereinander fragen, sagen sie nun: ,,Wir wissen “ (Joh 16,30) etc. Weil er, bevor sie selbst ihn fragen, antwortet, deshalb sagen sie: ,,Und es ist nicht nötig“ (Joh 16,30) etc. „Darin glauben wir, daß du von Gott ausgegangen bist“ (Joh 16,30); denn niemand kann alles wissen wenn nicht der, der von Gott ausgegangen ist. Und weil sie die Erfahrung hatten, daß Jesus das Verborgene weiß und auf jenes antwortet, haben sie aufgrund dessen geglaubt, daß er vom Vater ausgegangen ist. Und merke , daß Christus sagt, er sei vom Vater ausgegangen. Sie selbst aber sagen, aus Gott ; so wie es Sitte der Juden war, wie Christus vom Vater sagt, den ihr euren Gott nennt (Joh 8,54).

Predigt LXXXV Sic veniet, quemadmodum vidistis eum euntem Er wird so kommen, wie ihr ihn habt gehen gesehen Zeit: Ort: Fest: Zählung Koch: Edition: Deutsch:

3. Juni 1451 Erfurt Christi Himmelfahrt 80 h XVII/6, 496f. –

ZUSAMMENFASSUNG Das aus der Lesung vom Tag genommene Thema wird erläutert und gibt in Kürze den Inhalt des folgenden Hauptteiles: Das Kommen Christi in die Welt ist Offenbarung des Vaters. Das Verlassen der Welt ist Rückkehr zum Vater. Das Wiederkommen ist das Gericht. Das Urteil der Welt steht im Gegensatz zum Urteil Christi (n.1). Der verherrlichte Christus war trotz seiner Unsichtbarkeit doch wahrer Mensch (n.2). Der verherrlichte Zustand Christi kann verdeutlicht werden in Analogie zum Wort: im Geist konzipiert, auf Papier geschrieben, in Stein gehauen, verbunden mit der Materie, Loslösung davon (n.3). Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit des Wortes (n.4). Die Gaben des verherrlichten Leibes nach der traditionellen Lehre der Dogmatik sind: Klarheit, Feinheit, Beweglichkeit, Leidensunfähigkeit (n.5). Die Besiegung der Welt durch Christus geschieht durch Demut und Gehorsam. Christus als Richter ist Mensch (n.6).

BEMERKUNGEN Außer den beiden überlieferten Predigten LXXXIV und LXXXV hat Nikolaus in Erfurt noch eine dritte, nicht überlieferte gehalten, von der wir aber aus der Chronik des Hartung Cammermeister wissen. Vgl. dazu die Angaben bei Josef Koch, CT I/7, 94.

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Predigt LXXXV Er wird so kommen, wie ihr ihn habt gehen gesehen (1) „Er wird so kommen, wie ihr ihn habt gehen gesehen.“ (Apg 1,11) Christus ist vom Vater ausgegangen und ist in die Welt gekommen (Joh 16,28), damit er Zeugnis gebe von der Wahrheit (Joh 18,37), und das heißt der Welt den Vater offenbaren. Er hat die Welt verlassen und ist zum Vater zurückgekehrt (Joh 13,1). Und wie man ihn hat gehen sehen, so wird er kommen (Apg 1,11). Dieses Kommen ist ein Kommen, um die Welt zu richten, so wie er selbst von der Welt gerichtet worden ist. Denn wie die Wahrheit gerichtet worden ist durch die Welt, so wird die Welt gerichtet durch die Wahrheit. Und dabei überlege: Wie Christus, der die Wahrheit ist, gleichsam als Tor gerichtet worden ist, so „ist die Weisheit dieser Welt bei Gott Torheit“ (1 Kor 3,19) etc. (2) Merke, wie sie ihn haben weggehen sehen, und wie „die Wolke ihn aufnahm weg von ihren Augen“ (Apg 1,19). Und mache aufmerksam , daß er sich sichtbar gemacht hat, sobald er gewollt hat; und sobald er gewollt hat, wurde er nicht gesehen. Auch sobald er nicht gesehen wurde, war er dennoch nicht weniger wahrer Mensch, weil er einen verherrlichten Körper hatte. (3) Und merke Beispiel an: Wie wenn einer den Plan faßte, daß das innere vernunfthafte Wort auf irgendeinem Papier aufgeschrieben werde, und nachdem es dort einen Körper aus der Materie des Papiers angenommen hätte, dann jene Buchstaben gleichsam aus dem Papier erhoben wären. So wie sie aus einem Stein erhoben werden durch die Kunst eines Meisters, darauf, nachdem jene Buchstaben vollkommen erhoben worden sind, abgetrennt würden, so daß sie nicht der Materie anhaften und dennoch existierende Buchstaben wären unter jenen Gestalten und unter dieser Quantität, so wie sie herausgezogen worden sind. Es wird also vorgestellt, daß jene Aussage, die in sich das vernunfthafte Wort enthält, sich so verhält, daß jenes Wort lebendig nicht befreit würde von den Buchstaben, in denen es ist und denen das Wort untrennbar verbunden ist, sondern befreit würde von der Körperlichkeit und dem Zusammenziehen der Buchstaben, so daß das Wort in den Buchstaben verharrend nicht eingeschränkt worden wäre zu dem Maß der Buchstaben, sondern von jener Zusammenziehung frei wäre; und dies durch den Tod, durch den die Gestalt dieser Welt vergeht (1 Kor 7,31). (4) Von daher: Wenn dann auch das Wort im Buchstaben nicht ohne Weise der Buchstaben wäre, kann es dennoch sein auf eine Weise, auf die es will. Und ein solches Wort, sobald es gewollt haben würde, hat die Weise des Seins von Buchstaben, die den Augen unsichtbar ist entweder wegen der Kleinheit oder der Größe oder ohne sichtbare Farbe etc.

Predigt LXXXV: Er wird so kommen, wie ihn habt gehen gesehen

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(5) Und es werden die Gaben genannt: Durch die Klarheit sehe ich die Abtrennung von der sinnlich wahrnehmbaren Farbe; die Feinheit: die Trennung von der sinnlich wahrnehmbaren Zusammenziehung der Quantität; die Beweglichkeit, die Trennung von der sinnlich wahrnehmbaren Bewegung oder Langsamkeit oder sinnlich wahrnehmbaren Abfolge; die Leidensunfähigkeit, das heißt die Trennung von der sinnlich wahrnehmbaren Berührung. (6) Merke den Text im dritten Kapitel der geheimen Offenbarung: „Wer gesiegt haben wird, jenem werde ich geben, zu sitzen mit mir auf meinem Thron, so wie auch ich besiegt habe und sitze mit meinem Vater auf dessen Thron.“ (Offb 3,21) Denn daraus erhellt, wie jeder, der die Welt besiegt, auf die Weise wie Christus auf dem Throne Christi sitzen wird etc. Aber er hat durch Demut und Gehorsam gesiegt: „Weswegen er erhöht hat“ (Phil 2,9) etc. Also so auch uns. Er wird kommen zum Gericht, der König , „welcher eingesetzt worden ist als Richter“ (Apg 10,42), Apostelgeschichte ; Richter, insofern Mensch .

Predigt LXXXVI Qui male agit, odit lucem Wer schlecht handelt, der scheut das Licht Zeit: Ort: Fest: Zählung Koch: Edition: Deutsch:

14. Juni 1451 Magdeburg Montag nach Pfingsten 81 h XVII/6, 498 –

ZUSAMMENFASSUNG Das Thema ist zwar aus dem Tagesevangelium genommen (n.1), die Predigt selbst hat aber darüber hinaus auf das ganze dritte Kapitel des Johannesevangeliums zurückgegriffen, wie die Notizen vermuten lassen. An erster Stelle wird die Wiedergeburt behandelt, die im Geiste geschieht aufgrund des Glaubens in der Taufe (n.2). An zweiter Stelle folgen Ausführungen über die Vermittlung des Lebens durch die Wiedergeburt aus dem Geiste, erläutert durch zwei Bilder: der Wind, der weht, wo er will, und die von Moses erhöhte Schlange in der Wüste (n.3). An dritter Stelle spricht Nikolaus wohl über den Gewinn aus der Wiedergeburt: das selige Leben, und die Bedingung der Möglichkeit der Wiedergeburt: den Glauben (n.4).

BEMERKUNGEN Bei Koch, 94f., sind Zeugnisse aus verschiedenen Chroniken wiedergegeben, die von der Wirkung der Predigten des Cusanus bei der Bevölkerung berichten.

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Predigt LXXXVI Wer schlecht handelt, der scheut das Licht (1) „Wer schlecht handelt, der scheut das Licht“ (Joh 3,20), aus dem Evangelium,1 ursprünglich aus dem dritten Kapitel des Johannesevangeliums. (2) Jesus hat den Nikodemus, der ein „Lehrer in Israel“ (Joh 3,10) war, in diesem Kapitel über den Glauben unterrichtet, indem er ihm zeigt, wie die Wiedergeburt im Geiste ist und wie der Geist wiedergeboren wird aufgrund irgendeiner göttlicherweise verursachten Bewegung in ihm, obwohl man nicht weiß, von wo sie ist und wohin sie weht (Joh 3,8); das Zeichen davon ist die sakramentale Waschung etc. (3) Zweitens , wie diese Wiedergeburt heilt und Leben zuteilt durch den Glauben so wie die Schlange in der Wüste (Joh 3,14f.; Num 21,8f.). Und folgende zwei Beispiele müssen angemerkt werden: über den Wind und die Schlange, und daß Christus jenen nicht hat besser unterrichten können, als der sagte: Wie wird dies geschehen (Joh 3,9) etc., als daß er gesagt hat: „Was geboren ist aus dem Fleische, ist Fleisch, und aus dem Geiste, Geist“ (Joh 3,6) etc. (4) Also: Wenn die Wiedergeburt des Geistes geschehen soll, ist es nötig, daß aus dem Heiligen Geist , weil sie Wiedergeburt zu einem heiligen Leben oder glückseligen Leben ist etc. Aber wie kann dies geschehen? (Joh 3,9) Nicht, wenn nicht durch den Glauben? Der Glaube aber ist aus dem Hören (Röm 10,17). Von daher: Weil Christus vom Himmel gekommen ist und gewußt hat, was er sagte, und bezeugt hat, dann haben die, die dieses Zeugnis angenommen haben, indem sie ihm glauben, erreicht etc. Und daß dies durch den Glauben geschieht, beweist er durch die Schlange (Joh 3,14f.; Num 21,8f.) etc.

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Vgl. Missale Romanum, Evangelium vom Montag nach Pfingsten, Joh 3,16-21.

Predigt LXXXVII Veni, ut vitam habeant et abundantius habeant Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben Zeit: Ort: Fest: Zählung Koch: Edition: Deutsch:

15. Juni 1451 Magdeburg Dienstag nach Pfingsten 82 h XVII/6, 499f. –

ZUSAMMENFASSUNG Nach Aufstellung des Themas, das Nikolaus aus dem Tagesevangelium nimmt (n.1), geht es in der folgenden Predigt um die Erklärung eines Lebens in Fülle. Das Weitergeben des Lebens geschieht durch den leiblichen Vater an den Sohn, das geistige durch die Vermittlung der Kunst als Ausbildung der Vernunft. Befreiung der Vernunft aus den Fesseln dieser Welt der Sklaverei führt zur Freiheit (n.2). Dazu betont Nikolaus die Bedeutung der Menschheit Christi für jeden Christen zur Gewinnung des Lebens in Fülle, nämlich des Paradieses. Christus ist die Pforte zum Paradies (n.3). Das Leben in Fülle ist das ewige Leben (n.4). Christus ist der Weg zu diesem Leben in Fülle (n.5). Eine Analogie zwischen der Funktion Christi und der des Arztes zeigt die Stärkung des Geistes (n.6).

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Predigt LXXXVII Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben (1) „Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben“ (Joh 10,10), im Evangelium1 . (2) Ein Beispiel wird vorausgeschickt: Wie der Vater dem Sohn das sinnenhafte Leben gibt, darauf die Kunst, daß er reichhaltiger lebe, so empfängt unser Geist durch das Wort des Herrn das vernunfthafte Leben, darauf empfängt er die Kunst, damit er in Fülle lebe. Und diese Kunst empfängt er auf dem Weg der Gnade; und das ist, den Weg zum Reich des Lebens zu wissen. Denn der vernunftbegabte Geist würde in Trübsal leben, in einem fremden Land, in dieser Welt unter dem Fürsten der Finsternis (Eph 6,12; Lk 22,53; Kol 1,12) und des Nichtwissens, in der Sklaverei etc. Von daher: Die Freiheit des vernunftbegabten Geistes lebt in einer Welt, die dem Fürsten der Finsternis untertan ist, so wie der von Heiden gefangene Christ, das heißt im Elend der Sklaverei, oder so, wie der verlorene Sohn unter den Schweinen gelebt hat (Lk 15,15f.). (3) Daher kam das Wort, durch das der Verstand Sein hat, in die Welt (Joh 1,1.11), damit sie in Fülle leben, und hat belehrt, wie es Weidegründe des Lebens gibt, die Heilung gewähren, und daß es nötig ist, einzutreten durch die Pforte, und daß er selbst die Pforte ist (Joh 10,7). Denn die Menschheit Christi ist die Pforte des Eintritts zum Wort des Lebens (Joh 6,69; Eph 5,26). Niemand kann zum Garten des Paradieses, wo der Baum des Lebens (Gen 2,9; 3,22; Offb 2,7) ist, der durch das ewige und freudenreiche Leben nährt, eintreten, wenn nicht durch die Pforte der Menschheit Christi etc. Denn da er nur in einem früheren Leben ein reicheres Leben erstreben konnte, so erstrebst auch du, überkleidet zu werden; und so dein Geist in deiner Menschheit geschaffen worden. Du erstrebst also, nur in deiner Menschheit in Fülle zu leben; und dies kann nur in jenem geschehen, wo deine menschliche Natur dem Leben geeint ist, das den Geist lebendig macht, das heißt in Christus. Christus ist also die Pforte, durch die der Mensch in das lebendigmachende Leben, das heißt in das Paradies etc., eintreten kann, damit er in Fülle lebe. (4) Er sagt ,,in Fülle“ (Joh 10,10); denn dieses ist das Leben, das wir erstreben, daß wir ununterbrochen ohne Überdruß genährt werden, das heißt wo die Speise eine Nahrung heranbringt mit dem Verlangen, mehr und mehr und in Fülle ohne Ende aufzunehmen. So wie wir in dieser Welt die Erfahrung machen, daß, wer sich bemüht und eifrig die Wahrheit gleichsam als die Speise des ergötzlichen Lebens sucht, nicht gesättigt werden kann, sondern ununterbrochen bis zum Grab hin mehr entbrennt; so wird die Vernunft nach 1

Vgl. Missale Romanum, Evangelium vom Dienstag nach Pfingsten, Joh 10,1-10.

Predigt LXXXVII: Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben

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dieser Welt, wenn sie auf dem wahren Weg gesucht hat, die Wahrheit, in der sie in Fülle lebt, gleichsam als einen Schatz finden. Denn niemand wollte lieber einen begrenzten Schatz als einen unbegrenzten. So würde das Streben in einem begrenzten Leben nicht zur Ruhe kommen, in dem es nicht in ewiger Weise in Fülle leben könnte, sondern es will ein unbegrenztes Leben, daß es immer in Fülle leben kann ohne ein Ende. (5) Merke: wie Christus gekommen ist, damit er der Weg (Joh 14,6) oder deine Pforte (Joh 10,7) zum unbegrenzten Leben sei. Und er ist der lebendige Weg, wie wenn der Weg zur Weisheit, auf dem niemand jemals gegangen ist, sich selbst zeigen würde als der Weg; und dies ist die Verkündigung der Königsherrschaft oder die Frohe Botschaft etc. (6) Ebenso schließe an zweiter Stelle das Thema an: „Ich bin gekommen, damit ihr das Leben habt und es in Fülle habt“ (Joh 10,10), das heißt zur Sendung für die Reinigung, so wie der Arzt nicht allein zur Bewahrung des Kranken , damit es jenem nicht schlechter gehe, sondern daß er durch Beseitigung der Krankheit und Stärkung des Geistes in Fülle lebe etc.

Predigt LXXXVIII Ego sum panis vivus Ich bin das lebendige Brot Zeit: Ort: Fest: Zählung Koch: Edition: Deutsch:

16. Juni 1451 Magdeburg Mittwoch nach Pfingsten 83 h XVII/6, 501f. –

ZUSAMMENFASSUNG Nach Aufstellung des Themas erläutert Nikolaus dessen Stellung im Tagesevangelium und verweist auf eine seiner früheren Predigten, die ähnlich den Übergang von der leiblichen Nahrung zur geistigen Nahrung behandelt (n.1). Der Zugang zum Vater ist nur durch Christus möglich, der allein uns im Glauben über den Vater belehren kann, indem er uns den Vater zeigt, den als einziger der Sohn, Christus, gesehen hat (n.2). Im Menschen ist ein angeborenes Verlangen nach Weisheit, das allein im Wort des Vaters durch Christus gestillt werden kann (n.3). Das Lehrer-Schüler-Verhältnis dient als Erläuterung des Erwerbs der Weisheit (n.4). Das Manna ist Typus für das lebendige Brot und das Bild des Sehens, und dessen Belehrung über das Gesehene durch die Vernunft zeigt, wie der Schöpfer in der Schöpfung gesehen werden kann (n.5).

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Predigt LXXXVIII Ich bin das lebendige Brot (1) „Ich bin das lebendige Brot“ (Joh 6,51). Zuerst die Einführung des Evangeliums:1 wie Christus fünftausend Menschen von fünf Broten nährte etc., auf das Ziel , daß man durch die sinnlich wahrnehmbare Speise zur Geistigen gelange. Sieh nach im Quinterno2 die Erklärung des Evangeliums. (2) Auf zwei muß im Einzelnen die Aufmerksamkeit gelenkt werden, und zwar , daß Christus sagt: „Jeder, der vom Vater gehört und gelernt hat“, „jener kommt zu mir“ (Joh 6,45); und , wie dieses Hören nur ein Hören Christi ist, und das Lernen ein Glauben ist. Daraus hast du, daß Christus nur die Worte des Vaters vorgetragen hat, und wer Christus gehört hat, hat den Vater gehört. Christus ist nämlich allein derjenige, der den Vater gesehen hat, wie dieser auch im ersten Kapitel des Johannesevangeliums sagt: Und niemand kann den Vater sehen (Joh 1,18) „wenn nicht der Sohn und , dem er es hat offenbaren wollen“ (Mt 11,27). Daher kann man das ewige Leben nur durch den Sohn erhalten, weil allein er selbst den Vater zeigen kann, in dem das ewige Leben ist (Joh 5,26). (3) Und merke, wie das Verlangen nach Weisheit, das in allen Menschen ist – weil alle Menschen natürlicherweise zu wissen verlangen3 – als eine gewisse Berufung oder Bewegung oder Anziehung uns angeboren ist und so von Gott, dem Vater Schöpfer gegeben worden ist. Deshalb: Wenn wir nicht so gezogen würden, niemals würden wir gelangen. Wir haben also eine gewisse angeborene Kenntnis der Weisheit, zu der wir hin bewegt werden. Aber sie selbst begreifen wir noch nicht und können auch nicht begreifen wenn nicht in der höchsten Meisterschaft, das heißt im Worte des Vaters, in Christus Jesus etc. (4) Ebenso merke an, wie der Lehrer Christus ist, der das Leben gewährt so wie ein Lehrer, der in irgendeiner Kunst Belehrbare unterrichtet. Denn weil jener lebendig und wissend ist, erleuchtet er den, der an ihn selbst herantritt, durch sein Wort und macht ihn lebendig oder sehend etc. Merke besser, daß der Vater der Lehrer ist, der die Vernunft geschaffen hat und ihr miterschaffen hat das Verlangen zur Weisheit hin. Und dann, wer belehrbar ist, tritt heran zum Lehrer, damit er aus der Weisheit des Lehrers weise werde.

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Vgl. Missale Romanum, Evangelium vom Mittwoch nach Pfingsten, Joh 6,44-52. Cusanus verweist hier auf sein zweites Predigtentwurf-Buch; vgl. Josef Koch, CT I/7, 95, Anm. 2. Vgl. Aristoteles: Metaphysik I, c.1 (980 a21).

Predigt LXXXVIII: Ich bin das lebendige Brot

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Und der Lehrer macht durch sein Wort, das heißt Christus, lebendig und erleuchtet die blinde Vernunft des Belehrbaren; und so gleicht er an, wie der Lehrer in den Schulen seiner Vernunft die Vernunft des Schülers angleicht. Aber wir können nicht in dieser Welt zur Meisterschaft gelangen, weil wir in den Schulen sind und Schüler. Und deshalb: Sobald als wir diese Schulen verlassen, werden wir hinübergeführt in die Meisterschaft, und wir werden ähnlich sein etc. Und dies ist die Auferstehung: Sobald dies in Wirklichkeit erscheint, was wir jetzt in der Hoffnung mitführen etc. (5) Ebenso mach eine Bemerkung über das Manna, wie es eine Gestalt des lebendigen Brotes ist. Ebenso merke an, wie das Sehen das Leben des Auges ist; und jenes berührt nicht das, was in den Buchstaben ist wenn nicht infolge einer Belehrung. So macht der Lehrer, daß das Sehen lebendig ist durch das vernünftige Leben, so daß es den Zusammenhang der Buchstaben sieht. So macht die Weisheit, den Vater der Schöpfung in der Schöpfung zu sehen etc.

Predigt LXXXIX Imperavit febri et dimisit illam Er hat dem Fieber befohlen, und es hat jene verlassen Zeit: Ort: Fest: Zählung Koch: Edition: Deutsch:

18. Juni 1451 Magdeburg Freitag nach Pfingsten 84 h XVII/6, 503f. –

ZUSAMMENFASSUNG Nach Aufstellung des Themas folgt eine allegorische Auslegung von zwei Versen aus dem Tagesevangelium, Lk 4,38f., die Nikolaus dazu benutzt, den Sinn seiner Legationsreise darzulegen. Christus ist der Legat und Gesandte Gottes, der Stellvertreter Christi hat seine Aufgabe übernommen (n.1). Das Haus des Petrus ist allegorisch zu verstehen als die Kirche, und die dort vom Fieber geplagte kranke Schwiegermutter des Petrus steht für die kranke Kirche, die nur von dem Arzt Christus von ihrer Krankheit geheilt werden kann (n.2). Der Auftrag des päpstlichen Legaten, der Petrus repräsentiert, gilt der Sorge für die kranke Kirche der Magdeburger Kirchenprovinz (n.3). Der Wille zur Reform ist notwendige Voraussetzung für diese Reform, die am Haupte, nämlich der kirchlichen Hierarchie, zu beginnen hat (n.4).

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Predigt LXXXIX Er hat dem Fieber befohlen, und es hat jene verlassen (1) „Er hat dem Fieber befohlen, und es hat jene verlassen.“ (Lk 4,39) Da ohnehin jede Handlung Christi unsere Unterweisung ist, weil er selbst der Lehrer und Herr (Joh 13,14) ist, „der Weg und die Wahrheit“ (Joh 14,6) und die Pforte, durch die, wenn einer eingetreten ist, gerettet wird und durch das Hineingehen und Herausgehen die Nahrung finden wird (Joh 10,9), ist es dennoch einzigartiger dazu, was Christus als Legat oder Gesandter vom Vater wie ein Engel und Apostel gewirkt hat; muß durch die aufmerksam betrachtet , die eine ähnliche Gesandtschaft auf sich genommen haben. Aber unter diesen Nachfolgern der Apostel hat der apostolische Hohe Priester gleichsam als der Apostel der Apostel aufmerksam wahrzunehmen, so wie er selbst als der höchste Stellvertreter Christi hervortrat und so als der erste Nachahmer Christi und wahrer Nachfolger des Fürsten der Apostel, des Petrus, durch Wort und Werk, damit er in der Tat selbst über diese alle suche und heil mache (Lk 19,16; Joh 3,17). (2) Man findet nämlich, wie es uns Lukas im heutigen Tagesevangelium1 beschreibt, daß unser Christus die Synagoge verlassen hat im Hause des Simon Petrus , welches das dem Petrus anvertraute Haus ist, in dem er selbst das Haupt ist. Deswegen von Christus Petros (Mk 3,16; Mt 16,18), gleichsam bet ros,2 das heißt des Hauses Haupt, genannt . In diesem Hause freilich befindet sich die kranke Schwiegermutter des Petrus, die von Christus, der da steht und dem Fieber befiehlt, geheilt wird, während Petrus zusammen mit den anderen bittet (Lk 4,38). Nicht unangemessen kann nämlich diese Frau als irgendeine Kirche in der allgemeinen Kirche des Petrus zusammengefaßt verstanden werden, welche aufgrund der Unmäßigkeit Sitten fieberhaft gequält wird; weil sie im Hause des Simon, der ihre Krankheit anzeigt, unser Arzt Christus gefunden hat, hat er sie befreit, während Petrus zusammen mit den anderen bittet. Denn nicht Petrus heilt und auch nicht diejenigen, die mit ihm sind, sondern sie bitten und werden erhört. Jener aber ist der Retter, der die Macht hat (Mt 7,29), dem Fieber zu befehlen. (3) Von daher: Da diese mit äußerster Würde Provinz von Magdeburg gleichsam am meisten dem Petrus verpflichtet wie die Schwiegermutter im Hause des Petrus mit schwerem Fieber danieder 1 2

Das Tagesevangelium vom Freitag nach Pfingsten ist hier Lk 4,38-44 – anders als im Missale Romanum, wo es erst für den Samstag nach Pfingsten vorgesehen ist. Vgl. Hieronymus: Liber interpretationum Hebraicorum nominum (CCSL 72, p. 19, Lag. 48, 11; p.141, Lag. 65, 23).

Predigt LXXXIX: Er hat dem Fieber befohlen und hat jene entlassen

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liegt – freilich nicht mit dem Aussatz oder einer anderen unheilbaren Krankheit , sondern mit leicht zur vorigen Gesundheit zurückführbaren Fieberschauern, vor allem weil ihr hervorragender Hirte3 wachsam auf der Fürsorge für sie besteht – hat unser apostolischer Oberhirte angeordnet, daß nach einer einberufenen Versammlung der Glieder zusammen mit ihm Christus angerufen werde, der bereitsteht zur Hilfe, damit diese Kirche durch den göttlichen Befehl Christi von aller fiebrigen Spaltung wiederhergestellt werde. Das ist der Grund für meine Ankunft, daß in mir Petrus eurer geheiligten Zusammenkunft beiwohne, um diese Fürsorge zusammen mit euch von Christus inständig zu erbitten, während Jesus Beistand leistet und über diese Kirche blickt und zu jeder Sorge sich freiwillig darbietet. (4) Wir werden aber belehrt, daß die Gesundheit nicht erlangt werden kann, wenn die Kirche nicht geheilt werden will, so daß sie wie vor der Krankheit Christus diene. Auf diese Sache ist unsere sorgfältige Betrachtung anzuwenden, damit wir sehen, wie geartet der Dienst an dieser Kirche vor der Krankheit wie am Haupte so an den Gliedern gewesen ist und um wieviel wir von jetzt an abgefallen sind, so daß wir nach Erkenntnis der durch Abfall Krankheit wissen, was wir erbitten sollen, um erhört zu werden. Wir wissen aber, daß es nicht möglich sein wird, daß aus einer verdorbenen Quelle ein unverdorbener Fluß entstehen kann etc. Deswegen: Weil wir ältere und Priester Gottes sind gleichsam als die Quellen, deswegen bezweifelt niemand, daß von uns die ganze Krankheit den Anfang genommen hat. Dort also muß der ganze Eifer für die Sorge sein, wo die Notwendigkeit jeder Sorge besteht.

3

Friedrich von Beichlingen war damals Erzbischof von Magdeburg, vgl. AC, n.1375.

Predigt XC Benedicta sit sancta Trinitas atque indivisa unitas Gepriesen sei die heilige Dreieinigkeit und ungeteilte Einheit Zeit: Ort: Fest: Zählung Koch: Edition: Deutsch:

20. Juni 1451 Magdeburg Fest der Heiligsten Dreifaltigkeit 85 h XVII/6, 505f. –

ZUSAMMENFASSUNG Vom Thema ausgehend zeigt Nikolaus den Zusammenhang von Glaube und Kult und nennt als Inhalt des katholischen Glaubens die Trinität (n.1). Der Gottesglaube ist allgemein und die Möglichkeiten der Aussage über Gott, affirmativ und negativ, beschreibt Dionysius Ps.-Areopagita (n.2). Die Unergründlichkeit Gottes kann nach Paulus, Jesaja und der Geheimen Offenbarung beschrieben werden (n.3). Nach dieser längeren Einleitung (n.1-3) folgen Gliederungspunkte (n.4-6) für die Predigt, die aber nur in diesen Stichworten faßbar wird. Die Trinität als Inhalt des katholischen Glaubens soll zunächst als dreieine Einheit dargelegt werden. Nikolaus greift dann auf das in der Einleitung Gesagte zurück und auf die dort genannte Autorität: die Tiefe und Demut vor der Trinität nach Paulus. Schließlich will er die Barmherzigkeit des trinitarischen Gottes gegen uns in Jesus Christus aufzeigen (n.4). Die drei theologischen Tugenden Glaube, Hoffnung und Liebe werden als ein Bild der Trinität gedeutet, und ihr Gegenbild ist in den Untugenden (n.5). Eine weitere Analogie zur Trinität entwickelt Nikolaus im Bild der Lampe (n.6).

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Predigt XC Gepriesen sei die heilige Dreieinigkeit und ungeteilte Einheit (1) „Gepriesen sei die heilige Dreieinigkeit und ungeteilte Einheit. Wir wollen ihr Loblieder singen, weil sie uns Barmherzigkeit erwiesen hat.“1 Auf welche Weise jedes vernunftbegabte Geschöpf durch das, was es in der religiösen Verehrung wirkt, seinen Glauben zeigt. Aus den Werken nämlich erjagen wir den Glauben. Es gibt kein Volk, das nicht an Gott glauben sollte und an ihn als den Größten, von dem alles . Und da die heilige katholische Kirche an die Dreieinigkeit in der Einheit als unseren Ursprung glaubt, daher preist sie so die heilige Dreieinigkeit wie die Einheit oder erweist ihr durch den Lobpreis Ehre etc. (2) Wer daher glaubt, daß Gott im Vergleich zum Geschöpf in einem Übermaß existiert, das heißt als der Weiseste, der Mächtigste, der Gerechteste etc., – denn solches sieht er in den Geschöpfen – der fürchtet als ein solcher gleichsam als den alles Sehenden und Könnenden etc.; er beugt sich vor ihm und demütigt sich, so weit er kann; als Reineren stellt er ihn dar, betet an und verehrt . So sehen wir den Kult aufgrund des Glaubens etc. Es lehrt uns der heilige Dionysius,2 wie wir zu Gott bejahenderweise und wie verneinenderweise aufsteigen: in bejahender Weise durch ein Übermaß durch Bejahung dessen von Gott, was wir an Gutem in der Schöpfung finden; in verneinender Weise durch Verneinen freilich von allem, weil der nichts von allem , der über allem . (3) Nachdem Paulus zur Tiefe des Reichtums der Weisheit und Erkenntnis (Röm 11,33) emporgehoben gewesen ist und gesehen hat, wie die Urteile Gottes unbegreiflich und Wege unerforschlich (Röm 11,33) sind, sagt er staunend , von wo alles etc., emporgehoben: „Ihm sei Ehre“ (Röm 11,36) etc. Ähnlich bei Jesaja (Jes 6,1-3) im sechsten Kapitel und im vierten Kapitel der Geheimen Offenbarung (Offb 4,1-11), wie anderswo . (4) Geh auf folgende Weise vor: zuerst durch Sprechen über die Dreieinigkeit und Einheit, und da , daß dies der katholische Glaube ist etc., und in jenem Teil eine Einführung über den Glauben an die Dreieinigkeit und Einheit; und dies durch ein Verfolgen in der Weise der Seraphim, wie es Jesaja im sechsten Kapitel : „Heilig“ (Jes 6,3) etc., oder im vierten Kapitel der Geheimen Offenbarung (Offb 4,1-11).

1 2

Vgl. Missale Romanum, Introitus der Messe vom Dreifaltigkeitssonntag. Vgl. Dionysius Ps.-Areopagita: De mystica theologia, c.3 und 5 (CD 2, S.146,1147,21; S.149,1-150,9).

Predigt XC: Gepriesen sei die heilige Dreieinigkeit

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dort, wie durch die Tiefe Paulus zur Demütigung kommt an die Römer (Röm 11,33.36). An zweiter Stelle geh vor, über die Barmherzigkeit , die uns erwiesen hat in Christus Jesus etc. Ebenso an letzter Stelle, wie wir ihr Lobgesänge singen, weil sie uns ihre Barmherzigkeit erwiesen hat. (5) Ebenso merke an, wie es drei theologische Tugenden gibt, die für uns notwendig sind, daß unser Bild von der Dreieinigkeit in der wahren Dreieinigkeit , und zwar der Glaube, aus dem die Hoffnung , aus diesen die Liebe. Der Glaube wird überführt in die Gewißheit, die Hoffnung in Erfassen, die Liebe in die Vereinigung, und sie vergeht nicht, weil die Liebe Verbindung ist. Ebenso über die Dreieinigkeit, die zum Fürsten der Finsternis führt: Hochmut, Genußsucht, Habgier (1 Joh 2,16) etc. (6) Stelle auch eine Überlegung an über die brennende Leuchte, weil dort das Feuer ist und jenes von sich aus das Brennen erzeugt und aus Feuer und Brennen die Flamme . Und so wie die Lampe mittels der Flamme eine Lampe entzündet, so Gott mittels des Geistes alles etc. ,,Der Geist des Herrn erfüllt den Erdkreis“ (Weish 1,7) etc. „ und durch den Hauch seines Mundes alle Kraft“ (Ps 33[32],6) etc. Und merke an, wie der Glasbläser durch Blasen etc.3

3

Vgl. De gen., n.163f., p.117f.

Predigt XCI Compelle intrare, ut impleatur domus mea Nötige sie, einzutreten, damit mein Haus voll werde! Zeit: Ort: Fest: Zählung Koch: Edition: Deutsch:

4. Juli 1451 Halberstadt Zweiter Sonntag nach Trinitatis 86 h XVII/6, 507f. –

ZUSAMMENFASSUNG Nach Aufstellung des Themas folgen Notizen für eine Homilie über die einzelnen Verse des Tagesevangeliums, beginnend mit der Frage nach dem Veranstalter des Festmahles: ein Mensch, nämlich Jesus, der Menschensohn. Für wen: für Menschen, für viele (Lk 14,16) (n.1). Zur Frage nach den Geladenen ist zu bedenken, daß der Knecht sie nur einlädt, da sie bereits berufen sind, denn die Berufenen werden geladen (Lk 14,17) (n.2). Dann werden die Entschuldigungen der Berufenen im Einzelnen aufgeführt, die die Einbindung in diese Welt zeigen (Lk 14,18-20). Im Anschluß daran soll die Frage beantwortet werden: Was bedeutet das Berufen? Die Welt zu verlassen (n.3). Daran schließt sich eine Erörterung über das Berufen derjenigen, die die Welt verlassen haben (Lk 14,21) (n.4). Es folgt eine Deutung über das Einführen derjenigen, die die Welt verlassen haben oder im Begriff sind, sie zu verlassen (Lk 14,21-23) (n.5). In der Schlußbemerkung versucht Nikolaus die Frage zu beantworten: Wer verkostet das zubereitete Mahl? Die Antwort ist doppelt; negativ: die Gerufenen; positiv: die Eingeführten (Lk 14,24) (n.6).

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Predigt XCI Nötige sie, einzutreten, damit mein Haus voll werde! (1) ,,Nötige sie, einzutreten, damit mein Haus voll werde!“ (Lk 14,23), aus dem Evangelium.1 Bemerke dazu, daß er sagt: „Ein gewisser Mensch hat ein großes Mahl veranstaltet“ (Lk 14,16). Denn er sagt ,,ein Mensch“, woraus du merken sollst, ein Mahl wird für einen Menschen nur zubereitet durch einen Menschen. Und so sagt anderswo Christus, wie die Seinen mit ihm in seinem Reiche essen sollen (Lk 22,29f.) und er selbst der Diener ist und wie er vorübergehend bedienen wird (Lk 12,37). Siehe darüber bei Dionysius!2 Und warum sagt er „ein gewisser Mensch“ (Lk 14,16) und spricht anderswo immer vom Menschensohn (Mt 9,7; 12,8; 13,37.41; Mk 10,45; Lk 7,34 passim). Ebenso merke an: Warum sagt er ,,ein großes Mahl und hat viele gerufen“ (Lk 14,16)? Denn die Vielheit entspricht der Größe . (2) Ebenso merke! Er sagt: ,,Er hat seinen Knecht zur Stunde des Mahles geschickt“ (Lk 14,17). Daraus merke, wie der Knecht nicht beruft, sondern den Geladenen sagt, daß sie kommen sollen; denn alle sind schon eingeladen. (3) Und merke an, wie alle angefangen haben sich zugleich zu entschuldigen (Lk 14,18). Nur diejenigen also sind eingeladen gewesen, die sich entschuldigt haben. Und so merke an, daß es viele sind, die in der Welt eingebunden sind, die sich Landhäuser kaufen (Lk 14,18), ein Joch Ochsen (Lk 14,19) und Frauen (Lk 14,20) . Und diese sind eingeladen weg von der Welt oder vom Mahl dieser Welt zu einem Mahl einer anderen . Und der Knecht ruft, sie sollten kommen, aber jene entschuldigen sich zugleich. Und stell eine Betrachtung an, wie der erste sich entschuldigt mit der Besichtigung eines Landhauses, das er kauft; der zweite mit dem Erproben von fünf Joch Ochsen; der dritte, er könne deshalb nicht kommen, weil er eine Frau geheiratet hat. Ebenso merke an, wie jene, in denen diese Welt lebt, zuerst gerufen worden sind, damit sie freilich die Welt verlassen sollen. Und anderswo sagt er: „Ich bin gekommen, damit die, die sehen, blind werden.“ (Joh 9,39) Und: „Ich bin gekommen, die Sünder zu retten“ (Lk 19,10; 1 Tim 1,15) etc. Und: „Ich bin gekommen, zu trennen“ (Mt 10,35; Lk 12,51-53) den Mann von der Frau etc. (4) Ebenso: Nachdem jene sich entschuldigen, ruft „der erzürnte Familienvater“ (Lk 14,21) diejenigen, die die Welt verlassen haben, so wie die „Armen im Geiste, weil ihrer das Himmelreich ist“ (Mt 5,3; Lk 6,20); und die Schwachen, für die die Welt nichts zu bedeuten beginnt; und die Blinden, für die die Welt 1 2

Vgl. Missale Romanum, Evangelium vom zweiten Sonntag nach Trinitatis, Lk 14,16-24. Vgl. Ps.-Dionysius Areopagita: Epistula ad Titum, § 5 (CD 2, 204,8-205,7).

Predigt XCI: Nötige sie, einzutreten, damit mein Haus voll werde!

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gestorben ist; und „die Lahmen“ (Lk 14,21), die nicht zu den Verlockungen der Welt hingezogen werden können. (5) Und so merke: werden die in der Stadt (Lk 14,21) der Welt Gefundenen eingeführt, denen die Welt nichts bedeutet hat. Und danach werden jene gerufen, die nicht in der Stadt der Welt sind, sondern bis dahin auf dem Weg und an den Zäunen (Lk 14,23). Jene werden nämlich auch eingeführt, bevor sie in die Welt kommen, und dort werden sie genötigt . Denn sie werden entrückt, bevor die Bosheit ihre Vernunft verwandelt. (6) Merke zum Schluß, wie von den Gerufenen niemand das Mahl kosten wird (Lk 14,14), sondern allein die Eingeführten und Genötigten.

Predigt XCII Ait Maria: Magnificat anima mea Dominum Da sagt Maria: Hoch preiset meine Seele den Herrn Zeit: Ort: Fest: Zählung Koch: Edition: Deutsch:

9. Juli 1451 Hildesheim In der Oktav von Mariä Heimsuchung 87 h XVII/6, 509f. –

ZUSAMMENFASSUNG Nach Nennung des Themas folgen Dispositionspunkte für die nur in kurzen Notizen überlieferte Predigt. Von der Bedeutung des Namens Maria als Braut Gottes ausgehend läßt er sich dreifach beziehen: 1. auf Maria; 2. auf die Kirche; 3. auf die menschliche Seele (n.1). Maria wird durch den Glauben „Theotokos“, Gottesgebärerin (n.2). Die Empfängnis Christi geschieht durch den Glauben sowohl in Maria durch die Verkündigung des Engels als auch in der Kirche, in der der Evangelist und der Priester die Funktion des Engels übernehmen; belegt durch den Propheten Maleachi und Paulus (n.3). Die Empfängnis Christi in der Seele des gläubigen Christen bedeutet die Wiedergeburt (n.4).

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Predigt XCII Da sagt Maria: Hoch preiset meine Seele den Herrn (1) „Da sagt Maria: Hoch preiset meine Seele den Herrn.“ (Lk 1,46) Über den Namen Maria: zuerst über die Erklärung dieses Ausspruchs von ihr. Er kann ausgesagt werden bezüglich der Braut Gottes, das heißt über Maria, über die Kirche, über die Seele des Christen. (2) Als Maria spürte, daß sie durch den Glauben den Sohn Gottes trägt, sagt sie: „Hoch preiset“. Der Text 1 zeigt, wie Elisabeth, „erfüllt vom Heiligen Geist“ (Lk 1,41), sagte: „Selig, die du geglaubt hast“, „vollendet“ (Lk 1,45) wird in dir alles etc. Dieses alles bedeutet das Eine, daß sie selbst die Gottesgebärerin geworden ist. (3) Und merke an: Wie Christus in Maria durch den Glauben empfangen wird, so wird er durch den Glauben in der Kirche empfangen. Denn durch die Verkündigung des Engels hat sie empfangen; so empfängt auch die Kirche durch die Verkündigung des Engels. Der Evangelist ist der Engel. Siehe, ich verkündige eine Frohe Botschaft (Lk 2,10) oder ich kündige euch an. der Priester ist Evangelist, der Engel etc. Der Prophet Maleachi : „Der Engel des Herrn der Heerscharen“ (Mal 2,7) etc.; denn aus seinem Munde suchen sie das Gesetz. Paulus war der eine, der so lange die Frohe Botschaft verkündigt hat, bis Christus geboren würde (Gal 4,19). (4) So bezüglich der Seele eines jeden beliebigen . Denn die Seele, die fruchtbare Jungfräulichkeit ist, kann nicht die Frucht des Lebens berühren, wenn nicht Christus in ihr aufgenommen wäre: „Wie viele aber aufgenommen haben“ (Joh 1,12) etc. Und das ist die Wiedergeburt etc.

1

Missale Romanum, Evangelium vom Fest Mariä Heimsuchung, Lk 1,39-46.

Predigt XCIII Appropinquantes ad Jesum publicani et peccatores, ut audirent illum Es waren da Zöllner und Sünder, die an Jesus herantraten, um ihn zu hören Zeit: Ort: Fest: Zählung Koch: Edition: Deutsch:

11. Juli 1451 Hildesheim Dritter Sonntag nach Trinitatis 88 h XVII/6, 511-513 –

ZUSAMMENFASSUNG Nach Angabe des Themas folgen drei Gliederungspunkte zum Thema: 1. Die Unwissenden nähern sich Jesus; 2. Die Wissenden nähern sich Jesus nicht; 3. Jesus nähert sich den Unwissenden. Zusätzlich ist ein Hinweis auf die Koinzidenz des Sichnäherns der Sünder zu Jesus und Jesu zu den Sündern (n.1). Was bedeutet „Verlorengehen“ und was bedeutet „Wiedergefunden werden“? Verloren ist, wer außerhalb der Kirche ist. In der Kirche sein bedeutet, unter den Augen des Hirten sein. Wiedergefunden werden bedeutet, von Christus auf den Schultern getragen zu werden hinein in das Haus des ewigen Friedens (n.2). Der Mensch trägt als solcher das Bild der Menschheit Christi in sich. Dies muß er bewahren, um nicht verloren zu gehen. Dies wird erläutert an der Drachme, die ein Bild trägt, und am Verhältnis der hundert Schafe zu dem einen (n.3). Die Koinzidenz zwischen der Freude des Gebers und der Freude des Empfängers über das Wiederfinden wird erläutert an verschiedenen Beispielen (n.4). Die Annäherung der Sünder an Jesus geschieht durch die Erkenntnis des Verlorenseins und durch den Glauben (n.5). Die Vergebung ist nur möglich durch das Verdienst Christi. Der Wert der Seele ist ein hoher, da sie mit solchem Eifer gesucht wird (n.6).

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Predigt XCIII Es waren da Zöllner und Sünder, die an Jesus herantraten, um ihn zu hören (1) „Es waren da Zöllner und Sünder, die an Jesus herantraten, um ihn zu hören.“ (Lk 15,1) Drei können gesagt werden: Erstens, wie man sich zu Jesus hin nähert durch Unwissende (Lk 15,1); denn jeder Sünder ist ein Unwissender. Und , wie die Wissenden, das heißt die Schriftgelehrten und Pharisäer (Lk 15,2), sich nicht nähern, sondern murren , daß Jesus sich den Unwissenden nähert. Und bemerke das Ineinsfallen; denn im Herantreten der Sünder zu Jesus ist das Herantreten Jesu zu den Sündern. Und es kann eine solche Annäherung nicht zum Verderben werden wenn nicht durch jenen, der zu suchen und zu finden weiß (Lk 19,10; Mt 18,12). (2) Von daher weiß das Schaf nicht zurückzukehren (Lk 15,4-6) und auch nicht die Drachme. Daher wird sie als verloren bezeichnet (Lk 15,8f.). Deswegen ist eine so große Freude, wofern sie gefunden wird, weil sie verlorengegangen war (Lk 15,7.10) etc. Und einer ist dann verloren, sobald er außerhalb der Herde der Kirche ist. Und in der Herde wird er nicht gesucht, weil man ihn hat, sondern außerhalb wird er gesucht, weil er verloren gegangen war. In der Herde ist er unter den Augen , außerhalb ist er außerhalb der Augen des Hirten. Und dann ist er in Gefahr und unmittelbar in der Nähe des Wolfs (Joh 10,12; Mt 10,16; Lk 10,3) etc. Und merke, wie das Verborgensein vor den Weisen und das Sich-offenbaren den Kleinen (Mt 11,25; Lk 10,21) in diesem Evangelium1 erklärt wird. Ebenso merke an, wie man nicht zum Hause des Friedens gelangen kann, wenn man nicht durch Christus getragen würde. Von daher gelangt man nicht in sein Herzogtum aufgrund von Anstrengung, sondern sobald man auf seinen Schultern getragen wird (Lk 15,5); und das heißt durch den Glauben. So nämlich werden wir genötigt einzutreten (Lk 14,23). (3) Ebenso mache darauf aufmerksam, wie der Mensch sich zur Gottheit Christi verhält so wie das Schaf zum Menschen etc., „wie ich geworden bin ein Zugtier bei Dir“ (Ps 73[72],22), und zur Menschheit so wie ein geschätztes Ähnlichkeitsbild eines Menschen oder das Bild zur Frau; denn die Drachme führt ein geschätztes Bild des Menschen, dessen Bild es ist (Mt 22,20; Mk 12,16; Lk 20,24) etc. Wir führen also das Bild der Menschheit Christi , das freilich als Mensch außerhalb der Schar der Mensch1

Vgl. Missale Romanum, Evangelium vom dritten Sonntag nach Trinitatis, Lk 15,1-10.

Predigt XCIII: Es waren Zöllner und Sünder, die an Jesus herantraten

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heit Christi verlorengegangen ist. Daher wird aufgeregt gesucht mit der Umkehr des ganzen Hauses und mit einer brennenden Lampe (Lk 15,8), das heißt in einer Weise, auf welche das Wort in der Finsternis (Joh 1,5) und der Prediger predigt, daß er die Drachme finde. Und merke an, daß er von hundert Schafen und zehn Drachmen spricht. Die hundert Schafe bezeichnen die Gesamteinheit aller vernunftbegabten Lebewesen, der gläubigen und der ungläubigen, und die zehn bezeichnen die Gesamtheit nur derjenigen Gläubigen, die das Bild tragen. Daher sind die Zehn im Hause oder der Kirche, die hundert in der Wüste. (4) Ebenso mach eine Betrachtung , wie die Freude in der Gemeinschaft der himmlischen Bürger im Zusammenfreuen mit Christus besteht, so wie es Johannes der Täufer des Johannes erklärt: So wie die Freunde des Bräutigams sich freuen (Joh 3,29) etc., so ist die Freude des Erlösers nur in der Freude Christi. Und bemerke das Ineinsfallen, weil es die Freude des Vaters und Lehrers ist, den Sohn und Schüler unterrichtet zu haben, und es die Freude der Mitbrüder und Mitschüler ist, sich mit dem Lehrer und Vater mitzufreuen. Und fällt die Freude des Schülers und unterrichteten Sohnes in eins mit der Freude des Vaters und Lehrers; denn seine Freude ist die Freude des Vaters. Es freut sich der Vater, daß er im Sohn die Weisheit gleich seiner eigenen Weisheit gezeugt hat; es freut sich der Sohn, daß er so vom Vater weise gemacht worden ist, daß der Vater sich darüber freut. Ebenso freuen sich die Mitbrüder, daß der Bruder die Lehre des Vaters so aufgenommen hat, daß der Vater in ihm Freude und sein gutes Wohlgefallen hat. Sobald sich einmal die göttliche Barmherzigkeit dem Sünder zugewandt hat, dann freuen sich alle Himmelsbewohner zusammen mit Gott, weil er gefunden hat, was verloren gewesen war; so freuen sie sich über das Wiederfinden des Verlorenen (Lk 15,6.9) etc. (5) Hier soll an zweiter Stelle über die Zöllner und Sünder gesprochen werden, wie sie sich annähern an Jesus, sobald sie sich dazu geben, auf ihn zu hören. Wer nämlich Jesus, der die Königsherrschaft Gottes als Frohe Botschaft verkündigt, hört, der kann nicht sich nicht zuwenden. Hören bedeutet durch den Glauben aufmerksam sein: „Der Glaube“ ist „aus dem Hören“ (Röm 10,17). Aber wer glaubt, daß Jesus Jesus, das heißt Erlöser ist, jener glaubt seiner Frohen Botschaft. Und dann tritt er heran und nähert er sich zu ihm hin, sobald er glaubt, daß man diese Welt verlassen und zu Christus herantreten muß; und wie sehr er selbst von der Welt zum Vater gewandelt ist, so muß man auch durch ihn wandeln; und so nähert er sich und hört und folgt etc. Und dann , sobald er sich als das Schaf erkennt, das verloren war und in der Wüste zwischen Wölfen (Lk 10,3) gewesen ist und in den Schlünden des Feindes der Erlösung.

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Und stelle noch eine Überlegung an , mit welcher Sorge und welcher Unruhe er gesucht worden ist und auf den Schultern getragen worden ist und mit welcher Freude er nach der Verbannung erwartet wird etc. Und in ähnlicher Weise , sobald er sich als die verlorene Drachme erkennt, die das Bild des größten Kaisers führt, und daß er so sorgfältig gesucht worden ist etc. Und dort über das Bild und die Münze, wie du es anderswo schon hast.2 (6) Ebenso über die Äußerungen der Nachsicht; wie die Zöllner und Sünder sich hin zum Wort, in welchem Jesus , annähern und die Pharisäer murren (Lk 15,2) etc. Und wie die verlorenen auf den Schultern getragen werden, das heißt im Verdienst Christi, aus dem jede Vergebung etc. Mach eine gute Bemerkung über den Adel der Seele, weil sie als Verlorengegangene mit so großem Eifer gesucht wird und mit so großer Freude gefunden wird.

2

Das Bild von der Münze hat Nikolaus später ausführlich in der Schrift „De ludo globi“, Vom Globusspiel, ausgeführt. Vgl. De ludo globi II (h IX n.116, 6-15 und n.118,1-4); vgl. auch Predigt CCXLIX, n.6, 1-4; n.14-24; n.26; n.33, 1-4.

Predigt XCIV Sperent in te omnes, qui noverunt nomen tuum, Domine, quoniam non derelinques quaerentes te Es hoffen auf dich alle, die deinen Namen, o Herr, kennen, weil du die nicht verläßt, die dich suchen Zeit: Ort: Fest: Zählung Koch: Edition: Deutsch:

16. Juli 1451 Hildesheim Freitag nach dem dritten Sonntag nach Trinitatis 89 h XVII/6, 514f. –

ZUSAMMENFASSUNG Nach Nennung des außergewöhnlich langen Themas (n.1) geht Nikolaus auf die Bedeutung des Namens Jesu ein, der heilsvermittelnd ist, vergleichbar einer heilenden Salbe (n.2). Der Passion kommt große Bedeutung zu für die Erkenntnis des Namens Jesu (n.3). Den Abschluß des Entwurfs bilden Belegstellen aus dem Neuen Testament, die die Bedeutung des Namens Jesu hervorheben (n.4).

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Predigt XCIV Es hoffen auf dich alle, die deinen Namen, o Herr, kennen, weil du die nicht verläßt, die dich suchen (1) ,,Es hoffen auf dich alle, die deinen Namen, o Herr, kennen, weil du die nicht verläßt, die dich suchen. Singt dem Herrn, der in Sion wohnt, weil er nicht vergißt das Gebet der Armen“ (Ps 9,11-13). das Offertorium der Messe des laufenden Sonntags.1 (2) Der Name des Herrn, den der Engel genannt hat, wird aus Grund Jesus genannt. „Und du wirst seinen Namen Jesus nennen“, weil „er sein Volk heil machen wird“ (Mt 1,21; Lk 1,31). Dieser Name gleichsam eine heilende Salbe, dann, sobald sie ausgegossen worden ist (Hld 1,3). Die Süßigkeit ihres Duftes und ihrer Kraft ist nämlich unbekannt, da sie in einem verschlossenen Gefäß ist, aber, sobald es geöffnet und ausgegossen wird, wird sie wahrgenommen. Dann zieht sie an sich, so wie die Braut spricht: ,,Ziehe mich nach dir , wir wollen laufen im Duft deiner Salben“ (Hld 1,4). Über das Alabastergefäß, in dem die Salbe war (Mk 14,3; Lk 7,37); nachdem es zerbrochen war, ist das Haus erfüllt worden von Duft (Mk 14,3; Joh 12,3); so erfüllt unser Erlöser, sobald er erkannt wird, etc. (3) Ebenso , wie er sagt: nachdem „ich erhöht sein werde“ (Joh 12,32) etc. Denn nachdem er durch Leiden erhöht worden ist und die heilbringenden Sakramente herausgeflossen sind, da hat er dann alles an sich gezogen. Es konnte nämlich sein Name nicht verstanden werden, wenn er nicht durch den Tod weggegangen und das Gefäß durch das Leiden (Lk 24,26) zerbrochen worden wäre. Danach kam der Geist des Wohlgeruchs (Joh 16,7) etc. (4) Der Name, mit dem der Engel, das ist die vernunftbegabte Kraft, das Wort Gottes benannt hat, ist Jesus. Und sobald, wie in der Geheimen Offenbarung , das Gewand Jesu rot und mit Blut besprengt gewesen ist, ist dann die Erkenntnis gekommen, daß er das Wort Gottes war (Offb 19,13) etc. Petrus sagt: Nichts anderes ist (Apg 4,12). Paulus sagt, daß der Name „über allen Namen“ (Phil 2,9) und daß jeder, der ihn selbst angerufen haben sollte, gerettet sein wird (Röm 10,13). Alles, was auch immer ihr getan haben solltet, im Namen (Kol 3,17) etc.

1

Missale Romanum, Offertorium vom dritten Sonntag nach Trinitatis, Ps 9,11-13.

Predigt XCV Eadem mensura, qua mensi fueritis, metietur vobis Ebendasselbe Maß, mit dem ihr gemessen haben werdet, wird euch zugemessen werden Zeit: Ort: Fest: Zählung Koch: Edition: Deutsch:

18. Juli 1451 Hildesheim Vierter Sonntag nach Trinitatis 90 h XVII/6, 516f. –

ZUSAMMENFASSUNG Mit der Aufstellung des Themas greift Nikolaus den Begriff des Messens heraus; dieses gewinnt für die nur in Notizen überlieferte Predigt zentrale Bedeutung (n.1). Das Messen ist ein Akt der Vernunft, die folgerichtig auch für eine Vergeltung aufnahmefähig ist (n.2). Es gibt zwei Arten des Messens, nach der Barmherzigkeit oder der Verurteilung (n.3). Der Lehrer Jesus kann allein den Weg des richtigen Messens zeigen (n.4).

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Predigt XCV Ebendasselbe Maß, mit dem ihr gemessen haben werdet, wird euch zugemessen werden (1) „Ebendasselbe Maß, mit dem ihr gemessen haben werdet, wird euch zugemessen werden“ (Lk 6,38), . Wir werden hier belehrt, daß wir verstehen, aufgrund unseres Eifers in dieser Welt Vorsorge zu treffen, eine wie geartete Meisterschaft wir berühren sollen, wenn das Maß das unsrige ist; weil wir durch die Regel, die richtig und gerecht ist, Wiedervergeltung erlangen werden etc. (2) Merke an, daß „messen“ aus der Vernunft kommt. Daher messen die vernunftlosen Tiere nicht. Von daher wird jener Teil, welcher mißt, Wiedervergeltung empfangen. Die Vernunft ist also aufnahmefähig für eine ewige Wiedervergeltung etc. Ebenso über die falsche Waage. Merke freilich an, wie einige mit dem wahren Maß messen und jene die wahre Wiedervergeltung empfangen vom Fürsten der Wahrheit, andere mit falschem und listenreichem und jene die Wiedervergeltung vom falschen und listenreichen Fürsten empfangen. (3) Merke! Das Evangelium setzt fest, daß das Maßnehmen entweder mit dem Gewicht der Barmherzigkeit oder dem Gewicht der Verurteilung geschieht. Mit dem Gewicht der Barmherzigkeit messen in wahrhafter Weise die Söhne Gottes, weil sie dies vom Vater haben, der barmherzig ist; mit dem Gewicht der Verurteilung messen die Söhne des Ehebruchs, die Söhne des Fürsten des Hochmutes sind. Es schreibt uns also der Meister vor: „Seid barmherzig“ (Lk 6,36) etc. und „richtet nicht“ (Lk 6,37) etc. und „verdammt nicht“ (Lk 6,37) etc. und „vergebt“ (Lk 6,37) etc. „Gebt, und es wird gegeben“ (Lk 6,38) etc. Merke den Text: „ein gutes Maß“ (Lk 6,38) etc. „wird man in euer Herz legen“ (Lk 6,38), wie Gott es ist, der das empfängt, was du seinen Geschöpfen gibst (Mt 25,35f.), und man sagt, daß sie das, was er selbst zugeteilt hat, den Geschöpfen geben. (4) Merke, wie einer vollkommen sein wird, das heißt wenn er sein wird so wie der Lehrer (Lk 6,40). Christus aber sagt, er sei der Lehrer (Joh 13,13). Wenn du also vollkommen sein willst, achte aufmerksam auf den Lehrer, der uns lehrt, daß wir geführt werden müssen auf den Weg unseres barmherzigen Vaters. Wer aber nicht geführt wird von einem solchen Lehrer, der wird geführt von einem Blinden. Daher führen die Leidenschaften, die blind machen, in die Grube (Lk 6,39), weil sie vom Weg der Wahrheit (Joh 14,6) wegführen; daß er dieser 1

Missale Romanum, Evangelium vom vierten Sonntag nach Trinitatis, Lk 6,16-42.

Predigt XCV: Ebendasselbe Maß, mit dem ihr gemessen haben werdet

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ist, hat der Lehrer durch Wort und Werk gezeigt. Und der Weg ist, daß wir den Willen des Vaters tun sollen (Mt 7,21; 12,50); dann werden wir barmherzig sein, weil es sein Wille ist, daß wir als seine wahren Söhne barmherzig sind wie er selbst. Der Text erklärt das Urteil, was verhindert: „Was aber siehst du den Balken?“ (Lk 6,41) etc.

Predigt XCVI Quodcumque solveris super terram, erit solutum et in caelis Was auch immer du auf Erden lösen wirst, wird auch im Himmel gelöst sein Zeit: Ort: Fest: Zählung Koch: Edition: Deutsch:

1. August 1451 Minden Petrus zu den Ketten 91 h XVII/6, 518-521 –

ZUSAMMENFASSUNG Nikolaus nimmt das Thema aus dem Evangelium des Festtages seiner Titelkirche in Rom, Sankt Peter zu den Ketten, als Prothema einen Vers aus dem Evangelium des Sonntags (n.1). Aus letzterem greift er den Gedanken auf, daß die Anhänger des Gesetzes nicht in das Himmelreich eingehen können, dagegen Petrus der erste und damit vorbildliche Glaubende ist (n.2). Daraus folgt das Verhältnis aller Glaubenden zu Petrus als dem ersten Glaubenden: Alle Gläubigen müssen sich an den Glauben des Petrus anschließen. Der Glaube des Petrus ist die Bedingung für die Zugehörigkeit zur Kirche als der Gemeinschaft aller Gläubigen (n.3). Es folgt nun eine Homilie über einzelne Verse des Festtagsevangeliums (Mt 16,13-19) (n.4-12). Jesus als der Menschensohn redet wie ein Mensch. Reden und Antworten ist Eigenart des Menschen. Menschliches Reden hat aber nur Vermutungscharakter (Mt 16,13) (n.4). Der Offenbarungscharakter des Wortes und der Begriff des Offenbarens werden erläutert an menschlichem Offenbaren (n.5). Offenbarung geschieht auch durch das Werk. Der Glaube der Jünger wird durch die Frage Jesu angeregt, entwickelt sich und wird schließlich gefestigt durch die Sendung des Heiligen Geistes (n.6). Das Sprechen des Menschen resultiert aus seiner Ähnlichkeit mit Gott. Gott erschafft die Wesenheiten, der Mensch schafft sich ein Bild davon (Mt 16,13) (n.7). Der Menschensohn ist Bruder und Nächster eines jeden Menschen. Menschliches Antworten hat Vermutungscharakter. Christus ist der vollkommenste Prophet (Mt 16,13f.) (n.8). Die Jünger sind Schüler des größten Lehrers. Die Menschen haben Einsicht in den Vermutungscharakter ihres Sprechens (Mt 16,13) (n.9). Das Bekenntnis des Petrus zu Jesus als Gesalbter und als Sohn Gottes, und zwar des höchsten Gottes (Mt 16,16) (n.10). Die Antwort Jesu darauf: Petrus hat dieses Bekenntnis der Gnade zu verdanken, die vom Vater ausgeht. Darauf basiert die Anrede Gottes als: Vater unser im Himmel (Mt 16,17) (n.11). Petrus garantiert durch sein Bekenntnis das feste Fundament der Kirche (Mt 16,18) (n.12).

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

BEMERKUNGEN Trotz des im Vergleich zu anderen Predigttexten aus der Zeit der Legationsreise großen Umfangs dieser Predigt hat sie doch nur Entwurfcharakter, was sich auch darin zeigt, daß immer wieder Dispositionspunkte genannt werden.

Predigt XCVI: Was auch immer ihr auf Erden lösen werdet

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Predigt XCVI Was auch immer du auf Erden lösen wirst, wird auch im Himmel gelöst sein (1) „Was auch immer ihr auf Erden lösen werdet, wird auch im Himmel gelöst sein.“ (Mt 16,19) Das Evangelium des Sonntags1 : „Wenn eure Gerechtigkeit nicht mehr wert ist als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, werdet ihr nicht eintreten in das Himmelreich.“ (Mt 5,20) (2) Zuerst muß betrachtet werden, wie die Ordnung des Textes sich verhält, daß Petrus zuerst den Glauben bekannt hat, ohne den niemand gerettet werden kann. Daher können weder die Pharisäer noch die Schriftgelehrten noch die Gesetzestreuen in das Himmelreich eintreten. Aus dem Evangelium:2 „Es kam Jesus.“ (Mt 16,13) Der Reihe nach soll angemerkt werden, wie vor allem es notwendig ist, daß jeder, der selig sein will, Simon sei, das heißt der erkennt,3 daß es der geoffenbarte Glaube des himmlischen Vaters ist, daß Jesus der Sohn eines Menschen (Mt 16,13) und der Sohn des lebendigen Gottes (Mt 16,16) ist. (3) An zweiter Stelle ist es notwendig, daß glaube, im Bekenntnis des Simon seien alle Gläubigen zusammengefaltet, so, daß der Glaube aller Christen in dem durch Petrus zum Ausdruck gebrachten Glauben zusammengefaltet wird. Obgleich alle gefragt worden waren, hat Petrus im Namen aller geantwortet. In Petrus also wird im Namen aller geantwortet. Von daher kann jener nicht selig sein, der nicht in jener Einung der Gläubigen ist, die der Glaube des Petrus zusammenfaltet. Man sagt also, daß die ein Schisma und eine Teilung veranlassen, die nicht im Glauben des Petrus geeint sind. Petrus aber lebt dazu in seinem Sitz in seinem Nachfolger, wie es der heilige Hieronymus4 sagt, der Stuhl Petri sei durch den apostolischen Geist beseelt. Deswegen werden „die Pforten der Hölle gegen diesen“ so beseelten „Stuhl nicht angehen“ (Mt 16,18), wie dieser Text es sagt; er ist niemals vom rechten Glauben abgewichen und wird auch nicht abweichen, wie es der Canon5 sagt. Von daher müssen wir unsere Aufmerksamkeit auf Hieronymus richten, der seinen Glauben bei Papst Damasus ablegt, 24 quaestio 1 2 3 4 5

Missale Romanum, Evangelium vom sechsten Sonntag nach Trinitatis, Mt 5,20-24. Missale Romanum, Evangelium vom Fest des Apostels Petrus zu den Ketten, Mt 16,13-19. Hieronymus: Liber interpretationum Hebraicorum nominum (CCSL 72 p.141; Lag. 65,18). Hieronymus: Contra Iovinianum I, c.26 (PL 23, 258). Vgl. Decretum Gratiani, C.24, q.1, c.14 Haec est fides (Friedberg I, 970).

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

,,Quotiens vetus oriens“;6 und , wie der Papst der Lehrer des Glaubens ist, wie man es liest in den Briefen des Theodosius und Marcianus,7 und den Akten des Konzils von Chalzedon eingeflochten ist, und capitulum 12: Quotiens in den zuvor herangezogenen Causae und Quaestiones. (4) Zuerst darüber , daß Christus gesagt hat: „Für wen halten die Menschen den Menschensohn?“ (Mt 16,13) Und die Apostel geantwortet haben: „Die einen für Johannes den Täufer, andere für Elias, andere für Jeremias.“ (Mt 16,14) Und erwäge, wie er sich Menschensohn nennt; und dabei achte in ähnlicher Weise , daß er sagt: „Für wen halten die Menschen“ (Mt 16,13), weil das Halten-für dem Menschen zukommt. Über den Menschen und den Menschensohn ist schon anderswo berührt worden.8 Ebenso , daß die Antwort der Menschen nach Art einer Mutmaßung ist. Denn sie ist aufgrund irgendeiner erkannten Ähnlichkeit erweisend; die Wahrheit aber wird nicht in einer Mutmaßung berührt. Deswegen ist unser Glaube nicht aus einem Menschen, weil keine Vermutung an ihn heranrührt, sondern aus der Offenbarung des Vaters, wie der Lehrer, der zu Petrus spricht, bezeugt (Mt 16,17). (5) Daher ist die Verkündigung der Frohen Botschaft die Ankündigung dessen, was ohne Wort verborgen bliebe. Der Glaube nämlich kommt vom Hören, das Hören aus dem Wort (Röm 10,17), aus dem Wort die Offenbarung. Das Wort offenbart seinen Vater, anders unerkannt. Niemand weiß, wer jener Mensch in seinem Inneren ist, wenn er sich nicht offenbaren würde. Denn niemand weiß, was im Menschen ist wenn nicht der Geist des Menschen, der selbst der innere Mensch ist. Und dieser Geist ist im Wort, in dem er sich selbst offenbart. Der Vater wird im Sohn offenbart und die Allmacht des Vaters wird in der Kunst offenbart, die Kunst aber im Werk. (6) Daher legten die Werke Christi Zeugnis ab von der Kunst der Allmacht; die Kunst der Allmacht aber ist die vom Wesen des Schöpfers unabtrennbare Kraft, durch die Gott auch die Welten geschaffen hat (Hebr 1,2); sie ist wie das Wort des Allmächtigen, dem alles gehorchen muß. Wenn du auf die einzelnen Worte des Evangeliums der Reihe nach achten wirst, wirst du finden, wie Jesus zu dem Zwecke, daß er den Glauben in die Jünger hineinführe, begonnen hat zu fragen. Daraus hast du, daß die Jünger Christus noch nicht erkannt haben, weil Petrus es aus der Offenbarung des Vaters empfangen hat, wer er sei; aber auch Petrus hat aus dieser Offenbarung nicht die Kenntnis erlangt, die der Heilige Geist herbeiführt, der in ihm und den anderen nach Sendung bleibt. 6 7 8

Vgl. Decretum Gratiani, C.24, q.1, c.25 Quoniam vetus oriens (Friedberg I, 975). Vgl. De conc. cath. II, c.7 (h XIV n.93 die zu Z.1 genannten Quellen). Vgl. De docta ign. III, c.3 (h I p.128, 6-10, n.200; Predigt XLVIII, n.14, 1-6; Predigt LIV, n.4, 1-7; Predigt LXVIII, n.15, 16-19; n.18, 11-18; n.22, 1-3; Predigt LXIX, n.20, 1-5).

Predigt XCVI: Was auch immer ihr auf Erden lösen werdet

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(7) Danach sieh, wie er fragt: „Wer, sagen die Menschen, “ (Mt 16,13) Der Mensch spricht auf menschliche Weise, und weil er Mensch , kommt es ihm zu, zu sprechen. Und von daher hat er den Geist, der ein Ähnlichkeitsbild der Dinge ist; so wie Gott die Wesenheit der Wesenheiten ist, so ist der Geist ein Bild Gottes, der ein Ähnlichkeitsbild oder ein Artbild der Artbilder ist. Und so, wie es daher Gott zukommt, zu sprechen, und das heißt, das Ähnlichkeitsbild von ihm auszufalten; so entfaltet der menschliche Geist durch Sprechen sein eigenes Ähnlichkeitsbild. (8) Mach in ähnlicher Weise eine Bemerkung dort, wo er sagt „Menschensohn“ (Mt 16,13), wie Christus der Sohn des Menschen ist in einer unbestimmten Sprechweise, so daß er aller Bruder und jedem beliebigen, der will, Nächster ist. Folgerichtig berücksichtige den Text, der besagt: „Die einen für Johannes den Täufer“ (Mt 16,14); daraus bemerke zweierlei: Johannes der Täufer ist damals schon tot, und zweitens, wie die menschliche Antwort in der Art einer Mutmaßung und ohne Genauigkeit der Wahrheit ist etc. Ebenso bemerke, wie in Christus etwas Derartiges in zusammengefalteter Weise erschien, was in allen heiligen Propheten in teilhabender und ausgefalteter Weise war. Da deshalb in keinem von den Propheten nichts gewesen ist, was nicht in Christus , hat also die Antwort, die Bekanntes berücksichtigt, eine Mutmaßung über etwas Unbekanntes aufgrund des Ähnlichkeitsbildes angestellt. (9) Ebenso dort: „Ihr aber“ (Mt 16,15), , daß sie selbst nicht so wie die übrigen waren; sie waren nämlich Schüler des größten Lehrers auch in der Meinung aller Menschen, im Vergleich zu denen sie Götter gewesen sind (Apg 14,11; 28,6). Ebenso dort: „Wer, sagt ihr, bin ich?“ (Mt 16,15), achte , wie der Text erklärt, daß der Menschensohn Jesus ist, der die Frage stellt. Und merke, wie im Sagen oder Sprechen alle Menschen übereinstimmen, weil man sie für Weise und Mutmaßende hält. (10) Ebenso dort: „Es antwortet Simon Petrus“ (Mt 16,16), wie er selbst im Namen aller geantwortet hat. Ebenso dort: „Du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes.“ (Mt 16,16) Zuerst hat er gesagt „Christus“, weil er vor Gefährten gesalbt (Ps 45[44],8), deshalb auch „Sohn Gottes“ , und weil „Christus“, deshalb „Sohn des lebendigen Gottes“ , nicht irgendeines vergänglichen Gottes, sondern Erbe des Vaters (Gal 4,7), der lebenspendendes Leben ist. (11) Ebenso dort: „Jesus aber antwortet“ (Mt 16,17), besagt der Text, daß Jesus geantwortet hat; denn Jesus ist der Erlöser; weil nämlich der Sohn Gottes und Erbe des Lebens ; daher Jesus: „Selig bist Du, Simon Barjona“ (Mt 16,17); „Simon“, sagt er, weil er erkennend9 , „Barjona“ sagt

9

Hieronymus: Vgl. oben Anm. 3.

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

er, weil Sohn der Gnade ,10 daß selbst er durch die Gnade das ist, was der Sohn Gottes von Natur aus . Ebenso dort: „Weil Fleisch und Blut dir nicht geoffenbart haben, sondern mein Vater“ (Mt 16,17) etc., daß der aus dem Grund glückselig ist, der die väterlichen Erleuchtungen empfängt, die man auf andere Weise nicht erhalten kann; denn in ihm der Geist des Vaters. Ebenso dort: „Mein Vater“ (Mt 16,17), merke an, wie allein Christus wahrhaft sagen kann: ,,Mein Vater“. Uns aber hat er unterwiesen, daß wir betend sagen: „Vater unser“ (Mt 7,9) etc. Ebenso merke dort: ,,der im Himmel “ (Mt 7,9), gleichsam wie der König des Lebens und der unsterblichen Natur im unvergänglichen Reich, von wo das Licht und das Leben herausfließen. (12) ,,Und ich sage dir, daß du bist Petrus“ (Mt 16,18). Daraus merke die Festigkeit der Grundlage der Kirche an, die in dem geoffenbarten Bekenntnis gründet.

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Hieronymus: Ebd. (CCSL 72, p.135; Lag. 60,22).

Predigt XCVII Manducaverunt et saturati sunt Sie haben gegessen und sind satt geworden Zeit: Ort: Fest: Zählung Koch: Edition: Deutsch:

8. August 1451 Minden Siebter Sonntag nach Trinitatis 92 h XVII/6, 522-524 –

ZUSAMMENFASSUNG Nach Aufstellung des Themas folgt die Reihenfolge des Geschehens und die Einordnung des Zieles der Evangelienperikope: Das Aufzeigen der Macht Jesu (n.1). Die Erfahrung des Wunders der leiblichen Speisung ist Vorbild für die Speisung mit geistiger Nahrung (n.2). Das Wort ist die geistige Nahrung. Die Macht Gottes ermöglicht die Speisung der Menge. Die unendliche Macht Gottes wirkt die Speisung der Menge zum Leben. Diese Speisung steigert zugleich das Verlangen nach ihr (n.3). Christus als König von Natur aus wird erklärt am Beispiel von Bienen und Kranichen. Die Sorge des Königs gilt seinen Untergebenen (n.4). Die große Menge zeigt die Größe des Erbarmens Jesu über die Not der großen Menge. Grund für sein Erbarmen ist ihr Ausharren bei ihm drei Tage lang. Menschliche Not dient dazu, die Hilfe und das Erbarmen Gottes zu erkennen (n.5). Zuletzt folgt eine allegorische Deutung des „Von-weitHerkommens“ als das Gelangen zum letzten Ziel. Der Erlöser gibt dazu die Möglichkeit kraft seines Erbarmens (n.6).

BEMERKUNGEN Zwischen dem vorliegenden Entwurf für die Predigt in Minden und der folgenden Predigt in Deventer hat Nikolaus nachweislich in Kloster Frenswegen oder Marienwald bei Nordhorn gepredigt, wovon aber kein schriftlicher Entwurf überliefert ist. Vgl. dazu Josef Koch CT I/7, 99f., vor allem 99, Anm. 3.

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Predigt XCVII Sie haben gegessen und sind satt geworden (1) „Sie haben gegessen und sind satt geworden“ (Mk 8,8), im Evangelium.1 Zuerst muß man darauf achten, wie er, , dazu, daß sich Jesus der Welt zeigte, eine ordnungsgemäße Reihenfolge angegeben hat, daß ihm die Einfältigen folgten, die er durch das Wort des Glaubens speiste; und weil der Glaube über der Natur und über dem Verstand ist, waren die Einfältigen und Ungebildeten aufnahmefähiger für den Glauben; und die ordnungsgemäße Reihenfolge erforderte, daß so geartete von Gott durch die Nahrung des Wortes angezogen würden, daß sie die Sorge um den Leib zutiefst vernachlässigten, und dann, während die Natur körperliche Speise fordert, indem sie Christus folgen, verweilen, und aufgehalten und hungernd nichts hätten, wovon sie sich nähren ; und sollte Jesus zeigen, daß jener, der die Seele nährt, allmächtig ist zu allem, damit er so seine Macht zeige. (2) Und diese ordnungsgemäße Reihenfolge ist die angemessenste gewesen, um das Angestrebte zu beweisen. Denn durch ein Wunder werden die Einfältigen geführt, daß sie glauben, und vor allem dadurch, sobald sie einmal die Wahrheit und Wirklichkeit dieses Wunders an sich in nutzbringender Weise erfahren; Jesus zeigt nämlich in seiner Predigt, auf welche Weise die vernunftbegabte Seele dem immerwährenden Leben sich vereinen könne wie in ihm, und daß durch diese Einung das Leben desjenigen sich nähre, der allein die Unsterblichkeit bewohnt (1 Tim 6,16), und daß jenes Leben die immerwährende Freude der Seele ist, weil sie zu diesem mit dem größten Verlangen getragen wird, gleichsam wie einer, der leiblichen Hunger leidet, zum Verlangen nach Nahrung. Und dazu, daß sie die Erfahrung machen, mit wie großem Verlangen die Seele zur Speise des Lebens bewegt wird, hat er zugelassen, daß sie hingerissen werden bis zur Vernachlässigung des Leibes durch das Verlangen, das Wort zu hören, von wo die Seele genährt wird, und daß auch ein so großer Hunger in ihnen selbst entstanden war, daß er sagt: „Es überkommt mich ein Erbarmen über die Menge.“ (Mk 8,2) (3) Und dann hat er die Macht des Wortes gezeigt aufgrund des geschärften Verlangens und hat gelehrt, alle Nahrung aus dem Wort, aber das Wort, in dessen Macht es liegt, alles Sinnenhafte zu nähren durch Sinnenhaftes und das Vernunfthafte durch sich, weil er die Wahrheit selbst , die allein die Vernunft nährt. Und als die große Menge sehr hungerte und zu wenig an Vorrat zur Erquickung war, nämlich sieben Brote und zwei kleine Fische (Mk 8,5.7), und weil alle nach der Segnung und Verteilung gesättigt gewesen sind (Mk 8,8), haben sie eingesehen, daß nicht das Brot und die Fische 1

Vgl. Missale Romanum, Evangelium vom siebten Sonntag nach Trinitatis, Mk 8,1-9.

Predigt XCVII: Sie haben gegessen und sind satt geworden

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sind, die vielleicht kaum vier ausgereicht hätten, die nährten, sondern die Kraft Gottes, durch die das Brot hat, daß es nährt. Von daher haben sie in klarster Weise erfahren, daß jene Kraft unendlich ist, die dem Brot gewährt, daß es nährt. Und deswegen kommt es nicht darauf an, ob es wenige oder viele Brote sind, weil es der unendlichen Kraft nicht darauf ankommt, in wenigen oder vielen zu nähren. Aus diesem Grunde vermag diese Kraft die Nahrung für das unendliche Leben immer ohne Nachlassen anwachsen zu lassen, weil sie dadurch, daß sie das Leben nährt, das Verlangen nach dem Leben nährt. Von daher: Das Auge sagt niemals: Es genügt, sobald ihm ein ergötzlicher Gegenstand vorgesetzt wird. Denn sein Leben, was Sehen ist, wird genährt durch den Gegenstand, und nicht allein sein Leben, sondern auch das Verlangen danach. (4) Zuerst freilich muß in der Reihenfolge des Evangeliums2 angemerkt werden, auf welche Weise Christus wie ein König der Natur war; – so wie bei den Bienen eine Königin und bei den Kranichen und anderen ein natürlicher König sich findet, dem sich die vielen Bienen und Kraniche beigesellen –, so verläßt ihn nicht die große Menge, die ihm immer durch die Wüste und über die Wasser folgt, nicht wegen der Rettung und der Nahrung, sondern weil er ein König der Natur ist. Ebenso , daß er Rettung gewährt, weil er König und Herr . Wenn man nämlich liest, daß irgendwelche Menschen gegen das Gift einer Schlange allein durch die Berührung infolge der Abstammung geheilt haben und daß der Kaiser Titus einen Blinden etc., hat Christus gemäß seiner Natur alles vermocht, weil in ihm die Vollendung der Vollkommenheit der Natur . (5) Ebenso merke an, daß „viertausend Menschen“ (Mk 8,9) eine „große Menge“ (Mk 8,1) genannt wird, das aber gemäß Ort und Zeit. Ebenso dort: „und sie hatten nichts, was sie essen sollten“ (Mk 8,9), merke an, daß es eine große Menge gewesen ist, die nichts hatte; und drei Tage lang haben sie Christus ausgehalten und sind in der Wüste und weit von zu Hause gewesen (Mk 8,2f.). Der schließt , daß man ihnen nur durch Barmherzigkeit zu Hilfe kommen konnte. Daher sagt er „zu den zusammengerufenen Jüngern“ (Mk 8,1): „Es erbarmt mich des Volkes“ (Mk 8,2) etc. Merke, wie Gott zu dem Zweck, daß er erkannt wird, zuläßt, daß eine Aufgabe herbeigeführt wird mit jenem Ziel, daß eine Verzweiflung hinsichtlich jeder menschlichen Hilfe entsteht, und dann diejenigen, die auf ihn hoffen, seine Güte und Barmherzigkeit erfahren. Solange also die Wirkung einem anderen zugeschrieben werden kann, läßt er den Verlauf zu. Und dazu habe ich mehrere Erfahrungen gesehen. (6) „Es erbarmt mich des Volkes“ (Mk 8,2), und er zählt die Gründe des Erbarmens auf, weil sie drei Tage lang bei ihm ausgehalten haben. 2

Vgl. oben Anm. 1.

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

„Gewisse von ihnen sind von weit her gekommen.“ (Mk 8,3) Siehe, daß Christus für jene, die „von weit her gekommen sind“, aus dem , weil von weit her , für sich beansprucht, einen Grund für das Sich-Erbarmen zu haben. Merke hier: , die von weit her kommen zu Christus, sind die, die in ein weitab gelegenes Land weggegangen sind und all ihre Habe verschwendet haben (Lk 15,13) und als Hungrige von weit her zu Jesus kommen, nicht, um ihn oberflächlich zu besuchen, sondern um drei Tage lang ihm auszuhalten, das heißt bis zum Äußersten. Nach einem Zeitraum von drei Tagen würden sie nachlassen; solange sie es so können, verlassen sie nicht; aber der Erlöser gibt das Können, sobald es nachläßt. So soll die Barmherzigkeit erwartet werden, sobald das Vermögen nachläßt.

Predigt XCVIII Qui facit voluntatem Patris mei, qui in caelis est, ipse intrabit in regnum caelorum Wer den Willen meines Vaters tut, der im Himmel ist, der wird selbst eintreten in das Reich der Himmel Zeit: Ort: Fest: Zählung Koch: Edition: Deutsch:

15. August 1451 Deventer Achter Sonntag nach Trinitatis und Mariä Himmelfahrt 93 h XVII/6, 525-529 –

ZUSAMMENFASSUNG Nach der Aufstellung des Themas beginnt Nikolaus seine Homilie über das Tagesevangelium mit einer ausführlichen Warnung vor falschen Propheten (Mt 7,15) (n.1). Die Erkenntnis der falschen Propheten erfolgt an ihren Früchten, also an ihren Werken (Mt 7,16). Die Lehre Christi ist dagegen eine gute Frucht von einem guten Baum (Mt 7,17) (n.2). Der Baum, der gute oder schlechte Früchte hervorbringt, ist vergleichbar dem Menschen. Die Erkenntnis der guten Frucht erfolgt zur rechten Zeit (n.3). Die Homilie wird unterbrochen durch das Gleichnis von den Trauben und dem daraus gewonnenen Wein (n.4-7). Der Geist des Weines und der Geist des Menschen sind beide göttlichen Ursprungs (n.4). Der Einfluß der Sonne auf die Trauben kann verglichen werden mit dem Einfluß des göttlichen Geistes auf den Menschen; die Verwandlungskraft ist in beiden (n.5). Die Vermittlung des Lebens erfolgt durch den Geist, nämlich durch Teilhabe am göttlichen Geist (n.6). So wie die Traubenernte nicht von Dornen und Disteln erfolgt, so wird der Geist des Lebens nicht geerntet von den Sorgen ums leibliche Wohl, sondern vom Geist der Sohnschaft (n.7). Der Gedanke, daß gute Früchte das Leben vermitteln, schlechte aber den Tod (Mt 7,16), führt zurück zur Auslegung des Tagesevangeliums (n.8). Die Frucht, die uns nährt, ist Christus als das Brot des Lebens. Ihn erkennen wir als gute Frucht (Mt 7,18.20) (n.9). Das Feuer für die schlechten Bäume ist eine Art Prüfstein (Mt 7,19) (n.10). Glaube und Werke gehören dazu, den Willen des Vaters zu tun (Mt 7,21) (n.11). Abschließend nennt Nikolaus die Werke des Glaubens nach Paulus (n.12).

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

BEMERKUNGEN Zu dem in der Predigt herangezogenen Beispiel, wie aus Trauben Wein wird, vgl. die angegebene Literatur.

LITERATUR Helmut Gestrich: Nikolaus von Kues – Der Mann aus dem Weinland der Mosel, in: MFCG 16 (1984), 301-305.

Predigt XCVIII: Wer den Willen meines Vaters tut

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Predigt XCVIII Wer den Willen meines Vaters tut, der im Himmel ist, der wird selbst eintreten in das Reich der Himmel (1) „Wer den Willen meines Vaters tut, der im Himmel ist, der wird selbst eintreten in das Reich der Himmel“, im siebten Kapitel des Matthäus und im Tagesevangelium.1 Merke, wie Christus uns im einzelnen aufmerksam macht, daß wir die falschen Propheten erkennen sollen, „die zu uns kommen in den Gewändern von Schafen und innen reißende Wölfe sind“ (Mt 7,15), weil es doppelte von Propheten gibt, die einen die wahren, die anderen die falschen. Die wahren sind diejenigen, die das Wahre sagen und die Wahrheit tun, die falschen die, die als gute Schafe erscheinen, aber reißende Wölfe sind. Bemerke, daß die Wahrheit einfach ist, die Falschheit aber doppelt . Wahres Gold ist ohne Mischung; falsches ist heuchlerisch, das heißt anders in seiner Erscheinung und anders in seinem Bestand. Und Propheten werden diejenigen genannt, die über die zukünftige Verherrlichung, die nicht in das Herz des Menschen eingetreten ist, einen schmalen Weg ankündigen, unter denen auch falsche sind. Und die Falschheit wird gezeigt aufgrund der wölfischen Raubgier. Wo von daher in einem Propheten die Raubgier in der Tat in Augenschein genommen werden kann, dort soll man sich hüten. Denn wenn auch das Gewand christlich sein mag, weil es von jenem Schaf ist, das durch den Propheten spricht: „Gleichsam wie ein Schaf “ (Jes 53,7; Apg 8,32) etc., ist der Mensch dennoch unter dem Aussehen von wölfischer Raubgier. Der Wolf nämlich raubt, zerstreut und zerfleischt etc. Der Text kann bezüglich jeder Heuchelei verstanden werden, vor allem aber bezüglich der Häretiker, die unter dem Anschein des Lichtes einen satanischen Schafspelz haben. (2) Damit wir aber nicht getäuscht werden, verweist uns Christus auf die Werke, gleichsam als ob dort eine Täuschung nicht einfallen könne: „An ihren Früchten werdet ihr diese erkennen. Sammelt man etwa “ (Mt 7,16) etc. Er leitet ab, daß wahre Früchte nur von einem wahren Baum gesammelt werden. „So jeder gute Baum “ (Mt 7,17) etc. Mache aufmerksam, wie die Lehre Christi rein ist und einfach. Denn der Baum des Lebens bringt die Frucht des Lebens hervor. Was fließt aus der Liebe wenn nicht die Frucht der Liebe? Was vom Licht wenn nicht Erleuchtung? Was vom Guten wenn nicht ein Gut? 1

Vgl. Missale Romanum, Evangelium vom achten Sonntag nach Trinitatis, Mt 7,15-21.

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

(3) Und mache aufmerksam, wie der Mensch vom göttlichen Feuer in Feuer geraten Feuer hervorbringt; aber dazu mache aufmerksam auf des Baumes, wie der Baum pflanzliches Leben hat und wächst und gedeiht und die Wurzeln seines Ursprungs in der Erde hat; aber seine Kraft ist nicht aus der Erde, sondern aus Gott, weil er aus göttlichem Samen ist, der im Holz von Gott stammt. Dieser im Holz verborgene Samen bewirkt die Frucht gemäß seiner Art (Gen 1,21). Und wer kann im Winter am Holz die Fruchtbarkeit sehen? Und wer kann im Frühling erkennen, ob die kommende Frucht eine gute ist, da sich nun einmal der eine Baum so verhält wie der andere, wenn nicht allein jener, der den Samen gegeben hat? Sobald aber die Frucht sich vom Stamm oder Holz, das der Erde eingeheftet ist, abtrennt, sobald der Sommer dieser Welt vorübergeht, dann wird die Frucht gesammelt, und man entdeckt, wie geartet sie ist; so bezüglich des Menschen , der von Adam abstammt und viel Frucht bringt (Mt 13,8; Joh 12,24) etc. (4) Überlege dennoch, daß Christus zu uns über die Trauben und Feigen mittels eines Gleichnisses spricht (Mt 7,16; Joh 15,1-6; Mk 11,13.20). Denn es ist etwas Wunderbares, wie die Trauben aus einem einfachen Holz entstehen und das Ergötzen für Könige (Gen 49,20) sind, und wie Gott sagt, sein Ergötzen sei mit den Menschen (Spr 8,31). Und von da dies. Denn die Trauben wachsen nur, wo eine starke Sonneneinstrahlung da ist. In den Trauben ist eine gewisse geistige Kraft, welche sie, , ohne die Aufheizung des Sonneneinflusses nicht entfalten kann. Und sobald dieser Geist empfangen ist, dann bewirkt er beim Auspressen der Trauben eine gewisse Bewegung, durch die der Most gereinigt und von neuem geboren wird, daß er Wein wird. So freilich sind wir, wie Paulus es im siebzehnten Kapitel der Apostelgeschichte sagt, ein gewisses göttliches Geschlecht (Apg 17,8). Und dieses Geschlecht oder diesen Samen führen wir in eine erdachte Erde wie das Holz seinen Samen. Und in unserem Geist nehmen wir den Geist Gottes auf, wie die Traube in ihrem Geist den sonnenhaften Geist aufnimmt. Und gemäß dem Wirken des Geistes Gottes in unserem Geist bringen wir viele und göttliche Frucht, so daß wir in uns das Leben Besitzende sind, sobald unser Geist ein ist, der in sich den Geist des Lebens trägt. (5) Und achte , wie ein einziger Einfluß der Sonne in allen Rebstöcken Trauben erwirkt so, daß aus allen Wein ausgepreßt werden kann. Aber der eine ist edler als der andere und keiner wie der andere, weil anders und anders derselbe Strahl aufgenommen wird; von daher der eine schwach, ein anderer stark. Und der eine kann den dritten Teil von Wasser zu sich umwandeln, ein anderer mehr; aber ein einziger allein ist der, der ohne Maß vermag. Und es ist der Geist selbst unseres vernunfthaften Lebens, an dem jede Vernunft unterschiedlich teilhat. Und dieser Geist ist die absolute Vernunft, die Gott ist, der allein in einer einzigen Frucht menschlicher Pflanzung ist; einer Frucht geeint dem Wesen, nicht der Teilhabe nach. Siehe, wie dieser Mensch Gott ist. Und er ist die ganze Freude

Predigt XCVIII: Wer den Willen meines Vaters tut

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des Menschen und die absolute Kraft, die der Wesensgrund der Dinge ist. Sie ist allmächtig, zu sich und in sich alle vernunfthaften Dinge anzuverwandeln, die sich der Einung anpassen. So wie der stärkste Wein, der nicht stärker sein kann, alles Wasser, was ihm geeint würde, in Wein verwandelte, so werden wir aufgrund der Einung mit der unendlichen Vernunft, welche in Christus Jesus in unserer Natur ist, dem wir anders nicht geeint werden können außerhalb der Natur, hinübergeführt in die Gottessohnschaft, die wir Söhne von Menschen gewesen sind, wie es aus der Lesung des Apostels Paulus von diesem Sonntag2 in feiner Weise gezogen wird: Wir empfangen nämlich den Geist Gottes in unserem Geist, durch den wir „Erben Gottes und Miterben Christi“ (Röm 8,17) werden. (6) Außerdem betrachte noch, wie in deiner Seele der Geist des Lebens ist, der in sinnenhafter Weise den Körper, der einer Seele geeint ist, lebendig macht, so wie im Wein in der Tat ein gewisser Geist ist, der jedes Wasser, das ihm geeint ist, lebendig macht. Und dieser Geist ist jener, der alles bewirkt, was im Wein an Kraft ist. Von daher erhält dieser Geist Mittelpunkt von oben und trennt sich vom Wasser, weil er von oben ist; wenn er sich auch zutiefst trennen könnte, könnte er nicht auf irgendeine Weise von irgendeinem Sinn berührt werden, weil er nicht von dieser Welt ist. Dieser Geist umso mehr abgetrennt, je einfacher und gleichförmiger er dem höchsten Geist , der alles in allem wirkt. Denn jener Geist ist in allem, von wo der Wein von allen Früchten entsteht und das brennende Wasser, , von den Äpfeln, von den Kirschen etc. ausgezogen wird, weil dort jener Geist ist. Und so wie in allen solchen eine Kraft des göttlichen Geistes ist, der alles lebendig macht, der lebendig machender Geist (1 Kor 15,45) genannt wird, so ist in allen vernunftbegabten Geistern die Kraft des Wortes Gottes oder der unendlichen Vernunft. Von daher ist der vernunftbegabte Geist nicht von dieser Welt, sondern er ist Teilhabe am göttlichen Wort. Und er strebt auf das Wort selbst hin nach oben, und in ihm allein kann er Ruhe finden, in dem allein er leben kann in einem Leben ewig währender Freude, weil er dort sich und alles anrührt. (7) Achte also darauf, daß die Trauben nicht von den Dornen gesammelt werden (Mt 7,16); die Frucht der ewigen Freude wird nicht gesammelt aus dem unter die Dornen herabfallenden Samen (Mt 13,7). Die Dornen nämlich, wie der Erlöser auseinandersetzt, sind die Sorgen des Fleisches; sie entstehen mit dem Samen der Vernunft und ersticken den Samen. Deswegen sagt der Apostel: „Wir sind nicht Schuldner dem Fleisch , daß wir dem Fleisch gemäß leben. Wenn ihr nämlich dem Fleisch gemäß lebt, werdet ihr sterben. Wenn ihr aber durch den Geist die Regungen des Fleisches abtötet, werdet ihr leben.“ (Röm 8,12) Siehe, wie von den Dornen der fleischlichen Sorge die Frucht der Traube nicht entsteht, in der der Geist des Lebens ist.

2

Vgl. Missale Romanum, Lesung vom achten Sonntag nach Trinitatis, Röm 8,12-17.

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Paulus belehrt uns, daß jener Geist, der das Fleisch abtötet, der Geist ist, der uns zu Söhnen Gottes macht. Der Geist der Sohnschaft ist der Geist, der die beste Frucht hervorbringt, mag auch das Holz krumm sein. Denn das Holz des Weinstocks und das der Feige ist von geringem Wert, und die Frucht ist sehr gut, so wie auch wir in irdenen Gefäßen einen Schatz eines ewigen Erbes tragen (2 Kor 4,7). Im Geiste Gottes nämlich werden wir geführt, daß wir zum Vater rufen, Abba, Vater (Röm 8,15). Wir bekennen uns als Söhne, sobald wir ihn wie einen Vater anrufen. Und der Geist selbst legt Zeugnis ab unserem Geist, daß wir Söhne Gottes sind (Röm 8,16) und daher seine Erben und Miterben Christi (Röm 8,17), wie er es sagt in der Epistel. (8) Es folgt im Text: „oder von den Disteln Feigen“ (Mt 7,16). Die Feige ist eine gute Frucht, äußerst nahrhaft. Und achte darauf, wie der Mensch von Disteln keine Feige oder eine Frucht sammeln kann, die ihm zur Nahrung angemessen ist, mag auch der Esel oder ein anderes vernunftloses Lebewesen sammeln. Von daher kann der Mensch die Frucht des ewigen Lebens nur aus der Frucht des Lebens sammeln, die aus dem Baum des ihm angemessenen Lebens entspringt. Und so ist es nötig, daß der Baum sehr gut sei (Gen 1,31), der uns eine solche Frucht hervorbringen soll; und es ist nötig, daß sie für unsere Natur sei. Und so ist der Mensch Christus Jesus ein wahrer Prophet (Lk 24,19; Mt 21,11), der uns ermahnt, auf die Frucht zu achten, die von einem schlechten Baum unserer Natur hervorgebracht wird und uns zum Tode führt. Aber er selbst ist der Baum, durch den das Leben erkannt und gegeben wird. Und wenn wir auch in dieser Welt leben mögen, erscheinen wir dennoch nicht bis dahin in Wirklichkeit so zu leben, so wie wir in der Hoffnung in ihm selbst leben. Und das ist das, was Paulus sagt: Noch nicht erscheint das, was wir sein werden. Sobald aber er, , erschienen sein wird, (Kol 3,4) etc. (9) Von daher merke, wie er eine Frucht ist, die uns nährt, weil er das Brot des Lebens (Joh 6,35.48) etc.; darüber anderswo.3 „Ein guter Baum kann keine schlechten Früchte bringen“ (Mt 7,18) etc., so wie auch die Dornen keine Trauben und die Disteln keine Feigen. Achte also , daß dies eine wahre Aufzeigung ist. So wie aus einem Guten nur Gutes hervorgehen kann, so auch von einem eingeschränkten Guten nur Gutes gemäß seiner Einschränkung. Deshalb ist ein Urteil aufgrund der Werke wahr (Mt 7,20). (10) „Jeder Baum, der keine guten Früchte bringt, wird herausgerissen und ins Feuer geworfen.“ (Mt 7,19) Wie wenn er sagen würde: Der Baum, der nicht die Frucht des Lebens hervorbringt, jener darf nicht die Stelle des Baumes des Lebens besetzen, sondern er wird herausgerissen und ins Feuer geworfen. Dieses Feuer löst nicht ins Nichts auf, sondern löst in Asche auf. Und das Feuer, das die Seelen peinigt, ist ein dazu bereitetes Feuer; so wie es 3

Vgl. z.B. Predigt LXXXVIII.

Predigt XCVIII: Wer den Willen meines Vaters tut

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das eine Feuer der Auflösung und Erprobung des Goldes gibt und ein anderes zur Auflösung des Bleis etc. (11) Dazu achte noch darauf, daß er sagt: „Nicht jeder, der zu mir sagt, Herr, Herr, wird eintreten in das Reich der Himmel.“ (Mt 7,21) Hier lehrt er, daß Gott zu erkunden als Gott und Herrn nicht eine Frucht des Lebens ist, wenn nicht auch ein Werk dabei ist, weil „der Glaube ohne Werke tot ist“ (Jak 2,20). Es ist also nötig, den Willen des Vaters zu tun, der im Himmel ist. Achte darauf, daß er sagt: „Meines Vaters, der im Himmel ist“ (Mt 1,21). Denn unser Gott, der Schöpfer aller Dinge, ist in wahrster Weise der Vater Christi unseres Gottes von Natur aus, unser aber durch die Erschaffung. (12) Sieh, wie den Willen des Vaters zu tun Frucht zu bringen ist , der eintritt in das Reich der Himmel. Der Wille des Vaters ist der Heilige Geist. Die Werke des Geistes zählt Paulus auf (Gal 5,22) etc. Was der Wille des Vaters sei, sieh nach in den Predigten des Mauritius.4 Es ist die Geduld im Unglück, Gehorsam: „Seid untertan!“, Enthaltsamkeit von Verlockungen, das heißt von Unmäßigkeit und Wein, worin Ausschweifung (Eph 5,18), so heißt es im fünften Kapitel an die Epheser, von Ausschweifung, damit wir Gott angenehm sind; ununterbrochenes Gebet; innerliche Freude der Betrachtung etc. „Macht euch nicht gleichförmig dieser Welt“ (Röm 12,2), die Römer im zwölften Kapitel etc.

4

Nikolaus besaß dieses Werk in seiner Bibliothek; vgl. dazu Jacob Marx: Verzeichnis der Handschriften-Sammlung des Hospitals zu Cues bei Bernkastel a. Mosel, Trier 1905, 20.

Predigt XCIX Deus in loco sancto suo; Deus, qui habitare facit unanimes in domo Gott in seinem heiligen Ort, Gott, der Einträchtige im Hause wohnen läßt, er selbst gewährt die Kraft und die Stärke seines Volkes Zeit: Ort: Fest: Zählung Koch: Edition: Deutsch:

29. August 1451 Utrecht Zehnter Sonntag nach Trinitatis, Fest der Enthauptung Johannes des Täufers 94 h XVII/6, 530-532 –

ZUSAMMENFASSUNG Ungewöhnlich für einen Predigtentwurf der Legationsreise ist es, daß Nikolaus sowohl ein Thema als auch ein Prothema aufstellt (n.1). Der Friede im Hause Gottes verbindet beide und der Friede ist auch der Grundgedanke der folgenden Stichpunkte für die Predigt. Zuerst soll der Friede nach Paulus und Dionysius erörtert werden. Daran schließt sich eine etymologische Deutung von Jerusalem als visio pacis nach Hieronymus an, um diesen Frieden in der Spekulation als Ruhe des Geistes und letztes Ziel der Glückseligkeit aufzuzeigen (n.2). Der Friede im Hause Gottes ist zugleich die Stärke und Eintracht in den Gläubigen (n.3). Der Friede Christi zeigt sich in seinem Friedensgruß, in der Sendung der Apostel; den Zusammenhang von Frieden und Schönheit belegen zwei Stellen aus dem Propheten Jesaja (n.4). Im Folgenden werden weitere Gliederungspunkte aufgeführt: 1. der göttliche Friede, der Friede Gottes im Verhältnis zu den Menschen, der Friede der Menschen untereinander, anders formuliert: über den ungeschaffenen, den geschaffenen und den wiedergeschaffenen Frieden; 2. Der Friede des vernunftbegabten Geistes: über ihn hinaus, mit sich selbst und nach unten zur Sinneswahrnehmung; 3. Der Friede der guten und der bösen Geister; 4. Der Friede mit Gott, den Engeln, mit sich und den anderen (n.5). Der Friede kann nur in der eigenen Art gefunden werden; gefährdet ist er durch Absinken in eine niedere Art. Zusammenstimmen von Geist und Körper im Menschen bedeutet Friede, wie es das Beispiel des Zusammenklanges der Orgel und der Harmonie beim Gesang zeigen; abschließend soll die Hierarchie als Ordnung erwähnt werden (n.6).

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Predigt XCIX Gott in seinem heiligen Ort, Gott, der Einträchtige im Hause wohnen läßt, er selbst gewährt die Kraft und die Stärke seines Volkes (1) „Gott in seinem heiligen Ort; Gott, der Einträchtige im Hause wohnen läßt, er selbst gewährt die Kraft und die Stärke seines Volkes“, im Introitus der Messe dieses Sonntags.1 Es sagt der Prophet David: „Im Frieden ist sein Ort gemacht worden und die Wohnung in Sion.“ (Ps 76[75],3) (2) Zuerst über jenen Frieden, „der jede Sinneswahrnehmung überragt“ (Phil 4,7), gemäß Paulus. Und bezieh dich auf das dreizehnte Kapitel des Dionysius Über die göttlichen Namen:2 Nicht raumgebunden sei er an einen Ort, wird von gesagt, den man Frieden nennt, das heißt Unvergänglichkeit, Unsterblichkeit, Liebe, Eintracht, Ruhe, Freude, Leben, Ergötzen und was auch immer derartiges nur den Frieden benennt, der jede sinnliche Vorstellung überragt (Phil 4,7). Die „Wohnung in Sion“ (Ps 76[75],3) ist in der Höhe „Jerusalem“, was „Schau des Friedens“3 bedeutet. Meditative Schau ist Wohnstatt im Frieden; denn sie ist Ruhe des vernunftbegabten Geistes oder letzte Glückseligkeit. (3) Ebenso: Außerdem ist der Friede Gottes (Phil 4,7) „an seinem heiligen Ort“ (Ps 68[67],6);4 auch ist jener sein Ort, den er für sich ausgewählt hat; und es ist der Tempel, von dem Paulus sagt, die Gläubigen seien ein Tempel (2 Kor 6,16), so wie die Königsburg eine Hoheit ist und in der Treue der Untergebenen bewahrt wird. Ebenso: wie Gott es wirkt, daß in Hause Einträchtige wohnen (Ps 68[67],7).5 Jede Kraft nämlich und Stärke des Volkes besteht aufgrund der Einmütigkeit. Sobald in vielen eine einzige Seele oder ein einziges Herz ist, ist dort Friede und Stärke, wie unter den Gliedern eines einzigen Menschen, weil sie nur eine einzige Seele haben. (4) Betrachte, wie Christus nach dem Sieg über die Welt (1 Joh 5,4-6) und der Auferstehung gesagt hat: „Friede mit euch! So wie mich der Vater gesendet hat, so sende ich auch euch“ (Joh 20,21) etc.

1 2 3 4 5

Vgl. Missale Romanum, Introitus der Messe vom zehnten Sonntag nach Trinitatis, Ps 67[66],6f.36. Dionysius Ps.-Areopagita: De divinis nominibus, c.11 (CD 1, p.217, 5-221, 12). Hieronymus: Liber interpretationum Hebraicorum nominum (CCSL 72, p.121; Lag. 50 ,9-10 u.ö.). Vgl. auch oben Anm. 1. Vgl. auch oben Anm. 1.

Predigt XCIX: Gott in seinem heiligen Ort

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Daher sind die Apostel entweder beauftragte Gesandte oder Boten des Friedens. Und deshalb sagt er: „In welches Haus auch immer ihr eintreten werdet, sagt: Friede diesem Hause!“ (Lk 10,5) Ebenso der Prophet: „Wie schön die Füße derjenigen, die als Frohe Botschaft den Frieden verkündigen.“ (Jes 52,7; Röm 10,15) Denn kein Gruß ist ohne Frieden. Und je mehr an Frieden er beibringt, umso schöner und angenehmer . Der Friede also ist eine Schönheit, die alles schön macht (Jes 32,18). (5) Wir können zuerst über den göttlichen Frieden sprechen, an zweiter Stelle über den Frieden Gottes im Verhältnis zu den Menschen, an dritter Stelle über den Frieden der Menschen untereinander; oder über den unerschaffenen Frieden, über den geschaffenen Frieden, über den wieder neu erschaffenen Frieden, über den Frieden des vernunftbegabten Geistes nach oben, mit sich und nach unten zur Sinnesempfindung: nach oben durch Gehorsam, zu sich durch Demut, zur Sinnesempfindung durch Besiegung; über den Frieden der guten Geister im Guten, über den Frieden der bösen im Bösen; über den Frieden des Menschen zu Gott, zu dem Engel, zu sich und den anderen. (6) Über die vielfache Artbestimmung der Dinge, und auf welche Art und Weise jedes beliebige im Frieden seinen Bestand hat. Denn ein jedes beliebige ruht in seiner Art, wie in der menschlichen Art alle Arten der Tierheit unter der Herrschaft der Vernunft zusammengefaltet sind; und sobald der Mensch sich hin zur Ähnlichkeit mit den vernunftlosen Arten bewegt, weicht er ab vom menschlichen Frieden, so wie ausschweifende Trunkenbolde zur Natur der Schweine , zornige zur Natur von Löwen etc. Ebenso : wie im Menschen Geist, Seele und Körper sind, so wie in der Welt Grundstoffe, Lebendiges und Vernunfthaftes. Und wie es notwendig ist, wenn der Friede bewahrt werden soll, daß jedes Glied seine Aufgabe bewahrt; dann ist Einheit im Körper, so wie der Zusammenklang in der Orgel und die Harmonie im Gesang. Und dort über die Rangordnung, worüber du anderswo finden wirst.6

6

Vgl. dazu Predigt XXI, n.7 und n.9.

Predigt C Complevitque Deus die sexto opus suum, et requievit die septima Und Gott hat am sechsten Tag sein Werk, das er erschaffen hatte, vollendet; und am siebten Tag ruhte er aus Zeit: Ort: Fest: Zählung Koch: Edition: Deutsch:

8. September 1451 Utrecht Mariä Geburt vgl. 41 Anm. 1, CT I/7, 56 h XVII/6, 533-535 –

ZUSAMMENFASSUNG Das Thema ist aus der Genesis genommen (n.1) und führt zu einem Vergleich der Schöpfung mit dem Bau eines Hauses, der zugleich die Inkarnation als Ziel der gesamten Schöpfung aufzeigt (n.2). Christus ist der siebte Tag und als solcher die Sabbatruhe (n.3). Adam war von der Erde und irdisch, Christus als der zweite Adam war vom Himmel und himmlisch. Maria war die gereinigte Erde für die Aufnahme Christi (n.4). Die Schöpfungs- und Menschheitsgeschichte ist ein Reinigungsprozeß; Maria ist das Ergebnis dieser Reinigung; gezeigt wird dies am Reinigen des Goldes (n.5).

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Predigt C Und Gott hat am sechsten Tag sein Werk, das er erschaffen hatte, vollendet; und am siebten Tag ruhte er aus (1) „Und Gott hat am sechsten Tag sein Werk, was er erschaffen hatte, vollendet; und am siebten Tag ruhte er aus “ (Gen 2,2). (2) Josef ist ein Zimmermann gewesen (Mt 13,55; Mk 6,3; Lk 4,22), . Mach über folgendes eine Bemerkung. So wie ein Zimmermann, der für sich einen Ort des Ausruhens herstellen will, sechs Tage hindurch ein Haus baut und am sechsten Tag eine Kammer vollendet, in der er am siebten Tag ausruht, so hat Gott, der Schöpfer, für seine ewige Weisheit, die auch Sohn genannt wird, ein Haus erbaut (Spr 9,1), und zwar auf dem Wege der Schöpfung durch Stufen. Und weil die vernunftbegabte Seele das für die Weisheit geeignete Haus ist, – sie ist allein aufnahmefähig für die Weisheit – konnte er, bevor er jene erschuf, kein haben, wo er ausruhen . Darum hat er unter allen vernunftbegabten , die er am sechsten Tag erschaffen hat, eine einzige Kammer für seinen Sohn geschaffen oder erbaut und diese an ebendemselben Tag vollendet. Dann hat er auch aufgehört zu bauen. Und der Sohn ist herabgestiegen und hat jene Kammer zur Wohnung genommen. (3) „Und er segnete (Gen 2,3). Und merke an, daß der Ruhetag und der Sabbat Licht ist, das Christus ; wie Christus gesagt hat, er sei der Sohn des Sabbats (Mt 12,6-8) etc. Auch das Jubiläumsjahr . Daher sind alle Geschöpfe aus dem göttlichen Lichte hervorgegangen, das die Weisheit des Vaters ist. Aber er ruht am siebten Tag etc. (4) In der gleichen Weise merke an, auf welche Weise in Adam die Natur vollendet gewesen ist; denn sie faltete Männlichkeit und Weiblichkeit zusammen, weil aus ihm Eva . Sie ist nämlich Männin (Gen 2,23), weil sie vom Manne genommen worden ist. Die Männlichkeit faltete also die Weiblichkeit ein. In Maria faltete die Weiblichkeit die Männlichkeit ein. Die Frau umgab nämlich den Mann. So wie daher aus Adam , die Mutter aller Lebenden (Gen 3,20) dem Fleische nach, so aus Maria Christus, der Vater aller Lebenden dem Geiste nach. Die Zeugung aus Eva ist eine nach Art eines Sinnenwesens aufgrund der Begierde. Die Zeugung aus Christus ist geistiger Natur aufgrund der Liebe. Die erste Zeugung wird Geburt genannt. Christus sagt : „ denkt sie nicht mehr an

Predigt C: Und Gott hat am sechsten Tag sein Werk

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die Beschwernis aus Freude darüber, daß ein Mensch geboren ist.“ (Joh 16,21) Die zweite wird Wiedergeburt genannt. Der erste Adam ist von der Erde erdhaft geboren worden, Christus, der zweite Adam, vom Himmel himmlisch. Daher ist Maria die im Übermaß gereinigte Erde, mit der sich der zweite, der himmlische Adam bekleidete. Und nach Abschluß der Reinigung am sechsten Tag ruhte Gott, weil die Erde in Maria zum höchsten Grad erhoben war. (5) Merke an: Gleichsam wollte Gott sich vervielfältigen; und weil dies nicht geschehen konnte, wollte er schließlich etwas erschaffen von einem Wert auf eine Weise, durch die es ihm gleichwertig werde; so wie wenn einen goldenen Denar von gleichem Wert . Dazu also, damit er einen solchen Denar besitze, hat er alles erschaffen, er ohne dies jenen nicht erhalten konnte, das heißt Himmel, Erde, Elemente etc. , dann Goldminen, dann die Gesetze zur Reinigung der Goldminen, und so sollte man bis zum reinsten Gold, das den Wert aller Dinge in sich enthält, gelangen. Und dieses Gold ist die Erde der Heiligen Jungfrau etc. Aus jenem Gold hat er, , einen materiellen Leib empfangen und jenen in seine Münze verwandelt. Darauf wird allein sein Name eingeprägt (Mt 2,20) gefunden, der sein, , Sohn lautet. Beachte, daß man durch sechs Reinigungen zum wahren Gold gelangt. Und in jenem ruht das Abbild des Vaters (2 Kor 4,4), so daß jene Münze einen Gott Wert hat.

Predigt CI Respice, Domine, in testamentum tuum Schau, o Herr, auf deinen Bund Zeit: Ort: Fest: Zählung Koch: Edition: Deutsch:

13. September 1451 Harlem Montag in der Oktav von Mariä Geburt 95 h XVII/6, 536-538 –

ZUSAMMENFASSUNG Das Thema setzt sich zusammen aus Teilen von zwei Psalmversen und ist aus dem Introitus der Tagesmesse genommen, wobei Nikolaus darauf hinweist, daß der gleiche Text auch im Graduale verwendet ist, aber mit einer kleinen Änderung (n.1). Das erste Wort des Themas veranlaßt Nikolaus, das Verhältnis von Erinnern und Leben zu bedenken. Weiterleben ist nur im unsterblichen Gedächtnis, das heißt in der Liebe Gottes möglich (n.2). Der Begriff des Bundes Gottes mit den Menschen wird erläutert nach der Lesung, aus dem Galaterbrief, dem Magnifikat und dem Lobgesang des Zacharias nach Lukas (n.3). Die Heilswirksamkeit des Bundes gemäß dem Evangelium erfordert den Glauben, der von der Liebe überformt worden ist (n.4). Die Offenbarung des Vaters durch den Sohn ist Bedingung für die Erfüllung des Gesetzes der Liebe (n.5).

BEMERKUNGEN Zwischen der vorherigen und der vorliegenden Predigt hat Nikolaus im Kloster Mariae Heimsuchung gepredigt. Ein schriftlicher Entwurf ist nicht erhalten. Wir wissen davon durch Frederik von Heilo. Vgl. Josef Koch, CT I/7, 102.

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Predigt CI Schau, o Herr, auf deinen Bund (1) „Schau, o Herr, auf deinen Bund“ und „verlasse nicht die Seelen der Armen für immer“ (Ps 74[73],19f.). Dies ist der Introitus der Messe vom Sonntag.1 Lenke die Aufmerksamkeit , daß man im Graduale dasselbe hat; aber besagt es, „damit du nicht auf immer vergißt“. (2) Daraus mach Bemerkung: Verlassen ist Vergessen und im Gedächtnis sein ist Leben, weil die Gerechten im ewigen Gedächtnis waren (Ps 112[111],6). Immer zu leben bedeutet: im Gedächtnis Gottes sein. Töricht , die für sich lange Erinnerungen in dieser Welt nach dem Tode suchen, damit sie, die in sich nicht zu leben vermögen, dennoch in anderen leben. Sie besitzen einen gewissen Antrieb der Natur, weil Erinnerung ein gewisses Leben bedeutet. Der Christ aber sucht im unsterblichen Gedächtnis zu leben. Und das kann nur in der absoluten Liebe sein, die Gott ist. „Gott ist“ nämlich „die Liebe“ (1 Joh 4,8). Und im Gedächtnis jener zu bleiben, bedeutet in Gott bleiben (1 Joh 4,16). Aber niemand kann in der Liebe bleiben, wenn nicht der, der liebt; wenn du geliebt werden willst, liebe ! Deswegen hat die Liebe jenes Gesetz, wie es das Evangelium des Sonntags (Lk 10,23-37) hat. Denn der Liebende lebt allein im Geliebten etc. (3) Es betet die Kirche, Gott möge auf seinen Bund schauen.2 Der Brief des Paulus an die Galater eröffnet, welcher Art jener Bund ist: „Dem Abraham sind Verheißungen gesagt worden“ (Gal 3,16) etc.3 Dadurch aber sage ich, daß der Bund gefestigt (Gal 3,15; 1 Kor 1,6) etc. Und die glorreiche Jungfrau : „Gedenke deiner Barmherzigkeit, so wie du gesprochen hast “ (Lk 1,54f.) etc. Und im ,,Benedictus“ (Lk 1,68-79), : „Gedenke deines heiligen Bundes, den Eid (Lk 1,72f.) etc. (4) Ebenso fügt das Evangelium (Lk 10,23-37) das hinzu, was zum Bund im Gesetz hinzugefügt worden ist (Lk 10,27). Denn wenn auch die Verheißung eine im Bund beschlossene sein mag, ohne die es kein Heil gibt, hält sie uns dennoch an, würdig jener Verheißung zu werden; und das, was wir tun sollen, ist, zu lieben. In der Verheißung werden wir 1 2 3

Vgl. Missale Romanum, Introitus vom dreizehnten Sonntag nach Trinitatis. Vgl. oben Anm. 1. Vgl. Missale Romanum, Lesung vom dreizehnten Sonntag nach Trinitatis, Gal 3,16-22.

Predigt CI: Schau, o Herr, auf deinen Bund

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gerechtfertigt aus dem Glauben (Röm 3,28; Gal 2,16; 3,8.24), aber „der Glaube ohne Werke ist tot“ (Jak 2,20). Damit wir leben, befiehlt daher das Gesetz, daß der Glaube durch die Liebe geformt werde. Gott als gleichsam Unbekannter könnte nicht geliebt werden, wenn nicht der Glaube vorausginge. Der durch die Vernunft Unbegreifliche wird allein durch den Glauben berührt und gemäß dem Glauben durch die Liebe umfaßt. (5) Siehe, wie man im zehnten Kapitel des Lukas, wo das Evangelium (Lk 10,23-37) eingefügt ist, in klarer Weise erhält, daß nur durch die Offenbarung des Sohnes der Vater gewußt werden kann (Lk 10,22). Von daher: Der vor den Augen aller Weisen verborgene Gott wird den Kleinen durch Christus geoffenbart, weswegen Christus sagt: „Ich preise Dich, “ (Lk 10,21) etc. Und merke, wie er „im Geist jubelt“, als er dies gesagt hat. Unmöglich ist es also, daß das Gesetz der Liebe zu Gott durch den erfüllt werden kann, der den Sohn nicht aufnimmt und dessen Offenbarung und Frohe Botschaft etc.

Predigt CII Venite, filii, audite me: Timorem Domini docebo vos Kommt, ihr Söhne, hört mich: Die Furcht des Herrn will ich euch lehren Zeit: Ort: Fest: Zählung Koch: Edition: Deutsch:

15. September 1451 Leiden Quatembermittwoch 96 h XVII/6, 539 –

ZUSAMMENFASSUNG Nach der Nennung des Themas (n.1) bezeichnet Nikolaus nur einzelne Stichpunkte für die zu haltende Predigt. Der im Thema genannte Herr ist Christus, dessen Würde als Herr zunächst aus dem Evangelium abgeleitet werden soll, dann aber auch aus anderen Begriffen aus dem Neuen Testament: Erstgeborener der Schöpfung und Lehrer (n.2). Daran sollen sich Gedanken über die Lehre Christi und über seine Autorität anschließen (n.3).

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Predigt CII Kommt, ihr Söhne, hört mich: Die Furcht des Herrn will ich euch lehren (1) „Kommt, ihr Söhne, hört mich: Die Furcht des Herrn will ich euch lehren“ (Ps 34[33],12), im Graduale der Messe,1 ursprünglich im dreiunddreißigsten Psalm. (2) Das Evangelium (Mk 9,16-28) im neunten des Markus unterrichtet uns , wer jener Herr ist, der gefürchtet werden soll. Es ist in der Tat jener, der der Erste der ganzen Schöpfung ist (Kol 1,15) und der Lehrer aller Lehrer (Joh 13,13), weil er Lehrer aufgrund des Wortes ist: „Wenn du glauben kannst, sind dem Glaubenden alle möglich“ (Mk 9,23). (3) Siehe die Lehre: Er schreibt dem Geiste vor. Siehe die Autorität etc.

1

Vgl. Missale Romanum, Quatembermittwoch 1451.

Predigt CIII Jesu praeceptor, miserere nostri Jesus, Meister, erbarme dich unser Zeit: Ort: Fest: Zählung Koch: Edition: Deutsch:

23. September 1451 Nijmegen Vierzehnter Sonntag nach Trinitatis 97 h XVII/6, 540-542 –

ZUSAMMENFASSUNG Mit der Aufstellung eines zweifachen Themas werden drei Gliederungspunkte genannt: 1. Fleisch und Geist im Streit nach der Epistel; 2. Der Friede Christi durch die Abtötung des Fleisches; 3. Die Barmherzigkeit in der Verkündigung der Verzeihung (n.1). Diese beziehen sich aber nur auf den ersten Teil des folgenden Entwurfs, nämlich die Interpretation der Lesung (n.2-4). Ein zweiter Teil ist der Interpretation des Tagesevangeliums gewidmet (n.5-9). Es gibt nach Paulus zwei Arten von Leben im Menschen, das eine gemäß seiner materiellen Natur und das andere gemäß seiner geistigen Natur (n.2). Die geistige Natur kann infolge der Abhängigkeit vom Körper in ihrem Wirken behindert werden (n.3). Die Zeichen der jeweiligen Lebensweise sind die Werke des Fleisches und die Werke des Geistes (n.4). Die menschlichen Bemühungen um den Bestand des Lebens erklärt Christus, wie es aus dem Tagesevangelium erhellt (n.5). Das Beispiel der Sorglosigkeit der Vögel im Vertrauen auf die Fürsorge des Vaters hat Vorbildcharakter für den Menschen (n.6). Den Bemühungen des Menschen ist von Gott ein Ziel in der Lebenszeit gesetzt (n.7). Das ewige Leben nährt sich nicht von Speise und Trank, wie es Ungläubige, etwa auch Mohammed, gemeint haben (n.8). Die Fürsorge des himmlischen Vaters wirkt in seinem Sohn (n.9).

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Predigt CIII Jesus, Meister, erbarme dich unser (1) „Jesus, Meister, erbarme dich unser“ (Lk 17,13), im Evangelium des Sonntags1 im siebzehnten Kapitel des Lukas, oder aus der Epistel: „Wandelt im Geiste und ihr werdet die Gelüste des Fleisches nicht vollbringen“ (Gal 5,16); in der Epistel2 und im fünften Kapitel an die Galater. Drei werden berührt: Erstens von der Lesung, wie das Fleisch und der Geist sich einander bekämpfen; zweitens wie Jesus den Frieden einsetzt, wie es am Ende der Lesung steht: „Die aber Christus eigen sind, die haben ihr Fleisch zusammen mit den Lastern und Begierden gekreuzigt“ (Gal 5,24); drittens vom Evangelium und der Barmherzigkeit, die ich predige durch die Verkündigung der Frohen Botschaft von der Vergebung. (2) Merke! Er sagt: „Wandelt im Geiste und die Gelüste des Fleisches werdet ihr nicht vollbringen. Das Fleisch begehrt gegen den Geist auf und der Geist gegen das Fleisch. Denn sie streiten wider einander, so daß ihr nicht jenes tut, was auch immer ihr wollt.“ (Gal 5,16f.) Siehe gemäß Paulus, wie der Mensch aus Geist und Fleisch besteht. Und das Fleisch begreift man für das tierische Wesen des Menschen, das heißt für das lebendige Fleisch. Das tote tierische Leben nämlich begehrt nicht . Und es gibt das eine Leben des Menschen gemäß dem Geist und ein anderes gemäß dem Fleisch. Und wer gemäß dem Geiste wandelt, jener hat das Fleisch mitsamt den Begierden gekreuzigt. Und diese sind die wahren Christen, weil Christus die Welt besiegt hat und die Laster des Fleisches zusammen mit den Begierden. Sobald also der Mensch das Leben des Geistes dem mit Begierden behafteten Leben des Fleisches vorzieht, das heißt durch Abtöten für die Wahrheit, so daß er sich lieber vom Fleische trennt als von der Wahrheit, die das Leben des Geistes ist, ist jener Nachahmer Jesu. (3) Merke, von daher kommt , daß der Mensch nicht alles zu tun vermag, was er will, und zwar aus dem Grunde, weil der Wille zum Besten hingeneigt ist und nichts Gewolltes wenn nicht unter der Rücksicht auf das Gute ausgewählt wird. Wir können aber nicht alles tun, weil das Fleisch widerstreitet, so wie ein Reiter auf einem stehenden Pferd schnell an einen Ort gelangen will, aber das Pferd weicht zurück und gehorcht nicht. (4) Merke die Zeichen, sobald einer gemäß dem Fleische wandelt, das heißt sobald er „die Werke des Fleisches“ tut, welche „offenbar sind, das 1 2

Vgl. Missale Coloniense, Evangelium vom vierzehnten Sonntag nach Trinitatis, Lk 17,11-19. Vgl. Missale Coloniense, Epistel vom vierzehnten Sonntag nach Trinitatis, Gal 5,16-24.

Predigt CIII: Jesus, Meister, erbarme dich unser

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heißt Hurerei, Unreinheit, Ausschweifung, Götzendienst“ oder „Habsucht, Giftmischereien, Feindschaften, Kämpfe, Schmeichelei“ etc., „denn diejenigen, die solcher Art Dinge betreiben, “ (Gal 5,19-21) etc. Merke, daß der Weg zum Reich Gottes nicht durch das Fleisch besteht, sondern durch den Geist. Die Zeichen aber des Geistes etc. nennt er, daß sie sind „Früchte, das heißt Liebe, Freude, Geduld, Langmut“ (Gal 5,22) etc. (5) Merke, wie Christus erklärt, es gäbe zwei Herrschaften, Gottes und des Mammons. Gott ist der Herr des Himmels, der Mammon dieser Welt. Merke, wie er den Beweis führt: „Daher sage ich “ (Mt 6,25) etc.; zwei Bemühungen zeigt er auf: Die eine ist folgerichtig zum Leben der Seele und des Körpers, die andere ist für das Leben. Und beachte, wie er sagt: „Seid nicht bemüht um euer Leben, was ihr essen“ und trinken werdet, „und nicht um euren Körper, was ihr anziehen sollt.“ (Mt 6,25) Daraus merke an, daß so wie sich das Kleidungsstück zum Körper verhält, so Speise und Trank zur Seele. Aber das Kleidungsstück ist für das Wohlsein des Körpers, daß er sich bewahrt am Ort, so Speise und Trank, damit die Seele an ihrem Ort sich bewahrt, das heißt im Körper. Von daher sind Speise und Trank nur wegen des Körpers, so wie das Kleidungsstück wegen des Ortes des Körpers. Das Leben der Seele hängt also nicht ab von dieser Speise und diesem Trank, so wie auch nicht das Leben des Körpers vom Kleidungsstück. Von daher die „Seele mehr als eine Speise“, so wie der Körper mehr als ein Kleidungsstück (Mt 6,25); sie will durch diesen, weswegen sie ein Eines und so geartetes und selbst größer , das heißt, es muß eine größere Bemühung für die Seele geben. (6) Ebenso belehrt er von den Vögeln des Himmels: So wie der Knabe, mag er sich auch nicht so bemüht haben, dennoch alles vom Vater hat, wie die Vögel, die keine Zeichen von Bemühung haben, ernährt werden durch die Fürsorge des himmlischen Vaters. Überlege genau: Wenn es für Gott eine Sorge für die Vögel gibt, mehr für den Menschen, weil wert (Mt 6,26) etc. Von daher hast du, daß die väterliche Fürsorge allen gewährt gemäß dem Bedürfnis aller. (7) Ebenso dort : „Wer aber von euch kann in seinem Sorgen zu seiner Lebenszeit auch nur eine Elle hinzufügen?>“ (Mt 6,27) etc., wie wenn er sagte: Gott der Vater setzt allen ein Ziel und ein Maß. Und es kann der Mensch nicht durch besorgtes Bemühen eine Elle zu Lebenszeit hinzufügen. Also müssen wir jenem, der alles nach Zahl, Gewicht und Maß (Weish 11,21) beschlossen hat, die Sorge überlassen, weil ihm selbst die Sorge um uns eigen ist. (8) Ebenso beachte das Bemühen um die Kleidung, wo er sagt: „ihr Kleingläubigen“ (Mt 6,28) etc.

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Es kann jener Text verstanden werden im Bezug auf jene, die nicht die Frohe Botschaft vom ewigen Reich angenommen haben, indem sie erklären: Wie kann der Mensch leben ohne Speise, Trank, Kleidung, was die Toten entbehren? Er sagt, daß jene Kleingläubige und Ungläubige sind, so wie Mohammed auch nicht geglaubt3 hat, daß es das ewige Leben ohne jene gäbe. (9) Merke dort: „Es weiß nämlich euer Vater, daß ihr all dieser bedürftig seid“ (Mt 6,32), weil das Wissen des Vaters durch die Fürsorge im Sohne wirkt.

3

Vgl. Crib. Alk. II, c.18 (h VIII n.150, 1-4).

Predigt CIV Videte, ne contemnatis unum ex hiis pusillis Seht zu, daß ihr keines dieser Kleinen verachtet Zeit: Ort: Fest: Zählung Koch: Edition: Deutsch:

29. September 1451 Maastricht Festtag des heiligen Michael 98 h XVII/6, 543-547 –

ZUSAMMENFASSUNG Nach Aufstellung des Themas folgt die Anbindung des Tagesevangeliums an den bei Matthäus vorausgehenden Text und der Beginn einer Homilie (n.1-8) mit der Frage nach der Größe im Himmelreich (Mt 18,1) (n.1). Die Unschuld der Kinder ist das Vorbild für den Eintritt in das Himmelreich (Mt 18,2) (n.2). Die Wiedergeburt geschieht durch die Demut, auf der die Größe im Himmelreich basiert (Mt 18,3f.) (n.3). Die doppelte Darstellung Jesu wird gezeigt an seiner Demut, die ihn sowohl als Herrscher, als auch als unschuldiges Opferlamm kennzeichnet (Mt 18,5) (n.4). Der Weheruf über den, der den Kleinen und Ängstlichen Ärgernis gibt (Mt 18,6f.), gilt denen, die nur in den Bedingungen dieser Welt leben und daher nicht entschuldbar sind (n.5). Es gibt für den Menschen die Möglichkeit, sich von den Ärgernissen dieser Welt freizuhalten (Mt 18,9) (n.6). Die Seele in der Hölle ist nicht gänzlich ohne Leben, aber ohne das ihr eigentümliche Leben, nämlich in der Finsternis (Mt 18,8) (n.7). Die Würde der Kleinen liegt in deren Engeln, die das Antlitz Gottes schauen (Mt 18,10). Hier endet die Homilie (n.8). Es folgt eine Betrachtung über die menschliche Erkenntniskraft und deren Möglichkeit fortschreitender Erkenntnis (n.9-12). Der göttliche Same in uns ist unsere Vernunft, die kraft ihrer eigenen Natur Gott sucht (n.9). Unsere Vernunft ist ständig auf der Suche nach Gott und schreitet in der Erkenntnis immer weiter fort ohne Grenze, obwohl sie Gott, der nicht von dieser Welt ist, nie ganz erfaßt (n.10). Christus lehrt uns, wie die Vernunft in dieser Erkenntnis Fortschritte machen kann bis zur Gottessohnschaft (n.11). Die Verwandlungsfähigkeit unseres Geistes wird erläutert an der Umwandlung von Metallen. Der Geist soll wie reine Metalle ein Spiegel werden (n.12).

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Predigt CIV Seht zu, daß ihr keines dieser Kleinen verachtet (1) „Seht zu, daß ihr keines dieser Kleinen verachtet. Ich sage euch nämlich, daß ihre Engel immer das Antlitz meines Vaters schauen, der im Himmel ist“ (Mt 18,10), im achtzehnten Kapitel des Matthäus und im Evangelium.1 Sobald Christus durch die Zahlung der Silbermünze für ihn und Petrus (Mt 17,27) gezeigt hat, daß Petrus in sich die Macht aller zusammenfaltet und deswegen der Größere , „sind in jener Stunde an Jesus herangetreten“ und haben gefragt: „Wer ist deiner Meinung nach ?“ (Mt 18,1) etc., ob dieser der Größere sei? Und dort : „größer“, ob Petrus deswegen der Größere sei als wir, weil dieser für uns Vorgesetzter ? (2) Indem Jesus die göttliche Kunst lehren will, das heißt daß das Himmelreich nicht dem Reich dieser Welt folgt, hat „Jesus ein Kind“ herbeigerufen und „in ihre Mitte gestellt und hat gesagt: Wahrlich ich sage euch, wenn ihr nicht umkehrt und werdet so wie das Kind, werdet ihr nicht eintreten in das Himmelreich“ (Mt 18,2). Die Kinder, in denen Unschuld und Einfalt sind, sind nämlich ohne jede wirkliche Sünde im Herzen, Mund und Werk. Von daher nennt Christus zwei notwendige , das heißt Umkehr und Unschuld. Die Umkehr betrifft den Glauben, die Unschuld das Handeln. (3) Und merke, da er sagt: „Ihr werdet“ (Mt 18,3). Und dies ist das Gewand Christi, das heißt in dem wir wiedergeboren werden (Joh 3,7). Und aus Erwachsenen und Sündern werden wir als Wiedergeborene wie Kinder werden, das heißt Demütige in vollkommener Demut. Von daher hat sich die Demut eines Kindes im Erwachsenen vervollkommnet. Daher fügt er an: „Wer auch immer sich demütigt so wie dieses Kind, der ist der Größere im Himmelreich.“ (Mt 18,4) Daraus haben wir die Antwort auf die Frage, daß die Größe im Reich gemessen wird an der Kleinheit in dieser Welt, nicht aufgrund der Größe; so wie Augustinus den Petrus dem Cyprian im Himmel nicht vorzieht, sondern aufgrund des Ansehens in dieser Welt.2 (4) Und weil Christus widerleuchten möchte im Kind, fügt er an: „Wer solch ein einziges Kind aufgenommen hat in meinem Namen, der hat mich aufgenommen.“ (Mt 18,5) Siehe, Christus wird in doppelter Weise dargestellt: wie ein unschuldiges Lamm (1 Petr 1,18f.) im Kinde, wie ein Herrscher, König (1 Tim 6,15; Offb 17,14; 19,16) und Hoher Priester in Petrus; wie ein Unschuldiger, der sich in der äußersten Demut „gedemütigt hat bis zum Tod am Kreuz“ (Phil 2,8), als

1 2

Vgl. Missale Romanum, Evangelium vom Fest des heiligen Michael, Mt 18,1-10. Vgl. Augustinus: De Baptismo II, c.1 §2 (CSEL 51 p.175,15- p.176,26).

Predigt CIV: Seht zu, daß ihr keines dieser Kleinen verachtet

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ein Erhöhter im Himmel und einer, der „einen Namen über allen Namen“ (Phil 2,9) erlost hat. Demut also ist das Maß der Größe. (5) „Wer aber Ärgernis gibt “ (Mt 18,6) etc. Er zeigt, wie es besser ist das Leben zu verlieren durch einen schimpflichen Tod als schwachen Gläubigen ein Ärgernis zu geben. Christus wird nämlich beleidigt in den Schwachen. „Wehe der Welt um der Ärgernisse willen.“ (Mt 18,7) Denn diese Welt nimmt Ärgernis an denen, die an Christus glauben (Mt 18,10). Von daher gewährt diese Welt viele Hindernisse und entsprechend ihrer Bedingung ist es so notwendig, aber: „Wehe dem Menschen, durch den “ (Mt 18,7) etc. Denn keiner wird entschuldigt, durch den Ärgernis kommt wegen der Bedingung der Welt; wenn diese auch gemäß der Welt notwendig erscheinen mag, dennoch nicht gemäß irgendeinem Menschen. Und so wie der Mensch in der Welt nicht entschuldigt wird, durch den ein Ärgernis kommt, so wird er auch nicht entschuldigt wegen des Ärgernisses. (6) Denn der Mensch kann sich von diesen Ärgernissen befreien. Wenn du nämlich ein Ärgernis findest in einem Werk oder deinem Beginnen oder Hand oder Fuß, du kannst dich abwenden und abschneiden; und es ist gut für dich, zum Leben einzugehen (Mt 18,9) etc., so wie du es in dieser Welt tust, um zu leben. Wenn du nämlich ein Hindernis des Lebens im Fuß spüren solltest, durch das du das Leben zu verlieren fürchten würdest, würdest du abschneiden, um zu leben. So bezüglich des ewigen Lebens, das nicht anders betreten werden kann, als daß dieses bewahrt wird. Von daher ist es gut, lahm zu sein in dieser Welt und gebrechlich dazu, daß du jetzt lahm und gebrechlich, dann in einem gesunden und vollkommenen Leben stark seiest; so für das Auge etc. (7) Und überlege, wie er über das ewige Leben spricht und dessen Gegenteil, das heißt vom ewigen Feuer (Mt 18,8), und daß jenes Feuer die Hölle ist. Daraus hast du, daß die Seele im ewigen Feuer auf ewig ist. Und sie geht so nicht zugrunde. Und dennoch ist sie ohne Leben, das heißt, daß die Seele wie ein wahres Auge in der Finsternis ist; es ist nämlich ohne das ihm eigene Leben. Es entbehrt nämlich des Lichtes, ohne das es nicht wirklich sieht; so lebt die Seele nicht, die das Licht, das den Geist erleuchtet, entbehrt, mag sie auch existieren etc. (8) Christus schließt ab: „Seht zu, daß ihr nicht einen einzigen aus diesen Kleinen mißachtet“ (Mt 18,10), weil die Kleinen nicht mißachtet werden dürfen. Denn „der himmlische Vater“ betreibt eine so große Sorge um sie, daß „deren Engel immer das Antlitz sehen “ (Mt 18,10) etc. Daraus ist zu beachten, daß die Kleinen durch Engel gelenkt werden. Denn der Engel ist die göttliche Kraft. Anderswo sagt er, daß der Geist des Vaters in den Aposteln spricht (Mt 10,20). Und Rabbi Moses sagt, „daß Gott alles in der Hand

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

eines Engels wirkt“.3 Ein Engel ist auch der Überbringer des Wortes Gottes, so wie die Stimme das Wort des Geistes einem anderen überbringt, und das bewegt den Diener zu diesem und jenem; so geschieht alles durch den Geist des Mundes Gottes „in der Hand eines Engels“. (9) Merke: Es sagt der Apostel im siebzehnten Kapitel der Apostelgeschichte, wie in uns ein gewisser göttlicher Same ist (Apg 17,28f.) etc. Dieser Same ist eine gewisse vernunfthafte Kraft, und sie ist in die Erde des sinnenhaften Lebens gesät; und in jenem Teil, in dem sie das sinnenhafte Leben anrührt, ist sie fähig, vernünftige Schlüsse zu ziehen. Denn es ist jene Kraft gesät, damit sie Fortschritte macht, nicht wie Platon sagt.4 Es ist also nötig, daß sie durch das Staunen angestachelt wird, fortzufahren und Gott zu suchen. (10) Und Gott ist nicht im Verstand oder im Sinn berührbar, weil er in seinem Reich ist, das „nicht von dieser Welt ist“ (Joh 18,36). Jene geistige Kraft untersucht die Wesenheit der Dinge; und das heißt Gott suchen, der die „Ursache Ursachen“5 ist. Und besitzt das Licht der Vernunft, in dem das Licht der ewigen Vernunft widerleuchtet; und es kann die angeregte Vernunft gleichsam wie das aus dem Feuerstein geschlagene Feuer durch das Licht, das durch sie widerstrahlt, ohne Grenze anwachsen; so wie wir sehen, daß die Vernunft immer fortschreiten und niemals gesättigt werden kann; und sie schreitet fort in der Schule Christi, weil er selbst der Lehrer ist (Mt 23,10). (11) Und es hat uns Christus gelehrt, wie sie fortschreiten kann bis zur Sohnschaft Gottes, das heißt zur Erkenntnis Gottes. Allein der Sohn nämlich erkennt den Vater (Mt 11,27); der Adoptivsohn aber aus der Offenbarung des wahren Sohnes oder aufgrund der Gnade; denn die Adoption ist Gnade. Von daher der Adoptivsohn nicht aus sich, sondern durch Jesus, so wie der Mensch über das Meer reist nicht durch sich, sondern im Schiff und durch den Hauch oder Wind etc. So wie wenn einer als Sohn erwirkt werden wollte, und weil dies außerhalb der Sohnschaft nicht sein kann, es nötig ist, jene anzuziehen. (12) So über die Kunst etc. So wie aber das lebendige Silber in sich die verwandelbare Kraft hat, so daß es durch einen Schmelzvorgang in Blei verwandelt wird, durch einen anderen in Zinn etc., so wird unser Geist verwandelt durch Schmelzvorgänge nach Ähnlichkeitsbildern vollkommener Metalle. Vollkommene Metalle sind gereinigt und Spiegel. So sind vernunftbegabte Geister, die Engel sind, indem sie in Wirklichkeit die Wahrheit begreifen und schauen etc. Unser Geist wird also emporgehoben zur Gemeinschaft mit den Engeln entsprechend dem, worin er in dieser Welt in den Schulen Fortschritte gemacht hat etc. 3

4 5

Vgl. Moses Maimonides: Dux seu director dubitantium seu perplexorum II, c.6 (Philosophische Bibliothek 184b), Hamburg 1972, 55; vgl. Predigt CLXXI, in: Predigten in deutscher Übersetzung Bd. 3, 289, Anm. 6. Vgl. De mente, c.4. Comp., c.13 (h XI/3 n.47); De ven. sap., c.39 (h XII n.120,11-12) u.ö.

Predigt CV Quaerite primum regnum Dei et iustitiam eius, et haec omnia adicientur vobis Suchet zuerst das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit, und all dieses wird euch hinzugefügt werden Zeit: Ort: Fest: Zählung Koch: Edition: Deutsch:

4. Oktober 1451 Aachen Tag des heiligen Franziskus 99 h XVII/6, 548-550 –

ZUSAMMENFASSUNG In dem Entwurf lassen sich drei Gliederungspunkte ausmachen: eine Erläuterung der Zahl Zwei, die Fähigkeit des Willens, die Liebesbemühung des Menschen. Nach Aufstellung des Themas folgt eine kurze Erläuterung über die Ausrichtung menschlichen Strebens (n.1). Die Zahl Zwei ist die Zahl der Teilung. Herrschaft kann nicht geteilt werden. Die Befehlsgewalt im Vertreter des Herrschers ist identisch mit der Befehlsgewalt des Herrschers. Das gilt auch für einen Bischof und seinen Stellvertreter (Mt 6,24). Zwei sich widerstreitenden Herrschaften kann ein einziger nicht zugleich dienen (n.2). Die Ausrichtung des Menschen auf Gott schließt eine andere Ausrichtung aus. Die Bestimmbarkeit des Willens als Möglichkeit zu allem wird erläutert am Beispiel von Lehm und Töpfer (n.3). Die Liebe ist die bestimmende Form des Willens. Ein Vergleich mit der Bestimmbarkeit der ersten Materie erläutert dies. Endziel der Materie ist die Form des Himmels, Endziel des Willens ist die Liebe zu Gott, in dem alles Liebenswerte eingefaltet ist (n.4).

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Predigt CV Suchet zuerst das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit, und all dieses wird euch hinzugefügt werden (1) „Suchet zuerst das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit, und all dieses wird euch hinzugefügt werden“ (Mt 6,33), im Evangelium des Sonntags.1 Christus lehrt uns, wie unsere Bemühung sein muß, zuerst das Reich Gottes zu suchen; und in der Folge wird uns das, ohne das wir nicht sein können, gegeben werden. (2) „Niemand kann zwei Herren dienen.“ (Mt 6,24) Merke: Er sagt ,,zwei“. Denn die Zahl Zwei ist eine, die abfällt von der Einheit; so ist sie von der Art der Teilung. Von daher sagt Salomon: „In Bezug auf zwei Seiten“ sich zu verhalten, das , daß „das eine gegen das eine ist“ (Sir 42,25). Im König und seinem Unter-Beamten sind nicht zwei Herrschaften, so wie das Konsistorium des Bischofs und seines Stellvertreters ein einziges ist; von daher sind sie nicht zwei Herren. Deshalb werde ich nicht gehalten, einem Unter-Beamten zu gehorchen wenn nicht als einem Unter-Beamten, und so nicht ihm, sondern dem Herrn. Wenn er daher etwas anderes aufträgt als es der Herr will, darf man nicht ihm, sondern dem Herrn gehorchen. Christus spricht also im Bezug auf Herren verschiedener Herrschaften. Wenn also die Vorschriften der Herren in ihren eigenen Herrschaftsbereichen sind und sich weder die Herren noch die Herrschaftsbereiche, weil sie zwei sind, gegeneinander vertragen, kann ein einziger jenen nicht dienen. (3) Merke: Christus gibt eine Lehre, wie ein einziger Mensch nur zu einem einzigen eine Liebe haben kann; und deshalb kann er nur einen anderen getrennt von dem, den er liebt, hassen; und jenen, den er liebt, erträgt er und den anderen verachtet er. Daraus merke an, daß die Fähigkeit des Willens, mag sie auch von unbegrenzter Möglichkeit sein, dennoch, sobald sie wirklich auswählt, durch die Wahl begrenzt wird; so wie im Lehm des Töpfers die Möglichkeit zu allen Vasen welcher Form auch immer liegt, die durch die Verwirklichung begrenzt wird. Daher wird aus dem Lehm ein Wasserkrug; und so lange der Lehm ein Wasserkrug ist, kann er nicht ein Schmelztiegel sein; sondern wenn er ein Schmelztiegel sein soll, ist es erforderlich, daß er in die Erste Materie zurückgeführt wird durch Wegnahme dieser Form. So bei allen etc. (4) Von der Seele wird dann gesagt, sie liebe, sobald sie auswählt; und so ist die Liebe die Form des ungeformten Willens. Und so wie die Erste Materie daher niemals zur Ruhe kommt unter einer einzigen Form, weil die einmal gegebene in der Möglichkeit zu einer anderen ist, so

1

Vgl. Missale Romanum, Evangelium vom fünfzehnten Sonntag nach Trinitatis, Mt 24-34.

Predigt CV: Suchet zuerst das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit

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kommt der Wille niemals durch die Liebe zur Ruhe, weil sie, einem gegeben, in der Möglichkeit zu einem anderen ist. Aber wenn die Erste Materie eine Form erlangen würde, die jede Möglichkeit der Materie begrenzte, dann käme sie zur Ruhe, so wie in den Himmelskörpern; so im Willen, sofern die absolute Liebe selbst, die Gott ist, . Von daher ist die Form des Himmels wie die Form der Formen dieser Welt, in welcher Welt Formen erzeugt und zerstört werden; und was die erzeugbaren Formen auch immer an Formbarkeit haben, haben sie durch Teilhabe an der Form des Himmels. Daher ruht die Materie in der Form des Himmels, so der Wille in der Liebe, die Gott ist, so wie die metallische Materie im Gold ruht, weil es die Zusammenfaltung aller Kraft der metallischen Form ist. So ist Gott die Zusammenfaltung aller Kraft der Liebe. Deshalb kommt der Wille nicht in einem anderen zur Ruhe, weil er immer mehr haben kann, als er hat, und niemals ruht er, wenn er nicht das hat, was in sich alles Liebenswerte zusammenfaltet.

Predigt CVI Deus visitavit plebem suam Gott hat sein Volk heimgesucht Zeit: Ort: Fest: Zählung Koch: Edition: Deutsch:

10. Oktober 1451 Hasselt Sechzehnter Sonntag nach Trinitatis 100 h XVII/6, 551-553 –

ZUSAMMENFASSUNG Nach Aufstellung des Themas (n.1) beginnen die Notizen zur Homilie über das Tagesevangelium mit der Deutung des ersten Verses (Lk 7,11). Es wird Jesus als der lebendige Weg gezeigt (n.2). Die Jünger und die Menge werden unterschiedlich gedeutet (Lk 7,11) (n.3). Es folgen Stichworte zur wohl allegorischen Deutung einzelner Worte aus der Evangelienperikope (Lk 7,12-15) (n.4). Die Reaktion der Leute auf das Wunder und das Verhalten Jesu soll als Schlußfolgerung der Perikope erläutert werden (Lk 7,16) (n.5). Zum Abschluß will Nikolaus die Frage nach der Totenauferweckung eines Einzelnen und der Auferstehung aller behandeln (n.6).

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Predigt CVI Gott hat sein Volk heimgesucht (1) „Gott hat sein Volk heimgesucht“ (Lk 7,16), im siebten Kapitel des Lukas und im Tagesevangelium.1 (2) „Es ging Jesus.“ (Lk 7,11) Dort überlege, daß der „König der Könige“ (1 Tim 6,15; Offb 19,16) von einer Stadt „zu einer Stadt ging“ auf der Suche nach den Schafen, die verlorengegangen waren (Lk 15,6; 19,19), so wie ein Arzt zu einem Kranken. Merke an, wie jener, der der „Weg“ ist (Joh 14,6), „ging“. So ist Jesus der lebendige Weg, weil der hinübergehende Weg ; und der hinübergehende Weg kann nicht wenn nicht durch den Weg hinübergehen, so durch sich selbst. Wenn er also immer in sich selbst ist, wie Jesus hinübergeht, ist er also der lebendige Weg, der in sich selbst bleibt, dessen Gehen Lebendigmachen ist. (3) Merke: „Und die Jünger gingen mit ihm und eine zahlreiche Menge.“ (Lk 7,11) Wer die Jünger Christi und wer die Menge, die mit Christus geht. Die Jünger sind die, die vollkommen sind; diejenigen, die nichts haben, die Menge, die Christus hinterherfolgt. (4) Alle Worte des Evangeliums müssen erwogen werden, voll von Geheimnissen ; zum Beispiel was „Naim“,2 was Stadt, was Stadttor, wie wird der Tote, als Jesus sich nähert, zum Tor hinausgetragen, was Witwe, die einen einzigen Sohn hat, der gestorben ist, was Toter und was Tod, wie zusammen mit der Witwe eine Menge aus der Stadt gewesen ist (Lk 7,12), wie Jesus, als er sieht, von der Barmherzigkeit bewegt wird (Lk 7,13), – alles sieht Jesus. Er ist immer barmherzig, immer voll Mitleid, – wie er deshalb am Kreuz am meisten leidet, indem er mit allen, die seinetwegen leiden, mitleidet, wie er diese am Weinen gehindert hat (Lk 7,13), wie er „herangetreten ist“, wie er „berührt hat“, und er die „Bahre“ berührt (Lk 7,14), und wie aufgrund der Berührung der Bahre der Tote lebendig wird (Lk 7,15). Der „Jüngling“ war gestorben. Leichter werden Jünglinge wieder auferweckt als Greise. Merke an, wie er sagt: „Ich sage dir, steh auf“ (Lk 7,14), weil er der Gebieter . Sobald er „sich aufgesetzt hat“, „hat er zu sprechen begonnen“, und dann hat er „der Mutter gegeben“ (Lk 7,15). (5) Die Schlußfolgerung: „Alle hat Furcht ergriffen und sie haben Gott gepriesen.“ (Lk 7,16) Siehe das Ziel, dessentwegen alles so geordnet gewesen war, daß er sich so zeigen sollte und man als einen großen Propheten begreifen sollte. 1 2

Vgl. Missale Romanum, Evangelium vom sechzehnten Sonntag nach Trinitatis, Lk 6,11-16. Vgl. Hieronymus: Liber interpretationum Hebraicorum nominum (CCSL 72, p.141; Lag. 65,16).

Predigt CVI: Gott hat sein Volk heimgesucht

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Und achte darauf im Einzelnen, daß „er ihn seiner Mutter gegeben hat“ (Lk 7,15). Christus hat gegeben; er ist also sein gewesen; gegeben hat er seiner Mutter; er ist also der Mutter gewesen; so ist er Christus und der Mutter gewesen. Das Leben also ist aus Christus (Kol 3,3) gewesen, der sagt: „Ich bin das Leben“ (Joh 11,25), das Fleisch aus der Mutter ; aber die Mutter hat den verstorbenen Sohn, den sie hat begraben wollen, für verloren gehalten. Nichts also hatte die Mutter am Sohn, sobald sie ihn aufgegeben hat. So hat Christus nicht wiederhergestellt, sondern hat gegeben, wo es sagt: „seiner Mutter“ (Lk 7,15). (6) Achte darauf, daß es derselbe war, der der Sohn seiner Mutter war, der nur auferweckt wird. Er hatte also ebendieselbe Seele und nicht eine andere, so daß er derselbe ist. Sobald er also eine Seele aufgenommen hat, nicht in der Unterwelt und auch nicht im Himmel? Merke an! Ich frage: Weshalb könnten nicht alle auferweckt werden? Weil die Seele, die im Himmel ist, nur in einem verherrlichten Körper ist, wie eine einbare Seele. Und dies ist ein himmlischer Körper. Die Seele in der Unterwelt nur einem mit Finsternis behafteten und der Unterwelt zugehörigen Körper einbar wie in der Auferstehung; aber unserem in der Mitte stehenden Körper wird eine Seele geeint, weder in der Verdammung noch in der ewigen Glückseligkeit .

Predigt CVII Estote parati: qua hora non putatis, filius hominis veniet Seid bereit! Ihr wißt nicht, zu welcher Stunde der Menschensohn kommen wird Zeit: Ort: Fest: Zählung Koch: Edition: Deutsch:

13. Oktober 1451 Tongeren Fest des heiligen Lambertus 101 h XVII/6, 554-556 –

ZUSAMMENFASSUNG Nach Aufstellung des Themas (n.1) folgen Notizen für eine Homilie über das Tagesevangelium, allerdings nur zu den ersten drei Versen und einem Vers davor (n.2-5). Das Umgürten der Lenden bedeutet die Bereitschaft zur Nachfolge Christi. Die Bedingung zum Aufstieg in das Himmelreich ist das Aufgeben allen Besitzes, was zugleich Entlastung bedeutet (Lk 12,35) (n.2). Das Himmelreich ist ein unvergänglicher Schatz im Vergleich zu irdischem Besitz. Dieser unvergängliche Schatz sichert das ewige Leben (Lk 12,34) (n.3). Für weitere allegorische Deutungen einzelner Begriffe aus Lk 12,35 will sich Nikolaus auf Gregor den Großen stützen und zusätzlich auf den Evangelisten Johannes und den Psalmisten (n.4). Das Bereitsein bei der Rückkunft des Herrn ist das Zeichen des guten Knechtes (Lk 12,36). Das Bedientwerden vom Herrn bei seiner Rückkunft ist sein Lohn (Lk 12,37). Diese Art des Bedienens im Vorübergehen wird verglichen mit der Sonne, die auch durch Vorübergehen dem Leben dient (n.5).

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Predigt CVII Seid bereit! Ihr wißt nicht, zu welcher Stunde der Menschensohn kommen wird (1) „Seid bereit! Ihr wißt nicht, zu welcher Stunde der Menschensohn kommen wird“ (Lk 12,40), im zwölften Kapitel des Lukas und im Evangelium der Messe.1 (2) „Eure Lenden sollen umgürtet sein.“ (Lk 12,35) Durch das Umgürten der Lenden die Bereitschaft zum Folgen und Wandeln, durch „die brennenden Lampen in den Händen“ in ähnlicher Weise dasselbe. Gute Pilger nämlich, die auch in der Nacht umherwandeln, haben brennende Lampen. Christus hat uns gelehrt, daß die kleine Schar zum Reich aufsteigen kann (Lk 12,32). Und in ähnlicher Weise hat er gelehrt, daß dies freilich dadurch geschieht, nichts zu behalten, indem man alles verkauft und es den Armen gibt (Mt 19,21; Mk 10,21; Lk 18,22). Merke die Erleichterung an infolge der Entlastung und , was notwendig ist zum Wandeln im Geiste etc. (3) „Wo der Schatz ist, dort das Herz.“ (Lk 12,34) Eine wunderbare Lehre: Wenn das Himmelreich ein Schatz ist, dann ist jener Schatz Überfluß. Wenn es dem Vater gefallen hat, einen Schatz zu geben, der unvergleichlich ist, dann ist es gewiß, daß man jenem nicht verweigern kann, der alles gibt, daß er erlangt. So bedeutet, alles Gott zu geben oder den Armen, einen Schatz zu kaufen. Von daher ist so das Geben ein in eine unvergängliche Börse Legen. Und all das, was in jene Börse gelegt wird, wird hundertfach vermehrt (Mt 19,29; Mk 10,30; Lk 8,8) und wird ein Schatz für das Leben. (4) Was sollen „die Lenden“ bedeuten und was die Umgürtung der Lenden und was die „brennenden Lampen“? Gregor setzt es auseinander.2 So auch: was die Hände und was das Tragen? Er sagt nicht halten, sondern tragen. Jene tragen, die einherwandeln. Johannes sagt, die Lampe die Menschheit (Joh 5,35; Offb 21,23) und das Licht das Wort (Joh 1,1-5). Das Licht ist die Vernunft. Es sagt der Psalmist: „Leuchte für meine Füße ist dein Wort.“ (Ps 119[118],105) (5) Mach eine Bemerkung über die Bemühung derer, die gute Knechte sind, die nicht schlafen, sondern auf ihren Herrn Wartende , sobald er von der Hochzeit zurückkehrt (Lk 12,36). Siehe das Gleichnis: Er bezeichnet sich als Bräutigam (Mt 9,15; Mk 2,19f.; Lk 5,34f.; Joh 3,29); und wie er zu uns zurückkehrt von der Hochzeit der Verherrli1 2

Vgl. Missale Leodinense, (Paris 1499, Copinger 4149), Fest des heiligen Lambertus, Evangelium Lk 12,35-40. Vgl. Gregorius Magnus: Homiliarum XL in evangelia I homilia 13, c.1 (PL 76, 1123C-1124B); vgl. dazu auch die 7.-9. Lesung der Nokturn im Brevier zum Festtag.

Predigt CVII: Seid bereit!

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chung. Sobald er uns ruft, und sobald er anklopft, müssen wir eilends öffnen (Lk 12,36). Und wenn wir öffnen, dann läßt er uns liegen; und wie er dann im Vorübergehen bedient; das freilich , daß er vorübergehend dient (Lk 12,37), so wie die Sonne vorübergehend den Augen dienend das Licht bringt. Anders gäbe es nicht die Helligkeit, die den Sehsinn in die Wirklichkeit setzt, aber in überragender Weise wegen der Unverhältnismäßigkeit des Unendlichen zum Endlichen. Wenn die Sonne feststünde, könnte sie in Nichts ihre Kraft zubringen. Sie ist immer vorübergehend, so daß sie das sinnenhafte Leben beeinflußt und bedient.

Predigt CVIII Confide, fili, remittuntur tibi peccata tua Habe Vertrauen, mein Sohn, es werden dir deine Sünden vergeben Zeit: Ort: Fest: Zählung Koch: Edition: Deutsch:

31. Oktober 1451 Trier Neunzehnter Sonntag nach Trinitatis, Vorfest von Allerheiligen 102 h XVII/6, 557-560 in: Der Prediger auf der Porta. Die Trierer Predigten des Nikolaus von Kues. Eingeleitet von Harald Schwaetzer. Übersetzt von Franz-Bernhard Stammkötter. Mit einem Vorwort von Klaus Reinhardt, Münster 2005, 69-73.

ZUSAMMENFASSUNG Nach Aufstellung des Themas (n.1) folgen in einem ersten Teil Notizen zu einer Homilie über das Tagesevangelium (n.2-4). In einem zweiten Teil erörtert Nikolaus im Anschluß an die Homilie Fragen zur menschlichen Natur und ihren Möglichkeiten (n.5-10). Ziel der Evangelienperikope ist es, Christus als Mensch und Gott zu zeigen, indem er einerseits den Gelähmten heilt und zugleich für sich die Macht der Sündenvergebung beansprucht. Dabei wird auch die Frage der Blasphemie angesprochen (Mt 9,1-3) (n.2). Die Kraft zur Heilung bestätigt die Macht zur Sündenvergebung (Mt 9,4-7) (n.3). Die Reaktion der Menge auf das Wunder zeigt die Vereinigung von menschlicher Natur und Gottheit in Christus (Mt 9,8) (n.4). Die Charakteristika der menschlichen Natur gemäß Adam sind vor allem Tod und Krankheit (n.5). Der Mensch nach Adam ist in Unwissenheit über seine Mängel (n.6). Der Unterschied der Natur gemäß Adam und gemäß Christus wird gezeigt am Bild der brennenden Kerze (n.7). Die Möglichkeit der menschlichen Vernunft vor Christus war beschränkt. Durch Christus wird ihre Fähigkeit vermehrt (n.8). Durch Jesus, den Sohn Gottes, wird es der menschlichen Natur ermöglicht, daß auch alle Menschen Söhne Gottes werden können (n.9). Die Aussicht auf ein Leben im Licht verschafft Freude (n.10).

LITERATUR Hermann Schnarr: Nikolaus von Kues als Prediger in Trier, in: Zugänge zu Nikolaus von Kues. FS zum 25-jährigen Bestehen der Cusanus-Gesellschaft, hg. von Helmut Gestrich, Bernkastel-Kues 1986, 123-125 und 127f.

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Predigt CVIII Habe Vertrauen, mein Sohn, es werden dir deine Sünden vergeben (1) „Habe Vertrauen, mein Sohn, es werden dir deine Sünden vergeben“ (Mt 9,2), Matthäus im 9. Kapitel und im Tagesevangelium.1 (2) Alles, was Christus vollbrachte, vollbrachte er zu dem Zweck, wie Hilarius2 sagt, daß er sich als Gott und Mensch zeigte. Und deutlich werden wir in diesem Evangelium belehrt, daß hier Christus den Gelähmten zu jenem Zweck geheilt hat, daß er sich als Gott zeige. Und wende die Aufmerksamkeit auf die Worte und Zeichen als Geheimnisse. Denn die Schriftgelehrten sagten, Christus habe Gott gelästert, weil er gesagt hat: „Deine Sünden sind dir vergeben.“ (Mt 9,2.5) Und daher hat Christus das Vorgehen so angeordnet, damit die Völker daraus erkennten, daß jener, der sich die Vergebung der Sünden zuschriebe und nicht Gott wäre, eine Gotteslästerung begehe; denn anderswo sagt der Text: Weil Christus gesagt hat, er sei der „Sohn Gottes“ (Mt 26,63), haben die Juden gesagt: „Er hat Gott gelästert“ (Mt 26,65). Denn Gotteslästerung bedeutet nämlich, Gott etwas zuteilen, was ihm nicht zukommt. Dem Schöpfer kommt es nicht zu, daß er Geschöpf ist. Sie sahen ein Geschöpf und wußten, daß jenes , was sie mit ihren Augen sahen, nicht Gott sein könne. Daß dem unsichtbaren Gott etwas zugeschrieben wird, was sichtbar ist, ist daher Gotteslästerung. (3) Darauf sagt Jesus: „Was ist leichter zu sagen: “ (Mt 9,5) etc. Siehe da! Er hat den Schluß gezogen, daß jener, der kraft seiner Macht der Krankheit gebieten kann, daß sie verschwindet, auch Sünden zu vergeben vermag. Er hat also gesagt: „Damit ihr wißt“ (Mt 9,6) etc. Siehe, man muß auf das Gesagte achten, weil irgendeiner nur geheilt worden ist, damit wir wissen, „daß der Menschensohn hat, “ (Mt 9,6) etc. Also befahl er dem Lahmen: „Steh auf!“ (Mt 9,6) etc. Und merke an, wie er durch den Befehl Christi nicht nur geheilt worden ist, sondern aufgrund des Befehls auch stark geworden ist: Der auf dem Bett getragen zu werden pflegte, hat sein Bett getragen (Mt 9,7) etc. (4) „Als die Menge aber das sah, fürchteten sie sich und rühmten Gott, der Menschen eine solche Macht gegeben hat.“ (Mt 9,8) Merke: Zu diesem Zweck ist der Lahme geheilt worden, damit geschehe, daß das Volk zur Furcht Gottes komme und aus der Furcht zur Verherrlichung, weil „er solche Macht den Menschen gegeben hat.“ (Mt 9,8) 1 2

Vgl. Missale Romanum, Evangelium vom einundzwanzigsten Sonntag nach Trinitatis, Mt 9,1-8. Vgl. Hilarius von Poitiers: De Trinitate IX, c.5 (CCSL 62A p.375,5-7).

Predigt CVIII: Habe Vertrauen, mein Sohn

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Er sagt „Menschen“. Und merke dort an: Das war nur Christus, und sie sagen: „Menschen“! Und das deswegen, damit wir wissen, daß die menschliche Natur der göttlichen Macht geeint werden kann. Es ist nämlich die menschliche Natur in Christus der Gottheit geeint. Die Natur ist die Menschheit, die alle Menschen umfaßt; sobald sie also einmal der Natur gegeben hat, hat sie allen Menschen gegeben. (5) Daher merke, daß „so, wie in Adam alle sterben, so werden in Christus alle lebendig werden“ (1 Kor 15,22). Unsere Natur, wie sie aus Adam ist, ist dann nicht der Gottheit einbar, so wie die Finsternis nicht dem Licht einbar . Sie können sich gegenseitig nicht dulden. Gemäß Adam hatte die Natur, wie es beschrieben wird (Gen 2,7), ihren Anfang aus Erde; diese ist dunkel und voller Finsternis; gemäß Christus vom lichthaften Himmel. Gemäß Adam ist die Natur Same des Todes und der Krankheit; und wie sie so nicht dem Leben einbar ist, weil sie als Asche zur Asche zurückkehrt (Gen 3,19; 18,27). (6) Aber die Natur ist gemäß ihrer selbst nicht siech, weil sie sich nicht siech fühlt. Nicht ist einer krank, der sich nicht krank fühlt gemäß seinem eigenen Urteil, so wie der lahm oder blind Geborene nicht das Wissen um seine Krankheit hat. Niemand kann wissen, was Blindheit , wenn er nicht wüßte, was Sehen . Daher ist die Natur gemäß Adam wie eine Blindheit, in der wir geboren werden, aus der Gefahren folgen können, die dem Blinden zustoßen können, zum Beispiel der Fall in eine Grube (Mt 15,14; Lk 6,39) etc. Gemäß Christus die Möglichkeit des Sehens. (7) Und merke an: Die menschliche Natur, wie sie gleichsam Vernunftbegabtheit in einer tierischen Natur ist, ist so wie ein Licht in einer Leuchte, so daß die Vernunftbegabtheit durch die tierische Natur wirkt, so wie eine brennende und strahlende Kerze durch eine Leuchte hindurch. Und da die Vernunft der tierischen Natur folgt, ist sie so, als ob sie ein Leuchter ist aus durchscheinendem, dennoch gefärbtem Glas; und das Licht der Kerze strahlt so zurück. So ist sie aus Adam. Aber wie die tierische Natur in der Vernunftbegabtheit wie ein Docht in einer brennenden Kerze ist, so ist sie aus Christus. Denn Christus ist nicht wenn nicht Wort oder Vernunft oder „Licht, welches erleuchtet“ (Joh 1,9) etc. Der Mensch gemäß Adam gebraucht die Vernunft so, wie er eine Kerze in einem Leuchter gebraucht, und er sucht, ihm angemessen, durch diskursives gemäß seiner tierischen Natur. Der Mensch gemäß Christus gebraucht die tierische Natur, um Vernunftschlüsse zu ziehen, so wie die Flamme der Kerze den Docht gebraucht, um zu brennen und zu strahlen.

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

(8) Merke, daß in der Vernunft eine Kraft der Einsicht ist; jene Kraft ist es, aufgrund deren der Mensch die Künste versteht, die mechanischen und die freien. Jene Kraft ist immer in der Seele gewesen; dennoch kannte die Seele ihre eigene Kraft nicht, daß sie freilich die Kunst des Aussäens hätte haben können. Es kam einer, der diese Kunst zuerst aus sich heraus hatte und sie anderen übergeben hat. Und es sagte das Volk: Gepriesen sei Gott, der diese Macht Menschen gegeben hat! (Mt 9,8) So betreffs der Kunst des Heilens, der Kunst des Schreibens etc. (9) So kam Jesus, der aus sich heraus alle Wissenschaft und die Kunst aller wißbaren hatte, unter welchen Künsten die Kunst des Lebendigmachens ist. Denn alle anderen Künste, die mechanischen und die freien, sind auf das Leben hin geordnet. Die Kunst des Lebendigmachens schließt also alle ein. Und diese Kunst des Heilens und Lebendigmachens und des sich anderen Mitteilens hatte Christus aus sich heraus. Und alle, die „ihn aufgenommen haben“ in seiner Lehre, sind, wie er selbst „Sohn Gottes“ war, auch sogar selbst „Söhne Gottes“ geworden. „Wie viele ihn nämlich aufnahmen“ etc. (Joh1,12) Und diese Kunst ist der Glaube, so daß du wieviel du glauben kannst so viel erreichst. Der rechte Glaube ist eine ganze beständige Vollkommenheit in dieser Welt. (10) Ebenso merke an: So wie der Blinde, während er das Haupt an einer Mauer stößt, eine Traurigkeit empfindet , daß ihm das aufgrund der Blindheit zugestoßen ist, so fühlt er Freude aus der Möglichkeit des Lebendigwerdens, sobald er einmal nicht nur einer Gefahr entkommt, sondern das allen ergötzliche Licht sieht (Sir 11,7). Daher ist die menschliche Natur von sich aus wie ein Auge, das gemäß Adam wie das Auge des Maulwurfs , gemäß Christus wie das Auge des Adlers.

Predigt CIX Ite ad exitus viarum, et quoscumque inveneritis, vocate ad nuptias Geht zu den Straßenecken hinaus, und, wen auch immer ihr findet, ruft zum Hochzeitsmahle Zeit: Ort: Fest: Zählung Koch: Edition: Deutsch:

7. November 1451 Trier Zwanzigster Sonntag nach Trinitatis, Sonntag nach Allerheiligen 103 h XVII/6, 561-564 in: Der Prediger auf der Porta. Die Trierer Predigten des Nikolaus von Kues. Eingeleitet von Harald Schwaetzer. Übersetzt von Franz-Bernhard Stammkötter. Mit einem Vorwort von Klaus Reinhardt, Münster 2005, 75-79.

ZUSAMMENFASSUNG Nach Nennung des Themas (n.1) folgen Notizen und Stichpunkte zu einer Homilie über das Tagesevangelium (n.2-12). Jesus spricht in Gleichnissen und Bildern aus der irdischen Welt und überträgt sie auf das Himmelreich. Das führt hier zu einem Vergleich zwischen dem Königreich dieser Welt und dem Königreich des Himmels (Mt 22,2) (n.2). Der Vergleich wird spezialisiert zu einem Vergleich zwischen einem Hochzeitsmahl dieser Welt und einem des Himmels. Besonders hervorgehoben ist die Betonung der Freude über ein solches Hochzeitsmahl (Mt 22,2) (n.3). Die zunächst geladenen Gäste und ihre Weigerung, der Einladung Folge zu leisten, lassen sich verschieden erklären: einerseits aus menschlicher Schwäche, aus Nichtwollen, Nachlässigkeit, Trägheit, Zerstreutheit und Zerrissenheit oder aus offener Gegnerschaft gegen das Gesetz Christi, andererseits aber auch aus verschiedenen Formen des Unglaubens (Mt 22,3-6) (n.4). Die Bosheit der zuerst Geladenen führt zur Bestrafung der Sünde der Gerufenen (Mt 22,7) (n.5). Die Frage der Würdigkeit oder Unwürdigkeit der Gerufenen eröffnet den zweiten Teil der Homilie (n.6-12). Berufung bedeutet noch nicht Würdigkeit (Mt 22,8). Würdig wird der Berufene durch Glaube und Liebe (n.6). Die Berufung ergeht an alle Menschen (Mt 22,9f.) (n.7). Das Fehlen des rechten Gewandes bedeutet den Mangel an Würdigkeit. Das Gewand der Würdigkeit ist die Gnade (Mt 22,11) (n.8). Das Gebundensein und Hinauswerfen in die Finsternis bedeutet ein Leben ohne Hoffnung (Mt 22,13) (n.9). Die Hölle ist der Verlust des ewigen Lebens und des Lichtes der Vernunft (n.10). Zugleich ist sie Stätte von Traurigkeit und Schmerz (Mt 22,13) (n.11).

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Den Abschluß bildet die Unterscheidung zwischen Berufung und Auserwählung (Mt 22,14) (n.12).

LITERATUR Hermann Schnarr: Nikolaus von Kues als Prediger in Trier, in: Zugänge zu Nikolaus von Kues. FS zum 25-jährigen Bestehen der Cusanus-Gesellschaft, hg. von Helmut Gestrich, Bernkastel-Kues 1986, 128f.

Predigt CIX: Geht zu den Straßenecken hinaus

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Predigt CIX Geht zu den Straßenecken hinaus, und, wen auch immer ihr findet, ruft zum Hochzeitsmahle (1) „Geht zu den Straßenecken hinaus, und, wen auch immer ihr findet, ruft zum Hochzeitsmahle!“ (Mt 22,9) im Tagesevangelium.1 (2) In diesem Evangelium muß man zuerst darauf achten, wie Jesus „in Gleichnissen“ (Mt 22,1) spricht vom Königreich dieser Welt in Bezug auf das Königreich des Himmels (Mt 22,2), und so wie ein Königreich der Welt im König besteht, weil es der König ist, in welchem die Zusammenfaltung aller königlichen Kraft ist, wird auch König vom Lenken2 benannt. Ein Königreich ist eine Einung mehrerer in einem König. Das Königreich der Himmel ist eine Einigung mehrerer Himmelsbewohner in einem einzigen König der Himmel. Denn die Himmel sind benannt vom Ausschmücken in erhabener Arbeit,3 und die Himmlischen sind verborgene und lichthafte vernunftbegabte Geister etc. Wer hat die Himmel erschaffen in der Vernunft? (Ps 136[135],5) (3) Und merke an: Der König des Himmels „richtet eine Hochzeit aus für seinen Sohn“ (Mt 22,2); auch so wie irgendein König der Welt für seinen Sohn eine Hochzeit ausrichtet und in diesem die größte Freude ist; und zu jener Freude ruft er die Geladenen (Mt 22,3), deren Freude in der Freude des Bräutigams besteht; so bezüglich des himmlischen Vaters; er hat seinem Sohn eine Hochzeit ausgerichtet und hat gerufen etc. Und bemerke, wie Johannes der Täufer uns jene Freude erklärt im dritten Kapitel des Johannesevangeliums: „Der Freund aber des Bräutigams steht “ (Joh 3,29) etc. (4) Und merke an: Irgendwelche werden eingeladen und wollen nicht kommen; und wiederum werden sie mit größerer Sorgfalt und größerem Zureden gerufen; und entweder vernachlässigen sie es zu kommen oder gehen weg auf das Landgut oder zu einem Geschäft oder halten die Diener fest und töten sie (Mt 22,3-6). Ebenso stelle eine Überlegung an: Es gibt welche, die nicht wollen, die vernachlässigen, die weggehen und die mit Gewalt kämpfen. Jene Eingeladenen, die nicht kommen wollten, sind die Ungläubigen; die Nachlässigen sind gläubig, aber träge; diejenigen, die weggehen, sind gläubig und zerstreut; diejenigen, die mit Gewalt kämpfen, sind besorgt in ihrem eigenen Gesetz und Verfolger des Gesetzes Christi.

1 2 3

Vgl. Missale Romanum, Evangelium zum zwanzigsten Sonntag nach Trinitatis, Mt 22,1-14. Vgl. die lateinischen Begriffe „rex“ und „regere“. Vgl. die lateinischen Begriffe „caelum“ und „caelare“.

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Oder anders : Alle jene sind Ungläubige, die ersten, die nicht wollen, sind ungläubig, weil sie nicht einsehen wollen, daß sie gut handeln sollen; und diese verachten es, zuzuhören. Andere verachten es nicht, auf die Wahrheit zu hören, aber sie verachten es, sie zu ergreifen und vernachlässigen sie. Andere sind nicht nachlässig, aber bekümmert um anderes; sie entfernen sich vom Glauben, der gehört worden ist, und wenden sich zu ihren eigenen Dingen, das heißt zu ihrem Landgut und ihrem Geschäft. Andere noch Schlechtere, die Widerstand leisten durch Bosheit, damit der Glaube nicht verbreitet wird, und jene sündigen gegen die erkannte Wahrheit. Deswegen sind sie Söhne des Todes, weil der König diese vernichtet hat (Mt 22,7) etc. (5) Ebenso merke an, wie die Sünde der Gerufenen und der Verfolger der Rufenden bestraft wird. Erstens: Weil sie selbst Böses im Schilde führten gegen das Leben, daher verlieren sie das Leben, weil das Leben diese verläßt und deren Wohnstätte vom Feuer verbrannt wird. So sind die Verdammten zu Grunde gegangen, und einen Ort der Bleibe im Feuer, das Gott bereitet hat, damit es brenne, wie er anderswo sagt: Jenes Feuer ist von Anfang an dazu bereitet (Mt 25, 41). (6) Ebenso merke an, wie danach gesagt wird, daß die Eingeladenen nicht würdig waren (Mt 22,8). Deshalb sind sie nicht gekommen. Daraus hast du: Mag der himmlische Vater auch viele rufen, dennoch kommen die Unwürdigen nicht. Würdig sein muß jener, der kommen soll; aber die Berufung macht nicht würdig, sonst wären alle gekommen. Es ist also nötig, daß jeder sich würdig macht. Niemand kann also kommen, ausgenommen, er ist gerufen; aber niemand kommt, ausgenommen, er ist würdig. Würdig aber ist, wer der Berufung gehorcht und glaubt, so sei es, das heißt, daß das Hochzeitsmahl bereitet worden sei. Es gibt also eine doppelte Würdigkeit: die eine ist die, durch die einer eintritt, und das ist der Glaube; und die andere ist die, durch die er würdig ist zu bleiben; und das ist die Liebe. (7) Merke an, wie eine andere Berufung „bis zu den Kreuzungen der Wege“ (Mt 22,9) führt, daß Hochzeitsmahl angefüllt werden (Mt 22,10). Und es ist eine Berufung aller. „Auf die ganze Erde hin ging deren Ruf aus“ (Ps 19[18],5; Röm 11,18), nicht wie einst „bekannt in Judaea“ (Ps 76[75],2) allein etc. Ebenso : Die Kirche ist eine Versammlung, die aus Guten und Bösen besteht, und aus jenen wird das Hochzeitsmahl angefüllt (Mt 22,10). Allein also von der Kirche her treten sie ein, und diese sind die Gläubigen. Ebenso merke an: Man gelangt dann zum Mahl des Lammes und des Bräutigams (Offb 19,7.9), sobald einmal das Hochzeitsmahl der zu Tische Liegenden angefüllt wird (Mt 22,10); dann ist das Ende der Welt, sobald einmal das Hochzeitsmahl angefüllt ist; und dies ist das ewige Leben, einen Platz

Predigt CIX: Geht zu den Straßenecken hinaus

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beim Hochzeitsmahl des Lebens zu haben, wo im Vorübergehen bedient (Lk 12,37). (8) Merke an, wie der eintretende König alles sieht; und unter allen sieht er einen, der sich unter so vielen nicht hat verbergen können, weil jener kein hochzeitliches Kleid hatte (Mt 22,11). Beachte die Frage: „Freund, wie bist du hier eingetreten“ (Mt 22,12) etc. Daraus zieh . Wenn wir in dieser Welt, zu einem Hochzeitsmahl gerufen, in strahlenden und reinen hochzeitlichen Gewändern erscheinen, – und anders werden wir als unwürdig erachtet, dem königlichen Hochzeitsmahl beizuwohnen, wenn wir nicht mit einem königlichen Gewande bekleidet wären, – wie ist es dann nötig, daß wir mit einem himmlischen Gewande bekleidet werden, wenn wir zu dem himmlischen Hochzeitsmahl hingehen wollen? Wir wollen also alles Himmlische betrachten, was von Gott strahlend weiß, von Gott lichthaft leuchtend und unbeschmutzt ist etc. Ebenso , wie wenn der König sagte: Der Pförtner dürfte dich nicht eingelassen haben, da du nicht geziemend gekleidet warst. Wie also bist du eingetreten? Das Gewand also ist es, welches bewirkt, daß die Tore aufgehen. Das Gewand ist ein Schmuck, der zur Natur hinzukommt; und er ist die Gnade und die Herrlichkeit etc. Merke an: „Jener verstummte“ (Mt 22,12). Daraus hast du, daß jeder Sünder beim Urteilsspruch nichts antworten kann, weil die Wahrheit urteilt. (9) Merke dort an: „Da hat der König den Dienern gesagt“ (Mt 22,13). Du hast Sklaven, die hinausgehen und rufen, und du hast Diener, die auf Befehl des Königs hinauswerfen. Ebenso merke dort an: „Bindet an Händen und Füßen“ (Mt 22,13) etc., weil jener, der hinausgeworfen wird in die Verdammnis, lebendig ist aufgrund des Lebens Natur, weil er nicht sterblich ist gemäß Natur, sondern Kraft beraubt wird gleichsam wie ein Gelähmter und mit dem Tode Kämpfender. Und er wird in die Finsternis geworfen etc. Denn gemäß der körperlichen Natur ist er gebunden und gemäß der geistigen in der äußersten Finsternis (Mt 22,13); so wie das Auge: Es bleibt, obwohl der Körper gefesselt ist, nicht gefesselt, wenn es nicht in die Finsternis geschickt wird; durch die Finsternis wird es dann der Kraft beraubt, weil es allein im Lichte die Kraft des Sehens hat. (10) Merke an: Was der in der Hölle in Bezug auf die Gläubigen etc. Denn der Glaube ist es, durch den der Mensch bis zur Hoffnung des Begreifens geführt worden ist; wegen der Sünden wird er hinausgeworfen weg von der Hoffnung; und das bedeutet es, in der Finsternis zu sein: die Köstlichkeit des süßesten Lebens nicht zu verkosten. O wie süß ist jenes Leben in sich, das in allen Lebenden im Letzten erstrebt wird. Also den Frieden des Lebens, sowohl des vernünftigen Lebens als auch dessen Nahrung, das heißt die Weisheit, zu verlieren, das heißt: Sein in der äußersten Finsternis, nämlich in der Entbehrung des Lichtes der ewigen Vernunft.

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

(11) Merke an, wo er sagt: „Dort wird sein Heulen und Zähneknirschen“ (Mt 22,13). Merke an: Heulen und Zähneknirschen sind Zeichen der Traurigkeit und des Schmerzes. Es wird also in der Finsternis Traurigkeit sein, weil die Hoffnung verloren ist etc. Und in der Traurigkeit der größte Schmerz, durch den die Natur beunruhigt wird. (12) Merke an: „Viele sind berufen, wenige auserwählt“ (Mt 22,14). Berufung also wählt nicht aus; zwischen Berufung und Erwählung liegt ein Zeitabschnitt dazwischen; Gott, der alles zugleich sieht, wählt aus aufgrund der Werke, die dazwischen liegen etc.

Predigt CX Iam, patres et fratres, praelocutio sufficiet Nun, Väter und Brüder, ein kurzer Vorspruch wird genügen Zeit: Ort: Fest: Zählung Koch: Edition: Deutsch:

17. November 1451 Mainz Mittwoch nach dem Fest des heiligen Martin 104 h XVII/6, 565-567 –

ZUSAMMENFASSUNG Nach einem Begrüßungswort an die zur Provinzialsynode versammelten Geistlichen und einem Dankeswort an den Erzbischof folgt eine kurze Einführung in die Auslegung der Epistel des Sonntags. Hauptaufgabe des Christen ist die Suche nach Gott (n.1). Der Weg zu Gott führt nur über Jesus, den Sohn Gottes, der zugleich Weg und Wahrheit ist. Die Wahrheit ist auch die Nahrung der menschlichen Vernunft. Daher ist in der menschlichen Vernunft ein Weg zu Gott angelegt (n.2). Unsere Schwachheit im Kampf mit den Mächten der Finsternis, die die Welt beherrschen, wird durch Christus, der das Licht ist, gestärkt (n.3). Die Belehrung über die Kämpfe in dieser Welt zeigt zwei Arten, eine gewöhnliche und eine intensivere. Letztere betrifft die von Gott erwählten Geistlichen (n.4). Die Wahl eines Führers ist nötig, um den Kampf gegen die Lüge zu bestehen (n.5). Zu diesem Kampf ist eine Rüstung notwendig (n.6). Die Art des zu bestehenden Kampfes erfordert außerordentliche Waffen (n.7). Den vollausgerüsteten Soldaten Gottes zeigt ein längeres Zitat aus der Lesung (Eph 6,14-18) (n.8).

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Predigt CX Nun, Väter und Brüder, ein kurzer Vorspruch wird genügen (1) Väter und Brüder, schon ein kurzer Vorspruch wird genügen nach so vielen, so gelehrt wie so klug vorgetragenen Reden von dem, der uns mit ausgeschmückter und angemessener Beredsamkeit angefeuert hat, das zu verhandeln, wozu wir zusammengekommen sind; damit dennoch nicht irgendetwas von der Verpflichtung des Vorsitzes vernachlässigt erscheinen möge, mag es genügen, die apostolische Lesung aufmerksam zu beachten. Denn da unser ganzes Bemühen nur darauf gerichtet ist, daß wir Gott suchen und ihn, sobald er gefunden ist, nicht verlieren, unterrichtet uns unser Lehrer Paulus durch die Epheser, aufgrund welcher Regeln dies geschehen könnte. (2) Nicht anders nämlich gelangt man zu Gott dem Vater wenn nicht durch den Sohn (Joh 14,6). Denn allein der Sohn kennt den Vater, und niemand anderer, wenn nicht der Sohn es ihm geoffenbart haben wird (Mt 11,27), der „der Weg, die Wahrheit und das Leben“ (Joh 14,6) ist. Er ist nämlich der Weg, durch den, wenn einer betritt, er die Nahrung finden wird. Was aber ist , was uns nährt, wenn nicht Gott? Es steht fest, daß die Wahrheit das Objekt der Vernunft ist, in der sie sich nährt. Die Wahrheit also ist das Leben des vernunftbegabten Geistes. Von daher: Da das Wort Fleisch geworden ist und in uns wohnt (Joh 1,14), steht fest, daß wir in unserer menschlichen Natur den Weg zur Wahrheit haben, die unser unsterbliches Leben ist. Es ist also nötig, daß wir durch Christus Gott den Vater suchen und festhalten. (3) Und weil unsere geringe und schwache Kraft den Weg nur durch den Sieg über den Feind Christi festhalten kann, daher unterrichtet uns Paulus, wie unsere Schwachheit in Christus Jesus den Fürsten der Finsternis besiegt. Christus ist nämlich das Licht (Joh 1,9; 8,12; 9,5) der Vernunft. Das Licht besiegt die Finsternis. Der „Fürst der Finsternis“, den der Apostel Lenker dieser Welt nennt, ist ein Lügner „von Anfang an“ (Joh 8,44) und führt nicht zur Wahrheit. Von daher haben wir dazu, daß wir unser Bekenntnis festzuhalten vermögen, die größte und wachsamste und siegreichste Sorgfalt nötig. Wir sind aber in dieser Welt, wo der Fürst herrscht, der sich unserer Erlösung widersetzt. Jenen aber zu bekriegen, wer sähe nicht, daß das Schwierigste ? (4) Es hat der Apostel von irgendwelchen, die durch Christus Gott gefunden haben, gelehrt, daß es einen Kampf gegen das Fleisch und das Blut (Eph 6,12) und diese weltlichen Begierden gäbe, aber von anderen , denen diese Welt mit ihren Verlockungen nichts mehr bedeutet, ein schärferer Krieg bestehe gegen die „Nachstellungen des Teufels“ (Eph 6,11), des Fürsten dieser Welt. Und diese sind im Vergleich zu den ersten, die sich wie ein Körper verhalten, wie die vernunftbegabte Seele. Und deswegen werden sie Geistige genannt und von Gott Erwählte (Mt 24,22; Mk 13,22; Röm 8,33; 2 Tim 2,10) und zu seinem Geschick Hinübergeführte.

Predigt CX: Nun, Väter und Brüder, ein kurzer Vorspruch wird genügen

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Diese sind solche, denen Paulus in diesem Brief schreibt: „Seid stark im Herrn und in der Macht seiner Kraft.“ (Eph 6,10) Wir vermögen nämlich aus uns heraus nichts gegen so viele Nachstellungen, die uns vom Wege absondern, sondern nur in jenem, der sagt: Vertraut, weil ich gesiegt habe. (Joh 16,33) An ihm nämlich „hat der Fürst dieser Welt nichts“ (Joh 14,30) . (5) Es lehrt uns der Apostel der Reihe nach, wie die Geistlichen sich verhalten sollen, um den „Nachstellungen des Teufels“ (Eph 6,12) zu entgehen. Jeder Soldat wählt sich als erstes einen Führer und vertraut , unter diesem siegreich kämpfen zu können; ohne dieses Vertauen träte er in keiner Weise in einen Krieg ein. Aber gegen die Lüge gibt es keine Macht wenn nicht die jenes, der die Wahrheit ist (Joh 14,6); und dieser ist der „Herr der Herrscher“ (Dtn 10,17; 1 Tim 6,15; Offb 19,16). Voll Vertrauen auf dessen Kraft soll man also in diesen Krieg eintreten. (6) Dann lehrt er uns, daß man nicht ohne „Waffenrüstung“ (Eph 6,13) auch unter dem mächtigsten Anführer kämpfen darf. Von daher lehrt er, daß eine Rüstung angelegt werden muß; und er sagt, daß jene angezogen werden muß und, daß es nur eine einzige Waffenrüstung gibt, das heißt die Gottes, die von so großer Wirksamkeit ist, daß die Nachstellungen des Teufels gegen sie nichts vermögen (Eph 6,11.13). Und er wird nicht fallen oder unterliegen, sondern er wird, so bewaffnet, Stand halten. (7) Als Grund, warum dies notwendig ist, fügt er hinzu, weil für euch kein Kampf gegen Fleisch und Blut ist. In jenem Kampf nämlich ist die Waffenrüstung zum Schutz von Fleisch und Blut. Und weil dieser „Kampf“ gegen die „Fürsten und Mächte“ und „gegen die Herrscher der Welt dieser Finsternis“ und „gegen die geistigen Kräfte der Nichtsnutzigkeit in den Himmeln“ (Eph 6,12) , deswegen müssen wir himmlische Waffen annehmen gegen die himmlischen Nichtsnutzigkeiten, damit wir an dem schlimmen Tag als vollkommene Soldaten bestehen können (Eph 6,13). (8) Dann lehrt er, welches jene Waffen sind, indem er sagt: „Steht also da, eure Lenden umgürtet in der Wahrheit und bekleidet mit dem Panzer der Gerechtigkeit und die Füße besohlt in der Vorbereitung der Frohen Botschaft des Friedens, indem ihr in allem den Schild des Glaubens aufnehmt, damit ihr alle feurigen Geschosse des Nichtsnutzigen auslöschen könnt; den Helm des Heiles und das Schwert des Geistes, welches das Wort Gottes ist, indem ihr bei allem Gebet und Flehen die ganze Zeit über betet im Geiste und in ihm selbst wach bleibt“ (Eph 6,14-18) etc.

Predigt CXI Vigilate, quia nescitis diem neque horam Wachet, denn ihr wißt nicht den Tag noch die Stunde Zeit: Ort: Fest: Zählung Koch: Edition: Deutsch:

25. November 1451 Mainz Fest der heiligen Katharina 105 h XVII/6, 568-570 –

ZUSAMMENFASSUNG Im Anschluß an das Thema (n.1) wird die Notwendigkeit der Wachsamkeit und des reinen Herzens für die Schau Gottes, die das Himmelreich bedeutet, hervorgehoben (n.2). Neben der Notwendigkeit der Wachsamkeit in diesem Leben ist der Glaube eine Bedingung für den Eintritt in das Himmelreich (n.3). Nur die Gleichnisrede dient zur Verdeutlichung des Himmelreiches; hier ist es die allen bekannte Freude eines Hochzeitsmahles (n.4). Die im Gleichnis genannte Zahl der Jungfrauen benutzt Nikolaus zu einer Deutung der Zahl zehn, die Symbol für ein Ganzes ist (n.5). Die Jungfrauen sind ein Bild für die vernunftbegabten Seelen und deren Möglichkeit zur Fruchtbarkeit (n.6). Den Abschluß bilden weitere Stichworte zur symbolischen Deutung einzelner Begriffe und Zusammenhänge aus dem Gleichnis von den zehn Jungfrauen, die die Gesamtheit aller Gläubigen bezeichnen. Die Gefäße bedeuten Glaube, Hoffnung und Liebe; am umfangreichsten wird das Bild von Braut und Bräutigam erläutert als Verhältnis von Christus und Seele sowie Christus und Kirche (n.7).

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Predigt CXI Wachet, denn ihr wißt nicht den Tag noch die Stunde (1) „Wachet; denn ihr wißt nicht den Tag noch die Stunde“ (Mt 25,13), im fünfundzwanzigsten Kapitel des Matthäusevangeliums und im Evangelium .1 (2) Der Herr führt viele Beispiele an, damit wir wissen, daß allein Wachende das Reich erlangen. Denn „das Himmelreich leidet Gewalt, und Gewalttätige reißen es an sich“ (Mt 11,13). Das Himmelreich besteht nämlich in einer Schau. „Selig, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen.“ (Mt 5,8) Dies ist das ewige Leben, Dich, Gott, zu schauen (Joh 17,3). Zur Schau wird das Wachen verlangt, weil Schlafende, wenn sie sähen, nicht mit dem Auge sehen, mit dem sie schlafen. Daher : „Ich schlafe, und mein Herz wacht“ (Hld 5,2); so sieht man dann mit dem Herzen; aber das Herz sieht nicht, wenn es nicht wacht und rein ist, so wie auch nicht das Auge. Deshalb : „Selig, die reinen Herzens sind, .“ (Mt 5,8) (3) Er belehrt also, daß man immer mit reinem Herzen wachen muß wegen der Ungewißheit bezüglich der Ankunft des Bräutigams (Mt 25,13); denn wenn einer nicht eintritt, bevor die Tür geschlossen ist (Mt 25,10), wird er nachher nicht erkannt. Die Tür dieses Lebens wird geschlossen, so sagt man, sobald der Tod des Fleisches überraschend kommt. Es ist also nötig, in diesem Leben die Tür des Hochzeitsgemaches zu betreten, andernfalls wird man nicht hineingelassen. Die Pforte ist aber der geformte Glaube etc. (4) Dort mach eine Bemerkung Gleichnis, , wie ein Ähnlichkeitsbild des reiches allein in Gleichnissen ausgedrückt werden kann. Eine Gleichnisrede ist gemäß einem Gedankeninhalt. Von hier aus merke an: Weil die ewige Freude nicht angemessener ausgedrückt werden kann als durch die ehrenhafteste und allen gemeinsame und von allen gekannte und gelobte Freude, deshalb überträgt Rede auf eine Hochzeit. (5) Merke dort: „Ähnlich ist das Reich der Himmel“ (Mt 25,1). Warum Reich? Anderswo sagt er: „Ähnlich etc. einem königlichen Menschen, “ (Mt 22,2) etc. Ebenso hier: „zehn Jungfrauen“ (Mt 25,1). Warum zehn? Weil im Zehner alle Zahlen ausgefaltet werden; was folgt, ist Wiederholung. 1

Vgl. Missale Romanum, Evangelium zum Fest der heiligen Katharina von Alexandrien, Mt 25,1-13.

Predigt CXI: Wachet, denn ihr wißt nicht den Tag noch die Stunde

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(6) Ebenso sind die Jungfrauen taugliche Seelen zur Hochzeit mit dem Wort; so sind vernunftbegabte Seelen. Jungfräulichkeit ist der Möglichkeit nach Fruchtbarkeit, der Wirklichkeit nach unfruchtbar. So ist die vernunftbegabte Seele der Möglichkeit nach fruchtbar, der Wirklichkeit nach bis dahin nicht fruchtbar, sondern sie wird durch die Empfängnis des Wortes befruchtet; so wie die Seele, während sie noch der Fruchtbarkeit der Kunst entbehrt, nach der Empfängnis fruchtbar wird, so daß sie der Wirklichkeit nach die fruchtbare Kunst besitzt etc. So merke an, wie die Kunst eine gewisse Fruchtbarkeit der Vernunft ist, die aus sich heraus durch die Empfängnis des Wortes diese entwickelt. Und die Kunst ist eine gewisse Fruchtbarkeit, die die wirklichen sinnlich wahrnehmbaren Formen entwickelt. So ist Gott der Vater die Vernunft, der Sohn seine Kunst, und die Einung oder die Liebe von Vernunft und Kunst ist der Geist. (7) Ebenso : Zehn Jungfrauen; sie bezeichnen an dieser Stelle die Gesamtheit der gläubigen Seelen; alle haben brennende Lampen etc. Die Lampen sind Gefäße, Öl und Flamme, das heißt Glaube, Hoffnung und Liebe. Mit ihnen gehen sie hinaus dem „Bräutigam“ und der Braut „entgegen“ (Mt 25,6). Beachte! Es wird gesagt: dem Bräutigam und der Braut und nachher wird vom Bräutigam allein gesprochen; denn so wie der Körper und die Seele als ein einziger Mensch bezeichnet wird und dennoch eher gemäß der Seele als dem Körper nach, so wird Christus Bräutigam der Seele genannt, dennoch auch eher gemäß dem Worte etc. Wenn wir aber Christus und seinen mystischen Leib betrachten, dann sehen wir in ihm den Bräutigam und die Braut etc.

Predigt CXII Lux in tenebris lucet, et tenebrae eam non comprehenderunt Das Licht leuchtet in der Finsternis, und die Finsternis hat es nicht erfaßt Zeit: Ort: Fest: Zählung Koch: Edition: Deutsch:

28. Dezember 1451 Köln Fest der unschuldigen Kinder 106 h XVII/6, 571-575 –

ZUSAMMENFASSUNG Nach Aufstellung des Themas wird der Gesichtspunkt genannt, der für den folgenden Entwurf maßgebend sein soll: Über Licht und Finsternis (n.1). Die Identifizierung von Wort, Licht und Leben führt zur Unterscheidung von geschaffenem und ungeschaffenem Licht (n.2). Das Licht der Vernunft ist einerseits unbegreiflich, andererseits erleuchtet es aber die Finsternis. Wer es begreift, wie es in sich ist, wird selbst Licht der Vernunft, was Gottessohnschaft bedeutet (n.3). Nach Johannes und Paulus ist das Endziel der Schöpfung die Fleischwerdung des göttlichen Wortes, das heißt Sichtbarwerden Gottes (n.4). Die Aufnahmefähigkeit der vernunftbegabten Seele für das geistige Licht kann man vergleichen mit dem Sehsinn und dessen Aktivierung im Sehen durch das sinnlich wahrnehmbare Licht. Zugleich aber wird die Überlegenheit der Vernunft gegenüber der sinnlichen Wahrnehmung sichtbar (n.5). Jedes Licht stammt vom absoluten Licht. Die Finsternis kann nur im Licht begriffen werden (n.6). Es folgen weitere Stichpunkte zum Licht: Licht ist Ursprung, Unterscheidung, Erleuchtung, lebenspendend, Gesetz, es unterscheidet die Werke des Schöpfers in Tage, von denen der letzte Tag, der Tag der Ruhe, mit Jesus identifiziert wird (n.7). Obwohl das Licht immer leuchtet, wird es nicht begriffen; erst die Menschwerdung Christi ermöglicht ein Begreifen. Dazu werden drei Gliederungspunkte genannt: das Licht in sich, sein Widerschein in einem anderen, seine Unbegreiflichkeit (n.8). Johannes ist Zeugnis für das Licht (n.9). Die menschliche Natur, in die das Licht gekommen ist, ist das Eigentum. Mit dem Hinweis auf diejenigen, die das Licht aufnehmen, sollte die Homilie enden (n.10).

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Predigt CXII Das Licht leuchtet in der Finsternis, und die Finsternis hat es nicht erfaßt (1) „Das Licht leuchtet in der Finsternis, und die Finsternis hat es nicht erfaßt“ (Joh 1,5), im ersten Kapitel des Johannes. Über das Licht und die Finsternis. (2) Beachte, wie der Evangelist sagt, das Licht sei jenes, das er Wort nennt (Joh 1,1-6). Wie der Sehsinn ohne Licht eines jeden ergötzlichen Lebens beraubt wird, so auch der Sehsinn der Seele ohne das Licht des Wortes. Das Wort also nährt den vernunftbegabten Geist: „Nicht allein vom Brot lebt der Mensch, sondern von jedem Wort, .“ (Mt 4,4) etc. Ebenso : Diese Nahrung ist Leben, wie es das Evangelium sagt, so das Wort, das Licht, das Leben dasselbe. Merke an bezüglich der Finsternis, daß über die geschaffene Finsternis spricht, die zum Licht in der Möglichkeit ist, aber diese Möglichkeit wird nur in eine Wirklichkeit geführt durch das Licht, in Wirklichkeit . So wie man es über die Finsternis in der Genesis liest, wie das Licht aus sich selbst geformt worden ist: „Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht.“ (Gen 1,3) Gott also hat das Licht gesehen, bevor es erschaffen war; und jenes Licht, bevor es als sinnlich wahrnehmbares erschaffen war, ist vom göttlichen Auge geschaut worden. Dieses ist das absolute Licht, das in sich alles Ausfaltbare zusammenfaltet so wie die Einheit jede Zahl. (3) Das Licht der Wissenschaft leuchtet in die Unwissenheit, aber die Unwissenheit hat es nicht begriffen (Joh 1,5) etc. Merke an, wie das Licht in jeder Finsternis leuchtet, aber nicht begriffen wird; so leuchtet in jedem Geschöpf das Licht des Wortes, aber das Licht wird nicht begriffen; , wie es leuchtet in den Metallen, in den Pflanzen, in den Bäumen, in den Lebewesen, aber nicht begriffen wird; und er ändert auch nicht um, wie die Vernunft in allen Menschen leuchtet, aber nicht begriffen wird. Wenn sie nämlich begriffen würde, ginge die Seele in sie selbst hinüber; und jene ist Gottessohnschaft, weil die Vernunft des Vaters das Wort ist und das Licht und der Sohn. So wie die römische Sprache von deutschen Knaben gehört wird und so bei den Deutschen leuchtet, wie sie ist, aber nicht begriffen wird. Nachdem sie aber erfaßt und begriffen wird, wird aus dem deutschen Knaben ein römischer im Sprechen und er verliert seine eigene etc. (4) Merke, wie der Apostel Johannes beginnt, das Endziel des Werkes der Schöpfung zu eröffnen (Joh 1,6-10) so wie Paulus im siebzehnten Kapitel der Apostelgeschichte (Apg 17,22-31), weil sie die Finsternis der Meinungen nicht

Predigt CXII: Das Licht leuchtet in der Finsternis

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zerstörten, sondern erleuchteten; die Platoniker behaupteten solches bezüglich des Wortes. Johannes hat gesagt: Dieses „Wort ist Fleisch geworden“ (Joh 1,14). Paulus: Hier ist der Gott, dem ihr Altäre weiht, der unerkannt sich der Welt gezeigt hat (Apg 17,23) etc. (5) Ebenso , wie unsere Finsternis aufnahmefähig ist für das lebendige Licht, so daß sie erkennt, daß sie lebendig ist und jenes ihr so angenehme Licht verkostet. Das Auge ersehnt das körperliche Licht, ohne das es gleichsam nicht sehen und sehenderweise leben kann. Aber es besitzt nicht das, was begreifen könnte, was dies sei, was es so anzieht. Und deshalb verkostet es nicht die Süße seines eigenen Lebens. Die Seele aber ist fähig für das Verkosten etc. Ebenso merke an, wie unsere Seele gleichsam Luft ist voll von Finsternis, passend ausgerüstet zur Erleuchtung so, daß die Ausrichtung zum Licht hin in die Wirklichkeit bewegt werden könnte durch das anstachelnde Licht. Alle aber sind sinnlich wahrnehmbar, die den Wahrnehmungssinn bewegen, in denen das Licht leuchtet; und die gleichsam schlafende Seele wird aufgeweckt, daß sie sich in die Verwunderung versetzt und durch jene in die Untersuchung des Lichtes, damit sie begreife etc. (6) Merke Text an, wo er sagt: „Er war das wahre Licht.“ (Joh 1,9) Denn das absolute Licht ist das wahre, weil „Gott Licht ist, in welchem es keine Finsternis gibt“ (1 Joh 1,5), sagt derselbe Johannes. Das Licht ohne jede Beimischung von Finsternis ist das wahre Licht, so wie das Gold ohne jede Mischung das wahre Gold ist. Von daher kann nichts irgendetwas vom Licht haben, wenn es nicht vom wahren Licht hätte, so wie nichts irgendetwas vom Gold haben kann wenn nicht vom wahren Gold. Unsere Finsternis begreift also nicht das wahre Licht, das nicht in einem anderen begreifbar ist, wie es ist; sondern durch Begreifen wird es begriffen; so wie das Eisen im Feuer nicht in sich das Feuer begreift, wie es ist, weil es im Eisen nicht begreifbar ist, sondern durch Begreifen wird es begriffen. Das Feuer ist nämlich nicht von der Art des Eisens, sondern das Eisen wird feurig. So geht die Finsternis über in Licht und es wird so die Finsternis Licht, so daß in ihr nur Licht erscheint, mag es auch als unbegreiflich zurückbleiben. (7) Merke also, wie das, was im Ursprung war, das Wort ist, Gott, Licht, Leben, Wahrheit. Merke: Die Unterscheidung wird Licht genannt, weil wir durch die Unterscheidung unterscheiden; so wie die Erleuchtung durch das Licht geschieht, so die Vernunft Licht. Merke: Das Licht ist lebendig, weil es der vernunftbegabten Seele Leben gewährt, und es ist vernunfthaftes Licht, weil der Verstand durch die Vernunft lebt. Wenn die Vernunft nicht anwesend wäre, weiß der Verstand nicht, wodurch er denkt; er weiß nicht, ob er einen Beweis richtig schlußfolgert etc. Merke, wie das Gesetz Licht ist und Leuchte für die Füße (Ps 119[118],105); und wer gegen das Gewissen handelt, der sündigt gegen das ewige Gesetz, das leuchtet etc.

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Ebenso , wie die Werke Gottes unterschieden werden durch Tage und Lichter. Und es gibt einen einzigen Tag der Ruhe Gottes und das ist jener, an dem alles ruht und wo die göttliche Allmacht es nicht hat, sich darüber hinaus zu mühen, und ist Jesus. (8) Merke an: Er sagt: „Das Licht leuchtet in der Finsternis, und die Finsternis hat es nicht begriffen“ (Joh 1,5). Immer also leuchtet das Licht in der Finsternis, aber niemals begriffen sein, wenn nicht , sobald „das Wort Fleisch geworden ist“ (Joh 1,14). So spricht Paulus im siebzehnten Kapitel der Apostelgeschichte , wie Christus gekommen ist zur Vertreibung der Unwissenheit (Apg 17,30) etc. Zuerst über das Licht in sich an der Stelle: „Licht“; zweitens über seinen Widerschein in einem anderen an der Stelle: „und das Licht leuchtet in der Finsternis“; drittens über seine Unbegreifbarkeit an der Stelle: „und die Finsternis hat es nicht begriffen“ (Joh 1,5) etc. (9) Merke an, wie das Licht des Lichtes in sich ein Zeugnis des absoluten Lichtes hat, wie Johannes, der nicht das Licht, sondern Zeugnis des Lichtes (Joh 1,6-8). Und weil es nur ein einziges Licht gibt, „das jeden Menschen erleuchtet“ (Joh 1,9), sowohl den Johannes, als auch wen auch immer, der in diese Welt kommt, so wie eine einzige Sonne etc. Wiederum : „Er war in der Welt, und die Welt ist durch ihn geschaffen worden, und die Welt hat ihn nicht erkannt“ (Joh 1,10) etc. Merke das gut an! (10) „Er kam in sein Eigentum“ (Joh 1,11), das heißt er kam in seine Stadt und sein Eigentum, das heißt die menschliche Natur. Und dort ist er auch nicht von den Seinen aufgenommen und auch nicht erkannt worden, sondern „jenen, die ihn aber aufgenommen haben, “ etc.

Predigt CXIII Intrantes Sie traten ein Zeit: Ort: Fest: Zählung Koch: Edition: Deutsch:

10. Januar 1452 Aachen Montag nach Epiphanie 107 h XVII/6, 576 –

ZUSAMMENFASSUNG Nach der Nennung des Themas (n.1) folgt in dem nur in diesen kurzen Stichworten vorliegenden Entwurf der Hinweis auf ein göttliches Zeichen, dem man folgen muß, das die Bedingung für das Auffinden des Kindes ist (n.2). In einem zweiten Teil sollte wohl das Finden als die Bedingung für das Verehren und Anbeten, durch das man das Geschenk der Gnade erwirbt, erläutert werden (n.3).

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Predigt CXIII Sie traten ein (1) „Sie traten ein“ (Mt 2,11) etc. (2) Wenn einer nicht vom Osten Richtung Westen fortschreitet, indem er einem göttlichen und himmlischen Licht folgt, und nach Bethlehem, das bedeutet Haus des Brotes,1 gelangt, wird er nicht „das Kind mit Maria, seiner Mutter“ (Mt 2,11) finden. (3) Und wenn er nicht finden sollte, wird er nicht anbeten und auch nicht durch ein Geschenk die Gnade erwerben etc.

1

Vgl. Hieronymus: Epistulae, Epistula 108 §10 (CSEL 55, p.316, lin.20).

Predigt CXIV Procidentes adoraverunt Sie fielen nieder und beteten an Zeit: Ort: Fest: Zählung Koch: Edition: Deutsch:

12. Januar 1452 Maastricht Oktav von Epiphanie 108 h XVII/6, 577 –

ZUSAMMENFASSUNG Nach Nennung des Themas (n.1) kann man aufgrund der kurzen Notizen doch vermuten, daß eine Zweiteilung für die Predigt vorgesehen war. Der erste Teil soll die Arten der Offenbarung Jesu behandeln (n.2). Im zweiten Teil soll gezeigt werden, wie Jesus vom Gläubigen gefunden und erkannt werden kann (n.3).

BEMERKUNGEN Zwischen dieser Predigt, CXIV, und der folgenden, CXV, ist eine weitere Predigt bezeugt, von der aber kein Entwurf vorliegt. Vgl. Koch CT I/7, 110, Predigt 108a.

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Predigt CXIV Sie fielen nieder und beteten an (1) „Sie fielen nieder und beteten an.“ (Mt 2,11) (2) Wie Paulus den Galatern sagt: „Meine Kinder! Von neuem leide ich Geburtsschmerzen um euch, solange bis Christus in euch “ (Gal 4,19) etc. Wer zusammen mit den Weisen (Mt 2,2-12) und mit dem taufenden Johannes (Joh 1,19-34) und in Kana in Galiläa (Joh 2,1-11) gefunden wird, der sieht, wie Christus sich offenbart (Joh 1,31). (3) Ebenso , wie diejenigen, die mit den Weisen zur Krippe gekommen sind, Christus gefunden haben (Mt 2,11). Und wenn sie durch das Hinweisen des Johannes in rechter Weise gefunden haben, haben sie die Taube über ihm gesehen (Joh 1,32) etc.

Predigt CXV Anulo fidei suae subarravit me Dominus Mit dem Ring seines Glaubens hat der Herr mich verlobt Zeit: Ort: Fest: Zählung Koch: Edition: Deutsch:

21. Januar 1452 Löwen Fest der heiligen Agnes 109 h XVII/6, 577 in Auszügen in: Des Cardinals und Bischofs Nicolaus von Cusa wichtigste Schriften in deutscher Übersetzung von Franz Anton Scharpff, Freiburg i. Br. 1862, 492.

ZUSAMMENFASSUNG Nach Nennung des Themas (n.1) widmet sich Nikolaus in einem ersten Teil der Interpretation des Festevangeliums, dem Gleichnis von den zehn Jungfrauen (n.2-8). Im zweiten Teil greift er auf das zu Anfang genannte Thema aus der Lebensgeschichte der heiligen Agnes zurück und deutet es in drei Punkten (n.8-13). In einem dritten Teil wendet er sich wiederum dem Tagesevangelium zu und deutet einige Begriffe daraus in allegorischer Weise (n.14-15). Das Gleichnis von den zehn Jungfrauen und der Hochzeit ist aus der Welt genommen. Die Hochzeit ist auch etwas Heiliges in dieser Welt. Das Bild der Hochzeit dient dem Erfassen der Weisheit durch die Seele (n.2). Selbst das nichteheliche Zusammenleben von Mann und Frau hat Ähnlichkeit mit einer Hochzeit, ist aber, weil Unzucht, das Werk des Fürsten der Finsternis (n.3). Gott ist der Stifter der Ehe zwischen Adam und Eva im Paradies. Die Kirche nimmt bei der Eheschließung diese Tradition auf (n.4). Die Begierde des Fleisches dient dem Fortbestand der Menschheit. Darauf beruht auch das Sakrament der Ehe. Die Zeugung zeigt ein Verlangen nach Unsterblichkeit (n.5). Es gibt zwei Arten von Ehe, die leibliche und die geistige Ehe. Die geistige Ehe garantiert besser das ewige Leben (n.6). Zur Bekräftigung dieser These führt Nikolaus Stellen aus den Briefen des heiligen Paulus an (n.7). Diese geistige Ehe kann nur durch Jesus geschehen, durch den allein der Mensch zu Gott gelangen kann (n.8). Es folgt ein erneuter Rückgriff auf das Thema mit einer Gliederung in drei Punkten (n.9). Der erste Punkt behandelt Agnes als Braut Christi (n.10). Der zweite Punkt ist dem Verlobungsring als Symbol gewidmet; zuerst wird seine Kreisform und der Edelstein betrachtet (n.11); dann folgt der Glaube als der Verlobungsring (n.12). Der dritte Punkt beschäftigt sich mit der wechselseitigen Treue der Verlobten (n.13). Mit der

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Deutung der zehn Jungfrauen als menschliche Seelen kehrt Nikolaus zum Tagesevangelium zurück. Die klugen besitzen das Öl des Glaubens als Verstärkung des natürlichen Lichtes der Vernunft (n.14). Nur mit Jesus ist der Eintritt ins Himmelreich möglich, weshalb Wachsein erforderlich ist (n.15).

Predigt CXV: Mit dem Ring seines Glaubens hat der Herr mich verlobt

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Predigt CXV Mit dem Ring seines Glaubens hat der Herr mich verlobt (1) „Mit dem Ring seines Glaubens hat der Herr mich verlobt“,1 da wir nicht arbeiten; wir werden dann auch gedungen, damit wir aufgrund jener Fähigkeit vernünftige Arbeiten entfalten. Und es kann jener Zeitpunkt genannt werden, sobald die Unterscheidungsgabe zu erscheinen beginnt. Und dann beginnen wir, gleichsam wie die Knaben, die zur Schule geschickt werden, fortzuschreiten in der Grammatik. Und es beginnt in uns die Verstandeskraft zu erscheinen; und die sechste Stunde zu den höheren Fähigkeiten, wie etwa der Logik, die neunte Stunde zur Philosophie, die elfte Stunde zur Theologie. (10) Ebenso : Das „zuerst am Morgen“ auf die ersten Zeiten nach Adam bis zur Sintflut; die dritte bis zu Abraham; die sechste und neunte von Moses durch Propheten bis zu Christus, „am Abend“ von Christus bis zur seiner zweiten Ankunft. Und merke an, daß das ,,zuerst am Morgen“ genannt werden kann die sinnliche Wahrnehmungskraft, die dritte die Einbildungskraft, die sechste die verstandesmäßige , die neunte die vernunfthafte , „am Abend“ die einsichtige und gottähnliche . Ebenso kann die erste die der Schöpfung genannt werden, die dritte die der Neuschöpfung in Christus, die sechste und neunte und am Abend das Fortschreiten des zusätzlichen Übermaßes. Zuerst bist du Mensch; an zweiter Stelle Christ; dann berufen zu diesem oder jenem, etwa bist du Bauer oder Winzer oder einer, der etwas anderes betreiben muß, damit du nicht müßig bist, oder daß du ein Ordensmann bist. (11) Und es kann gesagt werden, daß du zuerst Gold bist, dann ein gemünztes dann mit einer Aufschrift. Denn der Denar ist gut und wahr, wenn er alles jenes hat, das heißt die Wahrheit des Goldes, die Wahrheit des Bildes und die Wahrheit der Aufschrift. Und Gott ist die Wahrheit des Denars. Der Denar, der wahrer Denar ist gemäß der Natur des unvergänglichen Goldes, ist von der Wahrheit, die der Vater ist; gemäß dem Bild vom Sohn, der alles formt; gemäß der Rundheit vom Heiligen Geist, der alles in seiner Ewigkeit zusammenhält; denn der Geist ist das, was alles zusammenhält (Weish 1,7). (12) Überlege, wie Gott gleichsam als der Wert von allem, was etwas wert ist, betrachtet werden kann; auf diese Weise ist er der Lohn, und er ist wie der

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Wert des Geldes. Darauf gibt Gott seinen Knechten den täglichen Denar, den anderen, weil er es will (Mt 20,15) etc. Und es hat in seinem Königreich nur jene Münze Geltung. Ein jeder kann im Reiche mit jener Münze leben und die Erbschaft des Reiches erkaufen, die die Liebe des Königs ist und dessen Gunst. Und dort betrachte gut, wie die Einzelnen die einzelnen Denare empfangen, insofern als erstes das Wesen betreffen; sie unterscheiden sich aber so wie ein Stern vom anderen im Akzidentellen etc.

Predigt CXIX Diabolus reliquit eum et ecce, angeli accesserunt et ministrabant ei Der Teufel verließ ihn, und siehe, Engel traten herzu und dienten ihm Zeit: Ort: Fest: Zählung Koch: Edition: Deutsch:

27. Februar 1452 Köln Erster Fastensonntag 113 h XVII/6, 597-599 –

ZUSAMMENFASSUNG Zusammen mit der Nennung des Themas werden Dispositionspunkte aus dem Tagesevangelium für die zu haltende Predigt aufgeführt: Wesen des Teufels, Versuchung durch den Teufel, Besiegung des Teufels, Zeichen, daß der Teufel zurückweicht, Herantreten der Engel, der Nutzen (n.1). Taufe und Versuchung Christi haben einen Zusammenhang, denn nach der Taufe folgt eine Zeit der Buße, in der der Versucher besiegt wird (n.2). Das Taufgeschehen allgemein ist eine Reinigung, die durch den Glauben geschieht als Vorbereitung zur Aufnahme des Wortes Gottes. Das führt uns zur Sohnschaft Gottes, die als Lohn des Gottvertrauens verstanden werden kann (n.3). Der Versucher oder die Versuchung tritt in Gestalt von sophistischen Argumenten auf. Vorbilder für die Besiegung des Versuchers sind Moses und Elias, die sich ebenfalls in die Wüste zurückgezogen haben (n.4). Die Allmacht des Wortes bringt alle Dinge zum Sein und gibt ihnen ihre charakteristische Bestimmung (n.5). Im Folgenden sind nur Stichworte für den Schluß der Predigt notiert: Zunächst über Buße und Fasten (n.6), zuletzt weitere Betrachtungspunkte bezüglich der Versuchung: Gaumenlust, eitle Ruhmsucht, Habgier (n.7).

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Predigt CXIX Der Teufel verließ ihn, und siehe, Engel traten herzu und dienten ihm (1) „Der Teufel verließ ihn, und siehe, Engel traten herzu und dienten ihm.“ (Mt 4,11) Was Teufel; wie tritt er heran zur Versuchung; wie wird er besiegt, damit er zurückweicht; was für ein Zeichen , daß er zurückweicht; wer das Hinzutreten der Engel, und was für ein Nutzen . (2) Merke an, wie Christus unmittelbar nach der Taufe (Mt 3,16; Lk 3,22; Joh 1,29-34) vom Geist in die Wüste geführt (Mt 4,1) wird zu dem Zweck, daß er den Versucher besiege, von dem Geist, der in der Gestalt einer Taube erscheint (Mt 3,10; Lk 3,22; Joh 1,32) durch Johannes, der ihn getauft hat zu dem Zweck, daß er ihn der Welt offenbare (Joh 1,31). Johannes ist in der Wüste gewesen und hat im Jordan Christus getauft. Und Christus ist vom Jordan in die Wüste Daman zum Berge namens Quarantana geführt worden, wie im Buche des Lebens Jesu1 , „damit er versucht werde“ (Mt 4,1). Betrachte, wie er sich nach der Taufe zur Bußübung hinwendet und in der Bußübung der Versucher herangetreten ist. Und dort hat er besiegt. (3) Jede Handlung Christi ist unsere Unterweisung.2 Die Taufe ist das Sakrament des Glaubens, und wir werden durch den Glauben von der Sünde reingewaschen. Und dann ist die Seele bereitet worden, das Wort in sich aufzunehmen, durch das sie umgewandelt wird in die Sohnschaft. Sie besteht nämlich in der Gnade durch den Glauben. Denn Gott ist die Zuverlässigkeit selbst. Deshalb ist es nicht möglich, daß der auf ihn Hoffende nicht das findet, was er erhofft, auch bis zur letzten Hoffnung, welche Gott selbst ist, wie er sagt: „Ich bin dein großer Lohn“ (Gen 15,1). Nichts größeres kann durch den Glauben erhofft werden, als daß Gott sich und sein Reich dem Vertrauenden schenkt. Und darin wird keiner getäuscht. Denn jeder erreicht gemäß dem Glauben. Sobald also einer getauft wird, wird dann das teuflische Bild des alten Menschen (Kol 3,9; Röm 6,6; Eph 4,22) abgewaschen, gleichsam wie wenn irgendein schmutziges Bild von einer Wand abgewaschen wird, damit ein neues darauf gemalt werde, oder wenn eine falsche Kunst durch einen wahren Meister beseitigt wird; wer getäuscht gewesen ist, wird sich dann nachher auf die wahre Kunst verlegen. Da er sich aber darauf verlegen soll, ist es nötig, daß

1 2

Vgl. Ludolf von Sachsen: Vita Jesu Christi, pars I, c.22 (Paris 1865), p.108a. Ein häufig von den Theologen angeführter Grundsatz, vgl. z.B. Thomas von Aquin: Summa Theologiae III, q.40, a.1 ad 3 und Ludolf von Sachsen, wie Anm. 1, p.4a.

Predigt CXIX: Der Teufel verließ ihn, und siehe

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er sich zurückzieht in die Wüste und sich wie Salomon vom Wein enthält, da er sich nun der Weisheit ergeben hat (Spr 2,3). (4) Und es tritt der Versucher hinzu und die alte Sophisterei bringt viele Argumente herbei, wie von irgendeinem zum Glauben bekehrten Juden ; die erste jüdische Sekte kehrt zurück ins Gedächtnis. Und er, versucht durch Beweisen. Und diese Versuchung ist eine große; und man kann die Vollkommenheit nicht besitzen, wenn nicht der Versucher herantritt und besiegt wird. Moses (Ex 24,13-18) gelangte nicht zur Höhe der Weisheit und auch nicht Elias (1 Kön 19,4-9) wenn nicht infolge der Enthaltsamkeit, in welcher ohne Zweifel der Versucher herangetreten ist. Der Fürst der Finsternis,3 der Widersacher der Weisheit, der besiegt werden mußte, wird nicht besiegt, da er von dieser Welt ist, wenn nicht das Fleisch abgetötet wird (Röm 8,13; Kol 3,5), in dem er wohnt. Von daher wird gesagt, daß der Versucher herangetreten sei, sobald Jesus Hunger verspürte (Mt 4,3). Es war nämlich ein Zeichen der Gebrechlichkeit des Fleisches des alten Menschen. Deshalb ist er herangetreten. (5) Merke das Wort, wo der Versucher sagt: „Wenn du der Sohn Gottes bist, sag, daß diese Steine Brot werden sollen.“ (Mt 4,3) Siehe, wie das Wort Gottes alle durchdringt; und alle hören und gehorchen. Wenn nämlich alle dadurch, daß sie dieses Wort hören, das sind, was sie sind, konnten sie alles das werden, was das Wort gesagt hat. Auch der Stein hört und gehorcht. Und das Wasser hört und gehorcht. Und das Wasser, das in seiner Wasserregion oder Natur war, geht zur Region des Weines (Joh 2,9f.), weil das Wort so befiehlt, dessen Macht allmächtig ist etc. Und merke an, wie das Wort im Kreis der Sonne zu allem spricht, was erzeugt wird. Und es ist ein einziges und durch ein einfaches Aussprechen geht die Mannigfaltigkeit der Dinge hervor zum sinnlich wahrnehmbaren Sein, wie das Wort des Hauptmanns eines Heeres in der Tuba für alle gesprochen wird und jeder sein Werk in jenem Wort verrichtet. (6) Er ist geführt worden vom Heiligen Geist und von seinem Geist sogar herausgetrieben und angetrieben oder aufgeregt, daß er „in die Wüste“ gehe (Mt 4,1). Wie es für den Getauften notwendig ist diese Welt zu verlassen, wenn er die Verheißungen bewahren will. So bezüglich der Ordensleute. Ebenso über die Wüste der Buße. Ebenso über das Fasten, wozu es nützt. Über das Fasten des Moses, des Elias und dasjenige Christi (Ex 24,13-18; 1 Kön 19,4-9). Ebenso, wie man fasten muß, bis dahin wo die Natur abgetötet wird, aber hungert etc. Ebenso dort ein weniges über die Fastenzeit. (7) Ebenso : Der Versucher ist herangetreten etc.: „Sag, daß diese Steine“ (Mt 4,3) etc.

3

Vgl. Predigt LI, n.11, 18-19.

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Merke an, wie die Söhne Israels durch das Rote Meer geführt worden sind (Ex 14,9.24) und in der Wüste das Manna gefunden haben (Ex 16,13-16). Christus, der die Speise ist, wird gefunden in der Wüste. Merke an: Versucht worden ist er bezüglich der Gaumenlust, der eitlen Ruhmsucht und der Habgier so wie der erste Adam (1 Kor 15,45).

Predigt CXX Magna est fides tua, fiat tibi, sicut vis Groß ist dein Glaube, es geschehe dir, so wie du willst Zeit: Ort: Fest: Zählung Koch: Edition: Deutsch:

5. März 1452 Köln Zweiter Fastensonntag 114 h XVII/6, 600-603 –

ZUSAMMENFASSUNG Mit der Aufstellung des Themas (n.1) ist der Glaube als das Zentrum der Predigt angegeben. Der Glaube und das Wort Gottes stehen in enger Verbindung. Durch den Glauben wohnt dieses in uns (n.2). Die Kraft des Glaubens wird bestimmt durch die Kraft des Wortes. Sie befähigt den Gläubigen zu Werken, die er ohne diese nicht vollbringen kann (n.3). So vermag auch der Glaube eine Dämonenaustreibung zu bewirken (n.4). Vermehrungsfähigkeit unseres Glaubens ist bedingt durch Teilhabe am Glauben Christi, der das Maximum des Glaubens ist (n.5). Unser Glaube ist ein Geschenk, das uns über die Natur unserer Vernunft hinaus zuteil wird und in Demut angenommen werden muß (n.6). Der Glaube ermöglicht die Schau Gottes. Beispiel dafür ist Israel (n.7). Es folgt nun eine allegorische Auslegung einzelner Züge des Tagesevangeliums, die unsere Grenzen und deren Überschreitung durch den Glauben aufzeigen (n.8). Die Beharrlichkeit der kanaanäischen Frau im Bitten zeigt die Stärke ihres Glaubens, was beides zusammen den Vorbildcharakter ausmacht. So schließt Cusanus diese zum Schluß nur noch in Stichworten überlieferte Predigt mit der erneuten Nennung des Themas (n.9).

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Nikolaus von Kues: Predigten in deutscher Übersetzung II

Predigt CXX Groß ist dein Glaube, es geschehe dir, so wie du willst (1) „Groß ist dein Glaube, es geschehe dir, so wie du willst.“ (Mt 15,28) (2) Nichts Tieferes als die Lehre Christi kann gefunden werden, welche besagt, daß durch den Glauben das geschieht, was wir wollen, und es ist das Wort Gottes und seine Wirkkraft nur darin berührbar. Denn wenn die Werke dem Glauben folgen, wie der Apostel sagt: „Zeige mir den Glauben“ „und ich werde dir“ die Werke „zeigen“ (Jak 2,18), und „durch das Wort des Herrn die Himmel gefestigt worden sind und deren ganze Kraft“ (Ps 33[32],6), dann wird dieses Wort, das alles in allem bewirkt (1 Kor 12,6), nicht berührt wenn nicht durch den Glauben; das heißt, daß der Glaube, der wirkt, Wort ist, so wie Christus durch den Glauben in uns wohnt (Eph 3,17), wie es durch Paulus gesagt wird. (3) Nicht verwunderlich , wenn die Kraft eines großen Glaubens groß ist, da ja die Kraft des Glaubens nicht existiert, wenn nicht die Kraft des Wortes . Christus sagt: „Wenn ihr einen Glauben hättet so wie ein Senfkorn und würdet zu dem Berg sagen“ (Mt 17,20) etc. „Berg“ (mons) wird von „ich bewege“ (moveo)1 durch das Gegenteil benannt, weil er am wenigsten bewegt wird; dennoch : „wenn ihr sprächet“ (Mt 17,20) etc. Siehe, wie das Wort des Glaubens bewirkt, daß das Unbewegliche bewegt wird. So wie ein Schiff auf dem Meer oder auf einem See von sich aus unbeweglich ist und mittels eines Hauches oder Windes der Seemann es selbst bewegt, wohin er will, sofern der Wind nicht nachläßt, so ist der Glaube ein unseren Geist stärkender Begriff, so daß er in Werken vermag, zu denen er nicht in der Lage gewesen ist. (4) Christus hat Wunder gewirkt und sagt anderswo: „Vertraue, meine Tochter, dein Glaube hat dich gesund gemacht.“ (Mt 9,22) In eins fallen also Glaube und Wort. Und beachte, wenn durch die Dämonenaustreibungen die Menschen von einem bösen Geist geheilt werden, oder jene Söhne der Juden es gewesen sind, wie Christus sagt: „Und eure Söhne, in wessen Namen treiben sie aus?“ (Mt 12,27; Lk 11,19), dann wirkt nicht der Exorzist, sondern der Glaube. Und der Glaube ist wie der Name oder das Wort Gottes. (5) Christus hatte den größten Glauben, weil er selbst das Wort ; er vermochte also alles. Von daher sagen die Apostel: „Vermehre unseren Glauben“ (Lk 17,5) etc. Es konnte der Glaube vermehrt werden. Wir haben also nicht einen Glauben, der nicht vermehrt werden kann; und daher beruht unser Glaube auf der 1

Die von Nikolaus von Kues angeführte etymologische Wortableitung des Wortes „mons“, „Berg“, von „moveo“, „ich bewege“, konnte in den dem Übersetzer zur Verfügung stehenden Etymologien nicht nachgewiesen werden.

Predigt CXX: Groß ist dein Glaube

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Teilhabe am absoluten Glauben. So wie also die absolute Gutheit die Größtheit selbst ist und deswegen alles das ist, was in jedem Guten ist, weil ein Gut nicht außerhalb der Gutheit ist, so verhält sich der absolute Glaube Christi zu jedem Glauben. Von daher hat der absolute Glaube alles unterschiedslos in Christus bewirkt, aber in anderen nicht unterschiedslos, sondern der eine hat die eine wunderbare Wirkkraft, der andere eine andere erhalten. (6) Von daher gelangen wir aufgrund der wunderbaren Wirksamkeiten zur Kenntnis des Glaubens. Der Glaube ist nämlich über der Natur. Unser Geist, insofern er Seele , beseelt dadurch, daß er natürlicherweise bewegt, aber sobald er das Wort des Glaubens empfängt, wirkt er gemäß dieser Empfängnis. Und dies ist die Lehre Christi, einen Glauben zu haben, durch den wir dem allmächtigen Wort geeint werden. Der Glaube ist ein Geschenk (Eph 2,8f.); aber der vernunftbegabte Geist paßt sich, um zu begreifen, durch Demut an. Denn von sich aus ist klar, daß die Demut notwendigerweise zum Glauben hinzu gesucht wird. Wer glaubt, nimmt die Vernunft in die Dienstbarkeit (2 Kor 10,5) und Demütigung. Das merke an! (7) Merke an, wie im Hause Israel ein großer Glaube gefunden wird (Mt 8,10). Denn „Abraham hat Gott geglaubt, und das ist ihm als Gerechtigkeit angerechnet worden.“ (Röm 4,3) Und all jene großen Wunder, von denen wir im Alten Testament lesen, sind durch den Glauben geschehen. Und es ist das Haus Israel derer, die Gott schauen,2 der nur durch den Glauben in dieser Welt erschaut wird. (8) Aus dem Evangelium3 , wie Jesus aus Judäa hinausgegangen ist und sich abgesondert hat (Mt 15,21) etc.; wie auch die Frau aus ihren Grenzen hinausgegangen ist (Mt 15,22). Merke an, wie „zu Jesus herantreten“ „aus seinen Grenzen hinausgehen“ ist. Unsere Grenzen sind die, die unsere Art einschließt, die ich aus Adam erhalten dürfte. Von daher ist jene Frau betrübt gewesen, weil ein Geist die Tochter quälte. Dies kommt ganz aus Adam: Traurigkeit und Qual etc. Die Frau der Verstand, die Tochter die sinnliche Wahrnehmungsfähigkeit; der Verstand hat die Fürsorge gleichsam wie eine Mutter für die Tochter. Der Verstand verläßt dann die Grenze, sobald er das Heil über die Natur hinaus im Erlöser sucht. Ebenso merke an, wie sie aus den Grenzen hinausgegangen ist. Die die kanaanäische sündige Seele abhaltenden Grenzen sind die Sünden, der Wille zu sündigen, die Wurzeln (1 Tim 6,10) und Gewohnheiten etc. Dann wird der Zugang zu Jesus gesucht, nicht zaghaft, sondern mit Inbrunst und Rücksichtslosigkeit und Geschrei (Mt 15,22). 2 3

Vgl. Hieronymus: Liber interpretationum Hebraicorum nominum (CCSL 72, p.75, Lag. 63,22; p.152, Lag. 74,15; p.155, Lag. 79,20). Vgl. Missale Romanum, Evangelium vom zweiten Fastensonntag, Mt 15,21-28.

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(9) Beschrieben wird die Bewegung der sündigen Seele bei der Ergreifung des Heiles zuerst durch den Glauben, weil nichts uns zu bewegen bewirkt wenn nicht der Glaube. Der Glaube also ist der Beginn des Pilgers. An zweiter Stelle wird eine unerschütterliche Hoffnung gesucht; an dritter Stelle die Liebe. Die Frau ist durch den Glauben über ihre Grenzen hinausgeschritten hin zu Jesus, dem Erlöser. Auf welche Weise sie geglaubt hat, zeigt sie, indem sie sagt: „Erbarme dich meiner, Sohn Davids.“ (Mt 15,22) Sie hoffte, weil sie gesagt hat: „Erbarme dich“ etc. Sie bekannte ihre Trauer, indem sie sagte: „Meine Tochter“ (Mt 15,22) etc. Und sie war beharrlich im Schreien nach Jesus etc. Jesus erschwerte , um sie auf die Probe zu stellen, aber Beharrlichkeit ist vermehrt worden. „Sie ist gekommen und hat angebetet“ (Mt 15,25) etc. Bemerke das Gebet: „Herr, hilf mir!“ (Mt 15,25) Sie hat sich gedemütigt; „denn auch die Hündlein“ (Mt 15,27) etc. Und so hat sie es verdient, erhört zu werden: „O Frau, “ (Mt 15,28) etc.

Predigt CXXI Beati, qui audiunt verbum Dei et custodiunt illud Selig, die das Wort Gottes hören und es bewahren Zeit: Ort: Fest: Zählung Koch: Edition: Deutsch:

12. März 1452 Koblenz Dritter Fastensonntag 115 h XVII/6, 604-609 in Auszügen in: Des Cardinals und Bischofs Nicolaus von Cusa wichtigste Schriften in deutscher Übersetzung von Franz Anton Scharpff, Freiburg i. Br. 1862, 428.

ZUSAMMENFASSUNG Mit der Aufstellung des Themas verbunden ist die Frage: Was bedeutet ,,selig“? (n.1) Beseligung durch Christus geschieht durch Nachfolge Christi im aktiven und kontemplativen Leben (n.2). Die Menschwerdung des Wortes geschieht leibhaftig einmal in Maria und wiederholt sich im Geiste des Menschen, der mens, und bewirkt dessen Erhöhung (n.3). Es gibt eine zweifache Herrschaft: die des Wortes Gottes und die der Dämonen (n.4). Die Herrschaft der Dämonen erstreckt sich nur auf die Sinnenhaftigkeit der menschlichen Natur (n.5). Austreibung der Dämonen bedeutet Heilung. Ein Beispiel von Wasser und Kälte und Eis erläutert dies (n.6). Der Wirkbereich des bösen Geistes auf den Menschen liegt in seiner sinnenhaften Natur (n.7). Es gibt eine Beschränkung der Wirksamkeit der Dämonen auf den Bereich des Verstandes, insoweit die Tätigkeit des Verstandes an ein körperliches Organ geknüpft ist. Ausgeschlossen ist der dämonische Einfluß vom Bereich der Vernunft (n.8). Der Intellekt, die Vernunft, ist ausgerichtet auf Gott. Die Ausrichtung der Vernunft auf die Wahrheit ist damit zugleich auch auf Gott hin (n.9). Nikolaus greift auf das Predigthandbuch des Aldobrandinus de Tuscanella zurück, um die Einwirkungsmöglichkeiten der Dämonen auf die Sinne, die Sinneswahrnehmung und die Sinnlichkeit des Menschen zu beschreiben (n.10). Beelzebub als Fürst ist Herrscher und hat Macht über die ihm untergeordneten bösen Geister, denen er Befehle erteilen kann (n.11). Durch Bindung und Behinderung der natürlichen Lebenssäfte und deren Bewegungen kann der Mensch versucht und zu Fehlern geführt werden, denen er aber aufgrund seines Verstandes widerstehen kann (n.12). Es gibt ein unterschiedliches Sehen von Gott und Dämon; der Dämon sieht diskursiv und gelangt nur zu einer Mutmaßung; Gott schaut direkt die Wahrheit (n.13). Die Bedeutung von Einheit und Teilung für ein Reich zeigt, daß das Reich Gottes ein Reich der Einheit und des Friedens ist, das Satans ein Reich der Tei-

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lung, aber nicht völlig ohne jede Einheit. Austreibung eines Dämons ist nur möglich im Glauben durch Gebet (n.14).

LITERATUR Heinrich Pauli: Die Aldobrandinuszitate in den Predigten des Nikolaus von Kues und die Brixener Aldobrandinushandschrift. Ein Nachtrag zu Hermann Hallauers Katalog der Brixener Handschriften aus dem Besitz des Nikolaus von Kues, in: MFCG 19 (1991), 163-182, mit Literatur auf S. 165.

Predigt CXXI: Selig, die das Wort Gottes hören und es bewahren

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Predigt CXXI Selig, die das Wort Gottes hören und es bewahren (1) „Selig, die das Wort Gottes hören und es bewahren“, (Lk 11,28) im elften Kapitel des Lukas und im .1 Aus dem Evangelium werden wir darüber belehrt, wie der Leib selig , der Christus getragen hat, und selig die Brüste, die gesogen hat (Lk 11,27), und daß selig , die das Wort Gottes hören. Anderswo sagt er: „Wer den Willen meines Vaters erfüllt haben wird, der ist mein Bruder und meine Schwester.“ (Mk 3,35; Mt 12,5; Lk 8,21) (2) Hieraus ist anzumerken, daß eine doppelte Lebensform hier ausgedrückt wird: Die eine ist das tätige Leben, die andere das beschauliche; , der Christus mit dem Lebensnotwendigen (Lk 10,40) bedient, und , der sitzt und zuhört (Lk 10,39). Es belehrt uns Christus, wie er selbst es ist, der in einem Armen aufgenommen und gespeist wird (Mt 25,35.40), und wie er selbst es ist, der aufgrund des Hörens durch den Geist ergriffen wird; und weil er selbst die Fülle ist (Eph 1,23; Kol 1,19; 2,9), beseligt er, auf welche Art auch immer er gehalten werden möchte. (3) Merke an, wie der jungfräuliche Leib Christus getragen hat (Lk 11,27). In sich hat die Jungfrau aufgrund des Wortes das Wort empfangen und getragen; und das Leben des Wortes ist erhalten worden durch die Milchspende der Jungfrau. Wer das Wort hört – und zwar nicht mit dem sinnenhaften Ohr, sondern mit dem geistigen – und es selbst in seinem jungfräulichen Schoß empfängt und dort bewahrt, der ist selig. Denn es ist ein unendlicher Schatz (Weish 7,14). So wie das Wort, indem es in der Menschheit des jungfräulichen Fleisches Wohnung nimmt, die menschliche Natur erhöht hat durch ein Heranziehen in die personale Einung, so zieht das Wort, indem es im menschlichen Geist Wohnung nimmt, die vernunftbegabte Seele zur Einung , so wie der Magnet das Eisen. (4) Merke an: Das Evangelium unterrichtet uns, daß es eine doppelte Herrschaft gibt, nämlich die des Wortes Gottes und die des bösen Geistes (Lk 8,2). Es war nämlich ein Mensch besessen von einem Geist oder „Dämon, und jener war stumm“ (Lk 11,14). Daraus merke an, daß über körperliche und sinnenhafte Glieder die Dämonen erlaubterweise Herrschaft ausüben, weil dort nicht das Wort der Wahrheit ergriffen wird. Deswegen herrscht dort der „Fürst der Finsternis“;2 und unter jenen gibt es gewisse schlimmere als andere. Und dem einen ist es gegeben, der Erde zu schaden, dem anderen, dem Meere (Offb 7,2), und anderen der Sprache etc. 1 2

Vgl. Missale Romanum, Evangelium vom dritten Fastensonntag, Lk 11,14-28. Vgl. Predigt LI, n.11, 18-19.

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(5) Und aufgrund ihrer Herrschaft fallen die Namen zu, wie hier dieser Geist, der stumm macht und die Zunge bindet, „stummer Dämon“ genannt wird. Und nachdem die Bindung der Zunge gelöst war, sprach der Mensch (Lk 11,14). So siehst du , wie man es in der Lebensbeschreibung des heiligen Bartholomäus liest,3 wie der Teufel so täuscht. Er schickt nämlich eine Krankheit, daß er die Glieder lähmt und die Bewegung der Lebensgeister versperrt. Und dann folgen die Begleiterscheinungen. Und sobald er die durch ihn gelegten Versperrungen beseitigt, kehrt die Gesundheit zurück. Und er täuscht dadurch, gleichsam als ob er selbst heilt, wie ebendort . (6) Und merke aus dem Text, daß die Austreibung des Dämons die Heilung ist, weil er ja sprach. Daraus hast du, daß der böse Geist es ist, der durch sich selbst bindet, so wie die Kälte durch sich selbst das Wasser durch Verwandlung in Eis bindet; und nachdem die Kälte aufgehoben und durch Wärme ausgetrieben ist, kehrt das Wasser wieder zu seiner früheren flüssigen Natur zurück. Das merke an! Wende auch deine Aufmerksamkeit , wie die Natur von Gott gut erschaffen ist. Und daher, wenn der böse Geist ausgetrieben wird, die Natur befriedet wird, weil sie zurückgekehrt ist zu dem Zustand, in dem sie von Gott war. (7) Ebenso muß man wissen, daß wir in uns einen Geist haben ein Transportmittel der Seele4 gleichsam wie ein Schiff eines Seemanns.5 Und jener Geist ist von einer feineren, aber körperlichen Natur. Er verhält sich zum Blut der Arterien so wie die Luft zum Wasser. Und so wie die Luft die Grundlage ist für das ätherische Licht, so jener Geist der Seele. Bis zu jenem Geist kann die Macht des bösen Geistes gelangen, so freilich, daß die Tätigkeiten der Seele, welche nur durch Geist auf den Körper wirken können, gehindert werden, da nun einmal jener von sich aus bewegliche Geist behindert wird, so wie der Seemann behindert wird, wenn einmal das Schiff festgebunden ist. (8) Es kann dies also auf verschiedene Weise geschehen. So lesen wir von den verschiedenen Fesselungen und durch jene von verschiedenen Leiden der dämonischen . Bisweilen also bindet sie, , den für das Sehen zuständigen Geist, bisweilen den für das Hören etc. Und weil die verstandesmäßige Kraft einem Organ angebunden ist, bindet sie bisweilen auch jenen Geist, so daß der Verstand nicht in Tätigkeit kann; aber die vernunftbegabte Seele kann sie nicht anrühren. Im sechsten Kapitel des Tobias : Denjenigen, denen eine Vernunft nicht zu eigen ist, in denen hat der Dämon Macht (Tob 6,17). Von daher kann der Dämon nicht in unsere vernunftbegabte Natur hineingleiten. Alles nämlich, was der Dämon 3 4 5

Vgl. Jacobus de Voragine: Legenda aurea, c. CXXIII (118) (Graesse, p.540). Das Bild stammt aus der platonischen Tradition; vgl. Platon: Timaios 69c. Das Bild geht zurück auf Aristoteles: vgl. De anima II, c.1 (413a8-9).

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bindet, bindet er durch sich selbst und durch sein Hineingleiten, so wie die Kälte durch Hineingleiten das Wasser bindet, weil sie hineintritt. Und durch das Hineintreten zieht sie zusammen, so wie die Gerinnungskraft des Gerinnungsmittels die Milch gerinnen läßt durch Hineingleiten, so im siebten Kapitel des Markus: Die Zunge ist gebunden gewesen, und „gelöst worden ist die Fessel seiner Zunge“ (Mk 7,35). (9) Aber in den vernunftbegabten Geist kann nichts hineingleiten wenn nicht das Wort Gottes, weil er Gott, der Geist ist (Joh 4,24), ähnlich ist, und zwischen ihm und Gott nicht eine Natur vermittelnd dazwischen steht. Denn zwischen der Wahrheit und der Vernunft kann es keine vermittelnde Natur geben. Gott ist die Wahrheit. Die Wahrheit aber wird in der Vernunft erfaßt. Gott allein also gleitet in die vernunftbegabte Natur hinein. Und so wie die Kälte vom Wasser Besitz ergreift, das sie bindet, so ergreift das Leben der Wahrheit durch Hineingleiten Besitz von der vernunftbegabten Seele. So wie das Empfangen der Freude froh macht, und zwar macht das einer großen Freude sehr froh, und das einer ewigen Freude in ewiger Weise und das einer absoluten Freude nimmt im tiefsten Wesen ganz in Anspruch. Und diese Erquickung der Freude wird von denen erfaßt, die eingehen in die Freude ihres Herrn (Mt 25,21). Und so wie der böse Geist nebenbei gefriert, so wird ein guter Geist flüssig dadurch, weil er Liebe . So sagt die Braut: „Meine Seele ist flüssig geworden, wie mein Geliebter es mir gesagt hat.“ (Hld 5,6) Mach eine Bemerkung zum Wort „verflüssigen“ etc. (10) Aldobrandinus6 sagt in seiner Predigt „Als es spät“, gemacht für den Samstag vor Invocavit, : Der böse Geist kann nämlich mitwirken, daß die sinnlich wahrnehmbaren Formen von den Sinnen aufgenommen in die Vorstellungskraft fließen. Und so wird das sinnenhafte Strebevermögen angestachelt, so wie Liebende durch eine nur geringe Ähnlichkeit in die Erfassung der geliebten Sache hineinbewegt werden, so wie es Aristoteles sagt im „Über Schlaf und Wachen“.7 Und es kann das Blut entflammen und andere Säfte zu verschiedenen Leidenschaften dahin bewegen, daß die körperliche Natur natürlicherweise der geistigen gehorcht bei der Bewegung. Deswegen erfüllt der Teufel die Herzen der Menschen mit verborgenen Begierden, wie es Augustinus im Buche „Von der Dreieinigkeit“ sagt: Der Teufel bläst seiner Gesellschaft üble Gefühle ein.8 Und im Buch der „Dreiundachtzig Fragen“ sagt er: Dieses Übel, das vom Teufel ist, teilt sich durch diese sinnenhaften Zugänge den Gestalten mit, tritt zu den Farben hinzu, 6

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Vgl. Aldobrandinus de Tuscanella: Sermones; das nur in einer Handschrift überlieferte Predigthandbuch, aus dem Cusanus den Text entnommen hat, liegt heute in va vb Brixen; vgl. Cod. Sem. Clr. Brix. R 1, dort fol.69 lin.32- fol.69 lin.8. Die Stelle findet sich nicht bei Aristoteles, wohl aber im Kommentar des Albertus Magnus zu der aristotelischen Schrift. Vgl. Albertus Magnus: De somno et vigilia II, tract.1, c.7 (Borgnet 9, p.167a). Vgl. Augustinus: De Trinitate IV, c.12 §15 (CCSL 50, p.1880, lin.1-6).

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hängt an den Tönen, ergießt sich in die Geschmackswahrnehmungen.9 Der Mensch aber, im Besitz der Vernunft, wird nicht durch Zwang, sondern durch den Willen bewegt. Es kann nämlich der freie Wille Widerstand leisten gemäß jenem : „Diesem leistet tapfer Widerstand!“ (1 Petr 5,9) etc. (11) Merke an! Es wird gesagt: „In Beelzebub, dem Fürsten der Dämonen.“ (Lk 11,15) Ich glaube, Beelzebub wird Fürst der Dämonen genannt, weil er so Fürst für andere ist, so wie ein Architekt. Er selbst hat es vielleicht in seiner Macht, andere zu schicken, um die natürlichen Geister zu binden etc. So wie der Fürst, der den Gemeinsinn zu binden vermag, hat er Macht über die Geister, die die nur teilhaft wirkenden Einzelsinne zu binden vermöchten. Und vielleicht ist Beelzebub, der jeden Geist diesseits der Vernunftseele binden kann. (12) Merke an, wie aus der Bindung Sünden kommen, so wie, wenn der Fluß der Leber gebunden würde, daß er sich vermehrt, der Mensch zornmütig wird; und so bezüglich der anderen . Denn wir sehen, daß die Greise aus Mangel an Wärme geizig . So kann der Lebensgeist gebunden werden, gleichsam so wie er in den Greisen abnimmt; so wird der Mensch ausschweifend etc. Und merke an, daß es Versuchungen gibt, weil wir von umstandshalber, angestachelt werden, so etwa aufgrund eines für die natürliche Bewegung davorgestellten Hindernisses zu solchen Fehlern; und durch den Verstand können wir widerstehen, mögen wir auch bewegt werden. (13) Mach eine Bemerkung , wo sagt: sieht die Gedanken dieser (Lk 11,17) etc., wie das Wort, durch das alles (Joh 1,3; Kol 1,6), alles sieht und selbst in allem gehört wird, weil alles ihm Gehorsam erweist. Und mache eine Bemerkung, wie das Sehen dem Reiche zu eigen ist, wo Gott , das Hören ist diesem Reiche eigen. „Hören will ich“, sagt der Prophet, „was der Herr in mir spricht.“ (Ps 85[84],9) Und es gibt einen Unterschied zwischen dem Sehen des Wortes und dem der Dämonen; denn die Dämonen sehen durch den in einzelnen Denkschritten fortschreitenden Verstand, Gott durch die intuitiv in einer Schau zu erfassende Wahrheit. Der Dämon sieht die Gedanken in einer Mutmaßung, Gott, wie sie sind. Daher liest der Teufel den Begriff in Zeichen, so wie der Mensch in den Buchstaben den Begriff des Schreibenden . Gott aber liest nicht in Buchstaben oder einer Figur, sondern schaut . Die Gedanken aber zu sehen, ist Gott allein zu eigen. (14) „Jedes in sich geteilte Reich wird zerfallen.“ (Lk 1,17)

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Vgl. Augustinus: De diversis quaestionibus octoginta tribus, q.12 (CCSL 44A, p.19, lin.4-8).

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Der Wesensgrund ist es, daß ein Reich eine Einheit ist; Teilung richtet die Einheit zugrunde. Merke an! Er sagt: „Jedes Reich.“ Wer „jedes“ sagt, schließt nichts aus. Wenn also die Einheit vom Wesen her eines jeden Reiches ist, ist das Reich Gottes nichts anderes als die absolute Einheit oder der Friede. „Im Frieden ist sein Ort geschaffen.“ (Ps 76[75],3) Und merke an, daß Teilung Gegensätzlichkeit ist. Wenn im Reiche Satans Gegensätzlichkeit wäre, würde es keinen Bestand haben. Und merke an, daß Satan dasselbe bedeutet, das geteilt (Lk 11,18), und das Reich Satans das Reich der Teilung ist, so wie das Reich Gottes das der Einung. Und Christus lehrt, daß auch das Reich der Teilung nicht ohne Einung in der Teilung bestehen kann so wie das Reich der Räuber. Denn mögen sie auch Räuber sein, dennoch ist nicht der eine gegen den anderen, sondern sie sind geeint im Bösen gegen andere. Merke dort an: „Und eure Söhne“ (Lk 11,19) etc., wie der böse Geist ausgetrieben wird durch Gebete und zwar nicht wenn nicht durch den Glauben (Mt 17,19f.; Mk 9,27f.).