Nihilismus und Weltstaat: Katastrophen, Krisen und Lebensordnungen im 21. Jahrhundert 9783883095523, 9783883094175, 9783869452357

Stabile Gesellschaften müssen fundamentale Aufgaben erfüllen. Diese können nur Individuen übernehmen, die ein Mindestmaß

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Titelei
Impressum
Inhaltsübersicht
Einleitung
Das Nichts und der „Nihilismus“ (Nietzsche)
Der „Übermensch“
Die ewige Wiederkehr
I Lebensordnungen
A Organismus
1 Wachstum und Evolution
2 Autorität und Verantwortung
3 Der „Normalmensch“: Vernunft (Homöostase) und die Bildung
der psychischen Grundfunktionen
4 Psychische Funktionen, Kausalformen und Ethiktypen
5 Weltbild und der Zusammenhang von Seinsbewußtsein und Selbstbewußtsein
6 Anthropologie und Hirnforschung
7 Grundwissen
7.1 Orientierung
7.2 Physikalisches Grundwissen
7.3 Soziales, ökonomisches und politologisches Grundwissen
7.4 Differenzierte Anthropologie
7.5 Methodenlehre
7.6 Wissenschaftslehre
7.7 Kategorienlehre
7.8 Anthropologische Evolution (Rassen und Jugendbewegungen)
7.9 Ideelle Evolution und die psychischen Grundfunktionen
7.10 Soziale Massendynamik
8 Familiengeist
9 Erwerbssinn und Rationalität
B Sozialordnungen
1 Volksgeist
1.1 Leistungsgemeinschaft
1.2 Demokratie und Solidargemeinschaft, Mischverfassung und Gewaltenteilung
1.3 Immunsystem, Symbiosen und Allianzen
2 Kultur und Zivilisation
2.1 Religiöse und kulturelle Mentalitätsschichten
2.2 Zivilisation und Friedensordnung
II Krise
A Neurosen
1 Trieblehren und Lustprinzip
2 Willensmetaphysik
3 Lebensphilosophie
4 Mitleidsethik
B Soziale Aggregate
1 Arten der Macht
2 Der Volksgeist im Kriegszustand
2.1 Volkstumskämpfe
2.2 Deutschland, das Land der Mitte
3 Erwerbtrieb und Konkurrenzkampf
4 Massenkultur
III Zusammenbruch
A Zusammenbruch der Person
1 Psychosen
1.1 Gier und Sucht
1.2 Perversion
2 Nihilistischer Stil (Selbstmord und Zynismus)
B Sozialer Kollaps
1 Kollektive Psychosen
1.1 Kampfideologien und die Stufen des Totalitarismus
1.2 Kriegsreligionen (Islamismus)
1.3 Judenhaß
1.4 Völkermorde
1.5 Atomare Apokalypse
2 Ökonomischer Kreislaufkollaps
2.1 Erwerbsgier und der große Crash
2.2 Mafiasysteme
2.3 Korruption
3 Der „Untermensch“: Die hilflose Masse
3.1 Megacities und Schwarze Löcher
3.2 Scheiternde Staaten (afrikanische Zustände)
Ausblick: Tendenzen zum „Weltstaat“ (Ernst Jünger)
Verhaltensstandards
Kontinentale Ordnungsmächte
Verfassungen des „Weltstaats“
Die Mentalitätsschichten der Pädagogik
Metaphysik und Religionsfriede
Anmerkungen
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Nihilismus und Weltstaat: Katastrophen, Krisen und Lebensordnungen im 21. Jahrhundert
 9783883095523, 9783883094175, 9783869452357

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Nihilismus und Weltstaat

Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Verlag Traugott Bautz GmbH 99734 Nordhausen 2010 ISBN 978-3-88309-552-3

Inhalt Einleitung ...................................................................................................................... 9 Das Nichts und der „Nihilismus“ (Nietzsche) ...................................................... 9 Animus und Anima. Gibt es das Nichts? Mystik. Virtuelle Teilchen. Materie und Antimaterie. Dunkle Materie und Energie. Vakuum. Schwarze Löcher. Die Null der Mathematiker. Nihilismus und Nihilierung. Aggression und die Stufen des Bösen. Der „Übermensch“............................................................................................... 18 Die ewige Wiederkehr.......................................................................................... 20 Die ewige Wiederkehr des Gleichen? Die sich wandelnde Wiederkehr von Ordnungen, Krisen und Zusammenbrüchen.

I

Lebensordnungen................................................................................................. 23 Ordnung, System und Organismus.

A Organismus........................................................................................................... 25 1 Wachstum und Evolution ............................................................................... 25 2 Autorität und Verantwortung ......................................................................... 26 Erfolgsethik, Verantwortungsethik und Gesinnungsethik. 3 Der „Normalmensch“: Vernunft (Homöostase) und die Bildung der psychischen Grundfunktionen........................................................................ 29 Die anthropologische Frage: Was ist der Mensch? Schema: Die Anthropologien von Jaspers und Jung. Das Unbewußte. Archetypen. Maske. Schatten. Affektvielfalt. Bewußtsein und Rationalität. Geist und die Funktionen Empathie, Identität, Intuition, Kreativität und Urteilskraft. Zeichen, Symbole und Metaphern. Existentielle Funktionen. Grenzsituationen. Komplexität existentieller Entscheidungen: Dreifache Dialektik des inneren Handelns. Vernunft. 4 Psychische Funktionen, Kausalformen und Ethiktypen ................................. 39 Material- und Formursachen. Trieb- und Zielursachen. Stufen der Freiheit. Naturalistische, positivistische, idealistische und existentielle Ethik. Referenzsysteme und integrative Ethik. 5 Weltbild und der Zusammenhang von Seinsbewußtsein und Selbstbewußtsein............................................................................................ 42 Umgreifendes: Objekt und Horizont. 6 Anthropologie und Hirnforschung ................................................................. 43 Emotionales System. Belohnungssystem. Gedächtnissystem. Entscheidungssystem.

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Grundwissen................................................................................................... 44 7.1 Orientierung......................................................................................... 44 Weltorientierung, Existenzerhellung und Metaphysik. 7.2 Physikalisches Grundwissen................................................................ 45 7.3 Soziales, ökonomisches und politologisches Grundwissen ................. 46 7.4 Differenzierte Anthropologie............................................................... 47 Chaos- und Spieltheorie, Handlungs-, Entscheidungs- und Konflikttheorie. 7.5 Methodenlehre ..................................................................................... 47 Universale und partikulare Methoden. Anthropologische und soziale Dialektik. 7.6 Wissenschaftslehre .............................................................................. 49 7.7 Kategorienlehre.................................................................................... 49 Schema der philosophischen Logik von Jaspers. Schema der Themen einer differenzierten Anthropologie. 7.8 Anthropologische Evolution (Rassen und Jugendbewegungen) .......... 52 Anthropologische Evolution und Rassen. Progenese und Neotenie. Archemorphie und Pädomorphie. Unterschiede des Evolutionstempos. 7.9 Ideelle Evolution und die psychischen Grundfunktionen .................... 58 Magie, Animismus, Mythos, Polytheismus, Mysterienreligionen und Monotheismus. Konfessionskriege und Aufklärung. Nation. Universalistische Ideologien. Existentielle Funktionen und Existenzphilosophie. Vernunft und das Gleichgewicht der Antinomien. 7.10 Soziale Massendynamik ...................................................................... 65 Familiengeist.................................................................................................. 66 Erwerbssinn und Rationalität ......................................................................... 68 Solidität und Solidarität.

Sozialordnungen................................................................................................... 71 Lebensformen und Lebensordnung. 1 Volksgeist....................................................................................................... 71 Bevölkerung, Volk, Nation. Stufen der Identität (Schema). 1.1 Leistungsgemeinschaft......................................................................... 73 Kapitalschöpfung und Ordnungsökonomik. Privateigentum, offene Märkte, Vertragsfreiheit und Währungspolitik. Sozialismus und Unternehmertum. 1.2 Demokratie und Solidargemeinschaft, Mischverfassung und Gewaltenteilung................................................................................... 75 1.3 Immunsystem, Symbiosen und Allianzen............................................ 78 Militärische, wirtschaftliche und religiöse Macht. Allergische Reaktionen und Autoimmunleiden. Parasiten und Täuschungsmanöver. Symbiosen und Allianzen. Imperien.

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Kultur und Zivilisation ................................................................................... 84 2.1 Religiöse und kulturelle Mentalitätsschichten ..................................... 84 Religion, Kultus und Kultur. Mentalitätsschichten. Kulturmorphologien. Phasenlehren. Achsenzeiten. 2.2 Zivilisation und Friedensordnung ........................................................ 93

II Krise ...................................................................................................................... 97 A Neurosen ............................................................................................................... 98 Organ- und Psychoneurosen. Ausdrucksverstehen, phänomenologisches, rationales, geistiges und existentielles Verstehen. 1 Trieblehren und Lustprinzip......................................................................... 100 2 Willensmetaphysik....................................................................................... 102 3 Lebensphilosophie........................................................................................ 103 4 Mitleidsethik ................................................................................................ 105 Christliche Nächstenliebe und Fernstenliebe. B

Soziale Aggregate ............................................................................................... 108 Biologische Aggregate. Philosophische Aggregate (Modephilosophien). 1 Arten der Macht ........................................................................................... 109 Macht und Recht. Demokratie und Machtkontrolle. 2 Der Volksgeist im Kriegszustand................................................................. 111 2.1 Volkstumskämpfe .............................................................................. 111 2.2 Deutschland, das Land der Mitte ....................................................... 112 3 Erwerbtrieb und Konkurrenzkampf.............................................................. 120 4 Massenkultur................................................................................................ 121 Kriegspropaganda. Massenmedien. Sekten und Aberglaube.

III Zusammenbruch ................................................................................................ 125 Zusammenbruch, Kollaps, Katastrophe und Apokalypse. Ökologie. A Zusammenbruch der Person............................................................................. 127 1 Psychosen..................................................................................................... 128 Organische und endogene Psychosen. Schizophrenien: Katatonien, Hebephrenien, Paranoia und Verschwörungstheorien. 1.1 Gier und Sucht ................................................................................... 130 Der Faktor Persönlichkeit. Drogen. Milieu. Markt. 1.2 Perversion .......................................................................................... 132 2 Nihilistischer Stil (Selbstmord und Zynismus) ............................................ 134

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B

Sozialer Kollaps.................................................................................................. 136 1 Kollektive Psychosen ................................................................................... 136 Barbarei, Anarchie, Despotie, Totalitarismus. 1.1 Kampfideologien und die Stufen des Totalitarismus ......................... 137 1.2 Kriegsreligionen (Islamismus)........................................................... 142 Sklavenhaltergesellschaften. Friedenszustand mit dem Islam. Integration und Assimilation. 1.3 Judenhaß ............................................................................................ 150 Antijudaismus, Antisemitismus, Antimosaismus, Antihebraismus, Antizionismus und Antiisraelismus. Radikale Selbstkritik. Jüdische Existenz. 1.4 Völkermorde ...................................................................................... 158 Kriminelle, politische, moralische und metaphysische Schuld. 1.5 Atomare Apokalypse ......................................................................... 161 2 Ökonomischer Kreislaufkollaps ................................................................... 163 Schurkenwirtschaft. 2.1 Erwerbsgier und der große Crash ...................................................... 164 Das Credo des Kapitalismus. Überfluß von Geldvermögen. Kreditprodukt und Konstruktion. Analytisches Denken und Abstraktion. Staatsbankrott. Überwindung der Krise. 2.2 Mafiasysteme..................................................................................... 172 2.3 Korruption ......................................................................................... 176 3 Der „Untermensch“: Die hilflose Masse ...................................................... 177 3.1 Megacities und Schwarze Löcher ...................................................... 178 3.2 Scheiternde Staaten (afrikanische Zustände) ..................................... 180

Ausblick: Tendenzen zum „Weltstaat“ (Ernst Jünger)......................................... 187 Tendenzen, Prognosen und Urteilskraft. Weltorientierung und Weltanschauung. Verhaltensstandards .......................................................................................... 190 Weltstaat und Notstand. Autarkie und Autonomie. Kontinentale Ordnungsmächte......................................................................... 192 Asien. Indien. China. Rußland. Europa. USA. Verfassungen des „Weltstaats“......................................................................... 198 Die Mentalitätsschichten der Pädagogik.......................................................... 199 Metaphysik und Religionsfriede ....................................................................... 200 Transzendenz und Wirklichkeit. Philosophischer Glaube als Weltphilosophie. Fünf Sätze des Glaubens und Unglaubens. Pantheismus, Theismus, Deismus und Panentheismus. Chiffren der Transzendenz. Passive und aktive Agnostiker. Vergebliche Versuche der Theodizee. Drei Sprachen der Transzendenz. Seinsbewußtsein und Selbstbewußtsein.

Anmerkungen............................................................................................................ 211 8

Einleitung Was ist größer als Gott? Bösartiger als der Teufel? Die Armen haben es. Die Glücklichen brauchen es. Wenn du es ißt, stirbst du.

Das Nichts und der „Nihilismus“ (Nietzsche) Die Antwort auf den Rätselspruch des Mottos zeigt: Das abstrakte Nichts ist etwas Dämonisches; in konkreten Lebenszusammenhängen wird es jedoch vielseitig und belebt viele sprachliche Wendungen. Wer nichts mehr zu sagen hat, muß deswegen keineswegs nichtssagend sein; auch wer nichts tut, vegetiert noch als Nichtsnutz, ist deswegen aber keineswegs nichts wert oder nichtswürdig. Seit der Antike scheint es eine reine Männerdomäne der Theologen und Philosophen gewesen zu sein, sich intensiv mit dem Nichts als Abstraktion zu befassen, sich darüber in die Haare zu geraten und den Nihilismus, der ihnen Kummer und Sorge bereitete, als „weltanschauliche“ Lebenshaltung diagnostisch, kritisch oder positiv zu thematisieren. Frauen dagegen hatten sich stets um konkrete Fragen des Zusammenlebens zu kümmern und zu sorgen. Deswegen konstatierte Ingeborg Bachmann, die Männer seien unheilbar krank. Um dem zu begegnen, fordert die Nixe Undine die Einheit von Liebe und Erkenntnis und die Freiheitsräume, wo die Männer den Frauen nicht „kleinweise“ den Tod beibringen und sie krank machen. Nachdem sie von den Männern gerufen und ihre unbedingte Liebe verraten wurde, muß sie zurück ins Wasser gehen, in das gerechte Wasser mit seinem gleichgültigen Spiegel, der es verbietet, die Männer anders zu sehen als sie sind. In der sprachlosen Welt des Wassers ist sie mit „allen Wassern gewaschen“, und die Politik der Männer, ihre Ideen, Gesinnungen und Meinungen werden grotesk und antinomisch: „Gegen ein Eigentum und für ein Eigentum habt ihr gestritten, für die Gewaltlosigkeit und für die Waffen, für das Neue und für das Alte … Gut war trotzdem euer Reden, euer Umherirren, euer Eifer und euer Verzicht auf die ganze Wahrheit, damit die halbe gesagt wird, damit Licht auf die eine Hälfte der Welt fällt …“ Solche „Einfälle“, solche Halbwahrheiten entstehen, wenn man zwischen Liebe und Nichts umherirrt; wenn das Nichts in die Anthropologie, in das Menschenbild einfällt. Sie beruhen auf dem Spannungsverhältnis von Animus und Anima, die von C. G. Jung als Archetypen des männlichen und weiblichen Unbewußten beschrieben wurden und in einem spiegelbildlichen Verhältnis zueinander stehen. Animus ist der kämpferische, auf Konkurrenzkampf, Durchsetzung (und in der Grenzsituation des Kämpfens auch auf Ver-nichtung) bedachte Seelenanteil. Er sucht den agonalen Streit, wie ihn Ingeborg Bachmann persifliert hat. Anima dagegen der anpassungsfähige und anschmiegsame, auf Ausgleich zielende (etliche deutsche Männer haben im Gegensatz zum „Fighting Fritz“ der Kriegsgeneration heute mehr davon kultiviert, als den meisten Frauen lieb sein kann). Es handelt sich um diejenigen psychischen Strukturen, die es den Menschen erlauben, überhaupt die Erfahrung des anderen Geschlechts machen zu können. Das ganze

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Wesen des heterosexuellen Mannes setzt die Frau voraus, körperlich wie geistig, und umgekehrt gilt das gleiche. Dabei ist für Therapie und Selbstbeobachtung von entscheidender Bedeutung, das seelisch-geistige und das hormonell-sexuelle Mischungsverhältnis von Animus und Anima bei sich selbst und Mitmenschen in Konfliktlagen getrennt beurteilen zu können. Jedermann trägt das Bild einer bestimmten (nicht konkreten) Frau in sich, und umgekehrt. Es wird immer unbewußt projiziert in die konkrete Figur mit leidenschaftlicher Anziehung oder Abneigung. Animus und Anima zeigen sich als Frauen- und Männergestalten in den Märchen, Mythen, Visionen, Träumen, aber auch Wahnideen einzelner Menschen. Anima und Animus sind für den psychischen Lebensprozeß von großer Bedeutung, weil sie dem Bewußtsein die Inhalte des kollektiven Unbewußten vermitteln. Dies sind vor allem die kollektiv wirksamen Archetypen (z. B. Held, Muttergottheit, weise alte Frau, Kulturheros, Philosophenkönig, Entdecker oder göttliches Kind). Jung konkretisierte damit die abstrakte und kosmologisch erweiterte Yin-YangLehre des Konfuzianismus für die praktische Anthropologie. Daß ein solches Spannungsverhältnis auch tödlich enden kann, zeigt Ingeborg Bachmann in ihrem Roman „Malina“. Sie erzählt diese Kernhandlung ihres Lebens von einer männlichen Position aus, um ihr weibliches Ich zu finden; das ist aber durch ihre leidvollen Erfahrungen mit Männern zum Verschwinden gebracht worden. Sie war der „ungeheuerlichen Kränkung, die das Leben ist“, der „unheilbaren Krankheit“ der Männer müde geworden und nahm damit ihren eigenen Tod voraus. Ingeborg Bachmann wurde durch diese Verknüpfung von Dichtung und eigenem Schicksal zur Ausnahmegestalt in der Literatur, so wie Kierkegaard und Nietzsche Ausnahmegestalten in der Philosophie waren.1 Aber was verstehen die intellektuellen Männer, die ihre Frauen krank machen, nun unter „Nihilismus“? Wie konnte es überhaupt passieren, daß ein intellektuelles Kunstwort, ein Zufalls- und Nebenprodukt der Aufklärung2, später so Nietzsches Denken beanspruchte, daß es der Denkfiguren des Übermenschen und der ewigen Wiederkehr bedurfte, um ihn zu überwinden? Und daß er zu allem Überfluß einen schaffenden Nihilismus der Stärke von einem bloß zerstörerischen Nihilismus der Schwäche unterschied. Bei nüchterner Betrachtung betrifft Nihilismus doch nur allgemein Verhaltensweisen, die mit Nihilierungen, mit den verschiedensten Arten der Vernichtung zu tun haben: von Sach- und Geldwerten, von Lebens- und ideellen Werten. Hauptgrund dürfte sein, daß – wie eingangs angedeutet – unsere Sprache nicht nur vor dem dämonischen Nichts erstarrt, wie das Kaninchen vor der Schlange, sondern auch durch „Wendungen“, durch Kombinationen mit dem Nichts belebt wird. Das Kunstwort Nihilismus soll eine Lebenshaltung kennzeichnen, die vor allem Lebenswerte vernichtet, nihiliert, das heißt zum „nihil“, zum Nichts führt. Aber gibt es dieses „Nichts“ überhaupt? Vor allem das abstrakte Nichts als Gegenspieler Gottes, des Seins, alles Seienden, das sogar bösartiger als der Teufel sein soll ? Das übersteigt offenbar jede theologische Weltsicht. Nur ein Gnostiker, wie Basilides (2. Jahrhundert n. Chr.), der die Paradoxien liebt, kann das Nichts mit dem Pleroma, der unendlichen Fülle, gleichsetzen. Die Schöpfung, die Kreatur, lebt davon, zu unterscheiden und sich

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zu unterscheiden. Gibt sie die Unterscheidungen auf, fällt sie ins unendliche Pleroma, ins Nichts zurück.3 Der Rätselspruch des Mottos zeigt auch, daß in den belebenden sprachlichen Wendungen mit dem Nichts eher salopp bloß ein Mangel, etwas Nichtvorhandenes, ja auch etwas Überflüssiges bezeichnet wird. „Von nichts kommt nichts.“ Das totale, das schwindelerregende Nichts scheint eine bloße Fiktion zu sein, welche ihre Existenz der Männerdomäne, der „Muße“ der mystisch veranlagten Philosophen, verdankt. Müßiggang ist aller Laster Anfang? Keineswegs, die philosophischen Kategorien des Nichts wurden mit deutschem Fleiß und deutscher Gründlichkeit von Chr. Wolff und Kant erarbeitet. Es wurde definiert als das, was weder ist noch möglich ist. Vom Unmöglichen könne auch kein Begriff gebildet werden. Das Nichts sei ein leerer Begriff ohne Gegenstand, der „leere Gegenstand eines Begriffs“, die leere Anschauung ohne Gegenstand (z. B. Raum und Zeit) und schließlich das „unmögliche Unding“, in dem sich der Begriff selbst aufhebt. Im Gegensatz dazu war das Nichts für Hegel nicht nur ein logisches oder subjektives sprachliches Problem. Er stand in der Tradition der Mystik, welche die Realität des Nichts als Gedanken des Bösen auffaßte. Unsere Wirklichkeit ist demnach in Beziehung auf Gott ein bloßer Schein, ja ein reines Nichts. Für Hegel bestand aber die Aufgabe darin, über die mystische Kontemplation und Meditation hinaus in einer großen logischen Denkanstrengung das „absolute Nichts“ zu erkennen, das in Wahrheit die absolute Mitte Gottes darstelle. Im ersten seiner drei Bücher der „Wissenschaft der Logik“ („Die Lehre vom Sein“)4 geht er von dem Sein als dem logischen Anfangsgedanken aus. Abstraktionen sind Weisen der Negation. Die vollständige Abstraktion von allen Bestimmungen läßt unter dem Titel „reines Sein“ nichts übrig. Folglich muß auch diese vollständige Abstraktion zum Gegenteil des Seins führen: zur reinen Negativität, zum Nichts. Erste Aufgabe der Philosophie sei, beim „wahren Nichts“ anzufangen, das heißt bei der wahren Unendlichkeit als dem „Abgrund des Nichts, worin alles Sein versinkt“. Bei diesem mystisch begriffenen Nichts beruft sich Hegel unter anderem auf die Buddhisten und meint damit die einfache Gleichheit mit sich selbst oder die vollkommene Leerheit oder Bestimmungs- und Inhaltslosigkeit. Erst in der dialektisch verflochtenen Natur des Seins und Nichts erscheinen beide als Momente einer Einheit, nämlich des „Werdens“ von Kosmos und Leben. Wegen dieser instabilen Einheit ist das Werden widersprüchlich, flüchtig und selbstzerstörerisch. Ähnlich von der mystischen Literatur beeinflußt, dachte Schelling das „göttliche Nichts“ als völlig sucht- und naturlos. Auch die „lautere Freiheit“ und der Wille, der nichts will, nichts begehrt, dem alle Dinge gleich sind, seien „nichts und alles“. Beide hatten zusammen mit Friedrich Hölderlin 1797 das erste „Systemprogramm des deutschen Idealismus“ verfaßt. Aus dem bedrückenden Erziehungsmilieu des schwäbischen Pietismus heraus forderten die drei Tübinger Theologiestudenten als erstes praktisches Postulat einer neuen Metaphysik und Ethik: „Die erste Idee ist natürlich die Vorstellung von mir selbst als einem absolut freien Wesen. Mit dem freien, selbstbewußten Wesen tritt zugleich eine ganze Welt – aus dem Nichts hervor – die einzig wahre und gedenkbare Schöpfung aus dem Nichts.“ 11

Hölderlins Karriere war – auch durch Zurückweisung von Goethe und Schiller – gescheitert, weil er, wie Hegel spottete, an der „Hofmeisterkrankheit“ (sich in die Hausherrin zu verlieben) zerbrach. Das große Versprechen des ersten Systemprogramms (eine neue Mythologie zu gründen, getragen von der Idee, die alle vereinigt, die Idee der Schönheit, und damit als letztes größtes Werk der Menschheit eine neue Religion zu stiften, die ein „höherer Geist“ vom Himmel gesandt hat) war allzu hochherzig gewesen. So resignierte er: „Oh ihr Armen, die ihr das fühlt, die ihr auch nicht sprechen mögt von menschlicher Bestimmung, die ihr auch so durch und durch ergriffen seid vom Nichts, das über uns waltet, ... so gründlich einseht, daß wir geboren werden für Nichts, daß wir lieben ein Nichts, glauben an Nichts, uns abarbeiten für Nichts, um mählich überzugehen ins Nichts – was kann ich dafür, daß euch die Knie brechen, wenn ihrs ernstlich bedenkt? … Wenn ich hinsehe ins Leben, was ist das Letzte von allem? Nichts. Wenn ich aufsteige im Geiste, was ist das Höchste von allem? Nichts.“ So faßt er seine Verzweiflung im Romanfragment „Hyperion“ zusammen, in welchem er das Scheitern seiner Liebe inmitten der kaltherzigen Frankfurter Geschäftswelt und das Absinken seiner Karriere ins Nichts beschreibt. Auffällig ist, daß hier das Nichts immer ohne bestimmten Artikel verwendet wird.5 An Schelling anknüpfend ging der Psychiater und Philosoph Karl Jaspers von der alten Frage aus, warum es überhaupt unsere Welt gibt, warum nicht nichts sei. Wenn man alle endlichen Begriffe und Chiffren unserer Existenz transzendiere (überschreite), gelange man in die große Leere, in das All, in die Fülle der ganzen Wirklichkeit, der Transzendenz. Davon müsse das „absolute Nichts“ unterschieden werden, das Grauen vor dem möglichen transzendenten Abgrund. Gerade in den Grenzsituationen (wie Kampf, Schuld, Leiden, Sterben) gebe es einen Weg zum eigentlichen Sein (über die Welt hinaus) als Erlösung in der tragischen oder mystischen Haltung zur Welt; einen anderen in Vollendungen unserer sozialen Umwelt oder als Leben quer zur Zeit (als Querdenker oder im Widerstand gegen das Kollektiv). Aber es gebe auch Wege zum Nichts, auf denen jedes Einheitsbewußtsein, jede Verbundenheit, jedes Vertrauen und jeder Glaube an Kontinuität verloren geht. Man will sich an die bloße Gegenwärtigkeit halten und sich nicht mehr mit dem Gewordenen der Tradition und den Zukunftsperspektiven belasten. Der Augenblick der Entscheidung kollabiert zum bloßen Moment, zu dem, was nicht einfällt oder wiederholt wird, was uns vielmehr bloß zufällt. Nicht nur Verrat und Untreue, auch die Diskontinuität des Vergessens und der bloße Wechsel aller Dinge können zu einer vernichtenden Stimmung führen: zum Verlust jeder Wahrheit, zur Enttäuschung eines jeden Glaubens, zum Versinken in Verzweiflung und Sinnlosigkeit. Nietzsche habe diesen Gedanken konsequent durchgedacht.6 Diese mystischen Erfahrungen des Nichts, dieses philosophische Ringen um das Nichts scheint auch die moderne Physik zu bestimmen, nämlich mit der Erkenntnis, daß virtuelle Teilchen wie aus dem Nichts entstehen und wieder zu verschwinden scheinen. Aber das scheint nur so. Jedes Elektron ist beispielsweise von ihnen umgeben, wie von einer abschirmenden Wolke, welche seine elektrische Ladung stabilisiert. Auch virtuelle Teilchen kommen nicht aus einem Nichts, sondern aus energetischen Feldern. 12

Beim Urknall vor 13 Milliarden Jahren ist zwar ebensoviel Materie wie Antimaterie entstanden, welche sich beim Zusammenstoß vernichten. Aber nur drei der vier bekannten Naturkräfte (Gravitation, elektromagnetische und starke Kernkraft) gehorchen der sogenannten Ladungsparitäts-Symmetrie (CP-Symmetrie). Nur die schwache Wechselwirkung, die für den radioaktiven Betazerfall verantwortlich ist, bildet eine Ausnahme. Sie verhält sich nicht spiegelsymmetrisch, sondern auch dann asymmetrisch, wenn man Teilchen durch Antiteilchen vertauscht. Durch diese Verletzung der CP-Symmetrie wird der „Überschuß“ von Materie erklärt, aus dem unser Kosmos besteht. Nur durch diese scheinbar unbedeutende Abweichung von der Paritätssymmetrie wird unsere Existenz ermöglicht. Wäre nämlich genausoviel Materie wie Antimaterie erzeugt worden, dann bestünde unser Universum nur aus Strahlung, – aus einer Lichtwelt von Photonen, die zeitlos ist, weil sich Photonen mit Lichtgeschwindigkeit bewegen und deswegen so alt sind wie unser Universum. War das der „Sündenfall“, ohne den wir in alle Ewigkeit als Lichtgestalten in einem Lichtkosmos jubilieren könnten? So hat es wenigstens die Feinabstimmung der ca. zwölf universellen Naturkonstanten (wie Lichtgeschwindigkeit, Ladungs- und Ruhemasse des Elektrons, Gravitationskonstante) zur Folge gehabt, welche das Zusammenspiel der vier physikalischen Grundkräfte ermöglichen. Wer oder was bewirkte diese Feinabstimmung? War es der „unbekannte Gott“ (deus absconditus), von dem es in der Bibel heißt: „So ihr mich ernstlich suchet, so will ich mich von euch finden lassen.“ Der für uns erkennbare Kosmos soll jedoch nur aus zehn Prozent von dessen Gesamtmasse, der sichtbaren Materie, erklärbar sein; nach dem Rest, der dunklen Materie und der dunklen Energie, wird noch geforscht. Auch beim Zusammenstoß von Materie und Antimaterie entsteht kein „Nichts“, es entsteht vielmehr Strahlung. Der Energieerhaltungssatz wird durch die Antimaterie nicht verletzt. Daß die Materieteilchen eine Masse besitzen, scheint nicht nur für Materialisten banal zu sein. Aber auch das kann man derzeit noch nicht erklären, sondern nur postulieren. Es sollen die Higgs-Teilchen sein (nach denen man zur Zeit in Genf forscht), die kurz nach dem Urknall ein Feld erzeugt haben, das den Teilchen Masse verliehen hat. Aber auch dabei geht es um Partikel, nicht um ein Nichts. In der heutigen Physik gibt es auch kein leeres Vakuum. Es bleibt erfüllt von elektromagnetischen Feldern. Selbst im feldfreien Zustand treten Quantenfluktuationen auf, eine Art Schwingungsenergie. Diese läßt „aus dem Nichts“ virtuelle Teilchen entstehen und vergehen. Sie wird als „Casimir-Kraft“ bezeichnet und beweist, daß das „Nichts“ nicht nur abstoßend, sondern auch anziehend sein kann. Schwarze Löcher sind das Gegenteil des von den Buddhisten erträumten Nirwanas: In ihnen ist die Masse von bis zu mehreren Millionen Sonnenmassen auf kleinstem Raum konzentriert. Es sind vor Energie strotzende Monster, welche das Erscheinungsbild aktiver Galaxien mit ihrer enormen Schwerkraft und ihren Materiejets prägen. Im Extremfall können zwei verschmelzen und dann aus der Galaxie davonrasen oder als Quasare explodieren. Der Satz der Theologen, Gott schaffe die Schöpfung – aber kein Nichts –, wäre demnach richtig. Obwohl es also das physikalische Nichts nicht gibt, spielt es in der 13

Mathematik eine wesentliche Rolle. Das Nichts ist hier keineswegs null und nichtig. Schon in der Antike mauserte es sich als Null vom bloßen Interpunktionszeichen (Trennstrich) zur eigenständigen Rechengröße. Im Arabischen wurde sie als Ziffer oder Chiffre bezeichnet (as-sifr), im Lateinischen zunächst als figura nihili – die Zahl des Nichts – und erst später als nulla figura. Daraus entstand schließlich unsere „Null“.7 Nur die Mengenlehre rechnet mit Nullmengen (bzw. „leeren Mengen“) und mit den „Null-Dingen“, den Elementen in der „leeren Klasse“. Trotz dieses Gegensatzes von physikalischem und mathematischem Nichts wird heute unser Weltbild durch eine Zusammenarbeit zwischen (experimentell nachprüfbaren) physikalischen Theorien und reiner Mathematik bestimmt. Danach ist die Wirklichkeit von Materie und Kosmos allein mit drei Raum- und einer Zeitdimension nicht zu erklären. In der Stringtheorie (die eine rein mathematische Basistheorie ist) „rechnet“ man heute mit zehn Raumdimensionen und mindestens einer weiteren Zeitdimension.8 Eine zweite oder dritte Zeitdimension würde weiteren räumlichen Dimensionen entsprechen und die Auffassung von Ilya Prigogine stützen, die Zeit sei eigentlich keine Dimension, sondern ein Operator. Im sozialen und religiösen Bereich war die Null keine selbstverständliche Rechengröße, sondern etwas Problematisches, vor dem man sich ängstigen muß. Das Aufgehen ins Nichts, das Eingehen ins Nirwana war und bleibt ein männlicher Wunschtraum. Oder ein Albtraum, wenn die Yucatan-Maya sich vor der Null wie vor einem Todesgott ängstigten. Beim Zählen vermieden sie es, von vorn anzufangen, weil sie dabei die Null berühren könnten. Auch der Kirchenvater Augustinus warnte vor den Mathematikern, die mit dem Teufel im Bunde stünden und den Menschen in die Bande der Hölle verstricken. Inhaltlich und sprachlich bedenklich wird es, wenn Heidegger in § 40 seines Hauptwerkes „Sein und Zeit“ auf dem Nichts eine Existentialontologie begründen will: „Das Wovor der Angst ist das Nichts, das heißt die Welt als solche … Nichtiger Grund seines nichtigen Entwurfs steht das Dasein in der Möglichkeit seines Seins … Das Nichts … enthüllt die Nichtigkeit, die das Dasein in seinem Grunde bestimmt, der selbst ist als Geworfenheit in den Tod.“ Auch seinem Schüler Sartre konnte es 1943 – mitten in der Besatzungszeit in Paris – gelingen, mit seinem ersten Hauptwerk unter dem Titel „Das Sein und das Nichts“ intellektuellen Ruhm zu erringen. Die Frage nach dem Nichts wird zum Leitfaden für eine wunderliche Anthropologie: Der Mensch entpuppt sich danach als Ursprung des Nichts, was Grundlage seiner Freiheit sein soll. Zu diesem Ergebnis kommt Sartre auf folgendem Denkweg: Hegel läßt das Sein dialektisch ins Nichts übergehen. Heideggers phänomenologische Auffassung, wonach das Sein und das Nichts zwei Kräfte sind, sei dagegen ein Fortschritt. Das Nicht-Sein sei in und außer uns anwesend, das Nichts sei eine „Heimsuchung“ des Seins. Es nichtet mitten „im Herzen des Seins wie ein Wurm“. Als Freiheitsbewußtsein nichtet das Bewußtsein seine eigene Vergangenheit, es ist die Einheit von Sein und Nicht-Sein. Mit ihm taucht der Mensch als das Sein auf, das sein eigenes Nichts ist.9 All dies kann als Beispiel für eine reine Bewußtseinsphilosophie gelten, die sich auf die Ratio, den Verstand, beschränkt und dadurch vernunftlos wird. Deren weiterer 14

Denkweg läßt sich wie folgt skizzieren: Alles nicht-menschliche Sein (das „Nicht-Ich“ Fichtes) existiert im Modus des An-sich-Seins, das heißt eines Seins, das einfach nur das ist, was es ist, also mit sich identisch ist. Dagegen existiert alles menschliche Sein im Modus des Für-sich-Seins. Dieses nicht mit sich identische Für-sich-Sein schafft also eine Lücke im sonst lückenlosen mit sich identischen Sein des An-sich. Durch diese Lücke lugt nun das Nichts und schlüpft als Nicht-Sein ins Sein. Die dadurch entstehende Angst vor dem Nichts – dem Néant – führt zum Ekel und zur Unaufrichtigkeit (und damit zur Grundkrankheit mancher Intellektueller). Diese Unaufrichtigkeit sei die Struktur des Bewußtseins, dessen „Für-sich“ nach absoluter Totalität strebt, zum Versuch des Menschen, eine unmögliche Synthesis des Für-sich und des An-sich zu erreichen, das heißt „Gott zu sein“. Und so geht das weiter bis auf die Seite 786, wo der erschöpfte Leser durch die Mitteilung erfreut wird, die entscheidenden Fragen nach einer verantwortlichen Freiheit würden im nächsten Buch über die Ethik beantwortet. Diese wenig bis nichtssagende Anthropologie führte ihn später politisch von Heidegger über Freud, Stalin, Mao zum Sympathisanten der RAF und philosophisch zu einer Verbindung von existentieller Psychoanalyse und Marxismus als unüberschreitbarer „Philosophie unserer Zeit“. C. G. Jung zählte Sartre deswegen zu den „ruchlosen Doktrinären“. Stalin wäre in Paris eine Art Existentialist wie Sartre geworden: „Was in Paris eine Wolke von Geschwätz erzeugt, davon erzittert in Asien der Boden. Dort kann sich ein Potentat immer noch als Inkarnation der Vernunft an die Stelle der Sonne setzen.“10 Der intellektuelle Verfallsprozeß führte angesichts der Entstalinisierung zu einem gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin grotesk zelebrierten Mao-Kult und endete damit, daß er seine Philosophie widerrief und sich zum Gott des Alten Testaments bekehren ließ.11 Auf dem Höhepunkt seiner Stalin-Verehrung, 1952, übte er nicht nur sozialistische Selbstkritik, sondern sogar Selbstzensur. Er verbot die Aufführung seines Stükkes „Die schmutzigen Hände“ (entstanden 1948), weil es als Kritik an den terroristischen Untergrundaktivitäten der Kommunisten verstanden werden konnte. So kann es zu den männlichen Kunststücken gehören, aus dem Nichts heraus eine Karriere zum ordentlich verbeamteten Philosophieprofessor zu begründen und als „bedeutendster Philosoph des 20. Jahrhunderts“ Beifall zu erhalten.12 Menschlich allzu menschlich ist es, sich gegenseitig als Nihilisten zu beschimpfen, wie es seit der französischen Aufklärung üblich wurde. Der Nihilismus als menschliche Haltung wurde nach Kant und Hegel erst durch Nietzsche zu einem Hauptthema der Philosophie gemacht. Für Friedrich Nietzsche hat schon der Begriff des Nichts die Bedeutung des Lebensverneinenden. Die von ihm diagnostizierte nihilistische Bewegung seiner Zeit verstand er als Ausdruck einer physiologischen Dekadenz. Diese sei daran zu erkennen, daß der „Wille zum Nichts“ die Oberhand hat über den Lebenswillen. Aber auch der Wille zum Nichts sei noch eine Form des Willens zur Macht, denn „Lieber will noch der Mensch das Nichts wollen, als nicht wollen“. Dieser verkappte Wille zur Macht fingiert eine transzendente Welt, um die wirkliche verurteilen zu können. Dies führe zu Prozessen der Selbstverurteilung und Selbstzerstörung. 15

Diese Entwicklung zur Dekadenz seiner Zeit läßt er in einem fragwürdigen geschichtsphilosophischen Ansatz mit Sokrates und Plato anheben und im Christentum sich fortsetzen. Denn im christlichen Gottesbegriff werde das Nichts vergöttlicht, „der Wille zum Nichts heiliggesprochen“. Dann sei der Sinn für Wahrhaftigkeit zum wissenschaftlichen Gewissen geworden, zur intellektuellen Sauberkeit um jeden Preis. Dadurch sei das unmoralische Interesse bloßgelegt worden, das alle Moral fundiere. Die erstrebte allgemeingültige Wahrheit sei in eine Vielzahl perspektivischer „Wahrheiten“ zerfallen. Daraus sei dann die Einsicht erwachsen, daß es gar keine Wahrheit gebe, daß jedes „Für-wahr-halten notwendig falsch“ sei. Dies sei dann die extremste Form des Nihilismus. Als Fazit kann festgehalten werden: Das Nichts ist nach allem physikalisch eine Phantasmagorie, eine intellektuelle Vorstellung, eine spiegelbildliche Fiktion des Seins, die letztlich nur eine mathematische Größe ist. In der Natur gibt es kein Nichts, sondern nur Metamorphosen und destruktive oder „schöpferische“ Zerstörungen materieller und lebendiger Organisationsformen. Und Menschen, welche dies mit vorgeblich guten oder offen bösen Absichten betreiben, sind aggressiv oder destruktiv. Die heutige Verhaltensforschung geht nicht mehr von einem angeborenen Aggressionstrieb aus. Es gibt allenfalls Potentiale aggressiven Verhaltens durch die Hormonstruktur, insbesondere das Testosteron.13 Deswegen können junge Männer zwischen Pubertät und Erwachsenenalter zu den gefährlichsten menschlichen Lebewesen gezählt werden. Und es kann – wie Elias Canetti in „Masse und Macht“ eingehend geschildert hat – zu den Hauptvergnügen alter Männer gehören, sie in den Tod marschieren zu lassen, zu ihrem „Triumph des Überlebens“.14 Aggression ist eine Reaktion auf Streß, vor allem durch traumatische Erfahrungen, mangelndes Selbstbewußtsein und soziale Unsicherheit. Nicht nur durch Vernachlässigung oder Überforderung, genauso durch Verwöhnung kann sie hervorgerufen werden. Die auf Aggressionseindämmung zielenden Erzieher müssen ihre Zöglinge zwischen diesen Extremen hindurchlotsen. Aggressive Reaktionsmuster können bereits durch Streß vor der Geburt ausgelöst werden und sind oft schon im sechsten Lebensjahr weitgehend prägend abgeschlossen. Sie sind dann nur noch schwer zu beeinflussen. Wenn Aggressive sich als Polemiker intellektuell verbalisieren können und sich gegenseitig dabei das Etikett Nihilist verleihen, können sie erfolgreiche „Meisterdenker“ und Philosophieprofessoren werden, – obwohl sie bei genauerem Hinsehen lediglich schlechte Anthropologen sind. Eine defizitäre Anthropologie beruht letztlich darauf, daß einzelne psychische Funktionen (von den vitalen vorbewußten über die rationalen und geistigen bis zu den die ethischen Entscheidungen bestimmenden existentiellen Funktionen, vgl. Kap. I A 3 und 4.2) „übersehen“ oder nur kümmerlich beziehungsweise verkümmert wahrgenommen werden. Wenn eine dieser psychischen Ebenen versinkt, versinkt auch die Vernunft. Solche Widervernunft bereitet immer Kummer, für sich selbst und für die Mitmenschen. Aufgabe der Pädagogik und Philosophie ist es, sich speziell um solche kleinen und großen Nihilisten zu kümmern. Die aktiven Formen der Aggression können zur gehässigen Glaubens- und Respektlosigkeit gegenüber religiösen Lebensordnungen mit ihren Traditionen führen. Ferner 16

zum Zynismus, zur gezielten Zerstörung, zum Sadismus. Die „Stufen des Bösen“, die Kant unterschied (Schwäche, Unlauterkeit, Annahme pflichtwidriger Maximen), waren im Hinblick auf die von Nietzsche angestoßene Diskussion über den Nihilismus nicht mehr überzeugend. Er veröffentlichte 1886 ein Buch mit dem programmatischen Titel „Jenseits von Gut und Böse“. Es sollte ein Vorspiel einer neuen Philosophie für neue Philosophen sein (für „freie, sehr freie Geister“), eine Philosophie, welche über die bisherige Metaphysik, Religion und Moral hinaus neue Lebenswerte propagiert. Ein Jahr später folgte sein Buch „Zur Genealogie der Moral“, in welchem die moralischen Werte danach analysiert wurden, ob sie der „Herrenmoral“ der Starken (welche sich selbst als die Besten – Aristokraten – bezeichnen) entspringen oder einer „Sklavenmoral“ der von Kriegerrassen unterworfenen Völker. Die Sklavenmoral – ebenso wie die sozialistischen Bewegungen seiner Zeit – wurzeln für Nietzsche im Ressentiment; die asketischen Ideale der Priester auf einem rückwärts gerichteten Ressentiment, auf Schuldgefühlen. Indem Nietzsche den „Wert dieser Werte“ in Frage stellte, blieb aber die Frage offen, welche „neuen Lebenswerte“ durchzusetzen seien. Denn als Anthropologe blieb Nietzsche weitgehend konfus (Kap. II A 2). Die schroffen Schlagwörter seiner Moralkritik waren im Nationalsozialismus leicht zu mißbrauchen. Nach den Erfahrungen zweier Weltkriege hatte es sich gezeigt, daß es einen Nihilismus der Daseinsverabsolutierung gibt (der Machtinteressen und der vitalen Lebensbereiche; aber auch der sozialen Empörung gegen tatsächliches oder vermeintliches Unrecht), der in die absolute Rechtlosigkeit der Opfer des fanatischen Hassens, in totale Vernichtungsaktionen führte. Vor diesem Hintergrund sah Karl Jaspers sich veranlaßt, nach einem neuen Ansatz über Kant hinaus zu suchen, wie Aggression und die Stufen des Bösen zu definieren sind: (1) Als böse gilt zunächst die Hingabe an Neigungen und sinnliche Antriebe, an die Lust und das Glück dieser Welt. Das Leben des Menschen, das im Bedingten bleibt, läuft ab wie das Leben der Tiere, wohlgeraten oder mißraten, ohne ethische, das Leben lenkende Entscheidungen. Hier ist das Verhältnis von Gut und Böse das Moralische: Pflicht steht gegen Neigung. (2) Die Scheingüte im Luxus glücklicher Verhältnisse, in denen man sich das Gutsein leisten kann, täuscht über das Bösesein hinweg. Im Konfliktfall mit despotischen Mächten gehorcht man dem Befehlsnotstand. Hier ist das Verhältnis von Gut und Böse das Ethische: Es geht um die Wahrhaftigkeit der Motive. Der Glückswille hat hier Vorrang vor dem moralischen Willen; vor der „Revolution der Denkungsart“ (Kant), dieses Bedingungsverhältnis umzukehren. (3) Der Wille zum Bösen, der Wille zur Zerstörung als solcher, der Antrieb zum Quälen, zur Grausamkeit und zur Vernichtung, dieser nihilistische Wille gilt erst als eigentlich böse. Hier steht Haß gegen Liebe. Das Verhältnis von Gut und Böse wird metaphysisch. Es geht auf der dritten Stufe um die Frage, ob der Aggressive sich völlig von Bezügen zur Transzendenz gelöst hat und wie Richard III. sagen kann: „Ich bin ich allein.“ Das Böse entspringt hier der untersten Freiheitsstufe, der Willkür, dem Eigenwillen zur totalen Unabhängigkeit.

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Die drei Stufen des Bösen gehen ineinander über und sind aneinander gebunden. Alle stehen in einem inneren Zusammenhang. Ohne die Reinheit und Klarheit der Entscheidung auf der zweiten Stufe wird die Pflichterfüllung der ersten Stufe gewaltsam. Der existentielle ethische Entschluß verwirklicht sich durch alle Stufen in eins. Die Reinheit der Entscheidung in einer früheren Stufe hängt in ihrer Verwirklichung von den späteren ab. Das Böse war für Jaspers kein Gegenstand und keine Naturmacht, sondern eine Grenze für die Vernunft und das Begreifenkönnen. Das Böse wird zur Chiffre der Transzendenz. Die Transzendenz ist die Wirklichkeit, die der uns erkennbaren Realität zugrunde liegt. Unter dem Aspekt des Bösen ist sie weder etwas Erbauliches noch etwas Beruhigendes.15 Man wird – wie die dritte Stufe zeigt – das intellektuelle Kunstwort „Nihilismus“ nicht los, weder als Begriff noch als anthropologisches Thema. Man kann es abspalten als das Mephistophelische, das, was stets verneint; als das Diabolische, das, was verführt; schließlich als das Satanische, das, was vernichtet. Man kann es aber auch zu integrieren versuchen, wie es C. G. Jung als unbewußten „Schatten“ thematisiert hat, welchen jede Person als ihre dunkle Seite mit sich trägt. Und was ist gegenüber dem Bösen das Gute der „Rechtschaffenen“? Darüber sind viele Bücher geschrieben worden. Dazu die Zusammenfassung eines der bedeutendsten deutschen Denker, Wilhelm Busch: Das Gute – dieser Satz steht fest – ist stets das Böse, das man läßt! Es scheint eine spezifische Leistung der Anthropologie von Jaspers zu sein, das Nichts und den Nihilismus als objektivierbare psychische Phänomene zu behandeln und nicht als intellektuelle Phantasmagorien. In einer vernünftigen Anthropologie gibt es kein Nichts, das „nichtet“ (Heidegger). Hier gibt es nur die Vorgänge, die in der deutschen Sprache mit den Vorsilben ver- und zer- bei Verben verbunden sind. Der Diabolus verführt, der Satanas zerstört, der Aggressive vernichtet Lebenswerte und Lebenswertes.

Der „Übermensch“ Nietzsche kam zu der Prognose, das Zeitalter des Nihilismus werde die nächsten beiden Jahrhunderte bestimmen (d. h. bis in die zweite Hälfte des 21. Jahrhunderts reichen).16 Dann erst werde es zu der großen Gegenbewegung, der „Umwertung aller Werte“ kommen. Dazu sei die „Züchtung“ des Übermenschen notwendig. Der Übermensch überwindet sich selbst und damit die Fiktionen einer jenseitigen Welt, welche die Lebenswelt entwerten. Er will mehr als nur den Kampf ums Dasein (Darwin), er will den Kampf um Lebensmehrung, um einen höheren Typus von Mensch. Er führt die Menschen wieder dazu, die Lebenswerte und den Sinn ihres Seins zu erkennen. Nicht die Menschheit, sondern der Übermensch wird zum Ziel der Geschichte erklärt. Der sich über die Jahrhunderte offenbarende Nihilismus sei nur durch den religiösen Aberglauben verborgen worden. Bisherige Epochen des Nihilismus seien durch den natürlichen Untergang der Kulturen beendet worden. Nun sei aber zu den Massen

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etwas Neues hinzugekommen: die Maschinen. Die Maschinenmacht gewährleiste nicht nur unvorstellbare Zerstörungen, sondern auch das künstliche Überleben bereits abgestorbener Kulturen, die unter früheren Bedingungen nie überlebt hätten. So könne der tote Anteil im Lebendigen die Oberhand gewinnen. Es handle sich um Vampirkulturen, die von den Resten des Lebendigen leben. Für Nietzsche gibt es aber nicht nur den verneinenden Nihilismus, den Nihilismus der Schwäche, sondern auch den eigentlichen, den aktiven, den praktischen und radikalen Nihilismus der Tat. Um den Nihilismus der Schwäche, den christlichen Nihilismus, zu überwinden, bedarf es des Übermenschen. Dieser sei das Ziel der Menschheit, der Sinn der Erde. Weil Gott tot ist und auch alle Götter tot sind, müssen wir wollen, daß der Übermensch lebe. Der Übermensch ist der, der sich selbst überwindet und damit den Menschen wieder den Sinn ihres Seins zu lehren vermag. Bei Herder war der „Übermensch“ noch ein Gegenbegriff zur „Humanität“ gewesen. Die Humanität sei das Ziel der Menschheit, die Rede vom Übermenschen antihuman. Hölderlin griff mit seiner Idealfigur Hyperion auf die griechische Mythologie zurück. Hyperion („der oben Schreitende“) war der vom Himmelsgott Uranos und der Erdgöttin Gaia gezeugte Titan. Seine Schwester Theia wurde von ihm „in Liebe bezwungen“ und gebar ihm den Sonnengott Helios, die Mondgöttin Selene und Eos, die Göttin der Morgendämmerung. Nietzsche ging es dagegen nicht um vergangene Mythologie oder Aufklärung, sondern um einen neuen Mythos: die Heraushebung der „heroischen“ aus dem Kreis der „Neben- und Untermenschen“, um Selbstauszeichnung und Selbstaufwertung des Menschen, um die Selbstüberwindung trotz aller Gefährdungen. Denn der Mensch sei „ein Übergang und ein Untergang“, ein „Seiltänzer“ auf einem über den Abgrund gespannten Seil. Aber es ging Nietzsche nicht nur um die Propagierung eines Kulturheros, des Genius, sondern auch um einen biologisch-evolutionären Gattungsbegriff. Der Mensch verhalte sich zum Übermenschen wie der Affe zum Menschen. Wie nun die „Züchtung“ dieses neuen Menschen ablaufen sollte, ließ er im Unklaren.17 In der russischen radikalen Linken wurde der Übermensch als Typus begriffen, der zur Herrschaft kommen müsse, sobald die Klassengegensätze beseitigt und die Wissenschaft im Interesse aller in den Dienst genommen sei. Diesem „neuen Menschen“ stand die geplante Züchtung des Übermenschen in der deutschen Variante des Faschismus gegenüber, die rein biologische Steigerung der nordischen Rasse durch Eugenik, als Übergang zu einer „Herrscher-Kaste“. All diese manischen Entwürfe eines neuen Menschen sollten auf ein vernünftiges Maß reduziert werden: Es geht darum, den Menschen im Rahmen der pädagogischen Mentalitätsschichten (vgl. dazu den Ausblick) so zu erziehen, daß er durch Selbstbeherrschung und disziplinierte Lebensführung, durch fachliches Können und eine umgreifende Vernunft (über den bloßen Verstand hinaus) die Voraussetzungen dafür schafft, sich nützlich zu machen und eine positive Lebensbilanz ziehen zu können. Die „neuen Lebenswerte“ Nietzsches können – gerade im Zeitalter der Bevölkerungsexplosion – nicht bloße Machterweiterung sein und nicht zur Herrschaft von „Herrenmenschen“ führen. Diese Lebenswerte sind in Wirklichkeit sehr alt und propagieren – seit es Philosophie bei Indern und Griechen gibt – ausgeglichene Lebensordnungen, in de19

nen es gelungen ist, alle psychischen Funktionen, die gleichermaßen lebens- und liebenswürdig sind, in ein Gleichgewicht zu bringen. In den bereits ablaufenden Katastrophen des von Nietzsche prophezeiten Zeitalters des Nihilismus kann den „Übermenschen“ nur sein Überlebenswille auszeichnen, sich in Notallianzen (vgl. dazu den Ausblick) mit all denen zu verbinden, die ebenfalls neue und langfristig tragfähige Lebensordnungen anstreben.

Die ewige Wiederkehr Die Themen Nihilismus, Wille zur Macht und Übermensch stehen bei Nietzsche mit der Lehre von der ewigen Wiederkehr (Wiederkunft) in einem eigentümlichen Zusammenhang. Der Wille zum Nihilismus, die Verneinung des Lebens kann immer noch eine Form des Willens zur Macht sein. (Der bereits zitierte Satz „Lieber will noch der Mensch das Nichts wollen, als nicht wollen“ ist ein Kernsatz der Willensmetaphysik Nietzsches.) Ein Dasein ohne Sinn und Ziel aber, das unvermeidlich in dieser Sinnlosigkeit wiederkehrt, diese Vorstellung wäre für ihn die extremste Form des Nihilismus. Lehren von der ewigen Wiederkehr wurden in der Antike zunächst kosmologisch gedacht, als Kreislauf von Welten. Anaximander, Heraklit und Pythagoras glaubten an periodisch sich wiederholende Weltuntergänge. Diese Lehren von einem unbedingten und sich unendlich wiederholenden Kreislauf aller Dinge beherrschte Nietzsche in den letzten acht Jahren seiner produktiven Zeit. Es war die für ihn entscheidende existentielle Frage, ob man sein Leben, so wie es war, noch einmal zu durchleben wünsche. Aber das war ein zwiespältiger Gedanke, der auf ganz unterschiedliche Weise erlebt werden kann: als verwandelnde Lebensbejahung, als Sinnbild immanenter, in jedem Augenblick erfüllter Ewigkeit oder als alles vernichtende Lebensverneinung, als Inbegriff der Sinnlosigkeit.18 Zarathustras Weg bestimmt eine mühsame Entwicklung von der Selbstüberwindung zum Übermenschen und schließlich zum Gedanken der ewigen Wiederkehr als „Erlösung von der Rache“. Unter Rache versteht er den Widerwillen gegen die Zeit. Solange dieser Widerwille nicht überwunden ist, scheint die ewige Wiederkehr die furchtbarste aller Möglichkeiten. So will Zarathustra zum Lehrer der ewigen Wiederkehr werden, welche der künftige Übermensch bejahen kann. Nach dem naturwissenschaftlichen Wissensstand seiner Zeit ging Nietzsche von falschen Prämissen aus. Der Satz vom Bestehen der Energie fordere die ewige Wiederkehr. Aus der Unendlichkeit der Zeit und aus der Endlichkeit von Raum und Kraftmenge sei zu folgern, daß es keinen Endzustand des Universums geben könne. Er war sich aber der Unzulänglichkeit seiner Beweise bewußt. Letztlich interessierten ihn nicht das kosmologische Modell eines ewigen Kreislaufs, sondern lebenspraktische Absichten. In dem historischen Kontext von zweitausend Jahren, den er erblickte, ging es um die Folgen des Untergangs von Religion, Moral und Metaphysik, die Phase des europäischen Nihilismus, und dessen Überwindung zu einem bejahenden Aspekt. Heute wissen wir, daß es das physikalische Nichts nicht gibt. Auch gibt es keine Unendlichkeit der Zeit, sondern nur eine Raumzeit.

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So kann der Nihilismus bei nüchterner Betrachtung nur eine Lebenshaltung sein, die prinzipiell jede Hoffnung auf eine sinnerfüllte Fortführung des Lebens aufgegeben hat. Nihilistisch ist der mephistophelische Geist, der stets verneint, der Wetten abschließt (selbst mit Gott), das Nichts als Ursprung und Ziel der Welt ansieht und alles ins Böse zu verkehren sucht. Er versteht weder das Streben Fausts noch die innere Entscheidung Gretchens vor ihrem Untergang. Er sieht nur, daß sie vernichtet ist, – „sie ist die Erste nicht“. Mephistopheles ist Materialist und sieht nur das Gold und den Sexus als Triebkräfte des Menschen; seine Sprache und seine Symbole stammen immer nur aus diesen Gebieten.19 Die Verneinung kann Ideen betreffen, andere Menschen und deren Ordnungen. Sie kann von der Verneinung zur Vernichtung übergehen. Der Teufel als Diabolus ist der verführende Geist, als Satan der vernichtende. Ernst Jünger zog in der Mitte des 20. Jahrhunderts das Resümee, es gehe allgemein um einen Schwund von Substanz, was als Nihilismus gesehen, bezeichnet und beschrieben worden ist. Substanz beruht auf einer verliehenen Schöpferkraft. Diese Gabe führt der Gläubige auf eine göttliche oder metaphysische Ordnung zurück. In diesem Glauben können wir alle gleich sein. Im Wissen und im Wollen sind wir ungleich. Der Glaube hat somit weder mit dem Wissen noch mit dem Wollen zu tun, obwohl beide durch ihn bestimmt werden. Wenn die Substanz der Schöpferkraft schwindet, kann dies auf Schwäche oder Intelligenzmangel zurückgeführt werden; oder auf Ausbeutung, wobei die Substanz verlagert und anderweitig „investiert“ wird. Die gespeicherten Ordnungen von technischer, ökonomischer und politischer Macht können über Durchgangsstationen abgeräumt und verlagert werden. Insofern gibt es eine „ewige Wiederkehr“ von neuen Lebensordnungen, eine schöpferische Zerstörung. Geschieht dies freiwillig, hat das mit geistiger Freiheit wenig zu tun, sondern eher mit Schwäche. Dabei werden für eine „gute Sache“ auch „gute Kriege“ geführt. Der „letzte Mensch“ Nietzsches war der reduzierte Mensch und unterscheidet sich vom Übermenschen durch das Mitleid mit den „Vielzuvielen“ und mit den „Nächstbesten“. Der von Nietzsche geforderte Typus des Übermenschen sei – so Jünger – nicht der kommende Herrscher, sondern der, der den „Vielzuvielen“ ihre Würde und Bedeutung zurückgebe. Die Theologen seien heute in Rückzugsgefechte verstrickt, in der Kapitulation oder in Verhandlungen mit dem Zeitgeist. Für die Kirche gelte der Aphorismus von Leon Bloy, das Volk sei bei einem heiligen Klerus fromm, bei einem frommen Klerus gut und bei einem bloß guten Klerus infam. Die Existenz der Kirche habe in der Zeit des Totalitarismus die Bedeutung gehabt, daß die Greuel als solche erkannt wurden, daß sie nicht verheimlicht oder gar öffentlich zelebriert werden konnten. Demgegenüber habe die nach wissenschaftlichen Theorien verfahrende und durch keine metaphysischen Rücksichten getrübte Planung absolute Grade der Umbarmherzigkeit erreicht. Jeder großen „Ausmordung“ sei ein Angriff auf die Kirchen vorangegangen. Heute gehe es darum, daß Theologie und Metaphysik sich einander annähern (vgl. dazu im Ausblick „Metaphysik und Religionsfriede“), so wie es bei den fernöstlichen Religionen von jeher der Fall gewesen ist. Die Metaphysik bleibe, auch unabhängig 21

von der Theologie, eine mögliche Brücke zur Transzendenz. Existenz und Gedeihen von Hochkulturen seien nicht notwendig von der Verehrung einer personalen Gottheit abhängig, sondern mit dem Glauben an einen nichtpersonalen, Qualität und Gestalt hervorbringenden Urgrund zu vereinbaren. Deswegen könne der Buddhismus auch Vorbild und Voraussetzung einer Weltordnung werden, die nicht nur Nationen, sondern auch Rassen und Konfessionen zu umfassen vermag. Die christlichen Kirchen seien mit einem Kraftwerk zu vergleichen, das durch die großen Ströme des Glaubens gespeist wurde. In dieser Form könne man sie nicht wiederholen, nicht wieder holen. Bei der Ebbe und dem Schwund einer Kraft verändert sich nicht der Inhalt, sondern nur die Richtung der Anziehung. Nach dem Schwund bleibt nicht das Nichts, sondern nur eine Leere mit ihrer saugenden Kraft. Diese bewirke zugleich eine neue Anziehung. Das Zeitalter des Nihilismus sei immer nur eine notwendige Durchgangsstation.20 Die ewige Wiederkehr des Gleichen kann – zumindest für die Menschheit – heute keine beruhigende Gewißheit mehr sein. Seit 1945, seit der Vernichtung Hiroshimas und Nagasakis, besteht die reale Möglichkeit des atomaren Infernos, das jedes menschliche Überleben ausschließt (vgl. Kap. III B 1.5). Kosmologisch wäre dies zwar ohne Bedeutung. Der Ausgangspunkt von Nietzsche, den Gedanken der ewigen Wiederkehr aus der Nähe zu den dionysischen Mysterien zu entwickeln, welche die ewige Wiederkehr von Sterben und Neubeginn zelebrierten, wäre jedoch heute mit diesem Pathos nicht mehr möglich. Die „soziale“ Auffassung Jüngers von der ewigen Wiederkehr von Ordnung, Krise und Zusammenbruch steht im Gegensatz zu den persönlichen Erlösungslehren, zum buddhistischen Bestreben, dem „Rad der Wiedergeburten“ zu entkommen, und dem Pathos der Lebensphilosophie Nietzsches, immer wieder in diese Tretmühle einsteigen zu wollen. Vom seltsamen Geschmacke der Menschen, so Lichtenberg, zeuge auch, daß bei einer belagerten Festung die Soldaten nicht nur hinaus-, sondern auch hineindesertieren. Der Kreislauf von Ordnungen, Krisen und Katastrophen (Kap. I bis III) muß zu Beginn des 21. Jahrhunderts anders in Gedanken gefaßt werden. Es geht heute um eine wirklichkeitsgerechte Bestandsaufnahme der noch verbliebenen Ordnungen, ihrer Gefährdungen und der Möglichkeiten, die (atomare) Apokalypse für die Menschheit zu vermeiden. Dazu gehört eine realistische Sicht auf regionale Katastrophen zum Beispiel durch Despotien und unverantwortliches Bevölkerungswachstum. Diese Klarsicht als Voraussetzung, die Katastrophen einzudämmen und nicht zu globalen Katastrophen ausufern zu lassen. Es ist ein Gebot der Vernunft: Man soll die Übel da lassen, wo sie sind, und nicht andere Lebensordnungen damit infizieren.

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Lebensordnungen „Des Weisen Amt ist Ordnen.“ (Thomas von Aquin)

Dieser Spruch ist zu ergänzen: Lebensordnungen setzen vor allen philosophischen Weisheitslehren eine lebensfreundliche Grundhaltung – Lebenswille, Eros, Humor – voraus, welche ständig Gefahr läuft, in Depression und „prinzipiellen“ Pessimismus abzugleiten. Ordnung ist eben nur „das halbe Leben“. Diese Redensart betrifft die äußere Ordnung im Wohn- und Arbeitsbereich. In erster Linie sind Ordnungen evolutionär gewachsene und damit langfristig tragfähige Lebensordnungen, in denen man leben kann und mit denen es sich leben läßt. Sie sind überlebensfähig, wenn ihre Gesamtfitneß („inclusive fitness“) von genügend leistungsfähigen Individuen gewährleistet wird. Hierfür gibt es die (Un-)Gleichung der Evolutionstheorie rN > K (der nach Maßgabe der Verwandtschaftsgrade begünstigter Individuen gewonnene Fitneßzuwachs N muß größer sein als die Summe der Fitneßkosten K für die „Wohltäter, um „altruistisches“ Verhalten, auch solches unter Fortpflanzungsverzicht, in der Evolution entstehen zu lassen).21 Nicht nur die Philosophie, auch die Naturwissenschaft kennzeichnet das stetige Bemühen, Ordnung in die Vielfalt der Phänomene zu bringen. So ist das Periodensystem der Elemente ein erst im 19. Jahrhundert entwickeltes Ordnungsschema. Darüber hinaus kann der ganze Kosmos als sich entfaltende Ordnung verstanden werden. Werner Heisenberg verfaßte im Jahre 1942 unter dem Eindruck der absehbaren Katastrophe eine Schrift, der er den Titel „Die Ordnung der Wirklichkeit“ gab. Mit ihr sollte das angesprochen werden, was als „prinzipielles Denken“ den deutschen Kulturraum kennzeichne und auch nach dem Untergang Deutschlands bewahrt werden müsse. Werner Heisenberg schätzte Ernst Schrödinger als philosophischen Kopf, der neben den Problemen der Fachwissenschaft die großen Zusammenhänge sehe. Offensichtlich unter dessen Einfluß entwickelte Heisenberg bis 1942 in der (als Diskussionsgrundlage für den „Mittwochskreis“ in Berlin gedachten und zunächst unveröffentlichten) Schrift Gedanken, die der philosophischen Logik von Jaspers am nächsten kommen. Dabei wird erstmals vermieden, allgemeine und unbestimmte Wirklichkeitsbereiche wie „Ethik, Ästhetik und Religion“ anzusprechen. Heisenberg wurde durch Goethes Nachträge zur Farbenlehre angeregt, der verschiedene Wirkungsweisen unterschied, bei denen „starre scheidende Pedanterie und verflößender Mystizismus“ das gleiche Unheil bringen. Dabei wurden folgende Wirkungen unterschieden: zufällig, mechanisch, physisch, chemisch, organisch, psychisch, ethisch, religiös, genial. Heisenberg bezeichnete diese Ordnung der Wirklichkeit als „Vorbild für die von der modernen Wissenschaft gesuchte“. Er kam dann zu einer Untergliederung, die nach den herkömmlichen Wirklichkeitsbereichen der Wissenschaft (Mechanik der klassischen Physik, anorganische und organische Chemie, Biologie) auf der Ebene des Menschen zu Kategorien kommt, die der philosophischen Anthropologie von Jaspers weitgehend ähneln.22

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Es gebe über das Bewußtsein hinaus Pforten, die vom Bereich des bloßen Bewußtseins zum Raum der geistigen Zusammenhänge führen. Der gesamte Bereich der symbolischen Kommunikation, der Wissenschaft und der Kunst könne nur auf einer geistigen Ebene über die Naturwissenschaften hinaus adäquat erfaßt werden. Dann gebe es noch eine oberste Schicht der Wirklichkeit, die schöpferischen und religiösen Kräfte des Menschen, bei denen die Subjektivität des Menschen ganz im Vordergrund stehe. Bei den Griechen hatte cósmos die Bedeutung einer geordneten Welt; táxis war dagegen das geordnete Verhältnis zwischen den Teilen eines Ganzen, eines Einzelwesens wie auch einer Gruppe. Taxis ist im wissenschaftlichen Begriff Taxonomie enthalten, worunter die Einordnung der Lebewesen in ein biologisches System verstanden wird. Die Griechen unterschieden auch zwischen der bloßen Gründung einer Ordnung (thésis) und der Ordnung, die sich auf Normen gründet (táxis). Dem entspricht der Gegensatz von law and order, von Recht und Ordnung. Das Recht, das Gebot, das Richtige zu tun, gibt dem halben Leben der äußeren Ordnung erst die Chance, zum ganzheitlichen Leben zu werden. Unser Wort Ordnung ist von lateinisch ordo abgeleitet, womit die sinnvolle Anordnung von Teilen nach normativen Richtlinien gemeint ist. Mundus dagegen war das römische Wort für Weltall wie das griechische cosmos. Die lateinische Grundbedeutung von ordo bezieht sich vor allem auf die an einer Ordnungsidee orientierte Ordnungspolitik, auf ein tätiges Ordnen von Verhältnissen, die nicht ohne weiteres fertig gegeben sind oder nacheinander sich von selbst entwikkeln können. Tätiges Ordnen ist nicht ohne Funktionen möglich. Funktion leitet sich von lateinisch fungor ab: eine Aufgabe innerhalb eines Ganzen sachgemäß verrichten. So artikuliert sich ein ordnungspolitisches Denken, das ein Weltreich nicht nur durch Gewalt, sondern auch durch das Angebot einer Pax Romana begründete. Bei philosophischen Systemen ist zu unterscheiden, in welchem Ausmaß sie auf Wissenschaft beruhen oder sie zumindest einbeziehen. Ausgangspunkt sind Erscheinungen, die man unmittelbar wahrnehmen kann. Auf der zweiten Ebene gibt es die (bildhaften oder mathematischen) Modelle, mit denen diese Erscheinungen in einen Zusammenhang gebracht werden. Modelle, die nur aus Theorien bestehen wie die Systemtheorie, sind dabei weniger überzeugungskräftig und befriedigen eher den Kreis der terminologisch Eingeweihten. Dann gibt es eine dritte Ebene der Abstraktion, auf der möglichst viel empirisch oder modellhaft geprüfte Erkenntnisse zu einer Theorie verknüpft werden. Angesichts der langen Begriffsgeschichte von Ordnung, System und Organismus empfiehlt es sich, bei Personengruppen von Ordnungen und bei Individuen von Organismen zu reden. Systeme betreffen dagegen wissenschaftliche Theoreme und Organisationsideen, welche zu einer ganzheitlichen Theorie verbunden werden. Es gab in der Philosophiegeschichte die Entwicklung von Systemen, welche Gesellschaften steuern sollten; dann deren Kritik, um die Systeme entweder ganz zu stürzen oder abzuändern. Das „soziale System“ der Systemtheorie spezialisiert sich auf formale Gesichtspunkte wie die Selbst- und Fremdbeobachtung, den Innen- und Außenbereich und die Interaktion von Systemen. Auffällig an der Systemtheorie ist der bewußte Verzicht auf jede Art von anthropologischem Grundwissen über die verschiedenen psychischen Funktio24

nen. Luhmann ist wohl die charmanteste Definition des Subjekts als „Auswurf von Interpenetrationen“ gelungen. Als er in einem Interview gefragt wurde, was seinen Abscheu erregen könne, war die Antwort: „Der Begriff Menschenbild.“ Das biblische Gebot (Du sollst dir von Gott kein Bildnis machen) wird hier verkehrt und auf den Menschen übertragen. Das Gebot der Anthropologie sollte dagegen lauten, alles einer Epoche zur Verfügung stehende Wissen der Biologie, Psychologie, Philosophie und Theologie über den Menschen zu einem vernünftigen Menschenbild zusammenzufügen.

A

Organismus

1

Wachstum und Evolution

Die evolutionär entstandenen Organismen sind lebendige Körper, die aus Zellen und Organen bestehen. Sie zeichnen sich durch evolutionär entstandene Errungenschaften aus; wie zum Beispiel identische Reproduktion, Regeneration von verletzten Organen (je primitiver, desto leichter), komplexen Stoffwechsel durch Energiezufuhr aus der Umwelt und Reizbarkeit. Der Mensch wird zusätzlich von psychischen Funktionen gesteuert (vgl. Kap I A 3). Alle Pflanzen, Tiere und Menschen entwickelten sich aus der anorganischen Natur in einer dynamischen Stufenfolge. Dies war nicht einfach mit der Materie möglich, sondern nur durch „Wirkstoffe“. Trotz der begrenzten Zahl der Elemente bildete sich daraus ein „chemischer Strukturraum“ verschiedener Moleküle, deren Anzahl eine unvorstellbare Ziffer mit sechzig Nullen ergibt. Das Leben begann so mit einem Stammbaum von Molekülen unterschiedlicher Komplexität: Chemisch ähnliche Verbindungen zeigten auch ähnliche biologische Aktivität. Die Biosphäre mit ihrer Atmosphäre entstand dabei in enger Koevolution mit der unbelebten Umwelt. Ohne den Kreislauf des Kohlendioxyds in der Atmosphäre und im Boden und dem damit verbundenen Treibhauseffekt hätte sich auf der Erde bei einer Durchschnittstemperatur von minus 19 Grad Celsius kein Leben entwickeln können. Gerade für höhere Lebewesen (Ein- und Vielzeller) gibt es eine immer engere Toleranzbreite der Umweltbedingungen, vor allem der Temperatur. Für alle Stoffkreisläufe (Silikate, Kohlenstoffe und Sauerstoff) galt in der Evolution das Recycling-Prinzip: Es wurden fast keine Abfälle produziert. Und: Nur negative (sich gegenseitig bremsende) Rückkopplungen stabilisierten die lebendigen Systeme. Das unterscheidet die Evolution vom exponentiellen Bevölkerungswachstum in Gesellschaften ohne Familienplanung und von progressiven Gewinnerwartungen der Kapitaleigner in gierdynamischen Marktwirtschaften – und allen anderen Systemen mit positiven (sich steigernden) Rückkopplungen. Schelling wies schon auf den Prozeßcharakter der Organismen, ihre unendliche Produktivität hin. Leben erscheine als Gleichgewichtsprozeß, der sich vom chemischen Gleichgewicht durch beständige Störungen unterscheidet. Sensibilität, Irritabilität und

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Reproduktivität waren für ihn Kennzeichen des Organismus, der vom Gesetz der Polarität bestimmt wird. Ganz ähnlich wurde der Organismus in der Evolutionstheorie des 20. Jahrhunderts als Prozeßgleichgewicht gesehen, der durch Regulationsfähigkeit nach Störungen und Konstanterhaltung der Zusammensetzung seiner Teile auch unter wechselnden Bedingungen gekennzeichnet ist. Der Organismus wurde als „offenes System“ bezeichnet, das einen Stufenbau offener Systeme ermöglicht. Durch natürliche und – später – sexuelle Auslese wurde eine höhere „Fitneß“ erreicht. Die aber nur relativ in bezug auf Konkurrenten in einem Biotop galt: durch bessere Ausnutzung der Ressourcen und mehr Nachkommen. In der Evolution gab es solche Trends, ohne daß sich daraus ein Fernziel wissenschaftlich ableiten läßt. Der Selbsterhaltungsprozeß der Menschen war für Hegel vielmehr auf ein Nahziel gerichtet, auf das Ende und Produkt einer Tätigkeit. Die Wirklichkeit der geschichtlichen Selbstverwirklichung des Menschen beruhe dagegen auf geistiger Arbeit. Die Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft werden im Staat „aufgehoben“ (im doppelten Sinn des Wortes). Erst im Staat hat die Familie die Chance, sich kommunikativ zu erweitern und zur bürgerlichen Gesellschaft auszubilden. Der Organismus wird zur Metapher auch für den Staat, dem Hegel den Vorrang vor Familie und Gesellschaft zubilligt. Vorschnelle Analogien zwischen Organismus und Staat oder Gesellschaft waren und sind gefährlich, weil sie zum übersteigerten Nationalismus oder gar Ordnungsfaschismus führen können. Sie lassen sich vermeiden, wenn stets kritisch geprüft wird, welche organischen und psychischen Funktionen des Organismus direkt oder nur indirekt (metaphorisch) auf das Sozialsystem übertragen werden können. Sozialordnungen werden nämlich durch praktische Organisation, konkretes Ordnungsdenken und die langfristigen Ziele einer Ordnungspolitik, das heißt durch soziale Ideen, begründet und gesteuert.

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Autorität und Verantwortung

Ordnungspolitik und Ordnungsdenken müssen sich langfristig am Überleben von Generationen orientieren und deswegen von Ordnungsideen und Verfassungen getragen werden. Dieser privat und kollektiv (sozialstaatlich) zu gewährleistende „Generationenvertrag“ wird gefährdet, wenn eine dementsprechend durchdachte Pädagogik durch ein Milieu der Massenkultur (Kap. II B 4) unterlaufen wird, welche einen Zustand ständiger Niveauunterschreitung und infantiler Unreife systematisch durch letztlich neurotisierende Menschenbilder (Kap. II A) fördert. Ordnungen setzen geistige Eigenschaften voraus, die über die „normalen“ Bedürfnisse und psychischen Funktionen hinausgehen. Autorität wird heute eher negativ als angemaßte Machtvollkommenheit und Ermächtigung aufgefaßt, als bloß äußere Autorität, die ihre innere Berechtigung verloren hat. Die ursprüngliche Bedeutung von lateinisch auctoritas war dagegen positiv: Gewähr, Verbürgung, Förderung, Mitwirkung, Unterstützung und Auftrag.

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Vor diesem positiven Hintergrund war für Jaspers Autorität eine Art, wie Wahrheit in der Wirklichkeit sich durchsetzt. Sie ist Ausdruck eines Versuchs, in der sozialen Welt alle Wirklichkeitsebenen, in denen der Mensch agieren muß, zu berücksichtigen. Autorität ist nicht nur äußere Daseinsmacht, sondern sie bezieht sich auch auf das Göttliche, auf Transzendenz, auf das Eingebettetsein in eine kosmische Ordnung. Sie ist an Ideen orientiert, in denen sie sich geistig gestaltet. Sie ist auf einen Raum der wissenschaftlichen Orientierung gerichtet und bietet damit eine Weltorientierung. Sie beruht auf den Persönlichkeiten, von denen Autorität getragen wird und die sich in ihr entwikkeln können. Autorität hat etwas mit der Freiheit zu tun, die Entwicklungschancen bietet und nicht willkürlich ist. Insofern gibt es auch eine Stufenfolge der Befreiung von der nur äußeren Autorität zur immer tieferen, berechtigten Autorität. In dieser Stufenfolge gibt es Gründe für und gegen die Autorität, Kritik, die zum Verfall und schließlich zum Ende von Autorität führt. Mit dieser differenzierten Betrachtung von Autorität vermeidet man es, sie als bloße Kampfparole der konservativen oder „antiautoritären“ beziehungsweise „fortschrittlichen“ Kräfte, die sich selbst das Etikett „Volksfreund“ anheften, polemisch verkommen zu lassen. Vor diesem Hintergrund sind die Schriften zur „Idee der Universität“ zu verstehen, die Jaspers angesichts der politischen Veränderungen in den Jahren 1923, 1946 und 1961 veröffentlichte.23 Sie waren Leitbild, als ab 1960 in nur 15 Jahren 20 Universitäten in der Bundesrepublik gegründet wurden.24 Danach ist die Universität eine einzigartige Schule, an der nicht nur wissenschaftliche Bildung, sondern auch die Haltung der Wissenschaftlichkeit überhaupt vermittelt wird. Politik gehört nicht an die Universität als dort auszutragender Kampf, sondern nur als Gegenstand der Forschung. Lehrfreiheit heißt Freiheit für Leben und Werk und zugleich Gründlichkeit, Methodik und Systematik; heißt aber nicht Befreiung von Verantwortung und politischer Haftung bei Stellungnahmen zu Tagesfragen. Der Staat hat die Autonomie der Universität zu gewähren. Die staatliche Verwaltung wird gefährlich, wenn geistfremde Interessen unmittelbar in das Universitätsleben eingreifen. Die Idee der Universität ist nicht mit jeder Herrschaftsform vereinbar. Dies hat zur Folge, daß das Dasein der Universität selbst ein „politisches“ Faktum ist. Die Idee der Universität ist abendländisch und von den Griechen her den Europäern eigentümlich. Sie beruht zwar auf nationalen Institutionen, ist aber immer auf Übernationales gerichtet. Diese Idee der Universität wird erstickt, wenn ökonomische Interessen (auch aus Sparzwängen) die Freiheit der Forschung gefährden. Im Kampf um Karrieren ernähren sich dann die Etablierten von den Chancenlosen wie in einem Dschungel, in dem die oberen Sphären von den absterbenden unteren sich ernähren. Der Kampf um die „Mittel“ führt dann zum Wettbewerb um die „Einwerbung“ von Drittmitteln. Es folgte das Ranking von Professoren auch durch frustrierte und orientierungslose Studenten. Der „Hirsch-Faktor“ bemißt die Leistungen rein quantitativ nach der Anzahl der Publikationen, wobei die Publikationsorgane oft von Cliquen und Interessengruppen beherrscht werden. Endzustand von Gesellschaften ohne Autorität ist die bloße Daseinsmacht, die nur noch gewaltsam, eigensüchtig und zerstörend ist. Den Gewaltausbrüchen in den totali27

tären – faschistischen oder kommunistischen – Systemen wurde keine durch Gesetze verläßliche Grenze mehr gesetzt. An die Stelle von Gesetzen trat die Dynamik der „Bewegung“. Die flexibel reagierende Autorität kollabierte zum „Chefideologen“; zur bloßen Verweisung auf einen heiligen Text (Kanon) der „Führer“ oder „großen Vorsitzenden“ – wie bei der Berufung auf die Kirchenväter –, die als geniale Denker und Feldherrn in Personalunion auftraten, auf eine vorgeblich „wissenschaftlich“ begründete und damit endgültig bewiesene Sozialtheorie. Ähnliches gilt für die von Regulierungen befreite, ungehemmt hemmungslos gewordene Plutokratie der angloamerikanischen Finanzwirtschaft in den Jahren ab 1920 und 2001: Sie liebten nicht ihre (Geld-)Katzen, sondern nur deren Kätzchen, und eigentlich nur die „Kätzchen ihrer Kätzchen“ (Keynes); vom einzigen Gedanken beherrscht: Wie wird weiteres Geld geheckt und welche „Finanzprodukte“ werden dafür ausgeheckt (Kap. III B 2.1). Eine bloße Erfolgsethik führt in der Regel zu solchen Endzuständen. Zu ihr gehören alle Formen des Utilitarismus, die auf den Erfolg, das Glück, die Bedürfnisse oder Interessen des Einzelnen gerichtet sind. Oder der auf den Nutzen der Mehrheit, der „größtmöglichen Anzahl von Menschen“ gerichtete Utilitarismus. Bei diesen Abstufungen handelt es sich offensichtlich um kaum faßbare Abstraktionen. Der Erfolgsethik steht die Verantwortungsethik (Pflichtenethik) gegenüber. Die Stoa lehrte als objektive Pflicht die Erhaltung und Entwicklung der menschlichen Natur. Kant bestimmte dagegen das praktische Sittengesetz der Pflicht als Regel für den Willen eines jeden vernünftigen Wesens. Im Begriff der Pflicht kommt zum Ausdruck, daß ein freier Wille einem Sollen unterstellt ist. Verantwortung war ursprünglich ein rechtlicher Begriff, wenn man sich vor einer gerichtlichen Instanz zu rechtfertigen hatte. Es ging um ein Verhalten, das von sakralen oder profanen Autoritäten beurteilt wird. Zum Substantiv und damit zur ethischen Schlüsselkategorie wurde Verantwortung erst im 20. Jahrhundert. Max Weber definierte Verantwortung in seinem Vortrag „Politik als Beruf“25 wie folgt: „Verantwortung meint das (tatsächliche) Einstehen für die Wahl der Mittel sowie für die Folgen und Nebenfolgen von Handlungen.“ Unter dem Eindruck der ökologischen Krisen des 20. Jahrhunderts hat dann Hans Jonas in seinem Werk „Das Prinzip Verantwortung“ das kantische Sittengesetz umformuliert: Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden. Ebenso wie Jonas befürchtete auch Günther Anders in seinem Werk „Die Antiquiertheit des Menschen“, daß die Technisierung der Welt zu einer schleichenden Dehumanisierung führen werde. Anders verlagerte das Moralproblem in die Strukturen der technischen Gerätewelt und forderte: „Habe nur solche Dinge, deren Handlungsmaximen auch Maximen deines eigenen Handelns werden könnten.“ Bei der Verantwortung geht es also um die (voraussehbaren) Folgen eines Handelns. Bei der Gesinnungsethik dagegen um religiöse, am Glauben orientierte Motive, recht zu handeln.

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Die Kategorien Erfolgs-, Verantwortungs- und Gesinnungsethik stammen von Max Weber. Wie sie im Hinblick auf die psychischen Grundfunktionen von Jaspers modifiziert wurden, wird in Kapitel I A 4 behandelt. Herausforderungen des Lebens machen (wie Reize) Reaktionen notwendig, die verantwortbare Antworten sind. Erfolgsethik ohne Autorität führt zu vorschnellen Reflexen, Gesinnungsethik kann auf überkommenen Mythologisierungen, Dogmatisierungen oder Kanonisierungen beruhen; daß sie oft keine verantwortlichen Anpassungen mehr fördern können, ist ihr gemeinsamer Systemnachteil. Verantwortungsethik bedenkt dagegen die Reaktionen und überprüft sie auf ihre Verhältnismäßigkeit; sie werden sinnvoll und zielgerichtet im Hinblick auf die langfristigen Folgen miteinander verknüpft.

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Der „Normalmensch“: Vernunft (Homöostase) und die Bildung der psychischen Grundfunktionen

Um eine differenzierte Anthropologie zu entwickeln, die alle psychischen und sozialen Phänomene des Menschen angemessen berücksichtigt, muß man von der Grundfrage der Anthropologie ausgehen, wie sie Kant gestellt hat: Was ist der Mensch? Er ist zunächst ein Lebewesen, das mit grammatikalisch strukturierten Sprachen neugierig, staunend, zweifelnd und kritisch Fragen stellen kann: phänomenologische Fragen (Was ist und wie erscheint es uns?), Gretchenfragen, kindlich oder methodisch-wissenschaftlich gestellte Warum-Fragen (innerhalb der kosmischen Evolution zurück bis zum Ursprung) und selbstbezügliche Fragen. Er ist das Lebewesen, das sich zu seinem Selbst verhält (Kierkegaard). Prinzipielle selbstbezügliche Fragen stehen am Anfang der philosophischen Disziplinen Ethik, Erkenntnistheorie und der Metaphysik, welche die Gottesbilder hinterfragt und die zentrale Frage nach der Wirklichkeit von Immanenz und Transzendenz stellt (d. h. der Frage nachgeht, inwiefern die Immanenz im Hinblick auf Transzendenz transparent wird): Was soll ich tun? Was kann ich wissen? Was darf ich (glauben und) hoffen? Diese drei Fragen beziehen sich auf die am Anfang stehende anthropologische Frage.26 Das Entwicklungsgesetz der Neotenie (der Beibehaltung frühkindlicher Merkmale im Erwachsenenalter, vgl. Kap. I A 7.8) leitete den Frühmenschen durch ein beschleunigtes Wachstum des zentralen Nervensystems aus dem Tier-Mensch-Übergangsfeld, indem es Sprache und damit eine Vielzahl psychischer Phänomene ermöglichte. Die Antworten auf solche Fragen laufen auf unterschiedliche Zielsetzungen hinaus, die von einem Spektrum psychischer Funktionen bestimmt werden: vorbewußte, rationale, komplex-geistige und ethisch-existentielle. Der Mensch ist deswegen endlich und unvollendbar, durch Lebenskrisen und Symmetriebrüche begrenzt, von psychischen Widersprüchen und sozialen Antinomien bestimmt. Die dadurch ausgelösten Identitätskonflikte führten zu einer Passionsgeschichte von Stammes- und Nationalkriegen, Rassen- und Klassenkonflikten, Religions- und Bürgerkriegen.27

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Der „Normalmensch“ soll hier nicht als Durchschnittsmensch angesprochen werden, sondern als Gegensatzbegriff zum Übermenschen Nietzsches. Der Normalmensch ist durch die Chance gekennzeichnet, sich seinen Anlagen gemäß entwickeln zu können und dementsprechend gefördert zu werden. Er hat nicht nur weitgehende Chancen in Ausbildung und Erziehung, sondern kann auch die Art von Allgemeinbildung erlangen, die zu einem lebenslangen produktiven Wechselverhältnis von Berufsausbildung, Bildung und Selbstbildung führen kann. Bildung heißt hier nicht nur Wissensvermittlung und die Förderung von Kompetenzen, sondern auch die Entwicklung der Persönlichkeitsmerkmale im Sinne von psychischen Funktionen. Funktion heißt: eine Aufgabe im Rahmen eines Ganzen sinnvoll lösen. Psychische Funktionen können daher als Schlüsselkompetenzen der Person für ihre Individuation bezeichnet werden. Dazu wurde im 20. Jahrhundert neben der philosophischen Anthropologie von Jaspers vor allem von C. G. Jung im Bereich der Tiefenpsychologie umfangreiches Material bereitgestellt, auf das die Fachphilosophen noch kaum zurückgegriffen haben. Dazu fällt einem der Satz von Lichtenberg ein: „Noch nie hat ein Verstand mit solcher Majestät stille gestanden.“ Die Grundbegriffe dieser beiden Anthropologien werden im Schema auf der folgenden Seite gegenübergestellt. Das Zwischenfazit des hier schematisch dargestellten Vergleichs könnte lauten: Die Dynamik von Bewußtsein und Unbewußtem wird bei Jung konkreter und differenzierter vorgestellt als in der philosophischen Logik. Im Bereich dessen, was Jung „Überbewußtes“ nennt, ringt er ein Leben lang – dies läßt sich sowohl der Werksausgabe als auch den Briefen entnehmen – mit Problemen, die auf einer fehlenden philosophischen Logik beruhen. Die existentiellen und religionsphilosophischen Probleme klammerte er aus dem Werk weitgehend aus und behandelte sie in seiner Autobiographie, um sich nicht dem (immer wieder gegen ihn erhobenen) Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit auszusetzen. Bei dem für Jung zentralen Archetyp „Selbst“ handelt es sich um eine vorwiegend geistige Ganzheitsvorstellung. Gegen die Entfremdungsthese von Marxismus und Psychoanalyse soll in der Therapie auch an das „wahre Selbst“, das Ganze der Person, appelliert werden, auch wenn es sich in der Entwicklung verändert. Es bleibt bei Jung aber weitgehend ungeklärt, in welchem Ausmaß die existentiellen Probleme in den Grenzsituationen damit angesprochen werden sollen. Das Schema beginnt auf der linken Seite mit der semiotischen Ebene. Die Unterscheidung von Zeichen und Symbolen wird allein bei Jaspers auf der existentiellen Ebene durch die Begriffe Signa (des existentiellen Verhaltens) und Chiffren (der Transzendenz) erweitert. Bei Jaspers entsprechen die (im Schema unterstrichenen) psychischen Grundfunktionen Wille und Trieb, Verstand, Urteilskraft (reflektierende und ästhetische Urteilskraft im Sinne Kants) den immanenten Wirklichkeitsbereichen auf persönlicher und kollektiver Ebene (Dasein, Bewußtsein und Geist). Da Existenz die Immanenz im Hinblick auf Transzendenz transparent macht, weil sie wesentlich auf Transzendenz bezogen ist, läßt sich ihr keine natur- oder geisteswissenschaftlich bestimmbare psychische Grundfunktion zuordnen. Ihr Bereich betrifft bestimmte Themen wie Freiheit, Glaube, Opfer und Liebe. 30

„ÜBERBEWUSSTES“

ICH/BEWUSSTSEIN

Konkret – Abstrakt Introvertiert – Extravertiert

INTUIEREN EMPFINDEN

„Autonomie des Geistes“

DENKEN

Individuation Transzendente Funktion Gleichgewicht

Liebe

Animus – Anima

Persönliches UNBEWUSSTES ARCHETYPEN Kollektives UNBEWUSSTES

Aktiv – Passiv

Fragmentarisierung

PERSONA

FÜHLEN

DASEIN Wille und Trieb: Leben Sexus Politik Wirtschaft

SELBST

SCHATTEN Isolierung

Verstand: Objekte Systeme Gesetze Lebensstruktur (Genus)

Psychische Inflation

Urteilskraft: Ideen Gestalten Ganzheit/Identität Kreativität Eros BEWUSSTSEIN

Verabsolutierung

Zeichen

Symbole

GEIST

Transzendierende Methode Existenzerhellung

Freiheit Opfer

EXISTENZ

Jung

Vernunft

Chiffren

Glaube

Signa

Jaspers

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In der vertikalen Ebene zwischen Jaspers und Jung sind beispielhaft Begriffe aufgeführt, welche die Fragen der Persönlichkeitsentwicklung (Progression oder Regression) betreffen. Der Verabsolutierung und Isolierung einzelner Wirklichkeitsbereiche und psychischer Grundfunktionen bei Jaspers entsprechen die psychische Inflation (Aufblähung einzelner Inhalte des Unbewußten und Bewußten) und die Fragmentarisierung bei Jung. Die Vernunft ist das Bestreben, die verschiedenen Wirklichkeitsebenen und psychischen Grundfunktionen zu verbinden. Ähnlich hat Jung die Vernunft als „Gleichgewichtsorgan“ bezeichnet. Die transzendierende Methode bei Jaspers zielt auf das Bestreben des Menschen, sich über den rein irrationalen und rationalen Bereich hinaus auf einer geistigen und existentiellen, auf Transzendenz bezogenen Ebene in neuen Freiräumen zu entwickeln. Die transzendente Funktion bei Jung betrifft die psychische Dynamik, den die Individuation vorantreibenden energetischen Prozeß, der zwischen unbewußten und bewußten Inhalten stattfindet. Wieder vertikal gedruckt sind die bei Jung differenzierten psychischen Grundfunktionen, die erstmals 1923 in der „Typenlehre“ vorgestellt wurden. Jung bezeichnete das (nach Lust und Unlust urteilende) Fühlen und das Denken als rationale, das geistige Empfinden und das Intuieren als suprarationale („irrationale“) Funktionen. Diese Typenlehre ist außerordentlich differenziert wegen der zahlreichen polaren Ausrichtungen (wie animus/anima, konkret/abstrakt, passiv/aktiv), die bei allen psychischen Funktionen möglich sind. Interessant und bedeutsam sind Anthropologie und Typenlehre von Jung auch für die philosophische Anthropologie, weil er viele Begriffe der philosophischen Tradition entnommen hat. Dazu gehört zum Beispiel die Differenzierung von (sinnlichem) Fühlen und (geistigem) Empfinden, die erstmals durch Kant in dem von Jung verstandenen Sinn vorgenommen wurde. 1) Die psychischen Funktionen beginnen auf der (den Tieren noch vergleichbaren) vitalen und nicht durch Moral und Ethik gesteuerten Triebebene (Sexus) und der ganzen Palette der Affekte. C. G. Jung ging dabei von einer allgemeinen energetischen psychischen Kraft aus und kritisierte Freuds fast ausschließliches Interesse für die Sexualität. Oft rangiere sie an zweiter Stelle hinter den viel stärkeren Motiven von Konkurrenz, Argwohn und Ruhmsucht, von „Hunger, Machttrieb, Ehrgeiz, Fanatismus, Neid, Rache oder der verzehrenden Leidenschaft des schöpferischen Impulses und des religiösen Geistes.“28 All diese Kräfte äußern sich weitgehend unbewußt oder vorbewußt, soweit sie nicht von höheren, rationalen, geistigen oder existentiellen Funktionen reguliert werden können. Sie sind die Mächte, die als unbewußte Wirk-Kräfte in unverantwortlicher Weise dafür „verantwortlich“ sind, daß Kriege ausbrechen, die niemand, außer einigen Chauvinisten und Profiteuren, wollte. Bei ihnen wird das Verhalten von Bildern (Naturbildern, Märchen, Sagen) und Archetypen wie Animus und Anima (vgl. dazu die Einleitung) mitbestimmt. Jung unterschied dabei das kollektive Unbewußte (die Archetypen), das sich in Märchen, Sagen und Mythen äußert, von dem persönlichen Unbewußten (das durch die Lebensgeschichte geprägt wird und sich in Träumen Geltung verschafft). Zu den Archetypen als den elementaren Wirkfaktoren auf das kollektive Unbewußte gehören die kluge, liebenswerte Jungfrau als Grazie oder Muse, die Mutter und die weise Frau auf der einen Seite, die törichte Jungfrau, die Hexe, die Todes32

mutter und Todesgöttin auf der anderen. Ferner das göttliche, das Wunderkind auf der einen, das verspielte Kind, der kindische Mensch oder der „irrende Ritter von der fröhlichen Gestalt“ auf der anderen Seite. Der Gottmensch, der Erlöser, der große Führer, Feldherr und Philosoph in einer Person, der weise alte Mann, der die Tochter Sophia zeugt, auf der einen, der Verführer, Satan und Götze (der „das Leben verspricht, aber den Tod bringt“), das Idol, der alte Narr, die Figur des Tricksters, der Guru und Sektenführer auf der anderen Seite. Der physiognomische Blick auf die Archetypen gehört zu den ersten Orientierungsleistungen im Dschungel der sozialen Welt mit ihren Formen, Gesichtern, Fratzen und Masken. Die Maske (Persona) kennzeichnet die Art, wie sich der Mensch innerhalb des Kollektivs verstellt, öffentliche Rollen spielt und sein wahres Selbst damit schützt. Das Spielfeld ist der Aktionsraum des Vorbewußten, das, was von der Spieltheorie erfaßt wird. Der Spielverderber ist das Kind, das zu dumm zum Spielen ist – es vertreibt die anderen Kinder.29 Der „Schatten“ ist das, was im „Scheinwerferlicht“ des Bewußtseins im Hintergrund bleibt, aber auch all das, was mit Gewissen und Schuldgefühlen zusammenhängt und verdrängt wird. Eine genauere Bestimmung dieser Unterschiede hat Jung unterlassen. Es gibt die verschiedensten Versuche, die Affektvielfalt zu klassifizieren: als Gefühl und Empfindung, Emotion und Stimmung. Dazu gehört die eigene Welt der Musik. Schweigen heißt nicht nur Abbruch der Kommunikation, sondern kann in ihr auch eine spezifische „Bedeutung“ haben; alle Affekte sind zunächst sprachlos und müssen erst in Signale, Seufzer oder andere Artikulationen übersetzt werden. Die Sprachen des Willens und der Instinkte in bezug auf Macht, Krieg, Erwerb, Sexualtrieb und Sucht bilden ihr eigenes Pandämonium mit den widersprüchlichsten Zielen: Suche nach Bindung oder willkürlicher Freiheit; alles ausprobieren wollen, was das „Leben so bietet“; Suche nach Liebe und Glück (was gerade lieblos oder unglücklich machen kann); auch nach dem „kleinen Glück“, das die großen Probleme, das Unglück der vielen ausklammert; der Beste sein wollen (getrieben vom persönlich und kollektiv wirksamen Archetypus des Wunderkindes); die Suche nach dem optimalen Lebenspartner; der Archetypus des feurigen Liebhabers oder glühenden Revolutionärs (womöglich beides in Personalunion); die Unsicherheit bei diesen Wünschen, ob man noch „normal“ ist.30 2) Durch eine Anhebung des energetischen Niveaus können die unbewußten Inhalte im Scheinwerferlicht des Bewußtseins gebündelt und „ans Licht“ gebracht werden. Sie werden dann reflektiert und objektiviert. Die rationalen Funktionen werden vom analytisch und seriell arbeitenden Bewußtsein gesteuert. Zunächst gibt es das bewußte Erleben. Bewußtes Leben führt zur „Familienpolitik“, zu den von Moral, Ethik und Sittlichkeit geprägten Familienstrukturen (Genus). Eine weitere kognitive Stufe ist das auf Gegenstände gerichtete Bewußtsein. Der Verstand als „das Vermögen der Regeln“ (Kant) stellt die Dinge in ihren geordneten Stand. Das Bewußtsein objektiviert durch die Begrifflichkeiten der Sprache, welche die Dinge und das Erleben beschreiben. Hier gibt es die rein mathematische, die kaufmännisch berechnende und die soziale Rationalität, welche die sozialökonomischen Prozesse 33

steuern und voraussehbar machen will. Insofern sind diese drei Formen der Rationalität für moderne Gesellschaften unverzichtbar. Die rationale Kommunikation ist aber stets verengend, soweit es um emotionale, geistige und existentielle Wirklichkeitsbereiche geht, da sie Worte mit vielschichtigem oder unbestimmtem Gehalt zur Zeichensprache mit klaren Aussagen verdichten will.31 3) Im Gegensatz zum Bewußtsein ist der menschliche Geist auf Ganzheiten gerichtet. Er arbeitet nicht analytisch, sondern synthetisch. Er ist bedeutsamer für die sozialen Verhaltensweisen, die „soziale Intelligenz“. Die geistigen Funktionen sind komplexer und schwieriger zu erforschen als das Bewußtsein. Die Geisteswissenschaften sind deswegen auf einen methodischen Perspektivenwechsel über die naturwissenschaftlichen Methoden hinaus angewiesen. Über die vorbewußte bloße Nachahmung (Mimesis) und das rational erklärende Verstehen hinaus setzt geistiges Verstehen Empathie voraus. Die „Spiegelneuronen“ im limbischen System können nach der „Simulationstheorie“ nur Emotionen und Aktionen – wie Gesichtsausdrücke, Weinen oder Lachen – unmittelbar verstehen. Es handelt sich um eine Vorstufe der Empathie, für die eine eigene „Theory of Mind“ zu entwickeln ist. Daß es in den Köpfen der Mitmenschen Gedanken geben kann, die nicht mit der Realität ihres äußeren Verhaltens übereinstimmen, lernen Kinder in der Regel erst ab dem fünften Lebensjahr. Die Ansichten von Mitmenschen können nur aufgrund eines erworbenen Vorwissens und äußerer Anhaltspunkte geistig erschlossen werden. Neben den Spiegelneuronen, die körperliche Handlungen beobachten, gibt es weitere neuronale Schaltkreise (hinter dem rechten Ohr und im Übergangsbereich zwischen Schläfen- und Scheitellappen), die keine andere Funktion haben, als die Gedanken anderer Menschen zu lesen. Diese neuronalen Schaltkreise, eine Art soziales Netzwerk im Gehirn, gewährleisten die Zusammenarbeit zwischen Sprache und dem Nachdenken über Geisteszustände anderer Menschen. Nur mit diesen komplexen Funktionen kann man gedankliche, nicht direkt beobachtbare Zustände bewerten und über andere nachdenken. Insbesondere können nur so absichtsvolle Handlungen verstanden und zum Beispiel vorsätzliche, fahrlässige oder bloß zufällige Handlungen moralisch eingeordnet werden. a) Geistige Funktionen betreffen zunächst die soziale Identität. Ob man sich positiv für eine bestimmte soziale Gruppe, Religion oder Kultur ausspricht oder dagegen, läßt sich nicht allein auf der rationalen Ebene erklären. Geistig sind die aktive Teilnahme, die passive Teilhabe und die innere Anteilnahme am objektiven Geist einer sozialen Einheit. Das private Zusammenleben wird durch den Eros belebt: ein komplexes Zusammenspiel von Distanz und Verschmelzung, von Frivolität und Phantasie; ein von den Archetypen Grazie und Muse bereichertes Streben nach Schönheit und nach dem Ganzen der Familie, nach ihrem Schutzgeist. b) Intuition und Kreativität sind psychische Funktionen, welche die bestehenden, rational erklärbaren Verhältnisse bereichern und fortentwickeln wollen. Vor allem Intuitionen beruhen auf dynamischen Prozessen zwischen dem vorbewußten und dem bewußten Denken. c) Die psychische Funktion der Urteilskraft betrifft die Frage, welche Dinge und Informationen für die Person oder Gruppe relevant sind oder gleichgültig. Sonder34

formen sind die ästhetische und die politische Urteilskraft. Die Urteilskraft beruht nicht auf einem rationalen, sondern auf einem allgemeinen Hintergrundwissen über die historischen Erfahrungen. Letztlich ist sie eine komplexe Verbindung von Orientierungswissen, Intuition und Risikobereitschaft. Auch Kant und Hannah Arendt sind – trotz ihrer zentralen Bedeutung für unser aller Leben – nur Umschreibungen dieser geistigen Funktion gelungen. Die Urteilskraft ähnelt auf der geistigen dem Immunsystem auf der biologischen Ebene. Über die Zeichen auf der rationalen Ebene hinaus werden auf der geistigen Ebene Symbole und Metaphern verwendet. Das Symbol hat vor allem die synthetische Aufgabe, verschiedene psychische Funktionen zu verbinden und bloße Bilder oder urtümliche Bilder (Archetypen) zu Symbolen einer sozialen oder religiösen Ordnung zu machen. Die Gesamtheit dieser Symbole ergibt dann das Weltbild einer Kultur.32 Ohne das „bewegliche Heer“ der Metaphern mit ihren übertragenen Bedeutungen wäre unsere Sprache automatenhaft tot. 4) Die existentiellen Funktionen betreffen die moralisch-ethischen Verhaltensweisen. Hier geht es zunächst um die Entscheidungen in den Grenzsituationen, die man nicht planen und denen man nicht ausweichen kann. Es geht dabei um Zufall und Unfall, Tod, Leiden, Kampf und Schuld. Der Mensch ist ständig Situationen ausgesetzt, die er bewältigen muß. Der ständige Wandel vollzieht sich vor einem Hintergrund unveränderbarer Situationen: Wir stehen in einer Welt, die antinomisch (widersprüchlich) strukturiert ist, in der Wert gegen Wert und Macht gegen Macht steht. Hier ist man dem Zufall ausgesetzt und verstrickt sich leidend und kämpfend in Schuld. Diese nicht aufhebbaren Situationen nennt Jaspers Grenzsituationen.33 Existentiell sind alle Entscheidungen, die den Lebensweg richtunggebend bestimmen. Dabei steht der Mensch immer vor Alternativen: Freiheit und Widerstand oder Anpassung und Resignation; Glaube, Skepsis oder Glaubenslosigkeit; Liebe oder Haß; Treue oder Verrat; Wahrheitswille oder Täuschungswille; Verantwortung oder Verantwortungslosigkeit; Hilfsbereitschaft oder Ausbeutung; Wille zur Kommunikation oder deren Abbruch; alle Entscheidungen über den Krieg, den Ausnahmezustand und den Freiheitskampf. Diese Entscheidungen sind so komplex, daß Jaspers sie in einer dreifachen Dialektik des inneren Handelns zu erfassen suchte. Darin agieren zusammen drei Wissensarten (Wissen, Nichtwissen und Gewissen als eine Art des Hintergrundwissens); drei Bewußtseinsarten (bewußtes Erleben, Gegenstandsbewußtsein und absolutes Bewußtsein, das sich auf Transzendenz bezieht); sowie drei Arten, wie sich das absolute Bewußtsein äußert: als bloße Dynamik, als Versuche, diese Dynamik in Glaubenssystemen oder Lebenshaltungen (wie Ironie, Spiel, Scham, Gelassenheit) zu bewältigen, und schließlich als Erfüllung (Liebe, Phantasie, Glaube).34 Phantasie war für Kierkegaard das „Medium des Unendlichmachenden“ und für Jaspers der Amor intellectualis der Erkenntnis, der anschaulich (bildend) oder gedanklich (spekulativ) sich aus den Interessengeflechten des Daseins als „das Auge möglicher Existenz“ lösen kann. Die Phantasie kann aber auch wuchernd, zweideutig und täuschend sein.

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Ungewöhnlich und abstoßend auf die Mehrzahl der Philosophen wirkte, daß Jaspers am Schluß seiner Logik einen engen Zusammenhang zwischen Vernunft, Glaube und Liebe herstellte. Aber wenn er neben Konfuzius und Sokrates auch Jesus zu den „maßgebenden“ Menschen zählte, wird deutlich, daß der Archetypus des sich geliebt wissenden Gotteskindes ein Weltreich stürzen und eine neue Weltreligion, ja ein neues Zeitalter begründen konnte. Und die Auffassung von Buddha und Gandhi, nur Liebe und Wahrheit setzen sich letztlich gegen alle Despotien durch, vermochte über die bisherige Politikerkaste Indiens hinaus die Massen aus ihrer Lethargie zu erwecken und in einer Folge von Streiks und Boykotten einheitlich agieren zu lassen. Die Grenzsituationen sind die Meridiane unseres Daseins, die alle am Pol unserer Endlichkeit zusammenlaufen. Dort beginnt – so erscheint es dem (philosophischen) Glauben) – Existenz sich auf Transzendenz zu beziehen. Jeder Lebensweg wird wie eine Linie durch solche Punkte von Entscheidungen bestimmt, die jeweils einen neuen Anfang setzen können. Dieser Lebenspfad führt in eine unbekannte Landschaft hinein. Jedes Ende läßt auf einen neuen Anfang hoffen, auf eine Wende. Im Rückblick auf den Pfad, in der Erinnerung, kann man – statt sich bloß selbst zu bespiegeln – mit seinem Selbst ins Gespräch kommen. Der Mensch ist das Wesen – so Kierkegaard –, das sich zu seinem Selbst verhält. Die Wendepunkte können im Dunkel enden, in angstvollen Ahnungen, oder durch (prognostische) Urteilskraft aufgehellt und geistig bestimmt werden. 5) Für Karl Jaspers bestand ein enger Zusammenhang zwischen den Arten der Erfüllung des absoluten Bewußtseins, nämlich der existentiellen Liebe, dem Glauben und der Vernunft. Über die klassischen Auffassungen der Vernunft und den bloßen Verstand hinaus war sie für ihn das Bestreben, die verschiedenen Wirklichkeitsebenen und psychischen Funktionen zu verbinden. Sie ist letztlich das Lebenwollen mit den Anderen und der Wille zur Einheit. Die Kurzformel lautet: Vernunft ist das, was verbindet. Wenn ein Bestseller im Titel die anspruchsvolle Frage erhebt „Wer bin ich und wenn ja, wie viele?“, so genügt es nicht, lediglich ein Körper-Ich und VerortungsIch, darüber hinaus ein perspektivisches, autobiographisches, selbstreflexives Ich und schließlich ein erlebtes Subjekt zu unterscheiden. Wenn darüber hinaus propagiert wird, es gebe kein Zentrum des Ich, kein „wahres Selbst“, so wird eine ganze philosophische Tradition seit Kant und Hegel, wie sich Verstand und Vernunft unterscheiden, einfach unter den Teppich gekehrt.35 C. G. Jung hat die Vernunft auch als „Gleichgewichtsorgan“ angesprochen. In der Hirnforschung wird dies heute als neuronale Synchronizität bezeichnet, wenn bei Aufmerksamkeitsprozessen, Meditation und der bewußten Verarbeitung von Informationen sich Kommunikation und Koordination zwischen bestimmten Hirnarealen optimieren. Dies gilt vor allem für sensorische und exekutive Strukturen. Leider ist es nicht so, daß der Reifungsprozeß der Hirnstrukturen im Alter zwischen zehn und zwanzig Jahren einfach linear stattfindet. Bisher glaubte man, daß zunächst die höheren motorischen und sensorischen Zentren zusammen mit denen für Geruchs- und Geschmackswahrnehmungen reifen, gefolgt von den Verarbei36

tungszentren für die räumliche Orientierung, später dann die für die Sprache und die Feinkoordination von Bewegungen. Das Gehirn muß sich vielmehr im Laufe der pubertären Entwicklungsphase komplett neu organisieren, um Kommunikationsnetze zwischen weit entfernten Nervenzentren aufbauen zu können. Dies ist mit einer vorübergehenden Destabilisierung kortikaler Netzwerke verbunden. Vor allem die Impulskontrolle und weitsichtige Abwägung riskanten Verhaltens durch Regionen im vorderen Stirnlappen sind nach den Forschungsarbeiten des amerikanischen Psychologen Laurence Steinberg erst im Alter von 20 bis 25 Jahren (je nach Neoteniegrad und damit zusammenhängender Reifezeit, vgl. Kap. I A 7.8) abgeschlossen. Jugendliche sind so besonders gefährdet, leicht verführbar und für die verschiedensten Interessen zu mißbrauchen. Sie sind aber nicht generell vermindert zurechnungsfähig. Milieu, der Einfluß Gleichaltriger (der Jugendbewegungen) und der Aggressionspegel einer (militärischen) Kultur sowie die Mentalitätsschicht des pädagogischen Umfeldes sind gleichermaßen zu berücksichtigen. Ein spezielles Jugendstrafrecht mit einzelfallbezogener Beurteilung von Reifungsgrad und Gefährdungspotential gehört deswegen zum zivilisatorischen Niveau einer Gesellschaft. In diesem Alter nehmen auch die Tiefschlafphasen drastisch ab, die Jugendlichen werden sozusagen von Wachträumen geschüttelt. Diesen Traumcharakter mit Heldenmythen und Paradiesvorstellungen kennzeichnet so manche Jugendbewegung (Kap. I A 7.8). Pädagogik und Politik sollten dafür geeignete Sport- und Spielwiesen zur Verfügung stellen, um Jugendbewegungen in positive, nicht selbstzerstörerische Bahnen zu lenken. Ist diese Krise aber einmal überwunden, bedarf es hochgeordneter globaler Zustände im Hirn, um neuronale Aktivitäten zur bewußten Verarbeitung zu steigern. Dies gilt auch für so einfache Vorgänge wie die Gesichtererkennung. Das neuronale Korrelat dieser Prozesse ist eine bestimmte Amplitude oszillatorischer Hirnaktivität im Gamma-Frequenzband.36 Über die Rationalität hinaus zielt die Vernunft auf eine praktische Philosophie für alle Menschen, auf Klärung der Grundstimmungen, auf Orientierung und Fähigkeit zum Neuanfang, auf Selbstorganisation, Kommunikation, Moralität, Opferbereitschaft und Erziehung zur Freiheit. Vernunft befähigt vor allem, sich vom Kollektiv nicht erdrücken zu lassen und an den Widersprüchen, Antinomien und Konflikten der Welt nicht zu zerbrechen.37 Vernunft hat also kommunikative Bedeutung. Das Wort ist von „vernehmen“ abgeleitet und zielt auf das, was zur „einvernehmlichen“ Kommunikation führt. Insofern ist Vernunft nicht nur ein „Vermögen der Ideen“ (Kant) und dialektische Vernunft (Hegel), sondern darüber hinaus ein „Gleichgewichtsorgan“ (C. G. Jung). Vernunft ist letztlich die Ordnung der psychischen Funktionen durch Zu- und Anordnung psychischer Phänomene. Diese werden dadurch in Lebensfunktionen verwandelt. Dementsprechend werden neurotische und psychotische Störungen (vgl. dazu die Kap. II und III), wie Depression und Manie, vermieden oder zumindest gedämpft. Durch dieses Gleichgewicht (Homöostase) wird Vernunft zu einem

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Band, das alle psychischen Ebenen verbindet, sie ist – so Karl Jaspers – universelles Leben mit der sozialen Umwelt und zugleich Wille zur persönlichen Einheit. Vernunft geht weit über den Verstand beziehungsweise die Rationalität hinaus. Der Verstand als das „Vermögen der Regeln“ (Kant) plant, berechnet, kontrolliert und zensiert. Vernunft ist dagegen die Grundlage der Selbstorganisation, der Fähigkeit zum Neuanfang, der Selbstkritik. Vernunft ist das, was all das zu verbinden vermag. Soweit den Menschen die Chance für die Ausbildung höherer geistiger (komplexer kreativer) und existentieller (ethischer) psychischer Funktionen versagt bleibt, versinkt auch die Vernunft. Den reinen Verstandesmenschen kennzeichnet Unvernunft. Er neigt zum Aberglauben und zu Psychosen. Dann sieht er Gespenster, Dämonen und unsichtbare Kräfte und neigt zu Verschwörungstheorien. Er trifft zwar die Realität, verfehlt aber dabei den „springenden Punkt“, die Wirklichkeit als Gewebe von Vorder- und Hintergründen. Er denkt scharf, aber oft haarscharf daneben. Es ist der Menschentyp, mit dem man „Kinder ins Bett jagen“ kann (Wieland). Diese rationalistische Beschränktheit kennzeichnet auch die „Diskurstheorie“ von Jürgen Habermas. Seine Konstruktion des „idealen Gesprächs“, das auf Gelingen angelegt ist und dem alle beipflichten können, gilt für geschützte Biotope wie Universitätsseminare, aber noch nicht einmal für Diskussionszirkel von kritischen Linksintellektuellen. Der Hauptmangel seiner „Theorie des kommunikativen Handelns“ ist die inflationäre Ausweitung der Rationalität. Deren drei Formen, die kognitiv-instrumentelle, die moralisch-praktische und die ästhetisch-praktische, sollen verbunden werden und sich dadurch wechselseitig stabilisieren. Indem aber weitere Rationalitätsformen thematisiert werden mußten, wie die „strategische“ und die institutionelle, geriet das ganze Gedankenkonstrukt ins Wanken. Letztlich ist das Menschenbild, der anthropologische Ansatz, mangelhaft, da die übrigen psychischen Grundfunktionen von der „Sonne der Rationalität“ überstrahlt und in den Schatten gestellt werden. Die Konjunktur der Habermas-Schule über Deutschland hinaus ist letztlich nur ein Symptom dafür, daß „offene“ Gesellschaften dazu neigen, lediglich geschwätzige zu werden. Der Glaube, durch Reden den Wirrnissen des Lebens beikommen zu können, scheint typisch für saturierte Gesellschaften zu sein.38 Der „ideale Diskurs“ endete in der Regel im bloßen Streit. Habermas verstand es meisterhaft, von der Position des konsequent antifaschistischen „wahren Marxisten“ her alles anzugreifen, was ihm in die Quere kam: Linksfaschisten, soziologische Positivisten, neomarxistische Sozialphilosophen wie Adorno und Horkheimer, darüber hinaus alles, was er für konservative Tendenzliteratur hielt – was auch nur annähernd in Verdacht geraten konnte, auch diskutable nationale Positionen und Interessen zu vertreten. So witterte er auch bei dem Holocaust-Forscher Andreas Hillgruber „apologetische Tendenzen“, mußte aber später zugeben, keine seiner wissenschaftlichen (und bis heute anerkannten) Schriften gelesen zu haben. Nach der Wiedervereinigung trauerte er der politischen Kultur der alten Bundesrepublik nach

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und sprach von DM-Nationalismus. Erst im höheren Alter freundete er sich – reichlich spät – mit den „Institutionen“ (wie der Kirche) an. Erst ein Zusammenspiel der unter den Ziffern 1 bis 5 aufgeführten Funktionsebenen kann Motivation, soziale Intelligenz, zielgerichtete Selbstbildung und kommunikative Fähigkeit zur Argumentation und Diskussion gewährleisten.

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Psychische Funktionen, Kausalformen und Ethiktypen

Wenn der Mensch keine Ursachen finden kann, dann erfindet er sie. Das „Ursachentier“ schuf so die technische und die von Phantasien geleitete Kultur. Und das hat einen Hauptgrund: Jede der Funktionen (Ziffer 1 bis 5) beruht auf einem „Zusammenspiel“ von materiellen und strukturellen Grundlagen (Material- und Formursachen) sowie energetischen Antrieben und „Attraktoren“ (Trieb- und Zielursachen). Von den Evolutionsbiologen wurde in der Regel nur die Wechselwirkung von Struktur und Funktion gesehen. Strukturen werden jedoch wiederum durch eine Wechselwirkung von Material- und Formursachen, Funktionen durch eine Wechselwirkung von Antriebs- und Zielursachen bestimmt. Dieselben Strukturen konnten im Lauf der Evolution neue Funktionen bekommen. Der Materialismus mußte unter dem Eindruck der Relativitätstheorie durch das Prinzip der Materie-Energie ergänzt werden. Energetische Antriebsursachen sind das Thema aller Theoriebildungen, die mit Wille und Kraft, Arbeit und Trieb, Trieb und Instinkt zu tun haben. Formursachen bestimmten die physikalischen Feldtheorien, den soziologischen Strukturalismus und die Informationstheorie. Formursachen betreffen außerdem alle Theoriebildungen, die das Verhältnis von Form und Medium, von Funktionsganzheit und Gestalt sowie Lebensrhythmen und Symmetrien in Physik, Biologie und Ästhetik zum Thema haben. Auch die Physiognomik betrifft Formursachen. Zielursachen betreffen alle Theorien, die mit Entelechie und Orthogenese, Teleologie und Teleonomie, Homologie und Homonomie zu tun haben; ferner mit Konvergenzen, kulturellen Parallelen, Programmen, Zwecken und Intentionen von Handlungen.39 Darüber hinaus gibt es die von Kant erörterte Kausalität aus oder durch Freiheit. Aus Freiheitsräumen heraus sind neue Entwicklungen möglich, und durch freie Entscheidungen wird ihre Richtung gelenkt. Das Zufallsprinzip wurde von den Evolutionstheoretikern meist überbewertet, denn Selektionen sind nicht zufällig, sondern zielgerichtet (teleonomisch). In einem ungerichteten (nicht teleologischen) Prozeß entstehen bei vergleichbaren Herausforderungen ähnlich sinnvolle Strukturen (Konvergenzen). Die in die (evolutionär entstandene) Atmosphäre als Schutzschild eingebettete Evolution ist (nach der „Gaia-Hypothese“ von Lovelock) insgesamt ein Prozeß der Selbstorganisation. Die verschiedenen Zielursachen führten zur Frage der Kausalität durch Freiheit, zu den Fragen der persönlichen und politischen Handlungsfreiheit. Hier war offensichtlich, daß es Stufen der Freiheit gibt. Soweit Hirnforscher bestritten haben, daß der

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Mensch über einen freien Willen verfügt, war hierfür ein Kategorienfehler verantwortlich. Das Gehirn wurde einfach mit dem Ich gleichgesetzt. Das Gehirn kann jedoch weder Handlungen vornehmen, noch überlegen, fühlen, wollen oder entscheiden. Dies kann nur die Person als Ganzes. Das Gehirn selbst ist nicht wahrnehmbar und schmerzunempfindlich; es wäre für sich allein ein totes Organ. Es kann nur wirken in Verbindung mit unseren Muskeln, Eingeweiden, Nerven, Sinnen und unserer Haut sowie durch unsere Interaktionen mit anderen Menschen. Durch die zunehmende Komplexität des Gehirns wurde im Verlaufe der Evolution der starre Reiz-Reaktions-Mechanismus gelockert und so den Organismen bis hin zum Menschen immer mehr Freiheitsgrade ermöglicht. Es liegt an uns, die Fähigkeiten des Denkens, Bewertens und Entscheidens zu lehren und zu erlernen (vgl. dazu „Mentalitätsschichten der Pädagogik“ im Ausblick). Die vitalen, rationalen, geistigen und existentiellen psychischen Funktionen können nur in einem „vernünftigen“ Zusammenhang zwischen zentralem und peripherem Nervensystem und mit den Körperorganen wirksam werden.40 Entsprechend den psychischen Funktionen gibt es folgende Freiheitsstufen: Die vorrationale Willensfreiheit oder Willkür wird von Zufällen bestimmt; das ist ihre negative Seite. Sie kann schon in der Jugend als „wilde Freiheit“ – wie in einem glücklichen Augenblick – entdeckt werden. Positiv spielt sie als Spontaneität in der Kunst und bei allen kreativen Prozessen eine Rolle und kann auch in therapeutischen Methoden, wie in der von C. G. Jung entwikkelten freien Assoziation, eingesetzt werden. Das bewußte Erleben schafft Distanz zu sich selbst und damit zu Freiheitsräumen für Denken und Handeln. Die rationale Entscheidungsfreiheit in Wirtschaft und Politik plant und berechnet, bevor gehandelt wird. Geistige Freiheit läuft darauf hinaus, zwischen verschiedenen Interessen und Identitäten wählen zu können; sie bestimmt den Kampf gegen Despotien und ist Grundlage jeder Demokratie. Die existentielle Entscheidungsfreiheit schließlich prägt die persönliche Biographie.41 Das Bewußtsein dieser Freiheit entsteht nur in einer Einheit von Erfahren, Denken und Tun. Dieses Bewußtsein ist kein eigentliches Wissen, sondern eher ein Gespür, daß wir in dem, was wir tun, einem Urteil unterstehen; zum Beispiel daß man sich bei einer bestimmten Handlung verachten müßte. Hier ist der Pol der Handlungsmeridiane erreicht, der sich auf Transzendenz bezieht, auf die wir vermöge unserer Freiheit in Bezug stehen. In Natur und Welt können wir nur Chiffren der Transzendenz, ihre Spuren, anschauen. Der entscheidende Punkt, wo sie erscheint, ist unsere Freiheit, der Punkt, wo wir uns nicht allein aus der Welt begreifen können, sondern wo wir uns geschenkt werden in der Möglichkeit unserer Freiheit.42 In Evolution und Anthropologie gleichermaßen gibt es also eine notwendig zusammenhängende Stufenfolge von Zufall und Mutation (Veränderung), Selektion, Zielvorgaben, teleonomisch gesteuerter Selbstorganisation und Freiheitsstufen des Selbst. Funktion ist aus dem Lateinischen abgeleitet und bedeutet (ursprünglich politisch gedacht), eine Aufgabe im Rahmen eines Ganzen sachgemäß vollziehen. Jede psychische Funktion hat damit ihre besondere Ethik, ihre „Bedeutung“. 40

So gibt es die naturalistische Ethik, die auf das zielt, was zu den „Anforderungen des Lebens“ gehört. Dazu zählen nicht nur die vitalen Lebensinteressen von Trieb und Wille zur Macht, sondern auch ästhetische Werte wie Schönheit. Nietzsche hat mit „Hammer und Dynamit“ gearbeitet, um diesen Lebenswerten Geltung zu verschaffen. Aber es war unumgänglich, daß er auch die Themen anderer Ethiktypen dabei berühren mußte. Für ihn gehörte das dionysische Leiden zum Leben. Krankheit führe zur Isolierung und zur Einsamkeit durch Schuldgefühle. Freie Geister seien nur die geselligen Geister. Man solle sich davor hüten, lange krank zu sein. Sonst reagiere die Umwelt mit Mitleid, einer versteckten Form des Willens zur Macht. Demgegenüber sei die Aufmerksamkeit der Ärzte und Pfleger auf den Patienten zu fordern, die sich darauf richten solle, Gleichgewicht und Gelassenheit als Kennzeichen der Gesundheit wiederherzustellen. Es ist offensichtlich, daß hier die naturalistische Ethik von Themen der idealistischen und existentiellen Ethik nicht zu trennen ist. Die positivistische Ethik wird als Moral aus dem sozialen Zusammenleben und seinen Anforderungen abgeleitet. Sie zielt auf das, was allgemeingültig ist, was für alle Menschen gilt. Sie arbeitet deswegen mit den Mitteln des rationalen Diskurses. Beide zusammen lassen sich als Erfolgsethik im Sinne Max Webers zusammenfassen. Die idealistische Ethik versteht die Moral als Identität, das heißt als Frage, wie den Anforderungen eines Kollektivs zu genügen ist. Sie richtet sich nach den Werten der sozialen Einheiten und denkt im Geist der Familien, Stämme, Völker („völkisch“), Religionen („gläubig“) und Ideologien. Hier geht es vordergründig um die materielle und ideelle Geborgenheit im Kollektiv; höchstes Ziel sind Ruhm und Ehre, das heißt von den Gruppenmitgliedern anerkannt zu werden. Ethnologen bezeichnen diese Stufe als shame-cultures im Gegensatz zu den guilt-cultures der nächsten Stufe. Ihr entspricht die auf Autorität zielende Verantwortungsethik, die über die rationale Ego-Perspektive hinausreicht. Schließlich gibt es die religiöse oder existentielle Strebensethik, die im vorigen Kapitel als Gesinnungsethik beschrieben wurde. Sie stellt die Frage nach der moralischen und metaphysischen Schuld, welche ethischen Normen über das Eigeninteresse und die kollektiven Anforderungen hinaus zu befolgen sind. Dies kann als religiöse Anforderung verstanden werden, den Sündenfall zu überwinden und die dadurch verdunkelte Gottesebenbildlichkeit wiederanzustreben. Die Strebensethik kann aber auch profan darauf reduziert werden, die Frage nach völkerrechtlichen Grundnormen auf der Basis eines Mindeststandards von Menschenrechten zu stellen. Welche Menschenrechte sind elementar und müssen als unbedingte Forderungen verteidigt werden? Allgemein geht es um ein Orientierungswissen über die verschiedenen Ebenen psychischer Funktionen. Das psychologische Ideal ihrer Vollständigkeit hat weniger etwas mit dem Wunsch zu tun, Idealmensch zu sein; vielmehr die Art von Vollständigkeit zu entwickeln, die Basis jeder Aus- und Selbstbildung ist. Es geht darum, daß nicht einzelne Funktionen sich inflationär aufblähen und demgegenüber andere isoliert oder verdrängt werden.

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Aufgabe der philosophischen Anthropologie ist es, in einer „integrativen“ Ethik alle psychischen Grundfunktionen und die damit zusammenhängenden Ethiktypen zu verbinden. Ferner eine Synopse der medizinischen, neurowissenschaftlichen, biologischen, ethnologischen, psychologischen und theologischen Anthropologien anzustreben. Wie bei einem guten Historiker sollte es dabei die Aufgabe sein, nicht zu relativieren und auch nicht zu singularisieren, sondern zu relationieren: das heißt die verschiedenen wissenschaftlichen, philosophischen und theologischen Menschenbilder aufeinander zu beziehen. Die Ökologen haben dafür einen Begriff geprägt: Referenzsysteme. Modelle für die komplexe Natur mit ihren ökologischen Problemen sind von vornherein darauf angelegt, als Referenzsysteme durch andere Modelle teilweise ergänzt und berichtigt zu werden. Für Jaspers war es ein zentraler Gedanke der „Weltorientierung“, daß kein Begriff oder Prinzip absolut gesetzt werden kann. Jede Einsicht ist auf den jeweiligen Standort des erkennenden Subjekts bezogen. Für den fehlenden Archimedischen Punkt haben wir einen Ersatz: die Erkenntnis der „universalen Standpunktsverschieblichkeit“. Sie relativiert jede vorausgehende Sicht, ohne sie für ungültig zu halten und ohne ihr eine absolute Wahrheit gegenüberstellen zu können. Der Prozeß der Standpunktverschiebung ist ein endloses Korrektiv, in dem die Aspekte der Wahrheiten zunehmen, aber die ganze Wahrheit niemals gefunden werden kann.43

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Weltbild und der Zusammenhang von Seinsbewußtsein und Selbstbewußtsein

Die Anthropologie von Jaspers hat nicht nur Bedeutung für Therapeuten, sondern auch für das Weltbild. Die bloß vom Bewußtsein erfaßte Realität wird erweitert zur Wirklichkeit. Unsere Welt wird durchsichtig im Hinblick auf die sie umgreifende Transzendenz. Jaspers nennt die einzelnen Ebenen der psychischen Funktionen bis hin zur Vernunft „Weisen des Umgreifenden“. Dies klingt zunächst geheimnisvoll. Es beruht jedoch auf einem einfachen, aber folgenreichen Gedanken, der Freiräume offenläßt, welche für die Entwicklung unseres Selbstbewußtseins unverzichtbar sind. Dieser Gedanke, diese logische Grundoperation für eine heute artikulierbare Metaphysik lautet: Jeder von uns lebt in einem Teilausschnitt der Welt, der relativ ist. Wir sind Subjekte, die auf jeweils verschiedene Gegenstände, auf deren Zustände, fokussiert sind. Wir ergreifen sie. Unser Wissen eröffnet uns einen spezifischen (geistigen) Horizont: die Umstände von Gegenständen und Lebenswelten, die wir damit begreifen, beziehungsweise verstehen, wenn es um soziale Beziehungen geht. Der Horizont ist dynamisch, er kann sich einschränken oder ausweiten und wandert im Laufe unseres Lebens gleichsam mit uns mit. Diese vom Bewußtsein fokussierten Gegenstände werden in einem Horizont zusammengefaßt. Gegenstand und Horizont kennzeichnen die grundsätzlich gegensätzlichen Zielrichtungen von Bewußtsein und Geist. Das existentielle Selbstbewußtsein ist dagegen auf das „Umgreifende“ gerichtet, das in zwei Stufen erkennbar wird. Jedesmal zeigt sich für uns die Möglichkeit, über den Horizont hinauszuschreiten. Das von uns Gewußte ist immer umgriffen von einem

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Weiteren. Dieses Weitere, das über den Gegenstand (den Gegensatz von Subjekt und Objekt) und den Horizont hinausgeht, nennt Jaspers (in Anlehnung an das apeiron des Anaximander) das Umgreifende. Es kündigt sich immer nur an, es ist nur indirekt gegenwärtig. Aber, und das ist der springende Punkt, die gewußten Dinge und Horizonte unserer Erkenntnis werden durch das Umgreifende transparent im Hinblick auf das, was dahintersteht, die Transzendenz.44 Das so entstehende neue Seinsbewußtsein ist untrennbar mit einem veränderten Selbstbewußtsein verknüpft.

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Anthropologie und Hirnforschung

Eine solche anspruchsvolle und dem menschlichen Erleben gerecht werdende, das heißt differenzierte Anthropologie und die Hirnforschung decken sich weitgehend. Letztere führt zunächst zur konkreten Erklärung einzelner psychischer Phänomene; sie liefert das Basiswissen, wie zum Beispiel Informationen geprüft und selektiert werden. Zu diesem Basiswissen gehören die Zellbiologie des Nervensystems, die Signalleitung innerhalb von Nervenzellen und zwischen den Nervenzellen; die Wahrnehmung der sensorischen Systeme und die Konstruktion von Bildern; die Auswirkung auf die Motorik, die Genetik und Epigenetik des Nervensystems sowie die kognitiven Neurowissenschaften im Hinblick auf Sprache, Lernen und Gedächtnis.45 Die Neurowissenschaftler unterscheiden heute vier Hirnsysteme, die mit der Anthropologie von Jaspers ohne weiteres zu vereinbaren sind: Das emotionale System ruft Affekte wie Wut oder Angst hervor. Das Belohnungssystem verstärkt oder hemmt Gedankenprozesse und Verhalten. Beide sind dem vorbewußten Bereich psychischer Funktionen zuzuordnen. Das dritte, das Gedächtnissystem, besteht nach den Forschungsergebnissen von Hans-Joachim Markowitsch aus vier Untersystemen, die dem vorbewußten, dem rationalen, dem geistigen und dem existentiellen Bereich entsprechen: das Wiedererkennen von unbewußt erlebten Reizen („priming“); die bewußt gelernten komplexen Fertigkeiten, die dann unbewußt („automatisch“) abgerufen werden wie Turnen oder Musizieren („prozedurales Gedächtnis“); das Gedächtnis für bewußt gelernte Wissenstatbestände (Wissenssystem); und schließlich das autobiographische Gedächtnis, das die lebensleitenden, für „entscheidend“ gehaltenen Ereignisse registriert. Dies führt zum vierten Hirnsystem, dem Entscheidungssystem. Es steuert sowohl rationale Entscheidungen als auch langfristige Planungen; es ist dem die Biographie bestimmenden existentiellen Bereich eng verbunden. Zum Abschluß zwei praktische Beispiele, wie in einer differenzierten Anthropologie von den psychischen Phänomenen ausgegangen werden muß, um die zugrundeliegenden psychischen Funktionen adäquat erfassen zu können. Ein erstes Beispiel sind die enthusiastischen Einstellungen und Reaktionen. Der Enthusiasmus ist zunächst nicht rational erklärbar. Er entspricht einer gehobenen geistigen Stimmung. Sie entsteht entweder bei kreativen Prozessen oder auch bei der bloßen Betrachtung von Kunstwerken oder dem Hören von Musik.46 Es handelt sich offensichtlich um ein Phänomen, das nur

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im Zusammenhang mit überrationalen geistigen Prozessen und Betätigungen des Menschen erscheint. Ein weiteres Beispiel ist die Entschlossenheit, mit der Menschen sich verhalten und vorgehen, wenn sie sich für etwas endgültig entschieden haben, das nicht unbedingt ihren (rationalen) Interessen entspricht oder sogar gegen ihre bisherige Identität verstößt, also mit einem Identitätswechsel verbunden sein kann. Ein Beispiel hierfür ist der Widerstand gegen Unterdrückung oder ein Freiheitskampf auch in aussichtsloser Situation, die Haltung des „Bis hierher und nicht weiter“. Diese Art von Entschlossenheit ist ein psychisches Phänomen, das weder mit den vorbewußten noch rationalen Interessen noch mit den geistigen Funktionen Urteilskraft oder Identität zu erklären ist. Es ist ein existentielles Phänomen, das sowohl über das Rationale als auch das Geistige hinausgeht. Es kann deswegen nur mit existentiellen Kategorien adäquat beschrieben und von einer entsprechend differenzierten Anthropologie berücksichtigt werden.

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Grundwissen

7.1

Orientierung

Vernünftige Bildung, die zur Vernunft als Ideal führen kann, setzt ein Basis- oder Grundwissen voraus, das dem Wissensstand einer Epoche entspricht. Der positive Ausdruck für Grundwissen ist Orientierung. Orientierung besagt, daß man sich auch in der Verwirrung oder Verirrung unter neuen Umständen, wie nach einer totalen militärischen Niederlage oder einer ökonomischen Katastrophe (Konkurs oder Inflation), zurechtfinden kann. Das unglückliche Bewußtsein findet sich dagegen in einem Irrgarten wieder und sieht nur noch Möglichkeiten des Irregehens. Man war unzureichenden Plänen, angeblich wissenschaftlichen Orientierungspunkten und revolutionären Hoffnungen erlegen. Nach der gescheiterten sozialen sah man in der sexuellen Revolution einen Ersatz und landete nach solchen Metamorphosen des Mängelwesens Mensch in Sackgassen der Wirklichkeit. Nach einer komplizierten Dialektik von Leugnung, Wut, Verhandeln, Verzweiflung und Akzeptanz muß man sich aus den Gespinsten von Eitelkeit und Selbstüberschätzung erst wieder befreien. Diesen Drang, sich in der Verwirrung durch widersprüchliche Ideen und Positionen Klarheit zu verschaffen, formulierte der junge Hölderlin in einem Brief an seinen jüngeren Bruder, nachdem er Fichtes „Wissenschaftslehre“ studiert hatte: „… unter dem unablässigen Bestreben, seine Begriffe zu berichtigen und zu erweitern, unter der unerschütterlichen Maxime, in Beurteilung aller möglichen Behauptungen und Handlungen, in Beurteilung ihrer Rechtmäßigkeit und Vernunftmäßigkeit schlechterdings keine Autorität anzuerkennen, sondern selbst zu prüfen, unter der heiligen, unerschütterlichen Maxime, sein Gewissen nie von eigener oder fremder Afterphilosophie, von der stockfinstern Aufklärung, von dem hochweisen Unsinne beschwatzen zu lassen, der so manche heilige Pflicht mit dem Namen Vorurteil schändet, aber ebensowenig sich von den Toren und Bösewichtern irremachen zu lassen, die unter dem Namen der Freigeisterei und des Freiheitsschwindels einen denkenden Geist, ein Wesen, das seine Würde und 44

seine Rechte in der Person der Menschheit fühlt, verdammen möchten oder lächerlich machen, unter allen diesen, und vielem andern reift man zum Manne.“47 Der Wissensstand einer Kultur und Epoche entspricht einem kollektiven Horizont, den der Einzelne nur bei größter Anstrengung teilweise erfassen kann. Nachdem zunächst die Theologie und die metaphysische Philosophie diese Orientierungen boten, kam es im wissenschaftlichen Zeitalter dazu, daß jede Wissenschaft für sich ein Stück Weltorientierung darstellt (siehe dazu auch im Ausblick). Nacheinander erhoben Physiker, Biologen, Soziologen, Ökonomen und (heute) Neurologen den Anspruch, die maßgebende „Leitwissenschaft“ zu vertreten. Die auf ein Grundwissen zielende Weltorientierung versteht all diese Versuche als (historisch bedingte) Stationen einer ideellen Evolution. Deswegen bezeichnete Karl Jaspers die Weltorientierung als Schnittstelle von Wissenschaft und (auf Transzendenz zielender) Existenz. Die Weltorientierung hat die Aufgabe, das Wissen der Wissenschaften so zu integrieren, daß es Voraussetzung existentieller (d. h. lebensleitender) Entscheidungen werden kann. Die Weltorientierung wird für die Existenzerhellung zur objektiven Voraussetzung. Indem der Einzelne sich zunächst in der Welt universell orientieren kann, ist er erst in der Lage, Horizonte überschreiten und die metaphysischen Fragen bedenken zu können. Dies führt zur Metaphysik. Dem folgen die drei Bände seines ersten philosophischen Hauptwerks „Philosophie“: Weltorientierung, Existenzerhellung und Metaphysik.48 Horizont umfaßt vergleichbare Begriffe wie Blickrichtung, Gesichtsfeld, Gesichtsoder Standpunkt, Weltbild und Weltanschauung. Die Horizonte wandern gleichsam in der Individual- und Kollektivgeschichte mit uns mit, sie erweitern und verengen sich. Das Neuartige an der Anthropologie von Karl Jaspers ist, daß er den geistigen Horizont und den wissenschaftlichen Erkenntnisgegenstand zusammen sieht und als „Weisen des Umgreifenden“ auf den verschiedenen Ebenen (wie in Kap. I A 5 dargestellt) logisch entwickelt. Die Weltorientierung durch die Wissenschaften bezieht sich zunächst auf Ursprung und Aufbau des Kosmos, die Evolution auf der Erde, die Evolutionsbiologie des Menschen, die Geschichte seiner religiösen und sozialen Ideen und der damit verbundenen Mentalitätsschichten. Dieser Weg führt stufenweise über die fünf Kausalitätsformen (Kap. I A 4) wie über eine Brücke von den Naturwissenschaften zur Anthropologie. 7.2

Physikalisches Grundwissen

Das physikalische Weltbild hat sich seit dem selbstbewußt auftretenden materialistischen Positivismus des 19. Jahrhunderts im 20. Jahrhundert radikal verändert. Das neue Wissen über die komplexen Zusammenhänge von Materie und Energie verbietet es, einseitig materialistische oder idealistische Naturauffassungen zur Grundlage von politischen Ideologien und utopischen „Weltanschauungen“ zu machen. Die vier physikalischen Grundkräfte (starke und schwache Kernkraft, Elektromagnetismus und Gravitation) werden durch virtuelle Teilchen (Feldquanten: Gluonen, Bosonen und Photonen) vermittelt, die nur kurz während ihrer Vermittlungsaufgabe existieren. Unklar ist noch, ob es ein entsprechendes virtuelles Teilchen, das „Gaviton“, für

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die Schwerkraft gibt. Alle vier Kräfte bildeten sich – so wird vermutet – nach dem Urknall aus einer (unbekannten) Urkraft. Die Standardtheorie kennt zwölf Elementarteilchen, von denen die ersten vier unsere heutige Welt bilden. Die übrigen acht existierten nur in der großen Hitze nach dem Urknall. Mit dem Standardmodell lassen sich Relativitäts- und Quantentheorie nicht auf einen Nenner bringen. Neben der Standardtheorie gibt es heute die Stringtheorie und die Theorie der „Schleifen-Quantengravitation“, zwischen denen noch ungeklärt geblieben ist, wie der Aufbau der Materie zu erklären ist.49 Es gibt so noch unauslotbare Tiefen der Materie und unbestimmbare Grenzen der Welt durch die Vielzahl der Dimensionen, mit denen gerechnet wird und deren Gesamtzahl man heute auf elf schätzt (zehn räumliche und eine zeitliche). Außerdem sollte von Positivisten bedacht werden, daß nach heutiger Schätzung unser Kosmos aus 75 Prozent dunkler („Vakuum-“)Energie und 20 Prozent dunkler Materie besteht. Der für uns erkennbare Kosmos trägt nur fünf Prozent zur Gesamtmasse bei.50 Es besteht also genügend Anlaß für unser Seins- und Selbstbewußtsein, zwischen der uns zugänglichen Realität der Objektwelt und einer diese Welt übergreifenden Wirklichkeit zu unterscheiden (vgl. dazu im Ausblick „Metaphysik und Religionsfriede“). Wirklichkeit ist die Gesamtheit dessen, was wirkt. Zum physikalischen Grundwissen gehört seit Aristoteles vor allem die Erkenntnis, daß es verschiedene (wie bereits in Kap. I A 4 dargestellt) Arten von Kausalität gibt: nicht nur die Materialursachen, sondern auch Ursachen, die durch die Form, die Bewegungs- und Triebenergie und durch die Zielrichtungen lebendiger Wesen ausgelöst werden. Dazu kommt beim Menschen eine spezifische Form der Handlungsmotivation, die Kausalität durch Freiheit mit bestimmten Stufen der Freiheit.51 7.3

Soziales, ökonomisches und politologisches Grundwissen

Diese komplexe Kausalitätslehre führt vom anthropologischen zum sozialen, das heißt ökonomischen und politologischen Grundwissen, welches einseitige Theorien über die Ursachen sozialen Handelns kritisch zu definieren und damit auch politisch zu bekämpfen vermag (vgl. dazu die Kap. I A 6 und I B 1.1). Dazu gehört vor allem die Erkenntnis, daß auch die Probleme der Volkswirtschaft in einer evolutionären Reihenfolge entstanden sind: Zunächst gibt es die Natur mit ihren Ressourcen. Dann kamen die Menschengruppen, die sich in den verschiedenen Territorien und Klimazonen ausdehnten und konkurrierten. Werkzeuge, Technik und Waffen ermöglichten auf verschiedenen Niveaus Landerschließung und Energiegewinnung. Dies prägte die unterschiedlichen Formen der Güterproduktion und des Konsums. Die Praktiken von Handel, Tauschgeschäft und Entlohnung führten zu von Angebot und Nachfrage bestimmten Marktwirtschaften, zur Trennung von Produktion und Konsum, aber auch zu Kasten- und Klassengesellschaften. Das Tauschgeschäft Arbeit gegen Unterhalt konnte in den Formen Sklaverei, Leibeigenschaft, Pacht- und Arbeitsvertrag oder unter Selbständigen abgeschlossen werden.

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Die Erfindung von Geld, Lohn, Kapitalertrag, Sparen und Investition schuf die Kapitalwirtschaft im Spannungsverhältnis zur Realwirtschaft. Steuern, Zölle, Gebühren, Subventionen, Nationaleinkommen und öffentliche Verschuldung, Außenhandelsbilanzen und übernationale Banksysteme kennzeichnen schließlich die moderne Volks- und Privatwirtschaft. Die ersten beiden Ebenen gehören noch zur Zuständigkeit der Natur- und Technikwissenschaft und zur Evolutionsbiologie des homo sapiens; die dritte muß von Historikern der Technologie erforscht werden; erst die Stufen vier bis acht sind Gegenstand der Volkswirtschaft.52 7.4

Differenzierte Anthropologie

Diese Verknüpfung von physikalischem, psychologischem und sozialem Grundwissen muß als Basis dienen und kann erst auf dieser Grundlage zu einer differenzierten Anthropologie der relevanten psychischen Funktionen des Menschen führen, von den vorrationalen (Trieb und Wille) über die rationalen des Verstandes zu den komplexeren geistigen Funktionen (Identität mit sozialen Kollektiven, Empathie, Kreativität und Urteilskraft) bis zur interkulturellen Ethik, dem existentiellen Denken. Die differenzierte Anthropologie von Karl Jaspers wurde in den vorigen Kapiteln I A 3 und 4 dargestellt. Sie zeichnet aus, daß sie einen weiteren Horizont eröffnet als den üblichen Gegensatz von Materialismus und Idealismus. Indem er die Lebensphilosophie von Nietzsche und die Existenzphilosophie von Kierkegaard einbezog, war er überhaupt in der Lage, eine Anthropologie zu entwickeln, die dem ganzen Spektrum psychischer Phänomene gerecht werden kann. Dieses Spektrum kann auch eine Orientierung für die in Psychologie und Soziologie kursierenden psychosozialen Theorien eröffnen. Die Chaostheorie und die Spieltheorie betreffen offensichtlich eine vorrationale Ebene. Die Handlungstheorie betrifft die Verknüpfung vorrationaler und bewußter Tätigkeiten. Die Entscheidungstheorie ist für Handlungsalternativen zuständig, die auf der rationalen, geistigen und existentiellen Ebene eine Rolle spielen. Die Konflikttheorie schließlich betrifft soziale Konflikte, bei denen verschiedene kollektive Identitäten oder politische Ideen aufeinanderstoßen. Auch hier können existentielle Entscheidungen tragend sein. 7.5

Methodenlehre

Zu dieser Anthropologie gehört als Arbeitsbasis eine Methodenlehre, welche zunächst die partikularen Methoden der Wissenschaft erfaßt. Dies sind vier polare Methodenpaare: Induktion und Deduktion, Verstehen und Erklären, deskriptiv und präskriptiv, analytisch und synthetisch. Schon diese Gegensätze bei den Forschungswegen zeigen, daß alle wissenschaftliche Erkenntnis nur partikular sein kann. Naturwissenschaftler können nur die Wirklichkeit in Subjekt (Beobachter) und Objekt aufspalten und müssen sich dann auf die Perspektive der dritten Person zurückziehen, das heißt alles Subjektive einer „teilnehmenden Beobachtung“ ausschalten. Darüber hinaus gibt es zahlreiche spezielle Methoden, wie axiomatische, historische, genetische, genealogische, skeptische, scholastische, kathartische und pädagogische 47

Methoden. Zur imaginativen Methode, deren Bedeutung (z. B. bei Einstein) nicht unterschätzt werden darf, gehört das Denken in den Bildern, welche eine Wissensordnung evident machen und zu einer Synopse kommen wollen. Ein Beispiel hierfür ist der Baum der Evolution bei Darwin und Heckel. Das Diagramm ist darüber hinaus eine Verbindung von Bild und Text. Kennzeichnend für die universalen Methoden (Dialektik, Phänomenologie und formale Logik) ist, daß sie für Wissenschaft und Philosophie gemeinsam von Bedeutung sind. Die Methode der Dialektik hat besondere Bedeutung, um die Dynamik psychischer Prozesse nachvollziehen zu können. Nur zu einem geringen Teil betreffen die dialektischen Triaden in der Philosophie Hegels die Ideengeschichte (z. B. Dogmatismus, Skeptizismus, Dialektik) oder das Logisch-Kategoriale (z. B. Thesis, Antithesis, Synthesis oder Unmittelbarkeit, Vermittlung und erneute Unmittelbarkeit). Die meisten betreffen die philosophische Anthropologie (z. B. bewußtlos, bewußt, selbstbewußt oder Sinnlichkeit, Verstand und Vernunft). Jaspers hat in seiner Anthropologie weitere dialektische Triaden eingeführt: drei Bewußtseinsarten, drei Wissensarten und drei Auswirkungen des absoluten Bewußtseins (Kap. I A 3). Ferner unterscheidet er drei Sprachen der Transzendenz (vgl. im Ausblick „Metaphysik und Religionsfriede“). Man könnte hinzufügen: Es gibt noch drei Urteilsarten und die drei strukturellen Leitbegriffe der Anthropologie: Erinnerung, Orientierung und Steuerung. Die Dialektik ist wegen der zahlreichen Triaden auf und zwischen den vier Ebenen des Psychischen (Vorbewußtes, Bewußtsein, Geist und Existenz) für eine ganzheitliche philosophische Anthropologie noch zu erschließen. Voraussetzung dafür ist, daß die Dialektik nicht als universale und abstrakte Methode eingesetzt wird, sondern als „konkret erhellende Dialektik“, die sich stets mit bestimmten wissenschaftlichen oder philosophischen Methoden verbinden muß, um zu faßbaren Erkenntnissen führen zu können. Dies betrifft nicht nur die Individualanthropologie, sondern auch die soziale Dialektik. Die ideologische Thesis mit ihrer Aktion führte stets zu einer Antithesis mit ihrer Reaktion. Dabei waren in der Sozialgeschichte verschiedene Antworten möglich: Zunächst der totale Bruch wie ein Konfessionskrieg oder der klassenkämpferische Bürgerkrieg. Oder es konnte eine Synthesis, eine Integration gesucht werden, wie in den Nationalkirchen. Die Gründung der anglikanischen Kirche durch Königin Elisabeth I. war die Grundlage für den inneren Frieden und den Aufstieg Englands. Ähnliches gilt für die uniierte Kirche in Preußen. Ebenso kann der Bismarcksche Sozialstaat als eine erfolgreiche Synthesis beziehungsweise Mischverfassung zwischen Adel, Bürgertum und Arbeiterschaft gewertet werden.53 Darüber hinaus gibt es rein philosophische Methoden, wie die direkte und indirekte Mitteilung, der reflektierte Reduktionismus (als Erklärung komplexer Sachverhalte durch einfache Realitätsschichten) und bewußte Methodenvielfalt, das heißt Kombination mehrerer Methoden. Auch die Meditation ist eine rein philosophische Methode. Sie will durch reine Introspektion und Ausschaltung aller äußeren Sinnesreize eine neue Stufe der Aufmerksamkeit und der Einstellung zu den anderen Lebewesen gewinnen. Dadurch soll eine bessere Kontrolle über innere Zustände und Emotionen erreicht werden.54 48

Es kann nur zu einer defizitären Anthropologie führen, wenn einzelne Methoden verabsolutiert und zum „Königsweg zur Wahrheit“ erklärt werden. Die Wirklichkeit psychischen Verhaltens, von der das wissenschaftlich folgerichtige Vorgehen nur ein Teil ist, kann nur durch viele Methoden und ihr Zusammenspiel erfaßt werden. 7.6

Wissenschaftslehre

Neben der Methodenlehre ist für ein Grundwissen eine Wissenschaftslehre erforderlich. Sie hat zunächst die partikularen (auf Einzelerscheinungen gerichteten) Natur- und die universalen Geistes- und Sozialwissenschaften zu unterscheiden. Dann aber auch ihr Zusammenspiel in den sich berührenden Grenzbereichen von Realitäts- und Wirklichkeitsebenen zu untersuchen. Ferner sind die darüber hinausgehenden Aufgaben der Philosophie zu bestimmen: wie das Orientierungswissen einer Sozial- und Geschichtsphilosophie, die Erhellung der suprarationalen Funktionen und die Metaphysik. 7.7

Kategorienlehre

Schließlich gehört dazu eine Kategorienlehre, welche eine philosophische Basissprache anstrebt, um Mehrdeutigkeiten in der philosophischen Argumentation und Diskussion zu vermeiden. Hier geht es auch um das Verhältnis von Sprache und Denken, um die verschiedenen Kategorien der psychischen Funktionen, zum Beispiel die Kategorien des Verstandes, der geistigen Funktionen und des existentiellen Freiheitsbewußtseins. Über die Fachphilosophie hinaus ist nur diejenige Kategorienlehre von allgemeinem Interesse, welche die grundlegenden Vorzüge beziehungsweise Beschränktheiten einer Sprache zu erfassen vermag. Zu den philosophischen Leistungen der deutschen Sprache gehört zum Beispiel, daß Verstand und Vernunft, Realität und Wirklichkeit, Gefühl und Empfindung unterschieden werden können.55 Die kontinuierliche Entwicklung der gesamten Logik und Anthropologie von Jaspers in den Hauptwerken von 1932, 1947 und 1991 ergibt sich aus nachfolgendem Schema. Die in der Logik von Jaspers enthaltene philosophische Anthropologie kann man als neuartig differenzierte Anthropologie bezeichnen, deren Themen mit den Stichworten im zweiten Schema zusammengefaßt werden. Zu den am Ende genannten psychosozialen Theorien gibt es seit Jahrzehnten eine umfangreiche Literatur. In ihr bleiben jedoch in der Regel die unterschiedlichen psychosozialen Phänomene, die von der hier dargestellten differenzierten Anthropologie behandelt werden, unberücksichtigt. Meist erfassen sie nur Prozesse der Selbstorganisation oder rein rationale Entscheidungen („rational choice“).

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1 „Philosophie“ (1932)

2 Philosophische Logik Allgemeine Logik: „Von der Wahrheit“

(Philosophische Logik, Band I, 1947) I.

Philosophische WELTOrientierung

DASEIN (Vorbewußtes) BEWUSSTSEIN überhaupt (Verstand) GEIST

WELT

Wahrheitsstufen: Erkennen Ursprünge der Wahrheit Einheit der Wahrheit Wahrheit im Durchbruch

II.

EXISTENZerhellung

III. METAPHYSIK

EXISTENZ VERNUNFT

Vollendung der Wahrheit

TRANSZENDENZ

Spezielle Logik: „Nachlaß zur Philoso-

phischen Logik“ (1991) KATEGORIENlehre Universale Kategorien

Besondere Kategorien

Ursprünge der Kategorien Kategorien: des Gegenstandes der Wirklichkeit der Freiheit

METHODENlehre Universale Methoden: Formale Logik Phänomenologie Dialektik

Partikulare Methoden: Polare Methoden Spezielle Methoden

Philosophische Methoden: des Transzendierens der Aneignung, Mitteilung, Darstellung und Verstehbarkeit

WISSENSCHAFTslehre Wissenschaft und Philosophie Universale Wissenschaften

50

Partikulare Wissenschaften

Themen einer differenzierten Anthropologie Psychische Grundfunktionen

(Hirnsysteme) Ethiktypen

DASEIN (Vorbewußtes) Wille und Trieb: Leben Politik Sexus Wirtschaft (Emotion)

BEWUSSTSEIN Verstand: Objekte Systeme Genus Gesetze (Gedächtnis)

GEIST

EXISTENZ

Urteilskraft: Ideen, Gestalten Identität Eros Kreativität (Belohnung)

Vernunft Glaube Freiheit Liebe Opfer (Entscheidung)

Naturalistische Ethik (Mitleidsethik) Betrifft den Daseinskampf

Positivistische Ethik Moral wird aus sozialem Zusammenleben abgeleitet [Verantwortungsethik]

Idealistische Ethik Betrifft Identität und Kultur

Existentielle Ethik Betrifft Entscheidungen in Grenzsituationen

[Erfolgsethik]

[Gesinnungsethik]

Mentalitätsschichten (Kap. I B 2.1)

Magie Animismus Mythos Polytheismus (Achsenzeit) Mysterienreligionen Monotheismus Religionskrise

Aufklärung Naturalismus Positivismus

Tiefenpsychologie Neue Physik

Existenzphilosophie

Stufen der Pädagogik (Ausblick)

Gehorsam Konformität als Schutz Konformität für soziale Bindung

Orientierung an Pflichten

Legalität: Orientierung an Gesetzen

Orientierung an Prinzipien und Widerstandsrecht

Freiheitsstufen

Willkür (Spontaneität)

Rationale Entscheidungsfreiheit in bezug auf Alternativen

Geistige Freiheit wählt zwischen Identitäten

Existentielle Entscheidungsfreiheit bestimmt die Biographie

Psychosoziale Theorien

(Chaostheorie) Spieltheorie Krisentheorie

Handlungstheorie

Konflikttheorie

Entscheidungstheorie

Kausalitätsformen

Material- und Triebursachen

Formursachen

Zielursachen

Kausalität durch Freiheit und aus Freiheitsräumen heraus

51

Das Kind, an und für sich betrachtet, mit seines Gleichen und in Beziehungen, die seinen Kräften angemessen sind, scheint so verständig, so vernünftig, daß nichts drüber geht, und zugleich so … heiter und gewandt, daß man keine weitre Bildung für dasselbe wünschen möchte. Wüchsen die Kinder in der Art fort, wie sie sich andeuten, so hätten wir lauter Genies. (J. W. v. Goethe)

7.8

Anthropologische Evolution (Rassen und Jugendbewegungen)

Zum anthropologischen Grundwissen gehören zunächst die evolutionären Gesetze, die von den Frühformen (dem homo erectus und homo habilis) und Übergangsformen (wie dem Steinheimmenschen) zum modernen Menschen (seit etwa 40 000 Jahren) geführt haben. Von Anfang an betrat dieser mit beeindruckenden Kunstwerken, raffinierten Jagdmethoden und sprachbegabt unsere Erde. Dabei waren zwei Möglichkeiten von Bedeutung, wie jugendliche Organismen die Stammesgeschichte (Phylogenese) beeinflussen können. Einerseits kann die Geschlechtsreife beschleunigt werden (Progenese). In raschem Rhythmus wird dann zahlreicher Nachwuchs in die Welt gesetzt, der in relativer Hilflosigkeit den Umweltgefahren preisgegeben wird. Solche Ökosysteme sind typisch, wenn offenes, noch weitgehend ungenutztes Areal besiedelt werden muß. Ist dieser Vorgang jedoch abgeschlossen, führt die hohe Wachstumsgeschwindigkeit, die Bevölkerungsexplosion, in eine tödliche Falle, in der alle Anpassungsstrategien versagen. Eine andere Möglichkeit ist die Neotenie, deren äußeres Ergebnis die Pädomorphie ist. Hier wird der Reifeprozeß zum erwachsenen Individuum verlangsamt, und es werden neben den Charakteristiken erwachsener Organismen auch die von Jugendlichen bewahrt. Damit wird die Chance vergrößert, daß die individuelle Entwicklung offen und flexibel bleibt. Neotenie ist charakteristisch für lernfähige Arten in reifen Ökosystemen. Es gibt nur wenige Nachkommen, die aber dafür sorgfältiger und arbeitsintensiver großgezogen werden. Eine sinkende Geburtenrate kann nur dann ein Selektionsvorteil sein, wenn dafür intelligenterer und nicht verwahrloster Nachwuchs aufgezogen wird. In Wohlstandsgesellschaften kann Verwöhnung für die Entwicklung selbständiger Individuen schädlicher sein als Verwahrlosung. Es handelt sich bei der Neotenie um eine evolutionäre Neuerung und Umstellung, die mit erheblichen Risiken verbunden ist. Als langfristige Evolutionsstrategie bedeutet Progenese in unreifen Ökosystemen einen Verlust von Flexibilität. Bei der Neotenie ist dagegen Erstmaligkeit häufiger zu erwarten. Adolf Portmann wies schon 1960 nach, daß die Entwicklung des menschlichen Embryos im Mutterleib statt neun eigentlich 21 Monate dauern müßte. Durch die Geburt des Menschen mitten in der fötalen Entwicklung war erheblich mehr Aufwand (Kummer und Sorge) für Kinder notwendig geworden. Portmann wies der Neotenie auch eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung des Gehirns zu, wobei sich die Proportion zwischen Hirn- und Gesichtsschädel änderte. Intelligenz hohen Grades war nun mit einer langen Kindheit als Lernphase verbunden. Dies führte zur Selektion in Richtung auf Lebewesen, die als Erwachsene eine Neigung zur Fürsorge, als Junge hingegen ein verstärktes Schutzbedürfnis aufweisen; aber auch

52

hin zur Beibehaltung jugendlicher Züge im Verhalten der Erwachsenen, zu Neugier, Spieltrieb bis zur wissenschaftlichen Forschung und künstlerischen Kreativität. Intelligenz ist mit verlängerter Jugendlichkeit verbunden. Zwischen beiden Eigenschaften besteht eine Rückkopplung mit gegenseitiger Verstärkung.56 Äußere Kennzeichen der Pädomorphie sind kindliche Gesichtszüge mit rundem, niedrigem Gesicht und steiler Stirn, der im Verhältnis zum Gesichtsschädel größere Hirnschädel, das Zurückbilden der Überaugenwülste und der vorspringenden Gebißpartie (Prognathie), lange Augenwimpern, weiches, seidenes Haar mit geringerer Körperhaarentwicklung, die Fähigkeit, Milchprodukte auch im Erwachsenenalter zu verdauen (sog. Lactasesynthese, hierfür gibt es in Europa einen Gradienten der adulten lactase expression, der von Nord nach Süd abnimmt; in Afrika ist er unterschiedlich verteilt, z. B. adult positiv bei den Massai). Auffällig ist vor allem die unterschiedliche Aufhellung von Haar-, Haut- und Augenfarbe. Das hier bestehende Nord-Süd-Gefälle, das nicht allein mit Anpassungen der Melaninbildung an die UV-Strahlung oder der vermehrten Produktion des Provitamins D bei heller Haut erklärt werden kann, wird durch die „Gloger’sche Regel“ beschrieben. Die blaue Augenfarbe soll erst vor ca. 8000 Jahren nördlich des Schwarzmeerraumes aufgetreten sein und sich bei den Europiden schnell durch „sexuelle Zuchtwahl“ verbreitet haben. Das Motto der Neotenie lautete wohl wie die bekannte Filmkomödie „Blondinen bevorzugt“ (wobei die Blondinen selber weniger wählerisch zu sein scheinen). Der Archetypus des göttlichen Kindes, welches eine neue Zeitrechnung, eine neue Heilslehre, eröffnet („offenbart“), wirkte wohl wegen des evolutionären Prinzips der Neotenie so stark auf das Unbewußte, daß damit Weltreligionen begründet werden konnten. Die Nativität (Gebürtigkeit) des Menschen weist auf seine Ursprünglichkeit: die Sprünge, die verspielte Freiheit des homo ludens, des „Springinsfeld“, auf den Eros des Kindes, welcher von den Spielfeldern zu den geistigen Freiräumen, zur prinzipiellen Freiheit führt. Im Spannungsverhältnis dazu der „genitale Ernst“ im engen Rahmen von Sexus und Genus (z. B. der patriarchalischen Familienstruktur) des Erwachsenen. „Neotene“ Freiheitsräume waren für die Entwicklung der neuzeitlichen Kulturen viel wichtiger als die oben aufgezählten äußeren Kennzeichen der Pädomorphie. Dies zeigen die Hinterlassenschaften des Cromagnon in Europa, der bereits vor mehr als 40 000 Jahren naturalistische Plastiken und Höhlenmalereien sowie hochentwickelte Musikinstrumente hinterließ. Darüber hinaus läßt sich rekonstruieren, daß seit 10 000 Jahren – vor allem in den indoeuropäischen und benachbarten orientalischen Kulturen – immer neue Produktionstechniken, differenzierte Sprachen und ausgewogene Sozialstrukturen entwickelt wurden. Es ist offensichtlich, daß die genannten rassischen („ethnischen“) Unterschiede auf verschiedenen Tempi dieser evolutionären Tendenz beruhen. Sie betreffen die Häufigkeit von fortgeschrittenen, neotenen Merkmalen und Gruppen, bei denen sie geringer oder gar nicht entwickelt sind. Der anthropologische Fachausdruck dafür lautet Archemorphie. Äußere Ursache für diese Differenzierung ist das unterschiedliche Evolutionstempo der verschiedenen menschlichen Rassen. Auslöser für die unter-

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schiedlichen genetischen Veränderungen waren Umweltbedingungen, aber auch unterschiedliche soziale Strukturen kommen in Betracht. Es ist augenfällig, daß der Evolutionsdruck zur Neotenie in den kalten Regionen des Nordens größer war als in den tropischen. Es ist zwingend, unterschiedlich differenzierte Gesellschaften auch auf ein unterschiedliches Evolutionstempo solcher physischen und daraus folgenden psychischen Eigenschaften zurückzuführen. Die erheblichen Unterschiede zwischen Nordeuropa bis Südafrika belegen dies ebenso wie die zwischen Nordasiaten, Melanesiern und Australiern. Dies dürfte das beste Argument gegen Vorwürfe sein, man unterliege – typisch eurozentrischen – rassistischen Vorurteilen. Im übrigen gibt es auch in Südasien und vor allem in Afrika große Unterschiede hinsichtlich der Entwicklung zur Neotenie (z. B. zwischen Somaliern und Pygmäen). Angesichts dieser Vielfalt gibt es noch wenig gesicherte Erkenntnisse, wie schnell sich solche Unterschiede – auch durch epigenetische Einflüsse – einebnen können. Für eine realistische Bewertung der Rassenunterschiede ist es unabdingbar, diese körperlichen Merkmale als offenkundige Phänomene zu berücksichtigen; und nicht bloß die Genunterschiede abzuzählen. Wenn es allein danach ginge, wäre auch der Schimpanse mit uns nahezu „gleichwertig“, weil 98,3 Prozent des Genoms übereinstimmen. Inzwischen weiß man jedoch, daß die unterschiedlichen Mutationsraten zwar zahlenmäßig gering sind, dafür aber entscheidende Bereiche betreffen, welche die Faltung der Hirnrinde, Gehirngröße, Lautbildung im Mund, Geschicklichkeit der Hand beim Werkzeuggebrauch und Verdauung von Getreide- und Milchprodukten ermöglichen. Nach neuesten Forschungsergebnissen werden die Unterschiede, etwa zwischen Europäern und Asiaten, nicht durch die Gene selbst, sondern nur durch Variationen der Genaktivität bestimmt. Dies beruht auf winzigen Variationen im Genom, welche die Steuerung der jeweiligen Erbanlage und damit auch deren soziale Aktivität unterschiedlich bestimmen. Dies entspricht der wissenschaftlichen Entwicklung der Genetik zur Epigenetik, zur „Postgenomik“.57 Danach werden die Gene weniger als materielle und für sich wirksame Partikel verstanden, sondern eher als Einheiten von genetischen Ressourcen, die, auch als „springende Gene“, mit An- und Ausschaltern, langen und kurzen eingestreuten „Führungssequenzen“ wechselwirken müssen. Die Epigenetiker erforschen auch, wie Umwelteinflüsse die Genaktivität beeinflussen und zusätzlich der Organismus dabei eine aktive Rolle bei der Verwendung und Gestaltung des Genoms spielt. Bei der Rassentheorie geht es also weniger um Gene als um unterschiedliche äußere Erscheinungsformen und soziale Verhaltensweisen, wie konservative, auf Anpassung gerichtete Passivität oder experimentierfreudige, auf Freiheitsspielräume gerichtete Aktivität. Die Stammbaum-Entwicklung der menschlichen Rassen (Phylogenie) ist nicht allein mit der Molekulargenetik zu erklären, sondern nur in einem komplexen Zusammenhang mit den äußeren Erscheinungsformen der Rassen (Morphologie) und der Bioinformatik, das heißt des Genoms. Nach dem heutigen Wissenstand ist es wahrscheinlich, daß die Phylogenie des Neuzeitmenschen von den afrikanischen Populationen dominiert wurde, die vor etwa 100 000 Jahren aus Afrika auswanderten. Archai54

sche Formen außerhalb Afrikas, die seit etwa 1,7 Millionen Jahren in Asien und seit 1,3 Millionen Jahren in Europa auftraten, können jedoch durchaus einen geringen Anteil am Genpool der heutigen Menschheit haben.58 Inzwischen wissen die Evolutionstheoretiker auch, daß die Mutationsrate zwar konstant ist und einem statistischen Mittelwert entspricht. Es gibt jedoch ein breites Spektrum von Mutationen: stumme Mutationen ohne Auswirkung auf den Phänotyp, bei denen nur einer der vier Buchstaben eines Gens geändert wurde; Genverdopplungen, bei denen die „überflüssigen“ Gene als Reserve für später benötigte neue Funktionen dienen können; „springende“ Gene oder Austausch ganzer Gensequenzen bis hin zu Verdopplungen eines ganzen Chromosoms, ja des ganzen Genoms. Durch diesen Reichtum von Möglichkeiten kann auch das Evolutionstempo einer geographisch isolierten Gruppe außerordentlich höher sein als bei einer artgleichen anderen Gruppe, bei der die Umweltbedingungen sich nicht geändert haben. Vor allem durch sexuelle Selektion – ausgelöst durch attraktive, zum Beispiel neotene Merkmale – kann das Evolutionstempo kleiner isolierter Gruppen in neu zu besiedelnden Biotopen so beschleunigt werden, daß statt mit Millionen nur mit wenigen tausend Jahren gerechnet werden muß, den Phänotyp grundlegend zu verändern. Ohne die Annahme einer punktuell beschleunigten Evolutionsrate mit einem „sprunghaften“ Gestaltwandel läßt sich die Zersplitterung der Phänotypen seit 100 000 Jahren in Afrika, Europa und Asien nicht erklären. Das erhöhte Evolutionstempo durch Isolation konnte jedoch einen hohen Preis haben: Gruppen, die mit vielen Nachbarregionen Berührung haben, sind gegen Krankheiten besser geschützt als isolierte Völker, die gegen neue Krankheiten von Eindringlingen keine Widerstandskräfte besitzen. Isolierte Völker können diese Krankheiten auch weniger abwehren als Mischlinge.59 Sehr umstritten waren die von Arthur Jensen 1969 bis 1972 in den USA durchgeführten vergleichenden Intelligenztests bei verschiedenen Rassen. Der IQ des schwarzen Bevölkerungsanteils soll dabei fünfzehn Punkte niedriger gewesen sein als bei den Weißen. Dagegen waren die Werte bei den Ostasiaten (vor allem im mathematischnaturwissenschaftlichen Bereich) höher als bei den Weißen, die der Indianer nur geringfügig niedriger.60 Damit sind jedoch keine Aussagen über Individuen verbunden; führen doch solche Kollektivuntersuchungen nur zu glockenförmigen Statistikkurven mit einem maximierten Mittelwert der Intelligenz und seltenen Extremen an beiden Enden. Anfechtbar waren diese Tests vor allem, weil gerade die rationale Intelligenz kulturell geformt ist und nur einen Teil der Persönlichkeitsmerkmale ausmacht. Zu vergleichen ist vielmehr das gesamte psycho-mentale System: die Vitalität, die musikalische Intelligenz, die Rationalität, die sich in Wirtschafts- und Staatsorganisationen auswirkt, sowie die vielfältige, die Kultur prägende Kreativität. Hierbei darf man nicht nur „analytisch“ Zahlen vergleichen, sondern man muß die Phänomene sehen können: die Differenziertheit der sozialen Organisation; die Mentalitätsschichten von den magischen bis zu denen der Aufklärung; vor allem aber die Fähigkeit, mit den sozialen und technologischen Herausforderungen der Moderne umgehen und angemessen auf sie reagieren zu können. 55

Rassentheorie hat also etwas mit allgemeiner Menschenkenntnis zu tun, welche nicht nur die rassenbiologischen Phänomene, sondern auch deren Wechselwirkungen mit sozialen Mentalitätstypen (passiv – aktiv, anpassungsbereit – freiheitsbewußt) berücksichtigen muß. Das versuchte schon Kant in seiner „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“. Eine solche Gesamtsicht schließt Rassenwahn und Rassenhaß mit der Annahme von geborenen Herrenrassen ebenso aus wie den Rassengleichheitswahn, der alle offenkundigen Unterschiede tabuisiert und zu jener Umnachtung führt, in der alle Kühe grau sind. Zwischen den Europiden, Negriden, Mongoliden und Indianiden gibt es natürlich viele Misch- und Übergangsformen. Beispiele sind die Turaniden und Orientaliden. Daraus aber zu folgern, „Rasse“ sei ein unwissenschaftliches „Unwort“ (weil es blutdruckerhöhend wirkt), ist wohl eine der seltsamsten Kapriolen der political correctness, um ein peinliches Thema zu kaschieren. Die drei Affen, die nicht sehen, hören und oder reden wollen, sind in Wahrheit menschlich-allzumenschliche Wesen, die sich zu Affen machen. In manchen Fällen kann das auch auf einer Krankheit beruhen: dem WilliamsBeuren-Syndrom (WBS). Ein Genstückverlust auf Chromosom 7 kann zu einer Unterfunktion des Mandelkerns (Amygdala) führen. Die Betroffenen können dann keine physiognomischen oder ethnischen Unterschiede mehr erkennen. Alle Menschen sind dann gleich und alle Fremden auch Freunde. Eine Überfunktion steigert dagegen Fremdenfurcht und Fremdenhaß. Eine Unterfunktion führt allgemein zur emotionalen Verflachung, zum Verlust der Fähigkeit, die Ereignisse und Erlebnisse der Vergangenheit und Gegenwart auf ihre biologische oder soziale Bedeutung hin richtig bewerten zu können, zu einer Art von historischer Unterbelichtung.61 Es hat den Anschein, die Deutschen sollten dieses für soziale Intelligenz beziehungsweise Debilität so wichtige Organ im Zentrum des limbischen Systems endlich einmal ins Lot bringen, in ein vernünftiges Gleichgewicht (Homöostase). Das Wort Rasse stammt aus dem Arabischen und hatte den Bedeutungsspielraum von Kopf und Ursprung. Gerade im Vorderen Orient war man darauf angewiesen, bei den verschiedensten Konflikten mit Völkerschaften aus Europa, dem Mittelmeer, Afrika und Asien ein anthropologisches Vorwissen (im positiven Sinne von Vorurteil) über wiederkehrende Verhaltensweisen verschiedener Rassentypen zu gewinnen. Das Postulat der Rassengleichheit war ein bloßer Reflex auf den ideologischen Rassismus, der Imperialismus und Nationalismus rechtfertigen sollte. Bei dieser Art von Antirassismus wurde mit dem Bade auch das Kind, die allgemeine Menschenkenntnis, ausgeschüttet. Die Tabuisierung der offensichtlichen Ungleichheiten lief auf Unwahrheiten, Heuchelei und Verwirrung hinaus. In Wahrheit schufen die antinomischen Prinzipien von Progenese und Neotenie auch beim Menschen ein großes Experimentierfeld mit einem vielfältigen Spektrum unterschiedlicher Typen. Rassenmischungen waren in diesem Feld von der Schöpfung vorgesehen. Im übrigen gibt es auch Nachteile und Schattenseiten bei Populationen mit ausgeprägter Neotenie wie den Europiden. Sie kann in Sackgassen der Domestikation und Selbstdomestikation durch Anpassung an eine künstliche technische Umwelt und Wohlstandssituation führen. Das äußere Erscheinungsbild erinnert dann an die „Ver56

mopsung“ von Hunderassen. Mit der Figur und dem kleinbürgerlichen Lebensdrama eines Tobias Knopp hat der Anthropologe Wilhelm Busch diesem Phänotyp ein bleibendes Denkmal gesetzt. Vor allem gibt es enge Beziehungen zwischen Neotenie, Domestikation und politischen Jugendbewegungen. Dazu zählen zunächst die harmlosen und romantischen Wandervogelbünde, bei denen der positiv-pädagogische Aspekt überwiegt. Ihnen ging es vor allem um Freiräume für die Entwicklung. Man wollte selber lernen können und die kreativen Kräfte der jugendlichen Intuition als Ergänzung zu den Erfahrungen des Alters nutzen. Insofern könnte man von einer Dialektik der Neotenie sprechen, welche kreative Synthesen von Jugend und Alter erfordert. Die daraus abgeleiteten pädagogischen Methoden liefen darauf hinaus, das Selberlernen zu fördern, auch von der Jugend lernen zu können und das Lerntempo den Kindern anzupassen. „Vom Kinde her“ sollte unterrichtet werden, seiner individuellen Entwicklung angepaßt. Nur so können Freiräume (Spielwiesen) für die Entwicklung und Entfaltung von speziellen Begabungen geschaffen werden. Eigenständige und ursprüngliche Lebensformen in der Natur wurden angestrebt und von der Zivilisation verschüttete folkloristische Traditionen wiederentdeckt. Mit solchen Jugendbewegungen im positiven Sinne wurden die verschiedensten Motive einer naturalistischen, idealistischen und existentiellen Ethik berührt – ebenso ursprünglich wie willkürlich. Negative Formen der Jugendbewegungen waren der „Heilige Frühling“, die kriegerischen Männerbünde („Alle-mannen“, die man losschickte, um sie loszuwerden. Nach Canetti gehört dies zur Lieblingsbeschäftigung der Alten, zum „Triumph des Überlebens“.) Ihnen wurden keine Freiräume für die Entwicklung geboten, nur Triumph oder Schmach, Schmerz und Verstümmelung. Man erlag dem Archetyp des Helden; den Träumen und dem kurzen Kampfrausch folgte in der Regel die Ernüchterung, oder man fand sich in einem „kämpfenden Orden“ wieder, der von den Alten mißbraucht wurde. Negative Jugendbewegungen waren die totalitären Revolten der Kommunisten und Faschisten, von denen es heute nur noch Gruppierungen einer „DDR“ (der dummen Reste) gibt. Sie können allenfalls noch regionales Konfliktpotential erzeugen wie die „Maoisten“ in Indien und Nepal. Ganz anders heute die muslimischen Fundamentalisten. Letztlich wurden und werden diese „Bewegungen“ durch gescheiterte Reifungsprozesse junger Intellektueller ausgelöst, die in Aktionismus, Terrorismus, „Bombenexpressionismus“ aufgrund von ideologischen Kurzschlüssen münden können. Der Parsifal-Typus des „reinen Toren“ (so Richard Wagner), der als Hüter des Grals das Licht der wahren Erlösungslehre verbreiten will, greift gern und schnell zum „heiligen Speer“ (welcher dereinst den Erlöser verletzte), um die Dämonen der Finsternis in einer Endlösung zu vernichten. Die irdischen, die profanen Erscheinungsformen des göttlichen Kindes sind der reine Tor oder der junge, von Kopf bis Fuß auf Heldentod eingestellte Kämpfer. Nur bei spontan entstandenen und selbstorganisierten Gruppierungen sollte man von Jugendbewegungen sprechen. Nicht bei ihrem Mißbrauch durch pfäffische Wahnideen, wie den Kinderkreuzzügen; oder durch totalitäre Systeme, wie bei der Einverleibung der bündischen Wandervogelbewegung in die Hitlerjugend 1933, die dann als letztes

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Aufgebot – von Kindersoldaten – verheizt wurde, um den militärischen Zusammenbruch einige Tage hinauszuzögern. Bei ihrem Treffen auf dem Hohen Meißner einigten sich die Wandervogelbünde auf eine Formel für die Autonomie ihrer Gruppen von der Erwachsenenwelt: „Ich will mein Leben führen, aus eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung und mit innerer Wahrhaftigkeit.“ Man wollte gleich die höchste Mentalitätsschicht der Pädagogik (vgl. dazu den Ausblick) erklimmen und sich aus dem emotionalen Sumpf der Pubertät hochziehen, wie Münchhausen an seinem Zopfe. Allgemeines Kennzeichen von Jugendbewegungen ist, wie Tocqueville zu den französischen Revolutionären schrieb, etwas Zwiespältiges: Unerfahrenheit und Hochherzigkeit. Der engelhafte Typus überfliegt gern die Mühseligkeiten der täglichen Praxis, das ökonomische, juristische und politische Denken. Der Heilige der Religionsgeschichte wurde dabei zur profanen „schönen Seele“. Sie wurde von Hegel gnadenlos charakterisiert als „Unwirklichkeit und Eitelkeit des Besserwissens“, welche ihr „tatenloses Reden für eine vortreffliche Wirklichkeit“ hält.62 Sie ende in der „unversöhnten Unmittelbarkeit zur Verrücktheit zerrüttet und zerfließt in sehnsüchtiger Schwindsucht“. Ursache ist Erfahrungsmangel, den schon Plato bei seinen Schülern beklagte: Ihre Vertrautheit mit der Begriffswelt lasse sie glauben, daß die durch Worte hervorgezauberten Bilder und Illusionen als wirkliche Wahrheit anzusehen sind. Erst im Fortschritt der Zeit und bei zunehmendem Alter kommen sie mit den wirklichen Dingen in unzweideutige Berührung.63 Das drücken auch Eigenbezeichnungen von Jugendbewegungen wie „Sturm und Drang“ aus: Der Sturm richtet sich gegen die Bastionen des Establishments und der Autoritäten in Staat und Kultur, der Drang kennzeichnet den dringlichen Triebüberschuß – wohin nur damit? 7.9

Ideelle Evolution und die psychischen Grundfunktionen

Zum Grundwissen über die geistige Evolution des Menschen einschließlich solcher Jugendbewegungen gehört eine typologische Übersicht der Religionen und Ideologien und der verschiedenen Mentalitätsschichten des Menschen, die daraus abgeleitet werden können. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob für diese Entwicklung allgemeine evolutionstheoretische Gesetze gelten; es genügt, von den Phänomenen auszugehen, zumal es oft Rückfälle (Atavismen) in frühere Schichten gab und gibt. Allgemeines Kennzeichen dieser Entwicklung ist ein Abstraktionsprozeß von konkreten dämonisierten Naturkräften und herumgeisternden Seelen hin zur radikalen Trennung von Welt und Transzendenz. Bei dieser Entwicklung geht es um die Realität der allen Menschen gemeinsamen geistigen Tradition, um die Kontinuität von Kultur und Geistesgeschichte. Alle Erfahrungen des kollektiven Unbewußten sind allgemein-menschliche Erfahrungen, die als historische Mentalitätsschichten in einen historischen Rahmen zu integrieren sind. Darüber hinaus sind sie eine phylogenetische Metapher für den Individuationsprozeß jedes Einzelnen, für seine mögliche Vollendung oder sein vorzeitiges Scheitern.64

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Hier gibt es zunächst die magische, polytheistische und monotheistische Mentalitätsschicht mit ihren typischen Konflikten und Konfessionskriegen. Dann folgt der Rationalismus der verschiedenen Aufklärungsepochen (in Indien, der griechischen Antike und im neuzeitlichen Europa). Die europäische Aufklärungsepoche endete im Materialismus und Positivismus des 19. Jahrhunderts mit seinen Ideologien (Liberalismus, Sozialismus, Kommunismus und Faschismus). Diese Mentalitätsschicht wurde im 20. Jahrhundert abgelöst durch die neuartige Tiefenpsychologie, welche die Dynamik von vorbewußten und bewußten Prozessen zu erfassen suchte, und die nachklassische Physik der Relativitäts- und Quantentheorie. Diese Stufen von Mentalitätsschichten haben die Ideengeschichte mit ihren philosophischen und sozialen Kämpfen hervorgerufen. Ein Orientierungswissen darüber kann nur durch logische Grundoperationen gewonnen werden. Nicht nur durch die genannte Differenzierung psychischer Funktionen, sondern auch durch eine Systematik wissenschaftlicher und philosophischer Methoden und Kategorien. Diese Systematik steht wiederum im Zusammenhang mit einer Typologie der verschiedenen Natur- und Geisteswissenschaften. Die zunächst rein biologische Evolution des Menschen wurde durch Kategorien wie Rasse, Vererbung, Dekadenz, Domestikation, Selbstdomestikation und Neotenie bestimmt. Zu einem ersten Spannungsverhältnis zwischen Biologie und Geist führte das ursprünglich magische und animistische Denken. Magie hängt sprachlich mit Macht zusammen. Magisches Denken war die erste historische Mentalitätsschicht, in welcher auf psychischem Wege versucht wurde, die natürliche und soziale Umwelt durch Laut, Wort, Gesang, Beschwörung, Schrift, Zeichen, Geste, Berührung oder mimische beziehungsweise symbolische Handlung zu beeinflussen. Magie konnte öffentlich oder privat praktiziert werden, konnte Wetter-, Ernte-, Fruchtbarkeits-, Jagd-, Kriegs-, Rechtsoder Liebeszauber sein. Eng verwandt, aber nicht deckungsgleich waren magische mit animistischen Vorstellungen, wonach alle Erscheinungsformen der Natur auf lebendige Kräfte zurückzuführen sind oder sogar eine persönliche Seele haben. Hier lebt der Mensch in einer imaginären, aber ungemein angstbesetzten Umwelt mit Naturdämonen, Geistern und Gespenstern, die sein Handeln und Denken weitgehend bestimmt. Es waren zunächst Geister und Dämonen der vier Naturelemente Feuer, Wasser, Luft und Erde. Die Dämonen der Finsternis waren sozusagen die Nihilisten unter den Geistern. Auch Jahwe war ursprünglich ein zorniger Wüstendämon, mit dem man sich zu arrangieren hatte. Auf dieser Grundlage entwickelten sich die mythologischen Erzählungen. Der Mythos ist eine komplexe traditionelle Erzählung über Ursprünge und Konflikte von Familien, Stämmen, Städten, Göttern und Halbgöttern (Heroen). Die griechischen Mythen wurden am wirkungsvollsten in den Epen Homers gestaltet und später im Werk Hesiods gesammelt. In den philosophischen und theologischen Schulen ging es um die Frage, inwieweit der Mythos als Vorstufe des Wissens aufzufassen ist, als kindliche – dem Märchen vergleichbare – Erzählform und seinen eigenen Wahrheitsgehalt hat; oder ob – wie schon Plato forderte – ein zu erneuernder Gottesglaube einem Prozeß der „Entmythologisierung“ zu unterwerfen sei und dadurch auch philosophisch akzeptabel werde. 59

Unmittelbar aus dem mythologischen Denken entwickelte sich der Polytheismus mit einer Vielzahl von tier- und menschengestaltigen Göttern, die bestimmte Funktionen für Mensch und Familie haben, auch als lokale Stadtgottheiten. Eine Übergangsstufe zum Monotheismus war die Monolatrie, die Anbetung nur eines Gottes auf Kosten der anderen. Ein Beispiel vertrat der Pharao Echnaton, der mit seiner Gattin Nofretete nur noch den Sonnengott Aton anbetete. Als der Glaube an die mythologischen Ursprünge der Gemeinschaft verblaßte, verwandelte sich der Polytheismus in Mysterienreligionen. Deren Ziel war, die Anhänger seelisch zu reinigen und von den irdischen Leiden zu erlösen. Diese mit den bisherigen religiösen Lebensformen unzufriedenen Suchbewegungen waren eine weitere Vorstufe für den Monotheismus, welcher die Göttergestalten mit ihren Funktionen dämonisierte und allenfalls in Heiligenkulten weiterleben ließ. Man wollte nur mit dem einen und wahren Gott, dem einzigen Ursprung unserer Welt, in Gebet und Gottesdienst kommunizieren, und nicht mit Phantasiegestalten. Der Monotheismus setzte sich letztlich durch, weil er den Zusammenhalt von Imperien und Monarchien wie ein Bindemittel förderte. Dies beweist die Förderung des Christentums durch die frühmittelalterlichen Monarchien nach der Völkerwanderung. Der Klerus war missionarisch bemüht, den Widerstandsgeist der alten Stammeskulturen zu brechen. Die gewaltsame Mission oder Unterdrückung alter polytheistischer Kulte führte zur „Amputation“ einer eigenständigen Weiterentwicklung der griechischen, römischen oder germanischen Kultur. Sie unterbrach damit die schon erkennbaren Tendenzen zu einem philosophischen Monotheismus, welcher die alten Göttergestalten als Archetypen verschiedener sozialer Aspekte gelten lassen und den Volksreligionen überlassen konnte. So kam es lediglich zu Verwerfungen, Unterdrückungen und gewaltsamen späteren Wiederbelebungen des Heidentums. Aber auch zur weitgehenden Vernichtung von Bibliotheken zweier Hochkulturen, zur Amputation ihres „autobiographischen“ Gedächtnisses. Der Polytheismus hatte einen weiteren Vorteil gehabt: er brauchte keinen Teufel. Man konnte sich einfach an andere Götter halten, um das Unerträgliche verstehen und abwehren zu können. Wenn man aber nur einen Gott hatte, dann waren Teufelsvorstellungen als Inkarnationen des Unglaubens, der Gottlosigkeit oder des Glaubens an die alten Götter unvermeidbar. Monotheistische Religionen waren aber nie ein Monolith. Sie waren vielmehr ständigen Verwandlungen und theologischen Paradigmenwechseln ausgesetzt. C. G. Jung hat dies in seinem Buch „Antwort an Hiob“ eindrucksvoll vorgeführt und insgesamt 15 Paradigmenwechsel in der Geschichte des Juden- und Christentums nachgewiesen. Die katholische Kirche seit Augustinus verkörpert eine interessante „Mischverfassung“ zwischen verschiedenen Stufen der ideellen Evolution wie Polytheismus und Monotheismus. Dies nicht nur durch den Heiligenkult, in dem der Animismus weiterlebt, sondern auch durch die Trinitätslehre. Danach gibt es einen Gott, den es von jeher gegeben hat; dann den Gott, der Mensch geworden ist (oder den Menschen, der Gott geworden ist); und schließlich die psychische Funktion des Geistes, des Pneumas. Diese theologische Dialektik machte gerade das Christentum zu einer besonders lebendigen Religion. Eigentlich war der Trinitätsgedanke die Erfindung eines Kirchentreffens, 60

welche letztlich nur die Vielfalt der Chiffren für Gott zum Ausdruck bringen wollte. Oder beruhte sie auf einer älteren jüdischen Idee, nämlich der von einer weiblichen Geisteskraft, der von Gottes weiblicher Seite Schekinah? Eine solche Dynamik monotheistischer Glaubenssysteme förderte ihr Überleben und hielt sie lebendig. Ihre Überzeugungskraft wurde erst durch Sektenbildungen auf die Probe gestellt, die nicht als „Bettelorden“ integriert werden konnten und als Häretiker grausam verfolgt wurden. Wenn man sie nicht ausrotten konnte, führte dies schließlich zu Konfessionsspaltungen und totalitär geführten Konfessionskriegen. Staaten, die – wie die USA – von ihnen nicht betroffen waren, hatten deswegen eine entschieden bessere Ausgangsposition für den Aufstieg zur Großmacht. Dasselbe gilt für Staaten, welche die verheerenden Konfessionskriege früher beenden konnten als ihre Nachbarstaaten; wie Elisabeth I., welche die Rekatholisierung Englands verhinderte. Die konfessionelle Dialektik führte hier zu einer zukunftsträchtigen Synthese, zur anglikanischen Staatskirche. Ganz anders der mit der Vertreibung einer Elite endende Religionskrieg in Frankreich und der für Deutschland verheerende Dreißigjährige Krieg. Sie erschütterten den Glauben an eine alleinseligmachende Kirche zutiefst. Dies bereitete den Boden für die Epoche der Aufklärung in den von diesen Kriegen betroffenen Regionen. Sie erreichte mit der Dogmenkritik von Kant ihren Höhepunkt. In seiner Anthropologie wurden systematisch die psychischen Funktionen (vorbewußte Sinnlichkeit, rationaler Verstand, überrationale Vernunft) bestimmt, welche dann zum Ausgangspunkt für die Spaltungsprozesse des 19. Jahrhunderts wurden: Idealismus, Positivismus, Lebens- und Existenzphilosophie. Die sozialen Strukturen wurden bis dahin vom Clan, dem Stamm, der Polis, der Monarchie und dem Imperium als Zwangseinheit gebildet. Diese wurden nun erstmals durch den Gedanken der Sprach- und Kulturgemeinschaft, der Nation, ergänzt. Dies führte zu den Fragen nach dem „Geist der Gesetze“, dem Volksgeist. Die Nationalkriege des 19. und 20. Jahrhunderts erschütterten auch diese Mentalitätsschicht. So wie der Dreißigjährige Krieg die Konfessionsspaltungen der monotheistischen Kirche ad absurdum führte, erschütterte auch der Erste Weltkrieg den Nationalstaatsgedanken. Es kam analog zum Monotheismus wiederum zu universalistischen Ansätzen, den liberalen, konservativen oder sozialistischen Ideologien, die sich im „Weltbürgerkrieg“ bis zum Kalten Krieg gegenüberstanden. Der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges war ein merkwürdiges Amalgam zwischen nationalistischen Exzessen in der Form des Faschismus und dadurch verschärften ideologischen Fronten. Seitdem gibt es kaum noch eindeutig benennbare Mentalitätsschichten, die eine Gesellschaft bestimmen. Dem magischen Denken, vor allem in afrikanischen Kulturen, und polytheistischen Denken in Indien steht die Dynamik des wieder erstarkenden Monotheismus in den islamischen Kulturen in neuen Frontlinien gegenüber. Bei diesem Konflikt ist das Wiederaufleben abergläubischer Mentalitätsschichten in der Psychoszene der westlichen Welt kaum hilfreich. Viele magische und animistische Praktiken werden hier als Prothesen und Krücken der Daseinsbewältigung wiederbelebt, um Lebenshilfen für die Mühseligen und Beladenen, die Schwachen und Orientierungslosen anzubieten. Auch dieser Psychomarkt gehört zur Marktwirtschaft. 61

Nach den vorbewußten, den rationalen und den geistigen Grundfunktionen (letztere z. B. Identität, Kreativität und Urteilskraft) kommen die existentiellen Funktionen. Hier geht es zunächst um das Bemühen, höhere Freiheitsstufen zu erlangen und das sich damit entwickelnde Freiheitsbewußtsein; um die Vernunft, welche ebenso wie die Liebe verbindet; schließlich um das Glaubensproblem, die Ausrichtung des Handelns auf Transzendenz, auf das, was „ewig“ gilt. Die um diese Themen bemühte europäische Existenzphilosophie ist auf das private Handeln und die Sozialpraxis zugleich ausgerichtet; im Gegensatz zu Erlösungsreligionen, wie dem Buddhismus, wo die Menschen lediglich bestrebt sind, sich aus den leidvollen Verstrickungen der Welt zu lösen. Das existentielle Denken ist darauf gerichtet, mit seinem Selbst ins Gespräch zu kommen. Das rationalistische und psychoanalytische Denken hat es dagegen mit dem bloßen Spiegelbild des Selbst zu tun, dem Ich der vorbewußt vitalen, der rationalen und geistigen Interessen. Sie führen deswegen oft nur zur Selbstbespiegelung. Die Grundgedanken der vor allem von Kierkegaard, Heidegger und Jaspers begründeten europäischen Existenzphilosophie beruhen auf dem Denken der Hochreligionen, insbesondere des Christentums. Es geht darum, den Lebensweg als Pfad zu bedenken. Dieser besteht aus einer Reihe von Punkten, in denen Entscheidungen getroffen wurden, welche die Richtung des Lebensweges bestimmten. Bei einer scheinbar unlösbaren Krise geht es darum, einen neuen Anfang zu finden, einen Wendepunkt. Der Lebensweg führt in eine unbekannte Landschaft hinein, sein Ende ist ungewiß. Im Rückblick besteht der Lebensweg aus einer Reihe von Entscheidungen. Beurteilt man sie als richtig oder erfolgreich, ist man dankbar, werden sie als falsch oder verhängnisvoll beurteilt, führt dies zu Schuldgefühlen. Beides sind existentielle Grundhaltungen. Bei der Existenzphilosophie geht es also um das Selbst, das den Lebensweg, die Ausrichtung der Biographie, die Lebensbilanz bestimmt. Die punktuellen Entscheidungen sind nicht nur in den sogenannten Grenzsituationen (Sterben, Leiden, Kampf und Schuld) zu treffen, sondern allgemein in Situationen, in denen existentielle Alternativen auftauchen, wo es darum geht, ob man sich bewährt oder scheitert. Diese galten und gelten für alle Menschen aller Zeiten und können als anthropologische Konstanten bezeichnet werden. Es geht um die bereits genannten Alternativen von Freiheitswille und Widerstand im Gegensatz zur Anpassung und Resignation; um Glaube, Skepsis oder Unglauben; Liebe oder Haß; Treue oder Verrat, Wahrheitswille oder Täuschungswille, Verantwortung oder Verantwortungslosigkeit, Altruismus oder Ausbeutung, Kommunikationswille oder Kommunikationsabbruch und Kampf. Zum anthropologischen Grundwissen gehört auch, daß eine differenzierte Anthropologie wie die von Karl Jaspers erst nach den ideellen Auseinandersetzungen des 19. Jahrhunderts entwickelt werden konnte. Hier trat zunächst nach der Aufklärungsphilosophie von Kant der Gegensatz zwischen dem philosophischen Idealismus (Hegel), der zu den Geisteswissenschaften führte, und dem materialistischen Positivismus der Naturwissenschaften auf. Aber dieser Gegensatz bezog sich nur auf die rationalen und geistigen psychischen Funktionen. Die Antinomie zwischen der Existenzphilosophie Kierkegaards und der Lebensphilosophie Nietzsches erfaßte dann erst das ganze Spektrum der psychischen Funktionen. 62

All diese Spaltungsprozesse zeichneten sich durch eine für die europäische Kultur charakteristische explosive Dynamik aus. „Ich bin Dynamit“, vermerkte Nietzsche voller Stolz. Das hatte auch unmittelbare Folgen für die Heftigkeit der ideologischen Kämpfe zwischen den verschiedensten Fronten: den Marxisten und Faschisten, Konservativen und Liberalen, Psychoanalytikern und Schulmedizinern, Klerikalen und Freigeistern, Naturwissenschaftlern und den um ihre Eigenständigkeit besorgten Geisteswissenschaftlern. Stets gab es aber auch Vermittlungsversuche zwischen den Antipoden solcher Gegensätze. Der dänische Philosoph Georg Brandes versuchte (vergeblich), Nietzsche auf Kierkegaard aufmerksam zu machen. In ähnlicher Weise haben sich Karl Jaspers und C. G. Jung nie wechselseitig in ihrer Bedeutung er- und dementsprechend anerkannt. Hier versuchte der Indologe Heinrich Zimmermann vergeblich zu vermitteln. Dabei verband beide ihre fundamentale Kritik an der Psychoanalyse von Freud; vor allem an seinem positivistischen Hauptdogma, das Zeitalter der Philosophie sei vorbei, die ärztliche Therapie müsse auf reiner Wissenschaft beruhen.65 Auch bei bedeutenden Philosophen und Anthropologen war der Satz „Vernunft ist das, was verbindet“ ein kaum erreichbares Ideal, dem man sich allenfalls annähern konnte. Diese Ideengeschichte des 19. Jahrhunderts, welche – wenn auch auf getrennten Wegen – mit Nietzsche und Kierkegaard, mit dem Positivismus und Idealismus das ganze Spektrum unseres psychischen Potentials umfaßt, kann als positiv und reichhaltig bezeichnet werden. Ihr kann eine negative entgegengestellt werden. Dazu gehört zunächst die Psychoanalyse, welche mit ihrer zu kurzgegriffenen Trieblehre den Anspruch erhob, eine neue Wissenschaft vom Menschen anzubieten, was die Dynamik von Unbewußtem und Bewußtsein betrifft (vgl. Kap. II A 1). Die zweite negative Richtung waren die Kampfideologien (Kap. III B 1.1), die Klassenkampfideologie des Marxismus und die Rassenkampfideologie. Die zweite führte zusammen mit sozialdarwinistischen und antisemitischen Tendenzen unmittelbar zum Nationalsozialismus. Begründet wurde dieser Weg durch den „zweiten Bund von Bayreuth“. Der Rassentheoretiker Arthur Graf Gobineau und Richard Wagner erhoben damit den Anspruch, dem ersten Bunde von Weimar zwischen Goethe und Schiller gleichrangig zu sein. All dies waren Wege der Widervernunft, die zu sozialen Katastrophen führen mußten. Wenn Vernunft das ist, was auf einer suprarationalen Ebene die geistigen Funktionen mit den rationalen und vorbewußten verbinden und in ein Gleichgewicht bringen will, wäre dies die höchstmögliche historische Mentalitätsschicht. Sie allein kann die juristischen, theologischen und philosophischen Antinomien unseres Daseins adäquat ansprechen (wenn auch nicht auflösen), welche die bisherigen religiösen und politökonomischen Konflikte ausgelöst haben. Eine Antinomie ist ein Widerstreit von zwei Aussagen, die sich widersprechen und gleich gut begründen lassen. Für Kant ist der Mensch ein antinomisches Wesen, weil seine Vernunft durch zwei gegenläufige, aus ihrer eigenen Spontaneität entspringende Gesetze gekennzeichnet wird: durch das Gesetz, alles Bedingte auf etwas Unbedingtes zurückzuführen, und durch das Gesetz, jede Bedingung wiederum als bedingt anzuse63

hen. Der Mensch unterliegt gleichermaßen dem Inneren der Welteinrichtung und der Tendenz, die vorgefundene Welt zu überschreiten. Die von Kant herausgearbeiteten vier Hauptantinomien haben damit nicht nur rein theoretische oder kosmologische Bedeutung wie die beiden ersten Antinomien. Die dritte und vierte Antinomie hat unmittelbare Folgen für unser soziales Verhalten: 1) Die Welt ist endlich oder unendlich. 2) Die Welt ist teilbar oder unteilbar. Das rationalistische und analytische Denken lebt davon, die Welt als teilbar aufzufassen. Der Verstand zielt damit auf die bloße Realität. Die Vernunft zielt dagegen auf die Wirklichkeit. Die Wirklichkeit ist alles, was wirkt. Hinweis darauf ist die Evolutionstheorie, welche die kosmologische und biologische Evolution als Einheit erkennen muß. Ein weiterer Hinweis ist die Quantentheorie, welche die „Verschränkung“ aller Teilchen entdeckte. 3) Die Welt ist kausal determiniert und es gibt eine Kausalität durch Freiheit. Die vier von Aristoteles erkannten Naturkausalitäten (Material-, Form-, Trieb- und Zielursachen) stehen der Erfahrung gegenüber, daß es spontane Entscheidungen des Menschen für Freiheitsalternativen und Neuanfänge gab und gibt. 4) Alles in der Welt ist kontingent (zufällig) oder die Welt ist abhängig von einem notwendigen Wesen. Für den rationalen Verstand sind diese Antinomien unlösbare Widersprüche, die Vernunft betrachtet sie als Antinomien der Wirklichkeit, mit denen man leben muß. Eine abschließende Antinomienlehre für soziale Kämpfe läßt sich nicht aufstellen. Vielmehr gebietet es die Vernunft, bei jedem Konflikt die zentralen Antinomien der historischen Mentalitätsschichten herauszuheben. Nur so kann man die Konflikte so sehen, wie sie sind, mit einem Maximum an Klarheit. Dadurch werden auch die Kämpfe selbst „gerechtfertigt“ und nicht mit verschwommenen oder historisch überholten moralischen Kategorien verschleiert. Nicht nur die Konflikte werden durch solche Unklarheiten halb wahr und halb falsch, die Kommunikation wird insgesamt verworren: zu einem Trüben, in dem sich gut fischen läßt. Soziale Konflikte, die auf unterschiedlichen Mentalitätsschichten beruhen, können von den älteren Schichten ausgehen und gegen die jüngeren gerichtet sein, weil sie als Bedrohung ihrer Weltorientierung erlebt werden. Sie können umgekehrt gegen die älteren gerichtet sein, weil sie als rückschrittlich und als feindlich gegenüber den jungen, den moralisch höherstehenden „neuen Menschen“ empfunden werden. Erst auf der Basis einer solchen psychosozialen Konflikttheorie kann man sinnvoll politische und ökonomische Sachverhalte beurteilen. Beziehungen können jedoch auch auf Toleranz beruhen. Aktive Toleranz ist die schwierigste soziale Leistung. Oder sie können passiv tolerant die andere Denkwelt einfach ignorieren. Dies ist die bequemste Form, um sich das Leben zu erleichtern („gar nicht um kümmern“ sagt der Norddeutsche). Frühere Mentalitätsschichten können auch von den rationaleren mit einer gewissen nostalgischen Rührseligkeit als „Volksfrömmigkeit“ und Folklore betrachtet werden.

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7.10

Soziale Massendynamik

Die sozialen Konflikte in den verschieden entwickelten Regionen der Welt (von der Ersten bis zur Vierten Welt) können darüber hinaus nicht ohne demographisches Grundwissen beurteilt werden. Wenn eine Bevölkerung jährlich nur um ein Prozent wächst (wie in Deutschland im 19. Jahrhundert), verdoppelt sie sich alle 70 Jahre, bei zwei Prozent Wachstum in 35 und bei vier Prozent in 17,5 Jahren. Wenn sich eine Bevölkerung immer schneller verdoppelt, sind die Auswirkungen auf Moral, Gesetz und Gewalt unvermeidbar. Die „soziale Wärme“ schlägt wie im Fieber um in eisige Kälte oder in die Höllenhitze eines Schnellen Brüters. Die sich verdichtenden Gravitationsprozesse schließen in steigendem Maße alle höheren Freiheitsstufen und Erziehungsformen (siehe im Ausblick „Die Mentalitätsschichten der Pädagogik“) aus. Die demographische Analyse fragt nach dem prozentualen Anteil der Jugendlichen ohne gesellschaftliche Chance. Erst dann kann über interne Gewalt und unfreiwillige Emigration, despotische Strukturen und transnationalen Terror geurteilt werden.66 Zu unterscheiden sind dabei zunächst übervölkerte Regionen, in denen die Auswirkungen sich nur intern auswirken: als dumpfe Resignation, Aberglaube, Bürgerkriege, Kriminalität und extreme Formen der Frauenunterdrückung. Ein „Bombenexpressionismus“ mit dem Ziel, sich selbst und möglichst viele andere in den Tod zu reißen, ist der wahrhafte Ausdruck für die Kultur dieser Horrorwelten. Man könnte hier von Bevölkerungsimplosion sprechen. Dem stehen die Regionen mit einer „Bevölkerungsexplosion“ im eigentlichen Sinn des Wortes gegenüber, wenn eine von Region zu Region verschiedene „kritische Masse“ überschritten wird. Sie expandieren entweder militärisch oder mit Massenfluchten, die den Zielregionen aufgezwungen werden und zum neuen Gewerbezweig von Mafiaorganisationen werden können. Ernst Jünger konstatierte im Jahre 1960, als die Menschheit gerade die dritte Milliarde zählte, lakonisch: „Die Welt heizt sich auf.“ Mehr als 30 Jahre später veröffentlichten Derrida und Habermas dagegen einen programmatischen Aufsatz, wie die heillose Welt am demokratisch-europäischen Wesen sich ein Beispiel nehmen könne, – ohne ein Wort über das Bevölkerungswachstum zu verlieren. Man kann das als demographische Blindheit bezeichnen. Am rationalen Diskurswesen – so der fromme Wunsch – sollten auch die sozialen Höllen genesen. Ohnehin ist das Verhältnis von überalternden Gesellschaften, welche die vielfältigsten Emanzipationsprojekte der Familienförderung vorziehen, zu den schnell wachsenden nicht ohne unfreiwillige Komik. Die Emanzipationsprojekte der Aufklärung reichten vom Aufstieg des Bürgertums zur Wissenschaftsfreiheit und zur Arbeiter- und Frauenbewegung. Dann folgten die Jugend- und Schwulenbewegungen. Während schon einzelne Landstriche zu veröden beginnen, wird die öffentliche Diskussion über staatlich sanktionierte Rituale der Homosexuellen bestimmt, in denen man Hochzeiten, Kindererziehung und Witwenversorgung aus öffentlichen Mitteln nachzuahmen bemüht ist. Hinter all diesen Ritualen steht der „Rentnerberg“ dem youth-bulge der armen Regionen gegenüber, ein Kontrast, dessen Komik durch das Kinderlied über eine Flut-

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katastrophe ausgedrückt wurde: „Auf dem Dache sitzt ein Greis, der sich nicht zu helfen weiß …“ In dieser Situation ist die Mitleidsethik (Kap. II A 4) nur ein hilfloser Versuch, die politische Realität zu überlisten und von der begehrlichen Außenwelt durch Beschwichtigungen und Entwicklungshilfe, wie durch „Schutzgelder“, Schonung zu erlangen. Das ökonomische gehört zum demographischen Grundwissen und bezieht sich auf die Frage, inwiefern die Produktionsverhältnisse und das Niveau der Kapitalschöpfung vorrational, rational oder irrational sind. Inwiefern beruht die Kapitalschöpfung auf einer soliden Belastung privaten Grundeigentums oder bloßer Spekulation, unbewußter Phantasie, leichtsinniger Verschuldung und gezieltem Betrug? Dies alles sind Typen des Grundwissens, die verhindern, daß Kapitalhilfe in korrupten Clan-Systemen versickert. Sie sind die Basis dafür, daß ein Dialog über Konflikte überhaupt die Chance hat, von den Partnern ernstgenommen zu werden. Die Tradition des deutschen Idealismus in Pädagogik und Bildungsbürgertum gerät da schnell in Gefahr, schamlos ausgenutzt zu werden. Im Kontrast dazu das realistische „Populationsdenken“ der angelsächsischen Forschung. Der Gedanke der Übervermehrung von Thomas Malthus gab Charles Darwin und Alfred Wallace gleichermaßen das entscheidende Stichwort für die Ausarbeitung der Evolutionstheorie. Was die „Fitneß“ einer Gesellschaft betrifft, steht die Vermehrung („nurture“) am Anfang, aber abgerechnet wird am Ende genetisch („nature“). In übervölkerten Gebieten mit struktureller Arbeitslosigkeit sind die Lohnkosten niedrig. Es würde sich also anbieten, die Arbeit durch Investitionen zu den Massen zu bringen. Aber Kriminalität und korrupte, unfähige Regime stehen dem allzuoft im Wege. So drängen die Massen zur Arbeit und verbreiten ihre Misere in andere Regionen: unerwünschte Immigration von Mafiastrukturen, nachfolgende Enttäuschungen über die Wohlstandsregionen, die eben keine Paradiese sind, und die in Ressentiment und Rebellion umschlagen.

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Familiengeist

Aristoteles übte scharfe Kritik an Platos Ideal eines Staates und begründete dies vor allem damit, daß der Staat eine Vielheit bleiben müsse. Diese Vielheit bestehe aus einer Anzahl von Familiengemeinschaften. Entwickele er sich zur Einheit, so werde aus ihm eine Hausgemeinschaft, die den Staat aufhebe. Das griechische Wort für diese Hausgemeinschaft (oikos oder oikia) bedeutete nicht nur Haus und Wohnung, sondern auch Hausstand, Hausgemeinschaft, Familie und Familienbesitz. Zu fragen ist nach der Art von Hausgemeinschaft, welche entwicklungsfähige, produktive und selbständige Kinder erzieht, die nicht psychisch angeschlagen auf Dauer Kostgänger der Gesellschaft werden oder eine anklagend-fordernde Haltung entwikkeln und sich dem Stamme „Nimm“ zuordnen; sich bewußt oder unbewußt „daneben“ benehmen.

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Dem griechischen Wort für Hausgemeinschaft entspricht das lateinische genus, der einen bestimmten Familientypus klassifiziert. Genus ist eine Lebensstruktur, welche mit bestimmten gesellschaftlichen Regeln die vitale Sexualität reguliert und damit die Familiengemeinschaft von der Werbung über die Heirat bis zur Elternschaft und Kindererziehung prägt. Der positive Familiengeist ist zwar auf Vitalität, auf „Wunschkinder“, als tragende Kraft angewiesen. Aber nur er kann durch Verstehen und Verstandenwerden Ganzheiten verwirklichen, die lebensfähig und verläßlich sind. Fraglich ist dies bei den zufällig zusammengewürfelten Aggregaten der Patchwork-Familien. Je kurzlebiger sie sind, desto weniger besteht die Aussicht, daß sich eine verläßliche Lebensform für die Kindererziehung entwickeln kann. Noch schwieriger sind Adoptionen zu beurteilen, wenn sie lediglich darauf beruhen, daß auf eigene Kinder bewußt verzichtet wird. Dann erheben sich Fragen über Fragen: In welchem Alter soll man Kinder aus den Elendsgebieten adoptieren? Wann sind sie durch ihre traumatischen Erlebnisse schon dauerhaft geschädigt? Wann soll man das Kind später über seine Herkunft aufklären, wenn überhaupt? Wie soll man sich verhalten, wenn es sich zurückgesetzt fühlt oder gar kriminell wird? Ein bewußtes Projekt, ein Planen der Elternschaft und Abwägen der Risiken und Nebenwirkungen gibt es nur in modernen Gesellschaften. Es handelt sich dabei auch weniger um bewußte Reflexion, sondern mehr um den Ausdruck von Vitalität, welche die mit den verschiedenen möglichen Lebensformen verbundene Ambivalenz zu überwinden vermag. Diese Ambivalenz ist viel tiefgründiger als der oberflächlich aufgestellte Gegensatz, sich der Erziehung von Kindern zu widmen oder sich selbst zu verwirklichen. Oft bleibt dieses Selbst nur ein diffuses Gebilde, das sich für vielerlei offenhält, aber auch von vielerlei „unheimlich betroffen“ ist. Meist bleibt dabei ungeklärt, ob die Emanzipation als Anpassung an männliche Rollen, als Entwicklung einer eigenen, neuen Weiblichkeit oder als Bemühen um ein neues Zusammenwirken der Geschlechter verstanden wird. Die traditionellen Kulturen, in denen diese öffentlich und privat ausgetragenen Konflikte unterdrückt werden, zeichnen sich durch einen besonders starken, auch unterdrückenden, „Familiengeist“ aus. Besonders ausgeprägt trat diese Form im jüdischen, christlichen und muslimischen Patriarchat auf. Er kann regelrecht erstickend wirken und notwendige Freiheitsspielräume für die Entwicklung verschließen. Dadurch gehen einer Gesellschaft produktive Potentiale verloren, und gerade sensible Begabte können daran zerbrechen. Bei diesem „Familiengeist“ handelt es sich letztlich nur um die Genus-Familienform, die den Sexus rational bändigen möchte. Bei dieser Familienstruktur werden die eher geistigen Beziehungen freier Erotik und einer auf Selbständigkeit bedachten Pädagogik sowie die existentiellen Freiheitsräume der Liebe unterdrückt.67 Ein Kennzeichen der indoeuropäischen Kulturen war dagegen, daß sie – wie auch manche Naturvölker – der Frau eine hohe Stellung als Haushaltsvorstand, Priesterin und Beraterin einräumten.68 Kommt es durch die „nachhaltige“ Unterdrückung der Frau zu einem besonders schnellen Bevölkerungswachstum, das den ökonomischen Fähigkeiten einer Region 67

nicht angepaßt ist, führt dies zu dramatischen Sozialkonflikten und demographischen Verschiebungen (Bürgerkrieg, Krieg und Migrationsdruck). Erst recht gilt dies in Kulturen, in denen Promiskuität und der bloße Machismo herrscht, wo progenetischer Kinderreichtum als männlich gilt, ohne sich weiter um die Kinder zu kümmern oder kümmern zu können. Die Familien- und Bevölkerungspolitik stehen allgemein vor der Herausforderung, auch insoweit ein langfristig lebensfähiges Gleichgewicht anzustreben, wie es China offensichtlich gelungen ist. Insofern besteht ein untrennbarer Zusammenhang zwischen Familiengeist und Volksgeist. Diese normale Vitalität kann auch dadurch gestört werden, daß es zu den beliebtesten Themen von Fernsehkrimis wird, den leibhaftig bösen Vater darzustellen, der seine Kinder mißbraucht, oder Geschwisterrivalitäten, die in Mord und Totschlag enden. Solche Stereotypen in den Massenmedien (wie auch korrupte Polizisten und Politiker) klammern die wesentlichen, die Familien betreffenden Themen (Dekadenz, rasante Veränderungen der Gesellschaftsstruktur durch Immigranten und Mafiasysteme) in der Regel aus. Die Anzahl junger Männer, die keine Chance auf eine adäquate (bzw. von ihnen akzeptierte) gesellschaftliche Rolle haben, bestimmt darüber, ob der Volksgeist durch Kampfideologien und Kriegsreligionen (Kap. III B) neurotisch oder psychotisch zu werden droht. Der auf langfristige Ordnungen ausgerichtete Volksgeist sieht Politik vor allem als Gestaltung und Interessenausgleich (früher von Ständen und Geschlechtern, heute von Klassen und ethnischen Gruppen).

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Erwerbssinn und Rationalität

Ebenso wie der Wille zur Macht kann auch der lebensnotwendige Erwerbssinn als Teil des Überlebensinstinktes zum neurotischen Erwerbstrieb und zur psychotischen Erwerbsgier gesteigert werden. Das lateinische Wort Ratio bezeichnete ursprünglich die Kaufmannsrechnung. Das Ergebnis erschien oben im Caput, aus dem später das Wort Kapital gebildet wurde. Ratio bedeutete ursprünglich Abrechnung und Berechnung, Übersicht, Rechenschaft, Verhältnis und Beziehung, Rücksicht und Erwägung, methodische Planung der familiären und öffentlichen Ökonomie. Von Xenophon wurde ein sokratischer Dialog über das vernünftige Wirtschaften überliefert, der „Oekonomikos“. In ihm wird die Tugend der Selbstbeherrschung (sophrosyne) in den Mittelpunkt gestellt. Nur wer diese Tugend beherrsche, könne auch erwarten, daß andere Mitarbeiter sich ihr freiwillig unterwerfen. Wenn dies nicht der Fall sei, entstehen tyrannische Zustände, eine Art Befehlswirtschaft wie im Feudalismus (und später im Sozialismus). Rationales Wirtschaften ist so verstanden Verzicht auf sofortige Bedürfnisbefriedigung und rechnet langfristig vorausschauend und mit den übrigen Teilnehmern der Wirtschaft. Dieser Text war bei den Römern der beliebteste aus der gesamten griechischen Literatur und zeigt, daß die Ursprünge des Kapitalismus in der römischen Rationalität zu suchen sind. Werner Sombart vertrat die Auffassung, daß der moderne Kapitalismus sich nie hätte entwickeln können, wenn nicht 1494 von Luca Pacioli, einem Franziskanermönch und

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Mathematikprofessor, die doppelte Buchführung entwickelt worden wäre. Dadurch wird das Koordinatensystem von Kapitalwerten berechnet, in welchem das Eigenkapital des Unternehmers dem Fremdkapital gegenübergestellt wird. Kreditwürdig ist er, wenn er mit seiner Unterschrift dafür bürgt und sich verpflichtet, die Rechte des Kreditgebers anzuerkennen. Die Ratio läuft darauf hinaus, das Eigenkapital wie Fremdkapital und das Fremdkapital wie Eigenkapital zu behandeln. Dieser rational begründete Kapitalismus ist nicht lediglich auf die Gewinnorientierung bedacht, sondern beruht auf einer soliden Kostenrechnung. Rationalität war vor allem erforderlich, nachdem das Papiergeld in den Nationalökonomien ab Anfang des 19. Jahrhunderts eingeführt worden war. Für die Nationenbildung war entscheidend, daß eine solide Grundlage für den wirtschaftlichen Austausch geschaffen wurde, der auf Kredit, Glaube und Vertrauen beruhte. Die Metapher für diesen monetären Nationalismus stammte von Fichte: „Das Geld aus dem Nichts schafft sich eine Nation aus dem Nichts.“ Die wechselseitigen Verpflichtungen, der Wirkungskreis des Vertrauens, mußten nun die gesamte Nation an einem einheitlichen Austausch teilhaben lassen, und nicht mehr nur eine kleine Elite von Finanzexperten. Aber hierfür war der von Goethe in Faust II geforderte „mäßige ruhige Sinn“ erforderlich, um sich gegen das „Durchrauschen des Papiergelds, das Anschwellen der Schulden, um Schulden zu bezahlen“ schützen zu können. Das um 1800 eingeführte Papiergeld war die erste Form einer „Verbriefung“. Für alle Verbriefungen ist die Werthaltigkeit der dahinterstehenden Deckung entscheidend. Bis 1914 entsprach eine Mark genau und verläßlich 0,358 Gramm Feingold. Zur rationalen Ökonomie in diesem umfassenden Sinne gehört auch die soziale Verantwortung des Unternehmers für seine Belegschaft. Beispiele hierfür waren die Sozialprogramme von Carl Zeiss und Friedrich Krupp vor dem Ersten Weltkrieg. Sie sicherten sich damit die Loyalität der Facharbeiterschaft gegenüber den abstrakten Klassenkampfideologen, den Sozialisten. Zugleich bereiteten sie den Boden für den Sozialstaat, der durch die Bismarcksche Sozialgesetzgebung weltweit vorbildlich wurde und in der Reichsversicherungsverordnung (RVO) von 1911 gipfelte. Nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) von 1900 war dies die zweite gelungene Kodifikation des zweiten Deutschen Reiches. Sie galt bis zur Zeit nach der Wiedervereinigung und wurde dann erst schrittweise durch die einzelnen Bücher des Sozialgesetzbuches (SGB) abgelöst. Insgesamt waren die Bismarckschen Sozialgesetze die intelligente Antwort eines lernfähigen Systems auf die Bedrohung durch die marxistisch indoktrinierte Arbeiterbewegung. In der bürgerlichen Eigentumsökonomie werden Kapital und Kredite durch Belastungen des Grundeigentums abgesichert und dementsprechende Institutionen (Grundbuchämter, Zivilgerichte und die Möglichkeiten der Zwangsvollstreckung) geschaffen und vom Staat gewährleistet. Nach dem Papiergeld war der deutsche Pfandbrief eine zweite Form der Verbriefung. Als Deckung für den Pfandbrief wurden nur Hypotheken und Grundschulden zugelassen, die unterhalb eines Beleihungsrahmens von 60 Prozent des Grundstückswertes liegen. Zugelassen wurden auch Schuldverpflichtungen öffentlich-rechtlicher Körperschaften. Pfandbriefe mußten „fristenkongruent“ sein, das heißt in ihrer Laufzeit den Grundpfandrechten entsprechen. Deswegen haben Pfandbriefe in 69

der Regel eine Laufzeit von 25 bis 30 Jahren. All dies wurde durch das frühere Hypothekenbankgesetz (HBG) und das heutige Pfandbriefgesetz (PfandBG) geregelt. Dies alles begründete die eigentliche Solidität bürgerlicher Gesellschaften, als solide Grundlage für die Solidarität des Sozialstaats. Diese Solidität geht in Fäulnis über (die sich oft als antibürgerliche Protestbewegung tarnte), wenn – um soziale Forderungen zu beschwichtigen – der Weg zur inflationären Verschuldung beschritten wird oder wenn faule Hypotheken und Kredite in unübersichtlichen Finanzprodukten gebündelt und über die ganze Welt verteilt werden. Diese Fäulnis der Kapitalschöpfung breitete sich dann in den soliden Volkswirtschaften aus, wobei auch eine naive Amerikagläubigkeit der Europäer ausgenutzt wurde. Erst nach dem Wahlsieg der rot-grünen Koalition 1998 wurde eine neue „Finanzmarktpolitik“ zugelassen, die den Regeln des soliden Pfandbriefgesetzes eklatant widersprach. Es wurde zugelassen, daß nicht nur Privat-, sondern auch Landesbanken und staatlich beeinflußte Banken (wie die IKB und KfW) amerikanische Schrottpapiere im Wert von schätzungsweise einer Billion Euro gekauft haben. Auch die US-SubprimeHypotheken waren durch Grundpfandrechte gedeckt, deren Werthaltigkeit aber nicht nachprüfbar war. Die Banken verkauften diese unübersichtlichen Papiere an „Zweckgesellschaften“, welche ihrerseits durch „Verbriefung“ der gekauften Schrottpapiere sich refinanzieren sollten. Warren Buffet hatte schon früh erkannt, daß es sich dabei um „finanzielle Massenvernichtungswaffen“ handelte. Die Folgen (Staatsverschuldung, Verlust von Arbeitsplätzen und Ersparnissen) können sich zu einem ökonomischen Kreislaufkollaps bündeln (vgl. dazu Kap. III B 2.1). Vor dem bürgerlichen Staat stand der Feudalstaat, der diese Möglichkeiten der Kapitalschöpfung noch nicht entwickelt hatte. Und danach gab es die sozialistischen Systeme, welche ebenfalls mit Befehlen die Ökonomie bestimmen wollten. Sie lebten in dem rationalistischen Wahn, die Wirtschaft langfristig „planen“ zu können. Sie verspielten damit lediglich die ökonomischen Ressourcen der bürgerlichen Gesellschaft. Ihre Funktionäre traten wie Karikaturen der in Jahrtausenden entstandenen Feudalstrukturen auf. Walter Ulbricht mit seinen „Zehn Geboten der sozialistischen Moral“ (Beispiel: „Sei ehrlich“) sogar wie Moses persönlich. Dementsprechend scheiterten sie beinahe ebenso schnell wie das „Tausendjährige Reich“ Adolf Hitlers. Der familiäre Erwerbssinn ist auf Autarkie gerichtet, auf Sicherung der Lebensgrundlagen. Die entsprechende Rationalität der vielen Personen in der bürgerlichen Eigentumsökonomie muß dann auf nationaler Ebene Institutionen einführen, welche die gesellschaftlichen Produktionsprozesse regulieren und zu deren Autonomie beitragen. Kennzeichen vieler Gesellschaften in der Dritten Welt ist, daß diese grundlegenden ökonomischen Institutionen nur rudimentär oder gar nicht geschaffen wurden. Die meisten leben noch in einer vorrationalen magischen Erwartungshaltung, der himmlische Herr oder der frühere Kolonialherr werde sich schon verpflichtet fühlen zu helfen. Dies ist der eigentliche Grund dafür, daß die Billionen an „Entwicklungshilfe“ nach dem Zweiten Weltkrieg mit viel gutem Willen und wenig anthropologischem Grundwissen weitgehend in den Sand gesetzt wurden.

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B

Sozialordnungen

Der geschilderte Zusammenhang eines vernünftigen Grundwissens mit einem tragfähigen Familiengeist und Erwerbssinn zeigt, daß die privaten Formen der Lebensgestaltung untrennbar mit der Sozialordnung, dem Volksgeist und der Kultur zusammenhängen. Alle zusammen integrieren erst Lebensformen zu langfristig tragfähigen sozialen Lebensordnungen. Dies beginnt schon auf der familiären Ebene, die als „Genusstruktur“ eine „Mischverfassung“ anstreben muß, um die Interessen der Geschlechter aufeinander abzustimmen. Ebenso muß die Wirtschaftsordnung auf eine Mischverfassung berufsständischer Interessen hinauslaufen, in denen öffentliche und private Einnahmen und Ausgaben auszubalancieren sind. Schließlich müssen auch die kulturellen einzelnen Lebensformen zu einer Gesamtkultur sich zusammenfinden. Erst dann kommt es zu der Erinnerung an die wesentlichen historischen Ereignisse, die über die bloßen Events, die „Marksteine und Meilensteine“ der politischen Rhetorik hinaus gemeinsame Grundlage für ein kollektives Gedächtnis sein können. Einzelne Lebensformen sind immer variabel und partial und beliebig. Sie müssen sich in Lebensordnungen durch Genusstrukturen, Mischverfassungen, Gewaltenteilung und Verfassungen in einem ständigen aktiven Prozeß organisieren. All dies sind auch theoretische Grundlagen für die interkulturelle Philosophie, welche die Widersprüche und Konfliktzonen der Einwanderungsgruppen in neuen Synthesen aufzulösen bestrebt ist.

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Volksgeist

Die zufällig zusammengewürfelten Bewohner eines geographischen Gebiets sind die Bevölkerung. Sie müssen sich als Volk (als politischer Begriff verstanden) erst formieren. Volk, Nation und Identität sind Themen einer idealistischen Ethik (Kap. I A 4). Die Volksmasse steht Obrigkeiten oder Führungsschichten gegenüber. Als „niederes“ Volk kann es theologisch, ökonomisch oder militärisch in bestimmte Richtungen gedrängt werden, als Gottesvolk, Arbeits- und Konsumvolk oder Kriegsvolk. Als Kollektivpersönlichkeit wurde das Volk erst verstanden, als Herder es mit der Nation gleichsetzte. Der Nationalcharakter, der Geist oder die Seele eines Volkes, verschafft sich Ausdruck in seinen Sitten, seiner Mythologie, seiner Sprache, seinen Liedern und Sagen. Er wird damit zur Größe, die das Hauptgesetz bei allen großen Erscheinungen der Geschichte ausmacht. Angeregt wurde Herders Volksgeistlehre durch Montesquieu, dessen „Geist der Gesetze“ vom Gemeingeist einer Nation bestimmt wird, welcher geographische Eigentümlichkeiten, Religion, Sitten und Lebensstil umfaßt. Mit der Doppelparole „Einheit und Freiheit“ beeinflußte der Volksbegriff die Nationalbewegungen zunächst Europas und später den Nationalismus der Kolonialvölker. Hegel baute die Lehre vom Volksgeist systematisch aus. Er habe die Funktion, Geschichte, Religion und die Grundlagen der politischen Freiheit wie in einem Band zusammenzuflechten. Geschichte bildete sich für ihn fort in einer Stufenfolge welthistorischer Völker und Volksgeister. Die Dialektik dieser Volksgeister münde in die Genese des Weltgeistes, der die Weltgeschichte bestimmt.

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Diese Gedanken beeinflußten auch die Völkerpsychologie, die als kollektive Ergänzung der Individualpsychologie verstanden wurde. Nach deren Verabsolutierung durch die Volkstumsideologie des Nationalsozialismus werden Begriffe wie Volksgeist oder Volksseele als Gespenster der Vergangenheit empfunden, sie wurden aus dem „Diskurs“ verbannt. Die mit diesem Bannfluch verbundenen krisenhaften Erscheinungen – die Verwandlung von Nationen in soziale Aggregate – sollen in Kapitel II B behandelt werden. Sie verhindern vor allem eine vernünftige Haltung gegenüber der Eigenart und dem Eigenrecht einer Nationalkultur. Die Identität mit einer solchen Kultur erfordert eigene Kategorien und eine besondere Stufe der Kommunikation, welche über die bloß vitale oder rationale hinausgeht. Identität ist nach einer Kurzformel die Teilnahme und Teilhabe des subjektiven Geistes am objektiven Geist. Zu diesem gehört alles, was in Generationen getan, erfahren, produziert und erkannt wurde; also alle Kulturgebiete: Sprache; Gemeinschaft und Gesellschaft; Handwerk, Technik und Wirtschaft; Mythos und Religion; Sitten und Ethos; Institutionen, Staat, Politik und Recht; Kunst, Dichtung, Wissenschaft und Philosophie. Faktisch bedeutet Identität aktive Teilnahme an den sozialen Konflikten, der sozialen Arbeit und Solidarität. Geistig bedeutet sie Anteilnahme und Mitwirkung an den ideellen Auseinandersetzungen der genannten Bereiche des objektiven Geistes. Nicht nur wegen dieser Vielfalt der Kulturgebiete ist der „Diskurs“ mit Globalisierern, Universalisten und Kosmopoliten außerordentlich diffus, sondern auch wegen der verschiedenen Stufen der Identität. So kann jede ideelle Zielorientierung verlorengehen, welche politischen Strukturen erstrebenswert sind und in welchem Bereich des klassischen Spektrums der politischen Verhaltensmöglichkeiten (Trennungsstrategien oder Verbindungen und Allianzen) verantwortlich gehandelt werden muß.69 Ausgangspunkt ist ein Archetypus: die Sehnsucht nach Einheit mit der Familie und dem überschaubarem Stamm, von dem man genealogisch „abstammt“. Man will autochthon („eingeboren“) sein. Hier sind die Verantwortungen gegenüber den Angehörigen und die Grenzen zu den Fremden klar geregelt. Der folgende Überblick über die darüber hinausgehenden Verbindungs- und Trennungsstrategien innerstaatlicher und zwischenstaatlicher Beziehungen (unserer sozialen Evolution seit der Jungsteinzeit) macht das Ausmaß der Komplexität deutlich. Stufen der Identität Genealogisch (Herkunft) Ethnisch (völkische Einheit)

Willensnation

Politisch

Staatsnation Effizienzgemeinschaft (Sicherheit, Wirtschaft, Verwaltung) Solidargemeinschaft

Religiös, kulturell

Bekenntnisnation, Kulturnation Traditionsgemeinschaft Identifikationsgemeinschaft

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Konfliktmöglichkeiten Völkermord

Verbindungsmöglichkeiten Zentralistischer Einheitsstaat

Teilung von Territorien

Bundesstaat

Dominanz (z. B. durch demokratische Mehrheitskontrolle, Leugnung der Minderheit oder Repression)

Staatenbund

Assimilation (friedliches Aufgehen einer Volksgruppe in eine andere)

Ökonomische Verflechtung

Konkordanz als organisierte Koexistenz von Volksgruppen

Religiöse Beeinflussung (z. B. durch Mission)

Politischer Synkretismus (völkische Inhomogenität wird neutral oder positiv bewertet)

Schutzallianzen

1.1

Leistungsgemeinschaft

Die europäische Einigung hat zu keinem Einheitsstaat geführt. Die wirtschaftlichen Verflechtungen und Regulierungen ändern nichts daran, daß der Nationalstaat die Grundlage der Leistungsgemeinschaften so lange darstellt, wie Steueraufkommen und Finanzierung des Sozialsystems auf nationalstaatlicher Grundlage beruhen und unterschiedlich bleiben. Dies gilt erst recht seit der Finanzkrise von 2008, als die Steuerzahler für Billionen Dollar Wettverluste der Banken und für das „faule“ Kreditsystem der USA einstehen mußten. Leistungen werden in Form von Steuern und Abgaben entrichtet. Ihnen stehen die Kosten für Sozialleistungen und die weiteren typischen Staatsaufgaben gegenüber, genauso aber auch die Verluste durch Spekulationen auf Kosten der produktiven Realwirtschaft. Alles zusammen ergibt den Staatshaushalt, der Überschüsse oder Schulden produziert. Darüber hinaus gibt es die Handelsbilanz im Verhältnis zu den anderen Leistungsgemeinschaften. Grundlage der Kapitalschöpfung bleibt das Eigentum, das, was nach genauen rechtlichen Regeln verkauft, belastet, verpfändet wird und in das auch vollstreckt werden kann. Auf diesem Eigentumsparadigma beruhen Geld, Kredit und Zins sowie letztlich das ganze System der Kredit- und Kaufkontrakte. Diese funktionierenden Regeln machen letztlich das aus, was als Ordnungsökonomik bezeichnet wird. Es handelt sich um diejenige Theorie, welche konstruktiv und der jeweiligen historischen Situation angemessen praktische Ordnungspolitik vorschreibt. Es geht dabei um die normativen Setzungen, welche gewisse Grundregeln gewährleisten: a) Das Privateigentum ist durch Verfügungsmacht und Verfügungsfreiheit gekennzeichnet. Dies schließt eine Überbelastung des Grundeigentums ohne Eigenkapital aus. Denn wenn Hypothekenkredite nicht zurückgezahlt werden können (weil sie das Einkommen übersteigen oder nicht verhindert wird, daß Hausgrundstücke in „Problemzonen“ verwahrlosen), ist damit kein nachhaltiges Verfügungsrecht verbunden. Dies führt nur zu einer sich ausweitenden Fäulnis des Kreditsystems.

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b) Offene Märkte müssen verhindern, daß sich einzelne Marktteilnehmer vor Konkurrenz abschotten, sei es durch staatliche Regulierungen, durch Zölle oder durch die Dominanz einiger Institute wie des Investment Banking. Hier werden Freiräume, kombiniert mit Fehlanreizen, geschaffen, die wie ein Brandbeschleuniger im Krisenherd der Verbriefungsindustrie wirken. Außenpolitisch werden offene Märkte durch drei Grundorientierungen charakterisiert: die Bereitschaft zum Autonomieverzicht des überwiegend national orientierten Handelsstaates; die Fähigkeit, möglichst viele Handelsbeziehungen zu pflegen; die Förderung der kontinentalen Integration und Kooperation (sowohl in Amerika wie in Europa und Asien). Seit dem 19. Jahrhundert erleben wir einen mit vielen Krisen verbundenen Wachstumsprozeß, in dem die Nationalstaaten als organische Zellen funktionieren müssen. Darüber hinaus müssen sie als Marktstaaten international agieren. „Buten und binnen, wagen und winnen“ hieß das bei den Bremer Kaufleuten. Nationalstaaten sind auf eine Verfassung angewiesen, einen Gesellschaftsvertrag, der allgemein akzeptiert werden muß. Diese Akzeptanz wird nie erreicht, wenn – wie die Spieltheorie fordert – ein anonymer Markt letzte Instanz der Ethik sein soll. Letzte Instanz sind für den Handelnden immer Ideen wie Fortschritt, Solidarität, Gerechtigkeit, Machtkontrolle in der Demokratie. Die Zeiten des Kolonialismus und Faschismus waren Krisenzeiten, weil sie eine unreflektierte mechanische Solidarität – den egozentrischen Volksgeist – propagierten und damit die politische Beteiligung vernachlässigten. c) Die Vertragsfreiheit wird gefährdet, wenn Banken gezwungen werden, Kredite auch sozial Schwachen zu gewähren. Auch dies führte zur Überhitzung der regionalen Immobilienmärkte in den USA und zum Häuserpreisboom, welcher die Hypothekenblase mit üblen Gerüchen zum Platzen gebracht hat. Jede Beschränkung der Haftung verstößt gegen das grundlegende Prinzip der Vertragsfreiheit. Dieser Haftung entzogen sich die Banken, insbesondere die Investmentbanken, durch die raffinierte Umwandlung der riskanten Hypothekarkredite, wobei sie keine Garantie für den in den Verbriefungen zugesagten Schuldendienst übernahmen. d) Die Währungspolitik hat den Hauptzweck, den Geldwert dauerhaft zu stabilisieren. Eine expansive Vermehrung der Geldmenge und die Verbilligung der Kredite führten in den USA ebenfalls zur Aufblähung der Bankbilanzen mit ihren Scheingewinnen und standen am Anfang der Problemkette, die zur Weltfinanzkrise führte. Die Ordnungsökonomik versucht so die Regeln zusammenzufassen, die Krisen und Zusammenbrüche der Marktwirtschaft verhindern und gewährleisten, daß die Marktwirtschaft durch die Menschen akzeptiert wird. Die Marktwirtschaft ist ein außerordentlich komplexes soziales System, weil es aus der Interaktion vieler Menschen besteht. Die Wirtschaftswissenschaft ist eine Sozialwissenschaft, die nach den angemessenen normativen Setzungen in der Wirtschaft sucht. Sie ist damit keine Naturwissenschaft, die mit mathematischen Formeln und Kurven erfaßt werden kann. Die „Analytische Ökonomie“ ist das Gegenteil eines tragfähigen Orientierungswissens, weil sie Handlungsorientierungen aufgrund mathematischer Modelle nur vorspiegelt.70 Der

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„Analyst“ war der Götze, der das Leben (Orientierung) versprach und den Tod (den Kollaps) brachte. In einer funktionierenden Ökonomie ist die Geldnote als Rechengeld in erster Linie keine Ware, sondern das Scharnier zwischen Eigentum, Produktion und Konsum. All diese Operationen dienen der technischen Innovation, der Produktion, dem Verkauf und dem Lebensunterhalt.71 Zur abstrakten Ware – zum von der Realwirtschaft losgelösten Spielgeld – wird das Geld erst im gierdynamischen System der Plutokratie, der Herrschaft der Superreichen. Die Abschaffung des Eigentums im Sozialismus (mit dem utopischen Endziel des Kommunismus) bedeutet letztlich, daß auch das vom produktiven Erwerbssinn geleitete Wirtschaften aufhört, und es bleibt die bloße Produktion. Dann wird das Besitzsystem durch das (feudale oder sozialistische) Befehlssystem, die Planwirtschaft, ersetzt. Güterknappheit und nicht Überproduktion sind dann das zentrale Problem. Im Staatssozialismus gab es keine eigentliche Wirtschaftstheorie, sondern nur den mit einer soziologischen Analyse (Klassenunterdrückung) gerechtfertigten Terror. Die Funktionäre erschienen wie Karikaturen des Adels – beziehungsweise des feudalistischen Befehlssystems – wie ein Treppenwitz der Geschichte. Von Eigentum, Zins, Geld, Banken, Preisen und Grundbüchern blieben lediglich Imitate übrig. Das Eigentum wurde zum abstrakten Volkseigentum. Insbesondere wurde die komplexe Vielfältigkeit unternehmerischen Verhaltens, welches die eigentlichen Leistungen einer Volkswirtschaft bündelt, unterdrückt. Der Unternehmer hat Kreditverträge mit den Banken zu schließen, für die er Vermögenssicherheiten anbieten muß; er hat mit Lieferanten über Produktionsmittel zu verhandeln; er hat Lohnverträge auszuhandeln; und schließlich für den Absatz Kaufverträge einzuwerben. Nur wenn ihm diese fünf Aufgaben kreativ und innovativ gelingen, bereichert er nicht nur sich, sondern auch die Gesamtwirtschaft. 1.2

Demokratie und Solidargemeinschaft, Mischverfassung und Gewaltenteilung

Ausgangspunkt war die natürlich gewachsene Urdemokratie auf Stammesebene. In ihr entwickelte sich ein für alle vorteilhaftes Gleichgewicht von Volksversammlung, Rat der Alten und Häuptling beziehungsweise König. Mit dem Bevölkerungswachstum gab es bei größeren sozialen Gruppen die Möglichkeit einer „segmentierten“ Gesellschaft. In ihr wurden zwischen gleichartigen Gruppen, meist auf Stammesebene, Bündnissysteme zur Vermeidung gewaltsamer Konflikte geschmiedet. Mit der weiteren Zunahme der Bevölkerungsdichte war in der Regel der Zusammenbruch der Urdemokratie verbunden. Es bildeten sich Großreiche mit Theokratien oder Monarchien. Den asiatisch-orientalischen Despotien fehlten in der Regel Kontrollmechanismen gegen die Paranoia des autokratischen Herrschers und die anarchisch durchgeführten Thronfolgestreitigkeiten. Es fehlte vor allem das Bestreben, Kompromisse zwischen verschiedenen Gruppen zu finden und diese in einer Mischverfassung für eine gewisse Dauer durchzusetzen. Es ging lediglich um aktuelle Lösungen von Interessenkonflikten.

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Die große Leistung von Montesquieu bestand darin, in seinem 1748 erschienenen Werk „Vom Geist der Gesetze“ ein verfassungsrechtliches Prinzip zu entwickeln, wonach diese Gewaltenteilung von Rechtsprechung, gesetzgebenden Instanzen und Exekutive zum Grundprinzip jeder demokratisch ausgewogenen Republik erhoben wurde. Dadurch wurde es möglich, auch Großgesellschaften auszubalancieren und vor den Gefahren der paranoiden Machtausübung zu bewahren.72 Die genannten demokratischen Institutionen von Kleingruppen auf solche Großreiche zu übertragen, war außerordentlich riskant. Wenn es gelang, war es die Ausnahme und erfolgte überwiegend in indoeuropäischen Kulturen, zuerst im Hethiterreich.73 Die klassische Ausprägung größerer Demokratien erfolgte in Griechenland. Dort wurde durch Aristoteles auch erstmals eine vergleichende Theorie der Demokratietypen ausgearbeitet und die verschiedenen Verfassungen wissenschaftlich erforscht. Ein weiteres Beispiel war die frühe Römische Republik. Nach dem Zusammenbruch dieser Demokratien in der Antike durch despotische Monarchien der hellenistischen Zeit, die römischen Kaiser seit Augustus und die christlichen Theokratien schien die Demokratie bis zum Mittelalter eine vorübergehende Ausnahme in der Geschichte gewesen zu sein. Erst durch die demokratischen Revolutionen in Europa (in der Schweiz, in England und Holland) kam es zu einer Wiederbelebung und heute durch die Weltmacht USA zu einem weltweiten Gegensatz zwischen demokratischen und despotischen Regierungsformen. Hauptkennzeichen der europäischen demokratischen Revolutionen war, daß sie weniger auf philosophischen Entwürfen beruhten, sondern allenfalls auf Erinnerungen an die antiken Demokratien. Sie waren vor allem das Ergebnis dramatischer Kämpfe des Bürgertums mit Feudalismus und Absolutismus. Sie führten auch nicht direkt zu demokratischen Systemen im heutigen Sinne, sondern zu bürgerlichen Zwischenformen mit Mischverfassungen, in denen die Herrschaft des Landadels und des städtischen Patriziertums gesichert wurde. Die soziokulturelle Gesamtbilanz solcher Leistungsgemeinschaften ermöglicht erst die Solidargemeinschaft. In den sozialen Sicherungssystemen kann über die Familienfürsorge hinaus ein System der sozialen Sicherung gegen die Lebensrisiken (Invalidität, Unfall, Alter, Hinterbliebenversorgung) gewährleistet werden. Soziale Gesetze, vor allem zur Versorgung der Kriegshinterbliebenen, gab es schon bei Hethitern, Athenern und Wikingern. Solons Reformen im Athen des späten siebten Jahrhunderts liefen auf eine Bodenreform, einen Kompromiß zwischen Aristokraten, Neureichen, Handwerkern und Besitzlosen hinaus, welcher durch eine Mischverfassung („Eunomia“) abgesichert wurde. Dadurch wurde ein selbstzerstörerischer Bürgerkrieg abgewendet.74 Die Entwicklung eines sich verknüpfenden Systems von Sozialgesetzen (Kriegsopferversorgung, Kranken-, Unfall- und Invalidenversicherung sowie Altersrente) führte dann zur Geschichte des Sozialstaats. Dabei orientierte man sich am Prinzip der Familiensolidarität und übertrug dies auf den Solidarstaat. Die Geschichte des Sozialstaats und seine verschiedenen Ausprägungen wurden dadurch bestimmt, welche sozialistischen, sozialdemokratischen, liberalen oder konservativen Ideen durchgesetzt werden sollten. 76

Stets geht es darum, in welchem Ausmaß eine „Umverteilung“ des Bruttosozialprodukts zu erfolgen hat. Ob dies durch allgemeine Steuern oder spezifische Beiträge finanziert werden soll, ob großzügig oder sparsam, staats-, verbands- oder marktfreundlich gehandelt wird. Der Sozialstaat kann die Tendenz haben, alle zu erfassen oder nur diejenigen, welche ihre Lebensrisiken nicht über den Markt durch Versicherungen, Betriebsrenten und Grundbesitz absichern können. Bei Demokratien mit Mehrheitswahl gibt es eine Tendenz zu zwei starken Parteien: einer Linkspartei, deren „Volksfreunde“ sich für die Unterschicht ins Zeug legen, und einer konservativen Partei, die den Sozialstaat begrenzen will. Demokratien mit Verhältniswahlen lassen dagegen eine Vielzahl von Parteien zu, wodurch die Chance für den Mittelstand steigt, wechselnde Koalitionen in ihrem Interesse durchzusetzen. Der Mittelstand stimmt nur dann „links“, wenn aus Sozialisten Sozialdemokraten geworden sind. Dabei gilt es, einen Interessenausgleich der verschiedenen ökonomischen Schichten zu finden: der Primärwirtschaft (Landwirtschaft und Bergbau); der sekundären Produktionswirtschaft (Industrie und Handwerk); der Tertiärwirtschaft (Dienstleistungen und Handel) und der Quartärwirtschaft. Letztere dient der Kultur, Information und der Familie. Sie besteht aber auch aus den Ausgeschlossenen oder Abseitsstehenden, der Schwarz- und Schattenarbeit, der bloßen Selbsthilfe und des Tauschhandels. Dabei gibt es eine allgemeine Grundregel: Je mehr der Sozialstaat wächst und Aufgaben übernimmt, desto mehr nimmt die gegenseitige Hilfeleistung einer selbstverantwortlichen Gesellschaft ab. Der Staatsrechtslehrer und Nationalökonom Lorenz von Stein (1815 bis 1890) versuchte zwischen diesen Positionen – als Hegelianer auch zwischen Links- und Rechtshegelianern – zu vermitteln. Er erkannte schon vor Marx die volle Bedeutung der sozialen Frage in den industriellen Gesellschaften und gilt als Begründer der modernen Sozialwissenschaft. Seine „Verwaltungslehre“ versuchte alle Probleme des modernen Verfassungs-, Verwaltungs- und Sozialstaats konstruktiv zu lösen. Karl Jaspers empfahl deswegen auch Philosophiestudenten das Studium seiner Werke. Diese wurden aber durch die marxistischen und neomarxistischen Theoretiker weitgehend verdrängt. Denn die Sozialtheorie von Lorenz von Stein war die Grundlage der Bismarckschen Sozialreformen, die mit der Reichsversicherungsordnung von 1911 abgeschlossen wurden. Er machte dadurch die bürgerliche Gesellschaft zu einem lernfähigen System, das die staatsbürokratisch-sozialistischen Volksdemokratien überleben konnte. Deswegen löste all dies bei den Marxisten heftigen Zorn über die „Sozialfaschisten“ aus. Im Anschluß an Hegel ging er von einer Wechselwirkung dreier Kräfte aus: der Ideenlehre des Geistes, der historisch gewachsenen Gemeinschaft und ihrer Verfassung und der sich daraus entwickelnden Geschichte des Bildungswesens. Auf dieser Grundlage können sich Wissenschaft und Philosophie entfalten und der Gemeinschaft ein Orientierungswissen bieten. Familie, Staat, Gesellschaft (mit den Untersystemen Ökonomie, Wissenschaft, Kultur und Kirche) wurden differenziert gesehen. Damit überwand er den engen Vorstellungsrahmen dualistischer Klassenkampfideologien oder starrer dialektischer Entwicklungsgesetze. Alle Erscheinungen der menschlichen Gemeinschaft beruhten für ihn auf einem komplizierten Verhältnis zwischen 77

dem auf Transzendenz gerichteten und dem endlichen Ich des Menschen, dem persönlichen Ich der Gemeinschaft. Das Ineinandergreifen von Individuum und Gemeinschaft war für ihn kein fixierbarer Prozeß. Staat und Gesellschaft können nicht aus einem fiktiven Wesen des wirklichen Menschen abgeleitet werden, und dies gilt auch umgekehrt. Durch diesen elastischen idealistischen Personalismus schuf er die Basis einer realistischen Staats- und Gesellschaftstheorie, welche die bedrohte Persönlichkeit vor den Angriffen organisierter gesellschaftlicher Mächte zu schützen vermochte. Diese Identifizierung der Staatsidee mit der Idee der Persönlichkeit sollte das politische System elastisch und disponibel machen, sowie auf nicht vorhersehbare Verwaltungssituationen vorbereiten.75 Dazu gehören heute die Rezessionen, die den Wohlfahrtsstaat unter Druck setzen, sowie der internationale Wettbewerb, der die Institutionen des nationalen Sozialstaats auf den Prüfstand stellt. Zuwanderungsströme aus den Regionen mit absoluter Armut, die nur unzulänglich gesteuert werden können, verschärfen noch die Frage nach der „Gerechtigkeitslücke“, nach der Verständigung über moralische Prinzipien der Gleichheit, der Bedürftigkeit und der auch auf eigenen Beiträgen beruhenden Sozialversicherung. 1.3

Immunsystem, Symbiosen und Allianzen

Jede soziale Ordnung setzt voraus, daß sie ihren Mitgliedern geistige Orientierung, Sicherheit gegen Feinde und wirtschaftliche Stabilität gewährleistet. Der französische Indologe Georges Dumézil hat nachgewiesen, daß diese drei Grundaufgaben in den indoeuropäischen Kulturen besonders akzentuiert waren. Dies wirkte sich in ihrer Theologie und Mythologie, den Epen und der sozialen Organisation (von der feudalistischen Ordnung bis zur Extremform der Kastenbildung) aus. Zunächst gibt es die militärische Macht des Königs, der aus dem Adel gewählt wird und auf dessen Unterstützung angewiesen ist. Die militärische Macht teilte sich grundsätzlich in die des Adels (der Ritter) und die des Volksheeres (der Fußsoldaten). Die wirtschaftliche Macht als zweite Grundaufgabe war die der Viehzüchter und Ackerbauern, der Handwerker (und später industriellen Techniker) sowie der Kaufleute. Die obere Kaste der Brahmanen-Priester trat als Richter, Überwacher und Ausbilder auf. Sie erhob den Anspruch, vom König als ebenbürtig behandelt zu werden. Von ihnen hänge nämlich der gute Zustand des Königreichs ab. Diese Behauptung wurde immer wieder von Priestern, Philosophen und Ideologen erhoben. Im Zuge der weiteren sozialen Differenzierung entwickelte sich eine neue Schicht der nicht als staatstragend anerkannten kleinen Intellektuellen – das spätere revolutionäre Potential. Es waren dies die Schreiber, Buchhalter, Schriftsteller, Künstler und andere freischwebende Intellektuelle – die Freigeister. Soweit diese drei sozialen Grundfunktionen bedroht sind, müssen soziale Ordnungen Abwehrstrategien entwickeln. Diese können zwar nicht unmittelbar mit dem biologischen Immunsystem der Organismen verglichen werden. Menschen unterscheiden sich von Tiergesellschaften eben dadurch, daß sie rational handeln, sich an geistigen Ideen

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orientieren und existentielle (unbedingte) Entscheidungen treffen können. Es gibt jedoch auffällige Parallelen. Das Immunsystem ist ebenso lebenswichtig wie das endokrine System und der Stoffwechsel, es schützt vor Infektionen und Krebsherden. Dabei gibt es Virusinfektionen, die ausschließlich schädlich sind. Mit Bakterien kann es dagegen auch nützliche Symbiosen geben. Immunsysteme setzen nicht nur die Abwehr- oder Helferzellen voraus, sondern zunächst sogenannte Gedächtniszellen. Diese sind für die Abstimmung der Immunantwort notwendig, weil sie Erfahrungen gespeichert haben, welche Eindringlinge oder Veränderungen schädlich, neutral oder gar nützlich waren. Die Immunabwehr setzt damit ein historisches Langzeitgedächtnis voraus, das der Lebensdauer des Organismus entsprechen muß. Oder anders ausgedrückt: Ist die Erinnerung nicht historisch langfristig, verkürzt sich auch die Lebensdauer. Dies hat sich bei Populationen gezeigt, denen es gelang, sich auf „Inseln der Seligen“ zu retten; wie die Ureinwohner der Kanarischen Inseln, die Guanchen, die zum Teil unmittelbar von der prähistorischen europiden Cro-Magnon-Bevölkerung abstammten. Die spanischen Eroberer stellten sie vor die Wahl, sich versklaven zu lassen oder ausgerottet zu werden (mit Ausnahme der attraktiven Frauen und Kinder). Ihre militärischen Siege waren nur vorübergehend (der Ort der spanischen Niederlage auf Teneriffa heißt heute noch „La Matanza“ – das Gemetzel). Denn die eingeschleppten Seuchen dezimierten die Kämpfer in wenigen Monaten (der nahegelegene Ort ihrer Niederlage heißt „La Victoria“). Die Guanchen hatten zwar ein komplexes Sozialsystem und eine monotheistische, aber dennoch tolerante Religion. Wegen ihrer nur sporadischen Außenkontakte mit vereinzelten Seefahrern fehlte ihnen das Immunsystem – die Erfahrung –, um mit der Grausamkeit und Hinterlist ihrer Eroberer rechnen zu können. Friedensverhandlungen wurden oft dazu mißbraucht, die Guanchenkönige gefangenzunehmen und so den Widerstandsgeist zu brechen. So geschah es auch Tanausu, dem letzten Stammeskönig auf der Insel La Palma. Er sollte dem spanischen König als Trophäe vorgeführt werden, zog es aber vor, während der Überfahrt nach Spanien in Schweigen zu verfallen und den Hungertod zu wählen. Bei der Immunabwehr gibt es eine äußere und eine innere Front. Die dendritischen Zellen sind bevorzugt an den Eintrittspforten des Körpers, also in Haut und Schleimhäuten, angesiedelt. Tauchen bakterielle Molekülstrukturen auf, werden Informationen darüber den anderen Abwehrzellen „präsentiert“. Dies sind zunächst die weißen Blutzellen und dann die im Blut kreisenden Antikörper. Die weißen Blutzellen wandern gezielt aus dem Knochenmark heraus durch die Blutbahn zu dem Gewebe, das durch Erreger beschädigt wird. Eine besondere Sorte der weißen Blutzellen, die neutrophilen, verwandeln sich zu Freßzellen, wenn sie den Erreger erreicht haben, indem sie ihn umschlingen, in ihr Zellinneres aufnehmen und dabei den Erreger und sich selbst – wie bei einem Opfertod – vernichten. Manche Bakterien wie die Streptokokken versuchen die Abwehr schon an der vordersten Abwehrfront zu durchbrechen, indem sie die Makrophagen mit Toxinen angreifen.

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Dabei arbeitet das Immunsystem nicht automatisch und ist nicht einseitig gegen Eindringlinge gerichtet. Auch eigene, unzureichend entwickelte Abwehrzellen müssen einer Qualitätskontrolle unterliegen und vernichtet werden, wenn ihre Rezeptoren defekt sind oder sie sich gegen körpereigene Strukturen richten. Dabei steht das Immunsystem in einem komplexen Informationsaustausch mit dem Gehirn und dem Nervensystem (vor allem bei Schmerzwahrnehmungen). Auch Fieberschübe, die im Kampf gegen Krankheitserreger helfen sollen, werden von bestimmten Gehirnregionen gesteuert. Diese Kommunikation findet über Botenstoffe statt, die auch von Nervenzellen produziert werden können. Bei all diesen komplexen Wechselwirkungen geht es nicht nur darum, das Abwehrsystem zu stimulieren, sondern auch in bestimmten Fällen seine Aktivität zu drosseln. Gerade bei den Immunschwächeviren, wie dem Aidserreger, kommt es auf die genaue Dosierung der Immunabwehr an. Bestimmte Typen von weißen Blutzellen werden als Wirtszellen von den Viren benutzt und lähmen durch eine zu starke Abwehrreaktion die Abwehrkraft. Dies betrifft bei Aids die T-Killerzellen. Bei Gesellschaften nennt man diese Feinabstimmung „Verhältnismäßigkeit der Mittel“. Allergische Reaktionen beruhen vor allem darauf, daß das Wechselspiel zwischen Immun- und Nervensystem gestört ist. Nicht nur äußere Schadstoffe, sondern auch vom Nervensystem produzierte Botenstoffe können Allergien auslösen. Schuldgefühle, Verzärtelung und übertriebene Fürsorge sowie Angst vor Allergien können die Ursache sein. Dies kann als Metapher für den Ordnungsfaschismus gelten, der übernervös – allergisch – auf äußere Einflüsse oder ethnische Konflikte mit Fremden im eigenen Land oder Unterdrückung eigener Volksangehöriger im Ausland reagiert. Eine nur leicht veränderte Struktur des Immunsystems kann zu den Autoimmunleiden führen. Dann greift das Abwehrsystem des Organismus eigene Körperstrukturen an und zerstört sie. Im Informationssystem, das fremde Molekülstrukturen „präsentieren“ soll, genügt nur eine leichte Variante eigener molekularer Strukturen, daß diese als fremd wahrgenommen und dann angegriffen werden. Autoimmunkrankheiten können als Schlüsselmetapher für Bürgerkriege und Klassenkämpfe betrachtet werden. Geringe geistige Unterschiede im Hinblick auf Weltanschauung, Konfession oder der Einstellung zur „gerechten“ Eigentumsverteilung können zum selbstmörderischen Konfessions-, Bürger- oder revolutionären Klassenkrieg führen. Das Augenmaß, welche weltanschaulichen oder sozialen Unterschiede für eine soziale Ordnung noch tolerabel sind, geht dann verloren. Ein geschwächtes Immunsystem kann durch Täuschungsmanöver der Bakterien und Viren unterwandert werden. (Dies als Metapher für Einwanderer, die eine Gesellschaft langfristig unterwandern und sie letztlich schädigen wollen.) Sie können sich dann in bestimmte Zellkomplexe einschmuggeln, so daß die Abwehrzellen sie nicht mehr erkennen. Praktisch alle Viren haben im Lauf der Evolution Tricks entwickelt, um der Wirkung des ihrer Abwehr dienenden Interferons zu entgehen. Sie können den Informationsfluß in der Zelle am Anfang der Signalkaskade zum Immun- und Nervensystem blockieren, die Relaisstationen lähmen oder die Zellen mit einer eigenen Variante des Interferons täuschen. Die meisten Viren nutzen dabei eine Kombination mehrerer Strategien. 80

Viren können auch die Abwehrzellen – die weißen Freßzellen oder „neutrophilen Granylozyten“ – infizieren, die normalerweise sich in der Abwehr aufopfern, indem sie Bakterien verdauen und dabei selbst zerfallen – eine Art Selbstmord-Opfertod unter dem Motto: „Die stärkste Form des Ansichbringens ist das Insichbringen.“ Es kommt also für jedes – individuelle oder soziale – Immunsystem darauf an, den Multitalenten der Bakterien und Viren überlegen zu bleiben. Zusätzlich besteht die Aufgabe, neutrale Parasiten und nützliche Bakterien angemessen zu behandeln. Die von den Helferzellen zu erkennenden Antigene können unterschiedlichster Natur sein; nicht nur auf Bakterien und Viren, sondern auch auf verpflanzte Organe ist angemessen zu reagieren. Die Immunabwehr kennt also kein einfaches Freund-Feind-Bild. Dieses gibt es nur bei Theologen und Ideologen. Insofern war die Staatslehre von Carl Schmitt „ungenügend“, wonach der „Begriff des Politischen“ auf den menschlichen Urakt der FreundFeind-Bestimmung zurückzuführen ist. C. Schmitt war letztlich katholisch geprägt und wollte durch eine „katholische Verschärfung“, eine Stärkung des Katholizismus nach der Niederlage des protestantischen Preußen, dem nihilistischen Unheil der Moderne begegnen.76 Noch schwieriger sind die Entscheidungen des Immunsystems, wenn es sich um Fremdorganismen handelt, die mit dem Wirtskörper lediglich in einem instabilen Gleichgewicht koexistieren. Die Parasiten als „Mit-Esser“ (wie Bandwürmer, Filzläuse oder Milben) haben – auch als soziale Metapher – einen schlechten Ruf. Letztlich leben sie in einem Wirtskörper, der sie ständig ausrotten will. Ihre Existenz ist auch deswegen bedroht, weil sie durch die parasitäre Lebensweise bestimmte Funktionen (z. B. Sehvermögen oder Verdauungssystem) einbüßen. Diese Verluste mußten sie durch evolutionäre Verbesserungen wieder ausgleichen, nämlich durch eine ständige Verbesserung ihrer Abwehrsysteme. Evolutionsbiologen vermuten, daß Parasiten die Vielzeller gezwungen haben, die aufwendige Fortpflanzungsform der sexuellen Vermehrung zu entwickeln. Durch die damit verbundene sexuelle Vielfalt war die nachfolgende Generation eher fähig, Parasitenarten niederzukämpfen, von denen die Elterngeneration noch bedroht war. Dieses komplexe (und damit „geistige“) Differenzierungsvermögen des Immunsystems ist vor allem bei Symbiosen wichtig. Eine Symbiose ist das Zusammenleben artverschiedener Organismen zum gegenseitigen Nutzen.77 Nur die Viren sind zu Symbiosen unfähig. Ihre genetische Information besteht entweder nur aus DNA oder RNA. Sie können nicht autonom wachsen oder sich teilen, sondern benötigen dafür Wirtszellen von Pflanzen und Tieren, die sie in aller Regel mit zum Teil lebensbedrohlichen Infektionskrankheiten überziehen (von Aids über Grippe bis zu Pocken und Tollwut). Ein stabiles Gleichgewicht über die Koexistenz hinaus kennzeichnet die Kooperation symbiotischer Organismen. Auch der Mensch ist letztlich ein Biotop, bevölkert von einer Vielzahl verschiedenartiger Organismen. Bakterien können in unserem Körper als Lebensraum nicht nur unschädlich, sondern sogar nützlich sein, unverdauliche Nahrungsbestandteile zerlegen und dabei wertvolle Vitamine liefern. Sogar in jeder Körperzelle ruhen rudimentäre Bakterien. Man vermutet, daß vor 1,8 Milliarden Jahren sich die ersten „echten“ Zellen (Eukaryoten) dadurch bildeten, daß 81

Bakterien einverleibt, aber nicht einfach verdaut, sondern als Mitochondrien zu Kraftwerken der Zelle wurden.78 Die Wirtszelle blieb für Ernährung und Außenkontakte zuständig. Die Bakterien im Inneren büßten ihre Unabhängigkeit ein und mußten sich ganz auf die Energieversorgung konzentrieren. Aus allem kann man den Schluß ziehen, daß biologische, dem Immunsystem oder den Symbiosen entlehnte Metaphern nicht vorschnell auf Sozialordnungen übertragen werden können. Man muß schon genauer hinsehen, wie sich das Zusammenleben oder der Kontakt verschiedener Gruppen langfristig auswirkt und welche Ziele sie verfolgen. Die evolutionäre Spieltheorie unterscheidet Arten, die sich bloß abkapseln, und solche, welche sich schneller anpassen als ihre Gegenspieler und dadurch die Oberhand gewinnen. Dies gilt jedoch nicht immer für symbiotische Beziehungen. Wenn eine Art auf die andere angewiesen ist, kann es sich auszahlen, langsamer zu sein. Die sich schnell entwickelnde Art muß sich nach und nach an die Bedürfnisse der trägeren anpassen. Die allgemeine Fitneß aller Mitspieler hängt vom Erfolg jedes einzelnen im Spiel ab. Der Egoist will nur den eigenen maximalen Gewinn. Der Großzügige gibt von seinem Gewinn an andere ab. Bei Symbiosen profitieren zwei Arten am meisten, wenn sie sich abstimmen, wer sich egoistisch oder großzügig verhalten soll. Evolutionären Wandel kann es nur geben, wenn nicht alle Mitglieder einer Population großzügig oder egoistisch sind. Sind viele großzügig, entwickeln sich die Egoisten schneller. Gibt es andererseits zu viele Egoisten, wird die sich schnell entwickelnde Spezies sehr rasch wieder großzügig, da die Kombination großzügig – egoistisch langfristig mehr Vorteile verspricht als eine Spezies reiner Egoisten. Dadurch können nun wieder Arten begünstigt werden, die sich langsam entwickeln.79 Noch schwieriger als die Fragen nach Abwehrbereitschaft und Symbiosen ist in Sozialordnungen das Problem zu lösen, wer mit wem aus welchen Gründen Allianzen abschließen soll und kann und für wen solche Allianzen von Nachteil sind. Für Allianzen wie für Freundschaften gibt es die verschiedensten Motivebenen: materielle Vorteile durch Produktion oder Güteraustausch; wenn sie enttäuscht werden, kann die Freundschaft schnell in Neid und Wut umschlagen. Strategische Allianzen werden geschlossen, um Konflikte besser bestehen zu können. Schließlich gibt es eine geistige Ebene der wechselseitigen Anerkennung und Hochschätzung. Dies gilt für persönliche Eigenschaften wie Schönheit oder Intelligenz, aber auch Fragen der eigenen Selbstvergewisserung – des Selbstbewußtseins – und der geistigen Entwicklung durch kulturellen Austausch. Zunächst gibt es die einsamen Länder, die sich durch Isolation vor fremden Einflüssen schützen wollen. Sie geraten in der Regel in schwere Krisen, die sie zur Öffnung zwingen. So das alte Japan vor 1863 oder das Burma der Militärdiktatur heute. Schlechte Allianzpartner sind auch die „zerrissenen“ Länder (Huntington), denen die Integration verschiedener Ethnien, Immigranten oder sozialer Schichten nicht gelang. Sie können mit ihren Konflikten auch ihre Alliierten belasten Dazu gehören heute die Türkei mit dem Kurden-Problem und Indien mit seiner muslimischen „Minderheit“ von mehr als 100 Millionen.

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Ebenbürtige Allianzen setzen voraus, daß die drei grundlegenden sozialen Funktionen, die wirtschaftlichen, militärischen und kulturellen, zumindest kompatibel sind. Davon hängt ab, mit welchen Ideen, mit welchem Verständnis und mit welchem Grad an Vertrauen oder Mißtrauen Bündnisse in der Geschichte geschlossen wurden. Wenn es lediglich um Kriegsallianzen mit dem Feind des Feindes ging (wie zwischen der Sowjetunion und den Westmächten im Zweiten Weltkrieg), war der nächste Kalte oder heiße Krieg schon vorprogrammiert. Zu den rein geopolitischen Faktoren gehören die Rohstoffe, die Produktivität der Landwirtschaft, der strategische Standort im Hinblick auf die Handelswege, die natürlichen Grenzen wie Gebirge und Meere und die der Fronten im Kriegsfall. Dazu kommt heute das langfristig wirksame ökologische Verhalten. Ernst Jünger konstatierte dazu bereits im Jahre 1960 in seiner Schrift über den Weltstaat: „Wer heute erfaßt hat, was der Erde dient, gewinnt den Vorrang gegenüber den historischen Ansprüchen. Wo er verändert, wird er geringeren Widerstand, wo er beharrt, wird er festeren Grund finden …“ Die europäische Politik des 18. bis 20. Jahrhunderts wurde dadurch bestimmt, daß die deutschen Staaten nach der Katastrophe des Dreißigjährigen Krieges mit dem begehrlichen Frankreich eine Dauerfehde hatten und mit England oder Rußland nur vorübergehend tragfähige Bündnisse schließen konnten. Den eigentlichen Unterschied zwischen England und Deutschland sah Ernst Jünger darin, daß die Engländer ein größeres Quantum an Anarchie verdauen können. Die Deutschen neigten zwar zu einem festen Reglement und zu einem Anstrich von Ordnung, jedoch sei das ganze Gebäude vom Nihilismus zerfressen. Dies sei der eigentliche Unterschied zwischen Nihilismus und Anarchie. Der Anarchist wolle die Mutter Erde wieder in einen Sumpf und Urwald verwandeln, der Nihilist, der sich durch die Ordnung tarne, in Wüste. Während des Zweiten Weltkrieges charakterisiert Ernst Jünger die Engländer als erfolgreiche Kneipenwirte: „Der Engländer läßt die wachsende Unordnung zunächst auf sich beruhen, fährt ruhig fort einzuschenken und zu kassieren und steigt endlich, wenn die Wirtschaft zu toll wird, mit einem Teil der Gäste nach oben und vermöbelt die anderen.“ Nach den beiden Weltkriegskatastrophen war das europäische Einigungswerk eine langfristige Erfolgsgeschichte der Allianzfähigkeit. Aber auch dies nur, soweit es gelang, die Gespenster der Vergangenheit – die Volkstumskämpfe – nicht wieder zu beschwören. Die großen Imperien wie Rom und die USA waren in ihren Expansionsphasen nicht zwingend auf Allianzen angewiesen. Ihre Robustheit beruhte auf einträglichen Raubkriegen und einer unbekümmerten (d. h. nicht ernstlich bedrohten) Plutokratie. Deren gutes Gewissen beruhte auf der Überzeugung, im Bunde mit den Göttern (bzw. mit Gott) zu stehen. Solche Imperien können allenfalls ungleiche Allianzen eingehen, welche die Entwicklungspotentiale, die geistigen Fähigkeiten und das Selbstbewußtsein der kleineren Nation verkümmern lassen. Alle drei sozialen Funktionen, die wirtschaftlichen, militärischen und ideellen, werden dabei beeinträchtigt. Beispiele sind das erzwungene Bündnis Hollands mit England im Jahre 1689 nach drei verlorenen (von England angezettelten) Seehandelskriegen oder der folgsame Anschluß Englands an die USA nach dem Zweiten Weltkrieg.80 83

Das Imperium maßt sich auch eine Schiedsrichterrolle über Konflikte außerhalb ihres Einflußbereichs an. So gibt es eine umfangreiche amerikanische Propagandaliteratur seit Beginn des 20. Jahrhunderts, in der eine angelsächsische Mission für Weltfrieden, Demokratie und Wohlstand gegen einen Block von Despotie, Militarismus und Feudalismus propagiert wurde. Wie Carl Schmitt dazu konstatierte, gibt es jedoch keine raumlosen politischen Ideen und umgekehrt auch keine ideenlosen Räume oder Raumprinzipien. Die Monroe-Doktrin, die jede Einmischung der ehemaligen europäischen Kolonialmächte in der amerikanischen Hemisphäre untersagte, war eine derartige politische Idee, welche das Großraumprinzip des amerikanischen Imperiums artikulierte. Vor dem Niedergang der Imperien stand die Hybris, sich immer weiter ausdehnen zu können. Letztlich geht es dabei um einen Mangel an Urteilskraft der Führungsschichten. Beispiele sind die Erfolgsphasen Hitlers bis 1938 und der anschließende Entschluß, wider besseres, in seinen eigenen Schriften artikuliertes Wissen einen Zwei-FrontenKrieg gegen Rußland und den Westen wagen zu können. Das gleiche gilt für die Erfolgsphase Stalins bis 1948 und die anschließende Anmaßung, die revolutionäre Mission weltweit ausdehnen zu können. Der Angriffskrieg der USA gegen den Irak 2003 überschritt endgültig deren wirtschaftliche Ressourcen, weil unter der Regierung Bush jun. die einseitig begünstigte Plutokratie den Staatshaushalt zerrüttet hatte. Indem sie faule Kredite mit großer Kunstfertigkeit bündelte und an ihre Wirtschaftspartner in Europa und Asien verkaufte, infizierte sie auch deren Finanz- und Wirtschaftssystem mit ebendieser Fäulnis. Immunsystem, Urteilskraft und Intuition aller Beteiligten hatten versagt.

2

Kultur und Zivilisation

2.1

Religiöse und kulturelle Mentalitätsschichten

Eine wichtige Frage bei der Bildung von Allianzen zwischen den von Volksgeistern (vor allem Sprachgemeinschaften) getragenen Nationalkulturen ist es, ob es religiöse oder kulturelle Sympathien oder Antipathien gibt. Der interreligiöse Austausch wurde zunächst in Imperien, wie dem persischen oder römischen, durch Wanderprediger gefördert. In den polytheistischen Kulturen schien es zweckmäßig, sich auch um die Hilfe fremder Götter zu bemühen. Religiös zu sein bedeutete bei den Römern etwas Negatives und etwas Positives: einerseits nicht abergläubisch und ängstlich zu sein und durch den Appell an das Gewissen bestimmte Handlungen als bedenklich zu bezeichnen. Positiv bedeutete Religion zunächst die Durchführung des öffentlichen Kultes oder Ritus, und erst langsam wurde das Religiöse zu einer subjektiven Eigenschaft. Vor allem aber durch die monotheistischen Universalreligionen wurde der Kulturaustausch zwischen Stämmen und Nationen gefördert. Durch den Wandel zum Christentum bedeutete Religion am Ende der Antike, nicht mit einer Vielzahl von Göttern, sondern direkt mit Gott verbunden zu sein. Im Mittelalter bedeutete religio auch Orden oder Ordenstand – also die äußere Ordnung der Kirche –; aber auch gleichzeitig Tugendhaftigkeit und sittliches Vermögen. 84

Die neuzeitliche Erforschung der Religionsgeschichte, die historisch-kritische Untersuchung der Heiligen Bücher wie der Bibel, führte zu Religionskritik und Aufklärung. In den nachreligiösen Gesellschaften gab es drei Möglichkeiten: 1) Die Forderung, jede religiöse oder metaphysische Fragestellung bei der Lösung von Problemen der Sozialordnung zu verbieten. 2) Dadurch wurden Pseudoreligionen des magischen Aberglaubens und Parareligionen von Sekten begünstigt. Man fällt dann wieder in frühe Formen religiösen Denkens zurück; 3) oder die religiösen Fragen werden in metaphysische verwandelt, in Fragen nach den Ursprüngen und den uns tragenden Hintergründen der uns zugänglichen Welt. Es kommt zu einer fruchtbaren Zusammenarbeit von Theologen, Philosophen und Wissenschaftlern. Dies kann dann zu dem von Karl Jaspers erörterten philosophischen Glauben führen. Schon Augustinus wollte die Religion über den Kultus hinaus mit der Philosophie verbinden, nämlich mit der Erkenntnis, welche der Einheit aller Dinge zustrebt und so den einen Gott verehren will. Der von Karl Jaspers artikulierte philosophische Glaube entzündete sich vor allem an den historischen Erfahrungen, die im 19. und 20. Jahrhundert mit den Ideologien gemacht wurden, die jede Bindung an Transzendenz verneint haben. Er faßte ihn in fünf Sätzen zusammen, denen er die antinomischen Aussagen des Unglaubens gegenüberstellte (vgl. dazu im Ausblick „Metaphysik und Religionsfriede“).81 Das verbindende Element zwischen Religion und Kultur ist der Kultus. Das lateinische cultus ist ebenso wie cultura von colere abgeleitet. Es bedeutete ursprünglich die Pflege von Feldkulturen. Bei den Römern war cultus dann Priester- und Opferdienst und damit Götterverehrung. Luther übersetzte das Wort mit Gottesdienst. Aber schon Thomas von Aquin unterschied einen bloß äußerlichen von einem inneren Gottesdienst. Hegel versuchte dann die Trennung zu überwinden, welche die Autoren der Aufklärung zwischen sinnlichem Kultus und innerlicher Gesinnung vorgenommen hatten. Für ihn hatte der Kultus vor allem eine versöhnende Funktion. Er habe die Aufgabe, die Einheit, Versöhnung und das Selbstbewußtsein des Einzelnen wiederherzustellen und ein positives Gefühl zu vermitteln, teilzuhaben und teilzunehmen an der Einheit des Absoluten und damit die Entzweiungen aufzuheben. Dies sei die eigentliche Leistung des Kultus, die zur Beschreibung aller religiösen Haltungen unerläßlich sei. Die Religionswissenschaftler stellten dann fest, daß es übergeschichtliche Typen des Kultus gebe: das Gemeinschaftsmahl und Opfer, das Gebet als Zeichen der Demut und der Gesang. Man stand jedoch schnell vor dem Problem, daß der Kultus ohne den christlichen Gottesbezug („Gottesdienst“) von den magischen Praktiken nicht abgegrenzt werden kann. Es gehört deswegen zu einem Grundwissen für die Beurteilung von historischen und gegenwärtigen Religions- und Weltanschauungskonflikten, bestimmte, historisch gewachsene Mentalitätsschichten des Menschen unterscheiden zu können. Sie wurden bereits in Kapitel I A 4.2 unter dem Gesichtspunkt der (folgerichtigen) ideellen Evolution dargestellt. Hier geht es um ihre Bedeutung für die Konfliktforschung, wenn moderne mit archaischen Mentalitätsschichten zusammenstoßen. C. G. Jung unterschied hier folgende Stufen: 85

a) Das magisch-animistische Denken. Magie und Macht gehen auf den gleichen indoeuropäischen Wortstamm zurück. Magische Aktionen und Riten sollen unmittelbare Wirkung auf Natur oder Mitmenschen haben. Es gibt schwarze und weiße Magie mit dem ewigen Kampf der finsteren Mächte gegen die Lichtgestalten; nach Kant darüber hinaus aber auch den Gelehrtenzauber an den Fakultäten, der auf magische Art auf Regierung und Volk wirken will. Im magischen Denken gibt es noch keine Trennung zwischen biologischen und geistigen Funktionen. Insofern sind die sozialen Kategorien von Rasse, Vererbung, Dekadenz, Domestikation und Neotenie auf dieser Stufe anzusiedeln. b) Der Übergang von der Magie zum mythischen und polytheistischen Denken, in dem mythologisch Göttergestalten verschiedene menschliche und soziale Funktionen verkörperten und sich liebten, miteinander konkurrierten oder sich bekämpften, vollzog sich in der Frühzeit langsam und in vielen Übergangsstufen. c) Der Übergang vom polytheistischen zum monotheistischen Glauben wurde demgegenüber in der historisch besser erforschbaren „Achsenzeit“ im ersten Jahrtausend vor Christus in den Hochkulturen China, Indien, Iran und Griechenland vollzogen (dazu näher am Ende dieses Kapitels). Hinsichtlich der historischen Mentalitätsschichten wird man vor allem Kulturen unterscheiden müssen, welche durch eine solche Achsenzeit geprägt wurden oder nicht (z. B. in Ägypten und Mesopotamien). Zwischen ihnen gibt es eine spezifische Dynamik der Konflikte. d) Es kam dann im Mittelalter zur Krise dieser auf der Achsenzeit entstandenen monotheistischen Religionen durch gewaltsame Expansionen einzelner Religionen und intern durch konfessionelle Kriege. e) Vor allem der Dreißigjährige Krieg mit seinen Verheerungen in Mitteleuropa (von denen sich, so Jünger, Deutschland nie ganz erholt hat) erschütterte das mittelalterliche Glaubenssystem und bereitete die Religionskritik und den Rationalismus der Aufklärung vor. f) Für C. G. Jung wurde dann das 19. Jahrhundert vom Materialismus und Positivismus bestimmt; dem naiven Vertrauen, die Wissenschaft könne schon bald dazu beitragen, alle sozialen Konflikte in Wohlgefallen aufzulösen. In Wahrheit erzeugten sie die Ideologien mit ihren totalen Kriegen. g) Im 20. Jahrhundert führten die Tiefenpsychologie und die moderne Physik zu einem neuen, weniger naiven Denkniveau: Die Strukturen und Dimensionen der Psyche, der Materie-Energie und des Kosmos wurden immer komplexer und letztlich unergründlicher. Nicht nur für soziale Konflikte, sondern auch für die therapeutische Behandlung hielt C. G. Jung die Frage für unerläßlich: „Wes Geistes (bzw. Epochengeistes) Kind bist du eigentlich?“ Mit diesen Mentalitätsschichten sind auch die Niveaustufen der Pädagogik (vom Kadavergehorsam bis zur Förderung des eigenständigen Denkens) eng verbunden (vgl. dazu im Ausblick „Die Mentalitätsschichten der Pädagogik“). Die historische Mentalitätsschicht könnte man definieren als das kulturelle Selbstbewußtsein über den nationalen Bereich hinaus, welches die Allgemeinheit bis in das Alltagsbewußtsein prägt und damit auch die biographischen Entscheidungen in sozia86

len Kämpfen und so die kollektive Geschichte bestimmt. Sie beruht auf einem allgemeinen kulturellen Konsens. C. G. Jung konkretisierte damit, was Herder als Kulturprozeß, als zunehmende Kultur eines Volkes hin zu einem „kultivierten“ Zustand, angesprochen hatte. Vor diesem Hintergrund entwickelte sich die Kulturkritik. Der gegenwärtige Kulturzustand kann nun kritisch geprüft und in Frage gestellt werden. Dann ist die Kultur schöpferisch. Wenn sie jedoch lehren will, was Kultur in Wahrheit war oder künftig zu sein hat, wird sie dogmatisch. Seit die Geisteswissenschaften nicht mehr zu beantworten wußten, was geistige Funktionen sind (z. B. Urteilskraft, Kreativität, Intuition und Identität), verwandelten sie sich – wie in einer großen Arbeitsbeschaffungsmaßnahme – in die Kulturwissenschaften. Kultur umfaßt nämlich alles, was es an menschlich Erschaffenem auf der Erde gibt, die gesamte geschichtlich-gesellschaftliche Welt. Kulturanthropologen neigen dazu, die Prägung des Menschen durch die Kultur überzubetonen. Die ganze geschichtliche Buntheit und Vielheit der Profile von Kulturen und Epochen, die seit dem Zeitalter der Entdeckungen in den Horizont traten, die empirische Masse des Materials, führten dazu, daß man eine allgemeine Anthropologie des Menschen, seiner psychischen Funktionen und seiner Mentalitätsschichten vernachlässigte. Ohne diese Differenzierungen ging der Ansatz von Herder, einen Geist der Zeit wirklich zu charakterisieren und die Frage nach dem Fortschritt in der Geschichte zu stellen, unter. Statt dessen setzte sich kultureller Relativismus durch. Die Vielheit von Kulturen wurde lediglich beschrieben und daraus die kulturelle Gleichwertigkeit „wertfrei“ gefolgert. Einen anderen Ansatz boten die Kulturmorphologien und die Kulturkreislehren, die Theorien über bestimmte Kulturtypen aufstellen. Aus der allgemeinen Beobachtung untergegangener Kulturen wollte man Gesetze über Aufstieg, Fortschritt, Zustand, Verfall und Ende von Kulturen (die dem Aufbau der Kapitel I bis III dieses Buches entsprechen) entdecken. Wie schon in der römischen Antike verwendete man dabei zur Orientierung folgende Metaphern aus den menschlichen Lebensaltern: a) Im Kindesalter wird noch dämonisch-mythisch gedacht. Es ist die „barbarische“ Stufe der Phantasie. b) Im „Jünglingsalter“ orientiert man sich an Idealen, an der Identität mit dem Volk. c) Das „Mannesalter“ orientiert sich realistisch an den Tatsachen und am verstandesgemäßen Zweckbewußtsein. (Mädchen und Frauen hatten da noch ihren Jünglingen und Männern zu folgen). d) Das Greisenalter endet schließlich in der dogmatischen Erstarrung allen organischen Lebens. Die herkömmlichen Themen der historischen Logik betreffen die Methodologie und die Typen der Geschichtsschreibung. Die verschiedenen positivistischen Phasenlehren stehen den kulturmorphologischen Betrachtungsweisen (Spengler) und der Lehre von den historischen Mentalitätsschichten (Jung) gegenüber. Die aus der positivistischen Geschichtsforschung erwachsenen Phasenlehren waren schon allein wegen ihrer Widersprüche und ihres konstruktiven Charakters Schwund87

stufen geschichtlichen Denkens. Stets wurde dabei die makrosoziale Ebene parallel mit der Entwicklung mikrosozialer Strukturen gesehen, der evolutionären Entwicklung psychischer und rationaler Kräfte. Das Schema der gesellschaftlichen Entwicklung in bestimmten Produktionsweisen bei Morgan und Engels war eng mit dem Entwicklungsschema von Comte, Tylor und Frazer verknüpft. Dem Stadium der Urgesellschaft, der Jäger und Sammler, entsprach das Stadium der Magie und Religion (Comte), des Animismus und des Glaubens an Körperseelen (Tylor) beziehungsweise des Präanimismus oder Animatismus, wonach alles beseelt ist (Frazer und Freud). Dem Stadium der Hirten und Ackerbauern, der Sklavenhaltergesellschaft und des Feudalismus entsprach das Zeitalter der Metaphysik (Comte), des Glaubens an Naturdämonen, Geistmächte und Götter (Tylor) beziehungsweise des Animismus, wonach nur das Lebendige beseelt ist (Frazer). Erst mit dem Übergang vom Feudalismus zum Bürgertum und schließlich zum Sozialismus wurde das Zeitalter der Wissenschaft (Comte), das Zeitalter der Überwindung des Götterglaubens durch Systemdifferenzierung, Rationalisierung des Weltbildes und Systemspaltung (Tylor), erreicht. Bei allen linearen Entwicklungstheorien wurden somit religiöse beziehungsweise seelische Kräfte mit den produktionstechnischen verknüpft. Der Antrieb für solche rationalistischen Phasentheorien war die Anmaßung universalgeschichtlicher Kenntnisse, welche Aussagen über die Zukunft eröffnen sollten. Im Gegensatz zu solchen optimistischen Phasentheorien von Positivismus und Marxismus stehen die vorwiegend pessimistischen Kulturmorphologien. Vorstellungen von einer Krise der europäischen Kultur standen vor dem Ersten Weltkrieg unter dem Einfluß der Nietzsche-Rezeption. Unter dem Eindruck der revolutionären Verhältnisse nach dem Ersten Weltkrieg verließ dieses Krisenbewußtsein die intellektuellen Zirkel und erfaßte breite Kreise des Bürgertums. Alte Fragen des Geschichtsdenkens, Versuche, eine Struktur der Weltgeschichte festzustellen, verbanden sich mit dem Krisenbewußtsein der Epoche. Vor allem unter dem Einfluß von Spengler und Toynbee hatten nun Anschauungen von einheitlichen Kulturen Konjunktur, die wie Organismen als selbständige Lebensgebilde aufgefaßt wurden. Spengler bezeichnete 8, Toynbee 21 (teilweise auch 23) solcher Geschichtskörper. In der Folgezeit wurden in der angelsächsischen Geschichtswissenschaft 16 historische und 7 oder 8 gegenwärtige Kulturkreise unterschieden (je nachdem, ob man Mittel- und Südamerika als eigenen Kulturkreis anerkannte).82 Spenglers Kulturlehre von den vier Lebensaltern (Frühling, Sommer, Herbst und Winter) war weniger originell als er vorgab. In der Regel berief er sich nur auf seine Vorbilder Goethe und Nietzsche. Die zentrale Lehre von den Lebensphasen der Kulturen war altes abendländisches Erbe. Die Stufen des menschlichen Lebens bildlich auf Rom und die römische Geschichte anzuwenden, war ein der römischen Kultur geläufiger Topos. Florus, ein Geschichtsschreiber zur Zeit Hadrians, hatte die Königszeit Roms zur Kindheit des römischen Volkes erklärt, die Republik zur Jugend, und mit der Pax Augusta habe die senectus, das Greisenalter, begonnen. Folgerichtig leitete der christliche Schriftsteller Laktanz fast zwei Jahrhunderte später aus diesem LebensalterSchema den Untergang Roms als notwendig bevorstehend ab.

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Gegen das kulturmorphologische Denken, in dem die Kulturorganismen beziehungslos nebeneinander stehen und quasi-biologische Abwehrmechanismen entwickeln, setzte Jaspers die These, es bestehe zumindest die Möglichkeit, daß sich die Kulturen Teile ihrer Wirklichkeiten wechselseitig aneignen und sich so teilweise verstehen können. Alle Kulturen seien jedoch ständigen Verwandlungsprozessen unterworfen, in denen altes, magisches Denken wieder auftauchen kann. Für Jaspers gab es keine linearen Gesetzmäßigkeiten der Geschichte, sondern die stete Gefahr von „Verkehrungen“ und „Abgleitungen“ erreichter Ordnungen und Freiheitsstufen, der durch ethisch-politische Aufklärung zu begegnen sei. Die Verkehrungen und Abgleitungen beruhen letztlich auf der fehlenden Differenzierung komplexer und weniger komplexer psychischer Funktionen. Nach herkömmlicher Betrachtungsweise wurde zwischen prähistorisch und historisch (Nietzsche) unterschieden oder nach dem Schema Antike, Mittelalter und Neuzeit. Die Geschichtsphilosophie von Jaspers ergab eine völlig neue Sicht der Tiefenstruktur der Geschichte: Die erste Stufe der Geschichte betrifft den Ursprung, in dem es noch keine Trennung von Biologie und Geist gab. Bereits dort, im Tier-Mensch-Übergangsfeld, sind Kategorien anzusiedeln wie Rasse, Vererbung, Dekadenz, Domestikation und Selbstdomestikation, verbunden mit der Steigerung des Gehirngewichts und der Verzögerung des geschlechtlichen Reifungsvorgangs (Neotenie) beim Menschen. Schon hier gab es bei den Rassen keine Idealtypen, sondern nur Durchschnittstypen mit fließenden Übergängen (Kap. I A 7.8). Solche Kategorien auf die rezente Menschheit politisch anzuwenden, bedeutete faktisch, Kategorien mit einem sehr begrenzten Sinn aus einer Ursprungsstruktur der Geschichte zu verabsolutieren und damit die historische Entwicklung zu negieren.83 Auf der nächsten Stufe ist die Vorgeschichte als die Zeit zu kennzeichnen, in der Sprache, Feuerverwendung und Werkzeugherstellung die Natur des Menschen prägten. Durch das animistisch-magische Denken, zum Beispiel die Welt der Tabus, wurde es zur Natur des Menschen, nicht nur Natur sein zu können, sondern in einer zusätzlichen Welt der Künstlichkeit zu leben.84 Die rassische Differenzierung wurde nun durch eine kulturelle überlagert, durch unterschiedliche Sprachstrukturen, Technologien und magisch-rituelle Lebensformen. Erst mit den Hochkulturen begann die Geschichte. Hauptkennzeichen waren nicht nur die Erfindung, sondern auch die allgemeine Verwendung der Schrift und die umfassende staatliche Organisation von Strom- und Bewässerungsregulierungen.85 Tendenzen zur gesellschaftlichen Differenzierung standen in Wechselwirkung zur funktionalen Zuteilung bestimmter psychologischer und sozialer Merkmale in der polytheistischen Götterwelt. Nach den historischen Stufen der alten, aus der Prähistorie erwachsenen, magisch gebundenen Kulturen entstanden in China, Indien, Persien und im östlichen Mittelmeerraum nahezu zur gleichen Zeit (etwa von 800 bis 400 v. Chr.) die sogenannten Achsenzeiten, die nicht nur zeitlich parallel auftraten, sondern sich in ihren Grundverwandlungen glichen.

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Sie waren für Jaspers die historische Verwurzelung dafür, daß überhaupt Kommunikation zwischen den Kulturen möglich ist. Das hieraus entstandene spätere philosophische und wissenschaftliche Weltbild stellt für Jaspers jedoch keine organisch abgeschlossene Einheit dar, sondern ist der ständigen Gefahr unterworfen, daß der Aufschwung zu Philosophie und Wissenschaft ins Unmagische, Menschliche und Vernünftige („über die Dämonen zu Gott“) am Ende wieder zurücksinken kann ins Magische und Dämonologische. Innerhalb von vier Jahrhunderten wirkten in China Konfuzius und Laotse; in Indien entstanden die Upanischaden und lebte Buddha; gleichzeitig wurden alle philosophischen Möglichkeiten bis zur Skepsis, zum Materialismus, zur Sophistik und zum Nihilismus entwickelt (ebenso wie in China); in Iran lehrte Zarathustra ein neues, radikal ethisches Weltbild; in Palästina traten die Propheten auf; in Griechenland wurde das homerische Weltbild festgehalten, erörterten die Philosophen von Parmenides bis Plato ganz neuartige Fragestellungen und reflektierten die Tragiker, Historiker und Wissenschaftler die soziale Wirklichkeit mit einer bisher nicht gekannten Intensität. Alle gemeinsam zeichneten sich durch den Umfang der Reflexion und die Tiefe des radikalen Fragens aus. Dabei wurden die Grundkategorien hervorgebracht, in denen wir bis heute denken, und es wurden gleichzeitig die Ansätze zu den Weltreligionen geschaffen.86 Grundsätzlich wirkten alle diese Gestalten völlig unabhängig voneinander; Beziehungen zwischen den fünf Kulturbereichen waren marginal. So können etwa indische Wandergurus („Gymnosophen“) innerhalb des Perserreichs Anstöße für die ionische Naturphilosophie gegeben haben. Nur läßt sich das heute nicht mehr überprüfen. Es gab jedenfalls keine dialektischen Wechselwirkungen, sondern die Kulturen der Achsenzeiten entwickelten sich in den verschiedenen Regionen parallel. Den Achsenzeiten war der Kampf um einen neuen Begriff von Transzendenz gegen das mythologische Denken gemeinsam. Aus ethisch-rationaler Empörung heraus wurden die unwahren Göttergestalten, die den Menschen versklavenden Dämonenvorstellungen, bekämpft. Die alte mythische Welt versank dabei langsam, blieb aber lange im Hintergrund der Volksreligionen virulent. Die damit verbundene Veränderung des Menschseins war vor allem eine revolutionäre Vergeistigung, sie bezog sich auf die geistig-geschichtlichen Entwicklungen des bewußt denkenden Menschen. Dieser vermochte es, sich der Welt innerlich gegenüberzustellen. Er entdeckte seinen Ursprung, den „eigentlichen“ Menschen, der bisher durch den Leib, die Materie, den Schein, die Triebe verdunkelt wurde. Er beschreitet jetzt Wege, die er zunächst als Einzelner gegangen ist und dann den Erlösungsbedürftigen und Verwirrten verkündet. Das menschliche Dasein wird als Geschichte insgesamt Gegenstand des Nachdenkens. Der Prophet sieht die Katastrophen, er will helfen durch Erziehung und Reform. Das bloße Geschehen und Geschehenlassen (die fatalistische Reaktion) in der Geschichte wurde ersetzt durch Bewußtsein, Erinnerung und Diskussion der Tradition. Es wird nach der Vorbildlichkeit von Menschen nicht nur aufgrund eines festgelegten Regelkanons gefragt, sondern im Rahmen dieser Kategorien nach dem Sprung ins eigentliche Menschsein, nach dem Sündenfall und der Erlösung. Die Reflexionen über das geschichtliche Bewußtsein machen die Vergänglichkeit nicht nur des Menschen, son90

dern auch der sozialen Strukturen bewußt. In diesen Grenzsituationen wird über die Ewigkeit in der Zeit, das Ewigkeitsbewußtsein im Verhältnis zum geschichtlichen Bewußtsein reflektiert.87 Diese kurze Zusammenfassung zeigt, daß die Theorie der Achsenzeit nur mit dem Selbstbewußtsein der bereits voll entwickelten Existenzphilosophie und ihren Kategorien artikuliert werden konnte. Durch die Achsenzeit wurden dem Menschen neue Alternativen geboten. Zunächst gab es die Aufklärung: das ethisch-rationalistische Denken mit der Frontstellung gegen das rituell-magische. Es wurde aber auch versucht, die innerweltlichen Aspekte in die außerweltliche Orientierung als sozialpraktische „Daseinsfrömmigkeit“ mit einzubeziehen und damit die Spannung zwischen der transzendenten und der weltlichen Ordnung zu entschärfen. Man konnte umgekehrt die Trennung propagieren und allein die Weltbearbeitung, die Tätigkeit in den Ordnungen dieser Welt, wählen und dies bis zum Gedanken der Weltbeherrschung steigern.88 Seit der Achsenzeit wurde bis heute die Aufgabe gestellt, durch eine „Revolution der Gesinnung“ den religiösen Ritualismus und Offenbarungsglauben als magisch anzugreifen. Das versuchte Kant 1793 in seiner Schrift „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“. Er wollte damit die Elemente einer Vernunftreligion in den historisch entstandenen Offenbarungsreligionen herausarbeiten. Nach der Achsenzeit mit den bereits dargestellten Kennzeichen (Individualisierung und neue Freiheitsräume) bestand nämlich stets die Gefahr, daß die Differenzierungsgewinne in den Kulturen, in denen sich monotheistische Religionen durchsetzten, wieder kollabierten. Speziell im Abendland entwickelten sich dann das wissenschaftlich-technische Zeitalter und eine völlige Radikalisierung des individualistischen Prinzips mit einem neuartigen Freiheitsbewußtsein. In der Periode zwischen 1500 und 1830 wurde in der Reformation das Christentum auf neue Grundlagen gestellt und gleichzeitig die antike Kultur rekonstruiert. Dieses Zeitalter kann nach der Erfindung von Werkzeugen und Feuerverwendung in der Vorgeschichte als „zweites prometheisches Zeitalter“89 bezeichnet werden. Der Fortschrittsoptimismus stand dabei in einem eigentümlichen Spannungsverhältnis zu apokalyptischen Ängsten und Visionen der Offenbarungsreligionen, die wie eine anthropologische Konstante auch das Zeitalter von Aufklärung, Wissenschaft und Rationalisierung begleiteten. Indem das Abendland universale Kristallisationen schuf – das Römische Reich und die katholische Kirche –, wurden Impulse für Tendenzen zu einer übergreifenden Weltgeschichte ausgelöst. Spätestens seit dem 19. Jahrhundert wächst die Welt zur einen Welt der Menschheit zusammen. Die Einheit war dabei nicht Tatbestand, sondern Ziel. Als Grundmotive dieses Ziels galten die Verbreitung der Zivilisation und der politischen Humanisierung, der Freiheitsgedanke und eine breite, institutionelle Absicherung der geistigen Kultur. Nach dem Kampf der Weltimperien mit ihren „Endkämpfen“ um eine planetarische Ordnung ging es jetzt um übergreifende Weltordnungen, um Einheiten ohne Einheitsgewalt, welche die gemeinsamen Rechte aller garantieren. Es handelt sich bis heute um die übergreifenden Fragen: nach der Verteilung der Welt und ihren Ressourcen, nach den Umwälzungen durch die Dynamik des unterschiedlichen Bevölkerungswachstums, nach der Beschränkung wirtschaftlicher Macht, nach den 91

Prinzipien einer übergreifenden geistigen Ordnung, welche die damit zusammenhängenden destruktiven Tendenzen regulieren kann.90 C. G. Jung stellte die These auf, nur derjenige habe das Denkniveau des 20. Jahrhunderts erreicht, der die Ergebnisse der modernen Physik mit denen der Tiefenpsychologie verknüpfen könne. Er meinte damit vor allem die erkenntnistheoretischen Implikationen durch die Relativitätstheorie und die Quantenmechanik. Jung hätte damit Wolfgang Welsch zugestimmt, der das „postmoderne Bewußtsein“ als Reflex auf die Hochformen modernen Wissens verstand, die durch Namen wie Einstein, Heisenberg oder Gödel markiert wurden.91 Aufgabe der Philosophie wäre es heute, vom bloßen Reflex des postmodernen Bewußtseins zur Reflexion zu gelangen. Dies betrifft vor allem die Entwicklungen der Kosmologie und Physik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, welche für Einstein und Heisenberg noch unvorstellbar gewesen wären. Im einzelnen unterschied Jung folgende Typen: Es gebe mehr dem magischen Denken verhaftete Barbaren, als man denke. Sie entsprechen dem geistigen Zustand vor den Hochreligionen. Viele seien noch in einem antiken Heidentum – oder Neuheidentum – befangen. Diese Mentalitätsschicht entspricht der Entwicklungsstufe des Polytheismus und des mythischen Denkens. Eine große Anzahl von Menschen lebe auf mittelalterlicher Bewußtseinsstufe mit ihren konfessionellen Konflikten. Hier werden die Schicht des Monotheismus und die Konkurrenz der Offenbarungsreligionen angesprochen. Der Rationalismus der Aufklärung, der diese Bewußtseinsstufen der Religionsgeschichte einfach eliminieren wollte (statt die Religionsgeschichte als Geschichte des erwachenden Menschheitsbewußtseins – so Jung – ernst zu nehmen), entspreche dem Entwicklungsstand des 18. Jahrhunderts, der Materialismus und Positivismus dem des 19. Jahrhunderts. Jung nahm mit der eingangs dargestellten allgemeinen historisch-mentalen Schichtenlehre die speziellen Paradigmenlehren der Wissenschaftstheorie (Ch. S. Kuhn) und der Theologie hinsichtlich der Hochreligionen (Hans Küng) vorweg. Oder anders gesagt: Die speziellen Paradigmen bilden das Material für die allgemeine historische Mentalitätsschicht. Die Lehre Jungs von den historischen Mentalitätsschichten müßte allerdings durch die dargestellten Stufen in der Geschichtsphilosophie von Jaspers, vor allem der Achsenzeit, modifiziert werden. Das Hauptmerkmal der Jetztzeit dürfte die Leitidee des Pluralismus sein, wonach ein solcher Konsens durch eine die Gesellschaft bestimmende Mentalitätsschicht nicht mehr das Ideal sein kann, sondern allenfalls die Vollständigkeit. Das heißt die vollständige Erfassung der Spaltungs- und Differenzierungsprozesse der Logikgeschichte und der vernünftige Umgang damit. Nach der rein historischen Definition durch Toynbee, welcher die Postmoderne mit der interglobalen Politik durch den Imperialismus beginnen läßt, und der wissenschaftshistorischen durch Wolfgang Welsch könnte man mit der Logik von Jaspers zu folgender philosophiegeschichtlichen Auffassung der „Postmoderne“ gelangen:

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Eine ganzheitliche Anthropologie, die auf der Wissenschafts- und Philosophiegeschichte beruht, müßte von der Annahme ausgehen, daß der Prozeß der zunächst europäischen Aufklärung ein (noch nicht abgeschlossener) Prozeß mit verschiedenen Stufen und damit ein Kontinuum war und ist. Von den Zeitgenossen wurden diese Stufen jedoch nicht als Kontinuum, sondern als Katastrophen erfahren, das heißt nicht positiv als Entfaltung oder neutral als Differenzierung. Die Frage Max Webers, was die Ursachen des oxidentalen Sonderwegs waren, wird heute durch das Forschungskonzept der „produktiven Trennungen“ zu beantworten gesucht (z. B. Gott – unbeseelte Natur, die man ausbeuten kann; Kirche – Gesellschaft; Theologie – Philosophie und Wissenschaft; Monarchien – Republiken; Kontinental- und Seemächte; und so weiter).92 Erfahren wurden diese „produktiven Trennungen“ jedoch als Spaltungsprozesse, Entzweiung, Polemik, Entfremdung und Bürgerkriege bis hin zum Weltbürgerkrieg. Vor dem Hintergrund der Logik von Jaspers läßt sich nachvollziehen, daß die Spaltungsprozesse darauf beruhen, daß die psychischen Grundfunktionen auf vier logischen Ebenen zunächst partialisiert und dann verabsolutiert wurden. Solche radikalen Varianten der europäischen Aufklärung liefen auf katastrophale Anthropologien hinaus, die zu sozialen Katastrophen führten. So war zu verstehen, daß Hegel die Aufspaltung von Theologie, Philosophie und Wissenschaften schon als „Kreuz der Wirklichkeit“ beklagte, bevor es im 19. Jahrhundert zu weiteren Spaltungsprozessen, von Natur- und Geisteswissenschaften und den Ideologien, kam. Die Gegenwart bietet die Chance, die dramatische Logikgeschichte als Passionsgeschichte der Menschheit nachzuvollziehen. Voraussetzung dafür wäre eine differenzierte Anthropologie auf der Basis einer zweifach differenzierten Logik in dem dargestellten Sinne (Unterscheidung von vier Ebenen psychischer Grundfunktionen und die Trennung dieser Anthropologie von den speziellen Logiken: Methoden-, Kategorienund Wissenschaftslehre). Dafür gibt es im philosophischen Werk von Jaspers noch ungenutzte Ressourcen. Warum blieben diese ungenutzt? Die Ursache hierfür liegt in der Theoriegeschichte seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Die Skepsis gegenüber seiner Logik (Habermas sprach von einem „obsolet gewordenen Zugriff aufs Ganze“)93 führte dazu, daß die erforderliche Kritik, das heißt die inhaltliche Auseinandersetzung mit dieser Logik, unterblieb. Es geht dabei nicht um einen „Zugriff aufs Ganze“, sondern um die vollständige Erfassung der psychischen Grundfunktionen – eine interdisziplinäre Aufgabe – als Voraussetzung für ein tragfähiges Vernunftkonzept, welches die von Max Weber beschriebenen Rationalisierungsprozesse zu humanisieren vermag. 2.2

Zivilisation und Friedensordnung

In der depressiven Atmosphäre nach der Niederlage des Ersten Weltkrieges wurde im deutschsprachigen Raum eine Morphologie der Weltgeschichte besonders populär. Der „Untergang des Abendlandes“ von O. Spengler bot sich als (wenig hilfreiches) Orientierungswissen an, entsprach aber der Stimmungslage eines besiegten Volkes, so wie

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Schopenhauers Pessimismus erst nach der Niederlage des Bürgertums in der Revolution von 1848 auf Gegenliebe stieß. Für Spengler war das Ende einer Kultur vor allem durch den Übergang zur Zivilisation geprägt, zu städtischen künstlichen Zuständen. Kulturkritik wurde zur Zivilisationskritik. Selbst trat man als Kulturträger auf – die Vertreter der oberflächlichen Zivilisation, das waren die anderen. Im Gegensatz zu Spengler legte A. J. Toynbee wert darauf, daß man aus Untersuchungen untergegangener Kulturen keine Horoskope für die Zukunft erstellen könne. Anlaß für diese Scheu vor Horoskopen dürften Spenglers zweifelhafte Voraussagen gewesen sein, der nach dem Untergang des Abendlandes in der russischen Kultur die nächste Möglichkeit der Erneuerung sah. Auch die vielen Autoren, die eine bessere Zukunft der westlichen Zivilisation aufgrund der in Amerika geretteten und sich dort weiter entfaltenden europäischen Substanz erhofften, wurden endgültig durch die Erfahrungen des ersten Jahrzehnts im 21. Jahrhundert enttäuscht. Jede Kultur – so Toynbee – stehe zu jeder Zeit vor Herausforderungen, die jeweils nach der konkreten Situation beantwortet werden müssen. Weder Naturgesetzlichkeit noch organische Modelle seien geeignet, die Verantwortlichkeit des Menschen für den Gang der Geschichte aufzuheben. Allenfalls einen religiösen Fortschritt – bewirkt durch den Untergang von Kulturen mit älteren Mentalitätsschichten– hielt er für möglich. Vehikel dieses Fortschritts sind für ihn die sich drehenden Räder am Triumphwagen der Religion, „die Bewegung der Kulturen in ihrem Kreislauf Geburt – Tod – Wiedergeburt“. Überträgt man solche abstrakten Bilder auf die allgemeine Ideengeschichte und die dargestellten Mentalitätsschichten, wird diese Geschichtsauffassung noch überzeugender. Auch Goethe sprach in den Materialien zur Farbenlehre von einem Kreis, den die Menschheit auszulaufen hat und der nur durch den großen Stillstand, den eine Barbarei verursacht, unterbrochen wird. Selbst wenn man dem eine Spiralbewegung zuschreiben wolle, so kehre die Laufbahn doch immer wieder in jene Gegend, wo sie schon einmal durchgegangen ist. „Auf diesem Wege wiederholen sich alle wahren Ansichten und alle Irrtümer.“ Bei den Römern bezogen sich civitas und civilitas vor allem auf die Stadt und die Bürgerschaft, dann aber auch abgeleitet auf zivilisiertes Leben und zivilisierte Sitten. Der Begriff Zivilisation wurde in der französischen und englischen Aufklärung wiederaufgegriffen und in Deutschland erst nach 1800 zögerlich übernommen. Ausgelöst wurde er vor allem durch die Berichte der Entdeckungsreisenden über außereuropäische Völker. Deren Lebensweise und Praktiken erschienen als Wertmaßstab für Wilde und Barbaren, die außerhalb der civilitas leben. Man erkannte aber auch Übergangsformen wie bei dem Volksstamm der Türken, denen man eine Tendenz zur Ablegung der Barbarei hin zur Zivilität zusprach. Prozesse der Zivilisation wurden nun zum Gegenstand wissenschaftlich-historischer Untersuchungen. Die Unterschiede von Kultur und Zivilisation wurden zunehmend – vor allem bei Norbert Elias – vermischt und begannen, sich begrifflich zu überlagern. Die Betonung bei Zivilisation liegt mehr auf den verfeinerten Sitten, den innen- und außenpolitischen Umgangsformen und dem gehobenen Lebensstandard der städtischen Kultur.94 94

Langfristig zivilisierte Zustände konnten sich vor allem in den großen Friedensordnungen nach dem Dreißigjährigen Krieg, den napoleonischen Kriegen und dem Zweiten Weltkrieg entfalten. Die Friedensordnung von 1648 scheiterte letztlich an den Mehrfrontenkriegen, in die Habsburg (mit Türken und Franzosen) und Frankreich (mit Spanien, Habsburg und England) verwickelt waren. Die Bündnisse des 18. Jahrhunderts waren auf territoriale Gewinne gerichtet und endeten in zu vielen Kriegen. Nach dem Zusammenbruch dieser europäischen Ordnung in der Französischen Revolution ab 1789 kam es zu der erfolgreichen Friedensordnung nach dem Wiener Kongreß 1815, welche den beispiellosen kulturellen und zivilisatorischen Aufstieg Europas begründete. Die Bündnisse wurden nun dauerhafter, und es ging primär um gegenseitige Beschränkung und Problemlösung bei den eigenen Bündnispartnern. Der Historiker Paul W. Schroeder hat festgestellt, daß zwischen 1867 und 1914 dreiunddreißig Kriege verhindert, Krisen gelöst und Konflikte beigelegt wurden. Bismarcks Leistung in dieser Hinsicht macht seine eigentliche Größe aus. Aber auch diese Bündnisse förderten nicht die europäische Integration und konnten deswegen nicht die Volkstumskämpfe der Minderheiten und die nationalistischen Bestrebungen hin zum Imperialismus dämpfen. Deswegen scheiterte dieses System 1914 und nochmals, sozusagen in zweiter und gesteigerter Auflage, im Zweiten Weltkrieg. Nun entwickelte sich die NATO zum langfristig erfolgreichsten Bündnis Europas. Ihr gelang im Zusammenhang mit dem europäischen Einigungswerk der Konsens über die Regeln einer praktizierten Friedensordnung. Außerdem wurde die politische Integration auf der atlantischen Ebene mit den USA gestärkt. Hauptmerkmal ihres Erfolgs war, nicht auf Expansion und Zerstörung des Feindes zu drängen, sondern sich mit der Bedrohung zu arrangieren und den Untergang des Gegners abwarten zu können. Aber der ursprüngliche Zweck der NATO hat sich überlebt. Nach einem britischen Bonmot war dies: die Russen draußen halten, die Amerikaner drinnen und die Deutschen unten. Es war das amerikanische Sendungsbewußtsein, das die Grundlagen der erfolgreichen NATO untergrub. Einerseits ging das Interesse an weiterer politischer Integration zurück. Europa wurde eher als Konkurrent behandelt, der auf zweitrangiger Stufe zu halten ist. Vor allem aber gab es Verwirrung über die territoriale Zuständigkeit der NATO, das zu verteidigende Bündnisgebiet. In den alten Hexenkesseln der Randzonen und zerrissenen Nationen vom Balkan über den Kaukasus bis nach Afghanistan, in Israel und Palästina, im Irak und im Iran, sogar in vielen Ländern Afrikas, galt es nun, diffuse Bündnisinteressen zu verteidigen. Diffus wurden sie durch die Vermengung von ökonomischen (Erdöl) mit militärisch-geopolitischen Interessen. Vor allem wurde die Vorstellung aufgegeben, daß man mit Elendsgebieten und den dynamischen Prozessen ihrer Bevölkerungsexplosion, mit Herkunftsländern von Terroristen und gescheiterten Staaten leben muß und es lediglich gilt, sie zu überleben. Die Hybris, das amerikanische Imperium zu überdehnen, lief darauf hinaus, daß man diese Gebiete angreifen, in die Knie zwingen, demokratisieren oder zerstören muß. Dabei blieben der Respekt vor dem Völkerrecht und die in den Nürnberger Prozessen zum Gesetz gemachte Ächtung des Angriffskrieges auf der Strecke. Eine langfristige Friedensordnung wie von 1815 bis 1914 (mit lokal und zeitlich begrenzten Kriegen) ist heute angesichts der durch die Finanzkrise von 2008 angerichte95

ten horrenden Schäden für Wirtschaft und Gesellschaft nicht zu erwarten. Jene lange Phase beruhte auf den wirtschaftlichen Säulen des Goldstandards und eines sich selbst regulierenden Marktes. Durch die Kriegsschulden des Ersten Weltkrieges war der Goldstandard nicht mehr zu retten. Nach der Hyperinflation in den Verliererstaaten scheiterten Versuche, ihn wieder einzuführen, an der weltweiten Wirtschaftskrise ab 1929, deren Fehler in geradezu groteskem Ausmaß in den Jahren bis 2008 wiederholt wurden.95 So können erfolgreiche Lebensordnungen in Krisen- und Kriegsregionen verwandelt werden.

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II

Krise

Bei Lebensordnungen ist es so wie im Leben allgemein: Wenn man eben denkt, nun sei alles in Ordnung, dann kommen die Probleme. Je mehr die bösen Buben und Gauner in Erscheinung treten, je mehr Konflikte und Schulden anwachsen, desto unabweisbarer das Krisenbewußtsein. Krisen und die Kritik daran als Gesellschaftsdiagnose gehören zusammen. Das griechische Wort krisis bedeutete Scheidung und Konkurrenzkampf, zugleich aber auch Entscheidung, Urteil und Beurteilung. Es umfaßte also die objektive Krise und die subjektive Kritik. Das lateinische „crisis“ bezog sich vor allem auf die kritische Phase einer Krankheit. Im Krieg war crisis jene Wende, in der die Entscheidung über Sieg oder Niederlage fällt. Unter dem Eindruck der Französischen Revolution sprach Herder von einer Zeitkrise, die zum Umdenken, zu Veränderungen zwingt. Bei solchen Veränderungen gibt es stets die Alternative Evolution, d. h. Reformschritte, oder Revolution, d. h. gewaltsamer Umsturz der bisherigen Hierarchien. Die marxistischen, nationalistischen und rassenbiologischen Ideologien, die zum totalitären Bolschewismus und Faschismus mutierten, die Weltkriege und schließlich das Atomzeitalter führten dazu, nicht nur von Situationen und Lagen zu sprechen, sondern darüber hinaus Zeitdiagnosen wie bei einer kollektiven Erkrankung zu wagen und die Epoche insgesamt als Katastrophe zu empfinden. Es ging um Zäsuren und Wendepunkte der gesamten Geschichte, einheitliche Merkmale einer Zeit und die Ausrichtung des eigentlichen Lebens auf eine Zeitenwende.96 Mit der Beschleunigung der technologischen Änderungen wurde auch die Zeitdiagnostik atemloser. Die Frist, in der die Welt als stabil erschien, schrumpfte von mehreren Generationen auf die eigene Lebensspanne. Bei der weiteren Beschleunigung durch die industrielle Revolution schien „der Teufel seine Hand am Schwungrad“ (Goethe) zu haben. Sie zwang dazu, im Laufe eines Lebens statt eines Berufs als verläßlichen Dauerzustand immer schneller wechselnde technische Funktionen und damit verbundene „Jobs“ erlernen zu müssen. Krise wurde dann zu einem Strukturbegriff der Neuzeit, weil er vor allem ökonomische Bedeutung gewann: nicht nur wegen der Konjunkturzyklen, sondern auch wegen der neuen Risiken für Umwelt, Leib und Leben. Inflation, Ölpreisschock und der Interessengegensatz von Wirtschaft und Wohlfahrtsstaat erweckten widersprüchliche Ängste vor der „Unregierbarkeit“ einerseits und dem zu starken Staat mit zu hoher Abgabenquote und stark regulierter Wirtschaft andererseits. Politik wurde immer mehr zum Krisenmanagement, wobei aber der Krisenbegriff selber diffus blieb. Handelte es sich um eine Summe von Individualkrisen, oder in erster Linie um eine Wirtschafts- und Finanzkrise, oder darüber hinaus um eine allgemein gesellschaftliche Krise? Es empfiehlt sich deswegen, Krisen zunächst abstrakt zu betrachten und bei Individual- und Kollektivkrisen drei Phasen zu unterscheiden: 1) In der vorkritischen Phase wird das Gleichgewicht bedroht. Der Zustand wird labil und der Entwicklungsverlauf ungewiß. Man muß alle verfügbaren Funktionen und

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Ressourcen auf einen Vorgang konzentrieren. Je instabiler das System ist, desto größer die Gefahr eines Zusammenbruchs, die aber von den optimistischen Fortschrittsgläubigen noch geleugnet werden kann. Nach ihnen sind Wirtschaftszyklen bloße Durchgangsphasen, die das Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage auf höherer Stufe wieder neu einspielen müssen: „Jeder kleine oder große Fortschritt besitzt seine Krise.“ 2) Nun wird eine Entscheidung erzwungen, und die Wende tritt ein, entweder spontan oder durch einen äußeren Anstoß. Es kommt zu einer Richtungsänderung. 3) In der nachkritischen Phase erfolgt das Einpendeln auf ein neues Gleichgewicht. Eine allgemeine anthropologische Betrachtungsweise menschlicher Lebensläufe führt dazu, unser Dasein insgesamt als Dauerkrise zu bewerten, die dem Menschen ständig Entscheidungen aufzwingt. Bestärkt wurde diese Verallgemeinerung durch die historische Erfahrung, daß Krisensituationen schon ein Jahr später gar nicht mehr so dramatisch erscheinen, – daß sie angesichts der neuen Gegenwartsprobleme eher nostalgisch belächelt werden. Die Verhältnisse wurden und werden immer schlimmer. Man glaubt stets, daß es nicht noch schlimmer kommen könne. Aber die Grenzen verschieben sich ständig. Ein Beispiel im 20. Jahrhundert waren Planung, aufwendige Entwicklung und Einsatz von Atomwaffen sowie die aberwitzige Atomrüstung mit ihren „overkills“. Eine apokalyptische Menschheitskatastrophe war nun nicht mehr auszuschließen. Ein anderes Beispiel ist der totale Krieg mit dem Einsatz von Zivilisten und dem Bombenkrieg und anderen Formen des Terrors gegen Zivilisten. Die Realität stellt sich so dar, als ob sich der Albtraum ständig steigert. Das führt zur Frage, ob das die Wirklichkeit ist oder ob sie vor dieser Art von Realität zurückweicht, sich entfernt. Der „Gang der Zeit“ erscheint als nicht mehr berechenbare, als launische, ja zornige und dämonische unbekannte Größe. Eine solche Zeitstimmung fördert Motivationskrisen, die sich epidemieartig verbreiten und das geistige Immunsystem ebenso wie die Urteilskraft lähmen können. Das führt zur resignativen Haltung, man könne nichts ändern, bei jedem Widerstand gehöre man zum Verlierer; oder zur zynischen Einstellung, man könne „Widerstand“ leisten, indem man die Zeit für seine Zwecke nutzt.

A

Neurosen

Die Krise im medizinischen Sinne wurde bereits in der Antike (Galen und Hippokrates) als der entscheidende Wendepunkt im Verlauf der Krankheit geschildert. In der Psychologie und Psychiatrie des 19. Jahrhunderts bis hin zu Freud versuchte man, mit Krise den Entwicklungsverlauf einer seelischen Krankheit angemessen zu beschreiben. Erst kommt es zum „Anfall“ und dann zur Phase entweder der Gesundung oder der (im Gegensatz zur Neurose nicht mehr heilbaren) Psychose. Neurotische Einstellungen verraten eine krankhafte Daseinsform, eine Verhaltensweise, von welcher der Patient zunächst nicht lassen kann. Durch eine Phase der Erkenntnis und der Selbsterkenntnis über die Ursachen und Zusammenhänge wird die Lösung, die Wendung im Heilungsprozeß, eingeleitet. 98

Man unterschied die Werdens- beziehungsweise Reifungskrise und die Identitätskrise, bei der das Gefühl verlorenzugehen droht, sich selbst gleichzubleiben und eine historische Kontinuität zu erleben. Begleiterscheinungen der Krise sind Angst, Ohnmacht und Katastrophengefühle. Die Neurosenlehre unterscheidet Psychoneurosen und Organneurosen (bzw. vegetative Neurosen). Letztere betreffen das weite Feld der psychosomatischen Krankheiten. Nach verschiedenen Schätzungen haben 40 bis 60 Prozent aller körperlichen Krankheiten psychische Ursachen oder zumindest Mitursachen. Psycho- und Organneurosen überschneiden sich, wenn hirnorganische Veränderungen mit sozialen Ursachen wechselwirken. Primärer Auslöser und sekundäre Wirkung lassen sich dann nur schwer bestimmen. Depressionen beispielsweise können mit einem „Hirnschrittmacher“ im tieferen Hirnstamm ein- und ausgeschaltet werden. Die reinen Psychoneurosen haben meist mit persönlichen Beziehungen zu tun. Es geht dabei um Übertragungs- und Abwehrneurosen. Sie können sich in bestimmten Symptomen äußern, wie Depressionen, Zwangs- und Angstneurosen, Phobien und Hysterien. Sie können aber auch über bestimmte Symptome hinaus dauerhafte Charakterneurosen sein. Diese zweite Neurosenform ist mit einem Rückzug von den personalen Beziehungen verbunden und wird als narzißtische Persönlichkeitsstörung behandelt. Die Entwicklungskrise nannte Karl Jaspers in seiner Allgemeinen Psychopathologie den Augenblick des Umschlags, aus dem der Mensch entweder mit einem neuen Entschluß als verwandelter hervorgeht oder „verfällt“. „Die Lebensgeschichte geht nicht zeitlich ihren gleichmäßigen Gang, sondern gliedert ihre Zeit qualitativ, treibt die Entwicklung des Erlebens auf die Spitze, an der entschieden werden muß. Nur im Sträuben gegen die Entwicklung kann der Mensch den vergeblichen Versuch machen, sich auf der Spitze der Entscheidung zu halten, ohne zu entscheiden. Dann wird über ihn entschieden durch den faktischen Fortgang des Lebens. Die Krisis hat ihre Zeit. Man kann sie nicht vorwegnehmen und sie nicht überspringen. Sie muß, wie alles im Leben, reif werden. Sie braucht nicht als Katastrophe akut zu erscheinen, sondern kann im stillen Gange, äußerlich unauffällig, sich für immer entscheidend vollziehen.“ (Vgl. dazu das Kap. I A 4.3 über die existentiellen Entscheidungen.) Nicht nur die typologische Einteilung von Neurosen und Psychosen, sondern vor allem die methodischen Arbeiten von Jaspers gelten bis heute als grundlegend. Danach wird das bloße Ausdrucksverstehen (z. B. von Gebärden) vom phänomenologischen Verstehen unterschieden, welches die subjektiven Erscheinungen des gestörten Seelenlebens erschöpfend darzustellen in der Lage ist. Bei Geisteskranken begegnet man schwer zu fassenden Verschiebungen des Mimischen wie übertriebenes Grinsen oder finstere Feindseligkeit, linkisches Schweifenlassen des Blickes oder Starren auf einen Punkt. Die äußere Erscheinung ist oft verwahrlost, als ob der Kranke aus seinem Ich flüchten wolle: wirre Haare, das Hemd nur teilweise in die Hosen gestopft, abwegige Gesten, insgesamt eine hervorstechende Präsenz des Körpers ohne die Führung durch eine geistige Souveränität.97 Davon unterscheidet Jaspers das rationale Verstehen (von organischen Ursachen und genetischen Zusammenhängen) und das geistige Verstehen, welches Gestalten, Bilder, Symbole und Ideale zu erfassen vermag. Daß er darüber hinaus auch das exi99

stentielle und metaphysische Verstehen (hinsichtlich der Sinnfragen und Glaubenskrisen) thematisierte, führte ihn zur Philosophie. Nur wenige Psychologen und Psychiater vermochten ihm auf diesem Weg zu folgen.98 Im Gegensatz zu den Psychosen, die den Menschen im Ganzen befallen und zum Geisteskranken machen, umfassen die Neurosen den weiten Bereich der verschiedenen (oben genannten) Unterarten von Lebenskrisen. Sie erscheinen eher als Übergänge zum gesunden Allgemeinmenschlichen, auch weil einzelne neurotische Phänomene vorübergehend bei sonst gesunden Menschen vorkommen. Für die Neurosen ist der Psychotherapeut, für Psychosen der Psychiater zuständig.99 Nun gibt es aber Therapien, die auf einem einseitigen Menschenbild beruhen. Nach allen bisher damit gemachten Erfahrungen sind sie selbst die Neurose, für deren Heilung sie sich ausgeben (so Karl Kraus zur Psychoanalyse). Dazu gehören die Triebund Willenslehren, das Pathos einer unreflektierten Lebensphilosophie sowie die Mitleidsethik.

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Trieblehren und Lustprinzip

Die physikalische Bewegungsenergie beruht auf den vier physikalischen Kräften (Gravitation, Elektromagnetismus, starke und schwache Kernkraft). Wenn sie auf das Organische oder Psychologische übertragen wird, spricht man von Tendenzen, Antrieben, Bedürfnissen, Begehren und Begierde oder Drang. Max Scheler sah im Drang, Sigmund Freud im Trieb die psychische Grundenergie. Das deutsche Wort Trieb geht auf „trift“ zurück, auf Vorgänge des Treibens, Schwemmens und Getriebenwerdens. Herden werden getrieben, zugleich gibt es den Herdentrieb im doppelten Sinn des Wortes. Das Lebensschiff wird von Strömungen und Winden getrieben; Schulden werden eingetrieben. Erst in der Neuzeit gab es einen Bedeutungswandel: Trieb wurde zum Eifer, zum inneren Drang oder Antrieb. Nun kam es zu dem Bedeutungsfeld: Antrieb, Bedürfnis, Begehren, Begierde, Drang, Instinkt, Motivation, Neigung, Streben und Wille. Ein Mensch wird durchtrieben genannt, wenn er die Pläne anderer hintertreibt. Es gibt den triebhaften und umtriebigen, den drängenden und aufdringlichen Typus, Triebschwäche und Antriebsschwäche. In der Antike und Neuzeit ersetzten Triebtheorien eine differenzierte Anthropologie, in welcher die (vorbewußten, rationalen, geistigen und existentiellen) Funktionen angemessen unterschieden wurden. Für Freud gab es ohne eine solche Differenzierung nur ein zentrales libidinöses Potential, mit dem auch alle schöpferischen Kulturleistungen „erklärt“ werden können. Mit der Erforschung dieses Labyrinths erhob er den Anspruch, Theorie und Therapie gleichzeitig anbieten zu können: Das Triebpotential ist demnach durch Umsetzung der libidinösen Triebkraft – ebenso wie die physikalischen Kräfte – konvertierbar in höhere psychische Betätigungen. Die Libido wird lediglich „sublimiert“, das heißt stofflich verfeinert, nicht aber in eine neue Wirklichkeitsstufe verwandelt. Die Triebkräfte bestimmen also weiterhin das Denken, Handeln und die Erlebnisweisen.

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Diese „mechanische“ Auffassung übersieht, daß auch die (Sexual-)Triebe durch Familie, Kultur und Pädagogik maßgeblich beeinflußt werden. Man kann Triebe durch ein rigides Erziehungsmilieu auch „austreiben“, es gibt schließlich desorientierte und verängstigte Depressive (wie bei manchem deutschen Jüngling heute zu beobachten), bei denen sie regelrecht verkümmern. Als C. G. Jung noch als „Kronprinz“ begrüßt wurde, fiel ihm als erstes auf, daß Freud hinsichtlich der Psychiatrie insgesamt ein Laie war. Ihn interessierte nur die Entwicklung seiner Theorie. Sein Libido-Begriff wurde eingeengt als bloßes sexuelles Bedürfnis oder Wollen (er wurde „verklemmt“); ein weiteres Bedeutungsspektrum hinsichtlich höherer geistiger Formen (Eros und Liebe) blieb ausgeklammert. Jung war enttäuscht, daß die Traumdeutungen stets mit negativen Urteilen verbunden waren: Es ging immer nur um Verdrängung von Triebwünschen, um Täuschungsvorgänge.100 Die Charakterzüge sind für Freud bloße Kompromißbildungen aus Begehren, Verboten und Ängsten. Dies führt zu verschiedenen Dualismen der Freudschen Triebtheorie: Die Ich- und Selbsterhaltungstriebe stehen den Sexualtrieben gegenüber, die narzißtische Libido der Objektlibido, die Libido der Aggression und schließlich der Eros dem Todestrieb. Diese Dualismen, die stets Indiz für eine magisch-primitive Anthropologie sind, wurden zu Dogmen verfestigt, die Freud antrieben, ein geheimes Zentralkomitee zur Überwachung seiner Lehren zu bilden. Die Dogmen vertrieben nicht nur die besten seiner Schüler (Alfred Adler, Magnus Hirschfeld und C. G. Jung), sie führten auch zu einer Krise der Psychologie, zum Elend der psychoanalytischen Praxis mit hohen Kosten und kaum nachweisbaren Behandlungserfolgen. Den positivistischen Dogmen hatte man sich in einem vorgeschriebenen – sektenähnlichen – Ritual, der sogenannten Lehranalyse, wie in einem Priesterseminar zu unterwerfen. Ausgangspunkt dieser Krise war die Annahme, das für zentral erklärte Handlungsziel sei, Lust zu suchen und Unlust zu vermeiden. Dieses „Lustprinzip“ formulierte Freud positivistisch: „In der psychoanalytischen Theorie nehmen wir unbedenklich an, daß der Ablauf der seelischen Vorgänge automatisch durch das Lustprinzip reguliert wird, das heißt, wir glauben, daß er jedesmal durch eine unlustvolle Spannung angeregt wird und dann eine solche Richtung einschlägt, daß sein Endergebnis mit einer Herabsetzung dieser Spannung, also mit der Vermeidung von Unlust oder Erzeugung von Lust zusammenfällt.“101 Der „Glaube“ an diese „Automatik“ – aber auch die Lehre vom Todestrieb – beweist bereits das enorme Krisenpotential reiner Trieblehren, von dem positivistischen Lustprinzip Fechners und Freuds bis zu Nietzsches Lobpreisung der Lust, die ewig währen will. Hervorgerufen wurde dieser „Glaube“ Freuds durch eine hochneurotische Konstitution, die durch Verfolgungswahn, (auch antisemitischen) Selbsthaß und schwere psychosomatische Symptome gekennzeichnet war. Die bei C. G. Jung begonnene Analyse (eine Art wechselseitiger Wille zur Macht unter Therapeuten) brach er an einem heiklen Punkt mit der Begründung ab, dadurch werde seine Autorität gefährdet.102 Nur so ist wohl sein missionarischer Eifer zu erklären, mit dem er eine ergebene Schar von Anhängern um sich scharte, um die Reinheit der Lehre zu bewahren. Jung mokierte sich noch nach Freuds Tod über dessen „Ängstlichkeit vor der Welt“, weil er es nie 101

riskierte, vor einem Kongreß aufzutreten und seine Sache öffentlich zu vertreten. Für Jung war offensichtlich, daß diese Art von Tiefenpsychologie nur ein innovativer Ausgangspunkt sein konnte, der weiter ausgebaut werden mußte.103 Das Krisenpotential lusttheoretischer Ansätze wurde bereits von Plato ironisch beschrieben. Er attestierte der athenischen Jugend eine fieberhafte Unruhe, in welcher alle Lüste als gleich angesehen werden, bis sich unter ihnen ein gewisses Gleichgewicht hergestellt habe. Die Jünglinge freuten sich über diese Lehre, als hätten sie einen wahren Schatz von Weisheit gefunden. Sie seien vor Vergnügen ganz außer sich und verschonten mit dieser Heilslehre weder Vater noch Mutter und würden sogar die Barbaren bekehren wollen, wenn sie nur einen Dolmetscher hätten. Statt des Gesetzes und der Vernunft würden im Staate nun Lust und Schmerz zu Herrschern. Dem versucht Plato mit einer anthropologischen Differenzierung zu begegnen, der Unterscheidung zwischen körperlicher Trieblust und geistig-seelischen Bedürfnissen. Er stellt die Frage nach den Grenzen und den maßhaltenden Mächten des Seelenlebens, um den Kreislauf der Lüste zu vermeiden, das Tauschgeschäft, wo bloß „Lust gegen Lust und Unlust gegen Unlust und Furcht gegen Furcht“ eingetauscht wird wie bei Münzen. Diese Einsichtslosen leben beständig in „Saus und Braus … bewegen sich … nach unten und von da wieder aufwärts bis zur Mitte und treiben sich ihr Leben lang in dieser Bahn … wie das Herdenvieh halten sie das Auge immer nach unten gerichtet und nähren sich gebückt zur Erde und zu den Trögen, sich mästend und sich bespringend … voller Gier … schlagen sie aus und stoßen einander mit eisernen Hörnern und Hufen und bringen einander um aus reiner Unersättlichkeit …“104 Und so endete auch zweieinhalbtausend Jahre später das Straßentheater der neomarxistischen Studentenrevolte im Westen mit einer „sexuellen Revolution“. Das letzte Signal, das die Völker hören sollten, war demonstrative Nacktheit, um die Autoritäten zu schockieren.

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Willensmetaphysik

Ebenso wie die reinen Trieblehren sind auch die Willenslehren (die Lehren vom Willen zur Macht oder zur „Selbstverwirklichung“) theoretischer Ausdruck einer anthropologischen Krise. Es handelte sich um den vergeblichen Versuch, die vielen Aspekte des Willens (guter und böser Wille, Willenskraft und Wille zur Macht, Willensschwäche, göttlicher Wille und menschliche Willkür) mit dieser einen Lebenskategorie erfassen zu wollen. Letztlich geriet dabei nur die Vielfalt der psychischen Funktionen, der Arten der Macht (Kap. II B 1) und der damit zusammenhängenden Kausalitätsarten und Lebensformen aus dem Blickfeld. In der Ethik von Plato und Aristoteles wurde der Wille eher unter dem Aspekt behandelt, über die bloßen Impulse und Begierden oder Wünsche hinaus sich von einem rationalen Streben nach Zwecken und Handlungszielen leiten zu lassen. Nicht zufällig hatte Aristoteles von „ungefähr“ vier Kausalitätsformen gesprochen. Leibniz sah den Willen im Zusammenhang mit dem Trieb. Der Wille war für ihn aber durch die Tendenz gekennzeichnet, bewußte Willensentscheidungen (Apperzeptionen) zu treffen.

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Der Wille als Entscheidungsvermögen prägte die Diskussionen um Freiheit, Schicksal, Determination, Absichtlichkeit und Zurechnung (schuldhaftes Handeln). In der allgemeinsten Form wird unter Wille ein bloßes psychisches Antriebspotential verstanden, das stärker oder schwächer ausgeprägt sein kann. Man kann auch von Lebenskraft sprechen, die sich in den verschiedensten psychischen Phänomenen äußert. Diese Phänomene deuten auf verschiedene psychische Funktionen hin. Ganz im Sinne der antiken Tradition war für Kant der Wille praktische Vernunft, das heißt ein Vermögen, nach Prinzipien zu handeln, sich selbst Gesetze zu geben und so frei handeln zu können. Im Anschluß an diese Metaphysik der Freiheit verstand auch Hegel den subjektiven Geist als Einheit des theoretischen Geistes (Intelligenz) und des praktischen Geistes (Wille). Der subjektive Geist kann erst auf dem Niveau dieses praktischen Geistes frei werden. Trotz dieser vielen Aspekte des Willens wurde er durch Schopenhauer zur Willensmetaphysik verabsolutiert. Dadurch wurde die Evolution einer differenzierten Anthropologie blockiert. Für ihn war das eigentliche Wesen des Menschen nicht das erkennende Bewußtsein, sondern der Wille als das eigentliche „Ding an sich“. Er bezeichnete fälschlich den Willen als metaphysisch, den Intellekt als bloß physisch. Die Welt als Wille sei die wirkliche Welt. Gleichzeitig konstatierte Schopenhauer den Willen aber auch als blindes, vernunftloses Drängen und Streben, das nur durch das Selbstbewußtsein als „Erfahrung des Wollens“ überwunden werden könne. Dies löste eine das 19. Jahrhundert kennzeichnende, ebenso frucht- wie uferlose Diskussion über die Verneinung oder Bejahung des Willens zum Leben aus. Je nach Lust und Laune war man Buddhist oder Machtmensch nach dem Motto „des Menschen Wille ist sein Himmelreich“.

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Lebensphilosophie

Willensmetaphysik und die von Bergson, Nietzsche und Bollnow vertretene Lebensphilosophie als Kritik der „theoretischen“ Philosophie sind untrennbar verknüpft. Dabei geriet nur eine grundlegende Erkenntnis Kants aus dem Blick, daß nämlich das Leben (ebenso wie Materie, Energie, Welt oder Transzendenz) nicht insgesamt Erkenntnisgegenstand sein kann, sondern daß für die Erkenntnis immer nur einzelne Aspekte des Lebens ins Blickfeld geraten. Für Nietzsche war das Wesentliche am Willen der Wille zur Macht, das heißt die Machtsteigerung. Diese enthielt für ihn aber auch den Willen zur Selbstüberwindung und den Willen zur Wahrheit. Nietzsche sah zunächst das Leben im Gegensatz zur Wissenschaft und zur historischen Rückschau auf das Leben. Seine Hoffnung, die dionysische Lebensfülle durch die Kunst, vor allem durch die Musik Richard Wagners, erneuern zu können, meinte er nach seinem Bruch mit Wagner als romantische Täuschung überwunden zu haben. Leben wurde für ihn nun Aneignung, Verletzung, Überwältigung des Fremden und Schwächeren als Wille zur Macht; aber auch als Wille zur Akkumulation der Kraft. Die Erkenntnis, daß man die Moral vernichten müsse, um das Leben zu befreien, lief auf die Formel hinaus: „Alle Moral verneint das Leben.“

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Das Leben wird als reiner Prozeß der Wille zu sich selbst. Zarathustra schaut in das „unergründliche Auge“ des Lebens und kommt zur obersten Erkenntnis: „War das das Leben? Wohlan! Noch einmal.“ Letztlich formuliert Nietzsche emphatisch nur das neu, was in der Antike unter Leben verstanden wurde; nämlich eine innere Bewegungskraft, die das Lebendige zur Selbstbewegung befähigt. Das Prinzip des Lebens war für die Antike die Seele. Plato verstand sogar das gesamte Universum als ein vollkommenes Lebewesen, begabt mit einer einzigen Seele. Welche seelischen Funktionen auf welchen verschiedenen Wirklichkeitsebenen den Menschen leiten, geriet bei Nietzsche durch das Pathos seiner Lebensphilosophie aus dem Blickfeld. Bewußtsein, Geist und ethische Problemstellungen wurden zu bloßen Widersachern des Lebens. Das gleiche gilt für die Aspektvielfalt des Lebens, die mit den Problembereichen der Lebensentstehung und Lebenserfahrung, der Lebensformen, Lebensgefühle, Lebenskategorien, Lebenskriterien, Lebensqualitäten, Lebensräume und nicht zuletzt der Lebenslügen und des ewigen Lebens verbunden ist. Das Pathos der Lebensphilosophie mit ihrem „Willen zum Willen“ führt angesichts der Krankengeschichte von Nietzsche zu einem Verdacht: Man will kreuzfidel erscheinen, obwohl man doch kreuzunglücklich ist; man leidet und will es nicht leiden. Der Philosoph wollte Lebemann sein. Aber oft – wie Thomas Mann im „Doktor Faustus“ konstatierte – lief das darauf hinaus, daß auch der Schwachmatikus die brutalen Instinkte vergöttern wollte. Letztlich bereitete diese Art von Lebensphilosophie nur die sozialistischen und faschistischen Ideologien vor. Für diese war die Wurzel der Ethik lediglich pragmatisch auf die Durchsetzung von Klassen-, Rassen- oder Nationalinteressen ausgerichtet. Der Wille zur Macht führte im wahrsten Sinne des Wortes zu einer „verheerenden“ Anthropologie; zum Willen zur Weltrevolution oder zur Weltmacht, zum Imperium als einer Schimäre alter Sklavenhalterstaaten und Kolonialreiche. Insofern war die Lebensphilosophie als Ausdruck einer biologischen Anthropologie nicht in der Lage, die vielfältigen (naturwissenschaftlich-medizinischen, psychologischen, religiösen und metaphysischen) Anthropologien in einen vernünftigen Zusammenhang zu bringen. Eine „Morphologie und Entwicklungslehre“ des Willens zur Macht wurde lediglich propagiert als Programm des Übermenschen (der sich selbst zu überwinden in der Lage ist) und des guten Europäers. Aber das war nur „guter Wille“ ohne tragfähige anthropologische Basis. Nietzsche war der letzte deutsche Philosoph, der den Seelenbegriff unbefangen in den verschiedensten Zusammenhängen verwendete. Es gab bei ihm die zusammengesetzte Seele des deutschen Mischvolkes, die Hegel ins System gebracht und Wagner in Musik gesetzt habe. Außerdem griechische, höchste, moderne, heroische, dionysische und hochgeartete Seelen. An anderer Stelle verwarf er den Begriff Seele ebenso wie den der Kraft und des Geistes als reine Fiktionen. Demgegenüber sollte – auch wenn dies in der Sprache nicht durchwegs möglich ist – wenigstens im philosophischen Denken die Kraft als rein physikalischer Begriff (mit den vier physikalischen Grundkräften) vom Willen als psychologischem Begriff unterschieden werden. Hier gibt es nicht nur den starken und den schwachen Willen, son104

dern auch die verschiedenen psychischen Grundfunktionen (vgl. dazu Kap. I A 3). Macht ist schließlich ein soziologischer Unterbegriff. Es gibt die repressive, mit Sanktionen und Institutionen arbeitende Macht; die wirtschaftliche Macht arbeitet mit Belohnungen („Boni“); und die Meinungsmacht wird von Kirchen, Autoritäten und Medien ausgeübt. Nietzsches Anthropologie leidet auch daran, daß er die Ursachenvielfalt (die vier aristotelischen Ursachen Materie, Form, Antrieb und Ziel sowie Kants Kausalität aus und durch Freiheit) vernachlässigte. Wie er selbst einräumte, habe er die Willensursache „bis zum Unsinn“ bevorzugt.105 Daß Nietzsche keine vernünftige Anthropologie entwickeln konnte, ist einfach erklärt: er verwechselt Systematiker mit Systemdenkern. Dies führte bei ihm zu einem wilden Denken, zu einer Verwechslung aller logischen Ebenen. Der Täuschungswille des Lebens und das Antitäuschungsprogramm der Wissenschaft werden mit dem „Boden der Moral“ vermengt. Die Wissenschaft wird dabei sogar zum lebensfeindlichen und zerstörerischen Prinzip, zum versteckten „Willen zum Tode“. Wenn Dasein (Leben), Bewußtsein (Wissenschaft), Geist (Geisteswissenschaften) und existentielle Probleme vermengt werden, wird Denken zur Glückssache. Dies führte bei Nietzsche am Ende zu einer „unkontrollierbaren geistigen Involution“. Der Versuch des Willens, sich von sich selbst erlösen zu wollen, indem er auch lernt, „rückwärts zu wollen“. Das Ungewollte willig auf sich zu nehmen, übersteigt die Möglichkeiten menschlicher Existenz. Diese Implosion oder einem Kollaps gleichzustellende Involution führte letztlich dazu, daß Nietzsches Denken mit einer eindeutig fatalistischen Grundhaltung endete. Sein Euphemismus hierfür lautete: „Amor fati“. Dabei kam es auch zu einem Kurzschluß zwischen Liebe und Dasein: „Das Notwendige nicht bloß ertragen, sondern es lieben … Meine Liebe entzündet sich ewig nur an der Notwendigkeit.“106

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Mitleidsethik

Vor der Finanzkrise von 2008 konnte man davon ausgehen, daß von den sechs Milliarden der Weltbevölkerung eine Milliarde wohlhabend ist und eine Milliarde in absoluter Armut lebt. Die restlichen vier Milliarden lebten in Ländern, die sich mit erstaunlicher Geschwindigkeit entwickelten. Dieses Zahlenverhältnis wird nach der Finanzkrise neu zu bestimmen sein. Die Entwicklungshilfe der wohlhabenden Welt – so wird inzwischen für die Jahre ab 1960 gefolgert – war allenfalls in der Lage, Nothilfe in Katastrophensituationen zu leisten, nicht jedoch die langfristigen Entwicklungsziele nachhaltig zu fördern. Die Mehrzahl der Projekte war ökonomisch irrelevant. Das allzu gutgemeinte System der Entwicklungshilfe – Mitleidende und Bemitleidete – geriet insgesamt in Mitleidenschaft. Verhängnisvoll kann in diesem Zusammenhang eine Mitleidsethik werden, die mehr schadet als nutzt, wenn die Ressourcen der Entwicklungshilfe in dem unfruchtbaren Boden von korrupten Regimen und Despotien versickern.107 Die wiederholten Forderungen nach noch mehr Entwicklungshilfe beruhen auf naiven Annahmen über die Her-

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kunft des Wohlstands der westlichen Welt. Das Geld liegt nicht in Geldtresoren bereit, sondern muß erst – vor allem durch die Verpfändung von Grundeigentum – erwirtschaftet werden. Das deutsche Wort Mitleid ist ein wenig geglückter Übersetzungsversuch von Sympathie. Nun gibt es Sympathische und Unsympathische (oder wie in Baden gesagt wird: Unsymbadische). Deswegen unterschied schon Plato ein pathologisches und ein vernunftgeleitetes Mitleid. Geht dieses Unterscheidungsvermögen verloren, wird aus dem Nächsten der „Nächstbeste“, der Nächstbeliebige. Aristoteles hielt das Mitleid für vernünftig, wenn der Schmerz über ein Übel leitend ist, das mit Vernichtung und Leid jemanden bedroht, der es nicht verdient; und das so nah erscheint, daß man befürchten muß, es könne einen selber treffen. Diese Nahsicht und Klarsicht hat sich durch die modernen Medien, mit denen die Bilder verhungernder Kinder seit Jahrzehnten in die Wohnstuben geliefert werden, dramatisch verändert. Die christliche Nächstenliebe als Ausdruck einer allgemeinen Menschenliebe muß deswegen im Zeitalter des rasanten Bevölkerungswachstums erhebliches Krisenpotential in sich tragen. Diese Verwandlung der Nächstenliebe zur Fernstenliebe birgt die Gefahr in sich, in Menschenhaß (Misanthropie) umzuschlagen, wenn einem die Menschenwelt – wie Schopenhauer formulierte – nur noch als Karikaturenkabinett, Narrenhaus oder Gaunerherberge erscheint. Da werden Frauen zu Passionsfiguren, Männer zu Klageweibern, und es bleibt kein Auge trocken. Im übrigen ist es immer wieder erstaunlich, wie böse gerade Gutmenschen werden können, wenn ihre Naivität in Frage gestellt wird. Es sind nicht diejenigen, welche tatsächlich ihr Vermögen (Arbeit und Geld) in der Dritten Welt einsetzen. Sondern fragwürdig sind die Ankläger, deren ethische Forderungen nicht an sich gerichtet werden, sondern an andere, die Besitzenden und die Steuerzahler. Es gibt dabei eine Konkurrenz von Medienberühmtheiten auf der Bühne: Wer tritt moralischer, opferwilliger gegenüber den hungernden Kindern, den Mühseligen und Beladenen dieser Welt auf? Unfreiwillige Komik liegt vor allem in dem Kontrast und Interessenkonflikt zwischen expandierenden bevölkerungsreichen Regionen und denen mit Bevölkerungsschwund. Hier ist Mitleidsethik nur hilfloser Versuch, die Realitäten zu leugnen und vor bedrohlichen Mächten Schonung zu erlangen (dazu Kap. I A 7.3 und 7.10). Kant hatte bereits die Ambivalenz des Mitleids als eines natürlichen Affekts erkannt. Im Gegensatz zur englischen Gefühlsethik, welche das Mitleid als Grundlage der öffentlichen Wohlfahrt auffaßte, sah er typische Gefahren einer reinen Mitleidsethik für die Gemeinschaft. Das Mitleid sei zwar ein liebenswürdiges Gefühl, es könne jedoch auch schwach und jederzeit blind machen. Die Liebe gegen den Notleidenden sei nämlich keine Tugend, da sie das Verhältnis der gesamten Pflichten (u. a. zur Selbsthilfe) nicht ausreichend berücksichtige. Im übrigen sei Mitleiden auch „kein großes Gegenmittel gegen den Eigennutz“ (und – wie man hinzufügen muß – gegen den Mißbrauch). Im Gegensatz zu Schopenhauer, der das Mitleid zum Prinzip und Fundament der Ethik erhob, sah Nietzsche eine spezifische Gefahr der Mitleidsethik: Mitleid, Einstimmung in das Leid des Nächsten, könne leicht Selbsthaß und Nächsten-Haß hervorrufen. Die Mitleidsethik sei zu einem die Gegenwart bestimmenden Kulturphänomen 106

geworden, ja zu einer herrschenden Religion in einer gottlos gewordenen Welt. Sie stehe dem pädagogischen Ideal der individuellen Selbststeigerung entgegen, also allen Instinkten, welche auf Erhaltung und Werterhöhung des Lebens aus sind. Letztlich sei das Mitleid ein „Multiplikator des Elends“ und als „Konservator alles Elenden“ ein Hauptmerkmal der Dekadenz. Für Nietzsche stiftet das Mitleiden noch mehr Leiden (der Mitleidende gerät in Mitleidenschaft). Insbesondere wird der Bemitleidete herabgesetzt, indem das fremde Leid des eigentlich Persönlichen entkleidet wird. Seine Selbstachtung wird mißachtet und führt zur Selbstverachtung. Mitleid oder Mitgefühl als Tugend sei nur denkbar, wenn es von einem „klugen Egoismus“ begleitet wird, der das Mitleid als „Vordergrundsdenkweise“ (in den bloßen Kategorien von Lust und Leid) zu überwinden vermag. Nietzsche konstatierte eine Ermüdung aller großen Geister gegen die Mitleidsethik und bezeichnet sie als die größte Gefahr für die Menschheitszukunft. Konkret kann dies bejaht werden, wenn Hilfe auch dann geleistet wird, obwohl sie politische Korruption, ökonomische Abhängigkeit und ein die Ressourcen eines Landes übersteigendes Bevölkerungswachstum fördert.108 Dann hat Mitleid nicht nur Krisen-, sondern Katastrophenpotential. Letztlich gehört die Mitleidsethik noch zur naturalistischen Ethik (vgl. Kap. I A 4). Sie ist vorrational an Affekte gebunden und lediglich der Gegentypus der auf Durchsetzung der Macht- und Lebensinteressen bedachten Herrenmoral Nietzsches. Sie wägt nicht ab zwischen Holschulden, den Sozialleistungen, und Bringschulden, den Pflichten zur Selbsthilfe und zur Gegenleistung. Mitleidsethik gehört demnach noch nicht zur Stufe der auf Rationalität zielenden positivistischen Ethik oder einer tragfähigen (idealistischen) Gemeinschaftsethik. Die in Kapitel I A 7.3 erörterte demographische Naivität hat viel mit Bequemlichkeit und der Suche nach einer „Philosophie des Glücks“ zu tun. Als endgültig Besiegte des 20. Jahrhunderts nahm man „Abschied vom Prinzipiellen“ (Odo Marquard), von den Zweckbezügen „bloßer Selbstbehauptung“, um unter dem Schirm der Besatzungsmächte seine „natürliche“ Anlage zum Guten, zum „Glück“ im Winkel zu entfalten. Vor dem bedrohlichen Anwachsen von Einwanderergruppen, die der westlichen Lebensform grundsätzlich feindlich gegenüberstehen, verhält man sich frei nach dem Kinderschlaflied:„Müde bin ich dieser Themen, will meine Ruh, schließe beide Äuglein zu …“ Es bleibt aber der Unterschied zwischen Mitleid als Affekt und Mitgefühl als Tugend, wie er von den verschiedensten Denkern postuliert wurde. Mitleid sollte in Mitgefühl verwandelt werden, in sozial verantwortliche Empathie. Diese ist zwar noch ein Affekt, der aber zusätzlich psychosoziale Zusammenhänge zu berücksichtigen vermag. Erst dann kann eine sinnvolle praktische Solidarität geübt werden, die auch Pflichten einfordert: vor allem das Hauptprinzip aller Evolution, die Selbsthilfe durch Selbstorganisation eigenständiger (von Hilfsorganisationen unabhängiger) Lebensformen. Das so zu verstehende konkrete Mitgefühl war für Adam Smith nur im Zusammenhang mit Selbstliebe und Vernunft Basis einer tragfähigen Moralität. Lakonisch vermerkte er: „Für alle Lebewesen Sorge zu tragen ist die Aufgabe Gottes und nicht des Menschen.“ 107

Die christliche Tugend der Nächstenliebe ist allein wegen dieser Begriffsbildung problematisch. Man sollte besser von sozialer Fürsorge und Verantwortung sprechen, von tätiger Hilfe und konkret und gezielt geplanter Sozialpraxis, wie in der islamischen Binnenethik. Wenn Nächstenliebe zur Fernstenliebe wird, tendiert sie zum Allmachtswahn, der sich in bloßen Anklagen und Phrasen verliert.

B

Soziale Aggregate

Es gibt physikalische, biologische, soziale, psychologische und philosophische Aggregate, in denen Ordnungszustände versagen. Ein biologisches Aggregat ist zum Beispiel eine Zelle, in der die Qualitätskontrolle versagt und die Proteine nicht richtig strukturiert – gefaltet – werden, sondern einfach verklumpen. Alle zentralen und peripheren Nervensysteme werden von zwei Faktoren bestimmt: den Molekülen, welche deren Ausbau und Verzweigung anregen; und den entgegengesetzt arbeitenden Inhibitoren, welche dies bremsen. Ein zukunftsträchtiges Forschungsgebiet in der Biochemie ist heute das komplexe Zusammenspiel in allen Zellen und Organen von „Regies“ (abgeleitet von Regeneration) und „Nogos“, welche das uferlose Wachstum stoppen. Philosophische Aggregate kann man auch als Modephilosophien bezeichnen, wenn sie unsystematisch und methodisch willkürlich aus verschiedenen, an zeitbedingten politischen Interessen orientierten Elementen zusammengesetzt („verklumpt“) sind. Aggregate sind ganz allgemein die bloß äußerliche Verbindung von Elementen, welche durch diese Verbindung nicht integriert und damit verändert werden. Ganz im Sinne dieser Definition von Modephilosophien war für Kant das Aggregat eine zufällige Anhäufung durch den Verstand. Die Vernunft strebe dagegen einen systematischen und organischen Zusammenhang an. Auch für Hegel war Prinzip des Aggregats eine Zusammensetzung durch bloß äußerliches Denken. Das Volk verkörpere eine Kulturordnung; das „Aggregat der Privaten“ sei dagegen durch einen Zustand der Unrechtlichkeit, Unsittlichkeit und Unvernunft gekennzeichnet. In § 544 der Enzyklopädie fordert er, daß die Stände organische Momente des Staates zu sein haben. Die objektive Freiheit, das heißt das vernünftige Recht, dürfe nicht der formellen Freiheit, insbesondere dem Privatinteresse, aufgeopfert werden. Aggregate der Privaten (die Griechen nannten den Privatmann ohne öffentliche Verpflichtung den „idiotes“) können durch Plutokratien entstehen, in denen die Superreichen (wie in den USA zu Beginn dieses Jahrtausends) sich von allen Abgabenverpflichtungen befreien und alle Kontrollmöglichkeiten einer Banken- und Börsenaufsicht aufheben. Soziale Aggregate entstehen ferner durch Immigranten, die sich nicht integrieren lassen, das heißt sich weigern, die demokratischen Kernregeln der Verfassung vorbehaltlos zu akzeptieren und den Grundkonsens des Kulturkreises zu respektieren. Die Nationalkultur beruht darauf, daß es geglückt war, verschiedene Stämme in einer langsam gewachsenen Verfassungsordnung zu vereinigen. Aggregate sind dagegen zerrissene Gesellschaften, in denen unterworfene Völker oder Minderheiten unter108

drückt werden und die lediglich die Alternative zwischen Zwangsordnung oder Bürgerkrieg haben. Nationalistische Staaten und Despotien, die Minderheiten unterdrükken, haben das Ziel einer Nation verfehlt, durch Sprachgemeinschaft und gemeinsame kulturelle Überzeugungen eine Einheit durch Einigkeit zu erreichen. Aggregate verfehlen ferner das Ziel einer sozialen Ordnung, auf einer innovativen und autarken Wirtschaft zu beruhen und ein Rechtssystem zu entwickeln, das aktive Mitwirkung fördert und Sicherheit gegen innere und äußere Feinde gewährleistet. Im Aggregat tritt an die Stelle des Volkes die Masse; an die Stelle der Gemeinschaft mit gemeinschaftlichen Zielen die zufällige Menge der sich bekämpfenden Stämme, Konfessionen oder Klassen und der unterschiedlichen Minderheiten; an die Stelle einer kulturtragenden Gesellschaft die anonymen Konsumenten der Massenkultur. Die Traumatisierungen durch totalitäre Systeme und Kriege führten dazu, daß Identitäten nur als Riß im Leben empfunden wurden: Wir sind die Besseren, wir sind die unschuldigen Opfer. Man wird von der Geschichte nur als aktiver Täter, passives Opfer oder indirekter Nutznießer erfaßt und dadurch stigmatisiert. Man hat sie nur auszubaden und bleibt nicht integer, als „Kriegsversehrter“, zurück. So schlägt sich das in den Köpfen nieder, wenn die größeren Zusammenhänge nicht mehr begriffen werden.109

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Arten der Macht

Die griechischen und lateinischen Worte für Macht (dýnamis bzw. potentia) deuten allgemein die mit der Macht verbundene Energie an und sind eher wertneutral. Das deutsche Wort Macht hat dagegen denselben Wortstamm wie Magie und ist allein deswegen vieldeutiger. Es kann neutral Kraft, Stärke, Einfluß oder Vermögen bedeuten; negativ Einfluß, Gewalt und Wucht; positiv Autorität und die legitimierende Befugnis, beziehungsweise Vollmacht. Schon in den frühen Gesellschaften mußte sich die militärische, wirtschaftliche und sakrale Macht differenzieren und gegenseitig stabilisieren (Kap. I B 1.3). Die politische Philosophie begann mit Plato und war eine Antwort auf die Diskussion der Sophisten über das Verhältnis von Macht und Recht. Es ging dabei um die Frage, ob Macht ohne Rechtsgrundlage durchzusetzen sei und ob es ein Recht nur bei Gleichheit der Kräfte gebe. Aus den Erfahrungen seiner Zeit schloß er, daß keine Erlösung von den sozialen Übeln zu erwarten sei, wenn sich die politische Macht nicht mit der Philosophie verbünde, ihren sittlichen Charakter bewahre und vernunftbestimmt sei. Sonst müsse der Mensch zum Tier entarten. Diese klassische Definition des neurotisch gewordenen Machttriebs bestimmt auch die neuzeitliche politische Theorie. Kant thematisierte im Zeitalter der Nationalstaaten die außenpolitische Macht in bezug auf andere Völker als Gewalt. Für Hegel entstand die Macht bereits durch die Vereinigung der Einzelnen zur Organisation. Zum Wesen jeder echten Staatlichkeit gehöre auch eine Begriffstheorie, das „Übergreifen“ des „machthabenden Begriffs“. Gewalt sei nur die äußere Erscheinung des „Systems der Notwendigkeit“, nämlich der Polizei und Rechtsaufsicht. Hegel forderte jedoch auch die Legitimierung der weltlichen Macht durch geistig-religiöse Grundlagen.

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Nietzsche verallgemeinerte dann den „Kampf um Macht“ als den Willen zur Steigerung und Verbesserung bis hin zu den sublimen geistigen Leistungen und zur Selbstüberwindung. Den positiven Tugenden der kriegerischen und aristokratischen Lebensform stand für ihn die passive „Herdenmoral“ der Masse gegenüber, deren Macht nur auf ihrer zahlenmäßigen Stärke beruhe. Hannah Arendt und J. K. Galbraith faßten nach der historischen Erfahrung zweier Weltkriege die Arten der Macht wie folgt zusammen, wobei die Quellen der Macht von den daraus abgeleiteten Formen unterschieden werden: Die erste Quelle der Macht beruht zunächst auf Gruppen und deren Organisationen. Deren faktische Gewalt arbeitet mit Mitteln und Werkzeugen. Die rechtlichen Sanktionen verschaffen Gesetzen Geltung. Im Gegensatz zu den Sanktionen proklamieren Terroristen ein allgemeines Widerstandsrecht gegen politische Strukturen und wollen sich damit von Kriminellen abheben. Weitere Quellen der Macht sind der Geld- und Grundbesitz, das Eigentum. Darauf beruht die kompensatorische (belohnende) Form der Macht. Ökonomische Macht verführt dazu, Verhalten zu konditionieren und zu indoktrinieren. Entscheidungen über Krieg und Frieden können dann von wenigen, vom militärisch-industriellen Komplex und seinen Propagandisten, gefällt werden. Die Interessen der Mehrheit, die Frage nach dem Gemeinwohl, werden mißachtet. Beispiele waren der Burenkrieg Englands oder der zweite Irakkrieg im Jahre 2003. Auch die Autorität ist eine Machtgrundlage: die politisch wirksame Persönlichkeit des „Staatsmanns“, der mehr ist als der durchschnittliche Politiker. Die Autorität verkörpernde Persönlichkeit ist fähig, als Vorbild zu dienen. Deren Stärke beruht letztlich auf der Fähigkeit, Ideen zu verkörpern und Institutionen am Leben zu halten. Sie verweist auf Traditionen und setzt durch, daß deren Regelkanon respektiert wird. Die Demokratie will durch einen Zustand konstitutioneller Machtkontrolle und Volksherrschaft eine Balance in der Mitte des Spektrums zwischen Anarchie, Faustrecht und Kriminalität einerseits und herkömmlicher Despotie beziehungsweise ideologisch bestimmtem Totalitarismus andererseits erreichen. Dies auf der Grundlage von drei Elementen: Machtteilung (zwischen sozialen Klassen durch konkrete Mischverfassung bzw. abstrakt durch Gewaltenteilung), Kontrolle von unten und Publizität. Kant vertrat – zeitbedingt – die Auffassung, daß die Unterscheidung der Regierungsformen Monarchie, Aristokratie und Demokratie nicht im Vordergrund stehe. Wesentlich seien die Unterschiede zwischen republikanischer Verfassung (mit Prinzipien der Freiheit und Gesetzlichkeit), Anarchie, Despotismus und Barbarei. Diese Unterschiede sind auch für die heutigen Konflikte zwischen den Weltreligionen von Bedeutung. Die Systemvorteile der Demokratie haben sich nach den historischen Erfahrungen von 1945 und 1989 erwiesen. Demgegenüber wies Aristoteles auch auf Systemnachteile der Demokratie hin und unterschied dabei vier absteigende Typen. Am Ende standen für ihn die Massendemokratie und Gesellschaften, in denen sich die Familienstruktur auflöst. Dann könne es zu Oligarchien kommen, die sich aus „schmutziger Gewinnsucht auf eine immer kleinere Zahl zu beschränken trachteten“.110 Es ist schwer zu beurteilen, warum sich gerade in Europa demokratische Systeme langfristig durchsetzten. Letztlich beruhte dies auf einer Summe von Entscheidungen, 110

Freiheitsräume gegenüber despotischen Zumutungen, kirchlichen Dogmen und wirtschaftlichen Ausbeutungen bewahren zu wollen. Dieser Wille zur Freiheit führte zu den drei demokratischen Institutionen (Volksversammlung, Rat der Alten (Senat) und König) nicht nur auf Stammesebene, sondern auch in größeren Staaten. Dieser entscheidende Schritt macht den eigentlichen Unterschied des indoeuropäischen Typus im Unterschied zu Asiaten, Indianern und Afrikanern aus. Und zwar auch dann, wenn sie die Demokratie als Exportgut angenommen haben. Nach den oben genannten Unterscheidungen wäre eine prinzipielle Machtkritik geistlos. Die Unterscheidung zwischen legitimer Macht und neurotischem Machttrieb hängt von der Frage ab, ob im Widerspruch zwischen Kooperation und Konkurrenz, zwischen Gemeinschaftsgeist und Kampf Kompromisse und Allianzen angestrebt werden, die langfristige Ordnungen ermöglichen. Mischverfassungen und Gewaltenteilung laufen auf eine Balance der Kräfte, einen Gleichgewichtszustand der Gleichen hinaus. Konkret sind Machtkonzentrationen auszubalancieren. In den Industriegesellschaften sind dies vor allem die militärisch-industriellen Komplexe und die Medien, welche die entscheidenden Fragen über Allianzen, über Krieg und Frieden beantworten möchten. Ein Machtvakuum würde lediglich zum Einfallstor für expansive Mächte, wie die Geschichte des europäischen Kolonialismus beweist. Und nicht zu übersehen sind die neurotischen Äußerungen der Macht in bloßen Illusionen. Dies zeigt sich nicht nur in Verschwörungstheorien und Allmachtsphantasien. Auch die publizistische Macht in der Kakophonie des öffentlichen Meinungs- und Theoriestreits verhindert oft, zwischen realem Einfluß und einer bloß eingebildeten Macht unterscheiden zu können. „Einbildung ist auch eine Bildung“, ironisiert das der Volksmund. Die mit Belohnungen und Sanktionen arbeitende Macht stößt in totalitären Systemen schnell an ihre Grenzen durch Mißwirtschaft und Widerstandsbewegungen. Im Rechtsstaat ist die Machtausübung so vielen Reglementierungen, Kontrollen und Widerständen ausgesetzt, daß es nur um eine mühsame und mit vielen Enttäuschungen verbundene Aufrechterhaltung eines Fließgleichgewichts gehen kann. Politik ist da – so Max Weber – „das langwierige Bohren von dicken Brettern“.

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Der Volksgeist im Kriegszustand

2.1

Volkstumskämpfe

Sprachkulturen beruhen auf einem kulturellen Selbstbewußtsein, das nur vorübergehend nach Zeiten gelungener „Einigungskriege“ zur Ruhe kommt. In den Zeiten der konfessionellen Religionskriege, Rassenkonflikte und ideologischen Bürgerkriege ist es zerrissen und führt auch zu Sprachen und Theorien der Zerrissenheit (Klassenkampftheorien, Rassenlehren und theologisches Gezänk). Volkstumskämpfe entwickelten 1918, nach der Auflösung der osmanischen und habsburgischen Vielvölkerreiche und der Verfolgung deutscher Minderheiten in den abgetrennten Gebieten (mehr als sechs Millionen Deutsche waren plötzlich Ausländer), eine gefährliche Dynamik, die letztlich Hitler zum Erfolg verhalf. Der aufgezwungene 111

Vertrag von Versailles enthielt unerfüllbare Belastungen, die nach dem Willen Clemenceaus darauf zielten, Deutschland zu zerschlagen. Es kam dadurch zu einem „mentalen Ausnahmezustand“ der Deutschen, zu einer regelrechten Vergiftung der Volkstumskämpfe, und zu den verschiedenen nationalen Ausprägungen des Faschismus. Vor allem aber zu einer völligen Verwirrung der Identitäten mit Nation, Sprachgruppe und Klasse. Identität ist die Übereinstimmung des Einzelnen mit der Sprache und Kultur des Umfeldes (die Teilhabe des subjektiven am objektiven Geist). Es gibt (vgl. dazu näher Kap. I B 1 zum Volksgeist) die genealogische Identität der Herkunft, die ethnische der völkischen Einheit, die der Willensnation, und die politische der Staatsnation. Der Staatsnation als von der Herkunft bestimmter Traditionsgemeinschaft kann die religiös, kulturell oder ideologisch bestimmte Bekenntnis- und Kulturnation gegenüberstehen. Im Extremfall führen die Konfliktmöglichkeiten dieser verschiedenen Identitäten zum Völkermord. Andere Möglichkeiten sind: ein Territorium zu teilen (wie zwischen Tschechen und Slowaken), die Dominanz einer Mehrheit über eine Minderheit durchzusetzen (wie die der Türken über Kurden, Armenier und Griechen) bis zur Integration und Assimilation (dem friedlichen Aufgehen einer Volksgruppe in eine andere). Vernünftige Möglichkeiten sind auch die Konkordanz, die organisierte Koexistenz von Volksgruppen (wie in der Schweiz), und der politische Synkretismus (wie in den USA oder Brasilien), wo die ethnische Vielfalt neutral oder positiv bewertet wird. Der politische Synkretismus arbeitet mit „affirmativen“ Taktiken der Beschwichtigung und des Ämterproporzes, um offene Konflikte zu vermeiden. Die organisierte Koexistenz, wie in der Schweiz, hat solche Kunstgriffe nicht nötig, weil sie von der Zustimmung der Bürger getragen und damit langfristig lebensfähig ist. Strategien zur Konfliktbewältigung können der zentralistische Einheitsstaat, der Bundesstaat oder Staatenbund sein, die ökonomische Verflechtung, die kulturell-religiöse Beeinflussung durch Mission bis hin zu „Protektoraten“ oder gleichberechtigten Allianzen. Die republikanische Form berücksichtigt dabei den Willen der Beteiligten, die despotische Form und die Theokratie negieren ihn, versuchen ihn missionarisch oder propagandistisch zu formieren. Es kommen härtere Tage, die auf Widerruf gestundete Zeit wird sichtbar am Horizont. (Ingeborg Bachmann)

2.2

Deutschland, das Land der Mitte

Vorbemerkung: Die nachfolgende Skizze des deutschen Weges bis zum europäischen Einigungsprozeß ist ein „Referenzsystem“. Die Reflexionen über die wesentlichen historischen Kräfte, über Schuld, Versagen und Tragik können nicht abgeschlossen, die Diskussion über andere Faktoren und Gesichtspunkte nicht ausgeschlossen werden. Deutsch ist zunächst der Name einer Sprache. Zum politischen Begriff wurde er erst durch das Deutsche Reich. Von Anfang an war es Invasionen aus allen vier Himmelsrichtungen ausgesetzt: Hunnen, Wikinger, Ungarn, Mongolen, Türken und Franzosen (vor allem unter Ludwig XIV. und Napoleon). Sie ließen ein stabiles „Reich der Mitte“ 112

nie zur Ruhe kommen. Insofern ähneln sich Geschichte und Selbstbild der Deutschen mit dem der Chinesen, die Invasionen von Norden (Turkvölker, Mongolen und Russen), von Osten seit Ende des 19. Jahrhunderts durch japanische Angriffe und Süden (durch die westlichen Kolonialmächte) zu erleiden hatten. Hinzu kommt heute im Westen der unausweichliche Konflikt mit dem Islamismus. Ein berühmter Roman von Qian Zhongshu, der die Zeit um den Zweiten Weltkrieg und die zusätzliche ideologische Invasion durch den Kommunismus behandelt, drückt dies mit seinem Titel aus: „Die umzingelte Festung“. Indem vom Deutschen Reich die Oberhoheit über Italiener und Slawen beansprucht wurde, traten sowohl politische als auch interkulturelle Konflikte auf. Es gab stets den Zwiespalt, Deutschland als Kulturnation mit einem gemeinsam ererbten Kulturbesitz zu verstehen, das mit der Weltkultur kommuniziert, oder als Staatsnation. Bis zu Kaiser Maximilian war Deutschland im wesentlichen nicht fremdbestimmt, obwohl verheerende Invasionen seit der Antike (Hunnen, Ungarn, Mongolen und Türken) in Mitteleuropa abzuwehren waren. Bei diesen Invasionen kam es auch zu polaren Allianzen völlig unterschiedlicher Kulturen. So der Türken und Franzosen Hand in Hand gegen Habsburg bei der zweiten Belagerung Wiens und der anschließenden Verwüstung Südwestdeutschlands im Pfälzischen Erbfolgekrieg. Zu einer ähnlichen Allianz gegen Deutschland kam es zwischen der Sowjetunion und den Anglo-Amerikanern im Zweiten Weltkrieg. Churchill mußte sich nach der Errichtung des Eisernen Vorhangs die (wohl nicht ernstgemeinte) Frage stellen, ob er mit Hitler das „falsche Schwein“ geschlachtet habe. Warum er 1942 beim ersten Zusammentreffen mit Stalin, der mindestens viermal mehr Menschen ermorden ließ als Hitler, nach einer nächtlichen Dauertrinkerei im Kreml gleich Freundschaft schließen mußte, war wohl eher eine Folge des Alkohols als des Charakters. Ähnlich fragwürdig war die enthusiastische Reaktion Roosevelts auf der Konferenz von Teheran 1943 darauf, daß Stalin einmal für das Priesteramt ausersehen war. Seitdem war Roosevelt von Stalin fasziniert.111 Durch das Doppelreich Habsburg-Spanien unter Karl V. wurde Deutschland erstmals durch das Ziel überfordert, die Weltherrschaft zu erlangen. Von Karl V. stammt das Bonmot: Man müsse Spanisch beten, zu Frauen Französisch und zu seinen Pferden Deutsch sprechen. Für Nietzsche und Thomas Mann waren exemplarische Deutsche, wie Goethe, stets auch gute Europäer. Die Idee der Vernunft (für die es in anderen Sprachen keine adäquate Übersetzung gibt) war stets weltbürgerlich. Selbst Richard Wagner (von dessen Musik Mark Twain sagte: „Sie ist besser als sie klingt“) meinte, die Musik der Zukunft müsse übernational sein. Thomas Mann warf ihm vor, durch seine Hinwendung zu Ludwig II. sei er gegenüber allem Staatlichen gleichgültig geworden. So wurde das idealisierte Deutschland zu einer Idee, zu einem politischen Ideal der Zukunft. Nietzsche meinte, das Deutsche sei von vorgestern und übermorgen, nur nicht von heute. Die große Gefahr durch den Sieg des zweiten Deutschen Reiches 1871 liege darin, daß der deutsche Geist ausgelöscht werden könne. Deutschsein heiße sich ent-deutschen, wie Goethe aus dem Deutschen hinauszuwachsen. Wenn sich ein Volk erst definieren muß, laufe es Gefahr zu versteinern. Es müsse sich transzendieren.

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Wenn selbst hervorragende Geister wie Nietzsche und Wagner die verschiedenen Identitäten, die mit der Kultur- oder Staatsnation, mit dem Verhältnis zu Europa oder zur Weltkultur zusammenhängen, derart gegeneinander ausspielen, verwundert es nicht, wenn auch die deutsche Politik in Verwirrung geriet. Sie befand sich eigentlich immer in einem „mentalen Ausnahmezustand“, wie nach dem Bekanntwerden der Friedensbedingungen von Versailles im Jahre 1919. Von 1900 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 war sie durch den vergeblichen Kampf gegen die Einkreisungspolitik der späteren Kriegsgegner geprägt. Das Werben um Englands Neutralität war letztlich vergeblich, weil die Wirtschaftsund Exportleistungen Deutschlands ein Jahr vor Ausbruch des Krieges erstmals die englischen überflügelt hatten. Das Bestreben des „neidischen Albion“, mächtigere Konkurrenten auszuschalten, richtete sich zunächst gegen Spanien und Frankreich. Im 17. Jahrhundert wurde Holland, das gerade einen blutigen achtzigjährigen Freiheitskampf gegen Spanien mit knapper Not überstanden hatte, in drei unprovozierten Seekriegen als Handelsmacht ausgeschaltet. Nach Englands Konflikten mit den USA, mit Napoleon und Rußland im Krimkrieg trat Deutschland erst nach der Reichseinigung von 1871 als globaler Handelskonkurrent in Erscheinung. Die Beziehungen wurden vor allem durch den Burenkrieg (1896 bis 1902) vergiftet, bei dem Deutschland (nur halbherzig) Partei für die Sache der Buren ergriffen hatte. Das schlechte Gewissen Englands, zum ersten Mal in der Neuzeit Konzentrationslager für Frauen und Kinder errichtet zu haben (von denen Lord Kitchener 27 000 verhungern ließ), war bei den Pressekampagnen gegen Wilhelm II. nicht zu unterschätzen. Nachdem der Kaiser bei einem Besuch in England 1895 einen Plan Salisburys zur Aufteilung des Osmanischen Reiches abgelehnt hatte, wurde bereits 1896 und 1897 in einer Pressekampagne der Vernichtungskrieg gegen Deutschland gefordert. In der Folgezeit versagte sich der Kaiser auch einem Bündnis mit England, das gegen Rußland gerichtet war. Er verfolgte, wenn auch ungeschickt, eine Politik des Ausgleichs mit den Großmächten Frankreich, England und Rußland, die jedoch in Deutschland zunehmend nur noch einen Konkurrenten bei der Gewinnung neuer Machtpositionen sahen. Grundsätzlich lief die deutsche Außenpolitik nicht auf einen Angriffskrieg hinaus. Wie in allen europäischen Nationen gab es expansiv denkende Chauvinisten. Der insoweit immer wieder herangezogene „Alldeutsche Verband“ hatte aber maximal 16 000 Mitglieder und bestimmte nur peripher die offizielle Politik. Im übrigen war das zivilisatorische Niveau des Kaiserreichs mit einer funktionierenden Mischverfassung hoch. Rechtssicherheit und Schutz vor Gewalt und Korruption waren viel höher entwickelt als etwa in den USA. Zwischen England und Frankreich kam es zu einer antideutschen „Entente cordiale“ im Jahre 1905, nachdem die Interessenkonflikte im Sudan beigelegt und die Kolonialgebiete in Nordafrika abgesteckt waren. Bereits 1906 wurden Operationspläne des französischen und britischen Generalstabs gegen Deutschland ausgearbeitet. Die Beteuerungen Wilhelms in einem Presseinterview 1908, er sei ein Freund Englands und habe mit militärischen Plänen den Sieg über die Buren unterstützt, löste nur einen Sturm der Entrüstung in der deutschen Öffentlichkeit gegen ihn aus. Zur selben Zeit 114

erfuhr er die „Kampfansage“ Haldanes, England werde an der Seite Rußlands und Frankreichs stehen, um die mit einem Sieg Deutschlands verbundene Hegemonie in Europa zu verhindern. Rußland sah Deutschland als Haupthindernis, ein Reich der Südslawen auf dem Balkan zu errichten. Die Kriegsstimmung gegen Deutschland im russischen Offizierskorps wurde von Frankreich tatkräftig durch Kriegsplanungen ab 1908 und Geldanleihen unterstützt. In den ersten beiden Balkankriegen 1912 und 1913 kam es noch nicht zu einem gemeinsamen Eingreifen, weil Frankreich noch nicht genügend aufgerüstet hatte.112 Der „dritte Balkankrieg“ wurde dann trotz aller Vermittlungsbemühungen des Kaisers zum Weltkrieg, weil zunächst Rußland und dann Frankreich die Mobilmachung befahlen.113 Dieser Kriegsausbruch, welcher die Initialzündung für den europäischen Niedergang im 20. Jahrhundert war, hatte viele, in einem Gesamtzusammenhang stehende Ursachen. Für Frankreich stand fest, daß der Verlust von Elsaß-Lothringen nicht hinzunehmen war. Die Devise seit 1871 lautete: „Nie davon reden, immer daran denken.“ Die panslawistischen Bestrebungen Rußlands und der orthodoxen Kirche richteten sich gegen die Türkei und Österreich-Ungarn; und damit gegen deren mächtigsten Verbündeten. Das Attentat auf den österreichischen Thronfolger in Sarajewo am 28.6.1914 war folgerichtig vom serbischen und russischen Geheimdienst gesteuert worden. Italien wartete nur darauf, nach den zahlreichen Kriegen gegen Österreich-Ungarn die „Barbaren“ bis zum Alpenkamm zurückzudrängen. Der Kriegseintritt der USA im Jahre 1917 war schließlich entscheidend. Der Vorwurf des „Militarismus“ gegen das Kaiserreich war kaum gerechtfertigt angesichts der zahlreichen imperialistischen Angriffskriege der USA gegen Spanien und Mexiko in Mittel- und Südamerika.114 Bei den Entscheidungen über den Eintritt in den Ersten und Zweiten Weltkrieg spielten die Interessen der Kriegsindustrie, angeführt von Bernard Baruch, eine wesentliche Rolle.115 Die erste Giftgabe für die Entwicklung Europas war Wilsons Erklärung über die „Selbstbestimmung der Völker“, in der nicht zwischen Stämmen und Nationen unterschieden und die Frage nach lebensfähigen Staatsverbänden gestellt wurde. Die USA zogen sich einfach zurück, beteiligten sich nicht an der Nachkriegsordnung und überließen Europa mit seinen nationalen und ideologischen Bürgerkriegen sich selbst. (Die zweite Giftgabe war dann die Weltwirtschaftskrise 1929, der Todesstoß für die Weimarer Republik.) Die Aufforderung von Max Weber, das Thema der Kriegsschuld müsse von Kennern der Materie neutral und ausgewogen untersucht werden116, diese Aufgabe ist bis heute von den Historikern nicht befriedigend, das heißt unvoreingenommen gelöst worden. Dabei ist ein wichtiger Gesichtspunkt der Geopolitik zu beachten: Man sollte zwischen äußeren Anlässen und eigentlichen Ursachen für einen Kriegausbruch unterscheiden können. Schon lange vorher kann es zu Spannungen wegen der imperialen Ausdehnung einer Macht gekommen sein, die sich dann plötzlich entladen. Ein halbes Jahrhundert vor Pearl Harbor wollten die USA bereits den pazifischen Raum bis Ostasien beherrschen. 1898 wurde Hawaii einverleibt, ein Jahr später Guam und dann die Philippinen 115

nach einem langen Krieg zur Kolonie gemacht. Solche Raumerweiterungen wirken auf die Nachbarkulturen wie eine unterschwellige Kriegserklärung, die sozialen Streß verursacht. Der mentale Ausnahmezustand durch die unerfüllbaren finanziellen Reparationslasten im Diktat von Versailles war eindeutig ein solches soziales Streßphänomen. Streß kann nach der zellbiologischen Forschung zu Aggregaten führen („Verklumpungen“) und allergische Reaktionen sowie Autoimmunleiden auslösen (vgl. Kap. I B 1.3). Der nationalistische Faschismus war solch ein soziales Aggregat, wie es zu Beginn dieses Kapitels beschrieben wurde. Die internen sozialen Reaktionen auf alles, was als fremd empfunden wird, werden allergisch und die Außenkontakte zu den anderen Nationen grundlegend gestört. Die Reaktionen wurden atemlos, sie können mit den sprachlichen Wendungen überdreht und durchgedreht umschrieben werden. Herbert Hoover, der spätere amerikanische Präsident und Mitglied der amerikanischen Verhandlungsdelegation in Versailles, erläuterte später, man habe so viele Deutsche wie nur möglich zur Tschechoslowakei schlagen wollen, um einen Keil zwischen Berlin und Prag zu treiben. Aus dieser Nation habe so ein Dolch werden sollen, der auf die deutsche Flanke gerichtet war. Diese Gefahr wuchs durch die antideutschen Bündnisse der Komintern Moskaus mit der Tschechoslowakei und Frankreich im Jahre 1935 (unmittelbar vor dem Nürnberger Reichsparteitag, der als Antwort darauf organisiert wurde). Am Ende des Ersten Weltkrieges konstatierte Max Weber, daß ausschließlich Deutschland drei große Landmächte und die größte Seemacht zu unmittelbaren Nachbarn habe. Kein anderes Land der Erde sei in dieser Lage. Für Deutschland habe es immer nur zwei Alternativen gegeben: regional zu bleiben und zu einer modernen Föderation, wie die Schweiz, zu werden. Oder sich zu einem Reich zu entwickeln, das so reich und mächtig werden wollte wie das englische Imperium oder wie Frankreich. Nach 1917 trat zusätzlich die Frage auf, ob es Bedingungen schaffen könne, mit dem Westen zusammen eine kulturelle und militärische Verteidigungsgemeinschaft gegen die Sowjetunion zu errichten. Der Psychiater Erik Erikson hat diese Ausgangssituation in einem Kapitel über die Kindheit und das Umfeld Adolf Hitlers ausgewogen und überzeugend beschrieben.117 Durch dessen Wahn, zum Präventivkrieg gezwungen zu sein, zerstörte er endgültig den Traum vom „Reich der Mitte“. Indem er dem deutschen Volk eine „Weltmission“ aufbürdete, um die Welt von der Herrschaft des internationalen Judentums zu befreien, führte er letztlich durch die moralische und militärische Katastrophe des Zweiten Weltkrieges nur ein gefährliches Machtvakuum in Mitteleuropa herbei, das – wie die Geschichte des Kalten Krieges zeigt – keineswegs zur Befriedung Europas führte. Schon nach der Niederlage von 1918 haben Lenin und Trotzki versucht, eine Reihe von Räterepubliken über Ungarn hinaus bis nach Bayern zu errichten. Polen bedrängte England und Frankreich bis 1933, Invasionsplänen zuzustimmen, wonach die Westgrenze bis zur Oder, ja sogar bis zur Elbe ausgedehnt werden sollte („Pilsudskis Ideen“). Die auf 100 000 Mann beschränkte Reichswehr hatte sich schon darauf eingestellt, allenfalls Berlin verteidigen zu können. Es gelang erst Stalin, ein kommunistisches System als Vorposten für die Herrschaft über Osteuropa, in Deutschland bis zur 116

Grenze Thüringens zu etablieren, mit langfristig verheerenden ökonomischen Folgen für ganz Europa. Der mentale Ausnahmezustand der Deutschen in der Zwischenkriegszeit wurde in dem Film „Metropolis“ von Fritz Lang im Jahre 1927 widergespiegelt. Es handelt sich bei diesem Werk nicht um Science-fiction, sondern letztlich um einen Erlösungstraum. Man wollte von dem „realen“ Bolschewismus und Kapitalismus, von Unterdrückung und Industrietechnik gleichermaßen befreit werden. Gegen den Vernichtungswillen der Klassenkämpfer rettet Maria als Vertreterin des Liebeskommunismus die Kinder aus ihrem Elend, und der von ihr geliebte Sohn des Ausbeuters wird zur Heilandsfigur, er versöhnt als „Mittler“ Ausbeuter und Arbeiter. Der Film gilt deswegen als großes Kunstwerk, weil er das kollektive Unbewußte der Deutschen in der Zwischenkriegszeit überzeugend in Bilder umgesetzt hat. Ernst Jünger konstatierte rückblickend, Inseln wie England oder Halbinseln wie Griechenland und Italien haben immer wieder eine Chance gehabt, die Randstämme zu besiegen. Im klassischen Land der Mitte trafen sich jedoch die fremden Heere aus vier Himmelsrichtungen und verwüsteten nicht nur das Land, sondern ließen auch in der Grammatik ihre Spuren zurück. Von den Konfessionskriegen im 16. Jahrhundert und vom Dreißigjährigen Krieg (1618 bis 1648) habe sich Deutschland nie ganz erholen können. Nicht nur die Bevölkerung war dezimiert, sondern auch die Sprache heruntergekommen. (Leibniz hat dies beklagt und sich für den Eigenwert der deutschen Sprache durch Gründung von Sprachgesellschaften eingesetzt.) An der preußischen Geschichte habe er immer nur gelitten; wenn er gekonnt hätte, wäre er am liebsten einfach aus dieser Geschichte ausgetreten. Denn die preußische Politik habe immer ein jämmerliches Schauspiel geboten: erst das Schwanken zwischen den Großmächten, dann die Isolierung und dann der Sturz. Friedrich II. habe es schon versäumt, das Bürgertum für den Staat zu mobilisieren. Die vier Preußenkönige nach ihm haben nacheinander die Substanz verbraucht. Sie haben gegenüber der Französischen Revolution, dann Napoleon und schließlich der Paulskirche (den Revolutionären von 1848) versagt. Jede Revolution habe auch die großen Künstler, wie Wagner, enttäuscht. Jacob Burckhardt, bescheidener, habe sich von Kaiser Wilhelm I. wenigstens eine Verzögerung der „Schnellfäulnis“ erhofft. Am Einschlafen hinderten Jünger oft die beiden Figuren, die uns unheilvoll wurden: Wilhelm II. durch seine Flottenpolitik und Hitler durch seinen Antisemitismus. Günstiger für den Staat sei es, wenn der Monarch sich durch den Wechsel der Mätressen als durch den der Allianzen ruiniert. Wilhelm II. sei zwar, wie die meisten Hohenzollern, als Ehemann tugendhaft gewesen, aber als Kaiser habe er die Allianzen ruiniert. Unter Wilhelm und Hitler sei der Nationalkrieg nur eine Kulisse des Weltbürgerkriegs geworden, dessen Fronten schon quer durch die Stellungen des Ersten Weltkrieges gingen, ohne daß dies die jungen Soldaten hätten merken und daraus ihre Erfahrungen ziehen können. Deutschland habe ein Clausewitz des Bürgerkriegs gefehlt, speziell des Weltbürgerkriegs seit 1917. Die unverstandene Ambivalenz während der Pariser Jahre im Zweiten Weltkrieg habe darin bestanden, daß die Wehrmacht in einem Nationalkrieg und die Parteisoldaten im Bürgerkrieg standen. 117

Zum Schicksal der Mitte gehöre, daß die Revolutionen verheeren, doch nichts abwerfen. Es sind Schlachtfelder von Ideen ohne realen Gewinn für die Nation. Insofern sei das antike Athen mit Deutschland verwandt. Die großen Kriege und Revolutionen der Deutschen (Reformation, Bauernkrieg und Dreißigjähriger Krieg) haben nur zu Einbußen oder zur Pattstellung geführt. Es gab immer ein Sowohl-als-Auch und nie, wie in Frankreich, England, Italien und Skandinavien, ein Entweder-Oder. Die Geburt der Nation kam zu spät, sei unvollständig gewesen; die Revolutionen 1789 und 1917 haben dabei eingewirkt, aber nur auf der Verlustseite. Aus allem ergab sich für Ernst Jünger, daß die Kompetenz zur Kritik und historischen Urteilskraft verlorenging. Er zitiert Lichtenberg: „Es sollte uns nachdenklich machen, daß im Deutschen ‚einen anführen‘ soviel wie ‚einen betrügen‘ heißt.“ Man bemühte sich fortwährend, die Vergangenheit historisch, juristisch, soziologisch oder moralisch zu bewältigen. Aber das Vergangene läßt sich nicht einholen. So konnte es zur doppelzüngigen Bewertung des großen Unrechts, der großen Vertreibungen und „Ausmordungen“ kommen. Sie werden zwar im Prinzip verurteilt, doch ganz verschieden beurteilt, übersehen oder gar entschuldigt. So erhebt hinter dieser politisch-moralisch schwankenden Gesellschaft sich das Gorgonenhaupt des neuen Jahrtausends, in dem der Energiehunger zunimmt, während sich das Klima ändert und die Freiheit schwindet. Die Gesellschaft werde unfähig, sich noch harmonisch zu erkennen. Daß ungebetene Gäste eindringen und den Ton angeben wollen, sei dafür ein Indiz. Schon Lichtenberg habe konstatiert, daß keine Nation wie die deutsche den Wert von anderen Nationen fühle, aber umgekehrt von den meisten wenig geachtet werde. Eine Nation, die allen gefallen will, verdiene, von allen wenig geachtet zu werden. Dies sei der Fluch der Mitte. 1966 erhoffte Jünger, daß man vielleicht die unglückliche Mittellage an Rußland abtreten könne. In ihr sei der Deutsche ein „Vibrateur“. So habe ein Franzose Kaiser Wilhelm II. genannt. Der von der Einkreisung Betroffene pflegt nicht nur unangemessen zu handeln, sondern auch überstürzt. Er ist von den schnell wechselnden Objekten, auf die er zuspringt, durch seine Illusionen getrennt wie durch eine Glasscheibe. Der Kopf nimmt Schaden, die Scheibe nicht. In dieser mentalen Verwirrung richtet sich dann die Polemik der Söhne gegen die Väter und das, was sie anrichteten. Dabei können auch eine oder mehrere Generationen übersprungen und mit Lob oder Tadel überzogen werden. Die Großväter können plötzlich an Ansehen gewinnen und umgekehrt ihre Enkel den Söhnen vorziehen. Die „Vergangenheitsbewältigung“ kennt dann keine Grenzen mehr: Kolonialkriege und die europäische Durchdringung der Welt bis zurück zu Kolumbus werden moralisierend kommentiert und demontiert. 1979 rief ein französischer Frontkämpfer des Ersten Weltkrieges Ernst Jünger an, um ihm mitzuteilen, wie sehr er inzwischen Bismarck zu verehren gelernt habe. Heute sei er zur Überzeugung gelangt: Wenn die Deutschen den Ersten Weltkrieg gewonnen hätten, wäre die Welt heute in besserer Verfassung. Der Kommentar Jüngers dazu: aber nur mit einer gelungenen Revolution und der Absetzung der Fürsten. Die Tenne hätte gründlich gefegt werden müssen. So bleibt 1990, ein Jahr nach der deutschen Wieder118

vereinigung, nur die Resignation: „Beim Blick in die Morgenzeitung beschleicht diesen und jenen das Gefühl, der letzte Deutsche zu sein.“118 Solche Rückblicke auf die deutsche Geschichte führen zur Trauer über die vielen, zumeist vergessenen Kriegsopfer und die versäumten Möglichkeiten einer intelligenteren Allianzpolitik mit stärkeren Bündnispartnern. Die Niederlagen Österreich-Ungarns im Ersten und Italiens im Zweiten Weltkrieg führten nur dazu, daß die deutschen Offensivkräfte geschwächt und verzettelt wurden. Eine langfristige Friedensordnung wie nach den Siegen von 1815 oder 1871 blieb so nur ein Wunschtraum, ein Wahn, der im Verbrechen endete. Cosima Wagner formulierte einen vergleichbar resignativen Nachruf auf Arthur Graf Gobineau im Jahre 1882: Sein Los sei trotz seiner Gaben und Werte herb und bitter, die Beobachtung einer solchen Natur aber eine beglückende gewesen. Die Betrachtung der Geschicke, welchen sie anheimfiel, und des Anteils der Welt an ihr müsse eine heillose dünken, „wenn nicht das Ende des Zeitlichen versöhnlich das Walten des Ewigen verhieße. Das Leben kann dem Echten nichts anhaben. Dieser Wahn, der sich in einem Menschengebilde hier versinnlichte, seine Kraft, seine Größe, aber auch sein Verderben bedingte, – dieser heroische Wahn ist vom Frieden umfangen. Den Abschluß dieses Erinnerungsbildes führe daher schicklich die Zusammenfügung zweier Worte herbei, welche die Stätte bezeichnet, wo in unvergänglicher Reine das Gedenken des Verklärten weilt: Wahnfried.“119 Cosima Wagner wollte mit dieser sonderbaren Heroensprache jenes tragische Wissen von der Heillosigkeit der Welt artikulieren, wonach für den Helden jede Vorstellung vom Frieden nur ein Wahn ist. Dies gilt vor allem für die Hoffnung auf einen „Siegfrieden“ der zentralen deutschen mythischen Gestalt: Siegfried. Der Siegfrieden war stets nur ein Wahn angesichts der plutokratischen Kräfte (der Nibelungen-Brüder Mime und Alberich). Mime gibt sich als Vater Siegfrieds aus und wird von ihm zutiefst verachtet. Er hat es nur auf den aus dem Rheingold geschmiedeten Ring abgesehen, der unermeßliche Macht verleiht, wenn man die Liebe verrät. Als Siegfried dies von einem Waldvöglein verraten wurde, wird Mime erschlagen. Der Ring bringt allen seinen Besitzern den Untergang, so zunächst den Riesen Fafner und Fasolt, den Titanen der Technik. Sie hatten für Wotan Walhalla errichtet und dafür als Preis den Ring gefordert. Alberich und seinem Sohn Hagen gelingt es dann, Siegfried hinterrücks und anschließend den Blutsbruder Gunther zu ermorden, um in den Besitz des Rings zu gelangen. Aber diesen ergreift letztlich die Totendämonin Brünhilde. Sie vereinigt sich mit Siegfried im Feuer, das die Götterdämmerung einleitet, und reinigt damit auch den Ring von seinem Fluch. Der Liebling Wotans und der Walküre Brünhilde hatte keine historische Chance, weil er nur der Gedanke des ebenfalls dem Untergang geweihten Wotan war, die Idee des reinen und furchtlosen Helden, der die Welt von dem plutokratischen Fluch, der Gier nach Reichtum und Macht, befreien sollte. Sein Untergang wird am Anfang der Götterdämmerung von Erda, dem Archetypus urmütterlicher Weisheit, vorausgesehen. Die Götterdämmerung beginnt, als auch die das Schicksal spinnenden Nornen mit ihrem Wissen am Ende sind und zu Mutter Erda in die Tiefe fliehen.

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Nicht im Mythos, nur im Märchen der Brüder Grimm kann die Plutokratie überlistet werden; so in der Gestalt des satanischen Gnoms Rumpelstilzchen, der für den goldgierigen König zwar aus Stroh Gold spinnen konnte, dafür sich aber die Erstgeburt von dessen Schwiegertochter ausbedang. Er wollte Gold gegen Leben tauschen. Man belauschte ihn, erfuhr seinen lächerlichen Namen, und so verlor er seine Wette. Im Kontrast zur mythischen Tragik und zu erträumten Märchen steht die politische Ohnmacht, die von Ralph Giordano mit prophetischem Zorn gegeißelte pazifistischökologische Jugendbewegung (vgl. dazu Kap. III B 1.2). Deren juvenile Naivität, die Tore für die Immigration weit aufstoßen zu wollen, um damit ein Viertes Reich des Völkerfriedens zu begründen, übertraf die für Jugendbewegungen typische Märchengläubigkeit erheblich. Ihr Motto schien zu sein: Und ist der Gast auch noch so schlecht, er sei geehrt, es ist sein Recht. Im Gegensatz zu dieser diffusen Naivität steht die nüchterne Klarheit von Karl Jaspers, der die mit dem „nie dagewesenen“ Bevölkerungswachstum verbundene Dynamik seit 1930 thematisierte. Wo Entwicklungshilfe und Demokratisierung versagt haben, wo politische Verantwortungslosigkeit und Resignation herrschen, da sei ihnen Raum zu lassen, auf ihre Weise zu leben, „in Massen geboren zu werden und hinzusterben“. Und: „... ungleiche Vermehrung begründet keinen Anspruch auf Land in den weniger bevölkerten Räumen.“120 Zusätzlich distanzierte er sich nach 1945 vom nationalen Standpunkt Max Webers. Bis 1933 hatte er noch die Auffassung vertreten, Deutschland habe als Großmacht in der Mitte Europas eine weltgeschichtliche Aufgabe: die Erhaltung europäischer Kultur zwischen den Reglements des Zarenreiches und seiner Erben einerseits und den Konventionen der angelsächsischen Gesellschaft andererseits. Dies habe nichts mit Rasse und Abstammung zu tun, sondern mit einer Verbindung von Geistesaristokratie und Nationalkultur, welche mit der griechischen zu vergleichen sei. In der Schrift „Die Schuldfrage“ (1946) und einem Vortrag in Genf „Vom europäischen Geist“ (1947) war nun die europäische Einigung das Zukunftsmodell für eine Weltordnung. Man habe sich der Vernunft des Miteinanderredens mit der bedingungslosen Geltung der Rechtsidee zu unterwerfen. Vom („heroischen“) Nationalstaat müsse man sich auf Dauer verabschieden. Deutschland solle die Rolle eines Schrittmachers der europäischen Einigung übernehmen und müsse dafür seine politische Denkungsart völlig verändern.121 Eine wahre Herkulesarbeit, wie wir heute wissen: Immer mehr Schuldenmist häuft sich an, und der Held wird schwach und schwächer.

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Erwerbtrieb und Konkurrenzkampf

Der grundsätzliche Widerspruch zwischen Kooperation und Konkurrenz prägt alle menschlichen Gemeinschaften und erhält mehr als genügend neurotisierendes Krisenpotential, wenn sich der Erwerbssinn zum Erwerbstrieb steigert. Dies gilt vor allem, wenn es keine Autoritäten mehr gibt, die mit politischen oder ethischen Zielorientierungen einen vernünftigen Kompromiß anstreben. Letztlich beruht die Rechtfertigung dieser Autoritäten darauf, Macht zu teilen, zu begrenzen und die Ausübung öffentlich

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zu kontrollieren. Autorität kann nicht ohne Macht sein, welche diesen Waffenstillstand als Kompromiß durchsetzt. Sie muß auch Opfer erbringen und verlangen und bereit sein, Risiken einzugehen. Die beste Formel für den erfolgreichen Kapitalismus ist seine Kennzeichnung als „schöpferische Zerstörung“. Dies betrifft die Entwicklung neuer Techniken in der Realwirtschaft, welche alte Produktionsformen verdrängt. Dem steht die nihilistische Zerstörung durch Erwerbsgier gegenüber, die sich von der Realwirtschaft völlig gelöst hat und, wie viele Hedge-Fonds, dazu übergeht, Betriebe aufzukaufen, ihnen die damit verbundenen Schulden zu übertragen und sie mit kurzfristigen Gewinnzielen auszusaugen.

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Massenkultur

Die Masse als Menge der Materie war zunächst ein rein physikalischer Begriff. Aber auch dort gibt es verschiedene Arten von Massen: a) Die träge Masse ist durch ihren Trägheitswiderstand gegen Bewegungskräfte gekennzeichnet. b) Die passive Gravitations-Masse ist das Maß für die Aufnahmefähigkeit von einwirkenden Gravitationskräften, also für die Wirkung des Feldes auf den Körper. c) Die aktive Gravitations-Masse ist dagegen die Quelle eines Gravitationsfeldes. Erst im Zuge der Französischen Revolution kam es zur militärischen Mobilisierung der „Volksmassen“, der „levée en masse“. Es war nach der Auflösung der ständischen Gesellschaft der „Stand der Standeslosigkeit“, die entwurzelten Landarbeiter, die in die Stadt strömten und das Proletariat bildeten. Städtische Dichte und Ballungsraum waren der neue Lebensraum der Masse. Ähnlich wie in der Physik konnte ihr in revolutionären Bewegungen, vor allem im Marxismus, eine positive, das heißt revolutionär-aktivistische Bedeutung verliehen werden. So war es zwangsläufig, daß Marx auf das nüchterne Populationsdenken von Malthus mit äußerster Wut („lügnerischer Pfaffe“) reagierte. Umgekehrt wird im kulturkritischen Ansatz negativ von Vermassung gesprochen. Im Zentrum der Kritik standen die Vorherrschaft des Triebhaft-Unbewußten über Bewußtsein und rationale Kontrolle, die unberechenbare Summierung von Affekten durch Imitation, Suggestion und soziale Ansteckung. Daß dieser (von Nietzsche als „Herdenmensch“ bezeichnete) Massenmensch zum Massenwahn neigen kann, zeigen die Transformationen der Demokratie zum Faschismus. Aber auch dieser war im „Weltbürgerkrieg“ von 1917 bis 1945 lediglich die Reaktion auf die revolutionäre Aktivierung der proletarischen Massen im Marxismus.122 Die Massenkommunikation (nicht als Kommunikation innerhalb der Massen, sondern als Kommunikation für die Massen) wurde dann in der Kriegspropaganda seit dem Ersten Weltkrieg zum historischen Faktor und in der Werbung durch die Massenmedien zu dem, was als Massenkultur bezeichnet werden kann. In der Massenkultur wird vor allem das Niveau bisheriger kultureller Kommunikation gesenkt. Die Massenmedien treten an die Stelle der familiären Kommunikation, der Lesezirkel und Hausmusik in der bürgerlichen Familienkultur. Bereits im 19. Jahr-

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hundert schienen Karikaturen über die neuen Medien, die als Plage dargestellt wurden. Telephonie, Fotographie und Telegraphie bildeten zusammen ein Ballett der Pandora, aus deren Büchse alle Übel und Plagen über die Menschheit verstreut werden. Das im 19. Jahrhundert beliebte Panorama in großen Rundgemälden erforderte ein bewegliches Auge. Die Umkehrung war das bewegte Bild des Kinos, das die Augen bloß starren, erstarren ließ. Die Aufnahme und Wiedergabe fotografischer Reihenaufnahmen wurden technisch in Europa und Amerika (durch die Brüder Lumière und Edison) im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts perfektioniert. Die „mediale Verschränkung“ im 20. Jahrhundert zum Tonfilm und Fernsehen bereiteten Künstler vor, die schon um die Mitte des 19. Jahrhunderts die emotionale Wirkung von Bildern und bewegten Bildfolgen durch musikalische Ausdrucksmittel zu verstärken suchten; ihre Kompositionen waren Vorläufer der späteren Filmmusik. Das Abrollen zahlreicher Bilder, welches Bewegung nur vortäuscht, steht dem Sinn des einzelnen Bildes gegenüber. In diesem kann etwas Stärkeres die Faszination der Bewegtheit überbieten: „… verweile doch, du bist so schön.“ Jede Bewegung ist provisorisch und hat ein ruhendes Ziel. Das Leben wird durch den Gegensatz von Bildern bestimmt, in denen die Seinsverdichtung die Kette der Verwandlungen unterbricht. Dies ist letztlich die Absicht der Meditation im Gegensatz zur Mediation. Das Anfluten von Licht in Bildern und von Tönen und ihre planetarische Ausbreitung verunmöglichen es, diese „Schaubühne“ noch als „moralische Anstalt“ zu betrachten, wie sie Schiller anstrebte. Die Arena beim Lichtspiel ist zwar sauber, aber die Gewalt präsent; zunehmend werden die Untaten sogar gestellt oder bestellt. Geschäft, Beschäftigung und Zeitvertreib werden in diesem kosmischen Panorama eingeschmolzen und kommen als Zirkus ins Haus, einschließlich des Cäsar, der früher nur in der Loge erschien. Der Verfolgte beklagt nicht seine Leiden, er zeigt seine Wunden vor. Dabei entsteht das Paradox zwischen Massenarbeitslosigkeit und der Tatsache, daß „Arbeitscharaktere“ auf Grenzgebiete übergreifen, „so im Sport und im Spiel, auch in einer kinematischen, zugleich traumhaften und rasanten Monotonie wie dem Fernsehen, in atmosphärischen Aufladungen, die sich dem Bewußtsein entziehen, obwohl sie mehr verändern als jede Doktrin“.123 Computer und Internet vollendeten dann die „mediale Verschränkung“ und lösten zunächst die bei technischen Innovationen üblichen sozialen Freudenbotschaften aus. Damit hatte das Herrentier, die Krone der Schöpfung, eine neue Stufe erreicht: die Macht, Informationen fest zu speichern, zu variieren und zu übertragen. Dem folgten unmittelbar anschließend die kulturpessimistischen Klagen über „anonyme Mächte“, über Machtmißbrauch als Gemeinplätze der Medientheorie. Die vernünftige Kommunikation, wie diese neuen Möglichkeiten von Machtausübung ausgeübt und beschränkt werden sollten, verkam zum Diskurs der „dekonstruktivistischen“ Schule. Insbesondere Michel Foucault wurde nicht müde, die Ideengeschichte auf anonyme Prozesse zurückzuführen. Es wurde zur Mode der Medientheorie, alles, was der handelnde Mensch mit Sinn und Bedeutung verbindet, zur optischen Täuschung, zur oberflächlichen Wirkung tiefer liegender materieller Ursachen zu erklären. Zwischen Heilsbotschaften und Kassandrarufen bewegt sich die politisch notwendige Kommunikation über die „Media Control“ (Chomsky), um die Kanäle zum Aus122

tausch von Informationen (parallel zu Finanzwirtschaft, Politik und Rechtswesen) auszumisten und die Einflüsse der Werbewirtschaft, der PR-Industrie und der kriegsführenden Mächte (Terroristen und Staaten) transparent zu machen.124 Die Appelle an das Unbewußte, an das Gefühl und nur bedingt an den Verstand, kennzeichneten die von Hitler und Goebbels praktizierte ideologische Propaganda ebenso wie die Werbung in den westlichen Demokratien. Insbesondere die Fernsehdiskussionen als Surrogat für die demokratische Meinungsbildung waren und sind meist das Gegenteil einer vernünftigen Diskussion. Sie sind aufgeregt, man will sich und nicht den Anderen ins Bild setzen. Immer wieder werden Sätze unterbrochen. All dies erinnert an einen aufgeregten Hühnerstall, vor dem ein Raubtier steht, das Massenpublikum, die öffentliche Meinung. Bei solchen Produktionen geht es um die Quote, den Konkurrenzkampf der Medien. Im Gegensatz zu dieser Kommunikation der Massenkultur steht die von der Vernunft geleitete Kommunikation, die auf das zielt, was verbindet, was individuell und kollektiv lebensentscheidend ist. Sie ist nicht aufgeregt, sondern anregend; sie will Gedanken entwickeln und sich entwickeln lassen, die erst dann beurteilt und ausgetauscht werden können. So wie die Toleranz auf Leben und Lebenlassen zielt, zielt die vernünftige Kommunikation auf Reden und Redenlassen, auf Gelassenheit gegenüber dem anderen Standpunkt. Erfolgsrezept der kommerziellen Medien ist der Appell an die niedrigen Instinkte: Klatsch über sexuelle Themen, Exhibitionismus und Schadenfreude; so auch in literarischen Quartetten, wo Autoren zum Gaudium eines Millionenpublikums öffentlich hingerichtet werden, das deren Bücher gar nicht kennt. Niveausenkung beruht auf Niedertracht und zielt auf das Niederträchtige. Sie scheint keine Grenzen zu kennen und fällt „wie Wasser von Klippe zu Klippe geworfen tief ins Unendliche hinab“. Gerade in amerikanischen Filmkomödien werden die Gags, Klamaukwitze und verzerrten Grimassen in immer schnellerem Tempo „Schlag auf Schlag“ vorgeführt; in Actionfilmen die Schauereffekte und Kampfszenen, die wahnwitzigen Verfolgungsjagden, wo Autos und Rennboote durch die Luft fliegen. Daraus wurden die sprachlichen Wendungen überdreht und durchgedreht abgeleitet. In Reality-Shows werden auch existentielle Grenzsituationen wie Unfälle oder das Sterben vorgeführt. Die Gefahr für die Allgemeinheit besteht darin, daß die Dauerkonsumenten jederzeit zum gemeinen Mob werden können, der affektgesteuert blindwütig und gewalttätig wird. Der Gemeinsinn wird durch passives Gaffen bloß gemein. Diese Art von Massenkultur trägt dazu bei, daß aus Gesellschaften, die noch über ihre wahren Probleme kommunizieren können, soziale Aggregate werden. Aggregate von ziellosen und damit letztlich ohnmächtigen, zufällig zusammengewürfelten Akteuren. Indem in der Massenkultur das Niveau der Kommunikation gesenkt wird, hat dies unmittelbare Folgen: eine allgemeine Tendenz zur Infantilität und zum Narzißmus (vgl. zum Zusammenhang zwischen Neotenie und infantilen Verhaltensweisen Kap. I A 7.8). Die dadurch ausgelöste allgemeine Orientierungslosigkeit hat auch zur Folge, daß Sekten und fundamentalistische Religionsformen diesen Zustand wie ein Vakuum ausnutzen. Sekten und Fundamentalisten verstehen es dabei, Pseudoorientierung durch 123

paranoide Wahnideen und nackte Gewinnsucht nahtlos zu verbinden. Im Extremfall trifft dabei die theologische Definition des Götzen zu: er verspricht das Leben, aber er bringt den Tod. Gerade die Evangelikalen in den USA bieten eine ebenso naive wie despotische Form der Spiritualität für ihre Mitglieder: die persönliche Beziehung zu Jesus und Gott, die wörtliche Interpretation der Bibel, das permanente Glaubensbekenntnis, öffentlich und bei jeder Gelegenheit; vor allem aber der gefährliche Glaube an eine unmittelbar bevorstehende Apokalypse, die Erfüllung der Johannes-Offenbarung. Damit verbunden ist eine Dämonisierung des Gegners als Antichrist, sei es des UN-Generalsekretärs oder anderer internationaler Organisationen oder der Zentralgewalt in Washington. Medienkonzerne versorgen das öffentliche Programm mit Wunderheilungen und dem ganzen Repertoire des Aberglaubens.125 Der uferlose „Psycho-Markt“ mit seinen Heilsangeboten und Filmen über Geister und Zauberer bewegt sich auf der historischen Mentalitätsschicht von Magie und Animismus. Die ganze magische Welt von Zauberern und Hexen mit ihrer weißen und Schwarzen Magie für oder gegen das Böse schlechthin bietet ein phantastisches Refugium aus den als bedrohlich empfundenen Ordnungsverlusten. Hinter allem steht ein allgemeines Unverständnis dessen, was heute in der Welt geschieht, welche dunklen Mächte und unerkennbaren Impulse unsere Kultur formen und ihre historischen Grundlagen aushöhlen und zu zerbrechen drohen. Anstelle von neuen Leitbildern und Werten phantasiert man sich in Heldenrollen: Der Eros des Siegers triumphiert über den altbösen Feind, der Hilflose phantasiert sich in die Rolle des Wohltäters.

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III

Zusammenbruch

Auf der individuellen Ebene ist der Zusammenbruch (Kollaps) durch den Verlust der der Handlungsfreiheit, der körperlichen oder mentalen Autonomie gekennzeichnet. Dies soll in Kapitel A behandelt werden. Auch auf der kollektiven Ebene können einzelne Stämme oder Völker kollabieren und dann aussterben. Sie können aber auch nach dem militärischen oder ökonomischen Zusammenbruch der bisherigen Herrschaftsform (einer Klasse oder Kaste) unter anderen „Herrschaften“ weiterleben und müssen sich dann – umstandshalber – anpassen und neu orientieren. Das deutsche Wort Zusammenbruch und das lateinische Kollaps sind identisch. Katastrophe ist dagegen vieldeutiger, weil es aus den griechischen Mythen über den periodischen oder zufälligen Untergang von Kulturen abgeleitet wurde. Auslöser waren Naturkatastrophen (Kataklysmos) wie Feuersbrünste, Sintfluten, Eiszeiten, aber auch menschliche Verderbtheit. Vorangegangen war ein Goldenes Zeitalter, dem ein silbernes und ein eisernes (kriegerisches) folgten. Diesen Abstieg der Menschheit sah Plato in einem eigenartigen Kontrast zum technologischen Fortschritt (Timaios). Katastrophe bedeutet eigentlich Umwälzung, nach Tod und Verderben kann es auch einen Neuanfang geben. Die Christen rechneten dagegen fest mit dem völligen Weltuntergang, der Apokalypse. Nur die Frommen hatten im Jüngsten Gericht die Chance, nicht verworfen, sondern ewig selig zu werden. Diese apokalyptischen Endzeiterwartungen sind seit dem Bericht des Club of Rome über die „Grenzen des Wachstums“ durch ökologische Schreckensszenarien abgelöst worden. Es handelte sich dabei um ein „jüngstes“ (gegenwärtiges) Gericht, ein notorisches Protokoll über die apokalyptischen Entwicklungen wegen der Unterlassungssünden der Menschheit: Ordnungsverluste durch Wachstumswucherungen. Im Vordergrund stehen heute die Klimaerwärmung, vor allem aber die Abholzung ganzer Kontinente und der Vormarsch der Wüste gerade in den Gebieten mit brisantem Bevölkerungswachstum. Das ist Thema der auf komplexe Klima- und Umweltzusammenhänge gerichteten Ökologie. Diese Mischung aus Natur- und Geisteswissenschaft, aus Landwirtschaft und Politik zielt auf langfristige evolutionäre Gesetze des Überlebens mit Mitteln der rationalen (analytischen) Planung. Dazu muß aber eine (geistige) Urteilskraft kommen, um komplexe Ökosysteme (synthetisch) erfassen und regulieren zu können. Es gibt eine umfangreiche Literatur des Ökonomen Hans Christoph Binswanger zur „nachhaltigen“ Wirtschaft mit einer ökonomisch-ökologischen Synthese. Sein Werk stieß bei den mathematisch orientierten Kollegen stets auf taube Ohren.126 Für die Ökologie gibt es eine einfache Umweltgleichung: Umweltschäden und Erschöpfung der natürlichen Ressourcen hängen von der Zahl der Menschen und ihrem Material- und Energieverbrauch ab. All diese Themen einschließlich der heraufziehenden Klimaerwärmung und Biotechnik wurden von Ernst Jünger bereits vor einem halben Jahrhundert thematisiert (vgl. dazu den Ausblick). Die deutsche grüne Jugendbewegung tat so, als hätte sie erst die Probleme entdeckt. Unter ihnen gab es viele „grünlackierte Rote“, durch den Niedergang des Kommunismus frustrierte Linksaktivisten

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aller Schattierungen, die in höchste Ämter und Würden gelangten, weil es ihnen gelungen war, sich am ökologischen Gedanken moralisch wieder emporzuranken. Das Thema fasziniert den durch Naturkatastrophen verängstigten „Ökochonder“, der von den Archetypen des naturbelassenen Paradieses (d. h. einer Natur ohne Menschen) und einer endzeitlichen Sintflut besessen ist. Die Zusammenhänge der Naturzerstörung mit psychosozialen Verwahrlosungen (Dekadenz, Gier, Aggression, scheiternde Staaten), deren Ergebnisse Übervölkerung und absolute Armut sind, geraten aus dem Blickfeld. Das Weltkind sieht nur Umwelt, keine Innenwelt. In einer Mischung aus Ökochondrie, Ökopazifismus und Xenophilie wird der Kampf mit den Dämonen (Fundamentalismus, Mafia und Finanzkapitalismus) gar nicht mehr aufgenommen. Dafür ist man längst eine Nummer zu klein geworden. „Gar nicht um kümmern …“, sagt der Norddeutsche. Für ein solches Publikum lassen sich gut Bestseller schreiben. Der als Anthropologe und Ethnologe verdienstvolle Jared Diamond hat solch einen Bestseller („Kollaps“) 2005 veröffentlicht. Er definiert den Zusammenbruch dort wenig hilfreich als „Extremform des Niederganges, den es auch in schwächerer Ausprägung gibt“. Er versteht darunter „einen drastischen Rückgang der Bevölkerungszahl und-oder der politisch-wirtschaftlich-sozialen Komplexität“. Bei den Vorbereitungen für das Buch befaßte er sich mit acht Kategorien einer ökologischen Katastrophe. Aber dann entdeckte der global tätige Professor, daß es neben Umweltschäden auch andere Faktoren sein können, die zum Zusammenbruch einer Gesellschaft führen. Er hatte, wie er selbst einräumte, die „naive Vorstellung“ gehegt, die er mit vielen Vertretern der grünen Bewegung teilte, es würde „ausschließlich von der Schädigung der Umwelt“ abhängen, ob eine Gesellschaft untergeht. So entwickelte er dann doch ein fünfteiliges Schema für Faktoren eines Zusammenbruchs: Umweltschäden, Klimaveränderungen, feindliche Nachbarn und freundliche Handelspartner (!) sowie die Reaktion einer Gesellschaft auf ihre Umweltprobleme. Damit will Diamond die anspruchsvolle Frage des Untertitels „Warum Gesellschaften überleben oder untergehen“ beantworten. Von den ideellen Ursachen eines psychosozialen Kollapses (Psychosen, Kriegsreligionen oder Kampfideologien) ist kaum die Rede, obwohl er früher auch die Geschichte und die verschiedenen Gründe der Völkermorde seit dem Mittelalter behandelt hatte (vgl. dazu Kap. III B 1.4). Positive Reaktionsmöglichkeiten waren für ihn lediglich: das Wahlverhalten, die Reflexion des Verbrauchers, öffentliche Aufmerksamkeit auf Konsumverhalten und Produkte, verantwortungsvolle Unternehmer loben, mit anderen Wählern und Verbrauchern reden und dabei auch in Kirchen, Synagogen und Moscheen gehen; schließlich selbst in ökologische Projekte investieren und spenden und diese Mittel mit der (aus der Börsenspekulation bekannten) „Hebelwirkung“ vermehren.127 Ökologische Katastrophen waren schon vor dem Medienzeitalter mit seinen Bestsellern ein mythologisches Thema, das sich im platonischen Denken niederschlug. Platon griff auf ägyptische und babylonische Mythologien zurück, wonach das Menschengeschlecht regelmäßig zwar nicht vollständig, aber doch bis auf geringe Reste vernichtet worden sei. Die sagenhaften Überlieferungen von einem untergegangenen Goldenen Zeitalter waren der Ausgangspunkt. Ursache seines Endes waren Sintfluten durch Dau126

erregen oder das Ansteigen des Meeresspiegels, Eiszeiten und Feuersbrünste, Erdbeben und Abweichungen der Sonne oder anderer Gestirne von ihren Bahnen „und tausend andere geringe Zufälle“128. Mal traf es die Bewohner der Berge, mal die Städte in den Ebenen. Seinen Schüler Aristoteles beschäftigte darüber hinaus der Gedanke, daß die kulturellen Errungenschaften von Künsten, Wissenschaften und politischen Institutionen regelmäßig untergegangen seien und dann mühsam wiedergewonnen werden müßten. Schon in der Antike war also mit den mythologischen Vorstellungen von apokalyptischen Naturkatastrophen die Furcht vor sozialen Katastrophen eng verbunden. Das griechische Wort Katastrophe bedeutete eigentlich Umkehr, Wendung und Unglück mit unermeßlichen Folgen. Im Drama bedeutet Katastrophe die entscheidende Wendung zum Schlimmeren. Schon Herodot sprach vom Kreislauf der menschlichen Dinge. Der Historiker Polybius bezweifelte den Glauben an das ewige Rom („Roma aeterna“). In Wirklichkeit gebe es einen Kreislauf der Verfassungen, der mit dem kosmischen Kreislauf und der Seelenwanderung zusammenhänge. Diese Kreislauftheorien wurden vor allem von den christlichen Theologen bekämpft, für die es eine lineare Entwicklung der Schöpfung hin zum Jüngsten Gericht und zur Erlösung geben müsse. In der Neuzeit kam es dann zu einer Spaltung. Vico und Hegel beschränkten den Kreislauf auf die Natur; für Forschung und Geschichte des Geistes sei aber ein wesentliches Fortschreiten kennzeichnend. Dem Fortschrittsgedanken der französischen Aufklärung und Revolution trat E. Burke entgegen und bezeichnete das englische politische System als vorbildlich. Es stehe „im richtigen Verhältnis und vollkommenen Ebenmaß mit der Ordnung der Welt …, worin durch die Anordnungen einer übermenschlichen Weisheit … das Ganze in jedem Augenblick weder jung noch reif noch alt ist, sondern unter den ewig wechselnden Gestalten von Verfall und Untergang, Erneuerung und Wachstum in einem Zustande unwandelbarer Gleichförmigkeit fortlebt und dahintreibt. Indem wir diese göttliche Methodik der Natur nachahmen, sind wir in dem, was wir an unserer Staatsverfassung bessern, nie gänzlich neu, in dem, was wir beibehalten, nie gänzlich veraltet.“129 Im Gegensatz zu dieser britisch-pragmatischen Verbindung von Kreislauftheorie und Fortschrittsdenken stand Nietzsches Emphase von der ewigen Wiederkehr (vgl. dazu die Einleitung). Mit seiner „gewaltsamen Antichristlichkeit“ (Karl Jaspers) fiel er nur wieder auf das Niveau des alten christlich-heidnischen Streites zurück.

A

Zusammenbruch der Person

Auf der individuellen Ebene entsprechen den kollektiven Zusammenbrüchen die Grenzsituationen. 1919 war es angesichts der verheerenden Situation in Deutschland an der Zeit, daß Karl Jaspers diesen anthropologischen Begriff einführte, der dann allgemeine Verbreitung fand. Grenzsituationen sind Zufälle wie ein Unfall oder eine Naturkatastrophe, ferner die Zwänge durch die Herkunft (Familie und soziale Klasse), Tod, Leiden, Kampf (freiwillig gesucht oder unfreiwillig in ihn verstrickt) und Schuld. 127

Als Situationen können sie zwar wissenschaftlich behandelt und durch Handeln verändert werden. Aber eine Grenze sind sie insofern, als hier entscheidend wird, wie der Mensch sich zu und in ihnen verhält. Diese Grenze führt zugleich an die Stelle, an der unser Dasein brüchig und durchsichtig wird. An ihr wird unsere Realität transparent im Hinblick auf die Wirklichkeit der Transzendenz. Grenzsituationen können eine Krise (Neurose, vgl. Kap. II A) oder den Kollaps einer Psychose auslösen.

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Psychosen

Die in Kapitel II A dargestellten Neurosen zeichnen sich dadurch aus, daß sie zu den lebenstypischen Krisen gehören, die verständlich (nachvollziehbar) und deswegen kommunikativ therapierbar sind. Nach der allgemeinen Psychopathologie von Jaspers (1913), die bis heute nicht mehr grundsätzlich modifiziert wurde, sind Psychosen allgemein durch ihre Unverständlichkeit gekennzeichnet. Das heißt, man kann nicht darüber in einer Gesprächstherapie kommunizieren. Es gibt zunächst die organischen Psychosen wie die hirnorganische Paralyse, die Drogenpsychosen oder die Alters- und Konfusionspsychosen. Die endogenen Psychosen sind nicht ohne weiteres auf organische Ursachen zurückzuführen. Es ist jedoch nicht nur das gute Recht, sondern auch die Pflicht der medizinisch-pharmakologischen Forschung, auch hier nach organischen Ursachen zu suchen. Zunächst gibt es die kurzen reaktiven Psychosen wie Haftpsychosen. Die langfristigen Psychosen sind durch eine schwere Beeinträchtigung der Realitätskontrolle gekennzeichnet, die zu falschen Schlußfolgerungen über die äußere Realität führen. Sinngesetzlichkeit und Sinnkontinuität der Lebensentwicklung werden dadurch zerrissen. Der Mensch wird ver-rückt nicht im Sinne einer Karikatur, sondern im Sinne eines zerbrochenen Spiegels. Dem entspricht in der Umgangssprache die Wendung, jemand sei leicht oder völlig daneben. Bei Psychosen kann man vom Zusammenbruch einer – zerbrochenen – Persönlichkeit sprechen. Schizophrenie ist eine Sammelbezeichnung für verschiedene Arten von Psychosen. a) Dazu gehören zunächst die Katatonien, Verhaltensauffälligkeiten, die entweder aus einem Zuviel oder einem Zuwenig bestehen: hochgradige Erregbarkeiten oder Reglosigkeit, Schweigsamkeit und Autismus. Bei den apathischen Syndromen scheinen lediglich höhere Funktionen auszufallen, während elementare Reaktionen erhalten bleiben, wobei die Relevanz der Reize nicht unterschieden werden kann. Es bleiben stereotyp sich wiederholende Handlungsmuster, die weder logisch nachvollziehbar noch situationsangemessen sind. Der Patient wirkt, als ob er in einer Tretmühle oder Endlosschleife sich abmüht. b) Die Hebephrenien sind Ausdrucksverzerrungen: ungeniert, distanzlos, enthemmt oder kindisch albern. c) Die Paranoia wird dagegen durch Wahnideen und Sinnestäuschungen gekennzeichnet. Es sind selten optische und häufiger akustische Sinnestäuschungen wie dialogische und kommentierende Stimmen oder die eigenen Gedanken, welche die Betrof-

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fenen als Stimmen hören. Es geht hier also das Bewußtsein verloren, daß die Sinnesorgane und Gedanken aktiv gesteuert werden. Hauptmerkmal der Paranoia sind jedoch Wahnstimmungen und Wahnsysteme. Der paranoische Wahn ist durch seine logische und organisierte Struktur gekennzeichnet. Normale Wahrnehmungen werden abnorm interpretiert und als Aufbauelemente für das Wahnsystem mit unvergleichlicher subjektiver Gewißheit (fanatisch) verwendet. Beispiele sind der Eifersuchts- und Versündigungswahn. Politisch verhängnisvoll können der Verfolgungs- und Größenwahn werden. Gerade durchsetzungsfähige und rednerisch begabte Menschen entwickeln dann eine Kampfparanoia. Die paranoide „Verteidigungsaggressivität“ wurde von Karl Kraus angesprochen, indem er den Nationalsozialismus als „verfolgende Unschuld“ bezeichnete. Die sozial Unterlegenen neigen dagegen zum Beziehungs- und Querulantenwahn. Adolf Hitlers Grundidee, wonach das internationale Judentum auf die Erniedrigung und Versklavung aller Völker hinarbeite, um die Weltherrschaft zu erlangen, ist das Beispiel einer paranoiden Verschwörungstheorie. Sie entwickelte sich zwischen 1919 und 1923 und wurde von 1927 bis 1933 in den öffentlichen Reden (aber nicht in seinen Büchern) konsequent aus wahltaktischen Gründen verborgen. Der Ausbruch der Paranoia verlief stufenweise parallel zu seinen Anfangserfolgen bis 1939. Dabei gelang ihm das Kunststück, den angeblich vom Judentum beherrschten Bolschewismus und den westlichen Finanzkapitalismus in einem Aktionszusammenhang zu sehen.130 Die einzige Verbindung, die sich da herstellen ließe, wäre allenfalls, daß beide gegen den produktiven Mittelstand der Handwerker, Kaufleute und Kleinunternehmer gerichtet waren und sind. Trotzdem bleibt als paranoides Motiv, daß alle Juden, auch die Kaufleute und Kleinunternehmer, auch die Frauen und Kinder, für diese Vergehen Einzelner verantwortlich gemacht wurden. All das kulminierte in der NS-Propaganda ab 1942. Es gehe jetzt um einen jüdischen Krieg gegen Deutschland mit Ausrottungsplänen. Nur vor dem Hintergrund dieses paranoiden Systems konnte Goebbels 1943 in der Wochenzeitschrift „Das Reich“ ausdrücklich formulieren: „Der ganze Krieg ist ein antisemitischer Krieg.“ Das Judentum in Europa müsse ausgerottet werden. Zum paranoiden System gehörte auch, daß an die deutsche Volksgemeinschaft gegen Ende des Krieges immer mehr als „Opfergemeinschaft“ appelliert wurde, die in einer Art Götterdämmerung im Endkampf untergehen solle. Erik Erikson hat aber davor gewarnt, Hitler ausschließlich als psychopathischen Paranoiden verstehen zu wollen. Unglücklicherweise war er nicht nur das, sondern dies betraf nur einen Teil seiner Person. Sein Organisationstalent und Blick für die Erfordernisse der Kriegswirtschaft, sein politisches Geschick, konkurrierende Angehörige der eigenen Bewegung auszuschalten, waren von einer geradezu dämonischen Qualität. Erikson charakterisierte ihn als Abenteurer und Schauspieler, dem es auf der Bühne gelang, die verschiedensten Rollen zu spielen. Und wie viele Schauspieler sei er hinter den Kulissen nur schwer zu ertragen gewesen und habe seine Zuhörer mit Monologen gelangweilt. Monologe sind oft Symptom eines Wahnsystems.131 Ein Hitler vergleichbares Beispiel für Paranoia in der Politik, bei der das Gleichgewichtsorgan der Vernunft völlig aus dem Lot geriet, ist der erste chinesische Kaiser 129

Quin Shi Huangdi (259 bis 210 v. Chr.). Bei ihm äußerte sich die Vernunftlosigkeit darin, daß er den Konfuzianismus und Taoismus gleichermaßen – und damit die geistigen Grundlagen der chinesischen Hochkultur – bekämpfte. Damit wurde er zum bösen Archetypus und Menetekel für die chinesische Geschichte bis hin zum Maoismus. Ihm gelang zwar die Reichseinigung, indem er zunächst die inneren Feinde, die Adelsfamilien und die kämpfenden Reiche, unterwarf. Ebenso wehrte er die Hunnen und Vietnamesen (die sich damals schon als Dschungelkrieger bewährt hatten) ab. Positive Leistungen waren auch die Einführung der einheitlichen Schrift und Währung sowie des Verkehrssystems, vor allem der Ausbau der Kanäle. Paranoid waren jedoch seine Reglementierungen des täglichen Lebens (z. B. der Einzelheiten des Ackerbaus), mit denen er den neuen Menschen schaffen wollte. Um den neuen Menschen als notwendiges Glied der neuen Gesellschaft zu gewinnen, muß man ihn von der Sündenlast des alten Adam befreien. Das ist ein typisches Ziel totalitärer Führer. Deswegen ließ er auch die Philosophen hinrichten und ihre Bücher verbrennen. Seine Paranoia äußerte sich als Verfolgungswahn, übersteigerte Todesfurcht und grotesk abergläubische Suche nach dem ewigen Leben. Dazu verhalf ihm zu guter Letzt ein Taoist, der ihm einen Quecksilbertrank als das geeignete Mittel empfahl. Eine Paranoia kann sich auch in der historischen Erinnerung auswirken wie ein sich fortpflanzender Größenwahn, indem Gestalten wie dieser Kaiser, wie Stalin oder Mao weiterhin verehrt werden. Sie werden dann zu dem erwähnten bösen Archetypus und Menetekel für die weitere Geschichte. Der „Große Vorsitzende“ Mao begründete erneut eine Despotie, welche den Konfuzianismus und Taoismus ausrotten wollte und dies „Kulturrevolution“ nannte; er ordnete einen „großen Sprung“ zur Industrialisierung an – mit siebzig Millionen Toten als Ergebnis. Seine Erben befahlen dann ein Massaker an Studenten ausgerechnet auf dem „Platz des himmlischen Friedens“. Es gehört zu den wenigen Glücksfällen in der deutschen Geschichte, daß im Jahre 1989 die Staatsorgane der DDR zwar von etwas Vergleichbarem träumten, es letztlich aber doch nicht wagten, dies in Leipzig und Berlin vor den Augen der Weltöffentlichkeit zu wiederholen. Politische Paranoia kann sich nur dann richtig austoben, wenn sie nicht unter wachsamer Beobachtung steht. 1.1

Gier und Sucht

Das Wortpaar Habsucht und Habgier deutet an, daß sich Gier und Sucht überschneiden. Gier und Begierde gehen auf eine indoeuropäische Wurzel zurück im Sinne von gierig und heftig begehren. Für Habgier und Geiz war seit der Antike kennzeichnend, daß man immer mehr haben will. Kant unterschied den „kargen“ Geiz, die bloße Knauserei, vom habsüchtigen Geiz, dem Hang zur Besitzerweiterung über die wahren Bedürfnisse hinaus. Es geht also nicht nur darum, einen Lebensraum zu schaffen, wirtschaftlich oder kulturell produktiv zu wirken und sein Vermögen zu genießen, sondern um eine Art Spielsucht, durch ständigen Erwerb den Besitz zu vergrößern. In dem Ensemble der verschiedenen Triebe (Selbstbehauptungs-, Geschlechts- oder Erwerbstriebe) fängt bei den psychotisch Gierigen einer an zu wuchern wie bei einem Karzinom.

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Sucht bedeutete noch im Mittelhochdeutschen eine aussichtslose Krankheit. So gibt es heute noch die Gelbsucht oder Fallsucht. Durch die Wortbildungen Sehnsucht, Herrschsucht, Eifersucht, Gewinn- oder Selbstsucht bezeichnete man mit Sucht eher krankhafte Zustände der Seele. Es geht um eine krankhafte Steigerung der Triebe und des Wollens wie bei der Tobsucht. Unter Süchtigkeit wird der allgemeine Zustand verstanden, wenn man sich bereits einer Sucht verschrieben hat. Die Sucht ist für Jaspers nicht nur quantitativ stärker als der Trieb, sie ist es auch in ihrer Qualität und wird als „fremd und zwingend“ erfahren. Zunächst gibt es die von Drogen abhängigen Süchte (Nikotin, Alkohol oder Narkotika). Hier besteht ein Zustand seelischer und körperlicher Abhängigkeit von einer Substanz mit zentralnervöser Wirkung. Dadurch wird das sympathische Nervensystem überstimuliert. Der Süchtige überwindet Zustände der Depression, der Leere oder Ohnmacht und gewinnt Hochstimmung, Selbstvertrauen und Selbstüberschätzung. Die Wirkung des Botenstoffs Dopamin (des „Glückshormons“) wird verstärkt, das „Lustzentrum“ oder „Belohnungszentrum“ im limbischen System wird belohnt. Dieses besteht aus einem starken Nervenstrang, der sich durch mehrere Regionen des Mittelhirns zieht. Er sorgt dafür, daß der Mensch säuft, seit er denken kann, und in der Regel immer noch denken kann, obwohl er säuft. Nicht nur Trinker, auch Raucher werden von neurowissenschaftlich geschulten Personalchefs argwöhnisch wegen ihrer „unvernünftigen Kurzfristorientierung“ beobachtet: Sie können nicht der Idealfall des Homo oeconomicus sein. Dann gibt es noch die zweite große Gruppe der Triebbefriedigungen und Tätigkeitssüchte ohne die Einnahme von Suchtmitteln. Auch hier sind Suchthandlungen wie Gelderwerb oder sexuelle Aggression mit einem quasi-automatisierten Zwang, mit einer Aktivierung des Belohnungssystems, mit einer Dopaminüberflutung verbunden. Tätigkeitssüchte sind etwa die Arbeitssucht, die Gewinnsucht und die Neigung zu sich steigernden Geschwindigkeitsexzessen. Letztere ist wieder verwandt mit der Spielsucht durch die Suche nach einer immer größeren Steigerung des Risikos bis zum Tode beziehungsweise zur Pleite. Die Eßsucht wird besonders geringschätzig behandelt nach dem Motto „Dummheit frißt und Intelligenz säuft“. Die Sexualgier kann bis zu grotesken Perversionen gehen (vgl. dazu den nachfolgenden Abschnitt), zum sadistischen Exzeß oder zur masochistischen Selbstzerstörung. Auch bei der Besitzgier kann es unterschiedliche soziale Wertungen geben. Bloße Geldvermehrung wird geringer geschätzt als die Sammelsucht des Kunstliebhabers. Das Energiefeld der Süchte wird von vier Faktoren geprägt: 1. Der Faktor Mensch betrifft die Persönlichkeit. Es geht hier nicht nur um erbliche Einflüsse und frühkindliche Milieubedingungen, sondern vor allem um die Einstellung zu sich und der Umwelt. So hat schon der junge Psychiater Jaspers beobachtet, daß auch bei geringer Triebstärke die ständige Reflexion auf die Sexualität triebsüchtig machen kann. Vor allem aber ein seelischer Zustand der inneren Leere und des Ungenügens ist die Vorstufe zur Sucht. Gerade bei der Gewinnsucht sind pseudoreligiöse Kategorien auffällig: Man verschuldet sich in der Hoffnung auf Erlösung. Gläubiger und Schuldner fordern beziehungsweise fürchten den Offenbarungseid. Bei allen Süchten geht es um 131

eine Aushöhlung des Charakters, um seine „Entkernung“. Diese Leere steht zwischen zwei nicht zu verbindenden Polen: Wollen und Können, Ehrgeiz und Leistung, Streben und Erfolg, das Unvermögen, seine eigenen Pläne zu verwirklichen und sie mit den Ansprüchen der Welt ins Gleichgewicht zu setzen. Man versucht die Grenzen, die unserem Leben und Erleben gesetzt sind, zu überwinden und scheut dabei kein Risiko, setzt alles auf eine Karte, protestiert gegen alles, was mit Norm und Mitte zu tun hat. Dies kann bis zur Selbstzerstörung gehen.132 2. Bei Drogen sind Dauer, Dosis, Gewöhnung und individuelle Reaktion von Bedeutung, aber auch das Milieu, die Gewohnheiten und Vorbilder im Freundeskreis. 3. Das engere Milieu wird durch die familiäre Situation bestimmt. Hannah Arendt konstatierte, daß gerade Geschiedene trinken „wie die Fische“. Es geht hier um die „Broken home“-Verhältnisse gescheiterter Familien, aber auch um Arbeitslosigkeit, Berufsstreß, Wirtschaftslage und die Einstellung zum eigenen sozialen Status. 4. Zum persönlichen Milieu kommt der unpersönliche Markt. Auch dieser bestimmt die Einstellung zur Droge durch ihre Verfügbarkeit. Konsumgewohnheiten der Umgebung, Werbung und Mode und besonders energisch Mafiagesellschaften, die den Markt gewaltsam regulieren (vgl. dazu Kap. III B 2.1), – alle zusammen schaffen eine Marktwirtschaft der Süchte. Einfaches Ziel der Suchtbekämpfung ist, den Zustand periodischer und chronischer Vergiftung (Intoxikation) zu verringern, die Dosiserhöhung zu stoppen und damit die harte Sucht durch die mildere „Gewöhnung“ zu ersetzen. Ähnlich wie bei dem Gegensatz zwischen Besitzgier und Besitzgenuß gibt es dafür keine allgemeinen Rezepte, sondern nur die Förderung durch eine intelligentere Lebensführung, um die innere Leere ausfüllen zu können. 1.2

Perversion

Die lateinischen Worte perversitas und perversus bedeuteten Verdrehtheit oder Verkehrtheit und metaphorisch einen Normverstoß. In diesem Sinne begriff Sigmund Freud die sexuellen Perversionen als Krankheit. Das normale sexuelle Verhalten war für ihn die gegengeschlechtliche „Vereinigung der Genitalien in dem als Begattung bezeichneten Akte, der zur Lösung der sexuellen Spannung und zum zeitweiligen Erlöschen des Sexualtriebs führt“. Vor diesem rigiden Hintergrund (im Sinne eines magischen Fruchtbarkeitskults) waren Perversionen 1. Abweichungen hinsichtlich des Sexualobjektes: gleichgeschlechtliche Partner, Kinder oder Tiere. 2. Ein Abweichen des Sexualziels hinsichtlich der Geschlechtsorgane, das heißt anatomische Überschreitungen wie oraler oder analer Verkehr oder der Kontakt mit Fetischgegenständen (wie Dessous oder Schuhe). 3. Die Fixierung von vorläufigen Sexualzielen, zum Beispiel das bloße Beschauen und Betasten oder aggressive sadistische oder masochistische Tendenzen, die nicht zur „normalen Begattung“ führen. Perversionen kann man – um Freuds Rigorismus zu vermeiden – allgemeiner als Lebensstörungen bezeichnen, die über bloße Abweichungen und Varianten der Sexualität

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hinausgehen. Allgemein wurden sie als Neuinszenierung frühkindlicher Traumata, als „erotisierter Haß“ bezeichnet. Je deutlicher die Feindseligkeit, um so sicherer kann man von Perversionen sprechen: Verstümmelungen, Verletzungen, Vergewaltigungen. Die Feindseligkeit kann sich sowohl nach innen (Schuldgefühl und das Verlangen nach Strafe) oder nach außen (Wut und Rache) richten. Allgemeine Leitsymptome der Perversionen sind: a) Die allgemeine Sexualisierung, die immer stärkere Bindung an sexuelle Praktiken. Die Häufigkeit nimmt zu bei abnehmender Befriedigung. b) Die Ritualisierung der perversen Inszenierungen ist auffällig starr und unflexibel. Die imaginäre Struktur der perversen Szenen entspricht einer magischen Phantasie ohne Kreativität und Entwicklungsmöglichkeiten. Perversionen sind als Neuinszenierungen frühkindlicher Traumata interpretiert worden, die jetzt mit triumphalem Ausgang im Sinne eines „süchtigen Erlebens“ inszeniert werden. Die nicht zu überbietende Steigerung aller Perversionen ist die Sucht, Kinder zu foltern und zu töten oder dies in Medien zu verfolgen beziehungsweise selbst zu erleben. c) Der Mensch wird nicht in seiner Ganzheit ertragen, sondern zerstückelt, gespalten und entmenschlicht. Ein Teilaspekt der Person wird isoliert und zum Objekt gemacht. Typische Kennzeichen sind deswegen zunehmende Promiskuität und Anonymität der Kontakte. Beim Fetischismus fehlt dieser Beziehungsaspekt sogar ganz, beim Exhibitionismus ist er nur noch rudimentär und bei sadomasochistischen Inszenierungen deformiert. d) Die Aggressionsforscher unterscheiden bestimmte Anlässe: Hauptanlaß für Aggressionen sind die Veränderung der sozialen Struktur und die Verkleinerung des Lebensraumes, also alles, was mit der Reviergröße und der Gruppendynamik zu tun hat. Abgesehen von äußeren Feinden und moralischen Normen ist die sexuelle Aggression ganz allgemein mit dem Wettstreit um Partnerbindungen verbunden. Aber auch Kinder rivalisieren um Elternbindung, und die Geschwisterrivalität kann sich sogar gegen Neugeborene richten. Kinder neigen zur explorativen Aggression, zum Austasten ihres Aktionsspielraums. Diese explorative Aggression und Perversionen allgemein bieten viele Argumente für die konservative These, daß ungehemmte Sexualität das erotische Leben und die Gesellschaft dehumanisiert. Aggressive Impulse dominieren dann und blockieren die persönliche Entwicklung. Perversionen gibt es nicht im Tierreich, sie sind etwas ausschließlich Menschliches. Und menschlich war auch die Tendenz in den liberalen Gesellschaften, Freuds Rigorismus umzukehren und Propaganda für homosexuelle Lebensformen zu machen, in denen es ebenfalls geglückte Entwicklungen zu einer reifen Beziehungsfähigkeit geben könne. Ob nicht nur familiäre Entwicklungsbedingungen (wie die Kombination dominierende Mutter und schwacher Vater) und die Verführung der Heranwachsenden durch Ältere, sondern auch genetische und hormonelle Strukturen Homosexualität mitbestimmen können, wird noch diskutiert.133

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Nihilistischer Stil (Selbstmord und Zynismus)

Karl Jaspers nannte die Nationalsozialisten „wütende Nihilisten“. Wenige Tage vor seinem hundertsten Geburtstag stellte sich Ernst Jünger die Frage, ob und wie der Nationalsozialismus Stil hatte. Denn der Stil drücke sich in Taten und Werken aus. Bei Betrachtung der führenden Kräfte kam er zum Schluß, daß keine einen Stil entwickelte: „… die Talente haben sich in der Bewegung konsumiert … Will man einen nihilistischen Stil akzeptieren, so wurde er während der letzten Tage der Reichskanzlei erreicht. Vernichtungsbefehle noch aus dem Bunker inmitten der brennenden Hauptstadt, Giftpillen selbst an die Sekretärinnen …“134 Selbstmord kann zur Waffe werden, nicht nur im erweiterten Gruppenselbstmord der Sekten, sondern auch bei militärisch Unterlegenen. Beispiele waren die KamikazeEinsätze Japans gegen Ende des Krieges oder das letzte Aufgebot von Hitlerjungen an der Ost- und Westfront. Ein anderes, das uns noch lange beschäftigen wird, ist der Einsatz von Selbstmördern als stärkste Waffe der Islamisten. Das ursprüngliche Suizidverbot im Islam wird hier pervertiert: Aus dem „höllenwürdigen Selbstmord“ wird der „Paradies-würdige Märtyrertod“. Auch Musliminnen wird gestattet, sich so als arabische Frau emanzipieren zu können. All dies aus einem Gefühl der militärischen Unterlegenheit heraus mit dem Schlachtruf der zweiten Intifada: „Sie haben die Panzer, wir haben die Märtyrer.“ Nach den therapeutischen Erfahrungen von C. G. Jung gibt es einen Menschentyp, in dem der Selbstmord angelegt zu sein scheint und dessen ganzes Leben in diese Richtung läuft, weil er einer Tendenz seines Unbewußten entspricht. Verhindert man ihren Selbstmord, enden sie nur in noch größerer Agonie.135 Es gehört zur Tragik der deutsch-jüdischen Geschichte, daß Hitlers Selbstmordpläne nach dem gescheiterten Putsch in München und den Wahlniederlagen vor 1933 nicht verwirklicht wurden – und auch die zahlreichen Attentatsversuche scheiterten. Das Leben eines Exzentrikers und Weltverächters, der den Selbstmord immer wieder aufschiebt, aber als Scharlatan, Narr und Verführer eine magische Anziehungskraft ausübt und Menschen ins Unglück stürzt, schildert Knut Hamsun in seinem Roman „Mysterien“. Für Jaspers vollzieht sich der Selbstmord bei diesem Menschentypus nicht aus einer Grenzsituation heraus, sondern in Verstrickung, aus Affekten des Trotzes, der Angst, der Rache und beim Bekanntwerden eines Verbrechens. Schopenhauer meinte, gänzlich verschieden von dem durch Verstrickung bedingten Selbstmord sei der freiwillig gewählte Hungertod als höchster Grad der Askese. Aber auch dies kennzeichnet Jaspers nur als Konstruktion, in der die Freiheit zum Negativen viele Gestalten annehmen kann. Wenn man sich in der Fülle seiner Vieldeutigkeiten wie ein Nichts fühlt, versucht man durch unaufhörliche Verwandlung in neuen Augenblicken faszinierenden Erlebens etwas festzuhalten, das aber immer wieder verschwindet. Die andere Möglichkeit ist, durch den Verzicht in der Askese und durch scheinbar selbstgemachte Gesetze die „schnöde“ Welt insgesamt zu verneinen. Als letzter Akt und Gipfel dieser Verneinung wird dann der Selbstmord vollzogen. Der Selbstmord kann auch die einzige noch bleibende Waffe des Besiegten sein, sich gegen den Sieger als unbesiegt zu behaupten. Der Selbstmord wird hier zur Anklage

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und zum Angriff auf eine überlegene Macht, so wie bei Cato gegen den siegreichen Cäsar.136 Vergleichbar damit ist der Liebesselbstmord, um den ungetreuen Geliebten zu bestrafen, oder Medeas Tat als gesteigerte Vernichtung des gehaßten Mannes, indem seine Kinder getötet werden. Bei den Philosophen standen sich zunächst zwei nichtreligiöse Argumente gegenüber: Für Aristoteles war der Selbstmord eine Versündigung gegen die Gesetze der Gemeinschaft. Er ist ein schlechtes Beispiel für die Jugend und bedrückt und entmutigt alle, die unmittelbar oder mittelbar davon betroffen sind. Demgegenüber hielt Plato in seinem Entwurf eines Idealstaats Selbsttötung nicht für strafwürdig, wenn sie aufgrund unentrinnbarer, übergroßer Schmerzen oder einer Situation auswegloser Entwürdigung geboten war. Für Mark Aurel war entscheidend, ob noch ein vernunftgemäßes Leben möglich ist. Den „wohlerwogenen Lebensausgang“, um der Altersphase zuvorzukommen, hielt er für legitim. Ebensoweit ging David Hume, für den die soziale Verpflichtung ihre Grenze erreichte, wenn das eigene Leben unerträglich wird. So sagte auch Nietzsche: „Stirb zur rechten Zeit!“ Aber diese Frage wird hinfällig, wenn der Selbstmord, wie bei Jean Améry, prinzipiell als Demonstration gegen alle Lebenslügen unseres Lebens gerechtfertigt wird. Der Tod wird dann zum eigentlichen Ziel des Lebens verklärt. All dies beruht auf der Überzeugung, daß der Mensch nur sich selbst gehört. Gerade dies bestreiten die religiös motivierten Stellungnahmen zur Selbsttötung seit der Antike. Schon Sokrates erklärte schlicht, das Leben und der Tod des Menschen stünden in der Verfügung der Gottheit. Bei Augustinus und Thomas von Aquin war der Fall klar. Es gab keinen Freitod, sondern nur einen Mord, weil er sich gegen die göttliche Entscheidung über Leben und Tod wendet. Kant drückt dies etwas gewundener aus: Der Selbstmord ist eine Pflichtverletzung gegen sich selbst, da durch den Akt der Selbstvernichtung die Basis sittlichen Handelns ausgelöscht und damit alle Verbindlichkeit negiert wird. Klarer dagegen Kierkegaard, für den der Selbstmord aus Verzweiflung als „Krankheit zum Tode“ gerade nicht zum ersehnten Ende führen kann, weil das Selbst als „das Ewige“ ganz und gar der Selbstvernichtung unfähig ist. Weniger abstrakt und damit überzeugender wird die religiöse Abscheu vor dem Selbstmord, wenn sie sich in eine geistige Immunabwehr, in Scheu verwandelt. So wenn Kant in seinen nachgelassenen Fragmenten die Metapher verwendet, die Raupe könne nicht wissen, daß später einmal aus ihr ein Schmetterling werden kann. C. G. Jung bezeichnete dementsprechend das Leben als kurze Periode zwischen zwei großen Geheimnissen. Rückblickend betrachtete er sein Leben als eine Zickzacklinie mit vielen Häutungen, deren Relikte man Bücher nenne. Sie verraten ebensoviel als sie verhüllen. Jede Stufe kann Symbol der folgenden sein. Die letzten Stufen des Alters seien die schönsten und kostbarsten: „Der große Wind der Gipfel rauscht vernehmlicher.“137 Aus solchen Erfahrungen und der Kommunikation darüber kann die Scheu vor dem Selbstmord entstehen. Nach Jaspers beruht sie darauf, daß es sich um eine Totalhandlung handelt, sich das Leben ebenso zu nehmen, wie es einem gegeben wurde; und daß damit eine Grenze überschritten wird, über die hinaus kein Wissen möglich ist.

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Diese behutsame Scheu geht in der Verzweiflung verloren, dem angeblichen Totalwissen, das Leben sei insgesamt Kränkung, Heuchelei und Täuschung. Dieser Verzweiflung verwandt ist die zynische Grundhaltung. Zynismus ist mit dem Namen Diogenes verknüpft. Diogenes von Apollonia war ein Naturphilosoph, der die unendliche Luft zum Ursprung aller Dinge erklärte. Aristophanes verspottete ihn gnadenlos in der Komödie „Die Wolken“. Erst die von seinem Namensvetter Diogenes von Sinope ausgehende Schule der Cyniker propagierte den bedürfnislosen und unerschütterlichen Weisen. Bekannt wurde er durch seine Tabubrüche und Parodien. Er verhöhnte Plato, der ihn wiederum als „verrückt gewordenen Sokrates“ bezeichnete. Erst in der Karikatur wurde er zum schmarotzerischen Bettelphilosophen, für den religiöse und ethische Werte nichts gelten. In diesem negativen Sinn wurde es zynisch genannt, wenn Tabuthemen der Sexualität und der niederen Körperfunktionen in gewollt roher Weise verletzt werden. S. Freud erweiterte dies auf die respektlose Haltung vor allen Institutionen und Wahrheiten und deutete zynisches Verhalten als psychischen Machtfaktor bei neurotischen Personen. Erst bei Karl Marx und Georg Simmel war für die zynische Gestalt schmutziger Eigennutz kennzeichnend, die nivellierende Gedankentendenz, das Geld zum Wert aller Werte zu machen. Peter Sloterdijk („Kritik der zynischen Vernunft“) definierte Zynismus als den Macht- und Profitwillen, der durch Kommunikationsmangel, Kommunikationsvortäuschung und Kommunikationsverweigerung gekennzeichnet ist. Werte wie Liebe, Wahrheit und Identität werden dem untergeordnet.138 (In diesem materialreichen Buch wird, ebenso wie in der „Theorie des kommunikativen Handelns“ von Habermas, verschwiegen, daß Kommunikation als umfassender philosophischer Begriff für eine differenzierte Anthropologie erstmals bei Karl Jaspers verwendet wurde. Im übrigen gibt es allenfalls einen zynischen Verstand; Vernunft kann als das, was verbindet, nie zynisch sein, vgl. dazu Kap. I A 4.2). Festzuhalten bleibt, daß die zynische Grundhaltung negiert und nihilieren möchte, nämlich all das, was über das Vorbewußte und das Rationale hinausgeht, alle geistigen und existentiellen psychischen Grundfunktionen.

B

Sozialer Kollaps

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Kollektive Psychosen

Für Kant waren die Unterschiede zwischen Monarchie, Aristokratie und Demokratie nicht wesentlich, da sie nur die äußere Regierungsform betreffen. Entscheidend waren für ihn kollektive Zustände der Barbarei, der Anarchie, der Despotie und der republikanischen Verfassung. Bei letzterer sind die verschiedenen Arten der Macht (vgl. dazu Kap. I A 4.3) durch die Prinzipien der Freiheit und Gesetzlichkeit geregelt und kontrolliert. Die republikanische Gesetzlichkeit enthält drei Elemente: Machtteilung (in die drei Gewalten Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtswesen), Kontrolle von unten und Publizität (Transparenz) aller politischen Vorgänge.

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Bis zum Aufkommen der Ideologien im 19. Jahrhundert wurden die Autokratien von Monarchen, Despoten und Theokraten in der Regel mit der Religion des jeweiligen Kollektivs legitimiert. In den positivistisch orientierten Ideologien war es dagegen die Wissenschaft. Der Anspruch der Wissenschaft war es von jeher, „total“, das heißt allgemeingültig zu sein. So tauchte schon früh bei Hegel der Begriff „Totalität des Staates“ auf und bei Marx die „totale Revolution“. Der „totale Staat“ wurde dann zum Kampfbegriff der Gegner Mussolinis, welcher diesen im positiven Sinne übernahm. Ernst Jünger propagierte in der Zwischenkriegszeit als Antwort auf Versailles die „totale Mobilmachung“, und Goebbels erklärte schließlich 1943 den „totalen Krieg“. Das Gemeinsame von Faschismus und Bolschewismus sprach der Politikwissenschaftler W. Gurian bereits 1927 an, indem er den faschistischen Staat für „lange nicht so total“ wie den bolschewistischen hielt, da er noch nicht den Bereich der Religion antaste. Totalitarismus wurde dann zum Oberbegriff eines Forschungszweigs nach dem Zweiten Weltkrieg, in welchem die Gemeinsamkeiten von Faschismus und Kommunismus definiert wurden: der Monopolanspruch einer Partei und ihres Führers; die Massenbasis in unteren und mittleren Sozialschichten; pseudodemokratische Legitimierungstechnik und massenmediale Manipulation; schließlich die rücksichtslose Anwendung von Macht und Gewalt unter Berufung auf Prinzipien und politische Parteiprogramme der „Bewegung“ und nicht auf Gesetze. Die neuzeitlichen Bestandteile totalitärer Herrschaft waren der straff geführte Staatsapparat, eine eigenständige Geheimpolizei, Konzentrationslager, eine zentral geleitete Ideologie und vorbeugender Terror zur Einschüchterung des Widerstands. Zwangsläufig wurde die Totalitarismusforschung von Linksintellektuellen als „unwissenschaftlich“ oder „antikommunistisch“ abgelehnt. 1.1

Kampfideologien und die Stufen des Totalitarismus

Kämpfe von Klassen, Rassen, Zivilisationen, Völkern, Konfessionen und Religionen gab es von Anfang an. Wenn sie aber von einem Theoretiker für unvermeidlich, ja notwendig gehalten werden und dies mit allgemeinen biologischen („Kampf ums Dasein“) oder historischen Gesetzen (marxistische Dialektik) „wissenschaftlich“ begründet werden, liegt eine Kampfideologie vor. Es handelt sich dann um Pervertierungen der idealistischen Ethik (Kap. I A 4), die zu Dauerkonflikten mit der existentiellen Ethik der Einzelnen führen. Psychische Ursache dieser Konflikte ist, daß nur ein Aspekt moderner Gesellschaften inflationär aufgebläht wird: die Idee der sozialen Gerechtigkeit zur Egalität, das vernünftige und selbstkritische Nationalbewußtsein zum absolut gesetzten Volksgeist, Toleranz und Glaubensfreiheit zur politischen Theologie des Gottesstaates. In Wahrheit müssen moderne Gesellschaften Mischverfassungen entwickeln, in denen die verschiedenen Gruppeninteressen von Adel und Bürgertum, Klerus und Wissenschaftlern, Arbeitern, Angestellten und Unternehmern berücksichtigt werden. Die Gewaltenteilung ist nur eine funktionale Abstraktion derartiger Mischverfassungen, um ideologisch verbrämte Diktaturen zu vermeiden.139

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Kampfideologien waren das Produkt einzelner Theoretiker wie Marx und Engels, Lenin, Stalin und Mao einerseits und A. Graf Gobineau, H. St. Chamberlain, Mussolini und Hitler andererseits. Bei all diesen „Denkern“ stand ein „naturalistischer Fehlschluß“ am Anfang ihres Weges, der in der politischen Praxis zu Massentötungen führte. (Karl Jaspers: Wo die hindenken, da wächst kein Gras mehr.) Diese Doktrin hat der Revolutionär Saint-Just in Büchners „Dantons Tod“ verkündet: „Soll eine Idee nicht ebensogut wie ein Gesetz der Physik vernichten dürfen, was sich ihr widersetzt? … Der Weltgeist bedient sich in der geistigen Sphäre unserer Arme ebenso, wie er in der physischen Vulkane oder Wasserfluten gebraucht. Was liegt daran, wenn sie nun an einer Seuche oder an der Revolution sterben?“ Mit der vergleichbaren revolutionären „Folgerichtigkeit“ des glühenden Konvertiten ging im Revolutionsjahr 1920 Georg Lukács (im Max-Weber-Kreis in Heidelberg wurden Lukács und Bloch „unsere beiden Propheten“ genannt) so weit, die „administrativen“ Massenerschießungen „bürgerlicher Elemente“ durch Lenin unter dem Titel einer „zweiten Ethik“ zu durchdenken. Nach der ersten, der tötungsfeindlichen Ethik des Juden- und Christentums, sollte nun das Handlungsmuster der „Säuberung“ gerechtfertigt werden.140 Der Begriff „zweite Ethik“ läßt daran denken, von einer dritten Ethik für die Dritte Welt mit ihren Kriegsreligionen (vgl. nachstehend) und einer vierten Ethik für die Vierte Welt mit ihren scheiternden Staaten (vgl. Kap. III B 3.2) zu sprechen. Typisch für ideologische Sprachen ist: Sie liefern nur Fertigteile erlaubter und verbotener Sätze; das Betreten bestimmter Gelände (Sprachräume), vor allem aber das Bemühen um eine eigene Sprache als Voraussetzung für eigenverantwortliches Handeln sind verboten.141 Vielmehr läuft die ganze Sprache auf einen sofortigen Aktionismus hinaus mit Wendungen wie „sofort erschießen“ oder „dezimieren“. Man sucht immer nach Vorbildern: Die Franzosen haben bei der Militärrevolte 1917 einfach jeden zehnten Soldaten erschossen. So müsse man es auch mit den Reaktionären beziehungsweise Revoluzzern machen. „Vollendete Tatsachen schaffen“, so wie es die Engländer im Burenkrieg oder in Suez gemacht haben. Das konsequente Denken und Handeln ist zugleich das „logische“ Handeln. Wie kann man nur etwas anderes denken, als das, was stimmt? Keine Kompromisse, kein „Einerseits – Andererseits“: „eisern die Faust, eisern die Stirn, eisern vernagelt das ganze Gehirn“.142 So prägen ideologische Sprachen das Alltagsbewußtsein. Jede Schulung der Urteilskraft, jede gesunde Reaktion des geistigen Immunsystems werden dadurch blockiert wie durch den Ausbruch einer nicht mehr zu steuernden Neurose. Faschismus und Kommunismus waren radikale Widerstandsbewegungen gegen die liberale und kapitalistische Moderne des Westens. Es handelte sich dabei um ideologische Folgeprodukte der Aufklärung im 19. Jahrhundert und damit ausschließlich um Phänomene der europäischen, der „Ersten“ Welt. Ernst Nolte bezeichnet deswegen den Islamismus als „dritte radikale Widerstandsbewegung“, die auf dem Boden einer der drei orientalischen Offenbarungsreligionen (neben Judentum und Christentum) entstanden ist. Der Islamismus ist eine fundamentalistische Bewegung, die sich auf einen heiligen Kanon und nicht auf die Wissenschaft beruft wie eine Ideologie.

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Vorideologische Stufen des Terrors waren die Ketzer- und Sektenverfolgungen der Kirche, die Konfessions- und interreligiösen Kriege sowie der Individualterror der Selbstmordattentate (Assassinen) gegen die Kreuzfahrerstaaten. Im ideologischen Zeitalter kamen als neue Erfindungen hinzu: der „außenpolitische“ Terror der Geheimdienste (wie das Attentat von Sarajewo 1914), der für unausweichlich erklärte Bürgerkrieg zwischen den Ober- und Unterschichten und schließlich die Propagierung einer Weltrevolution, welche den „Weltbürgerkrieg“ (Ernst Nolte) von 1917 bis 1989 auslöste. In der marxistisch inspirierten Klassenkampfideologie wurden historische Forschung und politische Aktion, Wissenschaft und Philosophie mit einer messianischen Vision vermengt: dem Liebeskommunismus. „Jedem nach seinen Bedürfnissen“ (und nicht nur nach seinen Fähigkeiten) ist ein Freundschaftsideal, aber keine die Klasse oder gar die Menschheit betreffende politische Idee. Das Stammes- und Religionsethos wurden durch das Klassenethos – das „Klassenbewußtsein“ – ersetzt. Ideologischer Grundirrtum war die Annahme, die gesellschaftliche Welt sei erkennbar und planbar aufgrund von historischen Gesetzen, die wie Naturgesetze erforscht werden könnten. Obwohl die Dialektik seit der Antike eine vielschichtige Methode betraf, welche die Ideengeschichte, das Logisch-Kategoriale oder das Psychische betreffen kann, wurde sie im Marxismus unter dem Eindruck des herrschenden Hegelianismus zum „Königsweg zur Wahrheit“ verabsolutiert. Die Vermengung von Dialektik und Ideologie führte letztlich zur Praxisuntauglichkeit der marxistischen Doktrinen. Chronologisch gesehen stand der Terror der Oktoberrevolution ab 1917 an erster Stelle. Eigentlich begann dieser Terror der Bolschewiki ohne Rücksicht auf die Zivilbevölkerung schon in der Revolution von 1905, damals noch gemeinsam mit der Mehrheit der Menschewiki.143 Man kann hierbei schon Stufen des Totalitarismus konstatieren. Allgemein kann man Genozide gegenüber Kriegsgegnern unterscheiden von „Auto-Genoziden“, welche sich gegen Parteien und Schichten im eigenen Volk richten. Was in der Sowjetunion ab 1917 geschah, betrifft fast ausschließlich diesen letzteren Typus. Hannah Arendt sprach allein Stalin wegen seiner totalitären Diktatur schuldig und verteidigte den „furchtbar mißbrauchten oder geschändeten Namen“ Lenins, der sich stets bemüht habe, die „Differenzierungen … irgendeine Strukturiertheit“ in die russische Massenbevölkerung zu bringen.144 In Wahrheit propagierte Lenin bereits Ende 1917 die „unbarmherzige Niederwerfung aller … Konterrevolutionäre“, und Anfang 1918 forderte er die „Säuberung der russischen Erde von allem Ungeziefer … In welcher Stadt, in welcher Fabrik, in welchem Dorf gibt es … keine … Saboteure, die sich Intellektuelle nennen?“ Er überließ es den Kommunen, die „besten Säuberungsmethoden und -mittel“ in einem „allgemeinen Wettbewerb“ zu finden. So kam es bereits ab 1918 zu den „außergerichtlichen Abrechnungen“ und den „administrativen Erschießungen“ der Tscheka. Es gab zwar Volksgerichte, Gebietsgerichte und Revolutionstribunale, viel effektvoller waren jedoch die außergerichtlichen Bestrafungen, die in Wahrheit außergesetzliche Säuberungen waren. Ziel dieser Säuberungen waren Intellektuelle, die man „Prokadetten“ nannte, und darüber hinaus einfach aka139

demische Kreise, Künstler, Schriftsteller und Ingenieure. Intelligenz wurde allgemein zu 80 Prozent als „prokadettisch“ betrachtet. Lenin zitierte Gorki, man dürfe sich durch das „Gewinsel verrotteter Intellektueller“ nicht stören lassen.145 Die Instruktionen der Tscheka liefen ausdrücklich darauf hinaus, bei Untersuchungen nicht nach Indizien für die Schuld eines Angeklagten zu suchen. Die erste Frage sei die nach seiner Klasse, Herkunft, Bildung und Erziehung. Nur ganz selten gab es Freilassungen, denen in der Regel die erneute Verhaftung folgte. Man wollte Lockvögel haben, um möglichst viele Namen zu erfahren. (Eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme aller totalitären Ermittlungsorgane.) So verschwand unablässig ein Menschenstrom in der Kanalisation des Archipel Gulag, während oberirdisch den ausländischen Besuchern die Bauten und Paraden vorgeführt wurden. Zunächst waren es die ehemaligen Staatsangestellten, dann weitere Ströme wegen „Verheimlichung der sozialen Herkunft“: nicht nur Adlige, sondern auch „Adlige auf Lebenszeit“, das heißt alle Universitätsabsolventen. Der juristische Terminus dafür lautete: „durchgreifende soziale Prophylaxe“, um die Weltrevolution vorbereiten zu können. Im Strafgesetzbuch von 1926 wurde aus dem „Ungeziefer“ Lenins die „Schädlingsarbeit“. Dies war ein in der Rechtsgeschichte absolut neuer Begriff. Er zielte auch auf die geistige Einstellung und war viel weiter gefaßt als der Tatbestand der Sabotage. Aber dies reichte noch nicht. In weiteren Paragraphen wurden die antisowjetische Agitation, die konterrevolutionäre Agitation, die konterrevolutionäre Tätigkeit, das konterrevolutionäre Denken, die Verbeugung vor dem Westen, die Lobpreisung der amerikanischen Demokratie, die Verbreitung antisowjetischer Stimmungen oder die Lobpreisung der amerikanischen Technik unter Strafe gestellt.146 In immer neuen Vernichtungswellen führte dieser Auto-Genozid bis zum Ende des Archipel Gulag zu einer so nachhaltigen Schwächung der Sowjetunion, daß diese schließlich zusammenbrach. Für die wirtschaftlichen Mißerfolge in den zwanziger Jahren konnte nur die „Schädlingsnatur“ der alten Ingenieurskader verantwortlich sein, als angebliche Saboteure des überforderten, zusammenbrechenden Transportsystems. Die hohen Ernteverluste konnten ebenfalls nur auf „Schädlinge“ zurückgeführt werden. Die Muschiks, die den Bolschewiki zur siegreichen Oktoberrevolution verholfen hatten, wurden nun zu Kulaken (die sich von fremder Arbeit bereichern, Zinswucher oder unerlaubte Handelsgeschäfte treiben) oder Kulakensöldlingen erklärt. Ein Heer von acht bis zehn Millionen verschwand einfach in der geschichtlichen Versenkung, weil gerade diese Schicht keinerlei schriftliche Spuren hinterlassen konnte. Dann kamen die Kirow-Verfolgungen in Leningrad 1933 bis 1935. Man schätzt, daß ein Viertel der dortigen Bezirkssowjets liquidiert wurde. Dann folgten die Nationalitäten wie Kasachen, Usbeken, Tartaren und andere Turkvölker. Lediglich die Prozesse von 1937 sorgten für internationales Aufsehen, eben weil es Schauprozesse gegen hohe Kader waren, die sich selbst bezichtigten, nicht mehr mit den Zielen der Partei übereinzustimmen. Obwohl sie keine oppositionelle Ideologie vertraten, wurden sie von Stalin einfach zur Opposition gestempelt, um seine Herrschaft abzusichern.147 Ab 1944 traf es dann die Reste derer, die die Schauprozesse überlebt hatten, die Minderheiten, die unter Kollaborationsverdacht geraten waren, und schließlich in Stalins letzten Lebensjahren die Juden, die als „Kosmopoliten“ angeklagt wurden.148 140

Wenn man das Werk von Solschenizyn im Zusammenhang liest, scheint es so, als ob der Versuch Hitlers, dieses System zu zerschlagen, um ein Vielfaches gerechtfertigter war als der Angriff auf den Irak im Jahr 2003. Vorausgesetzt, er hätte es „nur“ auf die Erdölvorräte und nicht auf die Erweiterung des Lebensraums abgesehen. Es wird geschätzt, daß bis 1953 etwa 18 Millionen Menschen den Archipel Gulag durchliefen. Aber es gab viel mehr Opfer unmittelbarer Säuberungswellen. Insoweit gibt es eine große Dunkelziffer innerhalb eines geschätzten Rahmens von 25 bis 40 Millionen Toten. Der Großteil davon waren Russen, nur ein geringer Teil Kriegsgegner oder mit ihnen kollaborierende Minderheiten. Fest steht, daß Stalin zusammen mit Mao Tse-tung im historischen und internationalen Vergleich den größten Friedhof hinterlassen hat. In den „Schwarzbüchern“ zum Kommunismus werden die Opfer Lenins, Stalins und Maos zusammen auf 100 Millionen geschätzt. Allein die „Laogai“ (Arbeitslager) unter Mao sollen seit 1949 40 bis 50 Millionen erfaßt haben. Wenn Mao in seiner Kampagne gegen die „Rechtsabweichler“ diese auf fünf Prozent der Intellektuellen schätzte, dann war das zugleich eine Sollziffer für die Verfolgungen. Die faschistischen Gegenideologien waren in erster Linie Abwehrreaktionen gegen den jakobinischen Terror der Oktoberrevolution, aber auch instinktive Immunantworten auf das simplifizierte Menschenbild des Marxismus. Sie wurden zunächst durch die katholische Theokratie inspiriert und alte Elemente der Konfessionskriege wiederbelebt: kämpfende Orden, Inquisition und Massenmorde im Bürgerkrieg. Insofern kann man die Franco-Diktatur auch als Klerikofaschismus bezeichnen (er war ebenso wie der Islamismus ein Rückfall ins Mittelalter und keine Ideologie). Mussolinis Regime war eher ein mit dem Heiligen Stuhl durch ein Konkordat verbundener Ordnungsfaschismus, der an das imperiale Rom anknüpfen wollte. Er geriet bei der Durchsetzung dieses Traums in Griechenland und Nordafrika bereits zu Anfang des Krieges in die Bredouille, was die deutschen Aufmarschpläne gegen das Reich Stalins erheblich verzögerte. Auch Hitler war bereits am Anfang seiner Erfolgsphase fünf Monate nach der Machtergreifung gelungen, was Bismarck versagt blieb: ein Konkordat mit dem Papst abzuschließen. Durch den absolut gesetzten Volksgeist (Nationalismus) und eine Vermengung von Rassentheorie, Elitegedanken und das Neuheidentum einer Kriegergesellschaft kam im Nationalsozialismus Deutschlands aber eine explosive Mischung hinzu. Man kann sie als offensiven Kriegsfaschismus im Gegensatz zum defensiver eingestellten Ordnungsfaschismus kennzeichnen. Das Ergebnis dieses Weltbürgerkriegs waren auf beiden Seiten totalitäre Systeme, deren Hauptfunktion es war, nicht mehr integrierbare Gesellschaften durch Repression und Terror zusammenzuhalten. Die Mittel zur Verwirklichung der Kampfziele wurden nicht mehr auf ihre Verhältnismäßigkeit geprüft. Hinzu kamen die technologischen Möglichkeiten des 20. Jahrhunderts, eine perfektionierte Verwaltungs- und Erfassungstechnik. Die politischen Krisen nach dem Ersten Weltkrieg und die ökonomischen Katastrophen wie Inflation (1923) und Massenarbeitslosigkeit durch den Zusammenbruch des Bankensystems (1929) wurden dabei propagandistisch ausgenutzt und auf eine strenge Einhaltung eines „Freund-Feind-Verhältnisses“ im Sinne von Carl Schmitt geachtet.149 141

Die faschistischen Diktaturen Italiens, Deutschlands und Japans waren kurzlebig, weil sie kriegerisch offensiv waren. Die bürokratisch-sozialistischen Systeme waren etwas langlebiger, weil sie eine Expansion ohne Risiko zu betreiben versuchten. Sie brachen schließlich im Bereich Osteuropas aus ökonomischen Gründen zusammen. China gelang dagegen eine bemerkenswerte ideologische und ökonomische Verwandlung. Es agierte weniger offensiv. Nach dem Kalten Krieg entstanden ab 1989 despotische Regierungsformen ohne ideologische Rechtfertigung in Gebieten, wo es seit Jahrtausenden nie eine Entwicklung zu republikanisch-demokratischen Gesellschaften gegeben hatte, wie in Südasien oder Afrika. Dieser Prozeß führte zur offenen Korruption und zu Mafiastrukturen, zu wahren Karikaturen eines Staatswesens. Der ideologische Brennstoffvorrat verringerte sich mit jedem Kollaps und jeder fundamentalen Wirtschaftskrise eines totalitären Regimes. Das eigentliche Kriterium für Kampfideologien sind nicht ihre Ideale und erklärten Absichten, sondern die sozialen Früchte, woran man sie erkennen kann: Angriffskriege, Massentötungen innerhalb einer Gesellschaft und Genozide an Fremden (vgl. dazu Kap. III B 1.4). Ihr zerstörerisches Potential für historisch gewachsene Gesellschaften ist durchaus den Autoimmunkrankheiten (Kap. I B 1.3) zu vergleichen: Eine geistige Verwirrung durch Falschinformationen führt dazu, daß eigenes, lebensnotwendiges Gewebe zersetzt wird. Mohammed Like Henry VIII Mohammed got religion in the dangerous years, and smashed the celibates, haters of life, though never takers of it – changed their monasteries to foundries, reset their non-activist Buddhistic rote to the schrecklichkeit and warsongs of his tribe. The Pope still twangs his harp for chastity – the boys of the jihad on a string of unwitting camels rush paradise, halls stocked with adolescent beauties, both sexes for simple nomad tastes – g2how warmly they sleep in tile-abstraction alcoves; love is resurrection, and her war a rose: woman wants man, man woman, as naturally as the thirsty frog desires the rain. (Robert Lowell, „History“, 1973)

1.2

Kriegsreligionen (Islamismus)

Religionen werden fundamentalistisch, wenn sie keine anderen Glaubens- und Lebensformen beziehungsweise Freiheitsräume in einer Gesellschaft mehr zulassen und statt dessen Familie und öffentliches Leben weitgehend durchdringen. Zur Kriegsreligion werden sie, wenn sie unprovozierte Eroberungskriege führen, gewaltsam missionieren, Gesellschaften majorisieren wollen und Minderheiten unterdrücken. Bei den drei Offenbarungsreligionen liegt diese Zeit beim Judentum am weitesten zurück, als die Stämme Palästinas in der vorexilischen Zeit unterworfen wurden. Für die altisraelische Gesellschaft ist jedoch kennzeichnend, daß es schon eine Parallele zur demokratischen Gewaltenteilung gab: eine ausgewogene Machtbalance zwischen Kö142

nigtum, Tempelpriesterschaft und den unabhängig davon in der Regel kritisch agierenden Propheten. Daraus kann als historische Konstante des Judentums ein allgemein kritisches Potential gegenüber den wechselnden historischen „Mächten“ festgestellt werden. Wer selbst kein sakrales Monopol geduldet hat, kann dies bei anderen Gesellschaften erst recht nicht ertragen. Die Staatsgründung Israels war eine zionistische Idee, und in den nachfolgenden Kriegen durfte ein Teil der orthodoxen Juden sogar den Wehrdienst verweigern. Beim Christentum begann die offensive Phase erst mit der Übernahme des Römischen Reiches ab 300 nach Christus und setzte sich in den Kreuzzügen und der Kolonialzeit fort. Heute kann der Gesamtcharakter des Judentums, Christentums, aber auch des Hinduismus, nicht als Kriegsreligion angesprochen werden; es geht vielmehr immer nur um einzelne radikale Rabbis der Siedlungsbewegung, Evangelikale, welche die Apokalypse herbeisehnen, oder Hindu-Gruppierungen, welche den Bürgerkrieg gegen die Muslime forcieren. Im Gegensatz dazu operieren die Islamisten heute weltweit mit Terroranschlägen und mit Versuchen, Bürgerkriege anzuzetteln. Soweit die islamische Kultur davon infiziert wurde, muß sie als Kriegsreligion bezeichnet werden, deren Offensive noch nicht ihren Höhepunkt erreicht hat. Die Bevölkerungsexplosion liefert unaufhörlich weitere Magmaströme für vulkanische Eruptionen, deren Energien nicht ausschließlich offensiv eingesetzt werden können; sie machen auch die eigenen Gesellschaften labil und führen zu einer unaufhörlichen Kette von unlösbaren sozialen Konflikten. „Islam“ bedeutet eigentlich Hingabe an Gott. Aber die Ursprungsheimat dieser Hingabe war ein ausgehungertes Land, dessen Wüstennomaden von den Hochkulturen ringsum (seit dem alten Ägypten) als niederträchtig und heimtückisch verachtet wurden. Kein Wunder, denn ihre Erwerbsquellen waren Raub- und Piratenüberfälle, bei denen das Gastrecht alles andere als heilig war. Auf den hochmütigen Fremden richtete sich ein „Raubvogelblick“ (Ernst Jünger) – unverschämt und nackt: Wie kann ich möglichst viel aus ihm herausholen? Und ein Mittel der Politik war von jeher schon das Assassinentum: Der sich hinter vielen Masken und Rollen verbergende Meuchelmörder nähert sich seinem auserwählten Opfer unter allerhand „vertrauensbildenden Maßnahmen“. Gerade bei Besatzern, die um das „Vertrauen“ der Bevölkerung werben, gilt: sie bleiben Ungläubige in einem rechtsfreien Raum. Da helfen weder Mitleidsethik noch gutgemeinte Entwicklungshilfe: Hilfsangebote von den Ungläubigen werden nur widerwillig geduldet. Sie sind entehrend, besagen sie doch, man sei nicht autark und nicht der außerislamischen Welt überlegen. Nur so sind die zahlreichen Geiselnahmen westlicher Entwicklungshelfer zu erklären. Das harte Nomadenleben in der Wüste hatte dazu geführt, daß ihnen die Kulte anderer Hirtenvölker (Verehrung von Ahnen, Geistern, Bäumen und Tiergöttern) nicht mehr genügten. Ihr Monotheismus wurde durch eine einfache Abstraktion geformt: Ein Hirt und eine Herde – der Herr ist mein Hirte. Das Paradies ist eine Oase mit willigen Jungfrauen, die übrige Erde ist feindlich, der Himmel ein Zelt, über dem Gott – der Schlachtenlenker – thront.150 Von seinen Anfängen an hatte der Islam das Ziel, die ganze Menschheit unter dem „Haus des Friedens“ (dar al-islam) zu vereinigen. Sie soll sich unter das „Siegel der 143

Propheten“ und die Sprache des Korans beugen. So wie sich die Marxisten auf eine imaginäre Zeit urkommunistischer Gesellschaften und die Nationalsozialisten auf eine idealisierte Kriegerwelt der Germanen bezogen, so die Islamisten auf die Zeit Mohammeds und – so die Sunniten – der nachfolgenden „vier rechtgeleiteten Kalifen“. Der Islam befand sich nach seiner Gründung durch Mohammed etwa tausend Jahre lang in der militärischen Offensive.151 In schneller Folge wurden von der arabischen Halbinsel aus Nordafrika, Spanien und die iranischen und byzantinischen Gebiete überrannt und versklavt. Die bedeutendsten architektonischen Symbole des Abendlandes, der Parthenon und die Hagia Sophia, wurden zu Moscheen. Es entstand so die größte und zugleich eigentümlichste Sklavenhaltergesellschaft der Weltgeschichte. Dies betraf nicht nur den relativ hohen Bevölkerungsanteil, den die Sklaven stellten, sondern die Prinzipien der „Herdensklaverei“ und der „Militärsklaverei“. Versklavt wurden nicht nur die Nichtmuslime im eigenen Herrschaftsbereich (insbesondere deren Kinder), sondern die „Lieferzonen“ umfaßten alle angrenzenden Territorien: der mediterrane Raum Europas, die vor allem slawisch besiedelten Gebiete im Norden, die Hindukultur im Osten und die schwarzafrikanischen Grenzgebiete im Süden. Während der transatlantische Sklavenhandel der Europäer peinlich genau erforscht wurde, gibt es für den jahrhundertelangen muslimischen Sklavenhandel aus Afrika nur Schätzungen; ebenso für den systematisch betriebenen Sklavenraub aus dem Mittelmeerraum durch nordafrikanische Piraten vom 15. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts.152 Eigenartig war vor allem die Rekrutierung von Eliten, von Eunuchen und Militärsklaven. Zwangsrekrutierte Kinder, zumeist von Christen, waren das Reservoir. Die Janitscharen im osmanischen und die Mamluken im ägyptischen Bereich bildeten jahrhundertelang eine eigene Kaste. Als diese zu Beginn des 19. Jahrhunderts im Zuge der Anpassungs- und Modernisierungsbestrebungen lästig wurden, entledigte man sich ihrer durch sorgfältig vorbereitete und gnadenlos ausgeführte Massaker. Den Islam trotz seiner kulturellen Blütezeiten allgemein (und nicht nur den Islamismus) als eine Kriegsreligion zu beschreiben, ist nicht Ausdruck feindseliger Vorurteile; diese Kennzeichnung ergibt sich aus seiner Selbstbeschreibung im Koran. Danach ist der Islam eine Kampfreligion, welche nicht das Diesseits, wie das Christentum, abwertet. Der Vorrang, der dem Paradies gebührt, kann nur gewahrt werden, wenn man im Diesseits den gebotenen Kampf aufnimmt. Verträge mit den „Götzendienern“ sind nur befristet einzuhalten. „Sind aber die heiligen Monate verflossen, so erschlaget die Götzendiener, wo ihr sie findet, und packet und belagert sie und lauert ihnen in jedem Hinterhalt auf … Mit ihrem Munde stellen sie euch zufrieden, ihre Herzen jedoch sind euch abgeneigt, und die Mehrzahl von ihnen sind Frevler“ (Koran, Sure 9, 5 und 8). „Dschihad“ bedeutet sowohl Anstrengung als auch Kampf für eine gute Sache. Nach den Suren 8, 39; 9, 29 und 9, 41 herrscht zwischen dem Haus des Islam und der Außenwelt (dem „Dar el harb“) Krieg, bis das „Haus des Krieges“ nicht mehr existiert und der Islam im Weltkalifat über die Welt herrscht. Der Dschihad soll dabei geregelt vorgehen: Zunächst hat eine Vorwarnung zu erfolgen, damit der Gegner die Möglichkeit hat, sich zu unterwerfen. Der Dschihad ist auch nur gegen Bewaffnete zu führen, nicht gegen Zivilisten, Frauen und Kinder. 144

Die ständige Militarisierung eines Großreiches und die harte Unterdrückung der unterworfenen Völker lassen sich aber nicht für alle Zeit aufrechterhalten. Die weiteren Angriffskriege der islamischen Kulturen auf West- und Osteuropa mußten zunächst durch Phasen der Konsolidierung und des Arrangements mit den unterworfenen Völkern vorbereitet werden. Wer in diesem Zusammenhang die islamische Toleranz einzelner Geschichtsphasen (wie z. B. des Kalifats von Córdoba) einseitig hervorhebt, verkennt ihren taktischen Zweck in der Geschichte. Er behindert damit Bestrebungen muslimischer Intellektueller, ihre Kultur von den archaischen Wurzeln einer Nomadenkultur zu befreien. Goethe konstatierte bereits im „West-östlichen Divan“, daß diese Kultur kein Drama wie die griechische Tragödie hervorgebracht hat. Dort wurden politische und religiöse Ideenkonflikte in Dialogen ausgetragen. Despotien und Theokratien dulden derartige Dialoge nicht, die Grundlage jeder Demokratie sind. In der Orestie des Aischylos verwandeln sich die das Racheprinzip vertretenden Furien in die „Wohlmeinenden“, die menschenfreundlichen Eumeniden, die den Weg des Rechts zur Konfliktlösung für das Abendland eröffnet haben. Erst im Zeitalter der europäischen technischen Überlegenheit, im 18. und 19. Jahrhundert, gerieten die islamischen Kulturen in die Defensive. Es ging jetzt um die Frage, wie man den Fortschritt des Westens selber nachvollziehen kann, ohne seine Identität zu verlieren. Der großen Niederlage des Osmanischen Reichs im Ersten Weltkrieg standen nur kleine Erfolge in Saudi-Arabien gegenüber. Als neue Herausforderung trat der Zionismus auf und der Staat Israel als ein provozierendes Einsprengsel europäischer Modernität im Riesenraum des Islams. Seit den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts kam es zu einer zunehmenden Zahl von Bürgerkriegen und Kriegen, vor allem in den Randregionen der islamischen Welt. Die ägyptische Moslembruderschaft der Zwischenkriegszeit radikalisierte sich als erste und forderte die offensive Kriegsführung gegen die britischen Besatzer ohne Regeln, um die islamischen Gebiete zu befreien. Usama bin Laden propagierte darüber hinaus die islamische internationale Weltrevolution über diese Bereiche hinaus, um so die Verbündeten der „ungläubigen“ Regime im islamischen Bereich zu stürzen. Das Ziel der islamistischen Bewegung, die sich von Saudi-Arabien über Ägypten bis nach Pakistan ausbreitete, war die Beseitigung aller westlichen demokratischen Institutionen und ihrer Vertreter. Der „Chefideologe“ von Al Qaida, der Ägypter A. al-Zawahiri, forderte, jeden Amerikaner und Juden auf der Straße hinterrücks zu töten, ihr Eigentum in Brand zu setzen und so mit kleinen Gruppen Angst und Schrecken zu verbreiten. Es entstanden so vom theokratischen Terror geprägte Despotien, die den Selbstmord als Waffe und die Geiselnahme Unschuldiger (Ernst Jünger) einführten: Attentate, spontane Straßendemonstrationen und Ermordungen führender Politiker kennzeichneten die neue totalitäre Bewegung. Sie richteten sich auch gegen den gefeierten Begründer des arabischen Sozialismus, Nasser, und gegen Führer der Baath-Parteien, wie Assad in Syrien. Es waren und sind anarchische Despotien mit Regimen ohne differenzierte Gesellschaft und Staatsorganisation. Ideelle Grundlage war ein unvermittelter „reiner“ Monotheismus. Wer anerkennt, daß der Koran die unverfälschte Offenbarung ist und Mo145

hammed der letzte Gesandte Gottes, ist verpflichtet, den einzigen Weg zur Erreichung des Zieles, einer Menschheit in Einheit, zu beschreiten, den Heiligen Krieg zur Ausbreitung des Gottesreiches über die ganze Erde. Muslime, die lediglich den Heiligen Krieg auf den Verteidigungskrieg beschränken wollen, werden bereits als Irrgläubige behandelt. Sie leben im Zustand der Unwissenheit, des Lasters und rebellieren gegen Gott. Der verderbten Welt mit ihren dekadenten Glaubenslosen muß durch konsequente Kriegsführung die Heilung geboten werden. Durch den unvermittelten Kurzschluß zwischen Gott und Mensch, der jede Vermittlung durch Klerus oder Institutionen ausschließt, handelt es sich um einen nicht mehr zu überbietenden Totalitarismus. Diese Despotien kann man deswegen als ebenso totalitär wie Bolschewismus und Faschismus einstufen.153 Es handelt sich um „konservative Revolutionen“ gegen die religionsfeindliche Moderne, welche den kriegerischen und dogmatischen Aspekt des Islams radikal hervorheben. Gekennzeichnet sind sie durch Unfähigkeit zur Selbstkritik und eine Zwangsgemeinschaft mit strengsten Regeln, welche den Austritt aus der Religionsgemeinschaft mit dem Tode ahndet. Die Unfähigkeit zur Selbstkritik rührt daher, daß es seit dem 19. Jahrhundert kein feststehendes „Selbst“ des Islams mit einer sich an die Realitäten anpassenden Identität gibt. Islamische Gesellschaften waren nämlich durch den Rückstand zum Westen zerrissene Gesellschaften mit zwei Flügeln, den westlich orientierten Reformkräften und den Islamisten. Der säkulare Staat Kemal Atatürks, der zu Beginn des neuen Jahrtausends den Islamisten unterlag, war hierfür ein Beispiel. Das islamische Selbstbild als Eroberer und weltgeschichtliche Führungsmacht wird außerdem allzusehr durch die miserablen Alltagsrealitäten, Mißwirtschaft und Machtlosigkeit erschüttert. Der Islamismus ist somit eine ebenso defensiv-ohnmächtige wie aggressive Bewegung. Auch der Islamismus kämpft – wie der Nationalsozialismus – an vielen Fronten nach dem Motto „Viel Feind, viel Ehr“. Zunächst ging es gegen die britischen und französischen Kolonialreiche, dann gegen den Einfluß der USA, welche sich nach dem Zweiten Weltkrieg nicht scheuten, die britischen Interessenssphären in Saudi-Arabien und Iran einzukassieren. Eine dritte Verteidigungsfront wurde gegen Israel errichtet, das als Stellvertreter okzidentaler Dominanz verstanden wurde. Theodor Herzl begründete nämlich den zionistischen Anspruch auf Palästina mit der These, dies sei ein Land ohne Volk und deswegen für ein Volk ohne Land bestimmt. Eine vierte Front wurde (nun mit westlichen Bündnispartnern) gegen die Sowjetunion errichtet, nachdem diese 1979 in Afghanistan einmarschiert war. Eine fünfte Front richtet sich gegen die bürgerlichmonarchischen Regime, die ihren Besitz genießen und nicht in einem permanenten Kriegszustand leben wollen. Ihnen wird Kollaboration mit dem „Großen Satan“, den USA und Europa, vorgeworfen. Hauptthema der Kriegspropaganda bei all diesen Fronten ist, sich als Opfer des Westens darzustellen und aus dem Scherz von Wilhelm Busch („Juden, Weiber, Christen tun uns ganz schrecklich überlisten“) blutigen Ernst zu machen. Die verzerrte Wahrnehmung der Wirklichkeit ist als „Verteidigungsaggressivität“ bezeichnet worden. Wenn eine Muslimin Opfer eines ausländerfeindlichen Anschlags wird, kommt es zu folgendem typischen Ablauf: Der Haßprediger des Freitagsgebets greift das Thema auf und erklärt sie zur „Märtyrerin des Schleiers“. Daß es zuvor unschuldige Opfer islami146

stischer Anschläge im Verhältnis 1:1000 gegeben hat, bleibt dabei unerwähnt. Die erregte Menge strömt auf die Straße. Sobald eine Fernsehkamera erscheint, steigern sich die Wut- und Haßdemonstrationen bis zum Exzeß. Danach verläuft sich das ganze; allenfalls wird eine Straße nach der Märtyrerin benannt. Diese Entwicklung zu Wut, Haß und Aggression wurde und wird von einem besonders schnellen Bevölkerungswachstum genährt. Die Einwohner der islamischen Länder verachtfachten ihre Anzahl im 20. Jahrhundert von 150 Millionen auf 1,2 Milliarden. Dies dürfte die höchste Zuwachsrate der Menschheitsgeschichte für eine umrissene Religionsgemeinschaft markieren. Usama bin Laden (der selbst wieder „mindestens“ 19 Kinder mit „etwa“ fünf Frauen zeugte) wuchs mit 23 Brüdern und 30 Schwestern auf, gezeugt von einem superreichen Analphabeten; – „wenigstens den hätte er mal lieber bleiben lassen sollen“, kommt einem da in den Sinn. Grund für das rasante Bevölkerungswachstum ist eine „nachhaltige“, im einzelnen sogar groteske Unterdrückung der Frau in den islamistischen Gesellschaften. In der dritten Auflage der großen Offenbarungsreligionen sind vermehrt Elemente einer magischen Mentalitätsschicht festzustellen: Nicht nur die krasse Entgegensetzung von Freunden und Feinden Gottes ist dafür ein Indiz („Feind Gottes“ zu sein, genügt als Tatsachenfeststellung für Todesurteile), sondern auch ein konsequenter und maßloser Fruchtbarkeitskult. Durch Kleidervorschriften und ein rigides Familienrecht werden Mädchen und Frauen zu Sexualwesen reduziert und in die Unterordnung gezwungen, in ein Leben hinter Gittern, ohne die geringsten Freiheits- und Mitwirkungsrechte in der Gesellschaft. Wenn B. Shaw sagte, eine intelligente Frau habe Millionen geborener Feinde, nämlich alle dummen Männer, müßte der Satz hier lauten: Millionen geborener Mörder. Gleichzeitig stagnierte die europäische Bevölkerung, und es wurde zugelassen, daß 17 Millionen Muslime in Europa einwanderten, welches von dem unvermeidlichen islamistischen Anteil als Vorbereitungsraum (Ruheraum) für den Bürgerkrieg betrachtet wurde. Selbst wenn man vorsichtig davon ausgeht, daß nur ein Prozent davon fanatisch gesinnt und gewaltbereit ist, führt dies bereits rechtsstaatliche Systeme an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit. Durch die Kommunikation in einer anderen Sprache und durch eigene finanzielle Kanäle ist dieser Vorbereitungsraum weder mit bisherigen polizeistaatlichen Methoden noch mit neuen geheimdienstlichen Mitteln zu überwachen. Das Problem läßt sich nicht mehr „lösen“, sondern nur noch ein-„hegen“ und pflegen. Die geforderte Partizipation läuft auf faule Kompromisse mit Menschenrechtsverletzungen im eigenen Land hinaus: „Toleranz“ gegenüber dem „kulturellen Eigenrecht“ von Frauenunterdrückung und schwarzer Pädagogik, der Erziehung von Kindern zu Haß, Fanatismus und Märtyrertum. Diese Art von Toleranz läuft auch darauf hinaus, nach den Wählerstimmen der Einwanderer zu schielen. Integration ist keine Bringschuld, sie setzt eine kulturelle Ausstrahlung, eine geistige Energie voraus, welche eine für beide Kulturen gewinnbringende Synthesis bewirken könnte. All dies betrifft den „Kalten“, den demographischen Krieg durch Landnahme mit weisungsgebundenen Enklaven in Europa. Er wird als Politik für die Auslandstürken seit Jahrzehnten gezielt von der Türkei betrieben, von Demirel bis Erdogan. Unverblümt wurde schon Helmut Schmidt gesagt: Wir produzieren die Kinder, und ihr wer147

det sie aufnehmen. Und sinngemäß: Wir sind die Lösung für euer Problem der Überalterung. Zweimal waren wir vor Wien, aber heute kommen wir in Frieden und Freundschaft bis nach Berlin. Integration als Assimilation wird zum Verrat des Türkentums erklärt, ja zu einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Erdogan). Die Auslandstürken haben türkisch als erste Sprache zu sprechen und sich aktiv für die Aufnahme in die EU einzusetzen. Da der zweite „heiße“ Krieg, der genannte Mehrfrontenkrieg des Islamismus, sich überwiegend in nichtstaatlichen und asymmetrischen Formen abspielt, läuft die weitere Front in Europa auf eine langfristig erfolgversprechende Strategie hinaus: den Angriff einer militärisch schwachen gegen eine technologisch stark Macht, deren geistiges Immunsystem jedoch dekadent geworden ist. Es waren vor allem Einwanderer aus dem Nahen Osten und Afrikaner, von denen nur ein sehr geringer Teil beruflich qualifiziert und an einer Integration in der westlichen Gesellschaft interessiert war. Der große Teil wurde zum sozialen „Opfer“ und Ansprechpartner für die Prediger des Bürgerkrieges und der Desintegration. Sie forderten offen, nicht von Integration zu sprechen, sondern von „Partizipation“.154 Eine Forderung, der die Kandidatin der SPD für das Amt der Bundespräsidentin, Gesine Schwan, ohne weiteres zustimmte. Ralph Giordano verfolgte publizistisch die Ausbreitung von gewaltbereiten islamistischen Organisationen und ihren Finanzbeschaffungssystemen. Die illusionären Vorstellungen von deren Integration in einer multikulturellen Gesellschaft empfand er als grotesk. Für ihn waren die Deutschen nun zu einem Volk von „Gutmenschen vom Dienst“, „Pauschalumarmern“, „xenophilen Einäugigen“, „Multikulti-Illusionisten“ und „Beschwichtigungsaposteln“ geworden. Sie haben alle berechtigten Eigeninteressen des Aufnahmelandes – und dies gilt über Deutschland hinaus für ganz Europa – außer acht gelassen. An einer weiteren Kampffront versechsfachte sich die palästinensische Bevölkerung in den besetzten Gebieten von 1967 bis 2002 (von 450 000 auf 3,3 Millionen). Arafat erklärte, daß seine „Geheimwaffe“, „die Gebärmütter der Frauen seines Volkes den Krieg entscheiden werden“. Arafat wurde mit EU-Steuermitteln zum Multimillionär gemacht, obwohl er Oppositionelle hinrichten ließ. Dabei wurden auch Schulbücher finanziert, in denen es hieß, es gebe keine Alternative zur Zerstörung Israels.155 Wegen des immer noch rasanten Bevölkerungswachstums (verstärkt durch eine „nachhaltige“ Unterdrückung der Frau durch die islamische Form des Patriarchats) werden die sozialen Unruhen in den islamischen Gebieten zwischen Bosporus und Indonesien zunehmen und demagogisch radikalisiert werden. Hinzu kommt die Entwicklung von Atomwaffen und Raketen in Pakistan und Iran, die wie die Insignien einer Reichsbildung betrachtet werden. Die Terrorgruppen, denen jedes Mittel erlaubt ist, warten nur darauf, sie in die Hände zu bekommen und einzusetzen. Deswegen wird innerhalb der nächsten zwei Jahrzehnte das Risiko zunehmen, daß in der Region zwischen Israel und Indien Atomkriege ausbrechen und lokal eingedämmt werden müssen. Dies wird jedoch auch dazu beitragen, daß der Islamismus an seine Grenzen stoßen wird. Diese Grenze besteht heute schon klar und unüberwindlich gegenüber China und Japan, welche nie eine islamische Einwanderung zugelassen haben. Jeder religiös be148

gründete Terroranschlag wird dort mit der Verachtung einer Hochkultur registriert, die seit Jahrtausenden eine harmonische Gesellschaft als Widerspiegelung einer himmlischen Ordnung anstrebt. Auch das hinduistische Indien bleibt – schon wegen seiner polytheistischen Religion – ein unversöhnlicher Feind des Islamismus; aber es hat einen Zweifrontenkrieg zu bestehen: im Inneren gegen die muslimische „Minderheit“ von mehr als hundert Millionen und nach außen gegen Pakistan. Rußland ist wegen seiner langen Grenzen und demographischen Schwäche gefährdet. Es hat aber nie eine legale (über das Asylrecht und die „Familienzusammenführungen“) oder illegale Immigration von Muslimen zugelassen. Westeuropa bleibt demnach die offene Flanke für den Islamismus. Frontgebiete dieser Auseinandersetzung sind der Kaukasus und der Balkan. Beiden Konfliktregionen ist gemeinsam, daß die Volkstumskämpfe auf eine jahrhundertelange Besatzungszeit durch das Osmanische Reich zurückzuführen sind. „Hier“, so formulierte es ein serbischer General im Bosnienkrieg, „haßt jeder jeden“. Ein Friedenszustand mit dem Islam ist nur in den Regionen möglich, in denen eine theologische Reform des Islamismus gelungen ist. Eine Integration in den nichtmuslimischen Ländern setzt zwei Dinge voraus: das Erlernen der Sprache, um Gettos und sich separierende Gesellschaften zu vermeiden und die Berufschancen zu verbessern. Zweitens die ausdrückliche Anerkennung der verfassungsrechtlichen Grundrechte des Gastlandes. Das ist ein Gebot, um als höflicher Gast Gastfreundschaft zu erhalten und Gastrecht fordern zu können. Eine Assimilation darüber hinaus an die liebgewordenen Lebensumstände der Gastgeber wäre dann nicht erforderlich. Voraussetzung für Integration ist zunächst, daß man – gerade in Europa – kompromißlos die Gleichberechtigung der Frau in allen Lebensbereichen durchsetzt. Es ist ferner eine Theologie zu fordern, wie sie sich unter dem Eindruck der europäischen Aufklärung im Christentum durchgesetzt hat: welche den Toleranzgedanken auf die Freiheitsidee gründet. Toleranz darf nicht nur ein praktisches Zugeständnis für die Machtetablierung sein, sondern muß Freiheitsräume als existentielles Grundbedürfnis anerkennen. Freiheit darf dabei nicht als Moralverfall mißverstanden werden, sondern als Bildungs- und Entwicklungschance für den Gläubigen und die Gesellschaft. Der Koran legt nur die Prinzipien (usul) einer islamischen Gesellschaft fest, aber keine politischen Formen. Emanzipatorische Demokratiebestrebungen sind damit möglich und geeignet, labile islamische Gesellschaften zu stabilisieren. Zur Anerkennung der religiösen Toleranz gehört auch, daß die Mission anderer Religionen zugelassen wird. Vor allem darf der Austritt aus dem Islam nicht mit der Todesstrafe geahndet werden. Den offensiven „Heiligen Krieg“ zu propagieren, sollte als Anmaßung, im Namen Gottes zu töten, und damit als Gotteslästerung verstanden und nach den dafür bestehenden Gesetzen bestraft werden. Zu dieser Freiheit gehört auch eine Aufklärung, welche die eigenen heiligen Texte einer historischen Kritik unterzieht und die wissenschaftliche Forschung nicht behindert. Diese Aufklärung eines Averroes ist im 12. Jahrhundert durch eine „Versiegelung des Denkens“ abgetrieben worden, indem Koran und Hadith (die ethische Überlieferung außerhalb des Korans als Grundlage für die Rechtsprechung) für unantastbar und unauslegbar erklärt wurden. Die Korankritik als erneuerte Aufklärung, die der abend149

ländischen Bibelkritik entspricht, müßte sich auf die vielen unterschiedlichen Quellen des Korans konzentrieren, vor allem die außerarabischen Quellen. Voraussetzung dafür ist, daß die Vertreter des Reformislams, wie die (in der Türkei verfolgten) Aleviten, sich von den Koranschulen emanzipieren und Anschluß an die schon bestehende Islamwissenschaft an den Universitäten finden. Nur so kann verhindert werden, daß archaische und aggressive Parallelwelten entstehen, vor denen die Abwiegler und Weggucker unter der Devise der „Islamophobie“ kapitulieren. Man muß schon unterscheiden können, mit welchen Muslimen es sich in einer freiheitlichen Gesellschaft leben läßt und mit welchen nie und nimmer.156 Sollten die genannten Voraussetzungen für das, was Reformislam genannt wird, erfüllt werden, könnte der islamische Bereich – vor allem wegen seiner überlegenen Wirtschaftsethik157 – zu einer ernstzunehmenden, nicht von internen oder äußeren Konflikten geschwächten Weltmacht werden. Der Vorteil der islamischen Wirtschaftsethik besteht vor allem darin, daß Realwirtschaft und Finanzsystem nicht den chaotischen Turbulenzen ausgesetzt sind, welche die westliche Welt seit 2008 (zum zweiten Mal nach 1929) lähmen. 1.3

Judenhaß

Wie viele zusammengesetzte deutsche Wörter ist „Judenhaß“ zweideutig. Es kann den Haß gegen Juden bedeuten, aber auch den Haß der Juden gegen Nachbar- und Gastvölker im Sinne des römischen Autors Tacitus, der den Juden einen allgemeinen Haß gegen das Menschengeschlecht (odium humani generis) nachsagte. Aber auch das kann wiederum der Ausdruck von Judenhaß sein oder Reaktionen der Juden auf ihre Erfahrungen im Hexenkessel der orientalischen Despotien in Frühgeschichte, Antike und im Mittelalter ansprechen. Bei der ersten Begegnung mit C. G. Jung sprach Freud von diesen „verfluchten Juden“ in seiner Wiener Ärztegruppe. Als Jung demgegenüber die familiären Tugenden der Juden lobte, entgegnete Freud: „Da irren Sie sich. Sie werden nur von ihrem gemeinsamen Haß zusammengehalten.“158 Noch radikaler formulierte es Wieland, der von einem gehässigen und verhaßten Auswurf des Menschengeschlechtes sprach. Bei diesen Reaktionen und Gegenreaktionen von Haß gibt es bestimmte Formen, die zur Frage nach den Gründen des Antisemitismus führen. Zunächst gab es die politischen Konflikte Israels mit den orientalischen Nachbarmächten, die in dem Auszug aus Ägypten unter Moses und der Landnahme Palästinas sowie dem babylonischen Exil ab 587 vor Christus gipfelten. Nach dem Freiheitskampf der Makkabäer gegen das hellenistische Seleukidenreich 175 bis 142 vor Christus wurde Judäa 63 vor Christus unter Herodes dem Großen endgültig zum Vasallenstaat Roms. Dem Aufstand der Zeloten und Sikarier („Eiferer, Dolchmänner“) folgte die zweite Tempelzerstörung 70 nach Christus. Nach einem weiteren ergebnislosen Aufstand im Jahre 135 verabschiedete sich das Judentum endgültig von der monarchischen Idee und ging ins Exil. Nun konnte es erst zu den verschiedenen (immer weniger politischen) Formen des Antisemitismus kommen. Der christlich begründete Antijudaismus richtete sich gegen die Religion der „Gottesmörder“. Über diesen dumpfen Haß hinaus kam Kierkegaard

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zur schärfsten theologischen Formulierung, wenn er den Juden die höchste Potenzierung zur Sünde nachsagte, weil sie von Christus sagten, er habe den Teufel mit Hilfe des Teufels ausgetrieben. Dieses Ärgernis habe Christus zu einer Erfindung des Teufels gemacht.159 Die Vorkämpfer des Antisemitismus im 19. Jahrhundert forderten deswegen kategorisch, die Juden zu missionieren. Die Diskussion über diese Forderung, ob und warum ausschließlich die Juden von der weltweit agierenden christlichen Mission auszunehmen seien, bestimmt heute noch das Verhältnis zwischen Judentum und Katholizismus. Der profane Antisemitismus seit dem Zeitalter der Aufklärung war vor allem soziologisch begründet. Er beruhte auf dem überproportionalen publizistischen und ökonomischen Erfolg der Juden. Er wurde aber „liberal“ mit der Intoleranz und „Nationalabsonderung“ der Juden begründet. Max Weber sprach in seiner Studie über das antike Judentum sogar von einem jüdischen Pariavolk, welches das geduldige Ausharren in der Pariavolkslage verkläre.160 Dieser profane Antisemitismus entwickelte sich vor allem in Wien, der Hauptstadt des Vielvölkerstaates Österreich-Ungarn, in welcher 1910 175 000 meist aus dem Osten stammende Juden lebten. Der Bürgermeister Karl Lueger agitierte vor allem gegen deren wachsenden Einfluß. Georg Ritter von Schönerer, Führer der Alldeutschen Bewegung, propagierte: „Los von Juda! Los von Rom!“ Der Antimosaismus der NS-Rassentheorie lief auf eine Verschwörungstheorie hinaus. Deren theoretische Grundlagen beruhten auf dem 1855 in Paris erschienenen „Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen“ von Arthur Graf Gobineau. Darin wurden hochwertige (Kaukasier und Semiten) von minderwertigen Rassen unterschieden. Dies Werk war also noch nicht judenfeindlich, erst kurz vor seinem Tod wurde er von Richard Wagner zum Antisemitismus bekehrt. Wagner nannte dies den „zweiten Bund von Bayreuth“ (in Anlehnung an den Weimarer Bund von Schiller und Goethe). Gobineaus Werk erschien erstmals 1901 in deutscher Übersetzung. Unmittelbar zuvor (1899) waren die „Grundlagen des 19. Jahrhunderts“ von Houston Stewart Chamberlain veröffentlicht worden. Danach wurden die leistungsfähigen („idealistischen“) germanischen Völker aufgefordert, sich gegen jüdisches, zur Rassenmischung (zum „Völkerchaos“) führendes Gedankengut zu wehren. Er wollte dem deutschen Volk die „welthistorische Mission“ aufbürden, die Menschheit vom Katholizismus und dem auf Rassenmischung ausgerichteten Judentum zu befreien. Seinen eigenen Landsleuten, die zu Anfang des 20. Jahrhunderts im Burenkrieg die ersten Konzentrationslager errichteten (und dort 27 000 Frauen und Kinder verhungern ließen, weil Lord Kitchener nur so die Widerstandskraft der Guerillakämpfer brechen konnte), mutete er derartiges nicht zu. Sie waren anderweitig – mit ihrem einträglichen Empire – beschäftigt. Nach dem Ersten Weltkrieg wurden dann Vorwürfe wegen der Rolle von Juden bei den sozialistisch-bolschewistischen Revolutionen und wegen ihres Einflusses im internationalen Finanzwesen in einen großen Zusammenhang gestellt (vgl. zu den paranoiden Zügen von Hitlers Judenhaß Kap. B 1). Dementsprechend gab und gibt es auch einen linken Antisemitismus, der die Juden als Repräsentanten des kapitalistischen Geistes und des „Mammonismus“ anklagt.

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Obwohl die Juden (ebenso wie die Deutschen) sich aus verschiedenen Rassen zusammensetzen, wurde eine Pseudo-Rassentheorie aufgestellt. Darauf wurde ein Gattungsurteil über alle Juden gestützt, das ihnen über eine Kollektivhaftung hinaus eine Kollektivschuld an allen ihnen vorgeworfenen amoralischen Verhaltensweisen und Verbrechen unterstellte. Dieses auch für Hitler typische Gattungsurteil sah aus der Perspektive des um seine Existenz kämpfenden bürgerlichen Mittelstandes alle jüdischen Vertreter des Bolschewismus und des Finanzkapitalismus in einer insgeheim oder instinktiv zusammenarbeitenden Front. Hitlers von verschiedenen antisemitischen Mentoren genährter Judenhaß entsprach streng dualistischen Vorstellungen der Manichäer: Der Weltenlauf wird durch einen ewigen Kampf zwischen den idealistischen und schöpferischen (arischen) Rassen und der verschwörerischen, zersetzenden jüdischen Rasse bestimmt. Mit dem Christentum haben die Juden sowohl die griechische als auch die römische Welt in den Untergang getrieben. Diese jüdische Geisteshaltung könne auch Nichtjuden ergreifen. Der Bolschewismus solle Deutschland in das Chaos stürzen, das dann dem „Judentum der Börse“ zur totalen Ausbeutung und letztlichen Vernichtung übergeben werden kann. Dietrich Eckart schrieb: „Mit was ein Reich zerstört wird, ob … mittels des Christentums oder … mittels des Bolschewismus …, darauf kommt es dem Judentum zunächst nicht an; jedes Werkzeug ist ihm dazu recht.“ Der britische Kulturphilosoph H. S. Chamberlain, Schwiegersohn Wagners, prägte mit seiner Lehre ebenfalls Hitler, den er 1924 persönlich kennenlernte. Die Argumentationskette Hitlers entwickelte sich als Propagandaredner der Reichswehr ab 1920 unter dem Einfluß seines Mentors Dietrich Eckart. Sie war starr und „konsequent“: 1. Zur Erringung der Weltherrschaft verfolgt das Judentum die Entnationalisierung der Völker. 2. Die Völker werden durch Enteignungen von Grund und Boden entfremdet. 3. Dann wird der selbständige Mittelstand vernichtet. 4. Die Ausrottung der nationalen Intelligenz ist die nächste Stufe, welche in Rußland bereits praktiziert wurde. 5. Die ewige Herrschaftssicherung erfolgt durch vollständige Verdummung in Presse, Kunst und Literatur. 6. Als letztes Mittel wird der Klassenkampf propagiert, der letztlich im Interesse und zum Schutz des internationalen Börsen- und Wucherkapitals wirke.161 In allen Reden, die Hitler von 1920 bis 1927 hielt, finden sich diese Elemente wieder. Sie wurden von 1927 bis 1933 aus wahltaktischen Gründen konsequent unterdrückt. Die NSDAP hätte damit nie die Fünf-Prozent-Hürde überspringen können. Erst 1936 bis 1939 unter dem Eindruck der großen „Säuberungen“ Stalins kamen Hitler Zweifel, ob Stalin nicht doch antisemitisch sei. Aber er rettete sein Weltbild. Stalin attestierte er, krank zu sein und ein „defektes Gehirn“ zu haben. Die Juden als „Ferment der Dekomposition“, der „Zersetzung“, haben im bolschewistischen Rußland bereits jenes Chaos angerichtet, auf das sie von jeher abzielen und abzielen werden.162 Um sich aus diesem uferlosen Reich der antisemitischen Verschwörungstheorien zu befreien, wären von der Forschung folgende Fragen zu beantworten: Wieviel Juden waren proportional zu anderen Gruppen an den totalitären Verbrechen der bolschewistischen Revolution ab 1917163 und an den betrügerischen Finanzmanipulationen beteiligt, die zu den immensen volkswirtschaftlichen Schäden der Krisen von 1929 und 152

2008 führten? Wie viele waren umgekehrt Opfer dieser Vorgänge, und inwieweit waren diese Vergehen bereits Gegenstand jüdischer Selbstkritik? Der Rassenantisemitismus beruht außerdem auf folgender Fiktion: Alle historischen Beispiele von Rassenmischungen zeigen, daß diese zum Untergang der höherstehenden Rassen geführt haben. Die Juden, die selbst ihre Rassenreinheit bewahren, propagieren Rassenmischungen, um sich so die Herrschaft in den untergehenden Kulturen zu sichern. Sie predigen das Wasser der Rassenmischung, trinken selbst aber den Wein der Rassenreinheit. Genährt wurden diese Phantasmagorien allerdings auch durch jüdische Wissenschaftler, die im Zeitraum zwischen 1900 und 1940 die Meinung vertraten, die Juden seien kein „Rassengemisch“, sondern eine reine Rasse, deren natürlicher „Lebensraum“ Palästina sei. Von vielen Zionisten wurden Mischehen abgelehnt, und erst unter dem Eindruck des Nationalsozialismus erkannten sie, daß die These von der jüdischen Fremdartigkeit und Schädlichkeit nun plötzlich von ihren Verfolgern rassenbiologisch untermauert wurde.164 Nach dem Holocaust entwickelte sich etwas, was der Konstanzer Soziologe E. R. Wiehn als Antihebraismus bezeichnete. Es war dies etwas Neues: ein Antisemitismus ohne Juden. Die Schuldgefühle, die man den Ermordeten gegenüber empfand, richteten sich direkt oder indirekt gegen die Restjuden als Verkörperung der Toten, als deren Wiedergänger. Ralph Seligmann thematisierte diese für die Juden befremdliche und gespenstische Kommunikation in einem Artikel unter dem Titel „Wir Juden leben!“. Hannah Arendt und die jüdische Frau von Karl Jaspers, Gertrud Jaspers, bezeichneten es schon in den Nachkriegsjahren als „unser Problem, nämlich unsere Toten, über das man nicht einmal zu sprechen vermag“.165 Der Antizionismus richtete sich seit Beginn des 20. Jahrhundert gegen die Bestrebungen, die Auswanderung von Juden nach Israel zu fördern: den Zionismus. Moses Hess, der eine Zeit auch Mitarbeiter von Karl Marx gewesen war, veröffentlichte 1862 das Buch „Rom und Jerusalem“, worin erstmals die Restauration des jüdischen Staates gefordert wurde. Der moderne (assimilierte) Jude sei der verächtlichste, der „gleich den deutschen Lumpen im Ausland“ seine Nationalität verleugne. Dieses Volk könne mit den Kulturvölkern, in deren Mitte es lebt, nicht organisch verwachsen. Seine Nationalität sei unzertrennlich mit dem Heiligen Lande verbunden. Im Gegensatz zu Marx vertrat er die Ansicht, daß der Rassenkampf das Ursprüngliche sei, der Klassenkampf nur das Sekundäre.166 Theodor Herzl veröffentlichte dann 1895 sein Buch „Der Judenstaat“ und rief 1897 den ersten Zionistenkongreß nach Basel ein. Er übernahm weitgehend die Kritik vieler Antisemiten an den assimilierten Juden und deren Verhalten, kehrte diese Selbstkritik aber in ein Überlegenheitsempfinden um: Die jüdische Rasse sei tüchtiger als die meisten Völker der Erde. Darauf beruhe der Antisemitismus. Das „Altneuland“, der israelische Staat, werde auch den Arabern eine glückliche Zukunft bringen und einen „Vorpostendienst der Kultur gegen die Barbarei“ leisten.167 Im Ersten Weltkrieg galten die Sympathien vieler Zionisten zunächst Deutschland, weil es das verhaßte Zarenregime bekämpfte. Dieses Bündnis hätte für die Alliierten gefährlich werden können. Vor allem Chaim Weizmann setzte sich publizistisch für ein 153

Bündnis mit den Westmächten ein. Im zeitlichen Zusammenhang mit dem Kriegseintritt der USA 1917 wurde dann den Juden vom britischen Außenministerium ein „home“ in Palästina versprochen, auch, um die Zionisten gegen die Bolschewisten zu stärken. Weizmann erklärte am 8.2.1920 im Illustrated Sunday Herald anerkennend, England habe besser als andere verstanden, „daß die jüdische Frage, die wie ein Schatten über der Welt hängt, ebensogut eine gewaltige konstruktive Kraft wie ein mächtiges Mittel der Zerstörung werden kann“. Der Antizionismus wurde zum Teil auch von Juden selbst – vor allem aus religiösen Gründen von den Orthodoxen – vertreten. Hannah Arendt widersprach der zionistischen Auffassung, wonach der Judenhaß als unaufhebbares geschichtliches Kontinuum zu begreifen sei. Ein nationalistisches Israel werde gegen die arabischen Nachbarn in eine ähnliche Frontstellung gedrängt, wie sie die totalitären Regime gegenüber den Juden eingenommen hatten. Eine klare Perspektive in der Palästinafrage findet man bei ihr jedoch vergeblich. Sie trat für ein jüdisch-arabisches Gemeinwesen ein, andererseits hielt sie eine Föderation zwischen Arabern und Juden für undenkbar.168 Der Antiisraelismus behandelt den Staat Israel als Jude unter den Staaten, nach dem Teilungsbeschluß der Vereinten Nationen vom 29.11.1947 und der Proklamierung des Staates Israel durch Ben Gurion am 14.5.1948. Die Kritik richtete sich vor allem gegen den Gründungsmythos des neuen Staates, die 700 000 Palästinenser haben das Gebiet des späteren Staates Israel freiwillig oder auf Anraten der arabischen Armeen verlassen. Von israelischen Historikern wird heute anerkannt, daß es sich um einen geplanten und gewaltsamen Vertreibungsprozeß gehandelt hat. Im historischen Vergleich gibt es kein Volk, das nach einer Vertreibung vor nahezu 2000 Jahren einen vergleichbaren Anspruch auf Wiedergewinnung des Landes durchgesetzt hat.169 Der Antiisraelismus entzündet sich auch an den besonderen Beziehungen zwischen Israel und den USA. Der Begriff „besondere Beziehung“ wurde erstmals von Kennedy (als Dank für Hilfen im Wahlkampf) verwendet. Seit der Präsidentschaft Clintons ist sogar von einer „exklusiven Beziehung“ die Rede. Diese betrifft nicht nur die finanzielle Unterstützung Israels (von rund drei Milliarden Dollar pro Jahr), sondern auch eine enge strategisch-militärische Zusammenarbeit. Gepflegt wird diese Beziehung durch das „America Israel Public Affairs Committee (AIPAC)“, das jährlich 5 000 Delegierte aus den USA zu einem Kongreß versammelt, in dem auch die engen Beziehungen zu den evangelikalen Kirchen gepflegt werden. Ziel ist eine möglichst uneingeschränkte Unterstützung Israels trotz jahrzehntelanger Friedensbemühungen mit den Arabern und ständiger Provokationen durch die Siedlungspolitik Israels in der Westbank. All dies bietet viel Nährstoff für die palästinensische Propaganda, Israel sei nur ein Vorposten der USA, ein moderner Kreuzfahrerstaat. So steht Israel heute (trotz seiner westlichen Bündnispartner) unter historisch einmalig brisanten geopolitischen Bedingungen wie eine Enklave der Moderne im Orient da, die nur mit militärischer Hochrüstung, das heißt Atomwaffen, geschützt werden kann. Eine Provokation für die arabische Umwelt ist der weit höhere Standard der Industrieproduktion und der Technologie. Israel produziert mehr Bücher als die gesamte arabische Welt. Die „Kibbuzim“ sind als offenbar einzige Form eines nicht gewalttätigen Sozialismus Anziehungspunkt für die Jugendlichen der ganzen Welt. 154

Israel ist zudem die einzige freiheitliche Demokratie im Nahen Osten, welche eine radikale Selbstkritik zuläßt. (Deren heimliche Hauptstadt ist das moderne und lebendige Tel Aviv, im Gegensatz zum eher konservativen Jerusalem.) Es handelt sich dabei um eine Auseinandersetzung mit kritikwürdigen Tendenzen innerhalb des Judentums, vor allen in Israel und den USA, oft auf hohem Niveau. Der zur Sprachformel gewordene „jüdische Selbsthaß“ war dagegen nur ein Reflex auf den erdrückenden Judenhaß der Umwelt. So gab es die „linke“ Kritik eines Israel Shahak, wonach schon die romantisch verklärte jüdische Gesellschaft in den osteuropäischen „Schtetls“ in Wahrheit eine totalitäre Gesellschaft gewesen sei, mit Bücherverbrennungen und rituellen Verdammungen von Abweichlern. Haß gegen alle Nichtjuden sei dort gepredigt worden, und Kampfparolen gegen Völker und Staatsmänner zogen sich wie ein roter Faden durch die jüdische Geschichte. Die Regierung des Zaren habe gute Gründe gehabt, die analphabetischen Bauernmassen des Reiches gegen die Ausbeutung durch das „Volk des Buches“ zu schützen. Es erschienen Buchtitel wie „Der Zionismus gegen Israel“ oder „Zionismus und Faschismus“, in denen die Affinitäten zwischen Zionismus und Faschismus dargelegt wurden. Dort wurde auch ein hoher Richter (Chaim Cohen) aus dem Jahre 1963 zitiert, wonach eine unverkennbare Ähnlichkeit zwischen der israelischen Familiengesetzgebung und den deutschen „Nürnberger Gesetzen“ bestehe. Er sei aber gezwungen worden, diese These zurückzuziehen. Kritisiert wurde auch, daß Rabbiner der Bewegung „Gush Emunim“ Proklamationen verbreiteten, wonach der Heilige Staat das Fundament von Gottes Thron in der Welt sei und deswegen unter keinen Umständen „heiliges Land“ an seine Feinde ausliefern dürfe. Israel werde als „Gemeinde der Heiligen“ durch das Zusammenleben mit Heiden befleckt. Ben Gurion bezeichnete Wladimir Jabotinsky stets als „Wladimir Hitler“, der nicht davor zurückschrecken würde, alle Araber auszurotten. Samuel Katz, Begins enger Mitarbeiter, äußerte sich positiv über die „Eroberung von Lebensraum durch dynamische Völker“. Zvi Greenberg sprach von der „Ewigkeit des Pfluges, die durch die Ewigkeit des Schwertes“ gesichert wird. Eine gegen derart verbalradikale Gruppierungen gerichtete (und im islamischen Bereich undenkbare) Selbstkritik wurde vor allem von der Gesellschaft „Brit Shalom“ getragen, welche der Idee eines „binationalen Staates“ zuneigte. Von Albert Einstein und Hannah Arendt wurde sie unterstützt. Ihre Kritik richtete sich gegen den Zionismus als einen in Europa geborenen Nationalismus. Dem stehe der Judaismus gegenüber als die theologische Lehre von dem einen Gott, welcher dereinst die Völker und Jerusalem zusammenführen werde, aber nicht einen politischen Vorrang der Juden in der vormessianischen Zeit anerkenne. Norman G. Finkelstein thematisierte „Mythos und Realität“ des Konflikts zwischen Israel und den Palästinensern in seinem 2002 erschienenen Buch im unmittelbaren Anschluß an seine Kritik der „Holocaust-Industrie“, die seit dem Jahre 2000 in mehreren Auflagen erschien.170 Avraham Burg forderte in seinem Buch „Hitler besiegen“ (2009), daß Israel sich vom Holocaust als dem sinnstiftenden Element für die gegenwärtigen Konflikte Israels 155

lösen müsse. Sonst verfehle man ein tragfähiges Selbstverständnis, das der Staat benötige. Hannah Arendt hat darüber hinaus auch auf eine erhebliche Mitverantwortung der Judenräte und der jüdischen Organisationen bei der Durchführung des „Holocaust“ hingewiesen.171 Uri Avnery forderte vorbehaltlos, die Zionisten müßten sich mit den Unterdrückten der ganzen orientalischen Welt und auch den Kolonialvölkern Asiens und Afrikas identifizieren und sich nicht als „Festung des Westens“ im Kampf gegen den „orientalischen Primitivismus“ mißverstehen.172 Aber alle Selbstkritik und Friedensbemühungen reichten nicht aus, um die OsloVerträge (1993) in einem dauerhaften Friedensprozeß fortzusetzen. Sie waren letztlich auf demographischem Treibsand gebaut. Die „Geheimwaffe“ Arafats, die „Gebärmütter“ der Palästinenserinnen (vgl. das vorige Kapitel), lief auf Krieg hinaus. Der Friedensprozeß fand sein eigentliches Ende bereits 1995 mit der Ermordung Rabins. Er scheiterte durch das Zusammenwirken gegensätzlicher Kräfte, der Islamisten auf der einen und der israelischen Rechten auf der anderen Seite. Der asymmetrische „Krieg gegen den Terror“, gegen immer mehr Märtyrer, lief faktisch auf eine Fortsetzung des israelischen „Staatsterrors“ gegen den chaotischen Individual- und Gruppenterror der Palästinenser und Araber hinaus. Ein Ende in diesem Jahrhundert ist nicht abzusehen. Israel erscheint so heute insgesamt ein Symbol für die jüdische Existenz geworden zu sein. Darunter verstand Karl Jaspers etwas ganz Spezifisches und Unverwechselbares: die biblische Religion beider Testamente, der monotheistische bildlose Gottesgedanke und der Gedanke, daß ein Volk mit der unendlich fernen Transzendenz einen Bund schließt. In der Bibel werde das Äußerste an Bewußtsein des Menschseins erreicht: Trotz der Brüchigkeit des menschlichen Wesens, oder gerade darin sei das Höchste möglich, das Wagnis des Menschen in seiner Freiheit. Die Größe des Judentums bestehe darin, daß es nach dem Untergang des monarchischen Gedankens seine staatliche Nationalität aufgab und weltbürgerlich geworden sei. Deswegen bedeute Religion für das Judentum alles. Die Politisierung des Judentums in Palästina und Israel könne deswegen – dies sah er ähnlich wie Hannah Arendt – den „Untergang des Judentums“ in seiner Nivellierung auf eine Nation bedeuten.173 Im Gegensatz zu Hannah Arendt bejahte er prinzipiell nach der Gründung des Staates die neue Entwicklung und stellte seine Bedenken zurück. Israel wurde für ihn nun zum „Prüfstein des Abendlandes“, das seinen Wesenskern aufgeben würde, wenn es den neuen Staat fallenläßt. Dem Westen werde es wie Hitler-Deutschland ergehen, wenn es Israel fallenläßt. Er spricht sogar von einer „Stimmung“, wonach die Vernichtung Israels „das Ende der Menschheit bedeuten“ könne. Zwischen Judenhaß einer bestimmten Größenordnung und dem Zusammenbruch des kulturellen Wertesystems wird ein unmittelbarer Zusammenhang hergestellt. Durch den Briefwechsel von Jaspers und Arendt ziehen sich solche und ähnliche Reflexionen über das Wesen der „jüdischen Existenz“. Es wird als ein schicksalhaftes Auf-sich-selbstangewiesen-Sein gedeutet, das nicht allein aus seiner historischen Lage begründbar ist.174

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Für Jeanne Hersch hatte das „auserwählte Volk“ lediglich theologische Bedeutung im Sinne einer jüdischen Existenz: im Exil die Berufung zur Pflicht zu haben und das Verbanntsein gewissermaßen zu kristallisieren. Juden gehören nie ganz, nie einfach, nie selbstverständlich, klar oder eindeutig, nie total dem an, was sie umgibt. Sie sind „auf der Schwelle“. Gerade in totalitären Regimen erkennen sie deren göttliche Macht nicht an und leugnen deren Reduktion zur Immanenz. In der Existenz des jüdischen Volkes gebe es etwas, was die restlose Inkarnierung in dieser Welt leugnet.175 Heinrich Heine hatte schon festgestellt, daß die großen Judenverfolgungen in der Regel mit dem politischen Zusammenbruch der Judenhasser endeten. Aus dem „Miserabilismus“ eines „Pariavolkes durch freiwillige Absonderung“ (Max Weber) entwikkelte sich nun eine Art Triumphalismus über die Judenhasser. Yuri Slezkine bezeichnete das 20. Jahrhundert als „das jüdische Jahrhundert“, das er mit der Moderne identifizierte. George Steiner sah in einem „Theologisch-metaphysischen Versuch über die Shoa“ den säkularen Messianismus und den Marxismus neben dem Christentum als wichtigste Häresien des Judentums. Der Beruf des „Gastes“, das Streben nach dem Messianischen, sei eine Ehre, die größer nicht sein könne. So gesehen wurde aus der Geschichte eines Massenmords ein Triumph über die „drei Widerstandsbewegungen“ Kommunismus, Nationalsozialismus und Islamismus.176 Bei jedem Messianismus ist aber nach dem eigentlichen Ziel zu fragen. Ob das erwählte Volk Gottes die Völker der Welt überreden kann, nach Zion zu kommen und den Gott Israels zu verehren, wäre angesichts der Vielzahl der Gottesbilder, auch der philosophischen, eine wenig wahrscheinliche Vorstellung. Stets beruhten die Judenverfolgungen auf einem Gattungsurteil, wonach alle Juden als Kollektiv für die vermeintlichen oder wirklichen Vergehen Einzelner haftbar gemacht werden. Johann Peter Hebel kam zu einer amüsanten, aber auch bedenkenswerten Umkehrung dieses die jüdische Geschichte begleitenden sozialpsychologischen Mechanismus. Er beschreibt ihn ganz einfach: „Wie man in den Wald schreit, also schreit es daraus.“ In diesem Zusammenhang überliefert er zur Situation der Juden in der napoleonischen Zeit zunächst eine Anekdote und dann eine Begebenheit. In Frankfurt begegnet ein Spaßvogel einem Juden und will ihn zum besten haben: „Weißt du auch, Mauschel, daß in Zukunft die Juden in ganz Frankreich auf Eseln reiten müssen?“ Die Antwort: „Wenn das ist, artiger Herr, so wollen wir zwei auf dem deutschen Boden bleiben, wenn schon Ihr kein Jude seid.“ Hebel schildert dann die Lage der Juden nach der Zerstörung Jerusalems über mehr als siebzehnhundert Jahre. Ohne Vaterland leben sie, von den Einwohnern als Fremdlinge verachtet, mißhandelt und verfolgt, weil sie vorgeblich sich von den arbeitenden Einwohnern nähren. So sage der eine im Unverstand: „Man sollte sie alle aus dem Lande jagen.“ Ein anderer sagt im Verstand: „Man sollte arbeitsame und nützliche Menschen aus ihnen machen und sie alsdann behalten.“ So habe der große Kaiser Napoleon eine Versammlung aller Juden vor dem Feldzug gegen Preußen einberufen und ihnen die „spitzige“ Frage gestellt, ob sie als Bürger Frankreichs das Vaterland lieben könnten wie andere Bürger und sich an die bürgerlichen Gesetze wie die Mitbürger halten. Darauf habe die Versammlung, der große Sanhedrin, zum ersten Mal seit dem Hohen Rat zu Jerusalem eine Antwort gefunden. Da157

nach dürfen Rabbiner nicht entgegen den Zivilgesetzen Ehen schließen oder scheiden. Gerechtigkeit und Nächstenliebe seien ebenso gegen Christen auszuüben wie gegen Glaubensbrüder. Das Land, wo ein Israelite geboren und erzogen sei, sei auch sein Vaterland, dem er zu dienen und das er zu verteidigen habe. (Dies entsprach dem Ideal Hebels, eine Vertraulichkeit zwischen Autor und Leser zu stiften, und darüber hinaus eine umfassende, die Gesellschaft prägende Hausfreundschaft.) Der israelitischen Jugend sei die Liebe zur Arbeit einzuflößen, sie seien zu nützlichen Künsten und Handwerken anzuhalten und haben allen Beschäftigungen zu entsagen, wodurch sie in den Augen ihrer Mitbürger könnten verhaßt oder verächtlich werden. Zins von einem Darlehen zu nehmen, welches einem israelitischen oder christlichen Hausvater in der Not geliehen worden sei, sei verboten. Nur das Kapital, das auf Gewinn in den Handel gesteckt wird, sei verzinsbar. Aller Wucher soll grundsätzlich verboten sein in und außerhalb des Vaterlandes, nicht nur gegen Glaubensgenossen und Mitbürger, sondern auch gegen Fremde.177 Publiziert wurden diese Artikel am 2.3.1807 und unterschrieben von dem Vorsteher des großen Sanhedrin, Rabbi Sinsheim von Straßburg, und anderen hohen Ratsherren. Die ironische Umkehrung Hebels gegen die Denkschablonen des Judenhasses läuft darauf hinaus, daß diese Propagierung eines Idealvolks nur dann möglich und gerechtfertigt ist, wenn auch die Gastvölker diesen Idealvorstellungen entsprechen. Aber das Volk der guten, edlen und hilfreichen Kulturschöpfer gibt es allenfalls in den klassischen Hoch-Zeiten, in denen sich die Talente und Genies häufen. Im übrigen gibt es in jedem Volk Rechtschaffene und Übeltäter; gute und miserable Wissenschaftler, Künstler, Philosophen, Beamte und Politiker; Gebildete und solche, die das nicht so zeigen; tolerante, dogmatische und fanatische Theologen mit ihren schwarzen, weißen oder bunten Röcken. Mit all diesen Vertretern des Volksgeistes – und nicht nur mit den Kulturheroen – muß man wohl oder übel kommunizieren, sie wahrnehmen oder sich gegen sie verwahren. 1.4

Völkermorde

Biologen wie Konrad Lorenz haben noch angenommen, daß bei Tieren instinktive Hemmungen die Tötung von Artgenossen verhindern. Erst beim Menschen seien diese genetisch festgelegten Hemmungen durch die Erfindung von Waffen gestört worden. Inzwischen wurde festgestellt, daß Tötung von Artgenossen bei vielen Tieren vorkommt. Es handelt sich vor allem um gesellig lebende Fleischfresser, bei denen es zu koordinierten Überfällen einer Gruppe auf Mitglieder einer anderen kommen kann. Unsere nächsten Verwandten, die Schimpansen, gehen auf Mordzügen geplant und absichtsvoll vor. Sie sind „fremdenfeindlich“ und rotten andere Horden zum Teil völlig aus. Sie machen den Gegner nicht nur wehrlos, sondern auch bewegungsunfähig, was oft den Tod nach sich zieht. Nur sind ihre Methoden noch ineffizient, weil sie keine Waffen gebrauchen und den Gegner auch nicht erwürgen können. Bei Menschen können Massentötungen lokal auftreten als spontane oder gesteuerte Massaker und Pogrome. Je nach Größe der Gruppe, Bevölkerungswachstum und Bevölkerungsdichte können Massentötungen zu Völkermorden oder Genoziden ausarten.

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Das Ausmaß der Vernichtungsaktionen hängt dann vom Organisationsgrad der Aggressoren, von ihren Zielrichtungen und den technologischen Mitteln ab. Ziel kann die Übernahme des fremden Territoriums, die Landnahme, sein und auf die Reinigung („ethnische Säuberung“) eines Gebietes hinauslaufen. Es gibt die Interessenkonflikte zwischen Völkern um Land oder Macht, die zu Fremdgenoziden führen können; oder den Machtkampf innerhalb einer pluralistischen Gesellschaft, in der andere Gruppen (Stämme, Konfessionen, Rassen oder Klassen) in Autogenoziden ausgerottet werden. Jared Diamond hat die mit der europäischen Kolonialisierung zusammenhängenden und die übrigen Genozide seit 1500 systematisch erfaßt. Der größte Genozid fand demnach zwischen 1917 und 1959 in der Sowjetunion statt. Er beziffert die Opfer auf 66 Millionen. Die ethnische Zugehörigkeit spielte erst später eine Rolle, als Stalin ab 1941 bestimmte Minderheiten, die als Kollaborateure verdächtigt wurden und als Sündenböcke dienten, durch Deportation unschädlich machen wollte und zum Teil vernichtete. Juden wurden als Sündenböcke für die Beulenpest im 14. Jahrhundert, für die sozialen Probleme des Zarenreichs um 1900, von den Ukrainern nach dem Ersten Weltkrieg für die bolschewistische Gefahr und von Hitler für Deutschlands Niederlage im Ersten Weltkrieg verantwortlich gemacht. Aber auch nach Stalin und Hitler zählt Diamond 17 Genozide zwischen 1950 und 1990 auf, die rassisch motiviert sich gegen Indianer in Südamerika richteten, auf Stammeskonflikten in Afrika beruhten (so zwischen Tutsis und Hutus schon 1962 und 1972) oder den Gegensatz von Moslems und Christen betrafen. Dazu kamen die Verfolgungen der Kommunisten und Chinesen durch die Indonesier 1965 sowie der Genozid an eigenen Landsleuten durch die Kommunisten Kambodschas 1975 mit 1,7 Millionen besonders grausam behandelten und willkürlich ausgewählten Opfern. Im darauffolgenden Jahrzehnt spielten sich vor den Augen der Weltöffentlichkeit weitere Genozide ab, wie in Ruanda 1994.178 Diese Beispiele zeigen, daß die Motive für Völkermord nahezu alle sozialen Konflikte betreffen und bei Tätern und Opfern unterschiedlich gewertet werden. Für die einen ist es gerechtfertigte Reaktion auf Unterdrückung und Provokation, für die anderen gerechtfertigte Niederschlagung einer Revolte oder die notwendige Deportation als Verteidigungsmaßnahme im Krieg. Gerade bei Deportationen, wie die der Armenier 1915 in der Türkei, hängt die Wertung von den Umständen ab, wie die Deportierten auf dem Wege und im Deportationsziel behandelt werden, ob es sich um einen gezielten, vollendeten Genozid oder nur um partiale Mißhandlungen handelte. Dies gilt auch für die zahlenmäßig größte „ethnische Säuberung“ der Weltgeschichte, die Vertreibung von zwölf bis vierzehn Millionen Deutschen aus den östlichen Siedlungsgebieten 1944 bis 1947. Das historische Ausmaß der Genozide und die Prognosen für das 21. Jahrhundert im Zusammenhang mit dem Anschwellen der Weltbevölkerung verbieten gewisse Illusionen. So die Annahme, daß die Geschichte geborener Verbrechervölker, wie der Deutschen, von Anfang an auf einen Genozid hin lief. Oder die Illusion, nur einzelne abartig veranlagte Menschen seien zu so etwas imstande.

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Bei den Genoziden sind nicht nur die unmittelbaren Opferzahlen von Bedeutung, sondern vor allem die langfristigen Folgen. Sie vergiften in der Regel auf nationaler und internationaler Ebene die sozialen Beziehungen durch Verschweigen oder Beschönigen. Andererseits können sie instrumentalisiert werden für neue politische Ziele, indem etwa weitere Generationen über den eigentlichen Täterkreis hinaus politisch und ökonomisch haften müssen. In diesem Zusammenhang ist es nützlich, sich über die verschiedenen Schuldformen nach einem Völkermord klarzuwerden. Karl Jaspers hat sich in seiner ersten Schrift nach dem Kriege mit der „Schuldfrage“ (1946) auseinandergesetzt. Er unterschied die a) vorsätzliche kriminelle Schuld. Hierfür sind die Gerichte zuständig. b) Die politische Schuld durch Fahrlässigkeit, durch Unterlassen, entsteht im Rahmen eines Kollektivs aller Staatsbürger. Sie wird dadurch begründet, daß die Vertreter ihr Überleben nur der Tatsache verdanken, daß sie gegen den Völkermord keinen Widerstand geleistet haben. Es geht also um ein Schuldigwerden durch Unterlassen, für das politisch gehaftet werden muß. Jaspers unterschied hier Staaten, die einzelne Verbrechen begehen, von reinen Verbrecherstaaten, die auf die Vernichtung ganzer Völker zielen. Die einen begehen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die anderen gegen die ganze Menschheit. Die für diese politische Schuld zuständigen Instanzen sind die militärischen Siegermächte. Diese setzen die zivilrechtlichen Schadensersatzansprüche durch, die in dem sehr problematischen Wort „Wiedergutmachung“ angesprochen wurden. Diese Sanktionen laufen darauf hinaus, daß die politische und ökonomische Autarkie des Täterstaates eingeschränkt wird. c) Bei der moralischen Schuld geht es um die individuelle Schuld, durch Passivität oder moralische Unentschiedenheit ein totalitäres Regime indirekt gefördert zu haben. d) Für die metaphysische Schuld sind die religiösen Instanzen zuständig, die eine Verwandlung des Selbstbewußtseins und die Vermeidung von Chauvinismus und Rassismus anstreben. Hier geht es um das Gefühl einer allgemeinen Solidarität und der Mitverantwortung für alle Menschen. Jaspers bejahte nach diesen Unterscheidungen eine politische Kollektivhaftung, jedoch keine Kollektivschuld der Deutschen. Die Klärung der Schuldfrage war für ihn für das neue Selbstbewußtsein der Deutschen von entscheidender Bedeutung. Solange diese Klärung unterbleibe, werde Deutschland insgeheim unter einer Maske von Höflichkeit verachtet (wie unter der wilhelminischen Führung). Es werde ein gefährliches Vakuum des politischen Bewußtseins entstehen, das unsere Zugehörigkeit zu Europa gefährde.179 Ein wichtiges Instrument zwischen Verschweigen und strafrechtlicher Ahndung sind die „Wahrheitskommissionen“, welche wenigstens die historischen Fakten sichern und zu persönlichen Schuldeingeständnissen führen sollen. Vorbildlich war dabei Südafrika nach dem Apartheidregime. Der individuelle Widerstand gegen Genozide wird vor allem von religiösen Normen getragen, die ein Tötungstabu aussprechen. (Einzige Ausnahme unter den Weltreligionen ist dabei der Islam.) 160

Der kollektive Widerstand beruht vor allem auf dem rechtsstaatlichen Niveau und übernationalen Normen. So verabschiedete die UNO 1948 eine Konvention, die Genozid zum Verbrechen erklärte. Jahrzehntelang verweigerten die USA die Ratifizierung. Erstmals 1998 erging vor dem Kriegsverbrechertribunal für Ruanda ein Urteil nach dieser Genozidkonvention. Aber nur ein Bruchteil der Genozide wurde auf nationaler Ebene geahndet, und auch die von der UNO eingesetzten internationalen Gerichtshöfe gegen Völkermord konnten und können wegen der Vielzahl der Fälle nur einen geringen Teil der Täter zur Rechenschaft ziehen. 1.5

Atomare Apokalypse

Die Entdeckung der Uran-Kernspaltung Ende 1938 durch Otto Hahn und Lise Meitner – es handelte sich dabei um eine erfolgreiche Arbeitsgemeinschaft zwischen Chemie (Hahn) und Physik (Meitner) – fiel mit den Vorbereitungen zum Zweiten Weltkrieg zusammen. Noch vor dessen Ausbruch, am 2. August 1939, unterzeichnete Einstein zusammen mit dem Atomphysiker Szilard einen Brief an Präsident Roosevelt, der den entscheidenden Anstoß für die Entwicklung der ersten Atombombe gab. Argumentiert wurde damit, daß Deutschland mit den Uranvorkommen in der Tschechoslowakei den USA zuvorkommen könne. Szilard gelang es dann zusammen mit Enrico Fermi, am 2.12.1942 in Chikago zum ersten Mal eine kontrollierte Kettenreaktion auszulösen. Unter der Leitung von Robert Oppenheimer wurden in Los Alamos bis Sommer 1945 die ersten drei Atombomben hergestellt. Als er am 16. Juli 1945 den Rauchpilz der ersten Atomexplosion in der Wüste von Neu-Mexiko aufsteigen sah, zitierte er Gott Krishna aus dem indischen Bhagavagita-Epos: „Ich bin der Tod, der alles raubt, Erschütterer der Welten.“ Seine erste Reaktion nach der Nachricht des Abwurfs der ersten Atombombe auf eine besiedelte Stadt, Hiroshima: „Gott sei Dank, sie war kein Blindgänger.“ Präsident Truman hatte die Abwürfe auf die dichtbesiedelten Regionen von Hiroshima und Nagasaki gebilligt, ohne den Japanern durch einen Demonstrationsabwurf in weniger dichtbesiedeltem Gebiet Gelegenheit zur Kapitulation zu geben. Zusammen mit Einstein kamen Oppenheimer erst später Bedenken, daß man sich früher um eine Kontrolle der Kernwaffen hätte bemühen müssen. Nachdem auch die Sowjetunion mit sächsischem Uran und gestohlenen Konstruktionsformeln 1949 die Atomrüstung eingeleitet hatte, begann ein sich steigerndes atomares Wettrüsten. 1951 entwickelte Edward Teller die Pläne für eine Wasserstoffbombe, die schon im November 1952 das Pazifik-Atoll Elugelab auslöschte. Anstoß auch für dieses Projekt war für die amerikanische Regierung erneut ein Krieg, der Koreakrieg. Teller bereute sein Projekt nie, sondern hielt alle Rüstungskontrollabkommen mit der Sowjetunion für illusorisch und begrüßte noch die Kündigung des ABM-Vertrages durch Präsident Bush jun. im Jahre 2001. Der Kalte Krieg bestimmte dann bis 1989 die Weltpolitik; Generationen hatten im Schatten der möglichen atomaren Apokalypse zu leben und sich die Frage zu stellen, ob sie in eine solche Welt Kinder setzen sollen. Der Krieg war jetzt nicht mehr der Vater aller Dinge, sondern hätte das Ende aller Dinge sein können.

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Dazu kam es nicht, weil die Kontrahenten des Kalten Krieges auf beiden Seiten entscheidende Niederlagen einstecken mußten: die Aufstände in Ungarn und der Tschechoslowakei einerseits und der verlorene Vietnamkrieg auf der anderen Seite. Während der Kuba-Krise 1962 entging die Welt nur um Haaresbreite einem großen Atomkrieg. Erst danach setzte die Rüstungskontrolle ein. So kam es zu einer Periode der Entspannung durch die Abkommen über den Stop der Atomtests und das SALT-Abkommen, welches der Sowjetunion die nukleare Parität und den Status einer gleichberechtigten Weltmacht einräumte. Die Führer der Sowjetunion und ihre Konkurrenten in China (die unter Mao noch an die Unvermeidlichkeit des Atomkriegs glaubten) versuchten nun den weltrevolutionären Prozeß über die Dritte Welt voranzutreiben. So wurde die atomare Apokalypse aufgeschoben. Die eigentliche Ursache dafür dürfte sein, daß die Konfliktpartner auf beiden Seiten zumindest teilweise rational und weltbezogen dachten. Religiöse Mythen von einem Untergang der Welt in einer Apokalypse oder Götterdämmerung waren für die Entscheidungsträger nicht bestimmend. Die Apokalypse wurde zwar im 20. Jahrhundert aufgeschoben, sie ist aber nicht für das 21. Jahrhundert aufgehoben. Durch die Weiterverbreitung der Atomwaffen gibt es heute zwei große Lager. Es gibt die etablierten Atommächte mit einem Atomwaffenarsenal auf hohem technologischen Niveau: USA, Rußland, China, Frankreich, England und Israel. Dabei geschah das „Wunder“, daß die (zusammen mit Israel entwickelten) Atomwaffen Südafrikas vor dem Ende der Apartheid unauffällig verschwinden konnten. Von diesen Mächten ist zu erwarten, daß sie nur bei einer elementaren Bedrohung ihres Machtbereichs davon Gebrauch machen werden. Die USA haben weder am Ende des Vietnamkrieges, noch 1979 bei der Geiselnahme des Botschaftspersonals in Teheran, noch nach dem 11. September 2001 gegen die Stützpunkte der Urheber des Anschlags Atomwaffen eingesetzt. Anders verhält es sich mit den Atomwaffen Pakistans. Dort steht als Gegner die Atommacht Indien bereit. Das Konfliktpotential betrifft die Region Kaschmir, aber auch die mehr als hundert Millionen muslimischen Einwohner Indiens. Auf der anderen Seite richtet sich das iranische Atomwaffenprogramm ausschließlich gegen Israel und seine Verbündeten. Hier sind die Möglichkeit und die Gefahr eines lokalen Atomkrieges stets virulent. Zusätzlich gibt es in der islamistischen Einflußzone, geprägt von Bevölkerungsexplosion und einem „youth-bulge“, einen Überschuß arbeitsloser, verzweifelter und deswegen kampfbereiter junger Männer. Die Mentalität des Selbstmordattentäters entspringt nicht nur dem Gefühl technologischer Unterlegenheit, sondern auch nihilistischer Verzweiflung. Sollten derartige Gruppen, die den Untergang Israels als Ziel propagieren, in den Besitz von Massenvernichtungswaffen kommen, würden sie diese auch bedenkenlos einsetzen. Der dritte Konfliktherd liegt in Nordkorea, einem von der Außenwelt nahezu völlig isolierten Regime, dessen Diktatoren von einem paranoiden Verfolgungswahn geleitet sind, der jeden Wirklichkeitsbezug ausschließt. Auch hier gibt es die Möglichkeit eines lokalen Atomkrieges als Verzweiflungshandlung vor dem Zusammenbruch. All diese Konfliktpartner befinden sich in einer „Grenzsituation“. Die Kommunikation mit ihren Gesprächsangeboten, Entspannungsbemühungen und Belohnungen bei 162

Wohlverhalten entspricht der Psychotherapie bei einem Paranoiden mit gespaltener Persönlichkeit, dessen beide Hälften von Übel sind. Die militärischen Strategien der verantwortlichen Atommächte werden in Zukunft darauf hinauslaufen, die Ausgangsbasen lokaler Atomkriege möglichst schnell zu vernichten, falls sich das atomare Feuer nicht vor der Entzündung löschen läßt. Ab 2007 setzten sich führende ehemalige Politiker wie Henry Kissinger, George Shultz, Helmut Schmidt, Hans-Dietrich Genscher und Egon Bahr für eine vollständige Abschaffung von Kernwaffen ein. Ihnen folgte Präsident Obama Anfang 2009. Diese Vision setzt voraus, daß dies nur über die Zwischenstufe einer massiven Verringerung von Kernwaffen erreicht werden kann. Außerdem muß berücksichtigt werden, daß vor allem für Rußland mit seinen schwachen konventionellen Streitkräften Atomwaffen immer noch eine unverzichtbare Funktion haben, um Kriege zu verhindern. Ebenso sind Frankreich, China, Indien, Pakistan und Israel derzeit dazu nicht bereit und müßten durch entsprechende Sicherheitsgarantien für diese Vision gewonnen werden. Eine Zusammenarbeit der verantwortlichen Atommächte muß das Ziel haben, die waffenfähigen Plutonium- und Uranbestände (auch aus ziviler Nutzung) unter effektive internationale Kontrolle zu stellen. Die Duellsituation des Kalten Krieges mit der Logik der gegenseitig gesicherten Zerstörung müßte durch neue Vereinbarungen abgelöst werden. Dazu gehören Stabilitätskriterien, wie die gleichberechtigte und symmetrische Einführung von Raketenabwehrsystemen; ferner die Garantie, daß Atomwaffen nicht unmittelbar, sondern erst unter gewissen Bedingungen nach einiger Zeit einsatzbereit sind, und daß schnell einsetzbare taktische Nuklearwaffen und ihre Trägersysteme vollständig abgeschafft werden. Vor allem müßten die Militärdoktrinen, in welchen der Einsatz von Atomwaffen eine relevante Funktion zur Verhinderung oder Beendigung von Kriegen hat, durch internationale Vereinbarungen geändert werden.

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Ökonomischer Kreislaufkollaps

Der funktionierende Kreislauf von Warenproduktion, Konsum und Finanzdienstleistung kann kollabieren, wenn Banker durch betrügerische („faule“) Produkte Sparer, Realwirtschaft und Staatshaushalt aussaugen und lähmen; wenn die organisierte Kriminalität nicht mehr zu verkraftende Schäden – auch für die Gruppenmoral – anrichtet; und wenn die sich ausbreitende Korruption den freien – auf Vertragsfreiheit beruhenden – Wirtschaftsverkehr zu ersticken droht. Betrügerische Gewinne der Finanzwirtschaft, welche die Realwirtschaft und die große Mehrzahl der Arbeitnehmer schädigen, Mafiasysteme und Korruption kann man mit Loretta Napoleoni unter dem Begriff der Schurkenwirtschaft zusammenfassen. „Schurkenstaaten“ sind leichter zu erkennen und werden durch ihre Kriegspropaganda und innenpolitischen Freund-Feind-Bestimmungen öffentlich erkennbar. Die Schurkenwirtschaft lebt und wirkt dagegen im Verborgenen, sie höhlt den Untergrund von Gesellschaften aus.

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2.1

Erwerbsgier und der große Crash

Ein ökonomischer Kreislaufkollaps kann zunächst durch eine Banken- und Inflationskrise verursacht werden. Die zweite, aber nicht notwendig eintretende Stufe wäre der Staatsbankrott. Aufgabe des Kapitalmarktes sollte eigentlich sein, florierende Produktionszweige und Dienstleister mit Krediten zu versorgen, Ersparnisse zur späteren Verwendung bis hin zur Altersvorsorge sicher anzulegen und angemessen zu verzinsen sowie riskante Spekulationen und Wetten derart zu begrenzen, daß die daran nicht beteiligten Sparer schadlos davonkommen. Diese Aufgabe wird erfüllt, wenn das private und öffentliche Vermögen insgesamt wächst; sie kann durch Intelligenzmangel, durch persönliches, auch kriminelles Fehlverhalten und Korruption, aber auch durch Systemfehler der Aufsichtsgremien und des Staates versäumt werden. Im Kontrast zu der von Karl Marx angeprangerten konkreten Ausbeutung von Menschen in der Produktion gibt es in dem finanzkapitalistischen Zweig eine illegale Aneignung von Finanzressourcen in viel höherem Ausmaß. Die Wachstumsspirale der modernen Ökonomie durch mehr Produktion und steigende Gewinne kollabiert durch die wachsende Geldschöpfung und Verschuldung der Finanzwirtschaft in eine umgekehrte Entwicklungsspirale nach unten. Banken sind grundsätzlich durch die sogenannte Fristentransformation anfällig: Sie haben Einlagen, die ihre Kunden kurzfristig abziehen können, sie wurden aber langfristig als Kredite ausgegeben. Es gibt bestimmte Indikatoren, wann Banken dieses Risiko zum Verhängnis werden kann: hohes Leistungsbilanzdefizit der Wirtschaft, Verlangsamung des Wirtschaftswachstums, vor allem aber stark steigende Vermögenspreise (Aktienkurse oder Immobilienpreise). Man kann letzteres ebenfalls als eine Art von Inflation verstehen. Sie kann Ursache, Begleiterscheinung oder Folge von Finanzkrisen sein. Ferner steigt mit der Deregulierung von Kapitalmärkten und der damit verbundenen Möglichkeit starker Kapitalzuflüsse aus dem Ausland die Häufigkeit von Bankenkrisen. Die Kapitalzuflüsse begünstigen spekulative Blasen an den Vermögensmärkten. Besonders gefährlich ist ein Boom mit einem anschließenden Zusammenbruch von Immobilienpreisen. Dies löst dann langfristige Rezessionen aus und erhöht die Staatsschulden durch eine expansive Finanzpolitik, welche die Konjunktur anregen soll. Es ist errechnet worden, daß nach einer Bankenkrise die Staatsverschuldung durchschnittlich um mehr als 80 Prozent gestiegen ist.180 Der Banken-Crash von 1929 begünstigte links- und rechtstotalitäre Bewegungen und war damit Hauptursache für den Zweiten Weltkrieg. Durch ihn sank das Bruttoinlandsprodukt der USA um ein Drittel, erreichte 1937 erst wieder den Stand von 1929 und fiel dann sofort wieder ab. Erst durch den Kriegseintritt 1941 gelang es den USA letztlich, sich von dieser Depression zu erholen. Im Gegensatz zu einer langfristig stabilen Wirtschaftsordnung mit verantwortlicher Finanz- und Schuldenpolitik sind für einen derartigen Crash keine „Zyklen“ verantwortlich, die von den „Analysten“ mathematisch berechnet werden könnten. Am Anfang des Zusammenbruchs von 1929 stand ein Weltkrieg, aus dem die Vereinigten

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Staaten mit einer übermächtigen Gläubigerposition gegenüber den Schuldnerstaaten, vor allem Deutschland, hervorgingen. Durch die Rückkehr zum Goldstandard nach dem Ersten Weltkrieg waren Deutschland, aber auch die Siegermacht Großbritannien arm an dem Edelmetall und damit anfällig für Krisen, die das gesamte Wirtschaftssystem zu unterminieren drohten. Beide waren daher, nicht erst 1929, sondern bereits ab 1925 besonders gefährdet durch Rezessionen. Kommen in einer derart fragilen Situation Regierungen dazu, welche zu lange zögern, um gegen ausgebrochene Krisen vorzugehen, verschärft sich die Situation dramatisch. Hauptursache für einen Crash sind dann private und öffentliche Überschuldung und unternehmerische Kriminalität. Die Hauptstützen der Konjunktur, Investitionen und Konsum (auch von Luxusgütern), werden dadurch untergraben, daß Teile der Gesellschaft regelrecht „verludern“. Einerseits indem sich private und öffentliche Haushalte unverantwortlich verschulden und damit ihren Konsum finanzieren. Andererseits indem unüberschaubare Finanzprodukte geschaffen werden. Im Trüben läßt sich für die unternehmerisch Kriminellen besonders gut fischen. 1929 waren dies die Holdings und Investment-Trusts. Deren komplizierte Struktur erlaubte es, doppelt oder dreimal soviel Wertpapiere umlaufen zu lassen als tatsächlich vorhanden waren. Die Investment-Trusts verkauften mehr Titel als sie erwarben. Die Differenz wurde in Immobilien angelegt oder wanderte in die Taschen der erfindungsreichen Gründer. Die Holdings kontrollierten große Teile der Wirtschaft. Mit ihren Dividenden bezahlten die Produktionsunternehmen die Zinsen für die Schuldscheine der Holding-Gesellschaften. Blieben die Dividenden aus, wurde den Obligationen der Boden entzogen. Die logischen Folgen waren Bankrott und Zusammenbruch. Investitionen wurden zurückgefahren und Unternehmenseinkommen nur noch für die Schuldenrückzahlung bestimmt. Dies setzte dann die sich immer mehr beschleunigende Deflationsspirale in Gang.181 Trotz dieses Debakels waren die angloamerikanischen politischen Systeme robust genug, um zunächst den Kriegsfaschismus der Achsenmächte niederzukämpfen und anschließend den Weltkommunismus einzudämmen und in einem Kalten Krieg auf kaltem Wege zu erledigen. In dieser Zeit gehörte es zum Credo des Kapitalismus, ein Crash wie 1929 werde sich nie wiederholen, da man aus den Fehlern gelernt habe und mit neuen Methoden der Regulierung ähnliche Turbulenzen schon im Ansatz eindämmen könne: „This time is different.“ Hellsichtige Beobachter wie John Kenneth Galbraith warnten jedoch davor, daß die Akteure der Finanzwirtschaft weiter so agierten wie vor 1929 und dasselbe Katastrophenspiel in Gang setzen würden, wenn die „Regulierer“ in ihrer Wachsamkeit nachließen. Und so kam es denn auch. Die Krise des Finanzmarktes 2008 ging – anders als 1929 – von den Kreditmärkten und dem Bankensystem der USA aus und hatte dann mittelbare gravierende Folgen für Aktienmärkte und Realwirtschaft. Langfristiger Ausgangspunkt war die Abschaffung des Goldstandards 1971 und die Finanzierung des Vietnam-Kriegs mit der Ausgabe von Dollars, die den Handelspartnern aufgedrängt wurden. Die sich dadurch verstärkende negative Handelsbilanz lief daraus hinaus, daß die USA vermehrt Schulden statt Waren exportierten. Das Ungleichgewicht war besonders zwischen den USA und China auf Dauer nicht tragbar: Die reichste Nation der Erde wurde der mit Abstand größte 165

Kapitalimporteur, das größte Schwellenland zum größten Exporteur und Gläubiger. Ein wechselseitiger Prozeß, der durch die unregulierten Gewinneuphorien der Wall Street zum Crash führte. Diese Blase mußte platzen. Begleitet wurde dies durch den ökonomischen Paradigmenwechsel von J. M. Keynes zu Milton Friedman. Für Keynes war es das Ziel der Wirtschaftspolitik, durch eine Steuerung der Nachfrage das Wachstumspotential der Produktion auszuschöpfen und damit die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Friedman und andere „neoliberale“ Denker propagierten den Rückzug des Staates aus der Wirtschaft, die Privatisierung und weitreichende Liberalisierung aller Wirtschafts- und Finanzbereiche. Neben raffgierigen Managern und Finanzinvestoren und korrumpierten oder überforderten Politikern haben so auch die Wirtschaftswissenschaften ihren Anteil an dem Crash. Die Fiktion, allein der Markt, und nicht der Staat, reguliere eine gesunde Entwicklung, wurde getragen von der Shareholder-Value-Lehre, wonach allein die Interessen der Kapitaleigner ausschlaggebend sind. An die Stelle der Facharbeiter, Techniker, Ingenieure und Architekten, die von kreativen Unternehmern unter einen Hut gebracht werden, traten die anonymen Inhaber. Verantwortlich für diesen Weg in die Abwärtsspirale war eine aus den USA sich wie eine Schweinegrippe verbreitende Geistes- und Charakterkrankheit, gekennzeichnet durch eine abstoßende Sprache. Schon „Shareholder-Value“ ist dafür ein Beispiel. Sie wurde auf den „Meetings“ der oberen Unternehmensebenen mit ihren wechselseitigen Zerfleischungsritualen entwickelt. Dort hört man Vokabeln wie Umstrukturierung, Verschlankung, Auslagerung. Es handelt sich um die modernen Höllen der Karrieregurus, eine in die Businesswelt übertragene Kriegssprache mit ihren Aggressionen, Bosheiten, Kränkungen, Eitelkeiten und der ständigen Angst vor der Kündigung. In diesen Höllenkreisen der Sprache muß in den Bilanzen vertuscht werden, daß Papiere plötzlich giftig, ja tödlich geworden sind. Man muß bei öffentlichen Auftritten kaschieren, daß der Finanzsektor im Verhältnis zu der Arbeitsplätze schaffenden Realwirtschaft in grotesker Weise zu groß geworden ist (das Stichwort lautet: „overbanking“), daß das Kerngeschäft – solide Kredite für solide Projekte – vernachlässigt, alle Regeln des Marktes verletzt, das Geld der Bürger verschwendet und entwertet und die Sparer als Gläubiger betrogen wurden. Der Überfluß anlagesuchender Geldvermögen ist eine typische Erscheinungsform stagnierender und überalterter Gesellschaften, die nicht mehr auf kreative Möglichkeiten und „schöpferische Zerstörungen“ (Schumpeter) durch neue unternehmerische Ideen ausgerichtet sind. Das verwaltete Vermögen, bei dem es nur noch um Maximalzins und Rendite geht, belief sich in den USA 2007 auf 108 Billionen und 2008 immer noch auf 92 Billionen Dollar. Bei dieser hochgefährlichen „Schattenwirtschaft“, die kaum noch Bezüge zu Arbeitsplätzen, Innovation und Produktion hat, handelt es sich tatsächlich um einen Schatten, um die dunkle Energie eines „Monsters“ (Bundespräsident Horst Köhler), das noch nicht gezähmt ist. Dieses Monster „in seinem Lauf, halten weder Ochs noch Esel auf“ (so Honecker zum Siegeszug des Sozialismus) – also keine Marktgläubigen, sondern allenfalls Ordnungspolitiker, welche diesen Namen verdienen.

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Eine solche Gesellschaft zerfällt nur noch in zwei Klassen: die eine verfügt über zuviel Geld, die andere nur über ihre Arbeitskraft. Die Erwartungen der Rentiers müßten auf den Boden der Realität zurückgeholt werden; Liquidität müßte durch höhere Vermögenssteuern abgeschöpft, Steueroasen müßten ausgetrocknet und große Teile der Finanzwirtschaft verstaatlicht werden. Das Ziel wäre eine sozial eingebettete Marktwirtschaft, die mit ihren Geldmengen nicht mehr uferlos wachsen könnte. Neben dem Freihandel (der von den USA durch Anti-Dumping-Verfahren unterlaufen wurde) und der Privatisierung war die Kapitalmarktliberalisierung die Zauberformel, um mehr Wohlstand zu schaffen. Kapitalkontrollen wurden aufgegeben, das Bankwesen wurde liberalisiert und durch neue Institute wie Hedge-Fonds und Private Equity den großen Kapitalvermögen überlassen. (Private Equity läßt sich beschreiben als überwiegend fremdfinanzierte Unternehmensübernahme mit dem Ziel, sie vom Aktienmarkt zu entfernen und in die privaten Hände der Superreichen zu bringen. Dies verringert die Möglichkeiten zur Kontrolle solcher Unternehmen. Oft werden sie gekauft mit der Absicht, sie zu zerschlagen und ihre Teile gegen Höchstgebot zu verkaufen.)182 Hedge-Fonds und Private Equity tendierten zunehmend dahin, das Kapital nicht investiv in Sachgütern und Produktionsstätten anzulegen, sondern in Investments und Investmentfonds. Der negativen Zahlungs- und Leistungsbilanz stand eine „positive“ Kapitalbilanz gegenüber. Zuletzt mußten die USA täglich mehr als zwei Milliarden Dollar an ausländischem Kapital importieren, um ihren Konsum finanzieren zu können. Die USA absorbierten damit 80 Prozent aller grenzüberschreitenden Kapitalanlagen. Der Rest der Welt mußte sich mit 20 Prozent begnügen.183 Indem zusätzlich unter Präsident Bush jun. die Steuern auf Erbschaften, Dividenden und Kapitalerträge, welche die Reichen betrafen, weitgehend abgeschafft wurden, erreichten die Einkommens- und Vermögensunterschiede zwischen der kleinen Schicht der Superreichen und dem Mittelstand in den USA Spitzenwerte, die nur noch von Brasilien übertroffen wurden.184 Aber nicht nur Oberschichten „verluderten“ in ihrem Finanzgebaren, allgemein wurde ein pathologisches Konsumverhalten aller Schichten der US-Gesellschaft, in der jeder Dritte Analphabet ist, gefördert. Kredite waren über Kreditkarten und Hypotheken immer leichter zu erhalten. Eine Handvoll Kreditkarten wurde für Konsumsüchtige zum magischen Schlüssel. Und so schoß die Verschuldung der Konsumenten von 1993 bis 2004 von 800 Millionen auf zwei Billionen Dollar in die Höhe. 2006 beliefen sich die Hypothekenkredite auf sieben Billionen Dollar, zehn Prozent der weltweiten Wirtschaftsleistung. Bei 40 Prozent der Hypothekenfinanzierungen wurde kein Eigenkapital mehr verlangt, man mußte nur einen „Job“ haben. Viele Hypothekenkredite wurden notleidend, weil die Häuser in sozialen Problemzonen mit „afrikanischen Zuständen“ verwahrlosten und als „Schrottimmobilien“ verfielen. Jede siebte Familie mit Kindern steht an der Grenze zur Zahlungsunfähigkeit. Die psychosozialen Folgen der Hyperverschuldung in bezug auf Lebensplanung und Realitätswahrnehmung gleichen denen der Hyperinflation.185 Ursache der neuen Krise waren also das Ungleichgewicht zwischen Konsum und Verschuldung und die lockere Beaufsichtigung der Hypotheken- und Finanzmärkte. 167

Dort wurden die „strukturierten“ Kreditprodukte erfunden, neben den Zertifikaten die Derivate, ja sogar die Bündelung der Kreditausfallversicherungen.186 Dieselben Banken konnten so hypothekenbesicherte Wertpapiere (CDOs) verkaufen und gleichzeitig mit Wetten auf Kreditausfälle Milliarden Dollar verdienen. Die auch für Fachleute undurchsichtigen Produkte erlaubten es den Banken, ihre Kreditrisiken weltweit weiterzuverkaufen. Die neuen Kreditprodukte wurden bewußt nicht reguliert. Der Markt für Kreditausfallderivate wird heute auf 25 Billionen Dollar geschätzt. Ihn dominieren bestimmte Banken wie Goldman Sachs oder die Deutsche Bank. Derivate sind Finanzprodukte, die über mehrere Ebenen der Ableitung, Transformation und Vermittlung vorgeben, sich auf Werte der realen Wirtschaft zu beziehen. Wenn diese Derivate ganz in der Sphäre der Finanzwirtschaft und ihrer Kreisläufe konstruiert werden und der dahinterstehende Wert immer weniger eine Rolle spielt, verwandelt sich die Manie in eine Panik und schließlich in einen Crash, wenn die dahinterstehenden Werte und ihre Preise fallen und der irreale Charakter der Derivate hinterfragt wird. Es gibt interessante Zusammenhänge mit dem philosophischen Konstruktivismus, einer Modeerscheinung des 20. Jahrhunderts. Hier spielten nur noch Fragen der Emergenz, der Struktur und der Transformation von sogenannten Konstruktionen der Wirklichkeit durch Sprache („linguistic turn“) eine Rolle. Die Sprache wurde als Medium der „Weltkonstitution“ überfordert. Letztlich geht es um Konstruktionen, die nicht mehr zwischen Realität und Wirklichkeit unterscheiden können. Bewertungsmodelle von viel einfacheren Wertpapieren wurden von den Ratingagenturen einfach übernommen (fahrlässig oder betrügerisch), um gute Bonitätsnoten zu verteilen. Die Emittenten der neuen Finanzprodukte waren von jeder Haftung dafür ausgeschlossen und beriefen sich auf mathematische Modelle für die Risikoeinschätzung, in denen die „Analysten“ angebliche Zyklen vorgaukelten und damit die realistische Sicht auf den bevorstehenden Kollaps verhinderten. Kennzeichnend für dieses analytische Denken ist – parallel zur Psychoanalyse und zur analytischen Philosophie – die Abstraktion, der Blick auf das bloße System, in welchem die Menschen ein „Auswurf von Interpenetrationen“ (Luhmann) sind. Es fehlt jedes anthropologische Wissen, jeder Blick auf die psychosozialen konkreten Probleme und Konflikte. Das Ergebnis ist die asoziale Marktwirtschaft. All dies ist ein schönes Beispiel dafür, welche verheerenden Folgen der auf reine Rationalität zielende Methodenmonismus haben kann (vgl. dazu Kap. I A 7.5). Im Gegensatz zu einer auf Lebenserfahrung beruhenden Methodenvielfalt, die viele Wege zu gehen in der Lage ist, werden durch die rein analytische Ausbildung Akteure erzeugt, deren psychosoziale Intelligenz Lemmingen gleicht und von Ratten mühelos übertroffen wird. „Analytisch“ ausgerichtet war auch die Ausbildung der „Masters of Business Administration“ an den Elitehochschulen der USA, unter anderem Harvard. Deren Abkürzung MBA wird inzwischen „Master of Business Apocalypse“ genannt. Getrimmt auf kurzfristige Renditen entwickelten diese Homunkuli die komplexen Finanzprodukte, welche das Finanzsystem in den Kollaps führten. Inzwischen empfinden sich einige als fehlgeleitete Mängelwesen, welche sich wie Lemminge verhalten haben, und schwören nunmehr heilige Eide, künftig das Gemeinwohl beachten zu wollen.

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Risikoeinschätzungen der jüngsten Vergangenheit wurden von ihnen einfach in die Zukunft projiziert. Die faulen beziehungsweise „vergifteten“ Unwertpapiere werden in Pools aus den Bilanzen hinaus in die vom Steuerzahler finanzierten „bad banks“ verlagert – eine asoziale Marktwirtschaft zu Lasten des Steuerzahlers. Den toxischen Müll, für den sich nie wieder Anleger finden werden, sind sie so los und versuchen verzweifelt, die Aktienkurse nach oben zu treiben, um Kapitalerhöhungen durchführen zu können. Das funktioniert derzeit nach dem Motto: pump and dump. Die Regelungen für die Unterlegung der Bilanzen mit Eigenkapital und die Rechnungslegung wurden vernachlässigt. Eigenkapitalvorschriften wurden von Banken einfach durch die Gründung von Finanzinstituten außerhalb der Bilanzen umgangen. Risikopositionen erschienen deswegen nicht angemessen in den Bilanzen. Desto höher fallen die Gewinne der Banken und die ausgeschütteten Bonuszahlungen aus. Einen weiteren Schub von der harmlosen Krise zum Kollaps gab es durch Wetten auf fallende Kurse, die Leerverkäufe. Der produktive Homo faber der Realwirtschaft mit seinen Erträgen galt nichts mehr im Gegensatz zu dem neuen (verluderten) Homo ludens in den Spielkasinos der Kapitalmärkte. In diesem Zusammenhang ist von „Kasino-Kapitalismus“ gesprochen worden – ein Kasino, bei dem die Wettenden Einfluß genug haben, den Ausgang der Wette mit zu manipulieren. Zudem fehlte es an rechtlichen Grundlagen für Bankenrettungen durch Beteiligung oder Verstaatlichung, welche erst mitten in der Krise erfunden werden mußten. Das Problem waren dabei Banken (wie die UBS in der Schweiz), die im Verhältnis zur Wirtschaftskraft ihres Landes einfach zu groß waren, als daß der Staat sie hätte fallenlassen können. Diese Erkenntnis („too big to fail“) verführte zu einem „moral hazard“: Man konnte die höchsten Risiken eingehen im Vertrauen darauf, letztlich vom Steuerzahler gerettet zu werden. Aus Nietzsches Übermensch war hier der Über-Banker geworden, von allen Haftungspflichten befreit. Hieraus ist für künftige Regulierungen zu folgern, daß derartige Großbanken notfalls zerschlagen werden müssen unter dem Gesichtspunkt: „A bank too big to fail is too big.“ Durch die Herabsetzung der Kreditkosten im Hinblick auf die gefährlich hohe Staatsverschuldung besteht wiederum die Gefahr von Übernahmen in der Realwirtschaft, bei denen die Schulden dem Unternehmen auferlegt werden. Hauptursache für diese Gefahr ist die Überliquidität der Kapitalmärkte. Schon Keynes forderte eine „Euthanasie der Rentiers“. Diese lieben nicht ihre Katzen (d. h. ihr Vermögen als Lebensform), sondern nur die „Kätzchen der Katze“, in Wirklichkeit sogar nur die „Kätzchen dieser Kätzchen“. Diese Vermehrung führe dann zum „Ende des Katzentums“. Die Hauptgefahr ist jetzt der Staatsbankrott durch Neuverschuldung der Nationalstaaten, wenn Hilfsgelder in die nationalen und übernationalen Konjunktur- und Stützungsprogramme für das Bankensystem fließen. Europa wetteifert heute mit den USA um den Championstitel des Defizitmeisters. Das Verhältnis von Schulden zur Wirtschaftsleistung lag weltweit vor der Krise 2006 im Schnitt bei 78 Prozent, 2010 bereits bei 106 Prozent und könnte im Jahr 2014 auf 114 Prozent steigen. Wenn dieser Anstieg sich nicht durch Wirtschaftswachstum bremsen läßt, bleibt nur, die Ausgaben zu senken, sofern die Wirtschaft dadurch nicht weiter geschwächt wird. Steuererhöhungen und Geldentwertung sind weitere, mit Risiken verbundene Möglichkeiten. 169

Der Staatsbankrott, die Erklärung, daß der Schuldendienst eingestellt wird, hat eine lange Tradition. Frankreich hat in den Zeiten der Monarchie vor der Revolution acht Staatsbankrotte erlebt und Spanien zwischen 1557 und 1647 sechs.187 Ein Staatsbankrott kann in Zeiten der Bankenkrisen oder der Rezession bei fallenden Steuereinnahmen eintreten, wenn die Staatsschulden das Bruttosozialprodukt erheblich übersteigen. Regeln hierfür aber gibt es nicht. Trotz der besonders hohen Staatsverschuldung Japans fürchtet wegen seines hohen technologischen Standards niemand einen Staatsbankrott. Ursachen können fallende Rohstoffpreise sein, steigende Zinsen und Rezessionen in den bisher kapitalgebenden Ländern. Dabei kann die Zahlungsunfähigkeit eines Landes eine Kettenreaktion auslösen. Die Anzahl der zahlungsunfähigen Staaten wird nur statistisch und kosmetisch verringert, indem die Schulden „umstrukturiert“ werden. Wie das Beispiel Griechenland zeigt, gibt es nicht nur den betrügerischen Konkurs, sondern auch den betrügerischen Staatsbankrott. Schulden wurden mit Hilfe amerikanischer Banken verschleiert und Statistiken über Haushaltsdefizite gefälscht, um den Beitritt in die Euro-Zone zu erschleichen. Die Schuldenlast der Bundesrepublik beträgt heute mehr als zwei Billionen Euro, die der USA mehr als elf Billionen Dollar. Dort fallen jährlich im Staatshaushalt 430 Milliarden Dollar für Zinslasten an. Möglichkeiten, sich aus der Staatsüberschuldung zu retten, sind nur die Inflation oder die Entwertung beziehungsweise Enteignung der Staatsanleihen. Das „gierdynamische (gierdämonische) System“ (Sloterdijk) der Finanzwirtschaft darf keineswegs mit „dem“ Kapitalismus, der Realwirtschaft, gleichgesetzt werden, es ist und war nur eine psychotische Entartung. Was diese Krise auslöste, beruht auch darauf, daß der Nationalstaat als eigentliche Basis der Realwirtschaft durch den „Marktstaat“ ausgehöhlt wurde. Dessen politische Akteure geben die traditionelle Rolle von Beschützern ihrer Bürger auf. Dabei wird vorgespiegelt, nicht der Nationalstaat verbessere das materielle Wohlergehen einer Nation, sondern der Marktstaat werde die Chancen für jeden einzelnen Bürger maximieren. Die Bedeutung der Politik wurde dadurch vernichtet (nihiliert). Erst vor diesem Hintergrund, nach diesen fatalen Erfahrungen, kommt zu spät die Besinnung, der Blick auf die konkrete Gesellschaft und die nach wie vor zentrale Bedeutung der Nation. Die Überwindung der Krise müßte letztlich darauf hinauslaufen, diesen Tod der Politik zu verhindern und den Gesellschaftsvertrag durch neue Regulierungen, die nicht umgangen werden können, auszuhandeln.188 Dazu könnten die Förderung genossenschaftlich organisierter Banken gehören oder neue Institute wie Selbsthilfeorganisationen per Internet, welche Unternehmenskredite von Privaten an Private unmittelbar gegen geringe Gebühren vermitteln und so die rein finanzkapitalistisch orientierten Banken umgehen. Es geht um einen „new deal“ wie nach 1929. Allgemein sind Banken zu unterstützen, die innovative Investitionsprojekte finanzieren, von mittelständischen Unternehmen bis zu hohen und langfristigen Investitionen in Klimaschutz und neue Energiequellen.

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Zunächst müßte der Schaden der Finanzkrise sauber bilanziert und nicht verschleiert werden. Die Schätzungen beliefen sich um Frühjahr 2009 weltweit auf vier bis fünf Billionen Dollar. Dann wäre die Frage zu prüfen, wer die Profiteure des großen Crashs waren: die unverantwortlichen Schuldenmacher sowie die Emittenten von Unwertpapieren, die aus faulen Krediten gebündelt wurden. Diese Frage stellte sich Ernst Jünger schon nach der Inflation 1923: „Es ist immer noch viel Geld da – nur jetzt in anderen Händen.“ Es geht darum, die Profiteure der Geldwaschanlagen, in denen die „giftigen“ Papiere in „bad banks“ oder in Staatsschulden verlagert werden, zumindest steuerlich zur Rechenschaft zu ziehen. Schließlich ist zu fragen, wer von der uferlosen neuen Staatsverschuldung es sich gut gehen läßt, welche Banken und Privatfinanziers. Offensichtlich sind dies die wenigen Banken, die vom Untergang der anderen profitieren; und zusätzlich die Kreditgeber von Regierungen und schwächeren Banken.189 Daß der Verfolgungseifer der Staatsanwaltschaften bei Finanzmarktdelikten geringer ist als bei kleinen Betrügern und Gewaltdelikten, liegt vor allem an der Kompliziertheit des Wirtschaftsstrafrechts. In Deutschland gibt es mehrere Dutzend Straftatbestände, die über Spezialgesetze verteilt, kompliziert formuliert und auch für Volljuristen in ihrem Verweisungszusammenhang nur schwer zu durchschauen sind. Anwälte, die sich darauf spezialisiert haben, haben gegen die Ermittlungsbehörden einen leichten Stand. Sie erreichen leicht Freisprüche wegen eines „unvermeidbaren Verbotsirrtums“. Betrug, betrügerischer Bankrott, Korruption und Geldwäsche sind nur mit großem Arbeitsaufwand und Sachverstand bis zur Anklagereife zu ermitteln. Der Nachweis einer Untreue, einer Verletzung der kaufmännischen Sorgfaltspflicht wegen zu hoher Risiken, ist aber noch schwieriger. Was sind Wagnisse, die noch zum unternehmerischen Risiko gehören, und welche Wagnisse sind unverantwortbar? Es wären deswegen neue rechtliche Instrumente notwendig, wie beispielsweise die Umkehrung der Beweislast bei extrem hohen Spielverlusten von Finanzkaufleuten oder die Einführung einer Gefährdungshaftung (wie z. B. bei Eisenbahnunternehmen), das heißt einer Haftung der Konstrukteure von Finanzprodukten für die Schäden von Sparern ohne Nachweis einer konkreten Schuld. Im übrigen kann das Strafrecht nur Verhaltensgrenzen markieren, um das System zu schützen. Dafür wäre eine neue Organisation der Finanzdienstaufsicht notwendig, eine Art Frühwarnsystem, in dem Bundeskriminalamt und Staatsanwaltschaften mit der Banken- und Börsenaufsicht zusammenarbeiten. Solange die Aufarbeitung der Finanzkatastrophe Flickwerk bleibt, solange die Schadensbilanz und die Verursacher nicht namhaft gemacht werden, stehen sich zwei vernichtende (nihilistische) Systeme im 21. Jahrhundert gegenüber: die gierdynamischen Systeme des Finanzkapitalismus durch immer höhere Kapitalkonzentrationen in privater Hand und die demographischen Zusammenballungen, die – ebenso einem Schwarzen Loch vergleichbar – zum Gravitationskollaps, zu sozialen Katastrophen führen. Der Bevölkerungsimplosion in überalterten Gesellschaften steht eine Vermögensexplosion gegenüber; der Bevölkerungsexplosion in den überbevölkerten Gesellschaften eine Wirtschaftsimplosion.

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2.2

Mafiasysteme

Organisierte Kriminalität hat es gegeben, seitdem es größere soziale Gruppen gibt. Mafiosi werden dadurch gekennzeichnet, daß sie im Gegensatz zum ehrbaren Kaufmann verbotene Geschäfte betreiben und die politischen Systeme nicht nur indirekt als Wähler oder Lobbyisten mit erlaubten Mitteln, sondern direkt und illegal durch Geldwäsche, Bestechung, Entführung, Mord und Todesdrohungen gegen Familienangehörige beeinflussen. Im Ausland treten sie wie eine Besatzungsmacht auf, die im Schatten wirkt, rein parasitär und im Gegensatz zu Okkupanten und Kolonialisten absolut verantwortungslos. Soweit der „Idealtypus“ der Mafia. Aber es gibt auch Mischformen. Die Medici waren ursprünglich Kaufleute, die ab 1200 in Florenz als Bankiers und Textilindustrielle tätig waren. Innerhalb der Klassenkämpfe gegen Adel und politische Parteien (Kaisertreue und Kaiserfeindliche, Arme und Reiche) waren zunächst die günstigsten Optionen zu suchen. Erst Cosimo der Alte (1429 bis 1464) war nicht nur ein großer Förderer von Malern und Philosophen, sondern er baute auch ein mafiaähnliches Patronatssystem in der Republik Florenz auf. Diese Mixtur aus Wirtschaft und Mafia hinderte die Nachfolger der Medici-Familie nicht, später in den europäischen Hochadel aufzusteigen. Die napoleonische Herrschaft über Europa trat zwar mit dem Anspruch auf, die Segnungen der französischen Aufklärung zu verbreiten und mit ihrem Licht die unterentwickelten Nachbarn zu beglücken. Indem Napoleon jedoch Familienmitglieder als gekrönte Häupter in ganz Europa einsetzte und die Praxis der Besatzungspolitik darauf hinauslief, daß die Offiziere – je nach Ranghöhe – „Kontributionen“ erpressen durften, hatte diese Herrschaft deutliche mafiöse Züge. Dies ermöglichte den Anhängern Napoleons auch nach dessen Sturz, sich um das Schloß der Familie Napoleon (aus welcher nach einem abenteuerlichen Leben als gescheiterter Putschist schließlich Kaiser Napoleon III. hervorging), um Arenenberg am Schweizer Bodensee, prächtige Villen einzurichten. Und zwar in einem Ausmaß, daß das gesamte Ufer auf der Schweizer Seite des Untersees zwischen Konstanz und Stein am Rhein „Côte Napoléon“ genannt wurde. Die Mafia war ursprünglich ein sizilianischer Geheimbund gewesen, der sich im 17. Jahrhundert gegen die als fremd empfundenen spanischen, österreichischen und französischen Monarchien richtete. Durch Abspaltung entstand 1860 die N’drangheta in Kalabrien und in Verbindung mit den Auswanderern nach Amerika die Cosa Nostra. Erst Mussolini gelang 1929 die Vernichtung der Mafia in Italien. Daraus ist der Schluß zu ziehen, daß entschlossene Mafiasysteme nur zum Preise eines Ordnungsfaschismus beseitigt werden können, während sie in liberalen rechtsstaatlichen Systemen nur am Rande bekämpft werden können und ständig virulent bleiben. Es geht – so scheint es zunächst – um die Wahl zwischen zwei Übeln. Heute schätzt man, daß die drei italienischen Mafiaorganisationen einen Jahresumsatz von 120 bis 180 Milliarden Euro erreichen. Nur etwa 40 bis 50 Prozent davon fließen in den kriminellen Kreislauf wieder zurück; die andere Hälfte wird reingewaschen und in die legale Wirtschaft abgezweigt.

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Daß eine solche „Kultur“ von italienischen Einwanderern nicht mit der amerikanischen verträglich sein könnte, war zunächst ein Gedanke, den der Glaube an die Integrationskraft des amerikanischen Projekts nicht zuließ. So konnte der Cosa Nostra in der Wirtschaftskrise 1929, im Jahr ihrer Niederlage in Italien, der Durchbruch gelingen. Plötzlich übernahm sie Dienstleistungsfunktionen im offiziellen Wirtschaftsleben. In der Müllabfuhr, im Baugewerbe, bei den Pensionskassen der Gewerkschaften und weiten Teilen der Transportbetriebe führte sie ein von Erpressung und Gewalt getragenes Abgabensystem ein, das der „Marktpflege“ für größere Unternehmen diente und die Konkurrenz kleinerer, kapitalärmerer Selbständiger unterband. Auch bei den Mafiasystemen gab es, insbesondere nach dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989, eine Globalisierung. Die Camorra arbeitet mit chinesischen Triaden zusammen, die N’drangheta mit kolumbianischen Rauschgiftkartellen. Klassische Handelsgüter der Mafiaorganisationen waren nicht nur die „oralen Genußmittel“ (Alkohol, Tabak, Rauschgift), sondern auch Prostitution, Glücksspiel und Menschenhandel. Mit zunehmender Finanzkraft und Korruption erweiterte sich der Tätigkeitsbereich auf die allgemeine Wirtschaftskriminalität wie Subventionsschwindel und Steuerhinterziehung. Je schwächer die polizeiliche Verfolgung organisierter Kriminalität, um so mehr werden Wahlen manipuliert, legale staatliche Tätigkeitsbereiche (z. B. die Müllabfuhr) von Mafiosi übernommen, außerdem ganze Wirtschaftsbereiche wie das Speditionsgeschäft einschließlich der Gewerkschaftsorganisationen. Auch wenn es gelang, die allzu prominenten „Paten“ zu verurteilen, arbeiten deren organisatorische Erben in neuen Zweigen des kriminellen Geschäfts, an der Börse, in betrügerischen Krankenversicherungen oder Telefonfirmen. Die Verbrechersyndikate verwandeln sich zunehmend in Investoren für Unternehmen und marode Banken. Sie investieren nicht nur in den klassischen Gebieten der Prostitution und der Drogengeldwäsche, sondern auch in Immobilien, Restaurants, Hotels und im Energiebereich (vor allem in Zusammenarbeit mit der russischen Gasprom). Man kann von einer neuen Mafia sprechen, die nicht mehr mit schlagzeilenträchtigen Bluttaten arbeitet, sondern mit den besten Anwälten der Gesellschaft. Kritiker werden mit Verleumdungsprozessen mundtot gemacht, und so mancher übereifrige Staatsanwalt wird durch Politiker in den Innen- und Justizministerien mit den Mitteln des Disziplinarrechts gebremst. Für die Medien ist die Wirtschaftsmacht der Mafiasyndikate kaum ein Thema, berichtet wird nur noch über die klassischen Mafiamorde, wenn Blut fließt. Nicht nur der Ordnungsfaschismus, sondern auch kommunistische Systeme ließen das Aufkommen von Mafiasystemen nicht zu, sofern sich nicht die Nomenklatura selbst kriminalisierte wie in Bulgarien seit 1980.190 Aus Berufsrevolutionären wurde nach 1989 das, was sie vorher hinter einer hehren Maske verbargen: Berufsverbrecher. Der Aufstieg der russischen Oligarchen, wie Chodorkowski, geschah im Handstreich. Sie machten sich mit einem einfachen Trick zu Multimilliardären: Im nichtmonetären Charakter der Sowjetwirtschaft gab es Verrechnungsrubel in unbegrenzter Höhe. Diese konvertierten sie in bare Rubel und Devisen. Darauf stürzte der Wechselkurs des Rubels zum Dollar ab, und über ein Drittel der Russen fiel ab 1992 unter die Ar173

mutsgrenze. Die vom Staat an die Bürger verteilten Gutscheine sicherten sich die Oligarchen, indem sie sie für einen Bruchteil ihres Wertes einlösten. Chodorkowski konnte so als der einzige Bieter für Rußlands drittgrößten Ölkonzern Yukos auftreten. Ein weiteres Hirn der Russenmafia war der Geldwäscher, Waffenhändler, Schmuggler, Drogen- und Menschenhändler Semjon Mogiljewitsch, der als „Schutzpatron der Mädchenhändler“ galt. Sein Vermögen hatte er damit begründet, die Ausreise sowjetischer Juden nach Israel zu organisieren und sich daran zu bereichern. Bald wurden in Rußland 40 Prozent der Privatwirtschaft und 60 Prozent der Staatsunternehmen von der Mafia kontrolliert. In einer engen Kooperation mit der Politik, zu Beginn der Jelzin-Administration, kam es auch zu Kriegen der „Schatteninteressen“, so in Tschetschenien. All dies konnte geschehen, weil die antipolitische und fatalistische Haltung der dem alten System nachtrauernden Bevölkerung resigniert das öffentliche Leben solchen Kreisen überließ. Die Oligarchen stahlen so praktisch das russische Volksvermögen. Auch als der IWF und die Weltbank im Jahre 1998 ein Rettungspaket von 22 Milliarden Dollar schnüren mußten, um den Staatsbankrott zu vermeiden, schleusten die Oligarchen das Geld ins Ausland, bevorzugt nach Zypern. Ihre Lieblingsbeschäftigung war die Veranstaltung von „Schönheitswettbewerben“ für verzweifelte junge Frauen, Ausleseverfahren, welche direkt in die Prostitution führten.191 Unter dem Jelzin-Nachfolger Putin verschärfte sich noch die Situation. Nun kam es zu einer gefährlichen Zusammenarbeit mit dem Geheimdienst. Dieser verfügte über das Sündenregister aller Oligarchen. Die Unterlagen werden jedoch nur dann eingesetzt, wenn ein Oligarch politisch gegen die Kreml-Führung arbeitet, wie es Chodorkowski wagte. Aus den Mafiasystemen als Parallelgesellschaften (geschlossenen „Saunagesellschaften“) wurde eine durchmischte Gesellschaft von Mafia, Staat und Geheimdienst. Inzwischen wird geschätzt, daß zwei Drittel der russischen Wirtschaft sich in den Händen der Syndikate befinden.192 Die chinesischen Mafiaorganisationen beschäftigten sich etwas „sozialverträglicher“ mit Produktfälschungen und dem Menschenhandel mit Landsleuten als Arbeitssklaven im Ausland. Darüber hinaus gibt es kurdische, türkische, albanische, bulgarische und rumänische Mafiasysteme. Durch die Osterweiterung der EU und den Kosovo-Krieg wurde viel Steuergeld in deren Kassen gespült. Hilfsgelder für den „Aufbau der Demokratie und des Rechtsstaates“ bereicherten letztlich die kriminellen Syndikate in Bulgarien, Rumänien und dem Kosovo. Seit dem EU-Beitritt hat sich der Mafiaanteil an der Wirtschaft in Rumänien und Bulgarien drastisch erhöht. Loyalität und Integrität mafiöser Netze beruhen auf dem, was in der Soziologie als „mechanische Solidarität“ bezeichnet wurde, einem kollektiven Bewußtsein, das in Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen verankert ist. Diese Solidarität besteht darin, Verbrechen verüben zu können, aber auch vor ihnen geschützt zu werden. Diese mechanische Solidarität erlaubt keine Freiheitsspielräume und kein politisches Handeln. In einem Zustand politischer Ohnmacht bleibt nur ein unübersichtliches Beziehungsgeflecht; die Machtbalance durch Mischverfassung und Gewaltenteilung wird regelrecht „zermahlen“. Produktive Berufszweige leben in Abhängigkeitsverhältnissen, die einer

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diffusen Sklavenhaltergesellschaft entsprechen, aber ohne deren klare Strukturen und nur zusammengehalten durch Gewaltandrohung. Es handelt sich um soziale Wüsten, in denen die Gewalt regiert. Die Aufgaben der Wirtschaft sind auf die primitivsten Formen der Schurkenwirtschaft und Ausbeutung beschränkt. Es gibt keine politische Kommunikation, und die wichtigste Aufgabe des Nationalstaats, den Willen des Volkes zu erfüllen, wird untergraben.193 Mafiasysteme sind geschlossene, von Geheimhaltung getragene primitivste Stammessysteme. Die komplexe Zusammensetzung von Nationen aus Stämmen und der Dualismus von Volk und Nation, von offener und geschlossener Gesellschaft, welcher soziale Entwicklung zuläßt, gehen hier verloren. Jede lebendige Gesellschaft ist darauf angewiesen, daß Clan, Stamm, Nation, Volk und Kultur ein Bündnis in einem Gesellschaftsvertrag eingehen, der in einer Verfassung kodifiziert werden muß.194 Sofern die organisierte Kriminalität ein gewisses Ausmaß überschreitet, wird sie zur Bedrohung für den Rechtsstaat. Deswegen gehören zu ihrer Bekämpfung intelligente neue Formen des Ermittlungs- und Strafverfahrens, welche verhältnismäßig und zielbezogen sind. So wird ein allgemeiner Ordnungsfaschismus vermieden, indem bestimmte Methoden der verdeckten Ermittlung, des Kampfes gegen die Geldwäsche und der Abschöpfung kriminellen Vermögens entwickelt werden. Gerade weil die Grenzen zwischen organisierter Kriminalität und Terrorismus sowie Finanzwirtschaft fließend werden, ist es notwendig, mit dem technischen „Fortschritt“ in der kriminellen Unterwelt durch neue Ermittlungsmethoden Schritt zu halten. Wenn demgegenüber ein „Frontalangriff“ auf die Grundwerte unserer Verfassung abstrakt geltend gemacht wird, ist der Verdacht naheliegend, daß sich Politiker für die Mafia ins Zeug legen. Auffällig ist, daß gerade Deutschland wegen solcher verfassungsrechtlicher Skrupel ein interessantes Land als Rückzugsgebiet für gesuchte Mafiamitglieder und ihre Investitionen geworden ist. Diese Skrupel betreffen auch den Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel. Die Stellen für die Bekämpfung der organisierten Kriminalität in Polizei, Justiz und Geheimdienst sind chronisch unterbesetzt. Oft werden auch unter Mißbrauch des politischen Weisungsrechts für Staatsanwälte Ermittlungen durch die Justiz und Innenministerien unter fadenscheinigen Gründen behindert.195 Rühmliche Ausnahme ist das Land Bayern, was sich auch bei den Mafiosi herumgesprochen zu haben scheint. Gerade wegen dieser krisenhaften Zustände in Deutschland und Europa wären internationale Standards für die Entwicklung eines Mafiaindexes (analog zum Korruptionsindex) zu entwickeln, um Strafverfolgung und Entflechtung von Mafia, Wirtschaft und Staat optimieren zu können. Ferner, um Sanktionen gegen mafiöse Staaten wie Handels-, Kapitalverkehrs- und Visakontrollen durchzusetzen. Der Zusammenbruch staatlicher Ordnung steht bevor, wenn Polizei- und Justizangehörige unmittelbar bedroht sind und polizeifreie Räume in bestimmten städtischen Regionen entstehen. Hier wird die Grenze zum Bürgerkrieg, zum Einsatz des Militärs, erreicht. So in Mexiko seit 2006 und in Brasilien seit 2008. Dabei stehen viele Bürgermeister, Polizisten, Staatsanwälte und andere Regierungsvertreter im Bund mit der Mafia, von der sie bezahlt oder erpreßt werden. Die Soldaten müssen daher aus entfernt gelegenen anderen Bundesstaaten geholt werden und stehen in einem gefährlichen 175

Zweifrontenkrieg gegen die hochgerüsteten Mordkommandos der Mafia und die Verräter in den eigenen Reihen. 2.3

Korruption

Korrumpieren und Korruption hat eine Doppelbedeutung: jemanden bestechen und zugleich moralisch verderben. Korruption ist aktive Bestechung und passive Bestechlichkeit und darüber hinaus der damit zusammenhängende moralische Verfall. Dieser vor allem von Mafiasystemen ausgelöste Verfall des unbestechlichen Beamtentums untergräbt die Gewaltenteilung von Legislative, Judikative und Exekutive; der konsequente Rechtsstaat wird windelweich, und die auf Beziehungen angewiesenen Politiker werden schmierig: Es läuft wie geschmiert unter dem Motto „Schmieren und Salben hilft allenthalben“. Die Doppelbedeutung des lateinischen corrumpere und corruptio zeigt, daß bereits die Römer die politischen Dimensionen der Korruption sprachlich zu fassen suchten. Es waren die Tätigkeiten Einzelner, die bestechen und damit etwas untergraben und ruinieren. Daraus folgt dann ein allgemeiner Zustand der öffentlichen Verhältnisse zum Schlechteren hin, zur allgemeinen Verderbnis. Seit es Politik gibt, gibt es auch politische Korruption. Der Kampf gegen sie ist Sisyphos-Arbeit. Jedes System, ob Monarchie oder Demokratie, behauptet von sich, ein Musterbild guter Herrschaft zu sein, in welcher die politische Ordnung auf Legitimität ihrer Regeln und Gesetze beruht. In Demokratien herrscht eher Transparenz, was Korruption aufzuspüren erleichtert. Wie die Regimewechsel in den osteuropäischen Ländern zeigen, hat die offene Korruption sich dort erst nach 1989 etabliert; vorher wurde sie durch die Privilegien der Nomenklatura verschleiert. Korruptionskritik kann deswegen von Konservativen gegen ein parlamentarisches System gerichtet werden, sie kann aber auch umgekehrt antielitäre, antikapitalistische oder antisemitische Zielsetzungen verfolgen. Sie ist ein Hauptelement der revolutionären Propaganda. Die Französische Revolution wurde auch durch Korruptionsvorwürfe gegen das System der Steuerpacht ausgelöst. Private Investoren streckten seit 1681 der französischen Krone die Steuereinnahmen vor, um diese dann selbst mit einem entsprechenden Gewinnzuschlag einzutreiben. Die Jakobiner als die Vertreter der neuen Reinheit und Tugend verurteilten dann auch eine ganze Reihe von Steuerpächtern zum Tod durch die Guillotine. Im engeren Sinne ist Korruption nur das Verhalten, welches das öffentliche Interesse schädigt, weil es einen wirtschaftlichen Schaden verursacht. Schwache Institutionen werden ausgenutzt und Ämter für Privatinteressen mißbraucht. Der Lobbyismus versucht dagegen nur die öffentliche Meinung zu manipulieren, ohne daß damit ein wirtschaftlicher Schaden verbunden sein muß. Lobbyisten verstoßen nur gegen das allgemeine Gerechtigkeitsempfinden. Die Korruption zwischen Wirtschaft, Mafiasystemen und Politik kann zum Zusammenbruch der staatlichen Ordnung führen, wenn ein gewisses Ausmaß überschritten wird. Dieses wird mit dem Korruptionsindex der Organisation „Transparency Interna-

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tional“ gemessen. Firmen, die Korruption im Ausland praktizieren, handeln in der Regel auch im Inland nicht moralischer. Der Schaden für die deutsche Volkswirtschaft wurde 1998 auf jährlich 20 Milliarden Mark geschätzt. Dementsprechend liegt Deutschland auf der Weltrangliste der „Bananenrepubliken“ auf einem schlechten Mittelplatz. Außerdem wird geschätzt, daß etwa ein Drittel aller Schulden der Dritten Welt auf Korruption und ihre Auswirkungen zurückgeht. Entwicklungsländer galten und gelten als besonders anfällig für Korruption, die zu einem großen Teil durch die Entwicklungshilfe finanziert wird. Hier kann im Zusammenhang mit Stammeskriegen die Grenze zum „scheiternden Staat“ erreicht werden (dazu Kap. III B 3.2). Der Kampf gegen die Korruption wurde auf Druck der USA von der OECD verstärkt. Mögliche Sanktionen sind nicht nur Kriminalstrafen und Geldbußen, sondern auch die Sperre bei der Vergabe von künftigen Aufträgen. Ein zusätzliches Mittel sind Integritätspakte, in denen sich die Bewerber von Aufträgen verpflichten, Korruption zu unterlassen und Anzeichen dafür bei anderen anzuzeigen. Auch bei Verträgen mit Entwicklungsländern sollen Klauseln gegen Korruption aufgenommen und diese kontrolliert werden. Ein weiterer Ansatzpunkt ist das Disziplinarstrafrecht, um das Rechtsgut „Unbestechlichkeit des öffentlichen Dienstes“ zu schützen. Dafür müssen auch Register- und Anzeigepflichten für Beraterverträge und Mitgliedschaften in Wirtschaftsvereinigungen eingeführt werden. Das Strafrecht kann immer nur letztes Mittel bleiben, um die Korruption zu bekämpfen. Die Korruptionstatbestände wurden nämlich ständig erweitert, und immer mehr Korruptionspraktiken wurden vom Gesetzgeber geächtet. Was im Einzelfall ein „Entgelt“ oder ein „sonstiger Vorteil“ ist und wann es sich um eine vollendete Tat oder nur um einen Versuch handelt, ist im Einzelfall schwer zu bestimmen. Bei der strafrechtlichen Verfolgung ist auch der Gleichbehandlungsgrundsatz zu beachten, da von den Medien erhobene Korruptionsvorwürfe den Einzelnen schnell stigmatisieren und es unter dem Druck der öffentlichen Meinung zu Vorverurteilungen kommen kann. Mit Korruptionsskandalen konnte die Presse stets ihre Auflage steigern und zugleich politische Zielsetzungen verfolgen. Korruptionsvorwürfe werden somit oft als Waffe im politischen Konkurrenzkampf eingesetzt, um einen Gegner auszuschalten. Dann rollt der Stein des Sisyphos wieder zu Tale, und die „Arbeit“ beginnt von neuem. Im Gegensatz zum Mythos ist in der Wirklichkeit korrupter Gesellschaften die Regierungspartei die Korruptionspartei und die Opposition die Antikorruptionspartei. Beim Regierungswechsel werden die Rollen getauscht. Dieses Rollenspiel kann bis zum Staatsbankrott gehen, wie in Griechenland 2010.

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Der „Untermensch“: Die hilflose Masse

Der Übermensch Nietzsches war eine Idealvorstellung: die des „guten Europäers“, des kulturschöpferischen Menschen, der sich selbst zu überwinden vermag. Der Normalmensch, der das Ziel aller Pädagogik sein sollte (Kap. I A 3), ist der zeitgemäß Gebil-

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dete, der ohne wesentliche Entwicklungsstörungen und Repressionen der Gesellschaft, ohne lebensstörende Neurosen oder Psychosen ein Gleichgewicht seiner psychischen Funktionen zu erreichen in der Lage ist und damit etwas erreicht, das als Vernunft bezeichnet wird. Der „Untermensch“ im Sinne dieses Abschnitts ist nicht der moralisch oder biologisch abgewertete Mensch, sondern der durch das familiäre und kollektive Milieu unterdrückte Mensch, der nur noch reagieren und um sein Leben in absoluter Armut kämpfen kann. Im Kollektiv ergibt er die hilflose Masse, die nicht politisch agieren, sondern nur reflexhaft reagieren und ohnmächtig dahinvegetieren kann. In den städtischen Agglomerationen ist dies vor allem die jüngere Generation ohne Aussicht auf Arbeitsplatz und Lebensperspektive. In den Ballungsgebieten sammeln sich die Millionen einer verlorenen Generation, die nichts mehr zu verlieren hat. Der für sie typische leere (transparente) Gesichtsausdruck ist bereits Rilke zu Beginn des 20. Jahrhunderts in einer Stadt wie Paris aufgefallen. Er nannte sie die „Fortgeworfenen“: „Es sind Abfälle, Schalen von Menschen, die das Schicksal ausgespieen hat.“ Er glaubte bei ihnen Zeichen zu erkennen, mit denen sie sich untereinander als Fortgeworfene verstehen. Er fragte sich, „wo sie hernach hineinkriechen und was sie den vielen übrigen Tag beginnen und ob sie schlafen bei Nacht ... Sie sind da und wieder fort, hingestellt und weggenommen wie Bleisoldaten. Es sind ein wenig abgelegene Stellen, wo man sie findet, aber durchaus nicht versteckte ... da stehen sie und haben eine Menge durchsichtigen Raumes um sich, als ob sie unter einem Glassturz stünden.“ Er kennzeichnet sie als diejenigen, die anzufangen beginnen, „die Dinge anders zu lesen als sie gemeint sind; denen, die noch ganz auf derselben Welt wohnen, nur daß sie ein bißchen schräg gehen und deshalb manchmal meinen, die Dinge hingen über sie; denen, die nicht in den Städten zu Hause sind und sich in ihnen verlieren wie in einem bösen Wald ohne Ende ... Nichts war so wenig Lachen wie das Lachen jener Entfremdeten: wenn sie lachten, klang es, als fiele etwas in ihnen, fiele und zerschlüge und füllte sich an mit Zerbrochenem. Sie waren ernst; und ihr Ernst griff wie Schwerkraft nach mir und zog mich hinab tief in den Mittelpunkt ihres Elends.“196 Rilke beschrieb hier einen typischen Vorgang im Zeitalter exponentiellen Bevölkerungswachstums, in welchem die Deklassierten nicht einzelnen Zufällen oder Mißgeschicken ausgesetzt sind, sondern einer unentrinnbaren Schwerkraft. Sie sind chancenlos nicht in einzelne Grenzsituationen, sondern in einen Verwertungs- und Gravitationsprozeß, wie in einen Strudel, hineingezogen worden. 3.1

Megacities und Schwarze Löcher

Die Burg war ursprünglich Fluchtburg, und die sich darum ansiedelnden Stadtbewohner suchten diesen Schutz. Über das Militärische hinaus konnte sich jedoch ein Stadttyp als neue Kulturform entwickeln. Beispiele dafür waren Jerusalem, Athen und Rom. Städtebünde konnten zu neuen politischen Gleichgewichten gegenüber reinen Feudalsystemen oder Despotien führen. Beispiele waren die Städtebünde Norditaliens gegen das deutsche Kaisertum oder die Hansestädte.

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Aber es gab auch immer den negativen Aspekt der Stadt, bloße Sogwirkung auf die Landbevölkerung auszuüben und wie ein ungeregeltes Aggregat zu wachsen. In der Aufklärung wurde immer wieder die Frage erhoben, welche Größe einer Stadt akzeptabel sei. Montesquieu hielt nur im Kleinstaat eine Republik für möglich. Bei Staaten mittlerer Größe sah er die Monarchie als angemessene Regierungsform an, bei Großstaaten dagegen sei eine Entwicklung zur Despotie unvermeidlich. Kant sah in seiner Abhandlung „Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte“ vor allem die ständigen kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Land- und Stadtstaaten. Der Luxus der Städtebewohner, „wo die städtischen Weiber die schmutzigen Dirnen der Wüste verdunkeln“, mußte eine „mächtige Lockspeise für jene Hirten sein, in Verbindung mit diesen zu treten, und sich in das glänzende Elend der Städte ziehen zu lassen“. Durch die Zusammenschmelzung zweier so feindseliger Völkerschaften sei das Ende aller Freiheit, der Despotismus der Tyrannen, möglich geworden.197 Auch Ch. M. Wieland behauptete, je größer die Gesellschaften, „je mehr diese verschiedenen kleinen Kreise einander drücken und pressen, je häufiger die Leidenschaften, Vorteile und Ansprüche in diesem allgemeinen Gewimmel aneinander stoßen, desto mehr geht von der ursprünglichen Gestalt des Menschen verloren“. Es sei unmöglich, wenn Hunderttausend in einer Stadt zusammengedrängt leben, daß sie nicht in kurzer Zeit „sehr verderben sollten, wofern der Gesetzgeber nicht ganz besondere Sorge getragen hat, dem Übel des Zusammenstoßes der Interessen, und dem noch größeren Übel der sittlichen Ansteckung durch weise Einrichtungen zuvorzukommen“.198 Damit hat Wieland Kriterien angegeben, wonach Stadtsoziologen bestimmte Stadttypen unterscheiden können. Solche, in denen neue Märkte und Kulturen sich entwikkeln können, und solche, in denen die Massengravitation, die Gesetzlosigkeit, die Kriminalität und die Vorstädte wie „krebsartige Tochtergeschwülste“ wuchern. Solche Metaphern, wie sie A. Mitscherlich in „Die Unwirtlichkeit unserer Städte“ verwendete, garantierten den Bestseller, der eine Studentenbewegung beflügeln konnte. Angesichts dessen, was sich in den heutigen Megacities der Dritten Welt abspielt, wirken solche Bücher wie nostalgische Hypochondrien spätromantischer Intellektueller. Ähnliches gilt für O. Spenglers „Untergang des Abendlandes“, welcher vereinfachend die Kultur der Zivilisation entgegenstellte. Insbesondere die Stadt gehörte zur letzteren, in der sich das ganze Leben weiter Länder sammelt, während der Rest verdorrt. Aus dem mit der Erde verwachsenen Volk entsteht ein neuer Parasit, der traditionslose „Tatsachenmensch, irreligiös, intelligent, unfruchtbar“.199 Die „Hure Babylon“ gilt seit der Bibel als archetypisches Beispiel für ein städtisches Aggregat, als „unwirtliche Fremde“ und Despotie ohne politische Gestaltungsmöglichkeiten. Das „himmlische Jerusalem“ ist dagegen das Haus des Herrn, in dem man Friede und Geborgenheit finden kann (Psalm 122). Eine derartige Typologie mit den Vorstellungen einer Idealstadt ist im Zeitalter der Bevölkerungsexplosion in den modernen Megacities absurd geworden. In den für Kant und Wieland noch unvorstellbaren Stadtbevölkerungen von bis zu 20 Millionen kann nur noch nach dem Ausmaß der sozialen Kontrolle einer „good governance“ gefragt werden. Sie stehen im Gegensatz zu Aggregaten mit unregulierten Elendsgebieten und 179

sich ausbreitenden Mafiastrukturen. Hier gibt es die afrikanischen und südamerikanischen Städten einerseits und die europäischen und ostasiatischen Staaten andererseits. Städte, in denen die Mafiasysteme im Untergrund agieren müssen, und solche, in denen sie offen die Macht ergreifen konnten. Selbst der äußere Anschein polizeilicher Ordnung ist dann zusammengebrochen, und es herrscht der offene Bürgerkrieg zwischen Mafiaorganisationen und Ordnungskräften. Das ist der eigentliche Unterschied zwischen Städten wie Mexiko-Stadt, São Paulo, Kairo oder Lagos einerseits und London, Paris, Tokio oder den chinesischen neuen Städten andererseits. Die letzteren sind vor allem wirtschaftlich von überragender Bedeutung. Paris und London stellen mit ihrer Wirtschaftsleistung Länder wie Schweden oder die Schweiz in den Schatten. Die meisten Weltkonzerne haben ihre Hauptniederlassungen in den Städten Tokio, Paris, New York oder London. Die „entwickelten“ Regionen unternehmen zumindest den Versuch, Dichte, Größe, Zentralität, Komplexität und Geschichtsidentität der herkömmlichen Städte zu wahren. Etwa dadurch, daß der Gegensatz von Stadt und Land abgemildert wird, indem bisherige Industriebrachen zu umweltverträglichen Lebensräumen umgestaltet werden. Visionäre berechnen wie Buchhalter ausgeglichene Energiebilanzen durch gedrosselten Rohstoffverbrauch und rationalisierten Verkehr; sie planen sogar vernetzte Städte mit totaler Personen- und Verkehrskontrolle (die aber gerade deswegen hochsensibel bei terroristischen Anschlägen sein können). Der Stadtmoloch der Dritten Welt zeichnet sich dagegen durch ökologische Unverträglichkeit und massive Einwanderung aus Armutsgebieten aus; durch das Weiterwuchern städtebaulich schon überfrachteter Gebiete. Es handelt sich nicht mehr um Stadtprojektionen einer Schutzburg oder einer geschlossenen Kosmogonie zu einer geplanten Stadt (z. B. in den Formen eines Vierecks, eines Kreises oder Sterns). 15 der 20 größten Stadtregionen befinden sich heute schon in Entwicklungsländern, und ein Drittel der dortigen Stadtbewohner lebt in Slums. Schätzungsweise leben heute schon 800 Millionen in sich ausweitenden Slums ohne hygienische Grundsicherung. Alle Konzepte versagen vor den Entwicklungsblasen, die dort platzen und den Einzelnen immer größerer krimineller Willkür aussetzen und hilflos zurücklassen. In den Ballungszentren der Entwicklungsländer verschwinden alle Welterfahrungshorizonte durch Landschaften wie Küsten und Flußläufe, Agrar- und Berglandschaften in den Gravitationsprozessen des Bevölkerungswachstums. Daß die sich ausweitenden Megacities wie Schwarze Löcher das Bevölkerungswachstum bis zur Mitte dieses Jahrhunderts bremsen oder gar aufhalten könnten, ist eine Erwartung der Demographen, die nicht gerade hoffnungsvoll stimmt. Der dafür zu zahlende Preis – unübersehbares Konfliktpotential – wird hoch sein. 3.2

Scheiternde Staaten (afrikanische Zustände)

Es gibt funktionierende Staaten, in denen das Gleichgewicht der drei Gewalten (Gesetzgebung, Polizei und Verwaltung sowie Justiz) gewahrt ist und sie ihre Aufgaben erfüllen können. Dann gibt es Staaten, in denen das Gleichgewicht dieser drei politischen Gewalten verlorengegangen ist, die aber dennoch mehr schlecht als recht regiert

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werden. Robert Musil prägte hierfür den Begriff „Kakanien“ („Schlechtland“) und meinte damit die Balkanstaaten. Dann gibt es die gescheiterten Staaten, in denen es nur noch Spurenelemente einer äußeren Ordnung gibt. Es sind Gebiete, die eher zufällig nach geographischen, historischen und ethnischen Gesichtpunkten geteilt wurden, vor allem im Zuge der Entkolonialisierung. In ihnen ist deswegen viel Konfliktstoff angehäuft – Fliehkräfte, die zum Zerreißen des Gebildes führen müssen. Es handelt sich um die „zerrissenen Staaten“ (Huntington), denen es langfristig nicht gelingt, bürgerkriegsähnliche Stammesgegensätze auszugleichen. Ein Staat ist schon dann gescheitert, wenn er bankrott und auf unabsehbare Zeit auf internationale Hilfe angewiesen ist. Das eigentliche Kriterium, um einen gescheiterten Staat zu bestimmen, ist: Die Chance ist gleich null, daß der „Staat“ je wieder wirtschaftlich autark und auf dieser Grundlage handlungsfähig, politisch autonom, werden kann. Das Wort Scheitern stammt aus der Seemannssprache. Ein komplexes, aber zerbrechliches (hölzernes) Gebilde wie ein Segelschiff kommt in eine verfahrene Situation, es fährt sich fest und zerbricht Stück für Stück (ein Holzstück ist ein „Scheit“). Bei Staaten gibt es eine bestimmte Stufenfolge. Zunächst scheitert die Demokratie (sofern sie sich je durchgesetzt hat) und es erscheint ein archaisches System, die traditionelle Stammesherrschaft, die (asiatisch-orientalische) Despotie mit paranoiden Autokraten oder – wie heute im Islamismus – eine Theokratie (Priesterherrschaft). Politisch kann ein Staat auch deswegen scheitern, weil in einer Demokratie eine antidemokratische Kraft den Wahlsieg erringt und danach eine Theokratie oder Despotie einführt. Die Gefahr einer islamistischen Theokratie, einer nur noch formalen „gelenkten“ Demokratie, besteht heute in nahezu allen muslimischen Ländern. Jaspers hat diese Gefahr vorausgesehen und nannte die Förderung solcher formalen Demokratien „Byzantinismus gegenüber dem Souverän der Wählermassen“. Dort sei das allgemeine und gleiche Stimmrecht ein Tabu, wer es in Frage stellt, werde totgeschwiegen oder einer wilden diffamierenden Empörung ausgesetzt.200 Die nächste Stufe ist der zerrissene Staat, in dem es langfristige und unlösbare ethnische oder konfessionelle Bürgerkriege gibt. Der Endzustand des gescheiterten Staates ist heute in Somalia, im Kongo und in Zimbabwe erreicht worden. Kurz vor diesem Zustand stehen Afghanistan und der Jemen. Die nichtmuslimischen afrikanischen Staaten bieten heute die meisten Beispiele für gescheiterte Staaten. Die um die Bodenschätze konkurrierenden Investoren möchte das am liebsten kaschieren, um das scheue Kapital anzulocken. Sie warnen nicht ganz zu Unrecht vor Pauschalurteilen über ganz Schwarzafrika. Aber es gibt auch außerhalb Afrikas Ableger; so Haiti, den ersten schwarzafrikanischen Staat, entstanden aus einer Sklavenrevolte von 1791 bis 1804. Die Revolution war zwar erfolgreich, in wirtschaftlicher Hinsicht scheiterte der Staat jedoch bis heute und ist Inbegriff für Armut, Korruption und Mißwirtschaft, obwohl er schon lange unter Vormundschaft der UN steht. Als eine Zeit des Glücks wird heute die Zeit der amerikanischen Besetzung zu Beginn des 20. Jahrhunderts empfunden. Eine Truppe von Blauhelmsoldaten schaut tatenlos zu, wie Polizei und organisiertes Verbrechen kooperieren. Das Erdbeben vom Januar 181

2010 offenbarte den Zustand völliger Hilflosigkeit und Desorganisation. Der „Wiederaufbau“ (aus dem bisherigen Chaos) muß nahezu ausschließlich von den „Geberländern“ nicht nur finanziert, sondern auch organisiert werden. Hauptmotiv der USA ist dabei, eine Massenflucht nach Norden zu verhindern. Als sich nach der Sklavenbefreiung zuerst in Harlem und später in anderen amerikanischen und europäischen Großstädten Viertel mit überwiegend schwarzer Bevölkerung bildeten, entstanden hybride, von Sozialtransfers abhängige Gesellschaften: der vertikale Einfall befremdlicher afrikanischer Lebensverhältnisse in einer befremdeten Umwelt. Diese Ableger afrikanischer Zustände auf dem amerikanischen Immobilienmarkt, in den Vorstädten von Paris, in Brasilien oder in der Karibik konkret zu beschreiben, wird als „Diskriminierung“ tabuisiert. Die erste Stufe des Realitätsverlustes und der Reaktionen auf ein solches Tabu ist, daß die Tatsachen verschleiert werden. Wenn ihre Diskussion tabuisiert und sogar kriminalisiert wird, dann gibt es nur noch „Entwicklungen“ und keine Lösungen mehr. In den heute gescheiterten Staaten Afrikas wurden staatliche Zentralmächte im zufälligen Rahmen ehemaliger Kolonialgrenzen zur Fiktion. Es fehlt dort jene kontinuierliche Evolution vom Stamm zum Stammesbündnis, vom Stammesbündnis zur Nation und Nationalkultur, die in Europa ein mühsamer Prozeß mit vielen Rückschlägen, Revolutionen und Bürgerkriegen gewesen war. Aus der geschlossenen vorkolonialen Welt von ca. 1000 Stämmen, die bereits von Sklaverei, Massenmord, Verstümmelung und Zauberei geprägt war, wurden 40 Republiken künstlich gebildet. Ihnen fehlte von Anfang an ein loyaler Beamtenapparat, und sie mußten auf das Stammes- und Häuptlingswesen zurückgreifen. In vielen Verfassungen wurden die Privilegien der „Chiefs“ sogar bestätigt. Auch die Programme der Parteien waren in der Regel „tribalistisch“ an Stämmen orientiert und neigten zum Sezessionismus. Räuberhäuptlinge, das heißt Rebellen und Banditen, beschönigend Warlords genannt, führten zur weiteren Aufsplitterung der staatlichen Gewalten. Ganze Regionen wurden so zu Selbstbereicherungsläden, wo neue Oberschichten Ausbeutung wie die Weißen betrieben, nur mit geringerem Effekt.201 Endzustand sind heute unheilvolle Allianzen von Milizenführern, oft mit Kindersoldaten und Rauschgifthandel, in denen der Staatshaushalt mit dem Privatvermögen gleichgesetzt wurde. Jede Zusammenarbeit zwischen Stämmen und Rassen, jede lebensfähige Föderation wurde durch eine plündernde Plutokratie unmöglich gemacht. Die eine Hälfte des afrikanischen Kontinents wurde so durch Kriege und Gewalt verwüstet, die andere vegetiert zwischen Krise, Korruption, Tribalismus und Anarchie. Die besten Köpfe emigrieren legal, die findigen illegal nach Europa und in die USA. Das Häuptlingstum tritt als neue Schutzmacht auf und versucht zwischen Zentralregierung und den Hilfsorganisationen zu überleben. Die Landflucht nimmt zu und läßt ungeplante Megacities entstehen. Man erwartet, daß bis zum Jahr 2025 die gesamte afrikanische Westküste von Ghana (eine der wenigen noch funktionierenden Demokratien in Afrika) bis zum Nigerdelta über 500 Kilometer Länge ein städtisches Agglomerat bilden wird. Ein Moloch, der von Slums, Verkehrsstaus, Wohnraummangel und einem Verfall der Trinkwasser-, Strom- und Abfallwirtschaft geprägt sein wird. Es entstehen – wie schon in Südafrika – festungsartig geschützte Wohnsiedlungen der Wohlhaben182

den, umgeben von den Elendsgebieten. Diese umschließen zum Beispiel die Halbinsel Kapstadts von Küste zu Küste und werden beschönigend Townships genannt. Dementsprechend erreichen Kriminalitätsrate und Auflösung aller Familienstrukturen in einem Klima des Machismo (Kap. I A 8) und der Vergewaltigung als alltägliche Normalität für die Frauen weltweite Rekordhöhen. Rebellenmilizen und Regierungstruppen vergewaltigen da einträchtig dieselben Frauen, die – mit ihren Kindern alleingelassen – einer neuen Form der Hölle, dem Zweifrontenkrieg, ausgesetzt sind. Die Bevölkerung verliert dabei jedes Selbstbewußtsein und erfindet Begriffe für „die da oben“, die „fat cats“, als Vertreter einer „Politik des Bauches“: Den Inhalt des nationalen Topfes (pot), das Staatsvermögen, schlingen sie in sich hinein (tschop) und furzen, bis der Topf zerspringt (blew). In diesem Klima des „tschop-blew-pot“ gelang Politikergestalten wie Idi Amin, Mugabe oder Zuma der Aufstieg. Gestalten, für die es zum Sozialstatus gehört, das Gegenteil einer verantwortungsvollen Familienplanung zu praktizieren, sich statt dessen mit einer Vielzahl von Frauen möglichst zahlreich zu vervielfältigen. Bokassa wurde in der Gegend, in der schon Joseph Conrad sein „Herz der Finsternis“ ansiedelte, nicht nur durch sein goldenes Bett auf Kosten der Entwicklungshilfe berüchtigt. Unmittelbar nachdem er 1976 zum Islam übergetreten war, ernannte er sich zum Kaiser. Bevor er wegen Mordes, Korruption und Kannibalismus zum Tode verurteilt (aber schnell wieder begnadigt) wurde, setzte er mit 17 Frauen 54 Kinder in die Welt. Bleibende Denkmäler sind seine Triumphbögen, auf denen Sprüche stehen wie: „Alle Menschen sind gleich“ oder „Das ganze Leben ist Arbeit“. Nur gibt es keine Arbeit mehr und keine Märkte, auf denen noch etwas zu verkaufen ist. Die einzige Arbeit, die es noch gibt, ist es, vergorenen Palmwein als Bierersatz herzustellen, mit dem man sich zu trösten versucht. Mugabismus könnte der Name für die neue afrikanische Sozialkrankheit sein. Die Symptome dieser Krankheit beginnen damit, daß die „Kriegsveteranen“ zur bevorzugten Kaste werden und sich den weißen Besitz aneignen. Zunächst werden die Weißen vertrieben, dann weitere Händler, wie Inder, Libanesen, Griechen oder Armenier. Die sich anschließende Hungersnot und die Unfähigkeit, wenigstens den Lebensmittelbedarf der Bevölkerung zu decken, werden überspielt, indem die sich als „Gewerkschaft“ organisierenden hungernden „Proleten“ gedemütigt und getötet werden. Begleitet wird der allgemeine soziale Verfallsprozeß von einem mentalen, nämlich einer Irrationalisierung aller Lebensbereiche. Die „Pfingstkirchen“ konnten sich wenige Jahrzehnte nach der Entkolonialisierung explosionsartig wie eine Pilzkrankheit („mushroom-churches“) auf Kosten der etablierten Großkirchen ausbreiten. Das Afrika der Fetische und Masken wurde wieder zu einem Kontinent der Furcht vor unsichtbaren Kräften, die zur Ausübung von Gewalt oder zum Schutz vor ihr beschworen werden. Dies kann bis zum Kannibalismus gehen, wobei innere Organe, vor allem das Herz, verspeist werden. Die Albinos, bei denen der Pigmentstoff Melanin aufgrund einer genetischen Störung kaum produziert wird, gelten als von Dämonen besessen. Mit ihren Körperteilen, denen große Heilkräfte nachgesagt werden, wird reger Handel getrieben. Der Konsum ihres Blutes verheißt Wohlstand. 183

Geisterbeschwörer, die böse Dämonen vertreiben sollen, und der Hexereiglauben fördern neue magische Praktiken und Hexenjagden. Diese in der Kolonialzeit noch strafrechtlich sanktionierte Verfolgung von „Heilern“ (meist alter Frauen) wandelte sich. In der Rechtspraxis werden Heiler nun zu Experten und können als Zeugen der Anklage auftreten. Hexerei ist Schwarze Magie, ein vergiftendes Element innerhalb der Verwandtschaft. Eifersucht und Aggressivität innerhalb des Familienverbandes werden dadurch gefördert, und die Verwandtschaftsbeziehungen geraten unter Druck. Kinder, die lästig werden, jagt man einfach auf die Straße (so wie Muslime ihre Frauen „verstoßen“ können), weil sie von einem bösen Dämon besessen seien. Die Jugend in dieser weitgehend „vaterlosen Gesellschaft“ bleibt sich selbst überlassen. Kinder von vergewaltigten Jungfrauen, die für den Aberglauben herhalten mußten, man könne sich so von Aids heilen, haben auch wenig Interesse an „Vaterbindung“. Ziel einer Elementarpädagogik müßte deswegen sein, die so entstandenen Jugendbanden und Kindersoldaten einer Berufsausbildung zuzuführen. Der Promiskuität und Prostitution ist entgegenzuwirken, indem zum Beispiel das Agrar- und Textilgewerbe der Frauen (als ökonomische Basiseinheiten) durch Kleinkredite gefördert und Elementarregeln für die finanzielle und persönliche Verantwortung der Väter für ihre Kinder durchgesetzt werden. Bauern müßten vor der absoluten Armut durch Ernteausfallversicherungen geschützt werden. Wichtigstes Kriterium für noch nicht scheiternde Staaten ist, ob über die Subsistenzwirtschaft des Kleinbauerntums hinaus Ernteüberschüsse produziert und exportiert werden können. Das Kernproblem vieler afrikanischer Regionen besteht darin, daß sie sich zwar von der Herrschaft der Großgrundbesitzer befreit haben, dafür aber in eine reine Subsistenzwirtschaft zurückgesunken sind. Der Biologe C. D. Darlington hat dazu ein Gedankenexperiment angestellt. Im Gebiet der Vereinigten Staaten lebten vor 400 Jahren etwa 100 000 Indianer. Diese Zahl wäre wahrscheinlich ohne Europäer oder Schwarzafrikaner gleichgeblieben. Wenn nur Schwarzafrikaner eingewandert wären, wären sie durch die kriegerischen Indianer wahrscheinlich schnell dezimiert und verdrängt worden. Im Zusammenhang mit der weißen Gesellschaft lebten sie jedoch unter dem „Schutz“ zunächst der Sklavenhalterei und dann des Sozialstaates. Insoweit haben die Weißen den Schwarzafrikanern zunächst als Sklavenhalter und dann als Sozialpolitiker „geholfen“. Von den Indianern hätten die Schwarzafrikaner diese „Hilfe“ niemals bekommen. Für ein Zusammenleben verschiedener Rassen ist es jedoch – so Darlington – nötig, daß die Gruppen sich nicht nur helfen, sondern auch gegenseitig achten. In Afrika habe man den technisch zurückgebliebenen Gesellschaften zwar ärztliche Hilfe, aber keine Anstöße zur selbstverantwortlichen Geburtenregelung gebracht. (Die Geburtenkontrolle sei auch in der europäischen Gesellschaft erst spät nur von den gebildeten Klassen und Völkern ausgeübt worden.) Dadurch habe sich in der „Normalkurve der Intelligenz“ der Mittelwert durch gesteigerte Fruchtbarkeit verschoben und einen tieferen Punkt erreicht. Für die Entwicklungshilfe sei es höchste Zeit, nicht nur Ackerböden, Pflanzen und Tiere zu untersuchen, sondern auch die Menschen, und darauf zu dringen, tüchtige 184

Bauern heranzuziehen. Letztlich müsse die Entwicklungshilfe der Staaten (später vielleicht sogar der „Weltstaat“) die Verantwortung für Ernährung, Gesundheit und Erziehung aller Menschen übernehmen. Solange dies nicht geschehe, werden nach den Regeln von Malthus Krieg, Hunger und Krankheit zu erdulden sein.202 Entwicklung als soziale Idee stammt zunächst von den Kolonialregierungen. Zuerst ging es um eine Infrastruktur als Voraussetzung einer florierenden Wirtschaft. Danach spielten Befürchtungen vor und nach dem Zweiten Weltkrieg eine Rolle, ohne Hebung des Lebensstandards werde es zu Aufständen kommen. Gebt uns nur die Freiheit („uhuru“), war die Parole der Entkolonialisierung, und wir werden ebenso reich und mächtig wie ihr. Es wurde eine Sprache von Rechten und Ansprüchen (bis hin zum Schuldenerlaß) gegenüber den wohlhabenden Nationen verwendet. Die Sowjetunion und die USA unterstützten sie darin gleichermaßen, beide um ihres Vorteils willen: um die Weltrevolution beziehungsweise den Weltmarkt voranzutreiben. Als jedoch am Ende des Kalten Krieges die Weltrevolution ebenso scheiterte wie der Glaube an die wundersamen Entfaltungskräfte einer freien Marktwirtschaft, konnte die häßliche Realität nicht mehr ideologisch verschleiert werden: in Schwarzafrika nur 21 Prozent freie, 48 Prozent teilweise freie und 31 Prozent unfreie Staaten. Dazu: niedrigster Lebensstandard, geringste Lebenserwartung, höchste Kriminalitätsrate, Hunger, Aids und Bürgerkrieg.203 Das soziale Hauptübel Korruption könnte nur dadurch bekämpft werden, daß die Entwicklungshilfe als Kapitalhilfe grundlegend reformiert und an rechtsstaatliche Mindeststandards bei der Wahrung von Menschenrechten gekoppelt wird. Dies erkannte schon der erste schwarzafrikanische Nobelpreisträger für Ökonomie W. Arthur Lewis (1979), der in seinem Buch „Theory of Economic Growth“ (1955) die Anhebung des niedrigen kulturellen Niveaus, weniger brüchige Verwandtschaftsbeziehungen, den Verzicht auf sozialistische Planungsmodelle und vor allem die konsequente Ausmerzung der Korruption für unerläßlich hielt. Da all das nur fromme Wünsche blieben, war die Desillusionierung der Antikolonialisten, Modernisierung und Entwicklung nach westlichen Maßstäben innerhalb einer Generation durchführen zu können, vorprogrammiert. Die Illusionen bestehen aus einem Gespinst von sich widersprechenden Aussagen: In der Bibel steht: „Seid fruchtbar und mehret euch“. Wir kümmern uns um euch mit unseren Medizinmännern. Wir sorgen dafür, daß die Kinder nicht verkümmern und ihre „Menschenwürde“ gewahrt wird. Wir fordern Menschenrechte ein und bestrafen euch, wenn ihr sie verletzt. Wir bringen mit unseren Hilfsorganisationen immer weitere Nahrung und werden euch so helfen. Gebt uns Entwicklungshilfe und teilt endlich eure geraubten Privilegien mit den armen Völkern, war die nächste Parole. Afrika hat seit den sechziger Jahren eine halbe Billion Dollar Entwicklungshilfe erhalten. Dies war viermal soviel wie für Asien. Dennoch ist das Bruttoinlandsprodukt in den meisten Regionen Afrikas immer noch an der Armutsgrenze, während das asiatische boomt. Ein symptomatisches Beispiel war, daß Zimbabwe von 1982 bis 1985 von insgesamt 1,5 Milliarden Dollar Entwicklungshilfe 1,3 Milliarden Dollar für Waffen und Munition ausgab. Dennoch gab es immer wieder

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publikumswirksame Kampagnen, die Schulden zu streichen und die Finanzhilfe zu verdoppeln. Heute sprechen viele afrikanische Politiker, Ökonomen und Intellektuelle sich generell gegen zusätzliche Kapital- und Nahrungsmittelhilfe (die meist auf Schwarzmärkten landet) aus. Diese fördern nur die Korruption und seien Ursache für eine Bürokratie, die gar kein Interesse daran habe, eine eigene Unternehmenskultur und autarke Landwirtschaft zu fördern. Statt dessen seien Technologietransfer sowie die Entwicklung einer besseren Infrastruktur notwendig. Die Politiker müssen sich um sichere Eigentumsrechte und um freie Märkte kümmern, die Korruption unter Kontrolle bringen und dafür geeignete Institutionen aufbauen. 70 Prozent der Weltgeldbeschaffung sind immer noch durch Grundeigentum besichert. Die Entwicklungsländer haben nur 10 Prozent ihres Landes für belastbares Eigentum zur Verfügung, der Rest besteht aus Besitz, in den nicht vollstreckt werden kann. Der „große Satan“ ist nicht der Westen, satanisch-verheerende Folgen haben vielmehr die fehlenden Institutionen, welche das Massenelend verursachen. Zu diesen fundamentalen Institutionen gehören Kataster und Grundbuchämter, eine an die Gesetze gebundene Polizei und unabhängige Gerichte.204 Das Wirtschaftswachstum in armen Ländern entsteht nicht in erster Linie durch Kapitalakkumulation, sondern durch Erhöhung der Produktivität. Dafür sind der Schutz des Eigentums, die Durchsetzung von Verträgen, die Schaffung von Institutionen und gute Unternehmensführung unerläßlich. Hand in Hand mit der ökonomischen Entwicklung hat der Rechtsstaat überhaupt erst die Chance, gesichert zu werden. Eine Liberalisierung der Wirtschaft ohne Institutionen ist in der Regel erfolglos. Viele Menschen in Osteuropa und Lateinamerika haben dafür einen hohen Preis zahlen müssen. Indien und China sind dagegen erfolgreich eigene Wege gegangen und werden – trotz unterschiedlicher Problemlagen – zu denen zählen, die als kontinentale Ordnungsmächte die künftige Weltordnung mitbestimmen können.

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Ausblick: Tendenzen zum „Weltstaat“ (Ernst Jünger) Es ist leichter, Tendenzen zum Weltstaat zu erkennen als Prognosen zu machen. Man braucht nur zwei oder mehr Punkte einer Entwicklungslinie (z. B. des Bevölkerungswachstums) zu betrachten und kann daraus auf Tendenzen schließen, auf etwas, das sich ausdehnt, zu etwas neigt, nach etwas strebt oder auf einen Kollaps hinzielt. Die Geschichtsphilosophie von Johann Gottfried Herder lief darauf hinaus, solche allgemeinen Tendenzen in den Metamorphosen des Weltgeistes zu erkennen. All diese Tendenzen zielen demnach auf den Gedanken einer „solidarischen Weltgemeinschaft“, auf einen „Sabbat der Geschichte“, in den die Kulturen des Mittelalters, der Renaissance und der Aufklärung münden werden. Mit welchen nihilistischen Zerstörungskräften man es seitdem zu tun hatte (Ideologien, Totalitarismus, Fundamentalismus), war für Herder nicht vorauszusehen. Er stellte auch keine konkreten Prognosen. Das änderte sich bei Nietzsche, der düster prophezeite, das Zeitalter des Nihilismus werde zweihundert Jahre dauern (also bis zum Ende des 21. Jahrhunderts).205 Die Prognose will bestimmte Ereignisse und Entwicklungen voraussagen, sie setzt die prognostische Urteilskraft voraus. Und Urteilskraft ist eine komplexe geistige Fähigkeit, vergleichbar mit Kreativität und Intuition. Sie ist gleichermaßen geistige Energie und teilnehmende Einbildungskraft und beruht auf einem allgemeinen Hintergrundwissen. Sie wirkt wie ein geistiges Immunsystem, in dem relevante (bedeutsame) und irrelevante Informationen geschieden werden können.206 Beispiele für eine prognostische Urteilskraft waren: Die Voraussage Kants, das Zeitalter der Nationalkriege in Europa werde erst zu Ende gehen, wenn alle Beteiligten wirtschaftlich völlig erschöpft und finanziell am Ende seien. Dies war leider erst am Ende des Zweiten Weltkriegs der Fall. Die Prognose Tocquevilles in seinem Buch über die Demokratie in Amerika (1835), die künftigen Pole der Weltpolitik werden Moskau und Washington sein. Die Feststellung Max Webers im Jahre 1918, ein neuer Versuch Deutschlands, Weltmacht zu werden, werde in eine Katastrophe und zum völligen Untergang führen. Im selben Jahr nahm C. G. Jung in seiner Schrift „Über das Unbewußte“ die in Deutschland drohenden Ereignisse vorweg, die sich wie ein Flächenbrand über Europa ausbreiten würden.207 Karl Jaspers erwartete bereits 1950, daß die im Warschauer Pakt zusammengeschlossenen kommunistischen Staaten keine lebendige und tragfähige politische Ordnung entwickeln können. Nach ihrem notwendigen Zusammenbruch seien „Trümmerhaufen und ratlose Menschenmassen“ zu erwarten. Ernst Jünger thematisierte seit 1930 Tendenzen, die heute als „Globalisierung“ bezeichnet werden, aber auch technische Entwicklungen, wie umfassende elektronische Archive. In seiner „Friedensschrift“, die vor dem Attentat vom 20. Juli 1944 in den Wehrmachtskreisen um Rommel in Umlauf gebracht wurde, bezeichnete er den Zweiten Weltkrieg wegen seiner gestaltbildenden Hintergründe als das erste allgemeine Werk der Menschheit. Seine Opfer müßten Brückenpfeiler für eine neue Welt sein, für die

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Vision einer globalen Weltordnung, in der die bisherigen, vom Verstand erzeugten Widersprüche geistig überwunden werden müßten. Ein neues Verhältnis zur Überlieferung müsse geschaffen werden, zur Schöpfung und zur Religion.208 Auch er sagte den Zusammenbruch der Sowjetunion in seinem Buch „An der Zeitmauer“ (1959) voraus, wobei er die Metapher vom „Kalten Krieg“ umwandelte: „Pressionen, Unterdrückung, Propaganda, Rüstungsaufwand auf Kosten der Lebenshaltung, Drohung, Panik, Unruhen erledigen einen oder mehrere Partner auf kaltem Wege und lassen sie auf kaltem Wege ausscheiden.“ Darüber hinaus gelang ihm schon damals ein umfassender ökologischer Ausblick in die Zukunft. Themen waren der Klimawechsel durch den Treibhauseffekt, die Kohlenstoffemissionen und der „Energiehunger“, die Amazonas-Abholzung, der Verlust der Artenvielfalt, die Gewässerverschmutzung, die Gentechnik und künstliche Befruchtung, wobei die Experimente die Argumente „überrollen“. Das Kleid der Erde werde dabei gehäutet. Die Prognose verglich er mit der Diagnose eines Arztes, der eine Krankheit kennen und auch die verborgenen Möglichkeiten sehen muß, die Eigenschaften, die sich noch nicht entwickelt haben. Dabei geht es nicht einfach darum, Ursache und Wirkung voraussagen zu können, sondern die formgebenden Gestalten, die in der Zukunft wirken, zu erkennen. Zu dieser Krankheit gehört, daß die Ordnung der Erde grundlegend gestört ist und wiederhergestellt werden muß. Dies könne nicht nur technisch und wissenschaftlich gedacht werden. Die Wiederherstellung der Ordnung sei nur mit der Besinnung auf das Zeitlose, das Göttliche, zu gewinnen. Die wachsende Beschleunigung, mit der Technik und Arbeit eine totale Mobilmachung der Weltressourcen und Energien erreichen, führen von den bisherigen politischen Einheiten zum Weltstaat. Man müsse sich den Ursprung der Staaten als eine Art von Auskristallisation vorstellen, zu der sich Kräfte unberührter Böden und Stämme vereinigt haben. Die Sicherheitsstrukturen durch stehende Heere seien nur durch die Tatsache bestimmt, daß es andere Staaten gibt. Die künftige Weltordnung werde darauf hinauslaufen, daß diese Organisationen sich wieder auflösen und der menschliche Organismus als das eigentlich Humane wieder hervortritt.209 Die Polis habe aber ein bestimmtes Menschenbild vorausgesetzt: ein sprach- und vernunftbegabtes politisches Lebewesen, das sich nach christlicher Auffassung sogar als Ebenbild Gottes verstanden hat. Die Tendenzen zum Weltstaat drängen jedoch zu einer neuen politischen Form, welche diese traditionellen Auffassungen verdrängt. Auch in dieser Entwicklung zu Großräumen und zur globalen Weltordnung müsse sich der Mensch auf seinen Ursprung besinnen, die Erde, er müsse sich renaturalisieren. Die Erde stelle eine natürliche Gegenkraft zur globalisierenden Technik dar. Die Besinnung müsse zurücklaufen von der Wissenschaft zur Metaphysik, zur Religiosität und zum Mythos mit seinen archetypischen Bildern. Der technologisch hochgerüstete Mensch stehe sonst hilflos seinen Affekten und den Uferlosigkeiten des rationalen „Diskurses“ gegenüber. Dabei versickern seine kulturellen und symbolischen Sinnressourcen. Er müsse im Sog des Nihilismus sein Gleichgewicht bewahren, indem er sich auf die verbliebenen Energiequellen wie Natur, Kunst, Freundschaft und Eros zurückzieht. Nur dort könne er seine Freiheit als „Anarch“ beziehungsweise „Solitär“ bewahren. 188

Zwei Jahre vor seinem hundertsten Geburtstag faßt er in dem Essay „Prognosen“ dieses Konzept für das 21. Jahrhundert noch einmal zusammen. Als „Einblick in den geistigen Stand“, den er erreicht habe, fordert er von sich eine „Fortführung der Linie Hölderlin, Schopenhauer, Nietzsche“.210 Diese Linie scheint allerdings im Hinblick auf deren anthropologische Grundlagen für das geforderte neue Politikverständnis ins Leere zu führen. Zwischen zwei Dichtern und Denkern, die an sich und der Welt zerbrochen sind, steht ein völlig unpolitischer Philosoph, ein selbstgefälliger Bourgeois und Vertreter einer pessimistischen Willensmetaphysik und fragwürdigen Mitleidsethik. Im Kontrast dazu stehen die in Kapitel I A 4.3 gezeichneten Umrißlinien einer tragfähigen Anthropologie, in der Nietzsche durch seinen Gegenpol Kierkegaard ergänzt wird. Das in Kapitel I A 7 geschilderte Grundwissen wird seit der Aufklärung auch als Weltorientierung bezeichnet. Es geht darum, wie man sich im Denken orientieren kann, um sich auch unter neuen Umständen zurechtzufinden. Jede Wissenschaft stellt für sich ein Stück Weltorientierung dar. Für Jaspers war deswegen die Weltorientierung die Schnittstelle von Wissenschaft und Existenz. Sie habe die Aufgabe, das Wissen der Wissenschaften so zu integrieren, daß es Voraussetzung existentieller (richtunggebender) Entscheidungen werden kann. Weltorientierung wird so nicht nur für die Erhellung der eigenen Existenz objektive Voraussetzung; dadurch, daß ich mich in der Welt universell orientiere, kann ich erst sinnvoll über eine weltübergreifende Transzendenz nachdenken und so für mich den Weg zur Metaphysik eröffnen. Jede Weltorientierung wird von Metaphern des Sehens bestimmt, von Blickfeld, Richtung des Blickes, Gesichtsfeld, Gesichtspunkt, Durchblick, Standpunkt, Öffnung, vor allem aber Horizont (vgl. dazu Kap. I A 7.1). Jeder Horizont schließt uns ein, er weitet sich im weiteren Ausblick, er wandert mit uns mit. Das Bestimmte, das Gegenständliche werden immer umgriffen von einem Weiteren. Dies nannte Jaspers das Umgreifende, das sich immer nur ankündigt, aber im Gegenwärtigen und in den Horizonten indirekt gegenwärtig ist. Diese Art von Weltorientierung wurde für ihn zur Grundlage einer nichtdogmatischen Logik und Anthropologie.211 Im Spannungsfeld zwischen den Polen Welt und Transzendenz sind die anthropologischen Arten des Umgreifenden als Schichten der Wirklichkeitsauffassung im vorbewußten, rationalen, geistigen und existentiellen Leben ausgerichtet. Auch die Welt ist ein Umgreifendes von Gegenstand und Horizont. Sie ist insgesamt kein Gegenstand der wissenschaftlichen Forschung, sondern nur Anstoß zur Feststellung, daß sie selbst nicht Ursprung sein kann. Sie ist nicht Experimenten zugänglich, welche die physikalisch formulierbaren und erkennbaren Anfangsbedingungen erklären und bestimmen können. Es gibt lediglich die kosmologische Einheit der Galaxien, die Grenzen (den „Ereignishorizont“) dieser Einheit und das physikalisch größtmögliche System, das Universum (mit einer unbekannten Zahl von räumlichen und zeitlichen Dimensionen). Die Welt ist deswegen nicht in sich abgeschlossener Ursprung. Dieser ist nur in einer darüber hinausgehenden Transzendenz zu finden, für die es viele Namen gibt (Gott, Götter, das Göttliche, Wirklichkeit, Sein). Aus solchen Reflexionen entstehen die Weltanschauungen und Weltbilder. Man kann nach der Weltformel suchen, oder nach der Weltseele fragen, aber auch – wie 189

Hegel – nach dem Weltgeist (der für ihn aus der Koexistenz sittlicher und geschichtlicher Gemeinschaften besteht). Die Weltanschauungen können zur Resignation tendieren und von Weltschmerz, Weltverachtung oder Weltflucht bestimmt sein. Sie können sich positiv (genährt aus der Sozialpraxis der Weltreligionen) als sozial aktive Weltfrömmigkeit äußern und bis zum Ziel der Weltverantwortung gesteigert werden. Weltverantwortung wurde zu einem neuen Begriff nach dem Zweiten Weltkrieg, als neue Dimensionen der Verantwortung aufgezwungen wurden: die gesamte Biosphäre des Planeten und die Verhinderung des Atomkriegs. Die Nächstenethik wurde so durch eine unbegrenzte Verantwortung des Einzelnen ergänzt und ein „Projekt Weltethos“ (Hans Küng) formuliert.212 In der Religionsgeschichte, die nach C. G. Jung als ein langsames Erwachen der Menschheit aus dem Unbewußten betrachtet werden kann, kam es zur Entwicklung der Weltreligionen. Diese gaben den Anstoß, von Weltgeschichte und auch Weltgesellschaft reden zu können. Zur Weltgesellschaft gehören der Weltbürger, die Weltliteratur, aber auch der Welthandel und die Weltökonomie. Mit dem Zeitalter des Kolonialismus, vor allem aber im 20. Jahrhundert, kam es zu Weltkriegen, die Anstoß für Friedenskonzepte, den ersehnten Weltfrieden, gaben. Das Konzept der Weltrevolution löste den Weltbürgerkrieg (1917 bis 1945) aus, die große Auseinandersetzung zwischen sozialistischen und bürgerlichen Gesellschaftsmodellen, die ihr Finale im Kalten Krieg fand.

Verhaltensstandards Der Weltstaat mit fest etablierten und international anerkannten Institutionen und einer entsprechenden Verfassung ist nur eine regulative Idee, welche das Handeln leiten und Zielorientierungen bieten kann. Zunächst geht es um einen Weg zu Notallianzen, der schon in den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts beschritten wurde. Notallianzen setzen voraus, daß objektive Tatsachen festgestellt werden, die es rechtfertigen, den Notstand in bestimmten Regionen auszurufen. Im Ersten Weltkrieg war dies noch reine Kriegspropaganda der Panslawisten und britischen Handelskonkurrenten gewesen. Im Zweiten Weltkrieg lagen die Dinge schon anders: War der Faschismus oder der Stalinismus der größere Notstand, der vom angelsächsischen Weltpolizisten zuerst zu bekämpfen war? Es geht beim internationalen Notstand nicht um die von C. Schmitt in seiner „Politischen Theologie“213 in den Vordergrund gestellte innenpolitische Machtfrage, wer berechtigt ist, den Ausnahmezustand festzustellen. Beim Ausnahmezustand geht es innerstaatlich um die Klärung, welche Handlungen legitim und legal sind. Die objektive Feststellung des Notstandes in einer Region läuft auf die Feststellung hinaus, daß die entsprechenden Staaten oder staatsähnlichen Gebilde nicht mehr als verantwortliche Subjekte des Völkerrechts anerkannt werden können. Hauptziel dieser Feststellung ist, die Autarkie einer Region wiederherzustellen und zu verhindern, daß andere Regionen von den desolaten Zuständen angesteckt werden. Es geht um eine Politik der Eindämmung, des „rolling back“, wie in der Strategie des Kalten Krieges.

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Handlungsfähige Völkerrechtssubjekte zeichnen sich zunächst durch ihre Autarkie aus. Sie sind ökonomisch in der Lage, ihre Bevölkerung angemessen zu ernähren und zu versorgen. Sie sind deswegen positiv in der Lage, auch anderen zu helfen, und berechtigt, Angriffe auf ihre Autarkie abzuwehren. Die Autarkie war schon das sokratische Ideal als Bedingung für die Verwirklichung von Freiheit, das von Platon übernommen wurde. Die Autarkie setzt eine funktionierende Binnenwirtschaft voraus als Grundlage, Allianzen mit anderen autarken Regionen schließen zu können. Die Autarkie liefert damit die materiellen Voraussetzungen für die rechtliche Autonomie als eigene innere Gesetzgebung, Finanzhoheit und Gerichtsbarkeit. Die staatsrechtliche Autonomie setzt die privatrechtliche voraus. Diese ist nach Kant Aufgabe und Programm jeder politischen Theorie, um sich von einer bloßen Naturtheorie befreien und gegen jede Art gesellschaftlicher Fremdbestimmung und Unterdrückung wehren zu können. Die Autonomie wird durch die Selbstbestimmung der praktischen Vernunft begründet, indem nicht nur die empirischen Erkenntnisse der Wissenschaft, sondern auch die geistigen Ideen durch die Vernunft verbunden und praxistauglich gemacht werden. Nur als Vernunftwesen hat der Mensch die Möglichkeit, seine Handlungen unabhängig von angeblichen Mechanismen der Naturkausalität frei auszuüben. „Autonomie durch Vernunft“ ist die Formel für den positiven Freiheitsbegriff. Autonomie läßt sich für Kant nur in Stufen anstreben: Die Selbstgesetzgebung der Vernunft führt zur institutionellen Selbstbestimmung in den gesellschaftlichen Bereichen wie Staat, Wirtschaft, Religionsgemeinschaft, Universität und Wissenschaft. Nur autonome Personen können Träger der staatlichen Institutionen sein, welche die drei Gewalten Gesetzgebung, Exekutive und Gerichtsbarkeit bestimmen. Nur dann beruht die Autonomie eines Staates auf dem gemeinsamen vernünftigen Willen aller Staatsbürger. Diese Idealvorstellung wird in bestimmte Zonen innerhalb des Nord-Süd-Gefälles annähernd erreicht in Nordamerika, in der vergrößerten europäischen Union und in einigen „Ablegern“ wie Australien oder Argentinien. Rußland steht in einer eigentümlichen Zwischenposition zwischen Europa und Zentral- und Ostasien. Nach dem Ende des Kalten Krieges entwarf Zbigniew Brzezinski ein strategisches Konzept für die globale Sicherheit, in welchem er vier euroasiatische Schlüsselregionen kennzeichnete, die ein transeurasisches Sicherheitssystem bilden können. Nordamerika und Europa, China und Japan, schließlich Rußland und Indien. Die Hegemonialmacht der USA sei nur so lange und mit dem Ziel zu bewahren, um auf lange Sicht die weltweite Zusammenarbeit dieser Regionen institutionalisieren zu können. Diese „Nordallianz“ hatte zunächst die Konflikte in Zentralasien einzudämmen, um zu verhindern, daß daraus ein „eurasischer Balkan“ wird. Damit würde gegenüber dem Konzept der völkerrechtlichen „Großraumordnung“ von C. Schmitt eine neue Stufe auf dem Weg zu einer neuen globalen Ordnung erreicht. Es ging nicht nur um die bisherigen imperialen Mächte und den Anspruch des Deutschen Reiches, gleichrangig ein „Interventionsverbot für raumfremde Mächte“ zu fordern.214 Angesichts der zunehmenden Anzahl von Atommächten ging es nun um ein lebensnotwendiges Sicherheitssystem zur Abwehr einer globalen, die ganze Menschheit bedrohenden Gefahr. 191

Die beschworene Nordallianz steht in Zentralasien wie im Balkan und allgemein im Nord-Süd-Gefälle dem muslimischen Gürtel gegenüber, der von Indonesien über Pakistan bis Nordafrika reicht. In seinem Brennpunkt der Konflikt um Israel. Hier besteht die Frage, mit welchen Kräften des nicht fundamentalistischen Reformislams ein Modus vivendi gefunden werden kann. Es geht weiter darum, ob die finanziellen und militärischen Mittel der USA und der NATO nicht durch die Etablierung demokratischer Regime, wie im Irak und in Afghanistan, überfordert werden. Das transeurasische Sicherheitssystem setzt voraus, daß die Notwendigkeit einer Zusammenarbeit dringender ist als die bilateralen Interessenkonflikte vor allem zwischen Rußland, China, Japan und Indien. Diese werden vor allem durch den „Energiehunger“ Chinas und der USA ausgelöst. Über die wirtschaftlichen und militärischen Interessenkonflikte hinaus geht es vor allem um den Gegensatz zwischen noch schlecht und recht funktionierenden Demokratien und einer konfuzianisch geprägten Ordnungsdespotie wie China. Der Aufstieg Asiens im allgemeinen und Chinas im besonderen wird weitergehen. Man kann sogar (mit Henry Kissinger) die Weltfinanzkrise als Hebel sehen, der die Tür zu einer neuen politischen Ordnung öffnet und China sowie Rußland in einen neuen, globalen Rahmen einfügen wird. So werden nicht nur die transatlantischen, sondern auch die transpazifischen Zweckbündnisse zwischen den Vereinigten Staaten und Ostasien zu einer Schicksalsgemeinschaft.

Kontinentale Ordnungsmächte Festzustellen ist jedoch derzeit, daß Asien zu einer praktischen Zusammenarbeit kaum fähig ist, weil die großen Mächte der Region nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges einander nicht trauen. Es gibt vor allem noch keine institutionelle Struktur und keine Regeln dafür, weil auch die intellektuellen Kapazitäten dieser Kulturen noch nicht darauf hinzielen. Der Begriff Asien wurde aus der Perspektive der europäischen Entdecker und Missionare gebildet. China als das „Reich der Mitte“ und Japan haben sich immer als gegensätzliche Kulturen empfunden. Nachdem Japan die Isolierung aufgegeben hatte und den Weg in die Moderne beschritt, war es immer besorgt, mit den als rückschrittlich empfundenen Chinesen gleichgesetzt zu werden. Vor allem nach den Siegen im Chinesisch-Japanischen und Russisch-Japanischen Krieg (1895 und 1905) verstand sich Japan als modernen und anpassungsfähigen Teil der zivilisierten Welt. Die Vorbildfunktion des Westens wurde jedoch bereits durch den Ersten Weltkrieg politisch und kulturell in Frage gestellt und Wege einer gemeinsamen „östlichen Zivilisation“ gesucht, um die vom Westen ausgelöste globale Krise zu überwinden. Ein Prüfstein dafür, ob eine Zusammenarbeit künftig gelingen wird, wird die Frage sein, wie man mit dem paranoiden und deswegen labilen System in Nordkorea umzugehen hat. Die geistigen Grundlagen Chinas wurzeln (vordergründig) im staatsbezogenen Konfuzianismus und (hintergründig) im mehr kontemplativen Daoismus: Zusammen eine

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ideale Kombination für ein adäquates Verständnis der Wirklichkeit. (Der häufig behauptete Gegensatz von Konfuzianern und Taoisten ist eher eine westliche Fiktion.) Die fünf Gebote beziehungsweise Tugenden des Konfuzianismus lauten: Achtung der Altersfolge, Höflichkeit und Erziehung zur Bescheidenheit, Verantwortung für die Gruppe und Rechtlichkeit, Menschlichkeit und Glaubwürdigkeit, Klugheit durch Verbindung der inneren Welt der Zärtlichkeit und der äußeren Konkurrenzwelt. Sie sind auf die fünf Beziehungen anzuwenden: staatliche Hierarchie, Eltern – Kinder, Mann – Frau, Alt und Jung und Freundschaft. Aus dieser vorbildlichen Ethik könnte ohne Gefahr für die staatliche Ordnung abgeleitet werden, daß Freiheitsräume für die Individuation einzugestehen sind. „Der Edle ordnet den Menschen durch den Menschen, er verändert ihn nicht, sondern bessert ihn nur.“215 Ein zusätzliches Gebot der Vernunft (welche auch den Familiengeist mit dem Volksgeist verbindet) ist der zunächst familiär und dann auch national ausgeprägte Ahnenkult (wie der Shintoismus in Japan). Mit dem Buddhismus allein, so scheint das Beispiel Burma zu zeigen (sowie das frühere, im Steinzeitfeudalismus verharrende Tibet), ist kein Staat zu machen.216 Er kann allenfalls hintergründig im Sinne einer allgemeinen Liebesethik wirken. Das fragile Gleichgewicht zwischen Konfuzianismus und Daoismus ließ sich in der neukonfuzianischen Periode des letzten Jahrtausends nur bewahren, indem der Einfluß der mächtigen buddhistischen Klöster aus China verbannt wurde. Auf den geistigen Grundlagen dieses Spannungsfelds werden die Konvergenzen für Notallianzen mit Südkorea und Japan zu suchen sein. Japan, Südkorea und China gemeinsam zeichnen sich vor allem dadurch aus, daß sie intellektuelle Einflußnahmen über Medien unter dem Deckmantel der Menschenrechtswahrung abwehren können, hinter denen sich nur zu oft kommerzielle Interessen verbergen. Vor allem aber ist dieser Raum nicht durch konfessionelle und interreligiöse Konflikte zerrissen wie der islamische. Die gesamte Kultur wird durch eine ebenso vornehme wie vorteilhafte Verachtung aller religiösen Fanatismen gestärkt. Die religiöse Grundüberzeugung der „harmonischen Gesellschaft“ läßt sich wie folgt formulieren: Die Welt sucht unaufhörlich nach ihrem Gesetz, ihrem Gleichgewicht. Es könnte ihr gegeben sein, nur der Mensch weiß es nicht. Die Welt ist nämlich ein Spiegelbild des Kosmos und dessen von einer göttlichen Kraft gelenkten Harmonie. Der Mensch ist zwar der bewußte Teil des Kosmos. Das heißt noch lange nicht: sein wissender. Erst allmählich muß der Mensch anfangen zu erkennen und diese Gesetze finden, um die Harmonie von Welt und Kosmos wiederzugewinnen. Bei allem ist die Natur eher ein getreuer Spiegel des Kosmos als der Mensch, der zu dieser Übereinstimmung erst mühsam zurückfinden muß.217 Japan und Südkorea ist es nach dem Zweiten Weltkrieg gelungen, langfristig stabile Ordnungen zu entwickeln und technologisch an der Spitze der wirtschaftlichen Entwicklung zu stehen. Beide sind autochthone und weitgehend autarke Kulturen. Schwieriger ist das Verhältnis Indiens zu diesem Kulturbereich einzuschätzen. Der polytheistische Hinduismus (einschließlich der Anbetung der Göttin Kali) scheint mit dem Konfuzianismus kaum verträglich zu sein. Bei aller vitalen und wirtschaftlichen Dynamik Indiens bleibt die schwere Hypothek von 300 Jahren Mogulherrschaft, die „Hinterlassenschaft“ von mehr als hundert Millionen Muslimen. 193

Hinzu kommt das Konfliktpotential der trotz ihrer formalen Überwindung faktisch noch bestehenden Kastengesellschaft. Die extremen sozialen Unterschiede mit über 200 Millionen unterernährten Kindern zeigen sich in einem maroden öffentlichen Bildungssystem. Darin wie Inseln erstklassige Privatschulen und Universitäten. Nur fünf Prozent der Erwerbstätigen haben eine Berufsausbildung, von den unter Dreißigjährigen nur zwei Prozent. Die drittgrößte Volkswirtschaft Asiens hat technologisch fortgeschrittene Industriezweige, leidet aber unter einer aufgeblähten und korrupten Bürokratie. Ein gemeinsamer Markt ist wegen der noch maroden Infrastruktur nur ansatzweise verwirklicht. Ob zum Beispiel eine funktionierende parlamentarische Demokratie nach westlichem Muster besteht (wie in Japan und Südkorea) oder eine konfuzianisch geprägte Ordnungsdespotie (wie in China), scheint angesichts der indischen Hypotheken weniger bedeutsam zu sein. China hat sich im letzten Jahrhundert als außerordentlich lern- und anpassungsfähiges System erwiesen. Um 1900 hatte China einen Tiefpunkt von Mißwirtschaft und Ohnmacht erreicht und war auf einen halbkolonialen Status zurückgefallen. Der bürgerliche Revolutionär Sun Jat-Sen scheiterte, und das Land versank in Bürgerkriegen, bis es Tschiang Kai-Schek erst 1928 gelang, ganz China wieder einer Regierung zu unterstellen. Er scheiterte an dem Zweifrontenkrieg gegen Maos Kommunisten und Japaner, die seit 1932 ins Land einfielen. Trotz zahlreicher Fehler und unzähliger Opfer (die Schätzungen reichen bis zu 70 Millionen Tote) gelang es Mao Tse-tung, China von Fremdherrschaft und Feudalismus zu befreien und ins Atomzeitalter zu führen. Nach den Schrecken der Kulturrevolution und der Niederschlagung der Studentenbewegung 1989 verlor die Gesellschaft dann ihre einheitliche Zielrichtung. Sie zersplitterte in kulturellen Milieus und Debatten über die vielen Widersprüchlichkeiten der Entwicklung von der Kulturrevolution bis zur kapitalistischen Gegenwart. Es handelt sich um ein Land der Widersprüche, aber auch der zukunftsträchtigen Wirtschaftsenergie. Von den westlichen Medien wird dabei der Fehler gemacht, das historische Beispiel der Sowjetunion als Folie auf China zu übertragen und dualistisch zwischen Vertretern des Staates und Dissidenten zu unterscheiden. Kritische Blogger, Journalisten und Autoren üben jedoch meist nur Kritik an einzelnen Mißständen wie der Umweltverschmutzung, ohne das System als solches in Frage zu stellen. Es geht ihnen nur darum, den Raum des Rechts und der Öffentlichkeit auszuweiten. Es gibt also keine Zweiteilung der chinesischen Gesellschaft, sondern nur unterschiedliche Zwischenstufen von Reaktionen auf sich vollziehende Veränderungen. Ein völliger Systemwechsel mit einer Ablösung der sich immer noch kommunistisch nennenden Partei wird kaum gefordert. Es gibt vielmehr unterschiedliche Stufen der Nähe und Ferne zum Staat bis hin zu reformistischen Kadern innerhalb der Partei.218 Man sollte das mit dem ökonomischen Aufstieg verbundene nationale Selbstbewußtsein nicht unterschätzen. Die auf Unkenntnis beruhenden Einflußversuche westlicher Medien führen nur zu trotziger Abgrenzung vom Westen und zur Suche nach einem eigenständigen chinesischen Weg. Für den chinesischen Modernisierungsprozeß gibt es keinen Vergleichsfall in der Geschichte. 194

Die Errichtung einer formalen Demokratie bei einer Bevölkerung von 1,2 Milliarden erscheint zwar – wie in Indien – möglich zu sein. Sie wäre jedoch auch mit vielen Reibungsverlusten und Systemnachteilen verbunden. Der bereits erwähnte „Byzantinismus gegenüber den Wählermassen“ (Jaspers) ist bei einem Volk von mehr als einer Milliarde zumindest diskussionswürdig. Es kann auch zu den Lebenslügen der westlichen Welt gehören, Demokratiemodelle lediglich deswegen exportieren zu wollen, um sich moralisch überlegen zu fühlen und damit von den Verfallserscheinungen der eigenen Gesellschaft ablenken zu können. Viel wichtiger ist es, wie hoch der (in Indien erheblich höhere) Korruptionsindex ist. Und ob es gelingt, das von der KPCh abhängige Rechtssystem unabhängiger und voraussehbarer zu machen. Ob Intellektuelle und kritische Medien toleriert, abgemahnt oder drakonisch bestraft werden, muß im eigenen Interesse an einer stabilen Gesellschaft berechenbar sein. Jedes stabile System benötigt ein „Heute so und morgen so“ (mit Betonung von „heute“ und „morgen“ und nicht von „so“!). Die immer gleichbleibende Frage bei allen „vernünftig“ erscheinenden Ordnungsdespotien ist immer: Wer wählt die Eliten aus und nach welchen Kriterien? Wer führt die Führer? Wenn die Staatselite den Anspruch erhebt, ein neues Modell der Globalisierung zu entwickeln, das auf andere Weltgegenden abfärben und ein besserer Gegenentwurf zum europäisch-amerikanischen Modell sein soll, ist das ein hoher Anspruch. Aber nach welchen Leitbegriffen soll sich dieses Modell richten, ist es der Konfuzianismus, der Nationalismus, der Kommunismus, die Demokratisierung und der Kapitalismus, und in welchem Mischungsverhältnis? Und gehören dazu nicht auch ökologische Mindeststandards? Und welche Toleranzgrenzen gibt es gegenüber afrikanischen Despotien, mit denen man ins Geschäft kommen will, indem man gemeinsame Vorurteile gegenüber einer als rechthaberisch empfundenen Menschenrechtspolitik beschwört? Gerade bei seinem augenblicklich erfolgreichen Engagement in Afrika nach dem Motto „Das größte Entwicklungsland hilft den Ärmsten“ wird China im Unruhepotential dieser Despotien, die es kurzfristig stabilisiert, noch schmerzhafte Erfahrungen mit einer ihm völlig fremden archaischen Mentalität (vgl. Kap. III B 3.2) machen müssen. China hat im Rahmen der künftigen Notallianzen den Vorteil, daß es das zentrale Bevölkerungsproblem vorbildlich für alle übrigen Regionen der Dritten und Vierten Welt gelöst hat. Es wird nicht durch eine unkontrollierte Immigration nicht integrierbarer Glaubenskämpfer geschwächt. Es ist ferner nicht derart exportabhängig wie Deutschland und Japan, sondern verfügt auch über einen robusten Binnenmarkt mit hochqualifizierten Arbeitskräften. In der Volksrepublik China gibt es 55 ethnische Minderheiten, die aber nur weniger als zehn Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen. Ferner fünf als autonom anerkannte Gebiete. Diese werden wirtschaftlich und kulturell gefördert, aber auch durch die einwandernden Han-Chinesen dominiert. Konflikte durch Korruption und Einkommensunterschiede sind daher unvermeidlich, obwohl die Zwangsassimilierung unter Mao durch eine Art konfuzianisches Familiendenken abgelöst wurde: Die HanChinesen, verkörpert durch die KPCh, bestimmen im „wohlverstandenen Interesse“ der unmündigen Kinder, welche Sitten und Gebräuche „gesund“ und förderlich sind. 195

Da der Widerstand der Tibeter und Uiguren im Ausland viel Aufmerksamkeit findet, möchte die chinesische Propaganda die Ursache der Konflikte auch gern auf das Ausland schieben. Im Selbstverständnis der Staatselite werden diese Autonomiebestrebungen als Undankbarkeit empfunden, angesichts von Schutz, Wohlstand und Sicherheit durch die chinesische Herrschaft. Bei der Auseinandersetzung zwischen Han-Chinesen und Uiguren ist es aber wenig hilfreich, nur die Menschenrechtsverletzungen der einen oder anderen Seite zu brandmarken. Vielmehr ist der langfristige historische Hintergrund solcher Auseinandersetzungen zu berücksichtigen. So zum Beispiel, daß China seit mehr als tausend Jahren Invasionen von Turkvölkern zu erleiden hatte, deren grausames Vorgehen gegen die Zivilbevölkerung selbst für asiatische Verhältnisse „Betroffenheit“ auslöste.219 Je weiter die Konflikte entfernt sind und je weniger man über die Hintergründe weiß, desto bequemer wird es, weltweit moralisierende Werturteile abzugeben – und im Gegensatz dazu den riskanten „Nahkampf“ mit den Menschenrechtsverletzungen im eigenen Land (wie Etablierung von Mafiasystemen, Unterdrückung von Musliminnen, Menschenhandel und Drogenkriminalität) tunlichst zu vermeiden. Rußlands Probleme sind die demographische Schwäche sowie die vielen offenen Flanken an den Grenzen nach Süden. Die Bevölkerung soll in jedem Jahrzehnt um zehn Millionen schrumpfen, so schnell wie in kaum einer anderen Region. Dies wird vom muslimischen Süden natürlich mit wachsendem Interesse verfolgt. Auch Rußland versucht eigennützige Fremdeinflüsse in Wirtschaft und Politik zu blockieren, wird aber auch in dieser Hinsicht wegen seiner rechtsstaatlichen Schwächen „bedrängt“. Geheimdienst und Polizei (Milizsystem) sind mehr durch ihre Verflechtungen mit den Mafiaorganisationen beschäftigt als mit der Abwehr äußerer Gefahren. Die eigene Wirtschaft wird parasitär durch Seilschaften von Mafiosi und Plutokraten geschwächt, und es gibt ein festes Tarifsystem, um Festnahmen abzuwenden, Entlassungen aus der Haft oder Verfahrenseinstellungen zu erreichen. Die Hauptprobleme Rußlands waren von jeher (so formulierte es Hannah Arendt mit kaltem Blick) „Alkoholismus und mangelnde Fachkompetenz“. Das Europa der Europäischen Union hat den Vorteil, daß es keine großen Kriege seit den Umbrüchen von 1945 und 1989 mehr erlebt hat. Aber wie Japan leidet es an der allgemeinen Depression, die für überalterte Gesellschaften mit ihren trüben Zukunftsaussichten typisch ist. Woher soll man nur die Immigranten nehmen, welche das bisherige zivilisatorische Niveau halten können und nicht drastisch absenken? Im Gegensatz zu Japan tickt hier eine Immigrationsbombe: 17 Millionen Muslime und das von ihnen ausgehende Bürgerkriegspotential. Selbst wenn nur ein Prozent der Muslime zu Gewaltanwendung neigen sollte, wäre dies ein mit rechtsstaatlichen Mitteln nur schwer einzudämmendes Potential. Insoweit müßten neue Mittel und Wege ersonnen werden, um diese Gefahr zu bannen. Ein Beispiel hierfür wäre eine Verpflichtungserklärung gegenüber den Gastländern, alle Grundrechte der Verfassungen zu respektieren und nicht „Partizipation“ statt Integration zu verlangen, solange diese Vertrauensbasis nicht gegeben ist. Ob der europäische Einigungsprozeß Vorbild für andere Kontinente sein könnte, ist angesichts der Euro-Krise fraglich geworden.220 Er setzt kohärente Nationalkulturen 196

und nicht Stammesaggregate voraus. Durch den Lissabon-Vertrag wird die Europäische Union zu einem – historisch einmaligen – Staatenverbund zwischen bloßem Staatenbund und Bundesstaat. Der EU-Vertrag garantiert die nationale Identität der Mitgliedstaaten. Es handelt sich dabei um eine demokratisch legitimierte Verbundenheit selbständig bleibender Staaten, welche der Integration Grenzen setzt. Nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges bestimmte das Streben nach freiheitlichen Systemen, demokratischer Selbstbestimmung, staatlicher Eigenständigkeit und einer über den Kontinent hinausreichenden Friedenspolitik die Grundlinien des Rechtsdenkens. Das europäische Recht ist nicht fremdes Recht, sondern gemeinsames Recht, und verbietet es, daß ein Staatsvolk fremdbestimmt wird. Durch die Gerichte wird geprüft, ob Unionsorgane sich Kompetenzen zusprechen, die ihnen nicht zustehen. Die Europäische Union entwickelt so ein neues Element der Gewaltenteilung, bei der Teile der Hoheitsgewalt auf die Europäische Union übertragen werden. Diese Gewaltenteilung gibt es auch zwischen den Gerichtsbarkeiten, den nationalen Verfassungsgerichten und dem Europäischen Gerichtshof. Die einen haben Verantwortung für das Verfassungsrecht in ihrem Land, der Europäische Gerichtshof hat Verantwortung für die Auslegung des Unionsrechts mit Wirkung für alle Mitgliedstaaten.221 Bei den USA bleibt abzuwarten, ob der große Crash von 2008 tatsächlich reguliert werden kann, ohne daß neue Spekulationsblasen von den dafür verantwortlichen privaten Kapitaleignern ausgelöst werden. Ob nicht der Hypotheken- und Bankenkrise eine Kreditkartenkrise und dann noch eine Insolvenzkrise der Produktionsbetriebe folgen wird. Der „Drang“ der Superreichen, ihre Dollarbillionen ohne Rücksicht auf die Entwicklung der Realwirtschaft zu vermehren, die Abhängigkeit von Kapitalimporten, die schwächelnde Industrieproduktion werden auch in Zukunft der große Systemnachteil der USA bleiben. Trotz aller Interessengegensätze verstärkt sich der Zwang zu einer Allianz nicht nur durch die Konfliktherde in Zentralasien und dem islamischen Gürtel, sondern allgemein durch die Konflikte, die aus den Elendszonen mit Bevölkerungsexplosion seit mehr als hundert Jahren exportiert werden. Hier gibt es nicht nur die Überbevölkerungskriege, wie in Ruanda. Es gibt auch Banditen- und Piratenkriege, wie in Somalia, und Boden- und Wasserverteilungskriege, wie im Sudan. Bevölkerungsexplosion und Klimakriege, archaischer Fundamentalismus einerseits und afrikanischer Aberglaube andererseits bilden insgesamt ein explosives Gemisch, das ausreichend Druck und Anreiz für die Zusammenarbeit einer „Nordallianz“ liefern wird. Tatbestände für den Eintritt des Bündnisfalles gibt es genug: unkontrollierte Wanderungsbewegungen, welche die Frage auslösen, wieweit sich noch halbwegs funktionierende Staaten von Chaos und Elend infizieren lassen; ob man in Gebiete, in denen sich nicht nur die Bevölkerung, sondern auch die Zahl der Selbstmordattentäter gegen den „großen Satan“, den Westen, in einem Vierteljahrhundert verdoppelt, unkontrolliert Nahrungsmittel- und Finanzhilfen leiten und zusätzlich für entführte Helfer auch noch Lösegelder aus Steuermitteln zahlen soll. Ob nicht vielmehr der Grundsatz gelten sollte: Die Übel da lassen, wo sie sind, und nicht über die Welt verbreiten. Weitere Bündnisfälle sind ausufernde Mafiasysteme und paranoide Herrscher, bei denen die Grenze von der Neurose zur Psychose eindeutig überschritten wurde.222 197

Verfassungen des „Weltstaats“ Der von Ernst Jünger in seinen sich abzeichnenden Tendenzen beschriebene Weltstaat des 21. Jahrhundert ist lediglich eine handlungsleitende Idee, welche die Zielrichtung dieser Tendenzen berücksichtigen soll. Ein Weltstaat mit festen Institutionen und einer Verfassungsurkunde ist nicht nur ein unerreichbares Ideal, er wäre auch nicht wünschenswert. Die Weltverfassung muß sich vielmehr fragmentarisch (d. h. pragmatisch an bestimmten Notständen orientiert) entwickeln. Solche Notstände sind Überbevölkerung und Klimakatastrophen, scheiternde Staaten, Wirtschaftsflüchtlinge, Terroristen und Mafiasysteme. Die weltrechtlichen Grundeinheiten sind immer noch Staaten, sofern sie annähernd als Ordnungen bezeichnet werden können, die ihre Hauptaufgaben erfüllen können: wirtschaftliche Grundsicherung sowie äußere und innere Sicherheit. Die Weltverfassung muß also mehrgliedrig sein. Sie reicht von den kleinsten Einheiten funktionierender Staaten über Großräume, die – mit oder ohne die Verfassungen von Bündnisorganisationen – zusammenarbeiten wie Nordamerika und Europa. Die nächste Stufe ist das Völkerrecht, mit dem zum Beispiel Angriffskriege und Genozide geächtet und geahndet werden. Staats- und Völkerrecht können nicht einfach durch ein Weltrecht ersetzt werden. Erst auf dieser mehrstufigen Grundlage können die Allianzen von Großräumen zu neuen Institutionen kommen, insbesondere zu Verfahren für die Streitbeilegung und einer fallbezogen beschränkten Weltgerichtsbarkeit für Kriegsverbrechen und Völkermorde. Der Ausbau dieser institutionellen Verfahren könnte zunächst über eine Weiterentwicklung der Vereinten Nationen erfolgen. Voraussetzung ist, daß eine Hegemonialmacht wie die USA bereit ist, ihre Privilegien zurückzustellen und die Zuständigkeit übernationaler Gerichtsbarkeiten anzuerkennen. Über eine Weltfriedensverfassung hinaus betreffen die Tendenzen zum mehrgliedrigen Weltstaat die Weltwirtschaft durch Vereinbarungen, die auf eine Welthandelsordnung und Weltarbeitsverfassung mit internationalen Arbeitsorganisationen zielen. Letzteres wäre bedeutsam, um eine Aushöhlung des Asylrechts durch die Millionenströme von Wirtschaftsflüchtlingen zu verhindern. Bei allem geht es um separate Teilverfassungen, die auch in ihrer Addition nicht zu einer kohärenten Weltverfassung führen können. Die Teilverfassungen betreffen Zweckverbände, die auch mit Nichtregierungsorganisationen zusammenarbeiten können und müssen. Gerade das Interesse der demokratischen Regionen an der Erhaltung ihrer politischen Kultur verbietet jede Idee einer verfaßten Weltrepublik. Es geht vielmehr um die alte Idee eines Völkerbundes, wie er nach dem Ersten Weltkrieg von Präsident Wilson ins Leben gerufen wurde. Der Völkerbund bot damals eine europäische Alternative zum panamerikanischen System, das von den USA dominiert wurde. Er scheiterte, weil er zu sehr als Interessenvertretung der Siegermächte verstanden wurde und auch so auftrat. Nach seinem Scheitern sollte die UNESCO zwischen der Ersten und der Dritten Welt vermitteln. Bei den künftigen Notallianzen wird es also immer darum gehen, neue, den Herausforderungen angepaßte transnationale Netzwerke zu knüpfen, ohne

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damit „globale“ Ansprüche zu verbinden oder gar eine neue „Internationale“ gründen zu wollen. Der Verzicht auf das vage Versprechen eines Weltverfassungsrechts ermöglicht erst, daß die demokratischen und stabilen Regionen trotz all ihrer Mängel als Ordnungsmodelle vorbildlich bleiben und zur Nachahmung in den Katastrophengebieten dienen können.223 Handlungsleitendes Ziel müßte dabei sein, überlebensfähige Ordnungsinseln in den Elendsgebieten der scheiternden Staaten zu unterstützen und dafür die vorhandenen Ressourcen rational und verhältnismäßig einzusetzen: selbstorganisierte, wirtschaftlich autarke und politisch autonome Ordnungen.

Die Mentalitätsschichten der Pädagogik Dafür braucht man keine „Regeln für den Menschenpark“, keine Übermenschen im Sinne Nietzsches oder philosophische „Klein- oder Großzüchter“.224 Am Anfang stehen die Persönlichkeiten, die Ordnungen tragen können, die Normalmenschen, die zur Vernunft gelangt sind. Die Konzepte für eine vernünftige Anthropologie als Grundlage einer angemessenen Pädagogik, welche alle psychischen Phänomene und Potenzen des Menschen (für die persönliche „Verfassung“) berücksichtigt, liegen längst vor. Die fatalistische Haltung gegenüber dem „Rad der Wiedergeburten“, der „ewigen Wiederkehr“ von Ordnung, Krise und Zusammenbruch, ist in der Regel nur das Ergebnis einer fragmentarischen Anthropologie und einer schwarzen – Neurosen und Psychosen erzeugenden – Pädagogik. Deswegen bedarf es wieder einer Besinnung auf die Stufen der Pädagogik: von der fachlichen Ausbildung zur Allgemeinbildung und von der Allgemeinbildung zur Autonomie, zur Selbstbildung. Mit einer ganzheitlichen Anthropologie, welche alle psychischen Grundfunktionen berücksichtigt, werden auch alle Kompetenzen erfaßt, auf die sich eine adäquate Pädagogik beziehen muß. Der Erziehungspsychologe Lawrence Kohlberg unterschied sechs Stufen von Erziehungszielen: 1. einfacher Gehorsam, um Strafe zu vermeiden; 2. Konformität gegenüber der Gruppe, um Belohnungen zu erhalten und Gefälligkeiten zu erwidern; 3. Konformität, um Abneigung und Zurückweisung durch andere Gruppenmitglieder zu vermeiden; 4. Orientierung an objektiven Pflichten der Gemeinschaft, die auch subjektiv anerkannt werden, und Konformität, um eine Störung der Ordnung durch Pflichtverletzungen und daraus resultierende Schuldgefühle zu vermeiden; 5. die an Gesetzen orientierte Haltung, den Wert von Abmachungen zu erkennen und sie im Interesse des Gemeinwohls rechtsschöpferisch weiterzuentwickeln; 6. schließlich die Befolgung von selbstgewählten Prinzipien, um sich an seinem Gewissen zu orientieren und Gesetze daraufhin zu überprüfen, ob sie mehr schaden als nützen.225

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Es ist offensichtlich, daß diese Stufen der Erziehung mit den religiösen und kulturellen Mentalitätsschichten in Beziehung stehen (Kap. I B 2.1). Beide müssen im Zusammenhang gesehen werden, um sich in sozialen Konflikten und bei der Individualtherapie orientieren zu können. Das allgemeine Ziel jeder Pädagogik müßte sein, in beiden Stufensystemen das Niveau anzuheben. Auf einer Weltkarte mit diesen Unterscheidungen würden wohl nur die funktionierenden Demokratien einen Spitzenrang einnehmen. Den Mentalitätsschichten entspricht die Stufentheorie der kognitiven Entwicklung des Pädagogen Jean Piaget, wonach Ideen, Begriffe und Konzepte nur Schritt für Schritt vom kindlichen Geist aufgenommen werden können. Die Entwicklungsphase, in der die wesentlichen Hirnstrukturen nicht nur für die sensorischen und motorischen Funktionen, sondern auch für die sozialen Fähigkeiten ausgebildet werden, dauert etwa bis zum 20. Lebensjahr. Wer bis dahin nicht das Glück hatte, in einem Erziehungsmilieu aufzuwachsen, das alle Stufen des Kohlberg’schen Modells berücksichtigt, bleibt in einer früheren (magischen, dogmatischen oder am kollektiven Unbewußten orientierten) Mentalitätsschicht stecken. Nach dieser Altersphase ist es allenfalls noch möglich, die aufgebauten Strukturen zu modifizieren und effizienter zu machen.226 Erziehung ist Schwerarbeit, die Anhebung des Niveaus von Stufe zu Stufe. So wie es der Pädagoge Wilhelm Busch in Verse setzte: Tugend will, man soll sie holen / Ungern ist sie gegenwärtig / Laster ist auch unbefohlen / Dienstbereit und fix und fertig / Gute Tiere, spricht der Weise / Mußt du züchten, mußt du kaufen / Doch die Ratten und die Mäuse / Kommen ganz von selbst gelaufen.

Metaphysik und Religionsfriede Kennzeichen einer schwarzen, auf den untersten Stufen dieser Skala verharrenden Pädagogik ist auch, daß der Zusammenhang von Menschenbild und Gottesbild nicht erkannt und der Mensch deswegen grundlegend verstört (ver-rückt) wird. In diesem hintergründigen Sinn gibt es tatsächlich die Gottesebenbildlichkeit des Menschen: Der Mensch gleicht dem Bild, das er sich von der Wirklichkeit Gottes macht. Erst wenn im Menschenbild alle psychischen Grundfunktionen berücksichtigt werden, erscheint die Wirklichkeit, die hinter den vielen Namen für die Transzendenz (Gott, das Göttliche, die Götter oder „Mächte“, das Sein, die Wirklichkeit) und den vielen Gottesbildern sich verbirgt. Darauf zielt der von Jaspers beschriebene „philosophische Glaube“, der aus Reflexionen über das „metaphysische Dreieck“ (Mensch, Welt und Transzendenz) entsteht. Der philosophische Glaube muß sich aus der Erkenntnis heraus entwickeln, daß die Welt mit ihren mehr als vier Dimensionen und ihren mindestens fünf Kausalitätsformen eine viel zu verwickelte Angelegenheit ist, um abschließende Weltbilder definieren zu können. Die Welt läßt viel Raum für zusätzliche Raum- und Zeitdimensionen, für „hintergründige“ Wirkzusammenhänge. Die philosophische Reflexion bezieht sich vor allem auf das „anthropische Prinzip“, auf die vielen Zufälle der mit größter Genauigkeit aufeinander abgestimmten Naturkonstanten, welche menschliches Leben erst ermöglichten.

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Eine dem Wissen seiner Zeit angemessen differenzierte Logik und Anthropologie waren für Jaspers Grundlage einer im 20. Jahrhundert möglichen Metaphysik und eines spezifisch philosophischen Glaubens. Der philosophische Glaube wurde erstmals 1935 in „Vernunft und Existenz“ angesprochen, ausführlicher in einem für ein breiteres Publikum bestimmten Buch von 1948 („Der philosophische Glaube“) und abschließend im letzten philosophischen Hauptwerk von 1962 („Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung“) ausgearbeitet. Es wäre ein wichtiger Praxistest für eine brauchbare Logik, sie darauf zu testen, inwieweit sie geeignet ist, den Dialog mit den Offenbarungsreligionen führen und Religionskriegen entgegenwirken zu können. Jaspers’ Projekt des philosophischen Glaubens wurde von Theologen als rationalistisch, als bloße Abstraktion abgewertet. Dabei wurde ihre Bedeutung für den interreligiösen Dialog übersehen. Hans Küng hat zwar die zutreffende Formel aufgestellt: Ohne Religionsfriede kein Weltfriede. Er hat aber wenig dazu gesagt, auf welchen logischen Grundlagen dieser Dialog über ein „Weltethos“, das heißt über die friedenstiftenden Aspekte der Religionen, geführt werden soll. Es müßte sich um die anthropologische Dimension der Kommunikation handeln, welche das religiöse und existentielle Verhalten des Menschen betrifft. Die Begriffsbildung „philosophischer Glaube“ wurde von vielen Philosophen als ärgerlich empfunden. Für das postmoderne Gemüt wäre es vielleicht eingängiger gewesen, von „freiem Glauben“ zu sprechen. Es ging aber Jaspers darum, durch philosophische Reflexion den Gegensatz zwischen bloßem Unglauben und Glauben auszugleichen. So äußerte sich Goethe herablassend: „Wer Kunst und Wissenschaft besitzt, der hat auch Religion. Wer aber beides nicht besitzt, der habe Religion.“ Goethe wurde nachgesagt, daß er als Naturforscher Pantheist, als Künstler Polytheist und als Mensch Monotheist gewesen sei. Mit dieser Spaltung kann man langfristig nicht leben. Man kann auch nicht – wie Nietzsche – den Glauben auf bloße Fiktion, auf die Bereitschaft reduzieren, sich für seine Meinung verbrennen zu lassen („Wir sind uns da unserer Meinung nicht mehr so sicher“). Offenbarungsglaube und Aberglaube sind, wie es Tocqueville einmal formuliert hat, Meinungen, die falsch, aber einfach sind. Sie werden sich eher durchsetzen als solche, die richtig, aber kompliziert sind. Letztlich ist auch der Offenbarungsglaube nur eine Erscheinungsform des Willens zur Macht im Sinne Nietzsches. Die Geburt des persönlichen Universalgottes, der auch die Feinde beherrscht und durch Magie (Gebet, Beschwörung und Vertragsschluß) beeinflußbar ist, erfolgte aus dem Geist der orientalischen Despotie und diese wieder aus dem „Geist“ der Bevölkerungsexplosion. Diese Gottesbilder können für uns nur noch historische Chiffren der Transzendenz sein. Der philosophische Glaube läuft letztlich darauf hinaus, sich davon ohne den Furor des bilderstürmenden Atheismus zu befreien. Nietzsches Feststellung „Noch haben wir keine Menschheit“ deutet auf eine zweite Achsenzeit (nach der von Jaspers beschriebenen im ersten vorchristlichen Jahrtausend). Die Gebote der einzelnen Religionen und das Naturrecht müßten dafür durch allgemeine Kultur- und Menschenrechte abgelöst werden. Beim philosophischen Glauben geht es nicht um die Überwindung persönlicher Krisen, sondern um das weitergehende Projekt einer Weltphilosophie. Sie müßte die Aufgabe erfüllen, in einer universalen 201

Kommunikation andere Philosophien und deren Gesamtkultur zu verstehen, sich kritisch mit ihnen auseinanderzusetzen und, wo es möglich ist, sie zu übernehmen. Für Jaspers gab es viele Weltgeschichten der Philosophie: die der Epochen und Strömungen, die der philosophischen Probleme, die der Beziehungen zu anderen geistigen Mächten, wie der Sprache, dem Mythos, der Religion, der Kunst und der Wissenschaft; ferner die Geschichte der Wirkung und Verwirklichung der Philosophie in der Lebenspraxis und die Geschichte der bloßen Polemiken und gelungenen Kommunikationen. Die Weltgeschichte der Philosophie hat alle diese Geschichten in einer Synopsis zusammenzufassen. Ohne Transformation des Offenbarungsglaubens und der früheren religiösen Mentalitätsschichten kann es keine alle Menschen verbindende Wahrheit geben.227 Diese Transformation der biblischen und der anderen Religionen ist nicht mehr von Propheten, Führern, Heroen und Gründern (den „religiösen Virtuosen“ – Max Weber) durchzuführen, sondern von allen Menschen, welche heute die interkulturelle Kommunikation tragen.228 Glaube und Wissen sind kognitive Einstellungen. Das Wissen beruht auf kognitiven Akten, die zu überprüfbaren Wahrheiten führen sollen. Der Glaube zielt dagegen auf eine Gewißheit, die für eine verantwortliche Lebensführung notwendig zu sein scheint. Dazu gehört ein Lebensgefühl, das uns durch unsere Umwelt geschenkt werden muß: Grundvertrauen und das Gefühl einer Geborgenheit, die durch keine Veränderung von Tatsachen berührt wird. Dazu kann auch der Dank gehören, daß Freiheitsräume vermittelt wurden, die zwar nicht eindeutig im Sinne einer Ursachenkette feststellbar sind, denen man sich jedoch „verdankt“. Auch Aufgaben (im doppelten Sinn des Wortes) sind Gaben. All dies kann als Chiffren der Transzendenz erfahren werden. Der Glaube wird dadurch zum höchsten Lebensziel: die (einseitige) Aussöhnung mit der Wirklichkeit, hinter welcher der deus absconditus steht (und nicht die Versöhnung als anmaßendes „zweiseitiges Rechtsgeschäft“). Diese beiden Worte, Aussöhnung und Versöhnung, sind von Sühne abgeleitet. Dieser Grundgedanke wurde mit dem Satz des Anaximander (der auch den von Jaspers in seiner Logik aufgegriffenen Terminus des Unbegrenzten, apeiron, einführte) am Anfang der griechischen Philosophie zum Ausdruck gebracht: „Woraus aber die Dinge ihre Entstehung haben, darein finde auch ihr Untergang statt, gemäß der Schuldigkeit. Denn sie leisteten einander Sühne und Buße für ihre Ungerechtigkeit, gemäß der Verordnung der Zeit.“ Das Unterliegende dem Überlebenden und dieses wieder, untergehend, dem künftig Entstehenden.229 Glaube ist demnach mehr als eine bloße Vermutung. Er wird zu einer Gewißheit, die sich über die Menschen hinaus auf das Ganze der Wirklichkeit bezieht: auf das metaphysische Dreieck Mensch (mit seinen psychischen Realitäten von Vorbewußtem, Bewußtsein und Geist), Welt (als Realität der Umwelt) und Transzendenz. Durch dieses Dreieck werden ganz neue Felder als Freiräume für Denken und Handeln eröffnet; im Gegensatz zu den Einengungen bloßer Bewußtseinsphilosophie und den Zwängen der Daseinskämpfe unter Menschen und mit der Natur. In diesen Freiräumen werden alle Wahrscheinlichkeitskriterien sinnlos, alle Fragen, ob der Glaube ein bloßer Kompromiß zwischen Gewißheit und Zweifel ist. Das Ganze der Wirklichkeit ist kein möglicher Gegenstand unseres Wissens und Vorstellens, denn 202

solche kognitiven Einstellungen sind selbst Teil dieses Ganzen. Die Glaubensgewißheit ist Religiosität (pistis), und nicht Religion (doxa). Der Schatten des Zweifels gehört zum Glauben, ohne ihn würde er zum Dogma.230 Jaspers ging von fünf Sätzen des Glaubens aus, denen er die Artikulation des Unglaubens entgegensetzte.231 Daraus ergibt sich einerseits ein Spannungsverhältnis zwischen Philosophie und Theologie, andererseits aber auch eine gemeinsame Grundlage als Leitlinie, welche einen Dialog tragen könnte. Diese fünf Sätze lauten: 1. Gott ist. – Es ist kein Gott, denn es gibt nur die Welt und die Regeln ihres Geschehens; die Welt ist Gott. Unter „Gott“ ist hier nicht der sich persönlich offenbarende Gott zu verstehen, sondern nur einer der vielen Namen und Bilder für die hintergründige und vieldimensionale Wirklichkeit. Wirklichkeit ist das, was wirkt. Sie ist die Einheit aller Ursprünge der Schöpfung. Philosophische Namen dafür sind Transzendenz, Sein, das Eine, das Absolute, der Grund, der Ursprung; theologische dagegen Gott, die Götter, die „Mächte“ oder das Göttliche. Der Sprung von der Realität zur Transzendenz wird mit der deutschen Vorsilbe „über“ angedeutet: Transzendenz ist das Überendliche, Überzeitliche, Überirdische, Übermächtige, das Überleben, auch das Überlegen. Das Wort „überlegen“ ist doppelsinnig: Als Adverb betrifft es die Wirklichkeit, als Verb die Reflexion darüber. Auch die theologischen Gottesvorstellungen sind vielfältig und widersprüchlich. Für den Pantheismus ist die Welt in ihrer Ganzheit zugleich Gott, alles ist Gott, und Gott ist alles. Für den Theismus steht der persönliche (und sich offenbarende) Gott der Welt als seiner Schöpfung gegenüber, die er lenkt und in die er eingreift. Für den Deismus ist Gott außerhalb der Welt, er hat sie zwar geschaffen, aber kümmert sich nicht weiter um sie. Da kann man Gott einen „guten Mann sein lassen“. Die Welt ist auf ihre „Selbstorganisation“ angewiesen. Deismus und Theismus gemeinsam sind die Chiffren: der eine, alles umfassende Gott; der persönliche Gott, mit dem man (betend) kommunizieren kann; und „Gott ist Mensch geworden“ (oder der Mensch ist Gott geworden). Für den Panentheismus steht Gott außerhalb der Welt, er wirkt aber und zeigt sich außerhalb und innerhalb zugleich, er ist „immanente Transzendenz“. Die Pantheisten denken monistisch und werfen den Theisten und Deisten ihren Dualismus, die Trennung von Gott und Welt, vor. Der Panentheismus will demgegenüber eine Synthese von Monismus und Dualismus anbieten.232 Für Jaspers sind all diese widersprüchlichen theologischen Aussagen nur verschiedene „Chiffren“ der Transzendenz. Aufgabe der Philosophie sei es, all diese Chiffren in den hier genannten Grundaussagen des philosophischen Glaubens zusammenzufassen. Was für einen Gott der Mensch in den Chiffren sieht, das wird der Mensch selber. Die Gottesvorstellungen, die anthropomorph sind, und die Menschen, die theomorph sind, gehören zusammen. Der persönliche Gott führte auch zur Steigerung des Persönlichkeitsgedankens in der Geschichte. Dies war ein Gegenpol zu den kollektiven anonymen Kräften und Mächten, die als Gesellschaftszustände, Staatsordnungen, Zufälle oder soziologische Gesetze, als Bedingungen menschlicher Existenz, postuliert wur-

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den.233 Die Chiffrensprache ist eine Sprache der Wirklichkeit, die zugleich erscheint und verbirgt, weil ihre Sprache nicht eindeutig, sondern vieldeutig ist. Zeichen haben eine bestimmte, Symbole eine komplexe (hintergründige) Bedeutung. Sie können zu Chiffren werden, wenn sie auf Transzendenz verweisen. Dann sind Chiffren lediglich persönlich ausgelegte oder erfahrene Spuren der Transzendenz. Die Chiffrenlehre von Jaspers steht zwischen Offenbarungsglauben und den Immanenzlehren des Unglaubens. Die Chiffre ist das „mittlere Fahrzeug“. Auf diesem mittleren Weg wird Transzendenz nicht unmittelbar gesehen oder erlebt, es werden lediglich chiffrierte Spuren gelesen.234 Gott kann auch allgemein als das verstanden werden, was das Leben trägt. Der Götze im theologischen und politischen Sinn verspricht nur das Leben, bringt aber den Tod. Stalin, Hitler und Pol Pot waren Beispiele des 20. Jahrhunderts für solche Götzen. 2. Es gibt die unbedingte Forderung. – Es gibt kein Unbedingtes, denn die Forderungen, denen ich folge, sind entstanden und wandeln sich. Sie sind bedingt durch Gewohnheit, Übung, Überlieferung, Gehorsam; alles steht unter Bedingungen im Endlosen. Diese sich gegenüberstehenden Thesen betreffen die Frage, ob man ein Gewissen und absolute Forderungen (wie die Zehn Gebote oder grundlegende Menschenrechte) anerkennen will. Wer unbedingte Forderungen als bloßes metaphysisches Konstrukt bezeichnet, dürfte verkennen, daß es sich dabei um psychische und historische Realitäten handelt, welche die Religions- und Völkergeschichte bestimmten. 3. Der Mensch ist endlich und unvollendbar. – Es gibt den vollendeten Menschen, denn der Mensch kann ein so wohlgeratenes Wesen sein wie das Tier; man wird ihn züchten können. Es gibt keine grundsätzliche Unvollendung, kein Brüchigsein des Menschen im Grunde. Der Mensch ist kein Zwischensein, sondern fertig und ganz. Wohl ist er wie alles in der Welt vergänglich, aber er ist eigengegründet, selbständig, sich genug in seiner Welt. 4. Der Mensch kann in Führung durch Gott leben. – Es gibt keine Führung durch Gott; diese Führung ist eine Illusion und Selbsttäuschung. Der Mensch hat die Kraft, sich selbst zu folgen, und kann sich auf die eigene Kraft verlassen. 5. Die Realität der Welt hat ein verschwindendes Dasein zwischen Gott und Existenz. – Die Welt ist alles, ihre Realität ist die einzige und eigentliche Wirklichkeit. Da es keine Transzendenz gibt, ist zwar in der Welt alles vergänglich, die Welt selbst aber absolut, ewig nichtverschwindend, kein schwebendes Übergangssein. Der letzte Satz des philosophischen Glaubens artikuliert mit besonderer Radikalität die Reflexionen über die Hintergründe der Transzendenz, über den Unterschied zwischen vordergründiger Realität und hintergründiger Wirklichkeit. „Von Gott will ich nicht lassen, denn er läßt nicht von mir.“ Im Sinne dieses Kirchenliedes nannte C. G. Jung innerhalb der Beziehung von Existenz und Gott das Gebet die Gleichung zweier Unbekannten (für Kierkegaard war beten wie atmen). Es sei nötig, „weil es das vermutete und gedachte Jenseitige unmittelbar wirklich macht und einen in die Zweiheit des Ich und des dunklen Gegenüber stellt … ich gehe nicht unter unter den Willen Gottes, es sei denn, daß ich es selber auch will … Man kann Gott an nichts erinnern und ihm nichts vorschreiben, außer wenn er versucht, uns etwas aufzuzwingen, das menschliche 204

Beschränkung nicht ertragen kann … Ich glaube … wenn Gott uns als Regulatoren seiner Inkarnation und seines Bewußtwerdens nötig hat, so ist es darum, daß er in seiner Unbeschränktheit über alle Schranken hinweggeht, die für das Bewußtwerden nötig sind. Bewußtwerden … ist fortschreitende Konzentration. Das Innerste selbst jedes Menschen und Tieres, der Pflanzen und Kristalle ist Gott, aber unendlich vermindert und seiner schließlichen individuellen Gestalt angeglichen. In Annäherung an den Menschen ist er darum auch ‚persönlich‘ wie ein antiker Gott, darum menschenähnlich …“235 Im Gegensatz dazu steht der naive Glaube des Alltagsbewußtseins, des „Weltkindes“ an die Vordergründigkeit reiner Immanenz. Die Welt ist ihm alles und gut genug. Darin sind sich Positivisten und Naturalisten, Atheisten und Nihilisten sowie alle Vertreter des vorwissenschaftlichen und wissenschaftlichen Aberglaubens einig. Letztlich verlagern sie die für unser Seinsbewußtsein wesentliche Unterscheidung zwischen Immanenz und Transzendenz einfach in die Welt hinein. In einer Reise ohne Ziel und Ende geht das Weltkind dann unermüdlich alles durch, was Ursprung sein könnte: Natur, Gesetz, Materie-Energie, Information, das Schöpferische im Lebendigen oder im Geist des Menschen. Wo das Wissen einer Wissenschaft endet, wird nicht das Umgreifende bedacht, welches Forschungsgegenstand und Horizont umschließt. Statt dessen reicht jede Wissenschaft ihr ungelöstes Problem an eine andere weiter: die psychologische Erkenntnislehre an die Neurophysiologie, diese an die Evolutionstheorie, diese an die Chemie, die Chemie an die Physik, an Mathematik und Wissenschaftstheorie, und diese schließlich wieder an die Neurowissenschaft, die sich heute als prima philosophia gebärdet. Es öffnen sich immer nur Türen aus dem Raum einer Wissenschaft, die in ein anderes Zimmer führen; keine führt aus dem Haus. Man bleibt im Gehäuse eingesperrt und gelangt nicht ins Freie.236 Der amerikanische Philosoph Charles Taylor nennt dieses Labyrinth, in dem das Weltkind herumirrt, ironisch die „Selbstverständlichkeit der abgeschlossenen Perspektive“. Sie läßt für das Vertikale oder Transzendente keinen Platz, sondern schließt es als unzugänglich oder undenkbar aus. Die mit der Geschichte des Positivismus zusammenhängende Säkularisierung sei so eine „Subtraktionsgeschichte“: das Wenigerwerden von Glaube, Metaphysik und „Spiritualität“ (ein angelsächsisches Modewort), bis endlich der strahlende Kern des Aufgeklärt-Säkularen hervortritt. Die Rationalitätsgewinne sieht er so eher als Verlustgeschäft. Odo Marquard nannte das „Schwundstufen“ der Metaphysik.237 Die gesellschaftliche Wirklichkeit sieht für Taylor heute so aus, daß immer mehr Menschen im Laufe ihres Lebens ihre Position verändern („konvertieren“). Die Zahl der Positionswechsel im Laufe eines Lebens und von einer Generation zur nächsten nimmt zu. Der Glaube, der aus dieser prekären Gegenwart hervorgeht, ist für ihn stärker, weil er sich den Alternativen stellen muß.238 Hinter den von Jaspers formulierten Sätzen des Unglaubens (vor allem Ziffer 3 und 4) erscheint so etwas wie die hintergründige Ironie eines erfahrenen Psychiaters, dessen Resümee vor allem auf eine Feststellung hinausläuft: Die Aussagen des forcierten Unglaubens (sofern er sich überhaupt artikuliert und nicht nebulös bleibt) sind wesentlich dogmatischer und „beschränkter“ als die des philosophischen Glaubens. Er unterschied den passiven Agnostiker, der gleichgültig vor dem Nicht-Wißbaren steht und sich mit 205

einer vagen „unsichtbaren Religion“ begnügt. Alle unbedingten Forderungen sind ihm gleich-gültig, und er läßt den lieben Gott einen guten Mann sein. Verdient er sein täglich Brot als Sprachphilosoph, begnügt er sich damit, als Kleingärtner hochzufrieden sein Beet von allem metaphysischen Unkraut analytisch freizujäten, und dünkt sich damit allen Laien überlegen – auch wenn da schon lange nichts Nahrhaftes (Vernünftiges) mehr gewachsen ist. Anders mit Leibniz gesagt: Er ist als Philosoph (als „Reindünkler“) so sinnvoll wie eine Wassersuppe, aus der alle nahrhaften Brocken herausgefischt wurden.239 Da das Staunen als Quelle des Philosophierens gilt, schlug Ernst Jünger als Nachruf für einen Philosophen vor: So hat er sich ein Leben lang an Gott vorbeigestaunt.240 Der aktive Agnostiker ist dagegen getroffen von dem Nichtgewußten, es zieht ihn (als Transzendenz) an, es regt zum Weiterdenken an, es läßt ihm keine Ruhe.241 Er arbeitet an seinem Seinsbewußtsein und damit zugleich an seinem Selbstbewußtsein. Diese Arbeit des „Überbewußten“ (C. G. Jung), der höheren geistigen und existentiellen Funktionen, zielt über die Religionen hinaus auf Religiosität, auf das konstante Bedürfnis nach Orientierung und sinnvoller Individuation innerhalb einer Lebens- und Wertordnung. Dem Blick des Psychiaters entgehen auch nicht die vielen Schattierungen von „ekklesiogenen“ (aus dem kirchlichen Milieu heraus entstandenen) Neurosen (wie bei Pascal und Kierkegaard) und ihre Übergänge zu psychotischen Zusammenbrüchen (wie bei Nietzsche oder den Fanatikern, die sich für ein Dogma, für ein heiliges Buch, opfern und als sterbende Verneinungszeichen möglichst viele im Tode umarmen wollen). Zum Prozeß der Aufklärung gehört eine umfangreiche Erfahrungsliteratur über die Entwicklungsprobleme und Nöte von Kindern, ausgelöst durch bigotte Milieus. Es ist die Art von Frömmigkeit, die als geistige Krise verstanden werden kann, welche an die Kinder weitergegeben wird. In diesem Milieu geht es vor allem um eine verzweifelte Suche nach Erlösung. Im Urchristentum bedeutete dies noch Erlösung vom Tod. In der christlichen Welt jedoch immer mehr Erlösung von der Sünde (was darunter auch immer zu verstehen ist). Alles stand nun unter dem apokalyptischen Vorzeichen, daß die Zeit an ihr Ende gelangt ist. Die Frommen werden in den Himmel emporgehoben, die anderen geraten in die Hölle oder bleiben sonstwo an einem unfreundlichen Ort. Aber das Peinliche an der Geschichte besteht gerade darin, daß sie einfach nicht an ein Ende gelangen will. Sie geht einfach weiter.242 Die kirchlichen Institutionen haben zwar den Vorteil, mit ihrem „Ritenmonopol“ die Lebensstufen des Einzelnen zu begleiten und die gewachsenen Volkskulturen am Leben zu erhalten. Insofern ist es ein Vernunftgebot, die Dinge in ihrer Ordnung da zu lassen, wo sie sind. Die philosophische Kritik richtet sich lediglich gegen die monotheistischen Theologen, die ekklesiogene Neurosen verursachen, die Unfreiheit, Konfessions- und Religionskriege zu verantworten haben. Unter den vielen Chiffren und ungeachtet der Offenbarungskonkurrenzen wurde eine Offenbarung Gottes mythologisiert: Der Himmel öffnete sich, und ein Stern zeigte den Weg zu dem Archetypus des göttlichen Kindes, das zunächst die Hirten und dann die drei Könige anbeteten.243 Oder: Gott zeigte sich Moses als brennender Dornbusch und gab ihm die Zehn Gebote.

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Oder: Gott sprach durch Mohammed und diktierte ihm den verbindlichen Text für alles persönliche und soziale Handeln der Zukunft. Der Himmel öffnete sich jedesmal, und es geschahen Zeichen und Wunder. In Wirklichkeit sahen einzelne „religiöse Virtuosen“, die danach als „predigende Wanderekstatiker oder Schriftpropheten“ (Max Weber) auftraten, nur die flüchtige Bewegung eines Vorhangs. Der phantasievolle Hysteriker präsentiert dabei ein zusammenhängendes Epos: vom Ursprung und Ende der Welt, von der ewigen Wiedergeburt, von Gott und Teufel, von der Allmacht oder Ohnmacht Gottes und von den Wundern, von Anfang und Ende des Himmels und der Erde. Der schizoide Typus verzichtet dagegen darauf, die Gunst und die Bewunderung seines Publikums erlangen zu wollen: Nur widerwillig, in abgebrochenen Sätzen, unverständlichen Brocken und mit ständigen Abschweifungen, äußert er sich über seine Visionen.244 Die verschiedenen daraus entsprungenen Mythologien wurden in heiligen Texten kanonisiert und in den Dogmen der Theokratien ausgelegt. Damit festigten PriesterTheokraten ihre absolute Herrschaft. Die unterschiedlichen Texte und Dogmen führten zu den immer wiederkehrenden historischen Phänomenen der Offenbarungsreligionen: zu den Entzweiungen in blutigen Häretiker- und Sektenverfolgungen, in inneren Konfessions- und äußeren Religionskriegen. Die psychiatrische Schulung förderte auch den Blick auf die „entlaufenen Theologen“, seien es die Studenten des Tübinger Stiftes (Hölderlin, Schelling und Hegel), Heidegger oder Stalin. Sie lieferten theologische Versatzstücke für philosophische Systeme und pseudoreligiöse Ideologien.245 Der psychiatrische Blick auf die Menschheit führt zur Erkenntnis, daß ihr vor allem eines heilsam wäre: der Schritt von den Offenbarungsreligionen zur Metaphysik. Die Metaphysik des philosophischen Glaubens hält an dem verborgenen Gott (deus absconditus) fest, der unsere Wirklichkeit bestimmt. Die Offenbarungen sind lediglich Chiffren dieser Transzendenz, also menschengemachte Erfahrungen, die sich dementsprechend wandeln und gegenseitig bekämpfen. Voraussetzung für diesen Erkenntnisschritt, von den Offenbarungsreligionen zur Metaphysik, ist, daß man drei Sprachen der Transzendenz unterscheidet.246 Die unmittelbare Sprache der Transzendenz, das mystische Erlebnis, die Vision Gottes, ist nicht durch zwischenmenschliche Kommunikation zu vermitteln. Hierüber kann nur in bloßen Chiffren der Transzendenz gesprochen werden. Diese erste Sprache bedarf daher einer Übersetzung in eine zweite Sprache der Mitteilung und Verallgemeinerung in Erzählungen, Bildern, Gestalten und Ritualen. Religionsgeschichtlich handelt es sich um die Stufen der Mythologisierung, Kanonisierung und Dogmatisierung. Der Mythos gestaltet die unmittelbare Erscheinung der Transzendenz für die Gemeinschaft und spricht vor allem das kollektive Unbewußte an. Der Kanon konzentriert sich auf den für wesentlich gehaltenen sakralen Text, der nicht nur die unwesentlichen Apokryphen ausschließt, sondern damit auch alle Häretiker und Sekten. Er ist das Herrschaftsmittel der ecclesia militans, der missionarisch expansiven Kirchenmacht. Das Dogma ist dagegen schon eine Verteidigungsstrategie, ein Zeichen der Schwäche.

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Es wurde auch zum Hauptkennzeichen der auf dem Positivismus beruhenden Ideologien. Die „Geschichte der psychoanalytischen Bewegung“ von Freud hatte das Ziel, ein Dekret zu erlassen, er sei der alleinige Erfinder dieser Disziplin und derjenige, dem es als einzigen zustand, Lehrmeinungen zu verkünden. Dogmen führen zwangsläufig zum Widerspruch geistig Unabhängiger und zu Spaltungsbewegungen. Die dritte Sprache ist die spekulative mit den Chiffren der Transzendenz. Es ist ein höchstpersönlicher Erfahrungsweg, welche Chiffren bedeutsam sind, wie sie sich verzweigen, welche Phänomene, Begriffe und Kategorien zu leitenden Chiffren für die eigene Entwicklung werden. Es geht dabei nicht um metaphysische Dichtung wie bei Heidegger. Vielmehr ist die dritte Sprache anschauliche und gedankliche Erhellung des absoluten Bewußtseins.247 Zum undogmatischen philosophischen Glauben gehört auch die Erkenntnis Kants, daß alle Versuche der Theodizee (der Rechtfertigung Gottes angesichts der Übel der Welt und des Leidens Unschuldiger) unmöglich sind. Es bleibt uns nur die Aufrichtigkeit, all dies weder harmonisierend zu beschönigen (und sich damit zu beruhigen) noch sich darüber so zu empören, daß man zu den Fahnen einer Kampfideologie eilt. Zum philosophischen Glauben gehören das tragische Wissen248 und die Klage, aber keine Anklage der Transzendenz. Denn über den Ursprung aller Dinge, die Wirklichkeit, wissen wir nur, daß es ihn gibt. Wir können ihn aber nicht bestimmend erkennen. Deswegen sind alle Versuche der Theodizee (Seelenwanderungs- und Höllenlehren, Hiobs Gottesanklage, die altiranische Lehre von den kosmischen Urmächten Gott und Teufel oder die Lehre von der bestmöglichen aller Welten) vergebliche Denk- und Liebesmüh. Maimonides erklärt dies folgerichtig damit, daß alle Arten von Übeln, die uns treffen, damit zusammenhängen, daß der Mensch aus Materie gemacht und sterblich ist. Die zweite Art von Übeln widerfährt ohnehin den Menschen durch den Menschen selbst. Und die dritte Art von Übeln sei diejenige, die aus den Handlungen des Menschen entspringen und ihn selbst schädigen. Und das seien die häufigsten.249 Über die negative Theologie seien zwar Aussagen über Gott zu erreichen, aber nicht über sein Wesen, sondern nur über sein Wirken und seine völlige Freiheit gegenüber der Welt. Der norddeutsche Bauer drückt dies einfacher aus: „Do du dat dine / Gott deit dat sine!“ Not-wendig ist der Schritt zur Metaphysik, weil er Ausdruck des Überlebenswillens der künftigen Notallianzen sein wird. Der „Übermensch“ ist nicht der Theologiestudent (der „Überflieger“) des Tübinger Stifts, sondern der Theoretiker und Praktiker, der den Lebenswerten und der Lebensphilosophie des Überlebenswillens Geltung verschafft. Im Sinne der Sätze 2 und 4 kann der theologische Glaube nur tätiger Glaube sein, in enger Verflechtung mit (existentieller) Liebe und Vernunft – dem Streben nach einem Fließgleichgewicht. Die Formel von Hans Küng („Ohne Religionsfriede kein Weltfriede“) läßt sich nicht allein durch Friedfertigkeit oder rationale Diskurse durchsetzen. Der Jurist kennt da seine Pappenheimer besser. Die drei Gewalten Legislative, Exekutive und Judikative vertreten heute den Archetypus des Herkules, der den Augiasstall auszumisten hat. Die Theologen haben sich da eigentlich nie verstanden, sondern nur geredet und zu Kriegen beigetragen. Der Friede muß durchgesetzt werden – an den Außengrenzen durch Krieg 208

und in den Binnenräumen durch entschiedene („robuste“) Befriedung kämpfender Sekten und Konfessionen. Das Zeitalter der Metaphysik ist keineswegs vorbei, vielleicht beginnt es gerade erst unter dem unabweisbaren Eindruck der neuen Physik. Denn Metaphysik beruht weiterhin auf einem Katalog von Fragen des Nichtwissens nach der Wirklichkeit. Sie ist zwar nur bloße Artikulation dieses Nichtwissens, dadurch werden aber Seinsbewußtsein und Selbstbewußtsein gleichermaßen lebensentscheidend (existentiell) verändert. Der von allen historisch entstandenen Visionen, Offenbarungen, Dogmen und Fanatismen befreite philosophische Glaube eröffnet ein neues (kritisch weiterfragendes) Seinsbewußtsein. Er ist damit wohl die wirkliche (wirksame) Voraussetzung für eine tolerante und lebensfähige Ordnung (mit der es sich leben läßt) – als Gegenkraft zu dem von E. Jünger angesprochenen „Sog des Nihilismus“ –: eine Ordnung, die besser als Theokratien und Despotien befähigt, langfristig sich entwickeln und nachhaltig wirken zu können, ohne in Theologengezänk und Religions- oder Bürgerkriegen enden zu müssen. Im Gegensatz dazu wird das Verbindende der Weltreligionen und ihrer maßgebenden Religionsstifter „aufgehoben“. Bei Konfuzius war es die Vernunft als soziale Ordnungskraft und der Glaube, so der himmlischen Ordnung am besten Rechnung tragen zu können. Bei Sokrates war es die Vernunft als Richter über soziale Fehlentwicklungen. Buddha vertrat die radikale Verneinung der bloßen Realität der Welt und Jesus den höheren Seelenaspekt der existentiellen Liebe. Die Gemeinsamkeiten liegen vor allem in einem langsamen evolutionären Prozeß, in welchem die Religionen auseinander hervorgegangen sind und miteinander verknüpft wurden: der Buddhismus aus dem Konfuzianismus und Hinduismus; das Christentum aus dem Judentum und der hellenistischen Kultur; der Islam schließlich in einem längeren Entstehungsprozeß aus der christlich, jüdisch und heidnisch geprägten Umwelt. Der philosophische Glaube fällt einem nicht in den Schoß. Es bedarf kommunikativer und sozialer Anstrengungen, um durch ihn eine ähnliche ideelle Transformation einzuleiten, wie es bei der Herausbildung der früheren historischen Mentalitätsschichten notwendig gewesen ist: von der Magie zum Animismus, vom Animismus zum Polytheismus und vom Polytheismus zum Monotheismus. Der Monotheismus wird zwar bleiben, aber das Gottesbild wird sich wandeln. Gott ist weder nur innerhalb der Welt (Theismus) noch außerhalb der Welt (Deismus). Er ist auch nicht mit der Welt identisch (Pantheismus). Er ist weder dualistisch noch monistisch. Er ist als Transzendenz über diesen Grenzen, die für die Immanenz gelten. Es geht bei dieser Transformation um eine neue Mentalitätsschicht, um das Seinsbewußtsein, das nach dem langen Erwachen aus dem Tiefschlaf des Unbewußten – dem bloß Vitalen – und dem Traumschlaf des Vorbewußten – den Symbolen, Archetypen und Gottesbildern der Religionsgeschichte – über die bloß rationale Aufklärung hinaus zur annähernden Identität mit dem Selbst gelangt, zu einem (stets gefährdeten) Selbstbewußtsein als dem Ziel unserer Lebensgeschichte. Dieser Weg des „Überbewußten“ (Geist, Existenz und Vernunft) soll aus dem gegenwärtigen Gefahrenbereich führen, in welchem sich die Ratio schizoid abzuspalten und damit die seelische Ganzheit zu zerstören droht.250 Die Suche nach dem Selbst, die uns aufgegeben ist, wird von 209

der rationalistischen Wissenschaftsphilosophie schlicht – aus dem Auge aus dem Sinn – aufgegeben. Lichtenbergs bereits genannte Sentenz („Noch nie hat ein Verstand mit solcher Majestät stille gestanden“) deutet einen Stillstand der Individuation an, eine unzulängliche Anthropologie.

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Anmerkungen 1

Das Zitat Ingeborg Bachmanns ist der Erzählung „Undine geht“ entnommen. Das Spannungsverhältnis zwischen Animus und Anima, die Archetypenlehre C. G. Jungs, wurde vom Verfasser ausführlich dargestellt in: Albrecht Kiel, Sexus, Genus, Eros, Liebe. Aspekte einer Familienanthropologie, Würzburg 1994, S. 43 ff., 259 f. – Über philosophische Begriffe wie „Nichts“ und „Nihilismus“ kann man sich einen ausführlichen Überblick im „Historischen Wörterbuch der Philosophie“ (von J. Ritter und K. Gründer, Basel 1971 ff.) verschaffen. Bedeutungswandel und Definition weiterer grundlegender Begriffe wurden überwiegend diesem Wörterbuch entnommen. Es handelt sich dabei um eine hervorragende Leistung der deutschen Fachphilosophen, die weltweit als vorbildlich gilt. Dort wird nicht nur die Vielfalt der Positionen aufgezeigt, sondern es läßt sich auch leicht erkennen, daß viele gedankenreiche Darstellungen von heutigen Theoretikern unterschlagen werden, daß vieles bereits in der Antike und im Mittelalter ähnlich oder sogar besser artikuliert worden ist als heute. Weitere Aspekte bieten das Metzler Philosophen Lexikon, 2. Aufl., Stuttgart 1996, und das Philosophie Lexikon, Stuttgart 1995. Die „Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie“ (4 Bände, Stuttgart 2004) wurde dagegen nur ergänzend herangezogen, weil sie überwiegend an der angelsächsischen Wissenschaftsphilosophie orientiert ist. Im Zusammenhang mit anderen Standardwerken, wie dem „Großen Werkslexikon der Philosophie“ von Franco Volpi, soll es in diesem Text nur darum gehen, die entscheidenden Wendepunkte der Geistesgeschichte knapp, aber möglichst präzise zusammenzufassen und ein um Vollständigkeit bemühtes „Geschlepp langweiliger Definitionen“ (Jacob Grimm) im „akademischen Leichenton“ (Herder) dem Leser zu ersparen. 2 Das Wort Nihilismus tauchte mit der Kritik an den Philosophen der Aufklärung (vor allem Kant und Fichte) auf und wurde in engem Zusammenhang mit Atheismus, Pantheismus oder Materialismus verwendet. Bei den russischen Sozialrevolutionären und Anarchisten kam es wieder in Mode, nachdem Turgenjev für sich reklamierte, den Begriff in seinem Roman „Väter und Söhne“ (1861) geprägt zu haben. Die Anarchisten bezeichneten sich selbst als Nihilisten, welche als Realisten die Fiktionen der Religion, der Monarchie und des Idealismus entlarvt haben. 3 So beginnt C. G. Jung seine im Ersten Weltkrieg entstandene metaphysische Dichtung „Sieben Belehrungen an die Toten (Septem Sermones ad Mortuos)“, in: Erinnerungen, Gedanken, Träume, 9. Aufl., Olten 1977, S. 389 f. 4 G. W. F. Hegel, Die Lehre vom Sein (1812), Hamburg 1978, S. 47 f., und (1832), Hamburg 1990, S. 71 f. 5 Martin Walser leitet damit die Sammlung seiner zeitkritischen Essays „Die Verwaltung des Nichts“ ein (Hamburg 2004, S. 14); das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus in: G. W. F. Hegel, Frühe Schriften, Werke Band I, Frankfurt 1986, S. 234-236. 6 Die Ausführungen von Jaspers zum Nichts befinden sich in: „Philosophie“, Band I bis III, 4. Aufl., Berlin 1973, Band III, S. 45 f., und in: „Von der Wahrheit“, 3. Aufl., München 1983, S. 29 ff., 880 ff. 7 Friedrich Naumann, Vom Abakus zum Internet, Darmstadt 2001, S. 22. 8 Albrecht Kiel, Fünf Kausalitätsformen zwischen Zufall und Wirklichkeit. Wege von den Naturwissenschaften zur Anthropologie, Würzburg 2005, S. 93 ff., 112 ff., 118 ff. 9 Jean-Paul Sartre, Das Sein und das Nichts, Hamburg 1985, S. 49, 55, 61, 70, 90. 10 So in einem Brief vom 13.2.1951: C. G. Jung, Briefe, Band I bis III, 3. Aufl., Olten 1989, Band II, S. 209. 11 Jürg Altwegg, „Flaubertvorleser. Von Stalin zu Moses“, in: FAZ vom 17.10.2003. 12 Zu jedem Philosophen gehört untrennbar der persönliche Aspekt als Signum für die Qualität seines Denkens. Sartre wurde zum Prototyp des Linksintellektuellen, für den nicht nur die Pose als wahrer „Volksfreund“, als „Voltaire des 20. Jahrhunderts“ kennzeichnend war, sondern auch

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die des promiskuitiven Verführers von jungen Schauspielerinnen und (von Simone de Beauvoir ihm zugeführten) Gymnasiastinnen. Die alte weibliche Karriereleiter über das Naherlebnis mit einer nationalen Berühmtheit wurde vielfach gesucht und dabei hingenommen, daß er nur das „Erlebnis“ der Verführung genießen konnte und als schwächlicher Liebhaber bekannt war. Am Ende stand die Jugendlichkeitspose des alten Mannes, der sich für die jungen Wilden, die Freiheitskämpfer, engagiert. 13 Beim Menschen wie beim Schimpansen gibt es dabei zwei mögliche Reaktionen: Die einen reagieren auf Konkurrenz eher mit dem Ausstoß von Testosteron, feminine Typen produzieren vermehrt Streßhormone wie das Cortisol. Der Testosteronspiegel kann nach Revierkämpfen schnell wieder absinken. Wenn es jedoch den Status höhergestellter Männchen zu verteidigen gilt, kann er dauerhaft hoch bleiben. 14 Elias Canetti, Masse und Macht, Hamburg 1960, S. 259 ff. 15 Vgl. zu den theologischen Versuchen der Theodizee den Ausblick; zu den Stufen des Bösen und zum Zusammenhang von Sexualität und Sadismus, welcher ein kurzfristiges und totales, aber illusionäres Machtgefühl verleiht, Kiel 1994, S. 134 ff., und Kiel 2005, S. 237 f. 16 Diese Prophezeiung findet sich in einer der Nachlaßschriften von Nietzsche. Die Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche nahm sie in die Einleitung ihrer Kompilation von Nachlaßschriften „Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwertung aller Werte“, Leipzig 1901, auf. Damit begründete sie Nietzsches Ruhm. Nietzsche selber hatte zwar an einem Werk mit diesem Titel bis 1888 gearbeitet, gab dieses Projekt aber zugunsten der veröffentlichten Bücher auf. Die Nachlaßschriften wurden von der Schwester weitgehend willkürlich zusammengestellt. 17 Vgl. zu allem die Artikel „Nichts“, „Nihilismus“ und „Übermensch“ in: Historisches Wörterbuch der Philosophie (HWP), Band I bis XI, hrsg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer, Basel 1971 ff. Ein guter Überblick über Nietzsches Grundgedanken zum Nihilismus findet sich in dem Buch von Karl Jaspers: Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens, 4. Aufl., Berlin 1981, S. 245-252. 18 Ausführlich dazu Jaspers, Nietzsche, S. 356 ff. 19 Vgl. zu Mephistopheles als dämonische, aber individuelle Gestalt über eine bloße Allegorie des Bösen hinaus: Erich Trunz, Faust, München 1986 (2002), S. 482, 510. Dort wird auch kommentiert, warum der Herr nicht wettet, zumal nicht mit einem untergeordneten Geist wie dem Teufel. Die Wette ist das Metier der Hedge-Fonds. 20 Dieses Resümee zum Zeitalter des Nihilismus von Ernst Jünger kann man nachlesen in: An der Zeitmauer, Stuttgart 1959, Aphorismen 99-102, 121, 164, 167-169, 171-175 und 180. 21 Hubert Markl, „Charles Darwins Einsichten in die Evolution von Natur und Kultur“, Vortrag vor der Deutschen Zoologischen Gesellschaft in Regensburg am 28.9.2009. 22 Werner Heisenberg, Gesammelte Werke, Band I, München 1984, S. 232-259; ausführlich dazu Albrecht Kiel, Von der Geschichte der Logik und der Logik der Geschichte. Historische, soziale und philosophische Logik, Würzburg 1998a, S. 271 ff. 23 Die letzte Auflage veröffentlichte Jaspers zusammen mit seinem Nachfolger in Basel, Kurt Rossmann, (Die Idee der Universität. Für die gegenwärtige Situation entworfen von Karl Jaspers und Kurt Rossmann, Berlin 1961). 24 Hermann Lübbe, „Karl Jaspers als politischer Moralist“, in: Reinhard Schulz u. a. (Hg.), Wahrheit ist, was verbindet, Göttingen 2009, S. 401 f. 25 Max Weber, Gesammelte politische Schriften, 5. Aufl., Tübingen 1988, S. 505 ff. 26 Immanuel Kant, Werke in zehn Bänden, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1983, Band I, Logik, (A 25). 27 Albrecht Kiel, Die Sprachphilosophie von Karl Jaspers. Anthropologische Dimensionen der Kommunikation, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2008, S. 11. 28 C. G. Jung, Werke in 20 Bänden, Olten 1995, Band 18/1, S. 234, Paragraph 493. 29 Herta Müller, Herztier, 4. Aufl., Frankfurt 2009, S. 166.

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Vgl. dazu näher Kiel 2008, S. 168-201. Kiel 2008, S. 201-211. 32 Kiel 2008, S. 212-234, und 1994, S. 209-244. 33 Hans Saner, „Karl Jaspers in seiner Zeit“, in: Schulz (Hg.), S. 17. 34 Näher Kiel 2008, S. 250 ff. 35 So Richard David Precht, Wer bin ich und wenn ja, wie viele?, 30. Aufl., München 2007, S. 62 ff. 36 Wolf Singer/Matthieu Ricard, Hirnforschung und Meditation, Frankfurt 2008, S. 52-59. 37 Vgl. zum Gegensatz von Verstand und Vernunft in den Schriften von Karl Jaspers zusammenfassend Kiel 2008, S. 240-247. 38 Herta Müller, Der König verneigt sich und tötet, 2. Aufl., Frankfurt 2009, S. 15. 39 Vgl. dazu näher Kiel 2005, S. 95-194. 40 Diese klärenden Gedanken zur neurowissenschaftlichen Debatte der Gegenwart ausführlich in: Thomas Fuchs, Das Gehirn – ein Beziehungsorgan, Stuttgart 2008. 41 Kiel 2005, S. 95 ff., 241 ff. 42 Karl Jaspers, Chiffren der Transzendenz, 4. Aufl., München 1970, S. 43, 47, 74. 43 Hans Saner, „Philosophie und Kunst“, in: Schulz (Hg.), S. 75; Jaspers, Philosophie, Band I (Weltorientierung), S. 68. 44 Vgl. dazu Jaspers, Von der Wahrheit, S. 37 ff. 45 Einen gründlichen Überblick über den Stand der Neurowissenschaften bietet das Lehrbuch von Eric R. Kandel/James H. Schwartz/Thomas M. Jeffell (Hg.), Neurowissenschaften, Berlin 1996. 46 Karl Jaspers widmete der enthusiastischen Einstellung ein ganzes Kapitel in: Psychologie der Weltanschauungen, 6. Aufl., München 1985, S. 119 ff. 47 Peter Härtling, Hölderlin, Darmstadt 1976, S. 302. 48 Das erste philosophische Hauptwerk von Karl Jaspers wurde in drei Bänden gegliedert mit den Titeln „Philosophische Weltorientierung“, „Existenzerhellung“ und „Metaphysik“. Der dargestellte Zusammenhang von Wissenschaft und Existenz ist nachzulesen in Band I, S. 64, 70, 81, 115, 131, 212, 236. 49 Zur „Magie der Materie“ näher: Kiel 2005, S. 95-123. 50 Zur Materie-Energie im Aufbau des Kosmos und zur Zahl der räumlichen und zeitlichen Dimensionen näher: Kiel 2005, S. 95 ff. 51 Kiel 2005, S. 234 ff., 172 ff., 183 ff. und 241 ff. 52 C. D. Darlington, Die Wiederentdeckung der Ungleichheit, München 1980, S. 321 f. 53 Näher dazu Kiel 2008, S. 123, 126. 54 Zur Vielfalt der Methoden ausführlich: Kiel 2008, S. 118 ff. und Singer/Ricard, S. 27, 80. 55 Kiel 2008, S. 265 ff. 56 Vgl. zur Bedeutung der Neotenie ausführlich Heinrich K. Erben, Die Entwicklung der Lebewesen, Spielregeln der Evolution, München und Zürich 1976, S. 184, 186, 344-347, 415 f., 424 f. und die bildliche Darstellung auf S. 448; zu den unterschiedlichen Evolutionsgeschwindigkeiten bei der Entwicklung des Menschen allgemein: Adolf Remane/Volker Storch/Ulrich Welsch, Evolution, 4. Aufl., München 1978; zu den Rassenunterschieden: John R. Baker, Die Rassen der Menschheit, Stuttgart 1976. 57 St. Müller-Wille/H.-J. Rheinberger, Das Gen im Zeitalter der Postgenomik. Eine wissenschaftshistorische Bestandsaufnahme, Frankfurt 2009. 58 Thorolf Hardt u. a., Safari zum Urmenschen, Stuttgart 2009, S. 87-91. 59 C. D. Darlington, Die Gesetze des Lebens, München 1962, S. 226 ff. 60 Hans und Michael Eysenck, Der durchsichtige Mensch, München 1983, S. 91. 61 Hans-Joachim Markowitsch, Dem Gedächtnis auf der Spur, Darmstadt 2002, S. 27, 120, 132. 62 G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, 6. Aufl., Hamburg 1952, S. 455 ff., 463. 31

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Vgl. zum Zusammenhang von Neotenie, Domestikation, Jugendbewegungen und Totalitarismus: Albrecht Kiel, Bevölkerungswachstum und die politischen Antinomien, Konstanz 1990, S. 192-203. 64 Deirdre Bair, C. G. Jung, Eine Biographie, München 2005, S. 564-566. 65 Karl Jaspers, Der Arzt im technischen Zeitalter, München 1986, S. 59 ff. Jung kritisierte nicht nur Freud, sondern auch den eigentlichen Kontrahenten von Jaspers im 20. Jahrhundert, Martin Heidegger. Dessen Sprache nannte er einen „Wort-Urwald von Sprachverkünstlungen“. Die Diskrepanz zwischen Sprache und Substanz sei grotesk, armselig und banal. Seine ganze Art zu philosophieren sei neurotisch und wurzele in einer psychischen Verdrehtheit. Vgl. dazu Jung, Briefe, Band I, S. 344, 409 f. 66 Der Zusammenhang von Krieg und Terrorismus bei einem übergroßen Anteil von Jugendlichen an einer Gesamtbevölkerung wurde mit vielen historischen Beispielen dargestellt von Gunnar Heinsohn, Söhne und Weltmacht, Terror im Aufstieg und Fall der Nationen, 4. Aufl., Zürich 2006. 67 Vgl. zu diesen Unterscheidungen: Kiel 1994, S. 50 ff., 167 ff., 209 ff. und 245 ff. 68 Zum „Heil“ der Familie und zur Stellung der Frau bei den Germanen: Wilhelm Grönbech, Kultur und Religion der Germanen, Band II, Darmstadt 1991, S. 119-121, 222, 306; Kiel 1994, S. 240. 69 Zur allgemeinen Antinomie von Universalismus und Regionalismus Kiel 1990, S. 231-236. 70 Vgl. zur Ordnungsökonomik Michael Hüther, „Die Krise als Waterloo der Ökonomie“, in: FAZ vom 16.3.2009. 71 Zur bürgerlichen Eigentumsökonomik und der darauf beruhenden Theorie von Zins und Geld vgl. Gunnar Heinsohn/Otto Steiger, Eigentumsökonomik, Marburg 2006. 72 Zu weiteren historischen Beispielen von Mischverfassungen und zum Übergang zur abstrakten Gewaltenteilung: Kiel 1998a, S. 130 ff. 73 Vgl. dazu näher Kiel 1990, S. 130-135. 74 Dazu und zur „sozialen Logik“ allgemein: Kiel 1998a, S. 89 ff. 75 Kiel 1998a, S. 244 ff. 76 Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, 6. Aufl., Berlin 1963. Besonders deutlich wird dies in den beiden Bänden der „Politischen Theologie“, wonach die Staatslehre von theologischen Vorstellungen geprägt wird (Politische Theologie, 3. Aufl., Berlin 1979; und Politische Theologie II, Berlin 1970). Zum Verhältnis von Carl Schmitt zur Philosophie allgemein: Albrecht Kiel, Gottesstaat und Pax Americana. Zur Politischen Theologie von Carl Schmitt und Eric Voegelin, Cuxhaven 1998b. 77 Selbst der Soziobiologe und Erfinder der „egoistischen Gene“ Edward O. Wilson räumt inzwischen ein, daß soziale Gruppen nicht allein aus Familien entstanden sind. Evolutionstheoretiker haben mit mathematischen Modellen der Kooperation fünf Phasen berechnet, wie unverwandte Individuen sich zu sozialen Superorganismen zusammenfinden können. Beim Menschen gibt es allerdings nur Parallelen zu den Sozialformen der Tiere (Schwärme, Insektenstaaten, Tierkolonien, Herdentiere und Primatengruppen). Wegen der psychosozialen Vielfalt des Menschen sind die Möglichkeiten von Kooperation, Konkurrenz und Konflikt komplexer. 78 Die ersten Zellen bildeten sich wahrscheinlich vor 3,5 Milliarden Jahren in der primitiven Form von Blaualgen (Cyanobakterien). Die „echten“ Bakterien entwickelten sich, als der Sauerstoffgehalt der Atmosphäre stark anstieg. Diese toxische Wirkung auf alles Leben wurde durch die Mitochondrien nicht nur entschärft, sondern sogar für eine 20fache Steigerung der Energiegewinnung herangezogen. Biologen nennen dies „Guerillataktik“, bei welcher der Vorteil eines Nachteils ausgenutzt wird. 79 Die Bedeutung von Symbiosen in der Evolution wurde in der Evolutionstheorie durch die sogenannte Synergetik untersucht. „Synergie-Effekte“ wurden zum Modewort der Ökonomie-

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sprache. Zur evolutionären Spieltheorie vgl. den Aufsatz von Michael Lachmann, in: Max Planck Forschung 2003/1, S. 16. 80 Zum Zusammenhang der drei sozialen Funktionen, der Allianzfähigkeit und der Geopolitik weitere Ausführungen mit historischen Beispielen: Kiel 1998a, S. 182-196. 81 Zur Frage eines philosophischen Glaubens für die vielen Zeitgenossen, die nicht mehr kirchlich gebunden sind, und die Erörterung dieses Problems durch den Psychiater und Philosophen Karl Jaspers ausführlich Kiel 2008, S. 255-259. 82 Samuel P. Huntington, Der Kampf der Kulturen (The Clash of Civilizations) – Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, 5. Aufl., München 1997, S. 55, 57, 536, 538. 83 Karl Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, 9. Aufl., München 1988, S. 61, 186. 84 Jaspers 1988, S. 50, 63. 85 Jaspers 1988, S. 69-75. 86 Jaspers 1988, S. 20. 87 Jaspers 1988, S. 21-24, 70-72. 88 Wolfgang Schluchter, Max Webers Studie über Hinduismus und Buddhismus, Frankfurt 1984, S. 27, 349. 89 Jaspers 1988, S. 82. 90 Jaspers 1988, S. 195, 245, 253, 263, 265, 316. 91 S. Meier, „Postmoderne“ (HWP), Spalte 1144. 92 Michael Mitterauer, Warum Europa? Mittelalterliche Grundlagen eines Sonderwegs, München 2003, S. 294 ff. 93 Mathias Bormuth, Lebensführung in der Moderne. Karl Jaspers und die Psychoanalyse, Stuttgart 2002, S. 330, m. w. N. Habermas nannte Jaspers 1979 im selben Zusammenhang eine „verwunderliche Figur aus dem Kabinett der großen deutschen Mandarine“. 94 Zum Zusammenhang zwischen den durch die Achsenzeit aufgetretenen kulturellen Parallelen und den historischen Mentalitätsschichten mit den sozialen Konflikten: Kiel 1998a, S. 190-192, 229 f. 95 Zu den wirtschaftlichen Gründen für die Krisen der Imperien zwischen 1500 und 2000 das grundlegende Werk von Paul Kennedy, Aufstieg und Fall der großen Mächte, Frankfurt 1989 (Einzelheiten zum europäischen Aufstieg ab 1815: S. 229-239, 297-299). 96 Jürgen Kaube, „Die geistige Situation der Zeit“, in: Schulz (Hg.), S. 380-382. 97 Ulrich Woelk, Die Einsamkeit des Astronomen, Hamburg 2005, S. 91 f., 113. 98 Vgl. zu dieser bis heute anerkannten Leistung von Jaspers als Psychiater die Artikel „Psychopathologie“, „Schizophrenie“ und „Verstehen“ im Handwörterbuch der Psychiatrie, 2. Aufl., Stuttgart 1992. 99 Vgl. zum Unterschied von Neurosen und Psychosen und zur psychischen Krise: Karl Jaspers, Allgemeine Psychopathologie, 9. Aufl., Berlin 1973, S. 481 f., 586. Ferner zu den einzelnen Neurosentypen die Stichwörter im Handwörterbuch der Psychiatrie. 100 Bair, S. 255, 329 f. 101 Sigmund Freud, Gesammelte Werke, Frankfurt 1948–1966, Band 13, S. 3. 102 Bair, S. 172 f., 232 f., 236, 254. 103 Bair, S. 177, 230 f. 104 Die Zitate Platos und allgemein zum Lustprinzip: Albrecht Kiel, Philosophische Seelenlehren, Konstanz 1991, S. 107 ff. 105 So in „Jenseits von Gut und Böse“, Aphorismus 36. Zum Fiktionalismus der Anthropologie Nietzsches, die in zahlreiche Dualismen mündete (Antriebs- und Zweckursachen, Herr und Knecht, Sieger und Besiegte, Vergessen und Gewissen, Schuldlosigkeit und Schuld, Krankheit und Gesundheit) Kiel 2005, S. 174 ff., und Kiel 1991, S. 76-78. 106 Die Zitate in: Kiel 1998a, S. 261-265.

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107 Ernst Aebi, Schweizer Entwicklungshelfer im Rahmen einer Privatinitiative, schildert in seinem Buch „Ein Garten in der Wüste“ (München 1997) eindrucksvoll, wie die Sach- und Kapitalhilfe in der Sahel-Zone von einer korrupten Oberschicht unterschlagen und ein gelungenes Hotelprojekt in einer Oase im Bürgerkrieg zwischen Arabern und Schwarzafrikanern ausgeraubt und im wahrsten Sinne des Wortes „verwüstet“ wurde. 108 Die Aussagen Nietzsches zur Mitleidsethik finden sich vor allem in den Büchern „Morgenröthe“, „Jenseits von Gut und Böse“ und „Unzeitgemäße Betrachtungen“. 109 Herta Müller, Der König …, S. 94 f., 163 f. 110 Die Typen der Demokratie wurden von Aristoteles in der „Politik“ beschrieben. Die Zusammenfassung der Machttheorien ist nachzulesen in: Hannah Arendt, Macht und Gewalt, 6. Aufl., München 1970; und J. K. Galbraith, Anatomie der Macht, Gütersloh 1987. 111 Simon Sebag Montefiore, Der junge Stalin, Frankfurt 2007, S. 120, 248. 112 Hans Rall, Wilhelm II., Graz 1995, S. 194, 242, 247, 253, 266-268, 299, 304 ff. 113 Erst diese Mobilmachungen der beiden Großmächte Rußland und Frankreich erweiterten den lokalen Konflikt zwischen Österreich und Serbien zu einem europäischen Krieg und lösten den Automatismus der Bündnissysteme aus. Zu den Bemühungen Wilhelms II., den Ausbruch des Krieges zu verhindern: Rall, S. 307-311. Der Autor konnte Wilhelm im Exil mehrmals interviewen. Er zitiert auch ausführlich und kritisch die Schriften von C. G. Röhl. Der Wert von dessen Biographie dürfte durch sein Eingeständnis gemindert sein, daß er Wilhelm „nicht leiden“ könne. 114 In den USA gab es von 1880 bis 1930 3 200 Lynchmorde. Nicht nur die Rechtstaatlichkeit, sondern auch Sozialgesetze seit Ende des 19. Jahrhunderts (Unfall- und Invalidenversicherung) waren in Preußen viel weiter entwickelt als in den USA. Die Armee war gut ausgebildet, effektiv und diszipliniert; auf einen Partisanenkrieg wie 1914 in Belgien war sie völlig unvorbereitet. Im übrigen war Preußen auch nie in den Sklavenhandel involviert, wie die USA, England und Frankreich. Vgl. zu allem Ehrhardt Bödecker, Preußen – eine humane Bilanz, München 2010. 115 Nicholson Baker, Menschenrauch. Wie der Zweite Weltkrieg begann und die Zivilisation endete, Hamburg 2009, S. 97, 108 f. Ein Untersuchungsausschuß des Senats kam 1936 zum Ergebnis, daß der Kriegseintritt 1917 wesentlich durch die Kriegsindustrie beeinflußt worden war. Die daraufhin erlassenen Neutralitätsgesetze wurden von Roosevelt systematisch bis 1941 unterlaufen. Dazu Wolfgang J. Helbich, Franklin D. Roosevelt, Berlin 1971, S. 193-197, 211-217. 116 Max Weber, Gesammelte politische Schriften, 5. Aufl., Tübingen 1988, S. 488 ff., 502 ff. 117 Erik H. Erikson, Kindheit und Gesellschaft, 4. Aufl., Stuttgart 1971, S. 320 ff. 118 Diese Darstellung wurde aus den Tagebuchaufzeichnungen von Ernst Jünger in „Siebzig verweht“, Band I bis V, Stuttgart 1980 ff., und aus „Autor und Autorschaft“, Stuttgart 1984, S. 13, 90, zusammengestellt. 119 Cosima Wagner, Graf Arthur Gobineau. Ein Erinnerungsbild aus Wahnfried, Stuttgart 1907, S. 27 f. 120 Karl Jaspers, Die Atombombe und die Zukunft des Menschen, 7. Aufl., München 1983, S. 114, 133; ausführlich zu diesen heute unvorstellbar nüchternen und illusionslosen Feststellungen von Jaspers: Kiel 1990, S. 47 ff., 244. 121 Bernd Weidmann, „Karl Jaspers als politischer Schriftsteller“, in: Schulz (Hg.), S. 375-378. 122 Die von dem „Diskursfürsten“ Habermas (so Martin Walser) heftig und mit wenig nachvollziehbaren Argumenten bestrittenen Thesen von Ernst Nolte über den Weltbürgerkrieg wurden durch die jüngere historische Forschung weitgehend bestätigt. So entstand Hitlers Judenhaß nicht bereits in Wien, wie er in „Mein Kampf“ behauptete, sondern erst in Reaktion auf die Niederschlagung der zweiten bayrischen Räterepublik zur selben Zeit, als die für Deutschland hoffnungslosen Bedingungen des Vertrages von Versailles publik gemacht wurden. Vorher war seine Einstellung zu Juden und Sozialdemokratie eher positiv (vgl. dazu Georg Reuth, Hitlers Judenhaß, München 2009).

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Der „Antifaschist“ deklariert – so wie der Sonnenkönig sagte: „Der Staat, das bin ich“ –: Welches Verbrechen singulär ist, das bestimme ich, der Diskursfürst. Das Gegenargument von Nolte lautet: Der Wissenschaftler und Historiker hat nicht zu singularisieren und auch nicht zu relativieren (d. h. zu bewerten oder eine Schuld zu verringern), sondern nur zu relationieren (d. h. mit aller wissenschaftlichen Akribie epochale Zeitströmungen wie den Kommunismus und Faschismus in ihren Wechselwirkungen zu untersuchen). Das ist die eigentliche Aufgabe des Historikers und unterscheidet ihn vom Ideologen. 123 Ernst Jünger, Die Schere, Stuttgart 1990, S. 114-117, 150. 124 Dazu mit weiteren Nachweisen Kiel 2008, S. 52 ff. 125 Vgl. dazu näher Eric Frey, Schwarzbuch USA, Berlin 2008, S. 265 ff. 126 Eine Synopse seiner Werke erschien unter dem Titel „Vorwärts zur Mäßigung“, Hamburg 2010. Die Verbindung von Ökonomie und Ökologie läuft auf eine allgemeine Wohlfahrtsökonomik mit einem Wettbewerbs- und Marktgleichgewicht hinaus. Jeder Wachstumsprozeß kann demnach vom Gleichgewicht wegführen. Die primären Produktionsfaktoren müssen deswegen durch Verbesserungen der Infrastruktur und der Institutionen (Recht und Ordnung) gefördert werden. Dies setzt dynamische Unternehmerpersönlichkeiten voraus, deren Hauptziel über die Gewinnmaximierung hinaus ein lebenslanger Lernprozeß hinsichtlich der gesellschaftlichen Veränderungsmechanismen ist. 127 Jared Diamond, Kollaps, 8. Aufl., Frankfurt 2006, S. 15-25, 680-684. 128 Platon, Timaios, 22a ff. 129 Edmund Burke, Betrachtungen über die Französische Revolution, Frankfurt 1967, S. 69 f. 130 Vgl. dazu Reuth; und Johannes Rogalla von Bieberstein, „Jüdischer Bolschewismus“, Mythos und Realität, Graz 2010. 131 Erikson, S. 323 f. 132 Dazu die Artikel „Sucht“ im Historischen Wörterbuch der Philosophie und im Handwörterbuch der Psychiatrie, wie bereits zitiert. 133 Vgl. allgemein zu Perversionen R. J. Stoller, Perversion – die erotische Form von Haß, Hamburg 1979; und Kiel 1994, S. 52 ff., 89 ff. und 120 ff. 134 Jünger, Siebzig verweht, Band V, Stuttgart 1997, S. 167 f. 135 Jung, Briefe, Band II, S. 46 f. 136 Jaspers, Philosophie, Band II (Existenzerhellung), S. 300 ff. 137 Jung, Briefe, Band I, S. 498 und Band II, S. 103. 138 Peter Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, Band I und II, Frankfurt 1983, S. 947 ff. 139 Kiel 1998a, S. 130-145. 140 Peter Sloterdijk, Zorn und Zeit, Frankfurt 2006, S. 228. 141 Herta Müller, Der König …, S. 87. 142 Walter Kempowski, Schöne Aussicht, 2. Aufl., München 1997, S. 44, 55, 59, 62, 458. 143 Dieser revolutionäre Terror und der militärische Gegenterror des Zaren werden eindrucksvoll geschildert in: Montefiore, S. 188 ff. Die damaligen Fronten glichen in vielem den heutigen ethnischen Kriegen im Kaukasus. 144 Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 1986, S. 516-518. 145 Alexander Solschenizyn, Der Archipel Gulag, Bern/München 1974, S. 37-41, 49 f., 289 f. 146 Solschenizyn, S. 52, 356, 604. 147 Solschenizyn, S. 53 ff., 63 f., 321, 393, 561, 567. 148 Solschenizyn, S. 45, 98, 572. 149 Vgl. zu den Kriterien des Totalitarismus Bruno Seidel (Hg.), Wege der Totalitarismusforschung, Darmstadt 1974, S. 25. 150 Jünger, Siebzig verweht, Band I, Stuttgart 1980, S. 577.

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Gefördert wurde dies durch die Einheit von religiöser und politischer Führung im Kalifat. Es wurden keine Kräfte durch Auseinandersetzungen zwischen Religion und Staat, zwischen Papst und Kaiser gebunden; die Offensivkraft richtete sich ganz nach außen. 152 Heute wird geschätzt, daß bis 1816 etwa eine Million Europäer vorwiegend in maghrebinischer Gefangenschaft endeten. Erst die wachsende militärische Stärke der europäischen Mächte sorgte für ein Ende des Handels mit weißen, christlichen Sklaven. Dem Menschenraub aus Afrika fielen mindestens 17 Millionen Schwarze zum Opfer. Dazu Giles Milton, Weißes Gold, Stuttgart 2010; Tidiane N’Diaye, Der verschleierte Völkermord, Hamburg 2010. Im übrigen wurde in Saudi-Arabien die Sklaverei erst 1962 offiziell abgeschafft. 153 Zum Islamismus als neue Form des Totalitarismus: Ernst Nolte, Die dritte radikale Widerstandsbewegung: Der Islamismus, Berlin 2009. Ernst Nolte betrachtet dieses Buch als Abschluß seines Lebenswerks (briefliche Mitteilung vom 30.5.2009). 154 Vgl. dazu näher Heinsohn, S. 37, 150 ff., und Jünger, Siebzig verweht, Band II, Stuttgart 1980, S. 183, 424, Band IV, Stuttgart 1997, S. 59, Band V, Stuttgart 1997, S. 14. 155 Heinsohn, S. 33, 137. 156 Dazu kenntnisreich die Publizistin Necla Kelek, zuletzt in ihrem Buch „Himmelsreise. Mein Streit mit den Wächtern des Islam“, Köln 2010. 157 Vgl. zu der schariagerechten Wirtschaftsethik und -organisation Loretta Napoleoni, Die Zuhälter der Globalisierung, München 2008, S. 304 ff. Das der Scharia entsprechende „Islamic Banking“ erlaubt den Handel mit Schulden nur mittels eines verbrieften Sachwerts. Schulden sind nur mit unmittelbarem Bezug zur realen Wirtschaft erlaubt. Der Häuserkauf nach islamischem Recht („Murabaha“) ist ein Mietkauf, bei dem sich der Besitzanteil des Mieters am Objekt ständig steigert. Das deutsche Steuerrecht müßte sich erst dem Islamic Banking anpassen. Auch sonstige Schulden müssen durch Vermögenswerte gedeckt sein; Darlehen an Unternehmen werden als Anleihen gewährt, bei denen der Gläubiger im Zweifelsfall Anteilseigner wird. Allgemein untersagt das islamische Recht unkalkulierbare Risiken; nach seinen Regeln wäre es nie zu einer globalen Implosion des Hypothekenmarkts gekommen wie im Jahr 2008. 158 Bair, S. 173. 159 Sören Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode, Hamburg 2005, S. 137. 160 Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Band III, 8. Aufl., Tübingen 1988, S. 392. 161 Reuth, S. 24, 198-200. 162 Reuth, S. 204, 296. 163 Vgl. hierzu das dem Antisemitismus-Forscher Léon Poliakov gewidmete Buch von Johannes Rogalla von Bieberstein: „Jüdischer Bolschewismus“, Mythos und Realität, Graz 2010. Danach gab es seit den Judenpogromen im Zarenreich seit 1881 den Teufelskreis einer äußeren Dialektik von Aktion, Reaktion und Gegenreaktion; ferner eine innere Dialektik von Furcht, Verfolgungswahn, Übertragung auf andere, Haß und Selbsthaß. Der Kommunismus wurde von vielen diskriminierten Juden im Zarenreich als „Arzt des Antisemitismus“ begrüßt. Die jüdischen „Doktoren der Revolution“ (Heinrich Heine) waren am bolschewistischen Terror der Tscheka und des NKWD, als Kommandanten im Gulag und im Exekutivkomitee der Komintern überproportional vertreten. Dies änderte sich erst, als der verdeckte und heimtückische Antisemitismus von Stalin von der Verfolgung der Trotzkisten, „Kosmopoliten und Zionisten“ bis hin zu den Moskauer Schauprozessen sich immer mehr offenbarte und zu einer „Slawisierung“ des NKWD führte. Inzwischen hatte jedoch die Furcht vor dem Bolschewismus zu einer zweiten Stufe des Judenhasses und zur Einschätzung von Hitler geführt, der Marxismus sei insgesamt eine jüdische Weltpest (von Bieberstein, S. 58, 157-159, 275, 285). 164 Zu den Verbindungen zwischen Zionismus und Rassenbiologie erschien jetzt die ausführliche Untersuchung von Veronika Lipphardt, Biologie der Juden, Göttingen 2008. 165 Hannah Arendt – Karl Jaspers, Briefwechsel, 2. Aufl., München 1987, S. 77, 731.

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Vgl. zum kritischen Verhältnis von Marx gegenüber Hess: Richard Friedenthal, Karl Marx, München 1981, S. 149 ff. 167 Nolte, S. 109 ff., 113 ff. 168 Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem, 6. Aufl., München 1987, S. XIV, XX, XXXI. 169 Nolte, S. 186 ff. 170 Norman Finkelstein, Der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern, Mythos und Realität, München 2002; Die Holocaust-Industrie, Wie das Leiden der Juden ausgebeutet wird, 5. Aufl., München 2001. Beide Bücher führten zu einer internationalen Debatte. Der Autor hatte allerdings keine leichte Position und verlor seine Stellung als Politologe an den Universitäten New York und Chicago. 171 Vor allem in dem Buch „Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen“, 6. Aufl., München 1987, Vorwort IX; vgl. dazu auch den Brief vom 23.12.1960 an Karl Jaspers (Briefwechsel, S. 453). Dies löste eine scharfe Polemik gegen ihre Veröffentlichung aus, die in dem Vorwurf mangelnder Liebe zum jüdischen Volk (Gershom Scholem) gipfelte. 172 Vgl. zu den Zitaten: Nolte, S. 321 ff. 173 Vorrangig ist die Frage nach der jüdischen Identität. Ist eine jüdische Mutter Voraussetzung (wie die Orthodoxen meinen, da Vaterschaft stets angezweifelt werden kann), oder genügt auch ein jüdischer Großelternteil? Handelt es sich bei den Juden in Polen vor dem Kriege um eine Nation (polnisch „natsie“)? Wie steht es mit den „dejudaisierten“ Juden, die als Atheisten der bolschewistischen „Gottlosenbewegung“ nicht mehr als Jude angesehen werden wollten, sondern als Avantgarde des internationalen Proletariats? Vgl. dazu von Bieberstein, S. 16, 27, 49, 224, 229 f. 174 Arendt – Jaspers, Briefwechsel, S. 21 f., 46 ff., 131, 229 ff., 571. 175 Jeanne Hersch, Schwierige Freiheit, Zürich 1986, S. 216 ff. 176 Nolte, S. 364 ff. 177 Johann Peter Hebel, Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes, Stuttgart 2004, S. 114, 121 ff. 178 Vgl. zu allem Jared Diamond, Der dritte Schimpanse, Frankfurt 1994, S. 355-383. 179 Karl Jaspers, Die Schuldfrage, München 1987, S. 23-25, 81-84; Wohin treibt die Bundesrepublik?, München 1988, S. 45, 77. 180 So in einer Untersuchung der Wirtschaftsgeschichte der letzten 800 Jahre: Carmen Reinhart/Kenneth Rogoff, This Time Is Different, Eight Centuries of Financial Folly, Princeton 2009. 181 John Kenneth Galbraith, Der große Crash 1929, 4. Aufl., München 2008, S. 83 f., 216 ff. 182 Loretta Napoleoni, Die Zuhälter der Globalisierung, München 2008, S. 79. 183 Vgl. dazu Frey, S. 408-417. 184 Frey, S. 244 ff. 185 Napoleoni, S. 55-57, 60, 67. 186 Das Volumen der Derivate betrug im Jahr 2009 weltweit 700 Billionen Dollar. Davon wurden nur knapp 100 Billionen über Börsen, mehr als 600 Billionen Dollar dagegen unkontrolliert außerhalb der Börsen gehandelt. Der Großteil entfiel auf Zinsprodukte wie die Terminkontrakte auf Bundesanleihen; der Rest auf Währungs-, Aktien- und Rohstoffprodukte sowie Kreditausfallderivate. Angeblich sind Derivate für die Finanzbranche unverzichtbar, um auf Nachfrageschwankungen reagieren zu können und das „Kapital optimal einzusetzen“. In Wirklichkeit handelt es sich um Scheingewinne ohne volkswirtschaftlichen Wert für Realwirtschaft und Arbeitnehmer. Die Finanzbranche setzte immer größere Hebel für ihre Geschäfte ein, um mit immer weniger Eigenkapital mít immer mehr Fremdkapital spekulieren zu können. Dies trieb die Eigenkapitalrendite in die Höhe und steigerte damit die Gehälter und Boni der Banker. 187 Hauptursache für Staatsbankrotte in der Zeit der Monarchien waren teure Kriege und der Luxuskonsum. In den heutigen Demokratien kommt die Hauptgefahr vom Wohlfahrtsstaat; die

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Sozialausgaben werden nicht ausschließlich durch Steuereinnahmen finanziert, sondern durch eine ungedeckte Ausweitung der Geldmenge und Kreditaufnahme über das Bankensystem. 188 Napoleoni, S. 110 ff. 189 Die Hauptprofiteure der Krise waren vor allem die Banker und Kapitaleigner, die mit ihrem besseren Insiderwissen Bankenkrisen und die Gefahr eines Staatsbankrotts voraussehen konnten. Sie brauchten einfach nur hohe Wetten auf den Eintritt der Krise oder des Zusammenbruchs abzuschließen. 190 Vgl. zur Geschichte der Mafia: Napoleoni, S. 36-43, 84-87, 100-108. 191 Napoleoni, S. 36-43, 145-154. 192 Dazu die materialreichen Bücher von Jürgen Roth, Ermitteln verboten!, Frankfurt 2004, und Mafialand Deutschland, Frankfurt 2008. 193 Napoleoni, S. 277 194 Napoleoni, S. 88-95, 292-326. 195 Vgl. dazu die zitierten Bücher von Jürgen Roth. 196 Rainer Maria Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, Kommentierte Ausgabe, Stuttgart 1997, S. 37, 69, 290, 292, 340. Vgl. zu dem Menschentyp, der blinden Zufällen, wie in einer Grenzsituation, ausgesetzt ist, Kiel 2005, S. 63 ff. 197 Kant, Werke, Band IX, S. 98 (A 22). 198 Immanuel Kant, Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte, Akademieausgabe, A 21, 22.; Ch. M. Wieland, Der goldene Spiegel und andere politische Dichtungen, München o. J., S. 223 ff. 199 Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, München 1923 (208. Tausend, München 1990), S. 44 ff., 141 ff. 200 Karl Jaspers, Der Offenbarungsglaube in der Politik (Nachlaß), S. 43 f. 201 Vgl. dazu Darlington 1962, S. 297-302. 202 Darlington 1962, S. 224 f., 268-271. 203 Rüdiger Wolfrum/Johanna Mantel, Ein Kontinent lernt Demokratie, in: Max Planck Forschung, 2010/1, S. 10 ff. 204 Heinsohn, S. 146 ff.; Napoleoni, S. 247-254. 205 Vgl. Anm. 16. 206 Vgl. dazu näher Kiel 2008, 224 ff. 207 Bair, S. 668. 208 Heimo Schwilk, Ernst Jünger, München 2007, S. 436 f. 209 Ernst Jünger, Der Weltstaat, Stuttgart 1960, S. 74 f. 210 Günter Figal/Georg Knapp (Hg.), Prognosen, Jünger-Studien Band 1, Tübingen 2001, S. 2131, 73-80; Heimo Schwilk, Ernst Jünger, München 2007, S. 485-487, 546 f., 559. 211 Jaspers, Logik, S. 37 f. 212 Hans Küng, Projekt Weltethos, München 1990, S. 98 ff. 213 Carl Schmitt, Politische Theologie, 3. Aufl., Berlin 1979, S. 20. 214 Carl Schmitt, Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte. Ein Beitrag zum Reichsbegriff im Völkerrecht, Berlin 1979 (1941), S. 49 ff. Zu Carl Schmitts Sicht der Pax Americana: Kiel 1998b, S. 45 ff. 215 So die Goldene Regel des Buches „Maß und Mitte“, in: Die Lehren des Konfuzius, Übersetzung von Richard Wilhelm, Frankfurt 2009, S. 593. Zu den fünf Kardinaltugenden und Beziehungen das Vorwort von Hans von Ess, S. 37. 216 Wie die asiatischen Religionen die Wirtschaftsethik der Kulturen bestimmt haben, wurde von Max Weber in der Studie „Hinduismus und Buddhismus“ untersucht (Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Band II, 7. Aufl., Tübingen 1988). Diese Studie gilt heute noch als vorbildlich; dazu: Max Webers Studie über Hinduismus und Buddhismus, hrsg. von Wolfgang Schluchter, Frankfurt 1984.

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So formulierten es die Freunde Hölderlins in einer Diskussion Ende des 18. Jahrhunderts; Härtling, S. 412 f. 218 Die westlichen Medien neigen dazu, in ihrer China-Berichterstattung denunzierende Floskeln zu verwenden („Gelbe Gefahr, Klimasünder, Billigproduzent“) und sich auf konflikt- und gewaltträchtige Themen wie Verletzung der Menschenrechte, Verfolgung von Dissidenten und Unruhen unter Minderheiten zu beschränken. Die „Medienlogik“ ist immer mehr an Negativem als an Positivem interessiert. Die erstaunlichen Wandlungsprozesse Chinas werden dabei nicht genügend gewürdigt. Hier mag die unbewußte Angst, in einer Systemkonkurrenz am Ende als Verlierer dazustehen, eine Rolle spielen. 219 Ausführlich zu diesen kriegerischen Auseinandersetzungen: Wolfgang Ekkehard Scharlipp, Die frühen Türken in Zentralasien, Darmstadt 1992, S. 40 ff., 56. 220 Was im Herbst 2009 als griechische Schuldenkrise begann, entwickelte sich im Jahre 2010 zu einer Währungskrise des Euro. Der Anfang Mai 2010 beschlossene „Rettungsschirm“, der von den Euro-Staaten und dem IWF finanziert wird, kann allenfalls vorübergehend Entlastung bieten. Die grundlegenden Schwierigkeiten, die Überschuldung vor allem der Mittelmeer-Staaten von Portugal bis Griechenland, bleiben ungelöst. Auch diese Krise wurde von Hedge-Fonds-Managern wie George Soros und John Paulson mit ihrem Insiderwissen ausgenutzt. Sie bereiteten bereits seit Februar 2010 große Spekulationswetten gegen den Euro vor. 221 Paul Kirchhof, „Faszination Europa“, in: FAZ vom 19.9.2009. 222 Harald Welzer, Klimakriege, Frankfurt 2008, und Zbigniew Brzezinski, Die einzige Weltmacht, Berlin 1997. 223 Vgl. dazu ausführlich Angelika Emmerich-Fritsche, Vom Völkerrecht zum Weltrecht, Berlin 2007. 224 Peter Sloterdijk, „Regeln für den Menschenpark“, in: Die Zeit 1999, Nr. 38. 225 Lawrence Kohlberg, „Stage and Sequence“, in: Handbook of Socialization Theory and Research, Chicago 1969. 226 Singer/Ricard, S. 30 f. Vgl. zu den noch ausstehenden Synchronisationsleistungen des Gehirns in der Adoleszenzphase auch Kap. I A 3. 227 Hans Saner, „Karl Jaspers in seiner Zeit“, in: Schulz (Hg.), S. 23, 25. 228 Karl Jaspers, Nachlaßschrift „Offenbarungsglaube in der Politik“, S. 27. Zum Projekt Weltgeschichte der Philosophie und Weltphilosophie näher: Hasan Haluk Erdem, „Jaspers’ Weltphilosophie und ihre Bedeutung für die universale Kommunikation“, in: Karl Jaspers. Geschichtliche Wirklichkeit, hrsg. von Andreas Cesana und G. J. Walters, Würzburg 2008, S. 207 ff., und Richard Wisser, „Projekt und Vision einer Weltgeschichte der Philosophie und Weltphilosophie“, in: Karl Jaspers. Philosophy on the Way to World Philosophy, hrsg. von L. H. Ehrlich und Richard Wisser, Würzburg/Amsterdam 1998, S. 61-70. 229 Wilhelm Capelle, Die Vorsokratiker, Stuttgart 1968, S. 82. 230 Robert Spaemann, „Die Idee eines philosophischen Glaubens bei Jaspers “, in: Schulz (Hg.), S. 147, 156, 160. 231 Karl Jaspers, Einführung in die Philosophie, 30. Aufl., München 1992, S. 67. 232 Karl Jaspers, Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, 3. Aufl., Darmstadt 1984, S. 234 f. 233 Jaspers, Chiffren, S. 44 f., 61, 77. 234 Gerhard Knauss, „Chiffren der Transzendenz“, in: Schulz (Hg.), S. 185, 187. Erstmals und ausführlich wurde von Karl Jaspers die Chiffrenlehre in Band III der „Philosophie“ (Metaphysik), S. 128-172, dargestellt. 235 Jung, Briefe, Band I, S. 418 und Band II, S. 338. 236 Robert Spaemann, „Die Idee eines philosophischen Glaubens bei Jaspers“, in: Schulz (Hg.), S. 152. 237 Odo Marquard, Skeptische Methode im Blick auf Kant, Freiburg 1958, S. 30 ff.

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Charles Taylor, Ein säkulares Zeitalter, Frankfurt 2009. Zu Leibniz und den Sprachpuristen des 17. Jahrhunderts: Kiel 1990, S. 73-75. 240 Jünger, Siebzig verweht, Band I, Stuttgart 1980, S. 388. 241 Jaspers, Chiffren, S. 10, 27 f. 242 Lars Gustafsson, Frau Sorgedahls schöne weiße Arme, München 2009, S. 13, 16, 66. 243 Immerhin wird Jesus im Neuen Testament zwar als der Sohn Gottes und Erlöser angesprochen, aber auch als das „Ebenbild des unsichtbaren Gottes“ (Colosser 1, 15). Das heißt, Gott selbst ist der verborgene Gott, der deus absconditus, im Sinne Kants geblieben und hat sich nicht unvermittelt, sondern nur durch einen Vermittler offenbart. 244 Bair, S. 914 f. 245 Die Kennzeichnung „entlaufener Katholik“, der „kommunikationslos, gottlos und weltlos“ zugleich sei, wurde von Jaspers in den „Notizen zu Martin Heidegger“ (2. Aufl., München 1978, S. 12, 232) verwendet. Zur frühen Karriere des Chorknaben und Priesterseminaristen Stalin als Mörder, Bankräuber und Schutzgelderpresser: Montefiore, S. 33 ff. 246 Ausführlicher zu den drei Sprachen der Transzendenz und dem Zusammenhang zwischen den Signa der Existenz und Chiffren der Transzendenz: Kiel 2008, S. 235-239, 247-250. 247 Kiel 2008, S. 249, m. w. N. 248 Zum tragischen Wissen als eine Art des Wahrseins in ursprünglichen Anschauungen: Jaspers, Von der Wahrheit, S. 917 ff. 249 Maimonides, Führer der Unschlüssigen, Band 3, Hamburg 1972, 12. Kap., S. 51-59. 250 Zur schizoiden Rationalität im Gegensatz zur mathematischen und sozialen Rationalität: Kiel 2008, S. 202-210. 239

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