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German Pages 500 Year 2001
Martin Thurner Gott als das offenbare Geheimnis nach Nikolaus von Kues
Münchener Universitätsschriften Katholisch-Theologische Fakultät
Veröffentlichungen des Grabmann-Institutes zur Erforschung der mittelalterlichen Theologie und Philosophie Herausgegeben von Michael Schmaus")", Werner Dettloff, Richard Heinzmann, Ulrich Horst Band 45
Martin Thurner
Gott als das offenbare Geheimnis nach Nikolaus von Kues
Akademie Verlag
Als Habilitationsschrift auf Empfehlung der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität München gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft.
Die Deutsche Bibliothek -
CIP-Einheitsaufnahme
E i n T i t e l d a t e n s a t z für diese P u b l i k a t i o n ist bei D e r D e u t s c h e n B i b l i o t h e k erhältlich. ISBN
3-05-003582-X
ISSN 0580-2091 © Akademie Verlag GmbH, Berlin 2001 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach D I N / I S O 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil des Buches darf ohne Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Einbandgestaltung: Petra Florath, Berlin Druck und Bindung: Hubert & Co, Göttingen Printed in the Federal Republic of Germany
Vorwort
Nihil secreti tenes (De visione dei 25)
Die Gedanken dieses Buches kreisen um das geheimnishaft-freie Geschehen von Geben und Empfangen. Die umfassende Bedeutung dieses Grundphänomens bewahrheitete sich nicht zuletzt im Entstehungsprozess der Untersuchung selbst. Sie verdankt sich einer Vielfalt von Zuwendungen, von denen ich nur einen Teil ausdrücklich erwähnen kann: In erster Linie und mit besonderer Freude danke ich meinem philosophischen Lehrer, Herrn Professor Dr. Richard Heinzmann. Seine Mitwirkung am Zustandekommen dieser Studie ging weit über die übliche Betreuung durch einen Habilitationsvater hinaus. Seit dem Beginn meiner akademischen Studien hat mir Prof. Heinzmann vielfältige ideelle und praktische Förderung zuteil werden lassen. Im Rahmen meiner Assistententätigkeit an seinem ,Lehrstuhl für Christliche Philosophie' am ,Grabmann-Institut zur Erforschung der mittelalterlichen Theologie und Philosophie' hat er stets großzügig dafür gesorgt, dass mir die nötige Zeit, Ruhe und innere Freiheit für die wissenschaftliche Arbeit gewährt waren. Darüber hinaus ließ er es mich nie vergessen, dass es auch ein Leben jenseits der Universitätswissenschaft gibt, das es entsprechend zu pflegen gilt, damit jene überhaupt ein lebendiges Fundament gewinnt. Stellvertretend für all meine anderen Lehrer kann ich nur noch Herrn Professor Dr. Heinrich Döring ausdrücklich danken, der nicht nur das Zweitgutachten zur vorliegenden Habilitationsarbeit verfasst hat, sondern sie auch mit Interesse und wertvollen Hinweisen hinsichtlich inhaltlicher Parallelen zur gegenwärtigen Fundamentaltheologie begleitet hat. Dankbar erwähnen möchte ich auch die engagierte und wohlwollende Förderung meines Habilitationsverfahrens im Sommer-Semester 2000 durch den Dekan der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität München, Herrn Professor Dr. Ludwig Mödl. An ihn sei jener Dank gerichtet, den ich der gesamten Fakultät gegenüber aussprechen möchte, dafür, dass sie mir in den letzten Jahren eine materielle Existenzgrundlage und geistige Heimat zugleich gewährt hat.
6
Vorwort
Weiter sei Herrn Professor Dr. Klaus Kremer gedankt, der als Direktor des , Instituts für Cusanus-Forschung' (Trier) mir die Möglichkeit gegeben hat, die Grundthesen der vorliegenden Studie in einem Vortrag vor der CusanusGesellschaft vorzustellen und zu diskutieren. Zu danken habe ich auch dafür, dass ich die für die Drucklegung anstehende Arbeit nicht alleine bewältigen musste: Frau Dr. Inge Feuchtmayr, Ursula Ganthaler und Burgi Thurner unterstützten mich beim mühevollen Korrekturlesen. Herr Dipl.-Math. Gerhard Schön von der ,Arbeitsgruppe für rechnergestützte Forschung' der Universität München hat die Erstellung der reproreifen Vorlage ebenso kompetent, geduldig wie entgegenkommend betreut. Die ,Deutsche Forschungsgemeinschaft' gewährte einen großzügigen Zuschuss für die Drucklegung des Werkes. Schließlich sei noch dem Akademie Verlag für die Aufnahme der Publikation in das renommierte Verlagsprogramm und für die erfahrene organisatorische Betreuung der Veröffentlichung gedankt.
München, im Januar des Cusanus-Jahres 2001
Martin Thurner
Inhalt
Einleitung
1
Das Denken als die Suche nach der Offenbarkeit des im Glauben angenommenen Geheimnisses 21 1.1
Die aporetische Grund-Erfahrung des christlichen Glaubens als Ursprung der Denkbewegung des Cusanus 21
1.2.
Das Denken als die Entdeckung der Allgegenwart des unbekannten Gottes
23
Die Funktion des philosophischen Gottesbegriffs
25
1.3
2
15
Die freie Erschaffung des Menschen als Grund für die Selbstoffenbarung des Geheimnisses 2.1
27
Die Gotteserkenntnis als Wesensbestimmung des Menschen und ihre Verwirklichung unter den Bedingungen der Endlichkeit
27
2.2
Das Gleichnis von dem seine Reichtümer offenbarenden König
29
2.3
Die Koinzidenz der Finalitäten im Offenbarungsgeschehen
30
2.4
Die tiefere Sinnerfüllung der menschlichen Veraunftbegabung im Offenbarungsgeschehen
31
2.5
Die Gutheit Gottes als der tiefste Grund des Offenbarungsgeschehens
33
2.6
Offenbarung als Selbstmitteilung
34
8
3
Inhalt 2.7
Das ,Ohne Warum' der Offenbarung
35
2.8
Die Freiheit der Offenbarung
36
2.9
Die in der freien Setzung des Menschen bedingte Notwendigkeit von Offenbarung
37
2.10
Der Mensch als „sedes seu capacitas ostensionis sapientiae"
38
2.11
Die Notwendigkeit des Erkannt-Werdens Gottes als Teilmoment des freien Offenbarungsgeschehens
39
2.12
Die Liebe Gottes als der Ursprung des Offenbarungsgeschehens
42
Dimensionen der Offenbarkeit des Geheimnisses 3.0 3.0.1 3.0.2 3.1
Der methodische Ansatz Der menschliche Intellekt als zu verwirklichende Möglichkeit Die Ermöglichungsbedingungen des endlichen Erkenntnisvollzugs Die natürliche Weltwirklichkeit
Die offenbarungsphilosophische Zuordnungslogik von Gott, Mensch und Welt 3.1.1.1 Die Welt als , Selbstporträt' ihres göttlichen Urbildes 3.1.1.2 Die Welt als Versichtbarung des unsichtbaren Gottes 3.1.1.3 Der Offenbarungsgott als die „coincidentia absconditi et manifest/" 3.1.1.4 Gott als ewige Welt - die Welt als sichtbarer Gott 3.1.1.5 Die Welt als Erscheinungsweise des unsichtbaren Gottes 3.1.2 Die Bedeutung der universalen Pluralität von Einzelseienden im Offenbarungsgeschehen 3.1.2.1 Nur in einer unendlichen Welt kann sich der unendliche Gott offenbaren 3.1.2.2 Das welthafte Einzelseiende als der einzig mögliche Ort der Offenbarung 3.1.2.3 Die unabschließbare Vielheit als Offenbarung der Unerschöpflichkeit Gottes 3.1.2.4 Die Singularität der Einzelseienden als Offenbarung der Unvergleichbarkeit Gottes
49 49 49 51 54
3.1.1
54 55 57 60 61 63 66 68 69 71 72
Inhalt
9 3.1.2.5 3.1.2.6
Weil Gott sich in allem offenbart, ist jedwedes in jedwedem 74 Nicht nur die Existenz, auch der innere Lebensvollzug des göttlichen Wesens ist in jedem Ding offenbar 76 3.1.3 Komplikative und explikative Betrachtung der Welt 79 3.1.3.1 Die vorgeschöpfliche Seinsweise der Welt im göttlichen Intellekt 81 3.1.3.2 Die Fruchtbarkeit der göttlichen Schöpfervernunft 83 3.1.4 Die Welt als von Gott geschriebenes Buch 84 3.1.4.1 Der menschliche Intellekt als Vermögen, das Schöpfungsbuch zu lesen 85 3.1.4.2 Die freie Finalisierung des Schöpfungsbuches auf den menschlichen Intellekt 87 3.1.5 Schöpfung als Mitteilung 89 3.1.5.1 Schöpfung als Sprachgeschehen 92 3.1.6 Der Mensch als das Maß aller Dinge 94 3.1.6.1 Nicht der Intellekt richtet sich nach den Dingen, sondern die Dinge nach dem Intellekt 94 3.1.6.2 Der Mensch als , finis creationis" 103 3.1.6.3 Die Mittlerstellung des Menschen 105 3.1.6.4 Die Ausrichtung aller Seienden auf den Menschen 107 3.1.7 Die Welt als dem Menschen geschenkter Gott 108 3.1.7.1 Gott und Welt sind dasselbe auf verschiedene Weise 110 3.1.7.2 Die „receptio descensiva" 112 3.1.7.3 Das Geschöpf als „deus occasionatus" 113 3.1.7.4 Das endliche Erkenntnissubjekt als Empfänger des Geschenks... 114 3.1.8 ,JVihil secreti tenes" 116 3.1.8.1 Das .Offenbare Geheimnis' bei Cusanus und bei Goethe 119 3.1.8.2 Die Liebe, die Gott selbst ist, als der tiefste Grund des Offenbarungsgeschehens 120 3.1.9 Der Zeichencharakter der sichtbaren Weltwirklichkeit 121 3.1.9.1 „...visus mentis, uti est in se, visus sensus, uti est in signis" 125 3.1.9.2 Der Grund von Sein und Erkennbarkeit aller Dinge 129 3.1.9.3 , finis manifesti est occultum et extrinseci intrinsecum" 131 3.1.9.4 Die disproportionale Gegenwart des Verborgenen im Offenbaren 137 3.1.10 Der Erkenntnisaufstieg durch Negation 142 3.1.10.1 Die Seinsstufen als immer klarere Selbstoffenbarung Gottes 149 3.1.10.2 „de visibilibus ad invisibilia ascensus" 152 3.1.10.3 „videre in visibili invisibile" 155
10
Inhalt 3.1.10.4
Die offenbarungsphilosophische Vertiefung des platonischen Sonnengleichnisses 158 3.1.10.5 Der Offenbarungsgott als die Koinzidenz von Unsichtbarkeit und Sichtbarkeit 160 3.1.11 Philosophie als „aenigmatica scientia" 163 3.1.11.1 Die philosophische Begründung des paulinischen Verständnisses der Gottesschau durch den platonischen Bild-Gedanken 164 3.1.11.2 „nemo possit satiari videndo gloriam creatoris in creaturis" 168 3.1.11.3 Die „improportionalis comparitio" der „aenigmatica signa vert' 172 3.1.11.4 „aenigmatum nullus est finis" 179 3.1.11.5 Die Offenbarung des bleibenden Geheimnisses als der Sinn des Aenigmas 186 3.2
Das geschenkte Erkenntnislicht
3.2.1 Erkenntnislicht gleich Glaubenslicht? 3.2.1.1 Der philosophiegeschichtliche Hintergrund 3.2.1.2 Die offenbarungsphilosophische Vertiefung 3.2.1.3 Die Differenz zu bisherigen Positionen 3.2.1.4 Die gemeinsame Systemstelle von lumen fidei, lumen revelationis und lumen intellectus 3.2.1.5 Die erkenntnisbegründende Bedeutung von Hoffnung und Liebe 3.2.1.6 Das bittende Gebet als Voraussetzung des Intellektvollzugs 3.2.1.7 Die prinzipiellen Regeln der Erkenntnis als Inhalt des lumen revelationis 3.2.1.8 Die Differenz von Glaubens- und Erkenntnislicht 3.2.2 Die Vor-Gegebenheit des Erkenntnislichts 3.2.2.1 Die visio intuitiva desprius der Erkenntnis 3.2.2.2 Der Wahrheitsgrund des Geistes als Theophanie 3.2.2.3 Die Wahrheitserscheinung als Weise der Offenbarkeit des göttlichen Geheimnisses 3.2.2.4 Das Offenbarungswort als Seinsprinzip 3.2.3 Das offenbarungsphilosophische Glaubensverständnis 3.2.3.1 Der Glaube ist der Ursprung des Denkens 3.2.3.2 Die ersten Erkenntnisprinzipien als Mysteria fidei 3.2.3.3 Die Wahrheitsprinzipien als im Vertrauen anzunehmendes Glaubensgeschenk
189 189 189 190 192 194 196 197 198 199 200 200 202 209 214 220 221 225 226
Inhalt
11 3.2.3.4 3.2.3.5 3.2.3.6 3.2.3.7 3.2.3.8 3.2.3.9 3.2.3.10 3.2.3.11 3.2.3.12 3.2.3.13 3.2.3.14 3.2.3.15 3.2.3.16 3.2.3.17 3.2.3.18 3.2.3.19 3.2.3.20 3.2.3.21 3.2.3.22 3.2.3.23
3.2.4 Das 3.2.4.1 3.2.4.2
Die vernünftige Notwendigkeit des unterwürfigen Glaubensgehorsams 229 Die christologische Vermittlung des Wahrheitsglaubens 233 Der Gottmensch als der maximale Partizipationsgrund der verschiedenen Glaubensgrade 233 Die Maximität Christi als vollkommene Verwirklichung aller menschlichen Vernunftmöglichkeiten 235 Der vollkommene menschliche Intellekt Jesu ist mit dem seinsbegründenden Intellekt Gottes vereint 237 Jesus als der Wahrheitsgrund aller Dinge 242 Die Mitteilung des Sohnwortes als Erleuchtung des Intellekts.... 244 Die erkenntnisbegründende Notwendigkeit der Inkarnation 251 Der Glaube als die höchste Erkenntnisstufe 255 Die Entrückung des Intellekts zum Wahrheitsempfang im Glauben 260 Der Glaube als überkonjekturale veritas revelata 265 Die Selbsttranszendenz der Intellektnatur als Aufstieg zur Übernatürlichkeit des Offenbarungsglaubens 269 Der größte Glaube koinzidiert mit dem kleinsten 273 Die unbezweifelbare Glaubensgewissheit als Voraussetzung jedes Erkenntnisaktes 276 Die geheimnishafte Selbstverständlichkeit der ersten Erkenntnisprinzipien als höchster Gewissheitsgrund ..278 Die Vernunfterkenntnis als Ausfaltung des allmächtigen Glaubensprinzips 281 Die christologische Vermittlung des Offenbaren Geheimnisses der Selbstevidenz 284 Die Verborgenheit der selbstevidenten Wahrheitsgewissheit in der Einfalt, Kürze und Leichtigkeit der Offenbarungsworte Jesu 291 Das Hören des Offenbarungswortes als Wahrnehmung der Selbstevidenz 297 Die unbezweifelbar selbstevidente Gewissheit der Wahrheitsoffenbarung als Bezugsgrund der sicheren Glaubenshoflhung 299 offenbarungsphilosophische Gnadenverständnis 300 Das intellektbegründende lumen revelationis ist das lumen gratiae 300 Die im Glauben an Christus empfangene Gnadenerleuchtung als Wahrheitserfullung jeder menschlichen Intellektnatur 306
12
Inhalt 3.2.4.3
Die Reintegration der intellektuellen Wahrheitserkenntnis in das gnadenhafte Offenbarungshandeln Gottes 3.2.4.4 Die christologische Vermittlung der intellektvollendenden Offenbarungsgnade 3.2.5 Die offenbarungsphilosophische Deutung des Gebetes 3.2.5.1 Die Entdeckung der Erforderlichkeit des Gebetes für den Weisheitsgewinn 3.2.5.2 Die Begründung der Notwendigkeit des Gebetes für den Intellektvollzug 3.2.5.3 Die zunehmende Selbstverwirklichung des Intellekts durch die Verinnerlichung im Glaubensgebet 3.2.5.4 Die Bitte um die Selbstoffenbarung des verborgenen Gottes als ursprünglichster Inhalt des Gebetes 3.2.6 Die Offenbarungsmitteilung des inneren Erkenntnislichtes als personal-dialogisches Geschehen 3.2.6.1 Das Verinnerlichungsgebet um die erkenntnisbegründende Wahrheitsoffenbarung wendet sich an das verborgene Antlitz Gottes 3.2.6.2 Der innere Zuspruch des göttlichen Antlitzes als Ursprung der personalen Intellektwirklichkeit des Menschen 3.2.7 Die Wahrheit liegt jenseits der Koinzidenz von negativer Geheimnishaftigkeit und affirmativer Offenbarkeit 3.2.7.1 Die Selbstoffenbarung Gottes als Grund für die Leichtigkeit der mystischen Theologie 3.2.7.2 Die Glaubensentrückung des Geistes zur visio revelata irrevelabilis 3.2.7.3 Das überhelle Dunkel des Nicht-Wissens 3.2.7.4 Die Lichtung der göttlichen Dunkelheit im Offenbarungsgeschehen 3.2.7.5 Die Mauer der Koinzidenz von Affirmation und Negation 3.2.7.6 Im Offenbarungsgott koinzidieren die Potenz des Nichts und der Akt des Seins 3.2.7.7 Das Christentum als die Religion des Offenbaren Geheimnisses 3.2.8 Das heilige Offenbarungsgeheimnis als verschwiegener Grund der Sprache 3.2.8.1 Der heiligen Reinheit des geheimnishaften Nichts Gottes kann nur im Schweigen ent-sprochen werden 3.2.8.2 Die Pflicht der Geheimhaltung und die Notwendigkeit eines mystagogischen Denkens
309 311 312 312 313 317 320 321
321 322 329 330 332 335 339 344 364 372 373 374 375
Inhalt
13 3.2.8.3 3.2.8.4
3.3
In der Verborgenheit des inneren Schweigens wird das Geheimnis des göttlichen Offenbarungswortes gehört...378 Das unaussprechliche Offenbarungswort wird in jedem Wort ausgesprochen 379
Die biblische Offenbarung und ihre Erfüllung in Jesus Christus
383
3.3.1
Die Notwendigkeit einer konkreten Offenbarungstradition und ihrer sukzessiven Vervollkommnung 386 3.3.1.1 Die in die Sinnlichkeit zerstreute Schwachheit der endlichen Vernunftnatur als Beweggrund für Gottes letzte Offenbarungskonkretion 386 3.3.1.2 Der Sinn der sukzessiven Intensivierung der Offenbarungstradition bis zu ihrer Vollendung in Jesus Christus 391 3.3.1.3 Die Notwendigkeit einer persönlichen Mitteilung der Offenbarungswahrheit 396 3.3.2 Der Offenbarer verfugt über eine besondere Erfahrungstransparenz für das Intellektlicht 397 3.3.2.1 Die Überlieferungsanreicherung von Erfahrungen 398 3.3.2.2 Der spirituspropheticus als besondere Ausprägung des lumen intellectuale 405 3.3.3 Die Kriterien zur sicheren Identifikation eines Offenbarers 412 3.3.3.1 Die Notwendigkeit einer zusätzlichen Bezeugung der Offenbarungsverkündigung 413 3.3.3.2 Die Mysterien des Lebens Jesu als Bestätigung seiner Sendung als vollendeter Offenbarungsgestalt des geistigen Wahrheitsgeheimnisses Gottes 419 3.4 3.4.1 3.4.2 3.4.3
Die eschatologische Vollendung
434
Die end-gültige Offenbarkeitsweise des göttlichen Geheimnisses 436 Die ewige Wahrheit Christi als die Richtung jedes Vernunftgeistes.... 445 Die ecclesia aeternaliter triumphantium als Vision der idealen Vollendung menschlicher Intellektnatur 453
14
4
Inhalt
Kurzzusammenfassung: Geheimnis und Offenbarkeit als sich gegenseitig implizierende Wesensbestimmungen
459
4.1 Die zirkuläre Koinzidenz der Prädikate im offenbaren Geheimnis Gottes
460
4.2 Die tautologische Identität des göttlichen Geheimnisses
465
4.3 Die reflexive Selbstdefinition des tautologischen Geheimnisses
468
4.4 ,JVon aliud est non aliud quam non aliud'
469
4.5 Die tautologische Identität als die Selbstoffenbarung des trinitarischen Wesensgeheimnisses Gottes
473
4.6 Das affektive Leben der göttlichen Liebe als tiefster Grund der intellektuellen Wahrheitsoffenbarung
478
4.7 Die Unüberbietbarkeit der cusanischen Offenbarungsphilosophie
480
Zitations- und Abkürzungsverzeichnis Sigeln für die Schriften des Nikolaus von Kues
Literaturverzeichnis
485 486
487
Einleitung
Das offenbare Geheimnis ist die Grund-Gegebenheit des Christentums schlechthin, denn es bezeichnet das Wesen des im Glauben angenommenen Gottes. Im Hinblick darauf muss es zu Bedenken Anlass geben, dass diese Wortprägung nicht als Ausdruck des christlichen Gottesverständnisses entstand; ursprünglich beinhaltet sie das Bekenntnis zu einer Religiosität, die sich bewusst vom Christentum abzusetzen intendiert. Offenbar Geheimnis ist der Titel eines Gedichtes, in dem Goethe den persischen Dichter Hafis als einen mystisch Reinen preist, der, ohne fromm zu sein, selig ist.1 In den von Goethe selbst teilweise unter dem Titel Gott und Welt zusammengefassten weltanschaulichen Gedichten wird deutlich, dass die von ihm bewunderte Gottunmittelbarkeit auf einer diesseitsbezogenen Religion gründet, deren Heiliges die Natur ist; in der äußeren Offenbarkeit der Natur vermag der Mystiker ein tiefes inneres Geheimnis zu erblicken: Müsset im Naturbetrachten Immer eins wie alles achten; Nichts ist drinnen, nichts ist draußen: Denn was innen, das ist außen. So ergreifet ohne Säumnis Heilig öffentlich Geheimnis.2
1
Westöstlicher Divan, Buch Hafis, Gedicht 8 (Hamburger Ausg. II 24). - Weitere, inhaltlich mit den zitierten übereinstimmende oder für die hier zu untersuchende Thematik irrelevante Belegstellen sind verzeichnet im entsprechenden Lemma des Wörterbuchs der Gebrüder GRIMM (Leipzig 1935), Sp.2363-2364. Vgl. zum Verständnis des .Offenbaren Geheimnisses' bei Goethe ferner: Μ. H. MEHRA, Die Bedeutung der Formel „ Offenbares Geheimis " in Goethes Spätwerk·. Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik 122 (Stuttgart 1982). Eine griechische Entsprechung (μυστήριον έμφανές) findet sich bei CLEMENS VON ALEXANDRIEN (Paedagogicus III 2, 1 [ed. Stählin 236, 27]), bezeichnenderweise im Zusammenhang mit einer HeraklitParaphrase, die Goethes Verständnis dieser Wendung nahekommt. 2 Die weltanschaulichen Gedichte, Epirrhema (Hamburger Ausg. I 358).
16
Einleitung
Die im Rückgriff auf den Islam zum Ausdruck kommende Tendenz, diese weltunmittelbare, nicht durch schriftlich fixierte und institutionalisierte Frömmigkeit vermittelte Gottseligkeit als Gegensatz zum christlichen Glauben zu konzipieren, offenbart ihre verborgene Spitze darin, dass in der Formulierung offenbares Geheimnis die aus der christlichen Tradition geläufige Rede von der geheimen Offenbarung geradezu umgekehrt wird. Als Titel der letzten biblischen Schrift spricht diese Bezeichnung gleichsam das letzte Wort über den Inhalt des christlichen Glaubens. Versteht man sie als Gegensatz zur Auffassung, dass das Geheimnis Gottes in der Natur offenbar ist, so kann sie nur zur Qualifikation von Erkenntnissen dienen, zu denen der Mensch ,νοη Natur aus' gerade nicht fähig ist, die ihm also von Gott her in einem .übernatürlichen' Mitteilungsakt bekannt gemacht werden müssen. Überblickt man die theologische Reflexion auf die in den biblischen Schriften geoffenbarten Geheimnisse, und zwar nicht nur in ihrer lehrbuchartigen Mittelmäßigkeit, sondern auch in ihrer Hochform der thomasischen Summen, so wird dieses Verständnis von Geheimnis und Offenbarung darin zunächst bestätigt. Demgegenüber sind die folgenden Ausführungen von der Überzeugung getragen, dass die Rede vom offenbaren Geheimnis der Grund-Gegebenheit des Christentums in höherem Maße entspricht als dessen Bestimmung als geheime Offenbarung. Dies lässt sich schon unabhängig von der Frage nach dem übernatürlichen Charakter der Offenbarung aus einem rein sprachlich-formalen Grund einsichtig machen: Während die erstere Bezeichnung das Wesen des im Glauben angenommenen Gottes selbst zum Ausdruck bringen kann, vermag die letztere nur die Qualität von Aussagen über ihn zu bestimmen. Die Tatsache, dass das Wort vom offenbaren Geheimnis aus einer christentumskritischen Intention heraus geprägt wurde, legt den Verdacht nahe, dass die christliche Vernunft in ihrem allgemeinen Bewusstsein den Grund ihrer eigenen Wahrheit noch nicht eingeholt hat. In diesem Sinne erkennt Karl Rahner in seinem Beitrag Über den Begriff des Geheimnisses in der katholischen Theologie3 die Notwendigkeit, die von der Schultheologie als Pluralität von Einzelaussagen betrachteten Glaubensgeheimnisse als innere Abwandlungen des einen Geheimnisses zu begreifen,vor das die christliche Offenbarungslehre den Menschen stellt, und das letztlich mit Gottes Wesen selbst identisch ist. Auf dem Hintergrund all dieser Zusammenhänge wird die Bedeutung eines Denkers ersichtlich, als dessen herausragende Leistung es zu würdigen gilt, eine bisher ebensowenig ihrem Rang gemäß zur Kenntnis genommene wie gedanklich übertroffene Konzeption von Geheimnis und Offenbarung entfaltet zu haben, die
3
In: Schriften zur Theologie, Bd. 6 (Einsiedeln u.a. s 1 9 6 7 ) 51-99; Zitat: 51.
Einleitung
17
dem Wort vom Offenbaren Geheimnis inhaltlich zu entsprechen vermag.4 Die folgenden Ausführungen intendieren den Aufweis, dass bei Nikolaus von Kues das Offenbare Geheimnis zum zentralen Gottesbegriff einer im Anspruch des christlichen Glaubens gründenden philosophischen Reflexion wird.5 4
Das der Thematik von Geheimnis und Offenbarung bei Cusanus entsprechende Wortfeld variiert je nach Bedeutungsnuance und Kontext. Weil fur Cusanus die philosophischen Begriffe den Charakter einer konjekturalen Anspielung an die unerreichbare Wahrheit haben, fixiert er seine Terminologie nicht im scholastischen Sinne. Schwerpunktmäßig bezeichnet das Wort arcanum eine nur Eingeweihten mitzuteilende, weil sonst nicht zu verstehende Wahrheit; absconditum, occultum, und velatum bestimmen die geheimnishafte Wirklichkeit im Hinblick darauf, dass sie für einen auf die sinnenfallige Oberflächlichkeit fixierten Blick nicht wahrnehmbar ist; secretum meint eine nicht von bereits Bekanntem her ableitbare Erkenntnis; mysterium beschreibt schließlich das Wesen Gottes selbst. Im Wort ostensio liegt der Akzent auf dem Prozess des offenbarmachenden Ausflusses; manifestatio bezeichnet mehr die sinnenfällige Handgreiflichkeit als Ergebnis des Offenbarungsprozesses; revelatio beschreibt die Offenbarungswirklichkeit im Hinblick auf das darin enthüllte und aufgedeckte Geheimnis. Diese verschiedenen Bedeutungsnuancen werden von Cusanus nicht streng auseinandergehalten. Bisweilen konzentriert er sich innerhalb des Gedankenzusammenhangs einer Schrift auf eine bestimmte Terminologie, wie beispielsweise in ,De docta ignorantia' auf mysterium, in ,De visione dei' auf secretum und revelatio, in ,De beryllo' auf ostensio und manifestatio. Um sowohl die einheitliche Grund-Bedeutung wie auch den besonderen Akzent all dieser Bezeichnungen zu berücksichtigen, soll in den folgenden Quellentextzitaten neben der meist aus dem Wortbereich von Geheimnis und Offenbarung gewählten deutschen Übersetzung in Klammern stets der entsprechende lateinische Ausdruck hinzugefügt werden. 5 Die Feststellung einer weitestgehenden Ignorierung dieses cusanischen Grund-Gedankens trifft nicht nur die diesbezügliche theologisch-philosophische Literatur allgemein, sondern auch die Cusanus-Forschung im besonderen. Eine Abhandlung, die das Verständnis von Geheimnis und Offenbarung bei Cusanus eigens thematisiert, ist mir nicht bekannt. Die prinzipielle Bedeutung der Verhältnisbestimmung von Offenbarkeit und Geheimnis Gottes im cusanischen Denken wurde richtig gesehen bei R. WEIER, Das Thema vom verborgenen Gott von Nikolaus von Kues zu Martin Luther. BCG 2 (Münster 1967), 188f: 1. Die Lehre von der Verborgenheit Gottes findet bei Cusanus ihre Ergänzung durch eine Lehre von der Offenbarung Gottes. 2. Gott offenbart sich, indem er sich verhüllt. Ihren Höhepunkt finden diese Gedanken in der Deutung der Menschwerdung Christi. In Christus wird das ewige Wort Gottes kund. [...] Je deutlicher wird, wie sehr der Geist und das Wort Gottes in der Welt darinnen sind, umso deutlicher wird auch, wie sehr er von der Welt geschieden und verborgen bleibt. Je deutlicher die Widerspiegelung Gottes in den Geschöpfen erfasst wird, desto härter sind auch die Menschen vor die Verborgenheit Gottes gestellt. Erkenntnis der Verborgenheit Gottes und Widerspiegelung Gottes sind einander ergänzende, es sind im strikten Sinne komplementäre Gedankenreihen. - sowie bei J. STALLMACH, Vernunft als „Sinn für Gott". Zur Frage natürlicher Gotteserkenntnis im Anschluss an Nikolaus von Kues, in: Um Möglichkeit oder Unmöglichkeit natürlicher Gotteserkenntnis heute, hg. v. K. Kremer (Leiden 1985) 73-91, 73ff; Offenbarkeit des
18
Einleitung
Dies soll in folgenden Schritten geschehen: Der einleitende Versuch einer Verhältnisbestimmung von Glauben und Denken bei Cusanus hat eine doppelte Zielsetzung: Einerseits dient er dem Aufweis, dass der cusanische Gedanke des offenbaren Geheimnisses insofern ursprünglich aus dem Glauben hervorgeht und somit die Grund-Wahrheit des Christentums artikuliert, als er die im christlichen Glauben vor-gegebene Grund-Erfahrung auf den Begriff bringt. Andererseits soll in diesem ersten Abschnitt deutlich gemacht werden, warum aus einer glaubensimmanenten Notwendigkeit heraus die religiöse Vor-Gabe des offenbaren Geheimnisses in einem philosophischen Gottesbegriff {dem philosophischen Gottesbegriff des Cusanus schlechthin) vermittelt werden muss, und worin diese Notwendigkeit für die Gestalt der philosophischen Reflexion selbst bestimmend wird. Sodann ist aufzuzeigen, wie das theologische Datum der freien Erschaffung des Menschen und seine philosophische Bestimmung als endliche Geistnatur von verborgenen Gottes, Selbstverständlichkeit des wesenhaft unverständlichen' (d.h. sich allem bloßen Verstandesdenken wesenhaft entziehenden) Gottes: Gerade dieses Moment der ,Selbstverständlichkeit', das ein Infragestellen der Existenz Gottes und die Notwendigkeit von , Gottesbeweisen ' offenbar überhaupt nicht ernsthaft in den Sinn kommen lässt, dürfte für das moderne Denken besonders ,anstößig' sein, d.h. einerseits besonders schwer nachvollziehbar, andererseits aber auch ein besonderer Anstoß zum Nach-Denken. Vgl. auch: K.-H. KANDLER, Gottes Offenbarung in der Welt nach Nikolaus von Kues, in: Gottes Offenbarung in der Welt. FS fur H.G. Pöhlmann, hg. v. F. Krüger (Gütersloh 1998) 192-204. - Auch außerhalb der Cusanus-Forschung wird die Thematik des Geheimnisses weder von der Philosophie noch was noch verwunderlicher ist - von der Theologie ihrer Bedeutung entsprechend berücksichtigt. Bezeichnend dafür ist etwa das Fehlen des Lemmas Geheimnis in Standardwerken wie etwa dem Historischen Wörterbuch für Philosophie, aber auch der Theologischen Realenzyklopädie.
Einleitung
19
Cusanus als der Grund dafür begriffen wird, dass Gott aus seiner Geheimnishaftigkeit heraus in die Offenbarkeit tritt. Im Hauptteil des Beitrages sind an der Hand des diesbezüglich zentralen cusanischen Textzusammenhanges 6 die natürliche Weltwirklichkeit, das geschenkte Erkenntnislicht, die biblische Offenbarung mit ihrer Erfüllung in Jesus Christus und die eschatologische Vollendung als die Dimensionen der Offenbarkeit des Geheimnisses Gottes darzulegen. Schließlich gilt es aufzuweisen, dass die cusanische Konzeption des offenbaren Geheimnisses deshalb auch die in ihr rezipierten patristischen Quellen überbietet und aus demselben Grund auch gedanklich nicht überboten werden kann, weil es Cusanus gelingt, Geheimnis und Offenbarkeit als sich gegenseitig implizierende Wesensbestimmungen zu begreifen.
6
De dato 5: h IV, N. 115, Ζ. 1 - N . 122, Z. 12.
1 Das Denken als die Suche nach der Offenbarkeit des im Glauben angenommenen Geheimnisses
1.1 Die aporetische Grund-Erfahrung des christlichen Glaubens als Ursprung der Denkbewegung des Cusanus Die um 1445 entstandenen Opuscula (De deo abscondito; De quaerendo deum; De dato patris luminum)' sind für das Verständnis des cusanischen Denkens von grundlegender Bedeutung. Nach dem Abschluss seiner beiden ersten Hauptwerke ,De docta ignorantia' und ,De coniecturis' reflektiert Cusanus hier die ursprüngliche Zielsetzung und damit den inneren Beweg-Grund seiner philosophischen Gedankengänge. Jede einzelne dieser Schriften in ihrer aufgrund der Kürze leicht überblickbaren Argumentationsstruktur, sowie alle drei zusammen im komplementären Verhältnis ihrer Titel zueinander spiegeln den Fortgang der Denkbewegung (motus mentis)2 des Cusanus. Hier begreift sich das cusanische Denken selbstreflektorisch als eine Suchbewegung, die bei der Verborgenheit Gottes ihren Ausgang nimmt und in der Erkenntnis desselben Gottes als Geber aller Helligkeit an ihr Ziel kommt, sich also ursprünglich im Spannungsfeld von Geheimnis und Offenbarkeit vollzieht. Warum in der Gottsuche die Wesenswirklichkeit des Denkens besteht, wird im Gedankengang der gleichnamigen Schrift3 deutlich: Auch bei Cusanus steht die schon von Piaton4 und Aristoteles5 als Ursprungs-Erfahrung der Philosophie be-
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Allesamt ediert in h IV.
De theol. compL. h X/2a, N. 2, Z. 70. 3 Dequaer. 1: h IV, N. 17, Ζ. 1-N. 18, Z. 15. 4 Theaitetos 155 d 2f. 5 Metaphysik 982 b 12f.
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Gott als das offenbare Geheimnis
griffene Stimmung des Erstaunens am Anfang des Denkens. Für jene den philosophischen Spekulationen des Cusanus eigene ursprüngliche Bestimmung ist es nun wesentlich, worauf sich seiner eigenen Aussage entsprechend diese Verwunderung bezieht: Jedesmal, wenn ich die Apostelgeschichte lese, staune ich über diese Gedankenführung. Was Cusanus hierbei zum Denken bewegte, zitiert er im selben Zusammenhang: Es ist die von Paulus aus seiner Areopagrede7 überlieferte Aussage, dass der unbekannte Gott zugleich derjenige ist, der keinem fern ist, weil wir in ihm sind, in ihm leben und uns bewegen. Das in diesem paulinischen Gedanken implizierte Paradoxon wird von Cusanus in einer Zuspitzung desselben deutlich gemacht: Paulus erklärte nämlich, den Philosophen den unbekannten Gott offenbaren zu wollen, und gleich darauf betont er, dass dieser Gott von keiner menschlichen Vernunfteinsicht erfasst werden könne. Denn gerade darin wird Gott offenbar, dass man weiß, jede Vernunfteinsicht sei zu gering, ihn sich vorzustellen und zu begreifen.
Cusanus wurde also deshalb in die Stimmung des Erstaunens versetzt, weil er das Pauluswort als Ausdruck der Erfahrung verstand, dass Gottes Offenbarkeit immer zugleich mit seiner Unbekanntheit gegeben ist. Mit der näheren Bestimmung dieser Erfahrung lässt sich auch erschließen, was der ursprüngliche Beweggrund des cusanischen Denkens ist: Cusanus liest den biblischen Text seiner genuinen Aussageintention entsprechend als Beschreibung derjenigen Situation, die die Grund-Aporie jedes religiösen Glaubensvollzugs ausmacht. Diese besteht darin, dass Gottes Anwesenheit immer zusammen mit seiner Abwesenheit erfahren wird.8 Das Glaubenserleben impliziert für den davon Betroffenen demgemäß die besondere Problematik, dass die Gegenwart Gottes zwar stets mit intuitiver und deshalb unmittelbar gewisser Sicherheit erfasst wird,9 niemals aber als an einem bestimmten Ort oder zu einer bestimmten Zeit gegebene begriffen werden kann. Da für den Gläubigen angesichts der Frage nach dem 6
Als eine solche interpretiert M. HEIDEGGER, Was ist das - die Philosophie? (Pfullingen 1956) 37 das in diesem Zusammenhang von Piaton verwendete Wort πάΰος. 7 Apg 17, 18-29. 8 Die hier zugrundegelegte Bestimmung des religiösen Erlebens findet in Rudolf Ottos religionsphänomenologischem Aufweis des Mysterium tremendum etfascinans als des religiösen Grund-Phänomens schlechthin ihre Bestätigung (vgl. R. OTTO, Das Heilige [München 26 1947] 12ff 39ff). Dieselbe religiöse Grund-Erfahrung bringt Romano Guardini im Anschluss an Blaise Pascal auf den Begriff der Ambiguität der Gotteserfahrung (vgl. R. GUARDINI, Christliches Bewusstsein [Mainz-Paderborn 1991] 138ff). 9 Die unmittelbare Gewissheit der Glaubensgegebenheiten thematisiert Cusanus am Beispiel einzelner Glaubensinhalte in Idiota de mente 1: h 2 V, N. 52, Z. 1-7 sowie ebd. 15: h 2 V, N. 159, Z. 6-14.
Das Denken als die Suche nach der Offenbarkeit
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, Wo' der Anwesenheit Gottes das unmittelbar Gewisse zugleich zum Fraglichsten wird, erweist sich die Gott-Suche als der Grundvollzug des Glaubens. Dementsprechend konkretisiert Cusanus die religiöse Grundaporie in der Frage nach der richtigen, zum Ziel des Gott-Findens fuhrenden Weise der Gottsuche: Wenn aber der Mensch in dieser sinnlich erfahrbaren körperhaften Welt als solcher Gott nicht erkunden und ertasten kann, [...] da er, wie Paulus sagt, nichts Gott Ähnliches zu begreifen vermag: wie kann dann Gott gesucht werden, dass man ihn auch finde?
In dieser Problematik, mit der der Glaube den in ihm Lebenden konfrontiert, liegt nun der innere Grund dafür, dass die von Piaton und Aristoteles als Ursprung der Philosophie identifizierte Stimmung des Erstaunens von Cusanus auf jene bestimmte Stelle aus der Apostelgeschichte und damit indirekt auf den Glauben bezogen wird. Der Glaube ist insofern Ursprung des Denkens, als die Suche nach einem Ausweg aus der Grundaporie des religiösen Vollzuges das Denken notwendig macht.10 Weil das Denken als inneres Moment des Glaubensgeschehens hervorgeht und in seiner vermittelnden Funktion stets darauf bezogen bleibt, ist bei Cusanus die Suche nach der Offenbarkeit des im Glauben angenommenen Geheimnisses Gottes der ursprüngliche Sinn der Philosophie.
1.2. Das Denken als die Entdeckung der Allgegenwart des unbekannten Gottes
Das philosophische Denken erweist sich deshalb als die zum Ziel führende und darum richtige Weise der Gottsuche, weil es den Aufweis zu erbringen vermag, dass Gott deshalb nicht (nicht) gefunden werden kann, weil er überall ist:
10
Aus einer vergleichbaren Notwendigkeit heraus entspringt das Denken etwa auch bei Augustinus und Anselm von Canterbury; vgl. dazu: K. KIENZLER, Dialogik als Denkform bei Anselm und Augustinus, in: Ders., Gott ist größer. Studien zu Anselm von Canterbury: BDS 27 (Würzburg 1997) 9-36; sowie (außer der dort angegebenen Literatur): F. ULRICH, Cur non video praesentem? Zur Implikation der „griechischen" und „lateinischen" Denkform bei Anselm und Scotus Eriugena, in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 22 (1975) 70-170.
Gott als das offenbare Geheimnis
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Auf diesem Weg, mein Bruder, strebe danach, in gewissenhaftester Spekulation Gott zu suchen, denn er, der überall ist, kann nicht nicht gefunden werden, wenn er richtig gesucht wird. 1 '
Das Denken entdeckt die Allgegenwart des unbekannten Gottes, indem es im Prozess rationaler Begründung Gott als denjenigen erkennt, der all das ist, was in jedem das ist, was es ist12. Weil die Einsicht des Denkens alles auf die seinsbegründende Anwesenheit Gottes hin durchsichtig machen kann und somit dem Glauben die Gewissheit vermittelt, dass in allem nichts anderes als Gott sich offenbart, bestimmt sich das Denken als der notwendigerweise in den Glaubensvollzug integrierte Weg der Suche danach, wie der unbekannte Gott all das darbietet, durch das wir zu ihm hin bewegt werden". Durch die Erkenntnis, dass Gott mit seiner Allgegenwart selbst die Voraussetzungen dafür schafft, dass er trotz seiner Geheimnishaftigkeit von jedem ihn ernsthaft Suchenden leicht gefunden werden kann,14 vollendet sich die Gottsuche des Denkens in der Identifikation des verborgenen Gottes mit dem Vater der gnadenhafl geschenkten Lichter. Wenn wir zur Erkenntnis seiner emporsteigen wollen, wie sehr er selbst uns auch unbekannt ist, so ist es j a doch nur sein Licht, das in unseren Geist hineindringt, in dem wir uns bewegen, um in diesem seinem Lichte zu ihm selbst hindurchzudringen. 15
" Dequaer. 1: h IV, N. 31, Z. 15-17. De quaer. 2: h IV, N. 36, Z. 4f. n De quaer. 2: h IV, N. 35, Z. lf. 14 Auch bei AUGUSTINUS wird Gott in dem Sinne als das offenbare Geheimnis begriffen, dass er aufgrund seiner Allgegenwart zugleich überall und nirgends gefunden werden kann, vgl. z.B. De quant. an. 34, 77 (CSEL 89; 226, 5-8): [Deus] quo nihil... secretins, nihil praesentius; qui difficile invenitur ubi sit, difficilius ubi non sit. Vgl. zum Gedanken der Allgegenwart Gottes und seinen Implikationen für die Gotteserkenntnis des Menschen auch: M. ENDERS, Allgegenwart und Unendlichkeit Gottes in der lateinischen Patristik sowie im philosophischen und theologischen Denken des frühen Mittelalters, in: Bochumer philosophisches Jahrbuch für Antike und Mittelalter 3 (1998) 43-68. 12
15
De quaer. 2: h IV, N. 36, Z. 9-11.
Das Denken als die Suche nach der Offenbarkeit
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1.3 Die Funktion des philosophischen Gottesbegriffs
Die Aufgabe des Denkens im Dienste des Glaubens besteht somit schließlich in der Konzeption eines philosophischen Gottesbegriffes, in dem der im Glauben erfahrene Zusammenfall von Verborgenheit und Allgegenwart aus der Wesensbestimmung Gottes selbst heraus als notwendig begriffen werden kann. Das Offenbare Geheimnis ist jener ursprünglich von der Glaubenserfahrung der Reflexion des Denkens geschenkte Gottesbegriff. Die Annahme dieser Vor-Gabe beantwortet das Denken damit, dass es dem Glauben einen Weg aus seiner Ausgangsaporie weist. Dies vermag das Denken, indem es die in diesem Gottesbegriff implizit enthaltenen Bestimmungen ausdrücklich als solche thematisiert. In den im folgenden nachzuzeichnenden Gedanken, mit denen Cusanus die Offenbarkeit des im Glauben angenommenen Geheimnisses philosophisch vergewissert, bleibt der Glaube aber nicht nur als Ursprung und Ziel, sondern auch als die innere Mitte aller Überlegungen maßgeblich, denn er bestimmt den methodischen Ansatz der begrifflichen Reflexion auf das offenbare Geheimnis: Dem Verständnis des Glaubensaktes als Verhältnis des individuellen Menschen zu Gott entsprechend bestimmt Cusanus die Dimensionen der Offenbarkeit des Geheimnisses, indem er nach den Voraussetzungen dafür fragt, dass der Mensch den verborgenen Gott erkennen kann. Deshalb setzt der Aufweis Gottes als des offen-
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Gott als das offenbare Geheimnis
baren Geheimnisses mit einer Reflexion auf die Wesensbestimmungen des gottsuchenden Menschen als des Empfängers der Selbstoffenbarung des Geheimnisses ein.16 16
Die Tatsache, dass Cusanus hier aus einer glaubensimmanenten Notwendigkeit heraus die transzendentalphilosophische Methode der neuzeitlichen Philosophie vorwegnimmt, die Bestimmtheit des philosophischen Denkens durch den Glauben aber das Spezifikum mittelalterlicher Philosophie ist, zeigt, dass eine alternative Zuordnung des Cusanus zu Mittelalter oder Neuzeit diesem Denker nie gerecht werden kann, dass er vielmehr eine Gestalt ist, an der diese Epocheneinteilung in ihrer plakativen Oberflächlichkeit überhaupt fragwürdig wird. - Die hier in ihrer Konzentration auf die Thematik dieses Beitrages behandelte spezifisch cusanische Verhältnisbestimmung von Glauben und Denken ist von verschiedenen anderen Quellentexten her dargelegt und an einzelnen theologischen Daten exemplifiziert in folgenden Aufsätzen des Verfassers: M. THURNER, Trinität als Grund-Erfahrung des Menschen nach Nikolaus von Kues, in: Münchener Theologische Zeitschrift 47 (1996), 345-363, hier: 345-347. - Ders., Kirche als , congregatio multorum in uno' nach Nikolaus von Kues. Versuch einer transzendentalphilosophischen Deduktion, in: Für euch Bischof, mit euch Christ. Festschrift für Friedrich Kardinal Wetter zum siebzigsten Geburtstag, hg. v. M. Weitlauff und P. Neuner (St.Ottilien 1998) 485510, hier: 490-500. - Ders., Die Einheit von Selbst-, Welt- und Gottesbezug nach Nikolaus von Kues, in: Die Einheit der Person. Beiträge zur Anthropologie des Mittelalters, hg. v. M. Thurner (Stuttgart u.a. 1998) 373-397, hier: 376-378. - Ders., Theologische Unendlichkeitsspekulation als endlicher Weltentwurf. Der menschliche Selbstvollzug im Aenigma des Globusspiels bei Nikolaus von Kues, in: MFCG 27 (2001), hier: der Abschnitt .Theologie als Spiel'.
2 Die freie Erschaffung des Menschen als Grund für die Selbstoffenbarung des Geheimnisses
2.1 Die Gotteserkenntnis als Wesensbestimmung des Menschen und ihre Verwirklichung unter den Bedingungen der Endlichkeit Ihrem Ursprung aus dem Glaubensvollzug entsprechend steht am Anfang der philosophischen Reflexion auf das offenbare Geheimnis ein theologisches GrundDatum, aus dessen Voraus-Setzung alles weitere mit innerer Notwendigkeit folgt. Bezeichnenderweise fuhrt Cusanus zu Beginn seiner religionsphilosophischen Schrift ,De pace fidei' diese theologische Vor-Gabe bereits in ihrer philosophischen Umsetzung ein: Herr, König des Alls, was hat jedes Geschöpf, das du ihm nicht gegeben hast? Es gefiel dir, den aus dem Lehm der Erde geformten Leib des Menschen mit dem Verstandesgeist (spiritu rationali) zu beleben, auf dass in ihm das Ebenbild deiner unaussprechlichen Kraft widerstrahle. 1
In der biblischen Aussage von der Erschaffung des Menschen nach dem Bild Gottes2 artikuliert sich die religiöse Grund-Erfahrung der ursprünglichen und wesenhaften Bezogenheit des Menschen auf Gott. In der philosophischen Reflexion derselben greift Cusanus die philosophische Wesensbestimmung des Menschen als vernunftbegabtes Lebewesen 3 auf und modifiziert sie unter dem Anspruch eben dieser Glaubenserfahrung. In der Deutung der Schöpfung des Ebenbildes als Einhauchung des Verstandesgeistes wird die Gottebenbildlichkeit des Menschen als die Befähigung zur Gotteserkenntnis begriffen, zugleich aber die
' De pace l : h V I I , N . 3, Z. 2-5. Gen 1 , 2 6 .
2 3
V g l . ARISTOTELES, Politik
1 2 5 3 a 9.
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menschliche Erkenntniskapazität auf den Gottesbezug hin finalisiert: Für den Menschen ist die notitia dei die ultimitas perfectionist Bei der Konzeption der Weise, wie der Mensch das ihm mit seiner Gottebenbildlichkeit eingestiftete Ziel der Gotteserkenntnis erreichen kann, wird nun ein zweites Wesensmoment des theologischen Datums der Geschöpflichkeit des Menschen bestimmend, das demjenigen der Nähe zu Gott gleichursprünglich komplementär ist: In der Aussage, dass dem Menschen sein Wesen aus dem Gottesbezug mitgeteilt wird, ist zugleich die Differenz zum unverursachten Sein Gottes und damit die Distanz zwischen Schöpfer und Geschöpf benannt. Die in der Sprache der Bibel im Bild der Herkunft des Leibes aus dem Staub der Erde zum Ausdruck gebrachte Endlichkeit des Menschen wird von Cusanus philosophisch als die Verwiesenheit seiner geistigen Erkenntnis auf die Vermittlung durch die Sinnlichkeit reflektiert.5 Für die in der Gotteserkenntnis bestehende Zielbestimmung des Menschen hat diese Strukturgesetzlichkeit der endlichen Intellektnatur nun weittragende Konsequenzen: Zunächst vermochte der Mensch Gott nicht zu erreichen, der dem Menschen unsichtbar ist, da er weder ihn selbst noch seine Gestalt sehen oder seine Stimme hören konnte.6 Da aber Gott sein Schöpfungswerk zu dem ihm eingestifteten guten Ziel führt, sah er im Schöpfungsplan die Möglichkeit vor, den Menschen in seiner leibgebundenen Endlichkeit zur Erkenntnis seines Ursprungs zu fuhren: Und obwohl jener Vernunftgeist, der in die Erde gesät und von Schatten umnachtet ist, das Licht und die Herkunft seines Anfangs nicht sieht, hast du ihm dennoch alles anerschaffen, durch das er [...] einmal zu dir, dem Schöpfer von allem, die Augen des Geistes zu erheben vermag.7
Aus den Erfordernissen des endlichen Erkenntnisvollzuges ergibt sich somit die Notwendigkeit einer über die Erschaffung des Gottebenbildes hinausgehenden schöpferischen Wirksamkeit, in der Gott für den Menschen in ihm zugänglichen Kategorien erscheint: Wir behaupten, dass es das, was zu unserer Erkenntnis gelangt, gibt. Was uns aber in keiner Weise erscheint, von dem begreifen wir nicht, dass es ist. Alle Dinge sind Erscheinungen oder bestimmte Lichter. Weil aber der Vater und die Quelle des Lichtes einer ist, sind alle Dinge Erscheinungen des einen Gottes, [...] auf dass er sich so zeige. 8
4
De fil. 1: h IV, N. 52, Z. 4f. Vgl. De pace 2: h VII, N. 7, Z. 5-9. 6 Sermo CLIV ,Vere filius dei erat iste': Ρ II, fol. 84v. 1 De pace 1:N.3,Z. 7-10. 8 De dato 4: h IV, Ν. 108, Z. 5 - Ν. 109, Z. 4. 5
Die freie Erschaffung des Menschen
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Die Erschaffung des Menschen wird so zum Grund dafür, dass der verborgene Gott sein Geheimnis als der Vater der Lichter offenbar macht.
2.2 Das Gleichnis von dem seine Reichtümer offenbarenden König Der ursächliche Zusammenhang zwischen der schöpfungsmäßigen Konstitution der endlichen Intellektnatur und der Selbstoffenbarung Gottes in seiner lichthaften Erscheinung wird von Cusanus durch das vor allem in seinen Predigten an zahlreichen Stellen anzutreffende Gleichnis von einem seine Reichtümer zeigenden König versinnbildlicht. Auf seiner Bildebene erweckt dieses Gleichnis zunächst den Eindruck, dass nicht - wie oben behauptet - die Erschaffung des Menschen der Grund für die Selbstoffenbarung Gottes ist, sondern vielmehr eine (fast im hegelschen Sinne) für Gott wesensnotwendige Offenbarung der Grund für die Erschaffung der endlichen Intellektnatur ist: Gott hat alles zur Offenbarung seiner Herrlichkeit geschaffen. Da nämlich ein unbekannter König in seiner Herrlichkeit ebensowenig als König angesehen werden könnte wie jemand, der gar kein König ist, und da er weder Ehre noch Huldigung erfahren dürfte, richtet er sein ganzes Bemühen darauf, seine Macht und Herrlichkeit sichtbar werden zu lassen, um dadurch als bedeutsam erkannt, geehrt und verherrlicht zu werden. Seine Herrlichkeit wird aber nur den Einsichtigen (intelligentibus) geoffenbart. So hat Gott, um erkannt zu werden, die vernunftbegabten Geschöpfe erschaffen, die in der Lage sind, über Herrlichkeit und Wahrheit zu entscheiden, und um ihretwillen alle niedrigeren Geschöpfe; um seiner selbst willen nämlich hat er alles bewirkt. 9
Die den Vergleich auf seinen gedanklichen Gehalt hin auslegende letzte Aussage, dass Gott alles um seiner selbst willen bewirkt hat, scheint die Interpretation im Sinne einer für Gottes Wesensverwirklichung notwendigen Selbstoffenbarung abschließend zu bestätigen. Wenn man aber die Herkunft dieses Satzes aus den biblischen Schriften10 berücksichtigt und ihn in der Bedeutung versteht, die Cusanus ihm dementsprechend in anderen Kontexten gibt, kann deutlich gemacht werden, dass er die gegenteilige Auffassung von Offenbarung beinhaltet. 9 Crib. Alk. II, 16: h VIII, N. 133, Z. 3-10. - Vgl. auch die Parallele in Sermo CLIV ,Vere filius dei erat iste': Ρ II, fol. 84 v : ...deus [...] voluit divitias suas communicare et notas facere. Et in hoc homo est finis creaturarum, quia habet intellectum, qui est capax notitiae, quam deus ut noscatur creavit [...] quanto regis gloria notior, tanto rex gloriosior; ignotus rex non differt a non rege. 10
Spr 16, 4.
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Gott als das offenbare Geheimnis
2.3 Die Koinzidenz der Finalitäten im Offenbarungsgeschehen Der Gedankenzusammenhang des Königsgleichnisses wird von Cusanus auch in einer anderen Formulierung vermittelt: Du musst zuerst beachten, dass eines der erste Ursprung ist [...]; von ihm aus geht alles ins Sein hervor, damit er sich selbst offenbare. [...] Der Schöpfer also macht sich zum Ziel seiner Werke, damit seine Herrlichkeit offenbar werde, und deshalb erschafft er Substanzen, die mit Erkenntniskraft begabt sind, damit sie seine Wahrheit sehen können, und ihnen zeigt sich der Schöpfer in der Weise, in der sie ihn erfassen können, als sichtbaren. Dieses zu wissen ist das erste; in ihm ist eingefaltet alles, was zu sagen ist."
Hier sagt Cusanus inhaltlich dasselbe wie im zuletzt zitierten Text, modifiziert aber an einer Stelle die Wortwahl in einer Weise, die für das Verständnis des Gedankens entscheidend ist: Das Schriftwort von der Selbstursächlichkeit Gottes fur alle seine Werke umschreibt er hier in der Aussage, dass der Schöpfer sich zum Ziel seiner Werke macht. Dem Prinzip entsprechend, dass das Ziel der Schöpfung derselbe ist wie auch ihr Ursprung,11 versteht Cusanus beide Aussagen als inhaltlich komplementär: Er selbst ist das Ziel seines Werkes, der um seiner selbst willen alles bewirkt hat.13 Bestimmend wird nun, dass er diese Übereinstimmung als Grund für die Vollendung von Gottes Werk begreift: Gott hat um seiner selbst willen alles geschaffen, und nicht am größten und vollkommensten, wenn nicht die Allheit auf sich selbst hin.14 Im Gedanken, dass Gottes Werk in der Ausrichtung auf ihn zugleich seine Vollendung erreicht, ist impliziert, wie sich im Bezug auf den einen vollkommenen Schöpfer die Begründungen ,um seiner selbst willen' oder ,für das Geschöpf nicht ausschließen, sondern in einem Bedingungsverhältnis zueinander stehen. Schon in seiner ersten Predigt (1430) wird die durch die Schriftautorität verbürgte Tatsache, dass Gott alles um seiner selbst willen macht, von Cusanus als die Voraussetzung dafür begriffen, dass Gott sich dem Menschen als Ziel geben kann: Gott hat um seinetwillen alles erschaffen, damit ein jedes Geschöpf sein bestes Ziel habe. Zuletzt aber erschuf Gott den Menschen, in dem gleichsam die Vollendung und die Vollkommenheit der Geschöpfe besteht. Die Vollendung des Menschen aber ist in Gott. So ist jedes Geschöpf durch den Menschen auf Gott hingeordnet. Deshalb erschuf der Gott der unaussprechlichen Treue den Menschen zum Schluss und schmückte ihn " De beryl. 3: h 2 XI/1, N. 4, Z. 1-9. Brief an Albergati (ed. BREDOW in: CT IV/3) 26, 16 (N. 3, Z. 2f). 13 De dato 2: h IV, N. 103, Z. lf. 14 Sermo XXII ,Dies sanctificatus': h XVI, N. 32, Z. 2-4.
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Die freie Erschaffung des Menschen
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mit Geschenken - dem freien Willen und dem Verstand - , damit er durch den Verstand seine Herkunft und seinen Schöpfer erkenne. 15
Versteht man diesem Text gemäß die Selbstbezüglichkeit der Werke Gottes in der Bedeutung, die sie für den Menschen hat, so wird ersichtlich, dass die Selbstoffenbarung Gottes nicht für die Selbstverwirklichung Gottes notwendig ist, sondern vielmehr in der Bezogenheit auf die Vollendung der Wesenswirklichkeit des Menschen ihren Sinn hat. Die dem Offenbarungsgeschehen wesenseigene Koinzidenz der Finalitäten (,um seiner selbst willen' / ,fur den Menschen') macht Cusanus an einer Stelle unmissverständlich, in der er zugleich zum Ausdruck bringt, was sie für den Menschen bedeutet: Denn Gott ,hat alles um seinetwillen geschaffen'. Und weil die ewige „Weisheit" selbst den „Tempel" der vernunftbegabten Kreatur „sich gebaut hat"16, in dessen Mitte zu wohnen sie sich erfreut, so kann die vernunftbegabte Kreatur selbst, indem sie der schöpferischen Weisheit anhängt, die Labung jener überhimmlischen Weisheit verkosten. 17
Indem und nur wenn Gott alles auf nichts anderes als sich selbst als Ziel ausrichtet, eröffnet er der geschaffenen Intellektnatur die Möglichkeit, die Grenzen der eigenen Endlichkeit in einer Erfahrung zu übersteigen, die für den Menschen höchste Erfüllung ist.
2.4 Die tiefere Sinnerfullung der menschlichen Vernunftbegabung im Offenbarungsgeschehen Die Koinzidenz der Finalitäten im Offenbarungsgeschehen bedeutet somit auf ihrer tiefsten Sinnebene, dass Gott selbst sich daran freut, dem Menschen durch die Offenbarung der unerschöpflichen Fülle seines Wesens die glückhafte Vollendung zu schenken. In einer Predigtstelle, die alle in den bisher dargelegten Gedankengängen reflektierten Zusammenhänge vertieft, benennt Cusanus das Glück des Menschen ausdrücklich als das innere Ziel der Offenbarung: Gott will nämlich erkannt werden; so sind um dessentwillen alle Dinge; und dazu ist der Mensch erschaffen. Und weil es sich so verhält, dass der Mensch geschaffen ist, damit er Gott erkenne, rührt von daher das Glück. [...] Das höchste Gut des Menschen 15
Sermo I ,In principio erat Verbum': h XVI, N. 15, Z. 1-11. 1 Kor 13, 12. " Sermo XXI .Intrantes domum': h XVI, N. 3, Z. 6-12. 16
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Gott als das offenbare Geheimnis besteht in der Erkenntnis des Schöpfers. Nichts anderes ist die Offenbarung (ostensio) der Herrlichkeit Gottes, als die Offenbarung jeden Gutes. Von daher streben alle Menschen von Natur aus nach Wissen, weil sie dazu in die Welt gekommen sind, auf dass sie Gott suchen und erkennen. [...] Der Mensch ist nämlich dazu geschaffen, dass ihm die Reichtümer der Herrlichkeit Gottes bekannt werden, und zum Lob der Herrlichkeit Gottes. So hat deshalb unser Gott auf diese bestmögliche Weise alles geordnet, durch die er die Reichtümer seiner Herrlichkeit offenbare.18
Cusanus erreicht hier eine tiefere Begründung des Offenbarungsgeschehens, indem er die von Aristoteles19 geprägte philosophische Bestimmung des Menschen als desjenigen Wesens, das von Natur aus nach Wissen strebt, aus ihrer Bedeutung innerhalb des religiösen Glaubensvollzuges versteht. Zunächst wird darin das bisher erreichte gedankliche Ergebnis, wonach im Offenbarungsgeschehen die Wirksamkeit Gottes auf sich selbst hin mit derjenigen für den Menschen zusammenfällt, aus der Wesensbestimmung des Menschen selbst heraus abgeleitet; damit wird zugleich bestätigt, dass die Selbstoffenbarung Gottes für die Vollendung der Wesens Wirklichkeit des Menschen und nicht derjenigen Gottes notwendig ist: Weil es das innerste Verlangen des Menschen ist, Gott erkennend als Ziel zu erreichen, gewährt Gott dem Menschen diese Erfüllung, indem er alles um seinetwillen macht. Sodann erschließt die Integration dieses Aristoteles-Zitates in einen das Offenbarungsgeschehen reflektierenden Gedankenzusammenhang den tieferen Sinn der Vernunftbegabung des Menschen selbst: Sie hat den Zweck, dem Menschen jenen Gottesbezug zu ermöglichen, der ihm von Gott her im Glauben eröffnet wird. Diese in der Ausrichtung auf den Gott des Glaubens bestehende Zweckbestimmtheit der Vernunft wird von Cusanus so fundamental gedacht, dass er von daher an anderer Stelle die aristotelische Aussage sinngemäß dahingehend modifiziert, dass alle Menschen von Natur aus nach Nichtwissen streben.20 Dem cusanischen Grund-Gedanken der docta ignorantia entsprechend folgt diese Umdeutung aus der Einsicht, dass der unendliche Zielgrund menschlichen Wissens seine endliche Kapazität übersteigt und demzufolge der geschaffene Intellekt seinen Zweck nur dann erfüllen kann, wenn er sich seinerseits in eine erfahrungshafite Gottunmittelbarkeit hinein aufhebt. Da ein derartiges Erleben mit dem Glaubensglück identisch ist, erweist sich dieses als das eigentliche Ziel der Vernunft. Im Kontext dieses Gedankens erschließt sich endlich der tiefere Sinn des von Aristoteles für den auf das Wissen hin ausgerichteten Wesensvollzug des Menschen gewählten Verbums: Das aristotelische ,Streben' (ορέγονται) wird bei 18
Sermo CLXXXVII ,Spiritus autem paraclitus': Ρ II, fol. 103rf. Metaphysik 980 a 21. 20 Vgl. De ven. sap. 12: h XII, N. 32, Z. 10-15. 19
Die freie Erschaffung des Menschen
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Cusanus mit, Sehnen' (desiderant) wiedergegeben und so als Moment im religiösen Grundakt des Verlangens nach der im Glauben geschenkten erfahrungshaften Gottesbegegnung begriffen. Der philosophische Bedeutungsgehalt des Begriffes , Streben' wird für Cusanus schließlich zum Ausgangspunkt fur die Vergewisserung des tiefsten Grundes des Offenbarungsgeschehens: Der philosophischen Tradition entsprechend, nach der das, wonach alle streben, das Gute ist,21 führt auch Cusanus im zuletzt zitierten Text das Aristoteles-Zitat in Bezug auf das höchste Gut des Menschen ein; für die Bestimmung dieses höchsten Gutes als die Erkenntnis des Schöpfers gibt Cusanus eine Begründung, in der er den Offenbarungsgott selbst mit der Quelle jeden Gutes identifiziert: Nec alia est ostensio gloriae dei, quod ostensio omnis boni. Die philosophische Bestimmung des Guten wird infolge für Cusanus zum zentralen Begriff in der Reflexion auf das Wesen des Offenbarungsgottes.
2.5 Die Gutheit Gottes als der tiefste Grund des Offenbarungsgeschehens Die Gutheit Gottes entdeckt Cusanus schließlich als den tiefsten Grund des in den bisherigen Gedankengängen in seiner Vielschichtigkeit bewusst gemachten Offenbarungsgeschehens, das sich in der Konzentration auf diese seine Mitte folgendermaßen darstellt: Gott hat alles um seiner selbst willen gemacht, damit er die Reichtümer der Herrlichkeit bekannt mache, und das, weil er gut ist. Die Natur des Guten verhält sich so, dass sie sich selbst verströmt (quod est suiipsius diffusiva). Weil es das Gute ist, ist es bestrebt, sich zu vervielfältigen. So vervielfältigt es sich, damit es das Nicht-Gute in die Gemeinschaft mit seiner Gutheit anzieht. [...] Gott hat eine Natur erschaffen, die am meisten an seiner Gutheit teilhat, nämlich die vernunftbegabte; darin, dass sie freien Willen hat, ist sie dem Schöpfer am ähnlichsten und ist so gleichsam ein zweiter Gott. In dieser Natur wollte Gott seine Reichtümer am meisten offenbaren. Wir sehen, wie die Vernunft alles umgreift und sich angleicht und aus sich angleichende Künste hervorbringt wie Handwerk und Malerei. Diese vernunftbegabte Natur vermag Gott zu empfangen (capax est dei), weil sie der Möglichkeit nach unendlich ist; sie kann nämlich immer mehr und mehr erkennen. Weil erkennen bedeutet, in sich zusammenzufassen, fasst diese Natur alles in sich zusammen und umgreift das All. [...] Diese Natur ist das Ziel der Schöpfung, denn alles ist um Gottes willen, aber Gott zu sehen und ihn zu verkosten vermag
21
nr.
Vgl.
317.
ARISTOTELES,
Nikomachische Ethik
1094
a
3. THOMAS VON AQUIN,
In II. Met. IV,
34
Gott als das offenbare Geheimnis keine Natur außer der vernunftbegabten. Diese kann ihrer Natur nach sich selbst erheben, damit sie die Wesenheit der Dinge sehe und in sich zusammenfasse, in denen sie die ausgeflossene Gutheit Gottes erfasst, die die Wesenheit der Wesenheiten ist.22
Anhand dieses Textes kann die Interpretation der bisher analysierten Aussagen zur Zielbestimmung der Offenbarung im Sinne einer Koinzidenz der Finalitäten (,um seiner selbst willen' / ,für den Menschen') deshalb vertieft werden, weil Cusanus in der Bestimmung Gottes als des Guten gleichsam die gedankliche Begründung dafür bietet. An der hier eingangs aufgegriffenen traditionellen philosophischen Definition des Guten als desjenigen, was sich selbst verströmt,23 wird einsichtig, dass die Wirksamkeit auf sich selbst hin mit der auf den Menschen ausgerichteten bei Gott deshalb zusammenfallt, weil er der Natur seiner Gutheit entspricht, wenn er sich dem Menschen gibt.
2.6 Offenbarung als Selbstmitteilung Im Fortgang der Argumentation zeigt Cusanus auf, was die in der Offenbarung dem Menschen zuteil werdende Wirksamkeit Gottes für den Menschen bedeutet, indem er aus der philosophischen Begriffsbestimmung des Guten das Teilmoment herausgreift, dass es nichts anderes als sich selbst gibt. Weil das Gute sein eigenes Wesen mitteilt und so ein jedes, das es aufnimmt, sich angleicht, erhebt die als Selbst-Mitteilung Gottes begriffene Offenbarung ihren Empfanger in die Gemeinschaft mit Gott. In seiner Selbstoffenbarung intendiert und bewirkt Gott die Vergöttlichung des Menschen; wie seine Benennung als zweiter Gott vermittelt, wird der Mensch darin nie Gott gleich, sondern vielmehr ihm in potentieller Unendlichkeit weitestmöglich angenähert. Dieses, im Offenbarungsgeschehen von Gott selbst her dem Wesen des Menschen mitgeteilte, unmittelbare Gottesverhältnis reflektiert Cusanus in der Identifikation des Menschen mit jener Natur, die am meisten an Gottes Gutheit teilhat. In diesen Zusammenhang sieht Cusanus nun die Erkenntnisfahigkeit des Menschen eingefügt. Die von Gott zum höchsten Grad der Wesensgemeinschaft mit 22
Sermo CLXVIII ,Pax hominibus': Ρ II, fol. 89r. - Vgl. auch die Kurzfassung dieses Gedankens in Sermo CLXIX ,Ubi venit plenitudo temporis': Ρ II, fol. 89v: Quia deus volens ostendere divitias gloriae suae, quia bonus, creavit omnia propter intellectualem naturam, ut pulchre in Genesi revelatur, quomodo omnibus creatis praeposuit hominem, in quo posuit vivam imaginem via inspirationis. 23 Vgl. dazu die Quellenangaben zur Formel Optimum est sui ispius diffusivum (De dato 2: h IV, N. 97, Z. 12) im Apparat der Opera omnia h IV, 72.
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ihm erhobene Natur ist von ihm deshalb als vernunftbegabte erschaffen worden, weil er in dieser die Reichtümer seiner Herrlichkeit am meisten offenbaren wollte. Die Befähigung der Intellektnatur, alles zu umgreifen und in sich zusammenzufassen, hat nach Cusanus den tieferen Sinn, den Menschen für die Selbstmitteilung Gottes aufriahmefähig zu machen. In der Reflexion auf das Offenbarungsgeschehen entdeckt Cusanus die Wirksamkeit der Vernunft, die allgemeinen Wesensbestimmungen aus den konkreten Einzeldingen zu abstrahieren und diese auf ihren letzten Grund zurückzufuhren, als Befähigung, die Selbstmitteilung der göttlichen Gutheit zu empfangen. Wie es die Vernunftbegabung ist, die den Menschen in ihrer potentiellen Unendlichkeit zur höchsten Stufe der Ähnlichkeit zum Schöpfer anzunähern vermag, begründet Cusanus darin, dass sie ihrer Natur nach sich selbst erheben kann, um die Wesenheit der Dinge zu sehen und in sich zusammenzufassen, in denen sie die ausgeflossene Gutheit Gottes erfasst, die die Wesenheit der Wesenheiten ist. Die allein der Intellektnatur zukommende Eigenschaft, Gott sehen und ihn verkosten zu können, führt Cusanus schließlich darauf zurück, dass sie vom alles um seiner selbst willen bewirkenden Gott zu diesem Zweck erschaffen worden ist. Damit macht er in diesem Gedankenzusammenhang bewusst, wie der Sinn der Vernunft in ihrem Rückbezug auf ein Offenbarungsgeschehen verborgen liegt, dessen Grund die absolute Gutheit Gottes ist.
2.7 Das ,Ohne Warum' der Offenbarung In der spekulativen Identifikation des Offenbarungsgottes mit dem Begriff des Guten ist nun die letzte Antwort auf die Frage nach dem , Warum' der Offenbarung gefunden: Unser Gott ist auf absolute Weise die unendliche Kraft vollkommen in Wirklichkeit, die, wenn sie sich aus der Natur ihrer Gutheit offenbaren (manifestare) will, verschiedene Lichter aus sich herabsteigen lässt, die Erscheinungen Gottes (theophaniae) genannt werden. In all diesen Lichtem macht er die Reichtümer des Lichtes seiner Herrlichkeit bekannt. 24
Ihre ursächliche Rückführung auf die Gutheit Gottes ist zugleich auch deshalb für die Wesensbestimmung der Offenbarung aufschlussreich, weil sie sich darin als nicht in einem üblichen Sinn hinterfragbare Ableitung, sondern vielmehr als Gegebenheit ursprünglicher Ordnung erweist. In der Erkenntnis des Guten als Ursprung der Offenbarung wird ein nicht in einem relativen, sondern absoluten Sinn letzter Grund entdeckt, denn der Begründungsregress des Denkens erreicht hier 24
De dato 4: h IV, N. 109, Z. 15-18.
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seine Grenze mit der Einsicht, dass die Offenbarung letztlich ,Ohne Warum' ist. Dies ergibt sich aus der Wesensbestimmung der als Grund der Offenbarung reflektierten Gutheit selbst: Weil das Gute, wenn es sich mitteilt, seiner eigenen Natur entspricht und nicht einem anderen, ihm äußerlich vorgeordneten Grund folgt, hat seine Wirksamkeit ihren Grund in sich selbst und ist daher grund-los. In seinem Versuch, die Gutheit Gottes als den grundlosen Grund der Offenbarung zu begreifen, muss das Denken schließlich die Gegensätze von Bestimmtheit und Freiheit zusammenfallen lassen: Weil das Gute sich wesenhaft als die grundlose Selbstmitteilung bestimmt, ist es in seiner nach außen gerichteten Wirksamkeit auch von innerer Notwendigkeit frei und erweist sich somit als die absolute Freiheit selbst.
2.8 Die Freiheit der Offenbarung Mit der Grundlosigkeit partizipiert das Offenbarungsgeschehen auch an der Freiheit seines Grundes. In den bereits interpretierten Texten ist die äußere Freiheit der Offenbarung im Schriftwort mitgesagt, wonach Gott alles um seiner selbst willen macht; die innere Freiheit der Selbstmitteilung wird von Cusanus zum Ausdruck gebracht, wenn er den Offenbarungsentschluss stets als das Ergebnis von Gottes ihm selbst wohlgefälliger Willensintention darstellt (Dens voluit / deo placuit!).2i In der Aussage, dass alle Werke Gottes keinen anderen Grund (ratio) haben, als dass derjenige, der sie machte, es so wollte,26 ist die Freiheit Gottes angesprochen, denn an anderer Stelle begreift Cusanus die Annahme des freien Willens Gottes als Gegensatz zu der von ihm Piaton und Aristoteles zugeschriebenen Auffassung von der Wesensnotwendigkeit einer Selbstentäußerung für das absolute Prinzip: Für jede Seinsweise ist vielmehr der erste dreieine Ursprung mehr als hinreichend, wenngleich er uneingeschränkt und hocherhaben ist, da er nicht eingeschränkter Ursprung wie die Natur ist, die aufgrund von Notwendigkeit wirkt, sondern Ursprung der Natur selbst und so übernatürlich und frei ist, dass er durch den Willen alles erschafft. [...] Das wussten weder Plato noch Aristoteles. Denn offenkundig glaubte jeder von beiden, die Schöpfervernunft mache alles aus Naturnotwendigkeit, und daraus folgte ihr ganzer Irrtum.27
25 26 27
Vgl. auch De vis. 19: h VI, N. 83, Z. 10-13. De beryl. 30: h 2 XI/1, N. 51, Z. 8-10. De beryl. 24: h 2 XI/1, N. 37, Z. 14 - N . 38, Z. 3.
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Weil Cusanus andernorts die Einsicht, wonach alles Prinzipiierte deshalb ist, weil es dem Prinzip gefällt, darauf zurückfuhrt, dass alles aus der Gutheit des sich selbst verströmenden Ursprungs hervorgeht,28 also im Wesen der göttlichen Gutheit selbst begründet, ist die hier geäußerte Kritik an Piaton und Aristoteles eine indirekte Kritik am Verständnis des Begriffs des Guten in der antiken Philosophie. Cusanus beansprucht, die Einsicht in das Wesen der Gutheit darin vertieft zu haben, dass er die Freiheit als innere Bestimmung der ihrer Natur entsprechenden Selbstmitteilung entdeckte. Weil er die voluntas Gottes als die ratio seiner Werke begreift, denkt Cusanus das Gute in der Grundlosigkeit seiner seinsbegründenden Selbstmitteilung als den Zusammenfall von Freiheit und GrundBestimmung. Wenn er für die Einheit von Willensfreiheit und Begründungsvernunft im Ursprung eine trinitätsphilosophische Begründung gibt,29 erweist er damit zugleich die im christlichen Glauben gegebene Erfahrung des Offenbarungsgottes als Motivationsquelle für diese Vertiefung in der Begriffserfassung des Guten. Weil die Selbstoffenbarung Gottes von ihrem Empfänger als grundloses Freiheitsgeschehen erlebt wird, wird der zur Reflexion des Offenbarungsgeschehens in Anspruch genommene philosophische Begriff des Guten unter dem Anspruch eben dieser Glaubenserfahrung weiterbestimmt.30
2.9 Die in der freien Setzung des Menschen bedingte Notwendigkeit von Offenbarung Die Bestimmungskraft der Glaubensvorgabe der Offenbarung für die Reflexion auf die Freiheit der Selbstmitteilung des Guten konzentriert sich im Erfordernis, entsprechend der Erfahrung des Offenbarungsgeschehens als Beziehung Gottes
28 29
Sermo XIX ,Verbum caro factum est': h XVI, N.13, Z. 22-26.
Vgl. auch Crib. Alk. II, 2: h VIII, N. 92, 8f. Inwiefern die Freiheit der Selbstverströmung des Guten von den nicht-christlichen Philosophen der Antike tatsächlich nicht gedacht wurde, kann hier nicht diskutiert werden. Vgl. zur Problematik des Verhältnisses von freiem Willen und wesensbestimmter Gutheit Gottes im antiken und christlichen Denken: K. KREMER, Das „Warum" der Schöpfung: „quia bonus „ vel / et" quia voluit"? Ein Beitrag zum Verhältnis zwischen Neuplatonismus und Christentum an Hand des Prinzips „bonum est diffusivum sui"; in: Parousia. Festgabe für Johannes Hirschberger, hg. v. K. Flasch (Frankfurt/M. 1965), 2 4 1 - 2 6 4 - sowie speziell zu Plotin: W. BEIERWALTES (Hg.), Geist-Ideen-Freiheit. Plotins Enneaden V 9 und VI 8: Philosophische Bibliothek Meiner 429 (Hamburg 1990). Ders., Piatonismus im Christentum (Frankfurt/M. 1998) 90f. 30
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zum Menschen die Freiheit als Kategorie zu denken, die allein das Verhältnis zwischen Gott und Mensch erfasst. Dies gelingt Cusanus, indem er nur die Erschaffung des Menschen als freien Akt Gottes begreift, jede darüber hinaus gehende Wirksamkeit Gottes nach außen aber mit einer von dieser Setzung bedingten Notwendigkeit erfolgen sieht:31 Weil Gott aus freiem Offenbarungsentschluss sich selbst in seiner wesenhaften Gutheit dem Menschen grundlos mitteilen will, muss er sich ihm in einer der endlichen Intellektnatur zugänglichen Weise zeigen. Alle weiteren Werke Gottes folgen der Zweckbestimmung, den Menschen zu dem ihm von Gott in seiner schöpferischen Freiheit eingestifteten guten Ziel zu fuhren. Die freie Erschaffung des Menschen wird somit von Cusanus als der alleinige Grund für die Selbstoffenbarung des Geheimnisses Gottes begriffen.
2.10 Der Mensch als „sedes seu capacitas ostensionis sapientiae" Die im Offenbarungsglauben vor-gegebene Erfahrung von der allein dem Menschen schöpfungsmäßig eingestifteten unmittelbaren Bezogenheit auf die freie Selbstmitteilung Gottes, wird in ihrer Reflexion bei Cusanus schließlich für eine Vertiefung der traditionellen philosophischen Wesensbestimmung des Menschen bestimmend. Cusanus entdeckt, dass die Vernunftbegabung nicht die primäre Eigenschaft des Menschen ist, weil sie ihm von Gott gegeben wurde, um ihn für seine Selbstmitteilung aufnahmefähig zu machen. Aus der Einsicht heraus, dass der Mensch, ursprünglicher als Vernunftwesen, Empfänger der Offenbarung ist, vertieft Cusanus die klassische Definition32 des Menschen als intellectualis natura in dessen Bestimmung als sedes seu capacitas ostensionis sapientiae'. Aber weil Gott alles in höchster Weisheit wirkt, deshalb erschafft er die vernunftbegabte Natur um seiner selbst willen, damit er seine Weisheit offenbaren (ostendere) kann, weil sie einer anderen Natur als der vernunftbegabten nicht mitteilbar ist. Nichts anderes also ist die vernunftbegabte Natur als der Ort oder die Aufnahmefähigkeit für die Offenbarung der Weisheit.33
Auf dem Hintergrund dieser Zusammenhänge erscheint nun das eingangs problematisierte Königsgleichnis in neuem Licht. Cusanus selbst erzählt es neu, in-
31
Vgl. dazu auch die bereits zitierte Stelle De beryl. 3: h 2 XI/1, N. 4, Z. 1-9.
32
Vgl. ARISTOTELES, Politik
33
Sermo CCVIII ,Induimini Dominum Iesum Christum': h XIX, N. 5, Z. 3-10.
1253 a 9.
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dem er es durch jene Einsichten vertieft begründet, die er in den referierten Gedankengängen g e w o n n e n hat: Da es sich nämlich so verhält, dass Gott absolut gut (optimus) ist, der alles auf das beste Ziel hin erschaffen hat, deshalb „wirkte er", wie Salomon sagt, „um seiner selbst willen". [...] Nur deshalb hat er alles um seiner selbst willen erschaffen, damit er seinen Überfluss mitteilbar mache zu seiner Verherrlichung. [...] Ein unbekannter König, der zurückgezogen lebt, ist nicht mehr König als nicht König. [...] Zumal alle Könige dieser Welt mit höchster Sorgfalt beabsichtigen, ihre Herrlichkeit durch ihre großartigen Werke zu offenbaren (ostendere), so hat der ,König der Könige', von dem sie selbst dies haben, am meisten zu dem Ziel alles gewirkt, dass er seine Herrlichkeit bekannt mache. [...] Da Gott aber seine Herrlichkeit nur jenen Geschöpfen offenbaren (manifestare) kann, die den Geist der Unterscheidung haben und so seine Reichtümer, Kraft, Weisheit und Macht unterscheiden können, [...] deshalb ist alles um der Verstandesgeister willen geschaffen, und sie selbst, damit sie die Herrlichkeit Gottes sehen. Dieses ist also das Ziel der Schöpfung, nämlich die Offenbarung (ostensio) der Herrlichkeit des Schöpfers. Zur Schau der Herrlichkeit Gottes zu gelangen, bedeutet, das Ziel zu erreichen. [...] Alles nämlich hat Gott zur Offenbarung (ostensionem) seiner großen Herrlichkeit gewirkt, und so ist der Grund, warum alle Dinge so sind, wie sie sind, dieser: dass die Herrlichkeit Gottes geoffenbart werde.34 Der entscheidende gedankliche Fortschritt in diesem Text besteht darin, dass die Intention des göttlichen Königs, seine Herrlichkeit offenbar zu machen, hier auf seine absolute Gutheit ( o p t i m i t a s ) zurückgeführt wird. In Gottes wesenhafter Selbstmitteilung ist der Grund dafür gefunden, warum er alles um seiner selbst willen gewirkt hat, nämlich um sich selbst und somit das Beste allem zum Ziel zu geben.
2.11 Die Notwendigkeit des Erkannt-Werdens Gottes als Teilmoment des freien Offenbarungsgeschehens Ein bisher unbeachtetes, aber für das Verständnis des Königsgleichnisses ausschlaggebendes Detail ist es, dass es für den König darauf ankommt, als solcher erkannt zu werden. D e n Sinn dieses Gleichniselements erschließt Cusanus hier aus der Einsicht, wonach die frei-giebige Wirksamkeit Gottes sein Verhältnis allein zum Menschen auszeichnet, das gesamte Offenbarungsgeschehen aber aus
34
Sermo CCIV ,Cum omni militia caelestis exercitus': h XIX, N. 5, Ζ. 1 - N. 7, Z. 4.
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der davon bedingten Notwendigkeit erfolgt, dem Menschen diesen Gottesbezug zu ermöglichen. Die für den göttlichen König wesensbestimmende Intention, in seiner Herrlichkeit erkannt zu werden, fuhrt Cusanus im zitierten Text als Begründung für die Aussage ein, dass alles um der Verstandesgeister willen geschaffen ist, und sie selbst, damit sie die Herrlichkeit Gottes sehen. Unmittelbar danach benennt er zunächst die Offenbarung der Herrlichkeit des Schöpfers als das Ziel der Schöpfung, stellt sodann aber fest, dass dieses Ziel erreicht wird, wenn der Mensch zur Schau der Herrlichkeit Gottes gelangt. In der Reihung beider Argumentationszusammenhänge kommt jeweils zum Ausdruck, wie Cusanus die Notwendigkeit, dass Gott durch die sinnenfällige Offenbarung seiner Herrlichkeit erkannt wird, als inneres Begründungsmoment für die Vollendung der menschlichen Gottesbeziehung begreift. Dass Gott erkannt werden muss, ist deshalb eine vom Menschen her bedingte Notwendigkeit, weil seine Wesensbestimmung in der Vernunftbegabung besteht und so in der Erkenntnis Gottes als des letzten Grundes ihr Ziel erreicht. Das Königsgleichnis ist aus der Perspektive des in der Vernunfterkenntnis seinen Gottesbezug verwirklichenden Menschen zu verstehen. Die Notwendigkeit eines Erkannt-Werdens Gottes erweist sich schließlich auch in einer weiteren Hinsicht als Voraussetzung für die Zentrierung des Offenbarungsgeschehens auf die Vollendung des Menschen: Weil unter den Geschöpfen nur der Mensch von Natur aus erkennt, kann in einer derartigen Begründung einsichtig gemacht werden, warum die Offenbarung allein auf das Gottesverhältnis des Menschen unmittelbar bezogen ist. Alle nicht-menschlichen Geschöpfe sind nur mittelbar, nämlich im Bezug auf den Menschen, in das Offenbarungsgeschehen integriert, sofern sich darin Gott dem Menschen in einer seiner endlichen Intellektnatur zugänglichen Weise zu erkennen gibt. In der abschließenden Aussage des zitierten Textes, wonach der Grund, warum alle Dinge so sind, wie sie sind, die Offenbarung der Herrlichkeit Gottes ist, wird die gesamte nichtmenschliche Wirklichkeit aus dieser ihrer Vermittlungsfunktion für die Gotteserkenntnis des Menschen begriffen. In all diesen Überlegungen konnte einsichtig gemacht werden, dass im Gedanken der Notwendigkeit des Erkannt-Werdens Gottes die Voraussetzung für die Konzeption des Offenbarungsgeschehens als Vollendung der menschlichen Intellektnatur formuliert ist. Dennoch ist damit die eigentliche Problematik des Königsgleichnisses noch nicht gelöst. Diese liegt in der Aussage, dass der göttliche König nicht er selbst wäre, wenn er nicht erkannt werden würde, denn hier wird diese Notwendigkeit offenbar auf Gott selbst bezogen. Es muss also eine Erklärung dafür gefunden werden, warum hier eine Bedingung für die Wesensverwirklichung des Menschen als Wesensmoment der göttlichen Selbstverwirklichung voraus-gesetzt wird. Gerät nicht die gesamte bisher vorgenommene Inter-
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pretation unter den Verdacht, den zitierten Text gewaltsam gegen seine offenkundige Aussage zu verstehen, aus der Tendenz heraus, Cusanus vom hegelschen Gedanken einer notwendigen Selbstexplikation des Absoluten fernzuhalten? Denn offensichtlich setzt Cusanus nicht wie der Interpret bei der Frage nach den Bedingungen der Wesensverwirklichung des Menschen an, sondern kommt erst auf den Menschen zu sprechen, nachdem er die Notwendigkeit des ErkanntWerdens Gottes bereits formuliert hat. Aber gerade ein genauer Blick auf den Argumentationsgang des Textes zeigt, dass Cusanus hier eine Begründungsstruktur in der Ordnung ihrer ontologischen Abstufung nachzeichnet, in der auch die Aussage von der wesenhaften Intention Gottes, erkannt zu werden, nicht das erste Wort ist. Sie folgt vielmehr einer ihr vorausgesetzten Wesensbestimmung Gottes, aus der sich ihr tieferer Sinn begründen lässt: Die in einem absoluten Sinn erste und dementsprechend auch erstgenannte Voraussetzung aller in diesem Text reflektierten Zusammenhänge ist die vollkommene Gutheit Gottes. Der Gedanke von der Notwendigkeit des Erkannt-Werdens des göttlichen Königs kann nur aus seiner Rückgründung in der Wesensbestimmung Gottes als absolute Gutheit angemessen verstanden werden. Und dies bedeutet letztlich eine Rückgründung in der Grund-losigkeit, weil sich das Gute als die nicht bedingte, sondern wesenhafte Selbstmitteilung bestimmt. Die Voraus-setzung der Notwendigkeit des Erkannt-Werdens Gottes als Moment des göttlichen Wesensvollzuges ist somit notwendig, um sie auf die wesenhafte Selbstmitteilung Gottes zurückzuführen und somit als völlig frei denken zu können, denn in der göttlichen Gutheit fallen Grund-Bestimmung und Freiheit zusammen. An anderer Stelle begründet Cusanus die den göttlichen König zu seiner Selbstoffenbarung bestimmende Notwendigkeit, erkannt zu werden, ausdrücklich im (freien) Willen der unendlichen Gutheit Gottes: Siehe, wie Gott das Ziel all seiner Werke ist. [...] Die Vernunft will eingesehen und erkannt werden. Wie aber ein großer König, wenn er in seiner Herrlichkeit nicht erkannt wird, nicht mehr ein König als ein Privatmann ist, so wünscht auch die königliche Hoheit in ihrer Herrlichkeit als König erkannt zu werden. [...] So hat auch die Schöpfervernunft, weil sie unendlich gut ist und erkannt werden will - denn sie ist die unendliche Vernunft -, alles geschaffen, damit sie erkannt, in ihrer Herrlichkeit geschaut und geheiligt werde.35
Dass Gott aus keinem anderen Grund als seiner wesenhaften Gutheit erkannt werden will, hat sich somit als die Voraussetzung dafür erwiesen, dass er sich nur dem mit Vernunft be-gabten Menschen grundlos mitteilen kann, indem er sich ihm in einer der endlichen Intellektnatur zugänglichen Weise offenbart. Die in der 35
Sermo CCXC ,Dum sanctificatus fuero': Ρ II, fol. 188r.
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Notwendigkeit seines Erkannt-Werdens begründete Selbstoffenbarung Gottes entspringt also seiner freien Schöpfungs-Intention, den Menschen das Ziel der Schau seiner Herrlichkeit erreichen zu lassen, und ist somit schließlich als Vermittlungsmoment im Glaubensgeschehen zwischen Mensch und Gott zu verstehen. Die Interpretation der Notwendigkeit des Erkannt-Werdens Gottes als Teilmoment der Glaubensannahme des freien Offenbarungsgeschehens bestätigt sich im Hinblick auf die von Cusanus dafür verwendete Königsmetaphorik, weil diese so in einem ihrem Ursprung entsprechenden Sinn verstanden wird. Cusanus verweist selbst auf die biblische Herkunft des Königsvergleichs, wenn er den darin vermittelten Gedankenzusammenhang - Psalm 83,8 sowie Jesaja 2,10.19 zitierend - als Offenbarmachung (ut manifestior fit) der Lehre des Evangeliums versteht, die als Zweck der Schöpfung aufstellt, dass der „ Gott der Götter auf dem Sion " „ in der Majestät seiner Herrlichkeit" gesehen werde, welche die Offenbarung (ostensio) des Vaters ist, in dem alles Genügen ist.36 Wenn Cusanus den wesenhaften Willen Gottes, erkannt zu werden, - auf Jesaja 35,2, 40,5 und 60,2 anspielend - in seiner Absicht begründet, dass seine Herrlichkeit geoffenbart (manifestetur) werde? reflektiert er damit das Wirken des seine Verheißung in der Aufrichtung seiner endzeitlichen Königsherrschaft einlösenden alttestamentlichen Bundesgottes. Die seine freie Selbstmitteilung letztbegründende Gutheit des göttlichen Königs erweist sich als philosophische Wesensbestimmung des neutestamentlichen Gnadengottes, denn es ist der deus benedictus, der - gemäß Rom 9,23 - „die Reichtümer seiner Herrlichkeit" aus reiner Gutheit offenbart (ostendit), [...] um sich so unter der Natur des Guten zu verströmen und mitteilbar zu machen?*
2.12 Die Liebe Gottes als der Ursprung des Offenbarungsgeschehens Die philosophisch reflektierte Gestalt des Königsgleichnisses wird von Cusanus in einer abschließend zu interpretierenden Textpassage schließlich selbst auf seinen ursprünglichen Sinn im Glaubensgeschehen zurückbezogen:
36
De beryl. 38: h 2XI/1, N. 69, Z. 10-12. De beryl. 3: h 2XI/1, N. 4, Z. 5f. 38 Crib. Alk. II, 4: h VIII, N. 98, Z. 4-9. 37
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Gott hat alles um seiner selbst willen gewirkt, denn er wollte die Reichtümer seiner Herrlichkeit offenbaren (ostendere). Zu diesem Zweck erschuf er die Verstandes- und vernunftbegabte Kreatur, damit er jener die Reichtümer der Herrlichkeit offenbaren konnte, da sie allein die Herrlichkeit Gottes in einem vernunfthaften Schmecken erfassen kann. Denn die wahre und unzerstörbare Herrlichkeit oder Gnade kann nur in der Vernunftnatur den Ort der Offenbarung haben. So offenbart auch ein vornehmer König seine Großartigkeit nur jenen, von denen er glaubt, dass sie einsehen, wie beschaffen die königliche Magnifizenz sein muss. Auch wirft keiner, der wertvolle Edelsteine besitzt, diese den Schweinen vor, sondern breitet diese aus, wo sie (als solche) erkannt werden. [...] Gott wollte, dass der Mensch aufgrund seiner Vernunft das Ziel aller körperlichen Naturen sei, und dass Gott selbst das absolute Ziel aller vernunftbegabten Naturen sei. [...] Und wie ein König nur in der Mitteilung seiner Gnade und Milde erkannt wird, wo er aus reiner Gnade und Barmherzigkeit seinen treuen (fidelem) Diener von der niedersten Stufe zur Gemeinschaft mit sich erhebt, so offenbart er umso mehr die Reichtümer seiner Herrlichkeit, desto mehreren er seine Gnade mitteilen kann. Ebenso wollte Gott den Menschen erschaffen, der der niederste unter den verstandesbegabten Naturen ist, damit er, indem er ihn zur Teilhabe am unendlichen Reich erhebt, auf jede mögliche Weise die Reichtümer seiner höchsten Herrlichkeit offenbare (manifestaret). 39
Diese Predigtstelle erweist sich deshalb als eine Synthese der cusanischen Auffassung von Ursprung und Ziel der Offenbarung, weil Cusanus hier jene drei Sinnebenen zueinander in Beziehung setzt, auf denen diese Frage ihre Antwort findet: die philosophische Reflexion, die Bildsprache der biblischen Gleichnisse und die im Glauben gegebene Gotteserfahrung selbst. Für das Verständnis des Textes ist es entscheidend, dass sich diese Bedeutungsschichten nicht konturlos, sondern im Sinne einer präzisen Zuordnungslogik durchdringen; ihr Verhältnis zueinander besteht darin, dass eine im Sinne der Begründungsordnung spätere und deshalb übergeordnete Ebene auf eine ihr vorausgehend zugrundeliegende als deren Vermittlungsgestalt bezogen ist. Dieser Zuordnungslogik zufolge ist die tiefste Bedeutungsschicht jene, die von einer ursprünglich gegebenen, aber einer weiteren Vermittlung bedürfenden Unmittelbarkeit her bestimmt ist. Dieser Charakterisierung entspricht die Glaubenserfahrung, die auf den folgenden beiden Sinnebenen stufenweise vermittelt wird: In den biblischen Gleichnissen begegnet sie im Medium der bildhaften Veranschaulichung, im philosophischen Denken wird die Schrifttradition begrifflich reflektiert. Die Sinntiefe des Textes lässt sich aufschließen, wenn man bei deren äußerster Vermittlungsebene ansetzt und diese bis auf ihren unmittelbar gegebenen Grund hin durchdringt. Der Gedankengang des Textes beginnt mit einer Reflexion auf die Wesenswirklichkeit Gottes, die - weil mit rationalen Begründungen argumentierend - als 39
Sermo C L X X X V I ,Qui credit in filium dei': Ρ II, fol. 112r.
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eine philosophische zu bestimmen ist. Zunächst wird die Wirksamkeit Gottes auf ihn selbst hin bezogen und aus seinem Willensentschluss heraus begründet, die Reichtümer seiner Herrlichkeit zu offenbaren. Im Hintergrund dieser Aussagen steht die philosophische Bestimmung Gottes als absolute Gutheit; diese begegnet hier aber bereits in ihrer aus der Erfahrung der Freiheit des Glaubensgeschehens motivierten Vertiefung, denn Cusanus führt die wesenhafte Selbstmitteilung der absoluten Gutheit auf einen ausdrücklichen Willensakt Gottes zurück. In der grundlosen Freiheit des göttlichen Offenbarungsentschlusses begründet Cusanus nun die Erschaffung des Menschen. Auch hier bestimmt er es als den Zielgrund der menschlichen Vernunftbegabung, die zu diesem Zweck eigens nach außen hin geoffenbarte innere Seinsfülle Gottes zu erkennen. Über seine andernorts diesbezüglich gemachten Aussagen hinaus berücksichtigt Cusanus in diesem Text aber auch den für die Relation des Intellekts auf Gott wesentlichen Aspekt, dass die unendlichen Reichtümer Gottes von der begrenzten Kapazität endlicher Vernunft nie erschöpfend erfasst werden können. Die Konsequenz aus dieser Einsicht in die Begrenztheit der endlichen Erkenntnis an ihrem eigenen unendlichen Ziel zieht Cusanus, wenn er das Erfassen der Herrlichkeit Gottes als ein vernunfthaftes Schmecken bestimmt. Damit ist zum Ausdruck gebracht, dass die Vernunft ihre Vollendung in der Schau Gottes aufgrund seiner Unbegreiflichkeit nur durch den ekstatischen Selbstüberstieg in eine unmittelbare Erfahrung erreichen kann. Die Funktion der philosophischen Reflexion, die biblische Überlieferung begrifflich zu vermitteln, zeigt sich in diesem Text zunächst daran, wie Cusanus den Gedanken, dass die Erschaffung der gesamten nicht-menschlichen Wirklichkeit in der Ermöglichung der Gotteserkenntnis des Menschen ihren Sinn hat, auf das Gleichnisbild von den kostbaren Perlen zurückbezieht, die niemand den Säuen vorwirft, sondern nur jenen zeigt, die die Fähigkeit haben, ihren Wert zu erkennen.40 In wesentlichen Momenten erweist sich das philosophische Offenbarungskonzept des Cusanus schließlich als interpretierende Auslegung der Gleichnisrede vom göttlichen König. Anhand der Aussagen dieser Predigtpassage kann abschließend deutlich gemacht werden, welche von den Wesenseigenschaften eines Königs Cusanus als Vergleichsmomente für den Offenbarungsgott herausgreift. Wesen und dementsprechende Wirksamkeit des Königs sieht Cusanus weniger in Macht und autoritärer Herrschaft, sondern vielmehr im Besitz eines unvorstellbaren Reichtums verborgener Schätze und in dessen großzügiger Mitteilung. Indem Cusanus hier die Königsmetaphorik mit dem biblischen Gleichnis vom treuen Knecht ausleuchtet,41 der von seinem Herrn in die Gemeinschaft mit ihm aufgenommen wird, deutet er an, dass der göttliche König mit seinen Schätzen nichts 40 41
Matth 7, 6. Matth 25, 45.
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anderes als sich selbst mitteilt und so den Empfanger seines inneren Reichtums in eine personale Beziehung mit sich erhebt. An dieser Stelle wird die Gleichnissprache unmittelbar durchsichtig für die in ihr vermittelte Erfahrung des Glaubensgeschehens. Auf dieser tiefsten, weil unmittelbar erlebten Ebene erweist sich die philosophisch im Begriff der Gutheit reflektierte Großzügigkeit des Gleichniskönigs als die im Glauben erfahrene Gnade Gottes. Indem Cusanus in der grundlosen Mitteilung seiner Gnade, Milde und Barmherzigkeit die eigentliche Wesenswirklichkeit des guten Königs erkennt, identifiziert er ihn mit dem sich aus Liebe offenbarenden christlichen Gott.42 In der Aussage, dass der König umso mehr die Reichtümer seiner Herrlichkeit offenbart, desto mehreren seiner Diener er seine Gnade mitteilt, wird der Gottesbezug des Menschen als der eigentliche Zielgrund des Offenbarungsgeschehens vermittelt. Aus der lateinischen Bezeichnung des die Gnadenmitteilung des Königs empfangenden treuen Dieners als fidelis servus ist herauszuhören, dass dieses Gottesverhältnis des Menschen im Glauben (fides) besteht. Damit wird der Glaube von Cusanus zugleich als die demütige Haltung des Empfangens der sich in der Selbstmitteilung der göttlichen Gutheit grundlos schenkenden Gnade begriffen. Die den Menschen wesenhaft bestimmende Angewiesenheit auf die Selbstoffenbarung Gottes wird von Cusanus aber als die Voraussetzung dafür verstanden, dass Gott den Menschen mit den Reichtümern seiner Herrlichkeit erfüllen und so in die Gemeinschaft mit sich erheben kann. Wie die wesenhafte Verwiesenheit auf die Gnadenmitteilung Gottes den Menschen zugleich bedürftig und reich macht, bringt Cusanus in diesem Text zum Ausdruck, indem er das Gleichnisbild der Erhebung des treuen Knechtes aus der Niedrigkeit in die Gemeinschaft seines Herrn im philosophischen Gedanken reflektiert, dass Gott mit dem Menschen die niederste unter den Geistnaturen (verglichen mit den Engeln) zum Ort seiner Offenbarung (locum ostensionis) bestimmt hat. Sobald der endliche Intellekt begreift, dass er sein Ziel der Gotteserkenntnis nur durch die Vermittlung einer
42
In der ,ekstatischen Liebe Gottes' (vgl. Div. nom. IV 13; ed. Suchla 185,19: έστι δέ και εκστατικός ό ΰεΐος έρως) sieht auch Dionysius den innersten Grund für die Selbstverströmung des Guten: Man muss auch dieses über die Wahrheit zu sagen wagen, dass der alles Verursachende selbst durch die schöne und gute Liebe (έρως) zu Allem aufgrund des Überschwangs seiner liebenden Gutheit aus sich selbst herausgeht in den auf alles Seiende bezogenen fürsorgenden Akten und gleichsam durch Gutheit, Hingabe und Liebe bezaubert wird und sich selbst aus seinem Über-Sein und Über-Allem-Erhaben-Sein zu dem In-Allem-Sein herunterführt gemäß seiner ekstatischen überseienden Kraft, die sich selbst nicht verlässt. (Div. nom. IV 13; ed. Suchla 159,9-14).
46
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sinnlichen Offenbarungsgestalt erreichen kann, erkennt er die gläubige Annahme von Gottes Gnadenmitteilung als seinen Grundvollzug.43 Die Reflexion auf das Offenbarungsgeschehen vollendet sich im Bekenntnis, dass Gott in seiner Selbstmitteilung dem Bedürfnis des Menschen entspricht, ihn vermittelt durch eine endliche Darstellungsgestalt zu vergegenwärtigen: Vergib mir, Barmherziger, dass ich versuche, den undarstellbaren Wohlgeschmack deiner Süßigkeit darzustellen. Wenn schon der Geschmack einer unbekannten Frucht durch kein Bild und keine Darstellung dargestellt werden kann, und durch kein Wort auszudrücken ist, wer bin ich dann, ich armer Sünder, der ich es versuche, dich, den Unzeigbaren zu zeigen, den Unsichtbaren sichtbar darzustellen und deine unendlich unbeschreibliche Süßigkeit schmackhaft zu machen, die zu kosten ich doch niemals verdient habe. Durch das, was ich sage, erniedrige ich sie eher, als das ich sie ehre. Aber deine Gutheit ist so groß, mein Gott, dass du auch Blinde vom Licht reden und das Lob dessen verkünden lässt, von dem sie nichts wissen und nichts wissen können, wenn es ihnen nicht geoffenbart wird (reveletur). 44
In diesem bis in seine Sprachgestalt von der inneren Glaubenserfahrung der Gegenwart Gottes geprägten Text wird das Offenbarungsgeschehen aus der Perspektive des sich seiner Endlichkeit bewusst werdenden Menschen reflektiert. So wird einsichtig, dass Offenbarung dann geschieht, wenn Gott sich vom Menschen in endlicher Darstellungsgestalt vergegenwärtigen lässt. Weil darin der unendliche Gott sich selbst in endliche Kategorien erniedrigt, um den Menschen zur Vollendung seiner Wesenswirklichkeit zu erheben, kann das Offenbarungsgeschehen nicht der Wesensvervollkommnung Gottes dienen: Die grundlose Liebe 43
Als Ausdruck von Gottes Zuwendung zum Menschen wird das Königsgleichnis auch gedeutet von H. PAULI, wenn er es im Sinne einer Distanzierung von einem „theistischen" (gemeint ist wohl v.a. ein deistisches) Gottesverständnisses interpretiert: Dem Kardinal gelingt es mit diesem metaphysischen Erbe, einen theistischen Gottesbegriff als Unbegriff zu entlarven. Ein Gott, der sich nicht um die Welt kümmert, ist eine mythologische Figur, aber eben nicht Gott. So in: Die geistige Welt der Brixner Predigten des Nikolaus von Kues, in: MFCG 22 (1995) 163-186, hier: 182. 44 De vis. 17: h VI, N. 78, Z. 7 - N. 79, Z. 3.
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und Barmherzigkeit Gottes zum Menschen ist der tiefste Grund für die Selbstoffenbarung des Geheimnisses.
3 Dimensionen der Offenbarkeit des Geheimnisses
3.0 Der methodische Ansatz In den Überlegungen des vorhergehenden Abschnittes wurde die Frage nach dem ,Warum' der Offenbarung mit der Einsicht beantwortet, dass die freie Erschaffung des Menschen für Gott zugleich die Entscheidung beinhaltet, sich in einer der endlichen Intellektnatur zugänglichen Weise mitzuteilen. Mit der Erkenntnis der ur-sächlichen Bezogenheit des Offenbarungsgeschehens auf den Menschen wurde zugleich deutlich, wie Cusanus im spezifischen Ansatz seines Konzepts beim Empfänger der Offenbarung der zu reflektierenden Sache selbst entspricht. Diese Ergebnisse bestätigen sich im Hinblick darauf, wie Cusanus die konkreten Gegebenheiten, in denen Gott sich offenbart, näher bestimmt, und zwar sowohl in der Methode wie im Gehalt seiner diesbezüglichen Gedanken. Methodisch geht er in seinen Überlegungen zu den Dimensionen der Offenbarkeit des Geheimnisses Gottes folgendermaßen vor: Die im Glauben vorgegebene Selbsterfahrung des Menschen als gottebenbildliche Kreatur wird von Cusanus in all seinen Gedankengängen als Motivgrund voraus-gesetzt. Um diese theologische Vor-Gabe zum Bezugspunkt der philosophischen Reflexion zu machen, bringt er sie zunächst in der Wesensdefinition des Menschen als endlicher Intellektnatur auf den Begriff. Die konkreten Gegebenheitsweisen der Offenbarung bestimmt Cusanus, indem er nach den Ermöglichungsbedingungen dafür fragt, wie der als endlicher Intellekt begriffene Mensch seinen schöpfungsmäßig eingestifteten Gottesbezug verwirklichen kann.
3.0.1
Der menschliche Intellekt als zu verwirklichende Möglichkeit
In der inhaltlichen Ausfüllung dieser Argumentationsstruktur gibt Cusahus dem Gedanken Gestalt, indem er zunächst die Endlichkeit des Intellekts in der Tatsa-
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Dimensionen der Offenbarkeit des Geheimnisses
che gegeben sieht, dass der Mensch immer mehr erkennen könnte, als er tatsächlich erkennt: Kein Mensch weiß all das, was durch den Menschen gewusst werden kann, denn als Ähnlichkeit der Wahrheit ist die Vernunft keines Menschen derart dem Urbild aller Dinge verbunden, dass sie ihm nicht noch näher verbunden und so noch mehr in ihre Wirklichkeit versetzt werden könnte.1
Diese faktische Begrenztheit in der konkreten Verwirklichung des Intellekts führt Cusanus auf die ontologische Bestimmung des menschlichen Geistes als in der Seinsweise der Möglichkeit gegebene Erkenntnisfahigkeit zurück. Der aus der aristotelischen Tradition herkünftige Begriff des möglichen Verstandes2 wird hier aufgegriffen, um darin den inneren Zusammenhang von disproportionaler Verschiedenheit und radikaler Abhängigkeit des Menschen von Gott zu reflektieren. Die den Schöpfer von seiner Kreatur unterscheidende seinsmäßige Überlegenheit wird im Rückgriff auf die aristotelische Terminologie dahingehend bestimmbar, dass Gott anders als der in seiner Endlichkeit begrenzte Mensch die Unendlichkeit aller (seiner) Möglichkeiten auch vollkommen verwirklicht: Unser Gott ist auf absolute Weise die unendliche Kraft ganz und gar in Wirklichkeit,3 Aus dem Begriff Gottes als absolute Wirklichkeit aller Möglichkeiten lässt sich nun auch die kreatürliche Abhängigkeit des Menschen von seinem Schöpfer begründen: Da der Mensch unter den vernunftbegabten Geschöpfen den niedersten Rang einnimmt, sofern er seine Vernunft nur der Möglichkeit nach hat und so einer anderen Verwirklichung bedarf, besteht die seinskonstitutive Wirksamkeit Gottes darin, den menschlichen Intellekt von der Möglichkeit in die Wirklichkeit zu überführen.4 In diesem Gedanken verbindet Cusanus aristotelisch-thomasische Motive zu einer den Erfordernissen seiner Offenbarungskonzeption entsprechenden Synthese: Er greift das Argument auf, wonach etwas, was nur der Möglichkeit nach ist, sich nicht selbst verwirklichen kann; es setzt vielmehr etwas bereits Wirkliches voraus, von dem es dadurch ins Sein versetzt wird, dass dieses seinem Entstehen als angestrebtes Ziel zugrundeliegt. Die Aussage, dass die natürliche Wesenswirklichkeit des Menschen im Streben nach Wissen besteht,5 nimmt Cusanus zum Anlass, von dieser ontologischen Gesetzmäßigkeit her die Konstitution des endlichen Intellekts zu begreifen. Auf dem Hintergrund seines Verständnisses des 1
De vis. 20: h VI, N. 90, Z. 2-5.
2
Vgl. ARISTOTELES, De anima
III, 4ff; 4 2 9 b 31 ff: νοϋς παθητικός; THOMAS VON AQUIN,
In De an. II, 6, nr. 308: intellectuspossibilis. 1 De dato 4: h IV, N. 109, Z. 15. 4 Crib. Alk. II, 16: h VIII, N. 134, Z. lf. 5
Vgl. ARISTOTELES, Metaphysik
9 8 0 a 21.
Der methodische Ansatz
51
Vernunftvollzugs als jenes Momentes im Offenbarungsgeschehen, das den Gottesbezug des Menschen ermöglicht, vertieft Cusanus die aristotelische Zielbestimmung der Wesenswirklichkeit des Menschen dahingehend, dass er als das vom Menschen in seiner Suchbewegung nach Wissen letztlich Angestrebte, Gott hervorhebt. Gott wird damit als jene Wirklichkeit begreifbar, welche die Verwirklichung der dem Menschen zunächst nur in der Seinsweise der Möglichkeit gegebenen Erkenntnisfahigkeit bewirkt. Für den offenbarungsphilosophischen Sinn dieser Erkenntnis ist es nun entscheidend, dass es zur Verwirklichung der menschlichen Intellektnatur nicht ausreicht, wenn Gott ihr nur als anzustrebendes Ziel vorausgesetzt ist, weil dem Menschen aufgrund seiner kreatürlichen Endlichkeit eine unmittelbare Gotteserkenntnis nicht möglich ist. Wenn Gott in seiner freien Schöpfungsintention dem Menschen mit der Vernunftbegabung die Möglichkeit zum Gottesbezug einstiftet, so muss er auch die Voraussetzungen dafür schaffen, dass der Mensch in der Begrenztheit seiner Endlichkeit das angestrebte Ziel der Gotteserkenntnis erreichen kann. Die Ursächlichkeit Gottes für die Verwirklichung des menschlichen Intellekts konkretisiert sich daher in der Mitteilung der Ermöglichungsbedingungen des endlichen Erkenntnisvollzugs. In der Reflexion darauf, welche Voraussetzungen gegeben sein müssen, damit der Mensch sein auf die Gotteserkenntnis finalisiertes Vernunftpotential verwirklichen kann, bestimmt Cusanus die konkreten Gegebenheitsweisen von Offenbarung.
3.0.2
Die Ermöglichungsbedingungen des endlichen Erkenntnisvollzugs
Die in diesem Abschnitt zu behandelnde Thematik hat Cusanus selbst in einer für seine Offenbarungskonzeption zentralen Textpassage 6 aus ihrem inneren systematischen Zusammenhang heraus entfaltet. Die Dimensionen der Offenbarkeit des Geheimnisses Gottes erschließt er hier mittels der soeben skizzierten Argumentationsstruktur. Im Ansatz des entsprechenden Gedankenganges identifiziert er die gemäß biblischer Aussage vom Offenbarungsgott dem Menschen geschenkten Lichter7 mit den Ermöglichungsbedingungen des endlichen Erkenntnisvollzugs: Da unser vernunfthafter Geist die Ruhe nicht erreicht, wenn er mit seiner vernunfthaften Natur nicht denjenigen begreift, den zu begreifen er das vernunfthafte Sein erhalten
6 7
De dato 5: h IV, N. 115, Ζ. 1 - N . 122, Z. 12. Jak. 1, 17-21.
52
Dimensionen der Offenbarkeit des Geheimnisses hat, gewährt ihm der vollendende Geist viele Lichter, damit er von der Kraft seiner Möglichkeit zur Wirklichkeit fortzuschreiten vermag.8
Was Anzahl und inhaltliche Bestimmung der für die Wesensverwirklichung menschlicher Intellektualität notwendigen Offenbarungslichter betrifft, so unterscheidet Cusanus im folgenden drei Dimensionen, in denen sich Gott zur Erleuchtung der endlichen Vernunft mitteilt: Die erste könnte man als die aposteriorisch-objektive Voraussetzung der Erkenntnis bezeichnen: Damit der Mensch aktual erkennen kann, sind zunächst extramentale Erkenntnisgegenstände notwendig, auf die sich die erkennende Tätigkeit des Intellekts ausrichtet. Als erste Stufe der Selbstoffenbarung des Geheimnisses reflektiert Cusanus daher die als Gesamtheit der Erkenntnisobjekte begriffene natürliche Weltwirklichkeit. In der zweiten Dimension seiner lichthaften Offenbarkeit teilt Gott der endlichen Vernunft die apriorisch-subjektiven Bedingungen ihrer Möglichkeit mit: Wie beispielsweise im Falle der sprachlichen Kommunikation der Sinn bestimmter Lautgebilde nur dann begriffen werden kann, wenn deren Hörer bereits die Voraussetzungen mitbringt, diese bestimmte Sprache zu verstehen, müssen auch dem erkennenden Subjekt vorgängig zur aktuellen Erkenntnis Strukturprinzipien gegeben sein, mit deren Hilfe es die extramentalen Erkenntnisobjekte erfassen kann. Dieses geschenkte Erkenntnislicht reflektiert Cusanus als die zweite Stufe der Offenbarung. Aus den Analogien zum Sprachvollzug lässt sich auch die Notwendigkeit einer dritten Dimension der Selbstmitteilung Gottes für die Verwirklichung der endlichen Erkenntnis einsichtig machen: Wie die beim Verstehen der Sprache apriorisch vorausgesetzten grammatikalischen Strukturgesetze auch in einem Lernprozess durch konkrete Beispiele vermittelt werden müssen, bedarf es infolge der wesenhaften Endlichkeit des menschlichen Intellekts ebenso einer zusätzlichen sinnlichen Mitteilung des geschenkten Erkenntnislichtes, damit es der Mensch in immer besserer Weise zur Verwirklichung seines Erkenntnispotentials einsetzen kann. Diese dritte Stufe der Selbstmitteilung des Geheimnisses hat sich nach Cusanus in der biblischen Offenbarung mit ihrer Erfüllung in Jesus Christus ereignet. Die im hier zugrundegelegten Schlüsseltext vorgenommene Dreiteilung der konkreten Gegebenheit von Offenbarung wird von Cusanus an anderen Stellen in Verkürzungen oder Erweiterungen modifiziert. Weil er eine Zweiteilung sowohl in der Unterscheidung zwischen welthafter und prophetischer Offenbarung,9 als auch in der Zuordnung von Erkenntnislicht und biblisch-inkarnatorischer Selbst8 9
De dato 5: h IV, N. 115, Z. 1-4. Vgl. De pace 1: h VII, N. 3, Z. 4 - N . 4, Z. 4.-De
vis. 25: h VI, N.l 18, Z. 10-16.
Der methodische
Ansatz
53
mitteilung Gottes10 gegeben sieht, geht daraus hervor, dass diese Sichtweise die Dreigliederung nicht widerlegt, sondern vielmehr jeweils partiell wiedergibt. In der im Anschluss an Paulus" in einer Predigt12 vorgenommenen Dreiteilung der Offenbarung in Naturgesetz, geschriebenes Gesetz und Gnade liegt insofern eine Modifikation der letzteren Art der Zweiteilung vor, als Paulus mit dem Naturgesetz das allen Menschen als sittliches Apriori eingeschriebene Gewissen meint und in der Unterscheidung von geschriebenem Gesetz und Gnade lediglich die nach Cusanus dritte Dimension der Offenbarung in sich differenziert. Eine von der Systematik des Gedankens her geforderte Ergänzung findet sich bei Cusanus aber in einer Viergliederung des Offenbarungsgeschehens: Die Wahrheit wird in vier Stufen in uns vervollkommnet: Denn etwas, was von weit her uns erscheint, wird zuerst als irgendein Ding wahrgenommen; wenn es näher herankommt wird dann gesehen, dass es sich um ein Lebewesen handelt; wenn es noch näher tritt, wird darauf wahrgenommen, dass dasjenige, was erscheint, ein Mensch ist; und wenn es in unmittelbare Nähe gelangt ist, wird erst erkannt, wer es ist, nämlich entweder der Vater oder der Sohn. Gleich verhält es sich auch bei allem anderen. So erschien die Wahrheit vor dem Gesetz aus der Ferne im verworrenen Sein durch die Natur. Durch den Engel, der [...] das Gesetz darbot, wurde die Wahrheit geoffenbart (revelata est), gleichsam nicht als irgendein Seiendes, sondern als lebendiges. Sodann wurde sie durch den Sohn Gottes noch mehr in ihrer Eigenart geoffenbart, nämlich als Mensch. Es fehlt die vierte Stufe, dass wir ohne Offenbarer sie sehen und erkennen, wie sie ist. Und jene ist die letzte und vollkommene, wo die Vernunftseele in der Vollendung ruht.13
Diese Predigtpassage beinhaltet eine wichtige Vertiefung zum oben referierten Textzusammenhang aus ,De dato patris luminum', weil hier die verschiedenen Dimensionen von Offenbarung als Phasen eines in zeitlichen Kategorien vermittelten Vervollkommnungsprozesses der endlichen Intellektnatur begriffen sind. Hiermit zieht Cusanus die philosophische Konsequenz aus zwei miteinander zusammenhängenden theologischen Vorgaben, die sich aus der Kreatürlichkeit des Menschen ergeben: Weil der Mensch in seiner Endlichkeit der Zeit unterworfen ist, wird die Geschichtlichkeit zu einem bestimmenden Moment seiner Wesensverwirklichung. Damit ist auch der innere Grund dafür angegeben, warum die den Menschen vollendende Offenbarung sich als Heilsgeschichte ereignet. Diese heilsgeschichtliche Dimension der Offenbarung reflektiert Cusanus hier, indem er die Verwirklichung des menschlichen Intellektpotentials durch in zeitlichen Pha10 Vgl. De pace 2: h VII, N. 7, Z. 1-12. Sermo XLVIII ,Dies sanctificatus': h XVII, N. 6, Ζ. 1 - N . 10, Z. 16. 11 Vgl. Rom 2, 14f. 12 Sermo XLXXIX ,Una oblatione consummavit': Ρ II, fol. 99r. 13 Sermo CLXIX ,Ubi venit plenitudo temporis': Ρ II, fol. 89v.
54
Dimensionen der Offenbarkeit des Geheimnisses
sen einander überhöhende Offenbarkeitsstufen der absoluten Wahrheit ermöglicht sieht. In diesem (heils-)geschichtlichen Offenbarungsverständnis kommt die vom endlichen Intellekt in seiner Verwirklichungsbewegung angestrebte Gotteserkenntnis als die ideal-überzeitliche Zielgrenze eines zeitlichen Vollendungsprozesses in den Blick: Die vierte und letzte Dimension der Offenbarkeit des Geheimnisses Gottes wird die eschatologische Vollendung sein.
3.1 Die natürliche Weltwirklichkeit
3.1.1
Die offenbarungsphilosophische Zuordnungslogik von Gott, Mensch und Welt
In der Weise, wie Cusanus im hier auszukommentierenden Schlüsseltext aus ,De dato patris luminum' die natürliche Weltwirklichkeit als erste Dimension der Offenbarkeit des Geheimnisses Gottes bestimmt, sind alle bisher dargelegten zentralen Gedankenzusammenhänge des cusanischen Offenbarungskonzeptes zusammengefasst: Alles, was auch immer geschaffen ist, sind Lichter, um die vernunfthafte Kraft in ihre Wirklichkeit zu versetzen, auf dass sie in dem ihr so geschenkten Licht zum Quell der Lichter vordringe.'
In diesem Satz fuhrt Cusanus die Erschaffung der Gesamtheit aller Dinge auf einen vorletzten und - dadurch vermittelt - auf einen letzten Zweck zurück, den es als den ursprünglichen Grund der Schöpfung zu begreifen gilt. Bereits der Rückgriff auf biblische Redewendungen2 am Schluss des Satzes ist ein Hinweis darauf, dass dieser tiefste Zielgrund der Schöpfung in der Glaubenserfahrung des Gottesbezuges besteht. Ursprung aller weiteren Wirksamkeit Gottes nach außen ist seine freie Entscheidung, den auf die Gemeinschaft mit ihm ausgerichteten Menschen zu erschaffen. Um ihn für seine Selbstmitteilung empfänglich zu machen, be-gabt Gott den Menschen mit Vernunft. Die kreatürliche Endlichkeit des menschlichen Intellekts besteht nun konkret in der mit seiner Leibgebundenheit gegebenen Verwiesenheit auf die sinnliche Wahrnehmung. Diese hat zur Folge, dass der Mensch zu einer unmittelbaren Gotteserkenntnis nicht in der Lage ist.
' De dato 5: h IV, N. 115, Z. 4-7. Vgl. Jak 1, 17-21.
2
Die natürliche Weltwirklichkeit
55
Zur Verwirklichung seiner Grund-Bestimmung ist er darauf angewiesen, dass Gott ihm in einer Weise erscheint, die der menschlichen Begrenztheit zugänglich ist. Die Absicht, dem Menschen unter den Strukturgesetzen seiner endlichen Erkenntnis den Gottesbezug zu ermöglichen, wird deshalb für Gott zum Anlass, zunächst sein geheimnishaft verborgenes inneres Wesen in der Schöpfung der sinnlich wahrnehmbaren natürlichen Weltwirklichkeit nach außen hin zu offenbaren und sodann dem Menschen die Welt als den Ort seines Gottfindens zuzuweisen, denn der Mensch wäre vergeblich mit dem Ziel der Gottsuche in die Welt gesandt worden, wenn diese Welt nicht dem Suchenden nützlich sein würde? Die offenbarungsphilosophische Zuordnung der Größen Gott, Welt und Mensch, besteht darin, dass Gott die Welt erschafft, um sich dem Menschen in sinnlicher Vermittlungsgestalt zu offenbaren: Est igitur mundus creatus, ut in ipso videatur creatorGemäß dieser inneren Logik des Offenbarungsgeschehens verwirklicht der Mensch den ihm schöpfungsmäßig eingestifteten Gottesbezug, indem er durch die Zuwendung zur sinnlichen Weltwirklichkeit deren welttranszendentes Prinzip erkennt, denn Gott hat ihm alles anerschaffen, wodurch er, angeregt durch das Staunen über das, was er mit den Sinnen berührt, das Auge des Geistes zu Gott als dem Schöpfer von allem erhebt und ihm in höchster Liebe wiedervereinigt wird.5 3.1.1.1
Die Welt als , Selbstporträt'
ihres göttlichen
Urbildes
In der Reflexion auf die theologische Bestimmung der Schöpfung als erster Dimension der Offenbarkeit des Geheimnisses Gottes entfaltet Cusanus nun sein philosophisches Weltverständnis. Im Gedanken, dass Gott sich in jedem Geschöpf als das [...] wahrste Urbild zeigt (ostendit),6 ist die gemäß der platonischen Tradition für die Wirklichkeit von Welt ursächliche Urbild-Abbild-Relation als Teilmoment des Offenbarungsgeschehens begriffen. Ebenso wie die seinskonstitutive Wirksamkeit ihres Prinzips hat auch das konkrete Sein der Weltdinge eine Funktion im Offenbarungsprozess, denn dadurch, dass sie sind, bezeugen alle Dinge, dass auch Gott ist, oder vielmehr: weil Gott ist, sind alle Dinge.1 In der Erkenntnis, dass das Geschöpf die Offenbarung (ostensio) des sich selbst begrenzenden Schöpfers oder des sich selbst handgreiflich machenden (manifestantis)
3
De quaer. l : h I V , N . 18, Z. 11-13. De ludo II: h IX, N. 82, Z. 29. 5 De pace 1: h VIII, N. 3, Z. 6-9. 6 De poss. : h XI/2, N. 74, Z. 8f. 7 Deven. sap. 12: h XII, N. 31, Z. 8-10. 4
Dimensionen der Offenbarkeit des Geheimnisses
56
göttlichen Lichtes ist,' wird der handgreiflichen Materialität der Dinge die tiefere Bedeutung zu-erkannt, dem Menschen nichts weniger als Gott nahezubringen. Die offenbarungsphilosophische Bestimmung der Welt als auf die Bedingtheiten der menschlichen Erkenntnis hin ausgerichtete Selbstmanifestation Gottes, vermittelt Cusanus schließlich in einem bedeutungsreichen Gleichnis: Du, Herr, der du alles um deiner selbst willen wirkst, hast diese ganze Welt um der vernunfthaften Natur willen geschaffen, gleich wie ein Maler, der verschiedene Farben mischt, damit er dann sich selbst malen kann zum Ziel, ein Bild seiner selbst zu haben, an dem seine Kunst sich freut und in dem sie ruht. Und weil er selbst als der Eine nicht vervielfältigt werden kann, soll er wenigstens auf eine Weise, in der es möglich ist, in der allernächsten Ähnlichkeit vervielfältigt werden. So macht er viele Gestalten, weil die Ähnlichkeit seiner unendlichen Kraft nur in vielen auf möglichst vollkommene Weise entfaltet werden kann.9
Im Vergleich der Schöpfung mit einem , Selbstporträt Gottes' sind alle wesentlichen Momente des cusanischen Weltverständnisses im Blick auf ihre innere Einheit integriert. In der Bildmetapher wird deutlich, dass die Wirklichkeit der Welt von einer doppelten Relation her bestimmt ist, nämlich der kausalen zu ihrem Urheber, sowie der finalen zu ihrem Betrachter. Damit ist die Vermittlungsfunktion der Welt zwischen Gott und Mensch präzise versinnbildlicht. Wie eine Abbildung den Zweck hat, auf ein darin vergegenwärtigtes Urbild zu zeigen, besteht auch der Sinn der Welt in ihrem Verweischarakter. Indem Cusanus die Bildhaftigkeit der Welt mit derjenigen eines Kunstwerkes vergleicht, deutet er an, dass mit dieser Zweckbestimmung die Schöpfung nicht herabgemindert wird, sondern darin vielmehr der eigentliche Grund ihrer Wertigkeit besteht. Wie die Schönheit Wesensmoment eines jeden Kunstwerks ist, ist auch die Gestalt der Welt von faszinierender Attraktivität. Werthafitigkeit und Schönheit der Welt werden in ihrem Vergleich mit einem Selbstporträt Gottes insofern in unendlicher Steigerung akzentuiert, als daraus hervorgeht, dass es nichts weniger als Gott selbst ist, der sich in der Schöpfung darstellt. Schließlich kommt in diesem Bild-Gleichnis zum Ausdruck, wie Cusanus die ihre Nobilität begründende Gegenwart Gottes in der Welt auf eine Weise denkt, in der die Differenz Gottes zu seiner Schöpfung gewahrt bleibt. Analog dazu, wie ein Bild zwar ganz in der Vergegenwärtigung seines Urbildes besteht, letzteres aber stets davon unterschieden bleibt, versteht Cusanus das Verhältnis von Gott und Welt. Die zwischen einem Bild und dem in ihm Dargestellten bestehende Identität-Differenz-Relation der Ähnlichkeit begreift er als die ontologische Wesensbestimmung der Welt. In der Kunstwerkmetapher wird anschaulich, wie der 8 9
De non aliud, prop. 12: h XIII, S. 63, Z. 4-6 (N.l 18). De vis. 25: h VI, N . l 16, Z. 9-15.
57
Die natürliche Weltwirklichkeit
Ähnlichkeitscharakter der Welt daraus resultiert, dass Gott sich in ihr bei bleibender Differenz darstellt. Wie die Welt trotz der Verschiedenheit zu ihrem Schöpfer eine möglichst angemessene Selbstdarstellung Gottes sein kann, vermittelt Cusanus in einem letzten Detail des Bildgleichnisses: Zumal ein einzelnes Bild deshalb über eine unvollkommene Ähnlichkeit zu seinem Urbild nicht hinausgelangt, weil es dieses immer nur aus einer bestimmten Perspektive darstellt, kommt eine größere Anzahl verschiedener Bilder dem Wesen des Abgebildeten näher. Kann ein Urbild auch in einer unabschließbaren Zahl von Abbildungen nicht erschöpfend dargestellt werden, so ist dies ein Verweis auf seinen unendlichen inneren Wesensreichtum. In diesem Gleichniselement deutet Cusanus die potentiell unendliche innere Vielfalt der Weltwirklichkeit als das Ergebnis von Gottes Intention, seine unbegrenzte Seinsfülle möglichst vollkommen mitzuteilen, denn die nicht zu vervielfältigende Unendlichkeit wird in der mannigfaltigen Aufnahme besser entfaltet, die große Verschiedenheit drückt die Unvervielfältigbarkeit besser aus.'0 Inwieweit Cusanus in dieser prinzipiell positiven Wertung der innerweltlichen Vielfalt über seinen eigenen (neu-)platonischen Horizont hinausgeht, wird nicht zuletzt in der unterschiedlichen Aussageintention deutlich, mit der sowohl Plotin als auch Cusanus auf die Metapher der ,Buntheit' zurückgreifen: Während bei Plotin darin die den Geist vom göttlichen Einen ablenkende Zerstreuung vermittelt ist," versinnbildlichen bei Cusanus die verschiedenen Farben, die der Schöpfer selbst in seiner welthaften Selbstdarstellung mischt, jene der Sinneserkenntnis zugängliche Darstellungsweise, in der Gott sich dem Menschen offenbart. 3.1.1.2
Die Welt als Versichtbarung des unsichtbaren
Gottes
Aus der Wahl der Bildmetaphorik geht indirekt hervor, wie Cusanus die offenbarungsphilosophische Bestimmung der Welt als auf die Bedürfnisse der endlichen Erkenntnis ausgerichtete Selbstmitteilung Gottes in der Konzentration auf die Wahrnehmungsart des Sehens konzipiert. Dementsprechend begründet er die Unfähigkeit des Menschen zu einer unmittelbaren Erkenntnis Gottes in dessen Unsichtbarkeit und sieht die Verwirklichung der endlichen Intellektnatur durch eine sichtbare Selbstvermittlung Gottes ermöglicht. In dieser Einschränkung auf das Sehen reflektiert Cusanus sein Verständnis der Schöpfung als erster Dimension der Offenbarkeit des Geheimnisses Gottes, indem er die Welt als die Versichtbarung des unsichtbaren Gottes begreift.
10 De sap. I: h 2 V, N. 25, Z. lOf. " V g l . z.B. Enn. V 3, 10, 30ff.
58
Dimensionen der Offenbarkeit des Geheimnisses
In einem zentralen Kapitel seiner Schrift Über das Sehen Gottes beantwortet Cusanus die Frage, wo der unsichtbare, ungeschaffene Schöpfer gesehen wird, im Rückgang auf das einem derartigen Weltbegriff zugrundeliegende Gottesverständnis: Du erschienst mir, Herr, einmal als für jedes Geschöpf unsichtbar, weil du der verborgene unendliche Gott bist. Die Unendlichkeit ist ja für jede Weise des Begreifens unbegreiflich. Sodann erschienst du mir als für alle sichtbar, weil jedes Ding nur insoweit ist, als du es siehst. Und es wäre nicht wirklich, wenn es dich nicht sähe. Dein Sehen verleiht das Sein, weil es dein Wesen ist. So bist du, mein Gott, zugleich unsichtbar und sichtbar. Unsichtbar bist du, wie du du selbst bist, sichtbar bist du, wie das Geschöpf ist, das nur insoweit ist, als es dich sieht. Du, mein Gott, wirst als unsichtbarer von allen und in jeder Schau gesehen. Von jedem Sehenden wirst du in allem Sichtbaren und in jedem Akt der Schau gesehen, der du unsichtbar und von allem derartigen losgelöst und unendlich hoch erhaben bist. Ich muss also, Herr, jene Mauer der unsichtbaren Schau übersteigen, wo du gefunden wirst. Diese Mauer ist aber alles und nichts zugleich. Du nämlich, der du mir entgegentrittst, als wärest du alles und nichts zugleich, wohnst innerhalb jener hohen Mauer, die kein Menschengeist aus eigener Kraft übersteigen kann.12
In der Interpretation dieser Textpassage kann aufgezeigt werden, wie Cusanus die gedankliche Tiefe und den inneren Zusammenhang seines philosophischen Verständnisses von Gott, Welt und Mensch aus einer Reflexion auf das Offenbarungsgeschehen gewinnt. Ausgangspunkt des hier dargelegten Gedankenganges ist die religiöse Grund-Erfahrung der Geheimnishaftigkeit Gottes. Die biblische Rede vom verborgenen Gott13 wird von Cusanus in der Bestimmung der Unendlichkeit als Wesenseigenschaft Gottes begründet. Wenn von der Unendlichkeit sodann ausgesagt wird, dass sie für jede Weise des Begreifens unbegreiflich ist, geht daraus hervor, wie diese Wesenseigenschaft Gottes vom Denken als die eigene Grenze erkannt wird. Weil die Unendlichkeit der Gottesbegriff einer sich als endlich begreifenden Intellektnatur ist, wird deutlich, dass die hierin philosophisch reflektierte geheimnishafte Verborgenheit Gottes aus dem Erfahrungshorizont des Menschen in den Blick kommt und daher in allen Aussagen über Gott auch indirekt vom Menschen die Rede ist. Während gemäß der ersten Formulierung der cusanischen Unendlichkeitsspekulation in ,De docta ignorantia' Gott als dasjenige begriffen wird, was sich aufgrund seiner Unbegrenztheit der im Vergleichen endlicher Verhältnisse fortschreitenden rationalen Erkenntnis entzieht,14 steigt Cusanus hier im Stufenbau 12
De vis. 12: h VI, N. 47, Z. 3 - N . 48, Z. 5. Vgl. Jes. 45, 15 (Vulg.); Röm 1, 25; 9, 5. 14 Vgl. De docta ign. I, 1: h I, S. 5, Z. 23 - S. 6, Z. 8 (N. 3). 13
Die natürliche Weltwirklichkeit
59
der menschlichen Erkenntniskräfte noch tiefer, wenn er die Unzugänglichkeit des unendlichen Gottes für die sinnliche Wahrnehmungsart des Sehens feststellt. Weil Cusanus damit dem natürlichen Ausgangspunkt der endlichen Erkenntnis entspricht, hat diese Akzentverlagerung im Kontext ihrer Aussage den Sinn, die extremen Dimensionen des Abstandes zwischen der unendlichen Verborgenheit des Geheimnisses Gottes und der Begrenztheit menschlicher Erkenntnis bewusst zu machen. Aber bereits an der formalen Struktur des Textes wird deutlich, wie mit der Feststellung der unverhältnismäßigen Differenz von Mensch und Gott nicht das letzte Wort gesprochen ist. Aus der Parallelität im Aufbau ergibt sich, dass diese einleitende Aussage aus dem Zusammenhang mit der ihr folgenden verstanden werden muss, zu der sie inhaltlich gleichsam die Kontrastfolie darstellt. Hier behauptet Cusanus nun, dass derselbe Gott, dessen Unsichtbarkeit soeben aus seiner wesenhaften Unendlichkeit abgeleitet wurde, von allen gesehen wird. Mit der Begründung, die Cusanus für diesen offenkundigen Widerspruch gibt, beantwortet er zugleich die dem Text als Überschrift vorangestellte Frage, wo der unsichtbare, ungeschaffene Schöpfer gesehen wird. Die Sichtbarkeit des unsichtbaren Gottes ergibt sich daraus, dass jedes Ding nur insoweit ist, als Gott es sieht, und ist demnach als das Ergebnis der seinskonstitutiven Wirksamkeit Gottes zu begreifen. In der Schöpfung der konkreten Weltwirklichkeit wird Gott insofern sichtbar, als er in jedem Ding als dessen verborgener Seinsgrund wahr-genommen werden kann. Für das Verständnis des Textes ist es nun entscheidend, dass unsichtbare Verborgenheit und welthafte Sichtbarkeit als aufeinanderfolgende Weisen eingeführt werden, in denen Gott dem Menschen erscheint. Darin wird deutlich, wie Cusanus in diesem Gedankengang das Offenbarungsgeschehen reflektiert, indem er dessen Momente als Phasen eines Prozesses unterscheidet. Die Unerreichbarkeit des verborgenen Gottes durch die menschliche Erkenntnis bleibt deshalb nicht das letzte Wort, weil sie von Cusanus als der Ausgangspunkt einer Bewegung begriffen wird, in der Gott von sich aus den Abstand zum Menschen überwindet. Wenn Cusanus die Unzugänglichkeit Gottes in Bezug auf die niederste menschliche Erkenntnisstufe des sinnlichen Sehens konstatiert, so hat dies den offenbarungsphilosophischen Sinn, aufzuzeigen, wie tief Gott herabsteigen muss, um dem Menschen entgegenzukommen. Die im Text als zweite Erscheinungsweise Gottes bestimmte Sichtbarkeit der Schöpfung wird so als das Ergebnis einer auf die Bedürfnisse der endlichen Erkenntnis hin ausgerichteten Selbstoffenbarung Gottes begreifbar. In der Konstitution der sichtbaren Weltwirklichkeit gibt sich der unsichtbare Gott dem Menschen unter den Bedingungen der sinnlichen Wahrnehmung zu erkennen.
60
Dimensionen der Offenbarkeit des Geheimnisses
3.1.1.3
Der Offenbarungsgott
als die „ coincidentia absconditi et manifesti"
Im Hinblick auf die Themenstellung der vorliegenden Untersuchung ist es von zentraler Bedeutung, dass Cusanus im zitierten Text nicht bei der Reflexion auf die Momente des Offenbarungsprozesses stehen bleibt, sondern daraus Rückschlüsse zieht auf das darin implizierte Gottesverständnis; damit entwickelt er den philosophischen Gottesbegriff weiter, indem er ihn in die Entsprechung zur Glaubenserfahrung des Offenbarungsgottes bringt. Bereits auf der Ebene der sprachlichen Formulierung der bisher interpretierten Aussagen fällt auf, dass Cusanus den gedanklichen Fortschritt von der Verborgenheit zur Sichtbarkeit Gottes durch die Adverbien einmal/sodann (aliquando/deinde) zwar als aufeinander folgende Phasen des Offenbarungsprozesses darstellt, für beide Erscheinungsweisen aber dieselbe perfektische Verbform (apparuisti) verwendet. Darin ist angedeutet, wie Unsichtbarkeit und Sichtbarkeit in der zeitlichen Ordnung des Offenbarungsgeschehens zwar im Nacheinander gegeben sind, auf einer höheren Ebene aber zusammengehören. Weil beides Erscheinungsweisen des einen Gottes sind, muss das Wesen Gottes die Eigenschaft haben, Unsichtbarkeit und Sichtbarkeit zu vermitteln. Dementsprechend zieht Cusanus im Fortgang der Argumentation aus den bisherigen Aussagen auch den Schluss, dass Gott unsichtbar und sichtbar zugleich ist. Auch in seiner Versichtbarung in der Schöpfung bleibt Gott der Unsichtbare, weil er in allem Sichtbaren und in jedem Akt der Schau von jedem Sehenden nur als der verborgene und daher von jeder Schau losgelöste Grund gesehen werden kann. Die unsichtbare Schau (invisibilis visio) wird von Cusanus schließlich als die Weise bestimmt, wie der Mensch das Wesen des zugleich unsichtbaren und sichtbaren Offenbarungsgottes erkennen kann. Das für diesen von der Selbstherablassung Gottes ermöglichten Erkenntnisakt verwendete Bild des Übersteigens einer Mauer versinnbildlicht die Notwendigkeit, dabei die für die endliche Erkenntnis spezifische Abgrenzung zwischen einander widersprechenden Aussagen hinter sich zu lassen. Mit dem sowohl als Erkenntnismethode wie auch als Gottesbegriff konzipierten Koinzidenzgedanken findet Cusanus also die philosophische Entsprechung zu der im Glauben vor-gegebenen Erfahrung Gottes als des Offenbaren Geheimnisses: Die Liebe Gottes ist ein geheimer und verborgener Schatz, der verborgen bleibt, auch wenn er gefunden wird. Gefunden aber wird er innerhalb der Mauer des Zusammenfalls des Verborgenen und des Offenbaren (intra murum coincidentiae absconditi et manifesti).15
15
De vis. 17: h VI, N.75, Ζ. 11-14. - Wenn K. FLASCH in seiner Monographie Nikolaus von Kues. Geschichte einer Entwicklung (Frankfurt/M. 1998) 436-439, die zitierte Aussage über
Die natürliche Weltwirklichkeit 3.1.1.4
Gott als ewige Welt - die Welt als sichtbarer
61 Gott
Die dem Begriff des Offenbarungsgottes als Koinzidenz von Unsichtbarkeit und Sichtbarkeit entsprechende Verhältnisbestimmung von Gott und Welt reflektiert Cusanus in einer offenbarungsphilosophischen Auslegung des biblischen Schöpfungsgedankens: Es scheint, dass die Welt, obgleich durch ihn [den Schöpfer] geworden, doch immer gewesen ist, wie der Strahl der Sonne immer war, solange die Sonne war, obgleich er von der Sonne ist. Denn immer war der Schöpfer, und bei ihm ist kein Wandel und keine Veränderlichkeit. Daher war die Welt immer. Denn es kann nicht anders sein noch begriffen werden, weil ihr Schöpfer ewig ist; und weil die Welt immer in der Macht ihres Schöpfers war, deshalb war die Welt immer im Schöpfer. Wenn es aber heißt, dass die ewige Welt geworden ist, während die ewige Welt doch nichts anderes ist als der Schöpfer selbst, so ergibt sich, inwiefern sie geworden ist, auf diese Weise: die sichtbare Welt sei durch ihn geworden, besagt, dass er sich, den Unsichtbaren, durch sich selbst zu einem Sichtbaren machte, und dies Ganze besagt, dass die ewige und unsichtbare Welt zeitlich und sichtbar geworden ist. [Das ist ähnlich], wie wenn ein immer unsichtbares Wesen zu seiner eigenen Verherrlichung sich dem Blick offenbaren (visui ostendere) wollte: es machte sich dazu selbst sichtbar durch die Annahme sichtbarer Eigenschaften. Bemerke, dass ein ewiges Wesen kein anderes, ihm gleich ewiges erschaffen kann; denn es kann nicht zwei oder mehrere ewige Wesen geben. Dass also die ewige Welt sich selbst als zeitliche geoffenbart (ostenderit) oder zu einer solchen gemacht hat, geschah deshalb, weil es auf andere Weise nicht möglich war, dass sie sich offenbare. Denn die Ewigkeit kann sich nur in zeitlicher Form offenbaren, wie die Schönheit in sichtbarer Weise. 16
In der Interpretation dieser Predigtpassage kann deutlich gemacht werden, wie die cusanischen Aussagen zum Verhältnis von Gott und Welt nur dann ihrer ursprünglichen Intention entsprechend verstanden und vor Fehldeutungen geschützt werden, wenn man sie als philosophische Reflexionen auf das im Glauben angenommene Offenbarungsgeschehen begreift. Die im Text eingangs explizierten Bestimmungen der Welt werden von Cusanus im Verlauf der Argumentation auf Verborgenheit und Sichtbarkeit als aufeinanderfolgende Erscheinungsweisen Gottes im Sinne seiner - hier als solche nicht in Frage gestellten - These von einer Entwicklung des cusanischen Denkens von der Schwierigkeit der Unbegreiflichkeit zur Leichtigkeit der Allfassbarkeit (vgl. z.B. 39) interpretiert, so berücksichtigt er dabei nicht, dass beide Bestimmungen in ihrem offenbarungsphilosophischen Kontext von Cusanus mit der Intention eingeführt werden, sie nicht als Phasen seiner ,Lehrentwicklung' gegeneinander aufzuheben, sondern vielmehr als Momente des Offenbarungsgeschehens im Begriff des Offenbarungsgottes selbst zusammenfallen zu lassen. 16 Sermo CXLI ,Verbum caro factum est': zitiert nach: J. KOCH (Hg. u. Übers.), CT I. Predigten; 2./5. Vier Predigten im Geiste Eckharts, Heidelberg 1937, hier: Predigt 3; N. 6.
62
Dimensionen der Offenbarkeit des Geheimnisses
den eigentlichen und ursprünglichen Grund der Schöpfung zurückgeführt. Dieser besteht darin, dass ein immer unsichtbares Wesen zu seiner eigenen Verherrlichung sich dem Blick offenbaren (visui ostendere) wollte. Auf dem Hintergrund der bisher interpretierten Texte ist es unzweifelhaft, dass Cusanus damit die Konstitution der Weltwirklichkeit als Moment im Offenbarungsgeschehen zwischen Gott und Mensch begreift. In dieser Aussage ist vom Menschen bereits in der philosophischen Reduktion seiner kreatürlichen Endlichkeit auf die Gebundenheit seiner Erkenntnis an die sinnliche Wahrnehmungsart des Sehens die Rede. Wenn Gott hier als unsichtbares Wesen bezeichnet wird, so ist damit gesagt, dass er dem Menschen unter den Bedingungen seiner endlichen Erkenntnis nicht zugänglich ist. Die Glaubenserfahrung, wonach der grundlos liebende Gott über seine Unzugänglichkeit hinweg den Menschen in die Gemeinschaft mit sich erhebt, indem er selbst auf ihn zugeht, reflektiert Cusanus, wenn er vom unsichtbaren Wesen den freien Willen aussagt, sich zu offenbaren. Die ursprüngliche Ausrichtung von Gottes freiem Offenbarungsentschluss auf die Bedürfnisse der begrenzten Erkenntnisfahigkeit des Menschen kommt im Text durch die Benennung des Sehens als Empfangsziel der Offenbarungsintention zum Ausdruck. Mit dieser Zweckbestimmung ist zugleich der innere Grund für die konkrete Gestalt der Offenbarung angegeben. Wenn der unsichtbare Gott sich der auf sinnliche Vermittlungsgestalten angewiesenen menschlichen Erkenntnis zugänglich machen will, so muss er - wie es im Text heißt - dazu sich selbst sichtbar machen durch die Annahme sichtbarer Eigenschaften. Diese auf die Gotteserkenntnis des Menschen hin finalisierte Selbstversichtbarung Gottes geschieht in der Schöpfung der natürlichen Weltwirklichkeit: Die sichtbare Welt sei durch ihn geworden, besagt, dass er sich, den Unsichtbaren, durch sich selbst zu einem Sichtbaren machte. Aus der ursprünglichen Bestimmung der Welt als auf die Bedürfnisse des endlichen Intellekts hin konzipierter Selbstoffenbarung Gottes lassen sich nun auch die einleitenden Gedanken des zitierten Textes verstehen; sie haben ihren Sinn darin, das offenbarungsphilosophische Weltverständnis zu explizieren. Jene der Argumentation am Beginn des Textes als Ausgangsproblem aufgegebene Paradoxie, nach der die Welt durch Gott geworden und doch zugleich immer gewesen sei, findet ihre Lösung in der Einsicht, dass Gott in der Schöpfung sein unsichtbares inneres Wesen dem Menschen mitteilen will, indem er es in die Sichtbarkeit der Welt hinaus entfaltet. Weil sich in der Weltschöpfung entsprechend ihrer Zweckbestimmung im Offenbarungsgeschehen nichts anderes als das Wesen Gottes selbst dem Blick des Menschen darbietet, ist in der Welt nichts anderes als Gott gegeben, sondern vielmehr er selbst auf andere Weise. Die ursprüngliche Bestimmung des cusanischen Denkens als Philosophie der Offenbarung erweist
Die natürliche
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Weltwirklichkeit
sich somit als der innere Grund dafür, dass Cusanus die Differenz zwischen Gott und Welt nicht in der Kategorie der Substanz, sondern derjenigen der Modalität denkt. In den im folgenden zu interpretierenden Texten wird sich diese These bis in terminologische Entsprechungen hinein belegen lassen. In der vorliegenden Predigtpassage löst Cusanus mit dieser neuen Denkart das offenbarungsphilosophische Problem, wie Gott sein Wesen mitteilen kann, obwohl er nichts seiner absoluten Vollkommenheit Gleiches zu erschaffen vermag. Dies ist dadurch möglich, dass er in der Welt sich selbst auf eine andere Weise versichtbart. Als die Gott und Welt voneinander unterscheidenden Seinsweisen bestimmt Cusanus Ewigkeit und Zeitlichkeit. Da in der Welt nichts anderes als Gott selbst sich auf zeitliche Weise offenbart, ist dasjenige, was in der Schöpfung in Veränderlichkeit wird, in der Macht des Schöpfers auf ewige Weise vorenthalten. Wenn Cusanus schließlich den Schöpfer selbst als die ewige Welt begreift, verfällt er damit keinesfalls dem Pantheismus, sondern zieht hierin vielmehr die letzte gedankliche Konsequenz eines dem christlichen Offenbarungsglauben entsprechenden Weltverständnisses. Die Rede von Gott als die ewige Welt ergibt sich bei Cusanus aus seiner offenbarungsphilosophischen Interpretation der von Piaton'7 übernommenen Bestimmung der Welt als eines sinnlich wahrnehmbaren Gottes {deus sensibilis)." Cusanus versteht die platonische Aussage in dem Sinne, dass in der Welt Gott sich dem Menschen offenbart, indem er nichts anderes als sein Wesen auf eine der endlichen Erkenntnis zugängliche Weise mitteilt. Diese Deutung der Formulierung Piatons bringt Cusanus zum Ausdruck, wenn er parallel dazu Gott als die ewige Welt begreift. Daraus, dass er in Entsprechung zur platonischen Bestimmung der Welt als eines sinnenfalligen Gottes seine Bestimmung Gottes als der ewigen Welt formuliert, geht schließlich hervor, wie Cusanus dabei bei Piaton den Ansatz entdeckt, die Differenz zwischen Schöpfer und Geschöpf in der Kategorie der Seinsweise zu denken: Gott und Welt sind dasselbe, doch Gott ist es auf ewige, die Welt auf sichtbare Weise. 3.1.1.5
Die Welt als Erscheinungsweise
des unsichtbaren
Gottes
Wie Gottes Selbstoffenbarung in der Schöpfung der Grund dafür ist, dass sein Wesen vom Menschen als die andere Seinsweise der Welt erkannt werden kann, wird an der Stelle deutlich, wo Cusanus den gedanklichen Fortschritt von der Bestimmung der Welt als Selbstversichtbarung Gottes zur Erkenntnis Gottes als der Unsichtbarkeit der Welt ausdrücklich in der Interpretation jenes Schriftwortes
17
Vgl. Timaios 92 c 8; auch 29 e 2 - 31 b 1; 37 c 8.
18
De dato 2: h IV, N . 102, Z. 13.
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Dimensionen
der Offenbarkeit
des
Geheimnisses
vollzieht, das bereits in der Schöpfung eine unübersehbare Weise der Offenbarkeit ihres unsichtbaren Schöpfers g e g e b e n sieht. D i e v o n Paulus den Heiden vorgehaltene Möglichkeit der Gotteserkenntnis, das Unsichtbare Gottes von der Schöpfung der Welt her zu erblicken durch die Erkenntnis dessen, was geworden ist, so auch seine ewige Kraft und Gottheitwird v o n Cusanus als die Weise verstanden, wie Gott den Menschen das offenbart, was ihnen von ihm bekannt ist. Weil demnach von der Schöpfung der Welt her Gottes Offenbarung (,manifestotio) geschieht,20 indem der unsichtbare Gott sich darin versichtbart, kann er selbst als die Unsichtbarkeit der Welt gesehen werden: 21 Was anderes ist die Welt als die Erscheinung des unsichtbaren Gottes? Was anderes ist Gott als die Unsichtbarkeit des Sichtbaren?22 Im Verständnis der Weltschöpfung als Erscheinungsweise Gottes 23 greift Cusanus eine Tradition auf, in deren Kontext der offenbarungsphilosophische Sinn dieser Terminologie deutlich gemacht werden kann. 24 Unmittelbare Quelle fur den cusanischen Weltbegriff der apparitio ist eine Textpassage aus der Schrift ,Peri-
19
Rom 1,20. De poss.: h XI/2, N. 2, Z. 2-11. 21 Gottes Selbstmanifestation in der Schöpfung wird von Cusanus als eine Weise der Sichtbarkeit verstanden, in der die biblisch bezeugte, wesenhafte Unsichtbarkeit Gottes gewahrt bleibt. Wie etwas in seinen Versichtbarungen unsichtbar bleiben kann, verdeutlicht Cusanus am Verhältnis des menschlichen Intellekts zu seinen Hervorbringungen, vgl. De non aliud 23: h XIII, S. 54, Z. 2-7 (N. 104, Z. 2-10): Non est mirandum deum creatorem esse invisibilem, quippe cum mira intellectus opera in civitatum aediflciis, navibus, artibus, libris, picturis aliisque innumeris videamus, intellectum tarnen sensu visus non attingimus; deum itaque in creaturis suis cernimus, quamvis nobis maneat invisibilis. Sic quidem opera dei sunt caeli et terra, quem nemo umquam vidit (Joh 1, 18). 22 De poss.: h XI/2, N. 72, Z. 6f. 23 Vgl. De ap. theor.: h XII, N. 24, Z. 7f. 24 Eine explizit offenbarungsphilosophische Interpretation des cusanischen Begriffes der apparitio findet sich bereits bei K. JACOBI, Die Methode der cusanischen Philosophie (Freiburg / München. 1969), 154: „Erscheinung ist Offenbarung, damit wir erkennen. Der Mensch ist Geschöpf, also ein Seiendes unter anderen, in dem Gott erscheint, aber er ist zugleich das Subjekt, dem er sich sichtbar erscheinend zeigt, positiver Sinn der Vielheit und Verschiedenheit, in welcher das Sein im ontologischen Modus der Erscheinung existiert. Wenn Gott sich uns offenbaren will, so muss er sich entfalten, seine Unendlichkeit in die Fülle der verschiedenen apparitiones auslegen, denn nur, wenn er sich ausdifferenziert, kann er von uns, die wir in der Differenz leben, als die allmächtige Kraft, die in einheitlicher Weise das Sein aller Entfaltungen ist, erkannt werden." 20
Die natürliche
Weltwirklichkeit
65
physeon' des Johannes Sco(t)tus Eriugena, die Cusanus in einer Marginalie als verba mirabilia bezeichnet hat:23 Alles, was eingesehen [gedacht] und sinnenfällig erfahren wird, ist nichts anderes als Erscheinung des Nicht-Erscheinenden, Offenbarmachen des Verborgenen (occulti manifestatio), Bejahung des Verneinten, Begreifen des Unbegreiflichen, Sagen des Unsagbaren, Zugang zum Unzugänglichen, Einsicht in das Nicht-Einsehbare, Körper [Verkörperung] des Unkörperlichen, Wesen des Über-Wesentlichen, Gestalt [formende Form] des Gestaltlosen, Maß des Unmessbaren, Zahl des Unzählbaren, Gewicht des Gewichtlosen, Festwerden des Geistigen, Sichtbarkeit des Unsichtbaren, Ortwerdung des Ortlosen, Zeitlichkeit [Verzeitlichung oder .Zeitigung'] des Zeitlosen, Begrenzung des Grenzelosen [Verendlichung des Unendlichen], Umschreibung [Umfassung oder Bestimmung] des Unumschreibbaren.26 Dieser Text ließe sich gleichsam als der Urkeim der cusanischen Offenbarungsphilosophie interpretieren. A u c h hier ist es der Grundgedanke, dass Gott sich der endlichen Erkenntnis des Menschen auf eine ihr zugängliche Weise mitteilt, indem er sein über-kategoriales W e s e n in die Kategorien der Welt hinein entfaltet. 27 Für das Verständnis der cusanischen Konzeption ist es aufschlussreich, dass Begriffspaare, die Cusanus an verschiedenen Stellen verwendet, hier in einer Reihe genannt und durch die Gleichsetzung mit der Wendung Offenbarmachung des Verborgenen als Reflexionsgestalten des Offenbarungsgeschehens erwiesen werden. A u c h der cusanische Gedanke, dass in der Schöpfung Gott selbst auf andere, dem Menschen offenbare, W e i s e g e g e b e n ist, findet seine Vorstufe bei Eriugena in der gedanklich kühnen Bestimmung der kreativen in aliquo manifestatio als Sichselbsterschaffen Gottes.2' Die Cusanus und Eriugena gemeinsam zugrundeliegende Quelle für dieses Weltverständnis ist Dionysius Areopagita. 29 Seinen Welt-Begriff der Theophanie30 25 So notiert bei W. BEIERWALTES, Piatonismus im Christentum (Frankfurt/M. 1998), 148; daraus auch die folgende Übersetzung. Zur Interpretation des Eriugena-Textes vgl. Ders., Eriugena. Grundzüge seines Denkens (Frankfürt/M. 1994), 288. 26 Periphyseon III, 4 (ed. Sheldon-Williams 58, 12-19) 27 Vgl. zu Eriugenas daraus resultierendem Weltverständnis: W. BEIERWALTES, Negati affirmatio: Welt als Metapher. - Zur Grundlegung einer mittelalterlichen Ästhetik, in: Ders., Eriugena. Grundzüge seines Denkens (Frankfurt/M. 1994), 115-158. - J. KREUZER, Natur als Metapher: Eriugena über den Grund des Schönen, in: Bochumer philosophisches Jahrbuch für Antike und Mittelalter 2 (1997) 47-67. 28 Periphyseon 1, 13 (ed. Sheldon-Williams 66, 21-24). 29 Vgl. zu den Vorstufen bei Dionysius auch: W. BEIERWALTES, Eriugena und Cusanus, in: Ders., Eriugena. Grundzüge seines Denkens (Frankfurt/M. 1994), 266-312. Eine vergleichbare Konzeption konnte Cusanus auch bei Bonaventura finden; vgl. dazu: F. N. CAMINITI, Nikolaus von Kues und Bonaventura, in: MFCG 4 (1964), 129-144, hier: 137f.
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Dimensionen der Offenbarkeit des Geheimnisses
übersetzt Eriugena mit dem Wort apparitio, und Cusanus greift ihn auf in seiner Bestimmung der Geschöpfe als theophaniae seu apparitiones dei, in denen Gott, weil er sich aus der Natur seiner Gutheit offenbaren will, die Reichtümer des Lichtes seiner Herrlichkeit bekannt macht.11 In der Rede von den modi theophanici32 bringt er ausdrücklich zur Sprache, dass im dionysisch-eriugenischen Begriff die Differenz zwischen Gott und Welt bereits in der Kategorie der Seinsweise gedacht und damit eine Voraussetzung für das offenbarungsphilosophische Weltverständnis enthalten ist.
3.1.2
Die Bedeutung der universalen Pluralität von Einzelseienden im Offenbarungsgeschehen
Die von Cusanus insbesondere in seinen Spätschriften explizit in den Kontext seiner Offenbarungsphilosophie zurückverwurzelte Distinktion der Seinsweisen entfaltet er in seinem ersten philosophischen Hauptwerk ,De docta ignorantia' in enger Anlehnung an ihre philosophischen Quellen.33 Hier rezipiert er die in der Schule von Chartres34 formulierte Lehre von den quattuor modi universales essendi, die er wie folgt in hierarchischer Ordnung voneinander unterscheidet: Es gibt nämlich eine Weise des Seins, die sich als absolute Notwendigkeit bezeichnen lässt, wie nämlich Gott die Form der Formen, das Seiende der Seienden, der Grund oder das Wesen der Dinge ist. In dieser Seinsweise ist alles in Gott die absolute Notwendigkeit selbst. Eine andere Seinsweise besteht darin, dass die Dinge in der Notwendigkeit der Verknüpfimg (necessitas complexionis) sind. In ihr befinden sich die in sich wahren Formen der Dinge mit ihrer Verschiedenheit voneinander und ihrer natürlichen Ordnung. In dieser Weise finden wir sie im Geist. [...] Eine weitere Seinsweise ist die, 30
Vgl. z.B. De coelesti hierarchia IV, 3 (ed. Heil-Ritter 22). De dato 4: h IV, Ν. 111, Z. 33. N. 109, Z. 16-18. 32 Defll. 3: h IV, N. 62, Z. 5. 33 Als wahrscheinlich unmittelbare Quelle zu den Kapiteln 7-10 des zweiten Buches von ,De docta ignorantia' hat M. J. F. M. HOENEN neulich den in der Handschriftensammlung des Dominikaners Georg Schwartz (heute Univ.-Bibl. Eichstätt: st. 687, fol. 4r - 10r) anonym überlieferten Traktat ,Fundamentum naturae quod videtur physicos ignorasse' ausfindig gemacht; dazu: ,Islaprius inaudita'. Eine neuentdeckte Vorlage der Docta ignorantia und ihre Bedeutungfür die frühe Philosophie des Nikolaus von Kues, in: Medioevo 21 (1995) 375-476. - Zur Entwicklungsgeschichte dieses Gedankens bei Cusanus siehe: H. SCHNARR, Modi essendi. Interpretationen zu den Schriften De docta ignorantia, De coniecturis und De venatione sapientiae von Nikolaus von Kues: BGC V (Münster 1973). 34 Vgl. die Quellenbelege in h I, S. 84 sowie in NvKdÜ H. 15b (Hamburg 1977), S. 125, Anm. 82. 31
Die natürliche Weltwirklichkeit
67
dass die Dinge in bestimmter Möglichkeit (possibilitas determinata) tatsächlich dieses oder jenes sind. Und die unterste Seinsweise liegt dann vor, wenn die Dinge sein können. Sie besteht in der absoluten Möglichkeit. 35
Die im letzten Abschnitt anhand der Interpretation diesbezüglicher Passagen aus dem Spätwerk vorgenommene Bestimmung von unsichtbarem Gott und sichtbarer Welt als der beiden sich im Offenbarungsgeschehen differenzierenden Seinsweisen findet in diesem früheren Text insofern ihre Bestätigung, als Cusanus im folgenden die drei letzten Seinsweisen zu derjenigen der einen umfassenden Allheit, welche das eingeschränkt Größte ist (una universitas, quae est maximum contractum), zusammenfasst, da eine Seinsweise ohne die anderen nicht aktuell wirklich ist?6 Was Cusanus in den späteren Schriften von der Welt als Seinsweise im allgemeinen aussagt, begegnet hier innerhalb der Theorie des Universums, die im gesamten zweiten Buch von ,De docta ignorantia' detailliert entfaltet wird. Diese Parallelität ist in zweifacher Hinsicht aufschlussreich: Zum einen erlaubt die explizite offenbarungsphilosophische Begründung des Modalitätsgedankens in den späteren Schriften Rückschlüsse auf eine dementsprechende Motivation der Lehre vom Universum, wodurch sich auch die Gestaltung von deren Einzelelementen besser verstehen lässt. Zum anderen kann anhand der differenzierteren Universum-Theorie der Frühschrift genauer aufgewiesen werden, wie die Welt ihre Bestimmung als sichtbare Offenbarkeitsweise des unsichtbaren Gottes konkret verwirklicht. Wenn Cusanus das letzte Kapitel des zweiten Buches von ,De docta ignorantia' mit den Worten Die bewunderungswürdige göttliche Kunst in der Erschaffung der Welt und der Elemente überschreibt, so weist er damit bereits im Titel auf die offenbarungsphilosophische Bedeutung der vorangehenden Spekulationen über das Universum hin. Die Funktion der Welt im Offenbarungsgeschehen besteht darin, dass wir durch diese sichtbaren Dinge und ihre Größe, Schönheit und Ordnung zum Staunen vor der Kunst und Erhabenheit Gottes geführt werden, wie Cusanus im Anschluss an die einhellige Meinung der Weisen im ersten Satz des Kapitels schreibt.37 Von dieser ihrer Zielsetzung her lässt sich die Universum-Theorie als Reflexion auf die Weise interpretieren, wie Gott vermittels der Weltschöpfung dem
35
De docta ign. II, 7: h I, S. 84, Z. 1-9 (N. 130, Z. 13-22). Vgl. De docta ign. II, 7: h I, S. 84, Z. 10-20 (N. 131, Z. 1-13). 37 De docta ign. II, 13: h I, S. 110, Z. 16-20 (N. 175, Z. 2-6). - Unmittelbare Quelle fur diese Auffassung ist bei Cusanus DIONYSIUS AREOPAGITA, De divinis nominibus VII 3 (ed. Suchla 197, 17ff). 36
68
Dimensionen der Offenbarkeit des Geheimnisses
Menschen offenbar wird.38 Und in der Tat können gerade jene wesentlichen Bestimmungsmomente des cusanischen Universums, die vielfach im Sinne einer neuzeitlich-weltoptimistischen Abwendung von der transzendenzorientierten mittelalterlichen Theologie gedeutet wurden,39 als Ausdruck einer offenbarungsphilosophischen Welterklärung verstanden werden: nämlich die Rede von der (privativen) Unendlichkeit des Universums; die Auffassung, dass das Universum nur in den Individuen verwirklicht ist; und die sich daraus ergebende, vielfach als Überwindung der Substanzenmetaphysik interpretierte These, wonach alles in allem und jegliches in jeglichem ist.
3.1.2.1 Nur in einer unendlichen Welt kann sich der unendliche Gott offenbaren Wenn Cusanus die im ersten Buch von ,De docta ignorantia' als vorrangiges Wesensprädikat des im Glauben aller Völker als Gott verehrten absoluten Maximums eingeführte Unendlichkeit nun im zweiten Buch auch vom Universum aussagt, so lässt sich dies als eine Radikalisierung des offenbarungsphilosophischen Weltverständnisses deuten: Weil Gott in der geschaffenen Weltwirklichkeit sich selbst sichtbar machen will, darf diese ihren Wesensbestimmungen nach nicht von ihm verschieden sein. Wenn Gott in der Schöpfung die ihm wesenseigene Unendlichkeit mitteilt, so ist diese in der Welt in der Weise ihrer sinnenfälligen Offenbarkeit gegeben. Bereits hier denkt Cusanus also implizit die Differenz zwischen Schöpfer und Geschöpf nicht mehr in der Kategorie der Substanz, sondern derjenigen der Modalität. Die in einem später zu interpretierenden Text in der Verhältnisbestimmung zwischen Gott und der Kreatur explizit behauptete Identität im Wesen und Differenz in der Seinsweise40 kommt hier auf der grammatikalischen Ebene darin indirekt zum Ausdruck, dass Cusanus die Unterscheidung der göttlichen von der
38
Vgl. auch die rückblickende Selbstinterpretation des Cusanus mit Verweis auf die biblischen Wurzeln der Konzeption in seiner Spätschrift De non aliud 23: h XIII, S. 55, Z. 11-14 (N. 106, Z. 11-16): Quando igitur Moyses universi voluit describere constitutionem, in quo deus se manifestaret, ad huius constitutionem singula creata bona dicit (Gen 1, 10), ut Universum esset gloriae et sapientiae dei perfecta revelatio. 39 Vgl. dazu v.a. die entsprechenden Interpretationen von Cassirer, Heimsoeth, Ritter, Rombach sowie ihre Darlegung und Kritik bei H. BENZ, Individualität und Subjektivität. Interpretationstendenzen in der Cusanus-Forschung und das Selbstverständnis des Nikolaus von Kues: BCG 13 (Münster 1999) 37-98. 40 Vgl. De dato 2: h IV, N. 97, Z. 4-20. N. 99, Z. 1-9. N. 103, Z. 1-6 und dazu die Überlegungen unten: 3.1.7: Die Welt als dem Menschen geschenkter Gott.
Die natürliche Weltwirklichkeit
69
welthaften Unendlichkeit durch adverbiale, also auf die Seinsweise bezogene Formen vornimmt: Als die Negation aller Begrenzungen, die die absolute Wirklichkeit all seiner Möglichkeiten einschränken könnten, ist das göttliche Maximum auf negative Weise unendlich (negative infinitum). Da das Universum im Hinblick auf die unendliche Schöpfermacht zwar größer sein könnte, aufgrund der begrenzten Aufnahmekapazität der Materie in Wirklichkeit aber nicht größer sein kann, und es nichts tatsächlich Größeres gibt, gegen das es sich abgrenzen ließe, ist es auf mangelhafte Weise unendlich {privative infinitum).41 Die von Cusanus vorgenommene paradoxe Bestimmung des Seins des Geschöpfes als infinitas finita findet ihre tiefere Begründung darin, dass Gott in der Weltschöpfung nichts anderes als die ihm wesenseigene Unendlichkeit auf endliche Weise offenbaren will und so im Geschöpf als einem geschaffenen Gott42 die eigene unendliche Schöpfermacht paradoxerweise zugleich affirmiert und begrenzt. 3.1.2.2
Das welthafte Einzelseiende der Offenbarung
als der einzig mögliche Ort
Auch ein zweites, in der damit verbundenen Konsequenz einer Nobilitierung des welthaften Einzelseienden vielfach als spezifisch neuzeitlich interpretiertes Element der cusanischen Universum-Theorie lässt sich im Kontext eines offenbarungsphilosophischen Weltverständnisses tiefer begründen: Bereits in der zitierten Aussage über die Seinsweisen, wonach die drei nicht-absoluten Seinsweisen (necessitas complexionis, possibilitas determinata, possibilitas absoluta) nur in der Einheit des einen modus universalis konkret verwirklicht sind, ist die Einsicht impliziert, dass das Universum allein in den Individuen wirklich (actu) ist,43 ihm also nicht etwa im Sinne einer platonisch verstandenen Weltseele-Idee44 unabhängig von den Einzeldingen Sein zukommt. Für diese Entscheidung, den Begriff des Universums nicht ontisch zu hypostasieren, ließe sich folgender offenbarungsphilosophische Grund angeben: Wenn 41 42 43
Vgl. De docta ign. II, 1: h I, S. 64, Z. 10 - S. 65, Z. 6 (N. 96, Z. 18 - N. 97, Z. 19). De docta ign. II, 2: h I, S. 68, Z. 18 (N. 104, Z. 6). De docta ign. II, 6: h I, S. 80, Z. 6 (N. 124, Z. 9f); vgl. auch De docta ign. II, 5: h I, S. 76,
Z. 18 (Ν. 118, Ζ. 1). 44 Um sie in seine Theorie vom Universum zu integrieren, modifiziert Cusanus die platonische Weltseele-Lehre in diesem entscheidenden Punkt, wenn er die Weltseele als eine Art universaler Form auffasst, die in sich alle Formen einfaltet, ohne indes außerhalb der Einschränkung in den Dingen wirkliche Existenz zu besitzen: De docta ign. II, 9: h I, S. 95, Z. 2022 (N. 150, Z. 1-4).
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Dimensionen der Offenbarkeit des Geheimnisses
Gott die Welt erschafft, um sich darin dem auf die Sinneserfahrung angewiesenen menschlichen Intellekt zu offenbaren, verwirklicht die Weltschöpfung erst in jener Dimension von Konkretheit ihre innere Zielsetzung, die von den menschlichen Sinnesorganen erfasst werden kann. Indem Cusanus das Universum als Allheit, d.h. Einheit von vielem definiert,45 bringt er damit indirekt zum Ausdruck, dass der Weltbegriff bereits das Ergebnis einer synthetisierenden Leistung menschlichen Denkvermögens ist und von daher einen Abstraktionsgrad aufweist, dem keine sinnenfallige Entsprechung zukommen kann. Wenn der Sinn der Schöpfung in der darin vermittelten Selbstmitteilung Gottes an den Menschen besteht, kann sie ihre Sinnerfullung nicht in einem abstrakten Weltgeist, sondern erst in jenem konkreten Einzelseienden finden, das in seiner sinnenfalligen Materialität vom Menschen wahrgenommen werden kann. Die Weltschöpfung ist deshalb nur im Individuum wirklich, weil erst das materielle Ding für den Menschen Wirklichkeit ist. Die Aussage von der Welt als erster Dimension der Selbstoffenbarung des göttlichen Geheimnisses muss von daher präzisiert werden: Nicht die ,Welt' im allgemeinen, sondern das konkrete Einzelseiende ist der einzig mögliche Ort, an dem Gott dem Menschen offenbar werden kann. In dieser seiner Bedeutung im Offenbarungsgeschehen liegt der tiefere Grund für die erhöhte Wertschätzung des welthaften Individuums bei Cusanus. Wenn der Begriff des Universums bei Cusanus demnach nicht auf eine von den Einzelseienden unabhängig existierende Größe bezogen ist, muss die Rede von der universalen Vieleinheit46 eine andere Sinnbedeutung haben. Nicht nur die Auffassung, dass das Weltall nur im Einzelseienden wirklich ist, sondern auch die Frage, warum dem Begriff des Universums in der cusanischen Ontologie der geschaffenen Wirklichkeit dennoch eine so große Bedeutung zukommt, lässt sich in einem offenbarungsphilosophischen Kontext klären: Wenn das kreatürliche Einzelseiende der einzig mögliche Ort der Selbstoffenbarung Gottes ist, muss es paradoxerweise gerade in seiner sinnlich wahrnehmbaren, individuell begrenzten Materialität zugleich eine Manifestationsweise der unbegrenzten göttlichen Seinsfulle sein. Indem Cusanus die Wirklichkeit des Universums auf das konkrete Individuum einschränkt, entgrenzt er damit zugleich das Einzelseiende im Hinblick auf die darin vergegenwärtigte Unendlichkeit. Wenn das Universum nur im Einzelnen 45
De docta ign. II, 4: h I, S. 74, Z. 22 (Ν. 115, Z. 16f). Vieleins ist ein Grundwort FRANZ VON BAADERS (vgl. z.B. Werke [hg. F. Hoffmann] II 278f), dessen organisches Seinsverständnis über die gemeinsame Verwendung der Metapher des Organismus (vgl. De docta ign. II, 5: h I, S. 78, Z. 7-29 [N. 121-122]) hinaus so zahlreiche gedankliche Analogien zur cusanischen Theorie des Universums aufweist, dass ein Vergleich beider Konzeptionen aufschlussreich sein könnte. 46
Die natürliche Weltwirklichkeit
71
seine Verwirklichung findet, so bedeutet dies auch, dass in jedem einzelnen Ding tatsächlich nichts weniger als das Universum verwirklicht ist.47 Der Begriff des Universums hat bei Cusanus also die Funktion, die Präsenz des Absoluten im Endlichen zu vermitteln, denn so gelingt es, die Einsicht zu gewinnen, wie Gott, der einfachste Einheit ist, da er in dem einen All existiert, gewissermaßen infolgedessen durch Vermittlung des Alls in allen Dingen ist, und die Vielheit der Dinge durch Vermittlung des einen Alls in Gott ist.4' In der These, dass das Universum im Einzelnen verwirklicht ist, gelingt es Cusanus gleichsam, das offenbarungsphilosophische Postulat einzulösen, dem gemäß das Verhältnis Gottes zu seinen kreatürlichen Selbstmitteilungen als Identität und Differenz zugleich begriffen werden muss. Durch die Theorie des Universums wird das Einzelseiende philosophisch als dasjenige bestimmt, was es seinem Wesen nach sein muss, wenn es seine Funktion im Offenbarungsgeschehen erfüllen soll, nämlich unmittelbare Vermittlung Gottes: Da nun das All in jedwedem wirklich Seienden eingeschränkt ist, so ist klar, dass Gott, der im Universum ist, in jedwedem ist, und jedwedes wirklich Seiende unmittelbar in Gott ist, so wie das Universum in Gott ist.*9 3.1.2.3
Die unabschließbare Vielheit als der Unerschöpflichkeit Gottes
Offenbarung
Die universale Vieleinheit von endlichen Individuen ist aber keineswegs eine allein ihrer höheren Zielsetzung wegen in Kauf zu nehmende Abschwächung der differenzfreien Einheitsfülle Gottes; sie ist vielmehr über ihre Bestimmung als einzige dem Menschen zugängliche Weise der Selbstoffenbarung Gottes hinaus auch Träger von positiven Offenbarungsinhalten. Gerade in der privativ unendlichen Vielheit von Einzelseienden werden zwei Wesenseigenschaften der absolut unendlichen Einheitsfülle Gottes auf endliche Weise offenbar, nämlich ihre Unerschöpflichkeit sowie ihre Singularität. Diese beiden Implikationen seiner Theorie von den vielheitlichen Einzelseienden entfaltet Cusanus in den späteren Schriften ausführlicher. Wie in einer Pluralität von Individuen die Unerschöpflichkeit ihres Schöpfers vergegenwärtigt wird,50 lässt sich offenbarungsphilosophisch wie folgt begründen: Wenn Gott sich nur im sinnenfalligen Einzelding dem Menschen offenbaren kann, muss er in seiner kreatürlichen Selbstmanifestation Materialität annehmen. 47 Vgl. De docta ign. II, 5: h I, S. 76, Z. 18f (N. 118, Z. If): Non est autem universum contracte in rebus, et omnis res actu exsistens contrahit universa. 48 De docta ign. II, 4: h I, S. 75, Z. 16-18 (Ν. 116, Z. 22-25). 49 De docta ign. II, 5: h I, S. 76, Z. 21-23 (Ν. 118, Z. 5-8). 50 Vgl. De sap. I: h 2 V, N. 25, Z. 10-12; De vis. 25: h VI, Ν. 116, Z. 13 - Ν. 117, Z. 5.
nisi
Dimensionen der Offenbarkeit des Geheimnisses
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Da die Aufnahmekapazität der Materie aber raumzeitlich begrenzt ist,51 kann die göttliche Selbstmitteilung nur in der Weise der Teilhabe aufgenommen werden; dadurch wird die unbegrenzbare göttliche Seinsfulle zu einem bestimmten Einzelseienden eingeschränkt (,kontrahiert').52O& in einem Einzelnen demnach nicht mehr (aber auch nicht weniger) als ein Aspekt" des innergöttlichen Wesensreichtums verwirklicht ist, wäre die welthafte Selbstoffenbarung Gottes nicht die bestmögliche, wenn Gott nicht möglichst viele der in seinem Wesen absolut verwirklichten Möglichkeiten auch in sinnenfallig-materieller Endlichkeit mitteilen würde. Die in den begrenzten Möglichkeiten der Materie begründete Unmöglichkeit, den unendlichen Reichtum göttlicher Wesensmomente vollkommen mitzuteilen, wird von Cusanus aber keineswegs als Ausdruck der Unvollkommenheit der Offenbarung verstanden. Er vermag sie vielmehr im Gedanken positiv in seine Offenbarungsphilosophie zu integrieren, dass darin die nicht ausdrückbare Unerschöpflichkeit des göttlichen Wesensreichtums offenbar wird. 3.1.2.4
Die Singularität der Einzelseienden als Offenbarung der Unvergleichbarkeit Gottes
Doch nicht nur die individuelle Bestimmtheit der Einzelseienden, sondern auch ihre Individualität als solche wird von Cusanus als Offenbarung einer göttlichen Wesenseigenschaft verstanden. Aus dem zuletzt begründeten Zusammenhang zwischen der eingeschränkten Teilhabekapazität und der Vielheit der Einzeldinge ergibt sich, dass jedes Ding auch in dem Sinne (aus der göttlichen Selbstmitteilung) seine eigene Unendlichkeit hat, als es diese je nach dem Grad der individuellen Einschränkung auch einzigartig verwirklicht. Wie radikal Cusanus die endliche Weltwirklichkeit als Selbstoffenbarung Gottes betrachtet und auf welch hohem philosophischen Niveau er diese in der Glaubenserfahrung motivierte Sicht vermitteln kann, zeigt sich nicht zuletzt darin, dass er das aus der ontologischen Analyse des welthaften Einzelseienden abgeleitete Prinzip der Singularität in einem absoluten Verständnis desselben auf Gott
51
Vgl. De docta ign. II, 1: h I, S. 65, Z. 3f (N. 97, Z. 6f). Vgl. De docta ign. II, 4: h I, S. 75, Z. 12f (Ν. 116, Z. 19f). 53 Versteht man das Wort ,Aspekt' von seiner auf ,Sehen' bezogenen etymologischen Grundbedeutung her, so ist es eine treffende offenbarungsphilosophische Bestimmung der Dinge, denn diese sind auf den beschränkten Blickwinkel (vgl. De vis. 8: h VI, N. 30, Z. 15f: angulus oculi) des Menschen hin ausgerichtete Selbstversichtbarungen Gottes. 52
Die natürliche
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als den sich in seiner Schöpfung offenbarenden Ursprung der Welt zurücküberträgt.54 Am ausfuhrlichsten wird dieser Zusammenhang in der Spätschrift ,De venatione sapientiae'55 thematisiert: Die eigene Einmaligkeit, über die sich ein jedes Einzelne freut, wird von Cusanus darin begründet, dass ein jedes in sich ungeteilt und von allem anderen abgeteilt ist. Die einmalige Unwiederholbarkeit besteht also in der Unterschiedenheit oder - negativ ausgedrückt - in der Unvergleichbarkeit eines Seienden. Auf der Grundlage dieser Begriffsanalyse entdeckt Cusanus, dass die Singularität in unterschiedlichen Intensitätsgraden gegeben ist: Während die Individuen zwar in der Weise ihrer Konkretion einzigartig sind, als Angehörige einer bestimmten Art (species) aber gleich sind, verfugt die Species im Verhältnis zu den anderen Arten ihrer Gattung bereits über einen höheren Grad von Singularität. Über die Singularität der Welt, die einzigartiger ist als die Einzigartigkeit aller Einzelnen, steigt Cusanus zum einzigartigsten (singularissimus) aller Wesen auf,
54
Die treffende Beobachtung, dass bei Cusanus die Differenz zwischen Schöpfer und Geschöpf immer weniger in der Kategorie von unterschiedlichen Prädikaten bestimmt wird (vgl. dahingehend: K. FLASCH, Nikolaus von Kues. Geschichte einer Entwicklung [Frankfurt/M. 1998] 294), findet ihren tieferen Grund nicht in einer transzendenzüberwindenden Vergöttlichung der Welt, sondern vielmehr im Verständnis der Welt als Selbstmitteilung des transzendenten Wesens Gottes. Auch bei diesem ,neuzeitlichen' Zug des cusanischen Weltverständnisses handelt es sich also um eine offenbarungsphilosophische Konsequenz. Nicht Cusanus .überträgt' Gottesprädikate auf die Welt, sondern er erkennt in der Welt die von Gott in der Schöpfung vorgenommene Mitteilung seiner Wesensprädikate. Weil Gott sein eigenes inneres Wesen in der Weltschöpfung mitteilen will, müssen beider Prädikate übereinstimmen und können sich nur in der Weise ihrer Verwirklichung unterscheiden. Diese offenbarungsphilosophische Einsicht führt dazu, dass Cusanus sowohl traditionellerweise Gott vorbehaltene Prädikate von der Welt aussagt (z.B. die Unendlichkeit) wie auch Eigenschaften des welthaften Seins in Gott absolut verwirklicht sieht (z.B. die Singularität). Die in der cusanischen Weltontologie implizierte Denkbewegung verlegt demnach nicht göttliche Wesenseigenschaften in die Welt, sondern führt vielmehr die wesentlichen Bestimmungsmomente der Welt auf ihren darin sich zeigenden göttlichen Ursprung zurück. 55
De ven. sap. 22: h XII, N. 65-67. Für eine ausführliche Interpretation des Singularitätsgedankens bei Cusanus auf der Grundlage zahlreicher weiterer Stellenbelege vgl.: G. v. BREDOW, Der Gedanke der singularitas in der Altersphilosophie des Nikolaus von Kues, in: Dies., Im Gespräch mit Nikolaus von Kues. Gesammelte Aufsätze 1948-1993, hg. v. H. Schnarr: BCG Sonderbeitrag (Münster 1995), 31-39. - Dies., Participatio singularitatis. Einzigartigkeit als Grundmuster der Weltgestaltung, in: ebd. 217-231. - TH. LEINKAUF, Die Bestimmung des Einzelseienden durch die Begriffe contractio, singularitas und aequalitas bei Nicolaus Cusanus, in: Archiv für Begriffsgeschichte 37 (1994) 180-211.
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zu dem es schlechthin nichts auch nur im Entferntesten Ähnliches oder Vergleichbares gibt, nämlich dem am meisten unwiederholbaren Gott. Indem Cusanus die in den Geschöpfen immer nur mehr oder weniger gegebene Einzigartigkeit als Teilhabe an der Ähnlichkeit der Singularität Gottes versteht, offenbart sich ihm darin Gott als die singularitas omnium singularium, der in seinem vereinzelnden Schöpfungswirken (deus singularizat) diese seine Wesenseigenschaft mitteilt. 3.1.2.5
Weil Gott sich in allem offenbart, ist jedwedes in jedwedem
Schließlich kann nun auch ein letztes, immer wieder als spezifisch neuzeitlich interpretiertes Element der cusanischen Universum-Theorie unter offenbarungsphilosophischem Gesichtspunkt betrachtet werden. Gemeint ist die sich aus dem Verständnis des Einzelseienden als Verwirklichungsgestalt des Universums ergebende These, dass alles in allem ist und somit jedwedes in jedwedem (omnia in omnibus et quodlibet in quolibet)." In prospektiv ausgerichteten CusanusInterpretationen wird diese Aussage in dem Sinne verstanden, dass Cusanus hier die traditionelle Substanzenontologie zugunsten einer relationalen Bestimmungsweise der Weltdinge überwinde.57 Ausgehend von dem von Cusanus selbst zur Versinnbildlichung seiner These herangezogenen Bild des Organismus sei die Relation insofern für das Sein des Einzelnen bestimmend, weil ein jedes in seiner Funktion für das andere aufgehe. Sowohl diese Position des relationalen Funktionalismus als auch ihre retrospektive, den Begriff der Substanz für Cusanus gleichsam rehabilitierende Kritik58
56
De docta ign. II, 5: h I, S. 76, Z. 7f (Ν. 117, Z. 81). Diese von H. ROMBACH (Substanz, System, Struktur. Die Ontotogie des Funktionalismus und der philosophische Hintergrund der modernen Wissenschaft [Freiburg / München 1965] Bd. I, 140-228) erstmals vertretene Sicht wurde von K. JACOBI (Die Methode der cusanischen Philosophie [Freiburg / München. 1969] 295-308) weiterentfaltet und von P. KAMPITS (Substanz und Relation bei Nicolaus Cusanus, in: ZphF 30 [1976] 31-50) übernommen. Die funktionalistische Deutung hat sich innerhalb der Cusanus-Forschung kaum durchgesetzt, vielmehr aber bei Autoren, die Cusanus unhinterfragt auf dieses nicht bei ihm selbst belegte Interpretationsmuster leicht ohne darüber hinaus gehende Auseinandersetzung mit den Quellen in andere Themenkontexte integrieren können. So wird beispielsweise bei R. HÜNTELMANN, Schellings Philosophie der Schöpfung. Zur Geschichte des Schöpfungsbegriffs (Dettelbach 1995), 42-68, Nikolaus von Kues kurzerhand als Repräsentant der ersten neuzeitlich-funktionalen Philosophie der Schöpfung vorgestellt. 58 Dahingehend zuletzt: H. BENZ, Individualität und Subjektivität. Interpretationstendenzen in der Cusanus-Forschung und das Selbstverständnis des Nikolaus von Kues: BCG 13 (Münster 1999) 148ff. 37
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lassen sich unter offenbarungsphilosophischem Gesichtspunkt als zu einseitig erweisen. Nach Cusanus bedeutet die Aussage Jedwedes ist in jedwedem' dasselbe wie die, dass Gott durch alles in allem ist.59 In dieser Gleichsetzung gibt Cusanus zu verstehen, wie seine Theorie der Einzelseienden von der Intention her motiviert ist, darin die Präsenz Gottes einsichtig zu machen. Berücksichtigt man diese ,Funktion' der Individuen im Offenbarungsgeschehen, dann ist der substanzkritischen Interpretationstendenz insofern zuzustimmen, als die Dinge nicht wesenhaft von Gott verschieden sein dürfen, wenn sie die Selbstmitteilung von Gottes Wesen sein sollen. Aus zwei Gründen kann hier aber die Behauptung, demzufolge trete bei Cusanus die Relation an die Stelle der Substanz, nicht nachvollzogen werden. Erstens: Wenn auch ein jegliches durch seinen (funktionalen) Bezug auf alle anderen bestimmt ist, so kann damit die cusanische These, dass jedes in jedem ist, nicht hinlänglich begründet werden, denn die Relation bezeichnet per definitionem nicht das In-Sein des einen Relats im anderen. Zweitens: Bereits auf der grammatikalischen Ebene der betreffenden Texte wird deutlich, welche Kategorie tatsächlich das In-Sein des einen im anderen aussagt und so bei Cusanus für die Ontologie der Einzelseienden bestimmend wird. In den zahlreichen Adverbialformen (contracte, diverse) kommt indirekt zum Ausdruck, wie das gegenseitige In-Sein der Weltseienden darin seinen Grund findet, dass ein jegliches alle(s) andere(n) auf andere, je singuläre Weise ist. Die Kategorie der Modalität, in der Cusanus ausdrücklich das Verhältnis zwischen Gott und Universum bestimmt, liegt bei ihm konsequenterweise auch seinen Aussagen über jene Wirklichkeit zugrunde, in der allein die universale Seinsweise ihre Verwirklichung findet, nämlich den Einzelseienden. Dafür lässt sich schließlich auch ein tieferer offenbarungsphilosophischer Grund angeben: Wenn die singuläre, unerschöpfliche Seinsfülle Gottes für den Menschen sinnenfällig geoffenbart werden soll, so kann dies nur in einer privativ unendlichen Vieleinheit von je singulären Einzelseienden geschehen, in denen der allumfassende Seinszusammenhang jeweils in der Weise eines anderen Aspektes verwirklicht wird. Weil Gott nur im konkreten Einzelnen in Erscheinung treten kann, seine Seinsfulle aber erst in einer potentiell unendlichen Vielzahl verschiedener Individuen bestmöglich mitgeteilt wird, muss die Offenbarung in einem in sich zu einer Allheit differenzierten Universum von Einzelseienden erfolgen, in dem jedes Einzelne die universale Pluralität zur sichtbaren Wirklichkeit einer konkreten Manifestationsweise einschränkt. Deshalb ist alles in allem und jedwedes in jedwedem.
59
De docta ign. II, 5: h I, S. 76, Z. 24f (Ν. 118, Z. 8f).
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Dimensionen der Offenbarkeit des Geheimnisses
Weil so nach Cusanus ein jegliches gerade als Konkretionsweise der universalen Pluralität das göttliche Wesen repräsentiert, ist auch die Behauptung unzutreffend, Cusanus habe sich in seiner Universum-Theorie von der Substanzkategorie gänzlich verabschiedet. In jenen Interpretationen, welche die Bedeutung der Substanz bei Cusanus reaffirmieren wollen, wird andererseits stets übersehen, dass Cusanus die klassische Substanzmetaphysik in einem entscheidenden Punkt modifiziert. Auch in dieser Frage verhilft die offenbarungsphilosophische Perspektive zu einem differenzierteren Urteil: Weil in jedem Einzelnen nichts anderes als das göttliche Wesen in einer konkreten Sichtbarkeitsweise des Weltalls erscheint, gibt es im cusanischen Universum zwar keine Vielzahl endlicher Substanzen mehr, wohl aber eine einzige, all ihren vereinzelten Offenbarkeitsweisen gemeinsam zugrundeliegende, göttliche Substanz.60 3.1.2.6
Nicht nur die Existenz, auch der innere Lebensvollzug des göttlichen Wesens ist in jedem Ding offenbar
Die Bedeutung des welthaften Einzelseienden im Offenbarungsgeschehen kulminiert nach Cusanus nun darin, dass in jedem Einzelnen nicht nur die unerschöpfliche göttliche Seinsfülle in der Konkretionsweise eines Aspektes geoffenbart wird, sondern darüber hinaus auch der innere Lebensvollzug des göttlichen Wesens nach außen tritt. Die menschenmögliche Gotteserkenntnis vollendet sich in der Einsicht, dass die Einheit, die von Gott ausgesagt wird, keine mathematische ist, sondern eine wahre und lebendige, alles einfaltende. Die einheitliche göttliche Seinsfülle auf lebendige Weise wechselbezüglich zu denken, ist nach Cusanus der Sinn des christlichen Trinitätsglaubens: Dreieinheitlich nämlich ist das Leben, ohne das es keine Freude und höchste Vollkommenheit gibt. Daher gehört es zum Wesen des vollkommensten Lebens, dass es auf vollkommenste Weise dreieinig ist, so dass das Lebenkönnen in dem Maße allmächtig ist, dass es aus sich Leben seinesgleichen erzeugt. Und aus diesen beiden geht der Geist der Liebe und die ewige Freude hervor.61
Im dreieinheitlichen Lebensvollzug seines Wesens ist Gott für den Menschen nicht zuletzt deshalb ein Geheimnis, weil die drei verschiedenen Momente des innergöttlichen Lebens in einem so hohen Ausmaß mit der göttlichen Einheit identisch sind, dass dies die begrifflichen Fähigkeiten menschlicher Rationalität
60
Vgl. auch das diesbezüglich ,abschließende' Urteil des Cusanus in seiner wahrscheinlich letzten Schrift De ap. theor:. h XII, N. 4, Z. 5f: ... et hinc non aliam et aliam aliorum entium quiditatem, sed eandem omnium hypostasim. 61 Depossh XI/2, N. 50, Z. 3-11.
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übersteigt. Das trinitarische Wesen Gottes kann nur in paradoxen Formulierungen annähernd zur Sprache gebracht werden: Die Einheit selbst ist Dreifaltigkeit. Deshalb ist jedwede unter den göttlichen Personen die Einheit selbst. Und da die Einheit Dreifaltigkeit ist, so ist eine Person nicht die andere."
Wenn Gott dem Menschen nicht nur zu erkennen geben will, dass er ist, sondern ihn auch an seinem inneren Lebensvollzug teilhaben lassen will, so muss er sein trinitarisches Wesen in einer Weise mitteilen, die der Mensch erfassen kann. Im sinnenfalligen Einzelding als dem einzig möglichen Ort der Offenbarung muss demnach auch die Trinität unter den Bedingungen der Endlichkeit gegenwärtig sein. Bestmöglich wird diese Offenbarungsintention verwirklicht, wenn die trinitarische Bestimmtheit zu jedem Ding nicht nur wie ein Akzidens hinzukommt, sondern für dessen Wesen selbst konstitutiv ist. Dies sieht Cusanus gegeben, indem er das Zustandekommen des kontrakten Einzelseienden auf seine Prinzipien hin zurückführt. Dabei entdeckt er, dass die Einschränkung nicht ohne Einschränkbares, Einschränkendes und Verbindung sein kann, welche Verbindung durch das gemeinsame Tätigsein beider vollendet wird." Die von der Einschränkbarkeit bezeichnete materielle Möglichkeit sieht Cusanus in der zeugenden Einheit Gottes absolut verwirklicht, die einschränkend wirkende geistige Form steigt vom göttlichen Wort herab, und die Verbindung beider zeigt die Präsenz der einenden Liebe des Heiligen Geistes.M Die breiten Ausführungen über die ,Dreieinheit des Universums' im zweiten Buch von ,De docta ignorantia' intendieren den Nachweis, dass in ausnahmslos jedem einzelnen Ding die Trinität in einer singulären Offenbarkeitsweise erscheint. Gott zeigt sich in jedem Geschöpf als das dreieinige wahrste und gleichkommendste UrbildDahingehend fasst Cusanus seine diesbezüglichen Gedankengänge abschließend zusammen: Wir wissen jetzt aus dieser Darstellung um die Dreifaltigkeit des Universums, und dass es nichts von allem gibt, was nicht eine Einheit aus Potenz, Akt und Bewegung der Verknüpfung wäre, und dass keines von diesen ohne das andere absolut bestehen könnte, so dass notwendigerweise jene drei in allem sich finden in so verschiedener Weise und ganz verschiedenen Gradabstufungen, dass auch nicht zwei Dinge im Uni-
62 63 64 65
De docta ign. II, 7: h I, S. 82, Z. 1-3 (N. 127, Z. 12-14). De docta ign. II, 7: h I, S. 82, Z. 15-17 (N. 128, Ζ. 11-13). Vgl. De docta ign. II, 7: h I, S. 82, Z. 18 - S. 83, Z. 19 (N. 128, Z. 15 - N 130, Z. 9). De poss. : h XI/2, N. 74, Z. 8f.
Dimensionen der Offenbarkeit des Geheimnisses
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versum hinsichtlich jener drei oder auch nur in einem von ihnen völlig gleich sein können.66
Die Offenbarkeit der Trinität in jedem Ding wird von Cusanus am Beispiel der Rose verdeutlicht.67 Daraus geht zweierlei hervor: Zum einen, wie die Gegenwart der Trinität in einem welthaften Einzelseienden konkret zu denken ist - und wie konkret Cusanus diese denkt. Und zum anderen, wie die Weise näher zu bestimmen ist, in der die unbegreiflich geheimnishafte Dreieinheit Gottes für den Menschen ansichtig wird: Die Rose nämlich, die im Rosenstock während des Winters der Möglichkeit nach steckt und der Wirklichkeit nach im Sommer erscheint, ist von einer Seinsweise der Möglichkeit zu der der wirklichen Bestimmtheit übergegangen. Daraus wird der Unterschied zwischen der Seinsweise der Möglichkeit, der Notwendigkeit und der wirklichen Bestimmtheit ersichtlich. Sie bilden zusammen eine allumfassende Seinsweise, da ohne sie nichts existiert; noch ist eine Seinsweise ohne die anderen aktuell wirklich.68
Die dreieinheitlichen Momente des innergöttlichen Lebensvollzugs werden deshalb in den konkreten Einzeldingen für den Menschen offenbar, weil sie hier nicht wie in Gott auf die Weise des absolut raum-zeitfreien Zugleich, sondern in raumzeitlichem Nacheinander erscheinen und so vom Menschen sinnlich wahrgenommen werden können. Nach Cusanus impliziert die welthafte Selbstoffenbarung der Trinität eine Abschwächung ihrer inneren Einheit zugunsten einer Zunahme von Differenz, die nunmehr durch die trinitarische Relationalität zusammengehalten wird, der das Universum und damit das Einzelseiende seine individuelle Einheit verdankt: Auch ist nicht eine [sc. der trinitarischen Korrelationen] in den anderen aktuell wirklich, sondern sie sind so, wie es die Bedingung der Einschränkung erlaubt, in vollendetster Weise im gegenseitigen Bezug eingeschränkt, so dass aus ihnen ein All entsteht, das ohne diese Dreifaltigkeit nicht eines sein könnte.69
In dieser ihrer radikalsten Konsequenz, wonach das trinitarische Wesensgeheimnis Gottes in jedem Ding offen zutage liegt, gewinnt die cusanische Offenbarungsphilosophie auch ihre spezifische Gestalt, durch die sie beispielsweise von der diesbezüglichen, weit wirkungsmächtigeren Position des Thomas von Aquin abgegrenzt werden kann. In seinen Quaestionen zur Trinität behandelt Thomas 66
De docta ign. II, 11: h I, S. 99, Z. 16-21 (N. 156, Z. 4-10). Zahlreiche weitere Beispiele werden angeführt und interpretiert in der fur das trinitätsphilosophische Weltverständnis insgesamt aufschlussreichen Studie von: R. HAUBST, Das Bild des Einen und Dreieinen Gottes in der Welt nach Nikolaus von Kues (Trier 1952). 68 De docta ign. II, 7: h I, S. 84, Z. 15-20 (N. 131 Z. 7-13). 69 De docta ign. II, 7: h I, S. 82, Z. 12-15 (N. 128, Z. 8-11). 67
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das Problem, inwieweit das dreifaltige Wesen Gottes in den von ihm geschaffenen, natürlichen Weltdingen einsehbar ist, innerhalb der übergeordneten Fragestellung, ob die Dreieinheit der göttlichen Personen durch den natürlichen Verstand erkannt werden kann.10 Zuerst analysiert er die methodische Struktur der Wesensverwirklichung menschlicher Rationalität, um dann daraus Möglichkeiten und Grenzen einer natürlichen Gotteserkenntnis bestimmen zu können. Weil menschliche Erkenntnis immer von den Wirkungen auf die Ursache zurückschließt, kann sie Gott nur als omnium entium principium erreichen. Dies impliziert aber nach Thomas ausdrücklich keine Einsicht in die Trinität, weil die virtus creativa allen drei göttlichen Personen zugleich zukommt. Die ratio naturalis kann nur ea, quae pertinent ad unitatem essentiae erfassen, nicht aber ea, quae pertinent ad distinctionem personarum. Diese Sichtweise hat nun weitreichende Konsequenzen. Die Mitteilung des trinitarischen innergöttlichen Wesens erfordert nach Thomas die Eröffnung einer übernatürlichen Offenbarungsdimension, in der dem Menschen jene Glaubenswahrheiten kundgetan werden, die er mit den Fähigkeiten seiner natürlichen Vernunft niemals erkennen könnte. Systematisch wirkt sich diese Entscheidung dahingehend aus, dass Thomas eine dem Glauben vorausgehende, auf Vernunftprinzipien beruhende natürliche Philosophie von einer übernatürlichen Offenbarungstheologie abhebt, die allein von den Glaubenssätzen ausgeht. Nach Cusanus hingegen ist in jedem Ding auf je singulare Weise Gott nicht nur als das nach außen wirkende Seinsprinzip gegenwärtig, sondern auch sein inneres trinitarisches Leben äußerlich mitgeteilt. An den Ausführungen zur Trinität des Universums wird an einem konkreten Beispiel deutlich, dass all diese Distinktionen bei Cusanus nicht nur keine Entsprechung finden, sondern infolge einer unterschiedlichen Vorentscheidung nicht einmal eine Grundlage haben können. Wo sie dennoch - ausdrücklich oder unausdrücklich - zur Interpretation des cusanischen Gedankens herangezogen werden, verstellen sie eher den Blick auf dessen innere Einheit, als dass sie ihn erhellen.
3.1.3
Komplikative und explikative Betrachtung der Welt
Wie Cusanus die Bestimmung der Schöpfung als Theophanie in seine Reflexion auf das Offenbarungsgeschehen integriert, wird insbesondere in der Argumentation deutlich, mit der er im folgenden Text den kreativen Prozess der Selbstversichtbarung Gottes näherhin erklärt: 70 Summa theologiae rationem cognosci.
I 32, 1: Utrum trinitas divinarum personarum possit per
naturalem
80
Dimensionen der Offenbarkeit des Geheimnisses Die Weisheit ging aus dem Mund des Höchsten hervor als die Erstgeborene vor aller Kreatur. [...] Diese Weisheit erhellt, indem sie allem Gestalt gibt, und leuchtet überall. [...] So wird in den Geschöpfen die Weisheit Gottes des Vaters Geschöpf genannt. Was anderes ist das Geschöpf als die so geoffenbarte (ostensa) Weisheit Gottes? Wie auch ein Buch des Aristoteles nichts anderes ist als die so mitgeteilte und geoffenbarte Weisheit des Aristoteles. Als eine zweifache kannst du daher die Welt betrachten: eine in der Weisheit vor jedem Geschöpf wie in der Kunst; die andere in der Ausfaltung wie in der sichtbaren Wirkung. In der ungeschaffenen Weisheit wird die Welt gesehen wie das Verursachte in der Ursache; in der Welt wird die Weisheit gesehen wie die Ursache im Verursachten.71
In dieser Predigtpassage begegnen die aus den interpretierten Texten bereits bekannten Elemente des offenbarungsphilosophischen Schöpfungsverständnisses wieder: Die Welt wird hier begriffen als die in ihrer Sichtbarkeit dem Menschen zugängliche Seinsweise Gottes. Den durch die Selbstoffenbarung Gottes in der Schöpfung eröffneten Weg der Gotteserkenntnis beschreitet Cusanus, indem er durch die offenbarungsphilosophische Methode einer zweifachen Betrachtung der Welt Gott als die andere Seinsweise der Welt erkennt. Für die Bestimmung Gottes als die andere Welt gibt er die Begründung, dass die kreatürlichen Wirkungen bereits vor der Schöpfung in Gott enthalten sind wie das Verursachte in der Ursache. Wie Cusanus in diesem Gedanken das klassische Kausalitätskonzept durch dessen Integration in die Reflexion auf das Offenbarungsgeschehen modifiziert, geht insbesondere durch die Gleichsetzung der verursachten Wirkungen mit Ausfaltungen Gottes hervor. Hiermit wird deutlich, dass Cusanus die seinsbegründende Wirksamkeit Gottes nicht als die Setzung von Substanzen versteht, die sich von der göttlichen unterscheiden, sondern das Kausalitätsverhältnis vielmehr im Sinne seines in ,De docta ignorantia' II 3 konzipierten Begriffspaares complicatio-explicatio als Alterierung der Seinsweise eines und desselben göttlichen Wesens begreift: Gott ist die Einfaltung und Ausfaltung aller Dinge; sofern er Einfaltung ist, ist alles in ihm er selbst; sofern er Ausfaltung ist, ist er in allem das, was es ist.72
Indem Cusanus diese Begrifflichkeit im Kontext der zitierten Predigtpassage wieder aufgreift, weist er selbst darauf hin, dass mit der Konzeption von Einfaltung und Ausfaltung jene Verhältnisbestimmung von Gott und Welt gefunden ist, die dem theologischen Vor-Verständnis der Welt als Selbstoffenbarung Gottes entspricht. Über ,De docta ignorantia' hinaus wird hier die Intention Gottes, sich selbst dem Menschen mitzuteilen, als der ursprüngliche Grund dafür begriffen, 71 72
Sermo CLXIII,Quasi mirra electa': Ρ II, fol. 78r. De docta ign. II, 3: h I, S. 72, Z. 13-15 (N. I l l , Z. 12-14).
Die natürliche Weltwirklichkeit
81
dass Gott die im unzugänglichen Innersten seines Wesens eingefalteten Reichtümer in die raumzeitliche Differenz der natürlichen Weltwirklichkeit hinaus entfaltet.
3.1.3.1 Die vorgeschöpfliche Seinsweise der Welt im göttlichen Intellekt Neben diesen Vertiefungen zu bereits thematisierten Aspekten des offenbarungsphilosophischen Weltverständnisses enthält die zitierte Predigtpassage aber auch einen gedanklichen Fortschritt. Die vor-geschöpfliche Seinsweise der Welt wird hier in Anlehnung an den biblischen Sprachgebrauch als die göttliche Weisheit bestimmt und ihre sichtbare Offenbarung in der Schöpfung mit der Mitteilung der Weisheit eines Autors in seinem Buch verglichen. Beide Gedanken vermitteln jeweils einen neuen Gottes- bzw. Weltbegriff, die in ihrem Zusammenhang Einsichten über den Vorgang der Selbstoffenbarung Gottes in seiner Schöpfung ermöglichen. Die biblische Rede von der schöpferischen Weisheit Gottes reflektiert Cusanus, indem er sie mit dem griechischen Konzept einer weltbegründenden Vernunft gleichsetzt; dabei interpretiert er beide Traditionen neu als Ausdrucksformen des Offenbarungsgeschehens und denkt sie dadurch weiter. Welche neuen Aspekte sich daraus für das philosophische Verständnis der Offenbarung ergeben, ist im folgenden Text kurz zusammengefasst: Du musst zuerst beachten, dass eines der erste Ursprung ist, und er wird gemäß Anaxagoras Vernunft genannt; von ihr aus geht alles ins Sein hervor, damit sie sich selbst offenbare (manifestet). Die Vernunft nämlich findet ihre Freude daran, das Licht ihrer Einsicht zu zeigen (ostendere) und mitzuteilen. Die Schöpfervernunft (conditor intellectus) also macht sich zum Ziel ihrer Werke, nämlich damit ihre Herrlichkeit offenbar werde (manifestetur), und deshalb schafft sie Substanzen, die mit Erkenntniskraft begabt sind, damit sie ihre Wahrheit sehen können, und ihnen zeigt sich der Schöpfer in der Weise, in der sie ihn erfassen können, als sichtbaren. Dieses zu wissen ist das erste; in ihm ist eingefaltet alles enthalten, was zu sagen ist.73
Indem Cusanus hier die Glaubensgegebenheit des christlichen Offenbarungsgottes mittels des aus der griechischen Philosophie herkünftigen Gedankens der göttlichen Weltvernunft reflektiert, kann er ein Dreifaches aufzeigen: Zunächst lässt sich damit die Glaubenserfahrung der Verborgenheit Gottes in der Einsicht begründen, dass Gott aufgrund seiner Wesensbestimmung als reiner Geist der auf die sinnliche Wahrnehmung verwiesenen endlichen Erkenntnis nicht zugänglich ist. Zum anderen wird durch die Annahme der Vernunft als Gott und dem Menschen gemeinsame Wesenseigenschaft deutlich, wie Gott den Menschen auf die 73
De beryl. 3: h 2 XI/1, N. 4, Z. 1-9.
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Dimensionen der Offenbarkeit des Geheimnisses
Gemeinschaft mit sich hin erschafft, indem er ihm an der eigenen Wesenbestimmung teilgibt. Schließlich wird in der Zusammenschau dieser beiden Erkenntnisse die Notwendigkeit einer Selbstoffenbarung Gottes in sinnlich wahrnehmbarer Vermittlungsgestalt einsichtig. Durch die Identifikation Gottes mit der Vernunft und das Verständnis der Gottebenbildlichkeit des Menschen als Teilhaberelation daran, lässt sich nun auch näherhin erklären, wie Gott durch die Weltschöpfung dem Menschen offenbar wird: Die göttliche Schöpfervernunft konstituiert die natürliche Weltwirklichkeit, indem sie ihr eine intelligible Struktur mitteilt, die als solche vom menschlichen Intellekt erkannt und auf Gott als ihr Prinzip zurückgeführt werden kann. Die Konstitution des Universums, in dem Gott sich offenbaren will (manifestaret), ist deshalb die vollkommene Offenbarung (revelatio) der Herrlichkeit und Weisheit Gottes,14 weil im Universum, dem die Schöpfervernunft vorsitzt, nichts gefunden wird außer die Ähnlichkeit oder der Begriff des Schöpfers selbst J5 Die vom Menschen durch die begriffliche Abstraktion aus den Sinnendingen erkennbaren Artbestimmungen {species)16 werden von Cusanus als Offenbarungsgestalten der ewigen Schöpfervernunft gedeutet: Du wirst sehen [...], wie göttlich alle Artbestimmungen aufgrund der substantiellen oder vollkommenen Ähnlichkeit mit dem ewigen Vernunftgrund sind, und dass in ihnen die Schöpfervernunft sich offenbart (manifestet), und dass die Artbestimmung, die die Washeit eines jeden Individuums ist, Wort oder Absicht dieser sich so in der Weise der Artbestimmung offenbarenden (ostendentis) Vernunft ist.77
Die gemäß der griechischen Theorie für das Sein der Sinnendinge konstitutive Vermittlung einer intelligiblen Wesensform durch die demiurgische Weltvernunft wird somit als die Weise begriffen, wie sich der göttliche Intellekt durch seine sichtbare Selbstexplikation in der Schöpfung dem menschlichen Intellekt offenbart. Indem Cusanus das christliche Offenbarungsgeschehen durch die griechische Weltvernunft-Konzeption reflektiert, entdeckt er in letzterer einen auf das Gottesverhältnis des Menschen bezogenen, tieferen Sinn. 74
De non aliud 13: h XXIII, S. 55, Ζ. 11-14 (N. 106). De beryl. 18: h 2 XI/1, N. 26, Z. 8f. 76 Wenn S. OTTO (in: Renaissance und frühe Neuzeit. Geschichte der Philosophie in Text und Darstellung 3 [Stuttgart 1984] 252ff) das Wort species in diesem Kontext mit Versichtbarungsgestalt übersetzt, so wird er damit der cusanischen Neuinterpretation dieser Begrifflichkeit gerecht, versäumt es aber, die Reflexion auf die Glaubensvorgabe des Offenbarungsgeschehens als Motivationsgrund dieses Verständnisses aufzuweisen. Vgl. zum species-Begriff bei Cusanus auch: K.H. VOLKMANN-SCHLUCK, Die Lehre des Nicolaus von Cues von der species, in: Kant-Studien 48 (1956/57) 235-246. 11 De beryl. 36: h 2 XI/1, N.64, Z. 15-19. 75
83
Die natürliche Weltwirklichkeit 3.1.3.2
Die Fruchtbarkeit
der göttlichen
Schöpfervernunft
Wie die Weltschöpfung als Teilmoment des Offenbarungsgeschehens zu verstehen ist, begründet Cusanus in einer längeren Textpassage,78 indem er - legitimiert durch den Gottebenbildlichkeitsgedanken - von der Wirksamkeit der menschlichen Vernunft auf diejenige der göttlichen zurückschließt. Um sich durch das Sinnenfällige zur Fruchtbarkeit der Vernunft und von dort zur göttlichen Fruchtbarkeit zu erheben, nimmt Cusanus zunächst die Werke des Menschen in ihrer von Gesetzgebungssystemen bis zu wohlschmeckenden Speisen reichenden Vielfalt zur Kenntnis; weil sie allesamt aus der unsichtbaren und in keiner Weise sinnlich wahrnehmbaren Vernunft hervorgegangen sind, schließt er daraus, dass sie in ihr vorher auf vernunfthafte Weise in viel höherem Grade existiert haben. Warum die Vernunft mit ihren Werken in eine niedrigere Seinsweise aus sich heraustritt, begründet er damit, dass die reiche Vernunft zur Sichtbarmachung ihrer Herrlichkeit sich in ihren Werken zeigt, mitteilt und das, was sie auf vernunfthafte Weise in sich hat, möglichst genau auf sinnenfällige Weise zu entfalten sucht, um so gemäß der Natur des Guten auszuströmen und Anteil an sich zu geben. In Analogie dazu erklärt Cusanus nun die Vorhandenheit alles welthaft Seienden: Die Mannigfaltigkeit der Dinge erkennt er als das Werk des schlechthin einfachen und fruchtbaren Schöpfers und folgert daraus, dass sie in seinem Können oder in seiner Weisheit eben Gott selbst waren. Von daher lässt sich die Schöpfung als Offenbarung (ostensio) dessen begreifen, was immer und ewig in Gottes Geist er selbst war. Den Grund für den schöpferischen Selbstaufschluss Gottes sieht Cusanus darin, dass der gebenedeite Gott die Reichtümer seiner Herrlichkeit aus purer Güte sichtbar macht, damit man Gott schauen wird, schlechthin einfach, unsagbar reich und schön. Weil er sich in der Vielfalt seiner welthaften Manifestationen allen Sinnesorganen des Menschen - auch dem Geruchs- und Geschmacksnerv - offenbart, kann der unsichtbare göttliche Geist wahrgenommen werden: Aus seinem Reichtum hat er selbst so viele lichte, vollkommen geformte himmlische Wesen, so viele leuchtende Sterne, so viele lebendige Wesen, so viele äußerst angenehme Wohlgerüche und Leckereien sowie die schönsten Blumen und unzählige andere Dinge hervorgebracht und sich so geoffenbart. In diesem Gedankengang macht Cusanus anhand von Analogien mit der menschlichen Vernunft deutlich, welchen Sinn die spekulative Identifikation des Offenbarungsgottes mit der weltbegründenden Vernunft hat. Dabei modifiziert er indirekt das Verständnis der Wesenswirklichkeit menschlicher Vernunft, weil er sie bereits als Abbild des schöpferischen Intellekts des Offenbarungsgottes kon78
Crib. Alk. II, 4: h VIII, N . 9 7 - 9 8 .
84
Dimensionen der Offenbarkeit des Geheimnisses
zipiert. Dies zeigt sich insbesondere darin, dass er hier die menschliche Geistbegabung als Befähigung zu produktiver Fruchtbarkeit begreift.79 Offenbarungsphilosophisch konsequenzenreich wird nun die Feststellung, dass der Mensch die Vernunft als solche aufgrund ihrer Unsichtbarkeit nicht zu erkennen vermag, sondern nur aus ihren sichtbaren Werken ihre Kapazität erschließen kann. Ihre Produktivität hat für die menschliche Vernunft somit den tieferen Sinn, sich selbst bekannt zu machen. Durch die Identifikation des christlichen Gottes mit der weltkonstitutiven Vernunft lässt sich daher erklären, warum und wie Gott sich offenbart, um vom Menschen erkannt zu werden: Gott offenbart sich, weil er ansonsten der auf die sinnliche Wahrnehmung verwiesenen endlichen Intellektnatur unzugänglich bliebe, indem er seine geistige Kapazität im Schöpfungswerk sichtbar werden lässt. Durch die Bestimmung Gottes als kreative Vernunft vermag Cusanus schließlich die im Offenbarungsglauben vorgegebene Erfahrung zu begründen, dass ein unendlicher Reichtum an Möglichkeiten verborgen sein und offenbar gemacht werden kann.
3.1.4
Die Welt als von Gott geschriebenes Buch
Das Weltverständnis, das der Bestimmung des Offenbarungsgottes als sich in der Schöpfung sinnenfallig mitteilender Intellekt präzise entspricht, bringt Cusanus zum Ausdruck, wenn er die Welt als von Gott geschriebenes Buch begreift.80 Auch hier steigt er wie im zuletzt interpretierten Text von der Wirksamkeit des gottebenbildlichen Intellekts des Menschen zu seinem göttlichen Urbild auf: Wenn wir betrachten, wie die Vernunft sich mit Freude mitteilt, wie wir es mittels der Schriften erfahren, durch die die Schreibenden ihre Vernunft mitzuteilen trachteten,
79
Vgl. dazu das Kapitel ,Die Bildhaftigkeit der endlichen Kreativität des Menschen' in: Die Einheit von Selbst-, Welt- und Gottesbezug nach Nikolaus von Kues, 379-
M. THURNER, 383. 80
Zu Bedeutung und Herkunft dieser Redeweise vgl. die ausführlichen und wertvollen Hinweise von H. G . Senger in der Anmerkung zu n.21,1-6 seiner kommentierten Übersetzung von De apice theoriae (=NvKdÜ H. 19; Philosophische Bibliothek Meiner 383, Hamburg 1986) 129-131; sowie: R. HAUBST, Das Bild des Einen und Dreieinen Gottes bei Nikolaus von Kues (Trier 1952) 3 0 f - und schließlich in der lateinischen Heidelberger Akademieausgabe der Opera omnia (h IV) die Anmerkung zu De Gen. 4: h IV, N. 171, Z. 3: ...quia non desunt sancti, qui mundum libro scripto configurant.
Die natürliche Weltwirklichkeit
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kann es nicht verwundern, wenn Gott, der reinste Vernunft ist, seine Reichtümer mitteilen und bekannt machen wollte.81
Die Einsicht, dass die Vernunft aufgrund ihrer Unsichtbarkeit vom Menschen nur in ihren sichtbaren Werken erkannt werden kann, wird hier von Cusanus auf jene Hervorbringung konzentriert, die sich am meisten zum Vergleich mit der Offenbarkeit des göttlichen Intellekts im Schöpfungswerk eignet. Weil ein Buch per definitionem die sinnliche Vermittlungsgestalt eines geistigen Bedeutungsgehaltes ist, kann durch die Bezeichnung der Welt als Buch deutlich gemacht werden, wie die Schöpfung als Selbstmitteilung des göttlichen Geistes zu verstehen ist. Gleich wie die sinnlich wahrnehmbaren Schriftzeichen hat auch die Mannigfaltigkeit der Weltseienden den Sinn, über sich hinaus auf die unsichtbaren Gedanken ihres Urheberintellekts zu verweisen. Den sich so zeigenden Geist kann der Mensch erkennen, wenn er die sichtbaren Zeichen übersteigt, indem er sie als Ausdruck einer gedanklichen Wirklichkeit versteht: Diese Offenbarung (ostensio) muss so begriffen werden, als wenn jemand mit einem einzigen Blick die Vernunft Euklids sähe und diese Schau das Erfassen eben der Kunst wäre, die Euklid in seinen .Elementen' entfaltet. So ist die göttliche Vernunft die Kunst des Allmächtigen, durch die er die Zeiten und jedes Leben und jede Intelligenz gemacht hat.82
3.1.4.1
Der menschliche Intellekt als Vermögen, das Schöpfungsbuch zu lesen
Für das Vermögen, die Welt als von Gott geschriebenes Buch zu lesen, gibt Cusanus selbst in der Figur des Laien (Idiota) aus den gleichnamigen Dialogen ein lebendiges Beispiel. Dieser verweist im Gespräch mit einem schulmäßig gebildeten Redner auf ebendiese Erkenntnisquelle: R: Wie kannst du zum Wissen deiner Unwissenheit geführt worden sein, da du doch ein Laie bist? - L: Nicht aus deinen, sondern aus Gottes Büchern. - R: Welche sind das? L: Die er mit seinem Finger geschrieben hat. - R: Wo findet man die? - L: Überall. R: Also auch auf diesem Marktplatz? - L: Sicher. Ich sagte ja schon, die Weisheit ruft auf den Plätzen.83
Für das Verständnis der Bezeichnung der Welt als Buch sind diese Aussagen insofern wichtig, als aus ihnen hervorgeht, dass damit keineswegs eine Intellektualisierung der Welt und des sie wahrnehmenden Menschen intendiert ist. Die 81
Sermo CLIV ,Vere filius dei erat iste': Ρ II, fol. 84v. De beryl. 38: h 2XI/1, N. 70, Z. 1-5. "De sap. I: h 2V, N. 4, Z. 5-13.
82
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Dimensionen der Offenbarkeit des Geheimnisses
Tendenz geht vielmehr in eine andere Richtung: Das Schulbuchwissen soll überwunden werden zugunsten einer ursprünglichen Unmittelbarkeit zur Natur, die der Idiota in seiner Einfalt verkörpert. Die Bestimmung der Weltschöpfung als Offenbarmachung des göttlichen Geheimnisses ist somit der Grund dafür, dass die mystisch reine Betrachtung der überall offen zutageliegenden Natur der wahre Weg zur Weisheit ist. Wie aus dem Verständnis der Schöpfung als Weise, wie Gott sich dem Menschen offenbart, die Rede von der Welt als Buch hervorgeht, macht Cusanus selbst in der Fortsetzung jenes Predigtzitates deutlich, in dem er Gott als die ,ewige Welt' bestimmt hatte: Nimm als einigermaßen passendes Beispiel dafür das Buch der Weisheit: Da die Weisheit sich offenbaren wollte, gab sie ein Buch über sich heraus. [...] Das Buch enthält die Weisheit auf eine Weise, wie sie am besten mitteilbar und sinnfällig zu offenbaren (ostensibilis) ist. Dennoch ist die Weisheit nicht die Form des Buches, sie bleibt vielmehr unabhängig(absoluta) in sich. Die Welt ist wie das Buch der ewigen Kunst oder Weisheit. Darum hat die Weisheit noch einige zu ihrer Aufnahme befähigte Wesen geschaffen, welche ihr in eigentlicherem Sinne ähnlich sind, und das sind die geistbegabten Naturen. [...] Jene zur Aufnahme der Weisheit so befähigten Wesen sind ihr selbst zugehörig, und die Weisheit hat sich ganz nah zu ihnen herabgelassen, weil sie zu ihrer Aufnahme befähigt sind.84
Um durch ein Gleichnis möglichst nahe an die offenbarungsphilosophische Ursprungsintention der Rede von der Welt als Buch heranzufuhren, setzt Cusanus in diesem Gedankengang beim alttestamentlichen Buch der Weisheit an. Dieses Beispiel ist deshalb noch geeigneter als der oben zitierte Vergleich mit Euklids ,Elementen', weil das Buch der Weisheit bereits als von Gott selbst zu seiner Offenbarung inspirierte Schrift gilt. Hiermit wird unmissverständlich deutlich, wie in der Rede vom Buch jener Aspekt im Vordergrund steht, dass es der Selbstmitteilung des ansonsten verborgen bleibenden Geistes seines Autors dient. Im Schreiben des Buches wird anschaulich, wie Offenbarung konkret geschieht, indem der Urheberintellekt sich selbst in sinnlich wahrnehmbarer Weise mitteilt. Durch die Bestimmung des Buches als offenbare Seinsweise der Intelligenz seines Autors weist Cusanus auf, wie ein Buch nichts anderes beinhaltet als den Geist des Schriftstellers, zugleich aber davon unterschieden ist. Dieser Unterschied ergibt sich daraus, dass in den sinnenfälligen Zeichen die intellektuelle Kapazität ihres Urhebers zwar auf bestmögliche Weise mitteilbar ist, nie aber in
84
Sermo CXLI ,Verbum caro factum est': zitiert nach: J. KOCH (Hg. u. Übers.), CT I. Predigten; 2./5. Vier Predigten im Geiste Eckharts, Heidelberg 1937, hier: Predigt 3; N. 7, Ζ. 1 N. 8, Z. 7.
Die natürliche Weltwirklichkeit
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ihrer Vollkommenheit dargestellt werden kann und so in sich losgelöst (absolut) bleibt. Dem Verhältnis eines Autors zu seinem Buch entsprechend deutet Cusanus nun die Erschaffung der Welt durch Gott. Inwieweit in der Bezeichnung der Welt als das Buch der ewigen Kunst oder Weisheit das Verständnis der Schöpfung als Moment des Offenbarungsgeschehens zwischen Gott und Mensch zum Ausdruck kommt, zeigt sich darin, dass der Gedankengang des zitierten Textes auf die Bestimmung des Menschen als desjenigen Wesens hin ausgerichtet ist, das durch seine gottebenbildliche Geistbegabung die Befähigung zur Aufnahme der buchartigen Selbstmitteilung der göttlichen Weisheit hat. Die Intellektbegabung wird hier von Cusanus als Ausdruck der wesenhaften Bezogenheit des Menschen auf Gott gedeutet und die Bestimmung der Welt als Buch der ewigen Weisheit auf die Glaubenserfahrung zurückgeführt, dass Gott sich in seiner Selbstoffenbarung ganz nah zum Menschen herabgelassen hat. 3.1.4.2
Die freie Finalisierung des Schöpfungsbuches menschlichen Intellekt
auf den
In seiner vermutlich letzten Schrift ,De apice theoriae' bringt Cusanus in einer zusammenfassenden Formel auf den Begriff, dass die Bezeichnung der Welt als Buch die Weise reflektiert, wie Gott sich in der Schöpfung der endlichen Intellektnatur des Menschen offenbart. Der Gedankengang des folgenden Textes konzentriert alle wesentlichen Elemente des in der Rede vom Buch zum Ausdruck kommenden offenbarungsphilosophischen Weltverständnisses in einer abschließenden Verhältnisbestimmung von Gott, Welt und Mensch: Mit dem Können-Selbst [= der Gottesname der Schrift] verhält es sich in allen Dingen, wie mit dem Geistesvermögen des Aristoteles, das sich in dessen Büchern manifestiert, ohne dass sie sein Geistesvermögen vollkommen offenbarten (ostendant) - das eine Buch mag dies ja vollendeter tun als ein anderes; die Bücher wurden allein zu dem Zweck veröffentlicht, damit sein Geist sich offenbare; der Geist aber war nicht zur Veröffentlichung der Bücher genötigt, weil er sich als freier und edler Geist manifestieren wollte. [...] Obwohl in den Büchern des Aristoteles nur das Können seines Geistes enthalten ist, bemerken dies die Ungebildeten nicht. Obwohl ebenso im Universum nur das Können-Selbst enthalten ist, können dies diejenigen, die des Geistes entbehren, nicht sehen. Aber das lebendige, vernunftvolle Licht, das man Geist nennt, betrachtet in sich das Können-Selbst. So besteht alles um des Geistes willen, der Geist aber, um das Können-Selbst zu sehen."5
85
De ap. theor.,
Memoriale Vf: h XII, N. 21-22.
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Dimensionen der Offenbarkeit des Geheimnisses
Wie in den anderen zitierten Texten wird auch hier das Buch unter dem Aspekt eingeführt, dass darin die Kapazität seines Urheberintellekts anschaulich wird, die ansonsten verborgen bliebe. Ebenso gilt das Buch als eine Weise der Vergegenwärtigung, in der die Differenz zu seinem Autor insofern gewahrt ist, als jede Schrift den Geist des Verfassers immer nur mehr oder weniger, nie aber vollkommen offenbart. Die Unabhängigkeit des geistigen Prinzips von seiner sinnlichen Repräsentationsweise unterstreicht Cusanus in diesem Text, indem er sie nicht nur nach, sondern auch vor der Herausgabe des Buches gegeben sieht: Weil der Geist in der ursprünglichen Nobilität seiner Wesensbestimmung nicht auf seine Selbstvermittlung in der Sinnlichkeit angewiesen ist, erfolgt die Veröffentlichung seiner Ideen nicht aus innerer Notwendigkeit, sondern in der ihm wesenhaft eigenen Freiheit. Wie im ersten Teil des zitierten Textes das Buch als Verweis auf die freigiebige Selbstmitteilung seines ebenso erhabenen wie wirkmächtigen Urheberintellektes gedeutet wird, so kommt im zweiten Teil der andere Bezugspunkt dieser Offenbarungsweise in den Blick: Da der Geist selbst nicht darauf angewiesen ist, muss seine sinnlich wahrnehmbare Selbstvermittlung einen anderen Zielgrand haben; für die Konstitution eines Buches ist die Ausrichtung auf seinen Leser wesentlich. Das Buch ist für denjenigen geschrieben, der die Fähigkeit hat, dessen gedanklichen Gehalt zu verstehen, denn für einen Ungebildeten haben die Schriftzeichen keinen Sinn. Die im Fall eines geschriebenen Buches evidente Bezogenheit auf den menschlichen Intellekt überträgt Cusanus nun auf die Selbstoffenbarung des göttlichen Geistes in der Schöpfung der natürlichen Weltwirklichkeit. In der Aussage, dass diejenigen, die des Geistes entbehren, das sich im Universum manifestierende Können Gottes nicht zu sehen vermögen, ist implizit angedeutet, wie die buchartige Selbstmitteilung Gottes in der Schöpfung in der Gotteserkenntnis des Menschen ihren Sinn hat. Ihrer Zweckbestimmung im Offenbarungsgeschehen entsprechend, ist die Welt ursprünglich daraufhin konzipiert, dass das lebendige, vernunftvolle Licht, das man Geist nennt, durch die sinnlich wahrnehmbare Gestalt der Welt das Können des göttlichen Schöpfergeistes zu erkennen vermag. In der Bezeichnung der Welt als Buch gelingt es Cusanus, die zweistufige Zielrichtung der Schöpfung im Offenbarungsgeschehen zu reflektieren. Die Welt ist auf ihre Wahrnehmung durch den endlichen Intellekt hin ausgerichtet, damit durch sie der Mensch Gott erkennen kann: Überdenke dies also, damit du alles darauf hingeordnet siehst, dass der Geist zu dem von fern gesehenen Können selbst eilen kann und das Unbegreifliche auf bestmögliche Weise begreifet Dieses offenbarungsphilosophische Zuordnungsverhältnis von Gott, Welt und 86
De ap. theor.\ h XII, Ν. 11, Ζ. 15-17.
Die natürliche
Weltwirklichkeit
89
Mensch bringt Cusanus am Schluss des zitierten Textes auf die Formel: Sic omnia propter mentem et mens propter videre posse ipsum.
3.1.5
Schöpfung als Mitteilung
Obwohl es einige cusanische Formulierungen selbst nahelegen,87 wurde es hier bewusst vermieden, die Rede von der Welt als Buch als Metapher zu bezeichnen. Der Sinn dieser Aussageweise wäre nicht erfasst, wenn man sie nur als eine Allegorie verstehen würde. Weil die Welt die auf den endlichen Intellekt hin ausgerichtete sinnliche Mitteilung des göttlichen Geistes ist, erfüllt sie die Wesensbestimmungen des Buches nicht in einem übertragenen, sondern tieferen Sinn. Dies kann näherhin begründet werden, wenn man das Buch auf das sich darin manifestierende Grund-Phänomen der Sprache zurückführt. Weil die Sprache wesenhaft Mitteilung ist, kommt in ihr zum Ausdruck, was die Welt in ihrem offenbarungsphilosophischen Verständnis ursprünglicher ist. Dementsprechend gewinnt Cusanus sein Verständnis der Schöpfung als Selbstmitteilung Gottes, indem er die Welt selbst als sprachliches Phänomen deutet. Auch hierzu setzt er mit einem Beispiel aus der konkreten Lebenswelt an, mit dem die Rede vom Buch bereits auf der Gleichnisebene vertieft wird: Die Vernunft eines Lehrers kann durch nichts und in keiner Weise im verstandesbestimmten und im sinnlichen Bereich berührt werden. Diese Vernunft wird aber aus der Fülle ihrer Lehrmeisterschaft und ihrer Wirkkraft oder Gutheit dazu bewogen, dass sie die anderen zur Ähnlichkeit mit sich eine. Dazu zeugt sie aus sich ihr geistiges Wort, das bedeutet: das einfach eine, vollkommene Wort der Lehrfulle oder die vollendete Kunst des Lehrenden. Diese Kunst möchte sie auch dem Geist der Schüler gleichsam einhauchen. Weil sie aber nur vermittels sinnlicher Zeichen in deren Geist eindringen kann, nimmt sie die Luft zu Hilfe und bildet aus ihr den stimmhaften Laut, den sie verschiedenartig formt und hinausspricht, damit sie so den Geist der Schüler zur Gleichheit in der Lehrmeisterschaft emporhebe. [...] Und alle Weisen der Rede erreichen nicht den Gedanken, der die unausdrückbare Fruchtbarkeit ist, weil er die Kunst der Lehrmeisterschaft ist; und Redegehalt und Aussprache in all ihren möglichen Weisen können nicht das Vernunft-Meistertum selbst zum Ausdruck bringen, wenn auch in aller Rede nichts anderes Sein hat oder bezeichnet wird als die Offenbarmachung (manifestatio) seiner selbst, auf dass es so andere zu ähnlichem Meistertum umwandle. - In einer Art Ähnlichkeit hierzu erschuf unser dreieiner Urgrund in seiner Güte diese sinnliche Welt um der vernunfthaften Geistwesen willen. Das Stoffliche der Welt ist gleich-
87
De Gen. 4: h IV, N. 171,3. - Sermo CXLI ,Verbum caro factum est': zitiert nach: J. KOCH (Hg. u. Übers.), CT I. Predigten; 2./5. Vier Predigten im Geiste Eckharts, Heidelberg 1937, hier: Predigt 3; N. 8, Ζ. 1.
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Dimensionen der Offenbarkeit des Geheimnisses sam stimmhafter Laut, in dem er das geistige Wort verschiedenartig widerstrahlen lässt, so dass alles sinnlich Wahrnehmbare gleichsam Reden sind, verschiedenartig ausgesprochen, ausgefaltet von Gott-Vater durch das Sohn-Wort im Geist des Alls. Und dies geschieht dazu, dass mittels der sinnlich wahrnehmbaren Zeichen die Lehre höchsten Meistertums sich in die menschlichen Geister ergieße und sie zu ähnlichem Meistertum umgestalte und vervollkommne. So soll diese ganze sinnlich wahrnehmbare Welt um der vernunfthaften Geister willen bestehen, der Mensch das Ziel aller sinnlich wahrnehmbaren Geschöpfe, und der Gott der Herrlichkeit Ursprung, Mitte und Ziel seiner gesamten Wirksamkeit sein. 88
Derselbe Gedanke, der in den zuletzt interpretierten Texten in der Rede vom geschriebenen Buch verdeutlicht wurde, wird hier am Beispiel des gesprochenen Wortes vermittelt. Wie das Buch, so wird auch das Wort zunächst auf den es hervorbringenden Intellekt zurückgeführt. Im zitierten Text geht Cusanus dem Phänomen aber noch tiefer auf den Grund, wenn er nach der Ursache dafür fragt, die den Intellekt zur Hervorbringung des Wortes ursprünglich motivierte. Ausgangspunkt der Überlegungen ist die Situation, dass der Intellekt durch jene anderen Geistnaturen, die in ihrem Selbstvollzug auf die Sinneswahrnehmung verwiesen sind, nicht unmittelbar erkannt werden kann. Wenn diese Unzugänglichkeit überwunden werden soll, so setzt dies den Entschluss des Intellekts voraus, sich selbst auf sinnlich wahrnehmbare Weise mitzuteilen. Indem Cusanus dies aus der Absicht des Intellekts heraus erfolgen sieht, andere zur Ähnlichkeit mit sich zu einen, die gemeinschaftseröffnende Teilgabe aber auf die Gutheit des Intellekts zurückführt, begründet er den Offenbarungsentschluss letztlich in der grundlosen Freiheit des Geistes. Im Verhältnis eines Lehrers zu seinen Schülern sieht Cusanus nun den Bezug eines freien Geistes zu jenen anderen endlichen Intellektnaturen gegeben, die er aus Gutheit durch seine sinnliche Selbstmitteilung zur Gemeinschaft mit der eigenen inneren Wesensfülle erheben will. Der aus seiner Wirkkraft heraus freigiebige Geist kann sich selbst den anderen nur offenbaren, wenn er sein Wissen wie ein Lehrer seinen Schülern vermittelt. Der gute Lehrer erreicht sein Ziel, den Geist der Schüler zur Gleichheit in der Lehrmeisterschaft emporzuheben, indem er seine Wissensfülle durch sinnliche Zeichen in den Geist der Schüler eindringen lässt. Als die sinnliche Vermittlungsgestalt eines geistigen Gehaltes bestimmt Cusanus nun das verlautbarte Wort, dessen Materialität er in der Beschreibung seines physikalischen Zustandekommens unterstreicht. Wie das Buch so versteht er auch das Wort als eine auf die Erkenntnisstrukturen des endlichen Intellekts hin konzipierte Mitteilungsform, in der nichts anderes als ihr Urhebergeist, dieser aber auf eine andere Weise gegeben ist. Die zugleich einen ontologischen 88
De fil. 4: h IV, N. 74-76.
Die natürliche Weltwirklichkeit
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Rangunterschied implizierende Differenz zwischen dem sich aussprechenden Intellekt und seinen worthaften Äußerungen besteht (wie im Buchbeispiel) darin, dass alle möglichen Weisen der Rede nicht die unausdrückbare Fruchtbarkeit des Vernunft-Meister turns selbst zum Ausdruck zu bringen vermögen. Im zweiten Teil des zitierten Textes reflektiert Cusanus nun in Analogie zur Funktion des verlautbarten Wortes im Prozess der Wissensvermittlung zwischen Lehrer und Schüler die Bedeutung der Welt im Offenbarungsgeschehen zwischen Gott und Mensch. Dieser Argumentationsschritt ist legitimiert durch die hier bereits vorausgesetzte Bestimmung Gottes als eines absoluten und des Menschen als eines endlichen Intellektes, in der Möglichkeit und Notwendigkeit der Offenbarung gleichermaßen begründet sind. Der göttliche Geist be-gabt den Menschen mit der Vernunft, um ihn für seine Selbstmitteilung empfänglich zu machen, durch die er den Menschen aus grundloser Gutheit in die Wesensgemeinschaft mit sich erheben will. Da aber dem menschlichen Intellekt aufgrund seiner Endlichkeit nur das zugänglich ist, was er sinnlich wahrnimmt, kann er den reinen Geist Gottes nicht unmittelbar erkennen. Um seiner ursprünglichen Absicht dem Menschen gegenüber treu zu bleiben, muss sich ihm Gott in einer dem endlichen Intellekt zugänglichen Weise offenbaren. Dies geschieht, indem unser dreieiner Urgrund in seiner Güte diese sinnliche Welt um der vernunfthaften Geistwesen willen schafft. Da die natürliche Weltwirklichkeit ihrer Ursprungsbestimmung im Offenbarungsgeschehen entsprechend sinnliche Mitteilungsgestalt eines geistigen Prinzips ist, erfüllt sie in einem offenbarungsphilosophisch präzisen Sinn die Wesensmerkmale des verlautbarten Wortes. Weil die Schöpfung den Sinn hat, dem endlichen Intellekt den Wesensreichtum des göttlichen Geistes sinnenfällig zu vermitteln, ist nicht in einer übertragenen, sondern tieferen Bedeutung alles sinnlich Wahrnehmbare gleichsam Rede, verschiedenartig ausgesprochen und das Stoffliche der Welt gleichsam stimmhafter Laut, in dem das geistige Wort verschiedenartig widerstrahlt. Im Verständnis der Welt als Wort ist schließlich mitbegriffen, wie fur sie die Bezogenheit auf den menschlichen Intellekt wesenskonstitutiv ist. Die Selbstentfaltung Gottes in die Welt geschieht letztlich nur dazu, dass mittels der sinnlich wahrnehmbaren Zeichen die Lehre höchsten Meistertums sich in die menschlichen Geister ergieße und sie zu ähnlichem Meistertum umgestalte und vervollkommne. Wie bei der Rede vom Buch formuliert Cusanus die Quintessenz seines Verständnisses der Schöpfung als Wort in einer abschließenden Bestimmung des offenbarungsphilosophischen Zuordnungsverhältnisses von Gott, Welt und Mensch: So soll diese ganze sinnlich wahrnehmbare Welt um der vernunfthaften Geister willen bestehen, der Mensch das Ziel aller sinnlich wahrnehmbaren Ge-
92
Dimensionen der Offenbarkeit des Geheimnisses
schöpfe, und der Gott der Herrlichkeit Ursprung, Mitte und Ziel seiner gesamten Wirksamkeit sein. 3.1.5.1
Schöpfung als
Sprachgeschehen
Warum Cusanus der Überzeugung ist, dass das Lehren unter den uns bekannten Tätigkeiten eine hinreichend nahe Angleichung an die universale Weise der Schöpfung sei,89 geht auch aus seiner Rede von der schola sensibilis mundi hervor,90 denn hier begreift er die Welt als für den Erkenntnisgewinn des menschlichen Intellekts konzipierte Vermittlungsform eines geistigen Gehaltes. Der Lehrervergleich dient ihm aber stets dazu, die Schöpfung selbst als Sprachgeschehen zu deuten: Und so hat das Predigen oder Lehren eine Ähnlichkeit mit der Schöpfung: Wenn Gott schafft, ruft er alles zu sich, aber die Dinge treten anders und anders an ihn heran.91 In seiner Bedeutung als sinnliche Selbstmitteilung des Geistes wird bei Cusanus das sprachliche Phänomen des Wortes zum vorrangigen Reflexionsmodell der Weltschöpfung: Wenn nämlich der Intellekt das geistige Wort seiner selbst [...] kundtun (manifestare) will, so tut er das durch die Sprache oder die Schrift oder eine andere sinnfällige Darstellung. Das Wort ist also vor der Darstellung geistig, dargestellt aber nimmt es eine sinnfällige Gestalt an, und so wird das Nicht-Sinnfällige als Sinnfälliges gesetzt.92 Wie das Verständnis der Welt als Wort auf ihre Bestimmung im Offenbarungsgeschehen bezogen ist, zeigt Cusanus im folgenden Text wiederum ausgehend von der Beispielebene auf: Willst du also ein Erkenntnisbild der Weise schöpfen, wie alles entsteht, so beachte, wie das stimmliche Wort entsteht. [...] Da also der Geist, der das Wort formt, dieses nur formt, um sich kundzutun (manifestet), ist das Wort nichts anderes als die Offenbarung (ostensio) des Geistes. Und die Mannigfaltigkeit der Worte ist nichts anderes als die mannigfache Offenbarung des Geistes. [...] So bilde dir einen Begriff vom Former aller Dinge, entsprechend dem, wie du ihn vom Geist bildest. Und denke dir, dass er sich in dem von ihm gezeugten Wort erkennt und sich in der Schöpfung, die Zeichen des unerschaffenen Wortes ist, durch mannigfache Zeichen auf mannigfache Weise offenbart. Und nichts kann sein, was nicht Zeichen der Offenbarung des gezeugten Wortes wäre.93
In diesem Abschnitt aus einer seiner letzten Schriften dringt Cusanus noch tiefer in die offenbarungsphilosophische Bestimmung der Welt als Wort ein, indem er 89
De Gen. 4: h IV, N. 165, Z. 3f. De fll. 6: h IV, N. 85, Ζ. 1. 91 Sermo CXXXV .Gaudete et exsultate': h XVIII, N. 5, Z. 1-3. 92 Deprinc.: h X/2b, N. 38, Z. 5-9. 93 Comp. 7: h XI/3, N. 19, Z. 26 - N . 21, Z. 4. 90
Die natürliche Weltwirklichkeit
93
durch sie nicht nur die Schöpfung als sinnenfallige Mitteilung des göttlichen Geistes versteht, sondern dahinter zurück nach dem ursprünglichen Motivationsgrund dafür fragt, warum der absolut selbstgenügsame Intellekt Gottes sich in die endliche Sinnlichkeit hinaus expliziert. Auch hierzu setzt er bei einer Analyse des menschlichen Sprechaktes an und führt das stimmliche Wort über den es formenden Geist auf dessen Intention zurück, sich kundzutun. Weil er darin den tiefsten Bestimmungsgrund des Wortes gefunden hat, kann er schließlich feststellen, dass das Wort nichts anderes als die Offenbarung (ostensio) des Geistes ist. Wenn hier die Mannigfaltigkeit der Worte als die mannigfache Offenbarung des Geistes bezeichnet wird, so lässt sich dies auf dem Hintergrund der oben zitierten Aussagen aus ,De filiatione dei' in dem Sinne verstehen, dass die Ideenfülle des Geistes in keinem einzelnen stimmlichen Wort vollkommen zum Ausdruck gebracht werden kann und daher in einer Vielzahl von Redeeinheiten besser widerstrahlt. Von der Grund-Bestimmung des vom Menschen ausgesprochenen Wortes schließt Cusanus nun zurück auf den ursprünglichen Sinn der Weltschöpfung. Erste Ursache für die Konstitution der sinnlichen Wirklichkeit durch den geistigen Former aller Dinge ist seine Intention, sich in der Schöpfung, die Zeichen des unerschaffenen Wortes ist, durch mannigfache Zeichen auf mannigfache Weise zu offenbaren. Im Verständnis der Welt als Wort reflektiert Cusanus also, dass es die tiefste Sinn-Bestimmung eines jeden Dinges ist, Offenbarung Gottes zu sein, denn nichts kann sein, was nicht Zeichen der Offenbarung des gezeugten Wortes wäre. Der Grund-Gedanke dieses Textes ist in einer Aussage aus einer früheren Schrift thesenhaft zusammengefasst: Das Sinnenfällige ist gleichsam das Wort des Schöpfers, in welchem dessen Absicht enthalten ist. [...] Um der Absicht willen ist die Offenbarung (manifestatio), denn der Sprechende oder die Schöpfervernunft beabsichtigt, sich auf diese Weise zu offenba94 ren.
Weil im befehlenden Wort des Allmächtigen, der „sprach und es wurden alle Dinge gemacht"95 die Allmacht selbst, die Gott als der Schöpfer und Vater aller ist, geoffenbart (revelatur) wird,96 die Welt also ihren ursprünglichen Sinn im Offenbarungsgeschehen hat, ist die Bestimmung des Schöpfungsaktes als das Aussprechen des in Gott geistig präexistierenden Wortes keine vage Allegorisierung, sondern dessen tiefste Wesenserfassung: Sprechen ist die Ausfaltung eines geistigen Wortes. Erschaffen und Sprechen sind in bezug auf Gott dasselbe, denn „er sprach und es wurden alle Dinge gemacht".97 In der Rede von der Welt als 94 95
De beryl. 32: h 2 XI/1, N. 54, Z. 13-16. Ps 33,9.
96
De poss:. h XI/2, N. 36, Z. 8-10.
97
Sermo CCLVIII ,Multivarie multisque modis': Ρ II, fol. 155v.
94
Dimensionen der Offenbarkeit des Geheimnisses
Wort werden nicht die Wesenseigenschaften der Sprache auf die Schöpfung übertragen, sondern die Sprache vielmehr als jenes Phänomen begriffen, in dem zum Ausdruck kommt, dass alles, was ist, im Grunde sinnliche Mitteilung des Geistes Gottes ist. Wenn Cusanus vom Wort Gottes, durch das alles geschaffen ist, aussagt, dass es auch Weisheit genannt wird, weil Gott alles durch die Weisheit machte,98 so ist damit angedeutet, wie im Offenbarungsgeschehen Gottes geistiger Vollzug in seine sinnliche Selbstmitteilung übergeht. Weil der Geist Gottes in der Schöpfung seine Offenbarung in der Sinnlichkeit vollzieht, kann Cusanus am Schluss des folgenden Textes, in dem er das Entstehen der Dinge bildreich als ihr Vernehmen des göttlichen Rufes beschreibt, das Begreifen Gottes zugleich als sein Sprechen bezeichnen: Du, Gott, sprichst durch dein Wort zu allen, die sind, und rufst ins Sein, die nicht sind. Du rufst sie, dass sie dich hören und wenn sie dich hören, sind sie. [...] Du sprichst zur Erde und berufst sie zur menschlichen Natur. Und die Erde hört dich, und dieses ihr Hören ist das Mensch-Werden. Du sprichst zum Nichts, als ob es etwas wäre, und berufst das Nichts zum Etwas, und das Nichts hört dich, weil Etwas wird, was Nichts war. Ο unendliche Kraft! Dein Begreifen ist Dein Sprechen!99
3.1.6
Der Mensch als das Maß aller Dinge
3.1.6.1 Nicht der Intellekt richtet sich nach den Dingen, sondern die Dinge nach dem Intellekt Durch die Identifikation von Gottes kreativem Sprechen mit seinem Begreifen ist zugleich darauf verwiesen, dass seine sinnlichen Hervorbringungen einen geistigen Grund haben und deshalb auf ihre Erkennbarkeit hin konzipiert sind. Als die ausgesprochenen Ideen Gottes haben alle Seienden die Zielbestimmung, von jemandem gehört zu werden, der ihren geistigen Gehalt versteht. Von ihrem geistigen Ursprung her sind die Dinge also auf ihr Vernehmen durch die Intellektnatur des Menschen ausgerichtet. Auf diese ihre Finalisierung fuhrt Cusanus nun auch die konkrete Beschaffenheit aller Weltseienden zurück. Weil der Mensch aufgrund der Endlichkeit seiner Geistbegabung auf die Sinneswahrnehmung verwiesen ist, müssen die Dinge selbst sinnliche Qualitäten aufweisen, um vom Menschen erkannt werden zu können. 98 99
Crib. Alk. I, 13: h VIII, N. 61, Z. lf.. De vis. 10: h VI, N. 40, Z. 1 2 - N . 41, Ζ. 1.
Die natürliche
Weltwirklichkeit
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Die Implikation dieses Gedankens, dass nicht mehr die Struktur der menschlichen Erkenntnis sich nach den Eigenschaften der Dinge richtet, sondern vielmehr die Dinge selbst so beschaffen sind, dass sie vom Menschen begriffen werden können, formuliert Cusanus ausdrücklich in einem zentralen Text, in dem er zugleich das Verständnis der Welt im Offenbarungsgeschehen zwischen Gott und Mensch als den eigentlichen Motivationsgrund für diese ,kopernikanische Drehung' in der Verhältnisbestimmung von Welt und Mensch benennt. Weil darin alle zentralen Elemente des offenbarungsphilosophischen Weltverständnisses im Zusammenhang dargestellt sind, sei er gleichsam als Zusammenfassung aller bisher an einzelnen Texten herausgearbeiteten Aspekte in längeren Ausschnitten zitiert: Und als erstes bedenke ich, dass Aristoteles richtig am Anfang der Metaphysik 100 gesagt hat, dass alle Menschen von Natur nach Wissen verlangen, und er erklärt das am Sehsinn, den der Mensch nicht nur wegen des Arbeitens hat, sondern wir lieben ihn wegen des Erkennens, weil er uns viele Unterschiede kundtut. Wenn also der Mensch Sinn und Verstand hat, nicht nur um sie für die Erhaltung dieses Lebens zu gebrauchen, sondern um zu erkennen, dann haben die sinnenfälligen Dinge dem Menschen in zweifacher Weise Nahrung zu geben, nämlich damit er lebe und erkenne. Vorrangiger aber und edler ist das Erkennen, weil es ein höheres und unvergänglicheres Ziel hat. Und weil weiter oben in einer Voraussetzung festgestellt wurde, die göttliche Vernunft habe alles erschaffen, um sich selbst zu offenbaren (manifestet), so wie der Apostel Paulus, der den Römern schreibt, 101 sagt, in den sichtbaren Dingen der Welt werde der unsichtbare Gott erkannt, sind also die sichtbaren Dinge, damit in ihnen die göttliche Vernunft als kunstreicher Schöpfer von allem erkannt werde. Wie groß also die Kraft der erkenntnisfähigen Natur in den menschlichen Sinnen ist, die an dem mit ihnen verbundenen Licht des Verstandes teilhaben, so groß ist die Verschiedenheit der sinnenfälligen Dinge. Die sinnenfälligen Dinge nämlich sind die Bücher der Sinne, in denen die Absicht der göttlichen Vernunft in sinnenfälligen Gestalten beschrieben ist, und die Absicht ist die Selbstoffenbarung (manifestatio) des Schöpfergottes. Wenn du also bezüglich irgendeiner Sache unschlüssig bist, weshalb dieses so oder so sei oder sich so verhalte, ist die einzige Antwort: Weil die göttliche Vernunft sich der Sinneserkenntnis kundtun wollte, damit sie in der Weise der Sinne erkannt werde. Zum Beispiel: Weshalb ist in der sinnenfälligen Welt so viel Gegensätzlichkeit? Du wirst sagen: Deshalb, weil Entgegengesetztes, nebeneinandergestellt, mehr hervorleuchtet und es für beides eine einzige Wissenschaft gibt. So schwach ist die Sinneserkenntnis, dass sie ohne Gegensätzlichkeit die Unterschiede nicht erfassen würde. Deshalb will jeder Sinn entgegengesetzte Objekte, um besser unterscheiden zu können; deshalb ist in den Objekten das, was hierzu erforderlich ist. Wenn du nämlich so die Erörterung fortsetzt durch den Tastsinn, Geschmack-, Geruch-, Seh- und Gehörsinn und aufmerksam bedenkst, welche 100 101
980 a 21-27. Rom 1, 20.
96
Dimensionen der Offenbarkeit des Geheimnisses Erkenntniskraft jeder Sinn hat, wirst du alle Objekte der sinnenfälligen Welt finden und (finden), dass sie auf den Dienst der Erkenntniskraft hingeordnet sind. So dient die Gegensätzlichkeit der primären Qualitäten der Kraft des Tastsinnes, die der Farben den Augen. Und so von allem. In allem diesen so Mannigfaltigen ist die Offenbarung (ostensio) der göttlichen Vernunft bewundernswert. [...] Zum Beispiel: Was will der Schöpfer, wenn er aus einem Dornbusch durch die Bewegung des Himmels und das Werkzeug der Natur eine so schöne und duftende sinnenfallige Rose hervorbringt? Was anderes kann geantwortet werden, als dass jene bewunderungswürdige Vernunft in diesem ihrem Wort sich zu offenbaren (manifestare) beabsichtigt, wie groß ihre Weisheit und ihr Verstand ist und was der Schatz ihrer Herrlichkeit ist, wenn sie so leicht eine solche Schönheit, so prächtig im Ebenmaß, vermittelst eines sinnenfälligen kleinen Dinges in den erkenntnisfähigen Sinn legt mit der Bewegung der Freude und der süßesten Harmonie, welche die gesamte menschliche Natur aufheitert? [...] Richtig also sagte Protagoras, der Mensch sei das Maß aller Dinge.102 Der Mensch weiß aufgrund der Natur seiner Sinneserkenntnis, dass das Sinnenfallige um der Sinneserkenntnis willen ist, und misst so das Sinnenfällige, um in sinnenfälliger Weise die Herrlichkeit der göttlichen Vernunft erfassen zu können.103
Der Gedankengang dieses Textes spiegelt die Argumentationsstruktjar der cusanischen Philosophie der Offenbarung in der Konzentration auf das dementsprechende Weltverständnis. In seiner Reflexion auf die Offenbarung setzt Cusanus beim Empfänger der Offenbarung an; er fragt nach der philosophischen Wesensbestimmung des Menschen, um davon ausgehend seinen Bezug auf das Offenbarungsgeschehen einsichtig zu machen. Im Anschluss an eine bis auf Alkmaion von Kroton104 zurückreichende Tradition begreift auch Cusanus die Vernunftbegabung als die spezifische Wesenseigenschaft des Menschen. Dementsprechend affirmiert er im zitierten Text eingangs die aristotelische Aussage, der gemäß alle Menschen von Natur aus nach Wissen verlangen. Wenn Cusanus gerade auf die Version des Aristoteles zurückgreift, so geschieht dies nicht nur deshalb, weil dieser Gedanke hier in einer besonders prägnanten, später klassisch gewordenen Weise formuliert ist; vielmehr liegt der eigentliche Grund darin, dass Aristoteles die Vernunftbegabung des Menschen in einer Weise versteht, an die Cusanus in seiner Reflexion auf das Offenbarungsgeschehen anknüpfen kann. Die Überleitung von der philosophischen Wesensbestimmung des Menschen als Vernunftnatur zur Offenbarungsthematik vollzieht Cusanus, indem er die auf den berühmten ersten Satz der aristotelischen Metaphysik folgenden Aussagen in die Argumentation miteinbezieht. Darin sieht Aristoteles einen ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Streben des Menschen 102
Fragment 80 Β 1 (Diels-Kranz). De beryl. 37: h 2XI/1, N. 65, Z. 3 - N. 69, Z. 6. 104 Vgl. Fragment Β 1 a (Diels-Kranz). 103
Die natürliche Weltwirklichkeit
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nach Wissen und seiner Liebe zu den Sinneswahrnehmungen, insbesondere zu denjenigen, die durch die Augen Zustandekommen. Dies begründet er nun darin, dass dieser Sinn uns am meisten befähigt, zu erkennen, und uns am meisten Unterschiede klarmacht. Damit bringt Aristoteles zum Ausdruck, wie der Mensch nicht nur zur Erhaltung seiner niedrigeren vegetativen und sensitiven Kräfte, sondern auch zur Verwirklichung seiner vornehmsten Tätigkeit in der geistigen Erkenntnis, auf die sinnlich wahrnehmbare Wirklichkeit verwiesen ist. Weil der Mensch dadurch wesenhaft in die Veränderlichkeit der raumzeitlichen Welt eingebunden ist, versteht Cusanus diese Bezogenheit auf die Sinneserkenntnis als Ausdruck der Endlichkeit menschlicher Intellektnatur, was wiederum auf das theologische Datum ihrer Kreatürlichkeit verweist. Die offenbarungsphilosophische Fruchtbarmachung dieses aristotelischen Gedankens hat aber noch eine andere Voraussetzung: Über Aristoteles hinaus begreift Cusanus die Gotteserkenntnis nicht nur als den höchsten Gegenstand möglichen Wissens, sondern als die ursprüngliche Zweckbestimmung der Vernunftbegabung überhaupt. Motiviert ist diese Neuformulierung des Zielgrundes menschlicher Intellektualität durch die christliche Glaubensvorgabe, nach der Gott den Menschen bei seiner Erschaffung mit Vernunft ausgestattet hat, um es ihm dadurch zu ermöglichen, das Ziel der Wesensgemeinschaft mit dem göttlichen Geist zu erreichen. Die philosophische Begründung des Offenbarungsgeschehens vollzieht Cusanus nun, indem er die im Glauben vorgegebene Finalisierung der Vernunft auf den Gottesbezug mit ihrer von Aristoteles entdeckten faktischen Verwiesenheit auf die sinnlich wahrnehmbare Weltwirklichkeit zusammendenkt. Dies gelingt ihm, indem er der Sinnenwelt selbst eine Vermittlungsfunktion im Prozess menschlicher Gottesvergewisserung zu-erkennt. Die Notwendigkeit dieser Annahme ergibt sich daraus, dass der menschliche Intellekt zwar ursprünglich auf die Gotteserkenntnis hin ausgerichtet ist, in seiner kreatürlichen Endlichkeit aber nicht zu einer unmittelbaren Anschauung Gottes fähig ist, weil aufgrund der Leibgebundenheit des Menschen seine Erkenntnis stets von der Sinneswahrnehmung ihren Ausgang nehmen muss. Wenn Gott seine Intention, den Menschen in die Gemeinschaft mit sich aufzunehmen, verwirklichen will, muss er die Bedingungen dafür schaffen, dass er selbst unter den Strukturgesetzen endlicher Intellektualität erkennbar wird. Um den Menschen zu seinem Ziel zu fuhren, wird eine Selbstoffenbarung Gottes notwendig, durch die der göttliche Geist für die menschliche Erkenntnis zugänglich wird. Dies geschieht in einem über die Setzung der endlichen Intellektnatur hinausgehenden schöpferischen Wirken, in dem sich Gott dem Menschen auf sinnlich wahrnehmbare Weise mitteilt. Als das Ergebnis dieses der Vollendung menschlichen Vernunftstrebens dienenden göttlichen Offenbarungsentschlusses begreift Cusanus nun die natürliche Weltwirklichkeit.
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Dimensionen der Offenbarkeit des Geheimnisses
Wenn Cusanus seine Aussage, dass die göttliche Vernunft alles erschaffen habe, um sich selbst zu offenbaren, im zitierten Text als Interpretation des berühmten Pauluswortes105 versteht, dem gemäß in den sichtbaren Dingen der Welt der unsichtbare Gott erkannt werde, weist er damit zugleich darauf hin, auf welche Weise der Mensch durch die weltexplikative Selbstoffenbarung der Schöpfervernunft zur Gotteserkenntnis gelangen kann. In den sichtbaren Dingen der Welt wird Gott als unsichtbarer gesehen, weil der menschliche Intellekt die Fähigkeit hat, aus den sinnlichen Wirkungen auf ihre geistige Ursache zurückzuschließen. Mit der Aussage, der gemäß die sichtbaren Dinge sind, damit in ihnen die göttliche Vernunft als der kunstreiche Schöpfer von allem erkannt werde, affirmiert Cusanus nicht nur die Möglichkeit, im Erkenntnisaufstieg von der Welt zu Gott zu gelangen, sondern behauptet darüber hinaus, dass darin der eigentliche Sinn der Schöpfung bestehe. In der Reflexion auf die Bestimmung der Schöpfung als Teilmoment des Offenbarungsgeschehens entfaltet Cusanus nun ein Weltverständnis, in welchem er die Konstitution der Wirklichkeit ganz von ihrer Bezogenheit auf die menschliche Erkenntnis her deutet. Da Gott die Welt erschaffen hat, um sich darin dem Menschen zu offenbaren, hat er sie in einer Weise gestaltet, die den Strukturen der endlichen Erkenntnis entspricht. Materialität und Mannigfaltigkeit der Weltseienden resultieren demnach daraus, dass die menschliche Erkenntnis immer bei der sinnlichen Wahrnehmung von Unterschieden ihren Ausgang nimmt: Wie groß also die Kraft der erkenntnisfähigen Natur in den menschlichen Sinnen ist, die an dem mit ihnen verbundenen Licht des Verstandes teilhaben, so groß ist die Verschiedenheit der sinnenfälligen Dinge. Zur Verdeutlichung seines Gedankens, dass die Struktur der Weltwirklichkeit an die Gesetzmäßigkeiten der endlichen Intellektualität angepasst ist, greift Cusanus hier auf die bereits erläuterte Bestimmung der Welt als Buch zurück: Die sinnenfälligen Dinge nämlich sind die Bücher der Sinne, in denen die Absicht der göttlichen Vernunft in sinnenfälligen Gestalten beschrieben ist. Am Beispiel eines geschriebenen Buches lässt sich auch dieser Aspekt des offenbarungsphilosophischen Weltverständnisses aufzeigen: Wenn ein Autor seine Gedanken bekannt machen will, so muss er die Weise ihrer Mitteilung in einem Buch ganz auf die Aufnahmekapazität seines Lesers hin konzipieren. Das Buch muss beispielsweise in einer Sprache geschrieben werden, derer der Leser mächtig ist, und auf einem Kenntnis- und Verständnisniveau argumentieren, das er verstehen kann. Wie in diesen Hinsichten der Leser für die Gestalt bestimmend ist, in der ein Autor die Ideen seines Geistes in einem Buch mitteilt, so prägt auch die Aufnahmekapazität
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Rom 1,20.
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des die Wirklichkeit erkennenden menschlichen Intellekts die Weise, wie der göttliche Geist sich in der Weltschöpfung offenbart. Wie radikal Cusanus die Bezogenheit der Welt auf die menschliche Erkenntnis denkt, zeigt sich darin, dass er nicht nur die Struktur des Universums aller Seienden, sondern auch die konkrete Beschaffenheit eines jeden einzelnen Dinges von dessen Zielbestimmung ableitet, dem menschlichen Intellekt den göttlichen Schöpfergeist zu offenbaren: Wenn du also bezüglich irgendeiner Sache unschlüssig bist, weshalb dieses so oder so sei oder sich so verhalte, ist die einzige Antwort: Weil die göttliche Vernunft sich der Sinneserkenntnis kundtun wollte, damit sie in der Weise der Sinne erkannt werde. Die Tatsache, dass es in der Welt zu jedem Ding einen Gegensatz gibt, begründet Cusanus darin, weil jeder Sinn entgegengesetzte Objekte will, um besser unterscheiden zu können. Damit Entgegengesetztes, nebeneinandergestellt, mehr hervorleuchtet, und somit vom Menschen besser erkannt werden kann, ist in den Objekten das, was hierzu erforderlich ist. In der Struktur ihrer Gesamtheit wie in der Beschaffenheit eines jeden ihrer Einzelelemente entspricht die Welt also den Erfordernissen der endlichen Erkenntnis. Ein wesentliches Moment des Offenbarungsgeschehens bringt Cusanus zum Ausdruck, indem er den Sachverhalt, dass die Sinneserkenntnis ohne Gegensätzlichkeit die Unterschiede nicht erfassen würde, als Zeichen der Schwäche menschlicher Intellektualität deutet. Zum einen wird daraus nochmals die Notwendigkeit einer Offenbarung Gottes fur den Menschen einsichtig: Der Mensch ist nicht dazu in der Lage, das ihm mit seiner Vernunftbegabung eingestiftete Ziel der Gotteserkenntnis aus eigener Kraft zu erreichen; er bleibt vielmehr darauf verwiesen, dass Gott ihm in Gestalt der Welt in einer Weise entgegenkommt, die ihm zugänglich ist. Zum anderen wird mit der Bestimmung der Schwäche des Menschen als Grund für Gottes Entgegenkommen in seiner welthaften Selbstoffenbarung deutlich, wie tief Gott sich in seiner schöpferischen Entäußerung erniedrigt, um den Menschen zu sich emporzuheben. Im Gedanken, dass der göttliche Schöpfergeist sich für den Menschen in die sinnlich wahrnehmbare Gestalt der Welt herunterbegibt, reflektiert Cusanus das kenotische Moment des Offenbarungsgeschehens. Um der Schwäche menschlicher Sinneserkenntnis aufzuhelfen, genügt es aber nicht nur, dass Gott sich in die gegensätzliche Struktur der Welt hinein entfaltet. Weil der Mensch aufgrund seiner Zerstreuung in die endliche Verschiedenheit nicht allein über einen, sondern über mehrere Sinne wahrnimmt, ist darüber hinaus eine dementsprechende inhaltliche Vielfalt in den welthaften Explikationen der göttlichen Einheit erforderlich. Die qualitative Verschiedenheit der Weltdinge erklärt Cusanus aus ihrer Bezogenheit auf Tastsinn, Geschmack-, Geruch-, Sehund Gehörsinn des Menschen. Wie die Dinge farbig sind, damit sie von den Au-
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Dimensionen der Offenbarkeit des Geheimnisses
gen unterschieden werden können, so zeigt sich auch in der Ausrichtung der primären Qualitäten (feucht-trocken, warm-kalt, rauh-weich) auf den Tastsinn, dass alle Objekte der sinnenfälligen Welt auf den Dienst der Erkenntniskraft hingeordnet sind. In letzterem Gedanken vertieft Cusanus die aristotelischen Beobachtungen zum Verhältnis des Tastsinns und den ihm entsprechenden Qualitäten106 im offenbarungsphilosophischen Kontext. Zunächst versteht er diese Zuordnung in dem Sinn, dass alle Dinge um der Erkenntnis des Menschen willen bestehen; damit sind sie aber mittelbar auf die Gotteserkenntnis als das letzte Ziel menschlicher Intellektualität hin ausgerichtet. Über Aristoteles hinaus werden die primären Qualitäten des Tastsinnes hier von Cusanus demnach als Erscheinungsweisen Gottes begriffen. Weil die Ausweitung der Argumentation auf alle fünf Sinne des Menschen den Blick auf die Vielfalt der seiner Erkenntnis dienenden Welt öffnet, hat sie indirekt auch den Sinn, auf die kreative Potenz des Schöpfergeistes zu verweisen, die sich darin expliziert. Wenn Cusanus im Anschluss an den zuletzt interpretierten Gedanken feststellt, dass in allem diesem so Mannigfaltigen die Offenbarung (ostensio) der göttlichen Vernunft bewundernswert ist, so gibt er damit zu verstehen, wie Gott dem Menschen seine innere Seinsfülle zu erkennen gibt, indem er ihn über die unabschließbare Verschiedenheit seiner welthaften Hervorbringungen in Erstaunen versetzt. Wie der Mensch durch die staunende Wahrnehmung der Weltdinge ihren Schöpfer erblicken kann, veranschaulicht Cusanus an einem Beispiel, in welchem er zahlreiche Aspekte des offenbarungsphilosophischen Weltverständnisses integriert und zugleich die Frage beantwortet, was Gott den Dingen mitgeteilt hat, damit sie den Menschen zum Staunen anregen. Unter den zahlreichen Naturphänomenen wählt Cusanus dazu das Sinnbild der Rose aus. Weil diese Pflanze nicht nur gesehen, sondern durch ihren Duft auch von den Riechnerven wahrgenommen werden kann, vermag Cusanus damit zunächst deutlich zu machen, wie die Weltseienden daraufhin konzipiert sind, auf die verschiedenen Sinnesorgane des Menschen zu wirken. Sodann wird an diesem Beispiel einsichtig, dass die Bestimmung der Welt als Selbstoffenbarung ihres Schöpfers erst im konkreteinzelnen Seienden Wirklichkeit wird. Da dem Menschen der Weltbezug nur durch die handgreiflichen Dinge möglich ist, muss der Schöpfer die von ihm hervorgebrachte Welt im Einzelseienden konkretisieren, um sich darin dem Menschen offenbaren zu können. Die Bestimmung der Welt als Teilmoment des Offenbarungsgeschehens impliziert demnach nicht eine Entwertung des Sinnlich-Konkreten, sondern begründet 106
Vgl. z.B. ARISTOTELES, De anima 422 b 26f; 423 b 27-29.
Die natürliche Weltwirklichkeit
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vielmehr dessen eigentliche Dignität. Im Kontext der zuletzt zitierten Passage aus ,De beryllo' (vollendet 1458) macht Cusanus also die offenbarungsphilosophische Motivation seiner in ,De docta ignorantia' (vollendet 1440) im Buch über das Universum konzipierten Auffassung deutlich, dass ein jedes Ding eine , Kontraktion' (Zusammenziehung, Einschränkung) des Universums sei, und so Gott vermittels des Universums in allen Dingen und die Vielheit der Dinge vermittels des einen Universums in Gott sind.107 Wie das Konkret-Einzelne die gesamte Weltschöpfung in sich einschränkt, deutet Cusanus im zitierten Beispiel an, indem er beschreibt, wie die Rose vom Schöpfer aus einem Dornbusch durch die Bewegung des Himmels und das Werkzeug der Natur hervorgebracht wird. Die Rose wird schließlich deshalb als Beispiel für die Offenbarungsfunktion der Schöpfung gewählt, weil sie jene Qualität versinnbildlicht, durch die der Mensch zur staunenden Frage nach der Ursache der Weltwirklichkeit und damit zur Erkenntnis Gottes angeregt wird. Wie seit jeher gilt auch für Cusanus die Rose als die vollendete Verwirklichung der Schönheit. In der philosophischen Deutung der Schönheit folgt er der platonischen Tradition, der gemäß die sinnliche Schönheit die Bestimmung hat, durch ihre Attraktivität den Menschen zum Aufstieg zu ihrem intelligiblen Ursprung zu bewegen. Der platonische ErosGedanke wird hier aber in einen offenbarungsphilosophischen Kontext integriert und erhält dadurch einen tieferen Sinn. Die Schönheit der Weltschöpfung wird von Cusanus als die Weise begriffen, wie Gott sich dem Menschen mitteilt, um ihn durch ihre Anziehungskraft in die Gemeinschaft mit sich zu fuhren. Als den eigentlichen Grund der Hervorbringung einer so schönen und duftenden sinnenfälligen Rose benennt er, dass jene bewunderungswürdige [Schöpfer-] Vernunft in diesem ihrem Wort sich kundzutun beabsichtigt, wie groß ihre Weisheit und ihr Verstand ist und was der Schatz ihrer Herrlichkeit ist. Indem Cusanus die Rose hier als ,Wort' bezeichnet, macht er ihre offenbarungsphilosophische Wesensbestimmung deutlich, der gemäß sie als die sinnliche Darstellung der inneren Seinsfulle des göttlichen Schöpfergeistes zu begreifen ist. An dieser Stelle ist gedanklich vorweggenommen und auf seinen Grund im Offenbarungsgeschehen zurückgeführt, was Angelus Silesius später in Versform sagen wird: Die Rose, die hier dein äußeres Auge siehet, die hat von Ewigkeit in Gott also geblühet.108 Aus den von Cusanus in diesem Beispiel vermittelten Gedankenzusammenhängen wird schließlich einsichtig, wie die Freude an der Schönheit der Weltdinge im offenbarungsphilosophischen Weltverständnis nicht negiert, sondern im Gegenteil vorausgesetzt wird, weil Gott gerade dadurch den Menschen an sich zieht, dass er so leicht eine solche Schönheit, so prächtig im Ebenmaß, vermittelst eines sinnen107 108
De docta ign. II, 4: h I, S. 75, Z. 16-18 (Ν. 116, Z. 22-25). Cherubinischer Wandersmann, Buch I, Nr. 108 (ed. Gnädinger S. 58)
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fälligen kleinen Dinges in den erkenntnisfähigen Sinn legt mit der Bewegung der Freude und der süßesten Harmonie, welche die gesamte menschliche Natur aufheitert. In der letzten Gedankeneinheit des zitierten Textes fasst Cusanus seine Philosophie der Offenbarung in einer Weise zusammen, durch die zugleich ihre epochenvermittelnde philosophiegeschichtliche Bedeutung ersichtlich wird. Cusanus selbst versteht den bisher nachvollzogenen Gedankengang als Interpretation der von Protagoras als Fragment 80B1 überlieferten Aussage, dass der Mensch das Maß aller Dinge sei. Am Ergebnis der diesbezüglichen Überlegungen kann deutlich gemacht werden, wie bei Cusanus einerseits das Offenbarungsgeschehen in Kategorien aus der antiken Philosophie reflektiert wird, andererseits dabei die philosophischen Paradigmen aber von den Erfordernissen der christlichen Glaubensvorgaben her in einer Weise modifiziert werden, die auf ihre neuzeitliche Transformation vorausweist. Ausgangspunkt der Argumentation des zitierten Textes war die Aussage des Aristoteles, dass alle Menschen von Natur aus nach Wissen streben und deshalb in Liebe den Sinneseindrücken zugetan sind. Diese den Weltbezug implizierende Ausprägung des von der antiken Philosophie entwickelten Verständnisses des Menschen als Vernunftwesen wird von Cusanus nun zur Einsichtnahme in die Glaubenserfahrung des Offenbarungsgeschehens aufgegriffen. Die gemäß antiker Konzeption der Vernunft eigene Befähigung zur Erkenntnis Gottes als des letzten Grundes ist dabei für Cusanus nicht nur der Anknüpfungspunkt, sondern sie wird darüber hinaus als der ursprüngliche Konstitutionsgrund der Vernunft verstanden. Die Vernunft wird als eine Begabung begriffen, die in der Schöpfung von Gott dem Menschen mit dem Zweck verliehen wurde, ihn dadurch auf den Gottesbezug auszurichten: Deshalb streben alle Menschen von Natur aus nach Wissen, weil sie dazu in die Welt gekommen sind, auf dass sie Gott suchen und erkennen.109 In Entsprechung zu dieser Neubestimmung wird auch der sinnlichen Wahrnehmung ein tieferer Sinn zu-erkannt. Sie wird als die Weise verstanden, durch deren Vermittlung ein in seiner Kreatürlichkeit endlicher Intellekt sein Ziel der ihm unmittelbar nicht möglichen Erkenntnis Gottes erreichen kann. Dies hat nun ein neues Verständnis der Sinnenwelt selbst zur Folge: Sie wurde von Gott erschaffen, um sich darin dem Menschen zu erkennen zu geben. Diese Zweckbestimmung der Schöpfung impliziert nun eine geänderte Auffassung des Verhältnisses zwischen Mensch und Welt: Der Mensch ist nicht nur ein Teil der Welt, und sei es auch ihr vollkommenster110 oder ihr Mittelpunkt, sondern 109
Sermo CLXXXVII .Spiritus autem paraclitus': Ρ II, fol. 103rf. Als perfectissimum in tota natura gilt beispielsweise bei Thomas von Aquin (Summa theologiae I 29, 3) die (menschliche) Person. 110
Die natürliche Weltwirklichkeit
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er nimmt eine prinzipiell höhere ontologische Rangordnung ein als die gesamte Weltwirklichkeit, weil diese letztlich um seinetwillen geschaffen wurde. Der Mensch ist zwar nicht in dem Sinne ihre Ursache, dass er die Welt aus dem Nichts hervorgebracht hätte - dies ist nämlich nur der göttlichen Schöpfungsmacht möglich. Da es aber für Gott der Motivationsgrund zur Erschaffung der Welt war, sich darin in einer der menschlichen Sinneserkenntnis zugänglichen Weise zu offenbaren, ist der Mensch flir die Tatsächlichkeit der Weltschöpfung und ihre konkrete Gestalt maß-geblich. Wenn Cusanus das protagoreische Dictum vom Menschen als dem Maß aller Dinge dahingehend interpretiert, dass der Mensch in dem Sinne alles misst, als Gott die Konstitution der Welt den menschlichen Erkenntnisstrukturen anpasst, so nimmt er damit das neuzeitliche Paradigma der Zuordnungslogik von Mensch und Welt vorweg, dem gemäß sich nicht mehr die Erkenntnis nach den Gegenständen, sondern vielmehr die Gegenstände nach der Erkenntnis richten."1 In seiner Formulierung des diesbezüglichen Gedankens wird unmissverständlich deutlich, wie bei Cusanus dieser epochale Paradigmenwechsel in der Intention seinen Zielgrund hat, ein der Glaubenserfahrung des Offenbarungsgeschehens entsprechendes Weltverständnis zu finden: Der Mensch weiß aufgrund der Natur seiner Sinneserkenntnis, dass das Sinnenfällige um der Sinneserkenntnis willen ist, und misst so das Sinnenfällige, um in sinnenfälliger Weise die Herrlichkeit der göttlichen Vernunft erfassen zu können. 3.1.6.2
Der Mensch als „ finis creationis "
Das neue Zuordnungsverhältnis von Welt, Mensch und Gott bringt Cusanus in einer bereits zitierten Aussage auf die Formel, dass alles um des [menschlichen] Geistes willen besteht, der Geist aber um der Schau des [göttlichen] KönnenSelbst willen."1 Wie diese Zusammenschau das Ergebnis des offenbarungsphilosophischen Weltverständnisses ist, lässt sich an folgender Predigtstelle aufzeigen, wo dieser Gedanke ausdrücklich als Interpretation auf den biblischen Schöpfungsbericht zurückbezogen wird: Weil Gott die Reichtümer seiner Herrlichkeit aufgrund seiner Gutheit offenbaren (ostendere) wollte, erschuf er alles um der vernunftbegabten Natur willen, wie es auf schöne Weise im Buch Genesis geoffenbart wird, auf welche Weise er allen Geschöpfen den Menschen voransetzte, in den er auf dem W e g der Einhauchung das lebendige Bild setzte." 3
111
Vgl. dazu die klassische Formulierung bei I. KANT, Kritik der reinen Vernunft, Β X V I f.
112
De ap. theor. Memoriale VI: h XII, N. 22, Z. 5.
1,3
Sermo CLXIX ,Ubi venit plenitudo temporis': Ρ II, fol. 89 v .
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Dimensionen der Offenbarkeit des Geheimnisses
In diesem Gedanken sind die maßgeblichen Momente der cusanischen Verhältnisbestimmung von Welt, Mensch und Gott in ihrem Zusammenhang konzentriert dargelegt. Zuerst wird jene der Gutheit Gottes entsprechende Intention, seine Reichtümer mitzuteilen, als der letzte Grund für seine kreative Wirksamkeit nach außen begriffen. Um seinen freien Offenbarungswillen zu verwirklichen, muss Gott zunächst einen Empfanger seiner Selbstmitteilung erschaffen. Die biblische Aussage, nach der der Mensch durch die Einhauchung des göttlichen Odems zum Gottebenbild geschaffen wurde, lässt sich philosophisch in dem Sinne deuten, dass Gott den Menschen mit dem Intellekt be-gabt, um ihn dadurch zur Aufnahme in die Gemeinschaft mit seiner geistigen Wesensnatur zu befähigen. Die im biblischen Schöpfungsbericht vorgegebene Verhältnisbestimmung zwischen Mensch und Welt, der gemäß der Mensch von Gott allen anderen Geschöpfen vorangesetzt wurde, interpretiert Cusanus nun im Gedanken, dass Gott alle anderen Dinge um der vernunftbegabten Natur willen erschuf, um darin dem Menschen die Reichtümer seiner Herrlichkeit zu offenbaren. Weil der göttliche Geist sich selbst mitteilen will, schuf er vernunftbegabte Geschöpfe, die des Urteils, der Herrlichkeit und der Wahrheit fähig sind; weil den Menschen aufgrund ihrer Verwiesenheit auf die Sinneserkenntnis der Ideenreichtum des göttlichen Intellekts verborgen geblieben wäre, schuf Gott um ihretwillen alle niedrigeren Geschöpfe,"4 In seiner offenbarungsphilosophischen Interpretation des Schöpfungsgeschehens gelingt es Cusanus, die biblische Vorgabe der Herausgehobenheit des Menschen allen anderen Geschöpfen gegenüber radikaler zu denken: Er begründet sie nicht mehr mit dem Verständnis des Menschen als in seiner Geistbegabung höchster Stufe der Weltwirklichkeit, sondern mit der Bestimmung der endlichen Intellektnatur als Zielgrund der Welterschaffung überhaupt. In der Einführung dieser grundsätzlichen ontologischen Differenzierung zwischen dem menschlichen und untermenschlichen Seinsbereich innerhalb der kreatürlichen Wirklichkeit zieht Cusanus die philosophische Konsequenz aus der Einsicht, dass nur der Mensch unmittelbar auf den Grund der Schöpfung bezogen sein kann. Dies ist deshalb der Fall, weil die Schöpfung in der freien Selbstmitteilung der Gutheit des göttlichen Geistes begründet ist und der Geistnatur ihres Urhebers entsprechend nur von einem Wesen empfangen werden kann, das selbst über die Geistbegabung verfügt. Zumal Gott seine freie Willensintention, an seinem Geist teilzugeben, verwirklicht, indem er sich zu erkennen gibt, ist allein der Mensch aufgrund seiner Intellektnatur unmittelbar auf die göttliche Selbstmitteilung hin aus-
"4 Crib. Alk. II, 16: h VIII, N. 133, Z. 8f.
Die natürliche Weltwirklichkeit
105
gerichtet. Der Mensch ist also deshalb das Ziel der Schöpfung, weil alles umwillen Gottes ist, aber Gott sehen und ihn schmecken nur die Intellektnatur kann.115 Die Bestimmung allein des Menschen als finis naturae116 lässt sich nun in einem zweifachen Sinn verstehen. Zum einen beschreibt sie das Verhältnis zwischen dem Menschen und der von ihm unterschiedenen kreatürlichen Wirklichkeit. Diesbezüglich erweist sich der Mensch deshalb als Ziel der Schöpfung, weil die gesamte nicht-menschliche Welt von Gott allein zu dem Zweck erschaffen wurde, seinen Geist darin dem auf sinnliche Vermittlungsgestalten angewiesenen endlichen Intellekt des Menschen zu offenbaren. Zum anderen ist der Mensch auch in einem Sinn Ziel der Schöpfung, der auf sein allein ihn auszeichnendes Gottesverhältnis bezogen ist. Da die freie Willensintention der göttlichen Gutheit, sich selbst mitzuteilen, der tiefste Grund der Schöpfung ist, Gott sich aber wesenhaft als Geist bestimmt, ist seine kreative Wirksamkeit von vornherein auf jene Natur hin ausgerichtet, die aufgrund ihrer Geistbegabung zur Aufnahme der Selbstmitteilung des göttlichen Geistes befähigt ist. Darin erweist sich der Mensch nicht nur als das Ziel der untermenschlichen Wirklichkeit, sondern als der alleinige unmittelbar eigentliche Bezugspunkt der kreativen Selbstentäußerung Gottes überhaupt. 3.1.6.3
Die Mittlerstellung
des Menschen
Die in der Bestimmung des Menschen als finis creationis implizit zum Ausdruck kommende Bezogenheit der Weltwirklichkeit auf den Menschen und des Menschen auf Gott formuliert Cusanus an einer Stelle ausdrücklich als solche, wo er diese Verhältnisbestimmung von Welt, Mensch und Gott als das Ergebnis der (freien) Willensintention Gottes einführt und in der Intellektbegabung des Menschen ermöglicht sieht: Gott aber wollte, dass der Mensch aufgrund seiner Vernunft das Ziel aller körperlichen Naturen sei, und dass Gott selbst das absolute Ziel aller Intellektnaturen sei.ni In der Struktur dieses Gedankens greift Cusanus das in der neuplatonischen Tradition entfaltete Motiv von der Mittlerstellung des Menschen auf." 8 Wie bei seiner Fassung des biblischen Themas von der Heraus-
115 1,6
Sermo CLXVIII ,Pax hominibus': Ρ II, fol. 89 r . De conc. cath. I, 3: h 2 XIV/1, N. 15, Z. 9.
117
Sermo C L X X X V I ,Qui credit in filium dei': Ρ II, fol. 112r. Vgl. z.B. DIONYSIUS AREOPAGITA, De divinis nominibus VII 3 (ed. Suchla 198). JOHANNES SCOT(T)US ERIUGENA, De divisione naturae II, 3 (ed. Sheldon-Williams 16, 23ff); 118
1 1 9 ( 2 8 , 2 0 f f ) . THOMAS VON AQUIN, S t h I 7 6 , 5 ; MEISTER ECKHART, In. G e n . II η. 1 1 3 (Lat.
Werke I 579,6f). - Sowie: Α. M. HAAS, Homo-medietas. Sinn und Tragweite von Eriugenas Metapher vom Menschen als einer , dritten Welt', in: Begriff und Metapher. Sprachform des
106
Dimensionen der Offenbarkeit des Geheimnisses
gehobenheit des Menschen gegenüber allen anderen Kreaturen und zusammenhängend damit denkt Cusanus auf dem Hintergrund des offenbarungsphilosophischen Weltverständnisses auch die Bestimmung des Menschen als Verknüpfung der Gesamtheit der Seienden119 in einem beispiellos radikaleren Sinne. Während damit bisher (lediglich) die in seiner leib-geistigen Wesensnatur begründete Stellung des Menschen zwischen den nur körperlichen Seienden und den reinen Geistwesen, den Engeln und letztlich Gott, beschrieben wurde, begreift Cusanus die Mittlerschaft des Menschen in einem aktiven Sinne nicht nur als Bezeichnung für dessen Sein, sondern auch für dessen Wirksamkeit.120 Dies ist eine Konsequenz aus dem cusanischen Verständnis des Menschen als finis creationis. Weil alle anderen untermenschlichen Seienden von Gott zu dem Zweck erschaffen wurden, um sich darin dem Menschen auf eine diesem zugängliche Weise zu offenbaren, hat die gesamte Weltwirklichkeit allein in der Bezogenheit auf den Menschen ihren Sinn. Die Stellung des Menschen als natura media121 wird von Cusanus also in dem Sinne verstanden, dass der Mensch nicht nur das Verbindungsglied zwischen dem göttlichen Geistprinzip und dessen raumzeitlichen Geschöpfen darstellt, sondern darüber hinaus die mittelbare Ursache für das Sein der körperlichen Dinge ist.122 Da alle Weltseienden nur mittelbar in ihrer Bedeutung für die Gotteserkenntnis des Menschen auf Gott bezogen sind, vermittelt der Mensch allen anderen Geschöpfen ihren absoluten Zielgrund. Damit wird schließlich deutlich, dass die Rede von der Mittlerstellung wie das dieser zugrundeliegende Verständnis des Menschen als Ziel der Schöpfung auch einen das Gottesverhältnis betreffenden Sinn hat. Wenn die gesamte untermenschliche Wirklichkeit allein in der Ermöglichung menschlicher Gotteserkenntnis ihre Zweckbestimmung findet, ist sie nur in ihrer Bedeutung für den Menschen auf Gott bezogen. Die Wirksamkeit des Menschen als medium connexionism besteht somit auch darin, dass durch ihn die gesamte Weltwirklichkeit auf ihren göttlichen Urheber hin ausgerichtet wird. Der Mensch verknüpft die geistige mit der körperlichen Welt, damit Gott nicht nur der Ursprung, sondern Denkens bei Eriugena: Abh. d. Heidelberger Akad. d. Wiss., phil.-hist. Klasse 1990 / 3, hg. von W. Beierwaltes (Heidelberg 1990), 168-186. 119 De mente 14: h 2 V, N. 154, Z. 8. 120 Dazu ausfuhrlicher: M. T h u r n e r , Die Einheit von Selbst-, Welt- und Gottesbezug nach Nikolaus von Kues, 390-395. 121 De docta ign. III, 3: h I, S. 126, Z. 22 (N. 197, Z. 5). 122 Die Entwicklung dieses Gedankens innerhalb der cusanischen Schriften untersucht - allerdings ohne dabei die offenbarungsphilosophische Motivation herauszuarbeiten: W. S c h w a r z , Das Problem der Seinsvermittlung bei Nikolaus von Cues: Studien zur Problemgeschichte der antiken und mittelalterlichen Philosophie 5 (Leiden 1970) 123 De docta ign. III, 3: h I, S. 126, Z. 22 (N. 197, Z. 6).
Die natürliche
Weltwirklichkeit
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auch das Vollendungsziel seines Schöpfungswerkes ist, auf dass diese gesamte sinnlich wahrnehmbare Welt so um der vernunfthaften willen sei und der Mensch das Ziel aller sinnenfälligen Geschöpfe, und der glorreiche Gott Ursprung, Mitte und Ziel seiner Wirksamkeit.124 3.1.6.4
Die Ausrichtung aller Seienden auf den
Menschen
Mit der Bestimmung des Menschen als Ziel der Schöpfung ist gesagt, dass Gott die Welt um des Menschen willen hervorgebracht hat. Das dieser Einsicht in den Bezugsgrund der Schöpfung entsprechende Weltverständnis expliziert Cusanus auf verschiedenen Ebenen. In einer ihrer kerygmatischen Zielsetzung gemäß bewusst affektiv und bildreich formulierten Predigtpassage macht er zunächst die Konsequenzen deutlich, die sich aus einer derartigen Begründung der kreatürlichen Wirklichkeit für die konkrete Weltbetrachtung ergeben. Unter Voraussetzung dieser Zielbestimmung erscheint die Welt sowohl in ihrer Gesamtstruktur als auch in ihren dinghaften Einzelphänomenen als von Gott auf ihren Zweck für den Menschen hin ausgerichtet: Siehe nun, was der Herrscher des Himmels und der Erde, dein Schöpfer, dir überlassen hat! Hat er nicht alles im Himmel und auf Erden zu deinem Dienste angeordnet? Betrachte die Erde: Sie ist die Vorratskammer, aus welcher dir Gott Nahrung und Kleidung, Wein und Brot, die Tiere, Schafe, Ochsen, Lasttiere zu deiner Ernährung, Kleidung, zu deinen Reisen hervorholt. Betrachte das Wasser: Wie viele Dienste leistet es dir zu Fischfang, Waschen, Schifffahrt und Unzähligem dieser Art. Betrachte die Luft, die da dient zum Atmen, zur Erfrischung und als Wind zur Reinigung und zur Schifffahrt, als Wolken zum Regen, der die Erde befeuchtet. Was soll ich vom Feuer sagen, das uns ein Schutzmittel gegen Kälte und Blöße und die Quelle von tausend Vorteilen ist? Was von der Sonne, dieser Leuchte des Tages für dich und die Tiere? Sie macht die Frucht reif, erwärmt die Luft, lockt die Keime hervor. Was von allen Sternen, welche alle sich beeilen, auf deine Natur erhaltend einzuwirken? Was von den Engeln, den Beschützern und Bewahrern vor Unglücksfallen, den Führern zum Guten? Was von den Heiligen, den Vermittlern und Fürsprechern bei Gott, ihrem Herrn? Alles ist um deinetwillen da (omnia enim propter te), selbst die Hölle, um durch ihre Schrecken dich vom Bösen abzuhalten, und denen, die sich gegen dich versündigen, gerechte Strafe zu vergelten. Die bösen Geister sind für dich da, damit du aus ihren Versuchungen als gekrönter Sieger hervorgehst und in Widerwärtigkeiten als tapferer Sieger dich erprobst. Alles ist zu deinem Besten (omnia tibi conferunt)! 125
Die vollständige Zitation dieses Textes ist für den hier herauszuarbeitenden Gedankenzusammenhang deshalb aufschlussreich, weil aus der Spannbreite der 124 125
Defil. 4: h IV, N. 76, Z.8-10. Sermo LXII ,Memoriam fecit mirabilium': Ρ II, fol. 61 v .
108
Dimensionen der Offenbarkeit des Geheimnisses
angeführten Beispiele hervorgeht, wie radikal Cusanus die Welt aus ihrer Zweckbestimmung für den Menschen begreift. Inwieweit ihre Bezogenheit auf das Gelingen des guten Lebens des Menschen für Cusanus zum Verständnisschlüssel für alle Dimensionen der von Gott geschaffenen Wirklichkeit wird, zeigt sich hier darin, dass er damit nicht nur den unmittelbar lebensfördernden Elementen, sondern auch negativen Phänomenen wie Hölle und Dämonen im Verweis auf Abschreckung, gerechte Bestrafung und Bewährung einen mittelbar positiven Sinn abgewinnen kann. Für die Analyse jenes der Bestimmung des Menschen als Ziel der Schöpfung entsprechenden Weltverständnisses sind in dieser Predigtpassage aber nicht nur die Betrachtungsweise der einzelnen Momente der kreatürlichen Wirklichkeit von Bedeutung, sondern wegen des höheren Abstraktionsniveaus vorrangig auch jene Aussagen, in denen die darin implizierten allgemeinen Eigenschaften der Welt zur Sprache kommen. Über die Gesamtheit der Seienden („omnia") spricht Cusanus im zitierten Text an drei Stellen: Zu Beginn in der (im folgenden an Einzelbeispielen explizierten) thesenhaften Aussage, dass der Schöpfer alles im Himmel und auf Erden zum Dienste des Menschen angeordnet hat. Sodann in der Mitte, wo Cusanus für den Hörer seiner Predigt deren inhaltliche Quintessenz im Ausruf zusammenfasst: Alles ist um deinetwillen da! Und am Ende des wiedergegebenen Argumentationsganges wird diese Zielbestimmung der Weltschöpfung im Gedanken intensiviert, nach dem das All der Seienden von Gott in einer Weise konzipiert wurde, die dem Menschen nicht nur die nackte Existenz gewährleisten, sondern darüber hinaus auch ein qualitativ hochwertiges Leben ermöglichen soll: Alles ist zu deinem Besten! Zusammenfassend lässt sich daraus schließen, wie der Bestimmung des Menschen als Ziel der Schöpfung die Einsicht entspricht, dass die Welt als ganze von Gott dem Menschen überlassen wurde, was nicht zuletzt auch aus der wörtlichen Bedeutung des von Cusanus in diesem Zusammenhang wiederholt verwendeten Verbums conferre hervorgeht.
3.1.7
Die Welt als dem Menschen geschenkter Gott
Das in den zuletzt interpretierten Aussagen vermittelte Verständnis der Welt als der von Gott dem Menschen zur Verwirklichung seines guten Lebens übergebenen Schöpfung wird von Cusanus in einem für den hier zu diskutierenden Gedankenzusammenhang zentralen Text weiterreflektiert, wo er insofern eine höhere philosophische Argumentationsebene erreicht, als darin diese Auffassung von der Zweckbestimmung der Welt in einem dementsprechenden Wesensbegriff fundiert wird. Damit schafft sich Cusanus zugleich die Grundlage für die weitere Entfaltung des Gedankenganges, weil er sodann die entscheidenden Elemente seines
Die natürliche
Weltwirklichkeit
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Weltverständnisses als Implikationen eben dieses Wesensbegriffes aufweisen kann. Inwieweit Cusanus darin christliche Glaubensvorgaben philosophisch vermittelt, wird bereits rein äußerlich an der Tatsache ersichtlich, dass er den besagten Begriff einem Schriftwort entnimmt und alle daraus resultierenden Einsichten in dessen Auslegung gewinnt: Es sagt nämlich der Apostel: „Alle gute Gabe und jedes vollkommene Geschenk kommt von oben, vom Vater der Lichter". 126 Jedes Geschöpf scheint auf eine gewisse Weise Gott zu sein. Gott allein ist nämlich der am meisten gute oder der beste. Wenn nun das Geschöpf die beste Gabe ist - denn ein jedes Geschöpf ist sehr gut - ,127 scheint es ein geschenkter Gott zu sein. Gott kann nämlich nichts geben, was seiner Mächtigkeit (potentiae) nicht unterworfen wäre. Es muss nämlich in der Möglichkeit (potentia) des Gebers das sein, was gegeben wird. In der Möglichkeit des Guten aber ist das Gute. Das Beste aber ist nur eines, einfach, unteilbar, weil es eben das Beste ist. Es kann also nichts anderes geben als sich selbst. Das Beste ist das Verströmen seiner selbst (sui ipsius diffusivum), aber nicht nur teilweise, da das Beste nur das Beste sein kann. Denn es ist alles das, was sein kann. Darum ist sein Sein seine Bestheit und Ewigkeit. Es teilt sich nämlich ohne Verminderung mit. Es scheint somit, dass Gott und das Geschöpf ein und dasselbe seien, Gott der Weise des Gebers entsprechend, das Geschöpf der Weise der Gabe entsprechend. Es wird also nur Eines geben, das der Verschiedenheit der Weise entsprechend verschiedene Namen erlangt. Ein und dasselbe wird ewig sein nach der Weise des Gebers und zeitlich nach der Weise der Gabe, wird Schöpfer und Geschaffenes sein. [...] Mit bewundernswürdiger Feinheit drückt uns das der Apostel in folgenden Worten aus: „die beste Gabe steigt herab", als ob er sagte: Der Geber der Formen schenkt nichts von sich selbst Verschiedenes, sondern sein Geschenk ist seine absolute und allgemein größte Bestheit selbst; sie kann aber nicht so aufgenommen werden, wie sie gegeben wird, weil die Aufnahme des Gegebenen im Abstieg (descensive) geschieht. Das Unendliche wird nämlich auf endliche Weise aufgenommen, das Allgemeine auf besondere Weise und das Absolute auf verschränkte Weise. Eine derartige Aufnahme aber, weil sie von der Wahrheit des sich Mitteilenden abfallt, neigt sich zur Ähnlichkeit und dem Abbild, so dass sie nicht die Wahrheit, sondern die Ähnlichkeit des Gebers ist. Denn sie kann im Anderen nur auf andere Weise empfangen werden. [...] Und weil Gott selbst das Ziel seines Werkes ist, der um seiner selbst willen alles gewirkt hat, gab er sich als die sinnliche Welt, auf dass die sinnliche Welt um seiner selbst willen sei, als die absteigende Aufnahme seiner selbst, die sich auf die sinnliche Stufe herabsenkt und die Gutheit seiner selbst auf sinnliche Weise berührt, und auf dass das unendliche Licht den Sinnendingen auf sinnliche Weise leuchte, den Lebendigen auf lebendige Weise, den Verständigen auf verständige Weise und den Vernunftbegabten auf die Weise der Vernunft. 128
126
Jak 1, 17. Vgl. Gen 1,31. 128 De dato 2: h IV, N. 97, Z. 4-20. N. 99, Z. 1-9. N. 103, Z. 1-6. 127
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Dimensionen der Offenbarkeit des Geheimnisses
Das in der zuletzt interpretierten Predigtpassage entfaltete Verständnis der Welt als von Gott dem Menschen zu dessen Dienst überlassener Schöpfung sieht Cusanus in der dem Schriftwort129 entnommenen Bezeichnung der Kreatur als beste Gabe und als vollkommenes Geschenk auf den Begriff gebracht. Der Erkenntnisfortschritt, der sich aus der Reflexion auf diese Bestimmung ergibt, wird unmittelbar nach der Zitation der Schriftstelle gleichsam thesenhaft formuliert: Jedes Geschöpf scheint auf eine gewisse Weise Gott zu sein. Während bereits der im Predigttext konzipierte Gedanke von der Zielgerichtetheit der ganzen Schöpfung auf das gute Leben des Menschen eine neuartige Weltsicht impliziert, ist die hier darüber hinaus vorgenommene, durch die adverbiale Bestimmung auf eine gewisse Weise spezifizierte Gleichsetzung der Kreatur mit Gott von noch gewagterer gedanklicher Kühnheit. Wie Cusanus, vermittelt durch die begriffliche Fassung der von Gott auf den Dienst des Menschen hin geschaffenen Welt als beste Gabe und vollkommenes Geschenk, zu der Einsicht gelangt, dass die Kreatur auf eine gewisse Weise Gott ist, lässt sich an den anschließenden Aussagen des zitierten Textes nachvollziehen. Worin die nicht ausdrücklich als solche thematisierte Voraussetzung dieses Gedankens besteht, kann am unmittelbar folgenden Satz erschlossen werden. Hier wird Gott als der allein in höchstem Maße gute oder beste bestimmt. Für den weiteren Argumentationsgang ist dabei entscheidend, dass Cusanus das Schriftwort von der besten Gabe des Vaters der Lichter auslegt, indem er den Gott des christlichen Glaubens mit dem aus der platonischen Tradition herkünftigen philosophischen Begriff des Guten identifiziert. Demzufolge vollzieht sich die ganze anschließende Argumentation auf einer philosophischen Ebene und besteht konkret in einer deduktiven Analyse der Implikationen eben dieses Gottesbegriffs. Dadurch kann Cusanus aufweisen, dass die auch in Anspielung auf den biblischen Schöpfungsbericht'30 als gute Gabe bezeichnete Kreatur deshalb in gewisser Weise Gott ist, weil sie ihrer ontologischen Wesensherkunft entsprechend als geschenkter Gott bestimmt werden muss. 3.1.7.1
Gott und Welt sind dasselbe auf verschiedene
Weise
Dies wird nun im Rückgriff auf das philosophische Prinzip begründet, dem gemäß ein Geber nur dasjenige schenken kann, was in der Seinsweise der Möglichkeit bei ihm bereits gegeben ist und somit seiner Mächtigkeit unterliegt. Folgerichtig lässt dies den Schluss zu, dass die als beste Gabe begriffene Kreatur in der Schöpfungspotenz des guten Gottes bereits vorher-enthalten gewesen sein muss. 129 130
Jak. 1, 17. Vgl. Gen 1 , 3 1 .
Die natürliche Weltwirklichkeit
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Warum aber die kreatürlichen Hervorbringungen des göttlichen Prinzips in gewisser Weise, nämlich in der Weise des Geschenks, Gott sind, deduziert Cusanus aus dem philosophischen Begriff der absoluten Gutheit selbst. Dieser umfasst Bestimmungen, die einerseits das Wesen, andererseits das Wirken des Guten betreffen. Hinsichtlich seines Wesens fuhrt Cusanus als Eigenschaften des Guten an, dass es eines, einfach und unteilbar ist, was sich aus seiner Vollkommenheit ergibt, die Cusanus betont, indem er in diesem Zusammenhang in superlativischer Formulierung von der Bestheit (optimitas) spricht. Was die Wirksamkeit des Guten betrifft, greift Cusanus auf das bereits erörterte traditionelle Axiom zurück, nach dem das Gute die Tendenz hat, sich selbst zu verströmen. Denkt man nun beide Bestimmungsmomente zusammen, dass das Gute sich selbst verströmt, selbst aber eines, einfach und unteilbar ist, so ergibt sich daraus die Begründung dafür, warum die Kreatur in der Weise des Geschenkes Gott ist: Der als die absolute Gutheit begriffene Gott kann nichts anderes geben als sich selbst. Seine unteilbare Einfachheit bedingt es, dass der gute Gott sich nicht teilweise, sondern unvermindert mitteilt. Weil das Gute in seiner Selbstmitteilung nichts anderes als sein Wesen gibt, kann Cusanus sagen, dass Gott und die Kreatur ein und dasselbe sind. Wenn Cusanus bereits in der an den Anfang des zitierten Textes gesetzten Aussage die Identität von Schöpfer und Schöpfung als in gewisser Weise (quodammodo) gegeben bezeichnet, wird daran unmissverständlich deutlich, wie in diesem Gedanken die Differenz zwischen Gott und Welt nicht etwa in einem pantheistischen Sinne aufgehoben wird. Diese Differenz wird von Cusanus vielmehr auf eine neue Weise gedacht, in der er der philosophischen Identifikation des Schöpfergottes mit dem Begriff des Guten in konsequenterer Weise gerecht wird als dies bei den alternativen diesbezüglichen Ansätzen möglich war: Wenn Gott in seinen Gaben nichts anderes als sein eigenes Wesen mitteilt, lässt sich die Differenz zwischen Schöpfer und Geschöpf nicht mehr in der Kategorie der Substanz bestimmen, weil beide diesbezüglich dasselbe sind. Gott und Welt unterscheiden sich vielmehr im Hinblick darauf voneinander, dass sie dasselbe auf verschiedene Weise sind, Gott auf die Weise des hervorbringenden Schöpfers, die Welt auf die Weise des empfangenden Geschöpfs. In stringenter Auslegung des Begriffs der vollkommenen Gutheit als des sich selbst ungeteilt und unvermindert Schenkenden denkt Cusanus die Differenz zwischen absoluter und endlicher Wirklichkeit in der Kategorie der Modalität 131 und bestimmt sodann die Seins131
Darin macht Cusanus neuplatonische Quellen fiir die Offenbarungsphilosophie fruchtbar. Die Differenz zwischen Ursache und Verursachtem wurde bereits durch die Kategorie der Modalität bestimmt im Liber de causis XI (XII) n. 103 und n. 106f (ed. Pattin 73, 64-66 und 73, 74 - 74, 87) sowie bei MEISTER ECKHART, Sermo II 1 n. 6 (LWIV 8, 4-11).
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Dimensionen der Offenbarkeit des Geheimnisses
weise Gottes als diejenige des Gebers, die der Kreatur aber als diejenige der Gabe. Die unterschiedlichen Bestimmungen von Gott und Welt, wie etwa Ewigkeit und Zeitlichkeit, werden somit schließlich als Eigenschaften eben dieser verschiedenen Seinsweisen desselben Einen begreifbar.132 3.1.7.2
Die „ receptio descensiva "
Das in der Bestimmung des Geschöpfs als beste Gabe und vollkommenes Geschenk implizierte Identität-Differenz-Verhältnis zwischen Gott und Welt wird von Cusanus weiterreflektiert, indem er jenes Detail des Schriftzitats auslegt, wonach jede gute Gabe vom Vater der Lichter von oben absteigt. Diese im Jakobusbrief aus dem Horizont der religiösen Glaubenserfahrung gemachte Aussage interpretiert er auf dem Hintergrund des der platonischen Tradition entstammenden philosophischen Konzepts der ontologischen Abstufung von Seinsgraden. Dadurch kann er die modale Differenz zwischen Schöpfer und Geschöpf auch als eine des Seinsranges erweisen und aufzeigen, dass Gott als der Geber das selbe Eine in vollkommener Weise verwirklicht, was das Geschöpf als die Gabe auf einer niedrigeren Stufe ist. Dieser Seinsschwund erklärt sich wie folgt: Obwohl Gott in seiner besten Gabe nichts anderes als sich selbst gibt und somit sein vollkommenes Geschenk seine absolute Bestheit selbst ist, fallt das Geschöpf von der Seinsvollkommenheit des Schöpfers ab, weil es aufgrund seiner Kontingenz die Selbstmitteilung Gottes nicht in der Weise aufnehmen kann, wie sie gegeben wird. Die Aufnahme der Gabe geschieht auf absteigende Weise (descensive), denn das Unendliche wird auf endliche Weise aufgenommen, das Allgemeine auf besondere Weise und das Absolute auf verschränkte Weise. Der Grund für die im Seinsrang gegebene Differenz zwischen Gott und Welt besteht nicht darin, dass Gott etwas von seiner Seinsfulle zurückhält - als der absolut Gute teilt er sie vielmehr neidlos vollkommen mit;133 das Geschöpf fallt hingegen deshalb von der Seinsvollkommenheit des Schöpfers ab, weil seine Aufnahmekapazität für die göttliche Selbstmitteilung beschränkt ist. Damit wird 132 Diese Weise der Bestimmung der Differenz zwischen Gott und Welt, nicht mehr in der Kategorie der Substanz, sondern derjenigen der Modalität wurde bereits oben als Konsequenz aus dem offenbarungsphilosophischen Weltverständnis erwiesen. Die diesbezüglichen Überlegungen werden damit bis in terminologische Entsprechungen hinein bestätigt. Inwiefern der Gedankengang des hier zitierten Textes offenbarungsphilosophisch motiviert ist, soll erst im Anschluss an die Interpretation von dessen Einzelaussagen geklärt werden. 133 Die Neidlosigkeit der Teilgabe wurde bereits von Piaton als Wesenszug des Guten herausgestellt (vgl. Tim 29 e 2). Stellen, an denen Cusanus diesen Gedanken aufgreift, sowie deren unmittelbare Quellen (Dionysius, Eckhart) sind verzeichnet in den Anmerkungen 17 und 33 zum II. Buch von De docta ignorantia in: NvKdÜ H. 15b, 118f.
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Weltwirklichkeit
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schließlich auch erklärlich, woraus sich die Differenz als Grundzug der geschaffenen Wirklichkeit ergibt: Da jedes Geschöpf seiner je individuellen Kapazität entsprechend die vollkommene Gabe Gottes nur in größerem oder geringerem Maße aufnehmen kann, wird die göttliche Einheit im kreativen Prozess ihrer Selbstmitteilung in die welthafte Andersheit hinein differenziert. 3.1.7.3
Das Geschöpf als „ deus occasionatus "
Die ontologische Bestimmung des Geschöpfs als eingeschränkte Aufnahme der Selbstmitteilung des göttlichen Seinsüberflusses vermittelt Cusanus in einem anderen Zusammenhang, indem er die Kreatur als einen unvollkommenen Gott (deus occasionatus), geschaffenen Gott (deus creatus) und als eine endliche, begrenzte Unendlichkeit (infinitas finita) bezeichnet. Diese Formulierungen finden sich in einem Text, der gleichsam die gedankliche Keimzelle für die wenige Jahre später entstandene, zuletzt zitierte Textpassage aus ,De dato patris luminum' darstellt:134 Wer vermöchte das zu begreifen, wie alles Bild jener einzigen unendlichen Form ist und seine Verschiedenheit nur kontingenterweise (ex contingenti) besitzt, gleichsam als wäre das Geschöpf ein nicht vollendeter Gott [...]? Ist doch die unendliche Form nur in endlicher Weise aufgenommen, so dass jedes Geschöpf gleichsam eine endliche Unendlichkeit oder ein geschaffener Gott ist, um so auf bestmögliche Weise zu sein. Es ist, als hätte Gott sein „Es werde" 135 gesprochen, und weil kein Gott entstehen konnte, der die Ewigkeit selbst ist, so entstand ein Gott möglichst Ähnliches. Daraus folgt, dass jedes Geschöpf als solches vollkommen ist, auch wenn es im Vergleich mit einem anderen weniger vollkommen erscheint. Der gütige Gott teilt j a allem das Sein mit in der Weise, in der es aufgenommen werden kann. Da also Gott ohne Unterschied und ohne Missgunst mitteilt und seine Mitteilung so aufgenommen wird, dass die Kontingenz eine andere und höhere Aufnahme nicht zulässt, so findet jedes Geschöpf in seiner Vollendung sein Genüge, die es in freigiebiger Weise vom göttlichen Sein her besitzt. Es will kein anderes Geschöpf sein, als ob dieses vollkommener wäre, sondern es bevorzugt das Wesen, das es vom Größten her besitzt, wie ein göttliches Geschenk und wünscht, dieses in unvergänglicher Weise zu vervollkommnen und zu erhalten. 136
Der Vergleich beider Texte ist in doppelter Hinsicht aufschlussreich: Zum einen enthält die Passage aus ,De docta ignorantia' zahlreiche gedankliche Parallelen zur Argumentation aus ,De dato patris luminum' und begründet manche Aspekte sogar ausfuhrlicher, weshalb sie zur Bestätigung und Vertiefung der oben vorgenommenen Interpretation herangezogen werden kann. So wird hier beispielsweise 134
De docta ignorantia wurde 1440 vollendet, De dato patris luminum 1446. Vgl. Gen 1,3. 136 De docta ign. II, 2: h I, S. 68, Z. 14-30 (N. 104, Z. 1-20). 135
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Dimensionen der Offenbarkeit des Geheimnisses
die Kontingenz ausdrücklich als der Grund dafür benannt, dass die Kreatur die Mitteilung der göttlichen Seinsvollkommenheit nur auf begrenzte Weise aufnehmen kann und demzufolge als unvollkommener Gott zu bestimmen ist. Zudem bringt Cusanus im früheren Text eine Eigenschaft der göttlichen Selbstmitteilung zur Sprache, die im späteren, in der begrifflichen Definition des Schöpfers als der absoluten Gutheit und des Geschöpfs als der besten Gabe, indirekt mitgesagt wird: Die Hervorbringung der kreatürlichen Wirklichkeit erfolgt nicht aus äußerer oder innerer Notwendigkeit, sondern auf freigiebige Weise. Wie Cusanus die Freiheit der Selbstverströmung des guten Gottes als den grundlosen Grund der Schöpfung begreift, kommt insbesondere in seiner Bestimmung des Geschöpfs als vollkommenes Geschenk auf eindrucksvolle Weise zum Ausdruck. 3.1.7.4
Das endliche Erkenntnissubjekt
als Empfänger des Geschenks
Zum anderen trägt der Abschnitt aus ,De docta ignorantia' nicht nur durch gedankliche Gemeinsamkeiten zum Verständnis der Passage aus ,De dato patris luminum' bei, sondern vor allem auch, wenn man eine entscheidende Differenz zwischen beiden Texten entsprechend berücksichtigt. Diese liegt weniger in den einzelnen Gedanken, sondern vielmehr in der unterschiedlichen Zielrichtung des jeweiligen Argumentationsganges. Bei genauer Betrachtung fällt auf, dass Cusanus mit denselben Ideen eine andere Einsicht zu begründen intendiert. Diese findet sich folgerichtigerweise jeweils in thesenhafiter Formulierung am Ende der zitierten Texte. In ,De docta ignorantia' dient das Argument, wonach das Geschöpf die vollkommene Selbstmitteilung der göttlichen Seinsfulle seiner eingeschränkten Kapazität entsprechend aufnimmt, zur Begründung der Auffassung, dass ein jedes Geschöpf, auch wenn es im Vergleich mit einem anderen weniger vollkommen erscheint, in seiner je individuellen Vollendung sein Genüge findet und kein anderes Geschöpf sein will. Demgegenüber kommt am Schluss des Zitats aus ,De dato patris luminum' ein anderer Zusammenhang in den Blick: Der letzten Aussage des Textes gemäß dient die receptio descensiva der göttlichen Selbstmitteilung, die sich auf die sinnliche Stufe herabsenkt und die Gutheit Gottes auf sinnliche Weise berührt, dem Zweck, dass das unendliche Licht den Sinnendingen auf sinnliche Weise leuchte, den Lebendigen auf lebendige Weise, den Verständigen auf verständige Weise und den Vernunftbegabten auf die Weise der Vernunft. Im Unterschied zur Parallele aus ,De docta ignorantia' ist hier nicht die seinsbegründende Aufnahme des göttlichen Seinsüberflusses durch die Geschöpfe das letzte Ziel der Selbstmitteilung Gottes, sondern vielmehr die dadurch geschaffene Möglichkeit, dass die unendliche Seinsvollkommenheit Gottes in ihren endlichen Einschränkungen für endliche Erkenntnissubjekte, die auf die Wahrnehmungsarten von Sinnlichkeit, Verstand und Vernunft verwiesen sind, zugäng-
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lieh wird. Die dem zuletzt zitierten Satz vorausgehende Aussage, wonach Gott selbst das Ziel seines Werkes ist, der um seiner selbst willen alles gewirkt hat, und sich als die sinnliche Welt gab, auf dass die sinnliche Welt um seiner selbst willen sei, ist folglich in dem Sinne zu verstehen, dass Gott aus der Freiheit seiner Gutheit seine Seinsfulle durch die kreatürlichen Gaben in endlicher Einschränkung mitteilte, um sich dadurch den endlichen Erkenntnissubjekten als Ziel zu schenken. Wenn man berücksichtigt, wie das wahrnehmende Subjekt, das als solches in der zitierten Passage aus ,De docta ignorantia' gar nicht erwähnt wurde, in ,De dato patris luminum' als Ziel der Argumentation in den Blick kommt, und wenn man berücksichtigt, wie der zuletzt referierte Zusammenhang bereits in der Interpretation anderer Aussagen als derjenige des Offenbarungsgeschehens erwiesen werden konnte, so bestätigt sich darin, dass der Gedankengang aus ,De dato patris luminum' und zusammenhängend damit auch derjenige aus dem zuletzt zitierten Sermo ,Memoriam fecit mirabilium' das offenbarungsphilosophische Weltverständnis explizieren. Obwohl in beiden Texten von Offenbarung nicht direkt die Rede ist, war die Ausführlichkeit ihrer Interpretation im Kontext der Thematik dieser Untersuchung geboten, weil aus ihnen hervorgeht, wie Cusanus die Weltwirklichkeit ontologisch in einer Weise bestimmt, die ihrem Verständnis als Teilmoment des Offenbarungsgeschehens entspricht. Die in der Predigtpassage bildreich dargelegte Ausrichtung aller Weltseienden auf das gute Leben des Menschen findet ihre tiefste, weil radikalste Begründung im Gedanken, dass Gott die ganze Welt um der Vollendung der menschlichen Gotteserkenntnis willen, zum höchsten Glück der Intellektnatur, erschaffen hat. Im Sermo nicht thematisierte Implikationen des offenbarungsphilosophischen Weltverständnisses reflektiert Cusanus im zitierten Text aus ,De dato patris luminum' : Zunächst bringt er hier die ontologische Bestimmung der Weltseienden aus ihrer Hinordnung auf das Glück des Menschen auf den Begriff, indem er sie als Geschenk bezeichnet. Weil es zum Wesen des Geschenks gehört, dass es nicht aus Zwang, Notwendigkeit oder Berechnung gegeben wurde, sondern im Idealfall auf seiten des Gebers sogar überhaupt gar keinen Grund oder Zweck hat, deutet Cusanus damit indirekt auch die grundlose Freiheit des auf den Menschen hin finalisierten Mitteilungsgeschehens der Weltschöpfung an. Nimmt man die diesbezüglichen Aussagen aus der Predigt und aus ,De dato patris luminum' zusammen, so zeigt sich, wie die Bestimmung der Weltseienden als Geschenk sowohl eine auf Gott als auch eine auf den Menschen bezogene Sinndimension hat. Im Hinblick auf Gott ist damit von der Kreatur gesagt, dass sie von ihm frei gegeben wurde, im Hinblick auf den Menschen aber, dass die Kreatur ihm völlig übergeben wurde. Der Gedanke, wonach die Schöpfung von Gott dem Menschen frei überlassen wurde, reflektiert wiederum das Verständnis der Welt als Teilmoment
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Dimensionen der Offenbarkeit des Geheimnisses
der Offenbarung, dem gemäß alles von Gott zu dem Zweck erschaffen wurde, um sich darin dem Menschen mitzuteilen. Ein wesentlicher Aspekt des offenbarungsphilosophischen Weltverständnisses, der im Predigttext ebenfalls nicht ausdrücklich thematisiert wurde, steht in ,De dato patris luminum' im Mittelpunkt der Überlegungen: Der Angelpunkt des Verständnisses der Schöpfimgswirklichkeit als Teilmoment der Offenbarung ist die Einsicht, dass Gott in der Welt nichts anderes als sich selbst auf eine der menschlichen Erkenntnis zugängliche Weise mitteilt, weil andernfalls, wenn die Welt nicht in ihrem Wesensgrund mit Gott identisch wäre, sie diese funktionale Bestimmung im Offenbarungsgeschehen nicht erfüllen könnte. Diese Implikation des offenbarungsphilosophischen Weltverständnisses reflektiert Cusanus in ,De dato patris luminum' im Gedanken, dass im Geschöpf nichts anderes als Gott selbst gegeben ist. Das im Offenbarungsglauben vorausgesetzte Verständnis eines sich selbst in seinen kreatürlichen Gaben dem Menschen frei mitteilenden Gottes begründet Cusanus schließlich philosophisch, indem er den Begriff des ,Guten', der begriffsgeschichtlich genau durch diese Eigenschaften definiert ist, zum vorrangigen Gottesprädikat erhebt.
3.1.8
„MM secreti
tenes"
Inwieweit der Grundgedanke der zitierten Texte aus dem Sermo ,Memoriam fecit mirabilium' und aus ,De dato patris luminum', wonach Gott in seiner Schöpfung sich selbst dem Menschen ungeschuldet schenkt, das offenbarungsphilosophische Weltverständnis expliziert, braucht aber nicht nur durch den interpretatorischen Aufweis erschlossen zu werden, dass die gedanklichen Ergebnisse die Vorgaben des christlichen Offenbarungsglaubens vermitteln, sondern lässt sich auch an einer dementsprechenden wörtlichen Aussage des Cusanus unmittelbar bestätigen. In einem für Thematik und Grundthese der vorliegenden Untersuchung zentralen Text wird das Offenbarungsgeschehen ausdrücklich als der eigentliche Sinngrund des Verständnisses der Welt als dem Menschen geschenkter Gott benannt: Durch dein Geschenk, mein Gott, habe ich diese gesamte sichtbare Welt, die ganze Schrift und alle dienstbaren Geister zur Hilfe bekommen, um in der Erkenntnis deiner selbst fortschreiten zu können. Alles regt mich an, auf dass ich mich dir zuwende. Alle Schriften streben danach, nichts anderes zu machen, als dich zu offenbaren (ostendere), und alle Vernunftgeister üben sich in keinem anderen Dienst, als dich zu suchen und zu offenbaren (revelent), soviel sie von dir gefunden haben. [...] Nichts von deinem Geheimnis hältst du zurück (nihil secreti tenes)! Du verbirgst (occultas) nicht die Ader der
Die natürliche Weltwirklichkeit
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Liebe und weder diejenige des Friedens, noch die der Ruhe. Alles bringst du (offers) mir Allerbedürfligstem (miserrimo) dar, den du aus dem Nichts erschaffen hast. 1 "
Wie im Sermo ,Memoriam fecit mirabilium' spricht Cusanus auch hier von der Ausrichtung aller Weltseienden auf die Ermöglichung der menschlichen Grundvollzüge und wie in ,De dato patris luminum' bringt er durch die Rede vom Geschenk zum Ausdruck, dass die Kreatur von Gott dem Menschen in grundloser Freiheit übergeben wurde. Entscheidend ist aber, in welchen umfassenderen Zusammenhang diese Gedanken in ,De visione dei' integriert sind. Als inneres Ziel der Selbsthingabe Gottes in der Weltschöpfung wird hier ausdrücklich benannt, dass der Mensch in der Erkenntnis Gottes fortschreiten soll. Eine derartige Zweckbestimmung kann die kreatürliche Wirklichkeit nur erfüllen, wenn sie selbst Teilmoment des Offenbarungsgeschehens ist. Diese Voraussetzung reflektiert Cusanus, indem er im selben Eingangssatz des zitierten Textes den visibilis mundus im Hinblick auf dessen Vermittlungsfunktion für die menschliche Gotteserkenntnis mit den (biblischen) Schriften und den inspirierenden Hilfsgeistern gleichsetzt. Damit ordnet er die Weltschöpfung in eine Reihe von Gegebenheiten ein, deren Offenbarungscharakter keines weiteren Aufweises bedarf. Wenn Cusanus sodann sagt, dass alles den Menschen anregt, damit er sich Gott zuwende, so kann dies auf die Zusammenschau der drei im vorhergehenden Satz benannten Dimensionen der Offenbarung bezogen werden, aber auch auf die in ihrer Offenbarungsfunktion begriffene Gesamtheit der Weltseienden. Was im folgenden von der Grundintention der biblischen Offenbarungsschriften gesagt wird, gilt damit auch für die Zielbestimmung aller untermenschlichen Kreaturen: Sie streben danach, nichts anderes zu bewirken, als Gott zu offenbaren. In der Fortsetzung des Textes kommt sodann der Mensch als Empfänger und somit eigentlicher Zielgrund der Gegebenheit von Offenbarung und ihrer verschiedenen Gestalten in den Blick. Die diesbezügliche Aussage ist ein weiteres Zeugnis für das offenbarungsphilosophische Menschenverständnis des Cusanus: Übereinstimmend mit der philosophischen Tradition spricht er hier vom Menschen als Vernunftwesen. Die Weise, wie er diese Bestimmung auslegt, ist aber ganz von der im Glauben vorgegebenen Auffassung des Menschen als Empfänger der Offenbarung geprägt. Als die eigentliche Aufgabe und damit den ursprünglichen Sinn der Vernunftbegabung benennt es Cusanus, Gott zu suchen und zu offenbaren, soviel sie von ihm gefunden hat. In dieser Aussage wird wiederum deutlich, wie Cusanus die Vernunftausstattung des Menschen aus ihrer Integration in das Offenbarungsgeschehen begründet: Gott hat den Menschen als Vernunftwesen erschaffen, um ihn damit zur Ge137
De vis. 25: h VI, N. 118, Z. 1 0 - Ν . 119, Z. 11.
118
Dimensionen der Offenbarkeit des Geheimnisses
meinschaft mit der göttlichen Geistnatur zu befähigen. Da der menschliche Geist aber aufgrund seiner raumzeitgebundenen Endlichkeit Gott nicht unmittelbar erkennen kann, offenbart sich ihm Gott in der Schöpfung in sichtbarer Gestalt. Damit schafft Gott selbst die Voraussetzungen dafür, dass die Vernunft ihre ursprüngliche Zielbestimmung der Erkenntnis Gottes verwirklichen kann, indem sie die sichtbaren Weltphänomene auf ihre unsichtbare weltjenseitige Ursache zurückführt. Die Suche nach der Offenbarkeit des göttlichen Geheimnisses in dessen sinnenfalliger Selbstmitteilung begreift Cusanus somit als den Grundvollzug der Vernunft. In der am Schluss des Textes zitierten Aussageneinheit begründet Cusanus das bisher explizierte offenbarungsphilosophische Welt- und Menschenverständnis in einem dementsprechenden Gottesgedanken. Da Gott dem gesamten Offenbarungsgeschehen als Ursprung zugrundeliegt, ist das Gotteskonzept der Mittelpunkt einer Philosophie der Offenbarung. Aus diesem Grund wurde auch ein bestimmter Gottesbegriff als Titel der vorliegenden Untersuchung gewählt, die sich eine Analyse und Interpretation der cusanischen Philosophie der Offenbarung zum Ziel setzt. Dabei wurde auf die Formulierung Goethes vom Offenbaren Geheimnis zurückgegriffen. Die zentrale Bedeutung der zuletzt zitierten Passage aus ,De visione dei' für die im Titel vorweggenommene Grundthese der vorliegenden Studie besteht darin, dass Cusanus hier ein der Bestimmung des Offenbaren Geheimnisses entsprechendes Gottesverständnis entfaltet, mit dem zugleich indirekt angedeutet wird, wie diese Begrifflichkeit bei ihm im Unterschied zu Goethe zu verstehen ist. Die Wendung Nihil secreti tenes — Nichts von deinem Geheimnis hältst du zurück, hätte gleichsam als Leitwort der vorliegenden Untersuchung vorangestellt werden können. Ihre fundamentale Bedeutung für unsere Thematik besteht darin, dass sie den inneren Grund dafür angibt, warum und in welchem Sinne Gott als das Offenbare Geheimnis zu begreifen ist. Durch die negierende Formulierung des Satzes kann Cusanus folgenden Zusammenhang einsichtig machen: Das Geheimnis ist in der Aussage Nihil secreti tenes als ursprüngliche Wesenseigenschaft Gottes vorausgesetzt, weil Gott all das, was er hat, auch ist. Die Offenbarkeit ergibt sich daraus, dass Gott in seinem Wirken diese seine wesenhafte Eigenschaft preisgibt. Da Gott aber auch in seinem nichts zurückhaltenden, offenbarenden Wirken er selbst in seiner geheimnishaften Natur bleibt, muss die menschliche Vernunft, um seine Wirklichkeit zu denken, den paradoxkoinzidentalen Begriff des Offenbaren Geheimnisses bilden. In der Fähigkeit zur Vermittlung gegensätzlicher Bestimmungen zeigt sich die gedankliche Kraft der Formulierung Nihil secreti tenes; sie beruht darauf, dass hier Geheimnis und Offenbarkeit jeweils zugleich gesetzt und aufgehoben sind.
Die natürliche Weltwirklichkeit
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Im Hinblick auf die Weise, wie Cusanus diesen Zusammenfall von Position und Negation der Bestimmungen im Gottesbegriff konzipiert, lässt sich zugleich die Differenz zu Goethes Verständnis des Offenbaren Geheimnisses aufzeigen. Cusanus erreicht die Vermittlung von Geheimnis und Offenbarkeit, indem er sie als einen linearen, dynamischen Prozess denkt. Die Offenbarkeit des Geheimnisses beruht hier auf einer offenbarmachenden Bewegung, die von einem aktiven Offenbarungs-Entschluss des Geheimnisses ihren Ausgang nimmt. In der Wendung Nihil secreti tenes kommen sowohl das Spannungsverhältnis von Verborgenheit und Entbergung wie auch die innere Dynamik der Offenbarungsbewegung des Geheimnisses vollendet zum Ausdruck. Ersteres gelingt Cusanus, indem er in diesen drei Worten von nichts anderem als dem Geheimnis spricht, dabei aber nichts anderes als Offenbarkeit aussagt; letzteres wird durch die Dominanz der verbalen Komponente der Formulierung erreicht. Die Aufmerksamkeit auf eine weitere Besonderheit der Formulierung ermöglicht indes einen Blick auf den verborgenen Motivationsgrund der spezifisch cusanischen Konzeption des Offenbaren Geheimnisses: Das Subjekt des Satzes wird von Cusanus nicht als abstrakter Begriff, auch nicht als konkreter Name, sondern vielmehr mit dem Personalpronomen Du formuliert. Daraus lässt sich schließen, dass das sich in die Offenbarkeit bewegende Geheimnis der personale Gott des christlichen Glaubens ist. Die in der Gebetsform der ganzen Schrift ,De visione dei' zum Ausdruck kommende innere Glaubenserfahrung der personalen Gegenwart Gottes wird im cusanischen Konzept des Offenbaren Geheimnisses philosophisch vermittelt. Die Offenbarkeit des Geheimnisses ist bei Cusanus das Ergebnis der freien Mitteilungsbewegung des personalen Gottes. 3.1.8.1
Das , Offenbare Geheimnis' bei Cusanus und bei Goethe
Die Differenzen zu Goethes Auffassung vom Offenbaren Geheimnis beruhen nun darauf, dass darin eine andere Grund-Erfahrung vermittelt wird. Bei Goethe verdichtet sich in dieser Wendung ein bestimmtes Naturerleben. Zwar versteht auch Cusanus die natürliche Wirklichkeit als eine Weise der Offenbarkeit des Geheimnisses, begründet diese Sicht aber in der Bestimmung der Welt als Ergebnis des freien Schöpfungsentschlusses des welttranszendenten, personalen Gottes. Demgegenüber ist für Goethe die Natur nicht das Ergebnis der Offenbarungsbewegung des andernfalls verschlossen bleibenden Geheimnisses Gottes, sondern vielmehr in ihrem Wesen das Offenbare Geheimnis selbst. Zwar ist in seiner Gleichsetzung mit der Natur das Offenbare Geheimnis auch nach Goethe von einer inneren Dynamik bestimmt. Als das ewige Werden und Vergehen der Natur ist diese Bewegtheit aber als zyklisches Phänomen zu verstehen. Bei Cusanus gehört die Bewegung in einem viel wesentlicheren Sinn zum
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Dimensionen der Offenbarkeit des Geheimnisses
Offenbaren Geheimnis, weil das Geheimnis überhaupt erst durch seinen aktiven Selbstaufschluss offenbar wird. Die bei Cusanus im Unterschied zu Goethe unmittelbar im Begriff des Offenbaren Geheimnisses implizierte Prozessualität ist dann bei ihm auch nicht als eine zyklische, sondern als eine lineare zu verstehen: Die Offenbarungsbewegung nimmt ihren absoluten Ausgang beim Entschluss Gottes, nichts von seinem Geheimnis an sich zu halten. Die Auffassung der Offenbarkeit nicht als ewige Eigenschaft der Natur, sondern als die zeitliche Folge einer ewigen Vorentscheidung Gottes ist nun insofern für die Qualität der cusanischen Konzeption ausschlaggebend, weil es Cusanus unter dieser Voraussetzung gelingt, eine Dimension in seinen Begriff des Offenbaren Geheimnisses zu integrieren, die für Goethe kein wesentliches Element seines Verständnisses sein kann: Wenn die Offenbarkeit nicht immer in der Natur gegeben, sondern das Ergebnis eines positiven Offenbarungsentschlusses Gottes ist, so ist nicht mehr die Notwendigkeit, sondern die Freiheit ein wesentliches Moment ihrer Gegebenheit. Die Offenbarkeit nicht als ewige Eigenschaft der Natur, sondern als Folge eines göttlichen Willensaktes zu denken, ist deshalb die höherrangige Konzeption, weil sie so als die Verwirklichung eines freien Mitteilungsentschlusses begriffen werden kann. Nur unter dieser Voraussetzung wird die Offenbarung so erfahrbar, wie sie Cusanus auf den Begriff bringt: als Geschenk, in dem das Geheimnis sich selbst grundlos in die Offenbarkeit preisgibt. 3.1.8.2
Die Liebe, die Gott selbst ist, als der tiefste Grund des Offenbarungsgeschehens
Jene die Offenbarkeit des Geheimnisses zum Geschenk machende Freiheit ihrer Gegebenheit wird im zitierten Text aus ,De visione dei' im Verweis auf ihren tiefsten Grund indirekt zur Sprache gebracht. Unmittelbar im Anschluss an die Wendung Nihil secreti tenes kommt Cusanus auf die Liebe Gottes zu sprechen. Auch hier gilt es wiederum aufmerksam auf die Formulierung zu hören, die eine ähnliche Struktur aufweist, wie der zuletzt zitierte Satz: Venam amoris non occultas - Die Ader der Liebe verbirgst du nicht! Wie in der Aussage über das nicht zurückgehaltene Geheimnis wird auch hier die Verborgenheit in ihrer Aufhebung als Wesenseigenschaft Gottes zugleich vorausgesetzt. Die Koinzidenz von Verborgenheit und Offenbarung wird dabei aber darüber hinaus auf eine Bestimmung zurückgeführt, die die innerste Wesenswirklichkeit Gottes benennt und daher als der tiefste Grund dafür zu fassen ist, warum Gott als das Offenbare Geheimnis begriffen werden muss. Die freie Offenbarungsbewegung des Geheimnisses versteht Cusanus als den Grundvollzug der Liebe, die Gott selbst ist. Wie die Liebe zugleich der innere Wesenskern Gottes wie auch der Ursprung seiner Lebensbe-
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wegung ist, bringt Cusanus suggestiv zum Ausdruck, indem er bildreich von der Ader der Liebe spricht. Im folgenden, letzten Satz der zitierten Passage aus ,De visione dei' macht Cusanus schließlich deutlich, wer der eigentliche Empfanger der das göttliche Geheimnis in die verschiedenen Offenbarungsgestalten preisgebenden Liebe ist. Zwar empfangen alle Geschöpfe ihr Sein aus der Selbstmitteilung der Liebe Gottes, sie sind ja - wie es in ,De dato patris luminum' hieß - die absolute Gutheit in der Weise der teilhabenden Gabe. Dennoch ist nur eine Art der Geschöpfe durch ihre Vernunftbegabung dazu befähigt, die Selbsthingabe der göttlichen Liebe als die Offenbarung seines Geheimnisses aufzunehmen. Die freie Offenbarungsbewegung der göttlichen Liebe ist daher, vermittelt durch alle anderen Geschöpfe, letztendlich auf den Menschen hin ausgerichtet. In der Aussage Omnia offers mihi miserrimo - Alles bringst du mir Allerbedürftigstem dar - bringt Cusanus zum Ausdruck, wie im Selbstoffenbarungsprozess der göttlichen Liebe Gott alle Geschöpfe, und darin vermittelt den verborgenen Seinsreichtum seines Geheimnisses, dem einzelnen Menschen schenkt. Wenn das Subjekt dieses Gebetstextes sich selbst hier als Allerbedürftigsten benennt, so kommt darin ein Selbstverständnis zur Sprache, in dem die GrundErfahrung vermittelt wird, dass der Mensch das am meisten auf den Empfang der Liebe Gottes durch die Selbstoffenbarung von dessen Geheimnis angelegte Wesen ist. In der auf den allerbedürftigsten Menschen bezogenen Schlusswendung quem de nihilo creasti - den du aus dem Nichts erschaffen hast, betont Cusanus einerseits, dass die Verwiesenheit des Menschen auf die Selbstmitteilung der göttlichen Liebe von existentieller Bedeutung ist; andererseits macht er mit dem Hinweis auf die Schöpfung aber auch indirekt deutlich, dass die auf die verschiedenen Dimensionen der barmherzigen Selbstoffenbarung des göttlichen Geheimnisses bezogene Bedürftigkeit des Menschen nicht erst als Folge der Sünde eintritt - davon ist nämlich weder an der zitierten Stelle noch in deren Kontext die Rede - , sondern ein ursprüngliches Element seiner natürlichen Wesenskonstitution ist. Die Offenbarungsbewegung des Geheimnisses erweist sich so schließlich in ihrem tiefsten Grunde als das Geschehen der göttlichen Liebe, in das der Mensch wesenhaft hineingenommen ist.
3.1.9
Der Zeichencharakter der sichtbaren Weltwirklichkeit
Neben der Bestimmung der kreatürlichen Wirklichkeit als Geschenk, in dem sich die göttliche Liebe dem Menschen selbst grundlos mitteilt, gilt es nun, eine weitere Implikation des offenbarungsphilosophischen Weltverständnisses deutlich zu machen. Damit die Schöpfung ihre Funktion als Teilmoment des Offenbarungs-
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Dimensionen der Offenbarkeit des Geheimnisses
geschehens erfüllen kann, muss noch eine andere Voraussetzung gegeben sein. Das Verständnis der Welt als Mitteilung in dem Sinn, dass in den Kreaturen der Schöpfer selbst in der Weise der Teilhabe gegeben ist, betrifft nur die auf den Geber bezogene Dimension dieser Bestimmung. Da die Selbsthingabe Gottes im Geschöpf aber um eines bestimmten Zieles willen geschieht, kann erst im Hinblick auf den Empfanger ihr voller Sinn erschlossen werden. Wiederholt wurde bereits aufgewiesen, dass nach der Auffassung des Cusanus Gott die Welt zu dem Zweck erschaffen hat, sich darin dem Menschen in einer ihm zugänglichen Weise zu offenbaren. In dieser Begründung ist zugleich die auf den Empfänger bezogene Dimension des Verständnisses der Schöpfung als Mitteilung angedeutet: Die Weltwirklichkeit muss so beschaffen sein, dass der Mensch sie als eine Botschaft versteht, in der Gott selbst sich ihm offenbart. Um eine Mitteilung für den Menschen zu sein, muss die Selbstmitteilung Gottes in der Schöpfung auf die für den Menschen spezifische Art der Wahrnehmung hin konzipiert sein. Aufgrund seiner Wesensbestimmung als endlicher Intellekt verwirklicht sich der Mensch, indem er die geistige Wahrheit in sinnenfalliger Vermittlungsgestalt erkennt. Die ontologische Bestimmung, die den Dingen vom Schöpfer gegeben ist, damit sie diesen Strukturgesetzlichkeiten der endlichen Erkenntnis entsprechen können, reflektiert Cusanus, indem er die Geschöpfe als Zeichen (signa) begreift.13' Seine Theorie des Zeichens entfaltet Cusanus in einer seiner letzten Schriften, dem wahrscheinlich erst im Todesjahr 1464 verfassten ,Compendium'. Wie in dieser Terminologie die offenbarungsphilosophische Bestimmung der Welt als auf die Bedürfnisse der menschlichen Erkenntnis hin konzipierte Selbstmitteilung Gottes vermittelt wird, zeigt sich bereits darin, dass Cusanus die Bestimmungen des Zeichenbegriffs an Analogien aus dem Bereich der Sprache erklärt, dem Phänomen der Mitteilung schlechthin. Den Zeichencharakter der Weltwirklichkeit macht Cusanus deutlich, indem er den Hervorgang der Kreatur aus dem Schöpferintellekt mit dem Hinaustreten des gesprochenen Wortes aus dem Geist des Menschen vergleicht: So bilde dir einen Begriff vom Former aller Dinge, entsprechend dem, wie du ihn vom Geist bildest. Und denke, dass er sich in dem von ihm gezeugten Wort erkennt und sich in der Schöpfung, die Zeichen des unerschaffenen Wortes ist, durch mannigfache Zeichen auf mannigfache Weise offenbart (ostendit). Und nichts kann sein, was nicht Zei-
138 Dazu: D. THIEL, ,Scientia signorum' und ,Ars scribendi'. Zur Zeichentheorie des Nikolaus von Kues, in: ,Scientia' und ,Ars' im Hoch- und Spätmittelalter: Mise. Mediaev. 22, hg. v. I. Craemer-Ruegenberg u. A. Speer (Berlin - New York 1994), 107-125. M.-A. SCHRAMM, Zur Lehre vom Zeichen innerhalb des Compendiums des Nikolaus von Kues, in: ZPhF 33 (1979) 616-620.
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chen der Offenbarung (signum ostensionis) des gezeugten Wortes wäre. Und wie der Geist, wenn er sich nicht weiter offenbaren will, aufhört, ein stimmliches Wort hervorzubringen, und dieses gar nicht bestehen kann, wenn er es nicht ununterbrochen hervorbringt, so verhält sich das Geschöpf zum Schöpfer.'39
Anknüpfungspunkt des Vergleichs ist das jedem vertraute Phänomen des gesprochenen Wortes. Das Beweisziel des Vergleichs erreicht Cusanus in der Verfolgung von dessen Entstehungsprozess. Das stimmlich geäußerte Wort führt er auf einen Gedanken im Geist des Sprechers zurück, den er hier in trinitätsphilosophischer Terminologie als das gezeugte Wort benennt. Das Verhältnis zwischen dem inneren geistigen und dem äußeren stimmlichen Wort wird so dahingehend bestimmbar, dass letzteres die durch den Sprechakt hervorgebrachte sinnliche Darstellungsgestalt von ersterem ist. Das gesprochene Wort weist so all jene Eigenschaften auf, die für den cusanischen Begriff des Zeichens wesentlich sind: Es handelt sich dabei um die sinnliche Vermittlungsgestalt eines geistigen Gehaltes. Durch die Übertragung der Analogie kann Cusanus nun den Zeichencharakter aller Weltseienden einsichtig machen. Die raumzeitliche Wirklichkeit ist die im Schöpfungsakt hervorgebrachte sinnliche Darstellungsgestalt eines von Gott innerlich konzipierten geistigen Wortes. Im Sprachvergleich kann Cusanus schließlich auch den tiefsten Grund für die Zeichenbestimmung der Weltwirklichkeit aufzeigen. Am Phänomen des gesprochenen Wortes ist unmittelbar einsichtig, dass die zeichenhafte Darstellung eines geistigen Gehaltes im Hinblick auf die damit ursprünglich verbundene Intention den Sinn hat, dadurch die Gedanken des Sprechers seinem Hörer mitzuteilen. Weil das innerlich gezeugte Wort nur mittels seiner sinnlichen Verlautbarungsgestalt von einem anderen Menschen vernommen werden kann, wird am Beispiel der sprachlichen Kommunikation darüber hinaus auch deutlich, wie die sinnliche Vermittlung die einzig mögliche Weise ist, auf die Mitteilung, unter den Bedingungen der für den Menschen spezifischen Wahrnehmungsart, erfolgen kann. Von der Zweckbestimmung des gesprochenen Wortes schließt Cusanus nun auf den Motivationsgrund der zeichenhaften Darstellung des göttlichen Geistes in der Schöpfung der raumzeitlichen Weltwirklichkeit: Ursprung für die Hervorbringung der kreatürlichen Zeichen ist die Willensintention Gottes, sich selbst darin dem Menschen mitzuteilen. In der Aussage, dass Gott sich in dem von ihm gezeugten Wort erkennt und sich in der Schöpfung, die Zeichen des unerschaffenen Wortes ist, durch mannigfache Zeichen auf mannigfache Weise offenbart, integriert Cusanus selbst seinen Begriff des Zeichens in die Reflexion auf das Offenbarungsgeschehen. Die Deutung der Schöpfung in den Kategorien der Sprache erweist sich somit insofern als angemessen, weil Sprache wie Schöpfung 139
Comp. 7: h XI/3, N. 21, Z. 1-7.
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Dimensionen der Offenbarkeit des Geheimnisses
in ihrer tiefsten Wesensbestimmung dasselbe sind, nämlich Mitteilung eines geistigen Gehaltes durch sinnlich wahrnehmbare Zeichen. Den aller raumzeitlichen Wirklichkeit ursprünglich vorausgehenden inneren Entschluss Gottes, sich mitzuteilen, bringt Cusanus hier in der trinitätsphilosophischen Begrifflichkeit des gezeugten, unerschaffenen Wortes zur Sprache. Mit der Aussage, dass Gott sich darin selbst erkennt, ist zweierlei gesagt: Betont man das Wort ,selbst', so kommt darin zum Ausdruck, wie Gott in seinem inneren Wort die ungemindert vollkommene Seinsfülle seines Wesens erkennt; dies setzt seinerseits voraus, dass seine Mitteilung als Se/Zwimitteilung geschieht. Legt man den Schwerpunkt auf die Rede von der ,Erkenntnis', so ist darin indirekt angedeutet, wie in der Selbstmitteilung im gezeugten Wort die Dimension des göttlichen Geistes noch nicht verlassen ist; dies geht auch aus der Bestimmung des innergöttlichen Wortes als ,ungeschaffen' hervor. Im Hinblick auf die zuletzt aufgezeigte Implikation der Aussage von der Selbsterkenntnis Gottes in seiner ungeschaffenen Wortmitteilung kann nun der nächste Schritt des Gedankenganges im zitierten Text nachvollzogen werden: Würde die Mitteilungsbewegung Gottes beim gezeugten Wort stehenbleiben, so wäre zwar die mit seiner Gutheit gegebene Bestimmung Gottes als wesenhafte Selbstmitteilung innertrinitarisch erfüllt; Gott wäre dabei aber nur sich selbst, nicht hingegen dem Menschen als Mitteilung gegenwärtig, weil für den Menschen aufgrund der Verwiesenheit seiner Erkenntnis auf sinnlich wahrnehmbare Vermittlungsgestalten das im Inneren des göttlichen Geistes gezeugte Wort ein unzugängliches Geheimnis bliebe. Da es aber Gottes Willensintention ist, sich selbst aus grundloser Liebe dem Menschen mitzuteilen, setzt er seine Mitteilungsbewegung fort, indem er aus der Geheimnishaftigkeit seines Geistes für den Menschen in die Offenbarkeit der sinnlich wahrnehmbaren Weltwirklichkeit heraustritt.'40 Wenn Cusanus die Schöpfung als Zeichen des unerschaffenen Wortes141 bezeichnet, so begreift er sie damit als der sinnlichen Wahrnehmung zugängliche Vergegenwärtigung der wesenhaften Selbstmitteilung des göttlichen Geistes/Erst durch ihr Heraustreten in die raumzeitliche Andersheit der Welt wird die worthafte Selbstmitteilung Gottes für den Menschen zur Offenbarung.
140
Die hier unausdrücklich vorgenommene Unterscheidung zwischen einer trinitarisch im Inneren des göttlichen Geistes verbleibenden und einer kreativ in die Welt hinausgehenden Selbstmitteilung wurde erstmals von Bonaventura ausdrücklich formuliert, der im Zusammenhang seiner trinitätstheologischen Reflexion auf den Begriff der absoluten Gutheit die diffusio intra [deum] von der diffusio ad extra absetzte (I Sent. d. 19 p. 1 a. unicus q. 2 ad 3 [Quaracchi I 345 b]); vgl. dazu: W. BEIERWALTES, Gutheit als Grund der Trinität. Dionysius und Bonaventura, in: ders., Piatonismus im Christentum (Frankfurt/M. 1998) 85-99, hier: 92f. 141 Vgl. auch De docta ign. III, 11: h I, S. 154, Z. 5 (N. 247, Z. 17-18).
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Indem Cusanus die Weltwirklichkeit als Zeichen begreift, deutet er sie als Teilmoment des Offenbarungsgeschehens. Die biblische Rede von den mannigfachen Weisen der Offenbarung Gottes142 bezieht er hier auf die Vielfalt der im Schöpfungsakt hervorgebrachten Dinge. In der Aussage, dass nichts sein kann, was nicht Zeichen der Offenbarung des gezeugten Wortes wäre, bestimmt er es schließlich als den tiefsten Sinn eines jeden Weltseienden, dem Menschen das verborgene Wesen der göttlichen Selbstmitteilung zu offenbaren. 3.1.9.1
„... visus mentis, uti est in se, visus sensus, uti est in signis "
Eine für das offenbarungsphilosophische Weltverständnis des Cusanus zentrale Bestimmung des Zeichenbegriffes wurde im zuletzt interpretierten Text noch nicht thematisiert. Gemeint ist die jedes Ding überhaupt erst zu einem Zeichen machende Verweisfunktion. Sie ist die Voraussetzung dafür, dass die zeichenhafte Wirklichkeit überhaupt erst ihren Sinn erfüllen kann, Mitteilung eines rein geistigen Gehaltes zu sein. Der Verweischarakter eines Zeichens besteht darin, dass es etwas vergegenwärtigt, was zugleich davon unterschieden ist und bleibt. Im Hinblick darauf wird nun einsichtig, warum Cusanus die Bestimmung der Schöpfungswirklichkeit als Teilmoment des Offenbarungsgeschehens in dieser Begrifflichkeit reflektiert: Wenn Gott die Welt erschafft, um darin sich selbst und damit etwas von der kreatürlichen Wirklichkeit absolut Unterschiedenes mitzuteilen, müssen die welthaften Dinge ontologisch gesehen Zeichencharakter haben. Die Verweisfunktion des Zeichens und die darin implizierte Differenz zu dem in ihm Dargestellten wird von Cusanus durch eine im Kontext seiner Zeichentheorie eingeführte Unterscheidung thematisiert. In der diesbezüglichen Passage aus dem .Compendium' findet sich diese unmittelbar in den offenbarungsphilosophischen Zusammenhang integriert: Du wirst feststellen, dass der erste Ursprung, der überall derselbe ist, uns auf mannigfache Weise erschienen ist, und dass wir seine mannigfache Offenbarung (ostensionem) auf mannigfache Weise beschrieben haben. [...] Den Vater des Wortes und der Gleichheit nennen wir oben das Können, weil er allmächtig ist; er ist der eine Gegenstand des geistigen und des sinnlichen Sehens (visus mentis et visus sensus); des geistigen Sehens, wie er in sich ist; des sinnlichen Sehens, wie er in den Zeichen ist.143
Ausgangspunkt der Überlegungen des zitierten Textes ist die offenbarungsphilosophische Grundtatsache, dass Gott sich dem Menschen mitteilt: Er ist uns auf mannigfache Weise erschienen. Für das Offenbarungskonzept des Cusanus ist es nun entscheidend, dass er den Gott des christlichen Offenbarungsglaubens mit 142 143
Vgl. Hebr 1, 1. Comp., Conclusio - Epilogus: h XI/3, N. 44, Z. 3-5; N. 45, Z. 4-7.
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Dimensionen der Offenbarkeit des Geheimnisses
dem ersten Ursprung, der überall derselbe ist, identifiziert. Damit greift er eine Begrifflichkeit auf, die in der griechischen Philosophie für den ursächlichen Grund des Seins aller Dinge geprägt wurde. Daraus ergibt sich, dass Cusanus mit den mannigfachen Weisen, auf die uns Gott erschienen ist, die im kreativen Akt des absoluten Prinzips hervorgebrachte Wirklichkeit meint und hier also indirekt die Welt als eine Dimension der Selbstoffenbarung Gottes begreift. In diesem Zusammenhang macht Cusanus eine Aussage über das Selbstverständnis seines Denkens, die insofern für die Fragestellung der vorliegenden Untersuchung von grundlegender Bedeutung ist, weil aus ihr hervorgeht, dass Cusanus selbst sein Denken als Philosophie der Offenbarung versteht. Wenn er am Schluss eines seiner letzten, wahrscheinlich erst im Todesjahr 1464 verfassten Werke schreibt, er habe die mannigfachen Offenbarungen (ostensionem) [sc. des ersten Ursprungs] auf mannigfache Weise beschrieben, so bestätigt er damit selbst, dass die hier beabsichtigte Interpretation seines Denkens im Horizont der Offenbarungsthematik nicht etwa eine periphere oder gar fremde Frageperspektive daran heranträgt, sondern vielmehr dessen ursprünglicher und zentraler Intention entspricht.14'' Da Cusanus in der theoretischen Begründung der Weltwirklichkeit die Gegebenheit der Offenbarung reflektiert, ist die in den verschiedenen Gottesbegriffen und Gottesnamen (z.B. maximum, idem, possest, non aliud, posse ipsum) seiner Schriften verwirklichte Prinzipienspekulation auf ihrer tiefsten Sinnebene Offenbarungsphilosophie. In der zitierten Passage aus dem ,Compendium' vergewissert Cusanus den unter der biblischen Benennung Vater des Wortes eingeführten Offenbarungsgott als das Prinzip aller Dinge, indem er ihn begrifflich mit dem absoluten Können (posse) identifiziert. Die Präferenz für Gottesbegriffsbildungen aus dem Phänomenbereich des Könnens in den cusanischen Spätschriften (vgl. auch De possest, De venatione sapientiae, De apice theoriae) findet ihre offenbarungsphilosophische Motivation darin, dass so die Fähigkeit Gottes zu kreativer Selbstmitteilung und seine voraussetzungshafte Gegenwart in allen Dingen einsichtig gemacht werden können. Inwiefern die Können-Spekulation des Compendiums offenbarungsphilosophischen Sinn hat, geht auch daraus hervor, dass Cusanus im zitierten Text das göttliche Können unmittelbar als den einen Gegenstand des geistigen und des
144
Dass Cusanus auch von seinen Zeitgenossen als Denker des göttlichen Geheimnisses verstanden wurde, bestätigt sich nicht zuletzt in der folgenden Aussage der 1469 im Druck erschienenen Cusanus-Lobrede seines langjährigen Sekretärs GIOVANNI ANDREA DEI Bussr. Theologiae vero Christianae summus interpres et magister [sc. fuit Nicolaus], et coelestis arcani antistes sapientissimus. (ed. M. Honecker, in: Ders., Nikolaus von Cues und die griechische Sprache: Sitzungsber. d. Heidelb. Akad. d. Wiss. - Phil.-hist. Kl. 1937/38 Nr. 2 [Heidelberg 1938] 70-73, hier 72, Z. 59f).
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sinnlichen Sehens bestimmt, also aus seinem Bezug zum spezifischen Erkenntnisvollzug des Menschen begreift. Die Strukturgesetze der menschlichen Erkenntnis wurden bereits als der Grund dafür erwiesen, dass Gott, um sich dem Menschen mitteilen zu können, nicht in der (trinitarischen) Selbstgegenwart seines Geistes verbleiben darf, sondern sich durch die Weltschöpfung im sinnlichen Zeichen offenbaren muss. In seiner Theorie des Zeichens vertieft Cusanus die in der Interpretation der diesbezüglichen Textpassage aus ,De dato patris luminum' herausgearbeitete offenbarungsphilosophische Bestimmung der Welt als dem Menschen zugängliche Seinsweise Gottes. Hier macht er deutlich, dass die Selbsthingabe Gottes in eine von der endlichen Erkenntnis wahrnehmbare Seinsweise nur deshalb ihre Offenbarungsfunktion erfüllen kann, weil sie wesenhaft Verweischarakter hat. In der Reflexion auf den Zeichenbegriff wird nun schließlich auch das in der Rede von den verschiedenen Seinsweisen eines und desselben zum Ausdruck gebrachte IdentitätDifferenz-Verhältnis von Gott und Welt näher bestimmbar: Wie im zitierten Text aus dem ,Compendium' formuliert, besteht dieses darin, dass Gott in der Weise seiner geistigen Selbstgegenwart so ist, wie er in sich ist, in der Weise seiner sinnlichen Selbstmitteilung aber so gegeben ist, wie er in den Zeichen ist. Weil sie von Cusanus hier vom In-sich-Sein Gottes abgesetzt wird, lässt sich nun auch die Weise der zeichenhaften Offenbarkeit Gottes in der Welt anhand dieser Aussage näher bestimmen. Zunächst geht aus dieser Gegenüberstellung hervor, dass Gottes Gegenwart in der Schöpfungswirklichkeit nicht seiner Selbstidentität entspricht, er also in der Welt im Modus der Differenz gegeben ist. Obwohl die Welt nichts anderes als die Selbstmitteilung der wesenhaften Gutheit ihres Ursprungs ist, bleibt ihr Schöpfer in sich absolut. Da das göttliche Prinzip in seiner Selbsthingabe zwar sein Wesen in der kreatürlichen Wirklichkeit mitteilt, dabei aber nicht darin aufgeht, in der Schöpfung also seine ursprüngliche Seinsfülle nicht erschöpft, bleibt die Welt immer von Gott unterschieden. Die Auffassung, dass die Schöpfungswirklichkeit in ihrer Bestimmung als Selbstoffenbarung Gottes zugleich etwas von ihrem absoluten Ursprung Unterschiedenes ist, hat nun entscheidende Konsequenzen für das Verhältnis, in das sich der Mensch zur Welt begeben soll: Aufgrund seiner Endlichkeit gibt es für den Menschen zwar keinen anderen Weg, das ihm mit seiner Geistbegabung eingestiftete Ziel der Gotteserkenntnis zu erreichen, als Gott in dessen welthafter Selbstmitteilung zu suchen; da Gott aber in absoluter Differenz zu seiner Schöpfung verbleibt, verfehlt der Mensch sein Ziel, wenn er bei seiner Zuwendung zur Welt stehenbleibt oder diese gar - unbewusst oder bewusst - mit Gott verwechselt. Das Verhältnis des Menschen zur Schöpfung entspricht ihrer ursprünglichen Bestimmung, wenn der Mensch die Weltseienden in ihrem Verweischarakter erkennt und dadurch auf Gott, als das in ihnen zeichenhaft dargestellte Ziel hin
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Dimensionen der Offenbarkeit des Geheimnisses
übersteigt. In seinem Gedanken der zeichenhaften Gegenwart Gottes in der Schöpfung gelingt es Cusanus, Offenbarungsfunktion und Differenz der Welt im Verhältnis zu ihrem Ursprung ineinander zu denken. Sodann beinhaltet die von Cusanus im zitierten , Compendium'-Text vorgenommene Gegenüberstellung zur Weise, wie Gott in sich ist, eine weitere Implikation des cusanischen Verständnisses der Welt als zeichenhafter Gegenwart ihres Schöpfers. Sie steht mit dem zuletzt daraus abgeleiteten Gedanken der absoluten Differenz Gottes zu seiner Selbstmitteilung in Zusammenhang, weil sie als dessen Voraussetzung zu begreifen ist. Wenn Cusanus die Gegebenheit im Zeichen von Gottes ,In-sich-Sein' absetzt, so sagt er damit indirekt, dass Gottes zeichenhafte Selbstmitteilung in der Schöpfung deshalb von seiner absoluten Selbstgegenwart unterschieden ist, weil Gott in der Welt ,außer sich' ist. Zumal die Differenz der Wirklichkeit zu ihrem absoluten Ursprung demnach auf dem ,Außer-sich-Sein' Gottes beruht, kann das kreative Heraustreten Gottes aus seinem ,In-sich-Sein' als deren Voraussetzung bestimmt werden. Indem Cusanus die Gegenwart Gottes im geschaffenen Zeichen seinem In-sich-Sein gegenüberstellt, gibt er damit also zugleich zu verstehen, dass sie das Ergebnis der Offenbarungsbewegung des göttlichen Geheimnisses ist. Die Aussage, in der Cusanus das In-sich-Sein Gottes von dessen Gegebenheit im Zeichen unterscheidet, enthält schließlich auch einen verborgenen Hinweis auf den Motivationsgrund der darin reflektierten Offenbarungsbewegung. Dieser liegt in der Zuordnung der zeichenhaften Wirklichkeit zum sinnlichen Sehen, der göttlichen Selbstidentität aber zum geistigen Sehen und der Bestimmung des absoluten Könnens als des einen Gegenstandes des geistigen und des sinnlichen Sehens. In diesem Gedanken parallelisiert Cusanus die verschiedenen Seinsweisen eines und desselben göttlichen Wesens mit den verschiedenen Erkenntnisstufen des Menschen. Der Grund für die zeichenhafte Selbstoffenbarung des göttlichen Geheimnisses wird einsichtig, wenn man den Unterschied in dieser Parallelität berücksichtigt: Die Ordnung der menschlichen Erkenntnisstufen wie der göttlichen Seinsweisen wird jeweils in einer entsprechenden Bewegung verwirklicht, die zwar dieselben Bereiche durchschreitet, aber in umgekehrter Reihenfolge, denn der Ausgangspunkt der einen ist der Endpunkt der anderen. Beide Bewegungen stehen zueinander im Verhältnis der Komplementarität, weil sie jeweils aufeinander zugehen: Gott ist ursprünglich sich selbst gegenwärtiger Geist und entäußert sich in das sinnliche Zeichen, die menschliche Erkenntnis setzt beim sinnlichen Zeichen an und verinnerlicht es in der geistigen Erkenntnis von dessen Ursprung. Entscheidend ist nun, welche von den beiden Bewegungen für die andere die voraussetzungshafte Bedingung ist: Während Gott weder im zeitfreien innertrinitarischen Hervorgang seiner Selbstidentität noch in seiner schöpferischen Wirksamkeit in die raumzeitliche Äußerlichkeit der Welt der menschlichen Erkennt-
Die natürliche Weltwirklichkeit
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nisbewegung bedarf, ist der Mensch aufgrund seiner Endlichkeit zur Verwirklichung seiner Geistbegabung auf das Entgegenkommen Gottes in einer der Sinneswahrnehmung zugänglichen Weise angewiesen. Die Selbsterniedrigung des geistigen Geheimnisses des In-sich-Seins Gottes in die Offenbarkeit des sinnlichen Zeichens hat demnach keinen anderen Grund, als dass Gott damit aus grundloser Liebe dem Menschen den Aufstieg in die Gemeinschaft mit sich ermöglichen will. 3.1.9.2
Der Grund von Sein und Erkennbarkeit
aller Dinge
In der letzten Gedankeneinheit des ,Compendiums' fasst Cusanus seine Theorie des Zeichens zusammen und begründet sie ausdrücklich im Offenbarungsentschluss Gottes. Durch diesen abschließenden Rückbezug gibt er indirekt zu verstehen, wie er die Zeichenspekulation als Reflexionsgestalt des Offenbarungsgeschehens konzipiert hat. Der Erkenntnisfortschritt dieses im folgenden zu zitierenden Textes besteht nicht zuletzt darin, dass Cusanus in der Artikulation dieses Zusammenhangs zugleich das Offenbarungsgeschehen als die verborgene Sinntiefe der in seiner Zeichentheorie rezipierten philosophischen Begrifflichkeit aufweist: Gegenstand des sinnlichen Sehens aber ist irgendein sinnenfälliges Ding. Da es nur das ist, was es sein kann, ist es nur derselbe Gegenstand der geistigen Schau, nicht wie er in sich ist, wie er sich dem Geiste darbietet, sondern wie er im sinnenfälligen Zeichen ist, wie er sich dem sinnlichen Sehen darbietet. Weil also das Können selbst, im Vergleich zu dem es nichts Mächtigeres gibt, will, dass es geschaut werden kann, sind um dessentwillen alle Dinge. Und dies ist der Grund der Gründe und der Zweckgrund, weshalb alles ist. Auf ihn sind alle Gründe der Dinge in ihrem Sein und Erkanntwerden hingeordnet.'45
Auf der Ebene der philosophischen Argumentation thematisiert Cusanus in diesem Text die Struktur des menschlichen Erkenntnisvollzugs einerseits sowie den ontologischen Stufenbau der Wirklichkeit andererseits, wobei er deren gegenseitige Korrelation aufweist. Der Aufeinanderfolge von sinnlicher und geistiger Schau im Intellekt des Menschen entspricht die Zusammensetzung eines jeden Weltdinges aus sinnenfälliger Gestalt und intelligiblem Wesensgrund. Entscheidend wird nun, dass Cusanus das Verhältnis von Erkenntnis und Seinsordnung bestimmt, indem er die sensiblen und intelligiblen Qualitäten der Wirklichkeit als den einen Gegenstand (obiectum) der sinnlichen und geistigen Schau begreift. Damit ist zweierlei gesagt: Zunächst geht daraus hervor, dass intelligible und sinnenfällige Gegenwart Seinsweisen eines und desselben Dinges sind. Diese 145
Comp., Epilogus: h ΧΙ/3; N.47, Z.l-7.
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Dimensionen der Offenbarkeit des Geheimnisses
spezifiziert Cusanus, wenn er feststellt, wie etwas, das nur das ist, was es sein kann, sowohl wie es in sich ist, als auch wie es im sinnenfälligen Zeichen ist, vorliegt. Einen Hinweis darauf, welchen Sinn es hat, dass ein Seiendes seine geistige Selbstidentität verlässt und in die Äußerlichkeit des sinnenfalligen Zeichens hinaustritt, beinhaltet die zweite Implikation der Bestimmung der sensiblen und intelligiblen Qualitäten der Wirklichkeit als des einen Gegenstandes der sinnlichen und geistigen Schau. Wenn Cusanus die Dinge als Objekte der Schau begreift, erklärt er ihre Beschaffenheit aus ihrer Relation auf den menschlichen Erkenntnisvollzug. Da der Mensch intelligible Gehalte nur in sinnlicher Vermittlungsgestalt erfassen kann, muss die geistige Selbstidentität in der Äußerlichkeit des sinnenfalligen Zeichens dargestellt werden, wenn sie für den Menschen Objekt der Schau sein soll. Die Begründung der ontologischen Beschaffenheit der Dinge aus den Strukturgesetzlichkeiten der menschlichen Erkenntnis ist nur unter der Voraussetzung stichhaltig, wenn das absolute Prinzip der Wirklichkeit alle Seienden zu dem Zweck konstituiert hat, dass sie vom Menschen erkannt werden können. In der abschließenden Gedankeneinheit des zitierten Textes weist Cusanus genau dies auf und macht darüber hinaus den tiefsten Zielgrund einer derartigen Wirksamkeit des Schöpfers einsichtig. Letzteres setzt er der ontologischen Begründungsordnung entsprechend an den Anfang: Absoluter Ursprung aller Wirklichkeit ist die PFz7/ewsintention des göttlichen Prinzips, gesehen werden zu können. Wenn Cusanus im folgenden diese Absicht Gottes als die Finalursache bestimmt, auf die alle Gründe der Dinge in ihrem Sein und Erkanntwerden hingeordnet sind, so gibt er damit zu verstehen, dass die Konstitution der Weltwirklichkeit ihren Sinn in der Ermöglichung der Gottesschau hat. Dies lässt sich nun folgendermaßen erklären: Wenn Gott gesehen werden will, er aber seiner Wesensbestimmung gemäß reiner Geist ist, so kann dieser seiner Intention nur ein Geschöpf entsprechen, das selbst über die Intellektbegabung verfugt. Damit kommt der Mensch als das ursprünglich zur Gottesschau befähigte Wesen in den Blick. Da der menschliche Intellekt aufgrund seiner kreatürlichen Endlichkeit sein geistiges Ziel aber nur durch die Vermittlung der Sinne erreichen kann, bietet sich ihm Gott im sinnenfälligen Zeichen der sinnlichen Schau dar. Die geistige Schau des In-sich-Seins Gottes wird verwirklicht, indem der Mensch die sinnenfallige Wirklichkeit als Zeichen ihres geistigen Wesensgrundes erkennt und auf das göttliche Können als ihren absoluten Ursprung zurückführt. Im Gedanken, dass die Dinge sind, damit sie vom Menschen erkannt werden, die Dinge aber vom Menschen erkannt werden sollen, damit Gott durch sie vom Menschen gesehen werden kann, vertieft Cusanus die von Piaton im Sonnengleichnis vorgenommene Bestimmung der höchsten Idee des Guten als des
Die natürliche Weltwirklichkeit
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absoluten Prinzips von Sein und Erkennbarkeit aller Dinge146 auf dem Hintergrund der Glaubensvorgabe des Offenbarungsgeschehens. Über Piaton hinaus kann er damit einsichtig machen, dass die Konstitution der Wirklichkeit als intelligibles Sein ihren tiefsten Sinn darin findet, dem Menschen die Gottesschau zu ermöglichen. 3.1.9.3
„finis manifesti est occultum et extrinseci intrinsecum "
Die offenbarungsphilosophischen Implikationen der cusanischen Theorie des Zeichens lassen sich anhand eines Gedankenganges vertiefen, der sich in der etwa ein Jahr vor dem .Compendium' abgefassten Spätschrift ,De ludo globi' findet. Obwohl Cusanus hier den Begriff des Zeichens nicht verwendet, ist die folgende Textpassage für das Verständnis der Zeichen-Terminologie in zweierlei Hinsicht aufschlussreich. Zum einen wird hier angedeutet, wie das seine Verweisfunktion ermöglichende Identität-Differenz-Verhältnis des Zeichens zu dem in ihm Dargestellten ontologisch begründet ist. Zum anderen formuliert Cusanus dabei den zeichenhaften Rückbezug der Wirklichkeit auf ihren Ursprung unter biblischem Bezug ausdrücklich in der Terminologie von Verborgenheit und Offenbarung. Daraus geht noch einmal hervor, wie der diesbezügliche Gedanke als philosophische Reflexion auf die Glaubensvorgabe des Offenbarungsgeschehens konzipiert ist. Der folgende Text ist nicht zuletzt auch deshalb eine kongeniale philosophische Vermittlungsgestalt der Offenbarungsthematik, weil hier die Auffassung vom zeichenhaften Verweischarakter der sinnlichen Wirklichkeit nicht nur Inhalt, sondern auch Methode der Argumentation ist. Wie in der ganzen Schrift ,Vom Globusspiel' gewinnt Cusanus die gedankliche Einsicht, indem er die sinnenfällige Gestalt eines Kugelspieles als zeichenhafte Darstellung eines geistigen Gehaltes auslegt.147 Der fur unseren Zusammenhang relevante Gedanke ergibt sich aus einer derartigen Betrachtung der Spielfeldkreise: [Kardinal:] So wie der Mittelpunkt aller Kreise in der Tiefe verborgen (in profundo occultatum) ist - er, in dessen Einfachheit die Kraft ist, die alles einfaltet -, ebenso ist im Mittelpunkt der Verstandesseele alles im Verstand Inbegriffene eingefaltet. Es wird aber nur wahrgenommen, wenn diese Kraft durch aufmerksame Überlegung erregt und entfaltet wird. [Albert: ...] Füge doch noch etwas über das Verborgene und Zugängliche (occultum et patulum) hinzu. Aus der Zeichnung [sc. der Spielfeldkreise] sieht man nämlich, dass alle Kraft im Mittelpunkt verborgen ist. [Kardinal:] Es steht geschrieben, 146
Politeia 506 b 2 - 509 b 10. Zur Interpretation des .Globusspielgedankens' vgl. M. THURNER, Theologische Unendlichkeitsspekulation als endlicher Weltentwurf. Der menschliche Selbstvollzug im Aenigma des Globusspiels bei Nikolaus von Kues. 147
132
Dimensionen der Offenbarkeit des Geheimnisses
dass Gott vor den Augen aller Weisen verborgen (absconditum) ist;148 und es ist alles Unsichtbare im Sichtbaren verborgen (occultatur). Das Sichtbare ist den Augen greifbar nahe (manifestum), das Unsichtbare ist den Augen ferne (remotum). Die Prinzipien, sagt Aristoteles,149 sind die geringsten der Menge nach und die stärksten der Kraft nach. Die Kraft ist geistig und unsichtbar; und die Kraft des Feuerfunkens ist von ebenso großem Vermögen wie das ganze Feuer. Und in einem bescheidenen Senfkorn ist die Kraft ebenso groß wie in vielen Körnern und sogar wie in allen, die überhaupt sein können. Das Endziel des Offenbaren ist das Verborgene und das Endziel des Äußeren ist das Innere (finis manifesti est occultum et extrinseci intrinsecum). Die Häute und Rinden sind um des Fleisches und Markes willen da, und diese wiederum um der inneren unsichtbaren Lebenskraft willen. Die Kraft der Elemente ist im Chaos verborgen (occultatur); in der Wachstumskraft verbirgt sich die sinnliche und in dieser die vorstellende Kraft und in dieser die logische oder die Verstandeskraft, in der Verstandeskraft die Einsichtskraft, in der Einsichtskraft die geistig schauende und in der geistig schauenden die Kraft der Kräfte. Dies magst du in der Figur der Kreise auf mystische Weise lesen.150
Den gedanklichen Gehalt dieses Textes vermittelt Cusanus, indem er das Verhältnis eines Kreises zu seinem Mittelpunkt als zeichenhafte Darstellung des Zusammenhangs von Verborgenheit und Offenbarkeit deutet. Dazu analysiert er zunächst die geometrischen Bestimmungen der Figur des Kreises im Hinblick auf Gegebenheit, Beschaffenheit, Zuordnung und Funktion von verborgenen und offenbaren Elementen. Offenbar besteht der Kreis nur aus der Linie, welche die Peripherie bildet. An ihr lassen sich nun auch die Bestimmungen der Offenbarkeit ablesen: Sie ist räumlich ausgedehnt und daher sinnlich wahrnehmbar, in diesem Fall genauer gesagt sichtbar. Jeder mit der geometrischen Theorie auch nur oberflächlich Vertraute weiß jedoch, dass die Offenbarkeit der Kreisperipherie einen verborgenen Grund hat. Sie kann nämlich nur bestehen, wenn die sie in ihrer räumlichen Ausdehnung konstituierenden und daher sichtbaren Punkte allesamt jeweils in einem identischen Entfernungsverhältnis zu einem Punkt stehen, der in der Tiefe aller Kreise verborgen ist. Am Kreismittelpunkt können daher die Bestimmungen der Verborgenheit aufgewiesen werden. Im Unterschied zur offenbaren Peripherie ist der Mittelpunkt des Kreises unausgedehnt und daher nicht sinnlich wahrnehmbar, sondern nur geistig erkennbar. Im Blick auf die Struktur des Prozesses der geistigen Erkenntnis des Mittelpunkts wird zugleich einsichtig, worin das Verhältnis zwischen verborgenen und offenbaren Elementen besteht. Der unsichtbare Mittelpunkt wird eingesehen, 148 Der Gedanke ist in verschiedenen Abwandlungen vielfach in den biblischen Schriften belegt. Vgl. z.B. Jes 45, 15; Hiob 28, 21; Matth 11, 25; Lk 10, 21; Röm 1,25; 9,5. 149 De generatione animalium V, 7; 788 a 13; De caelo I, 5; 271 b 11-13. 150 De ludo II: h IX; N. 103, Z. 12 - N . 104, Z. 14.
Die natürliche Weltwirklichkeit
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wenn das Denken die ursächlichen Bedingungen für die Konstitution der sichtbaren Kreisperipherie (untersucht. Das verborgene Zentrum wird dabei als der Ursprungsgrund des Kreises entdeckt. Weil alles aus ihr in die sichtbare Ausdehnung hervorgeht, erweist sich die Verborgenheit so als die Kraft, die in ihrer unausgedehnten Einfachheit alles auf unsichtbare Weise einfaltet. Das Verborgene steht demnach zum Offenbaren im Verhältnis von Ursache und Wirkung. Zur Beantwortung der Frage nach dem Sinn der sichtbaren Offenbarung der verborgenen Kraft bezieht Cusanus in die zeichenhafte Betrachtung des Kreises diejenige der menschlichen Geistseele ein. Mit dieser Ausweitung verlässt er die anfangs gewählte Vermittlungsfigur nicht eigentlich, sondern kann die Reflexion darauf vielmehr vertiefen, weil auch der endliche Intellekt sein geistiges Ein(fach)heitspotential in einem kreishaften Prozess in die raumzeitliche Dimension der Sinnlichkeit hinaus expliziert.'5' Mit der Begründung, die Cusanus für diese Wirksamkeit der menschlichen Geistseele gibt, weist er zugleich die Funktion von Offenbarkeit überhaupt auf: Es wird aber nur wahrgenommen, wenn diese Kraft durch aufmerksame Überlegung erregt und entfaltet wird. Die Frage, warum das Verborgene nicht in der vollkommenen Einfachheit seiner Kraftftille verbleibt, welche Funktion also seine sichtbare Offenbarung hat, wird bei Cusanus nicht etwa (im hegelschen Sinn) im Verweis auf eine innere Notwendigkeit des Verborgenen beantwortet, sondern durch die Einführung einer bisher in der Interpretation dieses Textes nicht erwähnten Größe: Das Offenbarmachen des Verborgenen hat seinen Sinn im Bezug auf einen Wahrnehmenden, dem dadurch das Verborgene zugänglich gemacht werden soll. Aus der Sichtbarkeit als Wesensbestimmung des Offenbaren ergibt sich, dass es sich bei diesem Empfanger der Offenbarung um den menschlichen Intellekt handelt, dem aufgrund seiner Verwiesenheit auf die sinnliche Vermittlungsgestalt das ausdehnungslosunsichtbare Verborgene ansonsten unzugänglich bliebe. Das Offenbare hat seine Funktion darin, dem Menschen das Verborgene mitzuteilen. Die im Text folgende Intervention vom Gesprächspartner des Globusspieldialogs hat eine doppelte Funktion. Wenn Albert den Kardinal bittet, noch etwas über das Verborgene und Zugängliche hinzuzufügen, bestätigt er damit zunächst die zuletzt gemachten Aussagen in dem Sinn, wie er in deren Interpretation erschlossen wurde. Indem er für die Offenbarkeit das Wort patulum verwendet, das Offenheit und Zugänglichkeit für alle zugleich bedeutet, gibt er zu verstehen, dass er die Wahrnehmbarkeit fur den Menschen als den Zweckgrund für den Heraustritt der im Mittelpunkt verborgenen Kraft in die sichtbare Ausdehnung begriffen hat. Sodann hat diese Bemerkung Alberts die Funktion, das Gespräch auf eine 151 Vgl. zur ausführlicheren Darlegung dieses Zusammenhangs: M. THURNER, Die Einheit von Selbst-, Welt- und Gottesbezug nach Nikolaus von Kues, hier insbes. 388-395.
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höhere Argumentationsebene voranzutreiben. Wenn er unmittelbar danach auf das verweist, was in der figura descriptionis des Kreises gesehen wird (videtur), fordert er den Kardinal damit auf, die offensichtlichen Bestimmungen des Kreises als zeichenhafte Vermittlung einer darin verborgenen Wahrheit zu deuten. In der Weise, wie Cusanus dieser Bitte nachkommt, wird zugleich die ursprüngliche Motivation fiir den Gedankengang des zu interpretierenden Textes deutlich. Am Anfang zitiert Cusanus das Schriftwort von der Verborgenheit Gottes vor den Augen aller Weisen. Daraus geht unmissverständlich hervor, dass die gesamte philosophische Argumentation als Reflexion auf die Glaubenserfahrung des Offenbarungsgeschehens konzipiert ist. Die Ebene, auf welche Cusanus die in der Betrachtung des Kreises gewonnenen Einsichten über Verborgenheit und Offenbarung überträgt, reflektiert er somit als die Dimension, in der Gottes Verborgenheit offenbar wird. Diesen Bereich bestimmt er, indem er die biblische Rede von den Augen der Weisen als Ort der Verborgenheit Gottes aus dem Horizont einer philosophischen Erkenntnistheorie in einer auf das Sinnesorgan des Menschen restringierten Bedeutung versteht. Demzufolge kann er die sichtbare Weltwirklichkeit als den Bezugspunkt der biblischen Aussage von der Verborgenheit Gottes identifizieren. Ebenso unerwartet wie für das spezifisch cusanische Verständnis der Verborgenheit entscheidend ist nun der Gedanke, mit dem Cusanus das Schriftzitat unmittelbar kommentiert. In der Aussage, dass alles Unsichtbare im Sichtbaren verborgen ist, deutet Cusanus das biblische Motiv der Verborgenheit Gottes in einem Sinne, der der Offenbarkeit nicht entgegengesetzt ist, weil er die Verborgenheit hier als die Weise der Gegenwart des Unsichtbaren im Sichtbaren begreift. Indem er im Bezug auf die biblische Rede von den Augen aller Weisen die Verborgenheit Gottes auf die Wahrnehmungsart der Sinne einschränkt, öffnet er zugleich den Blick auf eine höhere Stufe der menschlichen Erkenntnisfähigkeit, die die verborgene Gegenwart des Unsichtbaren im Sichtbaren als Weise der Offenbarkeit Gottes in der Welt vernehmen kann. In der Aussage, der gemäß das Sichtbare den Augen greifbar nahe (manifestum), das Unsichtbare den Augen aber ferne ist, deutet er an, dass die Erkenntnis der Verborgenheit im Sichtbaren als Offenbarkeit des Unsichtbaren das Ergebnis eines Denkweges ist, der bei der sinnlichen Wahrnehmung der Weltwirklichkeit ansetzt, sich aber in einem höheren Erkenntnisakt von der unmittelbaren Gegebenheit des Sichtbaren entfernen muss, um darin die Gegenwart des Unsichtbaren entdecken zu können. Der folgende Verweis auf den aristotelischen Gedanken, wonach die Prinzipien die geringsten der Menge nach und die stärksten der Kraft nach sind, beinhaltet zunächst eine Aussage über die Weise, wie das Unsichtbare im Sichtbaren als das Verborgene offenbar werden kann. Das den Augen Ferne ist im unmittelbar Gegebenen gegenwärtig wie die Ursache in
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ihren Wirkungen. Im Sichtbaren offenbart sich das Unsichtbare als die alles begründende verborgene Kraft, in solch überwältigenden und unübersehbaren Ausmaßen wie der Funke im Feuer und das Senfkorn im Baum. Wenn Cusanus sodann die Unsichtbarkeit dieser Kraft auf ihre geistige Wesensnatur zurückfuhrt, gibt er damit zugleich zu verstehen, welche jene Erkenntnisfähigkeit im Menschen ist, die die unsichtbare Offenbarkeit des Verborgenen im Sichtbaren vernehmen kann: Allein die menschliche Vernunft vermag im sinnlich Wahrnehmbaren dessen geistigen Grund zu erkennen. In seinem Verständnis der Verborgenheit als Weise der Offenbarkeit des Unsichtbaren im Sichtbaren gibt Cusanus also der biblischen Aussage vom deus absconditus einen außergewöhnlich erkenntnisoptimistischen Sinn: Wenn Gott vor den Augen der Weisen verborgen ist, so bedeutet dies, dass er ihrem Geist als in seinen Hervorbringungen allgegenwärtiger Grund der Weltwirklichkeit offenbar ist. Im letzten Abschnitt des zitierten Textes bringt Cusanus seinen Gedanken von der unscheinbaren Gegebenheit des Unsichtbaren im Sichtbaren auf eine Formel, in der er zugleich den Sinn dieser Vergegenwärtigung des Verborgenen im Offenbaren zur Sprache bringt. Da die Bestimmung von letzterem - wie sich zeigen wird - nur im Blick auf den Empfanger der Offenbarung möglich ist, ist in dieser Aussage neben der sichtbaren Wirklichkeit und ihrem unsichtbaren Grund auch der Mensch indirekt mitgenannt. Zumal Cusanus hier also mit Gott, Welt und Mensch die drei das Offenbarungsgeschehen konstituierenden Größen im Hinblick auf ihr Zuordnungsverhältnis thematisiert, kann dieser Satz fast als thesenhafte Zusammenfassung seiner Philosophie der Offenbarung verstanden werden: Das Endziel des Offenbaren ist das Verborgene und das Endziel des Äußeren ist das Innere (finis manifesti est occultum et extrinseci intrinsecum). In diesem Gedanken vertieft Cusanus sein Verständnis der Verborgenheit als Weise der Offenbarkeit des Unsichtbaren im Sichtbaren, indem er das Verhältnis beider Gegebenheiten durch die Kategorie der Finalursache bestimmt. Damit geht er insofern über die zuletzt interpretierten Aussagen hinaus, als er dort in Anlehnung an Aristoteles die Verborgenheit als Weise der seinsbegründenden Gegenwart des Prinzips in seinen Hervorbringungen gedeutet hatte. Der volle Sinn des cusanischen Verständnisses von Verborgenheit und Offenbarung erschließt sich aber erst, wenn geklärt wird, warum das Verborgene nicht nur der Ursprungsgrund, sondern auch das Endziel des Offenbaren ist. Mit der Bestimmung des unscheinbar Gegenwärtigen als Prinzip des unmittelbar Gegebenen ist deshalb die Reflexion auf das Offenbarungsgeschehen noch nicht vollendet, weil damit zwar begründet werden kann, dass das Unsichtbare sich im Sichtbaren vergegenwärtigt, noch nicht aber, warum dies geschieht. Wenn Cusanus im zuletzt zitierten Satz das Verborgene als das Endziel des Offenbaren begreift, gibt er damit zu verstehen, dass die seinsbegründende Wirksamkeit des
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Prinzips einen Zweck hat, der mittelbar wieder auf es selbst zurückbezogen ist. Im Hinblick auf die bisher zur Frage nach dem Sinn der Selbstoffenbarung des absoluten Prinzips in der Schöpfung der natürlichen Weltwirklichkeit gelesenen Texte und im Hinblick auf das in der hier zu interpretierenden Passage aus ,De ludo globi' von Cusanus angeführte Beispiel von der Kraft der Verstandesseele, die in einem kreishaften Prozess nach außen entfaltet werden muss, um wahrgenommen werden zu können, lässt sich die cusanische Bestimmung des Verborgenen als Prinzip und Endziel des Offenbaren erklären, wenn man den Menschen als den Empfänger der Offenbarung in den Gedankengang mit einbezieht. Wenn der in seiner geistigen Wesensbestimmung unsichtbare Gott sich dem Menschen mitteilen will, um ihn in die Gemeinschaft mit sich aufzunehmen, muss er sich selbst im Sichtbaren vergegenwärtigen, weil der Mensch aufgrund seiner Endlichkeit geistige Gehalte nur in sinnlicher Vermittlungsgestalt erkennen kann. Da die sichtbare Wirklichkeit von ihrem unsichtbaren Grund zu dem Zweck hervorgebracht wurde, dadurch dem Menschen den Gottesbezug zu ermöglichen, ist das Verborgene das Endziel des Offenbaren. Am Beispiel, mit dem Cusanus anschließend sein Verständnis des Verborgenen als Zielgrund des Offenbaren illustriert, wird deutlich, dass er diese Verhältnisbestimmung in einer Bewegung begründet sieht, durch die sich ein geistiges Prinzip in die Dimension sinnlicher Wahrnehmbarkeit inkarniert, dessen Verleiblichung ihren Sinn aber nur im Rückbezug auf ihren Seinsgrund hat: Die Häute und Rinden sind um des Fleisches und Markes willen da, und diese wiederum um der inneren unsichtbaren Lebenskraft willen. In den darauf folgenden Aussagen des zitierten Textes wird das bisher erreichte Ergebnis der Interpretation indirekt bestätigt, wonach das Unsichtbare sich im Sichtbaren in der Weise der Verborgenheit vergegenwärtigt, um vom Menschen erkannt werden zu können. Hier legt Cusanus einen Erkenntnisaufstieg dar, der beim Chaos der Materie seinen Ausgang nimmt und mit der Schau des göttlichen Geistes als der Kraft der Kräfte endet. Dabei wird der Überstieg dadurch ermöglicht, dass die höhere Stufe jeweils in der niedrigeren als deren verborgener Ursprung gegenwärtig ist und so vom begründenden Denken erfasst werden kann. Wie nach cusanischem Verständnis die Verborgenheit nicht der Gegensatz, sondern vielmehr der Zielgrund der Offenbarkeit ist, so darf auch der durch dieses Verhältnis ermöglichte Erkenntnisaufstieg nicht einseitig im Sinne einer Bewegung nach oben verstanden werden. Mit dem Begriff der Verborgenheit vermittelt Cusanus nicht zuletzt, dass der Mensch den Dingen vielmehr auf den Grund gehen muss, um zu Gott aufzusteigen. Im zitierten Text bestimmt Cusanus die Tiefe und das Innere als den Ort der Vergegenwärtigung Gottes. Der geistige Aufstieg vollzieht sich so fur den Menschen als ein tieferes Hineindringen in das Innere der Weltwirklichkeit. In seinem Verständnis der Verborgenheit gelingt es
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Cusanus, den Weltbezug nicht als Gegensatz, sondern als notwendiges Moment der menschlichen Gotteserkenntnis zu begreifen. Diese Zuordnung hebt Weltund Gottesbezug des Menschen nicht gegenseitig auf, sondern wird für den Menschen vielmehr zum Impetus zur Intensivierung beider Vollzüge, denn je tiefer der Mensch in das Innere der Welt hineindringt, desto mehr wird ihm der darin verborgene Gott offenbar. Im cusanischen Verständnis der Verborgenheit Gottes wird das Weltverhältnis des Menschen aber nicht nur allgemein bejaht, sondern auch einer konkreten Gestalt zugeführt, in der allein es seinem ursprünglichen Sinn entsprechen kann. Der Mensch verfehlt die Zweckbestimmung der Welt, wenn er sein Interesse auf die äußere Oberflächlichkeit der Dinge beschränkt, denn das Endziel des Äußeren ist das Innere. Seiner Geistbegabung gemäß soll der Mensch das sinnlich Offenbare vielmehr als Zeichen einer sich darin in der Weise der Verborgenheit mitteilenden geistigen Wirklichkeit wahrnehmen. Wenn Cusanus im letzten Satz des zitierten Textes feststellt, wie man alles bisher Gesagte am Bild der Kreise [sc. des Globusspiels] auf mystische Weise (mystice) lesen kann, gibt er damit zugleich indirekt zu verstehen, dass er die im dargelegten Gedankengang vollzogene Durchdringung des welthaft Offenbaren auf seinen verborgenen göttlichen Grund als den wahren Sinn der Mystik begreift. 3.1.9.4
Die disproportionale
Gegenwart des Verborgenen im Offenbaren
Wie zentral für Cusanus die philosophische Reflexion auf das biblische Motiv von der Verborgenheit Gottes war, zeigt sich nicht zuletzt darin, dass er dieser Thematik eine eigene, wenngleich sehr kurze Schrift gewidmet hat, nämlich den bereits erwähnten ,Dialogus de deo abscondito'. In einer Interpretation der abschließenden Passage dieses Werkes lässt sich deutlich machen, wie Cusanus einerseits zur Entfaltung seines Verständnisses der Verborgenheit auf traditionelle philosophische Kategorien zurückgreift, diese dabei aber andererseits unter dem Anspruch der biblischen Vorgabe entsprechend modifiziert. Die Glaubensvorgabe des Offenbarungsgeschehens kann so als der verborgene Motivationsgrund für die von Cusanus vorgenommene Weiterentwicklung klassischer philosophischer Konzepte erwiesen werden: Gott [griechisch: theos] leitet sich ab von ,theoro', das heißt ,ich sehe'. Und Gott selbst ist in unserem Bereich gleichsam das, was das Sehen im Bereich der Farbe ist. Nur durch das Sehvermögen wird Farbe überhaupt angetroffen. Und zu dem Zweck, dass es jede Farbe frei erreichen kann, ist die Mitte des Sehens ohne Farbe. Im Bereich der Farbe wird das Sehen nicht aufgefunden, weil es ohne Farbe ist. Vom Bereich der Farbe aus geurteilt, ist deshalb das Sehen eher ein Nichts als ein Etwas. Denn der Bereich der Farbe erreicht außerhalb seines Bereichs kein Sein. Er behauptet vielmehr, dass al-
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les, was ist, in seinem Bereich ist. Hier aber findet er das Sehen nicht vor. Daher ist das Sehen, weil es ohne Farbe existiert, im Bereich der Farbe unbenennbar. Kein Name einer Farbe würde ihm entsprechen. Das Sehen aber gab durch Unterscheidung jeder Farbe ihren Namen. Vom Sehen hängt jede Namengebung im Bereich der Farbe ab, aber der Name dessen, von dem jeder Name stammt, wird hier eher als nichts denn als etwas aufgefasst. Und genau so wie das Sehen zum Sichtbaren verhält sich Gott zu allen Dingen. [...] Es ist einsichtig, dass im Bereich aller Geschöpfe weder Gott noch sein Name gefunden wird und dass Gott eher jedem Begriff entgeht als dass er als irgendetwas bestimmt werden könnte. Denn weil er nicht den Zustand des Geschöpfes hat, wird er im Bereich der Geschöpfe nicht gefunden. Und im Bereich der zusammengesetzten Dinge wird das Nicht-Zusammengesetzte nicht gefunden. Alle Namen aber, die genannt werden, beziehen sich auf Zusammengesetztes. Das Zusammengesetzte jedoch stammt nicht aus sich selbst, sondern von dem, was allem Zusammengesetzten vorausgeht. Und wenn auch der Bereich der Zusammengesetzten und alle Zusammengesetzten durch es das sind, ist es trotzdem im Bereich der Zusammengesetzten unbekannt, weil es nicht zusammengesetzt ist. Es sei also Gott, vor den Augen aller Weisen der Welt verborgen (absconditus), in Ewigkeit gepriesen.152
Wie beim zuletzt interpretierten Text aus ,De ludo globi' gewinnt Cusanus auch hier den Einstieg in den philosophischen Gedankengang, indem er eine offenbare Gegebenheit als Zeichen einer darin verborgenen Wirklichkeit wahrnimmt. In ,De deo abscondito' gelangen Gehalt und Methode also ebenso in eine Entsprechung zueinander. Diesmal geht Cusanus insofern noch einen Schritt weiter, als er nicht mehr wie beim Beispiel des Kreises durch ein anderes Seiendes Einblick in das verborgene Wesen Gottes zu bekommen versucht, sondern durch das Wort, mit dem Gott selbst bezeichnet wird. Was im tiefen Inneren des Namens Gottes verborgen ist, entdeckt Cusanus, indem er im Zurückverfolgen der etymologischen Herkunft seiner Wurzelbedeutung auf den Grund geht. Einer traditionellen Etymologisierung entsprechend153 übersetzt er zunächst die lateinische Bezeichnung ,deus' ins Griechische ,theos' zurück und leitet dieses archaische Substantiv sodann vom Verbum ,theoro', ,ich sehe', ab. Diese Grundbedeutung motiviert Cusanus nun dazu, die Verborgenheit Gottes am Phänomen des , Sehens' zu spekulieren. Die Deutung des Sehens als zeichenhafte Darstellung der Verborgenheit Gottes vollzieht Cusanus, indem er das Verhältnis des Sehens zum Sichtbaren, also zur Dimension sinnlich wahrnehmbarer Offenbarkeit, analysiert. Dabei geht er von der unmittelbar einsichtigen Tatsache aus, dass im Bereich der [sichtbaren] Farbe das Sehen nicht aufgefunden wird. Sodann aber macht er auf eine Konse152
De deo absc.: h IV, N. 14, Ζ. 1 - N . 15, Z. 11. Vgl. DIONYSIUS, De divinis nominibus XII 2 (ed. Suchla 224f). JOHANNES SCOT(T)US ERIUGENA, De divisione naturae I 12 (ed. Sheldon-Williams 60, 16-22). 153
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quenz aufmerksam, die ein auf den Bereich des Sichtbaren beschränkter Blick unbewusst aus diesem Sachverhalt zieht. Aus einer derartigen Perspektive ist das Sehen eher ein Nichts als ein Etwas. Konkret zeigt sich dies darin, dass das Sehen im Bereich der Farbe unbenennbar ist. Der gedankliche Fortschritt wird nun durch die Begründung ermöglicht, die Cusanus für diese Betrachtungsweise findet. Die diesbezüglichen Aussagen lassen sich in zwei Gruppen unterteilen. Zunächst beziehen sich die Argumente auf die für den Bereich der Farbe spezifische Wahrnehmungsart, betreffen sodann aber die Wesensbestimmungen des Sehens selbst. Im Hinblick auf die Region des Sichtbaren beruht das Ignorieren des Sehens als namenloses Nichts darauf, dass der Bereich der Farbe außerhalb seines Bereichs kein Sein erreicht und in dieser seiner Beschränkung der Fehleinschätzung unterliegt, alles, was ist, sei in seinem Bereich. Da das Sehen ohne Farbe existiert und ihm daher kein Name einer Farbe entspricht, kommt eine auf den Bereich des Sichtbaren eingeschränkte Betrachtungsweise zum vermeintlichen Schluss, dass es das Sehen als solches überhaupt nicht gibt. Auf einer höheren Argumentationsebene fuhrt Cusanus die Nicht-Gegebenheit in der Region des Sichtbaren auf die für den Vollzug des Sehens selbst notwendigen Wesensbestimmungen zurück. Die für seine Nicht-Wahrnehmbarkeit im Farbbereich ursächliche Farblosigkeit wird dabei als die Bedingung dafür entdeckt, dass das Sehen seine Fähigkeit verwirklichen kann, jede Farbe frei zu erreichen. Das Sehen darf selbst nicht die Bestimmung einer Farbe haben, um alle Farben unterscheiden zu können. Wenn Cusanus nun die Namengebung als das Ergebnis der unterscheidenden Tätigkeit des Sehens versteht, so bedeutet dies zweierlei. Zunächst kann er die Namenlosigkeit des Sehens im Farbbereich mit demselben Argument erklären wie dessen Farblosigkeit: Um alle Namen benennen zu können, muss das Sehen selbst namenlos sein. Sodann vertieft Cusanus aber anhand dieses Gedankens die Begründung für die Namenlosigkeit des Sehens im Bereich des Sichtbaren. Sein Name wird hier eher als nichts denn als etwas aufgefasst, weil das Sehen in seiner unterscheidenden Tätigkeit der Ursprungsgrund aller Namen ist. Wenn es als solcher jedem Namen vorausgeht und alle einshaft in sich vorenthält, so kann es mit keinem einzelnen benannt werden. Dieser Argumentationsschritt ist für den Gedankengang insofern entscheidend, als daraus hervorgeht, dass das .namenlose Nichts' die Weise der Präsenz des Ursprungs im von ihm Verursachten ist. In der zweiten Hälfte des zitierten Textes überträgt Cusanus nun das Ergebnis der bisherigen Überlegungen auf das Verhältnis Gottes zu allen [sc. geschaffenen] Dingen. Die etymologische Ableitung des Namens Gottes von ,Sehen' findet ihren tieferen Grund darin, dass Gott selbst in unserem Bereich gleichsam das ist, was das Sehen im Bereich der Farbe ist. Wie das Sehen in der Region des
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Sichtbaren aufgrund seiner Farblosigkeit, so wird Gott im Bereich der Geschöpfe nicht vorgefunden, weil er nicht die Beschaffenheit der Geschöpfe hat. Über den Farbenvergleich hinaus wird die Bestimmungslosigkeit Gottes hier auch ausdrücklich als Grund für seine Unbegreiflichkeit benannt. Die condicio creaturae, in deren Bereich Gott ein namenloses Nichts ist, weil er absolut frei von ihren Einschränkungen ist, wird von Cusanus im folgenden durch den Begriff der compositio näher bestimmt. Diese Bezeichnung wählt er aus, um den Sachverhalt des Verursacht-Seins zu akzentuieren. Es gehört zu den Eigenschaften des Zusammengesetzten, dass es nicht aus sich selbst stammt, sondern von dem, was allem Zusammengesetzten vorausgeht. In der Einsicht, wonach dasjenige, wodurch der Bereich der Zusammengesetzten und alle Zusammengesetzten das sind, was sie sind, trotzdem im Bereich der Zusammengesetzten unbekannt bleibt, weil es selbst nicht zusammengesetzt ist, wird die Unbegreiflichkeit Gottes im Bereich der Geschöpfe als die Weise der Gegenwart einer Ursache in ihren Hervorbringungen begriffen. Wie aus dem am Schluss des Argumentationsganges zitierten Bibelwort hervorgeht, in dem Gott als vor den Augen aller Weisen der Welt verborgen bezeichnet wird, versteht Cusanus selbst den Grundgedanken des zitierten Textes als philosophische Erhellung der Glaubensvorgabe von der Verborgenheit Gottes. Am gedanklichen Ergebnis der interpretierten Passage lässt sich nun aufweisen, in welchem Sinne Cusanus dieses biblische Datum deutet. Seinen Ausgang nimmt er dazu bei den für ein erstes Verständnis der Rede vom deus absconditus dominierenden Momenten von Abwesenheit und Entzogenheit und ihrer Konsequenz der Unerkennbarkeit. Cusanus nimmt diese Bedeutungsgehalte nicht nur voll zur Kenntnis, sondern radikalisiert sie geradezu, wenn er Gott als ein namenloses Nichts begreift. Ebenso erstaunlich wie für seine gesamte Philosophie (der Offenbarung) signifikant ist es nun, dass dieses negative Ergebnis nicht das Ende menschlicher Denkbemühungen bedeutet, sondern vielmehr zum Ausgangspunkt dafür wird, dass die cusanische Spekulation ihre, Gegensätzliches zusammenzudenken fähige, Kraft entfaltet. Die Radikalisierung des negativen Momentes der Abwesenheit ermöglicht es dem cusanischen Denken paradoxerweise, die Verborgenheit Gottes auch als das Gegenteil dessen zu affirmieren, was sie für ein erstes Verständnis ist, nämlich als die Positivität uneingeschränkter Anwesenheit. Um die Verborgenheit als den Zusammenfall von Abwesenheit und Anwesenheit Gottes einsichtig zu machen, greift Cusanus auf das klassische philosophi-
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sehe Konzept von Partizipation und Kausalität zurück.154 Die Verborgenheit reflektiert er als das Verhältnis des Prinzips zu seinen Hervorbringungen. Zu den Begriffsbestimmungen der Ursache gehört es, dass sie in ihren Wirkungen zugleich abwesend und anwesend ist. Abwesend, weil sie all ihren kreatürlichen Einschränkungen vorausgeht und in keiner von allen in ihrer ursprünglichen Seinsfülle aufgenommen und damit vergegenwärtigt werden kann. Anwesend, weil in allen Wirkungen nichts anderes als das Sein der Ursache gegeben und damit in endlicher Teilhabe vergegenwärtigt ist. Die platonische Partizipationsmetaphysik wird aber von Cusanus nicht nur zur philosophischen Reflexion auf die biblische Rede von der Verborgenheit Gottes herangezogen, sondern dabei unter dem Anspruch der Glaubensvorgabe auch gedanklich weiterentwickelt. Die in der Bestimmung Gottes als ein ,namenloses Nichts' bereits konstatierte Radikalisierung des negativen Moments im Verborgenheitsverständnis wirkt sich auf der philosophischen Reflexionsebene dahingehend aus, dass Cusanus die Abwesenheit des Prinzips als absolute Differenz denkt. Da dieser Gedanke auch die Negation eines jeden Verhältnisses zu anderem impliziert - denn andernfalls wäre das Prinzip nur eines unter anderen und somit nicht absolut verschieden davon -, kann der absolute Ursprung aber auch nicht als etwas anderes von einzelnen Seienden unterschieden werden, denn dadurch würde er mit etwas aus dem Bereich seiner Wirkungen gleichgesetzt und so in seinem Wesen verfehlt. Absolute Differenz ist demnach paradoxerweise zugleich als absolute Identität zu begreifen. Die Abwesenheit Gottes erweist sich so als das komplementäre Moment zu seiner Allgegenwart. Dass Cusanus die im zitierten Text aus ,De deo abscondito' vorgenommene Bestimmung Gottes als ,namenloses Nichts' im Sinne der Omnipräsenz des Prinzips versteht, geht aus jenem Gedankenzusammenhang in seiner fünf Jahre vorher abgeschlossenen Schrift ,De docta ignorantia' hervor, wo er Gott in Anlehnung an Dionysius Areopagita155 ausdrücklich als die Koinzidenz von Alles und Nichts begreift: Gott ist „ nicht dieses und ein anderes nicht, noch ist er irgendwo und anderswo nicht". Wie er nämlich alles ist, so ist er auch nichts von allem.156 In derselben Schrift bringt Cusanus auch die gedankliche Voraussetzung dafür, Gott als alles und nichts zugleich denken zu können, auf eine Formel, anhand derer die cusanische Weiterentwicklung des klassischen Kausalitätsverständnisses in einem 154
Vgl. zu den philosophischen Quellen der cusanischen Verborgenheitskonzeption auch: W. B e e r w a l t e s , Der verborgene Gott. Cusanus und Dionysius, in: Ders., Piatonismus im Christentum (Frankfurt/M. 1998) 130-171. 155 De divinis nominibus V 8 (ed. Suchla 187). 156 De docta ign. I, 16: h I, S. 31, Z. 5-7 (N. 43, Z. 13-16). Vgl. auch die Bezugnahme auf diese Stelle in: Apol.: h II, S. 31, Z. 23-27. Sowie De docta ign. I, 4: h I, S. 11, Z. 5-6 (N. 12, Z. 10-11): Sed ita est hoc, quod est omnia, et ita omnia, quod est nullum.
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Dimensionen der Offenbarkeit des Geheimnisses
Begriff zusammengefasst werden kann: Es ist aus sich heraus evident, dass das Unendliche zum Endlichen in keinem Verhältnis steht (inflniti ad finitum proportionem non esse).'57 Cusanus radikalisiert die platonische Partizipationsmetaphysik im Gedanken der Disproportionalität von Prinzip und Prinzipiiertem, um dadurch die Entzogenheit der absoluten Ursache zugleich als deren Omnipräsenz denken zu können.158 Aus derselben Motivation heraus wird die Unendlichkeit zu seinem bevorzugten Gottesbegriff, weil damit die in ihrer Uneingeschränktheit unfassbare Gegenwart des absoluten Prinzips vermittelt wird.159 In der zitierten Passage aus ,De deo abscondito' macht Cusanus über ,De docta ignorantia' hinaus deutlich, dass das dort entfaltete koinzidentale Gottesverständnis die philosophische Reflexionsgestalt der Glaubensvorgabe vom .verborgenen Gott' ist. Die Einsicht in diesen Zusammenhang ist nun für das Verständnis sowohl des philosophischen Gedankens wie auch des darin vermittelten biblischen Datums wesentlich. Was ersteren betrifft, wird hier ersichtlich, dass die Weiterentwicklung des klassischen Kausalitäts- und Partizipationsverständnisses in den cusanischen Konzepten von absoluter Differenz als absoluter Identität, Koinzidenz und Disproportionalität, in der Intention motiviert ist, der biblischen Rede vom verborgenen Gott entsprechende philosophische Kategorien zu entfalten. Schließlich aber wird durch die Reflexion in diesen philosophischen Kategorien aber auch ein vertieftes Verständnis der Glaubensvorgabe erreicht: Die Verborgenheit meint nicht allein, wie vielleicht in einem ersten Verständnisansatz naheliegend, die unzugängliche Abwesenheit Gottes, sondern beinhaltet dieses negative Moment gleichsam als Ermöglichungsbedingung für Gottes Allgegenwart. Die Verborgenheit des unendlichen Gottes wird so als die Weise seiner uneingeschränkten Offenbarkeit im Endlichen verstehbar.
3.1.10 Der Erkenntnisaufstieg durch Negation Die innere Wesensbestimmung des Offenbarungsgeschehens wird erst dann voll verwirklicht, wenn es als die Vermittlung zweier komplementärer Bewegungen Gestalt gewinnt. In den bisherigen Überlegungen stand jene Bewegung im Vordergrund, die mit dem Wort ,Offenbarung' im buchstäblichen Sinn beschrieben 157
De docta ign. I, 3: h I, S. 8, Z. 20-21 (N. 9, Z. 4-5). Vgl. dazu: J. HIRSCHBERGER, Das Prinzip der Inkommensurabilität bei Nikolaus von Kues, in: MFCG 11 (1975) 39-54. 159 Vgl. als eine einfühlsame Interpretation des cusanischen Denkens unter diesem Aspekt, in der allerdings von der Offenbarungsthematik abgesehen wird: M. ALVAREZ-GOMEZ, Die verborgene Gegenwart des Unendlichen bei Nikolaus von Kues: Epimeleia 10 (München Salzburg 1968). 158
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wird: der auf den Menschen hin ausgerichtete Selbstaufschluss Gottes, als dessen Teilmoment zunächst die Schöpfung der natürlichen Weltwirklichkeit erwiesen wurde. Die Vorwegnahme der Bewegung, in der Gott auf den Menschen zugeht, war insofern sachlich gerechtfertigt, als sie die Voraussetzung dafür ist, dass das ihr in der inneren Dynamik des Offenbarungsgeschehens entsprechende Moment überhaupt möglich wird. Da die Ermöglichung dieser komplementären Bewegung aber der innere Zielgrund des offenbarenden Heraustritts Gottes ist, wird die Endgestalt der Offenbarung erst erreicht, wenn der dadurch bedingte Vollzug verwirklicht ist. Letzteren gilt es in den folgenden Überlegungen näher zu bestimmen. Der durch die Selbstentäußerung Gottes in die Welt zu ermöglichen intendierte Vollzug ist die Bewegung des Menschen auf Gott hin. Diese beiden Bewegungsmomente des Offenbarungsgeschehens stehen deshalb in einem komplementären Verhältnis zueinander, weil der Ausgangspunkt des einen jeweils der Endpunkt des anderen ist. Da die in den Bewegungen zu überwindende Distanz auf der Differenz beruht, die zwischen Gott und Mensch im Seinsrang besteht, bestimmt sich die Dynamik des Offenbarungsgeschehens als diejenige von Abstieg und Aufstieg: Weil Gott sich in der Offenbarungsbewegung von der ewigen Selbstgegenwart seines Geistes in die sinnliche Andersheit der raumzeitlichen Weltwirklichkeit erniedrigt, wird es für den Menschen möglich, sich im Übersteigen der Sinneswahrnehmung zur Erkenntnis des göttlichen Geistes zu erheben. Zu allererst gilt es, eine der Zielsetzung des Erkenntnisaufstiegs entsprechende Methode zu finden. Da die Erkenntnisbewegung des Menschen auf die Offenbarungsbewegung Gottes bezogen ist, wird die Weise, durch die der Mensch zu Gott aufsteigen kann, von der Weise bestimmt, in der Gott sich im Erkenntnisbereich des Menschen vergegenwärtigt hat. Die bisherigen Überlegungen zum Offenbarungsabstieg Gottes hatten ergeben, dass Gott in der für die Sinneswahrnehmung zugänglichen Region der kreatürlichen Wirklichkeit offenbar wird, indem er darin als das .namenlose Nichts' verborgen ist. Für die Bestimmung der Erkenntnismethode, durch die das unbegreifbare Nichts in seiner Verborgenheit entdeckt werden kann, ist die in der Interpretation des zuletzt zitierten Textes aus ,De deo abscondito' gewonnene Einsicht aufschlussreich, dass die Bestimmungslosigkeit des Nichts die Weise ist, in der die absolute Ursache in der Allheit ihrer eingeschränkten Wirkungen uneingeschränkt gegenwärtig ist. Der in der Weise der Verborgenheit als unbestimmbares Nichts offenbare Gott lässt sich daher erkennen, indem seine kreatürlichen Wirkungen durch das begründende Denken auf ihn als ihr absolutes Prinzip zurückgeführt werden. Im Prozess der Gotteserkenntnis wird die seinskonstitutive Abstiegsbewegung Gottes durch die ihr komplementäre geistige Aufstiegsbewegung des Menschen gedanklich aufgehoben. Mittels dieser Aufhebung wird deshalb das bestimmungslose Nichts, als
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Dimensionen
der Offenbarkeit
des
Geheimnisses
das der Ursprung in seinen Hervorbringungen gegenwärtig ist, erreicht, weil sie konkret durch die Negation aller kreatürlichen Einschränkungen und Bestimmungen vollzogen wird. Dass das Offenbarungsgeschehen in der Entsprechung der komplementären B e w e g u n g e n v o n seinskonstitutiver Setzung durch Gott und deren negierender Aufhebung im gedanklichen Begründungsregress durch den Menschen besteht, macht Cusanus in jener für die gedankliche Struktur der vorliegenden Untersuchung maßgeblichen Textpassage aus , D e dato patris luminum' deutlich, in der er die verschiedenen Dimensionen der Offenbarkeit des Geheimnisses Gottes bestimmt. Unmittelbar nach der Feststellung, dass alles, was auch immer geschaffen ist, Lichter sind, um die vernunfthafte Kraft in ihre Wirklichkeit zu versetzen, auf dass sie in dem ihr so geschenkten Licht zum Quell der Lichter vordringe, beschreibt es Cusanus ausfuhrlich, wie der menschliche Intellekt durch die Methode der sukzessiven negierenden Aufhebung jeder eingeschränkten Bestimmung zum nichtshaft verborgenen Ursprungsgrund aller Offenbarkeit aufsteigt: Der Mensch sieht, dass es verschiedene Geschöpfe gibt, und in dieser Verschiedenheit wird er so erleuchtet, dass er zum seinshaften Licht der Geschöpfe vordringt. Denn wenn er sieht, dass ein Geschöpf ohne lebendige Bewegung ist, ein anderes lebt, ein anderes Verstandesschlüsse zieht, so wird er sogleich erleuchtet, und erkennt, dass die absolute Seinsheit der Geschöpfe nicht so ist, lebt oder denkt. Wenn nämlich das Leben Wesensbestandteil der Seinsheit der Geschöpfe wäre, dann wäre das Nicht-Lebende kein Geschöpf. Wenn das Denken Wesensbestandteil der Seinsheit der Geschöpfe wäre, dann wäre ein Stein oder ein Baum kein Geschöpf. Er sieht also ein, dass nichts von allem, das in der Verschiedenheit der Geschöpfe erfasst wird, der Seinsheit zugehört. Da also jedes Geschöpf Etwas auf eingeschränkte Weise (aliquid contracte) ist, ist die Seinsheit der Geschöpfe nicht Etwas, sondern Nichts von allem in uneingeschränkter Weise (nihil omnium incontracte). Die einen Geschöpfe sind groß, die anderen klein, andere höher, andere niedriger, die einen waren, die anderen werden sein, die einen hier, die anderen dort, und so ist es mit aller benennbaren Verschiedenheit. Die Seinsheit ist also weder ausgedehnt, noch groß oder klein oder an einem höheren oder niedrigeren Ort oder in einer vergangenen oder zukünftigen Zeit. Und so von allem weiteren. Du siehst, dass viele Dinge in der elementaren Gattung, viele in der vegetativen, viele in der sensitiven Gattung übereinkommen, und dass diese Gattungen verschieden sind. Die Seinsheit ist nicht irgendetwas von ihnen. Du siehst, dass es unter den Gattungen viele verschiedene Arten gibt, so z.B. in der Gattung der Lebewesen die Art des Menschen, des Löwen, des Pferdes, und so von allem weiteren. Die Seinsheit der Gattung der Lebewesen ist aber nicht irgendeine Art von allen, sondern keine von ihnen. Du siehst, dass es verschiedene Menschen gibt; dass der eine war, der andere sein wird, der eine jung, der andere alt ist, dass der eine Deutscher, Franzose, Mann, Frau, groß, klein, blind und sehend, weiß und schwarz ist; und so ist es mit allem, da in allem, was unter die aufmerksame Betrachtung fallen kann, Verschiedenheit ist. Alles Sinnliche, Sichtbare, Berührbare, usw. ist also nicht von der Seinsheit des Menschen. Die
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Menschheit ist nichts von all dem, was in jedem nur möglichen Menschen erfasst werden kann. Sie ist vielmehr die einfachste Seinsheit, die die gattungshafte Seinsheit auf die Weise der Art aufnimmt; in ihr ist in der einfachsten Kraft alles das, was in der Verschiedenheit der Menschen individuell partizipiert wird. [...] Darum sind die Seinsheiten der Sinnendinge auf nicht-sinnliche Weise in den Arten, und die arthaften Seinsheiten ohne Artbestimmung in den Gattungen, und die Seinsheiten der Gattungen ohne Gattungshaftigkeit in der absoluten Seinsheit, die der gebenedeite Gott ist.160
Zur Bestimmung der Weise, wie der in seiner welthaften Selbstoffenbarung verborgene Gott vom Menschen gefunden werden kann, geht Cusanus von der für den Menschen spezifischen Art des Weltverhältnisses aus. Dieses nimmt er in der den zitierten Text eröffnenden Feststellung zunächst beschreibend zur Kenntnis: Der Mensch sieht, dass es verschiedene Geschöpfe gibt. An dieser konkreten Gestalt können nun aber die inneren Wesensbestimmungen des menschlichen Weltbezuges erschlossen werden. Es geht daraus hervor, dass der Mensch sich in der Weise der Kenntnisnahme auf die ihn umgebende Welt bezieht. Am Anfang des Gedankenganges wird also indirekt die Bestimmung des Menschen als Vernunftwesen thematisiert. Die Bedeutung dieser Grundannahme wird im Hinblick darauf deutlich, dass der gesamte Argumentationszusammenhang des Textes die Frage beantworten soll, wie der Mensch die Selbstoffenbarung Gottes empfangen kann. Cusanus begründet hier die Position, dass die Vernunftausstattung den Menschen dazu überhaupt erst befähigt und die Offenbarung prinzipiell niemals ohne oder gar gegen die menschliche Vernunft aufgenommen werden kann. Die Offenbarung ist der Vernunft vielmehr insofern überlegen, als sie der tiefere Sinngrund der Vernunftausstattung des Menschen ist, denn der Mensch wurde in der Schöpfung deshalb von Gott mit Vernunft be-gabt, damit er die Selbstoffenbarung Gottes in der Welt zu erkennen vermag. Der erste Satz des Textes affirmiert aber nicht nur die Erkenntnis als für den Menschen spezifische Weise des Weltbezuges, sondern beinhaltet auf einer tieferen Sinnebene auch eine Aussage über den Wesensvollzug der dem Menschen eigenen Vernunftbegabung selbst. Wenn Cusanus die verschiedenen Geschöpfe als das Objekt des menschlichen Sehens bestimmt, so sagt er damit indirekt, dass die menschliche Vernunft aufgrund ihrer kreatürlichen Endlichkeit in ihrem Vollzug auf den welthaften Bereich raumzeitlicher Differenz bezogen ist, also einer sinnlichen Vermittlung ihrer geistigen Erkenntnisse bedarf. Als Grund dafür, warum die Schöpfung der natürlichen Weltwirklichkeit die erste Dimension der Selbstoffenbarung des Geheimnisses Gottes ist, wurde die Tatsache erwiesen, dass der göttliche Geist von der menschlichen Vernunft nur in dieser sinnlich wahrnehmbaren Selbstexplikation erkannt werden kann. 160
De dato 5: h IV, Ν. 1 1 5 . Z . 4 - N . 118, Z. 18.
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Im Hintergrund steht jener Gedanke einer bereits interpretierten Passage aus ,De beryllo', wonach die Erkenntnisobjekte deshalb im Verhältnis gegensätzlicher Differenz zueinander stehen, weil die Sinneserkenntnis des Menschen so schwach ist, dass sie ohne Gegensätzlichkeit die Unterschiede nicht erfassen w ü r d e t Wie die raumzeitliche Weltwirklichkeit in diesem Sinne den Zweck hat, dem Menschen seinen Vernunftvollzug allgemein zu ermöglichen und ihn dadurch letztlich zur Erkenntnis Gottes zu fuhren, bringt Cusanus im Gesamtzusammenhang des ersten Satzes des zitierten Textes in der faktischen Abfolge des menschlichen Erkenntnisvollzugs zur Sprache: Auf die Beschreibung der Kenntnisnahme der verschiedenen Geschöpfe durch die sinnliche Wahrnehmungsart des Sehens folgt die Einsicht, wonach der Mensch in dieser Verschiedenheit so erleuchtet wird, dass er zum seinshaften Licht der Geschöpfe vordringt. Dem gesamten folgenden Text liegt der im ersten Satz formulierte Gedanke gleichsam als zu explizierende These zugrunde. Cusanus beschreibt hier in immer wieder neuen Ansätzen, wie der Mensch von der sinnlichen Wahrnehmung der Geschöpfe zur geistigen Erkenntnis Gottes gelangt. Die verschiedenen Argumentationsgänge kommen aber nicht nur im Hinblick auf Ausgangspunkt und Ziel überein, sondern auch hinsichtlich der Methode, mit der im Erkenntnisprozess die Distanz zwischen Geschöpf und Gott überwunden wird. Weil deren Struktur sich in den variierenden Gedankenfolgen wiederholt, kann sie in einer Zusammenschau der im folgenden nacheinander zu interpretierenden Argumente gut herausgearbeitet werden: Der Mensch gelangt zur Gotteserkenntnis, indem er die von Gott im Schöpfungsakt gesetzte Verschiedenheit in einem gedanklichen Aufhebungsprozess durch die Negation aller einschränkenden Bestimmungen auf ihren göttlichen Ursprung zurückfuhrt. Die verschiedenen Wege, auf denen Cusanus im zitierten Text diese Methode zur Anwendung bringt, entsprechen den unterschiedlichen Kategorien, innerhalb derer den Geschöpfen ihre Bestimmungen zukommen. Diese Kategorien stellen gleichsam die Bereiche dar, in welchen die negierende Aufhebung der kreatürlichen Einschränkungen jeweils ihren Ausgang nehmen muss. Der Fortschritt im Negationsprozess stimmt dabei in allen Gedankengängen wiederum unter der Hinsicht überein, dass in der Aufhebung der raumzeitlichen Differenz immer vergeistigtere und darum höhere Seinsregionen erreicht werden. Der durch die Methode der Negation von kreatürlichen Einschränkungen ermöglichte Prozess menschlicher Gotteserkenntnis erweist sich darin schließlich als stufenweiser Aufstieg. Wenn Cusanus im folgenden den Erkenntnisaufstieg durch Negation zunächst in den Kategorien der aus der platonischen Tradition stammenden Einteilung der 161
De beryl. 37: h 2 XI/1, N. 66, Z. 10-13.
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Dinge in die Stufen von Sein, Leben und Erkennen162 durchfuhrt, so entspricht dies auch der philosophiegeschichtlichen Herkunft dieser seiner Methode.163 Überraschend, aber methodisch konsequent und zudem seinem Grundgedanken der Disproportionalität zwischen Unendlichem und Endlichem gemäß, ist es, wenn Cusanus die absolute Seinsheit der Geschöpfe hier nicht mit dem Geist als der höchsten Seinsstufe gleichsetzt, sondern Erkennen wie Sein und Leben als geschöpfliche Bestimmungen vom bestimmungslosen göttlichen Prinzip negiert. In diesem Abschnitt macht Cusanus deutlich, in welchem Sinn die Wahrnehmung der Verschiedenheit der Dinge den Menschen sofort erleuchtet und zur Erkenntnis führt. Wenn er wahrnimmt, wie nur bestimmte Geschöpfe leben oder erkennen, andere aber nicht, kann der Mensch folgern, dass Sein, Leben und Erkennen geschöpfliche Einschränkungen sind und daraus schließlich zur Einsicht gelangen, dass die absolute Seinsheit der Geschöpfe, ihr allgemeines Wesen, nicht auf diese Weise ist, lebt oder denkt. Die Verschiedenheit der Geschöpfe erleuchtet den Menschen also, indem sie ihm vor Augen fuhrt, was Gott nicht ist. Der Erkenntnisaufstieg zu Gott besteht demzufolge darin, dass alles, was in der Verschiedenheit der Geschöpfe erfasst wird, als ein in der Weise der Einschränkung bestimmtes Etwas (aliquid contracte) von Gott negiert wird. Wenn der Mensch auf diesem Denkweg einsieht, dass die absolute Seinsheit nicht als ein bestimmtes Etwas begriffen werden kann,164 vermag er schließlich Gott auf unbegreifliche Weise als das uneingeschränkte Nichts von allem (nihil omnium incontracte) zu erkennen. In den folgenden Sinneinheiten des zitierten Textes wendet Cusanus seine Methode des Erkenntnisaufstiegs durch Negation nicht wie zuletzt auf die platonische, sondern auf aristotelische Arten der Klassifizierung der Verschiedenheit der Weltseienden an. Dabei beginnt er mit dem von Aristoteles in seiner Kategorientafel zusammengefassten allgemeinsten Bestimmungsschema für die Eigenschaften der Dinge. Die im zuletzt interpretierten Abschnitt durchgeführte Argumentation findet sich hier in verkürzter Form: Weil sich die Geschöpfe innerhalb kategorialer Einteilungen wie Größe, Lage, Zeit und Ort voneinander unterscheiden, müssen die Kategorien in bezug auf die allen Geschöpfen gemeinsame Seinsheit negiert werden. Die kategoriale Verschiedenheit erleuchtet also den
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Vgl. PLATON, Politeia 509 d 6 - 511 e 5. PROKLOS, Elementatio theologica 103 (ed. Dodds 92, 13-16). AUGUSTINUS, Confessiones XIII, 11 (CCSL 27; 247, 1 Iff). 163 Die ,via negationis' wurde bekanntlich in der neuplatonischen Philosophie (Plotin, Dionysius) im Ausgang von Piatons Aussage entwickelt, dass die Idee des Guten selbst nicht das Sein ist, sondern jenseits des Seins , dieses an Würde und Kraft überragend (Politeia 509 b 10). 164 In diesem Sinne wurde bereits bei Plotin (Enn. V 3, 12, 52) das absolute Prinzip als vor dem Etwas (πρό τού τί) bestimmt.
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menschlichen Intellekt, indem sie ihm zu verstehen gibt, dass das Wesen ihres einheitlichen Grundes selbst über-kategorial ist. Der durch die negierende Aufhebung aller endlichen Einschränkungen ermöglichte Aufstieg zum Über-Sein Gottes wird im abschließenden Gedankenkomplex des zitierten Textes in der Begrifflichkeit der aristotelischen Prädikabilien durchgeführt. Da die Prädikabilien zueinander in einem gestuften Verhältnis stehen, kann Cusanus in diesem längeren Argumentationsgang noch einmal deutlich machen, wie es dem Menschen möglich ist, Gott zu erkennen, indem er dessen gradweise Selbsteinschränkung in der Schöpfung durch einen Abstraktionsprozess gedanklich sukzessive auf ihren Ursprung zurückführt. Der ontologischen Begründungsordnung entsprechend betrachtet Cusanus hier zunächst die absolute Seinsheit und gelangt dabei mit der bereits bisher angewandten Argumentationsstruktur zur Einsicht, dass sie durch die Prädikabilien nicht fassbar ist: Da selbst die Gattung als deren höchste nur die Verschiedenheit unter den Geschöpfen eingrenzt, indem sie diese beispielsweise in elementare, sensitive und vegetative unterteilt, kann der unendliche Grund alles Endlichen nur als das Nichts jeder gattungshaften Eingrenzung und damit als über jede Gattung erhaben erkannt werden. Dem ontologischen Stufenbau der Wirklichkeit entsprechend steigt Cusanus im folgenden zur nächstniedrigeren der Prädikabilien herab. Dabei kommt er zum Ergebnis, dass die Arten zu der ihr übergeordneten Gattung im selben Verhältnis stehen, wie die Gattungen zum Über-Sein des absoluten Ursprungs. Am Beispiel, dass etwa Menschen, Löwen, Pferde allesamt unter der Gattung des Lebendigen übereinkommen, die Gattung des Lebendigen selbst aber mit keiner der ihre Allgemeinheit einschränkenden Arten identisch ist, wird deutlich, dass auch die Gattung nicht als irgendeine Art von allen (aliqua species omnium), sondern nur als deren keine (nulla species eorum) erkannt werden kann. Die selbe Verhältnisstruktur wiederholt sich auch in bezug auf den Schlusspunkt der endlichen Einschränkungen der absoluten Seinsheit: Am Beispiel der Verschiedenheit zwischen den einzelnen Menschen, von denen der eine war, der andere sein wird, der eine jung, der andere alt ist, der eine Deutscher, Franzose, Mann, Frau, groß, klein, blind und sehend, weiß und schwarz ist, zeigt sich, dass die Art nichts von all dem ist, was in der Verschiedenheit der Menschen auf die Weise des Individuums partizipiert wird. Der hier von Cusanus vorgenommene gedankliche Nachvollzug des seinsbegründenden Abstieges von der absoluten Seinsheit über die Gattungen und die Arten bis hin zum Individuum hat im Kontext der übergeordneten Fragestellung der zitierten Textpassage nicht nur die Funktion, die Bestimmung Gottes als des ,Nichts' aller seiner Kreaturen am Verhältnis zwischen untergeordneten Seinsstufen zu verdeutlichen. Es wird hier vielmehr auch der Punkt identifiziert, bis zu
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dem Gott in seiner kreativen Selbstexplikation herabsteigen muss, um dem Menschen den Erkenntnisaufstieg zu ihm zu ermöglichen. Am Beispiel der Menschheit macht Cusanus deutlich, wie die in ihr auf die Weise der Art aufgenommene gattungshafte Seinsheit im individuellen Menschen auf die Weise der Sinnenfälligkeit, Sichtbarkeit und Berührbarkeit eingeschränkt ist. Mit der sinnlichen Wahrnehmbarkeit ist aber die Ebene erreicht, von der ausgehend das endliche Intellektpotential des Menschen zur Erkenntnis der geistigen Wesenheit aufsteigen kann. Im letzten Satz des zitierten Textes fasst Cusanus in der Begrifflichkeit der aristotelischen Prädikabilien den Erkenntnisaufstieg von den welthaften Sinnendingen zu deren welttranszendentem Geistprinzip als den für den Menschen spezifischen Vernunftvollzug zusammen. Dabei formuliert er das Ziel dieser durch die Methode der negierenden Aufhebung endlicher Einschränkungen ermöglichten menschlichen Erkenntnisbewegung in einer Weise, in der zugleich der tiefere Sinngrund der intellektuellen Tätigkeit des Menschen angedeutet ist: Darum sind die Seinsheiten der Sinnendinge auf nicht-sinnliche Weise in den Arten, und die arthaften Seinsheiten ohne Artbestimmung in den Gattungen, und die Seinsheiten der Gattungen ohne Gattungshaftigkeit in der absoluten Seinsheit, die der gebenedeite Gott ist.
Wenn am Schluss des Gedankenganges der zitierten Textpassage die im rationalen Begründungsregress erreichte absolute Seinsheit mit dem im Glauben erfahrenen deus benedictus gleichgesetzt wird, so bedeutet dies, dass die philosophische Methode des Erkenntnisaufstiegs durch Negation nach cusanischem Verständnis als notwendiges Teilmoment in den Vollzug des Offenbarungsgeschehens integriert ist und darin ihre eigentliche Zielbestimmung findet. Andererseits ist damit aber auch gesagt, dass der biblische deus benedictus nur deshalb der Gott der Offenbarung ist, weil er als die absolute Seinsheit die kreatürliche Weltwirklichkeit hervorgebracht hat, damit ihn darin der Mensch durch die alle endlichen Einschränkungen zu negieren fähige Kraft seiner Vernunft erkennen kann. In der abschließenden Gleichsetzung des biblischen Gottes mit dem ontologischen Prinzip weist Cusanus auf, dass Glaubenserfahrung und Vernunftbegründung weder beziehungslos nebeneinander stehen, noch gar sich gegenseitig ausschließen, sondern vielmehr in jenem menschlichen Grundvollzug einander bedingen, den Cusanus in seiner Philosophie der Offenbarung bewusst macht. 3.1.10.1 Die Seinsstufen als immer klarere Selbstoffenbarung
Gottes
Wie Cusanus die aus der platonischen Tradition übernommene Methode des Erkenntnisaufstiegs durch Negation in den offenbarungsphilosophischen Kontext integriert, wird auch in der Fortsetzung einer bereits interpretierten Passage aus
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,De beryllo' deutlich. Hier dringt Cusanus insofern tiefer in die offenbarungsphilosophische Bestimmung des platonischen Stufengedankens ein, als er nicht nur, wie im zuletzt zitierten Text aus ,De dato patris luminum', die Erkenntnismethode, sondern auch deren ontologische Voraussetzung ausdrücklich als Teilmoment des Offenbarungsgeschehens erweist. Nachdem Cusanus in der beglükkenden Betrachtung der Schönheit einer Rose seinem Staunen darüber Ausdruck verliehen hat, welche Herrlichkeit die Schöpfervernunft vermittelst eines sinnenfälligen kleinen Dinges in den erkenntnisfähigen Sinn legt, und diesen Überfluss an Pracht in der Einsicht begründete, dass jene bewunderungswürdige Vernunft in diesem ihrem Wort sich zu offenbaren (manifestare) beabsichtigt, fahrt er fort: Und in noch klarerer Weise offenbart (ostendit) sie sich im Pflanzenleben selbst, aus dem die Rose hervorgeht. In noch klarerem Widerschein [offenbart sie sich] im Vernunftleben, das allem Sinnenfälligen Licht gibt, und [offenbart] wie herrlich jener Herrscher ist, der durch die Natur wie durch ein Gesetz alles beherrscht und alles erhält - in unvergänglicher Wesensgestalt jenseits der Zeit und in den Individuen zeitlich, und dass alles durch dieses Gesetz der Natur entsteht, sich bewegt, und das wirkt, was das Gesetz der Natur befiehlt; in diesem Gesetz lebt und wirkt ausschließlich jene Vernunft als Urheber von allem.165
Das Ergebnis der Interpretation des zuletzt analysierten Textes aus ,De dato patris luminum', wonach der gebenedeite Gott sich als die absolute Seinsheit im kreativen Akt bis auf die Stufe des sinnenfalligen Individuums einschränkt, um darin dem Menschen offenbar zu werden, findet hier seine ausdrückliche Bestätigung. Am Beispiel der Rose bestimmt es Cusanus als den tieferen Sinn der konkreten Weltdinge, die ursprüngliche Seinsfülle der absoluten Schöpfervernunft - wie er wörtlich sagt: - zu manifestieren, also für die auf sinnliche Vermittlungsgestalten verwiesene Erkenntnisart des Menschen zugänglich zu machen. Auch was die Methode betrifft, durch die der menschliche Intellekt im Sinnenfalligen die Offenbarkeit Gottes erkennen kann, stimmen beide Texte überein: Wenngleich die Wahrnehmung der Schönheit der Weltdinge für den Menschen der einzige mögliche Weg zur Gotteserkenntnis ist, weil Gott sich darin auf eine dem Menschen zugängliche Weise offenbart, erreicht der menschliche Intellekt das ihm eingestiftete Ziel der Gottesschau dennoch nicht, wenn er bei der sinnenfälligen Gegebenheit der Seienden stehenbleibt. In seinen welthaften Offenbarungen ist Gott nämlich nicht im uneingeschränkten An-sich seines Wesens, sondern in der Weise der eingeschränkten Bestimmung zu einem Etwas gegenwärtig. Will der Mensch Gott in dessen Offenbarungen erkennen, so muss er die individuellen Bestimmungen der Dinge negierend aufheben, indem er sie auf jeweils allgemeinere Seinsstufen hin übersteigt. Diesen selben Denkweg reflektiert Cusanus in 145
De beryl. 37: h 2 XI/1, N. 68, Z. 7-20.
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,De dato patris luminum' in der allgemeinen Begrifflichkeit von Individuum, Art, Gattung und absoluter Seinsheit, beschreibt ihn hier in ,De beryllo' aber am konkreten Beispiel des Erkenntnisaufstieges von der sinnenfälligen Rose über das Pflanzen- und Vernunftleben zur gesetzgebenden Schöpfervernunft selbst. Während in ,De dato patris luminum' aber die offenbarungsphilosophische Sinnbestimmung der Methode des Erkenntnisaufstiegs durch Negation im Mittelpunkt des Interesses stand, verlagert sich in der Argumentation von ,De beryllo' die Zielsetzung auf eine noch tiefere Sinnebene: Cusanus thematisiert die ontologischen Voraussetzungen der in das Offenbarungsgeschehen integrierten Erkenntnismethode und nimmt dabei eine offenbarungsphilosophische Deutung der Gegebenheitsweisen des Seins selbst vor. Wenn der Prozess menschlicher Gotteserkenntnis im Aufstieg zu immer allgemeineren Ebenen besteht, so setzt dies voraus, dass die verschiedenen Seinsstufen im Grunde Grade immer intensiverer Offenbarkeit Gottes sind. Indem Cusanus im zitierten Text feststellt, wie Gott sich in den einander übergeordneten Seinsbereichen in je klarerem Widerschein offenbart, sagt er nicht nur, dass es so ist, sondern auf indirekte Weise auch, warum dies sich so verhält. Das in dieser Aussage zur Beschreibung der Zunahme an Offenbarungsqualität verwendete Wort ,klar' bezeichnet nämlich jene Transparenz, die in eminenter Weise der Wesenswirklichkeit des Geistes zu eigen ist. Daraus lässt sich schließen, dass die verschiedenen Seinsstufen deshalb je vollendetere Weisen der Offenbarkeit Gottes sind, weil sie in jeweils höherem Maß an der reinen Geistnatur Gottes teilhaben. Mit der Bestimmung der Seinsregionen als Grade der zunehmenden Offenbarkeit Gottes formuliert Cusanus aber nicht nur die Einsicht in die offenbarungsphilosophische Bedeutung des Aufbaus der Wirklichkeit, sondern macht damit letztlich auch eine Aussage über den Sinn des Seins als Ganzes. Wenn in dem Maße, wie das Sein seine eigene Wesensvollkommenheit verwirklicht, auch die Offenbarkeit Gottes zunimmt, so setzt dies voraus, dass Sein im Grunde Offenbarung ist. Diese tiefere Bestimmung des Wesens des Seins aus seiner Integration in das Offenbarungsgeschehen ist auch Bedingung und Legitimation dafür, dass Cusanus im Gedankengang des zitierten Textes die ontologische Begründungsordnung als die Weise verstehen kann, wie Gott für den Menschen in immer klarerem Widerschein offenbar wird. Die Selbstmitteilung Gottes reflektiert Cusanus hier, indem er ihn mit jener absoluten Urheber-Vernunft gleichsetzt, die durch das Naturgesetz alles beherrscht. Damit begreift er das ontologische Ordnungsprinzip als die Weise, auf die Gott sich in der Welt offenbart. Die dementsprechende Methode der Gotteserkenntnis ergibt sich schließlich als Konsequenz aus dieser Einsicht in die Sinnbestimmung der Seinsbegründung als Offenbarung: Wenn der Mensch das, was ihm in den Individuen zeitlich erscheint, im ontologischen Begründungsregress auf dessen unvergängliche Wesensgestalt jenseits der
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Zeit zurückführt, wird ihm der in den Sinnendingen als ontologisches Prinzip verborgene Gott offenbar. 3.1.10.2 „de visibilibus ad invisibilia
ascensus"
In der Fortsetzung einer bereits im Kapitel über ,die freie Erschaffung des Menschen als Grund für die Selbstoffenbarung des Geheimnisses' interpretierten Predigtpassage, in der Cusanus das Offenbarungsgeschehen auf die wesentlichen Zusammenhänge reduziert, wird die Methode des Erkenntnisaufstiegs nicht nur ihrer ursprünglichen Bestimmung entsprechend in die Reflexion auf die Offenbarung integriert, sondern auch in ihrer inneren Struktur daraus begründet: Der Mensch ist nämlich dazu geschaffen, dass ihm die Reichtümer der Herrlichkeit Gottes bekannt werden, und zum Lob der Herrlichkeit Gottes. So hat deshalb unser Gott auf diese bestmögliche Weise alles geordnet, durch die er die Reichtümer seiner Herrlichkeit offenbare (ostenderet). Jeder, der sich den sichtbaren Werken Gottes zuwendet, nimmt deshalb wahr, dass in allen und jedem einzelnen die Offenbarmachung (manifestationem) der Herrlichkeit Gottes widerleuchtet. Und wenn er von den sichtbaren Dingen zu den unsichtbaren aufsteigt, entdeckt er, dass die Herrlichkeit Gottes in den unsichtbaren klarer widerleuchtet. Und diejenigen wurden Liebhaber der Weisheit oder Philosophen genannt, die sich durch die sinnenfälligen Dinge den nur geistig erkennbaren zuwenden [...],denn Gott hat sich selbst ihnen durch die sinnenfälligen und sichtbaren Dinge in seiner großen Herrlichkeit offenbar gemacht (manifestasset).166
In diesem Text wird derselbe offenbarungsphilosophische Grundgedanke wie in der zuletzt interpretierten Passage aus ,De beryllo' reflektiert, jedoch gleichsam in umgekehrter Argumentationsrichtung. Während in ,De beryllo' der Stufenbau von Sein und Erkennen auf seine tiefere Bestimmung im Offenbarungsgeschehen zurückgeführt wird, setzt der Gedankengang dieser Predigt beim ursprünglichen Offenbarungsentschluss Gottes an, um daraus die konkrete Gegebenheit von Sein und Erkennen herzuleiten. Die Bekanntmachung der Reichtümer der Herrlichkeit Gottes wird zunächst als der Grund für die Erschaffung des Menschen begriffen. Das Vorhandensein eines Empfangers ist aber noch nicht hinreichend, um die Offenbarungsintention Gottes zu verwirklichen. Gott muss vielmehr - wie es im zitierten Text heißt - auf diese bestmögliche Weise alles ordnen, durch die er die Reichtümer seiner Herrlichkeit offenbare. Warum im Offenbarungsgeschehen eine über die Erschaffung des Empfängers hinausgehende Wirksamkeit Gottes notwendig ist und worauf sich diese bezieht, lässt sich aus dem folgenden Gedanken erschließen: Jeder, der sich den sichtbaren Werken Gottes zuwendet, nimmt deshalb wahr, dass in allen und jedem ein166
Sermo CLXXXVII .Spiritus autem paraclitus': Ρ II, fol. 104 v -fol. 105r.
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zelnen die Offenbarmachung der Herrlichkeit Gottes widerleuchtet. Auf der Ebene seiner direkten Aussage beschreibt dieser Satz die Weise, wie der dazu geschaffene Mensch die Selbstoffenbarung Gottes empfangt. Er nimmt die Herrlichkeit Gottes wahr, indem er sie in den sichtbaren Werken Gottes widerleuchten sieht. Indirekt gibt Cusanus hier die wesentlichen Zusammenhänge des Offenbarungsgeschehens zu verstehen: Wenn der Mensch die Offenbarung Gottes in dessen sichtbaren Werken wahrnimmt, so zeigt sich darin, dass er das Wesen Gottes unmittelbar nicht einsehen kann. Zur Verwirklichung der göttlichen Offenbarungsintention wird es daher erforderlich, dass Gott sich dem Menschen in einer Vermittlungsgestalt offenbar macht. Wenn Cusanus diese Vermittlungsgestalt als die sichtbaren Werke Gottes bestimmt, so sagt er damit zweierlei: Zunächst begreift er die Schöpfung der natürlichen Weltwirklichkeit als Vermittlungsmoment im Offenbarungsgeschehen. Indem er aber die Sichtbarkeit als Eigenschaft des Schöpfungswerkes herausstellt, verweist er zugleich auf den Grund, warum der Mensch Gott nicht unmittelbar wahrnehmen kann: Weil der Mensch auf die Sinneserfahrung angewiesen ist, muss sich ihm Gott in sinnenfälliger Konkretion offenbar machen - .manifestieren' und .Widerscheinen', wie es in den dafür von Cusanus gewählten Ausdrükken wörtlich heißt. Mit der Heraushebung der Sichtbarkeit als Wesensbestimmung ist über die Weltwirklichkeit aber auch gesagt, dass ihr Sinn in der Bezogenheit auf den Erkenntnisvollzug des Menschen besteht. Auf dem Hintergrund dieser Einsichten kann nun die vorhergehende Aussage, wonach Gott alles auf bestmögliche Weise geordnet hat, um die Reichtümer seiner Herrlichkeit zu offenbaren, besser verstanden werden, weil die Weltschöpfung als ihr inhaltlicher Bezugspunkt identifiziert ist. Mit der Erkenntnis der Funktion der sinnenfalligen Wirklichkeit im Offenbarungsgeschehen lässt sich zunächst die cusanische Rede von der bestmöglichen Weise als gerechtfertigt begründen. Weil der Mensch Gott nur dann erkennen kann, wenn er ihm in der Seinsweise raumzeitlicher Kontingenz sinnenfällig erscheint, erweist sich die Schöpfung - sowohl was ihre prinzipielle, als auch was ihre konkrete Gegebenheit betrifft - tatsächlich als die beste aller möglichen Welten. Wenn Cusanus feststellt, dass Gott die Welt als ihrem Zweck entsprechend bestmögliche geschaffen hat, indem er sie auf diese Weise geordnet hat, so gibt er damit zugleich zu verstehen, wie Gott in seinem Werk fur den Menschen offenbar wird: Bereits aus der Rede vom Naturgesetz in der zuletzt zitierten Passage aus ,De beryllo' ging hervor, dass Gott in seiner Schöpfung gegenwärtig ist, indem er darin als das alles strukturierend bestimmende Ordnungsprinzip verborgen ist. Der noch nicht interpretierte übernächste Satz des Predigttextes lässt sich nun als die Bestimmung der Erkenntnismethode verstehen, die dieser Weise der Offenbarkeit Gottes entspricht: Und wenn er [sc. der Mensch] von den sichtbaren
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Dingen zu den unsichtbaren aufsteigt, entdeckt er, dass die Herrlichkeit Gottes in den unsichtbaren klarer wider leuchtet. Wenn Cusanus im Satz zuvor die Zuwendung zu den opera visibilia Gottes als Weg zur Wahrnehmung der Offenbarkeit Gottes beschrieb, nun aber mit der Begründung, dass die göttliche Herrlichkeit im Unsichtbaren klarer widerleuchtet, zum Aufstieg von den sichtbaren Dingen zu den unsichtbaren auffordert, so lässt sich dies auf dem Hintergrund der Bestimmung Gottes als des verborgenen Ordnungsprinzips seiner offenbaren Werke folgendermaßen erklären: Im Prozess der Gotteserkenntnis hat sich der Mensch bedingt durch die Gesetzmäßigkeiten seines Erkenntnisvollzugs - auf die sichtbaren Werke Gottes auszurichten. In einem nächsten Schritt muss er diese aber auch sogleich übersteigen, weil der göttliche Schöpfer in seinen sichtbaren Hervorbringungen als das selbst nicht sichtbare und insofern verborgene Ordnungsprinzip gegenwärtig ist. Der nächste Satz des Textes kann als Antwort auf folgende Fragen gelesen werden, die sich aus der Aufforderung zum Aufstieg über das Sichtbare zur Erkenntnis des unsichtbaren göttlichen Ordnungsprinzips ergeben. Die erste Frage zielt auf das darin implizierte Verständnis vom Wesen Gottes: Wieso leuchtet im Unsichtbaren - wie Cusanus selbst es formuliert - die Herrlichkeit Gottes klarer wider als im Sichtbaren? Die zweite Frage betrifft die vorausgesetzte Auffassung vom menschlichen Erkenntnisvollzug: Wie ist es dem Menschen überhaupt möglich, trotz seiner Gebundenheit an das Sichtbare dieses auf das Unsichtbare hin zu übersteigen? Die daraufhin zu interpretierende Aussage lautet: Und diejenigen wurden Liebhaber der Weisheit oder Philosophen genannt, die sich durch die sinnenfälligen Dinge den nur geistig erkennbaren zuwenden. Wenn Cusanus im vorhergehenden Satz wie in der zuletzt zitierten Passage aus ,De beryllo' vom klareren Widerschein Gottes im Unsichtbaren spricht, so deutet er mit dem Verweis auf das Phänomen der Klarheit bereits darauf hin, dass die Unsichtbarkeit des in den sichtbaren Dingen wirkenden Ordnungsprinzips auf der reinen Geistnatur Gottes beruht. Hier bringt Cusanus dies ausdrücklich zur Sprache, indem er den Aufstieg vom Sichtbaren zum Unsichtbaren als Zuwendung von den sinnenfälligen Dingen zu den nur geistig erkennbaren bestimmt. Wenn er diejenigen Menschen, die einen derartigen Erkenntnisaufstieg vollziehen, als Philosophen bezeichnet, gibt er damit zu verstehen, dass der Überstieg vom sichtbar Offenbaren zum darin unsichtbar Verborgenen durch die dem Menschen mit seiner Vernunftausstattung gegebenen Befähigung zum rationalen Begründungsregress ermöglicht wird: Der Mensch steigt von den sinnenfalligen Dingen zu den nur geistig erkennbaren auf, indem er die Konstitution der sichtbaren Werke auf das ihnen unsichtbar zugrundeliegende geistige Ordnungsprinzip zurückführt.
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3.1.10.3 „videre in visibili
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invisibile"
Den im Offenbarungsgeschehen implizierten Erkenntnisakt der Wahrnehmung Gottes als des geistigen Ordnungsprinzips seiner sinnenfalligen Werke bringt Cusanus im Zusammenhang seiner Spekulationen ,Über das Nicht-Andere' auf eine Formel, in deren Paradoxalität zum Ausdruck kommt, dass in der Gotteserkenntnis alle im kategorialen Bereich menschlichen Denkens geltenden Unterscheidungen aufgehoben sind. Der diesbezügliche Text ermöglicht darüber hinaus aber auch eine wesentliche Vertiefung der Einsichten zur Erkenntnismethode im Offenbarungsgeschehen, weil Cusanus hier die paradoxale Bestimmung der Gotteserkenntnis auf das über-gegensätzliche Wesen des Offenbarungsgottes selbst zurückfuhrt: [Johannes Andreas:] Doch was sagst du zu dem Evangelium, wo man von Johannes dem Täufer, dem Größten der vom Weibe Geborenen, die Behauptung liest, dass Gott niemand j e gesehen habe, 167 und dass das eine Offenbarung (revelavit) des Gottessohnes sei, der in dem gleichen Evangelium die Wahrheit genannt wird? [Nikolaus:] Das ist auch meine Ansicht, nämlich dass Gott für jede Art von Schau unsichtbar ist. Selbst wenn nämlich jemand sagte, er habe ihn geschaut, so könnte dieser das nicht zum Ausdruck bringen, was er gesehen hat. Denn wie ist der sichtbar, der vor allem Sichtbaren und Unsichtbaren ist (ante visibile et invisibile)? Doch nur dadurch, dass er alles Sichtbare überragt, da ohne ihn nichts erkannt wird. Wenn ich also ihn nicht als Himmel und nicht als vom Himmel Verschiedenes schaue, und allgemein nicht als Anderes und als vom Anderen Verschiedenes, so ist meine Schau nicht vom Wissen um das begleitet, was ich schaue. Dasjenige Schauen, was ich auf Gott beziehe, bedeutet eben nicht, ein Sichtbares schauen, sondern ist ein Schauen des Unsichtbaren im Sichtbaren (videre in visibili invisibile). Indem ich die Wahrheit des Satzes erkenne, dass niemand Gott schaute, schaue ich Gott über allem Sichtbaren als nicht anders von allem Sichtbaren. Jene aktuale Unendlichkeit aber, die alle Schau übersteigt, die Washeit aller Washeiten, erfasse ich keineswegs sichtbar, da das Sichtbare oder der Gegenstand von dem Vermögen des Sehens verschieden ist, Gott aber, der von irgendeinem Sein nicht verschieden sein kann, jeden Gegenstand übersteigt. 168
Der für die cusanische Spätphilosophie, mit ihrer Tendenz zu Kürze und Einfachheit, charakteristischen Denkart entsprechend, legt Cusanus hier die schwierigsten Gedankenzusammenhänge in stringentester begrifflicher Konzentration dar. Der Gehalt dieses Textes lässt sich erschließen, wenn man ihn auf dem Hintergrund der bisher in der vorliegenden Untersuchung erarbeiteten Ergebnisse liest. Dadurch kann nicht nur deutlich gemacht werden, wie Cusanus hier in anderen Kontexten konzipierte Gedanken zusammenfasst, sondern auch, worin er dabei 167 168
Joh. 1, 18. De non aliud 22: h XIII; S. 53, Z. 12-30 (N. 102, Z. 1 2 - N . 103, Z. 25).
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über bereits Gesagtes hinausgeht und somit die schon gewonnenen Einsichten weitervertieft. Anhand dieser Vorgehensweise soll aufgewiesen werden, dass in dieser Passage eine komprimierte Spätfassung der cusanischen Offenbarungsphilosophie vorliegt. Bereits in der äußeren Form des zitierten Textes vermittelt Cusanus einen Einblick in die innere Struktur von dessen gedanklichem Gehalt. Hier kann an einem konkreten Beispiel aufgezeigt werden, dass die in den Spätschriften immer häufiger gewählte Dialoggestalt keine bloß historische Reminiszenz an platonisches Philosophieren ist, sondern selbst zum Bedeutungsträger wird. In der FrageAntwort-Struktur des Dialoges wird nachvollziehbar, wie das cusanische Denken als Lösung einer ihm als Motivationsgrund vorausliegenden aporetischen Problemstellung entsteht. Worin die Ausgangsaporie seines Denkens besteht, geht aus der Frage hervor, die sich der Philosoph Cusanus von seinem Dialogpartner Abt Johannes Andreas stellen lässt. Wenn dieser den Kardinal um eine Stellungnahme zu den biblischen Aussagen bittet, wonach niemand Gott je gesehen hat, der Sohn Gottes dies aber offenbarte, so kann daraus folgendes geschlossen werden: Die dem cusanischen Denken zugrundeliegende Problemstellung ist die Grundaporie des religiösen Glaubensvollzugs, denn diese besteht darin, dass Gottes Offenbarkeit stets zusammen mit seiner Geheimnishaftigkeit erfahren wird. Wenn der folgende, rein philosophische Gedanke als Antwort auf diese Ausgangsproblematik formuliert ist, so wird dadurch auch auf der Ebene der Darstellungsgestalt deutlich, wie das Denken bei Cusanus ursprünglich die Bestimmung hat, die paradoxe Grunderfahrung des Glaubensgeschehens einer reflexiven Klärung zu unterziehen. Die anschließenden Überlegungen sind daher ihrem inneren Sinn gemäß als der Versuch zu interpretieren, einen Gottesbegriff und ein dementsprechendes Verständnis von Gotteserkenntnis zu finden, wodurch sich die paradoxe Erfahrung von Offenbarkeit und Geheimnis im Glaubensvollzug begründen lässt. Am Beginn des philosophischen Gedankenganges wird die Aporie, mit der die biblischen Aussagen das Denken konfrontieren, nicht nur affirmiert, sondern durch die dazu gewählte Formulierung ausdrücklich in ihrer Paradoxalität zu Bewusstsein gebracht. Wenn Cusanus dies gelingt, indem er Geheimnis und Offenbarkeit in ihrem Verhältnis zur Wahrnehmungsart des Sehens beschreibt, so schafft er damit zugleich die Voraussetzungen für die Reflexion über die Grunderfahrung des Glaubensvollzugs, weil er die Argumentation auf den philosophischen Begriff der Schau konzentriert. Die Aussage, dass Gott für jede Art von Schau unsichtbar ist, wird von der folgenden insofern in Frage gestellt, als Cusanus hier indirekt von einer Möglichkeit der Gottesschau ausgeht. Allerdings gibt er dabei auch zu verstehen, dass sich diese von allen anderen Arten der Schau grundsätzlich unterscheidet, weil das in ihr Gesehene nicht wie alle anderen Ge-
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genstände des Sehens in seinem Wesen begriffen werden kann: Selbst wenn nämlich jemand sagte, er habe ihn [Gott] geschaut, so könnte dieser das nicht zum Ausdruck bringen, was er gesehen hat. Warum der für jede Weise der Schau unsichtbare Gott gesehen wird, ohne zu wissen, was dabei gesehen wird, begründet Cusanus im übernächsten Satz des zitierten Textes: Wenn ich also ihn nicht als Himmel und nicht als vom Himmel Verschiedenes schaue, und allgemein nicht als Anderes und als vom Anderen Verschiedenes, so ist meine Schau nicht vom Wissen um das begleitet, was ich schaue. Der Sinn der Aussage, wonach Gott - allgemein gesagt und am Beispiel vom Himmel konkret verdeutlicht - weder als Anderes noch als vom Anderen Verschiedenes gesehen wird, lässt sich erschließen, wenn man sie als Umschreibung der Disproportionalität der absoluten Ursache zu ihren eingeschränkten Wirkungen versteht. Weil in den konkreten Seienden nichts anderes als die unendliche Seinsfülle ihres absoluten Schöpfers in endlicher Einschränkung vergegenwärtigt wird, ist Gott zugleich mit seinen Geschöpfen identisch wie davon verschieden. Begreift man Gott als das absolute Prinzip der geschaffenen Wirklichkeit, so kann erklärt werden, warum er zugleich gesehen und nicht gesehen wird. Gesehen wird er, weil in allem Sichtbaren nichts anderes als das absolute Sein partizipiert wird. Nicht gesehen wird er, weil er als die Ursache in seinen sichtbaren Wirkungen unsichtbar bleibt. Wenn Cusanus sagt, dass die Schau [Gottes] nicht vom Wissen um das begleitet ist, was ich schaue, so deutet er damit aber an, wie Gott nie in seinem An-sichSein gesehen wird. Seiner reinen Geistnatur entsprechend ist die Unsichtbarkeit die ursprünglichere Wesensbestimmung Gottes. Seine Versichtbarung in der geschaffenen Weltwirklichkeit ist insofern sekundär, als sie aus der freien Willensintention Gottes heraus erfolgt, sich dem auf die Sinnes Wahrnehmung verwiesenen menschlichen Intellekt zu erkennen zu geben. Für den Menschen wird somit die Gotteserkenntnis möglich, wenn er die sichtbare Weltwirklichkeit durch den Begründungsregress des Denkens auf ihre unsichtbare Ursache hin übersteigt. Die folgende Aussage, in der Cusanus die Gottesschau von allen anderen Arten des Sehens unterscheidet, lässt sich als formelhafte Bestimmung genau dieser Erkenntnismethode verstehen: Dasjenige Schauen, was ich auf Gott beziehe, bedeutet eben nicht ein Sichtbares schauen, sondern ist ein Schauen des Unsichtbaren im Sichtbaren (videre in visibili invisibile).
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3.1.10.4 Die offenbarungsphilosophische Vertiefung des platonischen Sonnengleichnisses Die Weise, wie der Mensch Gott sehen kann, indem er in dessen sichtbarer Selbstoffenbarung ihren unsichtbaren Grund erkennt, verdeutlicht Cusanus in seiner wahrscheinlich letzten Schrift ,De apice theoriae' am Beispiel des Lichtes: Wende nun bitte deinen Blick auf das sinnlich wahrnehmbare Licht, ohne das kein Sehen mit den Sinnen möglich ist, und beachte, dass in jeder Farbe und in jedem sichtbaren Gegenstand kein anderer Grundbestand ist als das Licht, das auf verschiedene Weise in den verschiedenen Seinsweisen der Farben erscheint, und dass weder Farbe noch Gegenstand sichtbar und auch das Sehen nicht bestehenbleiben können, wenn das Licht fehlt. Die Klarheit des Lichtes als solches überragt aber die Sehfähigkeit des Gesichtssinnes. Man sieht es deshalb als solches nicht, aber es offenbart sich (se manifestat) an den Dingen, die sichtbar sind, an dem einen klarer, weniger deutlich am anderen. Je klarer ein sichtbarer Gegenstand das Licht zur Erscheinung bringt, desto werthafter und schöner ist er. Das Licht aber enthält in sich eingefaltet die Klarheit und Schönheit aller sichtbaren Dinge und überragt sie noch. Das Licht offenbart sich (se manifestat) in den sichtbaren Dingen nicht, um sich als sichtbares zu offenbaren (ostendat), sondern vielmehr um sich als unsichtbares zu offenbaren (manifestet), weil ja in den sichtbaren Dingen seine Klarheit nicht erfassbar ist. Wer nämlich die Klarheit des Lichtes in den sichtbaren Dingen als unsichtbare Klarheit sieht, sieht sie wahrer.' 69
Auch an dieser Textpassage wird auf eindrucksvolle Weise deutlich, wie Cusanus in der Konzeption seiner Philosophie der Offenbarung einerseits dazu geeignete Elemente aus der philosophischen Tradition rezipiert und diese andererseits unter dem Anspruch des eigenen Gedankens weiterentwickelt. Die Wahl des Lichtes zur Versinnbildlichung der Gotteserkenntnis ist zunächst insofern sachlich naheliegend, als Cusanus die Gotteserkenntnis in der Begrifflichkeit des Sehens reflektiert und somit auch auf der Beispielebene den Phänomenbereich des Optischen nicht verlässt. Mit der Metaphorisierung des Lichtes greift Cusanus aber zugleich eine lange philosophische Tradition auf, die sich bis auf Piatons Sonnengleichnis170 zurückfuhren lässt. In der Deutung des Lichtgleichnisses lehnt er sich zunächst auch eng an dessen platonischen Ursprung an. Dem Gedanken Piatons entsprechend, wonach die Sonne den Sinnendingen Sein und Erkennbarkeit verleiht, sagt Cusanus, dass in jeder Farbe und in jedem sichtbaren Gegenstand kein anderer Grundbestand ist als das Licht und weder Farbe noch Gegenm
De ap. theor.: h XII, N. 8, Z. 8-20. Politeia 506 b 2 - 509 b 10. In De beryl. 19: h 2 XI/1, N. 27, Z. 1-4 sowie De ven. sap. 39: h XII, N. 124, Z. 1-2 bezieht sich Cusanus ausdrücklich darauf. 170
Die natürliche Weltwirklichkeit
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stand sichtbar und auch das Sehen nicht bestehenbleiben können, wenn das Licht fehlt. Gemeinsam mit Piaton gelangt Cusanus in der Betrachtung des Lichtes auch zur Einsicht, wonach die Klarheit des Lichtes die Sehfähigkeit des Gesichtssinnes überragt. In den folgenden Aussagen beschreitet Cusanus jedoch einen eigenen Denkweg, auf dem er insofern über Piaton hinausgeht, als bei Piaton die Feststellung der Unerkennbarkeit der Ursache von Sein und Erkennen das letzte Wort bleibt. Für Cusanus ist die Unbegreifbarkeit aber keineswegs ein Schlusspunkt, sondern er erkennt diese vielmehr als den Ausgangsgrund einer Bewegung, in der sich dasjenige, was die sinnliche Erkenntniskraft des Menschen übersteigt, auf sinnenfallige Weise offenbart: Man sieht es deshalb als solches nicht, aber es offenbart sich (se manifestat) an den Dingen, die sichtbar sind. Indem Cusanus das Sonnengleichnis in seine Philosophie der Offenbarung integriert, kann er es zugleich um die von Piaton noch nicht erreichte Einsicht vertiefen, dass das Licht die sichtbare Wirklichkeit zu dem Zweck hervorgebracht hat, um dadurch sein nicht zu einer Farbe eingeschränktes und darum unsichtbares Wesen für den Menschen erkennbar zu machen. In der paradox klingenden Aussage, wonach das Licht sich in den sichtbaren Dingen nicht offenbart (manifestat), um sich als sichtbares zu offenbaren (ostendat), sondern vielmehr um sich als unsichtbares zu offenbaren (manifestet), wird reflektiert, wie die Versichtbarung nicht das Endziel der Selbstoffenbarung des Lichtes ist, sondern vielmehr als Vermittlungsmedium dazu dient, dass die unsichtbare Klarheit des Lichtes darin wahrgenommen werden kann. Aufgrund dieser Zweckbestimmung der sichtbaren Wirklichkeit wird die menschliche Erkenntnis des Lichtes aber nicht nur ermöglicht, sondern auch in der inneren Struktur ihrer Methode geprägt: Sie muss zwar von den farbigen Versichtbarungsgestalten ihren Ausgang nehmen, denn anders als über die Vermittlung der sinnlichen Wahrnehmung ist für den Menschen Erkenntnis nicht möglich. Sie darf aber nicht dabei stehenbleiben, weil ja in den sichtbaren Dingen die Klarheit des Lichtes nicht erfassbar ist. Die durch dessen Selbstversichtbarung ermöglichte Licht-Erkenntnis erreicht ihr Ziel nur, wenn sie die Klarheit des Lichtes in den sichtbaren Dingen als unsichtbare Klarheit sieht. In dieser Textpassage aus ,De apice theoriae' verdeutlicht Cusanus aber nicht nur am konkreten Beispiel des Lichtes, was er in ,De non aliud' auf die allgemeine Formel des videre in visibili invisibile brachte. Hier beschreibt er zudem auch ausdrücklich die Methode, durch die es dem Menschen möglich wird, den in seiner paradoxen Formulierung unmöglich scheinenden Erkenntnisakt des Sehens des Unsichtbaren im Sichtbaren zu verwirklichen. Der dazu fuhrende Erkenntnisweg besteht aus zwei aufeinanderfolgenden Schritten. Bei der Bestimmung des ersten Schrittes geht Cusanus von der Feststellung aus, dass sich das Licht an dem
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Dimensionen der Offenbarkeit des Geheimnisses
einen Ding klarer, am anderen aber weniger deutlich offenbart. Daraus schließt er, dass die vielen farbigen Versichtbarungen des Lichtes je nach dem Grad der Intensität, in der dessen Klarheit in ihnen widerleuchtet, in einem gestuften Verhältnis zueinander stehen, denn je klarer ein sichtbarer Gegenstand das Licht zur Erscheinung bringt, desto werthafter und schöner ist er. Dementsprechend bestimmt sich der Weg zur Erkenntnis des Lichtes zunächst als stufenweiser Aufstieg zu immer höheren Vergegenwärtigungsgestalten von dessen Klarheit. Wenngleich der erkennende Mensch durch diese Methode dem unsichtbaren Licht immer näher kommt, sieht er es dabei trotzdem noch nicht in dessen wesenhafter Unsichtbarkeit, weil das Licht selbst nicht eine Stufe - und sei es auch die höchste - in der linearen Reihe seiner farbigen Versichtbarungen ist, sondern vielmehr in einem absolut disproportionalen .Verhältnis' dazu steht. So wird nun im Prozess der Lichterkenntnis ein zweiter Schritt notwendig, den Cusanus im zitierten Text bereits in der Bestimmung von dessen Ergebnis voraussetzt: Das Licht aber enthält in sich eingefaltet die Klarheit und Schönheit aller sichtbaren Dinge und überragt sie noch. Wenn Cusanus hier sagt, dass das unsichtbare Licht alles Sichtbare einfaltet und überragt, so gibt er damit zu verstehen, wie das Unsichtbare im Sichtbaren gesehen werden kann, wenn der Mensch im Begründungsregress des Denkens seine Aufstiegsbewegung über die verschiedenen Stufen der Lichtintensität in einem Akt der Transzendierung der gesamten sinnenfalligen Wirklichkeit kulminieren lässt, der darin besteht, dass alle sichtbaren Dinge als unselbständige Wirkungen erkannt und auf ihre unsichtbare Ursache zurückgeführt werden. Die Rückführung sinnenfalliger Wirkungen auf ihre geistige Ursache wird hier somit als die Methode erwiesen, mit der das Unsichtbare im Sichtbaren gesehen werden kann, und wird dadurch indirekt als dem Offenbarungsgeschehen entsprechende Erkenntnisweise bestimmt. 3.1.10.5 Der Offenbarungsgott als die Koinzidenz von Unsichtbarkeit und Sichtbarkeit Der zuletzt zitierte Text aus ,De apice theoriae' geht inhaltlich insofern nicht über die vorher interpretierte Passage aus ,De non aliud' hinaus, als Cusanus hier mit der Selbstversichtbarung des unsichtbaren Gottes und der dementsprechenden Erkenntnismethode des rationalen Begründungsregresses zwei Gedankenelemente, die in ,De non aliud' bereits implizit vorausgesetzt sind, am Beispiel des Lichtes ausdrücklich zur Sprache bringt. In den bisher noch nicht interpretierten Aussagen des früheren Textes erreicht Cusanus aber eine noch tiefere gedankliche Dimension, indem er die Erkenntnisweise des Sehens des Unsichtbaren im Sichtbaren auf das dieser zugrundeliegende Gottesverständnis zurückfuhrt. Dies
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ist für die Thematik der vorliegenden Untersuchung deshalb von zentraler Bedeutung, weil Cusanus dabei eine begriffliche Aussage über die Wesenswirklichkeit Gottes formuliert, die als die philosophische Vermittlung der im Glauben vorgegebenen Erfahrung Gottes als des offenbaren Geheimnisses interpretiert werden kann. Durch eine Analyse der inneren Struktur dieser Aussage und der dementsprechenden Methode ihrer Konzeption und Formulierung wird sich darüber hinaus mittelbar auch der cusanische Grund-Gedanke der Koinzidenz als das Ergebnis der philosophischen Reflexion auf das Offenbarungsgeschehen erweisen lassen. Unmittelbar nach der Bestimmung des videre in visibili invisibile als dasjenige Schauen, was ich auf Gott beziehe, wiederholt Cusanus das eingangs zitierte Schriftzitat, wonach niemand Gott je gesehen hat. Während es am Anfang des Textes in die das Denken herausfordernde Fragestellung integriert war, kann es nun durch das Ergebnis des philosophischen Gedankenganges in einer Weise verstanden werden, in welcher der Widerspruch zu den konträren biblischen Aussagen über die Offenbarkeit Gottes aufgehoben ist. Die Erkenntnis der Wahrheit dieses Satzes besteht nach Cusanus in der Einsicht, dass Gott über allem Sichtbaren als nicht anders von allem Sichtbaren gesehen wird. Inwiefern die biblisch bezeugte Unsichtbarkeit Gottes als dessen Über-Sein und Nicht-Anders-Sein zu allem Sichtbaren zugleich zu begreifen ist, geht aus den folgenden Aussagen des zitierten Textes hervor. Wenn Cusanus hier den biblischen Gott als aktuale Unendlichkeit und Washeit aller Washeiten bezeichnet, so identifiziert er ihn gedanklich mit dem philosophischen Konzept des erstursächlichen Wahrheitsgrundes aller Dinge. Allerdings zeigt sich schon in der Wahl der entsprechenden Terminologie, dass Cusanus hier die eigene, um den Gedanken der Disproportionalität bereicherte Fortentwicklung der Theorie des absoluten Prinzips zugrundelegt. Wenn er in einer Wiederaufnahme seiner Unendlichkeitsspekulationen aus dem ersten Buch von ,De docta ignorantia"71 die excedentia der Erstursache durch deren Bestimmung als actualis infinitas reflektiert, begründet er sie in der Negation jeder endlichen Begrenzung. Aus der Unbegrenztheit des absoluten Prinzips ergibt sich, dass es nicht aus dem Verhältnis zu anderen endlichen Seienden de-finiert werden kann. Aufgrund seiner Ununterschiedenheit von allen anderen Seienden kann der unendliche Gott somit nicht irgendeinem Ding gegenüber etwas anderes sein. Aus der Einsicht in die Nicht-Andersheit des göttlichen Prinzips kann Cusanus nun dessen Unsichtbarkeit neu begründen. Diese beruht darauf, dass der nichtandere Gott niemals wie alle anderen Dinge zum begrenzten und damit unterscheidbaren Objekt des Sehens wird, weil das Sichtbare oder der Gegenstand 171
Vgl. vor allem De docta ign. I, 4: h I, S. 10, Ζ. 1 - S. 11, Z. 22 (Ν. 11-12).
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(obiectum) dem Vermögen des Sehens gegenüber etwas anderes ist. Versteht man die abschließende Aussage des zitierten Textes, wonach Gott jeden Gegenstand (obiectum) übersteigt, als Konsequenz aus der Nicht-Andersheit des absoluten Prinzips, so wird damit einsichtig, wie Gottes Unsichtbarkeit mit der Gegebenheit zusammenfällt, dass er in allen Dingen als je andersheitlich eingeschränkter Seinsgrund gesehen wird. Aus der Einsicht, dass sich Unsichtbarkeit und Sichtbarkeit im Falle des als die nicht-andersheitliche Unendlichkeit begriffenen absoluten Prinzips nicht widersprechen, formulierte Cusanus zu Beginn des zitierten Textes eine Aussage über das Wesen Gottes, in der dessen Überlegenheit über diese Gegensätze zum Ausdruck kommt: Denn wie ist der sichtbar, der vor allem Sichtbaren und Unsichtbaren ist (ante visibile et invisibile), wenn nicht dadurch, dass er alles Sichtbare überragt, da ohne ihn nichts erkannt wird? Wenn Cusanus den Gott, der in allem Sichtbaren als der unsichtbare Grund gesehen wird, als dasjenige bestimmt, was vor allem Sichtbaren und Unsichtbaren ist, so greift er in der Konzeption dieses Gedankens auf die in ,De docta ignorantia'172 entfaltete Koinzidenzmethode zurück. Darin wird primär die Weise reflektiert, wie das Denken einen der absoluten Wirklichkeit Gottes angemessenen Gottesbegriff bilden kann, indem es die Ebene des an das Nichtwiderspruchsprinzip gebundenen Erkennens übersteigt. Wenn durch das Nichtwiderspruchsprinzip in seinem allgemeinsten Sinn die Gegensätze von Affirmation und Negation auseinandergehalten werden, so bedeutet die Notwendigkeit von deren Zusammenfall in der Gotteserkenntnis, dass die ursprüngliche Intention des Koinzidenzgedankens die Vermittlung von affirmativer und negativer Theologie ist.173 Die im Spätwerk ,De non aliud' vorgenommene koinzidentale Bestimmung Gottes als ante visibile et invisibile lässt sich nun schließlich als eine Einlösung dieser Grundintention bestimmen, die darüber hinaus durch ihren Kontext auch auf den ursprünglichen Motivationsgrund des Koinzidenzgedankens zurückbezogen ist. Ersteres ergibt sich aus der Identifizierbarkeit der Sichtbarkeit mit dem affirmativen und der Unsichtbarkeit mit dem negativen Moment. Aus der von Cusanus im Gedankenzusammenhang von ,De non aliud' vorgenommenen Bestimmung des unsichtbar im Sichtbaren zu sehenden Gottes als des absoluten Seinsgrundes aller Dinge geht zudem hervor, dass sich die affirmative Theologie auf die seinssetzende Wirksamkeit des göttlichen Prinzips bezieht, die negative Theologie hingegen auf dessen Erhabenheit über seine endlichen Einschränkungen. 172
De docta ign. I, 4: h I, S. 10, Ζ. 1 - S. 11, Z. 22 (N. 11-12). Vgl. zur ausführlicheren Fundierung dieser Interpretation: M. THURNER, Trinität als Grund-Erfahrung des Menschen nach Nikolaus von Kues, hier: 348-357. 173
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Die interpretierte Passage aus ,De non aliud' ist für das Verständnis des Koinzidenzgedankens aber vor allem deshalb grundlegend, weil hier die tiefere Bedeutung der Selbstversichtbarung des unsichtbaren Gottes in seinem kreativen Wirken, die im koinzidentalen Gottesbegriff gedacht werden soll, ausdrücklich zur Sprache kommt. Jene durch die Koinzidenzmethode konzipierte und innerlich dementsprechend strukturierte Bestimmung Gottes als ante visibile et invisibile ist das Ergebnis der philosophischen Reflexion auf die in den zitierten Bibelaussagen angezeigte Ambiguität der Glaubenserfahrung Gottes als den Unsichtbaren und den Offenbaren zugleich. Im Gedanken des Zusammenfalls von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit wird die Glaubensvorgabe des Offenbarungsgeschehens begrifflich vermittelt: Unsichtbar ist Gott, insofern er im geistigen In-sich seines Wesens für den endlichen Intellekt des Menschen ein unzugängliches Geheimnis ist. Sichtbar ist Gott infolge seines freien Entschlusses, sich in der Schöpfung der natürlichen Weltwirklichkeit in einer der Sinneswahrnehmung des Menschen zugänglichen Weise zu offenbaren. Wenn das Denken das Wesen des christlichen Offenbarungsgottes einsehen soll, so muss es ihn als den Widersprüchen von Unsichtbarkeit und Sichtbarkeit vorausliegend begreifen und dabei die auf die Unterscheidung von Gegensätzen bezogene Erkenntnisebene übersteigen. Der Koinzidenzgedanke erweist sich somit als die Methode der offenbarungsphilosophischen Gottesbegriffsbildung, weil er von der Notwendigkeit her motiviert ist, eine der paradoxen Glaubenserfahrung Gottes als des Offenbaren Geheimnisses entsprechende Reflexionsform zu finden.
3.1.11 Philosophie als „aenigmatica
scientia"
Die dem Verständnis Gottes als Koinzidenz von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit entsprechende Erkenntnisweise des Sehens des Unsichtbaren im Sichtbaren ist die von den Erfordernissen der cusanischen Offenbarungsphilosophie her bestimmte Rezeption der Argumentationsmethode des rationalen Begründungsregresses. Die Rückführung von Wirkungen auf ihre Ursache wurde bereits von Aristoteles als jene Wesensbestimmung benannt, durch die sich das philosophische Denken ursprünglich von allen anderen menschlichen Erkenntnisarten - wie etwa derjenigen des Mythos - unterscheidet.174 Indem Cusanus dem rationalen Begründungsregress eine Funktion im Offenbarungsgeschehen zu-erkennt, kann er zugleich das (aristotelische) Verständnis der Philosophie als theoretischer Wissenschaft der ersten Gründe und Ursachen"5 vertiefend modifizieren. Dies leistet 174
Vgl. Metaphysik
175
ARISTOTELES, Metaphysik
981 a 28-30; 1000 a 18-20. 9 8 2 b 7-9.
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er in der Konzeption eines neuen Philosophiebegriffes, in welchem die offenbarungsphilosophische Bestimmung der Wirkungen als Selbstversichtbarung der unsichtbaren Ursache ebenso integriert ist, wie die dementsprechende Erkenntnismethode des Sehens der disproportional verborgenen Offenbarkeit des Unsichtbaren im Sichtbaren. Die prägnanteste Formulierung dieses Philosophieverständnisses findet sich in ,De beryllo', wo Cusanus den Erkenntnisregress als aenigmatica scientia - als ,Rätselbilderwissenschaft'· - bestimmt.176 3.1.11.1 Die philosophische Begründung des paulinischen Verständnisses der Gottesschau durch den platonischen Bild-Gedanken In der folgenden Predigtpassage wird deutlich, wie dieses neue Philosophiekonzept aus der Reflexion auf das Offenbarungsgeschehen hervorgeht, worauf seine terminologische Prägung zurückgeht, und auf welche gedanklichen Vorgaben es sich bezieht: Da es sich nämlich so verhält, dass Gott absolut gut (optimus) ist, der alles auf das beste Ziel hin erschaffen hat, deshalb „wirkte er", wie Salomon sagt, „um seiner selbst willen".177 [...] Nur deshalb hat er alles um seiner selbst willen erschaffen, damit er seinen Überfluss mitteilbar mache zu seiner Verherrlichung. [...] Da Gott aber seine Herrlichkeit nur jenen Geschöpfen offenbaren (manifestare) kann, die den Geist der Unterscheidung haben und so seine Reichtümer, Kraft, Weisheit und Macht unterscheiden können, [...] deshalb ist alles um der Verstandesgeister willen geschaffen, und sie selbst, damit sie die Herrlichkeit Gottes sehen. Dieses ist also das Ziel der Schöpfung, nämlich die Offenbarung (ostensio) der Herrlichkeit des Schöpfers. Zur Schau der Herrlichkeit Gottes zu gelangen, bedeutet, das Ziel zu erreichen. [...] So sehen wir seine Herrlichkeit, wie der Apostel sagt, im Reich dieser Welt in jenen sichtbaren Dingen „in Spiegelbild und Rätselgleichnis (in speculo et aenigmate)".178 [,..]Und so kann niemand darin gesättigt werden, die Herrlichkeit des Schöpfers in den Geschöpfen zu sehen. [...] Alles nämlich hat Gott zur Offenbarung (ostensionem) seiner großen Herrlichkeit gewirkt, und so ist der Grund, warum alle Dinge so sind, wie sie sind, dieser: dass die Herrlichkeit Gottes geoffenbart werde.179
Teile dieser Predigtpassage wurden bereits im Kapitel über ,Die freie Erschaffung des Menschen als Grund für die Selbstoffenbarung des Geheimnisses' zitiert. Während dort mit der Frage nach dem ,Warum' der Offenbarung der Text als Reflexion auf die von Gott ausgehende Abstiegsbewegung interpretiert wurde, ist er nun im Hinblick auf die dadurch ermöglichte Aufstiegsbewegung des Men176
De beryl. 6: h 2XI/1, N. 7, Ζ. 11. Spr 16, 4. 178 1 Kor 13, 12. 179 Sermo CCIV ,Cum omni militia caelestis exercitus': h XIX/1, N. 5, Ζ. 1 - N . 7, Z. 4. 177
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sehen zu befragen. Die Ergebnisse der bisherigen Interpretation können in ihren wesentlichen Momenten vorausgesetzt werden. Entscheidend ist, dass Cusanus hier die Glaubensvorgabe des in Gutheit freien Offenbarungsentschlusses Gottes auf einer philosophischen Argumentationsebene als einen absoluten Anfang begreift, aus dem er alle Gegebenheiten der endlichen Wirklichkeit mit innerer Denknotwendigkeit ableiten kann. Dementsprechend lässt sich der tiefere Sinn aller in den Gedankengang integrierten Phänomene erschließen, wenn man sie auf ihre Bedeutung und Funktion innerhalb des Offenbarungsgeschehens zurückfuhrt. Dabei wird einsichtig, wie Cusanus durch diese Vorgehensweise nicht nur die Glaubenserfahrung philosophisch expliziert, sondern auch das philosophische Verständnis der benannten Wirklichkeitsmomente unter dem Anspruch der christlichen Glaubensvorgabe entsprechend modifiziert. Im Hinblick auf das im zitierten Text grundgelegte offenbarungsphilosophische Weltverständnis wurde dies bereits mit dem Gedanken herausgearbeitet, dass Gott die sinnenfallige Welt erschaffen hat, um darin sein unsichtbar-geistiges Wesen dem auf die Sinneswahrnehmung verwiesenen Menschen mitzuteilen. In den folgenden Überlegungen soll dies in bezug auf den für den Menschen spezifischen philosophischen Erkenntnisvollzug untersucht werden. Die menschliche Erkenntnisbegabung des spiritus discretionis wird im Argumentationsgang des zitierten Textes als jenes Vermögen eingeführt, das allein dazu fähig ist, die Selbstoffenbarung Gottes zu empfangen, denn nur eine geistbegabte Natur kann das rein geistige Wesen Gottes wahrnehmen. Wenn Cusanus in dieser Eigenschaft den Grund für die Erschaffung der vernunftbegabten Kreatur sieht, so hat dies für das Verständnis der Wesenswirklichkeit menschlicher Intellektnatur zweierlei Konsequenzen: Zunächst vertieft Cusanus damit die philosophische Wesensbestimmung der Vernunft durch die Einsicht, dass sie den tieferen Sinn hat, den Menschen im Glaubensvollzug der Selbstmitteilung Gottes teilhaftig werden zu lassen. Andererseits ist mit dieser Begründung der menschlichen Erkenntnisfahigkeit im Offenbarungsgeschehen aber auch gesagt, dass der Mensch keines anderen Vermögens als seiner schöpfungsmäßig mitgeteilten und daher natürlichen Vernunftbegabung bedarf, um die Selbstoffenbarung Gottes aufnehmen zu können. Doch nicht nur die Konstitution des menschlichen Erkenntnisvermögens begründet Cusanus aus dessen Funktion im Offenbarungsgeschehen, sondern auch die konkrete Struktur von dessen Vollzug. Die für die menschliche Vernunft spezifische Wirksamkeit der Erkenntnis des Geistigen im Sinnenfalligen wird als die Weise erklärt, wie der Mensch die göttliche Selbstmitteilung empfängt. Da dem menschlichen Intellekt aufgrund seiner raumzeitlichen Wesensverfassung die Wahrheit des göttlichen Geistes nicht unmittelbar zugänglich ist, kann er dessen Selbstoffenbarung nur in sinnenfälliger Vermittlungsgestalt wahrnehmen. Die im
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menschlichen Erkenntnisakt vollzogene Rückführung der sinnenfälligen Wirkungen auf ihre geistige Ursache hat demnach im Grunde den tieferen Sinn, in den Kreaturen die Offenbarkeit des göttlichen Geheimnisses zu entdecken. Diese offenbarungsphilosophische Deutung der Vernunftwirklichkeit vermittelt Cusanus, indem er den menschlichen Erkenntnisvollzug als Schau in Spiegelbild und Rätselgleichnis bezeichnet. In der diesbezüglichen Aussage des zitierten Predigttextes wird die ursprüngliche Herkunft dieser Redeweise aus der Glaubenserfahrung des Offenbarungsgeschehens unmissverständlich deutlich: So sehen wir seine Herrlichkeit, wie der Apostel sagt, im Reich dieser Welt in jenen sichtbaren Dingen „ in Spiegelbild und Rätselgleichnis (in speculo et aenigmatej". Sein Verständnis des Erkenntnisregresses von den sichtbaren Dingen zu ihrem unsichtbaren Grund konzipiert Cusanus im Rückgriff auf ein Pauluswort.180 Aus dem originalen Kontext dieses Zitates lässt sich erschließen, worin der verborgene Bezugspunkt der spezifisch cusanischen Bestimmung des philosophischen Grundaktes besteht. Paulus beschreibt hier die Weise, wie der Mensch unter den Bedingungen seiner irdischen Existenz Gott sieht. Dementsprechend erweist sich das cusanische Philosophieverständnis als ein Konzept von Erkenntnis, das der kreatürlich-endlichen Verfasstheit des Menschen Rechnung trägt, wie sie in der biblisch-christlichen Auffassung vorgegeben ist. Nach Paulus zeigt sich die Endlichkeit darin, dass dem Menschen das ihm wesenhaft eingestiftete Ziel der Gottesschau (noch) nicht von Angesicht zu Angesicht, sondern nur durch die Vermittlung der sichtbaren Wirklichkeit möglich ist. Im Hinblick auf die raumzeitliche Welt bedeutet dies, dass sie als Medium der menschlichen Gottesschau zu verstehen ist. Diese neue Sichtweise der sinnenfalligen Dinge bringt Paulus zum Ausdruck, indem er sie als Spiegelbilder und Rätselgleichnisse bestimmt. Im Gedanken, dass die Gottesschau in dieser Welt nur medio aenigmatico möglich ist,181 nimmt Cusanus die paulinische Vorgabe auf. Über den unmittelbaren Kontext der Korintherbriefstelle hinaus integriert er sie aber in das umfassendere Sinngefüge des Glaubensgeschehens, indem er in der Bestimmung der sichtbaren Wirklichkeit als Medium der Gottesschau den inneren Zusammenhang zwischen den biblischen Daten von Offenbarung und Schöpfung entdeckt. In der Aussage, dass die Welt ihren Schöpfer offenbart (revelat), auf dass er erkannt werde, und der unsichtbare Gott sich in Spiegelbild und Rätselgleichnis auf erkennbare Weise zeigt (ostendit),lil begründet er die Konstitution der aenigmatischen Wirklichkeit im Offenbarungsentschluss Gottes. Die Bestimmung als Medium der Gottesschau begreift er dabei nicht nur als eine Eigenschaft der Welt180 181 182
1 Kor 13, 12. 2 De sap. II: h V, N. 47, Z. 3-4. De poss. ·. h XI/2; N. 72, Z. 9-11.
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dinge, sondern als den ursprünglichen Sinngrund ihrer Erschaffung. Im zitierten Gedanken wird die Erkenntnis Gottes (durch den Menschen) als das Ziel der Weltschöpfung benannt, und das aenigmatische Wesen der Seienden als die Weise verstanden, wie Gott in der Welt erkennbar wird. Warum die menschliche Gotteserkenntnis auf die aenigmatische Schöpfungswirklichkeit verwiesen ist, geht aus der Rede vom unsichtbaren Gott hervor. Weil die Unsichtbarkeit eine Wesenseigenschaft Gottes ist, kann ihn der an die Sinneswahrnehmung gebundene Mensch nur in einer sichtbaren Vermittlungsgestalt erkennen. In der Aussage, dass der unsichtbare Gott sich in Spiegelbild und Rätselgleichnis auf erkennbare Weise zeigt (ostendit), gibt Cusanus zu verstehen, wie die Selbstversichtbarung Gottes in der Schöpfung im Entschluss Gottes ihren Sinngrund hat, sich dem Menschen zu offenbaren. Die paulinische Entdeckung des aenigmatischen Wesens der Dinge wird somit bei Cusanus zur Voraussetzung dafür, die Schöpfung als Teilmoment des Offenbarungsgeschehens zu begreifen: Weil alle Seienden Spiegelbildcharakter haben, kann die Welt ihren Schöpfer offenbaren (revelare). Cusanus vermag das paulinische Verständnis der Welt als speculum et aenigma der menschlichen Gottesschau in den tieferen Sinnzusammenhang des Offenbarungsgeschehens zu integrieren, indem er dies aus den spezifischen Gesetzmäßigkeiten der menschlichen Erkenntnis begründet. Damit fuhrt er - in der zuletzt zitierten Aussage geschieht dies fast unmerklich - in den Kontext der biblischen Glaubensvorgaben eine Kategorie ein, die ursprünglich aus dem Bereich des philosophischen Denkens stammt. Im Zuge ihrer Sinnerschließung wird die Glaubenserfahrung des Offenbarungsgeschehens bei Cusanus so zur Philosophie der Offenbarung. Aus der Intention heraus, die tiefere Bedeutung der paulinischen Rede von Spiegelbild und Rätselgleichnis zu verstehen, greift Cusanus ebenso auf philosophische Vermittlungskategorien zurück. In seinem offenbarungsphilosophischen Verständnis der aenigmatischen Bestimmung der Wirklichkeit sieht er eine lange philosophische Tradition aufgehoben: Alle unsere weisen und gotterleuchteten Lehrer stimmen darin überein, dass die sichtbaren Dinge in Wahrheit Bilder der unsichtbaren Dinge sind, und dass der Schöpfer auf diese Weise wie im Spiegel und Rätsel für die Geschöpfe dem erkennenden Blick zugänglich wird."3
Zur Erklärung der Weise, wie Gott sich in seiner Schöpfung für die menschliche Erkenntnis im Medium des Aenigmas offenbart, bedient sich Cusanus hier einer ontologischen Wesensdefinition der Sinnendinge, die er als das Ergebnis der ,concordia' aller Weisheitslehrer einfuhrt. Die Auffassung, dass die sichtbaren
183
De docta ign. I, 11: h I, S. 22, Z.4-6 (N. 33, Z. 3-6).
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Dinge in Wahrheit Bilder der unsichtbaren Dinge sind, ist Gemeinbesitz der platonischen Tradition. Als unmittelbare Quelle für die cusanische Rezeption des platonischen Bild-Gedankens lässt sich aber Dionysius Areopagita identifizieren,184 bei dem der Grund-Gedanke der platonischen Ideenlehre bereits zu einer Erkenntnismethode fortentwickelt wurde, die dem cusanischen Konzept der aenigmatischen Gottesschau nahekommt: In seinem (nicht zur detaillierten Durchführung gelangten) Vorhaben einer Symbolischen Theologie' nimmt Dionysius die Bestimmung der Sinnendinge als materielle Abbildungen ihrer rein geistigen Wesensgründe zum Ausgangspunkt einer Erkenntnisbewegung, die das Sinnenfällige als ,materielle Handleitung' ( ύ λ α ί " χειραγωγί") zum Geistigen versteht.'85 In der offenbarungsphilosophischen Konzeption seiner aenigmatischen Methode lehnt sich Cusanus bis in die Terminologie hinein an die Intention des Dionysius an. Diesen Weg der Alten beschreitend und mit ihnen im Fortschritt, erklärt auch Cusanus, dass uns zu den göttlichen Dingen nur der Zugang durch Symbole als Weg offensteht."6 Als den Weg, die an sich für uns unberührbaren geistigen Dinge auf symbolische Weise zu erforschen,187 begreift auch er die Aufrahme des sinnenfällig Bekannten als Handleitung (manuductio) zur Ursache und zum Ursprung. 188 3.1.11.2 „ nemopossit
satiari videndo gloriam creatoris in creaturis "
Die Bestimmung der Schöpfungswirklichkeit als aenigmatisches Medium der Gottesschau hat für die dem Menschen dadurch ermöglichte Weise der Gotteserkenntnis eine zunächst paradox anmutende Konsequenz: Weil der Mensch das göttliche Geheimnis nicht unmittelbar, sondern nur durch die Vermittlungsgestalt seiner sinnenfälligen Offenbarkeit zu schauen vermag, kann er das ihm mit seiner Intellektbegabung eingestiftete Ziel des Gottfindens nur erreichen, wenn er sich in die Welt hineinbegibt. Weil Cusanus die im Offenbarungsglauben vorgegebene kreatürliche Endlichkeit des Menschen radikal ernst nimmt, begreift er die Welt als den primären Ort menschlicher Gottsuche. Durch das Verständnis der Schöpfung als für den Menschen eröffnete Dimension der Offenbarkeit des göttlichen Geheimnisses entdeckt Cusanus jene Dignität, die der konkreten Weltwirklichkeit sowie dem menschlichen Weltbezug nach christlicher Auffassung zuinnerst eigen ist.
184
De De 186 De 187 De 188 De 185
divinis nominibus VII 3 (ed. Suchla 197). coelesti hierarchia I, 3 (ed. Heil-Ritter 8,21). docta ign. I, 11: h I, S. 24, Z. 6-7 (N. 32, Z. 25-27). docta ign. I, 11: h I, S. 22, Z. 7-8 (N. 30, Z. 7-8). docta ign. I, 25: h I, S. 53, Z. 14-15 (N. 84, Z. 20-21).
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Die Hinwendung zu den sinnlich wahrnehmbaren Phänomenen der Lebenswelt erübrigt sich für den gottsuchenden Menschen keineswegs, noch verbietet sie sich ihm gar, sondern gewinnt für ihn vielmehr eine tiefere Bedeutung. Weil die Sinnendinge ursprünglich den Sinn haben, Gott zu offenbaren, kann der Mensch Gott finden, wenn er sich so weit in sie hinein vertieft, dass er ihnen auf den Grund geht. Die dem Menschen in seiner Leiblichkeit natürliche Hinneigung zur sinnlichen Erfahrung der natürlichen Weltwirklichkeit wird in der offenbarungsphilosophischen Deutung derselben bei Cusanus nicht nur affirmiert, sondern sogar durch die Einsicht intensiviert, dass der Mensch in seiner Begegnung mit der Sinnenwelt nichts weniger als Gott zu finden vermag. Mit diesem Gedanken kann Cusanus selbst der Freude am sinnlichen Genuss und dessen Unersättlichkeit einen positiven Sinn zu-erkennen. Wenn der Mensch im Genuss an den Sinnendingen nicht genug kriegen kann, so hat dies seinen tieferen Grund darin, dass sich ihm in den Sinnendingen Gott selbst als das unendliche Ziel seiner Sehnsucht189 zu kosten gibt. In diesem Sinne zieht Cusanus in der zuletzt zitierten Predigtpassage aus der paulinischen Rede von der Gottesschau im Aenigma der Schöpfungswirklichkeit die Konsequenz, dass niemand darin gesättigt werden kann, die Herrlichkeit des Schöpfers in den Geschöpfen zu sehen. Weil sich die Aufwertung der sinnenfälligen Wirklichkeit und des menschlichen Weltbezuges bei Cusanus aus deren offenbarungsphilosophischer Deutung ergibt, findet sie in der Vorgabe des christlichen Glaubens ihren ursprünglichen Motivationsgrund. Cusanus löst damit auf gedanklicher Ebene ein, was die Herzmitte des christlichen Glaubens bildet: Die in der Fleischwerdung des göttlichen Wortes kulminierende Grund-Gegebenheit des Christentums ist die Erfahrung, dass Gott sein Geheimnis dem Menschen offenbart, indem er sich in sinnenfälliger Gestalt mitteilt. Als die erste Dimension dieser inkarnatorischen Offenbarungsbewegung begreift Cusanus die konkrete Weltwirklichkeit. Wenn er demzufolge in der Gotteserkenntnis von sinnlichen Aenigmata ausgeht, so nimmt er damit die einzige vom christlichen Offenbarungsglauben her eröffnete Möglichkeit in Anspruch. Wie nahe Cusanus in der Konzeption seiner aenigmatischen Methode dem Inkarnationsgedanken als der Mitte des Christentums gekommen ist, und wie fast durchgängig dies aus vermeintlich christlicher Intention heraus, eigentlich aber von einer nicht offenbarungsphilosophisch durchdrungenen gedanklichen Vorgabe her, verfehlt wird, dafür ist die Kritik des Kartäusers Vinzenz von Aggsbach daran signifikant, dass Cusanus in seiner Schrift ,De visione dei' durch eine sensibilis ymago zur mystischen Theologie fuhren wolle und dadurch gleich den Juden handle, die sich nach der göttlichen Erscheinung und Offenbarung ein 189
Vgl.
De vis.
16: h VI, N. 68, Ζ. 1 lf.
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Götzenbild gemacht hätten.190 An diesem seinem Einwand wird deutlich, wie Vinzenz den Sinn jenes Gedankenzusammenhanges aus der kritisierten Schrift nicht verstanden hatte, wo Cusanus selbst seine Methode der Gottesschau in Spiegelbild und Rätselgleichnis problematisiert und im Rückgriff auf das im Offenbarungsglauben vorgegebene Verständnis von menschlicher Gotteserkenntnis legitimiert: Ich vermag mich von der Süßigkeit der Schau nicht zurückzuziehen, [...] denn ein wenig scheint man ihren süßen Geschmack in einem Gleichnis (figura) im voraus kosten (praegustare) zu können. [...] Ich habe eine Art Vorgeschmack deiner Natur, ο Herr, im Gleichnis (in similitudine) ausgedrückt. Vergib mir, Barmherziger, dass ich versuche, den undarstellbaren (infigurabilem) Wohlgeschmack deiner Süßigkeit darzustellen (figurare). Wenn schon der Geschmack einer unbekannten Frucht durch kein Bild und keine Darstellung dargestellt werden kann und durch kein Wort auszudrücken ist, wer bin ich dann, ich armer Sünder, der ich mich erkühne, dich, den Unzeigbaren zu zeigen (inostensibilem ostendere), den Unsichtbaren sichtbar darzustellen (figurare) und deine unendlich unbeschreibliche Süßigkeit schmackhaft zu machen, die zu kosten ich doch niemals verdient habe. Durch das, was ich sage, erniedrige ich sie eher, als dass ich sie ehre. Aber deine Güte ist so groß, mein Gott, dass du auch Blinde vom Licht reden und das Lob dessen verkünden lässt, von dem sie nichts wissen und nichts wissen können, wenn es ihnen nicht geoffenbart wird (revelatur). Die Offenbarung (revelatio) reicht nicht an den Wohlgeschmack heran. Das Ohr des Glaubens erreicht nicht die Süßigkeit des Wohlgeschmacks. Das aber, Herr, hast du mir geoffenbart (revelasti), dass die Unendlichkeit deiner Süßigkeit, die du denen bereitet hast, die dich lieben, kein Ohr vernommen hat, und in das Herz keines Menschen gedrungen ist. Paulus, dein großer Apostel,'91 hat uns dies geoffenbart.' 92
In ,De visione dei' wird das dem Menschen mit seiner Intellektbegabung eingestiftete Ziel der Gotteserkenntnis auch als die Erfüllung seiner affektiven Sehnsucht betrachtet. Mit der Aussage, wonach sich der Betrachter von der Süßigkeit der Schau nicht zurückzuziehen vermag, gibt Cusanus zu verstehen, dass die emotionale Attraktivität Gottes der ursprüngliche Motivationsgrund für die wesenhafte Ausrichtung des Menschen auf die Gotteserkenntnis ist. Doch ebensowenig wie die intellektuelle Gotteserkenntnis ist auch die affektive Gotteserfahrung für das endlich-kreatürliche Vermögen des Menschen in vollem Umfang erreichbar. Aus dieser Tatsache der Begrenztheit menschlicher Kapazität zieht Cusanus die gedankliche Konsequenz, wenn er es als die einzige dem Menschen 190 Vgl. den Brief des Vinzenz von Aggsbach vom 19. 12. 1454 an Johannes von Weilheim; ediert in: EDMOND VANSTEENBERGHE, Autour de la docte ignorance. Une controverse sur la theologie mystique au XV° siecle: BGPhMA XIV, 2-4 (Münster 1915) 204-212, hier: 205. 191 2 Kor 12, 2. 192 De vis. 17: h VI, N. 76, Ζ. 1 - N. 79, Z. 7.
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unter den Bedingtheiten seiner Endlichkeit mögliche Weise der Gottesschau bestimmt, ihren süßen Geschmack in einem Gleichnis ein wenig im voraus kosten zu können. Die mit Gleichnisbildern arbeitende aenigmatische Methode erweist sich in diesem Gedanken keinesfalls als eine Vergötzung der Wirklichkeit, sondern vielmehr als eine Weise menschlicher Gotteserkenntnis, die der absolut inkommensurablen Differenz Gottes zum endlichen Erkenntnisvermögen Rechnung trägt. Cusanus reflektiert es als ein Wesensmerkmal der aenigmatischen Methode, dass der Mensch, wenn er im Vollzug der Gotteserkenntnis eine Art Vorgeschmack der göttlichen Natur im Gleichnis ausdrückt, Gott in einer ontologisch niederrangigeren Vermittlungsgestalt vergegenwärtigt. Cusanus bekennt selbst, wie er in seinen Gleichnisreden der Erhabenheit Gottes nicht gerecht wird, sondern sie vielmehr auf das begrenzte Maß der menschlichen Erkenntniskraft einschränkt: Durch das, was ich sage, erniedrige ich sie eher, als dass ich sie ehre. Die Unzulänglichkeit von Gleichnissen bringt er dabei wiederum durch ein Gleichnis zu Bewusstsein: Wenn schon der Geschmack einer unbekannten Frucht durch kein Bild und keine Darstellung dargestellt werden kann, dann umso weniger der undarstellbare Wohlgeschmack der Süßigkeit Gottes. Warum trotz ihrer Defizienz die gleichnishafte Vergegenwärtigung Gottes notwendig ist, deutet Cusanus an, indem er den sich der Gleichnisse bedienenden Menschen als armen Sünder bezeichnet. Damit betont er nicht nur die jeder Gleichnisrede eigene erniedrigende Verfehlung des göttlichen Wesens, sondern in einem allgemeineren Sinne auch die Verwiesenheit des Menschen auf eine verendlichte Mitteilungsgestalt des ansonsten unerreichbar-unendlichen Zieles seiner Sehnsucht. Zugleich vertieft Cusanus durch die Einfuhrung der theologischen Kategorie der Sünde die Argumentation auf die Ebene der Glaubenserfahrung. Damit gibt er zu verstehen, dass die philosophische Methode der Gleichnisschau eine tiefere Bedeutung im Glaubensvollzug hat. In der vom Betrachter formulierten Bitte um Vergebung fiir die Anmaßung, den unzeigbaren Gott in ein endliches Gleichnisbild fassen zu wollen, wird die Barmherzigkeit Gottes als der Bezugspunkt dieser Praxis menschlicher Gottesschau angedeutet. Das Vertrauen darauf ist in jener sodann benannten Eigenschaft Gottes begründet, die zugleich mit seinem Wesen identisch ist. Cusanus bestimmt es als Wirkung der übergroßen Gutheit Gottes, dass dieser es nicht nur verzeiht, wenn der Mensch ihn ins Gleichnisbild erniedrigt, sondern ausdrücklich auch Blinde vom Licht reden und das Lob dessen verkünden lässt, von dem sie nichts wissen. In der folgenden Aussage wird deutlich, als Manifestationsform welcher im Glauben erfahrenen Wirklichkeit die Gewährung des Gleichnisbildes von Seiten Gottes zu verstehen ist: Der Feststellung, dass die für das göttliche Licht blinden
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Menschen von dem reden, was sie nicht wissen, gibt Cusanus eine entscheidende Wendung. Er fuhrt sie im Gedanken fort, dass sie davon nichts wissen können, wenn es ihnen nicht geoffenbart wird. Damit deutet er die Zulassung der gleichnishaften Vergegenwärtigung Gottes als Teilmoment des Offenbarungsgeschehens. Die Gewährung einer endlichen Vermittlungsgestalt wird hier als die einzige Möglichkeit dafür eingesehen, dass der Mensch sein mit unendlicher Sehnsucht erstrebtes Ziel der Gottesschau erreichen kann. Philosophisch wird dabei die Offenbarung als jene Gutheit begriffen, durch die sich Gott vom Menschen in Spiegelbild und Rätselgleichnis sehen lässt. 3.1.11.3 Die „ improportionalis comparitio " der „ aenigmatica signa veri" Mit der Begründung der Gleichnisrede als Teilmoment des Offenbarungsgeschehens lässt sich auch eine wichtige Einsicht über die Offenbarungswirklichkeit selbst gewinnen. Versteht man, wie im zitierten Text aus ,De visione dei', die Offenbarung als gleichnishafte Darstellung von etwas an sich Undarstellbarem, so wird damit zugleich die Differenz zwischen dem Offenbarungsmedium und dem darin sich zeigenden Gott bewusst. Am Schluss des zuletzt interpretierten Gedankenganges zieht Cusanus ausdrücklich diese Konsequenz, wenn er feststellt, dass die Offenbarung nicht an den Wohlgeschmack heranreicht und das Ohr des Glaubens nicht die Süßigkeit des Wohlgeschmacks berührt. Diese Einsicht belegt er sodann mit der Aussage des Paulus," 3 wonach die Unendlichkeit der Süßigkeit, die Gott denen bereitet hat, die ihn lieben, kein Ohr vernommen hat und in das Herz keines Menschen gedrungen ist. Indem er somit den Gedanken der Differenz zwischen dem göttlichen Geheimnis und den Dimensionen seiner Offenbarkeit seinerseits als geoffenbarten Inhalt qualifiziert („ Paulus, dein großer Apostel, hat uns dies geoffenbart"), erweist er ihn als inneres Wesensmoment der Offenbarung selbst. Aus dem Bewusstsein der gleichnishaften (Un-)Ähnlichkeit der Offenbarungswirklichkeit ergeben sich nun Konsequenzen für die Durchführung der dementsprechenden aenigmatischen Erkenntnismethode. Da Gott im Offenbarungsaenigma nicht im An-Sich seines Wesens, sondern in endlicher Vermittlungsgestalt vergegenwärtigt ist, darf die menschliche Erkenntnisbewegung nicht beim Gleichnisbild stehenbleiben, wenn sie zu dem ihr eingestifteten Ziel der Gottesschau gelangen will. Sie muss die sinnliche Gestalt vielmehr als das wahrnehmen, was diese ihrer Wesensbestimmung gemäß ist. Wenn der Mensch das Sinnenfallige als Aenigma erkennt, kann er das darin in endlicher Einschränkung vergegenwärtigte göttliche Urbild entdecken. Aus der in ,De visione dei' formu193
2 Kor 12, 2.
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Herten Feststellung, dass Gott im Gleichnis eher erniedrigt, als geehrt wird, ergibt sich zugleich eine Richtungsanzeige für den im Ausgang vom Aenigma dem Menschen möglichen Erkenntnisweg zur Gottesschau. Da sich der Offenbarungsprozess als kenotischer Abstieg des göttlichen Geistes in die materielle Sinnlichkeit verwirklicht, besteht der dadurch geebnete Weg der Gotteserkenntnis in einer Aufstiegsbewegung von der sinnenfalligen Darstellungsgestalt zu ihrem geistigen Ursprung. Weil dabei das bildhafte Offenbarungsmedium gleich einer Stufe überstiegen wird, bezeichnet Cusanus diesen entscheidenden Schritt in der aenigmatischen Erkenntnismethode als transsumptio.m Den bereits in ,De docta ignorantia' konzipierten Gedanken, dass es notwendig ist, das einfache Gleichnisbild zu übersteigen (transilire), wenn wir Gott auf symbolische Weise zu erkunden intendieren,"5 vertieft Cusanus in einer Passage aus seinem fünf Jahre später entstandenen Opusculum ,De filiatione dei' in einer ausfuhrlichen Darlegung des aenigmatischen Erkenntnisaufstieges. Im umfassenderen Zusammenhang wird auch deutlich, wie die in ,De docta ignorantia' vorgenommene konkrete Bestimmung dieser Methode als transsumptiva proportio („überhöhendes Ins-Verhältnis-Setzen"), in der das Unbekannte erforscht wird, wenn eine Untersuchung aus dem Bild (ex imagine inquisitio) geschieht,1,6 näherhin zu verstehen ist: Wenn die Meisterschaft, die wir suchen, und in der die Glückseligkeit unseres Vernunftlebens besteht, sich auf das Wahre und Ewige bezieht, wenn unser vernunftbegabter Geist darauf ausgehen muss, sich zum Meister zu vollenden, auf dass er in sich selbst für immer das freudvollste geistig einsehende Leben besitze, dann darf sein Streben nicht an den erdenzeitlichen Schatten der sinnlich erfahrbaren Welt haften bleiben, dann darf er vielmehr sich deren nur vorübergehend zur Förderung seines vernunfthaften Strebens bedienen, ähnlich wie die Knaben auf den Schulen die als solche stofflichen und nur die Sinne beeindruckenden Schriften benutzen. Ihr Lerneifer verweilt nicht bei den stoffhaft gegebenen Schriftzeichen, sondern geht auf deren geistige Bedeutung (significatio). Und die lautgebundenen Reden, durch die sie unterrichtet werden, lassen sie nicht in ihrer bloßen Sinnenfälligkeit dienen, sondern in ihrem geistigen Sinn, so nämlich, dass sie durch die lauthaften Zeichen (signa) zum denkenden Geist des Lehrenden hindurchdringen. Sollten aber einige sich mehr an jenen Zeichen ergötzen, so werden sie nicht zur Meisterschaft der Weisheitsliebe (magisterium philosophiae) hindurchdringen, sondern sie werden als Nichtswisser herabsinken zu bloßen Schreibern, Nachmalern, Vorsprechern, Wortsängern oder Aufspielern. - Durch ein derartiges Gleichnis werden wir, die wir der Gotteskindschaft entgegenstreben, ermahnt, nicht den Sinnendingen anzuhängen, die nur Rätselzeichen des Wahren sind
194
Vgl. z.B. De docta ign. I, 19: h I, S. 37, Z. 12 (N. 55, Z. 2). De docta ign. I, 12: h I, S. 24, Z. 15-16 (N. 33, Z. 6-7). 196 De docta ign. I, 11: h l , S. 22, Z. 17-19 (N.31, Z. 1-3). 195
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(aenigmatica signa veri), sondern ob unserer Unzulänglichkeit uns ihrer ohne beflekkende Anhänglichkeit so zu bedienen, dass wir durch sie gleichsam den Lehrer der Wahrheit selbst zu uns sprechen lassen, und sie uns Bücher seien, die seines Geistes Ausdruck enthalten. Dann betrachten wir in dem Sinnenfälligen das geistig Einsichtige und klimmen gleichsam im Vergleichen von Verhältnislosem (improportionali comparatione) von den vergänglichen und flüchtigen zeitlichen Dingen, deren Sein in unbeständigem Flusse ist, empor zu dem Immerwährenden, wo alle Aufeinanderfolge in das feste Beharren der Ruhe entrückt ist. Und wir widmen uns der Betrachtung des wahren, gerechten und freudvollen Lebens und halten uns von jeder Verunreinigung fern, die uns davon abziehen könnte. So mit glühender Sehnsucht nach ihm trachtend, vermöchten wir wohl, von hier gelöst zur Meisterschaft gelangt, in jenes eigentliche Leben einzugehen.197
Der Gedankengang des Textes nimmt von der natürlichen Wesensbestimmung des Menschen seinen Ausgang. Diese besteht in seiner Vernunftbegabung, im spiritus noster intellectualis. Der geradezu paradoxen Situation eines kreatürlichendlichen Geistes entsprechend, fuhrt Cusanus diese Wesenseigenschaft des Menschen nicht als fertigen Besitz ein, sondern sieht in deren Erwerbung das Ziel menschlicher Wirksamkeit. Indem er die Selbstsuche als das Erlangen der vitae intellectualis felicitas bestimmt, gibt er zu verstehen, dass der Selbstbesitz des Geistes auch die Erfüllung des affektiven Vermögens des Menschen und somit auch das Ziel seines emotionalen Strebens ist. Der Weg zum ewigen Besitz des freudvollsten geistig einsehenden Lebens wird im zitierten Text nun in der Aussage beschrieben, dass unser vernunftbegabter Geist darauf ausgehen muss, sich zum Meister zu vollenden. Mit der Benennung der Selbstgegenwart des endlichen Geistes als magisterium verorum et aeternorum wird diese zugleich als ein Lernprozess bestimmt, der auf die Erkenntnis der absoluten Wahrheit und damit letztlich auf Gott bezogen ist. Wenn der Mensch in dem Moment zu sich selbst findet, wo er Gott erkennt, so hat dies seinen Grund darin, dass der Mensch mit seiner Vernunftbegabung von Natur aus wesenhaft auf den Gottesbezug hin ausgerichtet ist. Was Cusanus im folgenden als die Methode zur Erlernung der Vernunftmeisterschaft beschreibt, ist damit zugleich die für den Menschen als endlichen Intellekt spezifische Weise der Gotteserkenntnis. Wenn der spiritus noster intellectualis seine Zielbestimmung verwirklichen will, dann darf sein Streben nicht an den erdenzeitlichen Schatten der sinnlich erfahrbaren Welt haften bleiben, dann darf er vielmehr sich deren nur vorübergehend zur Förderung seines vernunfthaften Strebens bedienen. In dieser Aussage wird nun mit der sinnlich erfahrbaren Welt jene neben dem menschlichen Selbst und der göttlichen Wahrheit noch fehlende dritte Dimension der Gesamtwirklichkeit in den Gedankengang integriert. Entscheidend ist, aus 197
De fll. 2: h IV, N. 60, Ζ. 1 - N . 61, Z. 14.
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welchem systematischen Sinnzusammenhang Cusanus hier seine Einsichten über die natürliche Weltwirklichkeit ableitet. Ausgangspunkt der Überlegungen war die Frage nach der Verwirklichung des dem Menschen wesenseigenen Vernunftpotentials. Dabei ergab sich, dass der menschliche Intellekt aufgrund seiner natürlichen Ausrichtung auf die ewige Wahrheit nur in der Gotteserkenntnis seine Vollendung finden kann. Wenn Cusanus nun in der Beschreibung der dabei anzuwendenden Methode die sinnenfallige Welt als philosophischen Begriff einführt, so versteht er sie aus ihrer Bedeutung innerhalb des mit dem Gottesbezug koinzidierenden Prozesses menschlicher Selbstverwirklichung. Offenbar ist es für den Menschen notwendig, sich auf seinem Weg zur Gottesschau in ein Verhältnis zur Welt zu setzen, das Cusanus in der zuletzt zitierten Aussage näher bestimmt. Auch hier findet diese Verwiesenheit auf die Welt ihren tieferen Grund darin, dass der menschliche Intellekt infolge seiner kreatürlichen Endlichkeit die geistige Wahrheit Gottes nicht unmittelbar, sondern nur in sinnenfälliger Vermittlungsgestalt berühren kann. Dem Verständnis der Schöpfungswirklichkeit als Medium der Gottesschau entspricht nun auch die von Cusanus im zitierten Text als ideale Sollensgestalt vorgegebene Bestimmung des menschlichen Weltbezuges. Der erste Teil der diesbezüglichen Aussage, wonach das Streben des Menschen nicht an den erdenzeitlichen Schatten der sinnlich erfahrbaren Welt haften bleiben darf, klingt nur in einer oberflächlichen Lesart weltverneinend. Einem tieferen Verständnis offenbart er die Bedeutung, dass die Welt ihrer ursprünglichen Sinnbestimmung entsprechend gleichsam die Stufe ist, in deren Übersteigen der Mensch sein Erkenntnisziel erreichen kann. Diese Deutung bestätigt sich in der Fortsetzung des Textes. Wenn der Mensch sich vorübergehend zur Förderung seines vernunfthaften Strebens der sinnlich erfahrbaren Welt bedienen darf, so wird dieser damit ausdrücklich ein positiver Sinn und eine unentbehrliche Funktion im Prozess menschlicher Gotteserkenntnis zu-erkannt. Wie der Mensch die Vernunftmeisterschaft durch die sinnenfallige Vermittlungsgestalt der Welt erlernt, und welche innere Wesensbeschaffenheit die welthaften Sinnendinge aufweisen müssen, um dem Menschen die Erkenntnis der Wahrheit zu ermöglichen, verdeutlicht Cusanus in einem Gleichnis. Wenn er darin den Wissenserwerb der Kinder in der Schule als Analogie zum Selbstverwirklichungsprozess endlicher Intellektualität interpretiert, so kehrt er damit zu jenem konkreten Phänomen zurück, von dem her er zu Beginn des Gedankenganges das magisterium als die angestrebte Idealgestalt eines geschaffenen Geistes konzipiert hatte. Der Vergleich mit den lernenden Kindern findet darin seine tiefere Legitimation, dass der menschliche Intellekt nicht nur in seiner ontogenetischen Frühphase, sondern, seiner endlichen Wesensbestimmung entsprechend, ständig mit der Verwirklichung seines Erkenntnispotentials beschäftigt ist. Den
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Lernprozess der Kinder entdeckt Cusanus darin als sinnenfällig-konkrete (und somit auch erniedrigend eingeschränkte, ,verzerrte') Spiegelung der verborgenen Wesenswirklichkeit der menschlichen Geistnatur. Die ursprüngliche Wesensbestimmung der Schöpfungswirklichkeit und die dieser entsprechende Idealgestalt des menschlichen Weltbezuges sieht Cusanus in der Funktion von Rede und Schrift im Schulunterricht versinnbildlicht. Dabei geht er von der offenkundigsten Gemeinsamkeit aus, um zu immer verborgeneren Vergleichsmomenten vorzudringen. Unmittelbar einsichtig ist, dass die Schriftzeichen wie die gesamte Weltwirklichkeit ihrer Beschaffenheit nach stofflich (materiales) sind und der Mensch sich demnach in der Erkenntnisweise der sinnlichen Wahrnehmung darauf bezieht. Im Hinblick auf den evidenten Sinn der Stofflichkeit von Schrift und lauthafter Rede kann Cusanus jedoch die verborgene Bestimmung der materiellen Wirklichkeit in ihrer Gesamtheit ans Licht heben. Alles stoffhaft Gegebene muss als Zeichen (signum) verstanden und auf jene geistige Bedeutung (rationalis significatio) hin durchdrungen werden, die es bezeichnet. In Analogie zu den Schriftzeichen ist die ganze Schöpfung als die sinnenfällige Vermittlungsgestalt eines in sich rein geistigen Gehaltes zu begreifen. Warum die Wissensvermittlung eines zeichenhaften Bedeutungsträgers bedarf, wird in jener Aussage des Vergleichs deutlich, wo Cusanus den zielführenden Umgang mit Schrift und Rede im Schulunterricht beschreibt: Und die lautgebundenen Reden, durch die sie unterrichtet werden, lassen die Kinder nicht in ihrer bloßen Sinnenfälligkeit dienen, sondern in ihrem geistigen Sinn, so nämlich, dass sie durch die lauthaften Zeichen (signa) zum denkenden Geist des Lehrenden hindurchdringen. Die Zielsetzung des Unterrichtes ist es, den noch unkundigen Schülern jenes Wissen mitzuteilen, das im Intellekt des Lehrers bereits auf der Stufe voller Meisterschaft verwirklicht ist. Auf der Ebene des Vergleichs wird unmittelbar einsichtig, warum der Einsatz einer sinnenfälligen Vermittlungsgestalt sich gleichsam mit innerer Notwendigkeit aus den Gesetzmäßigkeiten des menschlichen Wissenserwerbs ergibt: Der Lehrer kann die intellektuelle Aufnahmekapazität seiner Schüler nicht unmittelbar erreichen, weil es der Natur des menschlichen Erkenntnisprozesses entspricht, geistige Gehalte allein über den Weg der Sinneserfahrung aufnehmen zu können. Wenn der Lehrer die Kinder auf die Höhe seiner Meisterschaft fuhren will, muss er ihnen sein Wissen durch lauthafte Zeichen mitteilen. Im richtigen Umgang der Schüler mit den sinnlich wahrnehmbaren Lehrmitteln von Sprache und Schrift spiegelt sich nun die Weise wider, wie der Mensch sich auf die als Bedeutungsträger verstandene Schöpfungswirklichkeit beziehen sollte. Indem Cusanus das Verhältnis des Lernenden zu den sinnenfälligen Zeichen zweimal mit dem Wort sich bedienen (uti) beschreibt, definiert er es in einem präzisen Sinn: Es kommt darin zunächst zum Ausdruck, dass die Hinwendung zu
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den stofflichen Vermittlungsgestalten für die Erreichung des Lernzieles nicht nur nützlich und forderlich, sondern vielmehr unentbehrlich ist. In der Rede vom Sich-Bedienen wird der Bezug zum Sinnlichen aber in einer Weise als notwendig affirmiert, durch die er zugleich relativiert wird: Alles, dessen man sich bedient, erfüllt seinen Sinn in der Funktion fur etwas Übergeordnetes. An der Bedeutung von Sprache und Schrift im Schulunterricht will Cusanus aufweisen, dass die sinnenfällige Weltwirklichkeit die Zweckbestimmung hat, dem Menschen die in ihrem Wesen rein geistige Wahrheit zu vermitteln. Die Notwendigkeit einer transsumptio des zeichenhaften Bedeutungsträgers kann er ebenso im Gleichnis einsichtig machen: Wer an der sinnenfalligen Oberfläche der Zeichen haften bleibt und sie nicht dazu benutzt, um durch sie zur geistigen Bedeutung sich zu erheben, wird weder der ursprünglichen Bestimmung der Sinnenwelt noch derjenigen der eigenen Vernunftnatur gerecht. Ihm ergeht es wie dem schlechten Schüler', der mit dem Verfehlen des Lernzieles auch die Höhe des Selbststandes der eigenen Vernunft nicht erreichen kann: Sollten aber einige sich mehr an jenen Zeichen ergötzen, so werden sie nicht zur Meisterschaft der Weisheitsliebe (magisterium philosophiae) hindurchdringen, sondern sie werden als Nichtswisser herabsinken zu bloßen Schreibern, Nachmalern, Vorsprechern, Wortsängern oder Aufspielern. Zusammenfassend lässt sich das gedankliche Ergebnis des Schulgleichnisses in drei auseinander ableitbaren Thesen formulieren: Die Sinnendinge sind zeichenhafte Bedeutungsträger eines geistigen Gehaltes; sie haben daher eine Funktion in der Erkenntnisvermittlung; der Mensch verhält sich richtig zur Welt, wenn er sich ihrer in diesem Sinne bedient. An einer späteren Stelle der Schrift ,De filiatione dei' vermittelt Cusanus den Ertrag dieses Gleichnisses auch in der Rede von der schola sensibilis mundi,'n in der die Lehre durch sinnenfällige Zeichen in den menschlichen Geist sich ergießt.199 In der Fortsetzung der zitierten Textpassage deutet Cusanus den Schulvergleich als Ermahnung an uns, die wir der Gotteskindschaft entgegenstreben. Damit gibt er zu verstehen, wie das Gleichnis und der darin vermittelte Gedanke eine tiefere Bedeutung im Glaubensgeschehen zwischen Gott und Mensch haben. Dieser Sinnzusammenhang besteht darin, dass die Erkenntnis der ewigen Wahrheit die Weise ist, wie der Mensch sich der Gegenwart des verborgenen Gottes vergewissert. In der philosophischen Reflexion auf die Methode menschlicher Wahrheitserkenntnis wird daher auf einer tieferen Bedeutungsebene aufgewiesen, wie der Mensch die im Glauben angenommene Offenbarkeit des göttlichen Geheimnisses wahrnimmt. 198 199
Deßl. 6: h IV, N. 85, Ζ. 1. Defll.4: h IV, N. 76, Z. 6-7.
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Dass die folgende Argumentation des zitierten Textes in ihrem verborgenen Motivationsgrund Philosophie der Offenbarung ist, lässt sich an zwei Aussagen aufweisen, die mit solcher Selbstverständlichkeit in den philosophischen Gedankengang integriert sind, dass ihre Herkunft aus den Glaubensvorgaben leicht übersehen werden kann: Als Grund für die spezifische Gestalt menschlicher Wahrheitserkenntnis benennt Cusanus die inflrmitas nostra. Damit bringt er jene Schwäche und Unzulänglichkeit zur Sprache, die dem Menschen aufgrund seiner kreatürlichen Endlichkeit zueigen sind. Aus diesem der Vorgabe des christlichen Glaubens entsprechenden Verständnis des Menschen zieht er aber eine philosophische Konsequenz. Er interpretiert es als den Grund dafür, dass dem menschlichen Intellekt die Erkenntnis der göttlichen Wahrheit nicht unmittelbar, sondern nur durch den Gebrauch sinnlich wahrnehmbarer Vermittlungsgestalten möglich ist. Das in dieser Einsicht implizierte Verständnis der welthaften Sinnendinge als Bedeutungsträger eines geistigen Gehaltes führt Cusanus jedoch auf eine Begründung zurück, die ihrerseits wiederum in einer Glaubensvorgabe wurzelt: Die sensibilia können uns deshalb die Erkenntnis der Wahrheit vermitteln, weil durch sie gleichsam der Lehrer der Wahrheit selbst zu uns spricht, und sie uns Bücher seien, die seines Geistes Ausdruck enthalten. In dieser Aussage werden die Weltdinge als die Weise verstanden, wie die göttliche Wahrheit sich selbst in materieller Gestalt mitteilt, um sich dadurch dem auf die Sinneswahrnehmung verwiesenen Menschen zu erkennen zu geben. Die sinnenfällige Schöpfungswirklichkeit wird somit als Teilmoment des Offenbarungsgeschehens begriffen. Die ursprüngliche Bestimmung der sensibilia als Offenbarkeitsweisen des göttlichen Geheimnisses vermittelt Cusanus in der Bezeichnung derselben als aenigmatica signa veri. Die offenbarungsphilosophische Begründung dieser paulinisch motivierten Redeweise war bereits Thema von in anderen Kontexten interpretierten Zusammenhängen. In den folgenden Überlegungen der zuletzt zitierten Passage aus ,De filiatione dei' geht es um die Ausarbeitung jener von den sinnenfälligen Aenigmata zur Gotteserkenntnis fuhrenden Methode, die in ,De docta ignorantia' als trassumptiva proportio eingeführt worden war. Dabei greift Cusanus wiederum auf Reflexionsmodelle aus der platonischen Tradition zurück und modifiziert diese aus dem Anspruch des eigenen offenbarungsphilosophischen Anliegens. Traditionell platonisch ist die Mahnung, nicht den Sinnendingen anzuhängen, sondern in dem Sinnenfälligen das geistig Einsichtige zu betrachten. Ebenso die Bestimmung des Erkenntnisprozesses als Aufstiegsbewegung, in der wir von den vergänglichen und flüchtigen zeitlichen Dingen, deren Sein in unbeständigem Flusse ist, emporklimmen zu dem Immerwährenden. In der Bemerkung, dass der Erkenntnisaufstieg gleichsam im Vergleichen von Verhältnislosem (improportio-
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nali comparatione) vollzogen wird, setzt Cusanus jedoch einen eigenen Akzent, der sich aus seinem spezifisch offenbarungsphilosophischen Verständnis der Sinnendinge als Aenigmata erklären lässt. Da in einem Rätselgleichnis der bezeichnete Gehalt in der Weise der Verborgenheit geoffenbart ist, erreicht die aenigmatische Methode ihr Erkenntnisziel nicht als letzte Stufe in einem linearen Aufstieg, sondern durch die Entdeckung der verhüllten Allgegenwart des geistigen Geheimnisses Gottes im sinnenfallig Offenkundigen der Welt. Wenn die Wahrheit damit zur rätselhaften Wirklichkeit nicht in einem Verhältnis steht, das demjenigen der verschiedenen Rätselgleichnisse untereinander ähnlich ist, bleibt sie jedem vergleichenden Erkenntniszugang entzogen. Die aenigmatische Erkenntnismethode der transsumptiva proportio aus ,De docta ignorantia' wird in der improportionalis comparitio der aenigmatica signa veri aus ,De filiatione dei' in einer Weise vertieft, die der Einsicht in die absolute Disproportionalität .zwischen' dem göttlichen Geheimnis und seinen sinnenfälligen Offenbarungen entspricht. 3.1.11.4 „ aenigmatum nullus est finis " Die in der Bestimmung der aenigmatischen Erkenntnismethode als improportionalis comparitio eingelöste Einsicht, dass die göttliche Wahrheit nicht das verhältnishaft abgrenzbare Ziel eines Aufstieges über eine lineare Reihe von Rätselstufen ist, wird von Cusanus in seinen späteren Schriften wörtlich affirmiert und vertieft begründet. In ,De possest' erklärt er seine Auffassung, der Rätselgleichnisse gebe es kein Ende (aenigmatum nullus est finis), mit dem Verweis darauf, dass keines so nahe zutrifft, dass es nicht immer ein noch näheres geben könnte.100 Die Konsequenzen aus diesem Gedanken, wonach die Wahrheit im Gleichnis immer nur mehr oder weniger, nie aber vollkommen darstellbar ist, zieht Cusanus in einer längeren Textpassage aus ,De beryllo', und zwar sowohl in bezug auf das Verständnis der aenigmatischen Wirklichkeit wie auch im Hinblick auf die dementsprechende Erkenntnismethode. Was letztere betrifft, so präzisiert er dabei sein Verständnis der improportionalis comparitio, indem er deren Zusammenhang mit der bereits in ,De docta ignorantia' als Entsprechung zum zugrundeliegenden Gedanken der Disproportionalität konzipierten Koinzidenzmethode aufweist: Sehr mannigfache Rätselbilder (aenigmata) bieten die Heiligen und Philosophen. Im Buch ,Über den Staat' nimmt Plato die Sonne, achtet auf ihre Wirkkraft im Sinnenfälligen und erhebt sich von ihrer Gleichförmigkeit (mit dem Ursprung) zum Licht der Einsicht der Schöpfervernunft. Ihn ahmt der große Dionysius nach. Denn dieses Rätselbild ist sehr beliebt wegen der Gleichförmigkeit des sinnenfalligen und des intelligiblen
200
Deposs.: h XI/2; N. 58, Z. 2-3.
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Lichtes. Albertus nimmt das Rätselbild der Geradheit. [...] Auch die Wärme stellt er sich (gleichnishaft) als uneingeschränkt vor, und wie alles Warme an ihrer Ähnlichkeit teilhat und ihr Sein von jener hat, so bildet er einen Begriff von der Schöpfervernunft und den Geschöpfen. Zahllose Beispiele von Weisen kann man ersinnen, viele andere habe ich in der .Belehrten Unwissenheit' und in anderen Büchlein geboten. Aber keine Weise kann die Genauigkeit berühren, da die göttliche Weise über jeder Weise ist. Und wenn du das Augenglas anlegst, und durch die zugleich größte und kleinste Weise den Ursprung jeder Weise siehst, in dem alle Weisen eingefaltet werden und den alle Weisen nicht entfalten können, dann wirst du bezüglich der göttlichen Weise eine wahrere Betrachtung (speculationem) vornehmen können.201
An dieser Textpassage kann Schritt für Schritt aufgezeigt werden, wie Cusanus im Kontext seiner Reflexion auf das Offenbarungsgeschehen den paulinischen Begriff des Aenigmas spekulativ expliziert und dabei die zu diesem Zweck aus der philosophischen Tradition rezipierte Vermittlungsgestalt innerlich von der Glaubensvorgabe her verändert. Als die sehr mannigfachen Rätselbilder, die die Heiligen und Philosophen bieten, interpretiert Cusanus die in der Tradition platonischen Philosophierens formulierten Bild-Gleichnisse. Dabei analysiert er sie im Hinblick auf Voraussetzungen und Methode der spezifisch platonischen Wahrheitsschau im Gleichnis, um diese sodann unter dem Anspruch des im eigenen Verständnis zu Denkenden modifizieren zu können. Bereits anhand des ersten großen Gleichniszusammenhanges am Ursprung dieser Traditionslinie, dem Sonnengleichnis Piatons, macht er die Grundstruktur dieser Weise des Philosophierens deutlich. Die Möglichkeit einer Wahrheitserkenntnis im Mittel des Gleichnisses gründet ontologisch in der Annahme einer Gleichförmigkeit (conformitas) des Gleichnisbildes mit der in ihm dargestellten Wahrheit. Methodisch besteht sie in der Erkenntnisbewegung des Aufstieges (elevatio) vom sinnenfälligen Phänomen zu seinem intelligiblen Urbild. Letzteres wird dabei durch ein vergleichendes Ins-Verhältnis-Setzen (proportio, comparitio) im Denken berührt. Bereits darin geht Cusanus aber über platonische Vorbilder hinaus, dass er Gleichnisse verschiedenster Provenienz sammelt und in einer positiven Wertung ihre Mannigfaltigkeit betont. Diese Vorgehensweise hat einen philosophischen Sinn, der auf verschiedenen Ebenen deutlich gemacht werden kann. In der Aneinanderreihung der von Cusanus angeführten Beispiele lässt sich eine verborgene Ordnung erkennen, die von zwei Prinzipien her gestaltet worden sein könnte. Zunächst folgen sie aufeinander entsprechend dem chronologischen Verhältnis ihrer Autoren. Diese Nachzeichnung der Entwicklung der Gleichnisspekulation von ihren Ursprüngen bei Piaton über Dionysius und Albert bis zu den eigenen 201
De beryl. 19: h 2XI/1, N. 27, Z. 1-19.
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diesbezüglichen Beiträgen des Cusanus könnte als Rückbesinnung auf die historischen Wurzeln und die lange Tradition der in der Rückinterpretation der Offenbarung angewandten philosophischen Methode gedeutet werden. Im Hinblick auf die inhaltliche Bestimmung der Beispielreihe ist es sodann aber auffallig, dass die Gleichnisse von der Sonne über die gerade Linie bis zur Wärme in ihrer Aufeinanderfolge einen Fortschritt von manifest-konkreten zu immer schwieriger greifbaren, abstrakteren Phänomenen darstellen. In diesem zweiten möglichen Gliederungsprinzip könnte sich jener Gedanke darstellen, von dem die spezifisch cusanische Fortentwicklung der platonischen Gleichnismethode ihren Ausgang nimmt. Cusanus entfaltet gleichsam die Vorgabe der Tradition von ihren eigenen Voraussetzungen her weiter, indem er eines ihrer Bestimmungsmomente in einem umfassenderen Sinn versteht. Das bereits an Piatons Sonnengleichnis konstatierte Erkenntnisprinzip des Aufstieges von der sinnenfalligen Vermittlungsgestalt zu ihrem geistigen Prinzip wird von Cusanus nicht nur innerhalb eines Gleichniszusammenhanges angewandt, sondern auf das Zuordnungsverhältnis einer Mannigfaltigkeit von Gleichnissen ausgedehnt. Dies hat für die konkrete Durchführung der Gleichnisspekulation zur Folge, dass der Erkenntnisprozess sich nicht mehr auf nur ein Gleichnisbild beschränken darf, sondern über eine Vielzahl sinnenfälliger Darstellungsgestalten zur Intelligibilität der Wahrheit aufsteigen muss. Dabei bilden die verschiedenen Gleichnisse insofern die zu übersteigenden Stufen, als sie das rein geistige Wesen der Wahrheit in verschiedenen Intensitätsgraden abbilden. Mit der Abnahme der fortwährenden Unstetigkeit infolge der in ihnen liegenden materiebedingten Möglichkeit 202 gewinnen die Bilder stufenweise an Genauigkeit. Von daher wird einsichtig, warum für Cusanus die mathematischgeometrischen Gegenstände die hervorragendsten unter den zur Weisheit führenden Spuren sind:203 Weil gegenüber der Betrachtung, die von sinnlich wahrnehmbaren Gegenständen ausgeht, wir die abstrakteren Gegenstände wie die mathematischen als unwandelbar und für uns gewiss finden, ist keiner von den alten Denkern, der als großer gilt, schwierige Dinge mit anderem Vergleichsmaterial als mit dem mathematischen angegangen.104 Die zahlreichen fachmathematischen Überlegungen des Cusanus205 haben ihre Funktion innerhalb des symbolischen Erkenntnisaufstieges und finden mit diesem ihren tieferen Sinn in den Vermittlungsstrukturen des Offenbarungsgeschehens. 202
De docta ign. I, 11: h I, S. 22, Z. 20-21 (N .31, Z. 4-6). De mente 6: h 2 V, N. 94, Z. 15f. 204 De docta ign. I, 11: h I, S. 22, Z. 21 - S. 23, Z. 4 (N. 31, Z. 6-14). 203 Ganze 11 Traktate sind ediert in: NIKOLAUS VON KUES, Die mathematischen Schriften, hg. von Josepha und Joseph Ehrenfried Hofmann: N v K d Ü H. 11; Philosophische Bibliothek Meiner 231 (Hamburg 2 1979). 203
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Gerade an dem breiten Raum, den die mathematischen Forschungen bei Cusanus einnehmen, kommt aber noch eine andere, tiefere Sinndimension der Gleichnismannigfaltigkeit zum Ausdruck. Hier wird deutlich, dass sich die Vielzahl sinnenfälliger Vermittlungsfiguren nicht nur über die Stufenleiter der die Wahrheit in verschiedenen Intensitätsgraden abbildenden Gleichnisarten findet, sondern auch innerhalb ein und derselben Darstellungskategorie fortgesetzt wird. Darin zeigt sich jenes Bestimmungsmoment der Gleichnisspekulation, das Cusanus in seiner Vertiefung der platonischen Vorgabe entdeckt hat: Die Vergegenwärtigung der Wahrheit im Sinnenbild ist grundsätzlich unabschließbar. Aus dieser Wesenseigenschaft der Gleichnismethode lassen sich nun Rückschlüsse sowohl auf den darauf verwiesenen Erkenntnisprozess wie auch auf die darin vermittelte Wahrheit ziehen. Für die über die Ähnlichkeitsbilder fortschreitende Erkenntnisbewegung bedeutet die Unabschließbarkeit ihrer Aufstiegsstufen, dass sie letztlich nie an ihr Ziel gelangen kann. Erstaunlicherweise wird aber nach cusanischem Verständnis die Unerreichbarkeit seines Erkenntniszieles für das menschliche Denken keineswegs zum Grund von Stagnation und Resignation, sondern vielmehr zur Quelle der unaufhörlich freudvollen Verwirklichung einer potentiell unendlichen Kapazität an Lebensbewegungen.206 Die Kenntnisnahme der Mannigfaltigkeit von bereits in der Tradition formulierten Gleichnisbildern und deren Erweiterung in den eigenen Spekulationen geschieht bei Cusanus aus Freude an der Vergegenwärtigung der dem menschlichen Geist eigenen Unendlichkeits-Kapazität. Im transsumptiven Über-Blick über die zahllosen Weisen (von Beispielen), die man ersinnen kann, und die vielen anderen, die Cusanus selbst in der , Belehrten Unwissenheit ' und in anderen Büchlein geboten hat, verwirklicht und erkennt sich das endliche Erkenntnisvermögen des Menschen als unendliche Transzendenzbewegung. Welche Konsequenzen sich aus der Einsicht in die prinzipielle Unabschließbarkeit der Gleichnisspekulation für das Verständnis der darin vermittelten Wahrheit ergeben, wird deutlich, wenn man nach dem tieferen Grund für die Bestimmung des menschlichen Erkenntnisprozesses als unendliche Transzendenzbewegung fragt. Zum eigenen Unendlichkeitspotential hat sich der Mensch keineswegs selbst ermächtigt, denn dieses ergibt sich vielmehr als Folge aus der kreatürlichen Endlichkeit seiner Geistbegabung. Letztere zeigt sich darin, dass sein Erkenntnisziel die Möglichkeiten des Menschen unendlich transzendiert. Die Transzendenz der göttlichen Wahrheit hatte Cusanus bereits in ,De filiatione dei' als die Ursa206
Vgl. dazu die Abschnitte ,Das unendliche Ziel' sowie ,Die unendliche Freude der Spekulation' in: M. THURNER, Theologische Unendlichkeitsspekulation als endlicher Weltentwurf. Der menschliche Selbstvollzug im Aenigma des Globusspiels bei Nikolaus von Kues.
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183
che dafür benannt, warum der endliche Geist in seinem natürlichen Streben nach der Gotteserkenntnis nicht über die konjekturale Gleichnisspekulation hinauskommt: Wohl erwartest du nicht, dass das, was allen Geist überragt, in genügender Weise ausgedrückt werden könne, zumal da wir, die wir uns mit Konjekturen beschäftigen müssen, die Weisen der Aenigmata nicht zu übersteigen vermögen.207
Im hier zu interpretierenden Text aus ,De beryllo' erweist Cusanus die unendliche Transzendenz des menschlichen Erkenntniszieles schließlich auch als den Grund fur die grundsätzliche Unabschließbarkeit von dessen gleichnishaften Vermittlungsgestalten: Aber keine Weise [der zahllosen Beispiele] kann die Genauigkeit berühren, da die göttliche Weise über jeder Weise ist. Wenn die potentielle Unendlichkeit von Gleichnisbildern in der unendlichen Transzendenz der göttlichen Wahrheit ihren Grund findet, kann sie schließlich als Folge der aktualen Unendlichkeit Gottes erwiesen werden. Die positive Wertung der Gleichnismannigfaltigkeit bei Cusanus kulminiert in der Einsicht, dass darin nicht nur die potentielle Unendlichkeit des menschlichen Erkenntnisstrebens, sondern auch deren Grund, nämlich die aktuale Unendlichkeit Gottes, sich spiegelt. Weil die große Verschiedenheit die Unvervielfältigbarkeit besser ausdrückt, wird die nicht zu vervielfältigende Unendlichkeit in der mannigfaltigen Aufnahme besser entfaltet.™ Paradoxerweise wird so in der Unabschließbarkeit ihrer gleichnishaften Vermittlungsgestalten die undarstellbare Unendlichkeit selbst in ihrem Wesen offenbar. Mit der Einsicht in die Unendlichkeit ihres Zieles ist nun zugleich der Grund dafür gefunden, warum Cusanus die traditionell platonische Prägung der Gleichnismethode modifizieren muss. Unter ihren bisherigen Voraussetzungen gelangt sie nicht an ihr unendliches Ziel, weil das unendliche Urbild von seiner Wesensbestimmung her nicht der Schlusspunkt einer durch die stufenweise comparitio von Gleichförmigkeiten zu übersteigenden linearen Reihe von Gleichnisbildern sein kann. Eine unendliche Transzendenz vermag ein derartiger Aufstieg nicht zu berühren, weil die Unendlichkeit zu den Gleichnisbildern nicht in einem derartigen Verhältnis steht, wie diese untereinander. Da sie vielmehr in allen mehr oder weniger, nie aber in vollkommener Genauigkeit erreicht wird, steht sie zu keinem in einem abgrenzbaren Verhältnis. Aus der Einsicht in die Verhältnislosigkeit (Disproportionalität) der Wahrheit zu ihren gleichnishaften Vermittlungsgestalten muss Cusanus die platonische Vorgabe in seiner Methode der improportionalis comparitio vertiefen.
207 208
De fil. 2: h IV, N. 55, Z. 3-6. De sap. I: h 2 V, N. 25, Z. 10-12.
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Diese neue und spezifisch cusanische Methode der Gleichnisspekulation wird am Schluss des zitierten Textes aus ,De beryllo' in einer Weise beschrieben, durch die zugleich ihre gedanklichen Voraussetzungen angedeutet werden: Und wenn du das Augenglas anlegst, und durch die zugleich größte und kleinste Weise den Ursprung jeder Weise siehst, in dem alle Weisen eingefaltet werden und den alle Weisen nicht entfalten können, dann wirst du bezüglich der göttlichen Weise eine wahrere Betrachtung (speculationem) vornehmen können.
In der Konzeption einer der improportionabilitas der göttlichen Wahrheit entsprechenden Methode der Gleichnisschau greift Cusanus auf den in seinem ersten philosophischen Hauptwerk ,De docta ignorantia' grundgelegten Koinzidenzgedanken zurück. Die Bestimmung Gottes als Zusammenfall der Gegensätze ergibt sich dort aus der Einsicht, dass die göttliche Unendlichkeit nicht wie alle endlichen Seienden unter die Verhältnishaftigkeit des ,mehr' (magis) oder .weniger' {minus) fällt, sondern als das Größte (maximum) zugleich auch das Kleinste (minimum) in sich verwirklicht.209 Im Begriff der Koinzidenz konzipiert Cusanus den philosophischen Grund-Gedanken des letzten Grundes der Wirklichkeit auf eine Weise, in der er dessen Über-Allem-Sein zugleich mit seinem In-Allem-Sein denken kann: Als das Maximum hebt Gott in sich alle Seienden in der Weise der Einfaltung (complicatio) umfassend auf; als das Minimum ist er in allen aus ihm in der Weise der Ausfaltung (explicatio) hervorgegangenen Dingen zuinnerst gegenwärtig. Damit eröffnet der Koinzidenzgedanke die Möglichkeit, die Welt als mit Gott identisch und von ihm different zugleich zu begreifen: Weder kann die göttliche Unendlichkeit von einem endlichen Seienden abgegrenzt werden, noch erreicht je ein endliches Seiendes die umfassende Seinsfülle des Unendlichen. Gott ist so in der Koinzidenz aller welthaften Differenzverhältnisse als die absolute Wirklichkeit ihrer maximalen und minimalen Möglichkeiten auf nichtbegreifende Weise begreifbar. In der zitierten Passage aus ,De beryllo' erscheint der Koinzidenzgedanke nun in einem Verständnis und einem Kontext, die sich in ,De docta ignorantia' so explizit noch nicht finden. Die naheliegende Erklärung, nach der es sich dabei um eine Weiterentwicklung handelt, soll hier in der These vertieft werden, dass es Cusanus in dieser Weiterentwicklung gelingt, die ursprüngliche Intention der Koinzidenzidee gedanklich zu vermitteln. Die neue, in Richtung auf ihre ursprüngliche Bestimmung hin vertiefte Sinngebung der Koinzidenz ist der bereits in ihrem Titel ,De beryllo' zum Ausdruck kommende Grundgedanke der gesamten Schrift. Wenn Cusanus hier die ,Brille', durch deren konkav-maximale und
209
Vgl. vor allem De docta igrt. I, 4 (,Maximum absolutum incomprehensibiliter intelligitur; cum quo minimum coincidit'): h I, S. 10, Ζ. 1 - S. 11, Z. 22 (N. 11-12).
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konvex-minimale Form man zuvor Unsichtbares berührt,2'0 als aenigmatisches Sinn-Bild für die Koinzidenz enträtselt, so geht daraus hervor, dass er diese damit ausdrücklich als Erkenntnismethode versteht. Das Zusammenfallenlassen gegensätzlicher Differenzierungen erweist sich so nicht primär als eine Wesensbestimmung Gottes, denn dieser wohnt - wie Cusanus es im Bild von ,De visione dei' vermittelt — jenseits der Mauer des Zusammenfalls der Gegensätze.2" Der Koinzidenzgedanke ist vielmehr das Ergebnis der philosophischen (Selbst-)Reflexion auf die Weise, wie der endliche Intellekt einen dem unendlichen Wesen Gottes möglichst angemessenen Begriff bilden kann. Das in der gesamten Schrift ,De beryllo' grundgelegte und entfaltete Verständnis der Koinzidenz als Methode menschlicher Gotteserkenntnis wird in der hier zu interpretierenden Textpassage aus Kapitel 19 nun in einen Kontext integriert, mit dem zugleich der tiefere Grund dafür angegeben ist, warum das Zusammenfallenlassen welthafter Differenzverhältnisse als die dem Menschen mögliche Weise der Gottesschau zu bestimmen ist. Die Koinzidenzbrille (oculare) wird hier als das Medium angesetzt, mit Hilfe dessen der Mensch in den gleichnishaften Sinnenbildern deren geistiges Urbild ersehen kann. Die Notwendigkeit des Rückgriffs auf die Koinzidenzmethode ergibt sich im vorliegenden Kontext aus der spezifisch cusanischen Weiterentwicklung der platonischen Gleichnisspekulation. Wenn das unendliche Urbild nur in einer potentiell unendlichen Reihe von Gleichnisbildern spekuliert werden kann, in denen es stets nur mehr oder weniger, nie aber in genauer Gleichheit vergegenwärtigt ist, erreicht das Denken sein Erkenntnisziel nicht im linearen Aufstieg über Vergleichsverhältnisse. Das unendliche Urbild wird vielmehr erkannt, wenn das Denken zu der Einsicht gelangt, dass dieses aufgrund seiner Verhältnislosigkeit zu allem verhältnishaft Begrenzten zugleich über und in allem ist. Der dahin fuhrende Erkenntnisweg besteht deshalb in der Koinzidenzmethode, weil dabei die Gleichnisreihe nicht in ihren größeren oder kleineren Möglichkeiten fortgesetzt, sondern auf ihre maximale und minimale Wirklichkeit zurückgeführt werden muss. Was mittels des Koinzidenzberylls durch die zugleich größte und kleinste Weise (von Gleichnisbildern) gesehen wird, bestimmt Cusanus im zitierten Text als den Ursprung jeder Weise, in dem alle Weisen eingefaltet werden und den alle Weisen nicht entfalten können. Das Zusammenfallenlassen von Größtheit und Kleinstheit erweist sich darin als die Methode der Erkenntnis eines unendlichen Grundes in seinen endlichen Vermittlungsgestalten. Im Hinblick auf die Maximität wird der Ursprung als die alles in sich umfassend aufhebende Einfaltung 210 211
Vgl. De beryl. 2: h 2 XI/1, N. 3, Z. 1-5. Vgl. De vis. 10: h VI, N. 42, Z. 6-9.
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Dimensionen der Offenbarkeit des Geheimnisses
gesehen, hinsichtlich der Minimität erscheint der unendliche Grund als in jeder seiner gleichnishaften Ausfaltungen zuinnerst gegenwärtig. Da das göttliche Urbild durch die Koinzidenzbrille in seiner verhältnislosen Gegenwart im welthaften Sinnenbild wahrgenommen werden kann, ist die Koinzidenz die Methode jener improportionalis comparitio, die den transsumptiven Aufstieg in der Gleichnisspekulation ermöglicht. Durch die in ,De beryllo' vorgenommene Integration des in ,De docta ignorantia' grundgelegten Koinzidenzgedankens in den Kontext der Überlegungen zur gleichnisvermittelten Gotteserkenntnis wird zugleich dessen tiefere Sinnbestimmung deutlich. Die Koinzidenzmethode hat ihre ursprüngliche Funktion im Prozess der Rückinterpretation der welthaften Gleichnisbilder auf ihr göttliches Urbild. Ihre Entfaltung und Anwendung wird mit der Einsicht notwendig, dass der göttliche Ursprung sich zwar in sinnenfalliger Vermittlungsgestalt zeigt, im endlichen Gleichnis aber nie in einer seine Unendlichkeit erschöpfenden Weise dargestellt werden kann. Die Koinzidenz ist demnach die Methode einer Gleichnisspekulation, die sich der Gegenwart und Entzogenheit des unendlichen Grundes in seinem ,disproportionalen Verhältnis' zu seinen endlichen Repräsentationen zugleich bewusst ist. Die cusanischen Grund-Gedanken von Disproportionalität und Koinzidenz sowie die in deren Entfaltung vorgenommene Weiterentwicklung der platonischen Gleichnismethode lassen sich damit auf ihrer tiefsten Sinnebene als philosophische Konsequenzen aus der im Glauben angenommenen aenigmatischen Offenbarkeit des göttlichen Geheimnisses erweisen. 3.1.11.5 Die Offenbarung des bleibenden Geheimnisses als der Sinn des Aenigmas Indem Cusanus die platonische Tradition der Gleichnisspekulation in seine aenigmatische Methode der Gotteserkenntnis integriert, verleiht er ihr eine offenbarungsphilosophische Prägung. Aus der Intention heraus, das Aenigma als eine Weise der Offenbarkeit des göttlichen Geheimnisses zu denken, lassen sich auch die modifizierenden Akzentverlagerungen erklären, die Cusanus an der platonischen Vorgabe vornimmt. Im Unterschied zum Gleichnisbegriff geht aus demjenigen des Aenigmas hervor, dass es sich hierbei um die Offenbarkeitsweise eines darin verborgen bleibenden Geheimnisses handelt. Im Aenigma offenbart sich ein wesenhaftes Geheimnis als solches. Weil Cusanus die traditionelle Gleichnismethode innerhalb seines neuen Verständnisses der Weltwirklichkeit als aenigmatischer Offenbarkeitsdimension des göttlichen Geheimnisses adaptiert, bereichert er sie um den Aspekt der bleibenden Geheimnishaftigkeit des Geoffenbarten. Die Glaubenserfahrung Gottes als des offenbaren Geheimnisses ist der tiefste Motivationsgrund ftir den sehr scharfen Blick, mit dem der [menschliche] Intellekt
Die natürliche Weltwirklichkeit
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sieht, dass das Rätselgleichnis (aenigma) ein Rätselgleichnis der Wahrheit ist, so dass er weiß, dass dies die Wahrheit ist, die nicht in irgendeinem Rätselgleichnis darstellbar (figurabilis) ist.212 Die Einsicht in die bleibende Entzogenheit der im Gleichnis vermittelten Wahrheit hat nun auch Konsequenzen für das Selbstverständnis der durch die aenigmatische Methode gewonnenen Erkenntnis. Es handelt sich dabei um ein Wissen, das sich der grundsätzlichen Unerreichbarkeit seines Erkenntniszieles bewusst ist und wesenhaft eben diese Nicht-Wissbarkeit der göttlichen Wahrheit zum Inhalt hat. Das Bewusstsein für die auch in seinen aenigmatischen Offenbarungsaffirmationen bleibende Geheimnishaftigkeit Gottes ist der tiefste Grund fur das Selbstverständnis menschlicher Gotteserkenntnis als negativer Theologie: Nun kannst du zur Genüge hieraus sehen, welche Erkenntnis wir jetzt, da „wir durch einen Spiegel im Rätselbild sehen" (per speculum videmus in aenigmate), wie der Apostel sagt, von Gott haben können: durchaus keine andere als eine negative. 213
Im Hinblick auf diese Zusammenhänge kann nun der tiefere offenbarungsphilosophische Sinn eines weiteren cusanischen Grundbegriffes deutlich gemacht werden: Die für Cusanus spezifische Bestimmung der Hochform menschlicher (Gottes-)Erkenntnis als docta ignorantia ergibt sich aus der Reflexion auf die Eigenart des durch die aenigmatischen Selbstoffenbarungen des bleibenden Geheimnisses gewonnenen Wissens. In seinem gleichnamigen ersten philosophischen Hauptwerk bestimmt Cusanus denn auch die ,Bearbeitung' der Rätselgleichnisse ausdrücklich als die Erkenntnisquelle der docta ignorantia: Erst dann wird unsere Unwissenheit in einer nicht begreifenden Weise belehrt werden, in Rätselgleichnissen (aenigmate) sich mühend (laborans), über das Höchste in einer richtigeren und wahreren Weise zu denken. 214
In der neun Jahre später entstandenen .Apologie' zu derselben Schrift begründet er diesen Zusammenhang in der Disproportionalität der in den Aenigmata vermittelten Wahrheit, also der bleibenden Geheimnishaftigkeit des darin Geoffenbarten: Alle Gleichnisse, die die Heiligen und auch der göttlichste Dionysius ansetzen, sind gänzlich unverhältnishaft (improportionales) und für alle, die die belehrte Unwissenheit nicht haben - die Wissenschaft davon nämlich, dass sie völlig unverhältnishaft sind - , eher unnützlich als nützlich. 215
212 213 214 215
De beryl. 7: h XI/1, N. 7, Ζ. 11-13. De beryl. 14: h XI/1, Ν. 15, Ζ. 1-3. De docta ign. I, 12: h I, S. 24, Z. 23-25 (N. 33, Z. 15-18). Apol. : h II, S. 24, Z. 19-22.
188
Dimensionen der Offenbarkeit des Geheimnisses
Mit der Einsicht, dass die Aenigmata ihre Sinnbestimmung in der Vermittlung einer docta ignorantia haben, kann Cusanus schließlich auch vor den Gefahren eines falschen Umganges mit der aenigmatischen Wirklichkeit warnen. Der Bezug auf die Aenigmata ist dann auf die docta ignorantia hin finalisiert, wenn diese als Offenbarungen eines darin verborgen bleibenden Geheimnisses erkannt werden. Dieses Ziel kann auf zwei Stufen verfehlt werden. Gänzlich unnützlich sind für den Menschen die Aenigmata, wenn er bei deren sinnenfällig-welthafter Gestalt stehenbleibt, sie nicht als Offenbarungsmedien erkennt und so auch nicht auf den darin sich zeigenden göttlichen Geist hin transzendiert. Eher unnützlich als nützlich sind die Aenigmata für den Menschen, wenn er die Disproportionalität der dadurch vermittelten Wahrheit, also die bleibende Geheimnishaftigkeit des darin sich offenbarenden Gottes, nicht wahrnimmt. Ohne die transsumptive Erkenntnisbewegung von der sinnenfälligen Gestalt zu ihrem geistigen Gehalt und das Bewusstsein für die dissimilitudo jeder similitudo wird die Zuwendung zur aenigmatischen Weltwirklichkeit tatsächlich zum Götzendienst. Rückblickend lässt sich zusammenfassen, dass der tiefere Sinn dqr cusanischen Bestimmung der Weltwirklichkeit als Aenigma der Gottesschau und das dementsprechende Selbstverständnis der Philosophie als aenigmatica scientia nur erschlossen werden kann, wenn man sie als philosophische Vermittlungsformen der Glaubenserfahrung Gottes als des offenbaren Geheimnisses deutet. Die Welt ist deshalb als Rätselgleichnis bestimmt, weil in ihr ein bleibendes Geheimnis verborgen offenbar wird. Weil die im Begründungsregress des Denkens auf ihr geistiges Prinzip zurückzuführende sinnenfallige Welt die Offenbarkeit des göttlichen Geheimnisses ist, versteht sich die Philosophie als Rätselraten. Sie vollzieht sich als aenigmatica scientia, wenn sie im rationalen Begründungsregress die sinnenfällig offenbare Wirklichkeit der Welt gleich einem Rätsel entschlüsselt, indem sie das darin disproportional verborgene Geheimnis des göttlichen Geistes entdeckt. Im Begriff des Aenigmas und der aenigmatica scientia bestimmt Cusanus die Wirklichkeit der Welt und das darauf bezogene Denken des Menschen aus ihrer Integration in die Glaubenserfahrung des Offenbarungsgeschehens.
Das geschenkte Erkenntnislicht
189
3.2 Das geschenkte Erkenntnislicht
3.2.1
Erkenntnislicht gleich Glaubenslicht?
In der Bestimmung der - nach der natürlichen Weltwirklichkeit - zweiten Dimension der Selbstoffenbarung des göttlichen Geheimnisses greift Cusanus auf eine philosophische Einsicht mit langer Tradition zurück, um diese dabei im Kontext seiner Philosophie der Offenbarung vertiefend weiterzuentfalten. 3.2.1.1
Der philosophiegeschichtliche
Hintergrund
Bereits Piaton vermittelt in seinem Sonnengleichnis' die Entdeckung, dass die fur menschliche Erkenntnis - wenn auch nach Piaton nur in der Weise des Anstoßes fur die Wiedererinnerung - notwendige Sinnlichkeit nicht allein in der Gegebenheit sinnenfalliger Erkenntnisobjekte bestehen kann. Warum die materielle Wirklichkeit eines Dinges für seine sinnliche Wahrnehmbarkeit keine allein zureichende Bedingung ist, kann beispielsweise in der Situation nächtlicher Dunkelheit unmittelbar nachvollzogen werden: Damit ein welthaft Seiendes gesehen werden kann, bedarf es noch des Lichtes, das die Dinge beleuchtet und somit für den Menschen überhaupt erst sichtbar erscheinen lässt. Aus der Einsicht heraus, dass den Dingen neben ihrem materiellen Sein auch ihre Erkennbarkeit mitgeteilt werden muss, begreift Piaton das ursächlich teilgebende Prinzip der Wirklichkeit als absoluten Wahrheitsgrund. In der christlichen Rezeption dieses Gedankens wurden bestimmte Elemente seines neuplatonischen Verständnisses weiterentwickelt.2 Bei Augustinus führt diese Synthese von (neu-)platonischem und christlichem Gedankengut zu folgenden Ergebnissen: Wahrheit und Licht werden zu hervorragenden Gottesprädikaten; bevorzugter Ort der Mitteilung des göttlichen Wahrheitslichtes ist das Innere der menschlichen Geistseele (homo interior)·, die Teilgabe am absoluten Wahrheitsgrund erfolgt durch erleuchtende Einstrahlung (illuminatio) der in ihrer Un-
' Politeia 506 b 2 - 5 0 9 b 10. Vgl. dazu: W. BEIERWALTES, Deus est Veritas. Zur Rezeption des griechischen Wahrheitsbegriffes in der frühchristlichen Theologie, in: Pietas. Festschrift für B. Kötting: Jahrbuch für Antike - n d Christentum, Erg.-Bd. 8 (1980) 15-29. 2
190
Dimensionen der Offenbarkeit des Geheimnisses
wandelbarkeit intelligiblen Wesensprinzipien.3 Für die weitere Entwicklung bis hin zu Cusanus ist noch entscheidend, wie Thomas von Aquin in seiner Konzeption des lumen mentis die augustinische Illuminationstheorie auf dem Hintergrund der aristotelischen Erkenntnislehre modifiziert: Das geistige Licht besteht nach Thomas in einem immer schon gegebenen Vor-Begriff von Sein (conceptio entis), der die in jedem Erkenntnisakt vorausgesetzten, mit den Seinsgesetzen übereinstimmenden, formalen Prinzipien (z.B. das Nichtwiderspruchsprinzip) beinhaltet {habitus principiorum).4 3.2.1.2
Die offenbarungsphilosophische
Vertiefung
Cusanus integriert die traditionelle Rede vom lumen intellectuale 5 in jenen Gedankengang aus dem 5. Kapitel von ,De dato patris luminum', der in der vorliegenden Untersuchung der Bestimmung der Offenbarkeitsdimensionen des göttlichen Geheimnisses zugrundegelegt wird. Wie bereits ausfuhrlicher dargelegt,6 bedenkt Cusanus hier die Vielzahl der Lichter, die von Gott her dem Menschen geschenkt werden, damit er das ihm mit seiner Intellektbegabung der Möglichkeit nach eingestiftete Ziel der Gotteserkenntnis auch verwirklichen kann. Die Lichtfülle, in der der unendliche Gott sich dem endlich bedingten menschlichen Intellekt zu erkennen gibt, manifestiert sich nach Cusanus zunächst in der Schöpfung der natürlichen Weltwirklichkeit; deren Bedeutung im Offenbarungsgeschehen wurde im letzten Abschnitt auf ihre Implikationen hin untersucht. Im Anschluss an die oben bis auf Piaton zurückgeführte philosophische Tradition ist sich Cusanus aber dessen bewusst, dass die Gegebenheit kreatürlicher Wirklichkeit trotz ihrer Materialität allein nicht ausreicht, damit der Mensch diese als die sinnenfällige Erscheinungsweise ihres göttlichen Ursprungs erkennen kann. Die von Gott her mitgeteilte Lichtfülle kann sich nicht in der Erschaffung materieller Dinge erschöpfen, sondern muss sich auch in einer Weise in den menschlichen Intellekt selbst ergießen, durch die es diesem möglich wird, die Sprache der kreatürlichen Selbstmanifestationen des göttlichen Schöpfungswortes als solche zu verstehen. In der Weise, wie Cusanus in diesem Kontext die subjektiv-apriorischen Ermöglichungsbedingungen des endlichen Erkenntnisvollzugs zur Sprache bringt, wird bereits deutlich, wie er das herkömmliche Verständnis vom geistigen Erkenntnislicht von der Zielsetzung des gesamten Gedankenganges her vertiefend modifiziert. Weil der gesamte Textzusammenhang einen vollständigen systemati3 4 5 6
Vgl. z.B. De vera religione 39 (CCSL 32, 234ff). Vgl. z.B. De veritate VIII 15; Summa theologiae I 79, 12; I/II 94, 2. De dato 5: h IV, N. 120, Z. 3. Vgl. Kap. 3.0 Der methodische
Ansatz.
Das geschenkte
Erkenntnislicht
191
sehen Aufweis der von Gott selbst her eröffneten Ermöglichungsbedingungen menschlicher Gotteserkenntnis intendiert, ist er das Kernstück der cusanischen Philosophie der Offenbarung. Indem Cusanus das lumen intellectuale systematisch als notwendige Voraussetzung der Gotteserkenntnis des endlichen Intellekts ableitet, entdeckt er, dass ihm eine tiefere Bedeutung in der Glaubenserfahrung des Offenbarungsgeschehens zukommt. Aus der Einsicht heraus, dass das geistige Erkenntnislicht selbst ein Teilmoment der vom Menschen im Glauben angenommenen Selbstoffenbarung Gottes ist, wird es von Cusanus im Bewusstsein von dessen Herkunft bereits als lumen fldei eingeführt und sodann im Hinblick auf dessen tiefere Bestimmung als lumen revelationis bezeichnet. Nachdem er an zahlreichen Beispielen dargelegt hat, wie der Mensch durch die Verschiedenheit der Geschöpfe so erleuchtet wird, dass er zum seinshaften Licht der Geschöpfe vordringt, fährt Cusanus fort: Es gibt auch andere Lichter, die durch göttliche Erleuchtung (illuminatio) eingegossen werden. Sie führen die vernunfthafte Möglichkeit zur Vollkommenheit; so das Licht des Glaubens (lumen fidei), durch das die Vernunft (intellectus) erleuchtet wird, so dass sie über den Verstand (super rationem) hinaus zum Erfassen der Wahrheit (ad apprehensionem veritatis) aufsteigt. Und weil sie durch dieses Licht dazu geführt wird, dass sie glaubt, die Wahrheit erreichen zu können - die sie auch mit dem Beistand des Verstandes, der gleichsam ihr Instrument ist, nicht zu erreichen vermag - und so ihre Schwachheit oder Blindheit, um derentwillen sie sich auf den Stab des Verstandes zu stützen pflegte, in einem ihr von Gott eingegebenen Versuch verlässt und im Wort des Glaubens gestärkt, allein gehen kann, wird sie in unbezweifelter Hoffnung, aus festem Glauben, das Versprochene zu erreichen, dazu gefuhrt, dass sie es im liebenden Lauf eilend erreicht. Und das ist die Erleuchtung des Apostels, der verkündet, dass der, welcher ohne Unterlass glaubt und bittet, die Weisheit erlangen wird (vgl. Jak 1, 5f; 5, 16). Unsere vernunfthafte Kraft besitzt die unsagbaren Reichtümer des Lichtes in der Möglichkeit. Aber da sie in der Möglichkeit sind, wissen wir so lange nicht, dass wir sie besitzen, bis sie uns durch das in Wirklichkeit bestehende, vemunfthafte Licht (lumen intellectuale) geoffenbart werden, und die Weise, sie in die Wirklichkeit zu überführen, gezeigt wird. So sind in dem kleinen Acker des Armen viele Reichtümer in der Möglichkeit, die er, wenn er weiß, dass sie dort sind, und sie in der entsprechenden Weise sucht, finden wird. Denn dort ist Wolle und Brot und Wein und Fleisch, und alles andere, das er wünscht und mit dem Auge nicht sieht. Der Verstand verleiht ihm das Licht der Offenbarung (lumen revelationis), so dass er weiß, dass sie dort sind, und dass er vom Schäfchen Wolle, von der Kuh Milch, vom Weinstock Wein und vom Getreide das Brot gewinnt. 7
7
De dato 5: h IV, Ν. 119, Ζ. 1 - N. 120, Z. 9.
192
Dimensionen der Offenbarkeit des Geheimnisses
3.2.1.3
Die Differenz zu bisherigen
Positionen
Wenn hier diese Textpassage in dem Sinne interpretiert wird, dass Cusanus darin das im natürlichen Vernunftvollzug des Menschen immer schon voraussetzungshaft gegebene geistige Erkenntnislicht als die zweite Dimension der im Glauben angenommenen Selbstoffenbarung des göttlichen Geheimnisses bestimmt, so entspricht diese Deutung keineswegs den wenigen bisherigen Bezugnahmen auf diesen Gedankengang in der Sekundärliteratur. Wohl mitbedingt durch einen entsprechenden Verweis in der kritischen Edition8 wurde die cusanische Rede vom lumen fidei nicht etwa aus dem systematischen Gesamtzusammenhang des Textes oder parallelen Verwendungen dieser Begriffe in anderen Kontexten bei Cusanus interpretiert, sondern in dem Sinne verstanden, wie sie bei Thomas von Aquin definiert wird. In seinen diesbezüglichen Überlegungen bestimmt Thomas von Aquin das Glaubenslicht in ausdrücklicher Absetzung vom geistigen Erkenntnislicht (intelligibile lumen). Letzteres versteht er in Übereinstimmung mit der philosophischen Tradition als hinreichende Bedingung dafür, dass der Intellekt die sinnenfällige Weltwirklichkeit begreifen kann. Die Zielbestimmung des lumen fidei hingegen bestehe nicht in der Ermöglichung dieses natürlichen Vernunftvollzuges, sondern in der Eröffnung eines Bereiches höherer Wahrheiten, welche die sirtnengebundene Vernunftnatur des Menschen übersteigen. Wenn Thomas das so verstandene Glaubenslicht auch als lumen prophetiae bezeichnet, so wird darin deutlich, dass er mit den dadurch vermittelten Wahrheiten jene Glaubensaussagen meint, die seiner Auffassung nach dem Menschen in einem über die Konstitution der natürlichen Vernunft hinausgehenden göttlichen Offenbarungsakt mitgeteilt werden müssen. Gerade im Hinblick darauf, dass das Glaubenslicht der menschlichen Vernunftnatur nicht schon innewohnt, sondern ihr - diese überhöhend - hinzugefügt wird, versteht Thomas das lumen fidei auch als das Licht der Gnade (lumen gratiae).9 8
Vgl. h IV, S. 85, Adn. zu De dato 5: Ν. 119, Z. 2: lumen fidei: cf. THOMAS S. theol. I II q.
109 a. I. 9
Vgl. Summa theologiae I/II 109, 1: Sic igitur intellectus humanus habet aliquam formam, scilicet ipsum intelligibile lumen, quod est de se sufficiens ad quaedam intelligibilia cognoscenda: ad ea scilicet in quorum notitiam per sensibilia possumus devenire. Altiora vero intelligibilia intellectus humanus cognoscere non potest nisi fortiori lumine perficiatur, sicut lumine fidei vel prophetiae; quod dicitur lumen gratiae, inquantum est naturae superadditum. Von dieser Thomas-Stelle her wird die cusanische Rede vom lumen fidei etwa gedeutet bei:
Das geschenkte
Erkenntnislicht
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Interpretationen, die diese thomasische Distinktion von Erkenntnis- und Glaubenslicht voraussetzen, können den cusanischen Text nur mit der Vorentscheidung lesen, dass hier ,jener Bereich" thematisiert werde, „der nicht mehr unmittelbar zur Erkenntnismetaphysik gehört". Cusanus „scheint sich hier ebenfalls auf eine übernatürliche, gnadenhafte Erleuchtung zu beziehen". Die dem Wortlaut des cusanischen Textes entsprechend durch das Glaubenslicht aktuierte intellektuelle Potenz wird dabei ebenfalls im thomasischen Sinne als eine Art Prädisposition auf das Übernatürliche hin gelesen: „Die besondere Aufgabe des Glaubenslichtes besteht darin, dass es die potentiellen Anlagen zum Verwirklichen der theologischen Tugenden in der Vernunft weckt und aktiviert." 10 Im Ergebnis dieser Deutung wird die gesamte diesbezügliche Position des Cusanus dann schließlich zu einer indirekten Affirmation des thomasischen Axioms „Fides (supponit et) perficit rationem bzw. intellectum" erklärt, das - „obwohl von Nikolaus von Kues nirgends so formuliert" - als „Leitprinzip" des cusanischen Denkens besonders stark wirksam sei." Auch in der hier vorgeschlagenen Interpretation wird die zitierte Thomas-Stelle als für das Verständnis des Cusanus-Textes aufschlussreich angesehen, aber in einer anderen Hinsicht. Der cusanische Gedanke kann erschlossen werden, wenn man ihn gerade nicht in Übereinstimmung, sondern im Hinblick auf seine Differenzen zur thomasischen Position interpretiert. Die von Thomas im Sinne einer hierarchischen Zuordnung vorgenommene Unterscheidung von Erkenntnis- und Glaubenslicht auch für Cusanus anzunehmen, verbietet bereits ein Blick auf die oberflächliche Struktur des Textes. Im Verlauf der Argumentation werden die Begriffe lumen fidei, lumen intellectuale und lumen revelationis nicht etwa gegeneinander abgegrenzt, sondern vielmehr synonym verwendet. Von allen drei Größen wird ausgesagt, dass sie dasselbe bewirken, nämlich die intellektuellen Potenzen des Menschen zu ihrer vollkommenen Verwirklichung führen. Wollte man die Passage im thomasischen Sinn interpretieren, so müsste man davon ausM. VON SPEE, „Donum Dei" bei Nikolaus von Kues. Zum Verständnis von Natur und Gnade nach den Schriften: De quaerendo Deum, De flliatione Dei und De dato Patris luminum, in: MFCG 22 (1995) 69-120, hier: 97ff. - M. L. FUEHRER, The Metaphysics of Light in the „De dato Patris luminum" of Nicholas of Cusa, in: International Studies in Philosophy 18 (1986), 17-32, hier: 26f. - Zur Unterscheidung von natürlichem Vernunftlicht und übernatürlichem Glaubenslicht bei Thomas vgl. neuerdings: M. GUMANN, Vom Ursprung der Erkenntnis des Menschen bei Thomas von Aquin. Konsequenzen für das Verhältnis von Philosophie und Theologie: EStNF XL (Regensburg 1999). 10
M. VON SPEE, a.a.O., 97f. " M. VON SPEE, a.a.O., 117f mit Bezug auf R. HAUBST, Theologie in der Philosophie Philosophie in der Theologie des Nikolaus von Kues, in: Ders., Streifzüge in die cusanische Theologie: BGC Sonderbeitrag 3 (Münster 1991), 43-75, hier: 70, Anm. 145.
194
Dimensionen der Offenbarkeit des Geheimnisses
gehen, dass Cusanus - ohne dies irgendwie anzudeuten - in ein und demselben Kontext zwei inhaltlich verschieden definierte Begriffe von intellektueller Potenz anwendet, von denen der eine auf die natürliche Erkenntnis, der andere auf die übernatürlichen Gnadengaben bezogen wäre. Naheliegender, als Cusanus damit indirekt Unfähigkeit zu begrifflicher Artikulation zu unterstellen, ist es, aus den cusanischen Texten selbst zu begründen, warum und in welchem Sinn Cusanus dem lumen fidei dieselbe Funktion wie dem lumen intellectus zuschreibt und inwieweit er demzufolge beide Begriffe synonym verwenden kann. 3.2.1.4
Die gemeinsame Systemstelle von lumen fidei, lumen revelationis und lumen intellectus
Ein erster Schritt in diese Richtung besteht in der Analyse der Systemstelle, die das lumen fidei im Argumentationszusammenhang der zitierten Aussagen einnimmt. Bereits im ersten Satz integriert Cusanus das Glaubenslicht in eine gedankliche Struktur, die in der Tradition platonischer Philosophie ihren Ursprung hat. Er greift jene bereits in ,De coniecturis' differenziert entfaltete Gliederung der Erkenntnisstufen auf, wie sie von Piaton in seinem Liniengleichnis12 grundgelegt wurde. Es handelt sich hierbei also um einen Kontext, der sowohl in seinen Parallelen aus anderen cusanischen Schriften,13 wie auch, was seine philosophiegeschichtliche Herkunft betrifft, eindeutig dem Bereich natürlicher Erkenntnismetaphysik' zuzuordnen ist. Gefragt wird stets nach der Begründungsstruktur der dem Menschen in seiner leibgeistigen Konstitution wesenseigenen (und in dem Sinn natürlichen') Erkenntnis. Allen Ausprägungen dieser Tradition ist der Grundgedanke gemeinsam, dass sich der menschliche Erkenntnisvollzug im Aufstieg über Sinnlichkeit (sensus), Verstand {ratio) und Vernunft (intellectus) verwirklicht. Dabei werden die von den Sinnen wahrgenommenen Außeneindrücke vom Verstand nach jenen Maßstäben auf den Begriff gebracht, die dem Menschen auf der Ebene der Vernunft innerlich immer schon gegeben sind. Da die Vernunftprinzipien aufgrund ihrer Unabhängigkeit von materiellen Einschränkungen vollkommen intelligibel sind und so die höchstmögliche Selbsttransparenz des Geistes verwirklichen, ist die Erkenntnisstufe des intellectus der eigentliche Ort jenes geistigen Selbstverhältnisses, welches der (in einem eminenten Sinn verstandene) Begriff der Wahrheit bezeichnet. 12
Politeia 509 c Iff. Vgl. dazu: K. KREMER, Die Einheit des menschlichen Geistes (der Seelej und die Vielheit seiner (ihrer) Kräfte bei Nikolaus von Kues, in: Die Einheit der Person. Beiträge zur Anthropologie des Mittelalters (Richard Heinzmann zum 65. Geburtstag), hg. von M. Thurner (Stuttgart-Berlin-Köln 1998) 357-372. - K. BORMANN, Die Koordinierung der Erlcenntnisstufen (descensus und ascensus) bei Nikolaus von Kues, in: MFCG 11 (1975) 62-85. 13
Das geschenkte
Erkenntnislicht
195
Der Eingangssatz des zitierten Textes thematisiert den Überstieg von der Stufe der ratio zu derjenigen des intellectus. Zunächst wird dessen Notwendigkeit bewusst gemacht: Der Verstand ist beim Erkenntnisprozess zwar ein Hilfsmittel und Instrument, kann aber nur das leisten, wozu ein Stab für einen blinden und schwachen Menschen dient. Er kann weder das Dunkel der Unerkennbarkeit erleuchten noch hat er erhebende Kraft. Durch dieses Gleichnis versinnbildlicht Cusanus die Unfähigkeit des menschlichen Verstandes, aus eigener Kraft in jene lichtvollere Erkenntnisregion aufzusteigen, in der das menschliche Vernunftpotential seine vollkommene Verwirklichung im Erfassen der Wahrheit erreicht. Dazu bedarf es vielmehr einer höheren Erleuchtung, die Cusanus in diesem Text als die Wirksamkeit des lumen fidei begreift. Weil es durch die Mitteilung der intelligiblen Wahrheitsprinzipien den natürlichen Erkenntnisvollzug des Menschen ermöglicht, nimmt das Glaubenslicht hier dieselbe Systemstelle ein wie das lumen intellectus der philosophischen Tradition. Diese im wahrsten Sinn des Wortes unerhörte Gleichsetzung gilt es gerade in ihrer Kühnheit als den originellen Gedanken des Cusanus zur Kenntnis zu nehmen und aus seinen weiteren diesbezüglichen Aussagen zu begründen. Der zitierte Text bietet dazu folgende Verständnishilfen: Cusanus deutet hier an, aufgrund welcher Bestimmungen er die Erleuchtung des Intellekts auf das Glaubenslicht zurückführt. Ein erster derartiger Hinweis liegt in der Aussage, dass der Mensch die Wahrheit nur erreicht, wenn er die Schwachheit des eigenen Verstandes verlässt, und durch einen ihm von Gott her eingegebenen Versuch über die eigene Blindheit hinausgeführt wird. Damit ist gesagt, dass der Mensch die Ermöglichungsbedingungen für die Verwirklichung des ihm wesenseigenen (natürlichen) Vernunftvollzuges nicht selbst hervorbringen kann, sondern gerade in einem Zurücklassen der eigenen Begrenztheit von Gott her empfangen muss. Darin liegt nun der tiefere Grund für die Notwendigkeit einer Erleuchtung des menschlichen Intellekts durch das Glaubenslicht. Weil menschliche Erkenntnis sich nur unter Voraussetzung der von Gott gegebenen Wahrheitsprinzipien verwirklichen kann, der Rückbezug auf die von Gott her eröffnete Wahrheitsmitteilung aber der Vollzug des Glaubens ist, wird das natürliche Erkenntnisstreben des Menschen im Grunde stets von einem Glaubensakt ermöglicht und getragen. Infolge der Einsicht, dass das natürliche Erkenntnislicht seiner Herkunft nach ein von Gott angenommenes Geschenk ist, kann es Cusanus in vertiefter Weise als das Licht des Glaubens begreifen.
196
Dimensionen der Offenbarkeit des Geheimnisses
3.2.1.5
Die erkenntnisbegründende
Bedeutung von Hoffnung und Liebe
Trifft diese Interpretation zu, so muss auch den von Cusanus gemäß biblischer Vorgabe14 mit dem Glauben zusammen genannten Vollzügen von Hoffnung und Liebe eine tiefere Bedeutung in der Ermöglichung des natürlichen Intellektvollzugs des Menschen zu-erkannt werden. Cusanus deutet diesbezüglich in der vorliegenden Textpassage nur kurz an, was er in anderen, später darzulegenden Zusammenhängen ausführlicher entfaltet.15 In der Aussage, wonach der Intellekt die Wahrheit in unbezweifelter Hoffnung, das Versprochene aus festem Glauben zu erreichen, in liebendem Lauf eilend erfasst, zeigt sich, dass Cusanus in seiner Rede von der Hoffnung die Unbezweifelbarkeit ihres Bezugsgrundes hervorhebt und die Liebe als Vollzugsweise und damit als Wesensbestimmung eben dieses Bezuges deutet. In diesem Verständnis lassen sich beide Größen sinnvoll in die Interpretation des Glaubens als Ermöglichungsbedingung des Erkennens integrieren: Die unbezweifelte Hoffnung erweist sich dabei als der in jedem Erkenntnisakt vorausgesetzte Rückbezug auf die Gewissheit der Wahrheitsprinzipien. Weil ihre Gewissheit die Begründungskraft des menschlichen Intellekts übersteigt (und sie auch in diesem Sinne nur ,geglaubt' werden können), kann sich der Mensch nur in hoffendem Vertrauen darauf beziehen. Doch nicht nur die gnoseologische Bestimmung des in unbezweifeltem Vertrauen Erhofften, auch die zeitlich-futurische Ausrichtung des Hoffens selbst hat auf der Ebene der Ermöglichungsbedingungen der endlichen Erkenntnis eine tiefere Bedeutung: Wenn Cusanus es auch als Wirkung des Glaubenslichtes bestimmt, dass der Intellekt dazu geführt wird, dass er glaubt, die Wahrheit berühren zu können, so bringt er damit zum Ausdruck, wie auch das hoffende Vertrauen auf die in einem zeitlichen Vollendungsprozess zu verwirklichende und darum zukünftige Erfüllung des eigenen Intellektpotentials dem Menschen in der im Glauben angenommenen, unbezweifelbaren Gewissheit der göttlichen Wahrheitsmitteilung ermöglicht wird. Aus dieser Einsicht lässt sich schließlich erklären, warum auch die Liebe eine die natürliche Erkenntnis des Menschen begründende Funktion hat: Weil der Mensch in jedem Erkenntnisakt das von Gott grundlos geschenkte Wahrheitslicht empfangt, ereignet sich im tiefsten Grunde des endlichen Intellektvollzuges ein Liebesgeschehen zwischen Gott und Mensch.
14 15
Vgl. 1 Kor 13, 13. Vgl. dazu unten Abschnitt 3.2.3.23.
Das geschenkte Erkenntnislicht 3.2.1.6
Das bittende Gebet als Voraussetzung des
197 Intellektvollzugs
Die folgende Aussage stellt, was die Struktur des Textes betrifft, eine Zäsur dar, weil Cusanus hier mit der Zitation eines Schriftwortes eine andere Ebene betritt. Während die vorhergehenden Sätze in ihrem rationalen Begründungsanspruch philosophisch argumentierten, rekurriert Cusanus jetzt auf die Autorität des Apostels. Doch bereits an der Formulierung wird die Weise deutlich, wie diese beiden Ebenen bei Cusanus aufeinander bezogen sind. In den Worten „ und das ist die Erleuchtung des Apostels " kommt zum Ausdruck, dass der vorhergehende philosophische Gedankengang als Auslegung des folgenden Schriftwortes konzipiert war. Hier wird an einem konkreten Beispiel das für Cusanus spezifische Prinzip der Schriftauslegung deutlich: Ähnlich wie etwa Anselm von Canterbury,16 interpretiert auch Cusanus die Schriftworte, indem er sie in rein rational argumentierenden, philosophischen Gedankengängen vernünftig begründet. Diese Vorgangsweise fuhrt dabei nicht zur Überfremdung der einen Ebene durch die andere, sondern vielmehr zu einer inneren Bereicherung: Die Schriftworte werden mit begrifflichen Inhalten gefüllt, die - weil aus der im griechischen Kulturbereich entstandenen Philosophie herkünftig - ihnen ursprünglich nicht zueigen waren. Aber auch das philosophische Denken wird dabei innerlich transformiert, weil es nunmehr eine andere Grunderfahrung, nämlich diejenige des biblisch-christlichen Glaubens, zu vermitteln hat. Auf diese Weise gibt Cusanus hier dem Apostelwort, wonach der, welcher ohne Unterlass glaubt und bittet, die Weisheit erlangen wird, einen philosophischen Sinn, mit dem er gleichwohl den Anspruch der in der Schriftaussage mitgeteilten Glaubenserfahrung einlöst. Wie aus den vorausgehenden Aussagen unmissverständlich hervorgeht, versteht er die biblische Rede von der Weisheit - über ihr ursprüngliches Bedeutungsfeld hinaus - ganz im Sinne des philosophischen Begriffs der Wahrheitserkenntnis. Gleichzeitig entdeckt er damit aber, dass die philosophische Wahrheitserkenntnis jene religiösen Grundvollzüge voraussetzt, die das Schriftwort als Bedingungen zum Erlangen der Weisheit benennt: Glauben und Bitten. Die Notwendigkeit des Bittens ergibt sich dabei aus der bereits aufgewiesenen Rückgründung des menschlichen Intellektvollzugs im Glaubensakt: Wenn der Mensch die im Erkenntnisprozess vorausgesetzten Wahrheitsprinzipien zwar zu seiner Selbstverwirklichung notwendigerweise braucht, nicht aber selbst hervorzubringen und zu begründen vermag, kann er sie nur von ihrem Ursprungsgrund her erbitten. Die bittende Öffnung für den Empfang der überhaupt erst Leben ermöglichenden göttlichen Gaben geschieht im Gebet, das Cusanus 16 Vgl. dazu: M. THURNER, Art. Anselm von Canterbury, Denker, hg. v. M. Vinzent (Stuttgart 2000).
in: Metzler Lexikon christlicher
198
Dimensionen der Offenbarkeit des Geheimnisses
zusammen mit dem Glauben als menschlichen Grundvollzug schlechthin aufweist, indem er es als Voraussetzung für den Empfang der den endlichen Erkenntnisprozess überhaupt erst ermöglichenden Wahrheitslichter begreift. 3.2.1.7
Die prinzipiellen Regeln der Erkenntnis als Inhalt des lumen revelationis
Im zweiten Teil des zitierten Textes wird nun näherhin expliziert, auf welche Weise das hier im Hinblick auf seine erkenntnisbegründende Wirksamkeit als lumen intellectuale bezeichnete lumen fidei die Verwirklichung des menschlichen Intellektpotentials ermöglicht. Die diesbezügliche theoretische Aussage versinnbildlicht Cusanus sodann in einem Gleichnis. An der offenkundigen Tatsache, dass der Mensch immer mehr erkennen könnte, als er tatsächlich erkennt,17 wird deutlich, wie der endliche Intellekt sich stets in der Seinsweise der Möglichkeit befindet. Die Möglichkeiten des Intellekts begreift Cusanus hier als einen inneren Reichtum, der aber so lange im Dunkel der menschlichen Unwissenheit verborgen bleibt, bis er durch das göttliche Glaubenslicht in die Wirklichkeit des Bewusstseins gehoben wird. Wenn dies geschieht, indem dem Intellekt die Weise gezeigt wird, seine Möglichkeiten in die Wirklichkeit hineinzuführen, so muss das Glaubenslicht die Mitteilung der apriorischen Strukturprinzipien des Erkenntnisvollzugs beinhalten. Genau dies verdeutlicht Cusanus in dem abschließenden Gleichnis. Hier vergleicht er das Intellektpotential mit einem unbearbeiteten Acker, dessen überlebensnotwendige Früchte (Brot, Wein, Fleisch, Wolle, Milch) dort noch in der Weise eines Reichtums vorhanden sind, der vom Bauern mit dem bloßen Auge nicht gesehen werden kann. Um sie für sich zu gewinnen, muss der Bauer wissen, dass sie dort sind und er sie finden wird, wenn er sie in der entsprechenden Weise sucht. Wenn Cusanus diese nötigen Kenntnisse, um vom Schäfchen Wolle, von der Kuh Milch, vom Weinstock Wein und vom Getreide das Brot zu gewinnen, auf die Einstrahlung eines im Verstand wirkenden Offenbarungslichtes (lumen revelationis) zurückführt, so gibt er damit zu verstehen, dass die im Glauben empfangene göttliche Wahrheitsmitteilung die prinzipiellen Regeln für den menschlichen Selbstvollzug beinhaltet.18 17
Vgl. De vis. 20: h VI, N. 90. Z. 2-7. Im Hinblick darauf, dass Cusanus im zweiten Teil des zitierten Textes das lumen fidei unmissverständlich auf die Aktuierung jener potentiellen Reichtümer bezieht, die der Intellekt im eigenen Inneren entdecken kann, bedarf die hier im umfassenderen offenbarungsphilosophischen Kontext vorgenommene Interpretation des lumen intellectuale als Ermöglichungsbedingung für die Erkenntnis der extramentalen Weltwirklichkeit einer zusätzlichen Rechtfertigung. Diesbezüglich soll hier nur kurz angemerkt werden, dass Cusanus in anderen Zusammenhängen 18
Das geschenkte Erkenntnislicht 3.2.1.8
Die Differenz von Glaubens- und
199 Erkenntnislicht
Ein letztes, für das Verständnis des zitierten Textzusammenhanges aber entscheidendes Problem lässt sich nun schließlich im Rückbezug auf den Ausgangspunkt der Interpretation klären. Es bleibt die Frage, ob es denn dann überhaupt noch einen Unterschied zwischen lumen fidei und lumen intellectus gebe, zumal beide durch ihre Begründungsfunktion für den natürlichen Erkenntnisvollzug des Menschen definiert sind. Dies kann beantwortet werden, wenn man - wie in der vorliegenden Studie zu begründen versucht wird - das natürliche Erkenntnislicht als eine Dimension der Offenbarkeit des göttlichen Geheimnisses versteht. Im bereits interpretierten, umfassenderen Kontext der zuletzt zitierten Passage wird die Vollendung des menschlichen Intellektpotentials ausdrücklich in der Gotteserkenntnis gesehen und damit die gesamte natürliche Vernunftbegabung des Menschen überhaupt aus ihrer Finalisierung auf das Offenbarungsgeschehen begriffen." Die Ermöglichungsbedingungen des Erkenntnisvollzuges lassen sich so als die von Gott selbst gegebenen Voraussetzungen dafür verstehen, dass der menschliche Intellekt trotz seiner Endlichkeit das Ziel der Gottesschau erreichen kann. Da in ihnen allen Gott auf seine Offenbarkeit für den Menschen hin wirkt, finden sie ihre höhere Sinnbestimmung in der Glaubenserfahrung des Offenbarungsgeschehens und lassen sich so auf einer tieferen Sinnebene als Teilmomente desselben begreifen. Die cusanische Bestimmung des Glaubensaktes als Ermöglichungsbedingung der Erkenntnis hebt somit keineswegs im hegelschen Sinn den Glauben in seiner Funktion für das Denken auf, sondern begreift vielmehr umgekehrt den natürlichen Erkenntnisvollzug aus seiner Integration in das ihm als Zielgrund stets übergeordnete Glaubensgeschehen.20
deutlich macht, wie der endliche Intellekt gerade zur aktuierenden Entfaltung seiner inneren Möglichkeiten der Anregung durch die von Außen kommenden Sinneswahrnehmungen (excitatio mediantibus phantasmatibus sensibilibus) angewiesen ist. Das lumen intellectuale kann also nur durch die Vermittlung der Welterkenntnis die Verwirklichung des menschlichen Intellektpotentials (und damit die Gotteserkenntnis) ermöglichen. Vgl. dazu: De mente 4: h 2 V, N. 77, Z. 5-16; De mente 7: h 2 V, N. 100, Z. 9f; Sermo XLI .Confide, filia': h XVII/2, N. 31, Z. 38 - N. 32, Z. 9. Zur tieferen Begründung dieses Zusammenhangs aus dem theologischen Datum der Gottebenbildlichkeit des Menschen siehe: M. THURNER, Die Einheit von Selbst-, Welt- und Gottesbezug nach Nikolaus von Kues. 19
Vgl. oben Abschnitt 3.0. Diese Priorität des Glaubensgeschehens in der systematischen Begründungsstruktur des Gedankens spiegelt gleichsam dessen genetischen Entdeckungszusammenhang wieder: Am Anfang steht bei Cusanus nicht das philosophische Denken, das dann auch den Glauben zu seinem Erkenntnisobjekt macht, sondern vielmehr die Glaubenserfahrung, aus deren innerer Problematik - wie aufgezeigt (vgl. oben Kapitel 1) - das Denken ursprünglich hervorgeht. 20
200
Dimensionen der Offenbarkeit des Geheimnisses
Darin liegt nun auch der Ansatz für die Differenzierung zwischen Glaubensund Erkenntnislicht. Das Glaubenslicht umfasst die Gesamtheit aller Weisen der Offenbarkeit Gottes unter Einschluss insbesondere auch der erfahrungshaftaffektiven Momente, während das Erkenntnislicht nur eine Dimension von Offenbarung ist, eine ,Teilmenge' des Glaubenslichtes sozusagen. Das Glaubenslicht lässt sich ebensowenig mit dem Erkenntnislicht vollständig zur Deckung bringen, wie der innere Reichtum des Glaubenslebens niemals durch den Begriff vollkommen erfasst werden kann.
3.2.2
Die Vor-Gegebenheit des Erkenntnislichts
Wie im umfassenden Textzusammenhang von ,De dato patris luminum', Kap. 5, die gesamte cusanische Offenbarungsphilosophie kernstückhaft zusammengefasst ist, so dass die Interpretation das dort vorliegende systematische Konzept nur im Rückgriff auf die ausführlichere Darlegung bestimmter Details in anderen Cusanus-Schriften zu explizieren braucht, enthält auch die zuletzt zitierte Passage alle wesentlichen Momente der offenbarungsphilosophischen Deutung des natürlichen Erkenntnislichtes. Im folgenden gilt es, gleichsam nach der Art eines ausführlichen Kommentares, bestimmte Aspekte dieser grundlegenden Aussagen im Bezug auf andere Textstellen zu vertiefen, um so einerseits die oben vorgenommene Interpretation zu bestätigen, und andererseits die verborgene offenbarungsphilosophische Bedeutung weiterer, für Cusanus zentraler Gedanken aufzuweisen. Zunächst soll die als Grund für die Rückführung des lumen intellectuale auf das geoffenbarte lumen fidei angeführte Einsicht, dass das natürliche Erkenntnislicht nicht vom Menschen selbst hervorgebracht, sondern stets bereits in seiner Vor-Gegebenheit angenommen ist, in einer Analyse auch der inhaltlichen Bestimmungen des lumen intellectuale tiefer begründet werden. 3.2.2.1
Die visio intuitiva des prius der Erkenntnis
In seinem wahrscheinlich erst im Todesjahr 1461 verfassten .Compendium', wo Cusanus in der bereits zitierten Conclusio rückblickend erklärt, er habe in seinen Werken die mannigfache Offenbarung (ostensionem) des ersten Ursprungs auf mannigfache Weise beschrieben,21 geht er für den Aufweis der Offenbarkeit Gottes folgenden Weg: Am Anfang steht die Feststellung, dass wir eine geistige
21
Comp., Conclusio - Epilogus: h XI/3, N. 44, Z. 3-5.
Das geschenkte
Erkenntnislicht
201
Schau haben, die den Blick auf das richtet, was vor aller Erkenntnis liegt.21 Die genauere Bestimmung sowohl des Aktes dieser visio intuitiva wie auch ihres Inhaltes nimmt Cusanus im folgenden Text vor: Wer darum das so Geschaute in der Erkenntnis finden will, müht sich vergeblich ab. Er gleicht einem, der die nur sehbare Farbe auch mit der Hand zu berühren versuchte. Es verhält sich also die Schau des Geistes zu jener Seinsweise ähnlich wie das sinnliche Sehen zum Licht. Dessen Vorhandensein schaut es mit höchster Gewissheit, erkennt es aber nicht. Denn das Licht geht allem voraus, was durch derartiges Sehen erkannt werden kann.23
Durch den Rückgriff auf die oben24 bis auf Piatons Sonnengleichnis zurückgeführte Lichtmetaphorik macht Cusanus unmissverständlich deutlich, dass im geistigen Blick auf das aller Erkenntnis Vorausliegende nichts anderes als die Ermöglichungsbedingungen des Erkenntnisvollzugs selbst geschaut werden. Das prius der Erkenntnis ist im Sinne ihrer a-priorischen Voraus-setzungen zu verstehen. Deren Bedeutung für den Erkenntnisvollzug versinnbildlicht Cusanus am Verhältnis des sinnlichen Sehens zum Licht: Weil alle Dinge nur sichtbar sind, wenn sie vom Licht beschienen werden, geht das Licht allem voraus, was durch derartiges Sehen erkannt werden kann. Analog dazu setzt auch die auf den intelligiblen Bereich bezogene Wahrheitserkenntnis des Intellekts ein geistiges Licht voraus, das die Erkennbarkeit der idealen Wesensbestimmungen der Dinge ermöglicht. Im zitierten Text steht aber weniger die inhaltliche Bestimmung des prius der Erkenntnis im Vordergrund des Interesses, sondern vielmehr die Weise, wie sich der menschliche Geist dieses vergegenwärtigt. Hier greift Cusanus wiederum auf Analogien aus dem Bereich des sinnenfälligen Lichtes zurück. Vom sinnlichen Sehen wird es zwar mit höchster Gewissheit geschaut, nicht aber erkannt, weil es als die Ermöglichungsbedingung aller Sichtbarkeit selbst unsichtbar ist. Seine Unerkennbarkeit für das sinnliche Sehen beruht also darauf, dass das Licht von einer Intelligibilität ist, welche die Einsichtskraft der Sinnlichkeit übersteigt. Paradoxerweise ist diese unerreichbare Überlegenheit aber auch die Bedingung dafür, dass das Licht dem Sehen in einer viel intensiveren Weise präsent ist, weil es alle Sehvollzüge als Voraussetzung ermöglicht. Mit der gnoseologischen Bestimmung der Gewissheit bringt Cusanus zum Ausdruck, dass das Licht, weil es jedem Sehakt ermöglichend innewohnt, auf der Ebene dieser Erkenntnisstufe in seiner Gegebenheit weder geleugnet, aber auch nicht objektivierend begründet 22
Comp. 1: h XI/3, N. 2, Z. lf: Habemus prius omni cognitione. 23 Comp. 1: h XI/3, N. 2, Z. 2-7. 24 Vgl. den Abschnitt 3.2.1.1.
igitur visum mentalem intuentem in id, quod est
202
Dimensionen der Offenbarkeit des Geheimnisses
werden kann. Die Weise, wie das betreffende Erkenntnisvermögen sich auf diese Gegebenheit seines prius bezieht, ohne es begreifen zu können, benennt Cusanus als die Schau (visio). Die Darstellung dieser Verhältnisse im Bereich des Sinnenfälligen soll nun durch Übertragung zur Einsicht in Analogien in der Region der intellektuellen Erkenntnis fuhren, denn ähnlich wie das sinnliche Sehen zum Licht verhält sich die Schau des Geistes (visus mentis) zu jener Seinsweise [sc. des prius der Erkenntnis], Für das prius der geistigen Erkenntnis gelten all jene Eigenschaften in höherer Weise, die als Bestimmungen des Sinnenlichtes herausgearbeitet wurden. Über das Lichtgleichnis hinaus vertieft Cusanus aber das Verständnis des geistigen Grundaktes der Schau, indem er den Vollzug derselben als intuitio bezeichnet. Damit zieht er die Konsequenzen aus zwei komplementären Einsichten: Weder kann der Intellekt sein eigenes prius in seinem aktiven, auf Erkenntnisobjekte ausgerichteten Vollzug begreifen, weil der sich vergeblich abmüht, der das so Geschaute in der Erkenntnis finden will. Noch kann der Mensch das geistige Licht in einem Begründungsakt selbst hervorbringen, weil dieses in seinem Gewissheitsgrad die Erkenntniskraft des endlichen Intellekts überragt. Im Begriff der visio intuitiva bringt Cusanus zum Ausdruck, dass der Mensch das prius seines Erkenntnisvollzugs nur in der Passivität des Empfangens als etwas innerlich unmittelbar Gegebenes anzunehmen vermag. Die Reflexion auf die apriorischen Ermöglichungsbedingungen des eigenen Selbstvollzuges verweist das Denken somit über sich hinaus auf einen für ihn unerreichbaren Ursprung, der sich ihm gleichwohl in seinem Innersten immer schon mitgeteilt hat. Indem Cusanus diese Herkünfitigkeit des natürlichen Erkenntnislichtes aufweist und aufzeigt, dass es für den endlichen Intellekt ebenso unmittelbar gewiss wie unerkennbar ist, erweist er es letztlich als eine Dimension der Selbstoffenbarung des göttlichen Geheimnisses. 3.2.2.2
Der Wahrheitsgrund des Geistes als Theophanie
Während der zuletzt interpretierte Text nicht über die Feststellung einer intuitiven, also innerlich unmittelbar passiv empfangenden Schau des prius der Erkenntnis hinausgeht, und somit nur indirekt auf den Offenbarungscharakter des geistigen Lichtes verweist, thematisiert Cusanus im umfassenderen Zusammenhang seiner in ,De coniecturis' vorgenommenen Analyse des menschlichen Geistes ausdrücklich auch die Frage nach der Herkunftsbestimmung des geistigen Wahrheitsgrundes: Da die Vernunft von den Sinnendingen ausgeht, kann sie nicht absolut wahr sein, sondern nur in gewisser Hinsicht. [...] Wenn die Vernunft aber die Dinge ohne Einschränkung und außerhalb jeder Andersheit [...] in ihrer einfachen Vernunftnatur betrachtet,
Das geschenkte
Erkenntnislicht
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umfasst sie sie außerhalb der Sinnenbilder in der klaren Helligkeit der Wahrheit. Denn die Vernunft ist die Andersheit der unendlichen Einheit. Je mehr also die Vernunft von ihrer Andersheit sich in die Höhe hin entschränkt, um mehr zur einfachsten Einheit aufsteigen zu können, desto vollkommener und höher ist sie. Denn da alle Andersheit nur in der Einheit erreichbar ist, kann die Vernunft sich selbst - denn da sie nicht die unbeschränkte (absoluteste) göttliche Vernunft, sondern nur die menschliche ist, ist sie j a Andersheit - nur in der göttlichsten Einheit in ihrem Wesen betrachten (intueri). Denn die Vernunft kann weder sich selbst, noch irgendetwas anderes geistig Einsehbares in seinem Wesen erreichen, außer in jener Wahrheit, die die unendliche Einheit von allem ist, und sie kann diese unendliche Einheit nur in der vernunfthaften Andersheit schauen (intueri). In sich selbst schaut (intuetur) also die Vernunft jene Einheit nicht in ihrem Wesen, sondern wie sie auf menschliche Weise einsichtig ist. Durch sie, die sie so in der Andersheit einsieht, erhebt sie sich, um, von aller Einschränkung befreit, zu ihr in ihrem Wesen zu gelangen, vom Wahren zur Wahrheit, Ewigkeit und Unendlichkeit. Und das ist die letzte Vollendung der Vernunft: Sie steigt durch die in sie herabsteigende Erscheinung Gottes (per theophaniam in ipsum descendentem) ununterbrochen hinauf zur Annäherung und Verähnlichung mit der göttlichen und unendlichen Einheit, die das unendliche Leben, die Wahrheit und die Ruhe der Vernunft ist.25
Die zentralen Gedanken des zuletzt zitierten ,Compendium'-Textes und deren Begründungsstruktur finden sich bereits in dieser etwa zwanzig Jahre früher entstandenen Passage. Gemeinsames Thema ist die Frage, wie der menschliche Intellekt die Verwirklichung seiner Wesensbestimmung erreichen kann. Die ultima perfectio des Intellekts bestimmt Cusanus am Schluss des Textes aus der Konjekturenschrift als die Annäherung und Verähnlichung mit der göttlichen und unendlichen Einheit, die das unendliche Leben, die Wahrheit und die Ruhe der Vernunft ist. Über den im .Compendium' bedachten Zusammenhang hinaus hat Cusanus hier den letzten Zielgrund der menschlichen Intellektbegabung ausdrücklich im Blick. Diese Erweiterung des systematischen Rahmens ist gleichsam die Bedingung dafür, dass er nun auch nach der Herkunft des prius der Erkenntnis fragt. Dass die Geistbegabtheit des Menschen nicht Zweck an sich selbst, sondern vielmehr auf eine höhere Zielsetzung hin finalisiert ist, macht Cusanus deutlich, indem er nicht in der Wahrheitserkenntnis die letzte Erfüllung des menschlichen Vernunftstrebens sieht, sondern diese als die Weise begreift, in der sich der Mensch der unendlichen Einheit Gottes annähert. Damit zieht er die gedanklichen Konsequenzen aus der Glaubenseinsicht, dass der Intellektvollzug seine höhere Sinnbestimmung im Offenbarungsgeschehen findet, weil die Geistbegabung dem Menschen verliehen wurde, damit er Gottes teilhaftig werden kann.
25
De coni. II, 16: h III, N. 167, Z. 1-22.
Dimensionen der Offenbarkeit des Geheimnisses
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Da die Wahrheitserkenntnis in der Vermittlung des Gottesbezuges ihren Zielgrund hat, wird in der Analyse des menschlichen Erkenntnisprozesses auf einer tieferen Sinnebene bewusst gemacht, wie Gott dem Menschen offenbar wird. In seinen subtilen Untersuchungen zur (Begründungs-)Struktur des menschlichen Erkenntnisvollzugs, die er in einer Vielzahl seiner Werke aus immer wieder anderer Perspektive betrachtet, verfolgt Cusanus also im Grunde ein offenbarungsphilosophisches Anliegen. Die andernorts26 aus der kreatürlichen Endlichkeit des menschlichen Intellekts abgeleitete Notwendigkeit eines Übergangs von der Möglichkeit zur Wirklichkeit wird in ,De coniecturis' als Aufstieg über verschiedene Erkenntnisstufen beschrieben. Die bisher in ihrer Funktion, die intellektuellen Potenzen durch Erregung derselben zu aktuieren, betrachtete Sinnlichkeit erscheint hier als die erste Erkenntnisstufe. Mit dieser Positionierung zieht Cusanus die Konsequenzen aus der Einsicht, dass die Sinneswahrnehmungen für die Selbstverwirklichung des Intellekts zwar notwendig, aber nicht ausreichend sind. Der erste Satz des zitierten Textes gibt dafür eine Begründung. Mit der Aussage, wonach die Vernunft nicht absolut wahr sein kann, da sie von den Sinnendingen ausgeht, gibt Cusanus zu verstehen, dass die Sinneserfahrung deshalb für die Verwirklichung des Erkenntnispotentials unzulänglich ist, weil der Intellekt auf dieser Stufe sein Ziel der WahrheitsQTkexmtriis nicht erreichen kann. Wie der Mensch trotz seiner Verwiesenheit auf die sinnenfälligen Erkenntnisobjekte zur rein geistigen Wahrheit gelangen kann, wird in den folgenden Aussagen des Textes auf seine Bedingungen hin untersucht und damit begründet. Es gibt für die Vernunft die Möglichkeit, die Dinge außerhalb der Sinnenbilder in der klaren Helligkeit der Wahrheit zu umfassen, wenn sie diese ohne Einschränkung und außerhalb jeder Andersheit [...] in ihrer einfachen Vernunftnatur betrachtet. Die Annahme einer derartigen Fähigkeit der Vernunft impliziert zwei Voraussetzungen, von denen eine die Bestimmung der erkennbaren Dinge, die andere die Ausstattung des Erkenntnisvermögens selbst betrifft. Beide Voraussetzungen werden von Cusanus im Argumentationsgang des zitierten Textes zu Bewusstsein gebracht, wenn auch die erstere nur andeutungsweise. Sie lässt sich aber im Hinblick auf ausfuhrlichere Thematisierungen des betreffenden Zusammenhangs in anderen Kontexten erschließen: Wenn die zunächst sinnlich wahrgenommenen Dinge auf einer höheren Erkenntnisstufe in einer Weise einsehbar werden sollen, die zur Erkenntnis der geistigen Wahrheit fuhrt, so setzt dies voraus, dass die Dinge selbst eine intelligible Wesensform besitzen. Diese ist in der sinnenfälligen Seinsweise zwar prinzipiell gegeben, aufgrund ihrer Materiegebundenheit aber nicht in reiner Gestalt erkennbar. Diesen Sachverhalt begreift Cusanus hier mit den ontologischen Kate26
Vgl. Abschnitt 3.0.1.
Das geschenkte
Erkenntnislicht
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gorien von Einschränkung und Andersheit. Dabei beschreibt die erstere den Konstitutionsprozess des Sinnendinges und letztere seine daraus resultierende Bestimmtheit.27 Aufgrund der begrenzten Aufnahmekapazität der Materie kann die geistige Form im Sinnenfälligen nur unvollkommen verwirklicht werden. Aus dieser eingeschränkten Seinsweise folgt nun eine in zweifacher Hinsicht zu bestimmende Andersheit. Erstens ergibt sich aus der Unmöglichkeit einer vollkommenen Darstellung der geistigen Form in der Materie die Notwendigkeit einer Vielzahl von Verwirklichungsweisen, in denen die ideale Gestalt auf verschiedene Weise abgebildet wird. Andersheit bezeichnet einmal die daraus resultierende Differenz der Sinnendinge untereinander. Für den hier aufzuweisenden Zusammenhang ist aber der zweite Sinnbezug der Andersheit bedeutsamer: Mit der Andersheit begreift Cusanus auch das Differenzverhältnis, in das die im Einschränkungsprozess entstehenden sinnenfalligen Dinge zu ihrem geistigen Ursprung treten. Für die Möglichkeit einer Wahrheitserkenntnis des sinnengebundenen menschlichen Intellekts ergibt sich aus diesem ontologischen Begründungszusammenhang die von Cusanus im zitierten Text ausdrücklich formulierte Konsequenz: Wenn der Mensch die Sinnendinge in der Helligkeit der Wahrheit umfassen will, muss er sie ohne Einschränkung und außerhalb jeder Andersheit betrachten. Aus den ontologischen Bestimmungen der eingeschränkten Andersheit folgt, dass dem Intellekt dies nur gelingt, wenn er die Dinge gedanklich aus ihren Differenzverhältnissen herauslöst, indem er sie auf ihren Ursprung zurückfuhrt. Soll dies zur Wahrheitserkenntnis fuhren, so müssen die Dinge in diesem ihrem Ursprung auf eine Weise enthalten sein, die vollkommen intelligibel ist. Indem Cusanus im zitierten Text die Dinge als Andersheit der unendlichen Einheit von allem bestimmt, gibt er zu verstehen, dass sie in ihrem Ursprung aufgrund von dessen absoluter Differenzfreiheit auch ihre vollkommene Intelligibilität finden. Die absolute geistige Transparenz der Dinge in ihrem Einheitsgrund ist also die erste, auf die Wesensbestimmung der Erkenntnisobjekte selbst bezogene Voraussetzung dafür, dass der sinnengebundene menschliche Intellekt zur Wahrheitserkenntnis gelangen kann. 27
Zur ausführlicheren Begründung der Andersheit bei Cusanus vgl. M. THOMAS, Zum Ursprung der Andersheit (alteritas). Ein Problem im cusanischen Denken, in: MFCG 22 (1995) 55-67. K. BORMANN, Die Lehre des Nikolaus von Kues von der „Andersheit" und deren Quellen, in: MFCG 10 (1973) 130-137. ΤΗ. P. MCTIGHE, .Contingentia' and ,Alteritas' in Cusa's Metaphysics, in: The American Catholic Philosophical Quarterly 64 (1990) 55-71. D. PÄTZOLD, Einheit und Andersheit. Die Bedeutung kategorialer Neubildungen in der Philosophie des Nicolaus Cusanus (Köln 1981). Zur Begriffsgeschichte der Andersheit allgemein siehe: W. BEERWALTES, Andersheit. Grundriss einer neuplatonischen Begriffsgeschichte, in: Archiv fur Begriffsgeschichte 16 (1972) 166-197.
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Darüber hinaus muss aber noch eine zweite, das Erkenntnisvermögen selbst betreffende Bedingung erfüllt sein, damit die Vernunft zur Wirklichkeit ihres Vollzuges übergeht, und dies aus folgendem Grund: Die bloße Existenz der absolut intelligiblen Seinsweise der Dinge in der unendlichen Einheit ihres Ursprungs ist deshalb noch kein zureichender Ermöglichungsgrund fur die Wahrheitserkenntnis, weil die absolute Einheit nicht nur vorhanden, sondern darüber hinaus auch auf irgendeine Weise dem menschlichen Intellekt zugänglich sein muss, damit er sie seinem Selbstvollzug voraussetzen kann. Denn nur wenn der Mensch irgendwie Einsicht in den ursprünglichen Einheitsgrund der Dinge hat, kann er deren Wahrheit erkennen. Die Frage nach den Ermöglichungsbedingungen des menschlichen Intellektvollzugs spitzt sich so zum Problem zu, wie der Mensch zu einem derart voraussetzungshaften Wissen um die unendliche Einheit kommt. Schon bei der Interpretation des ,Compendium'-Textes im letzten Abschnitt wurde deutlich, dass diesbezüglich eine Möglichkeit von vornherein auszuschließen ist: Wie im Fall des Lichtes kann diese Einsichtnahme nicht über die Sinneswahrnehmung erfolgen, weil die unendliche Einheit (ihrer Wesensbestimmung entsprechend) nicht als Einzelobjekt im Bereich des Sinnenfalligen vorkommt und (ihrer erkenntnisbegründenden Funktion entsprechend) bei jedem Wahrnehmungsakt bereits voraus-gesetzt ist. Wenn der Intellekt den ursprünglichen Einheitsgrund aller Dinge also nicht in der sinnenfalligen Außenwelt vorfinden kann, so bleibt allein jene Möglichkeit, die Cusanus im zitierten Text auch ausdrücklich annimmt: In sich selbst also schaut (intuetur) die Vernunft jene Einheit. Die im letzten Abschnitt herausgearbeiteten Bedeutungskonnotationen der von Cusanus auch hier verwendeten Begrifflichkeit der visio intuitiva eröffnen den Zugang zum Verständnis dieser Aussage. Mit der Rede von der innerlichen Schau bringt Cusanus zum Ausdruck, dass die Einsicht in den ursprünglichen Begründungszusammenhang der Dinge dem menschlichen Intellekt unmittelbar gegeben ist. Diese intuitiv erfasste, innerliche Gegebenheit des Wissens um die unendliche Einheit wird nun in den restlichen Aussagen des Textes von Cusanus auf zweifache Weise betrachtet: Zuerst fragt er nach deren Funktion, sodann schließlich nach deren Herkunft. Im Hinblick darauf, dass sie die Wahrnehmung der andersheitlichen Sinnenwirklichkeit und - vermittelt dadurch - die Verwirklichung des endlichen Intellektpotentials ermöglicht, wird die unendliche Einheit als die Voraussetzung der menschlichen Welt- und Selbsterkenntnis begriffen. In dieser ihrer erkenntnisbegründenden Funktion lässt sich der ursprüngliche Seinsgrund der Dinge auch als absoluter Wahrheitsgrand des Geistes bestimmen: Denn da alle Andersheit nur in der Einheit erreichbar ist, kann die Vernunft sich selbst [...] nur in der göttlichsten Einheit in ihrem Wesen betrachten (intuieri). Denn die Vernunft kann weder sich selbst, noch irgendetwas anderes geistig Einsehbares
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in seinem Wesen erreichen, außer in jener Wahrheit, die die unendliche Einheit von allem ist. Durch die Entdeckung, dass für die Vernunft der intuitive Bezug auf die Gegebenheit der unendlichen Einheit wesenskonstitutiv ist - denn nur von daher kann sie sich verwirklichen - , kann Cusanus nun die Vernunft selbst aus diesem ihrem Begründungsverhältnis bestimmen. Indem er die unmittelbare Bezogenheit des Menschen auf den Seinsursprung dadurch zum Ausdruck bringt, dass er den menschlichen Intellekt als Andersheit der unendlichen Einheit definiert, betont er damit zugleich den Abstand der Differenz des endlichen Geistes zu seinem unendlichen Konstitutionsgrund. Der endliche Intellekt ist Andersheit, weil er nicht die unbeschränkte (absoluteste) göttliche Vernunft, sondern nur die menschliche ist. Auf dem Hintergrund dieser Einsicht muss nun die Gleichsetzung des einheitlichen Seinsgrundes der Dinge mit dem Wahrheitsgrund des Geistes differenzierter betrachtet werden: Trotz ihrer voraussetzungshaften Gegebenheit im endlichen Intellekt ist die unendliche Einheit (worauf ihre Bestimmung als göttlich hinweist) zugleich das absolut transzendente Andere des menschlichen Geistes. Dies bringt Cusanus zum Ausdruck, wenn er feststellt, dass der Mensch die unendliche Einheit nur in der vernunfthaften Andersheit schauen kann, was bedeutet, dass die Vernunft jene Einheit nicht in ihrem Wesen, sondern wie sie auf menschliche Weise einsichtig ist, schaut. Die Entdeckung des Andersheitsverhältnisses zwischen menschlichem Intellekt und unendlicher Einheit hat nun für die Frage nach den Ermöglichungsbedingungen des endlichen Erkenntnisvollzugs weitreichende Konsequenzen: Wenn die Einsicht in den Ursprungsgrund im menschlichen Intellekt zwar innerlich unmittelbar gegeben ist, die unendliche Einheit aber wesenhaft das transzendente Andere der endlichen Vernunft ist (und deshalb auch nicht von ihr selbst hervorgebracht werden kann), stellt sich das Problem, wie diese voraussetzungshafte Gegebenheit des Wahrheitsgrundes im menschlichen Geist zustandekam. Die Frage nach den Ermöglichungsbedingungen des endlichen Erkenntnisvollzugs konkretisiert sich so schließlich zur Frage nach der Herkunft des geistigen Wahrheitslichtes. Aus der transzendenten Wesensbestimmung der unendlichen Einheit schließt Cusanus zunächst, dass ihre Gegebenheit im Intellekt zustande kommt, wenn sich der Mensch zu ihr erhebt. Der Geist kann also den göttlichen Wahrheitsgrund erreichen, indem er zu ihm aufsteigt. Der Selbstverwirklichungsprozess des menschlichen Erkenntnispotentials stellt sich so als Aufstiegsbewegung dar: Je mehr also die Vernunft von ihrer Andersheit sich in die Höhe hin entschränkt, um mehr zur einfachsten Einheit aufsteigen zu können, desto vollkommener und höher ist sie. Doch bereits aus den Implikationen dieser Aussage ergibt sich, dass der Aufstieg des Menschen nicht das letzte Wort des Cusanus in der Frage nach
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der Herkunft des Wahrheitslichtes ist. Die Einschränkung von der Andersheit zur Einheit setzt wiederum die Gegebenheit des Einheitswissens voraus, denn sie vollzieht sich als die Rückführung der andersheitlichen Differenz auf ihren einheitlichen Ursprung. In der zweiten Aussage zur menschlichen Aufstiegsbewegung sagt Cusanus nun auch ausdrücklich, dass diese selbst wiederum nur im Licht der Einheit geschehen kann: Durch sie [sc. die unendliche Einheit], die sie so in der Andersheit einsieht, erhebt sich die Vernunft, um, von aller Einschränkung befreit, zu ihr in ihrem Wesen zu gelangen, vom Wahren zur Wahrheit, Ewigkeit und Unendlichkeit. Wie die menschliche Intellektbegabung aufgrund ihrer kreatürlichen Endlichkeit insgesamt, so ist auch die Fähigkeit zum Wahrheitsaufstieg dem Menschen zunächst nur als Möglichkeit gegeben, die zu ihrer Verwirklichung einer Ermöglichungsbedingung bedarf. Mit deren Bestimmung ist die letzte Antwort auf die Frage nach den Ermöglichungsbedingungen der menschlichen Erkenntnis gefunden, weil mit dem Aufstieg zur Wahrheit das menschliche Intellektpotential die vollkommene Vollendung seiner Selbstverwirklichung erreicht. Aus der Einsicht, wonach der Aufstieg zur Einheit von deren voraussetzungshafter Gegenwart selbst schon ermöglicht ist, schließt Cusanus, dass dem menschlichen Aufstiegsprozess eine ursprünglichere Abstiegsbewegung der unendlichen Einheit selbst vorausliegen muss. In der diesbezüglichen Formulierung macht Cusanus auch unmissverständlich deutlich, welcher der tiefste Grund für die Ermöglichung und Vollendung des menschlichen Erkenntnisvollzugs ist: Und das ist die letzte Vollendung der Vernunft: Sie steigt durch die in sie herabsteigende Erscheinung Gottes (per theophaniam in ipsum descendentem) ununterbrochen hinauf zur Annäherung und Verähnlichung mit der göttlichen und unendlichen Einheit, die das unendliche Leben, die Wahrheit und die Ruhe der Vernunft ist. Wenn Cusanus hier den erkenntnisbegründenden Abstieg der unendlichen Einheit als Erscheinung Gottes bezeichnet, so ist damit zunächst gesagt, dass die Rede von der Gegebenheit des Wahrheitsgrundes in einem wörtlichen Sinn zu verstehen ist. Der Mensch hat ihn in einer Bewegung des Gebens empfangen, die von Gott ihren Ausgang nimmt, und auf die der Mensch in der Aufstiegsbewegung seines Erkenntnisvollzugs antwortet. Darüber hinaus gibt Cusanus aber mit der Bestimmung des Wahrheitsgrundes als herabsteigende Theophanie zu verstehen, dass mit dem geistigen Erkenntnislicht nichts anderes als Gott selbst in der Weise seiner kenotischen Selbstmitteilung im Inneren des Menschen unmittelbar gegeben ist. Die erkenntnisermöglichende Abstiegsbewegung der Wahrheit findet so im freien Entschluss des personalen Gottes ihren tiefsten Grund, sich selbst dem Menschen zu offenbaren. Die in dieser Interpretation des Theophanie-Begriffs angenommene Bestimmung des geistigen Wahrheitslichtes als Dimension der Offenbarkeit Gottes fin-
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det im umfassenderen Kontext der Aussage ihre Bestätigung: Im Schlusssatz wird die gesamte Intellekttätigkeit des Menschen auf ihre Vollendung und Ruhe in der approximativen Gotteserkenntnis hin finalisiert und damit aus ihrer Integration in das Offenbarungsgeschehen begriffen. Wenn nun der erkenntnisermöglichende Wahrheitsgrund als herabsteigende Theophanie bestimmt wird, so ist damit gesagt, dass auch die Bedingungen für die erkenntnisvollendende Schau der Offenbarkeit Gottes von Gott in seiner Selbstmitteilung gegeben und damit - sowohl was ihren Ursprung, ihre inhaltliche Wesensbestimmung, wie auch ihr Ziel betrifft - als Teilmomente des Offenbarungsgeschehens zu begreifen sind. 3.2.2.3
Die Wahrheitserscheinung als Weise der des göttlichen Geheimnisses
Offenbarkeit
Genau diese Deutung des geistigen Wahrheitsgrundes als Dimension oder Teilmoment des Offenbarungsgeschehens wird bestätigt und vertieft in der cusanischen Bestimmung der Wahrheitslichter als Weisen der Erscheinung Gottes (modi theophanici, absolutae veritatis apparitionis modus). In der betreffenden Textpassage aus der unmittelbar im Jahr nach dem Abschluss von ,De coniecturis' (ca. 1444) abgefassten Schrift ,Über die Gotteskindschaft' (1445) integriert Cusanus die Reflexion auf den Wahrheitsgrund des Intellekts auch ausdrücklich in die Fragestellung, wie der unbegreifliche Gott vom Menschen erreicht werden kann. Damit macht er selbst deutlich, dass all seine philosophischen Analysen zur Begründungsstruktur der intellektuellen Erkenntnis als Lösung jener Aporien konzipiert sind, mit denen die Erfahrung Gottes als des offenbaren Geheimnisses den gläubigen Menschen konfrontiert. Diese Zusammenhänge legt Cusanus im Gedankengang des folgenden Textes für seinen Adressaten, den Kanonikus Konrad von Wartberg, in der Konzentration auf die wesentlichen Momente dar: Vielleicht beunruhigt dich das oft Gehörte, dass Gott unbegreifbar sei und dass die Kindschaft, die im Erfassen der Wahrheit besteht, welche Gott ist, nicht erreicht werden könne. Ich meine aber, dass du zur Genüge eingesehen hast, dass die Wahrheit in einem anderen nur auf jeweils andere Weise erfasst werden kann. Weil jedoch jene Weisen der Erscheinung Gottes (modi theophanici) vernunfthaft-einsichtige sind, deshalb wird Gott, wenngleich nicht in seinem Wesen berührt, dennoch ohne jedes rätselgleichnisartige Sinnenbild (sine omni aenigmatico phantasmate) in der Reinheit des Vernunftgeistes geschaut (intuebitur); und dies ist für die Vernunft selbst eine klare Schau von Angesicht zu Angesicht (facialis visio). Und diese Weise der Erscheinung (apparitionis modus) der absoluten Wahrheit, in der das äußerste lebensvolle Glück der so die Wahrheit genießenden Vernunft besteht, ist Gott, ohne den die Vernunft nicht glücklich sein kann. Hier aber möchte ich, dass du beachtest, auf welche Weise die sich gegenständlich darbietende Wahrheit das Zur-Ruhe-Kommen jeder Vernunftbewegung ist. Außerhalb des Bereiches der Wahrheit wird ja keine vernunfthafte Spur gefunden, noch kann
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nach dem Urteil der Vernunft selbst irgendetwas außerhalb des Himmels der Wahrheit sein. Aber wenn du, wie ich dies in meinen anderen Schriften dargelegt habe, ganz scharfsinnig zusiehst, dann ist die Wahrheit selbst nicht etwa Gott, wie er selbstgenügsam in seiner Herrlichkeit thront, sondern sie ist eine bestimmte Weise Gottes, durch die er der Vernunft in ewigem Leben mitteilbar gegenwärtig ist. Denn der in sich thronende Gott ist weder vernünftig einsehbar noch wissbar, noch ist er die Wahrheit oder das Leben, noch i s t er überhaupt. Vielmehr geht er allem vernünftig Einsehbaren voraus als der eine einfachste Ursprung.28
Die literarische Form der an den Empfänger der Schrift gerichteten Anrede ist hier keineswegs ein bloß äußerlich bleibendes Stilmittel, sondern bietet vielmehr den Zugang zum inneren Motivationsgrund des Gedankens. Wie Cusanus in der vorangestellten Widmung schreibt,29 ist das Opusculum die lange schon erbetene Antwort auf Fragen zu der, gemäß dem Johannesevangelium,30 den Gläubigen verheißenen Gotteskindschafit, die der Kanonikus des Klosters (Münster-) Meynfelt, dessen Praepositus Cusanus damals war, an ihn gerichtet hatte. Schon im Hinblick auf ihren Entstehungszusammenhang wird also deutlich, dass diese Schrift Lösungsansätze zu jenen Problemstellungen bieten will, mit denen jeder in einem ursprünglichen Sinn einfältig Gläubige konfrontiert ist. Wenn Cusanus dies hier durch philosophische Gedankengänge erreichen will, so bestätigt sich damit an einem konkreten Fall die oben31 als für Cusanus spezifisch herausgearbeitete Verhältnisbestimmung von Glauben und Denken: Beide sind notwendigerweise aufeinander bezogen, weil einerseits die philosophische Spekulation stets als Antwort auf die Aporien des konkreten Glaubenslebens konzipiert ist, und andererseits die sich aus dem Glaubensvollzug ergebenden Probleme nur mit Hilfe des Denkens gelöst werden können. Zu Beginn des zitierten Textes bringt Cusanus schon in der Wortwahl („ vielleicht beunruhigt dich - forte te pulsat") zum Ausdruck, dass der folgende Gedankengang ursprünglich als Reaktion auf eine aporetische Ausgangssituation entfaltet wurde. Die beunruhigende Problemstellung, die das Denken zur Lösung not-wendig herausfordert, bestimmt Cusanus im ersten Satz auch inhaltlich: Es ist der Widerspruch, wie die Gotteskindschafit erreicht werden soll, wenn Gott doch unfassbar und damit auch unerreichbar ist. An der biblischen Herkunft des Begriffes der Gotteskindschaft wird unmissverständlich deutlich, dass der Glaubensvollzug der Ort ist, wo diese Problematik konkret erlebt wird. Hier beschreibt Cusanus, was eingangs32 als die aporetische Grund-Erfahrung des christlichen 28
Defil.3: h IV, N. 62, Z. 2 - N. 63, Z. 9. Vgl. Defil.:h IV, N. 51, Z. 1-14. 30 Vgl. Joh 1, 12; aber auch Rom 8, 9; Gal 3, 26; 4, 5; Eph 1, 5. 31 Vgl. Kap. 1 insgesamt. 32 Vgl. Abschnitt 1.1. 29
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Glaubens bestimmt wurde. Im Glauben wird dem Menschen das Nähe-Verhältnis der Gotteskindschaft geschenkt, zugleich damit aber auch die sich jedem Erfassensversuch in die Ferne entziehende Unermesslichkeit des Vatergottes erfahrbar. Die Beunruhigung über diese Situation konkretisiert sich nun in der Frage, wie in Anbetracht der Unerreichbarkeit Gottes die im Glauben erhoffte und anfanghaft schon empfangene Gotteskindschaft überhaupt möglich sein soll. Bereits beim ersten Schritt, den Cusanus zur Lösung dieser Ausgangsproblematik unternimmt, tritt nun - nahezu unmerklich - das philosophische Denken auf den Plan. Um das Problem in den Griff zu bekommen, definiert Cusanus zunächst den Begriff der Gotteskindschaft. Er bestimmt sie als das Erfassen der Wahrheit, welche Gott ist. Damit hat er die Ebene des Glaubenslebens bereits auf diejenige des rationalen Diskurses überschritten, weil das Erfassen der Wahrheit jener der philosophischen Bestimmung des Menschen als Vernunftwesen entsprechende Grundvollzug ist. In der spekulativen Identifikation des Kindschaftsgewinns mit der Selbstverwirklichung des menschlichen Intellekts (und dementsprechend des göttlichen Zielgrundes von ersterer mit dem Wahrheitsprinzip von letzterer) geht Cusanus entschieden über den ursprünglichen Sinn der biblischen Vorgabe hinaus. So schafft er aber nicht nur die Voraussetzungen zu einer philosophischen Lösung des vom Glauben aufgegebenen Problems, sondern entdeckt damit zugleich auch, dass der natürliche Intellektvollzug die Weise ist, wie der Mensch die Gotteskindschaft gewinnt. Durch dieses Vorgehen überfremdet Cusanus also keineswegs die Glaubensvorgabe durch den philosophischen Begriff, sondern weist vielmehr die Integration des Denkens in den Glaubensvollzug auf. Diese Finalisierung der natürlichen Erkenntnis auf das Glaubensgeschehen findet ihren ursprünglichen Grund darin, dass Gott dem Menschen die Intellektbegabung verliehen hat, um ihm durch die Ermöglichung der Gotteserkenntnis das Kindschaftsverhältnis zuteilwerden zu lassen. Unter der von Cusanus angenommenen Voraussetzung, dass die Gotteskindschaft das innere Ziel der Erkenntnistätigkeit des Menschen ist, ist es nicht nur legitim, sondern notwendig, die Frage nach der Möglichkeit der Gotteskindschaft durch den Aufweis der Ermöglichungsbedingungen der Wahrheitserkenntnis zu beantworten. Diesen Weg beschreitet Cusanus im folgenden Gedankengang des Textes. Zunächst klärt er, welche die für den Menschen spezifische Weise ist, die Wahrheit zu erfassen. Um die aus der kreatürlichen Endlichkeit des menschlichen Intellekts resultierende Differenz zur absoluten Wahrheit Gottes zu berücksichtigen, greift Cusanus auch hier wie im zuletzt zitierten Text aus ,De coniecturis' auf die Kategorie der Andersheit zurück. In Konsequenz zu der in ,De coniecturis' grundgelegten Bestimmung der Vernunft als Andersheit der unendlichen Einheit folgert Cusanus, dass die Wahrheit in einem anderen nur auf jeweils andere Weise erfasst werden kann.
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Die Möglichkeit einer Gotteskindschafit entscheidet sich somit an der Gegebenheit von Bedingungen, unter welchen eine derartige andersheitliche Wahrheitserkenntnis zustande kommen kann. Weil Cusanus die Unfassbarkeit der göttlichen Wahrheit für alle menschlichen Erkenntnisbemühungen radikal ernst nimmt, bleibt für ihn nur eine Möglichkeit: Gott selbst muss sich in seiner Wahrheit auf andersheitlich erfassbare Weise dem Menschen mitteilen. Aufgrund der undurchschaubar dunklen Geheimnishaftigkeit des Vatergottes ist die Gotteskindschaft nur möglich, wenn Gott selbst die Bedingungen zu ihrer Erlangung schafft, indem er sich lichthaft offenbart. Das tatsächliche Ergangensein einer derartigen Offenbarung weist Cusanus auf, indem er in der Rückführung des endlichen Erkenntnisvollzugs auf seine Ermöglichungsbedingungen feststellt, dass sich der menschliche Intellekt immer schon von der voraussetzungshafiten Gegebenheit einer derartigen inneren Präsenzweise der göttlichen Wahrheit her verwirklicht. Damit entdeckt er zugleich die tiefere Bestimmung der natürlichen Erkenntnisprinzipien im Offenbarungsgeschehen. Sie sind, ihrem ursprünglichen Zielgrund entsprechend, Dimensionen der Offenbarkeit des göttlichen Geheimnisses, weil sie von Gott dem Menschen gegeben wurden, damit ihm die Gotteserkenntnis und so die Erlangung der Gotteskindschafit möglich werde. Dieser Begründungsordnung entsprechend führt Cusanus die erkenntnisermöglichenden, andersheitlichen Gegebenheitsweisen der Wahrheit im Menschen auch als Weisen der Erscheinung Gottes (modi theophanici) ein. Wenn er diese als vernunfthaft-einsichtige (intellectuales) bestimmt, es zugleich aber auch als deren Ziel benennt, dass dadurch Gott, wenngleich nicht in seinem Wesen berührt, dennoch ohne jedes rätselgleichnisartige Sinnenbild in der Reinheit des Vernunftgeistes geschaut wird, bestätigt sich darin die Deutung der Vemunftprinzipien als Vermittlungsmomente der Offenbarkeit Gottes. Dass die Ermöglichungsbedingungen des menschlichen VernunfNollzugs ihren tieferen Sinngrund in der GXaabenserfahrung des Offenbarungsgeschehens finden, bringt Cusanus zum Ausdruck, indem er den Rückbezug des Intellekts auf seine Voraussetzungen wie in den beiden zuletzt interpretierten Texten wiederum als visio intuitiva bestimmt, diese hier aber darüber hinaus noch als Schau von Angesicht zu Angesicht (facialis visio) spezifiziert. Durch den Rückgriff auf diese personal-dialogische Kategorie weist Cusanus darauf hin, dass sich im tiefsten Grunde des menschlichen Intellektvollzugs das Erfahrungsgeschehen der Gotteskindschafit ereignet.33 In der im Glauben erfahrenen Offenbarungszuwendung findet die klare Wahrheitsschau der Vernunft aber nicht nur ihren Ursprung, sondern auch ihr Ziel. Dies macht Cusanus deutlich, indem er die in der Selbstoffenbarung Gottes empfangene Weise der Erscheinung (apparitionis modus) der ab33
Vgl. dazu unten Abschnitt 3.2.6.
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soluten Wahrheit als eine glückhafte Gotteserfahrung beschreibt, in der der Mensch gerade in seiner Bestimmung als Vernunftwesen seine Vollendung findet. Diese Integration des Vernunftvollzugs in die Glaubenserfahrung bedeutet aber auch, dass für den Menschen in seiner kreatürlichen Andersheit Gott nur im Grunde seines Vernunftvollzugs erfahrbar wird. Der im Offenbarungsgeschehen ermöglichte Empfang des intellektuellen Wahrheitsgrundes ist die für den Menschen spezifische Weise der Gotteserfahrung: Und diese Weise der Erscheinung (apparitionis modus) der absoluten Wahrheit, in der das äußerste lebensvolle Glück der so die Wahrheit genießenden Vernunft besteht, ist Gott, ohne den die Vernunft nicht glücklich sein kann. Während Cusanus in der ersten Hälfte des zitierten Textes schwerpunktmäßig den Aufweis der Offenbarkeit Gottes intendierte, konzentriert er sich in der zweiten Hälfte auf einen dazu komplementären Aspekt, den er notwendigerweise berücksichtigen muss, um der Wesensbestimmung Gottes gerecht zu werden. Weil Gott für den Menschen wesenhaft unfassbar ist, bleibt er auch in und nach seiner Offenbarung das absolute Geheimnis. Dieses im christlichen Glauben erfahrene Paradox eines offenbaren Geheimnisses löst Cusanus philosophisch ein, indem er die göttliche Wahrheitsmitteilung als Weise der Offenbarkeit Gottes bestimmt, durch die er der Vernunft in ewigem Leben mitteilbar gegenwärtig ist. Mit Hilfe der Kategorie der Modalität kann er Identität und Differenz Gottes und seiner Erscheinungen zugleich denken. Die bleibende Geheimnishaftigkeit Gottes in seiner Offenbarkeit betont Cusanus so stark, dass er am Schluss des Textes nicht nur die allgemeinste philosophische Bestimmung ,Sein\ sondern sogar die johanneische Selbstaussage Jesu als die Wahrheit und das Leben von Gott verneint. So nimmt er aber Gott nicht hinter seine Offenbarkeit in die unerreichbare Ferne zurück, sondern benennt damit paradoxerweise vielmehr die Voraussetzungen, unter denen Gott offenbar werden kann. Das letzte Wort des Gedankenganges ist die Bestimmung Gottes als das unum simplicissimum principium. Als die Wahrheit ist Gott das Prinzip jeder menschlichen Seinserkenntnis, denn außerhalb des Bereiches der Wahrheit wird ja keine vernunfthafte Spur gefunden, noch kann nach dem Urteil der Vernunft selbst irgendetwas außerhalb des Himmels der Wahrheit sein. Um die menschliche Erkenntnis aller extramental seienden Objekte zu ermöglichen, muss die Wahrheit aber aller Seinserkenntnis auf einer prinzipiell höheren Ebene vorausgesetzt sein. Damit wird sie aber außerhalb jenes Bereichs verortet, innerhalb dessen der Mensch eine vernunfthafte Spur finden oder Sein feststellen kann. Nur weil die göttliche Wahrheit selbst nicht ist oder erkannt werden kann (und so ursprünglich auch nicht die Wahrheit ist), vermag sie der menschlichen Seinserkenntnis als Ursprung vorauszuliegen. Die Wesensbestimmungen des philosophischen Ursprungsbegriffs dienen Cusanus also zum Aufweis, dass die zur Gottes-
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kindschaft fuhrende Selbstverwirklichung der endlichen Vernunft so notwendigerweise in der Selbstoffenbarung eines darin unzugänglich bleibenden göttlichen Geheimnisses gründet. 3.2,2.4 Das Offenbarungswort als Seinsprinzip Die Definition der göttlichen Wahrheitserscheinung als selbst weder erkennbares noch seiendes Prinzip jeder menschlichen Seinserkenntnis impliziert auch eine inhaltliche Bestimmung des erkenntnistheoretischen prius. Während in den bisher interpretierten Texten die voraussetzungshafte Funktion des geoffenbarten Wahrheitslichtes und die notwendige Verwiesenheit des endlichen Intellekts darauf, herausgearbeitet wurden, soll nun der Frage nachgegangen werden, was das geistige Licht beinhalten muss, um seine erkenntnisbegründende Funktion leisten zu können. Als Übergang dazu bietet sich ein kurzer Abschnitt aus ,De dato patris luminum' an, in dem Cusanus jene Begrifflichkeit, mit der er dann die inhaltliche Dimension des Erkenntnislichtes reflektiert, zunächst in einem Gleichnis für den bereits thematisierten Gedanken einer den Intellekt aktuierenden göttlichen Erleuchtung verwendet: Durch das Wort des Lehrers wird der Schüler erleuchtet, wenn die verstandeshafte Kraft des Schülers durch die Gabe des erleuchteten Verstandes des Meisters, der durch den Wort-Geist eindringt, schrittweise zur Wirklichkeit gefuhrt wird. Aber diese ganze in die Wirklichkeit überführende Erleuchtung, die ein Geschenk von oben ist, steigt herab vom Vater aller Gaben; diese Gaben sind Lichter oder Erscheinungen Gottes (theophaniae).34
Bereits in der Interpretation eines anderen Textes, der ein ähnliches Gleichnis beinhaltet, wurde herausgearbeitet, dass Cusanus deshalb häufig auf Analogien aus dem Phänomenbereich des Lernens und Lehrens zurückgreift, weil diese sich zur Versinnbildlichung des Verwirklichungsprozesses eines kreatürlich-endlichen Intellektes besonders eignen.35 Hier dient der Vergleich zur Verdeutlichung der Einsicht, dass das menschliche Erkenntnispotential zu seiner Verwirklichung einer von Gott in seiner herabsteigenden Offenbarungserscheinung geschenkten Erleuchtung bedarf. Im Lehrergleichnis wird aber darüber hinaus auch klar, wie der aktuierende Erleuchtungsprozess in der Mitteilung bestimmter Inhalte besteht. Diese werden im zitierten Text zwar nicht weiter spezifiziert, ihr Vermittlungsträger aber ausdrücklich benannt. Es ist das gesprochene Wort, durch das der erleuchtete Verstand des Lehrers die Gabe seines Geistes sukzessive in den zu aktuierenden Schülerverstand einfuhren kann. 34 35
De dato 1: h IV, N. 94, Z. 10-15. Vgl. oben Abschnitt 3.1.11.3.
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Die worthafte Vermittlungsgestalt der den Intellekt erleuchtend aktuierenden Wahrheit wird für Cusanus nun zum Ausgangspunkt für deren inhaltliche Bestimmung. Die Wahl dieses Zugangs legt sich nicht zuletzt von seinem offenbarungsphilosophischen Anliegen her nahe. Das .göttliche Wort' ist in der christlichen Tradition der Begriff für jenen Vermittlungsträger von Offenbarung, der in den biblischen Schriften mitgeteilt und in der Menschwerdung Jesu Christi mit Gott selbst hypostatisch vereint ist. Indem Cusanus in der folgenden Textpassage aus derselben Schrift den im engeren Sinn auf die positiven Offenbarungsquellen der christlichen Religion bezogenen Begriff des göttlichen Wortes nun als Bestimmung der Ermöglichungsbedingung jedes natürlichen Intellektvollzugs anwendet, zieht er damit die Konsequenzen aus der Einsicht, dass jeder menschliche Erkenntnisakt im Grunde von der (im Bekenntnis der christlichen Religion ausdrücklich bezeugten) Selbstoffenbarung Gottes her ermöglicht ist. Den Gedanken entfaltet er in einer Interpretation des Jakobus Wortes: „Aus freiem Willen hat er uns durch das Wort der Wahrheit geboren, damit wir gleichsam die Erstlingsfrucht seiner Schöpfung seien". Aber diese Zeugung, die „willentlich" geschieht, da sie keinen anderen Grund als den ihrer Gutheit hat, geschieht „im Wort der Wahrheit" (vgl. Jak 1,18). Das Wort der Wahrheit ist der absolute Vernunftgrund (ratio) oder die absolute Kunst oder die Vernunft, die das Licht jeder Vernunft genannt werden kann. In diesem Licht, welches auch das Wort und der erstgeborene Sohn und die höchste Erscheinung des Vaters ist, hat der Vater der Lichter alle herabsteigenden Erscheinungen „willentlich gezeugt". [...] „Er zeugte uns" in jenem Wort der ewigen Kunst und Erscheinung, auf dass wir, wenn wir das Licht seiner Offenbarung (ostensionis), das das unendliche Wort ist, auf die Weise im Abstieg empfangen, in der es von uns im Abstieg empfangen werden kann, „ein Anfang seiner Schöpfung seien" (vgl. Jak 1, 18). Der Empfang der Offenbarung (ostensionis) des Vaters im absteigenden Wort gibt den Anfang des Geschöpfs. Dadurch sind wir „ein Anfang seiner Schöpfung", weil wir das Wort der Wahrheit, in dem er uns gezeugt hat, in unserer Weise aufnehmen. Es ist zur Genüge gezeigt worden, dass das Aufnehmen im Abstieg bewirkt, dass das ewige und allgemeine (universale) Licht den Anfang eines Einzelgeschöpfes (creaturae particularis) bewirkt, so dass in dieser Weise ein Geschöpf entsteht, das seinen ersten Anfang im Wort der Wahrheit hat. Wir sind also das Geschlecht Gottes, da er uns gezeugt hat. Doch zeugte er uns alle in dem einen Sohn, der das Wort der Wahrheit ist. In ihm ließ er uns „einen gewissen Anfang seiner Schöpfung" haben. [...] In der Zeugung der allgemeinen Wahrheit ist alles, was wahrhaft ist, so gezeugt, dass es ein Anfang der zeugenden Schöpfung ist. Darum ist alles, was ist, nur insoweit, als es wahr ist. [...] Darum ist es in der ewigen Zeugung der Wahrheit selbst ewig gezeugt, und als solches ist es die ewige Kraft der Wahrheit. Von ihr empfangt es, dass es, wenn es in der Abfolge der Zeit erscheint, ein „gewisser Anfang der Schöpfung" des zeugenden Vaters ist. [...] So sehen wir deutlich, dass gemäß der absoluten Allmacht und dem unendlichen Licht der Sohn im Göttlichen die wahre Offenbarung (ostensio) des Vaters ist. Aber jedes Geschöpf ist eine Offenba-
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rung des Vaters, da es an der Offenbarung des Sohnes mannigfach und verschränkt teilhat; die einen offenbaren ihn dunkler, die anderen klarer, gemäß der Verschiedenheit der Theophanien oder Erscheinungen Gottes.36
Die bereits in der Interpretation der cusanischen Auslegung eines anderen Jakobuswortes eruierten Prinzipien der Schriftexegese37 finden auch hier Anwendung: Cusanus deutet die Schriftworte, indem er diese von ihrer philosophischen Begriffsgeschichte her versteht. Weil er dabei die Offenbarungsaussagen als den tieferen Sinn der philosophischen Grundgedanken aufweist, führt die Synthese dieser ihrem Entstehungszusammenhang nach unterschiedlichen Horizonte nicht zu deren gegenseitiger Überfremdung. So interpretiert Cusanus hier die biblische Aussage über die anfangliche schöpferische Zeugung des Menschen im Wort der Wahrheit im Rückgriff auf den philosophischen Gedanken der ursprünglichen Begründung des Intellekts im absoluten Wahrheitsprinzip. Unmittelbar nach der Zitation der Schriftstelle identifiziert er dazu zunächst das biblische Wahrheitswort definitorisch mit der Ermöglichungsbedingung des natürlichen Vernunftvollzugs des Menschen: Das Wort der Wahrheit ist der absolute Vernunftgrund (ratio) oder die absolute Kunst oder die Vernunft, die das Licht jeder Vernunft genannt werden kann. Bereits in der folgenden Aussage vollzieht er aber die dazu komplementäre interpretatorische Bewegung, indem er den lichthaften absoluten Vernunftgrund selbst in einer Offenbarungsgegebenheit tiefer begründet. Dies gelingt ihm, weil er bei der Feststellung der Gegebenheit des Wahrheitslichtes nicht stehenbleibt, sondern nach deren Herkunft fragt. Indem Cusanus das geistige Licht als Erscheinung eines Vatergottes begreift, der es „ willentlich ", also aus keinem anderen Grund als seiner grundlosen Gutheit gezeugt hat, findet er den tiefsten, weil auf keinen anderen mehr zurückführbaren Ermöglichungsgrund für den Selbstvollzug des endlichen Intellekts. Die dabei gewonnene Einsicht über die Rückgründung des menschlichen Erkenntnisprozesses in das Offenbarungsgeschehen vertieft Cusanus nun, indem er das absolute Wahrheitsprinzip des Intellekts mit dem Wort und erstgeborenen Sohn des Vatergottes gleichsetzt. Beide Prädikate stammen aus den biblischen Schriften und haben dort ursprünglich die Funktion, Jesus Christus als die vollkommene Gestalt der Selbstoffenbarung Gottes zu erweisen. Sie akzentuieren genau genommen zwei Aspekte der vollendeten Offenbarungswirklichkeit: In der Rede vom Wort ist gesagt, dass es sich dabei um eine sinnlich vernehmbare, also dem Menschen in seiner kreatürlichen Endlichkeit zugängliche, Mitteilung handelt. Die Prädikation als erstgeborener Sohn bringt zum Ausdruck, dass Gott in diesem seinem Offenbarungs36 37
De dato 4: h IV, N. 110, Z. 1 - N 1 1 1 , Z . 33. Vgl. oben Abschnitt 3.2.1.6.
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wort nichts anderes als sein eigenes Wesen uneingeschränkt mitgeteilt hat. Wenn Cusanus feststellt, wie Gott uns zeugt in jenem Wort der ewigen Kunst und Erscheinung, wenn wir das Licht seiner Offenbarung (ostensionis), das das unendliche Wort ist, im Abstieg empfangen, so deutet er das Jakobuswort in dem Sinne, dass sich diese Geburt des göttlichen Sohn-Wortes ursprünglich als erkenntnisbegründender Akt im Inneren eines jeden Vernunftwesens immer schon ereignet hat. Damit hebt er keineswegs den Offenbarungsglauben in seiner Begründungsfunktion für das Denken auf, sondern entdeckt vielmehr, dass der natürliche Vernunftvollzug des Menschen sich nur unter der uneinholbaren Voraussetzung des Offenbarungsgeschehens verwirklichen kann und so als ein Teilmoment desselben zu begreifen ist. Diese umfassende Priorität des Offenbarungsgeschehens für die ursprüngliche Begründung des menschlichen Intellektvollzuges macht Cusanus unmissverständlich, wenn er unter Voraussetzung des Schriftwortes, dem gemäß wir ein Anfang seiner Schöpfung seien, erklärt, dass der Empfang der Offenbarung (ostensionis) des Vaters im absteigenden Wort den Anfang des Geschöpfs gibt. Wie bei der Rede vom Wahrheitswort begründet Cusanus auch die Schriftaussage vom Anfang des Geschöpfs zunächst philosophisch, um dann die tiefere Begründung des philosophischen Gedankens im Offenbarungsgeschehen aufzuweisen. Philosophisch lässt sich das Entstehen einer vom Absoluten verschiedenen, endlichen Wirklichkeit in der materiebedingt begrenzten Aufnahmekapazität der Empfänger des göttlichen Selbstmitteilungsüberflusses erklären. Cusanus setzt hier als aus anderen Kontexten bekannt voraus,38 dass im Abstiegsprozess der ungemindert unendlichen göttlichen Lichtoffenbarung aus den unterschiedlichen Graden von Aufnahmekapazität die Vielzahl der begrenzten Einzelgeschöpfe ursprünglich hervorgeht: Es ist zur Genüge gezeigt worden, dass das Aufnehmen im Abstieg bewirkt, dass das ewige und allgemeine (universale) Licht den Anfang eines Einzelgeschöpfes (creaturae particularis) bewirkt, so dass in dieser Weise ein Geschöpf entsteht, das seinen ersten Anfang im Wort der Wahrheit hat. Der „Anfang der Kreatur" besteht so philosophisch betrachtet in einem Teilhabeverhältnis zur unendlichen göttlichen Lichtmitteilung. Die tiefere Rückgründung des philosophisch aufweisbaren Grundes des Einzelgeschöpfes im Offenbarungsgeschehen entdeckt Cusanus, indem er die notwendige Vor-Gegebenheit einer uneingeschränkten Selbstmitteilung des göttlichen Lichtes als Partizipationsgrund für alle eingeschränkten Empfanger einsieht. Da diese vollkommene Licht-Offenbarung der dunklen Geheimnishaftigkeit des Vatergottes in der zeitfreien innertrinitarischen Zeugung des göttlichen SohnWortes geschieht, ist die Zeugung jedes Einzelgeschöpfes in einem zeitlichen 38
Vgl. oben Abschnitt 3.1.7.2.
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Dimensionen der Offenbarkeit des Geheimnisses
Anfang nur durch die ursprüngliche Vermittlung der innertrinitarischen Offenbarkeitsvollkommenheit des prä-existenten Christus möglich. Weil jeder Vernunftvollzug in einem Teilhabeverhältnis zur vollkommenen Wahrheitsmitteilung des göttlichen Wortes besteht, findet er in der innertrinitarischen Präexistenz Jesu Christi als der vollkommenen Offenbarungsgestalt des unenthüllbaren göttlichen Geheimnisses den „Anfang seiner Schöpfung": Wir sind also das Geschlecht Gottes, da er uns gezeugt hat. Doch zeugte er uns alle in dem einen Sohn, der das Wort der Wahrheit ist. In ihm ließ er uns „ einen gewissen Anfang seiner Schöpfung" haben. Die Identifikation der voraussetzungshaften Ermöglichungsbedingung des menschlichen Intellektvollzugs mit einem Teilhabegrad am innertrinitarischen Sohn-Wort der göttlichen Wahrheit erlaubt Cusanus nun auch Rückschlüsse auf die inhaltliche Bestimmung des geistigen Wahrheitslichtes. In der letzten Gedankeneinheit der zitierten Textpassage lässt er sich auch in dieser Frage von der biblischen Vorgabe leiten, legt sie aber wiederum in einer philosophischen Begründung aus. Durch die biblisch motivierte, tiefere Bestimmung des geistigen Wahrheitsprinzips als das göttliche Wort wird einsichtig, dass die Begründung des endlichen Intellekts in der Mitteilung bestimmter Inhalte besteht. Was dem Intellekt im ursprünglichen Erleuchtungsakt mitgeteilt wird, entnimmt Cusanus wiederum zunächst den biblischen Offenbarungsvorgaben. Aus der an prominenter Stelle im Johannesprolog vorgetragenen Aussage, wonach durch das göttliche Wort alles geschaffen ist, schließt Cusanus, dass in der erleuchtenden Einstrahlung des Wahrheitswortes dem Intellekt die der Schöpfung ursprünglich vorausliegenden idealen Wesensbestimmungen aller in der geschaffenen Weltwirklichkeit real seienden Dinge mitgeteilt werden. Diese durch die biblische Vorgabe eröffnete Einsicht lässt sich nun in zweifacher Hinsicht philosophisch erklären, einmal im Hinblick auf die Begründungsstruktur der menschlichen Erkenntnis, sodann im Bezug auf die ontologische Begründungsordnung der realen Weltseienden. Erstens: Wenn dem menschlichen Intellekt im göttlichen Offenbarungswort nicht nur eine begrenzte Anzahl bestimmter Inhalte, sondern die unbegrenzte Wesenswahrheit allen Seins mitgeteilt wird, so ist dies eine notwendige Vorbedingung dafür, dass das geistige Wahrheitslicht überhaupt seine erkenntnisbegründende Funktion leisten kann. Weil das Wahrheitswort den erkennenden Bezug auf die gesamte Weltwirklichkeit ermöglichen soll, muss es ein Vorverständnis des Seins in seiner allumfassenden Fülle beinhalten. Zweitens: Wenn die Dinge nur unter Voraussetzung des Wahrheitswortes erkennbar werden, so findet dies seinen tieferen Grund darin, dass das Sein der Dinge selbst in ihrer geistigen Wesenswahrheit begründet ist. Die biblische Aussage von der Schöpfung durch das aus der Weisheit Gottes hervorgehende Wort
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versteht Cusanus auf dem Hintergrund der platonischen Ideenlehre. In Kontinuität der Tradition christlichen Denkens39 identifiziert er die intelligiblen Seinsprinzipien Piatons mit den der sinnenfalligen Schöpfung ursprünglich vorausliegenden Gedanken Gottes. Demzufolge begreift Cusanus das göttliche Schöpfungswort als den alles Sein in seinem Begriff (conceptus) und seinem Können (ars) begründend hervorbringenden absoluten Geist (ratio): Alles ist durch das Wort Gottes geschaffen. Folglich ist das Wort Gottes ungeschaffen, da ja durch es alles geschaffen ist. Es ist somit das ewige, ungeschaffene Wort. Es ist also kein sinnenfalliges Wort, sondern vielmehr ein vernunfthaftes. Das vernunfthafte Wort aber, durch das die Vernunft alles wirkt, ist ein vernunfthafter Begriff. [...] Die vernunfthafte Natur formt also alles durch ihr Wort. [...] Dieses Wort wird auch Weisheit genannt; Gott schafft nämlich alles durch seine Weisheit (vgl. Spr 8, 22ff; Sir 24, 3ff; Weish 9,9ff). [...] Ebenso wird das Wort auch Vernunftgrund (ratio) genannt. Denn alles hat seinen Grund; es gibt nämlich nichts, dem nicht ein hinreichender Grund vorausgeht. Auch heißt das Wort Rede, Kunst oder Meisterschaft, durch die Gott alles schafft. Das Evangelium aber nennt es das Wort, „ohne das nichts geschaffen ist" (vgl. Joh 1,3), und dasselbe Wort nennt es den Eingeborenen Gottes, „durch den er auch die Himmel erschuf' (vgl. Hebr 1,2).40
Auf dem Hintergrund dieser ontologischen Begründung kann Cusanus im hier zu interpretierenden Text aus ,De dato patris luminum' das göttliche Wahrheitswort als das Prinzip allen Seins begreifen. Weil (gemäß den Voraussetzungen der platonischen Ideenlehre) alles nur insoweit ist, als es wahr ist, wird in der Zeugung der allgemeinen Wahrheit alles, was wahrhaft ist, so gezeugt, dass es ein Anfang der zeugenden Schöpfung ist. Ebenso wie die erkenntnisbegründende, fundiert Cusanus auch die seinsbegründende Funktion des Wahrheitswortes im Offenbarungsgeschehen, indem er auch sie auf die Teilhabe an der innertrinitarischen Selbstmitteilung des Vatergottes in seinem vor aller Zeit gezeugten Sohn zurückführt: Darum ist es in der ewigen Zeugung der Wahrheit selbst ewig gezeugt, und als solches ist es die ewige Kraft der Wahrheit. Von ihr empfängt es, dass es, wenn es in der Abfolge der Zeit erscheint, ein „gewisser Anfang der Schöpfung" des zeugenden Vaters ist. Weil jedem Ding sein Sein in der Teilhabe an der vollkommenen innertrinitarischen Mitteilung der zeugungsmächtigen Seinsfülle des Vatergottes in seinem Sohn Jesus Christus vermittelt wird, sind alle Seienden im Grunde Teilmomente des Offenbarungsgeschehens und werden so von Cusanus schließlich dieser ihrer tiefsten Ursprungsbestimmung entsprechend als gradweise gestufte Theophanien begriffen: So sehen wir deutlich, dass gemäß der absoluten
39
Vgl. z.B. exemplarisch AUGUSTINUS, De diversis quaestionibus De ideis (CCSL 44 A, 70ff). 40 Crib. Alk. I, 13: h VIII, N. 60, Z. 3 - N . 61, Z. 10.
octoginta
tribus, 46:
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Allmacht und dem unendlichen Licht der Sohn im Göttlichen die wahre Offenbarung (ostensio) des Vaters ist. Aber jedes Geschöpf ist eine Offenbarung des Vaters, da es an der Offenbarung des Sohnes mannigfach und verschränkt teilhat; die einen offenbaren ihn dunkler, die anderen klarer, gemäß der Verschiedenheit der Theophanien oder Erscheinungen Gottes.
3.2.3
Das offenbarungsphilosophische Glaubensverständnis
Der Aufweis der Vor-Gegebenheit des geistigen Erkenntnislichtes und seiner inhaltlichen Bestimmung als worthafter Mitteilung der Wahrheitsprinzipien allen Seins hat bei Cusanus einen tieferen Sinn. Der philosophische Weg des selbstreflektorischen Rückgangs des Denkens auf seine ursprünglichen Ermöglichungsbedingungen soll zur Einsicht fuhren, dass der natürliche Vernunftvollzug des Menschen in Voraussetzungen gründet, die ihm vorgängig zu seiner Selbstverwirklichung immer schon eröffnet sein müssen. Das Ziel dieser Erkenntnisbewegung ist somit die Entdeckung einer im tiefsten Grunde des Denkens immer schon ergangenen Offenbarung. Die von Cusanus in ,De dato patris luminum', Kap. 5, vorgenommene Bestimmung des geschenkten Erkenntnislichtes als der zweiten Dimension der Selbstoffenbarung des göttlichen Geheimnisses hebt somit keineswegs die Offenbarungswirklichkeit in Vernunftkategorien auf, sondern fuhrt vielmehr zu einem gewandelten, vertieften Verständnis der Begründungsstruktur des Denkens. Die offenbarungsphilosophische Deutung des geistigen Lichtes vermittelt die Erkenntnis, dass der natürliche Vernunftvollzug des Menschen ursprünglich in der Glaubenserfahrung des Offenbarungsgeschehens ermöglicht wird. Dieses in seinem Ursprungsbewusstsein neue Selbstverständnis des Denkens entfaltet Cusanus zunächst im Hinblick auf jenen Akt, durch den sich die Vernunft im Rückbezug auf ihren Offenbarungsgrund ursprünglich konstituiert. Weil die Annahme der Offenbarung im Vollzug des Glaubens geschieht, lässt sich damit auch die ursprüngliche Bedeutung dieses religiösen Grundaktes für den natürlichen Vernunftvollzug des Menschen aufweisen. Da dies in der Rückführung des Intellekts auf seine voraussetzungshaften Ermöglichungsbedingungen geschieht, führt die Entdeckung der philosophischen Sinnbedeutung des Glaubens nicht zur Reduktion der religiösen Erfahrung auf den Begriff, sondern umgekehrt zur Einsicht, dass das begriffliche Denken des Menschen ursprünglich in die Dimension eines Geschehens integriert ist, das ihm unaufhebbar vorausliegt. Auf diese offenbarungsphilosophische Deutung des Glaubensvollzuges wurde bereits in der Interpretation der grundlegenden Textpassage aus ,De dato patris luminum', Kap. 5 verwiesen. Dort bezeichnet Cusanus das geistige Erkenntnis-
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Erkenntnislicht
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licht im Hinblick auf dessen Herkunft aus dem empfangenden Rückbezug auf die Wahrheitsoffenbarung als das lumen fidei. Mit dieser Identifikation greift er das Ergebnis eines Begründungszusammenhanges auf, den er in einem Kapitel aus ,De docta ignorantia' (III, 11) grundgelegt und breit entfaltet hatte. Da Cusanus in diesem mit Mysteria fidei überschriebenen Abschnitt den Glauben als den ursprünglichen Rückbezug des Intellekts auf das offenbare Geheimnis Gottes reflektiert und dabei sein Verständnis von Geheimnis und Offenbarkeit begrifflich bestimmt, ist er für die vorliegende Untersuchung zentral. Er soll daher abschnittweise in seinen einzelnen Aspekten unter Hinzuziehung von aufschlussreichen Vertiefungen aus anderen Kontexten interpretiert werden. 3.2.3.1
Der Glaube ist der Ursprung des Denkens
Die Überlegungen des Cusanus zu den Mysteria fidei sind ähnlich strukturiert wie seine Schriftauslegungen. Zu Beginn wird eine Autoritätsaussage zitiert, die dann im folgenden Gedankengang in einer rein philosophischen Begründung als denknotwendig erwiesen wird: Alle unsere Vorfahren behaupten übereinstimmend, dass der Glaube der Anfang des Erkennens ist (fidem initium esse intellectus). In jeder Disziplin werden nämlich gewisse erste Prinzipien vorausgesetzt (praesupponuntur), die allein durch den Glauben (sola fide) angenommen werden; aus diesen wird die Einsicht in das zu Behandelnde gewonnen. Jeder nämlich, der zu wissenschaftlicher Kenntnis aufsteigen will, muss an all das glauben, ohne das ein Aufstieg unmöglich ist. Isaias sagt ja: „Wenn ihr nicht glaubt, werdet ihr nicht erkennen" (vgl. Jes 7, 9 nach Vulg.: nisi credideritis, non intelligetis). Der Glaube faltet also in sich alles Erkennbare ein. Vernunfterkenntnis aber ist die Ausfaltung des Glaubens. Die Vernunft wird also durch den Glauben gelenkt, und der Glaube wird durch die Vernunfterkenntnis ausgebreitet. Wo also kein gesunder Glaube ist, da gibt es auch keine wahre Erkenntnis. Es ist offenkundig, was für Folgen ein Fehler in den Prinzipien und ein schwaches Fundament nach sich ziehen. Es gibt aber keinen vollkommeneren Glauben, als die Wahrheit selbst, die Jesus ist.41
Wenn Cusanus die im folgenden explizierte Grundthese des gesamten Kapitels als die übereinstimmende Behauptung aller seiner Geistesahnen einfuhrt, so kann dies als eine Art Reminiszenz an das Autoritätenzitat am Beginn scholastischer Quaestionen gelesen werden. Doch diese Bezugnahme qualifiziert den anschließenden Gedanken auch inhaltlich. Cusanus gibt damit zu verstehen, dass er mit den Überlegungen dieses Kapitels die Sinnerschließung einer der gesamten christlichen Tradition gemeinsamen Grundüberzeugung intendiert. Mit der thesenhaft an den Beginn gesetzten Bestimmung des Glaubens als Anfang des Er41
De docta ign. III, 11: h l , S. 151, Z. 2 6 - S. 152, Z. 9 (N. 244, Z. 3-16).
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Dimensionen der Offenbarkeit des Geheimnisses
kennens greift Cusanus die von Augustinus ausgehende Tradition des intellectus fidei (Glaubenseinsicht) auf.42 Gerade an der Parallelität zu Schrift- und Väterexegese ließe sich aber deutlich machen, dass mit der Zugrundelegung einer traditionellen These keineswegs auch die dafür von der Tradition bereitgestellten Auslegungen übernommen werden. Ganz im Gegenteil: Über je mehr innovative Kraft zu denkerischer Originalität ein Interpret verfugt, desto mehr wird er in der Begründung der gemeinsamen Grundüberzeugungen seiner Tradition eigene Wege gehen. Dass dies bei Cusanus der Fall ist, lässt sich nicht nur aus der Unvergleichbarkeit seiner Gedanken indirekt erschließen. Er selbst sagt im Widmungsschreiben zu ,De docta ignorantia' ausdrücklich, dass dieses sein philosophisches Erstlingswerk entstanden ist, weil er dessen Grundgedanken auf den verschiedenen Wegen der traditionellen Lehrmeinungen (variis doctrinarum viis) trotz intensiver dahingehender Bemühungen weder vorfinden noch zum Ausdruck bringen konnte.43 Sowohl im Hinblick auf literarische Parallelen wie auf den von Cusanus selbst erhobenen Originalitätsanspruch verbietet es sich demnach, die cusanische Position bezüglich der Glaubenseinsicht unreflektiert von vornherein unter der Voraussetzung ihrer Übereinstimmung mit der Tradition zu interpretieren.44 Bereits 42
Die von HOFFMANN/KLIBANSKY (in der Akademieausgabe der Opera omnia, h I, S. 151) und SENGER (in der lat.dt. Ausgabe von De docta ign. III, NvKdÜ H. 15 c, S. 142) für des Cusaners Selbstbezug auf die maiores nostri beigebrachten Belegstellen (AUGUSTINUS, In Ioannis evang., tract XL 8f [CCSL 36, 354f]; ANSELM VON CANTERBURY, Proslogion 1 [ed. Schmitt 100,18f]) erlauben eine eindeutige problemgeschichtliche Einordnung der cusanischen Position in diese Entwicklungslinie; sein Verhältnis zur thomasischen Brechung derselben wird sich weniger als das einer Weiterentwicklung, sondern vielmehr als das einer (im wörtlichen Sinn) radikalen Umkehrung erweisen. 43
De docta ign., Epistula auctoris', h I, S. 163, Z. 6f (N. 263, Z. 4). Gerade letzteres passiert aber in den meisten der ohnehin nicht zahlreichen Bezugnahmen auf das Kapitel über die Glaubensmysterien. R. HAUBST (in: Streifzüge in die cusanische Theologie·. BGC Sonderbeitrag 3 [Münster 1991], 16f, 53f; vgl. auch: DERS., Das Bild des Einen und Dreieinen Gottes in der Welt nach Nikolaus von Kues [Trier 1952], 24f) versteht das gesamte Kapitel als Wiederaufnahme der thomasischen Ausführungen zur Theologie als Wissenschaft. Die nach Cusanus in jeder Wissenschaft vorausgesetzten und so allein im Glauben angenommenen Prinzipien identifiziert Haubst unter Verweis auf THOMAS VON AQUIN, De veritate 14,10c und Summa theologiae I 1, 6 ad 1 mit dem Glaubensinhalt, dem sich das Denken zuwendet (16). In der cusanischen Bestimmung des intellectus als fidei explicatio sieht er im Anschluss an z.B. Summa theologiae II/II 1, 7 eine Bejahung der Dogmenentwicklung (17). Aus dieser Deutung ergibt sich für Haubst die Erklärung des thomasischen Axioms fides supponit et perficit intellectum (vgl. Summa theologiae I 2, 2 ad 1) zur .ungesagten' Voraussetzung der cusanischen Aussagen über das Verhältnis von Glauben und Denken, denn es fände sich bei ihm, obwohl nirgends wörtlich zitiert, als ein Leitprinzip seines Denkens, besonders 44
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stark wirksam (70). Um die im thomasischen Sinne verstandene Übernatürlichkeit des Glaubens auch für Cusanus behaupten zu können, muss Haubst aber annehmen, dass Cusanus im hier zu interpretierenden Kapitel keine eindeutigen Aussagen mache, sondern vielmehr eine doppelte analoge Begriffsfassung vornehme, die es in der Interpretation im Sinne des thomasischen Axioms zu klären gelte: 1. Der Begriff des „Glaubens" wird auf die natürliche Evidenz der obersten wissenschaftlichen Prinzipien angewandt. [...] 2. Der Begriff des „Prinzips" wird auf die von der Wissenschaft aus dem Glauben gewonnene Orientierung angewandt. (Das Bild... 25f). Der Griff zu einem derart verkomplizierenden Erklärungsmuster wäre nur dann gerechtfertigt, wenn der Text bei einem univoken Verständnis des Glaubens- und Prinzipienbegriffs keinen Sinn ergeben würde. In den folgenden Überlegungen soll aber aufgewiesen werden, dass Cusanus hier einen in seiner Einfachheit klaren Gedanken sehr wohl auch eindeutig zum Ausdruck bringen konnte. - Ebenso eingeschränkt, nämlich auf die Fälle, in denen man glauben muss, um einsehen zu können, wird die cusanische Rede von der Vernunft als der Entfaltung des Glaubens bei J. HOPKINS, Glaube und Vernunft im Denken des Nikolaus von Kues. Prolegomena zu einem Umriss seiner Auffassung: Trierer Cusanus Lecture 3 (Trier 1996) 23. Besagte Fälle, in denen der Glaube der Vernunft nachhelfen müsse, werden in Hopkins' als Verständnishilfe fur den cusanischen Gedanken angebotener Glaubensdefinition umschrieben: Glaube bedeutet eben zu glauben, ohne ganz einsehen zu können, jedoch verbunden mit der Hoffnung, es immer besser verstehen zu können. (23f). Wie dieses Verständnis des Glaubens als ein Für-wahr-Halten (dies ist wohl mit der tautologischen Wiederholung des zu erklärenden Wortes gemeint) eines (noch) undurchschaubaren Sachverhaltes sich mit der im selben Kapitel ( h l , S. 154, Z. 25) von Cusanus selbst vertretenen Auffassung, dass der größte Glaube zu einem derartigen Grad von unbezweifelbarer Gewissheit erhoben sei, dass er auch am wenigsten Glaube ist, sondern die höchste Gewissheit ohne jeden Zweifel in was auch immer, vereinen lässt, ist Hopkins offenbar nicht einmal der Frage wert. Fraglich bleibt allerdings, ob Hopkins in seiner Behauptung, dass nach Cusanus das Verstehen ohne die Führung durch den Glauben wenn schon nicht blind, so doch zumindest kurzsichtig ist (24), tatsächlich Ein-blick in die cusanische Einsicht, dass es überhaupt keine wahre Erkenntnis gibt, wo kein gesunder Glaube gegeben ist (S.152, 6), gewonnen hat. - In diesem ihrem universalen Sinn werden die cusanischen Aussagen über den Glauben zur Kenntnis genommen bei K. JACOBI (Ontologie aus dem Geist „belehrten Nichtwissens", in: DERS. [Hg.], Nikolaus von Kues. Einfuhrung in sein philosophisches Denken [Freiburg-München 1979], 27-55, hier: 53): Das Denken des Nikolaus von Kues beruht auf Glauben. In einer Reflexion über diesen Sachverhalt legt Nikolaus dar, dass dies - formal gesprochen - kein Specificum religiösen oder theologischen Denkens ist. Jeder Aufbau einer Doktrin beruht notwendigerweise auf einer Annahme von „etwas, was als erste Prinzipien vorausgesetzt wird". Insofern ist jede Erkenntnis „Ausfaltung des Glaubens". Ob die Grundannahmen inhaltlich eine sana fides darstellen, dafür gibt es keinen Beweis, als nur den inneren Reichtum und die Sinnkohärenz der aus diesen Grundannahmen entfalteten Erkenntnisse. - Wenngleich auch U. OFFERMANN (in: Christus Wahrheit des Denkens. Eine Untersuchung zur Schrift ,De docta ignorantia' des Nikolaus von Kues: BGPhThMA N.F.33 [Münster 1991], 175) richtig erkennt, dass die gläubige Annahme erster Prinzipien nicht nur für die theologische Erkenntnis, sondern nach Nikolaus von Kues
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an den in ,De docta ignorantia' III, 11 behandelten Inhalten wird deutlich, dass Cusanus in seiner Rede vom intellectus fidei eine grundsätzliche Umdeutung dieser traditionellen Wendung vornimmt. Während mit dieser Formel bisher die Einsichtnahme in das Geglaubte durch den Versuch einer vernünftigen Begründung der im Glauben immer schon vor-gegebenen christlichen Offenbarungsinhalte bezeichnet wurde, steht sie bei Cusanus für das Begreifen des Glaubensaktes selbst, denn in Mysteria fidei werden nicht einzelne Glaubensannahmen durch vernünftige Argumente gerechtfertigt,45 sondern der Glaube selbst auf seine Wesensbestimmungen hin reflektiert: Der intellectus fidei verwirklicht sich bei Cusanus in der Selbstreflexion des Gläubigen. Da in Entsprechung dazu auch der Terminus intellectus nicht mehr die Gesamtheit der aus der Einsichtnahme in bestimmte Glaubenssätze resultierenden Gedanken, sondern den Selbstvollzug der endlichen Vernunft in seiner Allgemeinheit beschreibt, wird die augustinische Formel für die Verhältnisbestimmung zwischen Geglaubtem und Gedachtem bei Cusanus zu einer begrifflichen Definition des Glaubens aus seiner Bedeutung für die endliche Erkenntnis. Benennt für alle Erkenntnisbereiche gilt, zieht er diese Einsicht in der Interpretation nicht konsequent durch, denn nicht die Tatsache, dass Jesus Christus die Wahrheit des Menschen ist, ist für Nikolaus von Kues ein solches erstes Prinzip, auf dem die wahre Vernunfterkenntnis basiert, sondern das alleinige Prinzip des endlichen Vernunftvollzugs ist die im Glauben an Jesus Christus angenommene Selbsterschließung der absoluten Wahrheit. - Seiner Sinntiefe entsprechend wird der Gedanke von De docta ign. III 11 gedeutet bei C. SCHÖNBORN, „De docta ignorantia" als christozentrischer Entwurf, in: K. Jacobi (Hg.), Nikolaus von Kues (FreiburgMünchen 1979), 138-156, hier: 141: Diese Evidenz, dieses die Vorgangsweise seines Denkens bestimmende Prinzip, wird man in der Intuition der Docta ignorantia selbst sehen müssen. Von der Evidenz dieser Intuition her bestimmt Nikolaus denn auch das Verhältnis von Glauben und Erkennen. In der Sicht des „ belehrten Nichtwissens " koinzidieren gewissermaßen Glauben und Erkennen. - Die nach wie vor aufschlussreichste Untersuchung zum cusanischen Glaubensverständnis ist: S. DANGELMAYR, Vernunft und Glaube bei Nikolaus von Kues, in: ThQ 148 (1968) 429 - 462. Dem cusanischen Gedanken von Mysteria fidei ist Dangelmayrs Bestimmung von credere als Grundakt des als intellectus gefassten menschlichen Seins und Wesens (451) angemessen. - Die von K. JASPERS (Nikolaus Cusanus [München 1964]) in seiner Cusanus-Kritik vertretene These, nach der der Offenbarungsglaube dem Cusaner die ursprüngliche Weite seines philosophischen Horizontes nicht etwa eröffnet, sondern im Gegenteil durch äußeren Zwang restringiert hätte (vgl. 257), wird gegenwärtig nicht mehr vertreten und ist auch mit dem Ergebnis der vorliegenden Untersuchung widerlegt. 45 Dies geschieht, wie SENGER (NvKdÜ H. 15 c, S. 141) treffend anmerkt, in den vorhergehenden Abschnitten des Werkes (vgl. z.B. III 7: Mysterium mortis Iesu Christi; III 8: De mysterio resurrectionis): Es geht jetzt nicht mehr um Glaubensgeheimnisse und (dogmatische) Inhalte des christlichen Glaubens, sondern es geht hier um die Geheimnisse, die der Glaube als Glaube selbst schafft.
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fides primär den Akt des Glaubens selbst und nicht die Summe seiner Inhalte, so bedeutet ihre Bestimmung als initium intellectus nicht mehr, dass bestimmte Glaubensaussagen dem Denken als Themen vorgegeben sind, sondern dass der Vollzug des Glaubens dem des Denkens ursprünglich vorausgeht. 3.2.3.2
Die ersten Erkenntnisprinzipien
als Mysteria fidei
Dieses die klassische thomasische Zuordnungslogik von Glauben und Denken geradezu umkehrende und so in einem wörtlichen Sinn radikal neue Verständnis des Glaubens, der so nicht mehr der Begründung durch die Erkenntnis bedarf, sondern als dieser ursprünglich zugrundeliegend begriffen wird, wird nun von Cusanus in jenen Aussagen, die im angeführten Text der Ausgangsthese folgen, seinerseits in einer philosophischen Argumentation begründet. Soll der Glaube als der Ursprung des Denkens aufgewiesen werden, so ist der selbstreflektorische Rückgang des Vernunftvollzugs auf seine voraussetzungshaften Ermöglichungsbedingungen die einzig zielfuhrende Methode. Das Ergebnis dieses Regresses formuliert Cusanus in der Feststellung, dass in jeder Disziplin gewisse erste Prinzipien vorausgesetzt werden (praesupponuntur),[...] aus denen die Einsicht in das zu Behandelnde gewonnen wird. Die ursprüngliche Bedeutung des Glaubens für jeden wissenschaftlichen Erkenntnisvollzug entdeckt Cusanus nun, indem er die Bestimmung der erkenntnisermöglichenden Prinzipien als Voraussetzung weiter reflektiert. Weil die Prinzipien die Bedingung dafür sind, dass das menschliche Erkenntnisvermögen sich verwirklichen kann, müssen sie jedem Vernunftakt bereits vorausliegen und können deshalb nicht vom endlichen Intellekt des Menschen selbst hervorgebracht werden. Da der Rückbezug der menschlichen Vernunft auf die ihre Verwirklichung ermöglichenden Prinzipien demnach in der Annahme eines vor-gegebenen Wahrheitsan-spruches besteht, ist er im Grunde von denselben Momenten bestimmt, wie der Glaubensvollzug. Weil die ersten Erkenntnisprinzipien allein durch den Glauben (sola fide) angenommen werden und jeder, der zu wissenschaftlicher Kenntnis aufsteigen will, an all das glauben muss, ohne das ein Aufstieg unmöglich ist, ist der natürliche Erkenntnisvollzug des Menschen ursprünglich vom Glaubensvollzug her ermöglicht. Wie Cusanus hier nicht eine entfernte Analogie zwischen Glauben und Denken herstellen will, sondern die verborgene Präsenz des in den biblischen Schriften ausdrücklich bezeugten Glaubens im Grunde des Vernunftvollzugs eines jeden Menschen entdeckt, wird nicht zuletzt daran deutlich, dass er selbst diesen Gedanken als (spekulative) Interpretation einer biblischen Aussage über den Glauben versteht, die auch von den klassischen Autoren des intellectus fidei ausdrück-
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lieh auf den religiös-biblischen Glauben bezogen wurde,46 nämlich des gemäß der (vom hebräischen Original auch dem Sinn nach abweichenden) VulgataÜbersetzung zitierten Jesaja-Satzes: „ Wenn ihr nicht glaubt, werdet ihr nicht erkennen ". Im Verständnis des Glaubens als des in jedem Erkenntnisvollzug voraussetzungshaft gegebenen Rückbezuges auf erste Prinzipien reflektiert Cusanus ein der Tradition aristotelischer Erkenntnislehre entstammendes Motiv47 auf dem Hintergrund seiner in ,De docta ignorantia' unter der Voraussetzung von Philosophemen überwiegend platonischer Provenienz entfalteten Theorie des absoluten Prinzips in einer Weise, die dessen freilich nicht mehr ausdrücklich in der Glaubenseinsicht motivierte subjektphilosophische Ausdeutung bei Descartes antizipiert.48 Weil das Denken bei Cusanus noch in der Unmittelbarkeit der Glaubenserfahrung verwurzelt ist, kann er in der Selbstvergewisserung des Menschen eine tiefere Voraussetzung aufweisen, als dies dann bei Descartes möglich ist. Nicht die Existenz des Subjekts ist der tiefste Grund für seinen Erkenntnisvollzug, sondern dessen Rückbezug auf die im Glauben angenommenen Wahrheitsprinzipien: Cogito, ergo credo. 3.2.3.3 Die Wahrheitsprinzipien als im Vertrauen anzunehmendes Glaubensgeschenk Die im ersten Absatz von ,De docta ignorantia' III, 11 entdeckte und thesenhafit formulierte innere Wesensbestimmung des erkenntnisermöglichenden Rückbe46
Vgl.
z.B.
AUGUSTINUS,
CANTERBURY, Proslogion 47
Tract,
in
loh.
XXIX
6,18
(CCSL
36,287);
ANSELM
VON
1 (ed. Schmitt 100,19).
V g l . ARISTOTELES, Met.
1 0 1 3 a 1 7 - 1 9 ; Eth.
Nie.
1 1 3 8 b 3 3 ; THOMAS VON AQUIN, In
XI
Metaph. I 4; Summa theologiae I 2, 1. Dazu: L. F. TUNINETTI, „Per se notum". Die logische Beschaffenheit des Selbstverständlichen im Denken des Thomas von Aquin: STGMA 47 (Leiden - New York - Köln 1996). 48 Vgl. z.B.: R. DESCARTES, Principia philosophiae, Brief an Picot (ed. Adam - Tannery Bd. IX/2 S.2): Weiters wollte ich erklären, dass es zur Erreichung eines solchen Wissens notwendig ist, es aus den ersten Ursachen abzuleiten. Wer sich also bemüht, dieses Wissen zu erwerben (und das heißt eigentlich philosophieren), muss mit der Erforschung dieser ersten Ursachen anfangen, eben mit den Prinzipien. Hinsichtlich dieser Prinzipien gelten zwei Grundbedingungen: Die eine, dass sie so klar und evident sind, dass der menschliche Geist an ihrer Wahrheit nicht zweifeln kann, solange er sie aufmerksam betrachtet; die andere, dass die Erkenntnis der anderen Dinge so von ihnen abhängt, dass die Prinzipien zwar ohne deren Kenntnis erkannt werden können, nicht aber umgekehrt die Dinge ohne die Prinzipien. Demnach gilt es zu versuchen, aus diesen Prinzipien die Erkenntnis der von ihnen abhängenden Dinge so abzuleiten, dass es in der ganzen Reihe von Ableitungen nichts gibt, was nicht ganz klar ist.
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zugs auf die Wahrheitsprinzipien als Glaubensvollzug wird in den folgenden Sinneinheiten des Kapitels in ihren einzelnen Aspekten expliziert und begründet. Zunächst gilt es, die Rede vom rechten Glauben als hervorragendstem Geschenk Gottes 49 oder bewundernswertem Gottesgeschenk 50 in ihrer Bedeutung für den Ursprung des Denkens zu erklären. Die entsprechenden Zusammenhänge stellt Cusanus selbst in einem Gedankengang seiner Schrift .Über die Gotteskindschaft' her: Die vernunfthafte Kraft, die das wirkhafte göttliche Licht empfängt, durch das sie verlebendigt wird, zieht durch den Glauben sein ständiges Einströmen (continuam influentiam) an, damit sie zu einem vollkommen erwachsenen Mann heranwächst. Die Männlichkeit gehört aber nicht zur Welt der Kindheit, w o der Mensch noch wächst, sondern zur Welt der Vollkommenheit. Der Knabe und der Mann sind derselbe. Aber die Kindschaft erscheint nicht in dem Knaben, der den Knechten zugezählt wird, sondern im Erwachsenenalter, wenn er gemeinsam mit dem Vater herrscht. Derselbe ist es, der jetzt in der Schule ist, um zu lernen und der danach die Meisterschaft erlangt. Wir lernen aber, wie der Theologe [sc. Johannes] sagt, in der Weise, dass wir das verstandeshafte Wort von dem Lehrer empfangen, dem wir glauben, weil er ein wahrhafter Meister ist und uns richtig lehrt. Wir vertrauen, dass wir daraus Nutzen gewinnen können und, weil wir sein Wort empfangen und glauben, für Gott belehrbar werden. Und dadurch entsteht in uns die Fähigkeit, jene Meisterschaft selbst zu erlangen, welche die Kindschaft ist.51
Im zitierten Text sind abstrakte Formulierung und gleichnishafte Versinnbildlichung des Gedankens ineinander verschlungen. Dies erreicht Cusanus durch ein ins Deutsche nicht übertragbares lateinisches Wortspiel. In der intellektuellen Kraft (vis) vernimmt er die Anlage zum vollkommen erwachsenen Mann (vir). Diese Assoziation hat ein doppeltes Fundament in der Sache. Erstens kommt darin zum Ausdruck, dass die Vernunft dem Menschen zunächst in der Weise einer in einem Wachstumsprozess zu verwirklichenden Möglichkeit gegeben ist. Sodann kann Cusanus durch diese Anspielung das der gesamten Schrift zugrundeliegende theologische Motiv der Gotteskindschaft integrieren. Der erste Satz des Textes benennt den Weg und die Bedingungen zur Aktuierung des menschlichen Intellektpotentials. Die Einsicht, dass die Vernunft nur durch den Empfang des wirkhaften göttlichen Lichtes verlebendigt wird, ist bereits aus anderen Kontexten bekannt und braucht hier nicht erneut interpretiert zu werden. In keinem der bereits zitierten Texte so explizit formuliert und insofern neu ist aber der Zusammenhang, den Cusanus hier zwischen dem Empfang des
49
De docta ign. III, 11: h I, S. 152, Z. 10 (N. 244, Z. 17f).
50
De docta ign. III, 11: h I, S. 156, Z. 10 (N. 252, Z. 8).
51
De fil. 2: h IV, N. 56, Z. 3-15.
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Dimensionen der Offenbarkeit des Geheimnisses
erkenntnisbelebenden göttlichen Lichtes und dem Glauben herstellt. Den Glauben bestimmt er als jenen Vollzug, durch den die intellektuelle Kraft das beständige Einströmen des von Gott her empfangenen Erkenntnislichtes anzieht. Damit entdeckt er die dem Glaubensakt wesenseigene Disposition zur Annahme der von Gott her geoffenbarten Wahrheitsmitteilung als den Ursprungsvollzug der natürlichen Erkenntnis. Mit der Bereitschaft zur Aufnahme der göttlichen Lichteinströmung findet auch die dem Glauben eigene Finalisierung auf die geschenkhaften Gaben Gottes im tiefsten Grunde des Denkens ihre Entsprechung. Weil der Intellekt das ihn belebende Licht nur passiv aufnehmen kann, vermag er es nur als Geschenk von Gott her zu empfangen. In der Fortfuhrung des Wachstumsgleichnisses verdeutlicht Cusanus nun im verbleibenden Teil des Textes, wie sich der gläubige Empfang des göttlichen Lichtgeschenkes in der menschlichen Erkenntniskraft ereignet. Dazu greift er auf den (in seiner Angemessenheit für den zu vermittelnden Gedanken bereits aufgewiesenen)52 Lehr- und Schulvergleich zurück: Die den heranwachsenden Knaben zur Wahrheitsmeisterschaft des Erwachsenen fuhrende Schulbildung wird im Grunde wiederum durch einen Glaubensvollzug ermöglicht: Die Ausbildung des Intelligenzpotentials geschieht nämlich auf die Weise, dass wir das verstandeshafte Wort von dem Lehrer empfangen, dem wir glauben. Hier sieht Cusanus auch ein weiteres Bestimmungsmoment des Glaubens in der Begründungsdimension des endlichen Intellekts gegeben: Wie Glauben auch das Für-wahr-Nehmen einer im jetzigen Stadium noch nicht in ihrer Wahrheit unmittelbar evidenten Mitteilung bedeutet, so nimmt auch der endliche Intellekt in seinem Verwirklichungsprozess die Wahrheitsprinzipien zunächst in ihrem Geltungsanspruch an, ohne sie schon auf ihre Begründung hin durchschauen zu können. In der Feststellung, dass wir in diesem Fall dem uns das verstandeshafte Wort mitteilenden Lehrer glauben, weil er ein wahrhafter Meister ist und uns richtig lehrt, deckt Cusanus auch ein anderes Teilmoment des Glaubensvollzugs im Selbstverwirklichungsprozess des Denkens auf: Ermöglicht wird der Lernprozess nicht durch die aus eigener Kraft geleistete Einsichtnahme in die Wahrheit, sondern durch das Vertrauen auf die Wahrhaftigkeit des Mitteilenden." Das dem Glauben innerliche Vertrauen auf die Richtigkeit der Verheißungen Gottes findet 52
Vgl. oben Abschnitt 3.1.11.3; 3.2.2.4. Das im Glauben gegebene Vertrauen auf eine zu erreichende Sinnerfiillung wird von Cusanus als notwendiger Motivationsgrund aller menschlicher Handlungen in einem philosophisch argumentierenden Gedankengang ausführlich aufgewiesen in jener Predigt, der im Themawort die Aufforderung Jesu vorangestellt ist, das im Glauben erlangte, rettende Vertrauensverhältnis wahrzunehmen (Matth 9, 22: Confide, filial Fides tua salvam te fecit)·. Sermo XLI .Confide, filia': h XVII, insbesondere N. 13 - N . 14. 53
Das geschenkte Erkenntnislicht
229
sich auch im Grunde des Denkens, weil wir auch in unserem Vernunftvollzug
vertrauen, dass wir daraus Nutzen gewinnen können und, weil wir sein Wort empfangen und glauben, für Gott belehrbar werden.™ 3.2.3.4 Die vernünftige Notwendigkeit des unterwürfigen Glaubensgehorsams In der etwa acht Jahre später (1453) entstandenen Schrift ,De visione dei' greift Cusanus den selben Gleichniszusammenhang wieder auf, bereichert ihn dabei aber um einen weiteren Aspekt. Anhand des Schülergleichnisses lässt sich der im Glaubensakt geforderte unterwürfige Gehorsam dem von Gott geoffenbarten Wahrheitswort gegenüber auch als Voraussetzung für die Selbstverwirklichung des endlichen Intellekts aufweisen. Dabei geht es Cusanus von vornherein vor allem darum, ein dreifaches Missverständnis dieses Gehorsams auszuräumen: Erstens wird damit vom Menschen nicht eine restriktive Einschränkung des Eigenen gefordert, sondern umgekehrt die freie Selbstverwirklichung erst ermöglicht. Weil Cusanus dieses im Gehorsam zu verwirklichende menschliche Selbst als Intellekt begreift, setzt zweitens die Unterwerfung unter das göttliche Wahrheitswort nicht etwa ein Aufgeben der Vernunfttätigkeit im Sinne eines ,sacrificium intellectus' voraus, sondern hat vielmehr zur Folge, dass der Mensch sein Vernunftpotential aktiv zu gebrauchen beginnt. Das dritte mögliche und daher von vornherein auszuschließende Missverständnis des Glaubensgehorsams betrifft das unterwürfig zu hörende Gotteswort selbst. Der von Gott geoffenbarten Wahrheit ist nach Cusanus nicht deshalb zu gehorchen, weil sie ihrem Gehalt nach nicht vernünftig begründbar (etwa im Sinne der thomistischen Übernatürlichkeit) oder gar irrational (etwa im Sinne des tertullianischen ,credo, quia absurdum') sei. Der unterwürfige Gehorsam ist vielmehr deshalb notwendigerweise erforderlich und somit sinnvollerweise gefordert, weil das göttliche Wahrheitswort in seiner absoluten geistigen Transparenz von einem derart unüberbietbaren Grad von Intelligibilität bestimmt ist, dass dies die Fassenskraft des in seiner Materiegebundenheit endlichen Intellekts des Menschen unendlich übersteigt. Paradoxerweise, aber im Hinblick auf diese drei Verständnisprämissen konsequent, fuhrt Cusanus denn auch den gleichnishaften Aufweis des Glaubensgehorsams im Grunde des Denkens im Kontext der Überlegungen zu der dem Men-
54 Das im Glauben ausdrücklich bewusst gemachte Vertrauensverhältnis wurde (wenngleich unter anderen methodischen Prämissen als bei Cusanus) beispielsweise auch von J. H. NEWMAN in seiner Zustimmungslehre als der menschliche Existenz schlechthin ermöglichende Grundvollzug erwiesen, vgl. An Essay in Aid of A Grammar ofAssent (1870) dt. Übers.: Philosophie des Glaubens (München 1921).
230
Dimensionen der Offenbarkeit des Geheimnisses
sehen eigenen, in seinem Selbstverwirklichungsprozess allererst zu gewinnenden Freiheit ein: Weil der vernunfthafte Geist nicht durch den Einfluss des Himmels genötigt wird, sondern vollständig frei ist, gelangt er nur dann zur Vollendung, wenn er sich durch den Glauben dem Einfluss (influentiae) des Gotteswortes unterwirft; so wie ein freier und selbständiger Schüler die Vollendung nicht erreicht, wenn er sich nicht im Glauben dem Wort des Meisters unterwirft, dem er vertrauen und auf den er hören muss. Die Vernunft wird durch das Wort Gottes vollendet, sie wächst und wird ständig auffassungsfähiger, geeigneter und dem Worte ähnlicher. Diese Vollendung, die ihr so vom Wort zukommt, von dem sie das Sein hat, ist keine vergängliche, sondern eine gottgestaltige Vollendung, die so wie die Vollkommenheit des Goldes nicht vergänglich, sondern himmelsförmig ist. Jede Vernunft muss sich darum im Glauben dem Wort Gottes unterwerfen und voll Aufmerksamkeit auf die innere Belehrung des höchsten Meisters hören. Und dadurch, dass sie hört, was der Herr in ihr spricht, wird sie vollkommen. Darum hast du, Jesus, einziger Lehrer, uns gelehrt, dass der Glaube für jeden, welcher der Lebensquelle näherkommen will, nötig ist, und gezeigt, dass die göttliche Kraft dem Grad des Glaubens entsprechend in uns einströmt. [...] Durch den Glauben nähert sich die Vernunft dem Wort. [...] Je näher sie kommt, umso mehr wächst ihre Kraft. Das Wort Gottes aber ist in ihr, und es ist nicht nötig, dass sie es draußen sucht, da sie es in sich finden und durch den Glauben zu ihm herankommen kann. [...] Das Wort lässt den Glauben wachsen, indem es sein Licht mitteilt. Ich danke dir, ο Jesus, dass ich in deinem Licht bis hierher gelangt bin. In deinem Licht sehe ich das Licht meines Lebens; ich sehe, wie du, das Wort, in alle Glaubenden das Leben einströmen lässt und alle zur Vollendung führst, die dich lieben. 55
Die Interpretation dieses Textes kann bei jener Verständnishilfe ansetzen, die Cusanus selbst durch die Einführung des Gleichnisbildes bietet. Erneut bedient er sich des Schulvergleichs, wobei er wiederum auf den Prozess der Ausbildung des zunächst erst potentiell gegebenen Schülerintellekts und dessen Bedingungen den Schwerpunkt legt. Hier betont er aber ein bisher noch nicht berücksichtigtes Moment des Lernprozesses. Weil der Schüler noch nicht selbständig zu aktueller Einsichtnahme in die Gründe des zu Wissenden fähig ist, muss er sich, wenn er Fortschritte machen will, dem Lehrerwort in vertrauendem Glauben auf die Richtigkeit ge-horsam unterwerfen. In der etymologischen Ableitung des deutschen Wortes Gehorsam von ,hören' kommt treffend zum Ausdruck, dass diese Unterwerfung nicht die Preisgabe der eigenen Freiheit meint, sondern vielmehr die zum Eigenen befreiende Disposition der Empfangs-Offenheit eines noch Erfullungsbedürfitigen. Bei der Übertragung des Gleichnisergebnisses auf den darin zu vermittelnden abstrakten Gedanken darf der Bezug auf das natürliche Erkenntnispotential des " De vis. 24: h VI, Ν. 112, Z. 7 - Ν. 114, Z. 3.
Das geschenkte Erkenntnislicht
231
Menschen nicht als bloß gleichnishaftes Element zurückgelassen werden, etwa mit der Begründung, Cusanus spreche nun von einem ,übernatürlichen' Glaubensvollzug. Denn gerade die Bedingungen für die Selbstverwirklichung des natürlichen Erkenntnispotentials des Menschen sind es, die Cusanus im gesamten Text aufzeigen will. Das ,tertium comparationis' zwischen dem Intellekt des Schülers und demjenigen des Menschen ganz allgemein ist die Verwirklichungsbedürftigkeit, die bei der menschlichen Vernunft in ihrer kreatürlichen Endlichkeit begründet ist. Im Hinblick auf diese Wesensbestimmung kann Cusanus nun die im Lernprozess des Schülers als sinnvoll einsichtige Haltung des unterwürfigen Glaubensgehorsams auch für den Selbstverwirklichungsprozess des menschlichen Intellekts überhaupt als notwendig erweisen. Weil die endliche Vernunft anfänglich eine in der Seinsweise der Potenz gegebene Anlage ist, kann sie ihre vollendete Wirklichkeit, die in der Einsichtnahme in die Gründe der zu erkennenden Wahrheit besteht, nicht aus eigener Kraft erreichen. Die Wahrheitsgründe müssen ihr vielmehr in einem belehrenden Mitteilungsakt vor-gegeben werden, damit die Vernunft durch eine stetig zunehmende Einsicht in deren innere Evidenz zur Vollkommenheit ihrer Wirklichkeit heranwachsen und so ständig auffassungsfähiger und geeigneter werden kann. Die Tatsache, dass die Wahrheitsgründe vom menschlichen Intellekt in ihrem Anspruch zunächst unüberprüft und unbeurteilt akzeptiert werden müssen, hinterfragt Cusanus nun nach ihren Voraussetzungen. Dabei entdeckt er, dass die für den Glaubensakt bestimmende Disposition des unterwürfigen Gehorsams die Selbstverwirklichung des endlichen Intellekts ermöglicht, weil letztere die Bereitschaft voraussetzt, die anfänglich noch undurchschaubare Wahrheitsmitteilung anzunehmen. Paradoxerweise steigt der Intellekt desto mehr zur eigenen Vollkommenheit auf, je mehr er sich im Glaubensgehorsam dem vor-gegebenen Wahrheitsanspruch unterwirft, denn die göttliche Kraft strömt dem Grad des Glaubens entsprechend in uns ein. Weil im Glaubensgehorsam die den Intellekt ursprünglich begründende Wahrheitsmitteilung empfangen wird, ist er für jeden, welcher der Lebensquelle nahekommen will, nötig. In den verbleibenden Aussagen des Textes identifiziert Cusanus konsequenterweise die im Glaubensgehorsam angenommenen Wahrheitsgründe mit den aus Gottes Selbstmitteilung herkünftigen Glaubensgeschenken. Die den menschlichen Intellekt seinsverleihend vollendende Wahrheitsvorgabe bestimmt er als das Wort Gottes, dem sich jede Vernunft im Glauben unterwerfen muss. Im Rückbezug auf das Schülergleichnis kann Cusanus auch das zentrale Bestimmungsmoment des christlichen Verständnisses des Gotteswortes in seiner ursprünglichen Bedeutung für den menschlichen Intellektvollzug vermitteln. Wie beim Lernprozess das Wissen von einem Lehrer mitgeteilt werden muss, so steht auch hinter der Einströmung des Gotteswortes eine Person, nämlich der mit dem Gotteswort identische
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Dimensionen der Offenbarkeit des Geheimnisses
Gottessohn Jesus Christus. Mit der von Cusanus entdeckten Rückgründung des Intellektvollzugs im Glauben gewinnt dieser die Qualität eines personalen Vollzuges. Das Schulgleichnis wird von Cusanus nicht zuletzt deshalb so häufig aufgegriffen, weil sich darin diese Verwiesenheit der menschlichen Vernunft auf den einzigen Lehrer und höchsten Meister Jesus Christus vermitteln lässt. Einen diesbezüglichen Differenzpunkt arbeitet Cusanus aber in aller Deutlichkeit heraus. Im Unterschied zur Lehre in der Schule ereignet sich beim menschlichen Intellekt die seine Verwirklichung ursprünglich bewirkende, personale Wahrheitsmitteilung in seinem Inneren. Denn dadurch, dass sie hört, was der Herr in ihr spricht, wird die Vernunft vollkommen. Der Glaubensgehorsam lässt sich so als die für die Wirklichkeit der Vernunft wesenskonstitutive (und in der Etymologie ihrer deutschen Benennung auch zur Sprache kommende) Fähigkeit begreifen, die im eigenen Inneren immer schon vor-gegebene Mitteilung des Gotteswortes zu vernehmen'. Das Wort Gottes aber ist in ihr, und es ist nicht nötig, dass sie es draußen sucht, da sie es in sich finden und durch den Glauben zu ihm herankommen kann. Weil die Unterwerfung im Glaubensgehorsam sich so als die Voraussetzung einer inneren Aufstiegsbewegung erweist, kann sie als jener Grundvollzug begriffen werden, in dem die menschliche Vernunft in der Annäherung an das Gotteswort selbst wächst: Durch den Glauben nähert sich die Vernunft dem Wort. [...] Je näher sie kommt, umso mehr wächst ihre Kraft. Mit der Einsicht, dass jene die menschliche Vernunft zur Wirklichkeit ihrer eigenen Kraft führende Belehrung im Inneren des Menschen ergehen muss, kann Cusanus nun schließlich auch aufweisen, wie die personale Begegnung mit dem einzigen Lehrer und höchsten Meister Jesus Christus primär in der Innerlichkeit der im Glauben sich begründenden Vernunftnatur stattfindet. Dies gelingt ihm, indem er das Schulgleichnis auf dem Hintergrund der auf Augustinus zurückgehenden Bestimmung Jesu Christi als des inwendigen Lehrers vertieft.56 Sich im Glauben dem Wort Gottes unterwerfen, bedeutet demnach, voll Aufmerksamkeit auf die innere Belehrung des höchsten Meisters zu hören. Der Glaubensgehorsam resultiert so letztlich aus der An-erkennung, dass die endliche Vernunft ihr Sein und Leben der personalen Selbstmitteilung Gottes in ihrem Inneren verdankt: Ich danke dir, ο Jesus, dass ich in deinem Licht bis hierher gelangt bin. In deinem Licht sehe ich das Licht meines Lebens; ich sehe, wie du, das Wort, in alle Glaubenden das Leben einströmen lässt und alle zur Vollendung führst, die dich lieben.
56
Vgl. dazu Augustins Schrift De magistro im ganzen. Eine auch von Cusanus ,De visione dei' mitinspirierte Erneuerung des Motivs des .inwendigen Lehrers' intendiert gegenwärtig E. BISER, vgl. Das Antlitz. Christologie von innen (Düsseldorf 1999).
Das geschenkte 3.2.3.5
Erkenntnislicht
Die christologische
Vermittlung des
233
Wahrheitsglaubens
An den bisher interpretierten Texten zum Glaubensverständnis wurde deutlich, dass Cusanus den in den biblischen Schriften und der jüdisch-christlichen Tradition ausdrücklich bezeugten Glauben als etwas primär im Begründungsvollzug der Intellektnatur eines jeden Menschen ursprünglich bereits immer schon Gegebenes aufweist. Wenn Cusanus in der zuletzt angeführten Passage aus ,De visione dei' dies auch in Bezug auf Jesus Christus einsichtig macht, so beruht dies auf einem inneren Zusammenhang zwischen dem Glaubensvollzug und der Person des göttlichen Wortes. Am Ende des ersten zitierten Abschnittes des Mysteria fidei-Kapitels definiert Cusanus dieses Verhältnis in Form einer These: Es gibt aber keinen vollkommeneren Glauben als die Wahrheit selbst, die Jesus ist." In den folgenden Überlegungen wird diese Gleichsetzung von vollkommenem Glauben, Wahrheit selbst und Jesus Christus in zwei verschieden ausgerichteten, aber komplementären Argumentationsgängen begründet: Zuerst vom Glaubenden aus aufsteigend (,νοη unten'), sodann vom höchsten Wahrheitsglauben aus absteigend (,νοη oben'). 3.2.3.6
Der Gottmensch als der maximale der verschiedenen Glaubensgrade
Partizipationsgrund
Dass Jesus das Ziel von allem ist, zeigt sich zunächst stufenweise dem, der durch den Glauben zu Christus aufsteigt,58 Die Gegebenheit von zu Christus fuhrenden Stufungen im Glauben findet ihren Grund darin, dass die Menschen aufgrund der endlichen Begrenztheit all ihrer Fähigkeiten nie in vollkommenem Ausmaß, sondern immer nur mehr oder weniger, also in bestimmten Graden, glauben können. Weil der Glaube des einen Menschen den Glaubensgrad eines anderen wegen der Unmöglichkeit völliger Gleichheit nicht erreicht,™ wird der Glaube von einer Vielzahl von Gläubigen in einer abgestuften Ordnung verwirklicht. Aus der Tatsache, dass der übergeordnete Grad das Glaubensmaß des untergeordneten mitenthält, schließt Cusanus, dass die nächsthöhere Stufe jeweils der komplikative Ursprung der niedrigeren ist. Im Hinblick auf dieses (die Argumentation des gesamten dritten Buches von ,De docta ignorantia' tragenden) Prinzip60 erweisen sich die Glaubensgrade als Teilhabestufen, in denen der Glaube auf je individuell verschiedene Weise aufgenommen wird.
" De docta 58 De docta 59 De docta 60 De docta
ign. III, ign. III, ign. III, ign. III,
11: h I, S. 152, Z. 9 (N. 244, Z. 15f). 11: h I, S. 154, Z. 8-11 (N. 247, Z. 21 - N. 248, Z. 2). 11: h I, S. 155, Z. 1-3 (N. 249, Z. 3f)· 1: h I, S. 120, Z. 28 (N. 185, Z. 17f).
234
Dimensionen der Offenbarkeit des Geheimnisses
In einem nächsten Argumentationsschritt wird nun der Aufweis der ontologischen Begründung dieser Teilhabegrade notwendig. Diesbezüglich gilt es, ein zunächst aporetisch scheinendes Problem zu bewältigen: Da die Teilhabestufen in einem Empfangsverhältnis Bestand haben, setzen sie einen Partizipationsgrund voraus, in dem das von ihnen in einem geringeren oder größeren Maße Aufgenommene auf maximal vollkommene Weise verwirklicht ist. Wenn jeder Stufe jedoch (gemäß dem oben zitierten Axiom) ihr Sein durch die Vermittlung der nächsthöheren zuteil wird, jene unterschiedlichen Grade aber im Bereich unterhalb des Größten und oberhalb des Kleinsten liegen,61 weil weder absolute Maximität noch Minimität in der materiebegrenzten Endlichkeit der Welt erreichbar sind, bleibt die Frage, wie die Teilhabegrade ihren maximalen Partizipationsgrund je erreichen sollten: Da notwendigerweise der Glaube bei den verschiedenen Menschen dem Grad nach ungleich ist, und da er folglich ein Mehr oder Weniger zulässt, vermag niemand zum größten Glauben zu gelangen, dem gegenüber keine Macht größer sein könnte.62
Die faktische Gegebenheit von Glaubensstufen und die ontologische Notwendigkeit ihrer Begründung in einem maximalen Partizipationsgrund macht die Annahme folgender Möglichkeit erforderlich: Wäre nämlich der größte Glaube, welcher durch keine Macht größer sein könnte, in einem Erdenpilger, so müsste dieser Erdenpilger zugleich auch im Besitz Gottes und der himmlischen Glückseligkeit sein; wie nämlich das Größte in irgendeiner Gattung die oberste Grenze dieser Gattung ist, so ist es ineins der Anfang einer nächsthöheren Gattung. Aus diesem Grund kann der schlechthin größte Glaube sich nur in dem finden, der zugleich auch Gott und die himmlische Glückseligkeit besitzt.63
Die für die Begründung des endlichen Glaubensvollzugs notwendige Gegebenheit eines größten Glaubens setzt also die Existenz eines Erdenwanderers (viator) voraus, der zugleich auch im Besitz der Anschauung Gottes (comprehensor) ist. Dies kann niemand anderer sein als der menschgewordene Gottessohn Jesus Christus. Der jedem menschlichen Vernunftakt ursprünglich zugrundeliegende Glaubensgrad lässt sich somit als Teilhabestufe an dem endlichen und maximalabsoluten Glauben (in sich) vermittelnden (mediator)64 Gottmenschen (deus et homo)65 begreifen. Obwohl sein Glaube jeden vernünftigen Menschen somit mit 61 62 63 64 65
De De De De De
docta docta docta docta docta
ign. ign. ign. ign. ign.
III, III, III, III, III,
12: 12: 12: 11: 11:
h h h h h
I, I, I, I, I,
S. S. S. S. S.
158, 157, 157, 157, 153,
Z. Z. Z. Ζ. Z.
6f (N. 255, Z. lf). 17-19 (N. 254, Z. 5-8). 20-25 (N. 254, Z. 9-14). (N. 254, Z. 22). 29 (N. 247, Ζ. 11).
Das geschenkte Erkenntnislicht
235
Jesus eint,66 kann kein Mensch (aufgrund seiner begrenzten Aufnahmekapazität und der Unmöglichkeit genauer Gleichheit im Endlichen) im maximalen Grad der Glaubensvollkommenheit mit Jesus eins werden. Mit der ontologischen Begründung der Einzigkeit des Gottmenschen ,degradiert' Cusanus aber keineswegs alle anderen Menschen, sondern schafft damit vielmehr die Voraussetzung für die Wahrung der Individualität eines jeden Einzelnen (auch über den Tod hinaus im Eschaton): Keiner kann, auch wenn er tatsächlich - soweit es an ihm liegt - den größten Glauben an Christus hätte, an ebenden größten Glauben Christi heranreichen, durch den er Christus als Gott und Menschen begreifen würde. [...] Alle nämlich, die mit Christus entweder durch den Glauben und die Liebe in diesem Leben oder durch Anschauung und glückseligen Besitz im anderen Leben vereint sind, sind bei der Wahrung des graduellen Unterschiedes so vereint, dass ihre Einung bei Wahrung jenes Unterschiedes nicht größer sein könnte, so dass keiner ohne diese Einung in sich Bestand hätte und durch die Einung seinen Grad verlöre.67
3.2.3.7
Die Maximität Christi als vollkommene Verwirklichung aller menschlichen Vernunftmöglichkeiten
Das in der Interpretation der im letzten Abschnitt zitierten Aussagen zum Aufstieg vom mehr oder weniger großen Glauben aller Menschen zum größten Glauben Jesu Christi vorausgesetzte Verständnis des Glaubens als Begründungsvollzug des Intellekts braucht nicht nur mit dem Verweis auf den ArgumentationsKontext der Zitate gerechtfertigt zu werden. Das die vollkommenen Akte des Gottmenschen vollbringende Vermögen wird von Cusanus bereits in den ersten, grundlegenden Kapiteln des christologischen Teils der ,Docta ignorantia' als der Intellekt Jesu Christi bestimmt. Da er diesen Begriff hier ganz im Sinne der in der griechischen Philosophie entdeckten Befähigung des Menschen zum rationalen Begründungsregress versteht, geht er damit entschieden über den genuinen Aussagegehalt der biblischen Vorgabe hinaus, denn dort wird nicht nur von hervorragenden Rationalitätsakten Jesu nichts berichtet, vielmehr fehlt die entsprechende Begrifflichkeit im Horizont der Autoren wie Jesu selbst völlig. Wiederum gilt es aber festzuhalten, dass Cusanus damit die Glaubensvorgabe nicht durch Vernunftbegriffe überfremdet, sondern durch diese Identifikation das von Jesus biblisch bezeugte Höchstmaß an Glaubensvertrauen als gradweise im innersten Grunde der Vernunftnatur eines jeden Menschen gegeben aufweist.
66 67
De docta ign. III, 12: h I, S. 154, Ζ. 1 If (N. 248, Z. 3). De docta ign. III, 12: h I, S. 158, Z. 7-18 (N. 255, Z. 2-15).
236
Dimensionen der Offenbarkeit des Geheimnisses
Im diesbezüglichen Textzusammenhang macht Cusanus zunächst einsichtig, dass die Vollkommenheit Jesu in seiner Vernunft bestehen muss, um dann näherhin zu erklären, wie diese Vernunft-Vollkommenheit bestimmt ist: Die größte Vollkommenheitsfulle der menschlichen Natur wird aber im substantialen und wesenhaften Bereich wahrgenommen, nämlich in der Vernunft, der das übrige Körperhafte dienstbar ist. Und demnach muss der vollkommene Mensch nicht im Akzidentellen hervorragend sein, sondern hinsichtlich der Vernunft. [...] Nur das allein ist vielmehr notwendig, dass der Körper so die Extreme meidet, dass er ein absolut taugliches Instrument für die Vernunftnatur ist. [...] Unser Jesus hatte, wie man glaubt, um seiner ganz hervorragenden Vernunftnatur willen einen für sie vorzüglich geeigneten und ganz vollkommenen Körper. 68
Im Zusammenhang seiner Bestimmung Jesu als des vollkommensten und deshalb mit Gott hypostatisch geeinten Menschen klärt Cusanus hier, welche die in Jesus zur Vollkommenheit erhobene menschliche Wesenseigenschaft ist. Diese Frage löst er ganz unter Voraussetzung der aus der griechischen Philosophie herkünftigen Definition des Menschen als vernunftbegabtes Körperwesen.69 Von daher geht er davon aus, dass die den Menschen überhaupt erst zu einem solchen machende und daher substantielle Bestimmung seine Vernunftnatur ist, der alles Körperhafte insofern untergeordnet ist, als es an ihrer formgebenden Kraft partizipiert. Als der vollkommenste Mensch hatte Jesus demzufolge eine ganz hervorragende Vernunftnatur und um derentwillen einen für sie vorzüglich geeigneten und ganz vollkommenen Körper. Die Vollkommenheit Jesu beruht also wesenhaft auf seinem Intellekt. Die Frage, wie die Vollkommenheit des Intellekts inhaltlich zu bestimmen sei, klärt Cusanus, indem er den Unterschied des Intellektes Jesu zu denjenigen aller anderen Menschen aufzeigt: Da die Vernunft Jesu in ihrer aktualen Existenz absolut und ganz vollkommen ist, kann sie nur in der göttlichen Vernunft personal grundgelegt sein, die allein aktual alles ist. Die Vernunft nämlich ist bei allen Menschen nur der Möglichkeit nach alles; sie entwickelt sich stufenweise von der Möglichkeit zur Wirklichkeit, so dass sie umso weniger nur dem Vermögen nach besteht, je mehr sie aktual wirklich ist. Als größte Vernunft kann sie aber überhaupt nicht existieren, weil sie als Grenze der Möglichkeit jeder vernunfthaften Natur in der Fülle aktualer Wirklichkeit besteht, wenn sie nicht Vernunft derart ist, dass sie auch Gott ist, der alles in allem ist.70
Ziel dieses Gedankenganges ist es, die Glaubensvorgabe von der personalen Supposition der Menschheit Jesu in der Gottheit spekulativ zu begründen und zu 68
De docta ign. III, 4: h I, S. 132, Z. 14-27 (N. 207, Z. 1-16).
69
V g l . ARISTOTELES, Politik
70
De docta ign. III, 4: h I, S. 131, Z. 30 - S.132, Z. 7 (N. 206, Z. 4-12).
1253 a 9.
Das geschenkte
Erkenntnislicht
237
explizieren. In der dann zu begründenden Ausgangsthese formuliert Cusanus diesen Glaubenssatz bereits unter Voraussetzung der vorhin aufgewiesenen Verortung der Vollkommenheit Jesu in seinem Intellekt. Ausgangspunkt der Argumentation ist sodann die (ebenfalls bereits ausführlich dargelegte)71 Bestimmung der endlich-kreatürlichen Vernunft des Menschen durch die Differenz zwischen ihren Möglichkeiten und ihrer tatsächlichen Wirklichkeit und die daraus für sie resultierende Notwendigkeit, sich einem zeitlichen Selbstverwirklichungs- und -vervollkommnungsprozess zu unterwerfen: Die Vernunft nämlich ist bei allen Menschen nur der Möglichkeit nach alles; sie entwickelt sich stufenweise von der Möglichkeit zur Wirklichkeit, so dass sie umso -weniger nur dem Vermögen nach besteht, je mehr sie aktual wirklich ist. Unter Voraussetzung dieser ontologischen Bestimmung der endlichen Vernunftnatur kann die Vollkommenheit des menschlichen Intellektes Jesu nur in jenem Vollendungszustand des Selbstverwirklichungsprozesses gesehen werden, in welchem die bei allen anderen Menschen bleibend gegebene Differenz zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit zugunsten der vollkommenen Verwirklichung aller Vernunftmöglichkeiten aufgehoben ist. Ausgehend von dieser Einsicht fragt Cusanus nun, unter welchen Bedingungen eine derart vollkommen verwirklichte menschliche Vernunft überhaupt existieren kann. Weil die vollkommene Aktualität im Bereich endlicher Möglichkeiten nicht erreicht werden kann, muss die Vollkommenheit des Intellekts Jesu ihren Grund in jener absoluten Wirklichkeit haben, die allein Gott ist. Die Bestimmung Jesu als des vollkommensten Menschen beruht also darauf, dass er eine Vernunft hat, die derart die größte ist, dass sie auch Gott ist, der alles in allem ist. 3.2.3.8
Der vollkommene menschliche Intellekt Jesu ist mit dem seinsbegründenden Intellekt Gottes vereint
Im zuletzt zitierten Text macht Cusanus andeutungsweise aber auch noch einen weiteren Argumentationsschritt, der zur Beantwortung einer noch offenen Frage fuhrt. Es gilt zu klären, warum die Teilhabe am größten Glauben des Intellekts Jesu für jeden menschlichen Intellekt erkenntnisermöglichend sein soll. Cusanus gibt dazu einen Hinweis, wenn er den absoluten Suppositionsgrund des vollkommenen Intellektes Jesu als die göttliche Vernunft bestimmt. Daraus ist zu schließen, dass durch die Teilhabe am Glauben Jesu dem Menschen eine seinem jeweiligen Glaubensgrad entsprechend eingeschränkte Ein-sicht in den göttlichen Intellekt selbst vermittelt wird. Warum diese im Gottmenschen vermittelte Einsichtnahme die ursprüngliche Voraussetzung für jeden menschlichen Erkenntnisvoll71
Siehe oben Abschnitt 3.0.1.
238
Dimensionen der Offenbarkeit des Geheimnisses
zug ist, macht Cusanus in einer 13 Jahre später entstandenen Textpassage aus dem christologischen Schlussteil seiner Schrift ,De visione dei' (1453) deutlich, indem er die theoretischen Bestimmungen des in ,De docta ignorantia' (1440) aufgewiesenen vollkommenen Vernunftvollzugs Jesu näher untersucht: Ich sehe, dass in der menschlichen oder verstandeshaften Natur (sc. Jesu) der verstandeshafte, menschliche Geist dem göttlichen Geist, welcher der absolute Verstand ist, engstmöglich verbunden ist, und dass ebenso die menschliche Vernunft und überhaupt alles in deiner Vernunft, ο Jesus, mit der göttlichen Vernunft geeint ist. Als Gott erkennst Du, ο Jesus, alles, und dieses Erkennen ist Alles-Sein. Du erkennst alles als Mensch und dieses Erkennen bedeutet Ähnlichkeit-von-allem-sein. Vom Menschen wird ein Ding nur in Ähnlichkeit erkannt. Ein Stein ist im menschlichen Denken nicht wie in seiner eigentlichen Ursache oder seinem eigentlichen Wesensgrund, sondern wie in Eigengestalt und Ähnlichkeit. In Dir, Jesus, ist das menschliche Erkennen mit dem göttlichen Erkennen so geeint, wie das vollkommenste Abbild der Wahrheit des Urbildes. Betrachten wir z.B. die Idee und Form einer Truhe im Geist des Künstlers und die Eigengestalt der vollkommensten Truhe, die derselbe Meister der Idee entsprechend gebildet hat, dann sehen wir, wie die Idealform die Wahrheit der Eigengestalt ist und dieser als der Wahrheit des Abbildes in dem einen Meister verbunden ist. Genauso sehe ich, sind in dir, Jesus, dem Meister aller Meister, die absolute Idee aller Dinge und ihre Ähnlichkeitsgestalt zugleich in höchster Weise geeint. [...] Du bist die Verbindung der göttlichen Schöpfernatur und der menschlichen Geschöpfhatur. Folgenden Unterschied aber sehe ich zwischen deiner menschlichen Vernunft und der jedes anderen Menschen: Kein anderer Mensch weiß alles, was ein Mensch wissen kann, weil jedes Menschen Vernunft dem Urbild aller Dinge so verbunden ist, wie das Abbild der Wahrheit, und nicht so, dass sie ihm nicht noch enger verbunden werden und noch mehr in Wirklichkeit versetzt werden könnte. Darum erkennt sie nicht soviel, dass sie nicht noch mehr erkennen könnte, wenn sie sich dem Urbild der Dinge näherte, von dem das Wirkliche alle Wirklichkeit hat. Deine Vernunft hingegen erkennt tatsächlich alles, was der Mensch erkennen kann, weil in dir die menschliche Vernunft ganz vollkommen und ihrem Urbild gänzlich verbunden ist. Infolge dieser Einung übertrifft deine menschliche Vernunft jede geschaffene Vernunft in der Vollkommenheit ihres Erkennens. Alle vernunfthaften Geister stehen weit unter dir. Du, ο Jesus, bist ihrer aller Meister und ihr Licht. Du bist die Vollkommenheit und Fülle aller und durch dich als den Mittler gelangen sie zur absoluten Wahrheit. Du bist zugleich der Weg zur Wahrheit und die Wahrheit selbst. 72
Die Interpretation dieses Textes kann bei jener Aussage ansetzen, wo Cusanus die in der zuletzt angeführten Passage aus ,De docta ignorantia' III, 4 herausgearbeitete Differenz zwischen dem Intellekt Jesu und denjenigen aller anderen Menschen aufgreift und vertieft. Die andernorts als Bestimmung durch die Seinsweise der Möglichkeit begriffene Eigentümlichkeit eines kreatürlich-endlichen Intel72
De vis. 20: h VI, N. 89, Ζ. 1 - N. 90, Z. 16.
Das geschenkte Erkenntnislicht
239
lektes beschreibt Cusanus hier im Hinblick darauf, worin diese sich zeigt und worauf sie ursächlich zurückgeht. Die Möglichkeitsbestimmtheit des menschlichen Intellekts wirkt sich darin aus, dass kein Mensch tatsächlich all das weiß, was ein Mensch wissen kann. Diese beständige Möglichkeit eines Erkenntnisfortschritts begründet Cusanus nun, indem er die darin vorausgesetzte Differenz zwischen der Erkenntnisfahigkeit und dem höchstmöglichen Erkenntnisziel auf die ontologische Wesensbestimmung des Menschen selbst zurückfuhrt. Dafür greift er auf die aus der platonischen Tradition herkünftige Differenzierung zwischen Urbild und Abbild zurück und definiert die menschliche Vernunft als Abbild der für alle Dinge urbildlichen Wahrheit. Die Selbstverwirklichung der intellektuellen Möglichkeiten lässt sich so als Prozess der Annäherung an die Wahrheit der Dinge in ihrem urbildlichen Seinsgrund begreifen. Diese aktuierende Fortschrittsbewegung bleibt aber potentiell unabschließbar, weil die abbildliche Vernunft des Menschen dem Urbild aller Dinge nicht so verbunden ist, dass sie ihm nicht noch enger verbunden werden könnte, um noch mehr in die Wirklichkeit versetzt zu werden, und sie darum nicht soviel erkennt, dass sie nicht noch mehr erkennen könnte, wenn sie sich dem Urbild der Dinge näherte, von dem das Wirkliche alle Wirklichkeit hat. Ausgehend von diesen ontologischen Bestimmungsmomenten der dem Menschen wesenseigenen Vernunftbegabung hebt Cusanus nun die Eigentümlichkeiten des Intellektes Jesu als desjenigen Menschen ab, in dem die menschliche Natur ganz vollkommen ist. Auf singulare Weise - denn genaue Gleichheit ist im Bereich des Endlichen nicht möglich - übertrifft die menschliche Vernunft Jesu jede geschaffene Vernunft in der Vollkommenheit ihres Erkennens, weil sie tatsächlich alles erkennt, was der Mensch erkennen kann. Im Rückgriff auf die zuvor herausgearbeiteten Gesetzmäßigkeiten des menschlichen Erkenntnisvollzugs kann Cusanus nun mit philosophischer Vernunftnotwendigkeit aufweisen, dass der vollkommene Mensch Jesus auch Gott sein muss: Da der Fortschritt im Erkenntnisprozess in der Annäherung an den urbildlichen Wahrheitsgrund der Dinge besteht, diese aber im Bereich des Geschöpflichen unabschließbar ist, ist die vollkommene Wirklichkeit des Intellekts Jesu nur (denk)möglich, wenn dieser infolge einer Einung und vollkommenen Verbindung mit seiner Urbildwahrheit alle geschöpflichen Begrenzungen übersteigt. Der Intellekt Jesu erreicht seine Vollkommenheit nur unter der Voraussetzung, dass er selbst personal im göttlichen Urbild subsistiert und aufgrund dieser hypostatischen Union wesenhaft als der Gottmensch, als die Verbindung der göttlichen Schöpfernatur und der menschlichen Geschöpfhatur, bestimmt ist. In den restlichen Aussagen des Textes wird diese in der hypostatischen Einung mit der göttlichen Urbildwahrheit bestehende, singulär vollkommene Intellektwirklichkeit Jesu auf ihre Implikationen hin analysiert und auf ihre Verhältnisre-
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lation zu den Vernunftvollzügen aller anderen Menschen befragt. Ersteres vollzieht Cusanus, indem er die Urbildwahrheit unter dem Aspekt betrachtet, dass sie der Seinsgrund aller Dinge ist. Damit benennt er zugleich die Voraussetzung dafür, dass sie überhaupt erkenntnisermöglichendes Prinzip sein kann. Weil eine Sache zu erkennen bedeutet, ihre Gründe zu wissen, muss in der Urbildwahrheit der Dinge auch deren Seinsprinzip bestehen. Für die als (denk)notwendig aufgewiesene Einung des Intellekts Jesu mit der göttlichen Urbildwahrheit folgt daraus nun, dass dieser auch mit dem absoluten Seinsgrund eins ist. Im Intellekt Jesu ist die absolute Idee aller Dinge derart vollkommen in ihrer ursprünglichen Einheit mit dem absoluten Seinsgrund erkannt, dass das Alles-Erkennen Jesu zugleich das Alles-Sein ist. Diese im Intellekt Jesu verwirklichte Einheit von Seins- und Erkenntnisprinzip der Dinge findet ihren tieferen Grund in einer Voraussetzung, die Cusanus gemäß der christlich weitergedachten platonischen Ideenlehre annimmt. Der Grundgedanke der platonischen Ideenlehre besteht in der Entdeckung, dass der gestaltgebende und somit seinsverleihende Grund eines Dinges geistiger Wesensnatur sein muss. Unter Vorgabe des christlichen Schöpfungsverständnisses wurden die ideal-intelligiblen Seinsprinzipien der platonischen Ideen mit den vom göttlichen Schöpferintellekt hervorgebrachten Gedanken identifiziert.73 Die von Jesus ausgesagte Einheit mit der göttlichen Urbildwahrheit lässt sich so näherhin als Einheit mit dem göttlichen Schöpferintellekt begreifen: Ich sehe, dass in der menschlichen oder verstandeshaften Natur (sc. Jesu) der verstandeshafte, menschliche Geist dem göttlichen Geist, welcher der absolute Verstand ist, engstmöglich verbunden ist, und dass ebenso die menschliche Vernunft und überhaupt alles in deiner Vernunft, ο Jesus, mit der göttlichen Vernunft geeint ist. Weil diese Einung als hypostatische in einem wesenhaften Sinne besteht, kann sie nicht als eine nachträglich zustandekommende gedacht werden, sondern ist als eine immer schon bestehende zu begreifen. Die Einheit Jesu mit dem seinsbegründenden göttlichen Intellekt muss also schon vor der Schöpfung in dem Sinne bestanden haben, dass Jesus jener Schöpfungsintellekt ist, durch den Gott alles hervorgebracht hat. Diese Identität des Intellektes Jesu mit dem vorzeitlichen Schöpfungsprinzip ist in der biblischen Aussage aus dem Johannesprolog vorge73 Die spekulative Deutung Christi als des Inbegriffs der intelligiblen Prinzipien aller Dinge vermittelt das Christusereignis mit den unter dessen Anspruch modifizierten Kategorien der platonischen Ideenlehre: Die von Piaton als intelligible Prinzipien von Sein und Erkennen aufgewiesenen und in einem später von Plotin unter den Begriff des νούς gefassten geistigen Bereich verorteten Ideen wurden von christlichen Denkern als die im Schöpfungswort ausgesprochenen Gedanken Gottes begriffen. Vgl. z.B. exemplarisch AUGUSTINUS, De diversis quaestionibus octoginta tribus, 46: De ideis (CCSL 44 A, 70ff). Dazu: G. v. BREDOW, Piatonismus im Mittelalter. Eine Einführung (Freiburg 1972), 13-15.
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geben, wonach Gott durch sein Sohnwort alles geschaffen hat, und wird von Cusanus im zitierten Text durch das Handwerkerbeispiel versinnbildlicht. Das Herstellen einer Truhe ist ein Neues hervorbringender, schöpferischer Vollzug, der in einem vorgängigen Erkenntniskonzept seine konstitutive Voraussetzung hat, denn nur wenn der Handwerker die ideale Form der Truhe bereits in seinem Geist vorher in einem ursprünglichen Erkenntnisakt konzipiert hat, kann er die konkrete Truhe als materielles Abbild dazu herstellen. Analog dazu beinhaltet auch der mit dem göttlichen Schöpfungsprinzip identische Intellekt Jesu den seinsbegründenden idealen Vorentwurf aller wirklichen Dinge. Ausgehend von dieser Einsicht kann nun die Vollkommenheit des Erkenntnisaktes Jesu tiefer begründet werden. In Übereinstimmung mit dem Axiom, dass ein Ding in seinen Gründen nur von demjenigen vollkommen erkannt werden kann, der es hervorgebracht hat, lässt sich schließen, dass der Intellekt Jesu deshalb alle Dinge vollkommen erkennt, weil er sie seinsbegründend hervorbringt. Der Intellekt Jesu erkennt die Urbildwahrheit der Dinge genau, weil er selbst der ursprüngliche Wesensgrund ihres Seins ist und es somit in ihm keine Differenz zwischen Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt gibt. Nach dieser nicht mehr tiefer möglichen und insofern vollständigen Begründung der Vollkommenheit des Intellektes Jesu kann Cusanus nun schließlich auch dessen Verhältnis zu den Vernunftvollzügen aller anderen Menschen letztbegründend klären. Im Unterschied zu Jesus erkennt der Mensch ein Ding nur in Ähnlichkeit, weil er es nicht seinsbegründend hervorbringt, wie Cusanus dies am Beispiel der Erkenntnis eines Steines darlegt: Ein Stein ist im menschlichen Denken nicht wie in seiner eigentlichen Ursache oder seinem eigentlichen Wesensgrund, sondern wie in Eigengestalt und Ähnlichkeit. Aus der daraus unaufhebbar resultierenden Differenz zwischen menschlichem Erkenntnissubjekt und welthaftextramentalem Erkenntnisobjekt ergibt sich die (oben herausgearbeitete) Bestimmung des menschlichen Erkenntnisaktes als unabschließbare Annäherung an die urbildliche Wahrheit der Dinge, die zugleich der absolute Seinsgrund alles Wirklichen sein muss, weil etwas nur in seiner Ursache vollkommen erkannt werden kann. Mit der Bestimmung der seinsbegründenden Urbildwahrheit als des unerreichbaren Zieles allen menschlichen Erkenntnisstrebens entdeckt Cusanus nun zugleich die verborgene Verhältnisrelation, in der jede menschliche Vernunft zum Intellekt Jesu besteht. Da jeder menschliche Erkenntnisvollzug die seinsbegründende Urbildwahrheit als Zielgrund voraussetzt, diese aber mit dem Intellekt Jesu identisch ist, ist der Rückbezug auf den vollkommenen Vernunftvollzug des Gottmenschen die ursprüngliche Ermöglichungsbedingung eines jeden menschlichen Erkenntnisaktes. Die in diesem Abschnitt eingangs gestellte Frage, warum die Teilhabe aller Menschen am maximalen Glauben des vollkommenen Intel-
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lektes Jesu erkenntnisbegründend ist, lässt sich somit wie folgt beantworten: Dem Grad seines Glaubens entsprechend nimmt der einzelne Mensch am Erkenntnisvollzug Jesu teil. Weil der Intellekt Jesu mit dem göttlichen Schöpfungsprinzip identisch ist, gewinnt der Mensch dadurch eine seiner individuellen Perspektive entsprechend eingeschränkte Einsicht in die ursprünglichen Seinsgründe aller Dinge. Nur unter der Voraussetzung dieser im Glauben an Jesus vermittelten Einsichtnahme kann der menschliche Intellekt die ihm in der extramentalen Weltwirklichkeit begegnenden Objekte annäherungsweise in ihrer urbildlichen Wahrheit erkennen. In der jeden menschlichen Intellekt ursprünglich begründenden Teilhabe an der urbildlichen Seinswahrheit des Intellektes Jesu sieht Cusanus den philosophischen Sinn der biblischen Benennung Jesu als des allen anderen Menschen überlegenen Meisters aller Meister. Alle vernunfthaften Geister stehen weit unter dir. Du, ο Jesus, bist ihrer aller Meister und ihr Licht. Mit diesem Gedanken kann Cusanus noch einen abschließenden denknotwendigen Grund für die Existenz des Gottmenschen angeben: Die anfängliche Finsternis der menschlichen Vernunft kann nur erleuchtet werden, wenn ihr unter den Bedingungen der Endlichkeit, also in Raum und Zeit, die Teilhabe an der vollkommenen Wahrheitseinsicht eines Intellekts gewährt wird, der selbst die Wahrheit ist. Dies erfordert die Wirklichkeit eines Menschen, dessen Intellektvollzug zu einem derart vollkommenen Grad gesteigert ist, dass er der endliche Weg zur Wahrheit und die absolute Wahrheit selbst ist. Die biblischen Aussagen interpretiert Cusanus als die ausdrückliche Bezeugung dessen, dass einzig Jesus diese, in jedem menschlichen Erkenntnisakt vorausgesetzte, vollendete Mitteilung der absoluten Wahrheit im Endlichen ist: Du bist die Vollkommenheit und Fülle aller, und durch dich als den Mittler gelangen sie zur absoluten Wahrheit. Du bist zugleich der Weg zur Wahrheit und die Wahrheit selbst. 3.2.3.9
Jesus als der Wahrheitsgrund aller Dinge
Im ersten der Abschnitte über die christologische Vermittlung des Wahrheitsglaubens74 wurde thesenhaft vorangestellt, dass Cusanus in seinen diesbezüglichen Reflexionen (sowohl innerhalb des Mysteria y?Je/-Kapitels von ,De docta ignorantia' III, 11, als auch in den hier zu dessen Interpretation herangezogenen Argumentationszusammenhängen aus anderen Schriften) einen aufsteigenden und einen absteigenden Denkweg begeht. In den darauffolgend interpretierten Texten wurde deutlich, wie der aufsteigende Denkweg bei der Analyse des konkreten Erkenntnisvollzugs des Menschen ansetzt und nach dessen Ermöglichungsbedin74
Vgl. oben 3.2.3.5.
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gungen fragt. Aus der jeden endlichen Vernunftakt kennzeichnenden Differenz zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit schließt Cusanus, dass die menschliche Erkenntnis die gradweise Teilhabe an einem ihr als Voraussetzung zugrundeliegenden maximalen Intellektvollzug ist, in dem alle Dinge deshalb in ihrer urbildhaften Wahrheit erkannt werden, weil er zugleich ihr Seinsgrund ist. In der zuletzt interpretierten Textpassage aus ,De visione dei' wurde mit dieser Einsicht auch das Ziel der aufsteigenden Vergewisserung der voraussetzungshaften Gegenwart Jesu in jedem menschlichen Intellektvollzug erreicht. Davon ausgehend können nun jene Aussagen interpretiert werden, in denen Cusanus die christologische Vermittlung des Wahrheitsglaubens im Ansatz bei deren erster Voraussetzung, also der Begründungsordnung des Erkenntnisvollzugs entsprechend und somit in einer absteigenden Denkbewegung darlegt. Der jedem endlichen Erkenntnisvollzug als maximaler Partizipationsgrund vorausliegende vollkommene Glaube des Intellekts Jesu wird auch in ,De docta ignorantia' III, 11 mit dem schöpferischen Seinsgrund aller Dinge identifiziert. In enger Anlehnung an die biblischen Aussagen vom göttlichen Schöpfungswort wird Jesus als das Wort und die Kraft, durch die Gott auch die Zeiten schuf75 bezeichnet, und demzufolge alles Geschaffene als Zeichen von Gottes Wort begriffen, durch das „die Himmel gefestigt sind" n. In Anknüpfung an die Rede vom Schöpfungswort bringt Cusanus nun die voraussetzungshafte Gegenwart Jesu in jedem menschlichen Erkenntnisakt zur Sprache, indem er das unvergängliche Wort, welches der Vernunftgrund (ratio) ist, als Ursache jedes vergänglichen Geistwortes aufweist: Von ihm geht ja jedes Wort aus und auf ihn ist es eingegrenzt und zielgerichtet; was an Wahrem in einem Wort ist, stammt von ihm. Jedes Wort ist auf Wissen hingeordnet; deshalb ist es auf ihn hingeordnet, der die Weisheit selbst ist. Durch die analoge Verwendung des , Wort'-Begriffes, den er einmal auf das schöpferische Prinzip, sodann auf die Ausdrucksgestalt menschlichen Wissens bezieht, macht Cusanus deutlich, dass das göttliche Sohnwort Jesus deshalb jedem menschlichen Erkenntnisakt als maximaler, gott-menschlicher Partizipationsgrund ursprünglich vorausliegt, weil Jesus als der Seinsgrund aller Dinge zugleich auch ihr Wahrheitsgrund ist: Der in Ewigkeit gebenedeite Jesus nämlich ist das Ziel aller geistigen Schau, weil er die Wahrheit ist, Ziel aller sinnenhaften Erkenntnis, weil er das Leben ist, schließlich Ziel allen Seins, weil er die Seinsheit ist, und Vollendung jeder Kreatur, weil er Gott und Mensch ist.77
75 76 77
De docta ign. III, 11: h I, S. 152, Z. 24 (N. 245, Z. 9); vgl. Mt 28, 18. De docta ign. III, 11: h I, S. 154, Z. 4 f (N. 247, Z. 16f); vgl. Ps 33 (32), 6; Weish. 9 , l f . De docta ign. III, 11: h I, S. 153, Z. 26-29 (N. 247, Z. 9-11).
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Nur in Christus als dem fleischgewordenen Vernunftgrund aller Vernunftgründe selbst (ipsa incarnata ratio omnium rationum)1" kann dem menschlichen Intellekt der Wahrheitsgrund seiner Erkenntnis vermittelt werden. Christus ist jener Mittler, der die Wahrheit ist.19 In jedem endlichen Erkenntnisakt wird er voraussetzungshafit als die unendliche Wahrheit geglaubt.80 3.2.3.10 Die Mitteilung des Sohnwortes als Erleuchtung des Intellekts In den zuletzt angeführten Aussagen aus dem Mysteria/zcfez'-Kapitel nimmt Cusanus im Ansatz eine spekulative Deutung der biblischen Rede von der Fleischwerdung des göttlichen Sohn-Wortes vor, durch die er diese als voraussetzungshafte Gegebenheit im Grunde des Intellektvollzugs eines jeden Menschen aufweisen kann. Die diesbezügliche Argumentation entfaltet Cusanus in anderen Kontexten ausführlicher. Zunächst sollen drei Textpassagen interpretiert werden, in denen die erkenntnisbegründende Wirksamkeit des göttlichen Sohnwortes reflektiert wird. Im nächsten Abschnitt gilt es dann, die Notwendigkeit und die Weise der Inkarnation desselben aufzuzeigen. Es soll jener Gedankengang an den Anfang gestellt werden, wo Cusanus den tiefsten Grund für die erkenntnisermöglichende Mitteilung des göttlichen Sohnwortes angibt, weil er sie von ihrem letzten Ziel her betrachtet: Ich meine, um es kurz zusammenzufassen, dass unter Gotteskindschaft nichts anderes zu verstehen ist, als die Gottwerdung, die griechisch ,Theosis' genannt wird. Die Theosis, die auch Kenntnis Gottes oder des Wortes oder betrachtende Schau (visio intuitiva) genannt wird, ist die letzte Vollendung. Der Satz des Theologen Johannes (vgl. Joh. 1, 12) scheint mir nämlich dies zu besagen: Der Logos oder die ewige Vernunft (ratio aeterna), die im Anfang Gott bei Gott war, hat dem Menschen das vernunfthafte Licht (lumen rationale) gegeben, als sie ihm den Geist verlieh, der ihn zur Ähnlichkeit mit ihr fuhren sollte. [...] Wenn wir das göttliche Wort aufgenommen haben, entsteht in diesem unserem vernunfthaften Geist die Macht der Gotteskindschaft in den Gläubigen.81
Der von Cusanus am Beginn explizit zum Ausdruck gebrachten Intention entsprechend ist dieser Text als auf die Hauptgedanken konzentrierte Zusammenfas78
De docta ign. III, 11: h I, S. 154, Z. 7f (N. 247, Z. 20f). De docta ign. III, 11: h I, S. 157, Z. 9 (N. 253, Z. 22). Veritas ist das dominierende Christusprädikat dieses Kapitels, vgl. z.B. S. 153,27; 155,18; 155,29. Die hier christologisch ausgedeutete Vergewisserung Gottes als des absoluten Wahrheitsgrundes hat im christlichen Denken eine lange Tradition, vgl. dazu: W. BEIERWALTES, De US est Veritas. Zur Rezeption des griechischen Wahrheitsbegriffes in der frühchristlichen Theologie, in: Pietas, Festschrift für Bernhard Kötting: JAC.E 8 (1980), 1 5 - 2 9 . 80 De docta ign. III, 11: h I, S. 155, Z. 18 (N. 250, Z. 10). 81 De fil. 1: h IV, N. 52, Z. 2-13. 79
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sung seiner Position in der Frage nach der Gotteskindschaft zu interpretieren. Da er es aber als bekannt voraussetzt, dass die im folgenden in einem rationalen Argumentationsgang zu begründende Glaubens-Vorgabe der Gotteskindschaft die ultimitas perfectionis ist, liegt hier nicht nur eine thesenhafte Stellungnahme zu einem speziellen Einzelproblem vor, sondern vielmehr eine Kurzfassung des cusanischen Gedankens zum Zielgrund des Mensch-Seins überhaupt. Unmissverständlich sieht Cusanus mit der Gotteskindschaft den letzten Sinn der menschlichen Existenz in der Vollendung der im Glaubensleben erfahrbaren Gottunmittelbarkeit. In der biblischen Quelle des Gedankens (Joh 1, 12) wird die Erlangung der Gotteskindschaft denn auch ausdrücklich als Frucht des Glaubens bezeichnet. Für den weiteren Argumentationsgang wird nun entscheidend, wie Cusanus die als Vollendung des Mensch-Seins angenommene Gotteskindschaft inhaltlich bestimmt. Er sieht sie in der Kenntnis Gottes oder des Wortes oder der betrachtenden Schau (visio intuitiva) erreicht. Wenn er dieser Aussage vorausgehend das lateinische Wort für die Gotteskindschaft durch das griechische .Theosis' ersetzt, so gibt er damit selbst einen verborgenen Hinweis auf die Voraussetzungen, unter denen diese inhaltliche Bestimmung der Gottunmittelbarkeit des Gläubigen konsequent ist. Der Begriff der ,Theosis' findet seinen philosophiegeschichtlichen Ursprung in Piatons Verständnis des Philosophierens als Angleichung an Gott (όμοίωσνς ύεφ).82 Hier wird die Annäherung an Gott als das Ergebnis jenes Vollzuges verstanden, der allein dem Menschen aufgrund seiner Wesenseigenschaft der Vernunftbegabung möglich ist. Die aus der antiken Philosophie herkünftige Bestimmung des Menschen als Vernunftwesen wird auch von Cusanus seiner Reflexion auf die Vollendung der menschlichen Existenz in der Gotteskindschaft zugrundegelegt. Damit überfremdet er keineswegs die Glaubenserfahrung des christlichen Gottesbezuges durch einen vermeintlichen Intellektualismus der griechischen Philosophie, sondern weist damit vielmehr die im christlichen Glauben angenommene personale Gottunmittelbarkeit als den verborgenen Zielgrund der in der griechischen Philosophie entdeckten Intellektbegabung des Menschen auf. Weil die den Menschen wesenhaft vollendende Gotteskindschaft nur in der Gotteserkenntnis bestehen kann, gilt es nun die Art und Weise zu klären, wie der Mensch die ihm zur Erlangung der Gotteskindschaft gegebene Vernunftbegabung verwirklicht. Cusanus setzt es hier als aus anderen Kontexten bereits bekannt voraus, dass der endlich-kreatürliche Intellekt des Menschen seine Möglichkeiten nicht aus eigener Kraft verwirklichen kann, sondern dazu auf die (im wörtlichen Sinn zu verstehende) Gegebenheit von bestimmten Voraussetzungen angewiesen ist. Am Beispiel der in jedem menschlichen Erkenntnisvollzug vorausgesetzten Prinzipien des vernunfthaften Lichtes macht Cusanus einsichtig, dass nicht nur 82
Theaitetos
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die Vernunftbegabung, sondern damit auch alle Ermöglichungsbedingungen fur die Gotteserkenntnis dem Menschen in einem göttlichen Mitteilungsakt vorgegeben sein müssen. Indem Cusanus diese Vermittlung des vernunfthaften Lichtes nun auf jenen göttlichen Selbstoffenbarungsakt zurückfuhrt, der in den biblischen Schriften als der Hervorgang des göttlichen Wortes bezeichnet wird, kann er zugleich dessen voraussetzungshafte Gegebenheit im Grunde des Intellektvollzugs eines jeden Menschen aufweisen: Der Logos oder die ewige Vernunft (ratio aeterno), die im Anfang Gott bei Gott war, hat dem Menschen das vernunfthafte Licht (lumen rationale) gegeben, als sie ihm den Geist verlieh, der ihn zur Ähnlichkeit mit ihr führen sollte. Ausgehend von dieser Einsicht kann Cusanus schließlich auch die erkenntnisbegründende Bedeutung jenes Aktes aufzeigen, der gemäß den biblischen Aussagen den menschlichen Bezug auf die göttliche Wortmitteilung ermöglicht. Die biblische Rede von der ge-horsamen Aufnahme des Gotteswortes im Glauben hat den auf die Begründung des Denkens bezogenen tieferen Sinn, dass der Mensch die seinen Erkenntnisvollzug ermöglichende Mitteilung des Wahrheits-Wortes nur passiv im gehorsamen Vertrauen auf ihren Wahrheitsan-spruch empfangen kann. Jeder natürliche Vernunftvollzug hat demnach die im Glauben eröffnete Gotteskindschaft nicht nur als noch zu erreichendes Ziel vor sich, sondern als vorausgesetzten Grund auch bereits in sich, weil Gott in der Offenbarung seines Sohnwortes denen, die es zuinnerst im Glauben aufnehmen, selbst auch die Voraussetzungen dafür mitteilt, dass der Mensch ihn erkennen kann: Wenn wir das göttliche Wort aufgenommen haben, entsteht in diesem unserem vernunfthaften Geist die Macht der Gotteskindschaft in den Gläubigen. In einer Predigt, die ihrem Titelzitat entsprechend das Hören des Wortes des Gottessohnes zum Inhalt hat, werden das gehorsame Empfangen der göttlichen Offenbarungsmitteilung und der darauf antwortende Glaubensakt des Menschen von Cusanus ebenfalls in ihrer erkenntnisbegründenden Vor-Gegebenheit im natürlichen Selbstvollzug eines jeden Menschen reflektiert: Das Wort (sermo) Gottes beinhaltet in sich die Belebung der Seele, wie das Licht die Erleuchtung der Luft. Wenn nämlich die durch das Sonnenlicht erleuchtete Luft die Erleuchtung selbst bewahren würde, würde sie in Ewigkeit nicht mehr verfinstert werden, denn die Sonne würde ihm nie mehr schwinden. [...] Das Wort des einzigen und größten Lehrmeisters Jesus bringt jenes die Seele erleuchtende Licht mit sich. [...] Durch das Wort Christi wohnt der Heilige Geist, der aus dem Vater und dem Sohn hervorgeht, in den Herzen der Gläubigen. Das Wort (verbum) Gottes, durch das die Seele lebt und genährt wird, überträgt sich in jene Seele, die es, als durch den Glauben geformte, aufnimmt. [...] Das Wort Gottes oder der unendliche Vernunftgrund (ratio) ist
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das Licht jeder Vernunftkraft und verleiht deshalb dem vernunfthaften Geist das ewige Leben.83
Wie im vorhin interpretierten Text aus ,De filiatione dei', verschlingen sich auch in dieser kurzen Passage mit hier nicht eigens begründeter Selbstverständlichkeit Aussagen aus völlig unterschiedlichen Entstehungskontexten, nämlich des biblischen Glaubens einerseits und des philosophischen Denkens andererseits. Um den Eindruck einer vorschnell-unreflektierten Gleichschaltung unterschiedlicher Sinnhorizonte zu vermeiden, gilt es herauszuarbeiten, dass Cusanus Glauben und Denken mit Hilfe einer Zuordnungslogik einander verfügt, die zugleich ihre Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Ebenen wahrt. Dies gelingt Cusanus, indem er den Glaubensvollzug ursprünglich in der Begründungsdimension des Denkens gegeben sieht. In der angeführten Predigtpassage bringt er dies in Anlehnung an die biblische Sprache zum Ausdruck, wenn er das in Jesus verkündigte Wort Gottes als Belebung der (im folgenden philosophisch als das intellektuelle Geistprinzip im Menschen verstandenen) Seele bezeichnet. Der folgende Vergleich dieses Belebungsvorgangs mit der Erhellung der Luft durch das Sonnenlicht legt sich von der in den biblischen Sprachen vorgegebenen etymologischen Ableitung der Wörter für Seele von ,Hauch' nahe, ist aber zugleich auch eine rückverweisende Reminiszenz an die Herkunft der philosophischen Vermittlungsform, die Cusanus in der Deutung der biblischen Rede vom Gotteswort rezipiert. In Piatons Sonnengleichnis84 und der daran anknüpfenden neuplatonischen Tradition wird die erleuchtende Wirkkraft der Sonne als Versinnbildlichung betrachtet für die innere Erhellung des menschlichen Intellekts durch die erkenntnisermöglichende Gegenwart der von Piaton als Ideen bezeichneten intelligiblen Wahrheitsprinzipien. Die spekulative Deutung der biblischen Rede vom Gotteswort besteht bei Cusanus nun darin, dass er es an jener philosophischen Systemstelle einfügt, an der bei Piaton die als umfassender Inbegriff aller Wahrheitsprinzipien begriffene Idee des Guten stand: Das Wort Gottes oder der unendliche Vernunftgrund (ratio) ist das Licht jeder Vernunftkraft. Dies ist aber nun deshalb keine unmodifizierte Gleichsetzung, weil Cusanus dabei das Verständnis des erkenntnistheoretischen Wahrheitsgrundes von der Glaubensvorgabe her vertieft. Er entdeckt, dass die Gegenwart der Erkenntnisprinzipien als Gegebenheit im wörtlichen Sinn zu verstehen ist, weil sie ursprünglich auf einen Mitteilungsakt zurückgeht, in dem die absolute Wahrheit Gottes selbst sich offenbart. Indem Cusanus die erkenntnisvermittelnde Erleuchtung des menschlichen Geistes auf die Mitteilung des göttlichen Wahrheitswortes zurückführt, kann er sie als die Wirksamkeit des einzigen 83 84
Sermo CLII ,Si quis sermonem meum': Ρ II, fol. 82v-83r. Politeia 506 b 2 - 509 b 10.
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und größten Lehrmeisters Jesus begreifen, denn dessen Wort bringt jenes die Seele erleuchtende Licht mit sich. Da dieses im Unterschied zum Sonnenlicht niemals untergeht, verleiht es dem vernunfthaften Geist das ewige Leben. In den folgenden Aussagen des Textes legt Cusanus dar, wie diese auf dem Weg des Denkens entdeckte, universale Präsenz des göttlichen Wortes auf der Begründungsebene des Erkenntnisvollzugs eines jeden Menschen von den biblischen Glaubensvorgaben selbst her erklärt werden kann. Aus einer glaubensimmanenten Perspektive lässt sich dies als das Wirken des in den Herzen der Gläubigen wohnenden Heiligen Geistes fassen. Mit dieser - von Cusanus wohl auch aus der Gemeinsamkeit der Benennung herausgehörten - Anerkennung der im Heiligen Geist gewirkten universalen Präsenz des göttlichen Offenbarungswortes im Lebenszentrum (Herzen) jedes Vernunftgeistes muss nun auch der im Glauben geschehenden Annahme dieser im Wort des Lehrmeisters Jesus ergangenen Wahrheitsmitteilung Gottes eine universale Bedeutung zu-erkannt werden. Diese Konsequenz vollzieht Cusanus, indem er die menschliche Geistseele im Hinblick darauf, dass sie die eigenen Erkenntnisbedingungen im Hören auf das Gotteswort Jesu empfängt, als eine durch den Glauben geformte begreift: Das Wort (verbum) Gottes, durch das die Seele lebt und genährt wird, überträgt sich in jene Seele, die es, als durch den Glauben geformte, aufnimmt. In seiner Spätschrift ,Über das GlobusspieP vertieft Cusanus seine Auffassung von der Glaubensgeformtheit als des seins- und wesensverleihenden Ursprungs jeder Intellektwirklichkeit, indem er auch die biblische Vorgabe von der Christusförmigkeit der Gläubigen in der Begründungsdimension jedes natürlichen Vernunftvollzugs ursprünglich immer schon gegeben sieht. Die folgende Passage kann als ausführlicher Kommentar zur kurzen Andeutung der durch die Kraft des Glaubens bewirkten Christusförmigkeit des Menschen 85 im Mysteria ftdei-Kapitel von ,De docta ignorantia' ΙΙΙ,11 interpretiert werden: Christus, der das Leben ist, ist auch die Weisheit (sapientia), das ist die schmackhafte Wissenschaft (sapida scientia). Die Wissenschaft in ihm erweist sich, weil sie schmackhaft ist, als lebendiges Erfassen. Das vernünftige Leben ist Erfassen der Weisheit oder der köstlichen Wissenschaft. Alle lebendige, verstandeshafte Bewegung ist um dessentwillen, dass sie die Ursache ihres Lebens sehe und von solcher Weisheit sich unsterblich nähre. Und wenn sie dazu nicht gelangen kann, so lebt sie nicht, weil sie ja dann die Ursache ihres Lebens nicht erkennt. Gott aber ist der Geber des Lebens, welchen niemand sehen würde, wenn nicht Christus, Gottes Sohn, ihn offenbarte (ostendeat). Das Offenbaren steht allein ihm zu, weil nur der Sohn den Vater als Vater offenbaren kann. [...] Damit du aber klarer diesen Offenbarer des Vaters siehst, so beachte, dass er die Wahrheit ist. Er sagt nämlich, er sei der Weg und die Türe, das Leben und 85
De docta ign. III, 11: h I, S. 156, Z. 4 (N. 252, Z. lf).
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die Wahrheit (vgl. Joh 10, 7; 14, 6). [...] Wenn die Seele des offenbarenden Lichtes, das Christus ist, ermangelt, dann sieht sie nicht und kann auch nicht leben in vernünftigem Leben. Denn so wie die sinnliche Schau, damit sie wahr und lebendig sei, des offenbarenden sinnlichen Lichtes bedarf, so hat auch die vernünftige Schau das Vernunftlicht der Wahrheit nötig, wenn sie sehen oder leben soll. [...] Allein ich wundere mich, wieso Stufen entstehen mögen, da doch die Unendlichkeit des zentralen Lichtes sich in der freigebigsten Weise ergießt? [...] Die Aufnahme des Lichtes ist in den verschiedenen Geistern verschieden, ebenso wie die Aufnahme des einen sinnlichen Lichtes; in verschiedenen Augen wird es auch verschieden aufgenommen, bei dem einen in wahrerer und erleuchteterer Weise als bei dem anderen, je nach seiner Fassungskraft, die bei verschiedenen nicht gleich sein kann. Es empfangen also die Christusformigen das Licht der Herrlichkeit alle in genügender Weise, aber verschieden nach der Fassungskraft eines jeden. So ist es, wenn der Prediger des Evangeliums das eine Licht gleichmäßig auf die einzelnen Hörer ergießt; es wird dennoch nicht gleichmäßig von allen aufgenommen, da sie nicht von demselben Geiste und derselben Fassungskraft sind. 86
Auch in der Interpretation dieses Textes gilt es, den inneren Verknüpfungspunkt zu entdecken, der es Cusanus erlaubt, die Ebenen des biblischen Glaubens und des philosophischen Denkens wechselweise einander zuzuordnen. Diesen Verknüpfungspunkt findet Cusanus hier, indem er den in der zuletzt angeführten Predigtstelle grundgelegten Gedanken einer Belebung der Geistseele durch das göttliche Wort weitervertieft. Indem er die in der Rede von der Verlebendigung implizierte Metaphorik von Speisung und Ernährung entfaltet, kann er im Hinblick auf die jede Nahrungsaufnahme begleitende Sinneserfahrung des Schmekkens versinnbildlichen, wie die Verwirklichung des Intellekts in einer erfahrungshaften Dimension ihren Ursprung hat. Dieser Intention entsprechend versteht er die als Lebensspeise des Geistes begriffene Weisheit {sapientia) ganz von ihrer Etymologisierung als schmackhaftes Wissen (sapida scientia) her87 und stellt (in der gleichnamigen Spätschrift ,De venatione sapientiae') den Selbstverwirklichungsprozess des Geistes im (auf Piaton88 zurückgehenden) Aenigma der Jagd nach dieser schmackhaften Lebensspeise der Weisheit dar. Wenn Cusanus zu Beginn des zuletzt zitierten Textes aus ,De ludo globi' diese den Geist köstlich belebende Weisheit mit Christus gleichsetzt, so gibt er damit zu verstehen, dass jene den Intellekt ursprünglich verlebendigende Erfahrungsdimension der Glaube ist. Diese Rückgründung des Denkens im Glauben impliziert 86
De ludo II: h IX, N. 70, Z. 8 - N . 73, Z. 18. Diese auf Isidor von Sevilla (Etymol. X n. 240) zurückgehende Etymologisierung entfaltet Cusanus insbesondere in seiner Schrift ,Idiota de sapientia' mit spürbarer Freude in ebenso gedanklicher wie erfahrungshafter Intensität, vgl. z.B. De sap. I: h 2 V, N. 10, Z. 7f u.ö.. 88 Zur Geschichte der Jagdmetapher vgl. die Adnotatio zu Ν. 1, Ζ. 1 von De venatione sapientiae: h XII, S. 147-149. 87
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aber nicht nur ein einseitiges Verwiesenheitsverhältnis. In der folgenden Aussage macht Cusanus deutlich, dass auch das Denken eine unentbehrliche Funktion im Vollzug der Glaubenserfahrung hat: Alle lebendige verstandeshafte Bewegung ist um dessentwillen, dass sie die Ursache ihres Lebens sehe und von solcher Weisheit sich unsterblich nähre. Und wenn sie dazu nicht gelangen kann, so lebt sie nicht, weil sie ja dann die Ursache ihres Lebens nicht erkennt. Hier bestimmt Cusanus die im philosophischen Begründungsregress erlangte Erkenntnis der letzten Ursache als die Weise, wie der Mensch seiner Bestimmung als Geistwesen entsprechend seine göttliche Lebensquelle erreicht. Das Denken erweist sich darin als der Weg, auf dem der Mensch die ursprünglich in der Glaubenserfahrung eröffnete Gottesbeziehung verwirklicht. Im folgenden weist Cusanus nun diese wechselseitige Ineinanderfugung von Glauben und Denken ausgehend von der Frage auf, unter welchen Voraussetzungen der menschliche Intellekt sein Ziel der erfahrungshafiten Gottesschau erreichen kann. Wenn er zuerst die Antwort des Glaubens darauf anführt, so entspricht dies der Reihenfolge in der Begründungsordnung. Die Geheimnishaftigkeit des alles Leben ursprünglich aus dem Nichts zeugenden Vatergottes kann vom Menschen nur gesehen werden, wenn der unsichtbare Vater sich in seinem Sohn Jesus Christus sichtbar offenbart: Gott aber ist der Geber des Lebens, welchen niemand sehen würde, wenn nicht Christus, Gottes Sohn, ihn offenbarte (ostendeat). Das Offenbaren steht allein ihm zu, weil nur der Sohn den Vater als Vater offenbaren kann. Weil aber die allein durch die Vermittlung des Gottessohnes ermöglichte Gottesschau vom Menschen auf dem Weg des Denkens zu erreichen ist, muss dessen Offenbarung auf der Ebene der voraussetzungshaften Ermöglichungsbedingungen des menschlichen Intellekts geschehen. Dies macht Cusanus einsichtig, indem er die biblische Selbstaussage Jesu als die Wahrheit in einem erkenntnistheoretischen Sinn versteht. Die Offenbarungs-Wahrheit Jesu setzt er mit jenem erkenntnisbegründenden Licht gleich, das Piaton aus der analogen Funktion der Sonne im sinnenfälligen Bereich als oberstes Prinzip der Intelligibilität erschloss: Wenn die Seele des offenbarenden Lichtes, das Christus ist, ermangelt, dann sieht sie nicht und kann auch nicht leben in vernünftigem Leben. Denn so wie die sinnliche Schau, damit sie wahr und lebendig sei, des offenbarenden sinnlichen Lichtes bedarf, so hat auch die vernünftige Schau das Vernunftlicht der Wahrheit nötig, wenn sie sehen oder leben soll. Durch die in seiner Sohnoffenbarung gegebene Wahrheitsmitteilung schafft Gott selbst im menschlichen Intellekt die Voraussetzungen, damit der Mensch ihn auf der Spitze des Denkens erfahren kann. Sofern jeder natürliche Intellektvollzug nur deshalb belebt wird, weil er die in der freigebigsten Lichtoffenbarung des Gottessohnes geschenkte Wahrheitsmitteilung in genügender Weise empfängt, ist die Christusförmigkeit das ursprüngli-
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che Bestimmungsmoment eines jeden Menschen. Da mit der ChristusfÖrmigkeit allen Menschen die vollkommene Offenbarkeit der göttlichen Wahrheit gegeben ist, können die Unterschiede zwischen den Menschen nicht darin ihren Grund haben, dass Gott sich den einen mehr und den anderen weniger offenbart. Cusanus fuhrt sie vielmehr darauf zurück, dass die Aufnahmekapazität eines endlichen Geistes für eine unendliche Lichtmitteilung bei jedem Menschen zu einem unterschiedlichen Grad eingeschränkt ist. Wenn er dies abschließend am Gleichnis des nicht von allen Hörern gleichmäßig aufgenommenen Predigerwortes versinnbildlicht, so deutet er damit die Identität des erkenntnisbegründenden Lichtprinzips mit dem im Glauben gehörten göttlichen Offenbarungswort an. 3.2.3.11 Die erkenntnisbegründende
Notwendigkeit
der Inkarnation
Indem Cusanus das Johanneswort (vgl. Joh. 1, 12), wonach uns der Glaube an die Inkarnation des Wortes Gottes zur Wahrheit führt, im Kontext jenes ,De docta ignorantia'-Kapitels III, 11 anfuhrt, in welchem er den Glauben als den Ursprungsvollzug des Denkens reflektiert, deutet er an, dass, wie die biblische Rede vom göttlichen Wort, auch der Glaube an die Inkarnation dieses Wortes in Jesus Christus einen auf den Ursprung jedes natürlichen Vernunftvollzuges bezogenen, universalen Sinn hat. Als Kommentar zu dieser Aussage des Mysteria fideiKapitels sollen zwei kurze Predigtausschnitte interpretiert werden, in denen Cusanus diese universal erkenntnisbegründende Bedeutung der Inkarnation in zwei verschiedenen Ansätzen reflektiert, einmal ausgehend von einer darauf hindeutenden Glaubensaussage, sodann als Ergebnis einer in einem rein philosophischrationalen Gedankengang zum Glaubensgeheimnis aufsteigenden Argumentation. Die glaubensimmanente Begründung der Annahme einer voraussetzungshaften Gegebenheit der Inkarnation im Vernunftvollzug eines jeden Menschen formuliert Cusanus bereits in einer etwa acht Jahre vor Abschluss der ,Docta ignorantia' gehaltenen Predigt: Von der dritten, der geistig-spirituellen Geburt Christi in uns, ist zu sagen, dass das fleischgewordene Wort unter den Menschen gewohnt hat (vgl. Joh 1, 14). [...] Darum muss man wissen, dass eine solche tägliche geistige Geburt, die man gewöhnlich als die unsichtbare Sendung des Gottessohnes bezeichnet, nichts anderes ist als der Ausgang des Wortes oder der gezeugten Weisheit von Gott-Vater in den Geist des verständigen Geschöpfes, zu eben dieses geistigen Geschöpfes gnadenhafter Erleuchtung. Gottes Wort und die göttliche Weisheit ist wesenhaft überall und in jedem verständigen Geschöpf [...]. Wenn daher in einem umdüsterten Geiste ein derartiges Licht aufgeht, oder in einem bisher weniger erleuchteten Geiste ein höheres, dann darf man davon reden, dass Gottes Sohn geboren werde. Dem Worte ist es eigen, den Geist zu erleuchten, der Weisheit, weise zu machen. [...] Daher steht von Gottes Wort geschrieben: In heilige Seelen ergießt es sich, und es bestellt sie zu Freunden und Propheten (vgl.
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Weish. 7, 27). Durch solch eine geistige Geburt erwirbt der Sohn nichts hinzu; vielmehr werden diejenigen, in denen er geboren wird, zu Söhnen Gottes gemacht, jetzt durch die Gnade und künftig durch die Glorie. Das steht im Evangelium, dass er uns so die Macht gab, Kinder Gottes zu werden, nicht in einer Wiedergeburt aus dem Willen des Fleisches oder aus dem Blute, sondern aus Gott, durch Erleuchtung (inspirationem) von ihm (vgl. Joh 1, 12f). Und dies ist, was jener Weise (Weish 9, 10) ausspricht: Sende aus jene Weisheit [, damit sie bei mir sei, und ich erkenne]. Denn nach dem Beispiel der Sonne wirkt die Weisheit im Menschen dreierlei: sie erleuchtet und klärt, sie wärmt und sie macht schließlich fruchtbar.89
In seinem gedanklichen Ergebnis gibt dieser Text nur indirekt eine Antwort auf die hier verfolgte Frage nach der universalen Dimension der Inkarnation, weil er ursprünglich eine andere Intention verfolgt. Cusanus konzipiert ihn - der kerygmatischen Zielsetzung eines Predigttextes entsprechend - als exegetische Auslegung der johanneischen Aussage vom Wohnen des Gotteswortes unter den Menschen. Diese biblische Vorgabe liest er bereits von ihrer theologischen Ausdeutung im Sinne einer geistig-spirituellen Geburt Christi in uns her, die im Zusammenhang der (später zu explizierenden) Annahme einer dreifachen Geburt des göttlichen Sohnwortes entfaltet wurde. Wie aus der im Text folgenden Exegese dieses Gedankens hervorgeht, ist in der Vorstellung einer geistig-spirituellen Geburt Christi in den Menschen genau jener biblische Anknüpfungspunkt gefunden, von dem ausgehend die Gegebenheit der Inkarnation im Grunde des Vernunftvollzuges eines jeden Menschen aufgewiesen werden kann. Auch hier legt Cusanus die biblische Vorgabe aus, indem er ihr einen philosophischen Sinn gibt, um damit zugleich aber auch die Glaubensannahme als die im Denken selbst verborgene Ursprungswahrheit zu entdecken. Um die Aussage von der geistigen Geburt Christi in den Gläubigen einsichtig zu machen, begründet er sie philosophisch. Ausgehend von der philosophischen Wesensbestimmung des Menschen als Vernunftnatur kann er eine in jedem Menschen innerlich immer schon geschehene Inkarnation aufweisen. Dies gelingt ihm, indem er das in jedem Vernunftvollzug ursprünglich vorausgesetzte Wahrheitslicht auf die in Raumzeitlichkeit geschehende Offenbarungsmitteilung des göttlichen Weisheitswortes zurückfuhrt: Dem Worte ist es eigen, den Geist zu erleuchten, der Weisheit, weise zu machen. [...] Daher steht von Gottes Wort geschrieben: In heilige Seelen ergießt es sich, und es bestellt sie zu Freunden und Propheten (vgl. Weish. 7, 27). Auch hier spricht er dem biblisch bezeugten Weisheitswort Gottes jene den Intellekt belebende und zu seinen Hervorbringungen befähigende, erkenntnisbegründende Funktion zu, die er in platonischer Tradition mit der Sonnenanalogie versinnbildlicht: Und dies ist, was jener Weise (Weish 9, 10) ausspricht: Sende 89
Sermo XVI .Gloria in excelsis deo': h XVI, Ν. 11, Ζ. 1 - N . 12, Z. 11.
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aus jene Weisheit [, damit sie bei mir sei, und ich erkenne]. Denn nach dem Beispiel der Sonne wirkt die Weisheit im Menschen dreierlei: sie erleuchtet und klärt, sie wärmt und sie macht schließlich fruchtbar. Die Mitteilung der erkenntnisermöglichenden Wahrheitsprinzipien ist somit als die Weise einsehbar, wie die universale Inkarnation des Gotteswortes im Inneren eines jeden Menschen sich ereignet: Darum muss man wissen, dass eine solche tägliche geistige Geburt, die man gewöhnlich als die unsichtbare Sendung des Gottessohnes bezeichnet, nichts anderes ist als der Ausgang des Wortes oder der gezeugten Weisheit von GottVater in den Geist des verständigen Geschöpfes, zu eben dieses geistigen Geschöpfes gnadenhafter Erleuchtung. Um seine ursprüngliche Bedeutung für alle Menschen einsichtig zu machen, muss Cusanus das Inkarnationsverständnis durch eine Spiritualisierung desselben ausweiten. An der dadurch in den folgenden Aussagen des Textes erreichbaren Deutung der Gotteskindschaft wird aber einsichtig, dass diese Ausweitung des Inkarnationsgedankens ein Verständnis des Menschen ermöglicht, das dessen wesenhafte Integration in das Glaubensgeschehen tiefer sieht. Die Gotteskindschaft wird als Auszeichnung aller Menschen begreifbar, weil sie auf die spirituelle Geburt des Gottessohnes in uns zurückgeht, die sich als Mitteilung des natürlichen Erkenntnislichtes in jedem Menschen ursprünglich immer schon ereignet hat: Wenn daher in einem umdüsterten Geiste ein derartiges Licht aufgeht, oder in einem bisher weniger erleuchteten Geiste ein höheres, dann darf man davon reden, dass Gottes Sohn geboren werde. In der Gotteskindschaft hat jeder Mensch auch an der Sohnschaft des ihn innerlich erkenntnisbegründend erleuchtenden göttlichen Wahrheitswortes teil: Durch solch eine geistige Geburt erwirbt der Sohn nichts hinzu; vielmehr werden diejenigen, in denen er geboren wird, zu Söhnen Gottes gemacht, jetzt durch die Gnade und künftig durch die Glorie. Das steht im Evangelium, dass er uns so die Macht gab, Kinder Gottes zu werden, nicht in einer Wiedergeburt aus dem Willen des Fleisches oder aus dem Blute, sondern aus Gott, durch Erleuchtung (inspirationem) von ihm (vgl. Joh 1, 12f). Auf dem Hintergrund dieser Argumentation kann angenommen werden, dass Cusanus auch in der diesbezüglichen kurzen Aussage im Mysteria-fidei-K&pitel von ,De docta ignorantia' III, 11 die Gotteskindschaft zusammen mit dem Inkarnationsglauben in ihrer tieferen Bedeutung als universal gegebene Ursprungsbedingung für die Selbstverwirklichung jeder endlichen Vernunftnatur begreift: Der Apostel Johannes sagt (vgl. Joh 1, 12), dass der Glaube an die Inkarnation des Wortes Gottes uns zur Wahrheit führt, so dass wir Söhne Gottes werden,90 Neben dieser glaubensimmanenten, weil von der theologischen Vorgabe der spirituellen Geburt Christi in den Gläubigen ausgehenden Begründung der An90
De docta ign. III, 11: h I, S. 152, Ζ. 1 If (N. 244, Z. 18f).
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nähme einer universal erkenntnisermöglichenden Bedeutung der Inkarnation, weist Cusanus an einer anderen Predigtstelle diese auch in einem nur von rationalen Prämissen ausgehenden, also rein philosophischen Ansatz auf. In der selbstreflektorischen Vergewisserung der Ermöglichungsbedingungen für die Wesensverwirklichung des Menschen steigt er gleichsam zur Wahrheit der Glaubensannahme auf: Darin ist der Mensch das Vollendungsziel aller Geschöpfe, weil er eine zur Erkenntnis befähigte Vernunft hat, die Gott geschaffen hat, damit er erkannt werde. [...] Wenn aber Gott nicht einen derartigen Menschen erschaffen hätte, dessen Vernunft zur Einheit mit dem Wort Gottes erhöht worden ist, bliebe Gott unerkannt. Um eines derartigen Menschen willen ist jedes Geschöpf, denn er selbst ist das Ziel. Und dieser ist der Lehrmeister, der die Unwissenheit wegnehmen und - in diese Welt kommend - jeden Menschen erleuchten kann, wenn seine Lehre gleichsam als die des einziggeborenen Sohnes des Vaters in der Fülle der Gnade und Wahrheit empfangen wird (vgl. Joh 1, 9; 16f). Ohne ihn kann niemand das Ziel erreichen, weil das Ziel die Erkenntnis Gottes ist."
In diesem kurzen Text gelingt es Cusanus, die erkenntnisbegründende Notwendigkeit der Inkarnation in der Konzentration auf die ursprüngliche Wesensbestimmung des Menschen einsichtig zu machen. In Übereinstimmung mit der philosophischen Tradition gilt ihm die Vernunftbegabung als die spezifische Eigenschaft des Menschen. Auch Cusanus sieht darin die Befähigung zur Erkenntnis des letzten Grundes, vertieft diese traditionelle Sicht aber, indem er diesen letzten Grund als den personalen Gott des christlichen Glaubens begreift. Aus dieser Finalisierung auf den Gottesbezug kann Cusanus - wie bereits ausführlich thematisiert -92 eine tiefere Einsicht in den Ursprungsgrund der Vernunftbegabung gewinnen: Sie wurde von Gott dem Menschen zu dem Zweck anerschaffen, damit der Mensch in der Erkenntnis des letzten Grundes ein personales Gottesverhältnis verwirklichen kann: Darin ist der Mensch das Vollendungsziel aller Geschöpfe, weil er eine zur Erkenntnis befähigte Vernunft hat, die Gott geschaffen hat, damit er erkannt werde. In den folgenden Aussagen des Textes geht Cusanus der Frage nach, wie der Mensch dieses ihm mit seiner Intellektbegabung eingestiftete Ziel der Gotteserkenntnis erreichen kann. Wie aus anderen Kontexten bereits bekannt,93 besteht diesbezüglich die Problematik darin, dass dem kreatürlich-endlichen Intellekt in seiner Gebundenheit an die Sinneserfahrung die reine Geistnatur Gottes nicht unmittelbar zugänglich ist. Damit der Mensch das Ziel seiner Wesensverwirklichung überhaupt erlangen kann, ist dafür eine Vermittlungsgestalt unbedingt 91
Sermo CLIV ,Vere filius dei erat iste': Ρ II, fol. 84 v . Vgl. Abschnitt 2.1 ff. 93 Vgl. ebenfalls Abschnitt 2.1 ff. 92
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notwendig, in der das Wesen Gottes in einer dem Menschen sinnenfallig zugänglichen Inkarnation erscheint, die also göttliche und menschliche Natur in sich vereinigt. Diese die Differenz zwischen Gott und Mensch zugleich wahrende und (in sich) vermittelnde Notwendigkeit eines Gott-Menschen sieht Cusanus ontologisch darin ermöglicht, dass der Intellekt eines Menschen derart vollkommen all seine Möglichkeiten verwirklicht, dass er damit zugleich über die Grenze der eigenen Gattung zur vollständigen Übereinstimmung mit dem absoluten Wahrheitsgrund des göttlichen Wortes aufsteigt. Mit der Gegebenheit dieses Gottmenschen ist nun eine (und auch die einzige) Möglichkeit eröffnet, damit alle Menschen ihr Ziel der Gotteserkenntnis erreichen können. Von diesem ihrem Vermittlungsprinzip her bestimmt sich auch die einzig mögliche Methode im Prozess menschlicher Gotteserkenntnis. Weil nur der Gottmensch Jesus Christus in seiner Identität mit dem Wort Gottes vollkommene Einsicht in die göttliche Wahrheit hat, kann nur er selbst die Unwissenheit wegnehmen und - in diese Welt kommend - jeden Menschen erleuchten. Der Mensch kann die Gotteserkenntnis nicht aus eigener Kraft erlangen, sondern nur, indem er in der Anerkennung des Gottmenschen als Lehrmeister dessen Lehre gleichsam als die des einziggeborenen Sohnes des Vaters in der Fülle der Gnade und Wahrheit empfängt. Weil die Wahrheitsmitteilung des göttlichen Wortes nur im gehorsamen Vertrauen auf ihren An-spruch aufgenommen werden kann, erweist sich darin erneut der Glaube als der Ursprungsvollzug der Vernunft. Der Glaube ist die einzige Möglichkeit, wie jeder Mensch auf dem einzigen Weg zur Wahrheit, den Gott in der Inkarnation seines Wortes eröffnet hat, das Ziel der eigenen Intellektwirklichkeit erreichen kann. 3.2.3.12 Der Glaube als die höchste
Erkenntnisstufe
Die Bestimmung des Glaubens als des einzig möglichen Weges zur Teilhabe an der zur wesenhaften Übereinstimmung gesteigerten und deshalb höchstmöglichen Wahrheitseinsicht des Gottmenschen erlaubt nun Rückschlüsse auf den epistemologischen Status des Glaubensaktes und demzufolge auch auf dessen Verhältnis zu allen anderen menschlichen Erkenntnisarten. Weil der Glaube nach Cusanus auf den Empfang der jeden Erkenntnisakt ursprünglich ermöglichenden Selbstmitteilung der göttlichen Wahrheit bezogen ist, widerspricht dies der landläufigen Auffassung des Glaubensaktes als einer den Kriterien der Rationalität nicht standhaltenden, weil nicht vernünftig begründbaren Annahme autoritativ verbürgter Inhalte vom epistemologischen Status einer für wahr gehaltenen Meinung. Zumal Cusanus diese Prämisse nicht teilt, braucht er auch nicht, wie die thomasisch-neuscholastische Tradition, die Überlegenheit des Glaubens durch die Verortung von dessen Inhalten in einem Bereich des Übernatürlichen zu wahren,
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der die menschliche Vernunft in all ihren Dimensionen unter sich lässt. Cusanus sieht den Glauben weder unter- noch oberhalb der Vernunft, sondern er holt ihn vielmehr in das Denken ein, indem er ihn als die höchste Erkenntnisstufe begreift. Im Glaubenskapitel ,De docta ignorantia' III, 11 nehmen die Reflexionen zur Bestimmung des Glaubens als höchster Erkenntnisstufe einen breiten Raum ein. Formal wird dieses Verständnis grundgelegt durch die Darstellung des Glaubensaktes als eines schrittweisen Prozesses des Aufstiegs zu Christus.94 In jenen Aussagen, wo Cusanus die Stärkung und Entfaltung des Glaubens im gradweisen Aufstieg 95 beschreibt, wird unmissverständlich deutlich, dass er ganz im Sinne der philosophischen Verständnisgeschichte dieses Begriffs vom Aufstieg spricht. In der von Cusanus rezipierten (neu-)platonischen Tradition wird der Aufstieg als jener Prozess verstanden, durch welchen der menschliche Intellekt im Fortschritt von der Sinnlichkeit über den Verstand bis zur geistigen Schau seine Wesensbestimmung der Wahrheitserkenntnis verwirklicht.96 Die Möglichkeit, die Bedeutung des Glaubens innerhalb des platonischen Gedankens des Erkenntnisaufstieges zu reflektieren, eröffnet sich Cusanus nun, indem er den Glaubensakt mit einer bestimmten Stufe desselben identifiziert. Die betreffende Systemstelle im Fortschritt der Erkenntnisstufen wird zunächst in der Aussage indirekt angedeutet, dass die Kraft des Glaubens den Menschen Christus ähnlich macht, so dass er die Sinnesdinge aufgibt und sich des verderblichen Einflusses des Fleisches begibt.91 Wie die Rede von der allmählichen Abtötung des Fleisches durch den Glauben im stufenweisen Aufstieg zu Christus 98 als philosophische Aussage über den epistemologischen Status des Glaubens zu verstehen ist, ergibt sich aus der Ziel-Bestimmung dieser Abstraktionsbewegung von der Sinnlichkeit. Wenn Cusanus diese fordert, damit der Mensch im Fleische gleichsam Geist sei," so geht daraus hervor, dass er damit die im Prozess intel94
De docta ign. III, 11: h I, S. 154, Z. lOf (N. 248, Z. lf). De docta ign. III, 11: h I, S. 152, Z. 18f (N. 245, Z. lf). 96 Der (neu-)platonische Aufstiegsgedanke hat seine frühesten Wurzeln im Bild der Auffahrt zur Wahrheit der Gerechtigkeitsgöttin im Proömium des parmenideischen Lehrgedichtes ( B l ) , wurde in Piatons Liniengleichnis (Politeia 509 c Iff) in seinen Stufen festgelegt, bei Plotin (vgl. z.B. den Gedankengang von Enn. V 3 im ganzen) als ,mystischer' Weg zur ekstatischen Einungserfahrung verinnerlicht und bei Augustinus (vgl. z.B. De vera religione 39 [CCSL 32, 234ff]) in seinem tiefsten Sinnbezug auf die dialogische Gottesbegegnung entdeckt. Zur Geschichte der innovativen Rezeption des platonischen Aufstiegsgedankens gehört bei Cusanus insbesondere dessen Schrift ,De coniecturis'; vgl. dazu: K. BORMANN, Die Koordinierung der Erkenntnisstufen (descensus und ascensus) bei Nikolaus von Kues, in: MFCG 11 (1975) 62-85. 97 De docta ign. III, 11: h I, S. 156, Z. 4f (N. 252, Z. 1-3). 98 De docta ign. III, 11: h l , S. 156, Z. 1 3 f ( N . 252, Z. 11-13). 99 De docta ign. III, 11: h I, S. 156, Z. 7 (N. 252, Z. 5f). 95
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lektueller Erkenntnis erforderliche Herauslösung der intelligiblen Wesensbestimmungen eines Dinges aus ihrer sinnenfalligen Einschränkung meint. Indem er die im Glauben gewonnene Kraft als die Ermöglichungsbedingung dafür reflektiert, dass der menschliche Intellekt sich über alles, was sichtbar und welthaft ist, erheben kann 100 zur Erkenntnis der rein geistigen Wesenswahrheit der Dinge, bestimmt Cusanus zugleich den Ort des Glaubensaktes im Gefüge der menschlichen Erkenntnisstufen auch positiv: Weil vermöge des größten Glaubens die Vernunft, der die Sinne gehorchen sollen, sich zum göttlichen Wahrheitswort Jesu Christi hinwendet 101 und von daher die Voraussetzungen ihres erkennenden Selbstvollzugs empfängt, ist der Glaubensakt keine defiziente Form des Fürwahr-Haltens, sondern die für jede menschliche Vernunftnatur höchstmögliche Erkenntnisstufe schlechthin. In seiner spekulativen Identifikation des Glaubens mit der höchsten Erkenntnisstufe knüpft Cusanus an die in der neuplatonischen Philosophie insbesondere im Ausgang von Plotin entfalteten Bestimmungsmomente dieser Spitze des Geistes an. Aus der Einsicht heraus, dass das voraussetzungshafte Wahrheitsprinzip des Intellekts die begriffliche Fassenskraft des Menschen übersteigt, bestimmte Plotin die höchste Möglichkeit des Geistes als einen Akt der Selbsttranszendenz, in welchem dem Menschen eine ekstatische Einungserfahrung mit dem Ursprung seines geistigen Wesensvollzuges zuteil wird.102 Cusanus entdeckt, dass die Identifikationsmomente dieses geistigen Selbstüberstieges im Grunde mit den Eigenschaften des Glaubensaktes übereinstimmen: Es handelt sich um eine passive Erfahrung, in der der Mensch jene Wahrheit ursprünglich empfangt, die er begrifflich nicht erfassen kann. Dies erlaubt den Schluss, dass die höchste Erkenntnisstufe des Menschen in ihrer tiefsten Bestimmung mit dem Glaubensvollzug identisch ist. Aufgrund dieser Voraussetzungen kann Cusanus den Glaubensakt mit jenem Entrückungsgeschehen identifizieren, das in der philosophischen Tradition als der Kulminationspunkt der intellektuellen Möglichkeiten des Menschen aufgewiesen wurde: Durch diesen schlichten Glauben werden wir entrückt, so dass wir über allem Verstandes- und Vernunfterkennen im dritten Himmel der ganz einfachen Geistigkeit ihn (sc. das gott-menschliche Wahrheitswort Jesus Christus) im Leib auf nicht leibliche Weise, weil im Geiste, und in der Welt nicht auf welthafte, sondern nach himmlischer Weise schauend betrachten, ohne jedoch zu begreifen, so dass auch dies deutlich wird, dass er
100
De docta ign. III, 11: h I, S. 156, Z. 15f (N. 252, Z. 14f). De docta ign. III, 11: h I, S. 155, Z. 13f (N. 250, Z. 5f). 102 Vgl. dazu: W. BEIERWALTES, Reflexion und Einung. Zur Mystik Plotins, in: Grundfragen der Mystik, hg. von W. Beierwaltes, H. U. von Balthasar, Α. M. Haas (Einsiedeln 1974) 7-36. 101
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infolge seiner unermesslichen Überragendheit nicht begriffen werden kann.103 In der letzten Aussage der zitierten Passage macht Cusanus auf eine Implikation seiner Entdeckung, dass der Glaubensvollzug seinem epistemologischen Status entsprechend die höchste Erkenntnisstufe ist, eigens aufmerksam, die für das cusanische Glaubensverständnis zentral ist: Das im Glaubensakt implizierte Moment des Nicht-begreifenKönnens ist nicht darauf zurückzufuhren, dass die geglaubte Wahrheit nicht vernünftig begründbar wäre, sondern vielmehr darauf, dass ihre Intelligibilität die begriffliche Fassenskraft des begrenzten menschlichen Intellekts übersteigt.
Zur Bestimmung der im Glauben erreichten höchsten Erkenntnisstufe, in der der Intellekt durch einen erfahrungshaften Selbstüberstieg die Einsicht in das göttliche Wahrheitsprinzip auf nicht-begreifende Weise empfängt, prägte Cusanus den für seine Philosophie zentralen Begriff der docta ignorantia. Wenn er diesen am Schluss des gleichnamigen Werkes auf die Paulus im Entrückungsgeschehen des Glaubensaufstiegs zuteilgewordene überbegriffliche Gotteserfahrung bezieht, gibt er damit zu verstehen, dass er mit der Rede von der docta ignorantia die philosophische Vermittlung des als höchste Erkenntnisstufe begriffenen Glaubensaktes intendiert: Dies ist jene belehrte Unwissenheit, aufgrund deren der heilige Paulus im Aufstieg sah, dass er von Christus, von dem er einstmals (vgl. 1 Kor 2, 2) allein Wissen hatte, dann keine Kenntnis mehr hatte, als er höher zu ihm erhoben wurde (vgl. 2 Kor 12, 2). Wir Christgläubigen werden also in der belehrten Unwissenheit zu dem Berg gefuhrt, der Christus ist, den zu berühren uns unsere sinnenhafte Natur hindert. Und während wir ihn mit dem Auge der Vernunft zu schauen versuchen, geraten wir ins Dunkel, wohl wissend, dass in diesem Dunkel der Berg ist, auf dem allein für alle, denen die Kraft der Vernunft gegeben ist, eine wohlgefällige Wohnstätte ist. Wenn wir uns ihm mit großem, beständigem Glauben genähert haben, werden wir dem Auge derer, die im Sinnenhaften wandeln, entrückt, um durch ein Zuhören im Inneren Stimmen, Donner und furchtgebietende Zeichen seiner Majestät zu vernehmen. Dabei werden wir mit Leichtigkeit begreifen, dass allein er der Herr ist, dem alles gehorcht.104
In dieser Passage wird besonders eindrucksvoll deutlich, wie Cusanus in seinen Reflexionen zur docta ignorantia Glaubenserfahrung und Vernunftbegründung miteinander verbindet. In Anlehnung an das paulinische Selbstzeugnis wird der Begriff zur Bestimmung der mystischen Gotteserfahrung des Christgläubigen eingeführt. Durch die metaphorische Rede von Christus als Berg wird die docta ignorantia als Ziel einer Aufstiegsbewegung versinnbildlicht. In den nachfolgenden Aussagen über die Stufen dieses Prozesses wird aber unmissverständlich deutlich, dass Cusanus die im Glauben erfahrene docta ignorantia als Ziel eines
103 104
De docta ign. III, 11: h I, S. 152, Z. 28 - S. 153, Z. 4 (N. 245, Z. 15-20). De docta ign. III, 11: h I, S. 153, Z. 4-16 (N. 245, Z. 20 - N . 246, Ζ. 11).
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intellektuellen Erkenntnisaufstieges versteht. Diesen beschreibt er in Übereinstimmung mit der platonischen Tradition als Entrückung vom Auge derer, die im Sinnenhaften wandeln, infolge einer Wendung zum Zuhören im Inneren. Der Berg Christus, den zu berühren uns unsere sinnenhafte Natur hindert, erscheint nun als jener intelligible Bereich des geistigen Wahrheitsprinzips, auf dem allein für alle, denen die Kraft der Vernunft gegeben ist, eine wohlgefällige Wohnstätte ist. In der biblisch motivierten105 Metapher des Wohnens der Vernunft auf dem Christusberg reflektiert Cusanus nochmals die Bestimmung des Glaubensaktes als der höchsten Erkenntnisstufe. Die andernorts vorgenommene Versinnbildlichung der docta ignorantia als Turm,106 von dessen Höhe aus eine mühelose Einsichtnahme in alle untergeordneten Bereiche möglich ist, wird hier auf ihre tiefere Begründung im Glaubensakt zurückgeführt: Der dem Gläubigen gewährte Aufenthalt auf den Höhen des Christusberges ist deshalb der für die Vernunft ursprüngliche Ort, weil ihr hier die erkenntnisermöglichende Einsicht in das göttliche Schöpfungswort zuteil wird, durch dessen Abstieg alle Dinge in ihrem Sein begründet wurden. Indem Cusanus die höchste Erkenntnisstufe im Begriff der docta ignorantia reflektiert, kann er schließlich auch den tiefsten Grund dafür entdecken, warum die höchste Erkenntnisstufe mit dem Glaubensakt zu identifizieren ist. Im zuletzt zitierten Text deutet Cusanus das betreffende Bestimmungsmoment der docta ignorantia in der Aussage an, dass wir, während wir ihn [sc. den Christusberg] mit dem Auge der Vernunft zu schauen versuchen, ins Dunkel geraten, wohl wissend, dass in diesem Dunkel der Berg ist. In der Rede vom mystischen Dunkel107 bringt Cusanus zum Ausdruck, dass die für den Menschen höchstmögliche Erkenntnisstufe der docta ignorantia auf eine Wahrheitsfülle bezogen ist, die für den Menschen aufgrund ihrer Unermesslichkeit ein undurchdringliches Geheimnis bleibt. Im Begriff der docta ignorantia vermittelt Cusanus die Einsicht, dass die höchste Erkenntnis vom Menschen nur als die Offenbarkeit eines bleibenden Geheimnisses angenommen werden kann. Weil im Glauben der antwortende Bezug auf die Selbstoffenbarung des göttlichen Wahrheitsgeheimnisses verwirklicht wird, ist er zugleich der höchste Erkenntnisakt. Vermittelt durch den Glauben als dessen letzter Stufe kulminiert der Erkenntnisaufstieg somit in der paradoxen Erfahrung Gottes als des offenbaren Geheimnisses: Dann werden die Gläubigen, die in glühender Sehnsucht stetig aufsteigen, zur einfachen Vernunftschau entrückt, indem sie alles Sinnliche überspringen, gleichsam wie
105
106 107
Vgl. Ps 67 (68), 17.
VgVApol:. h II, S. 16, Z. 1-6. Vgl. dazu ausführlich unten Abschnitt 3.2.7.3.
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Dimensionen der Offenbarkeit des Geheimnisses
vom Schlafe zum Wachen, vom Hören zum Sehen fortschreiten; dort wird geschaut, was nicht offenbart werden (revelari) kann, weil es alles Hören und die ganze sprachliche Belehrung übersteigt. Wenn nämlich das dort Geoffenbarte ausgesprochen werden sollte, würde das nicht Sagbare gesagt, würde das nicht Hörbare gehört, so wie das Unsichtbare dort gesehen wird.108
Auf eine letzte, für das spezifisch cusanische Offenbarungsverständnis aber entscheidende Konsequenz seiner Bestimmung des Glaubens als der höchsten Erkenntnisstufe gilt es anhand zweier Aussagen aus dem Mysteria jWe/-Kapitel noch eigens hinzuweisen. Sie betrifft die Frage nach der ,Übernatürlichkeit' der Offenbarungswahrheit und des darauf bezogenen Glaubensaktes. Weil Cusanus in Übereinstimmung mit der neuplatonischen Tradition die Selbsttranszendenz des Geistes in die Erfahrung ihres überbegrifflichen Ursprungs als höchste Möglichkeit der menschlichen Intellektnatur selbst begreift, gilt ihm infolge seiner spekulativen Identifikation dieses höchsten Erkenntnisaktes mit dem Glaubensvollzug auch der in der allmählichen Abtötung des Fleisches im Aufstieg zu Christus zu erreichende Glaube als Vollendung der menschlichen Natur:109 Dies ist die vollendete Natur, die wir nach Abtötung des Fleisches und der Sünde, in Christus umgewandelt zu dessen Ebenbild, werden erreichen könnenAnhand diesbezüglicher Texte wird zu klären sein, ob und in welchem Sinne Cusanus unter diesen Prämissen überhaupt noch von einer Übernatürlichkeit des Glaubens spricht. 3.2.3.13 Die Entrückung des Intellekts zum Wahrheitsempfang
im Glauben
In einer vier Jahre nach dem Abschluss von ,De docta ignorantia' gehaltenen Predigt wird das dort grundgelegte Verständnis des Glaubens als höchster Erkenntnisstufe vorausgesetzt und weitervertieft. Cusanus konzentriert sich hier darauf, die mit dem Glaubensakt identifizierte ekstatische Selbsttranszendenz des Geistes zur erfahrungshaften Schau des absoluten Wahrheitsgeheimnisses zugleich als den Empfang der ursprünglichen Voraussetzungen für die Wesensverwirklichung der menschlichen Intellektnatur aufzuweisen: Zweierlei scheint Paulus in der Entrückung „in den dritten Himmel" (vgl. 2 Kor 12, 2), d.h. den vernunfthaften, gesehen zu haben. [...] Er sah Christus über aller Schau. [...] Daraus ist zuerst festzuhalten, dass Paulus auf dem Weg der Entrückung (raptus) in den dritten Himmel gefuhrt worden ist, auf dass er dort sehe. Die Entrückung ist der Glaube, der den Menschen aus dem Fleisch entrückt; und er kann nicht zum Geheimnis (se-
108
De docta ign. III, 11: h I, S. 153, Z. 21-26 (N. 247, Z. 1-8). De docta ign. III, 11: h I, S. 156, Z. 13-17 (N. 252, Z. 11-16). 110 De docta ign. III, 11: h I, S. 156, Z. 18f(N. 253, Z. 1-3). 109
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cretum) der Schau gelangen, außer durch den Glauben, und diese Entrückung geschieht in den dritten oder vernunfthaften Himmel. Der Glaube wird nämlich nur im Intellekt gefunden. Wenn nämlich der Intellekt durch den Glauben entrückt wird, sieht er. Jeder Einsichtnahme muss notwendigerweise der Glaube vorausgehen, und zur höchsten Schau muss der größte Glaube vorausgehen. Wir haben die Zeugnisse der Propheten und Heiligen, auf welche Weise wir durch den Glauben zur Schau gelangen, ebenso in diesem Leben wie im zukünftigen. Diesen unseren Glauben, der zur zukünftigen Schau notwendig ist, eröffnete uns Christus, denn „ohne den Glauben ist es unmöglich" (vgl. Hebr 11,6) zur glorreichen Gottesschau zu gelangen. Zunächst schicke ich einiges über den Glauben voraus: [...] Ich sage, „wenn ihr nicht so glaubt, werdet ihr nicht erkennen", wie Jesaja (Jes 7, 9 Vulg.) spricht. Die Erkenntnis des Wahren ist die Schau oder die Ruhe des Intellekts, und es ist das Erlangen der Gotteskindschaft, denn Gott ist die Wahrheit. Zur Gotteskindschaft ist zuerst jene Empfängnis erforderlich, die durch den Glauben geschieht, denn „allen, die ihn aufnahmen, gab er die Macht, Kinder Gottes zu werden" (Joh 1, 12). Und Johannes der Täufer: „Wer sein Zeugnis annimmt, beglaubigt, dass Gott wahrhaftig ist" (Joh 3, 33). Und in der Apokalypse heißt es über Jesus: „Keiner weiß, wenn er nicht empfängt" (Offb 2, 17). Durch den Glauben gelangt man zur Wissenschaft. So lehrt Christus: „Wenn ihr in meinem Wort bleibt, werdet ihr meine wahren Schüler sein." (Joh 8, 31). Und dort wird ergänzt: Weil „wahre Schüler", deshalb „die Wahrheit erkennend" (Joh 8, 32). Und weil wir nichts anderes als die Befreiung von der Unwissenheit suchen, folgt dort: „und die Wahrheit wird euch befreien". Aus dieser Lehre Christi sehen wir, dass man durch den größten und beständigsten Glauben dahin gelangen muss, dass wir „für Gott belehrbar" (Joh 6, 45) seien. Und dann werden wir die Wahrheit erkennen, denn wir müssen zum Glauben gelangen, weil wir anders die Wahrheit nicht erreichen können. Der Glaube ist es, ohne den wir die Vernunftschau (visionem intellectualem) nicht berühren können. Denn der Glaube ist der Weg zur Schau der Wahrheit.'' 1
Auch in dieser Predigtpassage interpretiert Cusanus Schriftaussagen, indem er die von den biblischen Autoren verwendeten Worte aus dem ihnen nicht ursprünglich eigenen Horizont ihrer philosophischen Begriffsgeschichte versteht. Wie diese Vorgehensweise es ihm ermöglicht, das Niveau philosophischer Erkenntnis von den Glaubensvorgaben her zu vertiefen, wird hier am tieferen Verständnis der intellektuellen Selbsttranszendenz als Glaubensvollzug deutlich. Ausgangspunkt des Gedankenganges ist das (auch in ,De docta ignorantia' III 11 integrierte) Selbstzeugnis des Paulus (vgl. 2 Kor 12, 2 ff) über seine Entrükkung in den „dritten Himmel", wo ihm jene Christusschau zuteil wurde, die alle seine (bisherigen) Kenntnisse in den Schatten der Unwissenheit stellte. Wenn Cusanus diesen „dritten Himmel" als den vernunfthaften bestimmt, so geht daraus hervor, dass er die biblische Rede vom raptus ganz im Sinne der von Plotin als höchste Möglichkeit im menschlichen Erkenntnisaufstieg begriffenen έκστασις Sermo XXXII ,In nomine Jesu': h XVII, Ν. 1, Z. 3 - N . 4, Z. 25.
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versteht. In zwei Details der folgenden Aussagen findet diese Deutung eine Bestätigung. Wie er wörtlich sagt, will Cusanus zuerst festhalten, dass Paulus auf dem Weg der Entrückung in den dritten Himmel geführt worden ist, auf dass er dort sehe. Diese betonte Finalisierung des Entrückungsgeschehens auf die wahrnehmende Schau ergibt sich aus dessen philosophischem Verständnis als höchstmöglicher Stufe geistiger Erkenntnis. In der Aussage, dass die Entrückung in den dritten oder vernunfthaften Himmel den Menschen aus dem Fleisch entrückt, kommt dieses Verständnis indirekt zum Ausdruck, nämlich im Hinblick auf die im Aufstiegsprozess überstiegene Stufe der Sinnlichkeit. Diese horizontverschmelzende Gleichsetzung der Entrückungserfahrung des Glaubens mit der intellektuellen Selbsttranszendenz der Philosophie erlaubt Cusanus nun zweierlei: Sie ermöglicht ihm eine tiefere Einsicht in das, was auf der höchsten Stufe des Geistes gesehen wird, und sie eröffnet ihm - vermittelt dadurch - den Blick für die in ihrer Universalität verborgene Gegenwart des Glaubens in der Tiefe jeder Intellektspitze. Ersteres gelingt Cusanus, indem er die bei Paulus vorgegebene Bestimmung Jesu Christi als desjenigen, der in der Entrükkung über aller Schau gesehen wird, konsequenterweise auch auf den philosophischen Erkenntnisaufstieg bezieht: Jene Wahrheit, die auf der höchsten Erkenntnisstufe des Intellekts intuitiv erfasst wird, ist Christus. Aufgrund welcher Wesensbestimmungen Christus der Inhalt höchstmöglicher intellektueller Wahrheitserkenntnis sein soll, wird von Cusanus in der Aussage andeutungsweise begründet, dass der Mensch durch die Entrückung zum Geheimnis der Schau gelangt. Christus ist deshalb das Ziel des menschlichen Erkenntnisaufstieges, weil er die Offenbarungsgestalt der die begriffliche Fassenskraft des Menschen übersteigenden und deshalb geheimnishaften göttlichen Wahrheit ist. Durch die Einsicht, dass die in der ekstatischen Selbsttranszendenz des Geistes gesehene Wahrheit im Grunde mit dem in Christus offenbar gemachten Geheimnis Gottes identisch ist, kann Cusanus nun auch das intellektuelle Entrückungsgeschehen tiefer bestimmen. Weil sich darin der intuitive Bezug auf die Selbstoffenbarung des Geheimnisses der göttlichen Wahrheit ereignet, besteht die geistige Selbsttranszendenz im Akt des Glaubens: Die Entrückung ist der Glaube, oder wie Cusanus präzisiert - sie geschieht durch Vermittlung des Glaubensvollzugs. Die in diesem Gedanken entdeckte universale Bedeutung des Glaubens als Vollzug des Überstiegs zur höchstmöglichen Wahrheitseinsicht entfaltet Cusanus in den folgenden Aussagen der Predigtpassage im Hinblick auf die darin implizierte wesenhafte Verwiesenheit von Glauben und Denken aufeinander. Dass Cusanus durch seine spekulative Identifikation des Glaubens mit der höchsten Erkenntnisstufe nicht eine analoge Metaphorisierung der biblischen Rede vom Glauben intendiert, sondern vielmehr eine ursprünglichere, in der jüdischchristlichen Tradition dann (lediglich) ausdrücklich bezeugte Wesensbestimmung
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des Glaubens aufzuweisen beansprucht, geht aus einer Aussage unmissverständlich hervor, deren radikale Eindeutigkeit nicht zu überlesen ist: Der Glaube wird nämlich nur im Intellekt gefunden. Weil der Intellekt der ursprüngliche Ort des universalen Glaubensvollzugs ist, ist er auch in die Wesensdefinition des Glaubens zu integrieren. Gleiches gilt in noch intensiverer Weise für das Denken, weil das Glauben für es nicht nur der Ort seiner ursprünglichen Wirksamkeit, sondern der seine Wesensverwirklichung allererst begründende Ursprungsvollzug schlechthin ist, denn nur wenn der Intellekt durch den Glauben entrückt wird, sieht er. Der Glaube ist in den erkennenden Wesensvollzug des Denkens als notwendige Voraussetzung integriert, die in der sukzessive über die Erkenntnisgrade aufsteigenden Wesensverwirklichung des Intellekts nicht zurückgelassen, sondern jeweils intensiver in Anspruch genommen wird: Jeder Einsichtnahme muss notwendigerweise der Glaube vorausgehen, und zur höchsten Schau muss der größte Glaube vorausgehen. Im folgenden, umfangreichsten Teil der angeführten Predigtpassage liest Cusanus die in den biblischen Schriften tradierten Worte der Propheten und Heiligen als ausdrückliche Bezeugung seiner Entdeckung der ursprünglichen Bedeutung des Glaubens im wahrheitsvermittelnden Entrückungsgeschehen des Intellekts. Dies gelingt unter der Voraussetzung, dass er die gemäß Hebr 1 1 , 6 , , ohne den Glauben unmögliche" Gottesschau ausdrücklich ganz im philosophischen Sinne als in der Erkenntnis des Wahren bestehende Ruhe des Intellekts definiert. Wenn er unmittelbar darauf parallel dazu die Vollendung der menschlichen Intellektwirklichkeit in der Wahrheitsschau als Erlangung der Gotteskindschaft begreift, so geht daraus hervor, dass er nicht etwa die Glaubenserfahrung in das Denken aufzuheben intendiert, sondern umgekehrt die intellektuelle Wahrheitserkenntnis in das Glaubensgeschehen integriert, indem er sie als Vermittlungsweg zum Ziel des Glaubens bestimmt. Die für die Glaubensvollendung ebenso notwendige wie daraufhin relativierte Vermittlungsfunktion der Intellektwirklichkeit findet in der folgenden definitorischen Identifikation Gottes mit der Wahrheit ihre Begründung: Der Mensch kann zum Kindschaftsverhältnis der Gottesschau gelangen, indem er im Rückgang auf die Ermöglichungsbedingungen des Selbstvollzugs der eigenen Intellektnatur die absolute Wahrheit als ihm innerlich immer schon gegebene Offenbarkeitsweise Gottes entdeckt. Die Schriftaussage „ Wer sein Zeugnis annimmt, beglaubigt, dass Gott wahrhaftig ist" (Joh 3, 33) liest Cusanus als Beschreibung ebendieses Denkweges zur Gotteskindschaft. Er entnimmt ihr aber auch einen weiterfuhrenden Hinweis darauf, warum der intellektbegründende Bezug auf die Offenbarkeit der absoluten Wahrheit Gottes die ursprünglich verborgene Wesenswirklichkeit des Glaubensvollzuges der Gotteskindschaft darstellt. Jene die Gotteskindschaft eröffnende
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intellektuelle Schau des göttlichen Wahrheitsgrundes kann deshalb nur im Glauben geschehen, weil dazu zuerst jene Empfängnis erforderlich ist, die durch den Glauben geschieht. Die gemäß Joh 1, 12 als Voraussetzung zur Gotteskindschaft benannte Aufnahme des fleischgewordenen Wortes reflektiert Cusanus in seiner Zitation von Offb 2, 17 als den Empfang der Wahrheitsvoraussetzungen des Intellektvollzuges: „Keiner weiß, wenn er nicht empfängt". Indem er den Glauben so als erkenntnisermöglichenden Rückbezug auf die von Gott her empfangene Offenbarkeit der absoluten Wahrheit begreift, kann er wie in ,De docta ignorantia' III, 11 auch hier der (gemäß Vulgata zitierten) JesajaAussage (7, 9) „ wenn ihr nicht so glaubt, werdet ihr nicht erkennen " einen präzisen philosophischen Sinn geben. Durch den Glauben gelangt man zur Wissenschaft, weil er das Entrückungsgeschehen des Intellekts zum in Christus offenbar gemachten göttlichen Wahrheitsgeheimnis vermittelt. Dass Cusanus diese im Glauben angenommene Wahrheitsvermittlung primär als die Mitteilung der intellektuellen Erkenntnisprinzipien versteht, ist in der im Deutschen nicht wiederzugebenden, von Cusanus aber wohl bewusst wahrgenommenen und gesetzten lautlichen Assonanz des Wortes für Wissenschaft (disciplinatum) und der lateinischen Benennung der Jünger Jesu als Schüler (discipuli) angedeutet. In seiner Exegese gibt er dem bei Johannes (8, 32) überlieferten Christus-Wort „ Wenn ihr in meinem Wort bleibt, werdet ihr meine wahren Schüler sein " einen auf die Begründung intellektueller Wissenschaft bezogenen Sinn. Im folgenden sieht er die von Jesus vorgenommene Benennung seiner Jünger als wahr darin gerechtfertigt, weil diese die Wahrheit erkennen. Dass er damit einen wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt des Intellekts meint, ist nicht nur von der lateinischen Bezeichnung der Jünger als Schüler her naheliegend, sondern ergibt sich auch aus der cusanischen Aussage dazu, worauf das johanneische Wort von der Befreiung durch die Wahrheit zu beziehen sei: Wir suchen nichts anderes als die Befreiung aus der Unwissenheit (ignorantia). Der Glaube der wahren Jünger-Schüler erweist sich darin schließlich als die für die Verwirklichung eines jeden Intellekts voraussetzungshafte Bereitschaft, die für den Fortschritt in der Wissenschaft notwendige Offenbarungsbelehrung durch das göttliche Wahrheitswort aufzunehmen: Aus dieser Lehre Christi sehen wir, dass man durch den größten und beständigsten Glauben dahin gelangen muss, dass wir „für Gott belehrbar " (Joh 6, 45) seien. Weil die erkenntnisermöglichenden Wissenschaftsprinzipien nur im Glauben angenommen werden können, erlangt der Intellekt sein Ziel der Wahrheitsschau nur durch die Vermittlung des Glaubensvollzugs: Und dann werden wir die Wahrheit erkennen, denn wir müssen zum Glauben gelangen, weil wir anders die Wahrheit nicht erreichen können. Dadurch, dass der Glaubensvollzug dem Menschen die Offenbarkeit des göttlichen Wahrheitsgeheimnisses vermittelt, entrückt er die menschliche Intellektnatur
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zur Vollendung im höchstmöglichen Grad ihrer Wirklichkeit: Der Glaube ist es, ohne den wir die Vernunftschau (visionem intellectualem) nicht berühren können. Denn der Glaube ist der Weg zur Schau der Wahrheit. 3.2.3.14 Der Glaube als überkonjekturale
Veritas revelata
Das Verständnis des Glaubens als höchster Erkenntnisstufe wird in zwei weiteren Predigtstellen durch eine tiefere Wesensbestimmung jener Wahrheit ausführlicher begründet, die auf dem Weg des Glaubensvollzuges zugänglich ist. Im ersten diesbezüglichen Text intendiert Cusanus, den Sinn des bereits in ,De docta ignorantia' III 11 an exponierter Stelle zugrundegelegten Jesaja-Zitates „Nisi credideritis, non intelligetis" philosophisch zu erhellen, indem er aufweist, dass die im rationalen Erkenntnisprozess von jeder menschlichen Intellektnatur gesuchte Wahrheit nur durch den Glauben gefunden werden kann. Die Bestimmung des Glaubensvollzugs als des höchsten Aufstiegsgrades im Erkenntnisfortschritt des Intellekts wird dabei durch die Einsicht bestätigt, dass die im Glauben angenommene Wahrheit mit dem im natürlichen Streben des menschlichen Geistes vorausgesetzten Zielgrund identisch ist: In diesem Leben können wir nicht zum Begreifen aufsteigen, außer durch den Glauben, wie Jesaja sagt: „Wenn ihr nicht glaubt, werdet ihr nicht erkennen". Die Wahrheit wird nämlich nicht anders als durch den Glauben berührt. Der Glaube ist aber die geoffenbarte Wahrheit (veritas revelata), die in der Demut der Aufnahme empfangen wird, denn durch einen aus unseren Kräften hervorgebrachten Versuch wird sie nicht berührt."2
In diesem kurzen Text legt Cusanus in Konzentration auf die wesentlichen Gründe dar, warum der Glaube für die letzte Vollendung des natürlichen Erkenntnisaufstieges notwendig ist und somit als der höchste Erkenntnisgrad begriffen werden kann. Dies leitet er hier aus den Wesensbestimmungen der vom Intellekt gesuchten Wahrheit ab. Wenn er diese im letzten Satz nur negativ definiert, indem er feststellt, dass sie durch einen aus unseren Kräften hervorgebrachten Versuch nicht berührt wird, so ent-spricht er damit dem Wesen der absoluten Wahrheit auf die einzig mögliche Weise. Die Wahrheit kann vom menschlichen Geist nur als die Grenze der eigenen Fähigkeiten erkannt werden, weil sie die begrifflichen Möglichkeiten des endlichen Intellekts unendlich übersteigt. Wenn das dem Menschen natürlich eingegebene Erkenntnisstreben nicht vergeblich sein soll, so bleibt nur jene Möglichkeit, die Cusanus als Konsequenz aus der Anerkennung der begrenzten Fähigkeiten des menschlichen Intellekts an-
112
Sermo X X X I ,In nomine Jesu': h XVII, Ν. 1, Z. 12-18.
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nimmt: Die Wahrheit kann nur in der Demut der Aufnahme empfangen werden."3 Weil die Annahme einer die eigenen Begründungsmöglichkeiten übersteigenden Wahrheit aber die Wesensdefinition des Glaubensvollzugs ist, kann Cusanus daraus schließen, dass die Wahrheit nicht anders als durch den Glauben berührt wird. Wenn Cusanus schließlich die im Glaubensvollzug dem Intellekt auf seiner höchsten Stufe eröffnete Wahrheit als Veritas revelata bestimmt, so gibt er damit den tiefsten Grund für die Notwendigkeit des Glaubens zur Vollendung des Denkens an. Da der menschliche Intellekt nicht begreifend zur Wahrheit aufsteigen kann, muss der demütigen Vertiefung als einziger Disposition zu einem für den Menschen möglichen Wahrheitsempfang eine absteigende Bewegung der göttlichen Wahrheit selbst entsprechen, in der diese selbst den menschlichen Intellekt erfüllt, indem sie sich in dessen Fassenskraft einschränkt. Die kenotische Abstiegsbewegung Gottes zur lichthaften Mitteilung des dunklen Geheimnisses seiner Wahrheit an den Menschen ist die Wesensbestimmung des Offenbarungsgeschehens. Indem Cusanus diese Identität entdeckt, kann er feststellen, dass das Wahrheitsziel vom Intellekt deshalb nur im Glauben erreicht werden kann, weil es ihm geoffenbart werden muss. Durch die Einsicht, dass die im Glauben angenommene Wahrheit die im Prozess der Selbstverwirklichung des Intellekts vorausgesetzte Offenbarkeit seines Zielgrundes ist, wird der Glaube als die höchste Erkenntnisstufe begreifbar. Die den Glauben zur höchsten intellektuellen Erkenntnisstufe qualifizierende Bestimmung seiner Wahrheit reflektiert Cusanus in einer zweiten Predigtpassage im Rückgriff auf die von ihm zur Charakterisierung des endlichen Erkenntnisvollzugs entfaltete Begrifflichkeit der Konjektur: Die Antwort der Menschen ist konjektural, denn ihre Behauptungen sind aus irgendeiner bekannten Ähnlichkeit abgeleitet. Die Wahrheit aber wird aus der Mutmaßung (coniectura) nicht berührt. Deshalb stammt unser Glaube nicht aus dem Menschen, weil keine Mutmaßung an ihn heranreicht, sondern aus der Offenbarung (revelatione) des Vaters, wie es unser Meister (sc. Jesus Christus) in seinen Worten an Petrus bezeugt. So ist die Evangelisierung seine Verkündigung, da er ohne das Wort verborgen (occulta) bliebe. Der Glaube stammt aus dem Hören, er wird gehört aus dem Wort, aus dem 113 In diesem Gedanken gibt Cusanus, wie in anderen Kontexten etwa der Hoffnung, dem Vertrauen oder der Liebe, auch der Glaubenstugend der Demut einen erkenntnisbegründenden und damit für jeden Menschen geltenden Sinn. Diesen weist Cusanus insbesondere in seinen auch erkenntnismetaphysisch argumentierenden Überlegungen zu der für das christliche Verständnis paradigmatischen Demutsgestalt Mariens auf, im Dialogus de annunciatione: Ρ II, fol. 2V-6V. Für eine vergleichbare Deutung des Demutsgeschehens bei Meister Eckhart vgl. D. SCHOELLER REISCH, Enthöhter Gott - vertiefter Mensch. Zur Bedeutung der Demut, ausgehend von Meister Eckhart und Jakob Böhme (Freiburg-München 1999).
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Wort stammt die Offenbarung, und das Wort offenbart (revelat) seinen Vater, der sonst unbekannt bliebe. Denn keiner weiß, wer jener innere Mensch ist, wenn es nicht geoffenbart wird; keiner weiß, was im Menschen ist, nur der Geist des Menschen, der der innere Mensch selbst ist; und dieser Geist ist im Wort, in welchem er sich selbst offenbart. Der Vater wird im Sohn geoffenbart, die Allmacht des Vaters in der Kunst, die Kunst aber im Werk. So stellen die Werke Christi ein Zeugnis der Kunst des Allmächtigen dar, die Kraft stammt aus der Wesenheit des Schöpfers, durch die Gott die Zeiten machte; sie ist das Wort des Allmächtigen, dem alles notwendigerweise gehorchen muss." 4
Um nachzuvollziehen, wie Cusanus hier in der Terminologie seiner Konjekturenlehre die Wahrheit des Glaubens als die im Denken vorausgesetzte und damit den Glaubensvollzug als höchste Erkenntnisstufe aufweist, muss die Definition der Konjektur kurz rekapituliert werden. In der gleichnamigen Schrift bestimmt Cusanus die Konjektur als eine bejahende Feststellung, die in der Andersheit an der Wahrheit, wie sie ist, teilhat.1,5 Wenn Cusanus im ersten Satz des angeführten Predigttextes die Antworten aller Menschen als konjektural bezeichnet, begreift er sie damit als andersheitliche Teilhabegrade an der Wahrheit. Diese Verständnisvoraussetzung ist nun für die Interpretation der folgenden Aussage entscheidend: Wenn Cusanus feststellt, dass die Wahrheit im konjektural vergleichenden und so stets im Bereich des Andersheitlichen verbleibenden Erkenntnisvollzug des Menschen nicht erreicht werden kann, so sagt er damit indirekt, dass der Intellekt den voraussetzungshaften Teilhabegrund seiner Konjekturbildungen nicht seinerseits durch die konjekturale Erkenntnisart erfassen kann, weil dieser den Bereich der Konjekturen als dessen Ermöglichungsbedingung per definitionem übersteigt. Die in jeder Konjektur vorausgesetzte Wahrheit muss dem Intellekt demnach durch eine höhere Erkenntnisart zuteil werden, in der nicht mehr der Mensch durch konjekturale Vergleichsvollzüge andersheitliche Begründungen vermittelt, sondern die unmittelbare Mitteilung der Wahrheit selbst angenommen wird. In der folgenden Aussage des Textes bestimmt Cusanus diese höchste, weil in der andersheitsfreien Unmittelbarkeit des Wahrheitsempfangs bestehende Erkenntnisstufe als den Glaubensvollzug: Deshalb stammt unser Glaube nicht aus dem Menschen, weil keine Mutmaßung an ihn heranreicht. Wenn Cusanus hier die überkonjekturale Wesensbestimmung der Glaubensannahmen hervorhebt, so widerlegt er damit indirekt das landläufige (Miss-)Verständnis des Glaubens als defiziente Wissensform des Für-wahr-Haltens, indem er entdeckt, dass die im Glauben empfangene Wahrheit mit dem Partizipationsgrund jeder konjekturalen 114
Sermo XCVI ,Quodcumque solveris super terram': Ρ II, fol. 74r v. De coni. I, 11: h III, N. 57, Z. lOf: Coniectura igitur est positiva assertio, in alteritate veritatem, uti est, participans. 115
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Intellekterkenntnis identisch ist und so durch einen Grad von Intelligibilität qualifiziert ist, der alle endlichen Wahrheitsmaßstäbe unendlich übersteigt. Im Gedankengang des Predigttextes dringt Cusanus schließlich auch zum tiefsten Grund für die nur im Glauben zu empfangende Mitteilung der in jeder Konjektur partizipierten Wahrheit vor. Wenn die überkonjekturale Glaubenswahrheit nicht durch die begreifende Aktivität des menschlichen Intellekts erschlossen werden kann, ihre Erschlossenheit aber in jedem seiner Akte vorausgesetzt ist, bleibt als einzige Möglichkeit die Annahme, dass das jeder andersheitlichen Begriffsvermittlung entzogene Wesen der Wahrheit sich unmittelbar selbst erschließt. An diesem Punkt des selbstreflektorischen Begründungsregresses des Geistes entdeckt Cusanus, wie die im Intellektvollzug partizipierte Wahrheit in ihrer Herkunftsbestimmung jene Eigenschaften aufweist, die in der biblischchristlichen Tradition als Offenbarung des Vaters zum Ausdruck gebracht werden: Es handelt sich um die dem Menschen gegebene Selbstmitteilung eines vom endlichen Erkenntnisvermögen nicht begrifflich erreichbaren WahrheitsGeheimnisses. In dieser Identifizierung wird der Glaubensvorgabe nicht nur die tiefere Systemstelle zu-erkannt, sie hat darüber hinaus auch in der genetischen Struktur des Gedankens den Primat, weil Cusanus damit im Rahmen seines offenbarungsphilosophischen Grundanliegens intendiert, den Wahrheitsgrund des Geistes als Dimension der Selbstoffenbarung Gottes zu begreifen. In der Konsequenz seiner Entdeckung des biblisch bezeugten Offenbarungsgeschehens als tieferen Ursprungsgrund des konjekturalen Erkenntnisvollzuges eines jeden menschlichen Intellekts, gibt Cusanus auch den biblischen Vermittlungskategorien des Offenbarungsglaubens einen tieferen erkenntnisbegründenden Sinn. Die Mitteilung der überkonjekturalen Wahrheit reflektiert er als die in ihrer Universalität verborgene Bedeutung der Verkündigung des Evangeliums. Das zum Glauben führende Hören auf das Wort des Evangeliums ist der in jedem menschlichen Intellekt der göttlichen Wahrheitsoffenbarung entsprechende Vollzug des Empfangens. In den Aussagen, dass die Glaubenswahrheit ohne das Wort verborgen bliebe und dass das Wort seinen Vater offenbart, der sonst unbekannt bliebe, hebt Cusanus die Bedeutung des Wortes im Geschehen der Wahrheitsoffenbarung hervor, die er dann mit Hilfe einer gleichnishaften Versinnbildlichung in ihrer Notwendigkeit begründet: Wie das Innere eines Menschen nur geoffenbart werden kann, wenn es sein Geist im Wort ausspricht, kann auch das verborgene Geistwesen des Vatergottes nur durch die Vermittlung seines Sohnwortes bekannt werden. Wenn Cusanus abschließend die Einheit des Sohnwortes mit dem seinskonstitutiven göttlichen Schöpfungsprinzip affirmiert, so benennt er damit noch einen biblisch vorgegebenen Grund für die Rückführung des intellektuellen Wahrheitsgrundes auf das im Glauben angenommene Offenbarungswort: Weil alle Dinge vom In-
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tellekt nur im Wissen um ihre Ursprungsgründe erkannt werden können, diese aber ihren einheitlichen letzten Grund im Entschluss Gottes finden, in seinem Schöpfungswort die Kunst seiner Allmacht zu offenbaren, ist die im Glaubensgehorsam anzunehmende Mitteilung des göttlichen Offenbarungswortes die Ermöglichungsbedingung jedes intellektuellen Erkenntnisaktes. 3.2.3.15 Die Selbsttranszendenz der Intellektnatur als Aufstieg zur Übernatürlichkeit des Offenbarungsglaubens Zumal die in den letzten Abschnitten vorgenommenen Textinterpretationen als Kommentar konzipiert sind zu dem von Cusanus in ,De docta ignorantia' III, 11 konzentriert entfalteten offenbarungsphilosophischen Glaubensverständnis, dort aber von einer ,Übernatürlichkeit' des Offenbarungsglaubens nicht die Rede ist, ist der mit diesem Begriff zusammenhängende Fragenkomplex hier nur indirekt von Interesse."6 Allein aus der Tatsache, dass Cusanus an einer derart exponierten Stelle wie dem Mysteria/?