Neuplatonismus und Ästhetik: Zur Transformationsgeschichte des Schönen 9783110898965, 9783110192254

The volume enquires into the relationship between philosophy and aesthetics in Late Antiquity. Is the sensuous beauty of

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German Pages 264 Year 2007

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Neuplatonismus und Ästhetik: Zur Transformationsgeschichte des Schönen
 9783110898965, 9783110192254

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Neuplatonismus und Ästhetik



Transformationen der Antike

Herausgegeben von Hartmut Böhme, Horst Bredekamp, Johannes Helmrath, Christoph Markschies, Ernst Osterkamp, Dominik Perler, Ulrich Schmitzer

Band 2

Walter de Gruyter · Berlin · New York

Neuplatonismus und Ästhetik Zur Transformationsgeschichte des Schönen

Herausgegeben von

Verena Olejniczak Lobsien und

Claudia Olk

Walter de Gruyter · Berlin · New York

Dieser Band ist aus einer Tagung des Berliner Sonderforschungsbereichs 644 „Transformationen der Antike“ hervorgegangen und wurde mit finanzieller Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft erstellt.

앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm 앪 über Haltbarkeit erfüllt.

ISBN 978-3-11-019225-4 ISSN 1864-5208 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2007 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, 10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Umschlaggestaltung: Martin ech, Bremen Logo „Transformation der Antike“: Karsten Asshauer ⫺

Vorbemerkung Die im vorliegenden Band versammelten Originalbeiträge sind hervorgegangen aus einer Tagung des DFG-geförderten Sonderforschungsbereichs TRANSFORMATIONEN DER ANTIKE zum Thema „Neuplatonismus und Ästhetik“, die im November 2005 an der Humboldt-Universität zu Berlin stattfand. Lutz Bergemann und Cornelia Wilde haben die Texte zusammen mit Jan Max Reinhardt, Julia Schoen und Bettina Schütte mit großem Engagement redigiert; die Manuskriptvorlage hat Jennifer Schröder mit Umsicht und bewunderswerter technischer Versiertheit eingerichtet. Ihnen und allen, die an der Tagung „Neuplatonismus und Ästhetik“ teilgenommen und zu ihrem Gelingen wie zu diesem Buch beigetragen haben, sei an dieser Stelle herzlich gedankt. Berlin, im April 2007 Verena Lobsien ..................................................................................... Claudia Olk

Inhaltsverzeichnis VERENA OLEJNICZAK LOBSIEN Neuplatonismus und Ästhetik. Eine Einleitung ......................................................1 WALTER HAUG Gab es eine mittelalterliche Ästhetik aus platonischer Tradition?........................19 JENS HALFWASSEN Schönheit und Bild im Neuplatonismus................................................................43 ARBOGAST SCHMITT Symmetrie und Schönheit. Plotins Kritik an hellenistischen Proportionslehren und ihre unterschiedliche Wirkungsgeschichte in Mittelalter und Früher Neuzeit..............................................................................59 THOMAS LEINKAUF Der neuplatonische Begriff des ‚Schönen‘ im Kontext von Kunst- und Dichtungstheorie der Renaissance ........................................................................85 VERENA OLEJNICZAK LOBSIEN Retractatio als Transparenz. Rekursive Strukturen in Spensers Fowre Hymnes ...............................................................................................................117 LUTZ BERGEMANN Cudworth interpretiert Euripides. Neuplatonische Metaphysik und heteronome Ästhetik als Faktoren einer Transformation antiker Dichtung ........139 KATHARINA MÜNCHBERG Platonismen in der Ästhetik der französischen Aufklärung. Diderot und Rousseau .............................................................................................................163 ECKHARD LOBSIEN Der Entzug des Schönen. Neuplatonische Ästhetik bei Samuel Taylor Coleridge.............................................................................................................185 CLAUDIA OLK Idealität und Immanenz. Virginia Woolfs To the Lighthouse.............................213

Inhaltsverzeichnis

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MARIA MOOG-GRÜNEWALD Re-Ontologisierung der Sprache. Anmerkungen zur Poiëtik der modernen Lyrik ..................................................................................................................231 Über die Autoren ................................................................................................247 Namenregister.....................................................................................................251

Neuplatonismus und Ästhetik. Eine Einleitung Verena Olejniczak Lobsien ‚Beauty is truth, truth beauty‘ – that is all Ye know on earth, and all ye need to know.

Mit diesen Worten, so oft zitiert und so kontrovers interpretiert wie nur wenige Zeilen der englischen Poesie, verleiht John Keats am Schluss seiner „Ode on a Grecian Urn“ (1819) der Besungenen Stimme.1 Die apodiktische Wendung, gerühmt als paradoxe Summe dessen, was das Gedicht zu sagen sucht, gescholten als bedeutungsloses Pseudo-Statement, ist – das jedenfalls ist unbestritten – unerhört einprägsam, so sehr, dass sie außerhalb ihres poetischen Kontextes vermutlich kaum mehr zu sein vermag als ein (vielleicht noch vage romantisch anmutender) Topos. In ihrer rhetorischen Kompression bietet sie gleichwohl eine Kurzformel dessen an, worum es in diesem Band geht – eine Formel allerdings, deren aphoristischer Duktus und Absinken zum geflügelten Wort nicht nur die systematischen Schwierigkeiten, die sie auf einen allzu prägnanten, chiastischelliptischen Punkt bringt, erfolgreich zu verschleiern vermag, sondern auch ihre eigenen inneren Komplikationen. Ich will kurz andeuten, welcher Art diese sind, denn sie führen uns mitten in den Zusammenhang, den die Frage nach Neuplatonismus und Ästhetik eröffnet. So ist ein Aspekt der textinternen Ambiguität dieser Zeilen etwa die unklare Begrenzung der in ihnen inszenierten Prosopopoiie, die die Zuschreibung der sich anschließenden anderthalb Schlusszeilen mit ihrem gesteigerten Absolutismus („that is all“) erschwert. Wer spricht hier eigentlich? Auch die nicht weiter erklärte Reduktion der angebotenen ‚idealistischen‘ Einsicht auf Irdisches („on earth“) vermag zu irritieren, scheint sie doch den identifikatorischen Überschwang, mit dem Schönes und Wahres zumindest formal auf einen Nenner gebracht wurden, zuletzt wieder radikal in Zweifel zu ziehen. Aber die Rede der Vase ist auch als solche ein Widerspruch. Denn nichts rückt dieser Text so nachdrücklich in den Vordergrund wie das sich selbst genügende Schweigen des betrachteten Gefäßes; prominent gleich in der Apostrophe seines Beginns:2 _____________ 1

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Keats, The Poems of John Keats, 537, Zeilen 49–50. Hier auch weitere bibliographische Hinweise auf die umfangreiche kritische Diskussion um den Text. Zeilen 1–4, vgl. aber auch die Zeilen 5–14, 38–40, 44–45.

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Verena Olejniczak Lobsien Thou still unravished bride of quietness, Thou foster-child of silence and slow time, Sylvan historian, who canst thus express A flowery tale more sweetly than our rhyme!

Eben das Schweigen („silence“) des antiken Kunstwerks, der hier schon angedeutete Paragone mit dem Gedicht, das sich ihm ekphrastisch, dabei mehr fragend als beschreibend, nähert und zugleich durchgehend schwankt zwischen bewundernder Anerkennung seiner uneinholbaren künstlerischen Präsenz und dem kühnen, unmöglichen Versuch, sie ins Wort zu bringen – eben dieses höchst vielsagende Schweigen des Kunstwerks ist sein Thema. Es wird dargestellt auf der Vase, in der im Versagen auf Dauer gestellten Liebe wie im Opfer als Teil eines unbekannten Kults, und es wird praktiziert im Gedicht, das in der Reihe seiner unbeantwortbaren Fragen vor allem die Unleserlichkeit der ikonischen Zeichen herausstellt. Als „Sylvan historian“ gibt die Vase unüberbrückbare historische Distanz zu verstehen – und doch überbrückt sie, das behauptet der Text, eben diese Distanz durch ihre künstlerische Gegenwart. Und auch im Gedicht beansprucht die Präsenz des Werks einzutreten für einen erkenntnistheoretischen Mangel. Der Text will ein metaphysisches Defizit ausgleichen, indem er genau die Wahrheit tautologisch-paradox artikuliert (und eben damit auch nicht eigentlich ‚ausdrückt‘), deren Entzifferung uns das antike Kunstwerk verweigert. Sowohl die epistemologische Aufladung poetischer Imagination als auch das Sujet,3 das diese in der „Ode on a Grecian Urn“ höchst vermittelt, in verbaler Übersetzung des mutmaßlich auf der Keramik Dargestellten umkreist, impliziert Fragen, die ins Prinzipielle reichen und sich weiter verzweigen als dieser suggestive Text, wiewohl sie sich in ihm bereits abzeichnen. Noch in dem von ihm thematisierten und zugleich vorgeführten Widerstand, den das Kunstwerk – Gefäß wie Gedicht, paradox gehaltvoll in ihrer ostendierten Oberflächlichkeit – gerade in seiner Materialität der Aneignung entgegensetzt, handelt er von einer zentralen Herausforderung an platonisches Denken. In historischer Perspektivierung verschärft sich diese systematische Schwierigkeit. Womöglich ist ja das, was bildungsbürgerlich als Inbegriff platonisierender Romantik gelten mag – „Beauty is truth, truth beauty“ –, im Grunde bereits deren Selbstanfechtung in der Frage nach der Warte, von welcher aus im frühen 19. Jahrhundert noch eine Identität von Wahrheit und Schönheit ausgesprochen werden kann. Wie aber – wenn sie schon vor zwei Jahrhunderten nicht mehr ungebrochen poetisch ausgesagt werden kann – wäre eine solche Ineinssetzung von Wahrem und Schönem heute noch zu denken? Wie ist die Beziehung in den Anfängen dieses Gedankens und in ihrem ursprünglichen Kontext gedacht worden; welche Verwandlungen hat sie erfahren? _____________ 3

Das Sujet platonischer Liebe, deren Ewigkeitscharakter auf ihrer Unerfülltheit beruht: „Bold lover, never, never canst thou kiss, | Though winning near the goal – yet do not grieve: | She cannot fade, though thou hast not thy bliss, | For ever wilt thou love, and she be fair!“ (Zeilen 17–20).

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Selbst als Klischee, das uns vielleicht wirklich nur noch als „Cold pastoral“4 berührt, vermag die Keatssche Formel hinzuführen zu den Fragen, die sich der vorliegende Band stellt und die weiter ausgreifen als die nach dem Verhältnis von Wahrheit und Schönheit. Wohl die zentrale Frage ist im Titel dieses Bandes angedeutet, in dem die Provokation der „Grecian Urn“ in abgeschwächter Form wiederkehrt. „Neuplatonismus und Ästhetik“ hält noch im neutralen Suspens, was, zusammengezogen zum Programm einer ‚neuplatonischen Ästhetik‘, als Oxymoron erscheinen könnte. Kaum vereinbar sind, so würden heute nicht wenige einwenden, das mit dem Wort ‚Ästhetik‘ angezeigte Spiel sinnlicher Wahrnehmung und jene auf Prozessen immer höherstufiger Abstraktion und entschiedenem Überstieg über alles Körperliche beruhende Philosophie des Aufstiegs, als welche sich der Neuplatonismus verstehen lässt. Zudem ist der Begriff ‚Ästhetik‘ – mindestens in der deutschsprachigen Diskussion – seit Baumgarten in spezifischer Weise besetzt. Ist nicht sein Vorhaben einer „Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis“5 eines, das so kein antiker Autor verfolgt? Überdies liegt den antiken Philosophien, allen voran den platonischen, bekanntlich ein äußerst gehaltvoller und voraussetzungsreicher Begriff am Herzen, mit dem die nachaufklärerische Moderne sich so schwer getan hat, dass er in der gegenwärtigen Rede von Kunst so gut wie keine Rolle mehr spielt – eben das Schöne. Und ist nicht dieses Schöne in antiker Auffassung in markantem Abstand vom Sinnlichen konzipiert? Hält es sich zu ihm nicht in einer Distanz, die durch die Rückprojektion des Ästhetikbegriffs in systematisch unzulässiger und anachronistischer Weise verschleiert würde? Einwänden dieser Art könnte man versuchen zu entgehen, indem man die Theoriebildung vor 1750 zur bloßen Vorgeschichte der Ästhetik erklärte. Eine entsprechende terminologische Trennung, die der Antike (und mit ihr dem Mittelalter wie der Frühen Neuzeit) das Prädikat ‚Ästhetik‘ vorenthielte und stattdessen lediglich die Rede von einer ‚Philosophie der Kunst‘ bzw. einer ‚Theorie des Schönen‘ zuließe, vermeidet zwar derlei kritische Anfragen, erweist sich jedoch als Verlegenheitslösung. Zumindest begibt sie sich6 der Möglichkeit, Kontinuitäten und Transformationsvorgänge zwischen Antike und Neuzeit bzw. Moderne zu entdecken. Sie erscheint zudem als recht spezielle Antwort auf eine Schwierigkeit, die aus den historischen Besonderheiten der deutschen Ästhetikdiskussion und ihrer modernistischen Abwehr ontologischer bzw. metaphysikverdächtiger Denkweisen erwächst. Im angelsächsischen Raum hat sich das Problem so nie gestellt;7 mit der Folge eines vergleichsweise unverkrampfteren _____________ 4 5

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„Ode on a Grecian Urn“, ebd., Zeile 45. Baumgarten, Ästhetik, 3; die Formel findet sich in § 1 der Aesthetica (1750). In diesem Verständnis eingefordert von Ritter (1971), Sp. 555. Sofern sie sich diese terminologische Zurückhaltung nicht ausdrücklich auferlegt, um – wie etwa Walter Haug im vorliegenden Band – auf ihrer Grundlage ausdrücklich nach „Einbruchstellen“ für eine ‚autonome‘ Ästhetik avant la lettre zu suchen. Aus der Sicht der angelsächsischen Tradition muss der Versuch, der Literatur vor dem 18. Jahrhundert die Qualitäten und damit auch die Wertschätzung zu verwehren, die das

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Verena Olejniczak Lobsien

Umgangs mit den Begriffen.8 Der Verzicht auf die Auszeichnung ‚ästhetisch‘ für die ältere Kunst unterschätzt nicht nur deren Leistungen, sondern auch die Erklärungsleistung der Baumgartenschen Formel. Weiterhin, und das erscheint gravierender, verspielt die terminologische Diskriminierung, was das Prädikat ‚ästhetisch‘ auch für die Kunst vor dem 18. Jahrhundert reklamieren könnte (und doch wohl auch mit einigem Selbstvertrauen reklamieren müsste): den Anspruch auf die – sinnliche – Vermittlung von Erkenntnis und Einsicht in das Wesen des Wirklichen.9 „Neuplatonismus und Ästhetik“ also fragt nicht nur danach, was mit dem Begriff ‚Ästhetik‘ auf dem Spiel steht. Die Beiträge dieses Bandes versuchen nicht nur – aus fachlich und historisch ganz unterschiedlichen Perspektiven und im Rückgang auf konkrete philosophische und literarische Texte – zu zeigen, inwiefern sich in verschiedenen Verwandlungsgestalten eine kunsttheoretische Kontinuität von der Antike her und insbesondere auf der Grundlage neuplatonischer Schönheitsmetaphysik nachzeichnen lässt (oder eben nicht).10 In Frage steht dabei systematisch auch, wenn nicht gar in erster Linie das Verhältnis von aisthesis und Erkenntnis, die Beziehung zwischen einer Wahrnehmung des Vielfältig-Partikularen und der Einsicht in ein als Einheit verstandenes Ganzes, damit die Beziehung von Sinnlichkeit und Metaphysik. Nicht jede Philosophie aber erscheint gleichermaßen geeignet zur Erhellung dieser Beziehungen. Keine _____________

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Konzept des Ästhetischen impliziert, besonders befremden. Eine Kunsttheorie wie die englische, die die Grundlagen sinnlicher Erkenntnis hinlänglich bei Locke beschrieben fand, konnte sich als sensualistisch-empiristische auf Erkundungen von aisthesis beschränken; sofern sie sich auf die exzentrische Position Shaftesburys berief, wusste sie sich zudem in Verbindung mit den antiken, vor allem platonischen Quellen einer ontologisch fundierten Metaphysik der Kunst, oder sie führte diese – etwa in den Reflexionen Coleridges – unter ausdrücklichem und systematischem Rückgriff auf den Neuplatonismus Plotins und seiner Nachfolger auf ein der deutschen Bewusstseinsphilosophie vergleichbares Niveau. Die Verlegenheiten, in die insbesondere die deutsche Diskussion geführt hat, sowie die Auswege, die eine neuplatonische Ästhetik weisen könnte, erörtert auch: Lobsien (2007). – Im englischsprachigen Bereich gibt es bis heute wenig Scheu, auch erfahrungsorientierten oder funktionalistischen Ansätzen das Prädikat ‚Ästhetik‘ zu verleihen. Das gilt vor allem für die neuere amerikanische Theoriebildung von John Dewey über Susanne Langer zu Martha Nussbaum. Aber auch die ‚ästhetizistische‘, dabei aber nicht zuletzt an Wirkungen interessierte britische Kunst- und Kulturphilosophie des 19. und frühen 20. Jahrhunderts nimmt mit John Ruskin, Matthew Arnold, Walter Pater und Vernon Lee (Violet Paget) den Begriff, etwa in Abwehr didaktischer oder moralischer Pragmatisierungen des Künstlerischen, in Anspruch. Und auch heutzutage handeln die angelsächsischen Classics ganz selbstverständlich von antiker ‚Ästhetik‘; so z. B. Halliwell (2002). Öffnungen des Konzepts in diesem Sinne zeichnen sich ab in Barck, Kliche u. Heininger (2000). Vgl. auch Büttner (2006). Luzide Ausführungen zu einer historisch begründeten Trennung der Begriffe bei gleichzeitiger Aufmerksamkeit auf die epistemologischen Leistungen der voraufklärerischen Kunst und die ‚ästhetischen‘ Ansprüche der antiken Metaphysik finden sich in Scheer (1997). Eine bruchlose theoretische Kontinuität bezweifelt etwa – mit guten Gründen – Arbogast Schmitt in seinem Beitrag für den vorliegenden Band. Er sieht mit antiken Auffassungen Unversöhnliches bereits in Renaissancekonzeptionen des Schönen, z. B. bei Ficino.

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thematisiert dieses gleichzeitig schwierige und einfache Verhältnis zwischen Vorfindlichem und seiner eigentlichen Bedeutung, sinnlich Erfahrbarem und Sinn, so ausdrücklich und insistent wie die platonische. Keine rückt so entschieden sowohl die Dynamik der hier ins Spiel kommenden Transformationsvorgänge als auch die Behauptung einer durchgehaltenen, ja sich steigernden Identität in den Vordergrund wie die neuplatonische. Und keine weist einen so gehaltvollen und historisch so wirkungsmächtigen Schönheitsbegriff auf wie die Philosophie Plotins und seiner Nachfolger. Welches wären also die systematischen Grundzüge einer neuplatonischen Ästhetik, die historische wie regionale Unterschiede beschreibbar machten, dabei aber auch und gerade in wechselnden, zum Teil stark divergierenden Modellierungen und Versionen ein neuplatonisches Profil erkennbar werden ließen? Ich möchte einige dieser Grundzüge stichwort- und thesenartig angeben. Sie bilden ein gemeinsames Terrain für die nachfolgenden Beiträge, das diese auf unterschiedlichen Wegen durchqueren und aus je spezifischer Perspektive erschließen und beleuchten. Sie versuchen aber auch, ein konzeptuelles und vor allem strukturelles Repertoire zu umreißen, das über das bloß Figurative hinausgeht. Dass die Metaphoriken von Licht, Quelle und Aufstieg zum Kernbestand des Neuplatonischen gehören, ist unbestritten und sattsam bekannt. Für alle Beiträge dieses Bandes ist es selbstverständlich.11 Es muss daher nicht eigens hervorgehoben werden, dass den einschlägigen Motiven und Topoi Indexfunktion zukommt. Ihre eigentliche Valenz im Rahmen einer philosophischen Ästhetik gewinnen sie indes erst, wenn sie als funktionale Elemente charakteristischer Denkfiguren betrachtet werden. Genuin tropische Energie entfalten sie erst im Gesamtensemble neuplatonischer Rhetorik und Poetik. Noch in anderer Hinsicht hebt sich das Unternehmen dieses Bandes von eher konventionellen Zugängen ab. Die philosophischen Gegenpositionen des Neuplatonismus, vor allem materialistische, sensualistische, empiristische Denkweisen, neigen nicht nur dazu, Unterschiede zwischen verschiedenen Platonismen zu nivellieren, sondern unterstellen ‚dem‘ Platonismus gern bestimmte Schematismen, insbesondere ein Denken in schlichten Dichotomien und eine Privilegierung oder gar Absolutsetzung eines der beiden Pole. Gerade die statische Opposition, die Dualismen wie ‚Schein‘ versus ‚Sein‘, ‚Körper‘ versus ‚Seele‘ oder ‚Materie‘ versus ‚Geist‘ zu suggerieren suchen, verfehlt jedoch das zentrale Engagement und den monistischen Elan vor allem des Plotinischen Neuplatonismus (spürbar etwa in seinen entschiedenen Gesten der Absetzung von konkurrierenden dualistischen Modellen wie der zeitgenössischen Gnosis). Weder die Fokussierung von Einzelelementen einer bevorzugten Bildlichkeit oder Topik noch großformatige Simplifizierungen können also für den Entwurf _____________ 11

Dass zwischen dem Vorkommen neuplatonischer Themen und Strukturen, die das Prädikat ‚neuplatonisch‘ verdienen, zu unterscheiden ist, betont auch der Beitrag von Maria MoogGrünewald in diesem Band. Ihr programmatischer Entwurf verfolgt den Eros von seinem Auftreten in poetischer Referentialität bis zum Strukturprinzip moderner Literatur.

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einer neuplatonischen Ästhetik leitend sein. Vielmehr kommt es wohl auf die Strukturen auf einer mittleren Generalisierungsebene an. Der vorliegende Band versteht sich als Beitrag zu einer Verdeutlichung dieser Strukturen. Zugleich lässt er sich von dem Gedanken leiten, der sowohl die Arbeit des Sonderforschungsbereichs „Transformationen der Antike“ als auch das Teilprojekt „Konfigurationen des Neuplatonismus“ bestimmt. Er lenkt das Augenmerk auf die signifikanten Alterierungen und Modifikationen, die die antiken Bestände in wechselnden historischen und kulturellen Kontexten und Konstellationen erfahren. Zur Debatte steht damit auch die Kontinuität des Platonismus. Dass diese zwischen Platon und Postmoderne nicht in Gestalt durchgehaltener Einheitlichkeit bestehen kann, erscheint so erwartbar wie evident, und zwar selbst dort, wo eine direkte Berufung auf ‚das Original‘ erfolgt. Der Platonismus Plotins ist zweifellos und aus angebbaren Gründen ein anderer als der Coleridges, und bereits der Ficinos ist – allem Streben nach ungebrochener Fortschreibung der prisca philosophia zum Trotz – ein anderer als der seiner spätantiken Vordenker.12 Wie heterogen allerdings diese Überlieferung ist, wie groß die Amplitude der Ausschläge; wo die Alterierungen und gegebenenfalls Brüche zu verorten sind; grundsätzlicher: welches eigentlich die Kriterien der Zugehörigkeit zum ‚(Neu)Platonischen‘ sind und was dessen inneren Zusammenhalt ausmacht; schließlich und vordringlich: welcher Art die Produktivität, vor allem die künstlerisch-ästhetische, aber auch die philosophische, dieses systematischen Ensembles gerade auch in seinen gedanklich prekären, marginalen oder gar exzentrischen Formationen ist – das sind Fragen, die aus dieser Perspektive der Transformation mitzubedenken sind. Nicht um die Feststellung von Kontinuität also geht es zuletzt, sondern um die Funktionalität der sich einstellenden Versionen. Diese sind selbstverständlich im Bewusstsein ihrer historischen Bedingtheit zu rekonstruieren; freilich ist damit noch keineswegs garantiert, dass sich die Transformationen, die sich auf diese Weise innerhalb der philosophisch–theologischen Reihen13 vollziehen, auch stets und in erkennbarer Entsprechung zu den theoretischen (auch poetologischen) Vorgaben auf die künstlerische Praxis auswirken. Möglich bleibt das Auftreten des Unzeitgemäßen, des Widerstands gegen die dominanten Modelle mit ihren Normierungsansprüchen.14 Was also leistet eine neuplatonische Ästhetik vor diesem Hintergrund ihrer keineswegs einlinigen Derivation aus einer Antike, die weder als statische noch als univoke Referenz zur Verfügung steht? Ihr Modell vermag, so möchte ich orientiert an wenigen ausgewählten Stichworten ausführen, mindestens fünf eng miteinander zusammenhängende Komplexe zu erschließen, die zugleich Elemente _____________ 12

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Vgl. hierzu auch die differenzierende Ausfaltung der kunstphilosophischen Fassungen des Begriffs des Schönen in der italienischen Renaissance – mit besonderem Augenmerk auf deren Wendung zum Imaginativ-Phantastischen – im hier vorgelegten Beitrag von Thomas Leinkauf. Zum Begriff der Reihe s. Tynjanov (1924) und Tynjanov (1927). Mit den anglistischen Beiträgen von Verena Olejniczak Lobsien, Eckhard Lobsien und Claudia Olk enthält dieser Band drei Versuche, dieses Phänomen an Beispielen aus der englischen Renaissance, der Romantik und der klassischen Moderne zu studieren.

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einer neuplatonischen Ontologie der Schönheit als auch Dimensionen der Kunst, insbesondere der Literatur, sowie Kategorien ihrer Interpretation bilden: 1. Transformation 2. Mimesis 3. Einheit 4. Transparenz 5. Verweisung. Transformation: Nicht ohne Bedacht steht dieser Aspekt an erster Stelle. Er bezeichnet nicht nur eines der hervorstechendsten Kennzeichen des Neuplatonischen, sondern er lässt auch eine strukturelle Affinität zwischen dem eben skizzierten Forschungsbereich, den diese Buchreihe thematisiert, und dem Gegenstand dieses Bandes hervortreten. Neuplatonisches Denken kann geradezu als Transformationsphilosophie par excellence erscheinen. Eine seiner berühmtesten Charakterisierungen bestimmt es als „Denken des Einen“.15 Diese Beschreibung des Neuplatonismus als Henologie faltet in ihrer Identitätsemphase die Bewegung ein, die Seele, Geist und Eines aufeinander bezieht und miteinander verknüpft: eine Bewegung der dynamischen Übergängigkeit oder eben der Transformation. Die Reflexionsbewegung, mit der sich Seele und Geist auf sich zurück und ineins damit auf die nächsthöhere Seinsstufe hin wenden, ist eine, die sie zu eben dem werden lässt, worauf sie sich beziehen. Plotins Denken vollzieht Satz für Satz diese Bewegung der transzendierenden Einswerdung mit dem höchsten Erkenntnisziel, das zugleich das Wahre, Gute und Schöne ist, nach und leitet zu ihrem transformierenden Nachvollzug an. Nicht die statische Jenseitigkeit einer Ideenwelt, sondern vielmehr die Dynamik einer denkend-fühlenden Selbstüberschreitung macht diese Denkweise über Jahrhunderte attraktiv und vielfältig anschlussfähig. Ihr transzendierender Impetus verleiht poetologisch kulturbildenden Systemen wie dem Renaissance-Petrarkismus das spezifische Format; er bleibt spürbar noch in poetischen Formationen der Klassischen Moderne. Genau diese anagogische Struktur einer in ihrem Grundzug transformatorischen Philosophie, die weiß, dass sich die menschliche Seele dem assimiliert, wovon sie sich erfüllen lässt, und die will, dass wir zu dem werden, wovon sie handelt, bleibt Kern ihrer Faszination bis in die Neuzeit und darüber hinaus. Unter dem Stichwort „Verweisung“ komme ich weiter unten nochmals darauf zurück. Mimesis: Der auf Wandlung durch Reflexion und Überstieg gerichtete Impuls bestimmt das Verhältnis von Seele und Geist zueinander und zum Einen. Dieses Verhältnis, mehr noch: die Beziehung aller Realitätsebenen in der ontologischen Hierarchie, die der Neuplatonismus einrichtet, zu ihrem Ursprung und höchsten Ziel lässt sich als Nachahmung des Einen beschreiben: als metaphysische Mimesis.16 Denn aus dieser Sicht hat alles, was ist, immer schon, wie vermittelt und _____________ 15 16

Beierwaltes (1985). Diesen plotinischen Gedanken entfaltet Halliwell (2002): „On the largest scale, Plotinus can speak of the relationship between everything and the One as a case of mimesis: all things aspire to the eternity and goodness embodied in the first principle of the cosmos (5.4.1.33). More

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Verena Olejniczak Lobsien

abgestuft auch immer, teil am Einen und sucht zu ihm zurückzukehren, indem es ihm und damit dem Grund des eigenen Wesens ähnlicher wird. Mimesis gewinnt demnach für das neuplatonische Denken den Status einer absoluten Metapher: Sie beschreibt das Grundprinzip alles Lebendigen. Als dynamischer Vollzug hat sie die zirkuläre Struktur einer Reflexion, die, indem sie an ihrem Ziel – dem Ursprungspunkt ihrer Bewegung – anlangt, zugleich über sich hinausgelangt, denn ihr Ziel ist eben die ultimative Vollkommenheit, die sie motiviert und die ihrerseits nur als stets ausstehende und nicht bestimmbare denkbar ist. In dieser Verknüpfung mit der fundierenden neuplatonischen Denkfigur der epistrophé, der Rückkehr zum Einen, lässt das Prinzip der Mimesis zugleich subjektivitätstheoretische und ästhetische Implikationen erkennbar werden.17 So zeichnen sich vor allem in der seelen- und geistmetaphysischen Ausarbeitung des Prinzips bei Plotin Strukturen der Reflexivität ab,18 die Affinitäten zu neueren Entfaltungen idealistischer Bewusstseinsphilosophie19 aufweisen. Eine Subjektivitätsformel wie die Dieter Henrichs, die, in kritischer Überwindung tautologischer Auffassungen von Selbstsein als Resultat von in sich laufender Reflexion, Selbstbewusstsein in unhintergehbarer Vertrautheit mit sich gegründet sieht, steht nicht im Widerspruch zu neuplatonischen Konzeptionen, für die die Zurückwendung der Seele zu sich erst ermöglicht und zuletzt bestimmt ist nicht durch Selbstspiegelung, sondern durch ein Anders-Sehen des eigenen Selbst, durch ihre fundamental gegebene, aber reflexiv erst zu realisierende Verbundenheit mit den höheren Seinsgraden des nous und des (prädikationslosen und damit denkend nicht einholbaren) Einen. Neuplatonisches Denken ermöglicht so einen Rückgriff hinter Reflexionstheorien des Idealismus und damit auch die Überwindung von klischeehaften Konzeptionen eines ‚autonomen‘ Selbst.20 In Versionen heteronomer Reflexivität, für die Selbstsein aus der Nachahmung uneinholbarer Alterität erwächst, lassen sich dann auch vor der Ausbildung neuzeitlicher Bewusstseinsphilosophie vor allem in literarischen Texten Formationen und rekursive Strukturen entdecken, die mit Recht als subjektivitätskonstitutiv angesprochen werden können. Zugleich ist damit mindestens eine wichtige Voraussetzung für die Rede _____________

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commonly, Plotinus posits mimesis between comparable entities or components of reality at distinct levels of his system, or between these levels themselves. […] If, in Plotinus’ scheme of things, being or reality ‚flows‘ down the cosmos from top to bottom, mimetic affinities are one way of talking about the process by which all being endeavors to revert, upward, to its source. To understand mimesis is, accordingly, to understand a key principle of the dynamics of reality.“ (314–315). Der Beitrag von Verena Olejniczak Lobsien im vorliegenden Band untersucht epistrophé als ästhetische Struktur bei Edmund Spenser. Zur Henosis vgl. die grundlegenden Schriften von Werner Beierwaltes, vor allem Beierwaltes (1991) sowie Beierwaltes (2001). Vgl. auch Rappe (1996). Die Reflexionsphilosophie Plotins und seiner Nachfolger findet sich in vorbildlicher Klarheit dargelegt auch in Halfwassen (2004). Vgl. Henrich (1966). Vgl. Halfwassen (2005b).

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von Ästhetik gegeben; es ließen sich bereits im Ausgang vom Mimesis-Gedanken weitere benennen, deutlicher werden sie jedoch unter der folgenden Rubrik. Einheit: Das neuplatonische Mimesiskonzept bietet die Grundlage für ein Verständnis von Kunst, das von platonischen Auffassungen abweicht, die sich auf die vor allem in den bekannten Formulierungen der Politeia vorgenommene Relegation des Kunstwerks zur Kopie einer Kopie, einer zweifach von der Realität entfernten, daher ontologisch geringwertigen Imitation berufen.21 Eine schlichte Abspiegelung des Eigentlichen ist aus dieser Sicht ohnedies und von vornherein unmöglich, denn das Eine ist der Wahrnehmung entzogen und dem Denken nicht verfügbar, über jede Bestimmung hinaus. Gleichwohl ermöglicht die Einrichtung eines mimetischen Verhältnisses der Hypostasen zueinander nicht nur die skizzierte Verinnerlichung, die Nachahmung zu einer proto-subjektiven Erfahrung werden lässt und damit die Aufmerksamkeit vom Gegenstand der Nachahmung und von damit verbundenen Adäquatheitsfragen abzieht und auf die Modalitäten dieser Erfahrung hinlenkt. Vielmehr erscheint Mimesis auf diese Weise gerechtfertigt, geradezu naturwüchsig (da legitimiert durch vorgängige Relationen), als Geste und Bewegungssinn alles Seienden auf das Höchste und Eine hin – aber eben im Wissen um dessen prinzipielle Nichtverfügbarkeit. Gerade die Entrückung des Vollkommenen schafft den Spielraum für dessen Imagination. Damit aber rückt in den Bereich des Möglichen und künstlerisch Realisierbaren, was kaum denkbar und – wiewohl Grundüberzeugung des neuplatonischen Weltverständnisses – nur paradox formulierbar ist: So wie, in einer Wendung des Johannes Scotus Eriugena, alles Erscheinende als „Erscheinen des Nichterscheinenden“22 durchscheinend ist auf die höchste Einheit hin, so kann auch das Kunstwerk als etwas aufgefasst werden, das – trotz seiner Materialität und gerade durch sie vermittelt – diese Einheit vergegenwärtigt. Es vermag das kraft seiner _____________ 21

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Politeia 596 A–608 B, bes. 597 E; zum Vergleich Plotins Enneade V 8. Zumindest wird man in neuplatonischen Interpretationen dieser Topoi eine Modifikation jener Auffassungen sehen können, die über die Überzeugung vom ontologisch tertiären Status der Poesie bis in die imitatio-Theorien der Renaissance fortwirken und die dafür sorgen, dass sich in den frühneuzeitlichen Poetiken nur sehr zurückhaltende Bestimmungen der Kreativität des Dichters finden. Eine Ausnahme bildet etwa Sir Philip Sidneys Defense of Poetry; allerdings ist die dort artikulierte Aufwertung insbesondere der poetischen Einbildungskraft wohl ermöglicht durch den deutlich neuplatonischen Kontext seiner Argumentation (s. hierzu Lobsien/Lobsien (2003), 36–61 und öfter). Die Charakteristika der neuplatonischen Platon-Exegese legt präzise dar Coulter (1976), v. a. Kapitel IV, „Organicism: The Microcosmic Analogue“, 95–126. Vgl. aber auch die ausführliche Revision älterer Positionen anhand von Proklos’ Parmenides-Kommentar bei Radke (2006). Eriugena, Periphyseon (Über die Einteilung der Natur) III 4, 264. Eine theologische Ästhetik, die auf diesem Grundgedanken aufbaut, findet sich in Balthasar (1988). (Die Wurzeln des Balthasarschen Denkens und Wirkens in der germanistischen Geistesgeschichte der zwanziger Jahre werden mit Blick auf eine frühe Schrift kritisch beleuchtet in Hallensleben/Vergauwen [2006]).

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Schönheit, denn in ihr zeigt sich das Eine.23 Die plotinische Lehre vom Schönen ruht auf der Grundannahme, dass alles Materielle und Lebendige als Geschaffenes seinen Ursprung in Transzendenz hat und dorthin, zur Einung mit dem Höchsten, zurückstrebt. Alles Schöne, das sich der sinnlichen Wahrnehmung erschließt, ist so in einem Bereich absoluter Vollkommenheit beheimatet, der seinerseits alle Wahrnehmbarkeit übersteigt. Daher löst es Liebe, ein dringendes Heimweh nach dieser Herkunftssphäre aus, und in der geistigen Anschauung vermag das Schöne auch dorthin zurückzuführen. Das kann es, weil es etwas Lichthaftes von jenem an sich hat, in dem das Unsichtbare am Wahrnehmbaren zum Vorschein kommt. Das Schöne ist für Plotin, wie er vor allem in Enneade I 6 ausführt,24 nicht in erster Linie Ordnung oder Symmetrie des wahrgenommenen Gegenstands, sondern eine Erfahrung, die sich dem begrifflichen Zugriff entzieht; ein Vorschein von etwas anderem wie ein Schimmer, der über die Oberfläche der Dinge hinläuft, ein „Charme“ oder „Glanz“25 – Vorschein von etwas anderem, das mit schmerzhaftem Erschrecken wahrgenommen wird, gesehen wird von einem „anderen“, nichtsehenden „Sehvermögen“26 und das eine gewaltige, erotische Attraktivität entfaltet, welche ihrerseits hinausweist über das Anmutige, auf dessen Oberfläche sie spielt.27 Damit sind zwei weitere Bestimmungen des Schönen angedeutet, die sich auch als Beschreibungen des Kunstwerks eignen. Zum einen kann das Kunstwerk (metaphorisch) beschrieben werden als Bild, das allerdings mehr ist als Abbild eines Abbilds. Denn insofern sich in ihm das Eine vergegenwärtigt, bringt sich in ihm zur nichtdiskursiven Anschauung und damit zur Erscheinung, was nicht erscheinen kann. Dieser Vorgang, der Teil der Selbstoffenbarung des Einen ist, wird bei Plotin produktionsästhetisch begründet.28 Als Bild ist das Kunstwerk „Scheinen der Idee“,29 der künstlerischen Intuition, die aber ihrerseits am Wirken des Geistes partizipiert und auf dieses hin durchsichtig ist. Zum anderen und aus rezeptionsästhetischer Perspektive zeichnet sich im Kunstwerk die Einswerdung ab, in der alles Seiende begriffen ist. Es erscheint als dynamische Einheit des

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Zur henologischen Grundlegung des Schönen von Platon her vgl. Halfwassen (2005a), vor allem 164–167. Plotin, Ausgewählte Schriften. Zu Plotins Theorie des Schönen in Enneade I 6 und V 8 vgl. auch Büttner (2006), 177–194, sowie den Beitrag von Arbogast Schmitt im vorliegenden Band. Vgl. Enneade VI 7, 22, 25 f. Jenes „andere Sehvermögen“, von dem Plotin in Enneade I 6, 8 und 9 handelt; ein zugleich intellektuelles und spirituelles Sehen (Plotin, Ausgewählte Schriften, 58–60). Vgl. Enneade I 6, 8, 25 f. und I 6, 3, 9–17. Zur Tradierung des Eros-Philosophems vor allem in den romanischen Literaturen s. auch Maria Moog-Grünewald (2006). Vgl. Halfwassen (2005a), 171–172, sowie seinen Beitrag im vorliegenden Band. Zur den inspirationstheoretischen Korrelaten dieser Produktionsästhetik bei Platon vgl. auch Schlesier (2006). Halfwassen (2005a), 171.

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Mannigfaltigen.30 Es ist selbst ein Gebilde, das im Wahrnehmenden einheitsstiftende Prozesse in Gang zu setzen vermag, weil es diese Prozesse vorführt, als sei es lebendig.31 Transparenz: Die Denkfigur der Vielheit-in-Einheit (aber auch schon der Mimesisgedanke) beinhaltet ein weiteres, ebenfalls auf dynamische Relationierung zielendes Konzept, das nochmals eigens herausgestellt werden soll – das der Transparenz. Wenn das Eine im Kunstwerk als Mimesis seiner selbst und seiner einheitsstiftenden Wirksamkeit wahrnehmbar wird, dann ist damit die Durchsichtigkeit des Werks auf ein anderes seiner selbst behauptet. Es macht etwas erkennbar, das mehr ist als die Summe seiner Teile, das ohne es nicht zur Erscheinung käme und das doch in ihm nicht aufgeht. Gerade in der Phänomenalität und Materialität des Gemäldes, der Skulptur, des Textes, des Musikstücks zeigt sich etwas, was über ihre sinnlich wahrnehmbare Beschaffenheit hinausweist. In solcher Transparenz des Materiellen ist ein zentraler monistischer Impuls des Neuplatonismus bewahrt und zugleich radikalisiert. In besonders prägnanter Weise bringen dies die Schöpfungstheologie des Eriugena und seine Auslegung der Schriften des Dionysius Areopagita zur Sprache.32 „[O]mnia que sunt lumina sunt“:33 Alle geschaffenen Dinge sind für Eriugena „Lichter“ – sie sind theophan und ermöglichen Theophanie. Endliches ist Wiederholung von Unendlichem, oder genauer: Ausweis und Evidenz der Allgegenwart Gottes,34 zu dem hin alles in einer großen Rückkehrbewegung begriffen ist.35 Immanenz ist lichtvoll, weil in ihr Transzendenz ‚aufgehoben‘ ist und doch zugleich über sie hinausweist. Kein Geschöpf ist in einem prinzipiellen Sinne außerhalb Gottes. Gewiss gibt es unterschiedliche Grade und Stufen der Mittelbarkeit, aber aus der bei Eriugena eingerichteten Perspektive gewinnt gerade diese Medialität einen hohen Wert, denn nur durch sie wird Göttliches sichtbar und teilt es sich der Wahrnehmung mit. Auf dieser Grundlage einer emphatischen Valorisierung des Sinnlichen kann eine Ästhetik des Kreatürlichen konzipiert werden, die das Geschaffene nicht als Widerstand und Gegenpart des Überseienden sondern als metaphysische Bedingung _____________ 30

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Vgl. e. g. Plotin, Enneade I 6, 2: „Beginnen wir also von vorn und geben als erstes an, was denn nun das Schöne in den Körpern ist. […] Die Form also tritt hinzu und ordnet das, was aus vielen verschiedenen Teilen durch Zusammensetzung eins werden soll, zusammen; sie überführt es in eine Einheit, zu der [alle Teile] beitragen, und bewirkt, daß es eins ist durch innere Stimmigkeit – deswegen, weil sie selber eins ist und auch das Gestaltete eins werden mußte, soweit möglich bei etwas, das aus vielem ist. Sobald es also in eins zusammengefügt worden ist, hat die Schönheit ihren Sitz auf ihm und teilt sich den Teilen ebenso wie dem Ganzen mit. […] So also entsteht der schöne Körper: durch Gemeinschaft mit einer rationalen Struktur, die vom Göttlichen her kommt.“ (Ausgewählte Schriften, 49–50). Mit Blick auf Coleridges Imaginationstheorie wird dieser Gedanke im vorliegenden Band entfaltet von Eckhard Lobsien. Zum platonisch-neuplatonischen Gedanken der ‚Lebendigkeit‘ des Kunstwerks und zu seiner neuplatonischen Auffassung als Organismus vgl. Coulter (1976), 95–126. Hierzu und zum folgenden Beierwaltes (1994) und Halfwassen (2005a), 172–173. Eriugena, Expositiones in Ierarchiam Coelestem, I 76–77. Vgl. Gersh (1980), repr. in Gersh (2005). Vgl. auch Gersh (1990), repr. in Gersh (2005).

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seiner Selbstmitteilung versteht. Es ist „negati affirmatio“,36 Bejahung des Verneinten, das anders als in der Sprache der negativen Theologie nicht zu sagen ist (weil es eben nicht zu sagen ist). Die Welt ist Metapher des Göttlichen; als solche aber selbst „divina metaphora“.37 Ohne das den Sinnen Gegebene kann sich das, was sie unendlich übersteigt, nicht erschließen. Insofern ist die Welt nicht bloßes Vehikel für Eigentliches, sondern absolute Metapher, nicht ersetzbar, sondern einzig mögliche ‚translative‘ Geste in Richtung des Unsagbaren. Die sichtbaren Formen sind „Einbildungen der unsichtbaren Schönheit“.38 Ohne Wahrnehmbares kann das Unsichtbare sich nicht als es selbst zeigen – als Durchlichtung des Materiellen, aber zugleich als ein darin Verborgenes, das sich, indem es sein Medium transzendiert, auch radikal entzieht. In dieser fundamentalen Paradoxie liegen wiederum ästhetische Möglichkeiten, aber auch Probleme für eine neuplatonische Ästhetik.39 Verweisung: In dem von Eriugena pointierten neuplatonischen Verständnis leuchten die Dinge, damit sie uns erhellen: „lumina mihi fiunt, hoc est me illuminant“.40 In ihrer Schönheit, das heißt in ihrer Transparenz auf Einheit hin besitzen die geschaffenen Dinge und die Werke der Kunst eine doppelt anagogische Funktion. Sie bringen die wahrnehmende Seele zu sich und verweisen sie ineins damit auf das Eine. In dem bereits beschriebenen Vorgang nicht diskursiven Erkennens, in einem über das Sinnliche hinausweisenden Sehen, wird sie ihrer selbst inne und begibt sich damit zugleich in einen Prozess der Einswerdung, der in einer dynamischen Steigerung ihrer Reflexivität auf eine Einung mit der Instanz zuläuft, der sie diese Reflexivität verdankt. Eriugena beschreibt dies als einen Vorgang symbolischer Bildung41 und artikuliert damit einen Grundgedanken neuplatonischer Wirkungsästhetik. Als anagogé ist das Kunstwerk Anleitung zur Selbst-Bildung wie zum Aufstieg; seine therapeutischen, ja initiatorischen Funktionen können von hierher verstanden und

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Periphyseon (Über die Einteilung der Natur) III 4, 264. Periphyseon (Über die Einteilung der Natur) I 12, 19 („göttliche Vertauschung“ in der hier verwendeten deutschen Übs.; Hinweis und lateinisches Zitat in Beierwaltes [1994], 107, vgl. auch 62–64 und 123). In der Zweideutigkeit des Genitivs, der die Schönheit zugleich als Subjekt und Objekt der Imagination erscheinen lässt: „invisibilis pulchritudinis imaginationes“ (Expositiones in Ierarchiam Coelestem, I 511–518; Hinweis in Beierwaltes [1994], 138, n. 81). Beiden versuche ich mit Blick auf die englische Literatur des 17. Jahrhunderts nachzugehen in Transparency and Dissimulation (voraussichtlich 2008). Expositiones in Ierarchiam Coelestem, I 117. Mit Christus als Lehrer, der uns durch die Symbole gleichsam zur Einheit erzieht: „[…] nos adhuc erudit per symbola, donec ueniamus in unum.“ (Expositiones in Ierarchiam Coelestem, VIII 550–551). Anders als die Engel, die stets die göttliche Gegenwart schauen, bedürfen wir dieser Bilder der himmlischen Schönheit, die in ihnen, soweit das möglich ist, im Sinnlichen nachgeahmt wird: „imitatur, quantum potest, in figuris et symbolis sensibilibus“ (ebd., 547– 548).

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untersucht werden.42 Ontologisch legitimiert durch das neuplatonische Mimesiskonzept, wirkt das Kunstwerk – wird es, wie alles Kreatürliche, recht betrachtet – als Verweisung auf die höchste Vollkommenheit und verwandelnde Hinführung zu ihr.43 Sowohl die vor allem in der Renaissance virulent werdende Vorstellung vom Künstler als alter Deus als auch die im Mittelalter wie in der Frühen Neuzeit bevorzugten allegorischen Formen44 finden hier ihre Grundlage. Gleichwohl bleibt in der Paradoxie, die die Annahme vom Verweisungscharakter der Wirklichkeit fundiert, eine Ambivalenz, die sich schon in der Beschäftigung mit frühneuzeitlicher Kunst, spätestens aber in der Moderne bemerkbar macht. Wenn das ineffabile nur im Bereich des Sinnlichen zu vergegenwärtigen ist, so fragt sich, wodurch garantiert ist, dass die Bilder tatsächlich theophan werden. Was ist es, das die künstlerischen Inszenierungen von Transzendenz zeigen, wenn sie doch das, worauf sie im Überstieg verweisen, nur im anderen seiner selbst zeigen können? Schönheit wird zwar intuitiv, aber nicht unmittelbar wahrgenommen. Damit Transparenz perzipiert, Einheit-in-Mannigfaltigkeit erkannt werden kann, ist ein interpretativer Akt erforderlich. Was aber macht Theophanie bei solcher Indirektheit unabweisbar? Wenn die Dissimulation des Transzendenten, seine Verborgenheit in einem anderen Medium, Bedingung seiner Wahrnehmbarkeit ist, dann bleibt es, sofern ein systematischer neuplatonischer Kontext nicht mehr vorausgesetzt werden kann, einer letzten Bestimmung entzogen und der sicheren Erkenntnis unzugänglich. Anders gefragt: Wie viel und welche Konkretion muss das Ziel des Überstiegs in anderen als eindeutig theologischen oder philosophischen Zusammenhängen erfahren, damit es identifiziert werden kann? Eine neuplatonische Ästhetik mag es erlauben, ja geradezu fordern, das Ideal performativ zur Erfahrung zu bringen: Was aber, wenn die paradox erfahrene Alterität nicht mehr den Namen Gottes trägt?45 Kann es leere Anzeigen des Anderen, gleichsam ‚entkernte‘ Alterität, vermittelt in künstlerisch inszenierten ‚kleinen Transzendenzen‘ geben? Und haben wir uns damit abzufinden, dass wir in diesen Vergegenwärtigungen eben ‚nur‘ Analoga zur Realpräsenz begegnen? Der Bereich der ultimativen Ungewissheit, der aus der Sicht neuplatonischer Systematik erhalten bleiben muss, soll das Eine nicht in viele Prädikate zerstreut und in die Verfügung des Nicht-Einen gegeben werden, die letzte Differenz des Nicht-Erscheinenden also, das die Werke doch zu präsentieren behaupten, ist und bleibt, nicht zuletzt unter den Bedingungen einer Moderne, der _____________ 42

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Insbesondere die bildende Kunst der Renaissance ist (vor allem von den Vertretern der Warburg-Schule) als esoterische Einweihung in Analogie zu Ritualen spätantiker Mysterienkulte aufgefasst worden (vgl. e. g. Wind [1958, 1968]). Wie radikal dabei der philosophische Zugriff aus neuplatonischer Perspektive und die mit ihm einhergehenden systematischen Transformationen ausfallen können, zeigt der Beitrag von Lutz Bergemann in diesem Band. Zur Diskussion um die integumentale Ästhetik im Mittelalter s. auch den Beitrag von Walter Haug. Bader (2006) formuliert Gründe für die Annahme einer erneuten Emergenz des Gottesnamens im Anonymen.

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die Identität der visierten Wahrheit keineswegs mehr selbstverständlich ist, eine Zumutung. Aber mag der starre Blick auf das mediale Andere des Verweisungsziels – auf die Materialität (auch die sprachliche) seiner Erscheinung, auf Körperlichkeit etc. – blind machen für das, was im Hiesigen aufscheinen könnte, so riskiert umgekehrt die ausschließliche Fixierung auf dieses Ziel nicht nur die Aufdeckung des immer Gleichen,46 sondern auch ein Überspringen dessen, was doch bislang Faszinosum vor allem für die Philologien gewesen ist: die sinnlich-intellektuelle Mannigfaltigkeit des Textuellen, in dem sich jene Einheit eben erst zu unseren Wahrnehmungsbedingungen konstituiert. Einer neuplatonischen Ästhetik müsste es gelingen, gerade das in diesem Sinne Vorletzte (in seiner Verweisungskraft auf ein Letztes) vor Augen zu führen. „Beauty is truth, truth beauty“ ist nicht erst seit Keats ein Gemeinplatz.47 Schon Shaftesbury – wiewohl in ausdrücklicher Nachfolge der Cambridge Platonists und auf der Basis ihrer Transformation des Neuplatonismus der Renaissance – weiß, dass er topisch argumentiert, wenn er ein Jahrhundert vor Keats eher beiläufig und einigermaßen lakonisch die „natürliche“ Schönheit von „honesty and moral truth“ mit dem Hinweis begründet: „For all beauty is truth.“48 Das zentrale Wirkungspotential seiner Texte entfaltet sich denn auch nicht aus apodiktischen Sätzen wie diesem, sondern aus dem dichten intertextuellen Geflecht seines Schreibens, in dem er wiederholt als Kommentator und Interpret der eigenen Texte in einen selbstreferentiellen Dialog mit sich als Autor eintritt; vielleicht mehr noch aus dem Versuch, den er in den fiktiven Dialogen der „Philosophical Rhapsody“ The Moralists unternimmt, das dritte Element der neuplatonischen Trias Wahrheit/ Schönheit/Gutes aus dem zweiten zu derivieren und die Identität von Schönem und (göttlich) Gutem zur Grundlage seiner ethischen Überlegungen zu machen. Entdecken Philocles und Theocles hier im „Mind“49 den Ursprung des göttlich Schönen wie des Guten, so führt das zwar zu suggestiver Einsicht, diese gerinnt aber kaum je zu kontextfrei

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Unter dieses Verdikt fiele beispielsweise eine radikale philosophische Ästhetik wie die von Emmanuel Levinas, aber wohl auch eine im Grunde anti-philologische, kulturkritisch pointierte „Literaturtheologie“ wie die Hans Urs von Balthasars. (So charakterisiert Alois M. Haas Balthasars Frühwerk Apokalypse der deutschen Seele in seiner Einleitung zur Neuausgabe; vgl. „Zum Geleit“, in Balthasar [1998], XXXI. Vgl. hierzu auch die Beiträge in Hallensleben/ Vergauwen [2006]). Dass und wie neuplatonische Residuen auch in auf den ersten Blick eher unkongenialen Kontexten (und durchaus nicht nur in topischer Gestalt) auftreten können, untersucht an Beispielen aus der französischen Aufklärung der Beitrag von Katharina Münchberg. Im letzten Abschnitt von Sensus Communis; An Essay on the Freedom of Wit and Humour in a Letter to a Friend (IV, iii), in: Shaftesbury, Characteristics of Men, Manners, Opinions, Times, 94 (übrigens mit einer ausführlichen Anmerkung nicht zu Platon, sondern zur Poetik des Aristoteles). The Moralists, A Philosophical Rhapsody, III, ii, in: Shaftesbury, Characteristics of Men, Manners, Opinions, Times, 131 und öfter.

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zitierfähigen Propositionen.50 Ebenso liegt die ästhetische Qualität der „Ode on a Grecian Urn“ weniger in ihrem provozierend topischen Schluss als in der ihm vorausgehenden prosopopoietischen Inszenierung eines eloquenten Schweigens. Der Gedanke einer Verweisung auf ein nicht zu Habendes und die Zumutung künstlerischer Performanz, die in Erfahrungen radikalen Entzugs mündet, führen einmal mehr vor die Frage nach den Leistungen der Kunst und die Herausforderung, sie zu beschreiben, – auch und gerade im Kontext einer Ästhetik, die ihr mehr zutraut als viele konkurrierende Modelle und die sich damit von aktuellen Kunsttheorien deutlich abhebt. Alle Beiträge dieses Bandes stellen sich dieser Frage in der einen oder anderen Weise; fast alle rufen die eben explizierten Schwierigkeiten auf und suchen historisch je unterschiedliche Antworten und Wege des Umgangs mit ihnen. Dabei lenkt die vermeintlich abstrakte Frage nach dem Verhältnis von Wahrheit und Schönheit den Blick wiederholt und mit gesteigerter Intensität auf die Erscheinungen und Texturen der Werke. Und sie vermag im Ergebnis wohl einmal mehr deutlich zu machen, was die bleibende Aufgabe für Philosophen wie für Kunst- und Literaturwissenschaftler ist: Interpretation.

Primärliteratur Baumgarten, Alexander Gottlieb, Theoretische Ästhetik – Die grundlegenden Abschnitte aus der „Aesthetica“ (1750/1758), übers. u. hg. v. Hans Rudolf Schweizer, 2., durchges. Aufl. Hamburg 1988. Johannes Scotus Eriugena, Periphyseon. Über die Einteilung der Natur, übs. v. Ludwig Noack, Hamburg 1983. Johannes Scotus Eriugena, Expositiones in Ierarchiam Coelestem, ed. Jeanne Barbet (Corpus Christianorum Continuatio Mediaevalis XXXI), Turnhout 1975. Keats, John, „Ode on a Grecian Urn“, in: The Poems of John Keats, ed. by Miriam Allott, Burnt Mill, Harlow 1970. Platon, Politeia. The Collected Dialogues of Plato Including the Letters, ed. by Edith Hamilton/Huntington Cairns (Bollingen Series LXXI), Princeton 1973. Plotin, Ausgewählte Schriften, hg. u. übers. v. Christian Tornau, Stuttgart 2001. Earl of Shaftesbury, Anthony, Characteristics of Men, Manners, Opinions, Times, vols. I–II, ed. by John M. Robertson, Indianapolis/New York 1964.

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Gerade die Gleichung „that beauty and good are still the same“ (ebd. 138) ist ein Zitat eines Zitats eines Zitats (vgl. ebd. 128).

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Sekundärliteratur Bader, Günter, Die Emergenz des Namens. Amnesie –. Aphasie – Theologie, Tübingen 2006. Balthasar, Hans Urs von, Schau der Gestalt, in: Herrlichkeit. Eine theologische Ästhetik, Bd. 1, 3. Aufl. Einsiedeln/Trier 1961/1988. Balthasar, Hans Urs von, Der deutsche Idealismus, in: Apokalypse der deutschen Seele. Studien zu einer Lehre von letzten Haltungen, Bd. 1, Salzburg/Leipzig 1937, 3. Aufl. Freiburg 1998. Barck, Karlheinz/Kliche, Dieter/Heininger, Jörg, „Ästhetik/ästhetisch“, in: Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 1, hg. v. Karlheinz Barck/Martin Fontius/Dieter Schlenstedt/Burkhart Steinwachs/Friedrich Wolfzettel, Stuttgart/Weimar 2000, 308–400. Beierwaltes, Werner, Denken des Einen. Studien zur neuplatonischen Philosophie und ihrer Wirkungsgeschichte, Frankfurt a. M. 1985. Beierwaltes, Werner, Selbsterkenntnis und Erfahrung der Einheit. Plotins Enneade V 3. Text, Übersetzung, Interpretation, Erläuterungen, Frankfurt a. M. 1991. Beierwaltes, Werner, Eriugena. Grundzüge seines Denkens, Frankfurt a. M. 1994. Beierwaltes, Werner, Das wahre Selbst. Studien zu Plotins Begriff des Geistes und des Einen, Frankfurt a. M. 2001. Büttner, Stefan, Antike Ästhetik. Eine Einführung in die Prinzipien des Schönen, München 2006. Coulter, James A., The Literary Microcosm. Theories of Interpretation of the Later Neoplatonists (Columbia Studies in the Classical Tradition 2), Leiden 1976. Gersh, Stephen, „Omnipresence in Eriugena. Some Reflections on AugustinoMaximian Elements in Periphyseon“, in: Eriugena. Studien zu seinen Quellen. Vorträge des III. Internationalen Eriugena-Colloquiums, Freiburg im Breisgau, 27–30 August 1979, hg. v. Werner Beierwaltes (Abhandlungen der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse 1980 3), Heidelberg 1980, 55–74. Gersh, Stephen, „The Structure of Return in Eriugena’s Periphyseon“, in: Begriff und Metapher. Sprachform des Denkens bei Eriugena. Vorträge des VII. Internationalen Eriugena-Colloquiums. Werner-Reimers-Stiftung, Bad Homburg 26–29 Juli 1989, hg. v. Werner Beierwaltes, Heidelberg 1990, 108– 125. Gersh, Stephen, Reading Plato, Tracing Plato. From Ancient Commentary to Medieval Reception, Aldershot 2005. Halfwassen, Jens, Plotin und der Neuplatonismus, München 2004. Halfwassen, Jens, „Die Idee der Schönheit im Neuplatonismus und ihre christliche Rezeption in Spätantike und Mittelalter“, in: Platonismus im Orient und Okzident. Neuplatonische Denkfiguren im Judentum, Christentum und

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Islam, hg. v. Raif Georges Khoury/Jens Halfwassen, Heidelberg 2005a, 161– 173. Halfwassen, Jens, Hegel und der spätantike Platonismus. Untersuchungen zur Metaphysik des Einen und des Nous in Hegels spekulativer und geschichtlicher Deutung (Hegel-Studien Beiheft 40), Bonn 1999, 2. Aufl. Hamburg 2005b. Hallensleben, Barbara/Vergauwen, Guido (Hg.), Letzte Haltungen. Hans Urs von Balthasars Apokalypse der deutschen Seele – neu gelesen, Fribourg 2006. Halliwell, Stephen, The Aesthetics of Mimesis. Ancient Texts and Modern Problems, Princeton 2002. Henrich, Dieter, „Fichtes ursprüngliche Einsicht“, in: Subjektivität und Metaphysik. Festschrift für Wolfgang Wagner, hg. v. Dieter Henrich/Hans Wagner, Frankfurt a. M. 1966, 188–232. Lobsien, Verena Olejniczak/Lobsien, Eckhard, Die unsichtbare Imagination. Literarisches Denken im 16. Jahrhundert, München 2003. Lobsien, Verena Olejniczak, „‚So shines and sings, as if it knew‘. Elemente einer neuplatonischen Ästhetik des Kreatürlichen bei Henry Vaughan“, Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, Sonderheft 8 (2007), 45–69. Moog-Grünewald, Maria, (Hg.), Eros. Zur Ästhetisierung eines (neu)platonischen Philosophems in Neuzeit und Moderne, Heidelberg 2006. Radke, Gyburg, Das Lächeln des Parmenides. Proklos’ Interpretationen zur Platonischen Dialogform, Berlin 2006. Rappe, Sara, „Self-knowledge and Subjectivity in the Enneads“, in: The Cambridge Companion to Plotinus, ed. by Lloyd P. Gerson, Cambridge 1996, 250–274. Ritter, Joachim, „Ästhetik, ästhetisch“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1, hg. v. Joachim Ritter, Darmstadt 1971, 555–580. Scheer, Brigitte, Einführung in die philosophische Ästhetik, Darmstadt 1997. Schlesier, Renate, „Platons Erfindung des wahnsinnigen Dichters. Ekstasis und Enthusiasmos als poetisch-religiöse Erfahrung“, Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 51/1 (2006), 45–60. Tynjanov, Jurij, „Das literarische Faktum“ (1924), in: Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa, hg. v. Jurij Striedter, München 1969, 393–431. Tynjanov, Jurij, „Über die literarische Evolution“ (1927), in: Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa, hg. v. Jurij Striedter, München 1969, 433–461. Wind, Edgar, Pagan Mysteries in the Renaissance, London 1958/1968.

Gab es eine mittelalterliche Ästhetik aus platonischer Tradition? Walter Haug

I. Der Titel meines Beitrags schließt mit einem Fragezeichen. Das ist eine Untertreibung; man müsste das Fragezeichen verdreifachen, denn nicht nur ist das Verhältnis der beiden Titelbegriffe Ästhetik und platonische Tradition im Hinblick auf das Mittelalter fraglich, sondern die beiden Begriffe sind schon für sich problembeladen. 1. Ästhetik: Darf man überhaupt von einer mittelalterlichen Ästhetik sprechen? Eine Ästhetik als Disziplin von eigenem Recht gibt es bekanntlich erst seit Baumgarten, und so verbietet es sich streng genommen, vor 1750 mit dem Begriff zu arbeiten. Im Historischen Wörterbuch der Philosophie findet sich unter dem Stichwort Ästhetik kein Wort zum Mittelalter. Wenn man trotzdem von Ästhetik im Mittelalter sprechen will und auch immer wieder gesprochen hat, muss man einen erweiterten Begriff verwenden und unter Ästhetik allgemein die theoretische Beschäftigung mit dem Phänomen des Schönen verstehen, unter Vernachlässigung wie unter Einbeziehung der schönen Künste, einschließlich der Dichtung, sowie deren explizitem und implizitem Selbstverständnis. So verfuhren Edgar de Bruyne, Rosario Assunto, Wáadisáaw Tatarkiewicz u. a. m.1 Da jedoch die Gefahr besteht, dass man dabei ins Uferlose gerät, empfiehlt es sich, gewisse Abgrenzungen oder Ausgrenzungen vorzunehmen, die eine schärfere Differenzierung der Phänomene ermöglichen. Ich denke dabei insbesondere an zwei Grenzbereiche: An der einen Grenze stünde das Schöne als integrales Moment einer philosophischen oder theologischen Ontologie, grundgelegt in Platons Symposion, auf den Höhepunkt geführt von Plotin. Der zentrale Gedanke in diesem Bereich ist, dass das Eine sich in lichthafter Schönheit in das Viele ausströmt. – Auf der anderen Seite stünden theoretische Erörterungen vorwiegend handwerklicher Art: Anweisungen zur Herstellung von Artefakten oder zur Verfertigung von Texten; ihr Ort sind die Artes und die Poetiken; wenn Theorien _____________ 1

De Bruyne (1946); Assunto (1963); Tatarkiewicz (1970).

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sie begleiten, haben diese pragmatischen Charakter.2 Das Zentrum hingegen, dem unser Hauptinteresse zu gelten hätte, würden dann jene Konzepte einnehmen, bei denen dem Bereich der Künste und der Literatur ein eigenes Recht auf Sinnerfahrung zugesprochen wird und wo dann möglicherweise auch entsprechende Darstellungsformen entwickelt und reflektiert werden. Da ich diese Differenzierung heuristisch verstehe, darf in Kauf genommen werden, dass die Grenzen dieses Kernbereichs gegenüber den philosophisch-theologischen Schönheitskonzepten auf der einen und gegenüber handwerklichen Zugriffen auf der andern Seite nicht scharf zu ziehen sind. 2. Die platonische Tradition: Auch der Begriff platonisch bietet, auf das Mittelalter bezogen, Schwierigkeiten. Es gibt – darüber besteht Konsens – keinen mittelalterlichen Platonismus im Sinne einer auch nur einigermaßen klar zu umreißenden Tradition; was vorliegt, ist eine vielfältige und z. T. höchst diffuse Nachwirkung platonischer und neuplatonischer Konzepte oder auch nur Motive.3 Und diese Konzepte stammen zudem weitgehend aus zweiter Hand, wobei die Akzentsetzungen der Vermittler höchst unterschiedlich sind. Die Kenntnis der authentischen Werke Platons beschränkte sich sehr lange auf die ChalcidiusTeilübersetzung des Timaios aus dem 4. Jahrhundert, die freilich äußerst wirkungsmächtig war,4 nicht zuletzt in der grandiosen Abbreviatur durch Boethius im 9. Metrum des III. Buches der Consolatio Philosophiae, genauer: seiner Abbreviatur anhand des Timaios-Kommentars von Proklos. Der bedeutendste Neuplatoniker, Plotin, ist im Mittelalter unbekannt, während Augustinus ihn in der verlorengegangenen Übersetzung von Marius Victorinus noch lesen konnte. Proklos kennt man bis zu Wilhelm von Moerbeke nur auf Umwegen, insbesondere über die Exzerpte im Liber de causis, der freilich unter Aristoteles lief. Angesichts dieser eigentümlichen Situation erinnere ich an das bekannte Diktum: Platon gibt es im Mittelalter nicht, aber Platonismen sind überall. Dass über diese vielschichtige Übermittlung auch platonisch-neuplatonische Schönheitskonzepte nicht nur mitgetragen wurden, sondern in ihrer christlichen Umformulierung omnipräsent sind, ist durch die Forschung hinreichend dokumentiert worden. Doch ist es im Einzelnen umso schwieriger, konkrete Traditionslinien zu fassen, als sich die verschiedenen Überlieferungsströme immer wieder neu mischen. Was sich dabei aber in erster Linie abzeichnet und durchhält, ist eine philosophisch-theologische Lichtmetaphysik, die sich mit neutestamentlicher Lichtmetaphorik verschränkt. Angesichts dieser Sachlage präzisiere ich meine Fragestellung: Da man zweifellos sagen kann, dass es im Mittelalter auf der einen Seite eine Theorie des _____________ 2 3

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Curtius (1961), insbes. Kap. 8; Faral (1958); Klopsch (1980); Minnis/Scott (1988). Siehe Beierwaltes (1969), insbes. die zu ihrer Zeit wegweisenden Studien von Clemens Baeumker, Beierwaltes (1969), 1–55, und Johannes Hirschberger, Beierwaltes (1969), 56–72; ferner Klibansky (1939). Vgl. Chenu (1969), 283–285. Seit der Mitte des 12. Jahrhunderts kennt man neben dem Timaios auch Platons Menon und den Phaidon.

Gab es eine mittelalterliche Ästhetik aus platonischer Tradition?

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Schönen als integrales Moment philosophisch-theologischer Konzepte aus platonisch-neuplatonischen Quellen gab und auf der andern Seite die Künste wie die Literatur in den Artes verankert waren, also handwerklich-pragmatisch gesehen wurden, ist zu fragen, ob man sich damit abzufinden hat. Fällt eine Ästhetik im Sinne eines künstlerisch-literarischen Bereichs von eigenem Recht völlig aus? Man hat dies behauptet. Will man diese Behauptung anzweifeln, so müsste man zeigen können, dass es von der Philosophie des Schönen und/oder von der handwerklich-poetologischen Auffassung der Künste aus Wege zu einer autonomen Ästhetik gab – wobei mit autonom natürlich nicht eine aus der schöpferischen Subjektivität entworfene Kunst im neuzeitlichen Sinne gemeint sein kann. Es geht also im Folgenden um eine Suche nach Einbruchstellen für eine Ästhetik in diesem speziellen Sinn.

II. Somit komme ich erstens zur Möglichkeit einer Einbruchstelle auf der Basis des philosophisch-theologischen Schönheitskonzepts: Konnte sich von platonischneuplatonischen Positionen aus eine quasiautonome Ästhetik gewissermaßen abspalten? Geht man vor das Mittelalter zurück, so wird man überraschend fündig. Werner Beierwaltes hat dieser Möglichkeit ein Kapitel seiner Monographie Denken des Einen gewidmet,5 in dem er die Forschungen von James A. Coulter und Anne D. R. Sheppard zu den ästhetischen Theorien der späteren Neuplatoniker kritisch würdigte.6 Ich kann hier nur referieren, und dies auch nur in äußerster Verknappung: Es gab bei Jamblich, Proklos, Olympiodor und Hermeias Entwürfe einer neuplatonischen Ästhetik, die in eine eigenständige philosophische Kunst- und Literaturtheorie mündeten. Sie erfolgten über eine Neudeutung der Mimesis. Platon hat bekanntlich im 10. Buch der Politeia die Künste abschätzig behandelt: Wenn die Dinge Abschattungen der Ideen sind, dann sind die künstlerischen einschließlich der dichterischen Nachbildungen dieser Abschattungen drittrangig und von entsprechend geringem Wert. Doch daneben finden sich bei ihm Äußerungen, die dem widersprechen, indem er auch eine Auffassung von Mimesis ins Spiel bringt, nach der der Künstler nicht einen Abklatsch der konkreten Wirklichkeit bietet, sondern sich bei seinem Tun direkt auf die Ideen bezieht.7 Plotin hat diesen Gedanken aufgegriffen und eine Kunsttheorie entwickelt (Enneade V 8), nach der das Bild im Verhältnis zur Idee gleichberechtigt neben dem Begriff steht, mit dem Unterschied nur, dass im Bild die Idee nicht intellektuell, sondern intuitiv angeschaut wird, ja, die Aufwertung der _____________ 5 6 7

Beierwaltes (1985b), 296–309. Coulter (1976); Sheppard (1980). Siehe auch die Rezensionen von Werner Beierwaltes: Beierwaltes (1979), bzw. Beierwaltes (1985a). Flasch (1965), 270; Fuhrmann (1973), 72–86; Wiegmann (1989).

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künstlerischen Produktion geht so weit, dass sie letztlich als Nachahmung der göttlichen Schöpferkraft verstanden werden kann.8 Die späteren Neuplatoniker führen diese Umdeutung der Mimesis dahin weiter, dass es bei ihr letztlich darum gehe, die Struktur der Wirklichkeit – mit Hilfe göttlicher Inspiration – poetisch zu transponieren: eine symbolische Mimesis sozusagen, deren Verständnis parallel zum philosophischen Denkprozess erfolgen sollte. In Entsprechung zum denkerischen Weg, auf dem schließlich der Geist sich in einem transrationalen Akt selbst übersteigt, ist diese entheatische Dichtung „Darstellung des an sich Undarstellbaren“9; sie kann als solche wie der neuplatonische Denkprozess zur Ekstasis führen, d. h. als Medium eines mystischen Aufstiegs fungieren. Dieses ästhetische Konzept findet sich besonders ausgeprägt im Politeia-Kommentar des Proklos. Das Fazit von Beierwaltes lautet: Es bestätige sich aufgrund dieser neueren Untersuchungen – also der Arbeiten von Coulter und Sheppard – die bekannte Einsicht, daß die Frage nach der Kunst, insbesondere nach Wesen und Funktion von Dichtung, ebensosehr die Frage nach deren – die Interpretation vielfältig provozierenden – Sprachstruktur, ferner die Frage nach dem Verhältnis von Philosophie […] und Dichtung überhaupt ein zentrales Thema neuplatonischen Philosophierens ausmacht.10

Ein Durchbruch zu einer spezifischen Kunst- und Literaturtheorie war also auf der Basis der platonisch-neuplatonischen Schönheitsontologie sehr wohl möglich. Die Frage ist nur, in welchem Maße hiermit ein wirklich eigenständiger ästhetischer Bereich eröffnet wird. Jens Halfwassen, der in seiner Darstellung der platonisch-neuplatonischen Schönheitsontologie den Begriff Ästhetik in diesem Zusammenhang strikt ablehnt, spricht dann unter bildtheoretischem Aspekt doch von „metaphysischer Ästhetik“.11 Das dürfte wohl heißen, dass sich ein ästhetischer Bereich von eigenem Recht entfalten kann, indem ein ästhetischer Weg parallel zum philosophischen Aufstiegsprozess denkbar geworden ist, wobei parallel aber impliziert, dass er wie dieser metaphysisch eingebettet bleibt.

III. Es stellt sich nun die Frage, ob diese neuplatonische Ästhetik über irgendwelche Kanäle, durch die platonisches Gedankengut den abendländischen Westen erreichte, an das Mittelalter weitergegeben worden sein könnte. Man mag zunächst an Augustinus denken; man wird da aber, wenn ich nicht etwas übersehen habe, trotz reicher Plotin-Anleihen nicht wirklich fündig. Seine Bildtheorie geht in einer Semiotik auf, die dezidiert auf die Differenz zielt und _____________ 8 9 10 11

Halfwassen (2003), 94. Beierwaltes (1985b), 303. Beierwaltes (1985b), 308. Halfwassen (2003), 93.

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dabei alles Ästhetische zurücklässt, obschon das Schöne in seiner Analogielehre, also in seinem Konzept von der unähnlichen Ähnlichkeit zwischen dem Irdischen und dem Göttlichen, durchaus eine Rolle spielt, freilich eine überraschende Rolle. In der Frühschrift De ordine (I, VIII 25) beschreibt er, wie er einen Hahnenkampf beobachtet; die Hässlichkeit des Geschehens ist nicht zu übersehen: das wilde Gehacke, die fliegenden Federn, das Blut. Aber dann denkt Augustinus nach und kommt zum Schluss, dass sich doch auch darin die göttliche Ordnung manifestiere und selbst diesem Geschehen ihre Schönheit vermittle. Diese Sichtwende gelingt ihm dann sogar angesichts der verwesenden Leiche eines Gehängten (De civitate Dei XIX 12). Nichts könnte deutlicher machen, wie radikal der semiotische Sprung alle Ähnlichkeit zurücklässt. Doch soll damit die Bedeutung Augustins, insbesondere die Nachwirkung seiner Lichtmetaphysik in ihrer Verbindung mit der biblischen Lichtmetaphorik, für die mittelalterliche Ästhetik im weiteren Sinne nicht unterschätzt werden. Die nächste Erwartung richtet sich auf Proklos, der in erster Linie den Neuplatonismus jenem Dionysius vermittelte, der sich Areopagita nannte, d. h. sich als den von Paulus bei der Areopagrede bekehrten Athener ausgab, de facto aber um 500 schrieb und die wirkungsmächtigste christlich überformte neuplatonische Theologie entworfen hat.12 Es findet sich bei Dionysius jedoch keine Kunst- und Literarästhetik in dem skizzierten neuplatonischen Sinn. Und das ist nicht ohne Bedeutung für das Verhältnis zwischen Neuplatonismus und christlicher Botschaft in den Dionysischen Schriften. Dieses Verhältnis ist bekanntlich umstritten. Hat Dionysius die neuplatonische Philosophie, insbesondere die des Proklos, nur oberflächlich christianisiert, indem er lediglich das neuplatonische Hen an der Spitze des mystischen Aufstiegs mit dem Schöpfergott gleichgesetzt und die Emanation aus dem Einen zum Schöpfungsakt uminterpretiert hat? Oder distanziert er sich vom Neuplatonismus mehr oder weniger deutlich, insbesondere dadurch, dass der Aufstieg bei ihm doch sehr pointiert der entgegenkommenden Gnade Gottes bedarf? Die Bruchstelle gegenüber der Transzendenz, der Sprung in das Eine, wird zwar auch bei Plotin deutlich gemacht in dem eigentümlichen Nebeneinander eines kontinuierlichen Aufstiegs und des plötzlichen Einbruchs der Ekstasis.13 Aber das wird nicht problematisiert, während für eine christliche Umformulierung hier der kritische Punkt lag. Denn für sie war das Entgegenkommen Gottes unabdingbar.14 Die Erwähnung der Gnade wird zum Signal für eine mehr oder weniger bewusste Distanzierung gegenüber dem Neuplatonismus; sie markiert die Unverfügbarkeit des Übergangs. _____________ 12 Als vorzügliche Einführung nenne ich Ruh (1990), 1. Kap. 13 Treffend zu dieser Verbindung von aktivem Überstieg und Überwältigt-Werden: Beierwaltes (1985b), 141. 14 Das übersieht auch Beierwaltes nicht, wenngleich er gegenüber Ivánka (1964), 280–283, stärker die Nähe des Dionysius zur platonischen Tradition als die Differenz betont; siehe Beierwaltes (1985b), 150–153.

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Dionysius hat die neuplatonische Kunst- und Literarästhetik jedoch nicht nur nicht übernommen, sondern er hat die Möglichkeit dazu unterminiert. Dies, indem er das neuplatonische Schönheitskonzept zwar nicht preisgegeben, es aber ebenfalls seiner negativen Theologie unterworfen hat. Während in der platonischen Tradition das Sinnlich-Schöne eine positive Qualität besitzt, auch wenn es überstiegen werden muss, damit man zum Schönen an sich gelangt, hat Dionysius das Schöne wie alles Affirmative massiv konterkariert. Die negative Theologie hat für ihn durchgängig das größere Gewicht, auch wenn diese letztlich ebenso wie die affirmative zurückgelassen werden muss. Sein Oxymoron vom hellen Dunkel kennzeichnet die Position jenseits von Affirmation und Negation (De mystica theologia I 1) – übrigens eine originelle Prägung des Dionysius15 mit einer Nachwirkung über die Jahrhunderte hin.16 Was das irdisch Schöne in seiner Analogie zum absoluten Schönen betrifft, kann Dionysius sagen: Hässliche, bizarre Bilder für das Göttliche, wie man sie auch in der Bibel findet – vielgesichtige Monstren wie der Tetramorph, feurige Räder, anthropomorphe Aussagen: Gott der ausruht, zürnt usw. –, solche Vorstellungen seien dem Transzendenten insofern angemessener als schöne Bilder, als man dabei nicht auf den Gedanken komme, sie mit dem Göttlichen zu verwechseln. Sie stacheln vielmehr dazu an, sich die Differenz bewusst zu machen (De coelesti hierarchia II 3–5).17 Diese kontrastive Symbolik des Unangemessenen ist zwar bei Proklos vorgeprägt – sie stammt aus der Homer-Allegorese –, aber Dionysius benutzt sie, um in der Formel von der unähnlichen Ähnlichkeit zwischen dem Schöpfer und der Schöpfung den Hauptakzent gerade auch unter dem Aspekt der Schönheit auf die Unähnlichkeit zu setzen. Wenn man den Abstand zwischen ihm und dem Neuplatonismus bestimmen will, sollte man nicht zuletzt auf die Verschärfung der Differenz durch seine Theorie des Hässlichen achten, die oft vernachlässigt wird. Was eine relativ eigenständige Ästhetik anbelangt, so ist von hier aus – und nochmals mit einem Blick auf Augustinus – grundsätzlich festzuhalten, dass die Betonung der ontologischen Differenz ihr den Boden entzieht, während die Betonung der Ähnlichkeit ihr einen Spielraum, freilich einen immer wieder diskussionsträchtigen Spielraum eröffnen kann. Kennzeichnend für platonisches Denken ist die gestufte Kontinuität zwischen den Erscheinungen und dem Einen, mit einer schwach akzentuierten Bruchstelle vor dem letzten Schritt: die catena aurea. Es sei an das viel diskutierte Buch von Arthur O. Lovejoy erinnert.18 Von der christlichen Position aus wird man bei allen Anlehnungen an das Stufenschema letztlich auf die absolute Differenz stoßen. Die Gnade als ihr Signum _____________ 15 Beierwaltes (1985b), 149. 16 Das Wort erscheint noch bei Grimmelshausen unter den sinnigen Sprüchen, die Simplizius auf seiner Einsiedlerinsel an die Bäume heftet; siehe Wehrli (1973). 17 Vgl. Michel (1976), §§ 168–173. Michels Monographie ist insgesamt grundlegend für das Verständnis der christlichen Ästhetik des Hässlichen. 18 Lovejoy (1936). Breiter ausgreifend: Ohly (1995), 599–678.

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wird für eine platonisch-christliche Ästhetik immer ein Problem bleiben. Und es muss sich letztlich zu der Frage zuspitzen: Kann man Gnade künstlerisch, literarisch inszenieren?

IV. Das dionysische Schriftencorpus, das schon im 9. Jahrhundert nach dem Westen kommt, ist die brisanteste neuplatonische Einbruchstelle im frühen Mittelalter. Der byzantinische Kaiser Michael Bekkos hat es Ludwig dem Frommen zum Geschenk gemacht, weil er erfahren hatte, dass man auch im Frankenreich den hl. Dionysius verehrte. Dieser Dionysius war freilich ein gallischer Missionar, dessen Gebeine im Königskloster St. Denis ruhten. Der Abt von St. Denis, Hilduin, der sich als erster an einer Übersetzung des Dionysischen Corpus versuchte, hat sich nicht gescheut, den Gedanken des byzantinischen Kaisers aufzugreifen und den griechischen Autor mit dem gallischen Missionar ineins zu setzen und so den angeblichen Paulusschüler zum Nationalheiligen des Frankenreiches zu machen. Die Folgen dieser Klitterung waren unabsehbar, politisch wie theologiegeschichtlich. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts hat man trotz früher skeptischer Stimmen die Dionysischen Schriften für Werke des athenischen Paulusschülers gehalten. Die größten Theologen des hohen Mittelalters haben sich mit ihm auseinandergesetzt, und das hat entscheidend dazu beigetragen, dass platonisches Gedankengut in der mittelalterlichen Theologie, wie gesagt, allgegenwärtig war.19 Da Hilduins Übersetzung des schwierigen Textes nicht befriedigend war, hat Karl der Kahle Johannes Scotus Eriugena mit einer Neuübersetzung beauftragt – in Irland konnte man zu der Zeit offensichtlich noch Griechisch. Eriugena hat sich nicht mit der Übersetzung begnügt, sondern eine eigene neuplatonisch-christliche Philosophie unter Heranziehung weiterer östlicher Quellen darauf aufgebaut. Die Grundlage für Eriugenas Denken bildet ein ontologisches Konzept, das er in einer Schlüsselthese formuliert hat, die so lautet: Alles, was ist, ist Theophanie.20 Die Schöpfung ist Erscheinung des Göttlichen. Nun hat Eriugena zwar die Dionysische Theorie des Hässlichen nicht übergangen, aber sie spielt für seine Vorstellung vom Verhältnis zwischen Ähnlichkeit und Unähnlichkeit keine entscheidende Rolle, d. h., er begründet sein Unähnlichkeitskonzept in ganz anderer Weise. Doch zunächst zur Theophanie, die ja Ähnlichkeit meint, und damit zur Frage einer eigenständigen Ästhetik bei Eriugena. Ich gehe aus von dem berühmten einschlägigen Passus in seinem Kommentar zu des Dionysius’ Himmlischer _____________ 19 Vgl. Ruh (1990), 71–82. 20 Dazu grundlegend: Beierwaltes (1994), insbes. 115–151.

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Hierarchie, wo er erläutert, weshalb ein Stein oder ein Holzstück für ihn ein Licht sein können:21 Wenn ich diesen oder jenen Stein betrachte, erfahre ich vieles, was meinen Geist erleuchtet. Ich bemerke nämlich, dass er gut ist und schön, dass er das ihm entsprechende Sein besitzt, dass er sich in seiner Gattung und Art von den übrigen Gattungen und Arten unterscheidet, dass er seiner Zahl nach ein Einzelnes ist, dass er innerhalb seiner Seinsordnung bleibt, dass er aufgrund seiner spezifischen Schwere dem ihm gemäßen Ort zustrebt. Indem ich nun in diesem Stein diese und ähnliche Eigentümlichkeiten erkenne, werden sie für mich zu Lichtern, d. h., sie erleuchten mich. Ich beginne nämlich nachzudenken, woher solches dem Stein zukommt, und ich sehe, dass er es nicht dadurch besitzt, dass er in natürlicher Weise an der sichtbaren und unsichtbaren geschöpflichen Welt teilhat, und alsbald werde ich unter der Führung der Vernunft über alles einzelne hinweg zur Ursache aller Dinge geführt, von der her allem sein Ort und sein Rang, seine Zahl, seine Gattung und seine Art, sein Gutsein und seine Schönheit und sein Wesen und alle übrigen Eigentümlichkeiten und Gaben zugeteilt werden. Und so geht von allem Geschöpflichen, vom höchsten bis zum geringsten, d. h. vom Geistigen bis zum Körperlichen, ein Licht aus, das jene führt, die sich dem Lob Gottes hingeben und ihren Gott eifrig suchen und sich bemühen, ihn in allem Strahlenden zu finden […]. Und daher kommt es, dass dieses ganze Weltgebäude zu einem gewaltigen Licht wird, das aus vielen Einzelteilen wie aus vielen Leuchten zusammengesetzt ist, so dass die intelligiblen Dinge in der Reinheit ihrer Art offenbar werden und im Innersten des Geistes geschaut werden können, wobei die göttliche Gnade und das Vermögen der Vernunft im Herzen der Gläubigen und Wissenden zusammenwirken.

Das ist unverkennbar neuplatonisch-dionysische Lichtmetaphysik.22 Was in den Dingen leuchtet und dann den Betrachter erleuchtet, ist die Ordnung des Universums. Die Erkenntnis der Gattung und Art aller Dinge, die Einsicht in die _____________ 21 Cap. I 109–134 (Übersetzung durch den Verfasser): hunc uel hunc lapidem considerans multa mihi occurrunt, que animum meum illuminant: eum quippe animaduerto subsistere bonum et pulchrum, secundum propriam analogiam esse, genere specieque per differentiam a ceteris rerum generibus et speciebus segregari, numero suo, quo unum aliquid fit, contineri, ordinem suum non excedere, locum suum iuxta sui ponderis qualitatem petere. Hec horumque similia dum in hoc lapide cerno, lumina mihi fiunt, hoc est, me illuminant. Cogitare enim incipio, unde ei talia sunt, et intueor, quod nullius creature siue uisibilis siue inuisibilis, participatione naturaliter hec ei insunt, ac mox ratione duce super omnia in causam omnium introducor, ex qua omnibus locus et ordo, numerus et species genusque, bonitas et pulchritudo et essentia, ceteraque data et dona distribuuntur. Similiter de omni creatura, a summo usque ad deorsum, hoc est, ab intellectuali usque ad corpus, ad laudem creatoris referentibus eam et se ipsos, et Deum suum studiose querentibus, et in omnibus, que sunt, eum inuenire ardentibus […]. Hinc est, quod uniuersalis huius mundi fabrica maximum lumen fit, ex multis partibus ueluti ex multis lucernis compactum, ad intelligibilium rerum puras species reuelandas et contuendas mentis acie, diuina gratia et rationis ope in corde fidelium sapientium cooperantibus. 22 Siehe zu Eriugenas Lichtmetaphysik: Beierwaltes (1994), 134–145.

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Schönheit und das Gute, durch die sie geprägt sind, führen zur Ursache dieser Ordnung, zu Gott. Deshalb ist alles, was ist, ein großes Licht, in dem das Intelligible in den Dingen zur Erscheinung kommt. Aber wohlgemerkt: Vernunft und Gnade müssen dabei zusammenwirken, d. h., im Erkenntnisprozess wird die Differenz im christlichen Sinne festgehalten. Zu beachten ist dabei das eigentümliche Ineinander von Schauen und Denken: Das Leuchten der Dinge führt zur Erleuchtung, man erfährt in den Erscheinungen das Göttliche als ein Anderes, sie sind Bilder, Metaphern, pointiert gesagt: Das Göttliche ist präsent und als solches doch nicht fassbar. Ähnlichkeit und Differenz werden in der Form eines Paradoxons ineinandergezwungen; das Göttliche erscheint im Irdischen, ohne zu erscheinen.23 Aber ist daraus zu folgern, dass Eriugena damit eine ästhetische Theorie von zumindest relativer Eigenständigkeit entwickelt hat? In seinem Kommentar zur Himmlischen Hierarchie greift er ein Dionysius-Wort zur Funktion menschlicher Vorstellungen auf und weist ihnen einen Ort in seinem Konzept zu: „fictae imaginationes“ können, so sagt er, den Menschen zur schauenden Erkenntnis des Intelligiblen hinführen.24 Die Poesie stimmt in der bildlichen Darstellung des Undarstellbaren mit der ontologisch-theologischen Erfahrung der Erscheinung des Nicht-Erscheinenden überein. Die Bilder verlangen als solche, dass man sich ihrer Bildlichkeit bewusst wird und sie damit übersteigt. Doch der Gedanke führt in einen umfassenderen Zusammenhang weiter: Es handelt sich nämlich um den Sprung von der „figura“, der „umbra“, vom Spiegelbild zur Wahrheit „facie ad faciem“. Theologie und Poesie fallen in dieser Perspektive zusammen: „theologia ueluti quedam poetria“ (Cap. II 146 f.) – womit ich übrigens den Titel eines trefflichen Aufsatzes von Peter Dronke zu diesem Thema zitiere.25 Die Verabsolutierung der Differenz, auch im Paradox vom Erscheinen des NichtErscheinenden, bindet das Symbolisch-Poetische an den allegorischen Sprung. Eriugenas Bildtheorie ist also durchgängig in sein theologisches Konzept eingebunden. Wenn ich hier die Begriffe symbolisch und allegorisch verwende, so wäre spätestens jetzt ein differenzierter Exkurs zur Terminologie vonnöten. Das ist aber in der gebotenen Kürze hier nicht zu leisten, denn die Wirrnis ist groß und eine Klärung schwierig. Dies nicht nur deshalb, weil die Begriffe Allegorie, Symbol, Metapher, Bild usw. immer wieder austauschbar erscheinen, sondern weil man sich auch nicht damit helfen kann, dass man die historische Begrifflichkeit ignoriert, um mit der unseren, d. h. der Goetheschen Opposition von Allegorie und Symbol, Ordnung zu schaffen. Es hat zwar auch in der platonischen Tradition immer wieder Versuche gegeben, die Allegorie im Sinne einer Eins-zu-Eins-Entsprechung zwischen Bild und Begriff von einer Bildlichkeit abzugrenzen, für die dies nicht gilt; so schon Proklos mit seiner _____________ 23 Beierwaltes (1994), 129 f. 24 Cap. II 128–151; vgl. Dronke (1984), 39 f. 25 Dronke (1984).

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Unterscheidung zwischen eikon und symbolon. Aber der Allegorie im strikten Sinn steht nicht das gegenüber, was wir Symbol nennen, vielmehr ist auch die nicht strikt allegorische Bildlichkeit allegorisch gebrochen, ja, sie muss gebrochen werden, wenn man der Differenz in der Präsenz des Nicht-Erscheinenden gerecht werden will. Bei Eriugena wird dies besonders augenfällig.

V. Eriugenas Dionysius-Übersetzung war eine Pioniertat mit Zeitzündung. Sie bleibt zunächst so gut wie ohne Wirkung, erst im 12. Jahrhundert ist die Zeit dafür reif, doch dann beginnt die große Auseinandersetzung über Kommentare und neue Übertragungen. Diejenige des Johannes Sarracenus, eines glänzenden GriechischKenners, in der Mitte des Jahrhunderts wird maßgebend. Dabei wäre auch der weiteren Entwicklung der philosophisch-theologischen Bildtheorie bis hin zu Eckhart und Cusanus nachzugehen, was hier jedoch beiseite bleiben darf, da es meine Fragestellung nicht unmittelbar tangiert.26 Hingegen ist von Bedeutung, dass sich die Dionysius-Rezeption im 12. Jahrhundert mit einer weiteren neuplatonischen Tradition verschränkt, wovon gleich die Rede sein wird. Zur selben Zeit beginnt übrigens auch eine Reihe von Aufstiegsentwürfen, die z. T. jedenfalls dionysisch inspiriert sein mögen, insofern aber ein ganz neues Gesicht zeigen, als diese Aufstiege die kosmologische Einbettung abgestreift haben und nunmehr als psychische Prozesse aufgefasst werden, so bei Bernhard von Clairvaux, Richard von St. Viktor u. a. m.27 Erst sehr viel später, etwa bei Bonaventura und Tauler, kommen wieder kosmische Aspekte in die AscensusEntwürfe hinein, als Einstiege sozusagen.28 Dass bei diesen Stufenwegen auch Erkenntnisschemata neuplatonischer Provenienz eine Rolle spielten, sei nur nebenbei angemerkt. Die Ablösung aus dem Kosmischen, aus der Anschauung, aber musste in diesem Zusammenhang die Entwicklung einer quasiautonomen Ästhetik blockieren. Die Bildlichkeit, die dabei sehr lebendig, ja etwa bei David von Augsburg oder Tauler geradezu drastisch sein kann, steht völlig im Dienst der Psychagogie. Ein umstrittener dionysischer Ausläufer soll nicht unerwähnt bleiben, nämlich Sugers Konzept der gotischen Kathedrale von St. Denis. In der älteren Forschung – es sind vor allem Erwin Panofsky, Otto von Simson und Werner Beierwaltes zu nennen29 – wollte man in den Inschriften, die Suger an seinem Neubau anbringen ließ, eine Inspiration durch Dionysius erkennen und versuchte, die Entstehung der gotischen Kathedrale aus dem Geist der dionysischen Lichtmetaphysik zu _____________ 26 27 28 29

Siehe dazu: Haug (2003), 545–551. Vgl. Haug (2003), 453 f. Haug (2003), 493–504; Haug (1995), 592–605. Panofsky (1946); Simson (1972); Beierwaltes (1994), 115–118; siehe auch Haug (1995), 509– 512.

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begründen. Die These ist ansprechend. Besonders eindrucksvoll in dieser Hinsicht ist Sugers berühmte Portalinschrift; sie lautet:30 Wer du auch bist, der du die Pracht dieser Türen rühmen willst, bewundere nicht die Kosten, sondern das Gold und die Mühe, die dieses Werk gemacht hat. Edel erstrahlt das Werk, aber das Werk, das edel erstrahlt, soll den Geist erhellen, daß er durch die wahren Lichter zum Licht, das die Wahrheit ist, gelangt, wozu Christus das wahre Tor ist. Von welcher Art das Licht im Innern ist [also wenn man durch die Türen hindurchgegangen ist], darauf verweist das goldene Portal hiermit. Der schwerfällige Geist steigt mit Hilfe des Materiellen (per materialia) zur Wahrheit empor; er, der zuvor niedergedrückt war, erhebt sich neu, er aufersteht (resurgit) durch den Anblick dieses Lichts.

Das Werk, das Gold, strahlt, es erleuchtet den Geist, und diese Erleuchtung ist die Einsicht, dass man über das Leuchten zum wahren Licht hingeführt werden kann, über das Materielle zur Wahrheit. Das ist neuplatonische Lichtmetaphysik in christlicher Abwandlung, d. h. Anschauung verbunden mit Allegorese, der Übergang wird vermittelt durch die Deutung. Das Bauwerk bedarf der Inschriften, damit sich die Erleuchtung vollziehen kann. Suger kann anderweitig geradezu sagen, das Werk erstrahle im Glanz „freudebringender Allegorien“.31 Das Strahlen meint das Erleuchten über die Interpretation. Also auch hier wiederum Allegorie nicht im strikten Sinn. Die Nähe zu dem vorhin zitierten Text aus Eriugenas Dionysius-Kommentar fällt in die Augen. Der Gedanke liegt nahe, dass das, was Eriugena von der lichthaften Erscheinung alles Geschaffenen sagt, hier auf das Artefakt der Kathedrale übertragen worden ist, und man ist versucht, eine entsprechende Ästhetik zu unterstellen. Schon seit den 1950er Jahren sind jedoch Zweifel an dieser These laut geworden;32 mit besonderer Schärfe hat Peter Kidson sie artikuliert,33 und 1995 hat Christoph Markschies die kritischen Bedenken noch einmal zusammengefasst.34 Das entscheidende Argument lautet: Es fänden sich in Sugers Inschriften keine spezifischen Anklänge an dionysisch/eriugenische Texte.35 Es genüge als Hintergrund die allgemeine neuplatonisch-christliche Lichtmetaphysik oder auch nur Lichtmotivik. Und die Neuherausgeber der Sugerschen Schriften, Andreas Speer und Günther Binding, teilen diese Meinung.36 So überzeugend diese Argumentation aber auch scheinen mag, so viel Mühe hat man doch, sich vorzustellen, dass der hochgelehrte Suger keine Kenntnis vom Dionysischen Corpus gehabt haben soll, das ihm in seiner Abtei zugänglich gewesen sein dürfte und das in so hohem Maße ihren Ruhm _____________ 30 31 32 33 34 35 36

Speer/Binding (2005), 324. Speer/Binding (2005), 342: „allegoriarum iocundarum iubar“. Siehe Reudenbach (1994). Kidson (1987). Markschies (1995). Siehe aber unten Anm. 39. Speer/Binding (2005), 32.

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begründete. Übrigens hatte kurz vor Sugers Neubau von 1140/44 mit dem Kommentar von Hugo v. St. Viktor zur Himmlischen Hierarchie die DionysiusRenaissance begonnen. Werner Beierwaltes hat denn auch gleichzeitig mit Markschies’ Invektive die ältere Position mit guten Gründen verteidigt und den Bezug zu Dionysius/Eriugena noch einmal plausibel gemacht, wenngleich er zugestehen muss, dass ein schlüssiger Beweis nicht zu erbringen ist.37 Aber wie skeptisch man auch sein mag, eines wird man nicht leugnen können, nämlich, dass Sugers Konzept als ein Zeugnis zu gelten hat für die charakteristische von der Väterzeit her neuplatonisch durchdrungene, aber christlich umformulierte Erkenntnislehre, die Anschauung und Denken über die Vorstellung vom Schauen im erleuchtenden Licht in einem Akt der Erfahrung zusammenbindet. Die Frage aber ist wie immer diese: Welche Rolle spielt die Differenz? Wenn von Gnade gesprochen wird, haben wir das entsprechende Signal, wie am Schluss der zitierten Eriugena-Stelle. Es fehlt, wie zu erwarten, auch bei Suger nicht, so wenn er in folgender Weise von seiner persönlichen Lichterfahrung spricht:38 Als mich einmal aus Liebe zur Pracht des Gotteshauses die vielfarbige Schönheit der Edelsteine von den äußeren Sorgen wegrief und ein tiefes Nachdenken mich dazu trieb, nachdrücklich ihre heiligen Eigenschaften in ihrer Vielfalt vom Materiellen ins Immaterielle hinüberzuführen (transferendo), da glaubte ich mich gleichsam in einer Außenregion des Erdkreises zu sehen, die weder ganz im irdischen Schmutz noch ganz in der Reinheit des Himmels lag, und ich glaubte, daß ich durch Gottes Gnade (Deo donante) in anagogischer Weise von dieser niedrigen zu jener höheren Welt hinübergebracht werden könne (posse transferri).39

Der Ausgangspunkt ist also wieder die Schönheit der Kathedrale, insbesondere der Glanz der Edelsteine. Und das ist der Anstoß zu einem Nachdenken, bei dem das Materielle auf das dahinter liegende Immaterielle gedeutet wird. Bezeichnend ist wiederum die Verbindung von Anschauung und Interpretation. Und dieser verschränkte Prozess ergreift den Denkenden: „transferendo“ – „posse transferri“: ‚im Denken des übertragenen Sinns hinübergetragen werden‘. Und dazwischen die Bruchstelle im Wissen darum, dass dies aus eigener Kraft nicht zu leisten, sondern allein durch die entgegenkommende Gnade Gottes möglich ist: „Deo donante“. Da aber eine explizite philosophische Klärung des Verhältnisses zwischen Immanenz und Transzendenz und damit die Selbstreflexion des deutenden Verfahrens fehlen, ist dieses Signal seinem Gewicht nach schwer einzuschätzen, und damit muss auch offen bleiben, wie weit Sugers Akzentsetzung in der Formel der unähnlichen Ähnlichkeit sich mit jener Eriugenas gedeckt haben könnte. Soviel lässt sich jedoch sagen: Wo immer Suger _____________ 37 Beierwaltes (1994), 152–158. 38 Speer/Binding (2005), 344 f. 39 Hier meint man nun doch Anklänge an den in Anm. 24 genannten Abschnitt in Eriugenas Dionysius-Kommentar zu vernehmen; auch dort findet sich die Formulierung „transferri posse“ (Cap. II 135).

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angeknüpft haben mag, sein architektonisches Werk und dessen Deutung setzen ein Konzept voraus, das der Ähnlichkeit einen nicht unerheblichen Spielraum gewährte.

VI. Nun zum zweiten Grenzbereich: Kunst- und Literaturtheorie als handwerkliche Anleitung mit Typenordnungen und topischen Materialsammlungen. War von hier aus ein Durchbruch ins Ästhetische möglich? Die mittelalterliche Gattungspoetik beruhte auf einer Dreiteilung, die sie der Herennius-Rhetorik und Cicero verdankte. Isidor von Sevilla war der entscheidende Vermittler.40 Es wurde unterschieden zwischen drei literarischen Gattungen: historia, argumentum und fabula. Die historia bezieht sich auf das, was tatsächlich geschehen ist. Sie ist wahr im Sinne des Faktischen, und sie kann über dessen Beispielhaftigkeit Wahrheit als Sinn vermitteln. Das argumentum meint etwas, was zwar nicht historisch-wahr ist, was aber geschehen sein könnte, Erfindungen also, die aufgrund ihrer Wahrscheinlichkeit als Exempel dienen können. Mit fabula wird etwas Erfundenes bezeichnet, das weder wahr noch sinnvoll ist und sich bestenfalls als rekreative Unterhaltung rechtfertigen lässt.41 Die Invektiven gegen das Fabulöse als Lügenhaftes tauchen stereotyp das ganze Mittelalter hindurch auf. Mit der Diffamierung dieses Typus treffen die Rigoristen die weltliche Erzählliteratur.42 Eine autonome Poesie und eine ihr entsprechende Ästhetik lassen sich im Rahmen dieser dreigliedrigen Gattungstheorie nicht begründen. Aber es gab eine – bezeichnenderweise platonische – Einbruchstelle, nämlich über Macrobius, der das Somnium Scipionis aus dem 6. Buch von Ciceros De re publica mit einem Kommentar dem Mittelalter zugänglich gemacht hat;43 es handelt sich um einen kosmologischen Aufstiegstraum. Wir stehen am Ende des 4. Jahrhunderts; auch er hat Plotin noch gekannt. Macrobius unterscheidet gegen die Tradition zwei Typen von fabulae (1, 2, 7–9), die übliche, unnütze fabula: Liebesgeschichten, Komödien und dergl., doch davon hebt er das ab, was er narratio fabulosa nennt.44 Auch sie beruht auf Erfindung; sie ist aber für den Philosophen unentbehrlich, wenn er von immateriellen Dingen, von der Seele, vom höchsten Wesen sprechen will. Die narratio fabulosa dient also der Darstellung des Undarstellbaren. Die neuplatonisch umgedeutete Mimesislehre steht im Hintergrund.45 _____________ 40 41 42 43 44 45

Grundlegend zur Geschichte dieser Gattungspoetik: Moos (1976); Knapp (1997), 9–64. Wachinger (2001). Siehe Haug (1992): Register s. v. ‚Dichtung als Lüge‘. Zur Nachwirkung im 12. Jahrhundert: Jeauneau (1974). Vgl. Knapp (1997), 44 f. Dazu: Rüfner (1955), 258.

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Und dieser Gedanke philosophisch verwendbarer poetischer Erfindungen wird dann von den Platonikern des 12. Jahrhunderts aufgegriffen und hat sich in der sogenannten Integumentum-Theorie niedergeschlagen, d. h. in einer Theorie, bei der es um die Möglichkeit einer Vermittlung von Wahrheit sub integumento oder sub involucro, also in bildhafter, poetischer Verschleierung, geht. Zu nennen sind insbesondere Wilhelm von Conches, Bernardus Silvestris, Alanus von Lille und Johannes von Salisbury. Aber es gibt schon entsprechende Reflexionen bei Abailard. Die Forschung, die sich damit befasste, sah darin eine Rechtfertigung der Poesie im Sinne eines zumindest relativ eigenständigen Weges zur Wahrheit, also einen Ansatz zu einer mittelalterlichen Literaturtheorie, und damit wäre man über einen langen Weg wiederum an jenem Punkt angekommen, den Proklos schon einmal erreicht hatte. Gegen diese These, der zufolge sich über die Integumentum-Lehre im 12. Jahrhundert das Literarische schon in Richtung auf ein modernes Dichtungsverständnis hin emanzipiert haben soll,46 ist Frank Bezner mit seiner Dissertation Vela Veritatis von 2005 angetreten.47 Mit vehementer Entschiedenheit spricht er den Erörterungen zum Integumentum die unterstellten literaturtheoretischen Implikationen ab. Dabei stellt er zunächst fest, dass es so etwas wie eine Integumentum-Theorie im Sinne eines konzisen hermeneutischen Konzepts gar nicht gegeben hat. Es handelt sich vielmehr um einen proteischen Begriff, mit dem unter immer wieder neuen Akzentuierungen operiert worden und dem allein über geduldige Einzelanalysen beizukommen sei, was Bezner dann auch in höchst differenzierter Weise tut. Wenn man in all diesem Changieren aber – Bezner pointiert fassend – doch so etwas wie einen Generalnenner ausmachen wollte, dürfte man wohl sagen: Integumentales Denken ist grundsätzlich nicht literaturtheoretisch orientiert, sondern es zielt letztlich auf eine Selbstkritik der theologischen Hermeneutik. Es ist hier nicht möglich, dieses im Prinzip überzeugende Ergebnis nachvollziehend im Einzelnen plausibel zu machen, ich muss auf Bezners eindringliche Analysen selbst verweisen. Auf einen Fall jedoch, in dem integumentales Denken erzählerisch produktiv geworden ist, ist aus meiner Perspektive kritisch näher einzugehen: auf den Anticlaudianus des Alanus von Lille, um 1182/84:48 Der Titel bezieht sich auf ein Gedicht Claudians über einen gewissen Rufinus, einen verbrecherischen Minister des Theodosius, der das absolut Böse verkörpert. Alanus will dem ein Gedicht über den Weg zu einem vollkommen guten Menschen entgegenstellen. Der Prolog kennzeichnet den Leser, den Alanus sich wünscht: einen Leser, der sich über die Sinnlichkeit zur Vernunft erhebt, nicht an poetischen Fabeleien Gefallen findet, sondern bereit ist, anhand der Dichtung zu den Ideen, den formae _____________ 46 Ich hebe nur beispielhaft einige von vielen prominenten Vertretern dieser These heraus: McKeon (1952); Dronke (1974); Jauß (1983); Minnis/Scott (1988), Moos (1993). 47 Bezner (2005), insbes. 69–93 und Kap. V. 48 Zu Autor und Werk: Huber (1988), 1–4.

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supercoelestes, aufzusteigen. Also ein quasiplatonischer Aufstieg als epische Handlung. Ich gebe eine knappe Inhaltsskizze, die selbstverständlich dem spezifischen Charakter des Werkes, insbesondere seiner wissensvermittelnden Seite, in keiner Weise gerecht wird. Natura will einen neuen, vollkommenen Menschen schaffen, sie hält eine Beratung ab. Geladen sind Eintracht, Fülle, Gunst, Jugend, Lachen, Schamhaftigkeit, Bescheidenheit, Vernunft usw. – über ein Dutzend Tugenden. Man braucht dazu aber eine vollkommene Seele, die die Natur nicht zu liefern vermag. Es muss ein Wagen hergestellt werden, mit dem man zum Himmel fahren kann, wo man sich von Gott eine vollkommene Seele erbitten will. Die Konstruktion des Wagens wird den sieben artes übertragen, die Grammatik steuert die Deichsel bei, die Dialektik die Achse, die Rhetorik vergoldet beides. Die artes des Quadriviums stellen die vier Räder her. Die fünf Sinne dienen als Pferde. Mit diesem Wagen fahren nun Prudentia/Phronesis durch die Himmelssphären empor. Am höchsten Punkt kommt es zu einem kritischen Übergang. Die Ratio muss mit dem Wagen und den Pferden, also den Sinnen und den artes, zurückbleiben. Und auch der Dichter muss nun eine andere Sprache sprechen. Die himmlische Muse löst Apollo ab, der Dichter will nur noch die Feder sein, nicht mehr Schreiber oder Autor (V 265–277). Phronesis nunmehr unter der Führung der puella oder regina polis, vermutlich der Theologie,49 erreicht die Engelchöre, den Sitz der Seligen und Marias. Aber am Eingang zum Himmel bricht auch die Phronesis ohnmächtig zusammen. Es heißt, sie sei lebendig tot und tot lebendig (VI 76: „moritur uiuens et mortua uiuit“). Die Fides muss ihr zu Hilfe kommen und sie wiederbeleben, und sie gibt ihr dann einen Spiegel, mit dessen Hilfe sie gebrochen den Glanz des Himmels zu ertragen vermag. Man gelangt zum Palast Gottes, in dem die ewigen Ideen, die Ursachen und Gründe aller Dinge abgebildet sind. Phronesis erhält auf ihre Bitte von Gott eine vollkommene Seele, mit der man zur Erde zurückkehrt, wo Natura dann den neuen, vollkommenen Menschen erschafft. Das freilich bringt die Laster auf den Plan, die zum Kampf antreten. Natura stellt sich mit den Tugenden ihnen entgegen, der Sieg gehört dem neuen Menschen, und die Laster müssen sich in die Unterwelt zurückziehen. Auf Erden beginnt eine paradiesische Zeit. Nach dem ersten Eindruck scheint man es hier mit poetisch umgesetzter platonischer ascensus-Philosophie zu tun zu haben, genauer: mit ihrer christlichen Version, wie die charakteristische Bruchstelle in der Höhe zeigt, wo die Ratio mit ihren Wissenschaften und die Sinne versagen und schließlich auch die Phronesis zusammenbricht und nur noch der Glaube weiterhilft. Handelt es sich hier also um einen episch-philosophischen Weg von eigenem, literarischem Recht? Frank Bezner bezweifelt das. Auch wenn Alanus sage, dass man im Bild etwas ausdrücken könne, was sprachlich-diskursiv nicht zu fassen sei, so sei damit doch nicht einer Eigenständigkeit der narratio das Wort geredet. Es handle _____________ 49 Dies ist die übliche Deutung. Anders Dronke (1986), 11 f.

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sich um „Ideenerzählung oder erzählte Gedankenwelt“50, Einsichten würden ins Bildhafte transponiert, zum Bild komme immer der Kommentar, der dessen Sinn „unausweichlich fixiere“, und so schließt er: „‚Kommentar‘ und Dichtung sind zwei Seiten ein und derselben Medaille.“51 Kann man aber wirklich sagen, dass sich die narratio im Anticlaudianus wie bei einer Allegorie ohne Rest in diskursive Rede umsetzen lässt und auch umgesetzt wird? Ich versuche, die Frage beispielhaft anhand einer Episode zu beantworten: der Darstellung des Zusammenbruchs der Phronesis im Bereich des Göttlichen (VI 1– 137), ihre Orientierungslosigkeit, ihre Verwirrung, ihr Staunen, ihre Ohnmacht werden beklemmend geschildert. Man kann selbstverständlich mit Bezner dazu bemerken, das bringe nichts weiter als den „Verlust, das Versagen der Rationalität angesichts des Höchsten“ zur Anschauung.52 Und dem wird kontrastivdiskursiv das Transzendente in seiner coincidentia oppositorum entgegengehalten: Gott ist gerecht ohne Gerechtigkeit, lebendig ohne Leben, Anfang ohne Anfang, Ende ohne Ende usw., und dazwischen steht dies vermittelnd: die Personifikation der Theologie, eine Frau von unvergleichlicher Schönheit, deren körperlicher Erscheinung alles Irdisch-Vergängliche abgesprochen wird und in deren prachtvolles Kleid die Geheimnisse Gottes eingewoben sind, so dass das Grenzenlose begrenzt, das Unsichtbare sichtbar erscheint (V 83–146). Bezner beobachtet treffend, dass sich in solchen Stellen theologische Erörterung und narratio verschlingen, es komme zu einem „Oszillieren zwischen Idee und Erzählung.“53 Das widerspricht jedoch der Vorstellung von den „zwei Seiten ein und derselben Medaille“. Denn die Verflechtung ist konstitutiv, die narratio ist integraler Bestandteil des Erfahrungsprozesses, ja mehr als das: Dieser Prozess wird von der narratio getragen, er wird als Weg-Erzählung vor Augen geführt. Und dann das Entscheidende: Die Differenz wird nicht nur narrativ als Ohnmacht der Phronesis inszeniert, sondern sie wird zugleich in die Reflexion über die Grenzen von Bild und Wort hinein genommen. Das Problem der Vermittlung, die Frage nach den Grenzen der Sprache wird dabei mit thematisiert, indem diese sich nicht nur in der bildlichen Verschleierung, sondern auch in hybriden Sprachspielen selbst zu übersteigen versucht. Die gesamte Darstellung ist durchdrungen vom Bewusstsein der hermeneutischen Problematik angesichts der Transzendenz. Es gibt im Übrigen einen direkten Bezug zur Ästhetik Eriugenas, es fällt der Begriff der Theophanie, der hier nun explizit auf die Dichtung bezogen wird.54 Zugegeben: Die Bedeutung, die damit der sprachlich-bildlichen Vermittlung zukommt, impliziert nicht eine Literaturtheorie, die dem literarischen Bereich ein Eigenrecht im Sinne einer zur Philosophie parallelen Erkenntnisleistung _____________ 50 51 52 53 54

Bezner (2005), 520. Bezner (2005), 523. Bezner (2005), 508. Bezner (2005), 521. Dronke (1986), 9, hat darauf hingewiesen.

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zubilligte, wie dies bei Proklos der Fall war, aber dies nobilitiert die narratio doch in einem diskursiv-bildlichen Gesamtprozess, den man sehend und denkend nachvollziehen muss; es geht um eine geistige Erfahrung, bei der poetische Faszination und philosophische Klärung unlösbar ineinander spielen. Letztlich beruht jedoch auch dies, wenngleich in unvergleichlich kunstreicher Form, auf der in christlicher Perspektive unabdingbaren allegorischen Brechung der bildhaften Sphäre. Man darf jedenfalls Alans integumentale Poesie nicht als allegorische Philosophie missverstehen. Sie ist nicht in begriffliche Bedeutung umzusetzen, sondern sie muss als philosophisch-poetischer Prozess nachvollzogen werden.

VII. Alanus hat lange und breit nachgewirkt, auch auf die volkssprachliche Literatur: auf Jean de Meun, Frauenlob, Dante, Chaucer u. a. m.55 Dass auch Gottfried von Straßburg von ihm beeinflusst worden ist, ist verschiedentlich überzeugend herausgestellt worden. Christoph Huber ist hier an erster Stelle zu nennen.56 Es gibt nicht nur nahe textliche Berührungen zwischen Gottfrieds Tristan und Alans philosophischen Dichtungen, sondern auch signifikante Übereinstimmungen in bestimmten sprachlichen Verfahren, in kühnen Wortbildungen und Redefiguren.57 Wir wissen biographisch nichts von Gottfried von Straßburg, aber er muss eine klerikale Ausbildung durchlaufen haben. Er kannte sich in der zeitgenössischen deutschen und französischen Literatur aus. Seine Vorlage war der französische Tristanroman des Thomas von Britannien. Er dürfte nicht nur Französisch, sondern auch Latein gekonnt haben. Er kennt die rhetorische Tradition und übersetzt in einer Dichterkritik, die er in seine Erzählung einschiebt, eine Vielzahl lateinischer poetologischer Termini ins Deutsche. Er schöpft exzessiv aus dem traditionellen topischen Fundus, ja er spielt souverän mit den literarischen Topoi bis hin zur Ironisierung. Er beherrscht die handwerkliche Seite der mittelalterlichen Kunsttheorie in einem höchsten Maße. Gottfried hat für seinen Roman aber zudem im Prolog und in Exkursen, mit denen er die Handlung unterbricht, eine Literaturtheorie entworfen, die die Beziehung zwischen seinem Werk und dessen Thematik einerseits und dem Hörer oder Leser andrerseits reflektiert.58 Schon im Prolog spricht er davon, dass er eine Liebesgeschichte für Liebende erzählen wolle. Dabei macht er zur Bedingung für das richtige Verständnis, dass der Hörer/Leser bereit sein müsse, das Ineinander von Lust und Qual, das jede wahre Liebe präge, für sich selbst zu akzeptieren. Auf diese Weise werde das Leben und der Tod Tristans und Isolds für den, der _____________ 55 56 57 58

Siehe Huber (1988), 8–22. Huber (1988), 79–135. Vgl. Schwarz (1973), 220. Detaillierter dazu: Haug (2003), 160–171.

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die Geschichte mit der richtigen Disposition höre, zum Brot des Lebens: „Ir leben, ir tot sint unser brot, sus lebet ir leben, sus lebet ir tot, sus lebent sie noch und sint doch tot und ist ir tot der lebenden brot“ – so lautet der berühmte Passus im Prolog. Die Anspielung auf die Eucharistie ist nicht zu überhören, und dies ist nicht etwa blasphemisch gemeint, sondern die Brotmetapher zielt auf die Möglichkeit einer inneren Wandlung durch literarische Erfahrung. Ein weiteres Mal wird das theoretisch in einem Exkurs durchgespielt, der in den Zusammenhang der Episode der Liebesgrotte eingebaut ist. Nachdem Tristan und Isold auf der Fahrt von Irland nach Cornwall versehentlich den ominösen Liebestrank getrunken haben, der für Isold und König Marke gedacht war, können sie nicht anders, als sich auch nach der Heirat Isolds heimlich so oft wie möglich einander hinzugeben. Es kommt am Hof zu einem längeren Intrigenspiel, bei dem die Liebenden immer neuen Verdächtigungen ausgesetzt werden und die sie immer neu zu parieren wissen, bis der König schließlich genug davon hat und sie verbannt. Sie begeben sich in eine wunderbare Grotte in einer amönen Umgebung, abgeschirmt in einer schwer zugänglichen Wildnis. Es ist ein paradiesischer Ort. Tristan und Isold können hier ganz ihrer Liebe leben, sie bedürfen keinerlei Nahrung, sie genügen ganz sich selbst. Die Grotte ist eine Kuppelrotunde, vor Urzeiten von Riesen in einen Felsen gehauen. Der Boden ist grün, die Wand weiß wie Schnee. Hoch oben hängt ein Geschmeide. In der Mitte steht ein kristallenes Bett, das der Göttin der Liebe geweiht ist (vv. 16702–16723). Die Architektur und die Topographie der Grotte werden später allegorisch ausgelegt (vv. 16923–17099): Dass die Grotte rund ist, bedeutet eine Liebe ohne jeden Winkel des Argwohns, die Weite meint ihre grenzenlose Kraft, die Höhe bedeutet den „hohen muot“, d. h. die Hochstimmung des Herzens, die bis zu den Wolken emporsteigt, das Geschmeide in der Kuppel meint die ethische Vollkommenheit, der grüne Boden die Treue, das kristallene Bett die Lauterkeit und Reinheit der Liebe usw. – Das knüpft an traditionelle Architekturallegoresen an.59 Aber dann wird der Zuhörer oder Leser unvermittelt in diesen Auslegungsprozess hereingezogen. Nachdem Gottfried erläutert hat, wie das Geschmeide mit seinen Edelsteinen im Scheitelpunkt des Gewölbes zu verstehen ist, nämlich als absolute Vollkommenheit, geschmückt mit den Edelsteinen aller Tugenden, sagt er, das sei ein so wunderbarer Anblick, dass wir, die wir davon hören, gar nicht anders könnten, als staunend hinaufzuschauen, daz wir, die nidere sin gemuot, 16950 der muot sich allez nider tuot und an dem esteriche swebet, der weder swebet noch enclebet: wir kapfen allez wider berc und schouwen oben an daz werc, 16955 daz an ir tugenden da stat,

so dass wir, die wir nicht hochgestimmt sind, deren Geist vielmehr ganz niedergedrückt ist und nahe am Boden dahinschwebt und weder abheben kann noch hängen bleibt – wir schauen unentwegt gebannt nach oben und blicken hinauf zu dem Geschmeide, das durch die Tugenden jener gebildet ist

_____________ 59 Zur Diskussion um diesen Zusammenhang: Jaeger (1973), 110.

Gab es eine mittelalterliche Ästhetik aus platonischer Tradition? daz von ir lobe her nider gat, die ob uns in den wolken swebent und uns ir schin her nider gebent: die kapfe wir ze wunder an. 16960 hie wahsent uns die vedern van, von den der muot in vlücke wirt, vliegende lob nach tugenden birt.

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und das den Ruhm jener herunterwirkt, die über uns in den Wolken schweben und auf uns herableuchten [nämlich die Liebenden des Romans]: die schauen wir voller Staunen an; davon wachsen uns dieselben Flügel, durch die ihr Geist [also der Geist der Liebenden] aufzufliegen vermag und im Flug die Tugenden lobt.

Die Hörer oder Leser treten also gewissermaßen in die Grotte hinein und blicken hinauf in die Kuppel, und mit der Deutung des Geschmeides im Scheitelpunkt auf die Vollkommenheit erscheinen ihre Träger unvermittelt selbst in der Höhe und strahlen diese Vollkommenheit herab, auf uns herab, so dass auch uns Flügel wachsen und wir zur selben Vollkommenheit empor fliegen können. Dieses Emporfliegen zur Vollkommenheit ist offensichtlich ein platonisches Bild, es erscheint schon im Phaidros (246 A–252 C).60 Ein besonders schönes mittelalterliches Beispiel findet sich in Eriugenas Homilie zum Johannesprolog, die von Johannes als auffliegendem Adler ausgeht.61 In diesem Bild vom Hochfliegen für die erhebende, verwandelnde Erfahrung liegt denn auch das Sinnzentrum der Gottfriedschen Episode der Liebesgrotte, ja, man kann sich des Eindrucks schwer erwehren, dass Gottfried diese Episode letztlich auf diesen literaturtheoretischen Exkurs hin inszeniert hat, denn sie ist – anders als in der älteren Stofftradition – handlungstechnisch funktionslos. Marke weist die Liebenden ohne konkreten Anlass unvermittelt vom Hof, und es gibt dann auch keinen rechten Grund für das Paar, aus dem Grottenparadies wieder dahin zurückzukehren. Gottfried macht denn auch deutlich, dass es sich um keinen episch-realen Ort handelt. Er sagt, er sei selbst auch in dieser Grotte gewesen (v. 17100), freilich habe er nicht das Glück gehabt, auf dem kristallenen Bett zu liegen. Aber er kenne die Grotte seit seinem elften Lebensjahr, obschon er nie nach Cornwall gekommen sei (v. 17136). Die Grotte erweist sich damit als eine theoretische Utopie des literarischen Vermittlungsprozesses. Das heißt: In der Grottenschilderung und ihrer Deutung steckt Gottfrieds Literarästhetik. Es geht um einen Aufstieg des Hörers oder Lesers zur Vollkommenheit anhand eines poetischen Werks, dessen Geschehen durch alle seine Höhen und Tiefen hindurch nachvollzogen werden muss. Nachvollzug meint, dass das Werk keineswegs eine Liebeslehre bieten will, denn die Ehebruchsgeschichte von Tristan und Isold ist alles andere als vorbildlich und nachahmenswert, ja gerade dies, der Widerspruch zwischen der konkreten, prekären Handlung und dem, was sie als grundsätzliche Erfahrung in sich trägt, die Erfahrung eines Absoluten, die Erfahrung der Liebe als Absolutum, quer zu _____________ 60 Jaeger (1973), 97–105, hat als erster auf die platonistischen Traditionen aufmerksam gemacht, die hinter Gottfrieds Vorstellung vom Hochfliegen zur Krone der Tugenden stehen. 61 Dronke (1984), 41–43. Weitere Beispiele bei Jaeger (1973), 104 f.

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aller Realität, das ist es, was die Rezipienten provozieren, was ihren Aufflug anstoßen soll. In diesem Widerspruch steckt das, was in der philosophischen Tradition als radikale Differenz erscheint. Die absolute Vollkommenheit der Liebe leuchtet durch das Tun der Liebenden durch, auch wenn sie in deren konkretem Tun nicht zu fassen ist. Gottfried von Straßburg steht mit seiner Literaturtheorie nicht allein. Entsprechende Thesen, die sich gegen episches Erzählen als bloße Vermittlung von Lehren wenden und statt dessen einen Nachvollzug als genuine Erfahrung, als Erfahrung von Wahrheit über Fiktionen, fordern, finden sich auch bei Gottfrieds Zeitgenossen, schon bei Hartmann von Aue62 und dann besonders prononciert bei Wolfram von Eschenbach. Wolfram sagt im Prolog zum Parzival explizit, dass er sich weigere zu sagen, was sein Roman lehren solle, es komme allein darauf an, dem Auf und Ab des Geschehens mit all seinen Überraschungen zu folgen: Nur wer dies tue, verhalte sich richtig gegenüber seiner Geschichte, nur der erfahre ihren Sinn (vv. 2, 5–16).63 Wahrheitsfindung von eigenem Recht über fiktionales Erzählen: In literaturtheoretischen Überlegungen dieser Art in den volkssprachlichen Romanen des 12./13. Jahrhunderts fassen wir das auf eine hohe Reflexionsstufe gehobene Erbe einer im Ansatz neuplatonisch begründeten, aber christlich gebrochenen mittelalterlichen Ästhetik. Die Vermittlung dürfte über die Platoniker des 12. Jahrhunderts, insbesondere, wie sich bei Gottfried von Straßburg zeigen lässt, über Alanus gelaufen sein. Es ist dann aber zu einer eigenständigen Entwicklung gekommen. Ihre überraschende Pointe besteht darin, dass in dieser neuen volkssprachlichen Literatur Differenzerfahrung über die Opposition zwischen absoluter Idee und bedingter Wirklichkeit rein anthropologisch, also außerhalb des traditionellen theologischen Rahmens durchgespielt wird. In der These von der Wahrheit der Fiktion erfüllt sich die höchste Möglichkeit der mittelalterlichen Literarästhetik. Damit ist Platons berühmtes Diktum, dass die Dichter lügen, ins Gegenteil verkehrt. Man kann mit Johannes von Salisbury – aber in einem sehr viel weiter gehenden Sinn – sagen: „mendacia poetarum inserviunt veritati“ (I 186).

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Schönheit und Bild im Neuplatonismus Jens Halfwassen

Dem Andenken an Rüdiger Bubner gewidmet

I. Schönheit und Bild – für neuplatonisches Denken gehören diese beiden Begriffe eng zusammen. Ihrer Zusammengehörigkeit möchte ich im Folgenden nachgehen. Schönheit bedeutet griechisch gedacht immer ein Sich-Zeigen und Scheinen. Schon darin liegt ihr Bezug zum Bild. Denn Bild meint Sichtbarkeit, genauer die simultane Sichtbarkeit eines Ganzen, das sich in einem einzigen Hinblick auf einen Schlag erfassen lässt. Bild ist darum ohne Sich-Zeigen nicht denkbar, es ist ein eminenter Modus von Scheinen und Erscheinen. Schönheit wiederum zeigt sich auch und gerade so, dass sie im Bild scheint und erscheint. Im Kontext des Platonismus werden Schönheit und Bild noch enger verbunden dadurch, dass beide mit einem Zug in die Transzendenz versehen werden.1 Platon bestimmt das Bild im Sophistes als die Sichtbarkeit des an ihm selbst Unsichtbaren, ontologisch gewendet als die Anwesenheit des Abwesenden, als Erscheinung des an sich Verborgenen, das in seiner Erscheinung scheint, aber so, dass es in diesem Scheinen nicht aufgeht, sondern seine Erscheinung zugleich übersteigt (Platon, Sophistes 240 B ff.). Bild (ıԼȜօȟ) ist hier also gerade kein Abbild (ıՀİȧȝȡȟ), das auf ein selber auch sichtbares Urbild verweist, sondern es ist die Sichtbarkeit dessen, was sonst, ohne Bild, unsichtbar bleibt. Es verweist über sich selbst hinaus auf das, was die Sichtbarkeit transzendiert. Schönheit wiederum denkt Platon als das Sich-Zeigen und Vorscheinen des wahrhaft und eigentlich Seienden und Intelligiblen, das alle Erscheinungen übersteigt, sich aber in ihnen manifestiert (vgl. Platon, Symposion 210 A–212 A; Platon, Phaidros 247 A ff.). Schönheit öffnet die Erscheinungen gleichsam, so dass sie durchsichtig sind auf das Transzendente hin, das sie als das wahre Sein _____________ 1

Zur Bedeutung der Transzendenz und des Transzendierens im Platonismus Halfwassen (2002a); auch Halfwassen (1998).

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übersteigt (vgl. Phaidros 250 B ff.).2 Schönheit bedeutet hier also viel mehr und ganz anderes als bloß ästhetisches Wohlgefallen. Schönheit und Bild aber kommen darin überein, dass sie über das, als was sie sich unmittelbar zeigen, hinausweisen und zum Transzendieren anleiten. Aus dem Gesagten ist bereits deutlich, dass Schönheit und Bild hier nicht ästhetische, sondern metaphysische Bedeutung haben.3 Ihr Zusammenhang führt sogar direkt ins Zentrum der Platonischen und neuplatonischen Metaphysik. Denn das Schöne erweist sich zuletzt als das Erscheinen des Einen, als Vorschein des Absoluten, das alles Sein und alles Denken transzendiert, das aber als der universale Urgrund in allem und jedem sich manifestiert und erscheint, nicht obwohl, sondern gerade weil Es in absoluter Transzendenz jenseits von Allem bleibt und sich als Es Selbst allem entzieht.4 Als Vorschein des jenseitigen Einen ist das Schöne selbst Bild in einem eminenten Sinne: Sichtbarkeit dessen, was an sich selbst das absolut Unsichtbare und Überunsichtbare ist: der reinen Transzendenz selbst. Der eminente Bild-Charakter des Schönen ist zugleich der Grund dafür, dass die Schönheitsmetaphysik im Neuplatonismus zur Grundlegung einer Ästhetik dienen konnte, welche die Schönheit von Bildkunstwerken thematisiert und sie als Scheinen von Wahrheit und Anleitung zum Transzendieren interpretiert. Diese metaphysische Deutung von Bildkunst und ihrer Schönheit verdichtet einen Zug, der neuplatonisch gedacht für das Sein von Welt überhaupt konstitutiv ist: nämlich als Erscheinung über sich hinaus zu verweisen auf Transzendenz. Bild, Kunst und Schönheit sind darum für neuplatonisches Denken eminent welthaft, weil in ihnen erfahrbar wird, was das Wesen von Welt überhaupt ausmacht;5 im Ergriffenwerden vom Schönen erfahren wir dies unmittelbar, auch sinnlich. Damit ist mein Thema abgesteckt. Inspiriert ist der skizzierte Gedanke von Werner Beierwaltes, der anhand des Theophaniekonzepts von Johannes Eriugena gezeigt hat, wie dieses dem neuplatonischen Bildbegriff entsprungene Konzept zur Grundlegung einer metaphysischen Ästhetik wurde.6 Im Zentrum meiner Überlegungen steht freilich nicht Eriugena, sondern Plotin und seine Rezeption bei Pseudo-Dionysius Areopagita.7

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Vgl. dazu immer noch Krüger (1939/1973), 177–283. Zum Metaphysikbegriff Halfwassen (2003a). Vgl. dazu Halfwassen (1992/2006); grundlegend bleiben für Platon Krämer (1959/1967) und für den Neuplatonismus Beierwaltes (1985). Grundlegend für den neuplatonischen Bildbegriff und für den Zusammenhang von Bild, Welt und Schönheit ist Beierwaltes (1985), 73–113. Vgl. Beierwaltes (1994), bes. 115–158. Vgl. dazu meinen früheren Versuch: Halfwassen (2003b); Halfwassen (2005a).

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II. Beginnen möchte ich mit dem Begriff der Schönheit und seinen metaphysischen Implikationen. Auf eindrucksvollste Weise zusammengefasst findet man diese im 4. Kapitel von Dionysius’ Schrift Über die göttlichen Namen.8 Dionysius behandelt „das Schöne“ (Ȝįȝցȟ) und „die Schönheit“ (Ȝչȝȝȡȣ) als Namen des Absoluten, das in seiner Transzendenz über alle Benennungen hinaus ist, als Urgrund aber von seinen Prinzipiaten her in analoger und metaphorischer Weise benennbar wird: Das überseiende Schöne heißt Schönheit, weil von ihm jedem Wesen nach seiner Eigenart Schönheit mitgeteilt wird, weil es Ursache der harmonischen Ordnung und des Glanzes aller Dinge ist […], weil es alles zu sich ruft (weshalb auch sein Name Kallos ist), und weil es alles in allem in eins und dasselbe zusammenführt. Schön wird es genannt, weil es ganz und gar schön und überschön (ՙʍջȢȜįȝȡȟ) ist, weil es ewig in derselben Beziehung und in derselben Weise schön ist, weil es kein Entstehen und kein Vergehen, kein Zunehmen und kein Abnehmen kennt, weil es nicht nur in einer Hinsicht schön und in einer anderen unschön ist, weil es nicht bald schön und bald nichtschön ist […]. Es wird vielmehr schön genannt, weil es an sich selbst und für sich selbst ewig eingestaltig schön ist, und die Schönheit als Quelle alles Schönen auf eminente Weise in sich vorwegbesitzt. Denn in der einfachen, überwesenhaften Wesenheit des Schönen hat jede Schönheit und jedes Schöne sein ursächliches Vorausbestehen in der Weise der Einheit […]; durch das Schöne bestehen die Harmonien des Alls, Freundschaften und Gemeinschaften. Durch das Schöne ist alles geeint […]. Von ihm stammen alle wesenhaften Existenzen der Dinge, die Einigungen und die Unterscheidungen, die Identitäten und die Verschiedenheiten, die Ähnlichkeiten und die Unähnlichkeiten, die Gemeinsamkeiten des Entgegengesetzten und die Unvermischtheiten des Geeinten, die Fürsorge des Höheren, der wechselseitige innere Zusammenhang des Gleichgeordneten, die Rückkehr des Tieferstehenden, das unveränderte, der Selbsterhaltung dienende Bleiben und Festbestehen 9 aller Dinge.

Dieser barocke Text enthält eine Fülle von Bezügen, unter anderem einen wörtlichen Anklang an Platons berühmte Schilderung des Schönen selbst im Symposion (210 E ff.). Inhaltlich macht er vor allem dreierlei deutlich: 1. Schönheit ist ein universaler Charakter alles Seienden. Sie ist keine besondere Bestimmung ganz bestimmter Dinge, die diese von anderen Dingen mit anderen Bestimmungen unterscheidet, sondern sie bestimmt alles insgesamt und jedes einzelne auf seine je besondere Weise. Bildern und Kunstwerken ist Schönheit darum auch nicht auf eine besondere Weise zueigen, sondern grundlegend in derselben Weise wie allem Seienden überhaupt. _____________ 8

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Zu Dionysius und seinem Verhältnis zum Neuplatonismus, speziell zu Proklos zusammenfassend Beierwaltes (1998/2001), 44–84. Pseudo-Dionysius Areopagita, De divinis nominibus IV 7. Übersetzung leicht modifiziert nach Joseph Stigelmayr (s. Pseudo-Dionysius Areopagita, Über göttliche Namen, 66).

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2. Schönheit ist für das Sein alles Seienden konstitutiv. Sie ist nicht einfach eine Bestimmung neben anderen Bestimmungen, die ein Seiendes haben kann. Sie ist auch keine Bestimmung, die etwas entweder haben oder nicht haben kann. Wir erfahren vielmehr, dass Schönheit das Wesen eines jeden Seienden durchstimmt. Sie konstituiert und bewahrt seine Identität mit sich selbst und seine Verschiedenheit von allem anderem. Sie ordnet seine vielfältigen Beziehungen zu anderem Seienden und zum Ganzen des Seins, ohne die kein Seiendes bestehen könnte. Sie bezieht jedes Seiende in der ihm eigenen Weise auf den absoluten Ursprung zurück. Dadurch begründet und stabilisiert sie seine Existenz und seine Wesensbestimmtheit. 3. Schönheit ist Manifestation des überseienden absoluten Einen: In ihr zeigt sich nämlich die seinsbegründende Macht des Einen. Denn Schönheit meint zuletzt, zuhöchst und zuerst Einheit. Sie zeigt sich in der Vereinigung des Vielen in eine Einheit, in welcher die Differenziertheit und der inhaltliche Reichtum des Vielen mit der Einheit zusammen bestehen. Sie vernichtet das Viele nicht, sondern bewahrt und steigert dessen Reichtum durch die Vereinigung in eine in sich differenzierte Einheit, eine Einheit, die den Unterschied in sich selbst enthält und bewahrt. Schönheit ist so die höchste Einheit, die in der Vielheit möglich ist. Darum manifestiert sich in ihr das seinsbegründende Eine, das in seiner Transzendenz selbst „jenseits des Seins“ (Platon, Politeia 509 B) und frei von aller Vielheit bleibt (Platon, Parmenides 137 C ff.; Gaiser, Testimonium Platonicum, 50).10 Das Schöne ist, so verstanden, das Sich-Zeigen des Absoluten, das erscheinende Eine, der Glanz des Ursprungs auf allem Seienden. Der Glanz des Ursprungs scheint in der notwendigen Einheit eines jeden Seienden, die seine Vielheit in die Einheit eines Wesens eint, und mehr noch in der Vereinigung alles Seienden in die Einheit eines umfassenden Ganzen, der Welt oder des Universums als der geeinten und einheitlichen Totalität des Seins. In der Schönheit als höchster Einheit in der Vielheit zeigt sich die Seinsbegründung des göttlichen Einen. Denn ohne Einheit könnte kein Seiendes bestehen; ohne sie wäre nichts das, was es jeweils ist. Nur dadurch, dass etwas Eines ist, existiert es überhaupt und ist überhaupt etwas, d. h. ein bestimmtes Was oder Wesen. „Alles Seiende ist durch das Eine seiend“, hatte Plotin gesagt (Enneade VI 9, 1, 1). Einheitslose Vielheit zerstiebt dagegen ins grenzenlos Unbestimmte und ist darum auch keine Vielheit mehr, sondern gar nichts. Nichts (ȡ՘İջȟ) hatte schon Platon gedeutet als das, „was nicht einmal Eines“ (ȡ՘İպ ԥȟ) ist (Politeia 478 B; Parmenides 166 C). Darum konstituiert sich das Sein eines jeden Seienden in seinem Einheitscharakter.11 In der höchsten Einheit, die einem

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Vgl. dazu Krämer (1969) und Halfwassen (1992/2006), 265–405; zusammenfassend Halfwassen (2004a), 43–58. Vgl. dazu Halfwassen (2004a), 32–43; Halfwassen (1992/2006), 37–81; zu Platon auch Halfwassen (2004b).

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Seienden möglich ist, erfüllt sich sein Wesen; sie ist für es das Gute,12 das es im Sein bewahrt, und das Schöne, in dem es sich vollendet, sich selbst genügt und so vollkommen ist. Als vollkommene Einheit ist das Schöne durchsichtig auf den Ursprung aller Einheit hin, das überseiende Eine selbst. Von seinen Prinzipiaten her kann Dionysius das seinsbegründende Eine darum auch selber „schön“ und „Schönheit“ nennen. Das überseiende Absolute ist freilich nicht in derselben Weise schön wie alles Seiende, denn es ist keine Einheit in der Vielheit mehr, sondern reine Einheit jenseits aller Vielheit. Als Quelle aller Einheit ist das Absolute darum nur in einem übertragenen und zugleich übersteigerten, transzendenten Sinne schön: Es ist das Überschöne.

III. Wenden wir uns nun dem Ursprung der neuplatonischen Schönheitsmetaphysik bei Plotin zu. Wenn Schönheit ein universaler und seinskonstitutiver Charakterzug alles Seienden ist, dann besagt das zwar, dass alles Seiende auf seine je eigene Weise schön ist; das heißt aber nun keineswegs, dass alles auch in gleicher Weise und im gleichen Maße schön ist. Weil Schönheit auf Einheitlichkeit beruht, ist sie graduierbar. So realisiert z. B. ein Organismus, dessen Glieder konstitutiv auf das Ganze bezogen sind, eine höhere Einheit und damit auch ein höheres Maß an Schönheit als ein bloßes Aggregat wie ein Heer oder ein Steinhaufen. Die immaterielle und unteilbare Seele wiederum realisiert einen höheren Grad an Einheitlichkeit und Schönheit als ein Organismus, der räumlich in seine Glieder und zeitlich in seine Entwicklungsphasen geteilt ist. Die Idee als ewige und unzeitliche Einheit eines reinen Wasseins realisiert wiederum eine höhere Stufe von Einheit und Schönheit als die sich verzeitlichende und ihr Leben in der Zeit erstreckende Seele. Derartige Grade und Stufen des Schönen hatte schon Platon unterschieden, der im Symposion einen Aufstieg von der Schönheit körperlicher Organismen über die Schönheit seelischer Tätigkeiten und Verfassungen und die rein geistige Schönheit der Erkenntnisse bis zur Schau des göttlichen Schönen selbst schildert (210 A ff.). Die Stufen des Schönen koinzidieren dabei mit den Stufen der Einheit und den Stufen des Seins. Die Stufung des Schönen erweist sich als ein eminenter Fall des ontologischen Komparativs. Je schöner etwas ist, desto ‚seiender‘ (Ȟֻȝȝȡȟ Րȟ) und desto einheitlicher ist es auch. Denn schön und seiend ist etwas ja aufgrund seines Einheitscharakters und im Maße seiner Einheitlichkeit. Diese Verbindung der Schönheit und ihrer Stufen mit dem ontologischen Komparativ ist grundlegend für Plotins Begriff von intelligibler Schönheit. Diese ist nämlich nichts anderes als der Inbegriff der Fülle des Seins.13 _____________ 12

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Vgl. zum Begriff des Guten bei Platon Halfwassen (2005b), zur Rezeption bei Proklos Beierwaltes (2004). Vgl. zu Plotins Begriff intelligibler Schönheit Beierwaltes (2001), 53–70; Beierwaltes (1980).

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Wenn Schönheit auf Einheitlichkeit beruht, dann ist die höchste und vollkommenste Schönheit die vollkommene Durchdringung und Vermittlung von Einheit und Vielheit in einer All-Einheit, in der jede Vielheit im Hegelschen Dreifachsinne aufgehoben ist. Es handelt sich also um eine Einheit, die das Viele in seiner Unmittelbarkeit als getrenntes Vieles und Verschiedenes verneint, dabei aber den Seinsgehalt des Vielen, seinen inhaltlichen Reichtum, bewahrt und durch Vereinigung in eine ungeteilte und untrennbare Einheit ent-grenzt und in seine eigene Höchstform hinein steigert. Eine solche Form der Einheit, die alle Vielheit unter Bewahrung, Entgrenzung und Steigerung ihres Gehalts total in sich absorbiert, nannte Hegel „konkrete Totalität“14. Dabei bedeutet Totalität eine ganz besondere Form von Ganzheit, in welcher das Ganze nicht als Zusammenfügung elementarer und für sich bestehender Bestandteile aufgefasst wird, sondern als ursprüngliche Einheit, die ihre artikulierenden Unterschiede aus sich selbst hervorbringt und sich in diesen Unterschieden zu sich selbst verhält. Derartige Unterschiede sind darum keine Teile, die auch getrennt voneinander bestehen und begriffen werden können, sondern Momente eines ursprünglich einigen Ganzen; sie sind konstitutiv aufeinander und auf das Ganze bezogen wie die Glieder eines lebendigen Organismus. Dieser Einheitssinn der Totalität wird noch verstärkt und intensiviert durch den Gedanken, dass jedes Moment des Ganzen die anderen Momente und damit auch das Ganze in sich selbst enthält, so dass jedes Moment selber wiederum den Charakter der Totalität besitzt.15 Erst eine Totalität, in der alle Momente selbst Totalitätscharakter haben, ist konkrete Totalität. Als konkrete Totalität begreift Hegel die spezifische Einheitsform der sich selbst wissenden Idee und des sich selbst erkennenden Geistes. Genau dieser Gedanke ist aber bei Plotin auf das deutlichste präformiert.16 Plotin begreift den göttlichen oder absoluten Geist (ȟȡ‫ף‬ȣ) als die sich selbst denkende und intellektuell anschauende Einheit aller Ideen. Die denkende Selbstbeziehung des Geistes kommt für Plotin dadurch zustande, dass das, was der Geist denkt, nämlich das Ganze aller Ideen, eine holistische All-Einheit ist, deren Momente, die einzelnen Ideen, wechselseitig ineinander enthalten sind. Darum kehrt das Ganze des Seins durch seine Selbstentfaltung in die verschiedenen Ideen zugleich zu sich selbst zurück, vermittelt sich also als konkrete Totalität in seinen Momenten zu sich selbst; diese Selbstvermittlung des Seins in der konkreten Totalität der Ideen ist ein ‚seinshaftes‘ oder im Sein selbst ausgesprochenes Denken (ȡ՘IJțօİșȣ ȟցșIJțȣ, Plotin, Enneade V 3, 5, 37),17 ein intellektuelles Sehen _____________ 14 15

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Vgl. Hegel, Wissenschaft der Logik, 252. Vgl. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, §§ 160 u. 164. Zur Anknüpfung von Hegels Begriff konkreter Totalität an den Neuplatonismus, speziell an Plotin, vgl. Doz (1987), 178 ff. Vgl. zum folgenden Halfwassen (2004a), 66–84, bes. 71–77; Halfwassen (1999/2005c), 358 ff., 365 ff., 373 ff.; Halfwassen (2002b). Vgl. dazu Halfwassen (1994), 29 f., 44 f., 56.

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und In-Eins-Sehen seiner selbst, also Geist. Die Selbstvermittlung der All-Einheit des Seins im Geist oder als Geist aber ist zugleich die uneingeschränkte Fülle des Seins. Plotin beschreibt sie in unvergesslichen Wendungen: Durchscheinend nämlich ist dort (im Geist) Alles und nichts Dunkles und nichts Widerständiges ist dort, sondern Jeder und Alles ist Jedem durchsichtig bis ins Innere; denn Licht ist dem Licht durchsichtig. Denn Jeder hat Alles in sich selbst und sieht wiederum auch im Anderen Alles, so dass überall Alles ist und Alles ist Alles und jedes einzelne ist das Ganze und unermesslich (unendlich) der Glanz. Jedes einzelne nämlich von ihnen ist groß, denn auch das Kleine ist dort groß und die Sonne ist dort alle Sterne und jeder Stern ist die Sonne und alle Sterne. In jedem einzelnen ragt 18 etwas anderes hervor, aber zugleich scheint Alles in ihm auf.

Diese einheitliche Fülle des Seins ist die höchste und ursprüngliche Schönheit: Da es ursprünglich schön ist und als Ganzes schön ist und überall als Ganzes ist […], wer wird es nicht schön nennen? […] es besitzt reines Sein und reines Schönsein. Denn wo wäre das Schöne, wenn ihm das Sein mangelte? Und wo wäre das Sein, wenn ihm das Schönsein fehlte? Denn indem ihm das Schöne fehlte, würde ihm auch 19 das Sein fehlen.

Hier wird deutlich, dass Schönheit die ontologische Vollkommenheit des Seins meint, die Plotin als vollkommene Einheitlichkeit auslegt. „Sein“ (ıՂȟįț, Րȟ, ȡ՘IJտį) meint dabei nicht die nackte Faktizität bloßen Vorhandenseins, sondern bedeutet für Plotin wie schon für Platon und Parmenides wesentlich Bestimmtheit. Sein im absoluten Sinne, reines Sein, ist darum der Inbegriff aller Bestimmtheit überhaupt, dem keine denkbare Bestimmtheit fehlen kann: die omnitudo realitatis (vgl. Plotin, Enneade III 6, 6). Reines Sein kann darum ohne Schönheit gar nicht gedacht werden. Fehlte die Schönheit, so fehlte das Sein sich selbst. Dass Sein hiermit als Vollkommenheit gedacht wird, wurde konstitutiv für den ontologischen Gottesbeweis, der bei Plotin präformiert ist.20 Die absolute Selbstdurchdringung und Selbstvermittlung des Seins als Geist ist für Plotin, wie schon anklang, Licht in einem ursprünglich-absoluten Sinne, intelligibles Licht: Das Leben im Geist und seine Wirklichkeit (ԚȟջȢȗıțį) ist das ursprüngliche Licht, das sich selbst ursprunghaft leuchtet und auf sich selbst hin Erleuchtung (ȝįȞʍșİօȟ) ist, leuchtend und erleuchtet in eins, das wahrhaft Intelligible, denkend und gedacht 21 zugleich, von sich selbst gesehen […], denn was es sieht, ist es selbst.

Licht ist hier, wie Werner Beierwaltes betont hat,22 keine Metapher, keine bloß uneigentliche und übertragene Charakterisierung des Geistes. Vielmehr bringt es die vollkommene Einheitlichkeit des Geistes, die seine Schönheit ausmacht, auf _____________ 18

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Plotin, Enneade V 8, 4, 4–11. Hier und im Folgenden eigene Übersetzung des Verfassers, sofern nicht anders angegeben. Vgl. dazu Beierwaltes (1985), 56 ff.; Beierwaltes (1967/1995), 25 ff. Plotin, Enneade V 8, 8, 1–3. 9, 36–40. Vgl. dazu Beierwaltes, (2001), 59 ff. Vgl. dazu Halfwassen (2002c); zum ontologischen Gottesbeweis generell Henrich (1960/1967). Plotin, Enneade V 3, 8, 36–41. Vgl. Beierwaltes (1977), 90 ff.

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eine die Möglichkeiten begrifflichen Denkens überschreitende Weise intuitiv zur Anschauung.23 Licht meint die vollkommene Einung des Vielen in die ungeteilte Einheit und Ganzheit des Geistes, der sich selbst als Ganzes auf einmal, mit einem Schlag sieht. Zugleich meint Licht die seinsstiftende und seinsmitteilende Entfaltung der Einheit in die Vielheit, die Sichtbarkeit des Seins in der zugleich entfalteten und geeinten Vielheit der Ideen. Wie das Licht in seiner Ausbreitung in sich bleibt, so geht die Einheit in ihrer Entfaltung nicht aus sich heraus. Beide Bedeutungen, die Einung des Vielen und die in sich bleibende Entfaltung der Einheit hat das Licht schon in Platons Sonnengleichnis (Politeia 508 A ff.).24 Der Bezug von Einheit und Vielheit, der das Sein alles Seienden konstituiert, ist als Licht durchsichtig und anschaubar. Darum ist Licht das Medium des Schönen.

IV. Die eminente Schönheit des Geistes aber beruhigt sich nicht in sich selbst, sondern verweist über sich hinaus auf das überseiende Absolute, das Eine selbst, als den Ursprung des Geistes, von dem her dem Geist seine Einheit und in einem damit seine Schönheit zukommt.25 Den Geist denkt Plotin als das „Bild des Einen“ (ıԼȜքȟ ԚȜıտȟȡȤ, Enneade V 1, 7, 1). Das „Bild des Einen“ ist der Geist genau darin, dass seine Einheit alle Vielheit in ihm aufhebt in die All-Einheit der konkreten Totalität, in der es zu keiner Verselbständigung des Vielen kommt; so ist der Geist Einheit, aber eine Einheit, die darum, weil sie in sich selbst artikuliert ist, intelligibel, dem Denken sichtbar ist. Diese Einheit des Geistes ist die Sichtbarkeit des Einen, das als Es Selbst, als absolute reine Einheit jenseits aller Bestimmungen und jenseits allen Seins bleibt und darum auch jenseits aller Denkbarkeit und Sichtbarkeit. Der Geist ist somit Bild in einem absoluten Sinne: An ihm wird sichtbar, was an sich selbst das absolut Unsichtbare und Überunsichtbare bleibt. Doch welcher Zug des Einen wird eigentlich am Geist sichtbar? Nicht die reine Einheit als solche, die als reine Transzendenz über alle Sichtbarkeit hinaus ist. Was an der Einheit des Geistes sichtbar wird, ist vielmehr die Einheit und Sein setzende Übermacht des Einen, sein absolutes „Übermaß an Mächtigkeit“ (ՙʍıȢȖȡȝռ ij‫׆‬ȣ İȤȟչȞıȧȣ, Plotin, Enneade VI 8, 10, 33), das sich nur an seinen Prinzipiaten zeigen kann. Die Übermacht des Einen zeigt sich in der Einheit des Geistes nämlich darin, dass der Geist die Macht hat, alle Vielheit der Ideen in die eigene All-Einheit hinein zu einen. Diese Einheitskraft des Geistes hatte sich aber gerade als das Wesen intelligibler Schönheit erwiesen. Der Geist ist also „Bild des Einen“ gerade kraft seiner Schönheit. Das, was von dem Einen selbst her im _____________ 23

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Licht ist darum eine absolute Metapher im Sinne von Hans Blumenberg, der bei Plotin „die Struktur der Metapher selbst metaphysisch hypostasiert“ findet: Blumenberg (1998), 176 ff. Vgl. dazu Halfwassen (1992/2006), 247 ff. Vgl. dazu Halfwassen (2004a), 84–97.

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Geist sichtbar wird und sich zeigt, zeigt sich also als Schönheit. Das Schöne ist der Vorschein des Absoluten, in dem sich dessen Einheitsmacht zeigt. Der Zug des Einen, der sich am Geist als Schönheit zeigt, ist im eigentlichen Sinne nicht ein Zug des Einen, sondern ein Zug zum Einen hin: Plotin deutet die erotische Attraktivität des Schönen, sein unwiderstehlich anziehendes Faszinans, das uns in seinen Bann zieht, bezaubert und entrückt, als Angezogenwerden durch das Absolute.26 Das letzte und höchste Ziel aller Anziehung ist darum das Eine selbst, dessen Übermacht allem Einheit verleiht und es damit schön macht.27 Das Schöne ist so durchsichtig auf die Transzendenz seines überseienden Ursprungs hin, es weist über sich selbst hinaus: In der Schönheit scheint der Glanz des Einheit-verleihenden Absoluten. Die Anziehung durch das Absolute ist unendliche und unmessbare Anziehung, ein ԔʍıțȢȡȣ ԤȢȧȣ und ԔȞıijȢȡȣ ԤȢȧȣ (Plotin, Enneade VI 7, 32, 28 und 26), der auf das geht, was als absolute Transzendenz jede unmittelbare Präsenz und alles Sich-Zeigen und lichte Erscheinen, wie es das Schöne charakterisiert, übersteigt. So ist sie ein Zug in die absolute Transzendenz und zieht darin auch noch über das Schöne hinaus: „Denn alles Schöne ist später als das Eine selbst und kommt von Jenem so wie alles Tageslicht von der Sonne.“28 Dieser Zug in die Transzendenz, der über das Sein und über die Schönheit selber hinauszieht, macht das Schöne zum Vorschein des Absoluten. Schönheit ist die Macht der Entrückung, die uns über uns selbst und über alles andere emporhebt. Sie ist darum für Plotin in einem letzten und höchsten Sinne auch kein Strukturcharakter des Geistes mehr, sondern ursprünglicher noch Durchsichtigkeit auf die Transzendenz hin, die sich nur uneigentlich als Glanz und Licht oder Überhelle umschreiben lässt,29 aber niemals begrifflich festgemacht werden kann. Der ekstatische, in die Transzendenz ziehende Zug der Schönheit erlaubt es Plotin sogar, das jenseitige Eine von seinem Vorschein her als Überschönheit anzusprechen: Seine Schönheit ist auf andere Weise (Ԕȝȝȡȟ ijȢցʍȡȟ) zu verstehen: als Schönheit über Schönheit hinaus (Ȝչȝȝȡȣ ՙʍպȢ Ȝչȝȝȡȣ). Denn weil das Eine selbst Nichts (ȡ՘İջȟ) ist, wie könnte Es da Schönheit sein? Weil Es aber anziehend (ԚȢչIJȞțȡȟ) ist, muß Es das sein, was die Schönheit erzeugt. Als Mächtigkeit zu allem Schönen (İփȟįȞțȣ ʍįȟijրȣ Ȝįȝȡ‫ )ף‬also ist Es Blüte der Schönheit, die Schönheit macht (ԔȟȚȡȣ ȜչȝȝȡȤȣ Ȝįȝȝȡʍȡțցȟ). Denn Es erzeugt die Schönheit und macht sie noch schöner (Ȝչȝȝțȡȟ) durch die Überfülle an Schönheit (ʍıȢțȡȤIJտį ijȡ‫ ף‬ȜչȝȝȡȤȣ), die bei Ihm ist, so dass Es

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Vgl. zu Plotins Erosbegriff jetzt Tornau (2005), 273–281. Plotin übernimmt auch diesen Gedanken von Platon, vgl. das Platon-Referat des Aristoteles, Eudemische Ethik I 8, 1218 a 15–32. Plotin, Enneade VI 9, 4, 10–11. Vgl. Platon, Politeia 508 E 1–509 A 5: Das Gute (das Eine) ist Ԕȝȝȡ Ȝįվ Ȝչȝȝțȡȟ als Schönheit, Wahrheit und Erkenntnis, die von ihm stammen, so wie das Licht und das Sehen von der Sonne. Vgl. bes. Plotin, Enneade VI 7, 36, 13 ff.; V 5, 7, 9 ff.; VI 9, 9, 55 ff.

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Jens Halfwassen Urgrund der Schönheit (ԐȢȥռ ȜչȝȝȡȤȣ) und Grenze der Schönheit (ʍջȢįȣ ȜչȝȝȡȤȣ) 30 ist.

In diesem ganz besonderen Sinne ist das jenseitige Absolute das „Überschöne“ (ՙʍջȢȜįȝȡȟ, Plotin, Enneade VI 7, 33, 20).31 Die Schönheit aber, die das Eine dem Geist verleiht, ist ursprünglich und d. h. von ihrem absoluten Ursprung her nicht Struktur und Form, ȞȡȢĴս und ıՂİȡȣ wie das Sein, sondern als Glanz des Ursprungs selber gestaltlos (ԔȞȡȢĴȡȟ, Enneade VI 7, 32, 36) und formlos (Ԑȟıտİıȡȟ, Enneade VI 7, 33, 37) wie das jenseitige Absolute. Diese ursprüngliche Schönheit ist nämlich keine Bestimmtheit, sondern der Einheit verleihende Vorschein des Einen, der Bestimmtheit und Sein allererst ermöglicht und darum selbst aller Bestimmtheit und allem Sein vorausliegt und über sie hinausgeht; Plotin nennt gerade diese formlose Schönheit das „vollkommen Schöne“ (ʍչȗȜįȝȡȟ, Enneade VI 7, 33, 11), weil sich in ihr erfüllt, was Schönheit am eigentlichsten ausmacht: der Zug in die Transzendenz.32 Das Schöne als Struktur und Form und damit als Inbegriff von Seinsfülle ist nur das Sich-Zeigen und Erscheinen dieser ursprünglich formlosen Schönheit, in welcher das Eine scheint wie die Sonne in ihrem Licht, das als solches ebenfalls formlos und unsichtbar ist, bevor es in den Farben Form und Sichtbarkeit annimmt. Plotin deutet darum Form als das Sichtbarwerden einer ursprünglich formlosen, unendlichen Einheitsmacht (ijր ȗոȢ Հȥȟȡȣ ijȡ‫ ף‬ԐȞցȢĴȡȤ ȞȡȢĴս, Enneade VI 7, 33, 30), die als formlose Schönheit von dem Absoluten ausgehend alle Bestimmtheit transzendiert und sie gerade dadurch erst ermöglicht. Form: Eidos meint so im ursprünglichsten Sinne Sichtbarkeit, nämlich das Erscheinen und Sich-Zeigen der an sich selbst formlosen und unsichtbaren Einheit, die aller bestimmenden Artikulation vorhergeht und ihr vorausliegt. Eidos ist also Bild in einem absoluten Sinne. Unter dem Aspekt seiner Schönheit aber, die als undifferenzierte Einheit ursprünglicher ist als jede Form, ist das eidos selbst „formlose Form“ (ԔȞȡȢĴȡȟ ıՂİȡȣ, Enneade VI 7, 33, 4)33 und als solche nicht nur sichtbar, sondern vor allem durchsichtig auf das Unsichtbare hin, das alle Sichtbarkeit übersteigt. In dieser Durchsichtigkeit auf Transzendenz, die nur so gesehen wird, dass sie nicht gesehen wird, liegt ganz eigentlich der Zusammenhang von Schönheit und Bild. Schönheit meint hier die Durchsichtigkeit des Sichtbaren, des Bildes. Durchsichtigkeit aber ist die Bedingung von Sichtbarkeit und zugleich deren Aufhebung ins Unsichtbare. Um das Bild nicht nur als Sichtbarkeit, sondern als Sichtbarkeit des Schönen einzusehen, gilt es also, durch das Sichtbare an ihm hindurchzusehen auf das in ihm scheinende Unsichtbare. _____________ 30

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Plotin, Enneade VI 7, 32, 28–33 (in Z. 31 halte ich das ȜչȝȝȡȤȣ der Handschriften gegen die Konjektur von Creuzer und Henry/Schwyzer). Vgl. Platon, Politeia 509 A 6–7: Das Gute (das Eine) ist von seinen ‚schönen‘ Prinzipiaten Sein, Wahrheit und Geist her „ԐȞսȥįȟȡȟ Ȝչȝȝȡȣ […] ՙʍպȢ ijį‫ף‬ijį Ȝչȝȝıț“. Vgl. zur Formlosigkeit dieser ursprünglichen Schönheit Beierwaltes (2001), 61 ff.; Hadot (1988), 329 ff.; Siegmann (1990), 153 ff. Vgl. dazu Regen (1988).

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V. Plotin unternimmt von dieser Grundlage aus nun eine metaphysische Deutung und Rechtfertigung der Bildkunst, die mit platonischen Denkmitteln Platons ontologisch motivierte Abwertung der bildenden Kunst korrigiert und widerruft. Platon hatte die Bilder der Kunst bekanntlich als „Abbilder von Abbildern“ abgewertet, nämlich als Abbilder von Naturdingen, die ihrerseits nur schwache Abbilder von Ideen sind; das eigentlich Sichtbare, nämlich geistig Sichtbare ist das eidos, die Idee und nicht ihre Abbilder, noch weniger deren Abbilder, die nur von der Wahrheit wegführen (Politeia 596 A ff., bes. 597 E). Plotin zieht dagegen gerade aus der Durchsichtigkeit des Bildes auf das Unsichtbare weit- reichende Folgerungen, welche die Wahrheit der Bilder in den Blick bringen.34 In seiner Schrift Über die intelligible Schönheit (Enneade V 8, 1 und 5) betont Plotin, wahre Kunst ahme in ihren bildlichen Darstellungen keineswegs Naturgegenstände nach, sondern die Produktivität des Künstlers sei der Produktivität der Natur gleichursprünglich. Sie entspringe einer Intuition, einer intuitiven Einsicht in das Wesen der Dinge, die Plotin „Weisheit“ (IJȡĴտį)35 nennt. Diese Weisheit hat das Wesen (das ıՂİȡȣ oder den ȝցȗȡȣ), das der Künstler in seinem materiellen Produkt äußerlich darstellt, unmittelbar inne, ja sie ist mit dem eidos identisch. Das eidos wird darum in der Kunst nicht diskursiv begriffen, sondern unmittelbar angeschaut. So ist die intuitive Ideenschau des Künstlers die Grundlage für die Anschaulichkeit seiner Werke. Die berühmte Zeusstatue des Phidias etwa deutet Plotin als Ausdruck einer geistigen Schau des Gottes durch den Künstler. Die Schönheit einer Statue ist darum auch nicht der Schönheit eines bestimmten lebenden Menschen abgeschaut, der ihr etwa als Modell gedient hätte, sondern sie ist ebenfalls das Produkt einer Ideenschau, einer idealisierenden Intuition, in welcher der Künstler die Schönheit aller schönen Menschen auf ihr einheitliches eidos hin zusammenschaut; dieses wird in der Statue sichtbar und genau darum ist sie schön. Diese an Schelling erinnernde Begründung der Kunst in einer intellektuellen Anschauung hat mindestens drei Implikationen. 1. Plotin betont, die Schönheit sei in der Kunst, in der geistigen Anschauung des Künstlers auf weit höhere und ursprünglichere Weise als in dem sinnlich erscheinenden Kunstwerk, nämlich als intelligible Form oder Struktur (ȝցȗȡȣ), die in dem äußeren Werk nur gebrochen durch die Widerständigkeit der Materie erscheint (Enneade V 8, 1, 18–26). 2. Die produktive Weisheit des Künstlers entspricht aufgrund ihres intuitiven Charakters der intellektuellen Selbstanschauung des göttlichen Geistes, des Schöpfers der Natur; sie ist es, die der Künstler in seiner Produktion nachahmt _____________ 34

35

Vgl. dazu Beierwaltes (1980), 43 ff.; Beierwaltes (1985), 91 ff., 449 ff.; Beierwaltes (2001), 64 ff., 212 ff. Vgl. zu diesem Begriff Beierwaltes (2001), 45 ff.

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und genau darum sind die Werke seiner Kunst auf den Geist hin durchsichtig (Enneade V 8, 2, 1–6). 3. Es ist gerade der intuitive Charakter des Bildkunstwerks, das seinen Gehalt als Ganzes auf einmal zur Anschauung bringt, in dem Plotin dessen Durchsichtigkeit auf den Geist und das Scheinen der Idee im Kunstwerk erkennt. So wie die Ideen im absoluten Geist nicht diskursiv begriffen, sondern noetisch eingesehen, also intellektuell angeschaut werden und darum selber göttliche Bilder (ԐȗչȝȞįijį) sind, so besteht die Wahrheit der Bildes in ihrer intuitiven Simultaneität (Enneade V 8, 4, 35–44. 5, 19–25). Plotin lobt in diesem Zusammenhang die ägyptische Bilderschrift, weil sie anders als die Buchstabenschrift nicht diskursiv sei und nicht Laute und das Aussprechen von Sätzen nachahme, sondern die bildhaften Hieroglyphen als unmittelbare Zeichen des Gemeinten den intuitiven Charakter des göttlichen Wissens zum Ausdruck brächten (Enneade V 8, 6, 1–9).36 So ist das Kunstwerk gerade aufgrund seines Bildcharakters ein Hervorscheinen der Idee, eine Vermittlung und Vergegenwärtigung der es selbst übersteigenden Schönheit des Intelligiblen. Plotins Rehabilitation der Wahrheit der Kunst und ihrer Bilder beruht also ganz auf seinem metaphysischen Bildbegriff, der Bild primär nicht als sichtbare Darstellung von an sich Sichtbarem denkt, sondern die Sichtbarkeit des Bildes als Durchsichtigkeit auf das es übersteigende Unsichtbare hin deutet; genau in dieser Durchsichtigkeit aufs Übersteigende besteht die Schönheit des Bildes. In dem der Schönheit eigenen Transzendenzbezug gründet für Plotin die Wahrheit des Bildes und darum liegt die Wahrheitsfähigkeit der Kunst auch gerade in dem Bildcharakter ihrer Werke. In der Durchsichtigkeit der Bilder auf die Ideen hin wiederholt sich der Transzendenzbezug der Ideen und des Geistes auf das jenseitige Eine selbst. Weil die Sichtbarkeit der Bilder in einem ihre Durchsichtigkeit auf Transzendenz ist, wird das Verhältnis von Bild und Idee selber durchsichtig auf das Verhältnis des Seins zum Absoluten hin. Darin besteht die Welthaftigkeit der Bilder und ihrer Schönheit: Schönheit ist das Wesen der Welt, weil Welt wesentlich Bild im Sinne der Durchsichtigkeit auf Transzendenz ist. Dieses welthafte Wesen ist in den Kunstwerken gleichsam konzentriert, nämlich in ihrer Schönheit. In dieser wird die Durchsichtigkeit der sinnlichen Welt auf die intelligible und durch diese hindurch auf die Transzendenz des Absoluten angeschaut und erfahren. Die schöne Welthaftigkeit der Bilder, die Plotin entdeckt hat, hat niemand konsequenter zu Ende gedacht als sechs Jahrhunderte später der Hofscholaster Karls des Kahlen, Johannes Eriugena. Sein Theophaniekonzept denkt Welt als Bild und Metapher des überseienden Absoluten, wie Werner Beierwaltes eindrucksvoll gezeigt hat.37 Eriugena geht dabei wie Plotin aus von der sinnlichen Erfahrung der Schönheit eines materiellen Kunstwerks aus Stein oder Holz, also einer Statue und eines Gemäldes, die er als ‚materielle Lichter‘ deutet, in denen _____________ 36 37

Vgl. dazu Assmann (1996), 479 f. Vgl. Beierwaltes (1994), 115–158.

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das intelligible Licht durchscheint und über alles Seiende hinausweist auf die Transzendenz des göttlichen Einen. Geben wir darum zum Schluss Johannes selbst das Wort: Jedes Geschaffene, ob sichtbar oder unsichtbar, ist ein Licht, das durch den Vater der Lichter [d. h. Gott] ins Sein kommt. […] dieser Stein und dieses Stück Holz ist mir ein Licht […]. Denn ich sehe, daß ein jedes gut und schön ist, daß es gemäß der ihm eigenen Proportion existiert, daß es sich nach Art und Gattung von anderen Arten und Gattungen der Dinge unterscheidet, daß es bestimmt ist von seiner Zahl, durch die es Eines wird, daß es seine Ordnung nicht überschreitet. […] während ich solches und ähnliches an diesem Stein wahrnehme, werden sie mir Licht, d. h. sie erleuchten mich. Denn ich beginne darüber nachzudenken, woher der Stein solche Eigenschaften empfangen hat. […] und unter der Führung der Vernunft werde ich bald über alles hinaus zu dem Grund aller Dinge geführt, der ihnen Ort und Ordnung, Zahl, Gattung und Art, Gutheit und Schönheit und Sein verleiht mit allen anderen Zuweisungen und 38 Gaben.

Primärliteratur Aristoteles, Eudemische Ethik, in: Aristotelis ethica eudemia, ed. Richard R. Walzer, Oxford 1991. Gaiser, Konrad, Testimonia Platonica, in: Platons ungeschriebene Lehre. Studien zur systematischen und geschichtlichen Begründung der Wissenschaften in der platonischen Schule, 2. Aufl. Stuttgart 1963/1968, 441–557. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Wissenschaft der Logik, Bd. 2, hg. von Friedrich Hogemann/Walter Jaeschke, Hamburg 1981. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, 3. Aufl. Heidelberg 1830. Johannes Scotus Eriugena, Expositio super hierarchiam coelestem, rec. JacquesPaul Migne (Patrologiae Cursus Completus. Series Latina 122), Paris 1865. Platon, Platonis opera, tomi I–V, rec. John Burnet, Oxford 1900–1907. Platon, Parmenides, in: Platonis opera, tom. II, rec. John Burnet, Oxford 1901. Platon, Phaidros, in: Platonis opera, tom. II, rec. John Burnet, Oxford 1901. Platon, Politeia, in: Platonis opera, tom. IV, rec. John Burnet, Oxford 1902. Platon, Sophistes, in: Platonis opera, tom. I, rec. John Burnet, Oxford 1900. Platon, Symposion, in: Platonis opera, tom. II, rec. John Burnet, Oxford 1901. Plotin, Enneades, in: Plotini opera, tomi I–III, rec. Paul Henry/Hans-Rudolf Schwyzer, ed. minor. Oxford 1964–1982. _____________ 38

Johannes Eriugena, Expositio super hierarchiam caelestem 129 A–C; leicht modifizierte Übersetzung nach Friedrich Uehlein (entnommen aus: Panofsky [1969], 113).

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Symmetrie und Schönheit. Plotins Kritik an hellenistischen Proportionslehren und ihre unterschiedliche Wirkungsgeschichte in Mittelalter und Früher Neuzeit Arbogast Schmitt

I. Problemstellung Plotin macht in seiner wohl berühmtesten Enneade, der kleinen Schrift Über das Schöne, gleich zu Beginn1 eine irritierende Aussage. Er lehnt die, wie er sagt, allgemein geteilte Auffassung ab, Schönheit beruhe auf dem Zusammenstimmen der Teile untereinander und zum Ganzen, ja er bestreitet grundsätzlich, dass Schönheit in symmetrischen Maßverhältnissen bestehe: Es wird ja wohl beinahe von allen behauptet, die Symmetrie der Teile untereinander und zum Ganzen, dazu noch eine angenehme Farbgebung, bewirke für das Auge [den Eindruck der] Schönheit. Dass etwas schön ist, beruhe bei den Gegenständen des Auges und auch bei allen anderen Dingen auf Symmetrie und Maß. (I 6, 1, 20–25).2

Die Ablehnung dieser Erklärung, wie der Eindruck von Schönheit zustande komme, durch Plotin ist zumindest verwunderlich, denn Platon und Aristoteles haben die Bedingungen von Schönheit mit beinahe gleich lautenden Formulierungen beschrieben. Im Phaidros sagt Platon von einer schönen Rede, sie müsse _____________ 1

2

Die folgende Untersuchung konzentriert sich auf diesen Beginn, d. h. vor allem auf die Frage, was die ‚Bedingungen der Möglichkeit‘ der Erfahrung und Erkenntnis sinnlicher Schönheit sind. Plotins Verhältnis zur sinnlichen Schönheit im Allgemeinen hat Miles (1999) umfassend dargestellt und ihre Relevanz für den Aufstieg zum Intelligiblen auch bei Plotin herausgearbeitet. Für eine Deutung der Begründung der sinnlichen Schönheit in der intelligiblen Schönheit des Geistes siehe die grundlegende Interpretation bei Beierwaltes (2002), v. a. 53–70. Alle Übersetzungen griechischer oder lateinischer Texte in diesem Beitrag sind eigene Übersetzungen des Verfassers. Platon, Aristoteles und Plotin werden in allen Editionen nach einem einheitlichen Standard zitiert. Die im Literaturverzeichnis genannten Ausgaben machen daher nur einen Benutzungsvorschlag, man findet über dieselbe Stellenangabe das Zitat in allen anderen Ausgaben.

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Arbogast Schmitt wie ein lebendiges Wesen gebaut werden, mit einem eigenen Körper für sich selbst, so dass sie weder ohne Kopf noch ohne Füße ist, sondern eine Mitte und Enden hat, so verfasst, dass sie zueinander und zum Ganzen passen (Phaidros 264 C).

Am Ende des Philebos fasst er eine lange Diskussion sogar mit der ausdrücklichen Feststellung zusammen: „Das [richtige] Maß und die Symmetrie bringen doch wohl überall Schönheit und Vollkommenheit mit sich“ (Philebos 64 E). Aristoteles hat diese Lehrmeinung übernommen und zur Grundlage seiner Anforderungen an gute Dichtung gemacht. Er gründet den Kunstcharakter einer Dichtung geradezu darauf, dass sie eine ganze und vollständige Handlung mit Anfang, Mitte und Ende [darstellt], damit sie wie ein lebendiges Wesen als ein einheitliches Ganzes das [einer Dichtung] eigentümliche ästhetische Vergnügen bewirkt. (Poetik 1459 a 18–21; siehe ähnlich 1451 a 30–35).

Auch bei Aristoteles gibt es die grundsätzliche Feststellung, dass Ordnung, Symmetrie und das bestimmte Maß die wesentlichen Bedingungen von Schönheit seien, wie es ganz besonders bei den mathematischen Wissenschaften offenbar werde (Metaphysik 1078 a 36–b 2). Dass Plotin diese platonisch-aristotelische Lehrmeinung kritisieren wollte, ist unwahrscheinlich. Er verstand seine Lehre insgesamt ausdrücklich und mit Nachdruck lediglich als eine erklärende Auslegung Platons, nicht als einen Neuansatz. In dieser Schrift Über das Schöne hält er sich zudem, wie in der Forschung gut gezeigt ist,3 fast ganz an Platonische Lehrstücke. Der erste Anfang dieser Schrift, zu dem die Ablehnung der Symmetriethese gehört, ist in Analogie zu einer Argumentation aus dem Großen Hippias (v. a. 287 C–289 B; 297 E– 298 B) angelegt. Tatsächlich kritisiert Plotin an dieser Stelle nicht einen platonischen oder aristotelischen Schönheitsbegriff, sondern, wie schon Friedrich Creuzer in seiner Ausgabe von 1814 vermerkt hat, eine vor allem von der Stoa vertretene Position.4 Plotin selbst schreibt sie einfach dem Zeitgeist zu, und hat damit wohl in zweifacher Hinsicht Recht; einmal, weil er zwar am Ende, aber doch noch in einer Zeit lebt, in der die hellenistischen und vor allem stoischen Schulen die allgemeinen Diskurse dominieren, dann aber auch, weil es eine Besonderheit gerade dieser hellenistischen Schulen ist, dass sie den ‚gesunden Menschenverstand‘ auf den Begriff gebracht haben. Diese historisch richtige Erklärung macht die Frage aber nötig, was denn der Unterschied der beiden – platonisch-aristotelischen und hellenistisch-stoischen – Positionen ist, die im bloßen Wortlaut voneinander kaum zu unterscheiden sind. Eine in der Stoa entwickelte Proportionslehre als Regelkanon zur Erzeugung und Beurteilung von Schönheit hat Galen überliefert. Chrysipp habe über die Schönheit gelehrt, dass sie _____________ 3 4

Siehe schon Harder (1956), 368. Creuzer (1814/1976), 148: „Haec sententia fuit Stoicorum.“

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nicht in den einzelnen Elementen vorhanden sei, sondern in der Symmetrie der Teile zueinander:5 im Verhältnis eines Fingers zum anderen, aller Finger zu Handfläche und Handwurzel, von diesen zum Handgelenk, von diesem zum Unterarm, vom Unterarm zum ganzen Arm, und [im Verhältnis] von allem zu allem, wie es im Kanon des Polyklet geschrieben ist.6

Es scheint gerade diese Art der Erklärung, wie der Eindruck des Schönen zustande kommt, zu sein, die Plotin bei seiner Kritik im Auge hatte. Denn sein erster Einwand gegen die ‚allgemeine Auffassung‘ ist, dass es auch einfaches Schönes, etwa eine Farbe, einen Ton, gibt, das schön ist und das nicht erst aus der – symmetrischen – Anordnung der Teile Schönheit hervorgehen kann (I 6, 1, 25– 36). Bei diesem Einfachen denkt Plotin nicht an etwas gänzlich Unzusammengesetztes – das kann es im empirischen Bereich von seiner Lehre her gar nicht geben –, sondern an das, was auch Chrysipp mit dem Namen „Element“ belegt. Elemente der Schrift sind nicht Atome, sondern Buchstaben. Diese Buchstaben, etwa ein A, kann man zerlegen, z. B. in zwei gleiche Geraden in einem bestimmten Winkel und einen Querstrich. Diese Teile für sich sind aber keine Buchstaben mehr, sondern eben Geraden, Winkel usw., aus denen man auch noch vieles andere als Elemente der Schrift machen kann. Als Elemente der Schrift sind die Buchstaben aber in dem Sinn einfach, dass sie die nicht weiter zergliederbaren Teile der Schrift bilden, aus denen alle weiteren Teile der Schrift zusammengesetzt sind. Analoges gilt vom Ton, der eine in sich gegliederte Ordnung von Schwingungen enthält, die alle zur Erzeugung dieses einen Tons beitragen, der dann die Grundlage möglicher Kompositionen ist. Von diesem Einfachen sagt Plotin zu Recht, dass es auch in sich selbst schön, d. h. von bestimmtem Maß, sein muss. Aus irgendwelchen Geräuschen kann man keine Tonleiter bauen. Ein Krach wird durch symmetrische Anordnung nicht zur Komposition. Regeln der Symmetrie auf Beliebiges anzuwenden, heißt also, ebenso etwas Schönes wie etwas Nicht-Schönes, ja sogar Hässliches zu erzeugen. Zu demonstrieren, dass diese Ambivalenz des Symmetrischen nicht nur im Bereich des Wahrnehmbaren besteht, ist der nächste Schritt in der Argumentation Plotins (I 6, 1, 40–54). Man kann auch bei einem Charakter den Grund, dass er ‚schön‘ ist, und das heißt bei Plotin, dass er eine erotische Wirkung ausübt, darin erkennen wollen, dass bei ihm alles zu allem passt. Auch einem Wissenschaftssystem kann man eine ästhetische Qualität und Eleganz zusprechen, weil in ihm etwa alle Theoreme wegen ihrer logischen Konsistenz zueinander passen. Es gibt aber, wie Plotin mit Platon sagt, auch eine „Homologie“ im Hässlichen und Schlechten. Wie beim hässlichen Gesicht die vorstehenden Augen, die breite Nase und der aufgequollene Mund zueinander passen können, so kann es auch bei _____________ 5

6

Diese verschärfte Auslegung des Symmetriebegriffs findet man auch in der Neuzeit wieder, z. B. bei Pico della Mirandola, Commento, II 8; siehe Leinkauf (1994), 62 f. Galen, Placita Hippocratis et Platonis, V 3.

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den Charakterzügen oder den Theoremen sein. Dass „Selbstbeherrschung naiv“ und „Gerechtigkeit eine edle Einfalt“7 ist, passt harmonisch zueinander und ist doch nicht Grund dafür, dass man sich von diesem ‚Symmetrischen‘ wie von etwas Liebreizendem angezogen fühlen könnte. Dass Plotin immer wieder nachweist, dass das Symmetrische, von dem der Zeitgeist spricht, ebenso Ursache für den Eindruck von Schönem wie von NichtSchönem ist, macht überdeutlich, dass er wie Platon in analogen Fällen zuerst die Pseudo-Allgemeinheit dieses Begriffs von Schönheit kritisiert. Nicht nur einzelne Instanzen von Symmetrischem, auch kanonische, genormte Regeln der Symmetrie, die man aus diesen Einzelinstanzen durch Abstraktion oder andere Formen der Verallgemeinerung gewinnt, weisen Merkmale auf, die nicht in einen Begriff von Schönheit gehören, ja die sogar unter das fallen, was man als nicht schön beurteilt. Dass aber nichts Teil eines Begriffs sein kann, was bald in oder unter diesen Begriff fällt, bald nicht, ist die Forderung, die Plotin mit Platon an ‚die Sache selbst‘ stellt. Alles, was groß ist, überragt etwas anderes. Dies gilt von jedem Einzelnen und von allem Großen. Jedem Großen kommt es zu, in einer Relation zu Anderem zu stehen, und zwar immer in einer Relation des Mehrseins gegenüber einem Wenigersein, und immer in Bezug auf gegeneinander messbare Einheiten, usw. Ein Begriff, der alle diese Bedingungen erfasst, gilt zudem nicht nur von allem Großen, er gilt auch nur von Großem. Bei der Schönheit hat die Suche nach dieser Sachidentität in allen Verschiedenheiten der Erscheinungsformen eine Besonderheit, die Platon im Phaidros beschrieben hat, und auf die Plotin zurückgreift. Das, was eine Sache wirklich ist, habe weder Farbe noch Form und Struktur, noch könne man es fühlen, es sei allein mit dem Intellekt erkennbar, stellt Sokrates fest (247 C), allein die Schönheit habe die Besonderheit, dass sie durch die klarste aller unserer Wahrnehmungen erfasst werden könne auf Grund ihres herausleuchtenden Glanzes. Nur der Schönheit sei dies zuteil, dass sie am meisten in Erscheinung trete und den größten Liebreiz ausübe (250 D). Diese Äußerung Platons über die Erkennbarkeit und Wirkung der Schönheit kann beinahe als die Grundlage des Renaissance-Platonismus bezeichnet werden. Auch Plotin stützt sich auf diese Erfahrung bei seinem Versuch, über den verfehlten Schönheitsbegriff des Zeitgeistes hinauszukommen. Der Schönheit könne man bereits bei der ersten Hinwendung in der Wahrnehmung innewerden, sie erkennen und in sich aufnehmen. Die Seele füge sich gleichsam in sie ein, während sie sich gegenüber dem Hässlichen in sich zurückziehe, sich ihm verweigere und es ablehne. Grund dafür sei, dass die Seele im Schönen eine Ähnlichkeit mit dem, was etwas wesentlich ist (hóper esti), erkenne. Da die Seele von sich her dem wesentlichen Sein verwandt sei, sei es das Verwandte oder eine Spur des Verwandten, die sie beim Anblick der Schönheit erfreuten und ihr _____________ 7

Die Sätze stammen aus Platon, Politeia 560 D und Gorgias 491 E.

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heftiges Verlangen einflößten. Es sei wie eine Wiedererinnerung an sich selbst und an das, was zu ihr gehört (I 6, 2, 1–11). Äußerungen dieser Art Plotins werden von vielen als Ausdruck eines metaphysischen Überschwangs gelesen. Dass Plotins Abhandlung über das Schöne vielen als Ausdruck einer metaphysischen Begeisterung erscheint, die das rational Überprüfbare verlässt, hat einen wichtigen Grund allerdings in einer veränderten Auslegung gerade der rationalen Grundlage der Argumentation Plotins. Plotin lehnt ab, bestimmte, auf festgelegte Zahlverhältnisse gegründete Proportionen als das anzuerkennen, was für den Eindruck oder die produktive Herstellung von Schönheit verantwortlich ist. Seine nachdrücklich wiederholte Behauptung ist, der Eindruck und die anziehende Wirkung von etwas Schönem habe seinen Grund in etwas von der im einzelnen Schönen sich zeigenden Symmetrie Verschiedenem. Und er benennt dieses Verschiedene auch: Es sei das eídos, das nur erkennbare, nur in der Seele durch sie selbst erfahrbare wesentliche Sein von etwas (I 6, 2, 11–18). Gegenüber dem eídos haben auch die symmetrischen Maßverhältnisse, nach denen eine Materie geordnet ist, noch den Charakter des Materialen. Schön sind symmetrische Verhältnisse erst dann, wenn sie, wie noch Albertus Magnus formuliert, Widerschein der Form sind: „ratio pulchri in universali consistit in resplendentia formae super partes materiae proportionatas“.8

II. Der stoische Weltenlogos und seine Affinität zu den Proportionslehren der Renaissance Die Differenz zwischen bestimmten kanonischen Regeln der Proportion und der aus der Einheitsstiftung der Idee kommenden Übereinstimmung aller Teile einer Sache, auf die ich gleich noch etwas genauer einzugehen versuche, wird schon in der Renaissance von vielen, und zwar auch von vielen, die sich ausdrücklich an Platon und Plotin anschließen, auf die Differenz reduziert, die bereits der stoischen Symmetrielehre zu Grunde liegt. Man glaubt, Plotin wolle unterscheiden zwischen den vielen sinnlichen Erscheinungsformen, d. h. den einzelnen Elementen eines Schönen, und der auf „Zahl, Maß und Gewicht“9 gegründeten Harmonie und Symmetrie dieser Erscheinung, die nur mit der ratio und dem intellectus erfasst werden könne und allgemein sei. Die erotische Anziehungskraft des Schönen sei in diesem Sinn ein Hinaufgezogenwerden von den Sinnen zum Geist, eine Erinnerung an das Geistige durch seine – ordnungsstiftende – Präsenz im Sinnlichen. _____________ 8 9

Albertus Magnus, Super Dionysium de divinis nominibus, 182v. 65–67. Zu dieser vielzitierten Formel aus dem Weisheitsbuch des Alten Testaments (Sapientia 11,21) siehe Beierwaltes (1969).

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Von Ficino bis Giordano Bruno finden wir deshalb die Unterscheidung eines amor pulchritudinis, der Liebe zur Schönheit, von einem instinktiven, ganz in der Anschauung aufgehenden Hingezogenwerden zu den Dingen, das mehr um der Selbsterhaltung, also des für den Einzelnen Guten willen geschieht als wegen eines schon vorhandenen Schönheitssinns. Die Liebe zum Schönen, die ja nach Plotin Zeugnis für die Erinnerung an das Intelligible sei, gilt als Auszeichnung der höheren Sinne Auge und Ohr und ihrer Gegründetheit in ratio und mens. Allein diese rationalen Vermögen haben überhaupt eine Aufnahmefähigkeit für das Schöne,10 weil Schönheit nicht durch eine Rezeption der sinnlichen Oberfläche der einzelnen Dinge erfasst wird, sondern nur durch das Begreifen ihrer inneren und allgemein gültigen Maßverhältnisse. Die Schönheit des Körpers ist selbst nicht körperlich: „le bellezze corporali in quanto son bellezze, non sono corporali“.11 Sie beruht vielmehr auf Symmetrie, Harmonie, Proportion und der aus ihnen fließenden venustas. Die Schönheit ist eine bestimmte Übereinstimmung und ein Einklang der Teile mit dem Ganzen, zu dem sie gehören, gemäß einer bestimmten Zahl, Einteilung und Position, wie es die regelgerechte Gliederung (concinnitas), das absolute und grundlegende Gesetz der Natur, verlangt.12 _____________ 10 11

12

Zur Annäherung der ratio an die ‚rationalen‘ Sinne durch Ficino siehe Zeuch (2000), 183–195. Leone Ebreo, Dialoghi d’amore, Dialogo terzo, 113v. Siehe dazu Thomas Leinkauf, „Der neuplatonische Begriff des ‚Schönen‘“, in diesem Band. Leon Battista Alberti, De re aedificatoria, IX 5: „(statuisse sic possumus) pulchritudinem esse quendam consensum et conspirationem partium in eo, cuius sunt, ad certum numerum, finitionem collocationemque habitam, ita uti concinnitas, hoc est absoluta primariaque ratio naturae postularit“. Als Basis für Albertis Ansatz ist, wie Leinkauf (1992) zu Recht vermerkt, immer auch Vitruv präsent zu halten, vgl. Vitruvius, De architectura I,2,4: „item symmetria est ex ipsius operis membris conveniens consensus ex partibusque separatis ad universae figurae speciem ratae partis responsus.“ Aufschlussreich ist aber besonders, dass Alberti das „grundlegende Gesetz der Natur“ nicht als symmetria, harmonia, convenientia, proportio bezeichnet, sondern mit dem aus Ciceros Rhetorik übernommenen Begriff der concinnitas (siehe Cicero Orator 149; 164–167; Brutus 287; 325). Von dieser concinnitas, deren größter Meister der sophistische Rhetor Gorgias gewesen sei, sagt Cicero sie sei kein geschriebenes, sondern ein eingeborenes Gesetz (lex), das nicht erlernt, nicht aus der Erfahrung gewonnen, nicht aus Büchern entnommen werden könne, sondern aus der Natur selbst angeeignet, aus ihr geschöpft, aus ihr heraus zum Ausdruck gebracht werden müsse. Bei einer Rede, in der diese concinnitas erfüllt sei, merke man, dass hier die „zahlhafte Ordnung“ (nicht nur der Rhythmus) nicht gesucht, sondern befolgt sei (Orator 165). Bei Cicero also ist die Quelle zu suchen, der Alberti folgt, wenn er die concinnitas zur „absoluta primariaque ratio naturae“ erhebt. (Dass sich Ciceros Brutus im Besitz Albertis befand, ist belegt, siehe Leon Battista Alberti, Kleinere kunsttheoretische Schriften, III; siehe Naredi-Rainer [1982], 24). Für die richtige Bestimmung des Verhältnisses dieser concinnitas-Lehre zum Zusammenhang von Zahl und Schönheit im Platonismus ist wichtig, dass es genau diese sophistische Theorie ist, die die emotionale Wirkung der Rede auf Form, Stellung, Anordnung gründete, die Platon wie auch Aristoteles scharf ablehnen. Plotins Kritik an der stoischen Symmetrielehre bildet eine genaue Analogie zu dieser Kritik an einer nur äußerlichen Formgestaltung, die die sophistische Rhetorik lehrt, anstelle einer am jeweiligen Sachanliegen bzw. an der inneren Motivation orientierten Form, wie sie Platon und Aristoteles suchen. Siehe Schmitt (2007), Komm. zu Kap. 1 b/c zu 4.

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Erst für den, der dieser inneren Harmonie und Form inne wird, gewinnen die einzelnen äußeren Erscheinungsformen den Charakter der Schönheit. Aber es gibt ein Weiteres [sc. über die einzelnen körperlichen Teile, Elemente Hinausgehendes] aus diesen allen Zusammengefügtes und Verbundenes, durch welches das ganze Antlitz der Schönheit auf wunderbare Weise widerstrahlt: es ist dies, was bei uns concinnitas genannt wird, von welcher wir freilich auch sagen, dass sie der Zögling aller Charis und allen Schmuckes sei.13

Diese innere, allein in Zahl und Figur bestehende Form ist Gegenstand des Philosophen und Mathematikers, der sie für sich selbst untersucht, während der Künstler die ‚Formen der Dinge‘ unabgelöst vom Sinnlichen zum Gegenstand hat. Für Alberti sind diese konkret sinnlichen ‚Formen der Dinge‘ Attribute einer più grassa Minerva, einer Vernunft, die ‚fett‘, mit konkretem Stoff angereichert ist. Das Bild von der fetten Minerva der Kunst im Gegensatz zur mageren Minerva der Philosophen verweist auf den abstrakten Charakter dieser inneren Strukturen. Die ‚Formen der Dinge‘ sind im Sinn dieser Texte bereits die proportionalen Strukturmomente, durch die die Ordnung der materialen Elemente zustande kommt. Albertis Unterscheidung einer fetten und einer mageren Minerva benennt bereits den Mangel, der später immer nachdrücklicher thematisiert und als Kritik an einem rationalistischen Kunstverständnis vorgebracht wurde: Das bloße Zahlengerüst, das angeblich für die Schönheit aller Dinge verantwortlich sein soll, kann, wenn überhaupt, erst durch die jeweilige künstlerische Aufgabenstellung und deren konkrete Bewältigung mit den vielfältigen und reichen Inhalten gefüllt werden, die die Erfahrung von Schönheit möglich machen. Schon für Palladio bildet deshalb der konkrete Zweck („che si vuol fare“), um dessentwillen etwas geschaffen wird, das oberste Prinzip, auf das hin alle anderen Elemente ausgerichtet werden und mit dem sie übereinstimmen müssen.14 In platonisierenden Kontexten, z. B. bei Ficino, endet der Aufstieg vom Sinn zum Geist nicht bei Zahl, Harmonie, Proportion, sondern wird weitergeführt zu einem schlechthin Einfachen, das erst der eigentliche Grund der Schönheit sei.15 So entsteht der Eindruck, als ob die Bewegung von der sinnlichen Begegnung mit dem Schönen, der durch den amor geweckten Liebe zur geistigen Gestaltetheit dieses Schönen bis hinauf zum schlechthin einfachen Urgrund alles Schönen eine spezifisch neuplatonische, d. h. systematisierte Beschreibung des platonischen Aufstiegsgedankens sei. Trotz dieses Gleichlauts der Worte und der Beschreibung _____________ 13 14

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Leon Battista Alberti, De re aedificatoria, IX 5. Siehe Andrea Palladio, I quattro libri dell’ architettura I, 6–8. Diese Ausrichtung am Zweck verfolgt verbal ein aristotelisches Prinzip, allerdings in hellenistischer Umformung (siehe unten Abschnitt V). Dass das ‚funktionale‘ Denken des Aristoteles nicht im Gegensatz, sondern ganz im Gegenteil im Gefolge der platonischen Schönheitsprinzipien steht, siehe unten Abschnitt III). Siehe dagegen etwa Spielmann (1966), 100 ff. Siehe Marsilio Ficino, Theologia platonica, tom. 2, XI 4.

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des methodischen Wegs bleibt aber das Problem bestehen, dass die Erinnerung an das ‚wesentliche Sein‘, zu der die Seele nach Plotin durch den Anblick des Schönen angeregt wird, mit klarer Bestimmtheit keine Erinnerung an bestimmte zahlhafte Strukturen meint. Im Gegenteil, genau dies, dass diese Maßverhältnisse der rationale oder intelligible Grund von Schönheit seien, hält Plotin für die eigentliche Fehlauffassung von Schönheit. Der Gleichlaut der Worte darf also nicht über die sachlichen Differenzen zum Neuplatonismus täuschen und auch nicht über die historischen Differenzen, denn Plotin ordnet die Erklärung der Schönheit aus symmetrischen Strukturen dem Zeitgeist, und d. h. eben vor allem der Stoa und nicht Platon zu. Auch das Einfache, von dem Plotin in Enneade I 6, 1, 25–36 spricht, ist nicht bereits die Einfachheit der Einheit selbst. Plotin benennt Farben und Töne,16 also Elemente einer Farb- oder Tonkomposition als das Einfache, das nicht erst durch Symmetrie schön werde, und bezieht sich dabei auch ausdrücklich auf stoische Symmetrielehren, in denen die bloßen Teile, Elemente einer Komposition, noch nicht als schön gelten. Die Affinität dieses Renaissance-‚Platonismus‘ zu den von Plotin kritisierten Positionen belegt auch die Unterscheidung zwischen der noch ‚naturalen‘ Hinneigung zu den einzelnen, der Wahrnehmung bereits zugänglichen Dingen, die um der Selbsterhaltung willen erstrebt werden, und der ‚geistigen‘ Liebe zum Schönen, die entsteht, weil die Vernunft im Einzelnen den allgemeinen Grund seiner Geordnetheit erkennt und als Schönheit liebt.17 Diese Unterscheidung hat ihren Ursprung in der Stoa, von Platonikern und auch von Aristotelikern wird sie dagegen kritisiert, von Alexander von Aphrodisias z. B., weil sie der Entwicklung der höheren rationalen Vermögen des Menschen hinderlich sei.18 Cicero hat für diesen Unterschied die Begriffe des diligere (lieben) und aestimare (hochschätzen) benutzt und die liebende Zuneigung zu dem jeweils vor Augen Liegenden eher einem naturalen, die Hochschätzung der Weltordnung im Ganzen dem rational-reflexiven Weltverhältnis zugeordnet.19 Dass Cicero den Begriff des diligere dem naturalen Weltverhältnis zuordnet, bedeutet nicht, dass er dieses Weltverhältnis bereits als amor im Sinn der Renaissance-Ästhetik auslegt. Der Sache nach beschreibt er mit aestimare das, wofür in der Renaissance _____________ 16

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Dass das Einfache in besonderem Maß schön ist, wenn man unter dem Einfachen versteht, dass es rein und nur eine bestimmte Sache ist, ohne alle fremden Zutaten und Beimischungen, und dass zu diesem Einfachen auch reine Farben, besonders ein reines Weiß, oder reine Töne (ohne Vermischung mit unklaren Geräuschen), ja sogar reine Gerüche gehören, erörtert Platon im Philebos (51 A–52 B). Dass sich Plotin auf diese Stelle und nicht auf das reine Eine etwa des Parmenides (137 A–142 A) bezieht, ist aus dem Kontext klar. Auch in diesem Punkt ist Plotin in Übereinstimmung, ja sicher in Nachfolge der Platonischen Schönheitsauffassung, nicht im Widerspruch zu ihr. Siehe dazu Leinkauf (1992), Sp. 1360 f. (mit Textbelegen). Siehe Alexander von Aphrodisias, De anima liber cum mantissa, 150, 19–153, 27. Siehe dazu Schmitt (2004a), 454. Siehe Cicero, De finibus bonorum et malorum, III, 21.

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amor steht. Denn diligere ist für Cicero ein naturale desiderium, ein noch animalisches Hingezogenwerden zu den Dingen um der Selbsterhaltung willen. Die aestimatio ist demgegenüber erst einem rationalen Wesen, das sich dieser Rationalität auch bewusst geworden ist, möglich. Denn aus der bloßen Hinneigung wird dadurch erst ein ‚Gefühl des Erhabenen‘, dass die ratio den in allen Dingen wirkenden einen lógos erkennt. Für das stoische Verständnis von Kunst bedeutet das, dass die Kunst die Form der Weltbegegnung ist, die das Walten des lógos als Maß und Ordnung im Ganzen des Kosmos erfasst. Ihre großen Werke sind daher durch Erhabenheit (hýpsos, sublimitas) und Würde (dignitas) ausgezeichnet.20 (Damit ist die Unterscheidung von Anmut und Würde, Schönem und Erhabenem, die im 18. Jahrhundert vor allem von Kant und Schiller aufgenommen wurde, nicht nur vorbereitet, sondern in ihren Grenzen bereits vorgegeben.) Voraussetzung dafür, dass dieser Übergang von der bloßen dilectio zur aestimatio möglich ist, ist, dass im Einzelnen der allgemeine, das Ganze durchdringende lógos erfahren werden kann. In dem natürlichen Trieb zur Selbsterhaltung und der ihn begleitenden lustvollen Hinneigung zu den Dingen, die sie fördern, ist dieser lógos bereits wirksam. Dadurch aber, dass sich die Lebewesen nicht bewusst sind, dass sie von diesem lógos bewegt werden, ist ihr Trieb immer auf das jeweils Einzelne gerichtet, und ist die Lust nicht mehr als kontingente, subjektive Empfindung. Erst wenn die ratio so weit ausgebildet und zu sich selbst gekommen ist, dass sie im Einzelnen die alles umfassende Wirksamkeit des lógos erkennt, erfasst sie sich selbst als Teil der Gesamtordnung und wird erst dadurch zur Erkenntnis des Schönen und Guten fähig. Das bedeutet, dass die ganze Welt mit allen ihren scheinbaren Zufälligkeiten im Einzelnen eine durchgängige rationale Ordnung des Ganzen aufweist. Genau das haben die Stoiker gelehrt,21 und die frühe Neuzeit ist ihnen in dieser Überzeugung gefolgt.22 Durch die Beibehaltung der pythagoreisch-platonischen Lehre, die im Mittelalter weitertradiert wurde, dass die Ordnung der Welt ihren Ursprung in der Zahl habe, wird aus dem Weltenlogos der Stoa in der Renaissance die Natur als ein mathematisches Buch, in dem man nur richtig lesen können muss, um die wissenschaftliche Erklärung für alle Erscheinungen zu finden. Trotz der Tatsache, dass die Stoa eine materialistische Position vertritt, muss man beachten, dass dies eine Theologisierung der Materie ist, und zwar eine _____________ 20 21 22

Siehe Büttner (2006), 108–126. Siehe z. B. Stoicorum veterum fragmenta, II, Chrysippi fragmenta n. 1132–1140. Nur unter der Voraussetzung einer durchgängigen Wohlbestimmtheit der Einzeldinge im Ganzen der Welt ist es überhaupt denkbar, eine Lehre von der Ordnung des Baus der Dinge und ihres Zusammenhangs durch Vermessung zu Wege bringen zu wollen und dadurch die Proportionslehre zu einer empirischen Wissenschaft zu machen. Siehe die immer noch grundlegende Studie von Panofsky (1975), hier: 92–95.

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stoische und keine christliche oder platonisch-neuplatonische Überhöhung der Materie.23 Eine konzise Darstellung dieser stoischen Position24 gibt Seneca. Seine lange Abhandlung über Ursache und Materie,25 in der er die Materie als träge Grundlage („iacet iners“, ep. 65,2), die Ursache als ratio, die die Materie formt (ep. 65,2), beschreibt, fasst Seneca mit der lapidaren Feststellung zusammen: „universa ex materia et ex deo constant“, „alles besteht aus Materie und aus Gott.“ (ep. 65,23). Gott ist für Seneca also ein unmittelbarer, immanenter Bestandteil der Welt selbst, er hat ihre exemplarischen Formen und Zahlen in sich („exemplaria rerum omnium deus intra se habet numerosque“, ep. 65,7). Man dürfe daher nicht nach einem „Schwarm von Ursachen“ („turba causarum“) suchen, von diesem Weltengrund müsse vielmehr postuliert werden, dass er einfach ist, wie auch die Materie einfach ist („simplex esse debet; nam et materia simplex est“, ep. 65,12). Er ist der eine schaffende, rationale Grund, von dem alle anderen, vielfältigen Ursachen abhängen („ratio scilicet faciens, id est deus; ista enim quaecumque rettulistis non sunt multae et singulae causae, sed ex una pendent, ex ea quae facit.“ ep. 65,12 f.) Ein bezeichnendes Indiz für die sachliche Verwandtschaft des ‚Neuplatonismus‘ der Renaissance mit dieser stoischen Weltdeutung bietet ein Übersetzungsfehler Ficinos. Die berühmte Passage aus Plotins Enneade V 8 (Über die intelligible Schönheit), in der Plotin die ‚nachahmenden‘ Künste verteidigt, weil sie nicht einfach das, was man sieht, nachahmen, sondern „zurückgehen auf die lógoi [rationale Prinzipien], aus denen heraus auch die Natur [schafft]“ (V 8, 1, 35 f.) übersetzt Ficino statt „aus denen heraus die Natur schafft“: „quibus constat agitque natura“, „aus denen die Natur besteht und schafft.“26 Auch für Ficino besteht die Natur aus den in ihr wirkenden göttlichen lógoi (rationes). Gott als der Ort der Formen, von denen alles im Universum seine Gestalt und Ordnung hat, ist nach der ausdrücklichen Lehre Ficinos zwar ein transzendenter Gott. Er transzendiert jede einzelne der Erscheinungsformen, in denen sich seine unendliche Schöpferkraft äußert. Gegenüber der Unendlichkeit dieser Kraft sind alle einzelnen Erscheinungen defizient und können in ihrer Endlichkeit niemals (der volle) Ausdruck der Unendlichkeit Gottes sein. Diese Transzendenz aber ist gleichsam eine immanente Transzendenz, die sich in den einzelnen Erscheinungsformen unmittelbar äußert mit der Konsequenz, dass die ganze Welt als eine durchgängig bestimmte Welt aus lauter

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Zur Wirkungsgeschichte dieser Theologisierung der Empirie auch in die neuere Ästhetik hinein siehe Schmitt (2004b). Siehe auch z. B. Stoicorum veterum fragmenta, II, Chrysippi fragmenta n. 336–356. Siehe Seneca, Ad Lucilium epistulae morales, ep. 65. Siehe dazu Schmitt (1993), hier: 412 f.

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wohlbestimmten Einzeldingen gelten muss.27 Eine weitere Folge dieser theologischen Mathematisierung der Welt ist, dass der Weg – auch der methodische Weg – vom Einzelnen zum Ganzen und zu Gott auf einen unmittelbaren Schritt zusammengezogen wird. Der amor pulchritudinis führt von der Einzelheit des jeweils sinnlich Gegebenen auf das in ihm wirkende Göttliche, auf die allgemeinen Maße und Strukturen, durch die Schönheit zustande kommt. Eine solche Unmittelbarkeit der Gotteserkenntnis setzt auch Seneca voraus. Seine Ablehnung der „turba causarum“, eines ganzen „Schwarms von Ursachen“, macht die Erkenntnis jeder einzelnen Ursache eines Dinges oder Ereignisses abhängig von der Erkenntnis der einen, einfachen „schaffenden“ Ursache mit ihren „Vorbildern und Zahlen“ für die Produktion der Dinge, die Gott selbst ist.

III. Die ‚Form‘ bei Seneca und die Idee im Platonismus und Aristotelismus als Grund der Ordnung der Dinge Eine markante und auf den ersten Blick auffallende Besonderheit der Beschreibung der Schönheitserfahrung durch Plotin ist, dass sie für ihn Ausgangspunkt eines Aufstiegswegs in mehreren Schritten und Stufen ist, den er in Anlehnung an das Platonische Symposion bei den sinnlich wahrnehmbaren Einzeldingen beginnen lässt, von denen der Weg aber keineswegs unmittelbar zur Schönheit selbst oder gar zu Gott führt. Plotins Ablehnung der Symmetrielehre hat gerade darin ihre Begründung, dass sie noch nicht allgemeingültig ist. Die Beispiele, an denen Plotin dieses Ungenügen demonstriert, sind Einzelbeispiele, ein symmetrisches Gesicht, bestimmte ‚symmetrische‘ Theoreme usw. Das heißt: Der Mangel an Allgemeingültigkeit äußert sich für Plotin darin, dass die Symmetrielehre die jeweilige Besonderheit verschiedener schöner Dinge, Handlungen, usw. nicht erklären kann. Diese Besonderheit erklärt nach Plotin allein das, was er das eídos nennt. Da von eídos, idéa, forma, species auch in vielen stoischen Texten und Texten der Renaissance die Rede ist, ist es wichtig, für die genauere Bestimmung der Eigentümlichkeit der Position Plotins beim Begriff des eídos anzusetzen. Seneca bedient sich in seiner Abhandlung über das Verhältnis von Materie und Ursache im 65. Brief an Lucilius eines Aristotelischen Standardbeispiels für dieses Verhältnis. Aristoteles erklärt die Zusammengesetztheit der Einzeldinge aus Materie und Form öfter an dem Verfahren, in dem eine Statue hergestellt wird (z. B. Metaphysik 1029 a 3–5). Bei diesem künstlerischen Prozess könne man unterscheiden zwischen dem Erz als Materie (causa materialis), die bearbeitet _____________ 27

Auch diese Überzeugung von der begrifflichen Wohlbestimmtheit der Einzeldinge (der gegenüber alle Abstraktionsarbeit des Denkens immer nur defizitär sein kann) ist Resultat eines massiven Umformungsprozesses ursprünglich platonisch-neuplatonischer Philosopheme in der Neuzeit. Siehe dazu die in der Argumentation wie in den Belegen wichtige Untersuchung von Leinkauf (2007).

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wird, dem Künstler als dem Bearbeiter, der diesen Prozess durchführt (causa efficiens), der Form, in die die Statue gebracht wird (causa formalis), und dem Zweck, für den die Statue geschaffen wird (causa finalis). In eben dieser noch groben Erklärung übernimmt Seneca die aristotelische ‚Ursachenlehre‘ und übergeht dabei vor allem bei der causa formalis und finalis Differenzen, die für Aristoteles substantiell sind. Für den Vergleich mit Plotin kommt es vor allem auf den Begriff der forma an, die Seneca einfach mit der äußeren Gestalt und deren Umriss identifiziert. Man könnte nicht eine Statue als Doryphoros, eine andere als Diadumenos erkennen, wenn sie nicht deren Aussehen hätten (ep. 65, 5). In antiken und mittelalterlichen Kommentaren zur Erklärung der Ursachenlehre am Beispiel der Statue durch Aristoteles kann man, z. B. bei Thomas von Aquin, lesen, dass dieses Beispiel nicht wörtlich genommen werden dürfe, denn die figura, die äußere Gestalt und Struktur seien nach Aristoteles nur Akzidenzien, sie könnten nicht als die species oder substantia eines künstlichen oder natürlichen Gegenstands verstanden werden.28 Tatsächlich legt Aristoteles an Stellen, an denen er das, was das Wesen und das eídos von etwas ist, genauer erklärt, großen Wert darauf, dass es weder in einer Materie als solcher noch in irgendeiner Form dieser Materie gesucht werden dürfe.29 Wenn Demokrit z. B. die Dinge nach der Formung, Stellung und Anordnung der Materieelemente unterscheide, dann bedenke er im Einzelnen nicht, dass es noch viele andere Gründe gebe, die zu unterschiedlichen Materieorganisationen führen, vor allem aber nicht, dass die Materie ihre Form nicht aus sich selbst und ihren Elementen haben könne. Wenn man z. B. das eídos eines Hauses, das, was ein Haus zu einem Haus macht, bestimmen wolle, könne man nicht einfach Steine, Ziegel und Balken, auch nicht Steine, Ziegel und Balken in einer bestimmten Anordnung anführen.30 Denn ein Haus erhält (auch) seine Form nicht von bestimmten auch für vieles andere brauchbaren (und in diesem Sinn ‚allgemeinen‘) Materien, auch nicht von allgemeinen Formgesetzen, nach denen diese Materien geordnet werden können. Dies alles ist, wie Aristoteles terminologisch formuliert, nur „der Möglichkeit nach“ (dynámei) Haus (1042 b 10). Man kann diese Materialien und die Möglichkeiten ihrer Formung benutzen, um daraus ein ‚wirkliches‘ Haus zu bauen, man kann mit denselben Möglichkeiten aber auch vieles andere ‚verwirklichen‘, Brücken, Türme usw. Auch dabei folgt man den Gesetzen dieser Materialien und der Materie überhaupt. _____________ 28

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Siehe z. B. Thomas von Aquin, In duodecim libros metaphysicorum Aristotelis expositio, Nr. 1277, 321. Siehe v. a. Aristoteles, Metaphysik VIII, 2 (diesem Kapitel folgt die Darstellung in diesem Abschnitt). Siehe v. a. 1043 b 5–14: „Dem, der die Sache überprüft, scheint die Silbe nicht aus Buchstaben und ihrer Anordnung zu bestehen, auch nicht das Haus aus den Ziegeln und deren Anordnung. Denn die Anordnung oder auch die Mischung haben ihren Ursprung nicht in den Elementen, deren Zusammensetzung oder Mischung sie sind. […] Und auch der Mensch ist nicht Lebewesen und etwas Zweifüßiges, sondern, sofern dies die Materie ist, muss er etwas sein, was verschieden von diesem ist […]“.

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Der Baumeister, der ein Haus bauen will, wählt vielmehr bestimmtes Material aus und bringt es in eine bestimmte Form, weil er sich dabei nach dem richtet, was „seinem Akt nach“ (energeía) ein Haus ist (1043 a 12–29). Den Akt oder die enérgeia von etwas nennt Aristoteles in Anlehnung an Platon an anderen Stellen häufig auch das érgon, das ‚Werk‘ von etwas. Diese enérgeia ist also nicht, wie viele deuten, die Wirklichkeit, d. h. der Zustand, in dem ein nur Mögliches wirklich vorhanden ist. Aus den Möglichkeiten, wie man Steine, Ziegel und Balken anordnen kann, kann vieles und verschiedenes ‚Wirkliche‘ entstehen. Sie ist aber auch nicht, wie Seneca dies deutet, der Zweck, für den etwas verwendet oder wofür etwas nützlich sein kann. Seneca denkt bei der Statue daran, dass der Künstler sie schafft, um Geld oder Ruhm zu erwerben oder um einen Gott zu ehren (ep. 65, 6). Alle diese Motive könnten auch Gründe sein, warum ein Haus Wirklichkeit wird. Dass diese und ähnliche ‚Gründe‘ an der Entstehung eines Hauses beteiligt sind, hat gerade Aristoteles in differenzierter Weise untersucht. Wenn es aber um die Frage geht, wodurch ein Haus gerade ein Haus und nichts anderes ist, geht es auch nach Aristoteles um etwas von allen diesen Gründen Verschiedenes (1043 b 11: pará taúta). Die Art von Zwecken, wie Seneca sie nennt, Geld oder Ruhm erwerben, der Repräsentation dienen usw., sind alle nicht von der Art, dass ihre methodische Verfolgung gerade zur Konstruktion eines Hauses führen würde. Auch die Beachtung der Materialien und ihrer möglichen Formen und Strukturen reicht nicht hin, um genau das zu erfassen, was ein Haus zu einem Haus macht. Es gibt auch ganz andere Materialien als Steine, Balken und Ziegel, aus denen man ein Haus bauen kann, und auch wenn diese anderen Materialien, z. B. Glas oder Schnee, in eine völlig andere Form als die allgemein beobachtbare Form von Häusern gebracht sind, können wir erkennen, dass es sich um ein Haus handelt. Diese Angaben sind also, wie Aristoteles sagt, zu allgemein, zu ‚gattungshaft‘, sie treffen immer auch auf anderes als auf ein Haus zu, bzw. schließen etwas als zum Haus gehörend aus, obwohl es dazu gehört. Einen Zugang zu dem, was ein Haus seinem Begriff nach ist, muss man also über die „spezifischen Differenzen“ (1043 a 20) suchen, d. h. über etwas, was nur auf ein Haus als Haus zutrifft und nicht zugleich auf vieles andere. Die Frage nach den spezifischen Differenzen setzt auch nach Aristoteles eine Wende voraus, allerdings nicht eine Wende des Blicks von ‚hier‘ nach ‚dort‘ – eine solche Wende würde ja vom Begreifen der unterschiedlichen ‚wirklichen‘ Häuser wegführen –, sondern eine metábasis, einen Übergang von einem bloßen Beobachten und vorstellenden Ordnen sinnlicher Merkmale und ihrer Strukturen, zu wenigstens einer Meinung über das, welche Aufgabe ein Haus, wenn es ein Haus sein soll, erfüllen muss. Eine solche Meinung ist nach Aristoteles etwa, dass ein Haus ein „Behältnis, das Schutz für Personen und Sachen bieten kann“ (1042 a 16 f.) sei. Die vorläufige Unbestimmtheit und Abstraktheit dieser Aristotelischen Erklärung einer Sachidentität aus dem ‚Werk‘ oder dem ‚Akt‘ bei diesem und vielen ähnlichen Beispielen hat dazu geführt, dass ihre Bedeutung unterschätzt

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wurde. Immerhin gewinnt Aristoteles bereits aus diesen vorläufigen Meinungen über das ‚Werk‘ von etwas eine interessante Analyse des common sense, die von vielen Theoretikern des common sense (auch der Neuzeit) übersehen wird. Denn der common sense ist es, der glaubt, ein Haus an seiner Materie und deren Form oder Struktur zu erkennen. Er widerspricht mit dieser theoretischen Erklärung aber seiner eigenen täglichen Erkenntnispraxis. Denn offenbar fühlt sich niemand an bestimmte Materien und einen bestimmten Schematismus ihrer Form gebunden, wenn er einen Gegenstand aus anderen Materien und in völlig anderer Form wahrnimmt, etwa ein Gebilde aus Glas oder Schnee in Kugelform. Sobald man bemerkt, dass dieses Gebilde ein Ort ist, in dem man wohnen, sich gegen Witterungseinflüsse schützen, seine Sachen aufbewahren kann, nennt man es ein Haus. Und nicht nur bei vielen Alltagsdingen verhält man sich so – bei Stühlen, Tischen, Schuhen, Scheren –, auch der Naturwissenschaftler beschränkt sich nicht auf beobachtbare Eigenschaften und Strukturen, wenn er etwas als etwas Bestimmtes identifiziert. Ein unbekanntes Organ an einem unbekannten Lebewesen wird er als Seh- oder Hörorgan identifizieren, wenn man ‚experimentell‘ feststellen kann, dass es Farben bzw. Töne unterscheidet, auch wenn diese Organe ganz anders gebaut sind und aus anderen Elementen bestehen als bei bereits bekannten sehenden oder hörenden Lebewesen. Es gibt also ein verbreitetes falsches Bewusstsein beim Erkennen durch Wahrnehmung. Man meint, sich ganz nach außen, auf das sinnlich Gegebene zu richten, um auf dieses Gegebene die Kategorien des Denkens anzuwenden. Sofern man aber nicht nur etwas Rotes oder Weißes, Lautes oder Leises erkennen will, sondern wissen will, was das sinnlich Gegebene ist – Haus, Schere, Auge, Ohr –, richtet man sich nach etwas, was man beim Wahrnehmen begreifen muss und aus der Wahrnehmung für sich gar nicht entnehmen kann. Und man urteilt auch über das, was man schon begriffen hat, und nicht über seine Wahrnehmungen. Von einem Weberschiffchen etwa weiß man genau so viel, wie man von seinem ‚Werk‘ innerhalb des Webvorgangs begriffen hat. Das kann ganz elementar und abstrakt sein, etwa: Es trennt Kette und Einschlag, es kann aber auch so detailliert und genau sein, dass man es selbst herzustellen in der Lage ist. Bei Beispielen aus der modernen Naturwissenschaft tritt diese Differenz noch deutlicher auf. Von einem genau gesehenen Gehirngewebe weiß man genauso viel, wie man von der Aufgabe, die es erfüllt, erfasst hat, und kann auch nur dies zur Grundlage weiterer Forschung machen. Im Sinn der Wortbedeutung des lateinischen fungi: etwas verrichten, durchführen, eine Aufgabe erfüllen, könnte man sagen: Man erkennt etwas an seiner Funktion. Die Tatsache, dass dieser Aussage wohl auch sehr viele Wissenschaftler, die ihr Vorgehen für empirisch, d. h. am Beobachtbaren orientiert halten, zustimmen würden, macht aber eine genauere Differenzierung nötig. Die enérgeia, von der Aristoteles spricht, kann, wie sich gezeigt hat, nicht als eine Funktion der Materie verstanden werden, da die Materie von sich aus nur die Möglichkeit, eine bestimmte Funktion zu erfüllen, hat, nicht aber von sich aus die Bedingungen für

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genau eine bestimmte Funktion enthält. Diese spezifischen Differenzen aber, die die allgemeinen Möglichkeiten bestimmter Materien so einschränken, dass sie nur noch Bedingungen für etwas Bestimmtes und nicht auch noch für anderes sind, sucht Aristoteles. Sie sind deshalb in einem von den Möglichkeiten der Materie verschiedenen Sinn etwas Mögliches: Was Schutz bieten kann, kann Haus werden, was von ein und demselben ein und dieselbe Differenz einhalten kann, kann rund, Kreis oder ein Rad werden, usw. ‚Möglich‘ meint in diesem Fall: das Vermögen zu etwas Bestimmtem, eine ganz bestimmte Fähigkeit. Wie man ein solches Vermögen (dýnamis) erkennt, erklärt Platon an einer zentralen Stelle seiner Politeia: Von einem Vermögen sehe ich weder Farbe noch Form noch etwas derartiges, wie bei manchem anderen, das ich nur beobachten muss, um bei mir zu unterscheiden, dass das eine dies, das andere etwas anderes ist. Bei einem Vermögen achte ich ausschließlich auf das, worauf es sich richtet und was es leistet. Und auf diese Weise gebe ich jedem einzelnen Vermögen eine bestimmte Bezeichnung. Das Vermögen, das auf dasselbe gerichtet ist und dasselbe leistet, nenne ich auch dasselbe, was aber auf etwas anderes gerichtet ist und etwas anderes leistet, von dem sage ich, dass es nicht dasselbe ist. (Politeia 477 C–D)

Es wäre ein Missverständnis, wenn man aus solchen Äußerungen Platons schließen wollte, er halte Beobachtung und Wahrnehmung im Allgemeinen für überflüssig bei der Erkenntnis eines Gegenstands. Natürlich muss jemand, der einen Stein ins Wasser wirft, Form und Farbe des dabei entstehenden Gebildes sehen. Ob dieses Gebilde aber ein Kreis ist, das ‚sieht‘ er nicht, sondern das begreift er beim Sehen daran, dass alle Teile der begrenzenden Außenlinie von einem Zentrum denselben Abstand einhalten. Zum ‚Sehen‘ eines Gegenstands gehört also immer mehr als das bloße Sehen, ja er wird überhaupt erst durch dieses Mehr als Gegenstand ‚gesehen‘, richtiger: erkannt. Bei diesem Erkennen nimmt man nicht einfach das Ganze der Sinneserscheinungen auf, sondern wählt unter ihnen aus, indem man auf etwas Nichtsichtbares achtet, auf das, was etwas leistet, und worauf sich diese Leistung richtet. Wenn man wissen will, ob etwas eine Schere ist, muss man prüfen, ob sie schneidet. Diese Prüfung fragt nicht, ob das, was zerschnitten wird, weiß oder rot ist, sondern bezieht sich nur auf das, was an einem Material macht, dass es schneidbar ist. Man erkennt ein Vermögen also daran, dass man das, was es allgemein kann, in einem Einzelfall ‚in Aktion setzt‘, und daran, dass man prüft, worauf genau sich diese Aktion bezieht: Was Schneidbares schneidet, ist eine Schere, was Farben sieht, ist ein Auge, usw. Das Zusammenwirken der beiden Möglichkeitsformen, der abstrakten, zu vielem bildbaren Möglichkeiten der Materie und der bestimmten Möglichkeit eines Vermögens, genau Bestimmtes zu verwirklichen, erläutert Aristoteles an einigen gelungenen Definitionen des Archytas (1043 a 21–29). So definiert Archytas z. B. Meeresstille als „Ebenheit des Meeres“ und versteht dabei „Meer“ als Materie, als das zu vielem Bildbare, und die Ebenheit als den Akt und das eídos, das das zu vielem Mögliche auf eine bestimmte Form einschränkt. Aufschlussreich ist, dass ‚Ebenheit‘ nach Aristoteles in dieser Definition das

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eídos und die enérgeia ist. Ebenheit ist im Sinn der antiken Geometrie ein begrifflich mögliches Verhältnis. „Was in der Länge die Gerade ist, ist in der Breite die Ebenheit“ (1093 b 19 f.), d. h. sie ist der kürzestmögliche Abstand zweier Geraden in der Breite. Diesen Abstand hält das Meer bei Meeresstille ein, die eben daran erkannt wird. Diese Beispiele reichen schon hin, um zu belegen, dass die Orientierung am eídos und an der enérgeia zu einem gänzlich anderen Erkenntnisresultat führt als die Orientierung an der Materie, ihren (mit dem Auge oder dem Mikroskop) sichtbaren Teilen und Elementen und deren Strukturgesetzen. Sie legt nicht auf bestimmte Elemente und deren Strukturgesetze fest, sondern macht möglich, dass auch ganz andere ‚Gesetze‘ als die der Anordnung bei anderen Elementen dazu führen, dass etwas Bestimmtes entsteht, z. B. auch durch Mischung (etwa ein Honigtrank), durch die Lage (z. B. bei einer Schwelle), durch die zeitliche Folge (Morgen- und Abendmahlzeit) usw. (1042 b 15–25). Wer sich nach einem Begriff oder auch nur nach einer Meinung über das eídos eines Hauses richtet, wird den Reichtum oder den Ruhm des Architekten nicht für einen Sachgrund des Hauses halten, d. h. er wird nicht teleologisch (in einem neuzeitlichen Sinn, als Zweck, für den etwas gebraucht werden kann) denken. Er wird auch nicht ein Iglu aus Schnee vom Haussein ausschließen, weil er nur bestimmte, aus der Erfahrung bekannte Konstruktionen als Haus erkennt, d. h. er wird nicht an fixierte Regeln und Normen gebunden sein, sondern er wird alle Elemente, Regeln, Konstruktionsprinzipien, Zwecke usw. daran beurteilen, ob sie der Aufgabe, die ein Haus erfüllen muss, dienen oder nicht, und wird daran entscheiden, ob er in diesen Materien mit dieser Form ein Haus vor sich hat oder etwas anderes.

IV. Das ‚Werk‘ einer Sache und die concinnitas als Grund der Übereinstimmung der Teile und des Ganzen Die Kenntnis des eídos, d. h. des optimalen Leistungsakts von etwas, dient im Sinn der platonisch-aristotelischen Auslegung des eídos als enérgeia auch der Erzeugung einer Zusammenstimmung der Teile untereinander und zum Ganzen. Vom eídos hängen daher auch die äußere Ebenmäßigkeit und die symmetrischen Verhältnisse der Erscheinung ab. Dass diese innere Symmetrie nicht symmetrisch im Sinn der äußeren Erscheinungsformen sein kann, betont Plotin bei der Beurteilung der Schönheit der Seele nachdrücklich: Die Schönheit der Seele sind alle ihre vollendeten Tätigkeiten, und das ist eine wahrere Schönheit als das bisher Besprochene [= das Wahrnehmbare]. Aber in welchem Sinn sollen sie symmetrisch sein? Denn sie sind weder wie Größen noch wie die Zahl symmetrisch. Und wenn die Seele mehrere Teile hat – nach welcher Art von Proportion sollte die Synthese oder Mischung der Teile oder der Theoreme erfolgen? (I 6, 1, 49–53).

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Das Erkennen einer Sache an ihrem ‚Werk‘ hat also zur Folge, dass man sie an der inneren Symmetrie der Teile und des Ganzen in ihrem Zusammenstimmen zur Erzeugung dieses Werks erkennt. Die Erfüllung des Werks macht das Sein und das Gutsein einer Sache aus, die Erkenntnis, wie alles Einzelne zur Erfüllung dieses Werks zusammenwirkt und zusammenstimmt, macht dieses Gutsein eben dadurch als Schönheit sichtbar. Die enérgeia oder das eídos überstrahlt in diesem Sinn die äußeren Elemente und deren Symmetrie und macht aus, dass sie als etwas Schönes erscheinen: Das eídos tritt also hinzu und bringt das, was aus vielen Teilen bestehen soll, durch Zusammensetzung in eine einheitliche Ordnung, führt es auf ein gemeinsames Ziel hin und macht es zu einer mit sich übereinstimmenden Einheit, da es selbst Einheit ist, und Einheit das von ihm Gestaltete sein sollte, soweit es diesem, das aus Vielem besteht, möglich ist. So hat dann die Schönheit ihren Sitz bei ihm, das zu einem Einen zusammengeführt ist, und teilt sich den Teilen und dem Ganzen mit. Wenn es [das eídos] aber auf ein Einfaches und aus gleichen Teilen Bestehendes trifft, teilt es dem Ganzen dasselbe zu. So wie einmal einem ganzen Haus mit seinen Teilen, einmal einem einzelnen Stein eine bestimmte Naturkraft Schönheit gibt, dem Haus aber die Kunst. So entsteht der schöne Körper durch seine Gemeinsamkeit mit dem lógos, der vom Göttlichen her kommt. (I 6, 2, 18–28).

Plotin lehnt, wie man sieht, die Symmetrie der Teile und des Ganzen als Ausdruck von Schönheit keineswegs ab. Das, was aus vielen Teilen ein Eines werden soll, muss eine einheitliche Ordnung der Teile haben. Es müssen aber nicht verschiedene Teile sein, die zu einer Einheit zusammengeordnet werden, es können auch einfache Elemente oder gleichartige Teile sein, die durch die Einheitsstiftung des eídos ein bestimmtes Maß und Schönheit haben. Es gibt in seinem Sinn aber nicht eine bestimmte Symmetrie, die nach bestimmten Regeln zustande kommt, die etwas schön macht, sondern es ist immer das eídos, das jedem Gegenstand seine ihm eigene, spezifische Einheit gibt, aus der erst die jeweilige Symmetrie der Teile ihr Maß hat. Sofern man aber wie der von Plotin zitierte Zeitgeist unter Symmetrie bestimmte Größen- und Zahlenverhältnisse versteht, nach denen die Struktur der Teile schöner Körper organisiert ist, kann Symmetrie nicht als Wesensmerkmal von Schönheit gelten. Diese Symmetrie reduziert Schönheit auf immer gleiche Normen und Konventionen, die der unendlichen Vielfalt möglicher Einheitsformen von schönen Gegenständen überhaupt nicht gerecht werden kann. Sie kann, wie Plotin mit Platon zeigt, vorhanden oder nicht vorhanden sein, ohne dass ein Gegenstand seine ihm eigene Schönheit gewinnt oder verliert.31 Die Formulierungen, mit denen viele Theoretiker aus der Renaissance Schönheit beschreiben, enthalten dem reinen Wortlaut nach noch fast alle _____________ 31

In dieser Kritik trifft sich Plotin mit der Kritik vieler neuzeitlicher Ästhetiker an der Abstraktheit und den Normierungstendenzen rationalistischer Theorien. Anders als diese neueren Kritiker sucht er die Abhilfe aber nicht in einer Abweichung von Regel und Norm, sondern in einer dem individuell Einzelnen gerecht werdenden Herleitung seiner Ordnung.

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Bestimmungen, die Plotin mit dem Schönen verbunden hatte. Wenn etwa, um die Schönheitsdefinition Albertis noch einmal aufzunehmen, Alberti sagt: Aber es gibt ein Weiteres [sc. über die einzelnen körperlichen Teile, Elemente Hinausgehendes] aus diesen allen Zusammengefügtes und Verbundenes, durch welches das ganze Antlitz der Schönheit auf wunderbare Weise widerstrahlt: Es ist dies, was bei uns concinnitas genannt wird, von welcher wir freilich auch sagen, dass sie der Zögling aller Charis und allen Schmuckes sei,32

so spricht auch er noch von dem Glanz oder dem Strahlen der Schönheit, der mehr ist als die bloße Masse der Körper, die erst durch ihre Ordnung Schönheit gewinnt. Und wenn Ebreo nach der Feststellung, dass die Schönheit des Körpers, sofern er schön ist, nicht körperlich ist, und daher zu einem Aufstieg von den sinnlichen zu den geistigen Schönheiten anrege („ascendere da le bellezze corporali ne le sprirituali“33), dann scheint sogar noch der Aufstiegs- und Wiedererinnerungsgedanke, den Plotin mit der Erfahrung des Schönen verbindet, erhalten. Die Sache aber, die in diesen und in einer übergroßen Zahl analoger Äußerungen gemeint ist, stellt gerade das Konzept dar, gegen das Plotin sich wendet. Da dies selten beachtet wird, sollte es in den vorausgegangenen, knappen Interpretationen etwas genauer herausgearbeitet werden. Der Aufstieg vom sinnlich Schönen zu den ‚mathematischen‘ Maßverhältnissen, nach denen sie strukturiert sind, ist nach Plotin kein Aufstieg zur geistigen Schönheit, sondern bleibt in der Dimension des Einzelnen, dessen Vielfalt durch ihn lediglich auf gemeinsame Aspekte reduziert wird. Denn diese Zahlen und Proportionen erklären bestimmte, in der Erfahrung häufig vorkommende Möglichkeiten, wie Teile eines Ganzen angeordnet sein können und zur Bildung eines bestimmten Umrisses der äußeren Gestalt beitragen. Den je eigentümlichen Grund, weshalb ein bestimmter sinnlicher Gegenstand oder gar ein seelischer Habitus eine innere Hinordnung auf das haben können, was ihr spezifisches So-sein mit der für dieses eigentümlichen Symmetrie begründet, liefern sie nicht.

V. Zahl und Schönheit im Platonismus Die Dimensionsverkürzung, die in diesem stoisch-neostoischen Symmetrieverständnis vorliegt, könnte erst ganz deutlich werden, wenn das ihm zugrunde liegende Mathematikverständnis geklärt wäre. Auch die Theoretiker der Renaissance stützen sich ja bei der Herstellung des Zusammenhangs von Symmetrie und Schönheit auf die Zahlenverhältnisse, die in unterschiedlichen Proportionen zum Ausdruck kommen. Gerade dadurch scheinen sie in direkter Nachfolge platonisch geprägter Traditionen zu stehen. Wenn Boethius z. B. Gott _____________ 32 33

Siehe oben Anm. 13. Siehe oben Anm. 11.

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als den Schönsten bezeichnet, der die schöne Welt mit Vernunft leitet und seinem Vorbild gemäß nach Zahlen geordnet hat,34 wenn in der Schule von Chartres Gott im Anschluss an den Platonischen Timaios und an Boethius als Architekt beschrieben wird, der durch die Hervorbringung der Zahl zugleich die Dinge geschaffen hat, wenn nicht nur im Mittelalter, sondern auch in der Renaissance die berühmte Formel aus dem Weisheitsbuch des Alten Testaments: „Du hast alles nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet“ (Sapientia 11,21) zur Grundlage der Schönheitstheorien genommen wird, dann scheint auch in diesem Mathematikverständnis zwischen dem Platonismus und seiner Rezeption in der Renaissance eine wesentliche Übereinstimmung zu herrschen. Es ist unmöglich, in wenigen Sätzen die Differenzen, die hier berücksichtigt werden müssen, darzulegen. Auf zwei elementare Unterschiede möchte ich aber wenigstens noch hinweisen: Die platonische Mathematik begreift die Zahlen nicht als homogene Quantitäten. Es gibt in der platonischen Mathematik keinen direkten Übergang von der Zahl zum sinnlichen Körper und seiner Struktur. 1. Legt man das in der Renaissance neu formierte hellenistische Zahlverständnis zugrunde, muss die Aussage Thierrys von Chartres, die Hervorbringung der Zahl sei zugleich Schöpfung der Dinge, entweder als eine rigorose Verkürzung der bunten Vielfalt der Erscheinungsformen der Dinge auf quantitativ berechenbare und messbare Verhältnisse erscheinen oder als eine spekulative Überlastung der Zahl mit Eigenschaften, die ihr in einem rationalen Sinn nicht zukommen können. Prüft man dagegen bei Platon nach, weshalb er der Zahl einen so hohen Stellenwert einräumt, dann kann man belegen, dass er aus einer Reflexion auf die Kriterien des Erkennens einen Zahlbegriff entwickelt hat, der gerade auf eine rationale, ja Rationalität begründende Weise qualitativ und nicht nur quantitativ ist.35 Platon stellt an einer zentralen Stelle der Politeia die Frage, ob es bei allem, was man erkennend, handelnd oder technisch produzierend tut, Kriterien gibt, die ausmachen, dass man dabei rational und nicht mehr oder weniger beliebig verfährt. Solche Kriterien wenden alle ständig irgendwie an, wie Platon sagt, nur wenige aber wissen, worin eigentlich das Rationale an einem rationalen Handeln besteht, und können diese Kriterien daher nicht methodisch selbstständig, sondern nur in zufälliger Intuition gebrauchen.36 Ein solches Wissen, in dem sich die Vernunft über ihre eigenen Akte aufklärt, nennt Platon an dieser Stelle ein koinón máthema, ein allen gemeinsames Wissen, die Disziplin, die dieses Wissen reflexiv ermittelt, eine koiné mathematiké epistéme, eine, wie die Lateiner übersetzt haben, communis mathematica scientia oder eine mathesis universalis. Mathematiké heißt auf Griechisch „zum Wissen _____________ 34 35

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Siehe Boethius, De consolatio philosophiae, III 9. Eine fundierte und systematisch konsistente Darstellung der Ableitung der Mathematik aus der Erkenntnistheorie bei Platon und im Platonismus (verbunden mit einer kritischen Auseinandersetzung mit neuzeitlichen Rezeptionsformen) gibt jetzt Radke (2003). Siehe Politeia VII, 522 C; siehe Schmitt (1989).

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gehörig“ und nicht nur „mathematisch“. Platon war aber in der Tat überzeugt, dass die Grundwissenschaft, die er suchte, eine mathematische Wissenschaft war. Über dem Eingang der Akademie soll deshalb gestanden haben: „Keiner, der nicht mathematisch gebildet ist, soll hier eintreten.“ Die Mathematik, die Platon meint, ist freilich nicht eine Wissenschaft von homogenen Quantitäten. Dieses Mathematikverständnis ist selbst ein geschichtliches Produkt, dessen Entstehung (v. a. bei Vieta, Stevin und Descartes) unmittelbar mit der Destruktion des platonischen Rationalitätsbegriffs zu Beginn der Neuzeit verbunden ist.37 Die platonische Mathematik ist aber auch keine Zahlenmystik, auch wenn dieses Vorurteil immer noch weite Verbreitung hat. Platon beruft sich vielmehr auch an dieser Stelle der Politeia auf den von ihm vielfach geführten Nachweis, dass man etwas nicht denken kann, wenn es nicht mit sich identisch und von anderem unterschieden ist. Identifizierbarkeit und Unterscheidbarkeit sind für ihn daher Grundforderungen des Denkens an seine (nicht die äußeren) Gegenstände, Denken ist seinem primären Akt nach ein Unterscheiden (krínein). Die großartige und folgenreiche Entdeckung Platons war, dass man durch die Reflexion auf die Bedingungen, die es dem Denken möglich machen, seine ihm eigene Leistung, das Unterscheiden, auszuführen, ein ganzes, in sich strukturiertes und hoch differenziertes Wissenschaftssystem erschließen kann, und dass dabei zuerst die Begriffsbedingungen mathematischer Gegenstände aufgedeckt werden. Wenn man fragt, an welchen Kriterien man prüft, ob sich etwas unterscheiden lässt, dann wird nach Platon klar, dass man etwas nicht unterscheiden kann, wenn es nicht ein Eines ist, das mit sich identisch, von anderem verschieden ist, das ein Ganzes ist, das Teile hat, die alle als Teile dieses Ganzen einander gleich, gegeneinander aber verschieden, also ähnlich sind, usw., usw. Einheit, Identität, Verschiedenheit, Ganzheit, Teil, Gleichheit, Ähnlichkeit, Diskretheit, Kontinuität, Anfang, Mitte, Ende usw. sind also Kriterien, an denen man sich unbemerkt oder ausdrücklich bei jedem Erkennen orientiert.38 Wer einen Ton hören will, muss bemerken, wodurch er ein Ton ist, d. h. er muss ihn in seiner Identität gegen von ihm verschiedene Töne abgrenzen, muss darauf achten, wann er anfängt, wie lange er gleich bleibt, wann er aufhört, usw. In der Mathematik tut man grundsätzlich das Gleiche, aber man untersucht nicht, ob irgendetwas identisch ist, sondern was Identität, Gleichheit, Ähnlichkeit usw. ist, d. h., was zu ihrem Begriff gehört. Die platonische Mathematik ist daher sowohl eine besondere wie eine allgemeine Wissenschaft. Für sich besteht sie in einer Analyse der Begriffsbedingungen möglicher Einheiten überhaupt, als _____________ 37

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Siehe dazu die immer noch grundlegende und vorzügliche Untersuchung von Klein (1936), 18– 105 und 122–235, in der vor allem der Übergang in die neuzeitliche Mathematik sorgfältig und überzeugend dargestellt ist. Für das Verständnis der Ableitung dieser Kategorien aus der Voraussetzung eines intelligiblen und Intelligibilität noch übersteigenden Begriffs von Einheit besonders wichtig ist die neuplatonische Interpretation des platonischen Parmenides, v. a. durch Proklos und Damaskios. Die Relevanz dieser Interpretationen für ein historisch angemessenes Platon-Verständnis hat überzeugend aufgewiesen Halfwassen (1992).

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allgemeine Wissenschaft ist sie Anwendung dieser Einheitskriterien auf alle möglichen Erkenntnisgegenstände. Entgegen einem immer noch verbreiteten Vorurteil ist das Zentrum der platonischen Philosophie nicht eine Schau jenseitiger Ideen, sondern eine Reflexion des Denkens auf sich selbst. Diese Reflexion zeigt, dass erkennbar nur ist, was sich als Einheit unterscheiden lässt. Die Grundmöglichkeiten, wie aus Vielem Einheit werden kann, untersucht die Mathematik, genauer die Arithmetik als Theorie der Bildung diskreter, für sich unterscheidbarer Einheiten. Diese Möglichkeitsbedingungen von Einheit sind keineswegs abstrakt und inhaltsleer, ihre methodische Entwicklung erweist sie vielmehr als ein an Komplexität ständig zunehmendes System. An ihm hat alles teil, was irgendwie Einheit ist, und nicht etwa nur, was sich quantitativ berechnen lässt. 2. Die Arithmetik entwickelt ihr System, indem sie reflexiv prüft, welche Unterschiede gedacht werden müssen, wenn begriffen werden soll, wann etwas eine Einheit ist. Was ein Eines sein soll, muss auch ein Ganzes sein, was ein Ganzes ist, ist eine Einheit aus Vielem, hat also Teile, die Teile ein und derselben Einheit sind, die sich unter diesem Aspekt gleich sind, als jeweilige Teile aber gegeneinander verschieden sind, usw. Trotz der hohen Komplexität dieser Einheitsbedingungen wird in ihnen aber (noch) nicht geklärt, was die Möglichkeitsbedingungen der grünen Farbe eines Baumes sind, nicht einmal, worin die Größenordnungen eines Kirchenbaus bestehen. Auch die musikalischen Reihen, deren Zahlverhältnisse viele Architekten der Renaissance unmittelbar in die ‚gefrorene Musik‘ der Bauanordnung übertragen wollten, sind in der platonischen Mathematik reine Zahlenverhältnisse, die nicht unmittelbar für die Struktur von Körpern verantwortlich sind und sein können. Bereits die Geometrie unterliegt anderen Einheitsbedingungen als die Arithmetik oder die Musik (als Theorie der Zahlverhältnisse). Die grundsätzliche Erklärung für diese Differenzen kann man vielleicht so zusammenfassen: Die Arithmetik bedenkt, welche Unterschiede beachtet werden müssen, damit etwas als Einheit begriffen werden kann. Diese Unterschiede liegen, auch wenn wir sie noch nicht erfasst haben, in der Sache selbst. Was als ein Ganzes gedacht werden soll, muss als eine Einheit, deren Teile zugleich gleich und ungleich sind, gedacht werden. Da es diese Unterschiede in der Sache gibt, können sie auch für sich gedacht werden, z. B. kann man auf den Aspekt achten, dass alle Teile eines Ganzen als Teile derselben Einheit einander gleich sind. In einer solchen Betrachtungsweise wird die Einheit als eine kontinuierliche Einheit gedacht, deren Teile immer wieder in gleiche Teile geteilt werden können. Diese Betrachtungsweise ist das Prinzip der Geometrie, die Einheiten untersucht, sofern sie Größen, d. h. kontinuierlich zusammenhängende Ganzheiten sind. Bei dieser Betrachtungsweise erscheinen die Zahlenreihe als Gerade und die Zahlverhältnisse als Figuren. Auf diese Figuren sind Zahlgesetze nicht mehr unmittelbar anwendbar. Z. B. entstehen bereits im Quadrat, einer

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Figur aus lauter gleichen Seiten, irrationale Verhältnisse, die es in der Arithmetik nicht geben kann, etwa im Verhältnis der Seiten zur Diagonale.39 Nimmt man die in den beiden Punkten 1. und 2. in knappem Umriss vorgestellten Prinzipien der platonischen Mathematik zusammen, ergibt sich eine klare Abgrenzung sowohl gegenüber dem Mathematikverständnis der Renaissance als auch gegenüber der Anwendung dieser Mathematik auf die verschiedenen Bereiche der Kunst. Die platonische Mathematik befasst sich nicht mit allgemeinen Rechenkalkülen, sondern mit den Begriffsbedingungen der Konstitution möglicher Einheiten (die Rechenkalküle sind erst Ableitungen aus deren Prinzipien). Wenn Gottes Schöpfungsakt als eine mathematische Tätigkeit verstanden wird, dann nicht, weil er die Welt aus homogenen quantitativen Einheiten aufgebaut habe, deren Wesen in ihrer Zähl- und Berechenbarkeit liegt, sondern weil nichts sein und gedacht werden kann, das nicht Einheit und Vielheit, Identität und Differenz und die aus ihrer Synthese folgenden Sachmöglichkeiten aufweist. Diese aus der Reflexion des Denkens auf die Bedingungen der Möglichkeit seiner Unterscheidungsakte gewonnene Mathematik liefert erst die begrifflichen Voraussetzungen, die man unterschieden haben muss, wenn man unterschiedliche Formen, wie aus vielem etwas Eines und damit Schönes wird, nach Kriterien und nicht aufs Geratewohl beurteilen will. Diese Bedingungen gelten nicht unmittelbar für empirische Gegenstände, führen aber schrittweise auf deren Verständnis hin. Wer etwa reflexiv prüft, was vorausgesetzt werden muss, damit eine Vielheit als Einheit gedacht werden kann, und zwar so, dass alle Momente der Vielheit eine Einheit bilden, wird (u. a.) finden, dass in einer solchen einheitlichen Vielheit, die Platon Ganzheit nennt, alle Teile eines Selben zu einem Selben im selben Verhältnis stehen müssen. Überträgt man dieses Begriffsverhältnis in die Geometrie, d. h. in ein kontinuierliches Ganzes mit Lage, entstehen die Begriffsbedingungen eines Kreises, bei dem alle Teile der Peripherie zu ein und demselben Zentrum im selben Verhältnis stehen. Dieser geometrische Begriff des Kreises kann dann vom Techniker oder Künstler benutzt werden, um irgendein Material, soweit es dafür geeignet ist, in die Form eines Kreises zu bringen. Dieser Abstiegsweg ist hier, das muss nachdrücklich betont werden, vielfach verkürzt dargestellt. Er kann aber in dieser vereinfachten Form schon vermitteln, dass und in welchem Sinn das eídos, das, was das wesentliche, nur begreifbare (bestimmte) Sein von etwas ausmacht, in Bezug auf empirische Gegenstände Möglichkeitsbedingungen bietet. Das, was ein Rad kann und leistet, kann es, weil es eidetische Möglichkeiten in einer einzelnen Materie verwirklicht.40 _____________ 39

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Wie in dieser Abhängigkeit der mathematischen Dimensionen voneinander das System des Quadrivium im Rahmen der sieben Freien Künste begründet ist, belegt und begründet überzeugend und in Abgrenzung gegen ein hellenistisches Verständnis der Freien Künste Radke (2003), 129–199. Zur Begründung, dass ‚Idee‘ bei Platon kein idealer Gegenstand, sondern Summe der unterscheidbaren Möglichkeiten, etwas Bestimmtes zu sein, meint, siehe Schmitt (2006). Die Bedeutung dieses Begriffes von eídos als der bestimmten Möglichkeitsbedingungen einer Sache

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Dass man nach Platon und Aristoteles Gegenstände und Personen der empirischen Welt an ihrer dýnamis und enérgeia erkennt, hat seinen Grund also in dieser ‚mathematischen‘ Grundlage alles Eidetischen. Von ihr her und nicht von Proportionsregeln, die nur in bestimmter Hinsicht und bei bestimmten Gegenständen schönheitsrelevant sind, muss man das Zusammenstimmen der Teile untereinander und mit dem Ganzen beurteilen, wenn man deren tatsächliche, sachliche Symmetrie und Schönheit erkennen will. Die Erklärung des Schönen durch Albertus Magnus: „ratio pulchri in universali consistit in resplendentia formae super partes materiae proportionatas“41 gibt noch in genuiner Weise die Intention wieder, die auch schon Plotin in seiner Analyse des Schönen verfolgt hat.42 Die scheinbar ähnlichen Erklärungen bei Chrysipp, Cicero, Vitruv, Seneca, dann aber auch bei Ficino, Ebreo, Alberti, Lomazzo, Vasari und vielen anderen Renaissance-Theoretikern beschränken die Bedingungen des Schönen auf einige Bedingungen von Schönheit, die manchmal, aber nicht immer gegeben sein können und die nicht erklären, was grundsätzlich die Bedingungen sind, die ausmachen, dass etwas schön sein oder als schön erfahren werden kann.43 _____________

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wird natürlich erst bei komplexeren Gegenständen ganz erkennbar. So versteht Aristoteles z. B. unter Mimesis eine Darstellung, die sich an den bestimmten Möglichkeiten eines (ausgebildeten) Charakters orientiert und zeigt, wie diese in einer einzelnen Handlung realisiert sind. Ein von aidós (Scham, Scheu) geprägter Charakter wie Hippolytos wird mit Artemis sprechen, aber vermeiden, sie anzusehen; ein Mann wie Odysseus wird, wenn er nach Hause kommt, sich erst vergewissern, wie er seine Herrschaft wieder gewinnen kann (und nicht wie Agamemnon sein Leben unvorsichtig aufs Spiel setzen), usw. Im Unterschied dazu folgen die Renaissance-Kommentatoren der Aristotelischen Poetik eher stoischen Vorstellungen. Für sie besteht Mimesis zwar auch nicht in einer Kopie der Wirklichkeit, aber in einer Nachkonstruktion oder Nachschöpfung der Wirklichkeit nach den Gesetzen, die dieser immanent sind, also in der Darstellung des Exemplarischen, Typischen, dessen, was in einer Zeit, bei bestimmten Menschen, in bestimmtem Alter, Geschlecht üblich ist, usw. Plotins Kritik an der Symmetrieauffassung seiner Zeit würde auch für diese Mimesisbegriffe gelten. Sie machen aus der Empirie gewonnene Pseudo-Allgemeinheiten zum Maß der künstlerischen Darstellung und stellen dadurch das Zusammenstimmen der Teile und des Ganzen nach immer gleichen Regeln her. Im Unterschied dazu fällt Aristoteles nicht unter Plotins Kritik, denn bei ihm entsteht die Übereinstimmung nicht nach solchen Regeln, sondern richtet sich nach dem ‚Werk‘ eines Charakters. Siehe Schmitt (2007). Siehe oben Anm. 8. Für die Vermittlung dieser genuin platonischen Deutung des Verhältnisses von Idee, Zahl und Schönheit ins Mittelalter hat neben Boethius auch Augustinus größtes Gewicht. Siehe Schmitt (1990). Für die Herausarbeitung dieser und analoger Differenzen sind noch viele Forschungen nötig. Es gibt immer noch eine verbreitete Tendenz, bei der Darstellung der Entwicklungen in der Frühen Neuzeit auch das Selbstverständnis der damaligen Zeitgenossen mit zu übernehmen. So sind typische Kennzeichen dieser Zeit für viele etwa der Aufbruch in die Moderne, die Entdeckung von Individualität, Subjektivität, Selbstbestimmung, Geschichtlichkeit, der Neutralität des Staates, der Empirie, der Mechanisierung des Weltbilds, die Auflösung sozialer Hierarchien, der teleologischen Naturdeutung, usw. Dies ist nicht zuletzt Folge des auch in der Frühen Neuzeit grundgelegten historischen Denkens, das aus der möglichst vollständigen und korrekten Beschreibung des historischen Phänomens dessen Deutung gewinnen will. Viele Texte der

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Der neuplatonische Begriff des ‚Schönen‘ im Kontext von Kunst- und Dichtungstheorie der Renaissance Thomas Leinkauf

I. Es gehört zu den grundlegenden Signaturen neuplatonischen Denkens, ein Eines je gegenüber einem Vielen, letztlich das Eine selbst gegenüber allem, das ein Vieles oder in sich vielheitlich ist, herauszuheben als dessen konstituierenden und es im Sein erhaltenden Grund. Diese Emphase des Einen hat auch Konsequenzen für eine ‚Ästhetik‘ oder, wie ich es eher formulieren würde, für eine Theorie des Schönen, wie sie, sei es bei den Neuplatonikern selbst, sei es bei den durch diese intensiv bestimmten Autoren und Denkschulen, im Rahmen dieses Denkansatzes gedacht werden konnte. Hier findet sich, wie ich meine, eine analoge Signatur, die in der Heraushebung einer absoluten Schönheit oder eines absolut Schönen gegen das viele oder einzelne Schöne und vor allem gegen in sich vielheitliche Kriterien von Schön-Sein, z. B. die Proportionalität, die Symmetrie, die Wohlgefügtheit, selbst bestehen. ,Gegen‘ verweist hierbei allerdings nicht auf einen Gegensatz, sodass etwa Schönsein in einem absoluten Sinne jede Bezüglichkeit und Strukturiertheit ausschlösse, sondern es verweist darauf, dass es einen in der Immanenz wirkenden und sich zeigenden transzendenten Grund des relativ-vielheitlich Schönen gibt. Die geistige Natur dieser Schönheit, die daher auch ‚intelligible Schönheit‘ oder ‚göttliche Schönheit‘ genannt wird, impliziert, dass sie sich als solche nicht umstandslos in der Natur zeigt, sondern dass sie ausschließlich vermittelt durch den Geist, den der Natur als göttlichem Agens (natura universalis, natura naturans) oder den des Menschen als ‚anderem Gott‘ in die Wirklichkeit eintritt und aus dieser Wirklichkeit, deren Erscheinung dann als ‚schön‘ gilt, heraus auf das transzendente Prinzip des Schönen verweist. Das 15. und 16. Jahrhundert verlagerte sein ‚ästhetisches‘ Interesse allerdings immer mehr auf den Menschen als Autor von Schönem, auf seine Sinnesvermögen und deren Ausrichtung am empirischen Befund, sowie auf die mimetische Kompetenz, die aus dem Sicheinlassen auf unmittelbare Naturerfahrung entspringt. Obgleich man so ein letztlich unvermitteltes Nebeneinander zwischen platonisch-neuplatonischer und aristotelisch-lateinischer Tradition meinte kon-

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statieren zu müssen1, zeigen eingehendere Analysen und Vergleiche doch eher eine gewisse Durchdringung und gegenseitige Befruchtung beider Strömungen (deren Existenz als solche natürlich nicht bestritten werden darf). Ein gemeinsamer Schnittpunkt ist etwa die Definition der Instanz im Geist oder in der Seele des Menschen, die genuin ‚ästhetisch‘ oder künstlerisch produktiv ist, als Ingenium (ingegno). In bestimmter Weise konnte so der Mensch selbst, im Sinne einer ontologischen Mimesis, als ein die natura naturans abbildender ‚Schöpfer‘ oder ‚kleiner/anderer Gott‘ nobilitiert werden.2 Für das Verständnis der Diskussion des 15. und 16. Jahrhunderts hängt viel davon ab, wie das Ingenium innerhalb der Geistlehre und der Psychologie verortet wird. Für die platonischneuplatonische Tradition, die, wie sich noch zeigen wird, das Schöne in der intelligiblen Idee des Schönen und das Potential des Künstlers in der Aktivität des zur Ideenschau befähigten Intellektes fundiert, wird das Ingenium zum sensibelsten Teil der menschlichen Geistseele, so dass durch es die Ideenschau der künstlerischen Realisierung vermittelt werden kann; für die aristotelische, in engem Zusammenhang mit der lateinischen Rhetorik-Debatte stehenden Tradition, wird das Ingenium zu dem herausragenden innerseelischen Vermögen, das mimetisches und innovativ-gestalterisches Potential in der Auseinandersetzung mit dem empirischen Material entwickelt. Das Vermögen, das dem Ingenium hierbei in den Augen beider Diskursformationen vor allem zur Verfügung steht, ist die Phantasie (imaginatio, phantasia), die aktivierende Kraft hingegen ist entweder der furor poeticus, wie er in der auf den Phaidros und den Ion zurückgehenden platonisch-neuplatonischen Tradition herausgestellt wurde, oder die dem einzelnen Künstler, vor allem dem Dichter, eigene – im christlichen Verständnis als Gabe Gottes gesehene – Begabung (in diesem Sinne ist das Ingenium selbst schon die vollendete mentale Form). Es ist grundsätzlich festzuhalten, dass es, trotz aller Affinitäten vieler Autoren zu platonischem und neuplatonischem Denken eine immer stärker sich artikulierende Wende hin zum Imaginativ-Phantastischen als dem zentralen und autonomen Bereich menschlicher, vor allem künstlerischer Produktivität gegeben hat.3 Ich möchte diesen Sachverhalt vor allem an ein paar Texten der _____________ 1

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So etwa mit großer Wirkung Erwin Panofsky in seiner Abhandlung Idea, Panofsky (1975), 27– 29. Kritisch dagegen etwa schon Mühlmann (1981), 32 f.; auch Wilde (1994), 53 f. sieht im mathematisch gegründeten Konzept von ‚Natur‘ in Albertis Denken, das Panofsky der aristotelischen Tradition zuordnet, einen direkten Bezug zu „Neo-Platonic thought“ (53), vgl. unten den Abschnitt zu Alberti. Hierzu vgl. Buck (1994); Nebes (2001); Metscher (2004). Antonio Persio, Trattato dell’ ingegno dell’ huomo, 26: Das Ingenium ist, in direktem Rückgriff auf Ficino, ein „raggio della divina sapienza“, Ausdruck eines platonisch gedachten „furore“, ebd. 63, 83; Persio selbst allerdings neigt als guter Schüler Telesios zu einer naturalistischen, letztlich an stoische Argumente erinnernden Position, vgl. hierzu 34 f., 38–40, 45 f., 62 (Fundierung des Ingeniums in der „sustanza calda et animata“, Gleichsetzung mit „calore“ bzw. „luce“ im konkret materiell verstandenen Sinne). Vgl. beispielhaft die Position des Agostino Nifo (Niphus), De pulchro, c. 25, fol. 15v sqq.: Die Dinge, die unsere Seele zur Liebe „hinreißen“ („rapiunt“) müssen selbst „sinnenfällig“ bzw.

Der neuplatonische Begriff des ‚Schönen‘

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Renaissance-Theoretiker diskutieren, wobei ich ‚Renaissance‘ sensu lato als den Zeitabschnitt verstehen will, der vom späten 14. Jahrhundert bis hin zum Ende des 16. Jahrhunderts reicht (in diesem Sinne deckt sich dieser Zeitabschnitt auch mit dem des Humanismus).4 Die Autoren, die ich hierbei im Blick habe, sind Nicolaus Cusanus, Marsilio Ficino, Leon Baptista Alberti, Leone Ebreo, Francesco Patrizi, Giordano Bruno, sie markieren, insbesondere mit dem Nolaner am Endpunkt, den aktiven Spannungsbogen, der die immer größere Bedeutung von imaginatio und phantasia für den geistesgeschichtlichen Rückblick aufzeichnet. Man muss sich klar machen, dass eine intensivere Zuwendung zum innerweltlichen Bereich, eine immer stärkere Betonung dessen, was der Mensch aus sich heraus leisten kann, ein immer größeres Bewusstsein von der Weite des neu explorierten Bereiches an bisher unbekannter Wirklichkeit die philosophische Reflexion vor erhebliche Erklärungsprobleme stellte, die nicht nur theologischer und kosmologischer Art waren, sondern insbesondere auch psychologischer Provenienz. Materialisierung, Enttheologisierung, Sensualisierung sind die großen Entwicklungslinien, die sich einerseits mit der Auseinandersetzung mit den klassischen Autoren, also Platon und Aristoteles, und ihren Schulen verbinden – diese also durchaus stark transformieren – andererseits eben, damit dies möglich wird, auch eine immer stärkere Präsenz der nicht-klassischen hellenistischen Schulen durchblicken lassen, vor allem der Stoa, des lateinischen Humanismus, der epikureischen Tradition. Alles dieses spielt auch für ein Verständnis der Theorie des Schönen und der ästhetischen Dimension des Seelischen in der Frühen Neuzeit eine wichtige Rolle und macht die Lage des Interpreten nicht eben einfach.5 Einige der systematischen Hauptprobleme sollen kurz erwähnt werden: Wie kann das Schöne, sofern es als intelligibles Schönes in direktem Bezug auf das Eine und Gute platonisch konzipiert wird, überhaupt als Kandidat eines genuin künstlerischen Strebens fungieren – oder, anders formuliert: Kann es überhaupt Ziel einer philosophischen Theorie neuplatonischer Provenienz sein, der Kunst als einem Ort der Realisierung von Schönem einen besonderen Rang zuzuweisen, wenn doch das Schöne selbst ausschließlich in noetischen Akten erfasst werden kann? Was leistet Kunst sozusagen rein aus sich und in einem nur ihr eigenen Sinne? Ist die Realisierung von Ideen (oder, aristotelisch gesehen, von eidetischen Formprinzipien) gerade nicht eine Realisierung von Ideen, sondern von Abbildern von Ideen, die, sofern sie für die Ideen stehen, Falsches insinuieren (Trug, Lüge, Schein) und, sofern sie für ihre Abbildhaftigkeit stehen, zugleich auch ihre Zweitoder sogar Drittrangigkeit eingestehen? Kann es einen Ort für autonome Kunst geben, wenn die Norm der Kunst absolut vorgegeben ist? Alle diese Fragen, die _____________ 4 5

„sinnliche“ Dinge sein („oportet ut sint sensibilia“, 16r); c. 27, fol. 18r sq die Zuordnung zur peripatetischen Schule. Vgl. zum Folgenden: Leinkauf (1994). Einen Überblick über Begriff und Sache des ‚Schönen‘ aus der Perspektive des Zeitgenossen gibt der Paduaner Philosoph Agostino Nifo (Niphus) in seiner Abhandlung De pulchro.

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sich durchaus auch heute noch stellen (lassen), werde ich natürlich hier gar nicht beantworten wollen und können, sie sollten bloß für das Folgende mit in Erinnerung gerufen werden. Zuvor jedoch ein kurzer Blick auf den neuplatonischen Autor, der nicht nur als Gründungsfigur neuplatonischen Denkens im engeren Sinne zu bezeichnen ist, sondern dessen Argumente die substantielle philosophische Vorarbeit zu dem geleistet haben, was wir dann (durch die ingeniöse Rezeptionsleistung vor allem des Ficino) bei den Renaissance-Theoretikern finden können: auf Plotin.

II. Plotin Plotin unternimmt in der dem Schönen gewidmeten (vermutlich frühen) Enneade I 66 einen Versuch, den ihm vor allem wohl durch die Diskussion der Stoa vermittelten Gedanken zu kritisieren, Schönes oder Schön-Sein sei durch Symmetrie und Ebenmaß der eine Sache strukturierenden Glieder bestimmt.7 Die Basisformel hierfür lautet: Symmetrie der eine Sache ausmachenden Teile in Bezug auf das Ganze und in Bezug auf die Teile untereinander.8 Es ist hier nicht der Ort, die komplexe Theorie Plotins darzustellen. Ich will nur darauf eingehen, was er der Symmetrie-These entgegenhält: Plotin sagt, wenn nur das schön genannt werden könne, dessen Teile ein bestimmtes, wohl proportioniertes Verhältnis zueinander hätten, so könne es erstens nichts an und in sich Einfaches geben, das als solches von sich aus schön sei, und es könne zweitens dann der Fall sein, das Schönes aus hässlichen, also nicht-schönen Teilmomenten bestünde, was ein Widerspruch wäre.9 Plotin setzt dagegen, dass unter Schön-Sein die vollständige Durchdringung eines Stoffes durch eine Form/Idee oder Gestalt zu verstehen ist. Ist diese nicht erreicht, so ist das betreffende Ding konsequent als nicht-schön oder auch als hässlich zu qualifizieren. Hintergrund von Plotins Kritik am Symmetrie-Begriff, der, das darf nicht außer Blick geraten, seine _____________ 6 7

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Vgl. zur Sache: Horn (1989); Horn (1998). Plotin, Enneade I 6, 1, 20–25 zur „IJȤȞȞıijȢտį ij‫׭‬ȟ ȞıȢ‫׭‬ȟ ʍȢրȣ Ԕȝȝșȝį Ȝįվ ʍȢրȣ ijր Ցȝȡȟ“. Die Forschung ist sich seit Creuzer einig, dass die Symmetrie–These auf die Stoa zurückgeht; vgl. Stoicorum veterum fragmenta III 83, 278–279; 471–472. Z. B. Stoicorum veterum fragmenta 278: „IJȤȞȞıijȢտį ij‫׭‬ȟ Ȟıȝ‫׭‬ȟ […] ʍȢրȣ Ԕȝȝșȝո ijı Ȝįվ ʍȢրȣ ijր Ցȝȡȟ“. Vgl. Plotin, Enneade I 6, 1, 25 ff. Zur Sache, vor allem zu dem Problem, dass Plotins These eigentlich nicht unmittelbar zur Konsequenz habe, dass die Teilmomente ‚hässlich‘ sein müssen, es genüge, dass sie ‚nicht schön‘ seien (was ein anderer Wert-Status ist), vgl. Horn (1989), 1457 f. Horn zeigt, dass z. B. aus Enneade V 8, 2, 28 f. deutlich zu machen sei, dass Plotin „zwei Weisen von Häßlichkeit“ kennt, erstens das schlechthin Hässliche, das durch Absenz der Idee oder des Logos bestimmt ist, und zweitens das bedingt Hässliche, das deswegen besteht, weil der Stoff „noch nicht“ vollkommen von der in ihm bestimmend wirkenden Idee/Form durchdrungen sei.

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Ursprünge schon bei Platon und Aristoteles hat10, ist daher wohl die Einsicht, dass die Symmetrie-These es systematisch zulässt, dass aus (noch) nicht schönen Teilmomenten durch das bloße Hinzutreten der Symmetrie, also einer Proportion oder eines Maßverhältnisses, eines ‚Vielheitlichen‘, Schönheit entsteht (also, wenn man so will, ein emergenztheoretisches Konzept von Schönheit, dem hier ein dependenz- und partizipationstheoretisches entgegengesetzt wird). Plotin hat also zwei Bedenken: erstens könne ein Einfaches so nicht schön sein, zweitens würde ein Vieles so nur durch Hinzutreten eines selbst Vielheitlichen, eines Verhältnisses, schön. Er setzt bewusst gegen die stoische Symmetrie-These, die letztlich gerade auch eine materialistische Konnotation besaß, sein an Platon anknüpfendes Konzept von Schönheit als Einheit, einer Einheit, die noch zu dem wohl gefügten Vielheitlichen ‚hinzukommt‘ oder die ‚über es kommt‘ (eine superveniente Einheit): „Weshalb man denn auch hier auf Erden die Schönheit nicht so sehr in der Symmetrie zu erblicken hat, als in dem Glanze, der über die Symmetrie strahlt, und der den eigentlichen Reiz des Schönen ausmacht“ (Plotin, Enneade VI 7, 22, 25 f.). Dieses Schöne als Ausdruck von Einheit ist auf den verschiedenen Ebenen des Seins realisierbar bzw. realisiert. Nicht das Eine selbst ist ‚schön‘11 – ebenso wenig, wie es ‚gut‘ oder ‚eines‘ ist im Sinne des immer Vielheit implizierenden Denkens und seiner sprachlich-lautlichen Repräsentanz –, sondern im aus dem Einen hervorgegangenen Sein ist Schönheit ein zentraler Faktor, der auf das Eine als den Grund allen Seins verweist: Schönes findet sich also im Bereich des Geistes, als „intelligible Schönheit“, im Bereich der Seele, als sittliche Einstellung und als Wissen, im Bereich der Natur, etwa als Harmonie der Planetenbewegungen, im einzelnen Seienden bis hinab zum mineralischen Sein als Ordnung und Wohlgefügtsein von dessen Konstituentien.12 Es ist dieser Begriff des Schönen, also der eines „intelligiblen Schönen“ (ȟȡșijրȟ Ȝįȝցȟ, „pulchrum intelligibile“) als „Abglanz“ oder „Glanz“ des Guten/Einen, der sich in _____________ 10 11

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Platon, Timaios 87 C–D; Aristoteles, Metaphysica XIII 1078 a 36 ff., Topica III 1, 116 b 17 ff. Das Eine ist, als Grund und Prinzip von Schönheit, mit sprachlichen Mitteln – wenn sie nicht verneinend sein sollen – allerhöchstens als „über-schön“, als ՙʍջȢȜįȝȡȟ, zu bezeichnen, vgl. Beierwaltes (1989), 18, bes. aber 88 f. Dass strikte Einheit Schönheit ausschließe, sofern Schönheit auf Harmonie und Konkordanz beruht, behauptet, durchaus in Kenntnis Plotins und Ficinos, auch Giordano Bruno, vgl. De gl’eroici furori, I dialogo 4, 185: „Non è armonia e concordia dove è unità, dove un essere vuol assorbir tutto l’essere; ma dove è ordine et analogia di cose diverse; dove ogni cosa serva la sua natura“; zu Plotin vgl. ebd., dialogo 5, 225–227 (zu Enneade V 8, 11 in der Zusammenfassung des Ficino, Commentaria in Plotinum, fol. 1769). Vgl. hierzu auch den Passus aus Bruno zu Harmonie und Konsonanz, den ich unten Anm. 61 zitiere. Vgl. etwa Enneade I 3, 1, 20 ff. (Musik); 2, 1 ff. (Aufstieg zum nicht-sinnlichen Schönen: Sitten, Gesetze, Wissenschaften nach Platons Symposion); Enneade I 6, 3, 29; II 9, 16, 50 ff. (Strukturiertheit der Welt als Bild der Schönheit der [Welt-]Seele); zum sinnlichen, innerweltlichen Schönen vgl. Enneade II 9, 16, 39–43 (Musik); 51–56 (Malerei); 17, 25 ff.; zu „Glanz“ (mit Hintergrund Platon, Phaidros 250 D) vgl. Enneade VI 7, 21, 6: Ԑȗȝįտį; Synomyme sind dann etwa 22, 27: Ĵջȗȗȡȣ; 22, 1: Ĵ‫׭‬ȣ; 22, 25: ijր ԚʍțȝįȞʍցȞıȟȡȟ. Zur Sache Schöndorf (1974), 37.

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allem wirklichen Seienden findet, den man als genuin neuplatonischen Begriff des Schönen bezeichnen kann13, und es ist auch genau dieser Begriff, zusammen mit dem alles fundierenden Gedanken, dass das Göttliche oder das Eine selbst im höchsten Sinne schön oder die Schönheit sei, den wir, natürlich neben dem von Plotin kritisierten Begriff eines grundsätzlich und ausschließlich proportional verfassten Schönen, bei den Theoretikern der Renaissance finden können.14 Dabei sind zwei Momente wichtig: Zum einen wird die philosophisch präzise Absetzung des Einen oder des Guten von jeglicher Bestimmung, die es im Begreifensakt a parte hominis verkürzen oder einschränken könnte, unter Einfluss der christlichen Diskussion um die ‚Gottesnamen‘ aufgegeben und auch dem als Gott oder als göttlich gedachten Einen (Prinzip) das Attribut ‚schön‘ (in einem allerdings superlativischen Sinne) zugesprochen. Mit Blick auf Platon und Plotin ließ sich _____________ 13

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Hierzu ist, neben der Kontextualisierung des Nus und des Schönen in Enneade V 5, 3, 8; 8, 9 ff.; Enneade VI 7, 2–3, natürlich Plotins Abhandlung Über das intelligible Schöne (Enneade V 8) zu vergleichen, was hier nicht im Einzelnen geleistet werden kann. Es wird jedoch anlässlich der Diskussion von Ficinos Ansatz ein Licht darauf geworden werden. Nifo gibt die Position ebenfalls als „platonische“ wieder, vgl. De pulchro, c. 19, fol. 11v: „Pulchritudinem non esse certam membrorum proportionem, atque commensum cum quadam colorum suavitate secundum Platonicos“. Einen deutlichen Reflex der von Plotin diskutierten Problematik zeigt sich etwa in dem als „De placitis Academicorum“ betitelten Abschnitt aus Franciscus Georgius Venetus OFM, In scripturam sacram problemata, Tomus IV, sectio 4, wo in den Quaestionen zum Begriff der pulchritudo (qq. 343–345, fol. 328v sqq.) vor allem der Unterschied zwischen der aristotelischperipatetischen Auffassung und der platonischen herausgestellt wird: Die erstere fasse Schönheit „ex omnimoda lineamentorum & colorum proportione, quae reddat subiectum proportionatum, pulchrum, & delectabile“ (328v), die letztere jedoch allein erschließe auch ein Schönsein des Einfachen und Intelligiblen, vor allem der unkörperlichen Seele, da sie (wie Platon im Phaidros und Hippias) „ab illo pulchro a quo omnia pulchra“ ausgehe; vgl. q. 344, fol. 328v: „[anima] est subiectum magis dispositum ad divinam illam pulchritudinem suscipiendam, quam corpus. In ipsa anima residet imago Dei […] et si concinnum & proportionatum est pulchrum, quid concinnius quam illud in quo perfectissima consonantia beantur omnes“? Zum anderen, in der communis opinio geläufigeren Begriff von Schönheit vgl. etwa Giovanni Pico della Mirandola, De appetitu primae materiae libellus, 156–157: „Pulchri verò nomen tametsi rebus etiam compositis simplicibusque tribui quandoque soleat: nihilominus apud celebres autores, tam Platonicos quàm Peripateticos, non nisi compositis rebus exactè tribuitur. consistit enim in eximia quadam & eleganti diversarum partium compositione: ex quibus ipsa pulchritudo conflatur, indéque dissultat“. Leone Ebreo, Dialoghi d’amore, Dialogo terzo, p. 38r: „[bellezza] si truova ne gl’ogetti del viso, come son’belle forme, & figure, & belle pitture, & bell’ordine delle parti fra se stesse al tutto, & belli & proportionati stormenti, & belli colori […] & si truova be gl’oggetti de l’audito, come belle oratione, bella voce, bel parlare, bel canto, bella musica, bella consonantia, bella proportione, & armonia“; ebd., p. 100v, wo allerdings dann auf der Geistigkeit („spirituale essentia“) des Schönen insistiert wird: Es ist auch in seiner Realisierung im Körperlichen noch von diesem geschieden („astratta dal corpo“), die körperliche Schönheit ist, so p. 101v, eine „bellezza bassa, piccola, & superficiale“, nur „ombra e immagine de la spirituale“. Plotin selbst hatte allerdings auch schon das Eine und das SchönSein aufeinander bezogen, jedoch so, dass die Schönheit des Einen selbst (als Ȝչȝȝȡȣ ՙʍպȢ Ȝչȝȝȡȣ) „Ursprung des Schönen und Grenze des Schönen“ sei, als selbst „gestaltlose“ (ԔȞȡȢĴȡȟ) Schönheit gegenüber der gestalthaft formgebundenen prinzipiierten Schönheit; vgl. Enneade VI 7, 32.

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diese Attribution zudem durch Verweis auf den Gedanken rechtfertigen, dass ja das ‚Schöne selbst‘ Ursache des erscheinenden geistig und sinnlich manifesten Schönen sei und daher, wenn alle höchsten Bestimmungen und alle Ursächlichkeit nur dem Einen/Guten zukommen, auch das Eine/Gute selbst, als „causa pulchritudinis“, ‚schön‘ sei.15 Zum anderen müssen platonische Autoren, um die anagogische Funktion des Schönen als dessen wesentliches Merkmal herausstellen zu können, geradezu direkt die Konnotation von Schönheit und Proportionalität, sofern diese ausschließlich als ein Indikator des KörperlichMateriellen gedacht wird, mit Plotin zurückweisen16: „le bellezze corporali in quanto son bellezze, non sonno corporali“17. Das Nicht-Körperliche am körperlich Schönen ist die Präsenz von Einheit, die, in attrahierender, zum nachfragenden Denken anregender Kraft, die Seele des Betrachters „umwendet“ in die erkennende, sich selbst übersteigende Bewegung ‚nach oben‘.18

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Marsilio Ficino, In librum de divinis nominibus commentaria, fol. 1061: “Dicit tamen primum principium tam à Plotino, quam à Dionysio, ipsum pulchrum & pulchritudo prima, non quia sit formalis aliqua pulchritudo, sed quoniam prima causa pulchritudinis“. Beispielhaft tut dies etwa Leone Ebreo, der im dritten Dialog seiner Dialoghi d’amore einen wichtigen Passus der Diskussion gezielt auf die Frage fokussiert, ob das Schöne nicht etwas Körperliches sei oder zumindest eine Eigenschaft ausschließlich an Körperlichem. Vgl. Dialoghi d’amore, Dialogo terzo, p. 101r–v: „Pur’ communemente il vulgo ne li corpi principalmente pone la bellezza come propria di quelli […] le cose che non sonno corpo si chiamano belle, par’ che sia à similitudine de la bellezza corporea […] però che ne l’incorporei non havendo in se quantità ne dimensione non possono essere, ne grandi ne piccoli propriamente, se non à somiglianza de mensionati corpi, non meno par’che sia la bellezza propria de li corpi, & impropria & per similitudine de l’incorporei […] Oltra l’uso del vocabulo, che s’appropria alli corpi, quella dal vulgo si reputa essere piu vera bellezza, è ancora qualche ragione che la bellezza pare che sia la proportione de le parti al tutto, e la commensuratione del tutto in quelle, & cosi molti de li filosofanti l’hanno diffinita, adunque è propria del commensurabile corpo, e del tutto composto de le sue parti, & presuppone quantità in corpo propriamente, & se de le cose incorpore si dice, è perche a similitudine del corpo hanno parti de le quali sonno composte proportionalmente per ordine, come è l’harmonia, concordanza, & l’ordinata oratione, pero si chiamano bellezza a similitudine del composto, & proportionato corpo […]“. Diese kalkulierte Emphase für eine körperliche Schönheit oder für eine material fundierte, ausschließlich auf Verhältnissen von quantitativ unterschiedenen Teilen basierende Schönheit wird dann radikal zurückgewiesen, ebd. p. 101v–102v, 103v: „quantumque ne le cose proportionate, & concordanti si truova bellezza, la bellezza è oltre la loro proportione [!], onde non solamente ne li composti proportionati si truova, ma ancor‘ piu ne‘ simplici“. Leone Ebreo, Dialoghi d’amore, Dialogo terzo, p. 113v, sie sind also durch Partizipation vermittelte Schatten („ombre“) und Bilder („immagini“) der intelligiblen Schönheit/Formen. Es nimmt nicht Wunder, dass im unmittelbaren Kontext der Begriff „ascendere“ auftaucht: „ascendere da le bellezze corporali ne le spirituali“ (113v). Beierwaltes (1989), 91: „Das durch den Künstler hergestellte Bild ist […] ein Appell an den reflektierenden (nicht unmittelbar ‚genießenden‘) Betrachter, sich des Ur-Bildes zu erinnern“. Dazu Enneade II 9, 16, 48–49: „wer aber die Schönheit in einem wohl abgebildeten (nachgeahmten) Antlitz sieht, der wird auch dorthin [sc. zum Antlitz selbst] gelangen“ – „Ս Ȟպȟ Լİքȟ Ȝչȝȝȡȣ Ԛȟ ʍȢȡIJօʍ‫ ׫‬ı՞ ȞıȞțȞșȞջȟȡȟ ĴջȢıijįț ԚȜı‫“ ה‬.

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III. Alberti Leon Baptista Alberti, der einflussreiche Theoretiker der Kunst, entwickelt vor allem in seinem an Vitruv orientierten, voluminösen Werk De re aedificatoria einen wohl direkt an platonisch-neuplatonischen Vorgaben orientierten Begriff des Schönen, eines Schönen, das, wie bei Plotin, Cusanus, Ficino u. a., obgleich es im vielheitlich-körperlichen Bereich erscheint, dennoch über dessen durch Dimensionalität eingeschränkte Bedingungen hinausweist.19 Dieses ‚hinaus‘ nimmt auch unmittelbar die folgende Formulierung auf: Aber es gibt ein Weiteres [sc. darüber hinaus Gehendes] aus diesen allen Zusammengefügtes und Verbundenes, aus welchem [oder: durch welches] das ganze Antlitz der Schönheit auf wunderbare Weise wiederstrahlt: es ist dies, was bei uns concinnitas genannt wird, von welcher wir freilich auch sagen, dass sie der Zögling aller Charis und allen Schmuckes sei.20

Über das Zusammengefügte hinaus gibt es für Alberti eine zusätzliche Instanz innerhalb des konkreten Erscheinungsraumes, durch welche das Schöne oder die Schönheit auf „ganze Weise“ („tota facies“) zum Ausdruck kommt. Hierbei ist in Rechnung zu stellen, dass Alberti im Anfangspassus von De pictura (Della pittura) den Künstler (Maler) vom Mathematiker, dessen Wissen allerdings auch und gerade der Künstler besitzen muss – das gehört zu den Selbstnobilitierungskriterien des Renaissancekünstlers21 –, dadurch unterscheidet, dass in der Kunst die ‚Formen der Dinge‘ nicht losgelöst vom Stofflichen, also rein intelligibel, _____________ 19

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Zu Alberti und Cusanus vgl. jetzt: Cuozzo (2005). Alberti hatte dem Freund und Sekretär des Nikolaus, Johannes Andreas Bussi, neben der Arbeit De statua auch De pictura und die Elementa picturae zugesendet; letzteres findet sich in Cod. Cus. 112, fol. 67r–73r. Zu Albertis ‚Ästhetik‘ vgl. Mühlmann (1981). Leon Battista Alberti, De re aedificatoria, 815, fol. 164v: „Sed est amplius quippiam ex his omnibus compactis atque nexis, quo tota pulchritudinis facies mirifice collucescat: id apud nos concinnitas nuncupabitur, quam eamdem profecto omnis esse gratiae atque decoris alumnam dicimus“. Hierzu, ebenfalls mit Verweis auf Plotin, Mühlmann (1981), 20 f., 33. Diesen Begriff von „concinnitas“ sollte man, um von der Reduktion auf eine rein rhetorische Tradition (vor allem Cicero) auch einmal wegzukommen (vgl. hierzu die Arbeit von Patz [1986]), direkt vergleichen mit einem Konzept von Schönheit („pulchritudo“) als in Ordnung („ordo“) und Verhältnis („proportio“) sich zeigend, wie es etwa zeitgleich von einem Denker wie Nicolaus Cusanus entfaltet worden ist, vgl. Nicolaus Cusanus, De venatione sapientiae c. 30, n. 90: „ordo, qui est ipsa pulchritudo absoluta“, Zusammenhang mit varietas, multitudo, mundus und der grundsätzlichen „ordinabilitas“; n. 91: zu „proportio“: „ordinata igitur est in ipsis [sc. corporibus] magnitudo, ut sit pulchra, ut ex ipsis et ceteris membris magnitudo corporis pulchra resultet. Proportio igitur cuiuslibet membri ad quodlibet et ad totum ordinata est ab omnium ordinatore hominem pulchrum creante. Est enim proportio illa, sine qua una totius et partium eius ad totum relata habitudo nequaquam pulchra ordinatissimaque videretur“. Als Basis für Albertis Ansatz ist zudem immer auch Vitruv präsent zu halten, vgl. Vitruv, De architectura, I, 2, 4: „item symmetria est ex ipsius operis membris conveniens consensus ex partibusque separatis ad universae figurae speciem ratae partis responsus“. Leon Battista Alberti, De pictura III, n. 53, 93: „doctum vero pictorem esse opto, quoad eius [ei?] fieri possit, et artibus liberalibus, sed in eo praesertim geometriae peritiam desidero“.

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sondern im Stofflichen, obgleich auf Basis mathematisch-geometrischer Einsichten, realisiert werden müssen, während sie natürlich in mathematicis grundsätzlich immer abstrakt oder rein mental bleiben müssen. Dabei verwendet Alberti den markanten Ausdruck „più grassa Minerva“, was man wiedergeben könnte mit: „viel fettere Göttin der Weisheit“.22 Durch das komparativische „più“ insinuiert Alberti innerhalb des Kontextes, dass die Mathematiker sich ihrerseits an eine „più sottile Minerva“ halten, da ihre Formen sozusagen asketisch sind: Sie sitzen nur auf dem geringstmöglichen Materieanteil auf, dem der schmalen Kreide- oder Bleistiftzeichnung, und verweisen auch von diesem noch weg auf die rein mentale Ebene, in der Zahlen und geometrische Formen ihre eigentliche Entstehungsstätte und Heimat haben. In der Kunst hingegen muss diese Erscheinungs-Askese verlassen werden, sie muss „più grassa“ sein, jedoch andererseits auch ohne zu viel an überflüssiger Materialisierung zuzulassen und d. h. auch, ohne den Fundierungszusammenhang mit den ‚wirklichen‘ Wissenschaften wie der Geometrie zu verlassen.23 Mit den Ausdrücken „pulchritudo“ („bellezza“), „concinnitas“ („concinnità“) aber auch – in neuplatonischer Tradition – „gratia“ („grazia“)24 verweist Alberti immer wieder auf die gelungene Realisierung von reiner Form (Ideen, mathematische Verhältnisse) in einem optimal zubereiteten Materiesubstrat: die Sättigung des Substrates, sei es des Farbpigmentes in der Malerei, der verschiedenartigen Oberflächennatur von _____________ 22

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Leon Battista Alberti, De pictura I, n. 1, 11: „Pinguiore, ut aiunt, Minerva“, siehe auch: Della pittura (Über die Malkunst) I, 1, 67: „quanto dicono più grassa Minerva“. Vgl. dazu De re aedificatoria I, c. 1, 19–21: Die Risse der Baukunst, also Grundriss, Aufriss etc., sind nicht an die Materie gebunden („neque habet lineamentum in se, ut materiam sequatur; seclusa omnia materia“); die fundamentale mathematische Grundstruktur dieser Risse lässt es zu, dass ein und derselbe Riss sich an verschiedenen Bauwerken als deren Grundlage findet, diese also letztlich eine Formidee verwirklichen („una et eadem forma“). Zur Implikation von „più grassa Minerva“ vgl. Wilde (1994), 48–59, bes. 49: „This [sc. die Berufung auf die Göttin Minerva anstelle des Malerpatrons S. Lukas] signals not only Alberti’s wish to install Classical learning within the education of the artist, but also a new emphasis on the intellectual skills of the painter“. Die Kunst bzw. die Malerei, die sich der mathematisch-geometrisch konstruierten Perspektive (prospettiva) bediene, erhebe jetzt den Anspruch auf gleichen Rang und Realitätsbezug („representation of the real“) wie die anderen mathematisch fundierten artes, etwa Schiffahrt (navigatio) und Astronomie. Vgl. auch 54 ff. Hierzu Patz (1986), 272 f. Die Verbindung von Malerei und Wissenschaft (also: Malerei als Wissenschaft) wird, wie Patz richtig herausstellt, von den Künstlern immer mehr gesucht werden, vgl. Leonardo da Vinci, Philosophische Tagebücher, 30 f. Leon Battista Alberti, De pictura II, n. 35, 63: „Ex superficierum compositione illa elegans in corporibus concinnitas et gratia extat, quam pulchritudinem dicunt“. Diese Schönheit kann nach Alberti zunächst nur durch intensives Studium der Natur als eines „rerum artifex“ erfasst und analog, d. h. durch die analoge Umsetzung der Grundaktivität der Natur in ihrer Produktivität, die insbesondere als Komposition von Verschiedenem begriffen wird, durch den Menschen hervorgebracht werden: „ut naturam ipsam intueamur“; vgl. auch ebd., n. 37, 65. Zur gratia als sokratisch-platonische Bestimmung von Schönheit vgl. Nifo, De pulchro, cc. 23–24, fol. 14r– 15v, 15v: „Secundum Platonicos […] pulchritudinem esse gartiam quandam vivacem, et spiritalem, Dei radio illustrante, angelo primò infusam, inde animis hominum, postremo corporum figuris, et vocibus, caeterisque rebus, quae pulchrae censentur“.

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Bronze, Marmor, „pietra serena o dura“ in der Skulptur oder der Belastbarkeit entsprechender Stoffe in der Architektur hinsichtlich Tragfähigkeit, Stabilität, etc. Alle diese Materialisationsweisen des Schönen sind durch „venustas“, „formositas“ oder „concinnitas“ im Sinne der durch Vergleich („comparatio“) und harmonischen Ausgleich entwickelten Proportionalität bestimmt. Aber: Alberti differenziert auch zwischen einer „pulchritudo ipsa“, die aus der Philosophie gezogen werde („ex philosophia excerpta“), einer Schönheit in der Natur, die nicht vollkommen oder absolut schön sein kann, und einer Schönheit in der Kunst, die, obgleich sie sich auch an der Natur orientiert, dennoch wesentlich durch die absolute Schönheit als Maß bestimmt ist.25 Die Schnittstelle von absoluter Schönheit und Naturschönheit verortet Alberti wohl mit der platonischneuplatonischen (und der diese aufnehmenden christlichen) Tradition in der ‚inneren Harmonie‘ eines jeden Gegenstandes, d. h. in dem Inneren der Dinge, das als Bereich der sich entfaltenden natura naturans zu denken ist. Die hinter der äußerlichen Organisation und Erscheinung substantiell wirkenden Naturvorgänge, ihre Gesetzstruktur und ihre substantielle, ideale Einheit, ist das, was in der Natur selbst direktes Bild der göttlichen Entfaltungskraft ist. Es ist dieses Potential im Natürlichen, das ‚nachgeahmt‘ werden soll, damit nicht nur direkte Abbildungen der sichtbaren Formgestalt der Dinge erreicht werden, sondern vermittelte, durch den menschlichen Geist in Analogie selbst hervorgebrachte Eigenschöpfungen. Die concinnitas, die insbesondere im neunten Buch von De re aedificatoria zum zentralen Begriff wird, ist nichts anderes als diese ‚innere‘ Zusammenstimmung, die sich direktem anschaulichen Zugriff zunächst entzieht. Kunst muss philosophisch sein, indem sie in einem ersten Schritt sich die innere Struktur der Dinge erschließt und diese als Konzinnität erfasst, dann, in einem zweiten, umgekehrten Schritt schaffend-produktiv, indem sie die Konzinnitätskriterien („apta collocatio“) wieder in ästhetische Werte umsetzt.26 Diese innere Struktur _____________ 25

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Leon Battista Alberti, De re aedificatoria VI c. 2, 449: Die Naturschönheit schafft es nicht, „ut in medium proferat, quod plane absolutum atque omni ex parte perfectum sit“; die Kunst hingegen muss zwar auch auf die Natur schauen, sie darf diese jedoch nicht plan abbilden (Natur-Mimesis), sondern muss versuchen, das Innere der Natur („ex intimis penetralibus“) zu erfassen und die natura naturans nachzuahmen, vgl. De re aedificatoria IX c. 5, 811–825; dadurch erreicht Kunst das Niveau der „invenzioni“ (Della pittura [Über die Malkunst] III n. 53, 150 f.). Grundsätzlich unterscheidet Alberti eben auch zwischen einem substantiell Schönen als zur Sache gehörig („suum esse“), eingeboren („innatum esse“) und alles durchdringend („perfusum esse“), und einem bloß äußerlich, ornamental Schönen („affictum, compactum“), De re aedificatoria VI c. 1, 447–449 (fol. 93v). Zur Sache vgl. immer noch Michel (1930), 352 f., 362, 415 f. Dass das „per se pulchrum“ dem „ipsum intelligibile“ gleichgestellt ist, ist eine Grundeinsicht der platonischen Tradition, die dann bei Ficino und dessen Schule wieder in aller Deutlichkeit vertreten wird, vgl. etwa Franciscus Cataneus Diacetus, De pulchro libri tres, I, c. 2, 16 und die Ausführungen weiter unten. Leon Battista Alberti, De re aedificatoria VI c. 4, 459 f.; IX c. 5, 817 f.: Kategorien von Schönheit sind: „numerus“ („quantitas“, dimensionale Verhältnisse), „finitio“ („qualitas“, qualitative Begrenzungen des Quantitativen), „collocatio“ („positio“, „situs“, „sedes partium“; Anordnung der ersten beiden Kategorien); „concinnitas“ wird dann bestimmbar als „apta collocatio“ und „certa cum ratione concinnitas universorum partium“.

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der Dinge ist gerade nicht das, was eine rein mimetische, den empirischen Befund aufgreifende Kunst wiedergeben kann (wie sie Alberti selbst etwa in De pictura bestimmt27), sondern greift von der äußeren auf die innere Form, d. h., platonisch gesprochen, auf die Idee und deren Potential über, vor allem aber auf dasjenige, was man als die dynamischen, ding- und wirklichkeitskonstituierenden Kräfte des menschlichen Geistes bezeichnen könnte, der in Analogie zum Schöpfergott seine Kunstwelt als Bild der konkreten Welt erschafft28: Denn es ist allein die Kunst, etwa die Malerei, die die dem Menschen schönsten und wertvollsten Dinge noch schöner und wertvoller machen kann – damit also direkt über die rein mimetische Ebene hinaus auf eine transformierende, produktive, innovative Ebene schreitet.29 Wie nahe Alberti damit Überlegungen gekommen ist, die Marsilio Ficino etwas später in einem genuin philosophisch-spekulativen Kontext und in direktem Rückgriff auf Platon und Plotin systematisch entwickelt hat, soll im Folgenden deutlich werden. Festgehalten werden kann, dass für Alberti das Ingenium des Künstlers nicht so sehr durch den inspirativen furor bestimmt ist, als vielmehr durch die Aktivität des Verstandes und des Geistes (ficinisch oder cusanisch gesprochen: der mens).30 _____________ 27

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Leon Battista Alberti, De pictura, I, 11: „nam ea solum imitari studet pictor quae sub luce videantur“; vgl. auch II, 63, wo allerdings das „imitari“ sich auf die Produktivität der Natur (der ars Dei bzw. des artifex rerum) selbst bezieht und schon einen deutlich erhöhten Stellenwert erhält. Als solche dynamisch-operationalen Kräfte führt Alberti in De pictura ein: erstens die „comparatio“ bzw. „vis comparationis“ (I, 35), zweitens die „vis oculorum“ (I, 15), die zum Messen („metiri“) der Lichtdifferenzen und damit der Abstände innerhalb der Lichtpyramide dient, sowie, zusammen mit der „comparatio“, der Realisierung der Hauptkomponenten „circumscriptio“, „compositio“, „luminum receptio“ dient (II, 53 f.). Die mit der Umsetzung dieser Kräfte verbundene Überschreitung des empirischen Ding-Status hin zu einer durch das freie Potential des Geistes/Ingeniums ermöglichten Intensivierung (siehe nächste Anmerkung) ist es, die begründet, warum Alberti sagen kann: „nam est pingendi ars profecto liberalibus ingeniis et nobilissimis animis dignissima“ (II, 51). Zur nicht-mimetischen, sondern produktiven Kompetenz von Kunst, insbesondere der Malerei, bei Nicolaus Cusanus vgl. jetzt Leinkauf (2006b), 204–212. Leon Batista Alberti, De pictura, II, 45: „[…] quod nullam ferme dabis rem usque adeo pretiosam, quam picturae societas non longe cariorem multoque gratissimam efficiat. Ebur, gemmae et istiusmodi cara omnia pictoris manu fiunt pretiosora“. Es ist gerade diese Kompetenz des Steigerns und Übertreffens, die über das rein Imitatorische doch hinausgeht und die die Ursache dafür ist, dass die Künstler sich als den Göttern gleich einschätzten: „has ergo laudes habet pictura, ut ea instructi cum opera sua admirari videant, tum deo se paene simillimos esse intelligant“ (II, 47; damit führt Alberti den Renaissance-Topos des alter deus in seine Bestimmung des Status der Malerei ein). In diesen Kontext gehört auch die enge Verbindung von „manus“ und „ingenium“, die sich im dritten Buch von De pictura finden lässt, vgl. De pictura, I, 24: „Sequitur ut pictorem instituamus quemadmodum quae mente conceperit ea manu imitari queat“; III, 59. Diese Hervorhebung der Hände findet sich auch bei Ficino, vor allem aber dann im Werk des Giordano Bruno; sie ist Dokument der intensiven anthropologischen Reflexion der Renaissanceepoche. Bätschmann spricht von einer „Vergeistigung der Hand“, Della Pittura

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IV. Ficino Marsilio Ficino, der unbestritten bedeutendste Interpret Platons und des Neuplatonismus in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, fragt in seinem einflussreichen Kommentar zum Symposion des Platon De amore: „Was ist denn nun letztlich die Schönheit des Körpers?“, um sogleich hinzuzufügen: Tätigkeit, Lebendigkeit [Lebhaftigkeit] und eine gewisse Anmut (gratia) seiner Idee, die durch einen Einfluss in ihm [sc. dem Körper] selbst zurückstrahlt. Auf diese Weise steigt der Strahl in die Materie jedoch nicht hinab, bevor diese nicht aufs angemessenste vorbereitet [zubereitet] ist. Diese Vorbereitung des lebendigen Körper[substrate]s basiert auf [folgenden] drei [Faktoren]: Ordnung, Maß[stab], Gestalt.31

Aber auch hier ist eben gerade darauf zu achten, dass die Vorbereitung („praeparatio“) des materiell-körperlichen Substrates nur die conditio sine qua non für das Hinzutreten des Schönen selbst ist, schärfer noch ist für Ficino die körperliche Schönheit, wie überhaupt Schönheit, noch etwas, das, als Schönheit, zur bloßen dimensionalen Proportioniertheit hinzutritt. Hatte Ficino in seinem Kommentar zu Plotins Enneade I 6 Schönheit als Form oder „pulchritudo formalis“ vom Grund oder der Ursache des Schönen als dem reinen Guten („ipsum bonum“) angesetzt, um damit in einem zunächst primär ontologischen Zugriff den ganzen Bereich des aus dem Einen-Guten hervorgegangenen Seienden („ipsum ens“) als ein solches formal-Schönes zu bestimmen (jede das Seiende zum Ausdruck bringende „species“ ist damit also eo ipso ‚schön‘), so fügt er dabei hinzu, dass der Modus dieses Hervorgehens als ein Glänzen zu verstehen sei, als eine Ausstrahlung gewissermaßen („radiatio“), so dass die Einheit des Einen (Guten) sich als in bestimmter Hinsicht vielförmiger oder vielgestaltiger Glanz („splendor quodammodo multiformis“), der dem Bereich des Seienden koextensiv ist, zeige.32 Dieser sehr weit gefasste ontologisch _____________ 31

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(Über die Malkunst), 74. Mehrfach wurden in letzter Zeit auch Bezüge von Albertis Denken zu seinem Zeitgenossen Nicolaus Cusanus hergestellt, vgl. Wilde (1994), 53 und Wolf (1999). Marsilio Ficino, De amore V c. 6, 188: „quid tandem est corporis pulchritudo? Actus, vivacitas, et gratia quaedam ideae suae influxu in ipso refulgens. Fulgor huius modi in materiam non prius quam aptissime sit praeparata descendit. His vero tribus, ordine, modo, specie constat viventis corporis praeparatio“. Niccolò Vito di Gozze, Dialogo della bellezza detto Antos secondo la mente di Platone, 22 übernimmt dies direkt: „la preparazione della bellezza alla grazia consiste in tre cause: cioè nell’ordine, nel modo e nelle forme, o specie“ (vgl. auch Garin [1993], 141). Leone Ebreo definiert Schönheit geradezu durch „gratia“, vgl. Dialoghi d’amore, Dialogo terzo, p. 37r: „La bellezza è gratia che dilettando l’animo col suo conoscimento il muove ad amare“; 37v: „gratia che diletti, & muova l’animo aproprio amore (qual si chiama bellezza)“, sie ist, wie auch schon bei Ficino, begrenzt auf den Ambitus der beiden „sensi spirituali“ Sehen und Hören, vgl. auch ebd., p. 100v–101r; 106r, 107v, 113v: „gratia formale“ wird mit „bellezza“ gleichgesetzt. Marsilio Ficino, In librum de pulchritudine commentarius, c. 7, fol. 1578: „quodammodo multiformis (splendor)“; fol. 1573: „ipsum bonum“ ist die „causa pulchritudinis“, das „ipsum ens“ ist die „pulchritudo formalis“. Allgemein wird der Bereich des Schönen als der der

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fundierte Begriff von ‚Schön(heit)‘ ist Form- und Einheits-zentriert, d. h. sein Kernbereich wurzelt im geistigen Schönen, sein Grenzbereich ist das in die materielle Komplexität eingegangene Schöne.33 Dies letztere, das auch die harte Grenze zur deformitas und zur bloßen opaken Materie darstellt, gewinnt Bedeutung im Wesentlichen dadurch, dass es das Initial der Wendung des auffassenden Bewusstseins nach Innen ist: Vom sinnenfälligen Schönen geht ein, bisweilen, wie Ficino festhält, gewalttätiger („violentus“) Impuls aus, eine Attraktivität und ein Affekt, der das Individuum erschüttert.34 Die, um mit Alberti zu sprechen, „più grassa Minerva“ weist damit Qualitäten sui generis auf, obgleich sie selbst ein direktes Explikat jener subtileren, ja rein geistigen Minerva ist. Entscheidend ist, dass Schön-Sein grundsätzlich als Entfaltung des EinenGuten im Vielen mit Betonung auf der Einheit im Vielen verstanden wird. Je intensiver also das Schöne sich gleichsam in die komplexe Struktur des Materiellen einbindet, um so intensiver muss es, um Schönes zu bleiben, diesen Zuwachs an Vielheit vereinheitlichen – ansonsten würde eine Zunahme solcher Komplexität an sich zu einer Minderung seiner ursprünglichen Qualität führen. Grundsätzlich muss also, so kann man daraus schließen, über oder jenseits des Vielen, auch des schon gegliederten, proportionierten, harmonierten Vielen, noch einmal ein auf die reine Einheit hin zurückversammelndes Eines hinzutreten. Der Grundgedanke des Hinzukommens – eigentlich müsste man eher sagen: der vorgreifenden Präsenz des Einheitsgrundes in jeglichem Vielheitlichen (Hervorgegangenen, Geschaffenen35) ist neuplatonisch und wird von Ficino nicht nur in _____________

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„formositas“ bezeichnet, c. 2, fol. 1575; c. 3, fol. 1576, im Anschluss an Plotins Begriff des ȜȢչijȡȣ, als „imperium formae super subiectum“. Nicolaus Cusanus, Sermo CCXLIII n. 6: „[pulchritudo esse] splendorem formae […] super partes materiae proportionatas et terminatas, sicut corpus dicitur pulchrum ex resplendentia coloris super membra proportionata“ (auch hier ist die Verwendung von „super“ signifikant). Leone Ebreo, Dialoghi d’amore, Dialogo terzo, p. 103v: Die Schönheit „viene dal mondo spirituale“ und zwar als „forme radiate“, als ausgestrahlte und dann vom materiellen Ding rezipierte bzw. partizipierte Form; auch hier findet sich, wie bei Ficino, das „dominium“, vgl. p. 104r: „perche la forma essentiale sua meglio ha dominato la materia“ (als Kriterium für die Intensität von Schönheit). Siehe auch den Schlussteil von Baldassare Castiglione, Il Cortegiano, 409: Die Schönheit ist ein „flusso della bontà divina, il quale […] si spande sopra tutte le cose create come il lume del Sole“. Vgl. Plotin, Enneade V 3, 8, 13 ff., 31–32: Die Seele „liebt“ und ist zufrieden mit dem „Glanz“ des rein geistigen Lichtes, den sie, indem sie sich auf sich selbst in ihrer eigenen Geisthaftigkeit, auf den Geist in ihr, zurückwendet, in sich und durch sich erzeugt. Durch diesen noetisch-reflektierenden Akt der Seele wird der Geist „gesehen“ oder für uns „sichtbar“ gemacht, ebd. 8, 53–54: „so daß man durch sie als ein Bild in bestimmtem Maße Jenen sehen kann“ (Übersetzung Beierwaltes [1991], 39). Marsilio Ficino, In librum de pulchritudine commentarius, fol. 1574 zu den Denominationen des Schönen als „forma“, „species“, „unitas“ etc.; c. 2, fol. 1575: „formositas“. Marsilio Ficino, In librum de pulchritudine commentarius, fol. 1574: „ab extrinseco rapit“, „amatorius affectus“; das Streben oder Begehren des Schönen „cum sit minus naturalis, nonnihil violentum habere videtur“, schon zuvor war von der „violentia aliqua“ die Rede; c. 1, fol. 1574: „voluptas“. Ficino parallelisiert auf eine für seinen christlichen Platonismus typische Weise auch und gerade in seinen Kommentierungen der platonischen Autoren immer wieder platonische Metaphysik

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der unmittelbaren Exegese plotinischer Texte übernommen. Hier geht es nur darum, dass diese These als ihr unmittelbares Implikat die Präsenz der Einheit im Vielen als Einheit und nicht schon sogleich als Vielheit aufweist. Also: Analog zu der bekannten Einsicht, dass die Einheit des höchsten Einen auch, vermittelt über die zeitfrei komplexe Einheit des Geistes (ȟȡ‫ף‬ȣ), in der diskursiv vielheitlich strukturierten Einheit der Seele als deren sachlicher Grund gegenwärtig ist, muss auch gesagt werden, dass die Einheit des höchsten Einen, vermittelt über die Ausstrahlungen („radiationes“) und Einflüsse („influxûs“), in dem einzelnen Seienden gegenwärtig ist. Ficino bezeichnet das nach außen wirkende Resultat dieser Präsenz als Schönheit und (Wohl)Geformtheit („formositas“) in der Einheit der Spezies-Gestalt, damit die neuplatonische „gratia“ (ȥչȢțȣ) deutend, die uns im Erfassen eines Vielheitlichen, vermittelt über die Grade der Ausprägung von EinVielheit (als Proportion, Harmonie, Symmetrie), von diesem weg leitend auf sich selbst als den unmittelbareren Abglanz des Einen (Guten) zurückruft.36 Die ‚neuplatonische‘ Ästhetik kann also grundsätzlich ihren letzten Zielpunkt nicht im Kunstwerk besitzen, sei dies als rein für sich einstehendes, ingeniös geformtes Sinnending, sei dies als über sich hinausweisendes Zeichen gemeint. Sie muss immer die rein intelligible Form, die Idee oder die geistige Gestalt als das eigentlich Schöne ansetzen: „die Form und Schönheit ist“, wie Ficino mit Blick auf Plotin klar herausstellt, „im Geist (in mente) herausragender als in irgendeinem Werk der Kunst. […] da sie ja im Werk auseinandergezogen, im Geist hingegen nahezu als Einheit gegeben ist“.37 Jegliches „aus Vielem _____________

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(zeitlose, nicht-schöpfungsfundierte ontologische Ordnung) und christliche Religion (zeitgebundene, schöpfungstheologisch fundierte Ordnung). Vgl. hier In librum de pulchritudine commentarius, fol. 1574, wo die sechste ontologische Entfaltungsstufe des „splendor divinus“ oder der „lux divina“, die sog. „natura universalis“, mit dem sechsten Schöpfungstage verglichen wird: „in hoc sexto die Opera Dei propria finem accipiunt“. Zur Sache vgl. Leinkauf (2006a). Zum Stellenwert der Natur als „instrumentum Dei“ oder „ars Dei“ vgl. etwa Petrus Gregorius Tholosanus, Commentaria in prolegomena sytaxeôn mirabilis artis, c. 5, 140, weiterführend Leinkauf (1993), 35–129. Ficino greift hierbei die etymologisierende Deutung des griechischen Begriffs ‚schön‘, Ȝįȝցȟ, zunächst durch Platon und dann die Neuplatoniker selbst, auf: Ȝįȝցȟ wird dabei auf das Verb Ȝįȝı‫ה‬ȟ, ‚rufen‘, zurückbezogen: „proprium vero pulchritudinis est allicere simul & rapere. Unde graecè Calon, quasi provocans appellatur“. Vgl. Platon, Kratylos 416 C f.; Dionysius Areopagita, De divinis nominibus IV 7, 701 C (Ficino hat den Text des Areopagiten kommentiert, In librum divinis nominibus commentaria, fol. 1065: „amor inferiora revocans“ etc.). Zum Gedanken, dass das Schönsein einer Sache eigentlich jenseits („oltre“) ihres bloßen Proportioniertseins zu denken sei, vgl. die deutliche Position auch noch des Leone Ebreo im dritten Dialog seiner Dialoghi d’amore; zu „gratia“ bzw. „gratia formale“ als Definition der Schönheit bei Ebreo vgl. oben Anm. 18. Marsilio Ficino, Liber octavus de intelligibili pulchritudine, c. 1. Annotationes, fol. 1767: „concludimus formam pulchritudinemque in mente praestantiorem esse, quam in [n]ullo artis opere. […] quoniam in opere [sc. artis] quidem distracta, in mente vero prorsus unita“. Das „in nullo artis opere“ muss u. E. nach hier in ein „in ullo artis opere“ geändert werden. Sofern Schönheit und Formhaftigkeit (formositas) zusammen gehören und sofern letztere ursprünglich dem Geist affin oder verwandt ist, insofern ist auch das Schöne eine genuin Geist-affine

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zusammengezogene Eine“ („ex multis coacervatum unum“) hat ein ihm Vorgeordnetes, das sich selbst (als Eines) in Vieles entfaltet („seipsum evolvit“), das also nicht nur resultativ, sondern produktiv, nicht nur zweitinstanzlich, sondern genuin ist.38 Wenn ein solches genuin Einheitliches sich im resultativen Einen (etwa dem Kunstwerk) nicht mit zum Ausdruck bringt, kann nach Ansicht dieser Denkschule nicht von Schönheit sinnvoll gesprochen werden. Andererseits kann eben hier aber auch davon gesprochen werden, dass Schönheit eigentlich überall gegenwärtig ist, sofern mit ihr nicht nur die in sich stimmige Gestalt- oder Formqualität von Seiendem gemeint wird, also das, was eine Ontologie der Entfaltung und Seinskonstitution reflektieren würde, sondern der Aspekt an solcher formositas, der als ihre konversionale, ins Eine zurückwendende oder „zurückrufende“ Eigenschaft zu denken wäre.39 Dann ist es nämlich auch nicht unsinnig, von ‚geistiger‘ oder ‚intelligibler‘ Schönheit zu sprechen. Es bleibt, mit Blick auf diese konversionale Grundstruktur, jedoch ebenso auch unabdingbar, Schönheit nicht vom konstitutiven, stabilisierenden Aspekt abzutrennen: Es ist dieselbe Ordnung, die, resultativ, das Sein stabilisiert, ihm Struktur und Gestalt, Möglichkeit zu verlässlicher Funktion und Prozessualität verleiht, und die, akthaft, produktiv wie reduktiv, es von dieser rein zeitlichen und Jetztgebundenen Existenz freisetzt. So definiert Ficino zum einen in seinem PlotinKommentar Schönheit als durch den Geist vollzogene Loslösung oder Ablösung des Lebendigen und Spontanen vom materiellen Trägersubstrat, und in seinem wirkungsgeschichtlich einflussreichen Kommentar zum Symposion Platons wird diese Lebendigkeit von der anderen, entfaltungstheoretischen Seite her als Zurückstrahlung oder Wiederschein der „Wirklichkeit, Lebendigkeit und Anmut“ der Idee des Körpers (Einzeldings) in diesem selbst bestimmt. Sowohl im Seinskonstitutiven und stabilisierenden Hervorgang als auch im denkenden, das Sein in seinen Grund und Ursprung vermittelnden Rückgang ist ‚Schönheit‘ dabei gedacht als Lebendigkeit oder Aktualität.40 Verbindet man dies mit den systematischen Ausführungen Ficinos zu Beginn seines Kommentares zur Enneade I 6, so wird deutlich, dass es die letzte Entfaltungsform des Einen ist, die „natura universa“ oder die „vegetalisch-lebendige“ Form des Seins, in der sich die _____________ 38

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Seinsweise, vgl. In librum de pulchritudine commentarius, c. 1, fol. 1575: „formae [sunt] menti propinquae“. Marsilio Ficino, Liber octavus de intelligibili pulchritudine, c. 5. Annotationes, fol. 1768: „ante unum ex multis coacervatum est unum, quod seipsum evolvit in multa, & ante hoc ipsum simpliciter unum“. Marsilio Ficino, In librum de pulchritudine commentarius, c. 2, fol. 1575: „ubique vero formositas est absoluta quaedam perfectio, sive gratia, & quasi flos quidam ipsius formae praecipuè formis aliis dominantis“. Den Zusammenhang von pulchritudo und perfectio finden wir auch bei Diaceto (siehe weiter unten) und Leone Ebreo, Dialoghi d’amore, Dialogo terzo, p. 100r: „essendo il primo bello il sommo opefice de l’universo, la bellezza d’ogni cosa creata è la perfettione de l’opera fatta in lei dal sommo artefice“. Marsilio Ficino, De amore V c. 6, 188 (vgl. oben Anm. 15): „actus“, „vivacitas“, „gratia“. In librum de pulchritudine commentarius, fol. 1574: „vera enim puchritudinis ipsius forma est ipsa vita per actum mentis penitus absoluta“.

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Ideen als Seminalformen und Logoi zeigen, in der Schönheit zu dem uns primär zunächst zugänglichen sinnenfälligen Ausdruck kommt. Hier denkt der Theoretiker der Renaissance, sich vollständig im Rahmen der platonischen Tradition einordnend, doch einen Aspekt des Schönen intensiver, der sich dann im Kontext der Diskussionen zum Ingenium weiter entfalten wird: Schönheit als Lebendigkeit, d. h. als sich aktiv in und durch Vielheit hindurch vermittelnde Einheit. Diese Vielfältigkeit als „vivacitas“ und als „actus“ ist, als selbst auf den Formaspekt bezogen – und nicht so sehr auf den Funktionsaspekt, der das vorreflexive Existieren, Sichselbsterhalten und Funktionieren betrifft – dasjenige, was die schon erwähnte Geist-Affinität und Sensibilität ausmacht. Dass intelligente Wesen auf das Schöne hin anfällig sind, seiner Attraktivität geöffnet sind, fundiert ja auch Ficinos Einsicht, dass zwar alles sich am Guten orientiert, nicht alles jedoch zum Schönen hinstrebt.41 Das Erstreben des Schönen folgt daher einer Art Überwältigung, wird als Affekt und Passion erfahren, nicht so sehr als Naturtrieb oder Instinkt. Der Macht und Herrschaft der Form gegenüber der Materie, wie sie schon Plotin erwähnt (und Ficino notiert sich dies genau), entspricht anscheinend eine Macht und Herrschaft, die vom Schönen als Eigenschaft der Dinge („in rebus“) ausgeht, sich im Affekt, der Begierde („voluptas“) und dem Sich-Erfreuen („delectatio“) im Seelischen niederschlägt und dann in eine geistige Reflexion übergeht.42 In seinem Hauptwerk Theologia platonica verdeutlicht Ficino an einer denkwürdigen Stelle nicht nur die erwähnte Bedeutung des Ingeniums, sondern zusätzlich, wie ich meine, gibt er auch einen klaren Hinweis darauf, was die „formositas“ und „pulchritudo“ jenseits der natürlich auch für ihn wichtigen Faktoren „dispositio“, „figura“ und „proportio“ eigentlich zum Ausdruck bringt: Es ist das Sichselbstausdrücken der Seele des Künstleringeniums, das sich durch die einzelnen proportional-vielheitlichen Aspekte hindurch vollzieht.43 Die Einheit der Seele zwingt gleichsam die Vielfalt des Dargestellten in eine individuelle, singuläre, repräsentationale Einheit in der Vielheit. Verbindet man die Überlegungen zum Schönen als derjenigen Anmut, die über das Proportionale hinaus zu genuinem Ausdruck kommt, mit dieser Aussage zur sich selbst zum Ausdruck bringenden Seele, so kann man für Ficino _____________ 41

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Marsilio Ficino, In librum de pulchritudine commentarius, fol. 1574: „omnia quidem appetere bonum: non omnia pulchrum, sed eos duntaxat qui iudicium quoddam pulchritudinis habent […] tamen appetit[i]o pulchri, quasi ab extrinseco rapit, cognitionemque necessario sequens“. Da das im Text gegebene „appetito pulchri“ direkt parallel zu dem vorhergehenden „appetitus boni“ zu verstehen ist, von dem es abgesetzt wird, schlage ich als Emendation „appetitus pulchri“ oder, näherliegend, die Ergänzung von „appetito“ zu „appetitio“ vor. Alles im Abschnitt fol. 1574: „Ipsa pulchritudo formalis est ipsa mens: cuius illecebris admiscetur admiratio, vis, diffusio, voluptas“ des Kommentares zu Enneade I 6; vgl. dort aber auch c. 2, fol. 1575–1576, das unter dem Index des Sieges („victoria“) der göttlichen (Natur) und der menschlichen Kunst („ars“) über die Materie steht. Marsilio Ficino, Theologia platonica sive de immortalitate animorum X c. 4, 69–70: „In picturis autem aedificiisque consilium et prudentia lucet artificis. Dispositio praeterea et quasi figura quaedam animi ipsius inspicitur. Ita enim seipsum animus in operibus istis exprimit et figurat, ut vultus hominis intuentis in speculum seipsum figurat in speculo“.

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sicherlich sagen, dass der konversionale Impuls am Kunstwerk, der eine attractio voraussetzt, durch eine Schönheit erzeugt wird, die zugleich Anmut und Seele ist.

V. Ficino-Schule Dass jeder körperlichen Schönheit eine rein geistige Schönheit ontologisch vorgeordnet ist, wird auch in der sich unmittelbar anschließenden Schule des Ficino durchgehend festgehalten, so etwa bei Francesco Cataneo Diaceto in seinem Traktat De pulchro oder bei Leone Ebreo in seinen Dialogo d’amore.44 Auch Diaceto lässt, wie Ficino, das Sein insgesamt im Einen seinen absoluten Grund haben. Wenn aber Eines und Gutes, immer mit Platon, Plotin und Ficino, selbst ein Eines und Selbes („idem“) sind, dann gilt: Alles Sein ist, sofern es selbst ein Eines ist, auch ein gutes Sein, repräsentiert das Gute selbst im Vielen; es gilt aber auch: Alles Sein, sofern in ihm das Eine im Vielen sein Eines- oder Gutsein geltend, sichtbar und erfahrbar macht, ist ein schönes Sein und repräsentiert das Eine und Gute als Entfaltetes im Vielen.45 Das Gute ist der Einheitsaspekt am Sein, das Schöne der Vielheitsaspekt, jedoch nicht so, dass im Schönen das Viele als Vieles, als reines Auseinander, als Differenz, als Gegensatz, als Unterschied und Pluralität zu denken ist, sondern so, dass in ihm sich das Zusammen im und durch das Auseinander, die Identität in und durch die Differenz, die Einheit in und durch den Gegensatz, das Singuläre in und durch das Plurale manifestieren. Schönheit ist für Diaceto somit das äußere Hervorbrechen _____________ 44

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Cataneus Diacetus, De pulchro I, c. 9, 75: „Est itaque pulchritudo non per se ens, non per se vita, non per se numerus, non per se ordo, non per se proportio, sed gratia quaedam splendorque ac flos boni“. Leone Ebreo, Dialoghi d’amore, Dialogo terzo, p. 10r: Die „somma bellezza consiste ne l’intelletto divino, nel quale tutto l’universo è bellissimamente figurato“, von diesem absoluten Schönen ist alles innerweltliche Schöne – sei es psychologisch, sei es kosmologisch verstanden – unmittelbar abkünftig; vgl. ebd. p. 38v: „la somma gratia, e bellezza che è nel creatore e fattore di tutte le cose“, p. 100r, diese höchste Schönheit ist auch für Ebreo eine rein geistige oder spirituelle Schönheit, die letztlich nur durch den Geist („mente“) erfassbar ist; p. 124r: Der erste Ursprung („origine“) des Schönen ist nicht selbst schön oder die Schönheit: „Dio non è bellezza, ma è origine de la prima & vera bellezza, che è la somma sua sapientia, & intelletto ideale“. Zur Ficino-Schule vgl. Garin (1993), c. IV: „Platonismo e filosofia dell’amore“, 133–154, wo, neben den hier genannten, auch noch auf sachlich parallele Stellen bei Pietro Bembo, Giovanni della Casa, Baldassare Castiglione u. a. hingewiesen wird. Cataneus Diacetus, De pulchro I, c. 2, 14–15: „nam si unum et bonum idem sunt, quod illic est unum perinde est et bonum; at multitudinis merito pulchrum, velut externum, boni assecla est“. Das Schöne ist also die durch Vielheit vermittelte unmittelbare ontologische Konsequenz des Guten. Zur Unterscheidung von Gutem und Schönem, jetzt allerdings auf einer psychologischurteilenden Basis, vgl. auch Leone Ebreo, Dialoghi d’amore, Dialogo terzo, p. 32v–33r: „il bello è appropriato à chi l’ama, che quel che à un’par’bello non pare à un‘ altro, ma il buono è comune in se stesso“. Vergleichbar zur ontologischen These ist hier, dass dem Guten ein Einheitscharakter, dem Schönen ein Vielheitsmoment zukommt. Ebreo diskutiert die Differenz von „buono“ und „bello“ dann ausführlicher p. 36r–37r: „ogni bello è buono […] sia in essere, sia in apparentia, non però ogni buono è bello“ (36r).

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des inneren Gutseins einer Sache, deren äußere, manifeste und sinnenfällige Vollkommenheit: „interna bonitas in exteriorem exuberat perfectionem, quam quisquis pulchritudinem dixerit, recte appellabit“, für Ebreo hingegen das Ausstrahlen der unifizierenden („unificando il tutto et le parti“) Kraft der Wesensformen.46 Für Diaceto sind daher auch die Zahlen, als Indikatoren des durch eine Basiseinheit vermittelten Pluralen schlechthin, „dem Schönen Freunde“ („amici pulchro“).47 Horizont des Schönen ist daher, wie bei Ficino, das aus dem Einen (das nicht selbst Schönes, sondern Prinzip von Schönheit ist) hervorgangene Seiende, das er, wie dieser (und im Rückgriff auf Porphyrios und Proklos), als „seiendes Eines“ („unum ens“, „ԣȟ Րȟ“) bezeichnet.48 Diesem seienden Einen „wiederstreitet die Vielheit nicht“ („cui non repugnat multitudo“), es ist durch Zahl und Differenz bestimmt. In ihm ist Schönes als Ausfluss und Entfaltung des Guten in die äußere, vielheitliche Vollkommenheit (dies alles aus Ficino: „gratia“, „splendor“, „flos boni“). Für Diaceto ist nun diese zunächst und _____________ 46

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Cataneus Diacetus, De pulchro I, c. 9, 74. Vgl. Thomas Campanella OP, Physiologia epilogistica, c. 14: „De pulchritudine obiter“, 107–108, der eindeutig in dieser Tradition steht: „omne enim bonum sive sibi, sive aliis, pulchrum fit, quibus est bonum, cum Pulchritudo sit apparentia boni. Bonitas consistit in Potestate, ac Sapientia innata rebus. Igitur pulchritudo significat virtutem corpori inditam, bene potuisse, ac scivisse aedificare illud. Itaque consistit pulchritudo in proceritate, & strenuitate, agilitate, proportione partium, vivacitate colorum […]“. Diese ontologische Schönheit, die das Sein und vor allem das Lebendigsein der Dinge ausmacht (man denke an Ficinos Verbindung von actus, vivacitas, gratia), hat ein humanes Gegenstück, das nochmals Erscheinung und Ausdruck dieses ontologischen Schönen ist und das in den Künsten zum Ausdruck kommt: „Venustas deinde est apparentia pulchritudinis, quae in motu, in sermone, in prospectiva pulchri consistit, quasi illius flos, sicut illud flos est bonitatis“. Wir haben also die Folge: Gutes (bonum) – Erscheinung des Guten = Schönheit [1] (pulchritudo) – Erscheinung der Schönheit = Schönheit [2] (venustas). Von dieser Schönheit, zumindest von der „menschlichen Schönheit“ (pulchritudo humana, der durch den Menschen hervorgebrachten und repräsentierten), die er jetzt als eine bezügliche oder relative („respectiva“) bezeichnet, setzt Campanella dann, ganz im Sinne Ficinos und Diacetos, eine nicht-relativa, absolute und wahre Schönheit ab, die einfach („simplex“) ist. Auch hier die radikale Einschätzung (108): „de pulchro Aristoteles nihil scivit. Plato multa rectè dixit“! Leone Ebreo, Dialoghi d’amore, Dialogo terzo, p. 103v–104r, 105rv: „la bellezza spirituale ordinativa, & unitiva“. Cataneus Diacetus, De pulchro I, c. 3, 19 f., wobei die Zahlen ontologisch noch vor dem Seienden rangieren, vgl. ebd. c. 4, 25 f.: Nach dem Einen kommt die Zweiheit als Totalität aller Zweien/Zweiheiten, dann die Dreiheit als Totalität aller Dreien/Dreiheiten etc. Vgl. Franciscus Georgius Venetus OFM, In scripturam sacram problemata, Tomus I, q. 21, fol. 3v, der die ontologische Grunddifferenz von „esse ipsum“ oder „esse a se“ und „esse communicatum“ mit derjenigen vergleicht, die diejenigen, d. h. die Pythagoräer-Platoniker, ansetzen, „qui philosophantur & theologizantur per numeros“: „sicut unitas a nullo numero dependet, sed est a seipsa: alii autem numeri omnes ab unitate proficiscunter. Sic & Deus (cui non modo Proculus, sed omnes recte theologisantes per numeros, unitatem tribuunt) est a seipso, a nulloque genito, sed omnia immediatè vel mediatè producens, communicansque se omnibus productis. Et sicut unitas omnibus numeris sese praestat, & in eos ingreditur, dans numeri, ut sint, & tales sint (quia si ingredit bis, facit binarium: si ter ternarium, & sic de singulis) pari modo Deus, in omnia progrediens, dat esse, & huiusmodi esse: & inde vim operandi“; vgl. auch ders., De harmonia mundi totius cantica tria. Cataneus Diacetus, De pulchro I, c. 6, 31 ff., auch zum Folgenden.

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primär ontologisch gedachte Schönheit ebenfalls Inzitamentum für den Rückgang der Seele in sich selbst und in ihren eigenen Grund, in die „divinissima unitas“: Die „consumatio pulchritudinis“ ist als ein Heraus- und Mitreißen („raptus“), als Umkehrung („conversio“) und als Aufstieg („ascensio“) gedacht. In ihr vollzieht sich – und zwar ausschließlich für intelligente, geistbegabte Wesen – auf verschiedensten Stufen und Intensitätsgraden eine Umkehrung aus dem Horizont des Vielheitlichen in den des Einen selbst.49 Diaceto verbindet das In-sich-Gehen („in intima penetralia“) der Seele explizit mit der Erfahrung des Schönen. Er nimmt drei Hauptwege („triplici potissimum calle progredi“) an, von denen nur derjenige der Dialektik, also der durch Beweis, Definition, Methoden (resolutiva, compositiva etc.), nicht genuin ‚ästhetisch‘ ist und sich in direktem geistigen Zugriff auf das Gute zubewegt. Die beiden anderen Wege, der der Musik und der der Liebe hingegen sind aufs Schöne bezogen: Durch die auf Zahl und Proportion aufbauende Musik „werden wir zum geistigen Schönen bewegt“ („ad intelligibile pulchrum excitamur“); die Liebe dokumentiert, wie auch bei Platon und Ficino, die durch Maß und dimensionale Verhältnisse bestimmte, „vom sinnlichen Schönen“ („a sensile pulchro“) ausgehende, Affekt-generierte Bewegung der Seele hin zum rein geistigen Schönen.50 Es ist, mit Blick auf die Entwicklung im 16. Jahrhundert, vor allem auch auf Giordano Brunos Typus des heroischen Individuums, nicht ohne Bedeutung, dass Diaceto im unmittelbaren Kontext ebenfalls den Heroen als Paradigma dessen, der das „commercium divinitatis“ erreichen kann, anführt.51 Der christliche Platonismus des Diaceto ist ebenso wie der des Ficino oder Leone Ebreos zentriert im Konzept einer Seele, die nicht nur eine ontologisch zentrale Stellung als Mitte, Verbindung, Zentrum der Welt einnimmt, sondern die im letzten Kern eine heroische, sich aus der Verstrickung in diese Welt befreiende Aufgabe zu erfüllen hat. Diese Seele findet ihren Ort als „filia Dei“ erst, wenn „sie des Göttlichen voll ist“ („divinitatis plena“)52, und sie kann, als gefallene, unglückliche, in den Ketten der Endlichkeit gefangene Seele, diesen Ort erst erreichen, wenn sie des göttlichen Antidotes, d. h. ihrer Aufgabe _____________ 49

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Cataneus Diacetus, De pulchro I, c. 10, 79 f. zu „raptus“, „conversio“ etc. Die Instanz, die dies vor allem leistet, ist die Seele als „copula“, „tertia essentia“, „medium“ (alles aus Ficino, teilweise mit direkten Nachweisen), vgl. II, cc. 1–2, 80–87. Cataneus Diacetus, De pulchro III, c. 3, 187–189. Dass die Musik im Kontext des christlichen Platonismus eine anagogische ästhetische Funktion besitzt, dokumentiert etwa auch Franciscus Georgius Venetus OFM, Praefatio ad lectores, fol. IIIv: „Huic [sc. Geometriae] subiacet Musica: cum huius unius ope anima harmonicis primum rationibus concinnata, ac nostra postea incurvia depravata, in veterem dignitatem & concentum restituatur: ipsique Deo (quod maxime oportebat) consona efficiatur“. Die auf Platon, Symposion 210 A aufbauende aufsteigende Ordnung des Schönen findet sich auch bei Leone Ebreo, Dialoghi d’amore, Dialogo terzo, p. 38r–v, zur geistigen Schönheit vgl. die Hinweise in Anm. 44. Cataneus Diacetus, De pulchro III, c. 3, 185 mit Bezug auf Politeia VI 514 A f., Ficino, Theologia platonica VI, c. 2. Cataneus Diacetus, De pulchro III, c. 4, 191 f.; 198: „hinc plane anima ceu regio impressa signo, pulchrorum omnium et ipsa plena patrem refert“. Leone Ebreo, Dialoghi d’amore, Dialogo terzo, p. 107r.

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und ‚Pflicht‘ (munus), die zugleich ‚Gnade‘ ist (die andere Bedeutung von munus), teilhaftig geworden ist, die ihr, gleichsam als Kompensation, verliehen worden ist: des „furor“. Der göttliche Furor, sei es der furor amatorius oder poeticus, reißt die Seele aus ihrer Lethargie heraus und stimuliert sie zu all den Leistungen, die (seit der Mitte des 15. Jahrhunderts in den Reflexionen zur dignitas hominis dargestellt) ihre Würde ausmachen (Handwerk, Handel, Politik, Weltexploration, Kunst) und letztlich zur Anähnlichung an Gott.53 Durch den furor wird die Seele ineins zur Wohnstätte des Göttlichen (der Götter) und zum Aktionszentrum der Weltexploration. Mit dieser Position eines platonisch, teilweise auch stoisch fundierten Christentums, das Schönheit einerseits als ontologisch-zahlhaft kodiertes Explikat des göttlichen Einen, andererseits als Struktur der reflektierenden Seele – als seelisch-geistige pulchritudo – begreift, verbinden sich schon im 15., vor allem aber dann im 16. Jahrhundert immer stärker genuin frühneuzeitliche Topoi der Wirklichkeitsdeutung, so vor allem der Gedanke, dass erst die größtmögliche, maximale Differenz und der größte Gegensatz das unerschöpfliche Implikat des Einen im Vielen zu einem angemessenen Ausdruck bringen können (dies geht bis hin zur Position Giordano Brunos, der versucht, das Gefälle zwischen unendlicher Möglichkeit und unendlichem Vermögen und realisierter Wirklichkeit endgültig zu nivellieren). Die positive Besetzung der Varianz („varietas“), des Unterschiedes („differentia“) und des Gegensatzes („oppositio“) zeigt sich vor allem auch in Reflexionen auf die Leistungsfähigkeit menschlicher Kunstfertigkeit, die immer in einem grundsätzlichen Vergleich zu der hervorbringenden Natur gesehen worden sind. Wenn Gott selbst, als der absolute Künstler, die Welt als unendlich abgestufte Ordnung von Ordnungen in die Klammer äußerster Gegensätze – den von Sein und Nichts, von Form und Materie, von Gut und Böse _____________ 53

Cataneus Diacetus, De pulchro III, c. 4, 191: „ille [sc. furor], ubi accedit, primo totam animam calefacit […] [et] quasi vaporem in altum extollit […], eo tandem claritatis adducit, ut perspicuo liqueat hominem deorum esse domicilium“. Vgl. Platon, Phaidros 244 A f.; Ficino, Commentarius in Ionem, fol. 1282; De amore VII c. 13, 257: „divino autem furore super hominis naturam erigitur [sc. homo] et in deum transit“. Auf das Argumentum zum Ion bezieht sich auch der ebenfalls in der Ficino-Tradition stehende Petrus Gregorius Tholosanus, siehe seine Commentaria in prolegomena sytaxeôn mirabilis artis, c. 15 (zu den Erkenntniskräften), p. 262–264. Zur „deiformitas“ durch das Schöne mit explizitem Rückgriff auf Plotin vgl. auch Franciscus Georgius Venetus OFM, In scripturam sacram problemata, Tomus I, sectio 3, q. 144, fol. 20r: „pulchra autem erat sacra id est ipsa Sapientia rerum divinarum, ea pulchritudine, de qua Plotinus inquit. Efficiatur quis divinus, pulcher, atque Deiformis: si modo divinam pulchritudinem sit inspecturus“. Diese göttliche Schönheit wird von Venetus auch an anderer Stelle, Tomus IV, q. 27, fol. 208v, ganz im Sinne der hier diskutierten Tradition als äußere Manifestation der Weisheit Gottes gedacht, die, im umfassendsten Sinne, die Schöpfung/Welt selbst ist. Grundsätzlich muss klar sein: Im antiken Denken ist der, der „vom Gott bewohnt“ wird, der im Enthusiasmus stehende oder durch göttlichen furor ergriffene Einzelne, sich dessen bewusst, dass er von einem Höheren oder Größeren ergriffen ist, wenn auch nicht, was dies oder der ist, vgl. etwa Plotin, Enneade V 3, 14, 8–11.

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– gestellt hat54, so ist es der Mensch und nicht die Natur, der, als geistiges und vor allem imaginatives Wesen, diese Amplitude allein angemessen erfassen und ihren Spielraum kreativ nutzen kann. Es ist, um es pointiert zu sagen, das heroische Subjekt, das durch den positiven furor des platonischen Eros angetrieben, diese Kultur- und Selbststabilisierungsleistungen vollbringen soll55, das, gerade auch in Gestalt der Kunst, die „divinità“ der menschlichen Seele, d. h. ihre Geistigkeit, Lichthaftigkeit, Intelligibilität, in die dunkle Masse der Materie gestaltend einbringen soll.56 In diesem Sinne ist ein genuines, seit Jahrhunderten ins christliche Denken verwobenes Platonicum in dem alles fundierenden Gedanken bewahrt, dass die künstlerische Tätigkeit, der Ort, an dem sich menschliches Ingenium am deutlichsten zeigt, in voller, unverkürzter Analogie zur schöpferischen Tätigkeit _____________ 54

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Vgl. etwa Franciscus Georgius Venetus OFM, In scripturam sacram problemata, Tomus V, sectio 3, qq. 262–263, fol. 318r–v; Girolamo Fracastoro, De anima dialogus, fol. 222 D–223 B; Thomas Campanella OP, Physiologia epilogistica, c. 2, art. 4, 5–6: Aus einer „prima contrarietas“, nach der reformierten Naturphilosophie im telesianischen Stil also aus calorfrigus, wird die „varietas rerum“ abgeleitet: „ex huiusmodi discordia ingens bonum“. Aber auch schon Alberti, De pictura, II, 69–71: „sed in omni historia [sc. als Sujet der Malerei] cum varietas iocunda est, tamen in primis omnibus grata est pictura, in qua corporum status atque motus inter se multo dissimiles sint“. Michel de Montaigne, Essais III c. 13, 439: „Es gibt im Erscheinungsbild der Dinge keine umfassendere Eigenschaft als die Verschiedenheit und Vielfalt“. Zur Sache vgl. Gosebruch (1957), 229 ff.; Patz (1986), 279 f. mit Verweis auf die rhetorische Tradition, z. B. Cicero, De oratore, I 1, 59; 2, 120. Mit Selbststabilisierung soll gerade auch der Begriff der Selbsterhaltung im Blick bleiben, den etwa ein Autor wie Campanella wie selbstverständlich im Kontext seiner Diskussion des Schönen verwendet, vgl. Thomas Campanella OP, Physiologia epilogistica, c. 14, 108, wo, da das Schöne universell gesehen, „apparentia boni“ ist, das Gutsein in der Welt jedoch als „conservatio“ bestimmt werden muss (unter direktem Rückgriff auf Telesio und wohl auch stoische Quellen), gesagt werden kann: „conservatio vero summum bonum, cuius respectu caetera dicuntur bona“ und die Abbilder („imagines“) dieser „bona“ als ‚schön‘ bezeichnet werden. Leone Ebreo, Dialoghi d’amore, Dialogo primo, p. 18r–v: Die „anima intellettiva agente“ ist nichts anderes als ein „kleiner Strahl der unendlichen Klarheit Gottes“ („non è altro che un piccolo razo de l’infinita chiareza di dio“), der gebrochen und „verschattet“ („offuscata“) ist durch die „tenebrosità dela materia“; so wie Gott die potentielle Lichthaftigkeit, id est: Intellektualität der Seele durch Erleuchtung (ganz im Sinne noch der illuminatio des Augustinus) in ihre eigentliche Präsenz und Stärke (Aktualität) bringt, so kann der Mensch seinerseits durch seine Intellektualität und sein Ingenium die potentielle Lichthaftigkeit der Materie, i. e.: ihre Formstruktur und innere Rationalität (logoi) in aktuelle umwandeln (vgl. p. 21r–v). Dies geschieht durch Kunst, sei es als handwerkliche, politische oder im engeren Sinne künstlerische Tätigkeit verstanden. Basis hierfür ist Platons Seelen-Definition als einer ursprünglichen Verknüpfung von Verschiedenem aus dem Timaios (35 A f.), Ebreo führt hierzu aus, Dialogo terzo, p. 6r: „l’anima composta di se e d’altro, d’indivisibile e divisibile“, einer Verknüpfung, die die Seele zu einer zirkulären Grundbewegung („moto circulare“) verpflichtet, in der sie immer Geistiges und Materielles verknüpfen muss: „si muove di se in se, cioè di sua natura intellettuale, in sua natura corporea. Tornando di poi in quella cosi sempre circularmente“. Die, um mit Alberti zu sprechen, „più grassa Minerva“ ist genuines Implikat der sich operativ mit dem Materiellen vermittelnden Geistseele, p. 4v: „L’anima è in se una, & indivisibile, ma estendosi virtualmente per tutto il corpo, e dilatandosi per le sue parti esteriori fino a la superficie, si dirama per certe operationi“.

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Gottes zu denken ist.57 Kann jedes formende Ausgreifen des Seelischen auf Materielles als Verlebendigung und Formgebung gesehen werden, so doch nur das ‚kunstvolle‘ oder ‚künstlerische‘ als ursprünglich menschliche Leistung, in der sich nicht nur das formende Entfalten, sondern noch einmal die geistige Reflexion auf das Entfalten und dessen Sinn zeigt. Das Zentrieren der Schönheit in der ‚geistigen‘ Schönheit und d. h. letztlich in der idealen Formbestimmtheit oder der Idee einer Sache, impliziert, dass Schönsein und Einssein nicht zu trennen sind, auch wenn das Schöne gegenüber dem Guten als dessen ‚äußere‘ Repräsentanz gedacht wird. In der Seele des Künstlers subsistiert daher die Idee des Kunstwerkes auf höhere und vollkommenere, weil einheitlichere und eingefaltetere Weise, als im Werk selbst.58 In einem stark an Plotins Enneade V 8 erinnernden Passus heißt es: in der Seele [sc. des Künstlers] besteht die Idee der Kunst mit allen ihren Teilen eingefaltet und zusammen, in der Weise, dass ein Teil den anderen begünstigt und [dadurch] seine Schönheit wachsen läßt, und die Schönheit aller Teile zusammen besteht [zugleich] in jedem einzelnen Teil, die Schönheit eines jeden einzelnen Teils 59 hingegen in allen anderen und zwar ohne jede Teilung oder Unterscheidung.

Schon im Kunstwerk („artificiato“) ist die Intensität und das Potential der Kunst („ars“) depotenziert („è piu bella l’arte che l’artificiato“), selbst die höchste künstlerische Umsetzung – in dem weiten Umfang von „ars“ als Handwerk, Tätigkeit, Kunst, die alle die dignitas hominis unterstützen – bleibt hinter der sie leitenden Idee zurück.60 Diese Auffassung muss jeder Theorie entgegengesetzt _____________ 57

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Leone Ebreo, Dialoghi d’amore, Dialogo terzo, p. 7r–v: strikte Parallelisierung von intelletto divino-spetie esemplari/idee-cose create und artefice-spetie esemplari/idee-cose artificiate, aufgegriffen p. 106r; p. 17v heißt es ganz explizit: Die Seele, die mit der Schönheit des Intellektes (Geistes) „schwanger geht“ („ingravidata“), will diese in die Welt hinein „gebären“ („parturire“), dabei „ergreift sie wie ein Künstler (Bildhauer) die Muster der intellektuellen Schönheit, um sie auf ihre Weise in die Körper einzuformen [einzuskulpieren]“ („come artefice piglia l’esempli de la bellezza intellettuale per sculpirli [!] al proprio ne corpi“). Plastischer und universaler kann der von uns hier angezeigte Zusammenhang wohl nicht formuliert werden. Vgl. auch die Aufnahme ebd., p. 99r: „[l’anima humana] essendo gravida della bellezza, de la virtù, & sapientia intellettuale, desia sempre generare simili belli [!!] in atti virtuosi, & habiti sapienti“. Marsilio Ficino, De intelligibili pulchritudine. Annotationes, fol. 1767: „formam pulchritudinemque in mente praestantiorem esse, quam in [n]ullo artis opere. Adde potentiorem, quoniam in opere quidem distracta est, in mente vero prorsus unita“. Vgl. dazu das Ebreo-Zitat nächste Anmerkung. Leone Ebreo, Dialoghi d’amore, Dialogo terzo, p. 106v: „che in lei (sc. l’anima del artefice) consiste l’Idea de l’arte con tutte le sue parti complicate insieme, in modo che l’una favorisce l’altra, & la fa crescere in bellezza, e la bellezza di tutti insieme stà in ogn’una, & quella di ciascuna in tutti senza alcuna divisione, o discrepantia“, vgl. Plotin, Enneade V 8, 4, 4 ff.; zur Kunst bei Ebreo vgl. ebd., p. 114r: „ne li belli artifitiati […] la bellezza non è altro che l’arte de l’artefice participata diffusamente in essi corpi artificiati, è essa scientifica arte presistente ne la mente de l’artefice“. Leone Ebreo, Dialoghi d’amore, Dialogo terzo, p. 108v–109r: Das Urteil über das Schöne (das spätere Geschmacksurteil) vollziehen nicht die körperlichen Sinne, selbst nicht die an sich

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bleiben, die entweder gerade im Werk selbst etwas über die Intentionen des künstlerischen Intellektes und Ingeniums Hinausgehendes, ‚Eigentliches‘, sieht oder die in der Sinnlichkeit des Werkgefüges selbst den letzten und einzigen ‚Ort‘ der Wahrheit oder Wahrhaftigkeit von Kunst ansetzt. Eine ‚ästhetische Theorie‘, die sich wirklich und nicht nur aufgesetzt im Horizont der philosophischtheologischen Grundannahmen des Neuplatonismus bewegen will, muss diese über das rein Ästhetische weit hinausgehenden Vorgaben zum Fundament ihrer eigentümlichen Argumentation machen.

VI. Giordano Bruno Wir gehen noch einen Schritt weiter auf das Ende des 16. Jahrhunderts zu: Giordano Bruno sagt in seinem Traktat über die Heroischen Leidenschaften: Anzi quello che n’ innamora del corpo è una certa spiritualità che veggiamo in esso, la qual si chiama bellezza; la qual non consiste nelle dimensioni maggiori o minori, non nelli determinati colori o forme, ma in certa armonia e consonanza de membri e 61 colori.

Hier, bei der körperlichen Schönheit oder bei der Schönheit, die sich im Körperlichen zeigt, handelt es sich auch nach Bruno nicht nur um eine selbst dimensionale, quantifizierbare oder auch qualitative Struktur oder Verfasstheit (die unter den Indices varietas, vicissitudo, pluralitas, contrarietas im 16. Jahrhundert starke Aufwertung erfährt62), sondern um etwas, das, darüber _____________

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spirituellen Vermögen „viso“ und „audito“, sondern es urteilt die Seele; sie kann dies, weil sie, nach Vorstellung der alten Philosophen (Platon, Aristoteles, Plotin), „una figuratione latente di tutte quelle spirituale forme“ ist, die auf explizite Weise im göttlichen Intellekt und in der Weltseele sich findet. Gerade im Urteil über Schönes ist, da Schönes ja die Wesensform (forma essentiale) und das Gutsein einer Sache als Abglanz repräsentiert, die platonische „reminiscentia“ aktiv, denn (und das dürfte, sofern Spinoza diesen Text gründlicher studiert hat, auch für ihn interessant gewesen sein): „tutte le forme, & spetie non saltano de li corpi ne l’Anima nostra, che migrare d’un soggetto ne l‘ altro è impossibile“ (109r). Hier ist nicht nur die peripatetisch-thomistische Abstraktionstheorie ausgesetzt, sondern hier ist eigentlich auch schon der Substanzendualismus vorbereitet, der dann das 17. Jahrhundert kennzeichnen wird. Die menschliche Seele ist, in gut neuplatonischer Tradition (vor allem wenn man die mens-Theorie hinzunimmt) „voll von formalen Schönheiten“ („piena di bellezze formali“), die ihre eigentliche und eigentümliche Wesenheit ausmachen („sono la sua propria essentia“, alles p. 109v). Giordano Bruno, De gl’eroici furori, I dialogo 3, 129. Hier spiegelt sich unmittelbar auch die Kategorialität der aristotelischen, „phänomenalen“ Schönheitsdiskussion (Panofsky [1975], 111, Anm. 220), die durch IJȤȞȞıijȢտį und ı՜ȥȢȡțį bestimmt war. Allerdings ist der Kontext bei Bruno durchgehend platonisch, bestimmt durch Plotin und Ficino: Die göttliche Schönheit „teilt sich zuerst den Seelen mit“ („prima si comunica all’anime“), „strahlt in diesen wider“ („risplende“), „dann erst“ („poi“) teilt sie sich den Körpern als die Schönheitsform mit, die die oben diskutiert „spiritualità“ präsent macht; alles ebd. So auch bei Bruno selbst, vgl. De la causa, dialogo 1, 43 f.: „sí bella varietade“; De l’infinito, Proemiale epistola, 39: „mutazion vicissitudinale“; dialogo 2, 127: „contrarii“; dialogo 3, 209: „vicissitudine“; dialogo 5, 351: „contrarii“; exemplarisch ist ein Satz wie der im Spaccio della

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hinausgehend, das Geistige – „spiritualità“ – manifest werden lässt; Bruno bezeichnet, in einer alten, wie wir gesehen haben, in Plotin ihre maßgebliche Autorität habenden Tradition stehend, diese Schönheit als Harmonie und Konsonanz. Ich denke, dass diese Harmonie-Konsonanz in direkter Folge dessen steht, was Alberti als Konzinnität oder Ficino als die nicht-sinnliche, intelligible Zahlstruktur bezeichnet haben. Verstärkt wird diese neuplatonische Implikation bei Bruno noch durch die Auskunft, dass diese trans-dimensionale HarmonieKonsonanz im Körperlichen ein „Indikator der geistigen Schönheit“ („indice della bellezza del spirito“) sei, ja, in bewusstem Rekurs auf die platonische Tradition, ein „fulgor, radius et actus“ sei, der, ausgehend vom göttlichen Sein, sich „zuerst“ („primo“) im „Geist“ („mens“, „mente“) spiegele und verbreite.63 In diesem Sinne ist das intelligibel Vielheitliche der Einheit ‚näher‘ als das sensibel Vielheitliche, übertrifft die geistige Harmonie/Konkordanz die rein sinnlich manifeste. Letztere ist ein „Schatten“ der idealen Wirklichkeit64, so wie bei Plotin das sinnlich Schöne ein „Abglanz“ des nicht sinnlichen Schönen, letzteres, das noetisch Schöne, eine „Spur des Formlosen“ Einen selbst ist65, denn für Bruno ist das durch den Geist oder die Vernunft („intelletto“) aus der Möglichkeit und Wirklichkeit der Speziesvielfalt entfaltete Sein der Welt ein „schöne Architektur“.66 Bruno bezeichnet jedoch nicht nur durchgehend das „Göttliche“ als ‚schön‘ – in Ausdrücken, wie „la beltà di quel volto divino“ oder „la divina beltade/bellezza“ –, sondern setzt mehrfach dieses göttliche Schöne als schlechthin transzendent an: „la divina bellezza una et exaltata sopra tutte le cose“67. Das _____________ 63

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bestia trionfante, dialogo 1, 59: „dove è la contrarietà, è la azione e reazione, è il moto, è la diversità, è la moltitudine, è l’ordine, son gli gradi, è la successione, è la vicissitudine“. Giordano Bruno, De vinculis in genere, 492–494: „Vinculum pulchritudinis apud Pythagoricos et Platonicos dicitur fulgor, radius et actus quidam, vel umbra et simulachrum illius saltem atque vestigium […]. Hic radius clarissime est in mente, clare in anima, obscure in natura, obscurissime in rerum naturalium subiecto – aiunt“. Vgl. auch Leone Ebreo, Dialoghi d’amore, Dialogo terzo, p. 113v: „ombre“. Zu Brunos Lehre von den Schatten seit seiner frühen Abhandlung De umbris idearum vgl. Sturlese (1993). Plotin, Enneade VI 7, 33, 30: Die im Geist als durch reine Form und denkende Selbstvermittlung bestimmt erscheinende „intelligible Schönheit“, die „Form“ ist, wird dem Formlosen Einen als dessen „Spur“ und Abdruck zugeordnet: „ijր Հȥȟȡȣ ijȡ‫ ף‬ԐȞցȢĴȡȤ ȞȡȢĴս“ bezeichnet. Giordano Bruno, De la causa, dialogo 3, 119: „questo intelletto che ha facultà di produre tutte le specie, e cacciarle con sí bella architettura dalla potenza a l’atto“ und jetzt kommt der entscheidende, wiederum auf Plotin-Ficino verweisende Zusatz: „bisogna che le preabbia tutte, secondo certa raggion formale“: Das Zuvor-Haben aller Formen im Geist entspricht der plotinischen Konzeption des Nus als einer absolut vermittelten Ein-Vielheit, die dem dem Christentum gegenüber äußerst reservierten Bruno die Möglichkeit gab, das, was im Gedanken des „mundus intelligibilis“ als im Göttlichen WORT vorausgehabt gedacht war, hier in paganer Ursprungsgestalt positiv aufzunehmen. Zur Schönheit der Welt/des Universums vgl. ebd. 125; Schönheit besteht wesentlich in Form oder Gestalt („forma“, „specie“), ebd. 127. Giordano Bruno, De gl’eroici furori, II dialogo 4, 459; vgl. auch I dialogo 3, 129: „divina bellezza-corporal bellezza“; dialogo 5, 225–227: „bellezza vera, per sé-bellezza umbratile, ne gli corpi, cosa accidentale“; 243: „splendor di bellezza“; II dialogo 1, 301: „Dio, la divina

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sinnliche Schöne ist für Bruno, wie alles andere Sinnliche auch, ein „Schatten“ des wahren Seienden und der wahren Schönheit, wobei das Prädikat ‚schön‘ eben darauf verweist, dass aus dem Schattenhaften durch die spezifische Verfasstheit des Schönen – Form, Proportion, Intensität – ein „Zugang“ oder „Übergang“ zum Nicht-Schattenhaften, zum wahren Sein der Ideen, eröffnet wird.68 Wer diese Öffnung sozusagen durchschreitet, der Philosoph bzw. Erforscher der Natur, das heroische Individuum, der Liebende, erfährt eine „transformatio“ oder „transmutazione“, die in ihrer äußersten Realisierung derjenigen verwandt ist, die in der platonischen Tradition als Einheitserfahrung, in der durch letztere beeinflussten christlichen Tradition als unio mystica bezeichnet wird. Es gilt jedoch, da wir nie oder nur selten das Äußerste erreichen, dass jede wirkliche Erfahrung des Schönen, die durch Selbstöffnung und denkende Anstrengung begleitet ist – und nach Bruno im strikten Sinne auch nur dem „Auge der Vernunft“ zugänglich ist69 –, eine grundsätzliche Umwälzung im erfahrenden Subjekt zur Folge hat.70 Dieses Subjekt und zwar genauer dessen „Geist“ („mente“) „zieht (plötzlich) das Göttliche in (oder: auf) sich zusammen“ („contrae la divinità in se“) und „wird (oder: macht sich) zu einem Gott“ („si fa un Dio“).71 Konsequent limitiert Bruno den traditionellen, auch an die mystische Erfahrung gekoppelten Vergöttlichungs-Gedanken (deificatio) auf die dem Kontraktiobegriff systematisch entsprechende Dimension, dass das heroische Individuum nicht zu Gott selbst wird, sondern vielmehr selbst zu „einem“ Gott. Es ist das einzelne _____________

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bellezza e splendore“; 297: „bellezza divina-bellezza umbratile“. Die Beispiele vgl. De la causa, dialogo 1, 65 (hier bezieht sich „göttlich“ auf die Wahrheit, die der Philosoph „erschaut“) und De gl‘eroici furori, I dialogo 3, 125. In De la causa, dialogo 3, 209 wird deutlich, dass Bruno Schönheit auch, neben Einheit, Gutsein („bontà“) und Wahrheit („verità“), als Gottesprädikat bzw. nomen divinum (wohl im Anschluss an Dionysius Areopagita) versteht: „perchè [il principio] è similmente bontà che è ogni bontà che possa essere; è bellezza che è bellezza che è tutto il bello che può essere“; Spaccio della bestia trionfante, dialogo 2, 183: „perchè la verità è la cosa più sincera, più divina di tutte: anzi la divinità e la sincerità, bontà e bellezza de le cose è la verità“. Giordano Bruno, De umbris idearum, 48 f.: „ab umbris ad ideas patet aditus“. Zur „transmutazione“/„transformatio“ vgl. De l’infinito, dialogo 2, 143 f., 165; De gl‘eroici furori, I dialogo 3, 121: „farsi perfetto con transformarsi et assomigliarsi a quello“. Die Welt selbst, das Universum, ist ‚schön‘, da es einen „bell’ordine“ darstellt, vgl. De l’infinito, dialogo 3, 211 f., obgleich in den Augen Brunos die traditionell damit verbundene Vorstellung einer „bella scala della natura“ zugunsten einer völlig anderen Organisationsform des Natürlichen aufgegeben werden muss. Vgl. De l’infinito, dialogo 5, 301: „l’occhio de l’intelletto“. Bruno verdeutlicht diese „transmutazione“ in eindringlicher Weise in seiner Version des antiken Aktaion-Mythos, vgl. hierzu Beierwaltes (1978). Dass auch die Liebe, in Gestalt der heroischen Liebe des philosophischen Individuums, ein Ausdruck des Transformationsprozesses ist, entfaltet Bruno insbesondere in De gl‘eroici furori, dabei mehrfach auf Marsilio Ficinos einflussreiche Schrift De amore (d. h. den Kommentar zum Symposion Platons) zurückgreifend, vgl. etwa De gl‘eroici furori, I dialogo 2, 113 zum „rapto platonico“ mit Ficino, De amore VI c. 8. Hierzu siehe auch Nelson (1968), 163–266, 173 f. De gl’eroici furori, I dialogo 3, 137.

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Individuum selbst, das das Göttliche auf sich hin zusammenzieht und dadurch auch, wie der Aktaion-Mythos kurz darauf zeigt, eben als dieses Individuum zum Opfer seiner eigenen Jagd werden kann.72 Dies steht in direkter Konsequenz der Renaissanceanthropologie, die den Menschen als ‚kleinen‘ oder ‚anderen‘ Gott bezeichnet hat – jenseits der eventuell zusätzlich hinzukommenden, theologisch motivierten Intention zur direkten deificatio. Der Geist ist ‚in Gott‘ nur, soweit dies unter den Bedingungen eingeschränkter epistemischer Kraft möglich ist („in quanto si può“), Gott ist ‚im Geist‘ nur, soweit dieser ihn unter denselben Bedingungen („per quanto si può“) erfassen oder begreifen kann („concepirla“). Unabdingbar jedoch für diese Selbsttranszendenz, die innerhalb der Grenzen der Immanenz verharrt, ist für Bruno die stimulierende, weil das Göttliche sinnenfällig machende Kraft des Schönen: Das durch den „Geist“ („intelletto“, „mente“) im menschlichen Bewusstsein geformte „Gleichnis“ („similitudine“) des Göttlichen, das jede Abstraktion aus dem Sinnlichen übertrifft, ist die „bellezza divina“ selbst (d. h., wie es an anderer Stelle ganz konsequent heißt: der Intellekt oder Geist selbst das „aus“ und „durch sich“ Schöne).73 Diese ist, als intelligibler Glanz, Strahl, Widerschein des Göttlichen, dessen eigene „Ähnlichkeit“ („similitudine“) als „Gleichnis“ („similitudine“), das den erotischheroischen Jäger „außer sich entrückt“ („rapito fuor di sé“), zum kleinen Gott und damit Teil der intelligiblen Welt macht, aber damit auch der (Selbst-)Vernichtung, die zugleich Selbsttranszendierung ist, preisgibt.74 In dieser Traditionslinie, die, wie wir gesehen haben, in einem durchgängigen Bezug zu Plotin steht, steht aber in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts nicht nur der Philosoph Giordano Bruno, sondern etwa auch sein direkter Zeitgenosse, der Maler Paolo Lomazzo, vor allem, wenn man in seinen Traktat Idea del tempio della pittura aus dem Jahre 1590 schaut. Dort heißt es: „die wahre Schönheit ist einzig die, die durch die Vernunft geschmeckt und nicht durch diese zwei körperlichen Fenster [sc. angeschaut] wird“.75 In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts wird so, auf Basis der skizzierten plotinisch-ficinianischen Tradition, von einer ganzen Anzahl von Theoretikern die geistige Schönheit der _____________ 72

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De gl’eroici furori, I dialogo 4, 159: „perché già avendola contratta in sé, non era necessario di cercare fuor di sé la divinità“. Zur „contractio“ vgl. auch ebd., 166; II dialogo 3, 420: „avendo contratta in sé la divinitade, è fatto divo“. Bruno teilt hier im Duktus und auch der Stoßrichtung seiner Argumentation eine typisch neuzeitliche Orientierung des Denkens mit Blick auf den Gottesbegriff: ‚Gott‘ oder das ‚Göttliche‘ wird zunehmend unter die Bedingungen des Denkens (Denkaktes) selbst gestellt, gerade auch dann, wenn er vom Zugriff des Denkens auf ihn freigehalten werden soll. De gl’eroici furori, I dialogo 5, 227: „l’intelletto superiore il quale da per sé è bello e da per sé è buono“, vgl. Ficino, In Plotinum, fol. 1770. De gl’eroici furori, I dialogo 4, 159: „[…] et in quel modo che giunse alla presenza di quella [sc. beltade], rapito fuor di sé da tanta bellezza [!!], dovenne preda. […] qua finisce la sua vita secondo il mondo pazzo, sensuale, cieco e fantastico; e comincia a vivere intellettualmente: vive vita de dèi“. Paolo Lomazzo, Idea del tempio della pittura, c. 26, 89: „Le vera bellezza è solamente quella che della ragione si gusta, & non da queste due finestre corporali“.

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sinnlichen gegenüber gestellt, eine „wahre“ Schönheit somit der un-wahren, eine „innere Schönheit“ („pulchritudo intrinseca“) der äußeren.76 Dennoch, dies ist nicht nur im Blick auf Bruno, sondern vor allem auch auf die Kommentatoren der Rhetorik und Poetik des Aristoteles, festzuhalten: Es ist zu dieser Zeit eine zunehmende Tendenz zur Immanentisierung festzustellen. Das Schöne wird einerseits, wenn man so will, ‚rezeptionsästhetisch‘ an die Messlatte der Perzeptionsakte und der Kapazitäten der menschlichen Sinnesorgane angelegt, andererseits ‚produktionsästhetisch‘ dem Ingenium des Menschen und vor allem seiner produktiven Einbildungskraft, seiner Phantasie und imaginatio zugewiesen. Das Schöne bleibt zwar sachlich und vor allem auch sprachlich ein Problem – man kann sich dem, was es ist und zum ästhetischen Austrag bringt, selbst wiederum nur metaphorisch oder resignativ (je ne sais quoi-Topos) nähern –, und es trägt in seinen Konnotationen ein großes Maß von dem mit, was in der zuvor diskutierten platonischen Tradition bis auf die Schwelle zur Neuzeit tradiert worden ist: seine Unverfügbarkeit, sein absoluter Anspruch, sein Überwältigungsaspekt, sein nicht im Kalkül der Wohlgeordnetheit und Angemessenheit aufgehendes Wesen (denn dies ist es ja, was das ‚Göttliche‘ am Schönen ausmacht), andererseits wollen Poetiken und Traktate zur Kunst immer präzisere Handlungsanweisung zu seiner ‚Herstellung‘ geben.

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Dies gilt etwa für Giordano Bruno (bellezza umbratile – bellezza divina), für Cornelius Gemma, für Paolo Lomazzo, für Francesco Patrizi u. a.; vgl. die Hinweise und Nachweise in Leinkauf (1994), 57 f.

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Thomas Leinkauf

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Retractatio als Transparenz. Rekursive Strukturen in Spensers Fowre Hymnes Verena Olejniczak Lobsien In my beginning is my end. […] In my end is my beginning. (T. S. Eliot, „East Coker“)

I. Spensers Fowre Hymnes und die Frage nach einer frühneuzeitlichen Ästhetik Edmund Spenser verdankt seinen unbestritten kanonischen Status als Autor der englischen Renaissance in erster Linie seinem gewaltigen allegorischen Epos The Faerie Queene. Fowre Hymnes, eines seiner letzten Werke, bestehend aus vier annähernd gleich langen Texten von etwas über vierzig Stanzen in rhyme royal1 und veröffentlicht im Jahr 1596 zusammen mit den letzten Büchern der Faerie Queene (IV–VI), galt nicht nur stets (seinen 1182 Zeilen zum Trotz) als eines der „shorter poems“,2 sondern oftmals auch als minderes Werk. Heutzutage kann es offenbar als so weit entfernt vom ‚eigentlichen‘ Spenser und als so exzentrisch angesehen werden, dass eine neuere Einführung zu diesem Autor3 es kaum der Erwähnung, geschweige denn einer Erläuterung für wert hält. Zweifelsohne _____________ 1

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Die vier Hymnen umfassen jeweils 44, 41, 41 und 43 Strophen; der Titel, unter dem sie zusammen veröffentlicht werden, hebt auch ihre numerische Symmetrie hervor. Rhyme royal, die schon von Chaucer verwendete siebenzeilige Stanzenform, besteht aus iambischen Pentametern, die nach dem Schema ababbcc gereimt sind. Wie in The Faerie Queene und The Shepheardes Calender suggeriert Spenser durch archaisierende Sprache, gezielte Wahl des Genus und mit einem für ihn charakteristischen Gestus der imitatio seine Teilhabe am nationalkulturellen Projekt: Er situiert sich in der Kontinuität und Tradition gelehrter englischer Poesie seit Chaucer. Im Folgenden zitiert nach Spenser, The Yale Edition of the Shorter Poems of Edmund Spenser. Die Titel der einzelnen Hymnen werden abgekürzt wie folgt: An Hymne in Honour of Love – HL, An Hymne in Honour of Beautie – HB, An Hymne of Heavenly Love – HHL, An Hymne of Heavenly Beautie – HHB. Stellenangaben erfolgen im Haupttext direkt nach dem jeweiligen Zitat mit Kürzel und Zeilenzahl. Burrow (1996).

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Verena Olejniczak Lobsien

lassen sich die Fowre Hymnes nur schwer mit dem Spenser-Bild vereinen, das einen Teil der gegenwärtigen Forschung beherrscht4 und das seine Dichtung in erster Linie unter dem Gesichtspunkt seiner politischen Einstellungen bzw. seiner von Konflikt, Repression und brutaler Gewalt bestimmten Erfahrung in der Verwaltung der Kolonie Irland präsentiert. Im Vergleich mit dem ebenfalls auf 1596 zu datierenden Pamphlet A Vewe of the Present State of Ireland, das zum Teil drakonische Zwangsmaßnahmen zur Beseitigung der politischen, sozialen und administrativen Probleme5 und zur Unterwerfung der Rebellen vorsieht, müssen die Fowre Hymnes esoterisch und einer biographistischen Lektüre suspekt erscheinen.6 Solcher Marginalisierung in der jüngeren Forschung steht eine vergleichsweise eingehende Beschäftigung mit diesen Texten in der älteren, geistesgeschichtlich orientierten gegenüber. Insbesondere das Interesse an Spensers Neuplatonismus, der sich in ihnen in besonders reiner Form niederzuschlagen scheint, reicht mindestens von Robert Ellrodts Studie Neoplatonism in the Poetry of Spenser7 bis zum Ende der achtziger Jahre und bezeugt sich noch im Titel einer der letzten Monographien zum Thema, Elizabeth Biemans Plato Baptized.8 So könnte man meinen, hier sei schon alles gesagt, und sich der Ansicht anschließen, dass diese Gedichte heute tatsächlich nicht mehr unserer kritischen Aufmerksamkeit bedürfen – ebensowenig wie ihr mentalitätsgeschichtlicher Kontext. Es versteht sich, dass ich nicht dieser Ansicht bin, und das sowohl aus einer Perspektive, die an Transformationsgestalten antiken Denkens interessiert ist, als auch unter dem Gesichtspunkt der systematischen Frage nach Formationen und Formen frühneuzeitlicher Ästhetik. Zudem ließe sich, wollte man Texte wie Spensers Fowre Hymnes an gegenwärtige Forschungsinteressen anschließbar machen, unschwer zeigen, dass der Renaissance-Neuplatonismus, zumal in England, keineswegs ohne politische Funktion ist. Schon der spätantike Platonismus Plotins und seiner Nachfolger weist, obwohl er nicht in erster Linie als Lebenskunst antritt, ethische Implikationen auf,9 die auch die Florentiner Akademie zu entfalten suchte. In _____________ 4

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Das gilt beispielsweise nicht für The Spenser Encyclopedia (Hamilton a. o. [1997]). Die in der Regel sehr einlässlichen Artikel dieses ausgezeichneten Standardwerks können nicht nur beanspruchen, den Stand der Spenser-Forschung zu Beginn der neunziger Jahre umfassend zu repräsentieren, sie räumen den Fowre Hymnes auch durchweg unter Berücksichtigung der älteren Forschung einen selbstverständlichen und angemessenen Platz im Gesamtwerk ein. Einschließlich der Beseitigung aller Vaganten und Wohnsitzlosen durch kriegsrechtliche Hinrichtung; vgl. „A View of the Present State of Ireland“ in: Spenser, The Works of Edmund Spenser, 39–231. Allerdings lässt sich die auf Absolutes – hier: die Idee einer gerechten und guten nationalstaatlichen Ordnung – gerichtete Einstellung, die diesen Text kennzeichnet, als solche durchaus mit der Haltung vergleichen, die die Fowre Hymnes prägt. Vgl. auch Quinn (1997). Ellrodt (1975). Bieman (1988). Etwa in seinen asketischen Momenten und in der Selbstformungsemphase Plotins; s. etwa Plotin, Enneade I 6, 9.

Retractatio als Transparenz

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deren Fluchtlinie und im Zusammenwirken mit humanistischen und reformatorischen Impulsen ist er Teil eines umfassenden zivilisatorischen und pädagogischen Unternehmens, das im England des 16. Jahrhunderts durchaus nicht auf die Hofkultur beschränkt bleibt. Gerade die Einsicht in die menschliche Plastizität, die den Menschen nicht nur als begabt-gefährdeten „plastes et fictor“10 seiner selbst, sondern eben auch als bildbar und bildungsbedürftig erscheinen lässt, ist eine der Grundlagen für die Überzeugung, dass Vollkommenheit nicht nur ein legitimes, sondern auch ein erreichbares Ziel von Bildung und Selbstformung ist. „Self-fashioning“11 ist in einem angebbaren Sinn eine Fortsetzung von Plotins ‚Arbeit an der eigenen Statue‘.12 Castigliones Il libro del Cortegiano (1528), 1561 von Thomas Hoby als The Book of The Courtier ins Englische übertragen, spielt in diesem Prozess eine überragende Rolle; sein Buch IV ist zudem eines der wichtigsten Medien für die Vermittlung der neuplatonischen Liebesdoktrin nach England. 1531, möglicherweise in Kenntnis des Cortegiano verfasst, erscheint mit Sir Thomas Elyots The Boke named the Governour ein Handbuch zur Erziehung von leitenden Administratoren und Funktionären, das sich zwar in erster Linie auf Ciceros De officiis stützt, daneben aber ebenfalls unübersehbar vom Gedanken der methodischen imitatio eines Ideals und der individuellen Perfektionierung bestimmt ist. Aber Ideale entfalten dann Wirkung, wenn sie attraktiv sind. Und hier scheint es so zu sein, dass sich neben der maskulinistisch geprägten Vorstellung stoischer virtus, von der sich die humanistische Erziehung vordergründig leiten lässt, vor allem die Anziehungskraft neuplatonischen Exzellenz-, Perfektions- und Transzendenzstrebens, wie sie das performative Ideal höfischer sprezzatura auszeichnet, mitteilt.13 Diese jedoch hat ihren Grund in der Art und Weise, wie sie sich literarisch, aber auch in prominenten Beispielen der Verwirklichung des Ideals präsentiert (paradigmatisch etwa im Auftreten Elizabeths I. selbst oder in der Person von Sir Philip Sidney). Kurz: Sie liegt in dessen ästhetischer Struktur und damit in einem Wirkungspotential, das über die schlichte Didaktik einer Verkündigung normativer ‚Wahrheiten‘ weit hinausgeht. Spenser war wie sein Zeitgenosse Sidney von dieser modellierenden, kulturbildenden Kraft des Poetischen überzeugt. Das belegt nicht nur die oft zitierte Programmatik der Faerie Queene, die darauf zielt – kaum anders als die Hofgesellschaft von Urbino _____________ 10 11

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So bei Giovanni Pico della Mirandola, vgl. Pico, De hominis dignitate, 6. Inzwischen ein Topos der Renaissanceforschung, der über der Popularität des Standardwerks – Greenblatt (1980) – hat vergessen lassen, wie geläufig die Vokabel in den humanistischen – nicht zuletzt den neuplatonisch getönten – Diskursen selbst war. „Führe dich auf dich selbst zurück und sieh hin; und wenn das, was du erblickst – du selbst –, noch nicht schön ist, dann verhalte dich wie ein Bildhauer, der von einer Statue, die schön werden soll, immer wieder etwas wegnimmt und abschabt, der hier etwas glättet und da etwas reinigt, bis er an seiner Statue ein schönes Gesicht dargestellt hat. Mach du es genauso […] Höre nicht auf, an deiner eigenen Statue zu wirken, bis vor dir das gottgleiche Strahlen der Tugend aufleuchtet […].“ (Enneade I 6, 9, in: Plotin, Ausgewählte Schriften, 59). Hierzu auch Olejniczak Lobsien (2005).

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Verena Olejniczak Lobsien

bei Castiglione und Hoby, die sich anschickt „to shape in woordes a goode courtier“ („formar con parole un perfetto cortegiano“)14 –, „to fashion a gentleman or noble person in vertuous and gentle discipline“, und nachdrücklich hinzusetzt: „So much more profitable and gratious is doctrine by ensample, then by rule“.15

II. Neuplatonische Topik und epistrophé als dissimulatorische Wirkungsstruktur Genau auf diese ‚Anmut‘, auf die Spenser, wie mir scheint, nicht zufällig mit dem Wort „gratious“ anspielt,16 das heißt: auf die ästhetische Qualität, kommt es also an, will man kulturelle und mentalitätsgeschichtliche Wirkungen von Renaissancetexten erklären. Um den Versuch einer Bestimmung dieser Qualität geht es mir in meiner Lektüre der Fowre Hymnes. Genauer: Ich möchte zeigen, inwiefern Denkfiguren, die mit Recht als spezifisch neuplatonisch anzusprechen sind, diese Texte strukturieren und ihren eigentlichen, ästhetischen Zusammenhalt, damit eine ihrer zentralen Wirkungsstrukturen, ausmachen. Denn darüber, dass diese vier ‚Hymnen‘17 – an die Liebe, an die Schönheit, an die himmlische Liebe und an die himmlische Schönheit – neuplatonische Gehalte verarbeiten, besteht kein Dissens. Umstritten ist dagegen nicht nur, welcher Provenienz diese sind, sondern auch, wie sie sich zueinander und zu den übrigen, insbesondere den christlichen Repertoireelementen verhalten, und vor allem, worin eigentlich die Kohärenz dieser vier Texte besteht und was rechtfertigt, sie als ein Werk anzusehen. Die bloße Ansammlung und Addition dieser Elemente legitimiert noch nicht die Rede von einer neuplatonischen Ästhetik. Mit der kaum abschließend zu beantwortenden Frage nach Herkunft und Vermittlung der Motive und Themen hat sich vor allem die ältere Quellen- und Einflußforschung befasst. Spenser dürfte für fast jedes der aufgerufenen Elemente mehr als ein tradierendes Medium zur Verfügung gestanden haben: Die Schriften Platons und Plotins sowie des Corpus Hermeticum lagen in Marsilio Ficinos _____________ 14 15

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Castiglione/Hoby, The Book of the Courtier, 42; Castiglione, Il libro del Cortegiano, 36. So „A Letter of the Authors“ an Sir Walter Raleigh; Spenser formuliert dies in ausdrücklicher Verteidigung der Poetizität seines Textes und in Abwehr des Verlangens nach simpler Explikation der in ihm vermuteten Botschaft: „To some I know this Methode will seeme displeasaunt, which had rather haue good discipline deliuered plainly in way of precepts, or sermoned at large, as they vse, then thus clowdily enwrapped in Allegoricall deuises. But such, me seeme, should be satisfide with the vse of these dayes, seeing all things accounted by their showes, and nothing esteemed of, that is not delightfull and pleasing to commune sence.“ (in: Spenser, Fairie Queene, 737). „Grazia“/„grace“ ist eines der ethischen bzw. ästhetischen Schlüsselkonzepte in Il libro del Cortegiano/The Courtier. Der Begriff kokettiert mit ‚paganen‘ wie christlichen Gattungsimplikationen; die Gedichte wollen zugleich antiker Lobgesang (Hymnus) wie geistliches Lied (Hymne) sein.

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Übersetzung vor; er war mit einiger Wahrscheinlichkeit vertraut mit den Symposions-Kommentaren Ficinos und Loys le Roys,18 möglicherweise auch mit Benivienis Canzone d’Amore, kommentiert von Giovanni Pico della Mirandola, mit Leone Ebreos Dialoghi di Amore, mit Bembos Gli Asolani, direkt oder über das vierte Buch des Cortegiano, vielleicht kannte er sogar Brunos ‚englische‘ Dialoge, von La Cena de le Ceneri bis zu den Heroici Furori.19 Ohne Zweifel sind ihm die Werke Petrarcas und die Zeugnisse seiner englischen Adaptation und Kritik geläufig gewesen. Einiges konnte er in Ciceronianischer Perspektive kennengelernt haben. Grundzüge platonischer Theologie waren ihm in den Werken der Kirchenväter, nicht zuletzt den Schriften des Augustinus, zugänglich;20 anzunehmen ist, dass er Boethius’ De consolatione Philosophiae kannte, möglicherweise auch in der Version des von ihm verehrten Chaucer (Boece), usw. Breite und vielfache Vermitteltheit der verfügbaren Traditionsbestände erklären nicht zuletzt den ausgeprägt topischen Charakter der Fowre Hymnes. Mir geht es daher angesichts solcher Überdeterminiertheit nicht um eine Identifikation bestimmter Prätexte für einzelne Stellen.21 Allenfalls erscheint die Frage nach den Selektionskriterien interessant, mehr noch aber die Frage danach, wie die Spenserschen Texte ihre Elemente organisieren und welche Art von Relationen und Konsistenzen sie zwischen ihnen herstellen. Diese strukturelle Frage wird in gewissem Sinne von der auktorialen Instanz selbst aufgeworfen. Sowohl im Widmungsschreiben als auch im Text selbst werden die Fowre Hymnes als retractatio präsentiert. Zwar ist keineswegs erwiesen, dass die ersten beiden Gedichte tatsächlich früher entstanden sind und verbreitet wurden als die letzten zwei. Aber Spenser bezeichnet in seiner Dedikation an Margaret, Countess of Cumberland, und Anne, Countess of Warwick, die beiden „Hymnes of earthly or naturall love and beautie“ mit selbstkritischem Unterton als Jugendwerke, deren Makel er, da er außerstande gewesen sei, sie noch zurückzurufen, nunmehr versucht habe, in den beiden ‚himmlischen‘ Hymnen zu korrigieren: _____________ 18

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Ausführlich hierzu Ellrodt (1975), 95–110. Die neuere Forschung sieht (anders als Ellrodt) größere Affinitäten Spensers zu Ficino; vgl. z. B. Allen (1997). Ellrodt weist jeden ‚Einfluss‘ Brunos zurück, da weder direkte Entlehnungen noch eine vergleichbare Geisteshaltung erkennbar seien: „[…] I failed to detect any borrowing, and, beyond the commonplace notion of love as a divine fury, there is no real analogy between Spenser’s imaginative flights up to the heavenly beauty and Bruno’s strained and intense yearning to achieve intellectual illumination and self-surrendering union with the divine One.“ (Ellrodt [1975], 110). Die Präsenz christlicher Theologeme zugleich und in Überschneidung mit den neuplatonischen betont (gegen Ellrodt) vor allem Bieman (1988). Bjorvands Kommentar zu den Fowre Hymnes in den Shorter Poems weist in hoher Dichte Parallelstellen in Ficinos Symposium-Kommentar De Amore nach, s. Spenser, The Yale Edition of the Shorter Poems of Edmund Spenser; Ellrodt (1975) rückt andere Quellen stärker in den Vordergrund. Ohne Schwierigkeit ließen sich zusätzlich weitere Bezüge aufweisen (in HL etwa auf Plotins Enneade III 5).

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Verena Olejniczak Lobsien Having in the greener times of my youth, composed these former two Hymnes in the praise of Love and Beautie, and finding that the same too much pleased those of like age and disposition, which being too vehemently caried with that kind of affection, do rather sucke out poyson to their strong passion, then hony to their honest delight, I was moved by the one of you two most excellent Ladies, to call in the same. But being unable so to doe, by reason that many copies thereof were formerly scattered abroad, I resolved at least to amend, and by way of retractation to reforme them, making in stead of those two Hymnes of earthly or naturall love and beautie, two others of heavenly and celestiall.22

„Retractation“ bedeutet hier also nicht ‚Zurücknahme‘ oder gar den vollständigen Ersatz durch ein anderes. Dennoch spielt der Text mit der Ambivalenz des lateinischen retractare, das sowohl die starke Distanzierung des Widerrufs, ja der Streichung meinen kann als auch den milderen revisionistischen Gestus einer Überarbeitung oder erneuten Behandlung, die die ursprüngliche Fassung nicht gänzlich negiert und aufgibt, sondern sie nur unter teilweiser Ablehnung des Früheren in variierender Wiederholung aufhebt.23 Das Paradigma für dieses Genre geben die Retractationes des Augustinus (426–427) vor;24 der Gestus der bedauernden Zurückweisung eigener früherer Produkte, der Abkehr von ihrer Torheit und Prodigalität ist in der Renaissanceliteratur ein gut etablierter literarischer Typus.25 Bei Spenser treten die ‚reformierten‘ Hymnen auf die himmlische Liebe und Schönheit also nicht an die Stelle derer, die sie vorgeben zu emendieren, sondern folgen auf sie. Alle vier Gedichte perspektivieren einander im Leseprozess wechselseitig. Sie bilden eine Sequenz, in der jeweils die, die die Liebe _____________ 22

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Fowre Hymnes in: Spenser, The Yale Edition of the Shorter Poems of Edmund Spenser, 690; Original kursiv. Retractatio scheint kein klassischer rhetorischer Terminus zu sein; Quintilian verwendet ihn in Institutio Oratoria 9,3,36 im Zuge einer Erläuterung von Figuren der affirmativen oder kontrastiven Wiederholung. Allerdings definiert Edward Phillips laut OED in der Ausgabe seiner New world of English words von 1678 (noch nicht in der Erstausgabe 1658): „Retractation […] in Rhetorick […] is the same figure with that which is called in Greek Ploce.“ Der Begriff kann aber bereits im Lateinischen neben dem juristischen durchaus einen literarisch-technischen Beiklang haben; vgl. die im OLD aufgeführten Bedeutungen von retracto: „to handle again. […] 6. To occupy oneself or deal with again; (esp.) b to do (a structure) up again, retouch; to revise (literary work, etc.). c (leg.) to re-open (a case); to reconsider (a judgement or settlement, esp. with implication of questioning it. d to study afresh, re-examine.“ Im 16. und 17. Jahrhundert in England bekannt; s. auch die Belegstellen zu „retractation“ im OED, etwa aus Thomas Mores The confutacyon of Tyndales answere (1532): „Saynt Austyne […] found no faut in that saieng when he was after bishop at the time of his retractacions“. Entsprechend die vom OED vorgeschlagene Definition: „Withdrawal or recantation of an opinion, statement, etc., with admission of error“, im 16. Jahrhundert belegt etwa durch die Definition aus Elyots Dictionary von 1548: „Retractatio, a retractacion; a reuokyng of ones opinion.“ Besonders eindrucksvoll findet er sich beispielsweise auch bei George Gascoigne in den Paratexten zu A Hundreth Sundrie Flowres (1573) und The Posies (1575); s. „Prefatory Letters“ in: Gascoigne, A Hundreth Sundrie Flowres.

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apostrophieren, denen vorausgehen, die die Schönheit anreden, zugleich Liebe mit Schönheit abwechselt. Zudem alterniert paarweise Irdisches mit Himmlischem, zugleich eros- mit agape-Orientierung. Der gesamte Text lädt zu einem Vergleich des ersten Paares mit dem ‚verbesserten‘ zweiten ebenso ein, wie er dazu auffordert, die thematisch ähnlichen Gedichte (erster und dritter, zweiter und vierter Hymnus) und die in der Abfolge kontrastierenden zueinander in Beziehung zu setzen. So fügt sich auf den ersten Blick alles nach Prinzipien der Symmetrie, im Verhältnis 2 : 2, geordnet um eine Mittelachse. Zusätzlich erscheint das ganze, dem retractatio-Schema gehorchend, teleologisch zugespitzt, so dass Antikes gesteigert, wenn nicht aufgehoben und transzendiert erscheint durch Christlich-Jüdisches. Die an pagane Gottheiten, Eros („Cupid“) und Aphrodite („Venus“), adressierten Hymnen gehen voran und werden, so scheint es, überboten von denen, die sich an Christus und die Weisheit Gottes („Sapience“) wenden und sie rühmen. Solche vermeintliche Zielstrebigkeit und die gefällige Proportion des Viererschemas allerdings verschleiern nicht nur die Dynamik, mit der Liebe, Schönheit, Güte und Wahrheit hier interagieren. Sie täuschen auch, indem sie eine Wende an zentraler Stelle suggerieren, über eine Wirkungsstruktur hinweg, die man im wörtlichen Sinn als Konfusion, als gegenseitige Durchdringung und Verschmelzung, besser noch als Durchsichtigkeit füreinander auffassen kann. Weder der Begriff der Hybridität noch der des Synkretismus erklärt die transformativen Prozesse, denen Spensers Text seine Gegenstände unterzieht. Denn diese Effekte engster Bezogenheit thematischer und motivischer Elemente aufeinander beruhen ihrerseits auf rekursiven Strukturen. So greifen bei näherer Betrachtung die ‚irdischen‘ Hymnen bereits vor auf Elemente, die den ‚himmlischen‘ vorbehalten sein müssten, und die ‚himmlischen‘ nehmen sehr deutlich solche der ‚irdischen‘ wieder auf. Alle vier Hymnen bedienen sich überdies derselben Metaphoriken – des Fluges und des Aufstiegs, des Feuers und des Lichts, der Quelle und des Taus. Vor allem sind alle vier beherrscht vom gleichen hyperbolischen Pathos des komparativischen Mehr und Darüberhinaus. Das macht sich so konsistent bemerkbar, dass man von willkürlich ausgewählten Stellen in der Regel nicht ohne weiteres sagen kann, in welchem Hymnus sie sich finden. Der Gesamtduktus der vier Gesänge ist überaus ähnlich, und er ist geprägt von einer Figur, die sich als Selbstrückbezüglichkeit und Selbstüberholung beschreiben lässt: Sobald eine Aufstiegsbewegung vollzogen ist und man meint, bei der vorgestellten Perfektion angekommen zu sein, setzt der Text erneut an zu einem Aufschwung, der den vorangegangenen als bloß vorläufig erweist. Die Fowre Hymnes sind ein Text, der nicht aufhören kann zu beginnen. In dieser vorläufigen Beschreibung aber zeichnet sich ab, in welchem Sinne Spensers Gedicht die in der Widmung vorgetragene Programmatik der retractatio modifiziert und tatsächlich überbietet. Denn es artikuliert die poetische Homologie zu einer philosophischen Figur: Der Text formiert sich zu Strukturen, die der neuplatonischen epistrophé äquivalent sind, und er verquickt sie in noch zu beschreibender Weise mit solchen der Negation von Sagbarkeit (apophasis),

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wie sie nach Plotin etwa von Proklos, als negative Theologie vor allem aber von christlichen Neuplatonikern wie Dionysius Areopagita und Eriugena und nicht zuletzt von Nikolaus von Kues ausgearbeitet wurden.26 Epistrophé meint, grob gesprochen, die Hin- bzw. Rückwendung zum Einen; jene doppelte Bewegung, mit der der aus dem Absoluten hervorgehende Geist und die in ihm gründende Seele ineins zu sich und zum Höchsten zurückkehren. Epistrophé führt zum Selbstbewusstsein der Seele aus präreflexivem Grunde und zum Zusichkommen des Geistes ermächtigt vom Einen in einer zeitfreien Bewegung, in welcher sich beide zugleich konstituieren und überschreiten.27 Als „Urform von Intentionalität“28 ist epistrophé (in der absoluten Metapher29 Plotins) ein von seinem Gegenstand erst ermöglichtes Hinblicken und Sehenwollen,30 zugleich eine Weise der Selbstkonstitution des Sehenwollenden, die nicht ‚autonom‘ ist, sondern vorreflexive und vordiskursive Rückkehr zu sich als Rückkehr zum Einheitsgrund jeglicher Bewusstseinsleistung.31 Sie ist buchstäblich unvordenklich, allenfalls in apophatischer Rede anzudeuten. _____________ 26

27 28 29 30

31

Zur Systematik von aphairesis und apophasis in der Nachfolge Plotins vgl. Halfwassen (2004), 44–49, 140 und Kapitel VI („Neuplatonismus nach Plotin“); zu Proklos und zum christlichen Neuplatonismus vgl. Beierwaltes (1979); zum proto-literarischen Potential der negativen Theologie des Cusaners vgl. auch Olejniczak Lobsien (1999). Hierzu Halfwassen (2004), 86–93, 97, 133. Halfwassen (2004), 91. Blumenberg (1960/1998). So im Verhältnis von Geist und Einem (Jenem): „Nun ist jenes aber nicht Geist; wie kommt es also, daß es Geist erzeugt? Dadurch daß er, indem er sich zu ihm hinwendet, sieht; dieses Sehen ist Geist.“ (Enneade V 1, 7, 4–6; in: Plotin, Ausgewählte Schriften); vgl. in derselben Übersetzung auch V 1, 6, 16–19: „Alles, was in Bewegung ist, muß etwas haben, auf das es sich zubewegt. Hat es dagegen nichts dergleichen, dürfen wir nicht annehmen, daß es in Bewegung ist, sondern wenn in diesem Fall etwas nach ihm entsteht, bedeutet das zwangsläufig, daß dieses sich jeweils zu ihm hingewandt hat und so entstanden ist.“ Halfwassen schließt sich dieser Interpretation an, die den Akt der Hinwendung dem Zweiten zuschreibt und daraus die Selbstkonstitution des Seins erklärt, indem er übersetzt: „Da Jenes (das Eine selbst) nichts hat, zu dem Es sich bewegen könnte, so dürfen wir nicht annehmen, daß es sich bewege; sondern wenn nach ihm etwas entsteht, muß es notwendig entstanden sein, indem jenes Entstehende sich immer schon auf Es (das Eine) hingewendet hat (epistraphentos).“ (Halfwassen [2004], 90). Die Einfügung von „immer schon“ markiert die Zeitfreiheit dieses Vorgangs, die ja auch Plotin im Folgenden hervorhebt. – Harder übersetzt die umstrittene Stelle dagegen wie folgt: „Da nun Jenes (das Eine) nichts hat zu dem es sich bewegen könnte, so dürfen wir nicht annehmen daß es sich bewege; sondern was etwa nach ihm entsteht, muß notwendig entstanden sein indem Jenes unverwandt auf sich selbst gerichtet war; […]“. (Plotin, Plotins Schriften, 223). Vgl. Halfwassen (2004), 133, unter Verweis auf Enneade V 3, 3–4: „Im Selbstbewußtsein der Seele, die unser eigentliches Ich ist, wirken die bewußte Selbsttätigkeit der Seele, die diskursiv ist, und die intellektuelle Selbstanschauung des Geistes untrennbar ineinander: in ihrem diskursiven Denken vermittelt die Seele sich reflexiv zu sich selbst, aber ihr Selbstbewußtsein kommt dabei selber weder reflexiv noch diskursiv zustande, sondern durch eine vom Geist vollzogene intellektuelle Anschauung […].“ Vgl. auch Plotin, Enneade V 3, 11. – Zu den Aporien, in die der Versuch führt, Selbstbewusstsein als Produkt von Reflexion zu erklären, sowie zum Selbstbewusstsein als präreflexive Vertrautheit mit sich aus unverfügbarem Grunde vgl. auch Henrich (1966) und Henrich (1970).

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Spensers Fowre Hymnes nun, das versuche ich in meiner Lektüre zu zeigen, können beanspruchen, eine solche via negativa zugleich vorzuführen und den Lesenden zu weisen. Sie unterbreiten keine systematische Philosophie. Aber sie sind ein Beispiel für das literarische Denken der Renaissance, wie es sich so nur im Zeichen des Neuplatonismus herausbilden konnte. Gegen eine solche anspruchsvolle Lesart – und für das schlichte Schema einer retractatio ohne metaphysische Dimension – ließe sich einwenden, dass die Geste der Bekehrung und des Selbsttadels in der Mitte des Gesamttextes, zu Beginn des zweiten Paares, in der zweiten Strophe der Hymne of Heavenly Love nochmals nachdrücklich bekräftigt wird: Many lewd layes (ah woe is me the more) In praise of that mad fit, which fooles call love, I have in th’heat of youth made heretofore, That in light wits did loose affection move. But all those follies now I do reprove, And turned have the tenor of my string, The heavenly prayses of true love to sing. (HHL, 8–14)

Aber nicht nur wird damit ja die Lektüre der ersten beiden Gedichte keineswegs ungeschehen gemacht – die Absage an diese und die angebliche Umstimmung des Gesangs von wahnhafter zu wahrer Liebe lenken erst recht die Aufmerksamkeit retrospektiv auf sie und ihre poetische Pyrotechnik („wide sparckling fire“, HHL, 17). Wie schon die erste Strophe des Hymnus, die einsetzt mit einer Bitte – „Love, lift me up upon thy golden wings“ (HHL, 1) –, die so auch an Cupido hätte gerichtet werden können (vgl. HL, 64–70), überspielt dieser Beginn, was er zu markieren behauptet. Auch der irdische Eros wurde ja als „Lord of truth and loialtie“ apostrophiert, der sich ebenfalls auf „golden plumes“ hoch über „loathly sinfull lust“ hinaus- und in himmlische Höhen aufschwingt (vgl. HL, 176–189, Strophe 26 und 27). Wird nun die aus freien Stücken geschenkte Liebe Christi besungen, so geschieht dies keineswegs in einer anderen Sprache. Das poetische Register bleibt weitgehend das gleiche; der Übergang vollzieht sich nahezu unbemerkt, da der Text schon zuvor fortwährend zum Übersteigen des Materiellen, Vorfindlichen und Hiesigen aufgefordert hatte. So handeln alle vier Hymnen mit großem Nachdruck vom Transzendieren, sie führen es vor, und sie appellieren ständig an den Leser, es zu praktizieren. Zugleich schwinden auf diese Weise die qualitativen und kategorialen Unterschiede zwischen den verschiedenen Transzendenzen, die doch voneinander gesondert und in eine Rangfolge gebracht werden sollten. Damit erscheint der Gestus der Umkehr und der Wandlung aber im Licht eines kuriosen Selbstdementis – als transparente Dissimulation. Geben die beiden letzten Hymnen vor, Vorangegangenes zu invertieren, Verkehrtes richtig zu stellen und Fehlerhaftes wieder gut zu machen, so macht sich diese Haltung nun durchsichtig als bloße Inszenierung einer Bekehrung einschließlich ihres dramatischen Wendepunkts; als Vorführung einer Revision, die das zu Revidierende in der Variation bestehen lässt und es in gewissem Sinne erst recht zur Geltung

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bringt. Die Rhetorik des Bruchs wird eingelöst von einer Ästhetik der Rekonfiguration. Damit aber verschärft sich die Frage nach dem Einheitsgrund aller vier Hymnen, zugleich nach der Poetik, die der retraktatorische Gestus dissimuliert und in der Struktur des Gesamttextes ausstellt. Diese beruht, wie ich zeigen möchte, auf einer selbstbewussten, metapoetisch reflektierten und vor allem auf eine neuplatonische Struktur gegründeten Wirkungsästhetik. Spensers Fowre Hymnes verlangen von ihren Lesern, ‚durch Liebe zu lesen‘ – „read through love“ (HHL, 224) –, nicht nur in dankbarem Wissen um die freie Heilstat Christi und in Erwiderung seiner Zuwendung, sondern auch in der metaphorischen Brechung der himmlischen Metaphysik durch das, was die ersten Hymnen zur irdischen Liebe ausführen. Damit und in der fortwährenden Überholung des einmal Erreichten üben sie zugleich in eben die Weisheit ein, die der letzte Hymnus thematisiert – als schweigende und zugleich jeder Sagbarkeit sich entziehende. Sie zeigen in ihrer eigenen ästhetischen Praxis jene Weisheit, von der sie handeln, ohne sie aussprechen zu können. Indem dieser Text eine Rhetorik der retractatio in Anspruch nimmt und zugleich aushöhlt, lässt er durchscheinen, was in neuplatonischen Topoi nicht fixiert und auch nicht durch ihre möglichst vollzählige Katalogisierung evoziert werden kann. Indem er Transparenz zur Lektüreerfahrung macht, jeden Blick auf ein vermeintlich bekanntes Element über sich hinaus auf neue, jeden Blick auf ein neues zurück auf bekannte Elemente lenkt, löst er in solcher alterierenden Rückkehr zu sich selbst zugleich das ungeschriebene Programm einer neuplatonischen Ästhetik ein. Transzendenz wird hier gleichsam agiert. Wir folgen einer Bewegung progressiver Rückwendung und fortgesetzter Reinterpretation des ‚Ursprünglichen‘ mit dem Anspruch, das ontologisch Primäre (aber zeitlich Nachfolgende) mit dem zeitlich Vorgängigen (aber ontologisch Sekundären) in eins zu überführen. Der grundlegende Gestus ist vorgezeichnet schon im biographischen Mythos der Widmung, der die Integration des Früheren durch Rückgang und Einfaltung in ein Späteres und ‚Eigentliches‘ behauptet.

III. Unaussprechliche Transparenz In der Andeutung solcher Transparenz, die sich in einem Voranschreiten durch ständiges Zurückgehen hinter sich einstellt, zeichnet sich die Schwierigkeit ab, sie darzustellen, will man nicht einfach alle vier Gedichte deklamieren. Als sie selbst lässt sie sich nicht präsentieren. Der Text der Fowre Hymnes ist als ganzer von ein und derselben poetischen Energie durchdrungen, diese aber ist diskursiv nicht abbildbar, weil sie unter anderem in der Negation sprachlicher Aneignung und Verfügung besteht. Die unausgesetzte Wiederholung des Unaussprechlichkeitstopos bekräftigt so, was die vier Hymnen vorführen. Das geschieht beispielsweise, indem sie den permanenten Aufschub ihrer selbst praktizieren und zugleich reflektieren. In allen vier Hymnen bekundet der

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Sprecher seine Bereitschaft, der angesprochenen Personifikation einen Lobgesang darzubringen. Ausdrücklich bietet er in den einleitenden Strophen von An Hymne in Honour of Love dem siegreichen Eros an, seinen Namen und seine Taten zu preisen („to sing the praises of thy name“, 10; „thy actes to sing“, 21), um ihn sich gewogen zu machen; er fordert Musen, Nymphen und schöne junge Mädchen auf, sie möchten sich bereit machen, im Tross ihres Souveräns mitzuziehen und „this sacred hymne“ (41) zu singen. Aber es bleibt fraglich, ob das, was diesem ‚Doppelpunkt‘ folgt, tatsächlich der in Aussicht gestellte Gesang ist. Denn nicht nur zweifelt der Sprecher wiederholt an seiner Fähigkeit, die rechten Worte zu finden, um die Macht des Eros angemessen zu rühmen und die Wunder seiner Geburt zu verkünden:32 In der Schlussstrophe steht die versprochene „heavenly Hymne“ (302) immer noch aus, und der Sprecher vertröstet den Gott, indem er das Gedicht rückblickend zum „simple song“ (307) erklärt, mit dem er sich ihm vorläufig, bis zur ebenfalls noch ausstehenden Erfüllung seines Verlangens verschreibt. Nicht anders in der unmittelbar anschließenden Hymne in Honour of Beautie, in der der Sprecher als erstes bekennt, ihr Gegenstand übersteige sein poetisches Vermögen bei weitem (6), um sich dann anzuschicken, eben diesen unmöglichen Lobgesang auf Venus zu komponieren (10). Zugleich präsentiert er dabei aber dieses Unterfangen durch sein inständiges Gebet um Erleuchtung (19–21) als ein noch nicht durchgeführtes, das vielmehr erst durch den erhofften Gnadenerweis der Göttin realisierbar würde. Erst dann würden all ihre Vasallen (269) den Lobgesang – „this Hymne in honour of thy name“ (272) – ertönen lassen. Der vorliegende Text erhält auf diese Weise einen paradoxen Status: Er ist uneigentlich, noch nicht die versprochene Gabe (deren Qualität ja der Vollkommenheit der Gottheit entsprechen müsste), und will doch zugleich mehr sein als eine bloße Vorleistung, die deren Gnade einzuhandeln sucht. Als solche ist er bereits inspiriert von dem, worauf er sich bezieht: dessen Reflex und darin doch erst Verweis auf noch Ausstehendes. Die Figur wiederholt sich in erneuter Komplikation zu Beginn der Hymne of Heavenly Love, in deren erster Strophe der Sprecher „Love“ um die Gewährung einer über-irdischen Schau jener staunenswerten, von der Liebe bewirkten Dinge bittet („Farre above feeble reach of earthly sight,“ HHL, 5), die ihn eigentlich erst zum avisierten Lobpreis befähigte: „That I thereof an heavenly Hymne may sing | Unto the god of Love, high heavens king“ (6–7), – nur um wenige Strophen später die gleiche Bitte an den Heiligen Geist zu richten33: _____________ 32 33

Vgl. Strophe 3, 15–17, Strophen 7 und 8. Der zugleich mit dem Epitheton –„pure lampe of light“ (HHL, 43) – angeredet wird, das in HB in synonymen Wendungen mehrfach als Ehrentitel der Venus verwendet wurde (vgl. 13, 19, 55, 99–105, 128, 175, 187, 218). In der nächsten Zeile wird er als Quelle der Weisheit bezeichnet („Eternall spring of grace and wisedom trew“, HHL, 44), welche dann im folgenden Hymnus besungen werden wird, und in Strophe 25 wird auch Christus mit Epitheta bedacht, die ebenso auch dem Eros oder seiner Mutter zugesprochen werden bzw. werden könnten („well of love“, „floure of grace“, „Morning starre“, „lampe of light“, „Lord of might“, HHL, 169–172): Auch

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Verena Olejniczak Lobsien Vouchsafe to shed into my barren spright, Some little drop of thy celestiall dew,34 That may my rymes with sweet infuse embrew, And give me words equall unto my thought, To tell the marveiles by thy mercie wrought. (HHL, 45–49)

Wiederholt erbittet der Text, was er als Bedingung seiner Möglichkeit eigentlich voraussetzt: die zu poetischer Rede inspirierende Teilhabe am je Höheren. Umgekehrt erscheint diese durch die Wiederholung durchweg als noch nicht endgültig erreicht und als erst zukünftig einzulösende. Solche Zukünftigkeit wird vorzugsweise dann affirmiert, wenn sich der Text kurz vor einer closure zu befinden scheint. So ergeht im letzten Viertel der Hymne of Heavenly Love – nachdem bereits die systematische Präsentation trinitätstheologischer und heilsgeschichtlich-dogmatischer Grundlagen abgeschlossen, die Selbstkonstitution der Dreieinigkeit aus Liebe ebenso skizziert ist wie der Abfall Luzifers, der menschliche Sündenfall, Inkarnation des Sohnes und dessen erlösender Kreuzestod als Quell des Heils und Grund für Gottes- und Nächstenliebe –, nochmals und überraschend die Aufforderung „Beginne from first“ (HHL, 225). Sie leitet eine erneute Betrachtung des Lebens und Leidens Jesu ein, die in einen weiteren Appell, seine vollkommene Hingabe ebenso freiwillig und vollständig zu erwidern, mündet (vgl. HHL, 265–266). Aber auch damit endet der Text nicht, sondern er erklärt die aus solcher Meditation zu gewinnende Einsicht und spirituelle Verpflichtung wiederum zu einem Beginn: zum Ursprung des eigentlichen, nicht durch Irdisches zu stillenden Verlangens – „devouring great desire | Of his deare selfe, that shall thy feeble brest | Inflame with love, and set thee all on fire“ (HHL, 268–270). Und wieder ist dieses Verlangen – und mit ihm rückblickend die geistliche Frucht des in den 41 Strophen dieser Hymne veranstalteten Kursus durch die christliche Erlösungstheologie – markiert als etwas, das noch aussteht: Thenceforth all worlds desire will in thee dye, And all earthes glorie on which men do gaze, Seeme durt and drosse in thy pure sighted eye, Compar’d to that celestiall beauties blaze, Whose glorious beames all fleshly sense doth daze

_____________ 34

diese Verfahren dienen der simultan rückwärts- und vorlaufenden Identifikation und Einheitsstiftung. Eben diese Bitte – um „One drop of grace“ (HB, 277) bzw. „one drop of dew reliefe“ (HB, 284) – wurde am Schluss der vorangegangenen Hymne in Honour of Beautie an Venus gerichtet und suggeriert nochmals eine Selbigkeit der Adressatinnen. – Zur antiken Bedeutung des ‚Abtropfens‘ (aporroia) und zu dessen einschränkender neuplatonischer Wendung zu einer Verausgabung, die ihren Ursprung nicht mindert, s. auch Dörrie (1965). Plotin formuliert (mit der charakteristischen Kautele) in Enneade III 4, 25–27 über das Oberes wie Unteres umfassende Sein der Seele: „[…] wir leiten gewissermaßen einen Ausfluss des Oberen in die untere Welt oder richtiger: eine Wirkungskraft, wobei das Obere sich nicht mindert.“ (Plotin, Ausgewählte Schriften; vgl. zu dieser und ähnlichen Passagen Dörrie [1965], 136–7).

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With admiration of their passing light, Blinding the eyes and lumining the spright. Then shall thy ravisht soule inspired bee With heavenly thoughts, farre above humane skil, And thy bright radiant eyes shall plainely see Th’Idee of his pure glorie present still, Before thy face, that all thy spirits shall fill With sweet enragement of celestiall love, Kindled through sight of those faire things above. (HHL, 274–287)

Auch dieser zukünftige Schluss, die vorgestellte Schau der „Idee“ der Glorie des Auferstandenen in einem ekstatischen, ‚sehenderen Sehen‘,35 das die Blendung des irdischen Gesichtssinns angesichts solcher himmlischen Schönheit voraussetzt und geistlich die reine Herrlichkeit erblickt, beschließt zwar den Hymnus, bildet aber kein Ende. Er wird vielmehr unter Explikation des in der imaginierten Verzückung angelegten metapoetischen Potentials nochmals reflexiv umfunktionalisiert zu bloßer Vorläufigkeit und zum Übergang zum letzten der vier Hymnen. Vom Schluss dieses letzten Hymnus her wird der Schluss des vorletzten indes wahrnehmbar als eine Prolepsis, die tatsächlich bereits vorwegnimmt, was als ultimative Steigerung eigentlich noch folgen sollte. Wieder zeigt sich hier das epistrophische Grundprinzip dieses Textes: In der Geste des Neubeginns, die ihrerseits nur als inspirierte möglich ist, angestoßen und motiviert durch jenes anvisierte Höhere und als dessen Eingebung, liegt zugleich die ‚Ankunft‘ der Poesie ineins mit der unüberbietbaren Weisheit, die, der retractatio-Logik folgend, doch erst am Schluss besungen werden sollte. Indem der Text den Akt der Medialisierung für die Selbstmitteilung des Einen unaufhörlich wiederholt, kommt er buchstäblich zu sich – außer sich in der Entrückung des Vollkommenen. So kommt er zwar voran, aber nicht weiter: In Spensers Text balanciert die epistrophé die vorgebliche Teleologie aus. Anders ausgedrückt: In der proleptisch-analeptischen Grundfigur der Fowre Hymnes, die das Ende im steten Neubeginn als immer noch ausstehendes paradox antizipiert, präsentiert der Text das poetische Analogon zur neuplatonisch präparierten negativen Theologie, zu einer apophatischen Redeweise, die darauf besteht, das Göttliche nicht anders als in Verneinungen und im Abweisen von Zuschreibungen anzudeuten. Und er bringt es fertig, solches Verharren im Vorfeld als Inbegriff des Poetischen vorzuführen. _____________ 35

Jenes „andere Sehvermögen“, von dem Plotins Enneade I 6, 8 und 9 handelt; das zugleich intellektuelle und spirituelle Sehen, das Castiglione auch Bembo in Buch IV des Book of the Courtier mit deutlichem Plotin-Echo beschreiben lässt: „[…] the soule […] tourninge her to the beehouldyng of her owne substance, as it were raysed out of a most deepe sleepe, openeth the eyes that all men have, and fewe occupy […]: therfore wexed blinde about earthlye matters, is made most quicke of sight about heavenlye.“ (Castiglione/Hoby, The Book of the Courtier, 395).

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Denn auch An Hymne of Heavenly Beautie stellt den Glanz der himmlischen Schönheit nicht wirklich vor Augen. Der vermeintlich höchste Punkt der hier inszenierten Bewegung eines mehrfach in sich zurücklaufenden Aufstiegs wird ebensowenig evident wie alle früheren. Was hier zu sehen ist, ist nicht zu sehen. Und es ist nicht zu sagen; das proklamiert gleich der Anfang: Rapt with the rage of mine own ravisht thought, Through contemplation of those goodly sights, And glorious images in heaven wrought, Whose wondrous beauty breathing sweet delights, Do kindle love in high conceipted sprights: I faine to tell the things that I behold, But feele my wits to faile, and tongue to fold. (HHB, 1–7)

Mit der Mitteilung der Vision himmlischer Schönheit, der „goodly sights“, „glorious images“ und „wondrous beauty“, fühlt sich der Sprecher schon zu Beginn des Hymnus, in dem doch alles Vorhergehende aufgipfeln sollte, überfordert. Nochmals wird eine Variation des Unsagbarkeitstopos angeboten. Sein poetischer Furor läuft in sich. Er ist hingerissen von seinem eigenen Entzücken; das Rasen seines „ravisht thought“ unterscheidet sich allenfalls dadurch vom „sweete enragement“ der in der letzten Strophe des vorigen Hymnus vorgestellten gottseligen Verzückung („Then shall thy ravisht soule inspired bee | With heavenly thoughts“, HHL, 281 f.), dass es sich an sich selbst entzündet. Ausgerechnet auf dem höchsten Niveau seiner Inspiration und im Anlauf zur vermeintlichen Klimax des Textes scheint sich der Sprecher derart in seiner eigenen imaginativen Mania verfangen zu haben,36 dass er schon deshalb an der selbstgesetzten poetischen Aufgabe zu scheitern droht. Aber genau diese mittlerweile bekannte Figur sprachlichen Versagens gilt es offenbar wieder und wieder auszustellen. Das wortreiche Verstummen des Dichters erscheint als der zentrale Gegenstand eines Textes, der darauf zielt, sich und verwandte „high conceipted sprights“ in eine spezifische Transzendenzerfahrung einzuüben, die auf spezifischer Negativität und Rekursivität beruht. Nur als Ohnmächtiger, radikal angewiesen auf die in der nächsten Strophe einmal mehr vom Heiligen Geist erbetene Erleuchtung, kann das Ich des Textes hoffen, so über sich hinauszugelangen –„Transported with celestiall desyre | Of those faire formes“ (HHB, 18 f.) – wie ihm das schon die Struktur seines unstillbaren Verlangens („infinite desyre“, HL, 202)37 im ersten der vier Hymnen vorgab. Poetischer Furor könnte wahrhaftig zu göttlichem werden, wäre damit nicht ebenfalls angedeutet, dass auch dieses endgültige Ankommen sogleich wieder in eine rekursive Schleife eingespeist wird. Erweist sich so die zirkuläre Figur _____________ 36 37

Mit einem möglichen Pun: „Rapt“ und „wrapt“ sind homophon. Vgl. auch den Kontext dieser Formel in HL, Strophen 28 und 29, die sowohl die Sehnsucht nach der „fairer forme“ (HL, 193) als auch die mit solchem Begehren verbundenen Tantalusqualen betonen (vgl. 201–2).

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retrospektiver Antizipation38 als in mehrfacher Hinsicht leitend auch für den letzten Hymnus, so überrascht es nicht, daß auch dieser Gesang kurz vor Erlangen des vermeintlich höchsten kontemplativen Rangs sich zugleich rückblickend und prospektiv orientiert, indem er noch einmal ganz unten ansetzt – „Beginning then below“ (HHB, 22). Der Sprecher lässt sich gleichsam sinken und kommentiert diese Bewegung in einer metaphorischen Selbstbeschreibung seines Textes. Hier ist keine Rede mehr von einer Erhebung auf „golden wings“ (HHL, 1) oder von den „golden plumes“ des Eros (HL, 178). Anders als in den vorangegangenen Hymnen wird hier ein wenig glanzvoller Suspens, ein erschöpftes Innehalten eines geflügelten Geschöpfes zum Vergleich herangezogen und die Notwendigkeit der allmählichen Assimilation an die bevorstehende Überforderung betont. Zugleich wird die vermeintliche Erschlaffung als Kräftesammeln, die eigenartige kontemplative Kinetik des Textes, der wiederholt in Bereiche zurückkehrt, die er eigentlich bereits verlassen haben müsste, als Lernprozess interpretiert: Of the soare faulcon so I learne to fly, That flags awhile her fluttering wings beneath, Till she her selfe for stronger flight can breath. (HHB, 26–28)

_____________ 38

Diese komplexe Zirkularität erscheint unterschieden von den vergleichsweise einfachen Ausgangs- und Rückkehrfiguren, wie sie sich gelegentlich auch bei neuplatonischen Autoren finden; vgl. etwa Ficino in De amore [Commentarium in Convivium Platonis de amore] II, ii („Quo pacto divina pulchritudo amorem parit“): „Quoniam si deus ad se rapit mundum mundusque rapitur, unus quidam continuus astractus est a deo incipiens, transiens in mundum, in deum denique desinens, qui quasi circulo quodam in idem unde manavit iterum remeat. Circulus itaque unus et idem a deo in mundum, a mundo in deum, tribus nominibus nuncupatur. Prout in deo incipit et allicit, pulchritudo; prout in mundum transiens ipsum rapit, amor; prout in auctorem remeans ipsi suum opus coniungit, voluptas.“ (Ficino, Über die Liebe oder Platons Gastmahl, 38. – „Da eben Gott die Welt zu sich hinzieht und die Welt zu ihm hingezogen wird, so besteht eine dauernde Anziehung zwischen Gott und der Welt, welche von Gott ausgeht, auf die Welt sich überträgt und in Gott zum Abschluß kommt, demnach sozusagen im Kreislauf zu ihrem Ausgangspunkt zurückkehrt. Ein und derselbe Kreislauf also, nämlich von Gott zur Welt und von der Welt zu Gott hin, wird auf dreifache Weise benannt. Insofern er in Gott entspringt und zu ihm hinzieht, heißt er Schönheit, insofern auf die Welt sich erstreckt und sie an sich reißt, wird er Liebe genannt; insofern er, zum Urheber zurückkehrend, diesen mit seiner Schöpfung verbindet, heißt er Genuß.“ Ficino, Über die Liebe oder Platons Gastmahl, 39). Ficino verweist zur Bestätigung auf Dionysius Areopagita: „Amor circulus est bonus a bono in bonum perpetuo revolutus.“ In der deutschen Übersetzung von Beate Suchla lautet die Passage aus De divinis nominibus, 4, 712 D: „Auch darin zeigt der göttliche Eros auf ausgezeichnete Weise das Endlose und Anfangslose seiner selbst gleichsam wie ein ewiger Kreis, der sich wegen des Guten, aus dem Guten, in dem Guten und zu dem Guten hin in stetiger Umdrehung befindet und wegen demselben und infolge desselben immer weitergeht, feststeht und zurückkehrt.“ (Pseudo-Dionysius Areopagita, Die Namen Gottes, 53).

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Der junge Falke39 ist noch flugunerfahren, sein Gefieder noch zu wenig dicht, seine Schwingen scheinen noch zu schwach zu sein für den anstehenden Höhenflug. Er scheint auch über diesen Stand aerodynamischen Ungenügens kaum hinauszugelangen. Noch Strophen später, um die Mitte des Hymnus ermuntert sich der Sprecher mit einem unüberhörbaren Phaidros-Echo, seine Seelenflügel durch die rechte kontemplative Einstellung auf die göttliche Güte, die sich in der Schönheit der Schöpfung mitteilt (vgl. 132 f.), zu kräftigen und auszubessern, damit er, vergleichbar den edlen Greifen („the native brood of Eagles kynd“, 138)40 den Glanz des Allerhöchsten („that bright Sunne of glorie“, 139) anzublicken vermag: Thence gathering plumes of perfect speculation, To impe the wings of thy high flying mind, Mount up aloft through heavenly contemplation, From this darke world, whose damps the soule do blynd, (HHB, 134–137)

Erneut sind wir damit aber beim Hiesigen und Weltlichen, an dem Punkt, von dem sich der Text schon mehrfach abgestoßen hatte. Eben hier – „with th’easie _____________ 39

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Ein Falke vor der ersten Mauser. Das weibliche Pronomen ist technisch korrekt; der bei der Beizjagd verwendete und für sie ausgebildete Falke wird in der Fachliteratur stets als weiblich bezeichnet, unabhängig davon, dass tatsächlich bei den meisten für die Beizjagd eingesetzten Greifvögeln die weiblichen Tiere größer und kräftiger sind als die männlichen, daher für bestimmte Arten von Wild (Hasen, Kaninchen, Fasane) besser geeignet. Vgl. hierzu Radcliffe (1910), 141–147. Spenser bedient sich, wie auch spätere Passagen bestätigen (z. B. „To impe the wings of thy high flying mind“, HHB, 135), des falknerischen Spezialvokabulars; andererseits sorgt das gendering natürlich zugleich für eine erhöhte Suggestivität: Der Falke kann so als besonders prägnantes Bild der ebenfalls weiblich figurierten Seele erscheinen. – Der literarische Falke im 16. und 17. Jahrhundert verdiente eine eigene Untersuchung. Sie hätte nicht nur die Dichtung Spensers wie der späteren Metaphysical Poets einzubeziehen, sondern auch Shakespeare (z. B. Henry VI, Part Two, 2.1.1–49) und nicht zuletzt die Prosa des 17. Jahrhunderts. Während die Emblematik unter dem Gesichtspunkt spezifisch neuplatonischer Pointierungen nicht sehr ergiebig erscheint, finden sich aufschlussreiche Verwendungen der Falknereimetaphorik im Kontext der neuplatonisch getönten Seelenfreundschaften im England der Restaurationszeit; etwa in folgender Passage aus Robert Boyles Traktat „Some Motives and Incentives to the Love of God (Seraphick Love)“ von 1659: „So I shall now endeavour to prevent the future gaddings of your Love to objects, that cannot deserve so transcendent and disinterested a one, as I have observed yours to have been; […] Yes, Lindamor, as it has hitherto been my not-unprosperous Task, to un-hood your soul, I shall now make it my business, to show her Game to fly at. I see that Love in Lindamor is too noble and predominant an affection, to be either easie or fit to be destroyed. […] I wish’d it withdrawn from Hermione, not to annihilate it, but to transfigure it.“ (Boyle, The Works of Robert Boyle, 67. Für den Hinweis auf diese Passage danke ich Cornelia Wilde.) Der Adler ist mythologisch und emblematisch in dieser Hinsicht besonders privilegiert; er vermag direkt in die Sonne zu schauen (vgl. etwa die Versionen des Motivs „Adler macht mit seinen Jungen die Sonnenprobe“ in: Henkel u. Schöne [1978], 773–774. Das auf Ps 103.5 und Jes 40.31 anspielende Motto „RENOUATA IUUENTUS“ findet sich allerdings sowohl in Emblemen, die Adler im Anblick der Sonne zeigen, als auch über Falken-picturae, vgl. Henkel u. Schöne [1978], 776–777 und 785–786.) Noch die Falknerei des 20. Jahrhunderts weiß, dass der Anblick der Morgensonne allen Greifvögeln besonders gut tut (vgl. Radcliffe [1910]).

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vew | Of this base world, subject to fleshly eye“ (22–23) –, hatte der Aufstieg des jungen Falken ja begonnen, um sich von dort aus über zwölf Strophen von den Kreaturen zum Schöpfer, von Elementen, Gestirnen, Sphären über die seligen Geister, Ideen und Intelligenzen, über Throne, Mächte und Gewalten, Cherubim und Seraphim, Engel und Erzengel bis zum Höchsten, von geschaffener zu ungeschaffener Schönheit, zum „Highest farre beyond all telling“ (101) aufzuschwingen. Und wieder hält der Sprecher inne – „Cease then my tongue“ (106) –, denn selbst der Abglanz solcher Vollkommenheit ist unaussprechlich: „How then can mortall tongue hope to expresse, | The image of such endlesse perfectnesse?“ (104–105). Wenn sich hier etwas steigert, dann ist es allenfalls die apophatische Intensität. Im Zuge seiner Betrachtung endlich vor den Thron Gottes gelangt, der im Glanz seiner eigenen Herrlichkeit dem menschlichen Auge verborgen ist (vgl. 178 f.), sucht der Sprecher nun wenigstens den Anblick der Weisheit, „Sapience“ (183), zu imaginieren. Aber obwohl es gelingt, sie als „soveraine dearling of the Deity“ (184) und Geliebte Gottes (vgl. 241) allegorisierend mit allerhand herrscherlichen Attributen auszustatten, bleibt auch dieser superlativische Fokus der in den Fowre Hymnes zusammengezogenen Traditionen, an dem sich die jüdische, christliche, platonische und patristische Semantik unübertrefflicher Einsicht und reichsten Wissens verdichtet,41 im letzten ein gestaltloses Aggregat von Bedeutsamkeit, eine Addition von Resonanzen aus den unterschiedlichsten Quellen, aber jeder Konkretion entrückt. Der Glanz ihres Antlitzes als Abglanz des göttlichen (vgl. 207) ist dem poetischen Wort wie der menschlichen Vorstellungskraft radikal (vgl. 209) entzogen. Die Weisheit spricht auch nicht. Ihr Schweigen scheint dem staunenden Verstummen des Dichters zu entsprechen (der dieses allerdings wieder kopios elaboriert). Dass ihr Anblick dennoch höchste Wonne bedeutet42 und in denen, die ihrer ansichtig werden, ekstatisches Entzücken („extasy“, 261) auslöst, das sie außer sich geraten lässt – „from flesh into the spright“ (259): All’ das wird ebenso unermüdlich beteuert wie das Versagen des künstlerischen Vermögens vor diesem Sujet.43 Erkennbar wird diese sapientia nur als nicht erkennbare. Poetisch ist ihr Anblick verstellt durch die durch und durch topische Schilderung der überwältigenden Wirkung ihrer himmlischen Schönheit, die sie jenen zeigt, die ihr nahen dürfen (vgl. 252–255). _____________ 41 42

43

Vgl. die Anmerkungen im Kommentar zu den Strophen 27 bis 37. Sie ist nicht nur Inbegriff unvergleichlicher Schönheit (Strophe 30) und Fülle (199), sondern „All joy, all blisse, all happinesse“ (243), Spenderin von „heavenly riches“ (248), Quelle von „wondrous pleasures“ (256), „sweete contentment“ (257) und „infinite delight“ (258), „joy“, „comfort“, „desire“, „gaine“ (271), „felicitie“ (284) und, nochmals, „All happie joy and full contentment“ (287). In einer Variation dieses Themas über drei Strophen wird vorgestellt, wie selbst Apelles und Anacreon an der Aufgabe, die Schönheit der Weisheit abzubilden, scheitern müssten (vgl. 211– 224). Um soviel weniger kann der Sprecher, „the novice of his Art“ (225), auch nur entfernt hoffen, dieser Herausforderung gerecht zu werden: „Ah gentle Muse thou art too weake and faint, | The pourtraict of so heavenly hew to paint.“ (230–231).

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Die Hyperbolik auch dieses letzten Hymnus ist wie die überbordende Tautologie des gesamten Textes ein Effekt iterativer, genauer: rekursiver und epistrophischer Strukturen. Denn am Schluss dieses Textes befinden wir uns an genau dem Punkt, von dem die retractatio ihren Ausgang nahm: bei der Entwertung des Sinnlichen und bloß Irdischen. Das Überschreiben des in der Widmung für unreif Erklärten, das Zurückziehen dessen, was angeblich im Nachhinein, aus der Perspektive einer höheren Bewusstheit, inadäquat erschien, die Revision des Niederen und das Ablassen von ihm sind am Schluss keineswegs vollbracht, sondern werden erst eingefordert, herbeigesehnt und als erhofftes Korrelat der angestrebten Schau, die ja ihrerseits nichts ist als eine begeisterte imaginative Projektion, neuerdings vorgestellt. Die letzten vier Strophen der Fowre Hymnes artikulieren diese Orientierung und die mit ihr verbundene Zurückweisung des Materiellen und Vergänglichen so, als hätte nicht der gesamte vorausgegangene Text schon ununterbrochen an ihr gearbeitet. Ein Zitat der zwei letzten mag genügen: Ah then my hungry soule, which long hast fed On idle fancies of thy foolish thought, And with false beauties flattring bait misled, Hast after vaine deceiptfull shadowes sought, Which all are fled, and now have left thee nought, But late repentance through thy follies prief; Ah ceasse to gaze on matter of thy grief. And looke at last up to that soveraine light, From whose pure beams al perfect beauty springs, That kindleth love in every godly spright, Even the love of God, which loathing brings Of this vile world, and these gay seeming things; With whose sweete pleasures being so possest, Thy straying thoughts henceforth for ever rest. (HHB, 288–301)

Der Blick nach oben aber, der hier im Modus einer vollendeten Zukunft vorgestellt wird, ist in diesem eigenartigen Text stets ein Blick zurück. Genau darin scheint mir freilich der Kern der von ihm bereitgehaltenen Leseerfahrung und vielleicht sogar die wahre – und genuin neuplatonische – ‚Weisheit‘ der Fowre Hymnes zu liegen. In dem Maße, in dem sich die retractatio als Vorwand erwiesen hat, hat sie sich auch als Instrument einer Dissimulation bewährt, die das, was sie sagen will, eben nur als Verstelltes sagen kann. Sie kann es als Einheitsgrund des gesamten Textes durchscheinen lassen, so wie „that soveraine light“ Irdisches auf Göttliches hin transparent macht und gleichzeitig ermöglicht, es als Verdichtung von „vaine deceiptfull shadowes“ zu durchschauen sowie von den Täuschungen und Enttäuschungen der „gay seeming things“ abzusehen. Aber obgleich der Text das, wovon sich sein Sprecher unwiderstehlich angezogen fühlt, nicht direkt präsentieren kann, kann er es, indem er es dissimuliert, poetisch zur Erfahrung bringen. Das geschieht in Figuren der Wiederholung und der

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insistenten Rekursivität, in denen der Text immer wieder Terrain durchmisst, das er bereits überquert hat. Hier gibt es keinen stufenweisen und irreversiblen Aufstieg zum Höchsten. Stattdessen sind wir durchweg einer in sich kreisenden, bestenfalls spiraligen, sich immer wieder auf sich selbst zurückbiegenden Dynamik ausgesetzt. Wir befinden uns nicht in einem schlichten hierarchischen Aufstiegsschema nach Art einer Leiter oder Skala, sondern in zirkulärer, nicht stillzustellender und zu keinem endgültigen Abschluss zu bringender Bewegung. Die Reflexion, zu der diese sich fügt, bleibt allerdings keineswegs leer. Sie ist weder vergebens noch schlicht tautologisch. Zwar entwickelt sie schon aufgrund ihrer repetitiven Insistenz einheitsstiftende Kraft. Spensers Text aggregiert ähnliche, nahezu identische Elemente in nahezu identischen Figuren. Stets ist das vermeintlich Letzte nur ein Vorletztes, zu Überholendes. Immer ist das Schönste und Liebenswerteste nur Vorschein des wahrhaft Schönen und über alles Liebenswerten. Aber mindestens wo sie sich auf die eigene poetische Aktivität, und damit auf den am Schluss immer noch ausstehenden Gesang richtet, bietet die wiederholte Reflexion gerade als nicht zum Ende kommende eine Einsicht. In den Fowre Hymnes reflektiert sich die dichterische Phantasie fortwährend als eine, die nicht zum Ziel gelangt. Sie führt sich als ohnmächtig vor und erkennt sich darin. Im Blick auf ihren Gegenstand müssen sich ihre Produkte als mehrfach deriviert und unzulänglich erweisen – als nichts außer „fayned shadowes“ (HHB, 273). Soll die absolute Transzendenz des unnennbaren Einen ästhetisch erfahrbar werden, dann bedarf es jedoch genau dieses unausgesetzten Exerzitiums eines versagenden Vermögens und seiner ständigen Explikation. Daher ist dieser Text ein einziger Beginn. Daher wird der Aufstieg immer wieder vorgestellt und bleibt doch zukünftig, erscheint etwa in An Hymne of Heavenly Love als in Christi Auferstehung vorweggenommen und doch zugleich als jedem einzelnen immer noch aufgegeben. Der apophatische Gestus dieses rückwärts voranschreitenden Textes ist weniger eine negierende Rede, nicht so sehr ein Absprechen positiver Zuschreibungen als das Vorführen ihrer permanenten Überholbarkeit dadurch, dass der Text sie buchstäblich hintergeht. Und man mag sich zuletzt fragen, ob solche Zukünftigkeit, die sich als unruhig und darin bewegt von vorgängiger Teilhabe darstellt, noch auf zweifelsfreier Gewissheit eines Zukommens der so insistent als unerreichbar figurierten Transzendenz beruht. „In my end is my beginning“: Die letzte Zeile von T. S. Eliots Gedicht „East Coker“ aus den Four Quartets44 könnte als Motto auch für Spensers Fowre Hymnes dienen. In beiden Werken unterläuft eine rekursive Ästhetik die Scheinvollkommenheit der Vierersymmetrie. Beide Werke umkreisen Themen neuplatonischer Mystik; beide zeigen auf je eigene Weise Okkasionalität; beider Wirkungen beruhen auf einer hohen Dichte intertextueller Resonanzen, einem Versuch, die unverzichtbaren Bestände älterer Weisheit mitzuführen, aufzurufen, zusammenklingen zu lassen. Der klassisch moderne Text weiß um die Vergeblichkeit dieses Versuchs. Aber auch der Renaissanceautor Edmund _____________ 44

Eliot, Four Quartets, 32.

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Spenser hätte vielleicht der metapoetischen Wendung zugestimmt, die Eliot dem Motto der neun Jahre vor der Veröffentlichung der Fowre Hymnes hingerichteten Maria Stuart45 im letzten Abschnitt seiner Four Quartets verleiht: What we call the beginning is often the end And to make an end is to make a beginning. The end is where we start from. And every phrase And sentence that is right […] Every phrase and every sentence is an end and a beginning, Every poem an epitaph. And any action Is a step to the block, to the fire, down the sea’s throat Or to an illegible stone: and that is where we start.46

Inwiefern damit allerdings die moderne Lyrik eventuell im Begriff ist, zu einer metaphysisch begründeten Ästhetik zurückzukehren, von deren Einlösbarkeit ein literarisch denkender Text wie die Fowre Hymnes sich bereits loszusagen scheint, ist eine Frage für einen anderen Anlass.

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46

H. Gardner führt aus, inwiefern Eliots Gedicht von der deterministischen Inversion dieses Mottos auf Maria Stuarts Thronsessel in der ersten Zeile von „East Coker“ („In my beginning is my end“) zu jener Interpretation im Sinne eines futurum perfectum gelangt, die auch die letzten Verse der Four Quartets zu prägen scheint; vgl. Gardner (1975), 51–53, 164. Auch Gardner weist ausdrücklich auf die neuplatonischen Grundlagen der von Eliot zitierten Mystiker (wie Juliane von Norwich, Johannes vom Kreuz oder den anonymen Autor der Cloud of Unknowing) hin, vgl. 167. „Little Gidding“, in: Eliot, Four Quartets, 58 (Zeilen 214–217, 224–227).

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Cudworth interpretiert Euripides. Neuplatonische Metaphysik und heteronome Ästhetik als Faktoren einer Transformation antiker Dichtung Lutz Bergemann

I. Ralph Cudworth. Der Platonismus von Cambridge und die Transformation antiker Texte Die Auseinandersetzung mit antiken Kunstwerken kann auf die verschiedensten Arten erfolgen. So lässt sich die (antike) Kunst und damit auch die Dichtung mit Hegel dahingehend verstehen, dass sie, wie Peter V. Zima schreibt „über sich hinaus[weise]: auf die Sprache der Wissenschaft oder Philosophie“.1 Auf diese Weise lässt sich ein Kunstwerk auffassen als ein spezifischer Ausdruck einer höchsten – religiösen – Wahrheit, die als dieselbe in allerdings anderer Form des Ausdrucks Gegenstand der Theologie sowie der Philosophie ist. Die Aussage eines Kunstwerkes also ließe sich übersetzen in eine theologische oder auch philosophische Aussage. In diesem Sinn soll im folgenden Beitrag auch der Begriff einer heteronomen Ästhetik verwendet werden, d. h. einer Ästhetik bzw. eines Verständnisses von Ästhetik, das die Erhabenheit und den Gehalt an Schönheit eines Kunstwerks, wie z. B. eines literarischen Textes, unter Bezug auf einen außerhalb des Kunstwerks selbst liegenden und von ihm verschiedenen Bereich beurteilt und in diesem, nicht im Kunstwerk allein, begründet. Am Beispiel einer transformierenden Auslegung, die Ralph Cudworth, einer der Cambridge Platonists, auf ein antikes Tragödienfragment anwendet, möchte _____________ 1

Zima (1991), 29. Vgl. dazu z. B. Jahraus (2004), 93–96, der in diesem Zusammenhang das Konzept einer heteronomen Ästhetik entwickelt. Als heteronom ist nach Jahraus, der darin Peter V. Zima folgt, eine Ästhetik zu verstehen, die zum einen Literatur zunächst einmal grundsätzlich als eine „Konkretion des Schönen“ begreift, zum anderen aber in einem zweiten Schritt darauf abzielt, diese künstlerische Form oder Konkretion in begriffliches Denken zu überführen und in der philosophischen Interpretation „auf den Begriff zu bringen“ (Jahraus [2004], 94). Vgl. Zima (1991), 16: „[Hegels] Plädoyer für eine Auflösung künstlerischer Formen im begrifflichen Denken begründet eine heteronome Ästhetik.“ Ohne hier näher darauf eingehen zu können, könnte sich in Bezug auf Cudworth möglicherweise auch das Konzept der „Gehaltsästhetik“ als fruchtbar erweisen, vgl. Jahraus (2004), 95.

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Lutz Bergemann

ich untersuchen, wie diese Auffassung eines Kunstwerks als einer spezifischen Ausdrucksform einer Wahrheit, an der die ästhetische Kunst gemeinsam mit der Theologie und der Philosophie partizipiert, sich bereits bei Cudworth findet, wenn er versucht, ein literarisches Kunstwerk in die philosophische Form des Ausdrucks zu übersetzen. Zu fragen ist weiterhin, inwieweit man in diesem Zusammenhang möglicherweise von einer Transformation der Antike bzw. eines antiken Kunstwerks sprechen kann. Zur Beantwortung dieser Fragen ist zunächst der Problemhorizont von Cudworths Philosophieren zu skizzieren und zwar verstanden als der Rahmen, in dem bestimmte antike Texte, auf die Cudworth Bezug nimmt, also seine Referenztexte, funktionalisiert und der metaphysisch-theologischen Argumentation angepasst werden. Ein Prozess, der eben auch als Übertragung ästhetisch ausgedrückter Wahrheiten in philosophische Aussagen aufgefasst werden kann.2 Diesen Übertragungsprozess möchte ich anschließend näher betrachten in Form einer Analyse der transformatorischen Einflüsse, vermittels derer Cudworth einige Verse aus einem antiken Zeus-Hymnos in seine Argumentation einformt und die gleichzeitig sowohl eine Umdeutung des Textes als auch eine Bewahrung des ästhetischen Anspruchs begründen. Dabei sind drei verschiedene, dennoch miteinander verknüpfte Fragekomplexe zu untersuchen: 1. Was lässt sich darüber sagen, welchen Inhalt Cudworth in diesem Referenztext sucht, und wie bzw. aufgrund welcher Methoden er ihn dort auch findet?3 Eng damit verbunden ist die Frage, welches Bild der Antike – genauer: der antiken Religion – Cudworth auf diese Weise seinen Zwecken entsprechend konstruiert und auf die Antike, die ihm derartig als Projektionsfläche der eigenen systematischen Ansprüche dient, überträgt oder in sie hineinträgt.4 2. Daran anschließend ist darzustellen, welche grundsätzliche Haltung oder Einstellung gegenüber der Antike diese spezielle Perspektivierung und diese Konstruktionsbestrebungen, die eine Umdeutung des literarischen Textes in eine philosophische Aussage erlauben, trägt. 3. Die im zweiten Punkt thematisierte Grundeinstellung konkretisiert sich wiederum in einer spezifischen Verstehenstechnik, die zusammen mit der – christlichen Auslegung der – neuplatonischen Ontologie eine Ausdeutung eines _____________ 2

3

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Zum Kontext von Cudworths Philosophieren vgl. z. B. den „Account of the life and writings of Ralph Cudworth, D. D.“ von Thomas Birch in System I, VII–XXVII; ebenso Passmore (1951/1990), 1–18. Vgl. dazu Jahraus (2004), 64: „Die Beobachtung seligiert nicht nur, sondern sie kontaminiert das Beobachtete auch mit ihren eigenen Vorgaben.“ Ähnlich wie beim hermeneutischen Zirkel liegt eine „zirkuläre Struktur“ vor: „Nicht das Beobachtete, sondern die Beobachtung gibt vor, was beobachtet wird“ (Jahraus [2004], 64). In diesem Sinn kann man dann auch von Konstruktionen und Projektionen des Eigenen auf die Antike sprechen. Diese Formulierungen sollen keineswegs nahelegen, dass wir im Unterschied zu Cudworth mittlerweile über Wissen über eine objektiv unverfälschte Antike als Referenzobjekt verfügten, d. h. im Zuge unserer wissenschaftlichen Interpretation antiker Objekte und Sachverhalte keine Transformationen vollzögen.

Cudworth interpretiert Euripides

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Werkes der ästhetischen Kunst im Sinne Hegels in Richtung auf eine metaphysisch-theologische Aussage zusätzlich legitimiert und verständlich macht. Die drei Punkte dieses zweiten Abschnitts handeln gleichsam von der Optik, durch die hindurch das antike Referenzmaterial perspektiviert wird. Zusammen mit dem systematischen Problemhorizont, in dem Cudworth argumentiert, bilden sie das Medium der zu untersuchenden Transformation, das zu verstehen ist als die Konstellation der Bedingungen, denen die Transformation des Referenztextes unterliegt, und als Vollzugsrahmen, der das Spektrum der Formen und Regeln der Umgestaltungen vorgibt. Sie markieren damit zugleich die Berührungspunkte und -felder von Neuplatonismus und Ästhetik.

II. Eine Alternative zum reduktionistischen Atomismus. Der Problemhorizont Ralph Cudworth (1617–1688) zählt zu den Cambridge Platonists, einer Gruppe von Theologen und Philosophen, die in ihrem Wirken nicht nur die z. T. gewaltsamen religiösen Spannungen der Zeit überwinden helfen wollten, sondern die sich auch mit den drängenden philosophischen Problemen ihrer Zeit auseinandersetzten. So geht es Cudworth in seinem unvollendet gebliebenen Hauptwerk, dem True Intellectual System Of The Universe5 darum, eine umfassende Welterklärung zu bieten, die zum Transzendenten, d. h. zu Gott hin, offen ist. Dieses System dient sowohl dem Zweck, den rein materialistischen und damit reduktionistischen Atomismus abzuwehren,6 als auch dem Zweck, die mit dieser Atomismusvariante verbundene Vorstellung einer stofflich verursachten Notwendigkeit zu widerlegen.7 Aufgrund ihrer metaphysischen Offenheit gegenüber dem Intelligiblen impliziert diese naturphilosophische Intention für Cudworth zugleich den Aufweis einer speziellen Gottesvorstellung zur Abwehr der verschiedenen Formen des Atheismus:8 Diese Gottesvorstellung lässt sich grundsätzlich charakterisieren _____________ 5

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Im Folgenden zitiert als System. Das Werk wurde 1678 gedruckt, nachdem Cudworth bereits 1671 die Arbeit daran abgebrochen hatte. 1733 erschien die lateinische Übersetzung des System, die der Theologe und Kirchenhistoriker Johann Lorenz Mosheim besorgt und mit einem umfangreichen und kritischen Kommentar versehen hat. Zu Mosheim als Übersetzer und Kritiker Cudworths siehe den Aufsatz von Sarah Hutton (1997). Ein zeitgenössischer Vertreter dieser Form des Atomismus ist Hobbes, der dafür wiederholt (wenn auch häufig implizit) von Cudworth kritisiert wird, vgl. z. B. System I, 106 mit Anm. 10 und 217 mit Anm. 6. Letztendlich aber führt Cudworth diese in seinen Augen verfehlte Form des Atomismus über Lukrez und Epikur bis auf Demokrit und Leukipp zurück. Seine eigene Alternative besteht darin, Atomismus und neuplatonische Metaphysik in ihrem Bezug zueinander zur Erklärung der Wirklichkeit zusammenzudenken. Vgl. u. a. System I, XXXIII–XXXVI. Z. B. System I, XXXVII, XLII–XLIV und 296–297: „[…]; which is so great a part of our performance, to prove them [the many pagan, poetical, and political gods] really to have been

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als ein neuplatonisch geprägter Monotheismus, den Cudworth als die allen Menschen gemeinsame Form der geoffenbarten Wahrheit über Gott auslegt. Gott selber wird in diesem Rahmen verstanden als das vollkommene, ebenso gütige wie dynamische erste Prinzip, aus dem alles andere hervorgeht und das selbst von nichts anderem oder Höherem abhängig ist. Derart ist Cudworths System nicht nur als eine reine Deutung und Auseinandersetzung mit antiken Positionen konzipiert, sondern diese Auseinandersetzung ist eingebunden in den kritischen Bezug auf aktuelle Ansätze, wie sie z. B. durch Hobbes, Descartes oder auch Spinoza entwickelt wurden.9 Auch wenn gerade dieser Bezug zur zeitgenössischen Philosophie und den in ihr entwickelten Positionen ein zentrales Moment hinsichtlich der Transformation antiker Texte durch Cudworth ausmacht, bleibt er allerdings im Folgenden unberücksichtigt, da seine Untersuchung zu umfangreich ausfallen müsste. Als wesentlich für die Problemstellung dieses Beitrags erweist sich jedoch der Ansatz Cudworths, durch die Integration von Atomismus und neuplatonischem Monotheismus zu einer Widerlegung des rein materiellen und damit reduktionistischen Atomismus zu gelangen. Darin ist der systematische Rahmen zu sehen, in dem der nun zu untersuchende Text funktionalisiert und damit meiner Ansicht nach transformiert wird: der Rahmen, in dem Cudworth die ästhetische, künstlerische Form der Darstellung einer antiken Tragödie umdeutet in eine philosophische Aussage.

III. Zeus oder erstes Prinzip. Umdeutung, Perspektivierung und Pragmatisierung antiker Dichtung Vor diesem Hintergrund möchte ich nun einen antiken literarischen Text betrachten, an dem relativ gut abzulesen ist, wie Cudworth ihn benutzt, um den für seine Argumentation zentralen Aspekt des Monotheismus auch in antikpaganen Dichtungen zu finden. Auf diese Weise versucht er, die allgemein verbindliche Wahrheit (s)eines monotheistischen Gottesbegriffs und damit zugleich

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9

but the polyonymy of one God. From whence it follows also, that the pagan religion, though sufficiently faulty, yet was not altogether so nonsensical as the Atheists would represent it, out of design, that they might from thence infer all religion to be nothing but a mere cheat and imposture; they worshipping only one supreme God, in the several manifestations of his goodness, power, and providence throughout the world, together with his inferior ministers.“ (System I, XLII). Vgl. dazu z. B. System I, 106, Anm. 10 und 217, Anm. 6, wo Mosheim konkrete Angaben zu den jeweils von Cudworth nur implizit kritisierten zeitgenössischen Philosophen macht. Desweiteren Passmore (1951/1990), 1–14 und Lowrey (1884), 37–59 (Cudworths Verhältnis zu Descartes und Hobbes); zu Cudworth und Descartes siehe Gysi (1962); vgl. auch Assmann (1998), 119.

Cudworth interpretiert Euripides

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die Wirklichkeit des einen Gottes, der eben auch erstes Prinzip seiner Naturphilosophie ist, zu beweisen.10 Zu analysieren ist also die Methode bzw. das Verfahren, das Cudworth anwendet, um aus der antiken Dichtung mit ihrem auf den ersten Blick offenkundigen und eindeutigen Polytheismus den seiner Überzeugung nach eigentlich gemeinten monotheistischen Inhalt als Zeugnis eines allen Völkern gemeinsamen natürlichen Glaubens herauszulesen.11 Wobei es hier zunächst nicht darum gehen kann, darzustellen, wie Cudworth die unleugbare Vielheit des antiken Pantheons auf einen Göttervater zurückführt, sondern darum, zu zeigen, wie es Cudworth gelingt, diesen ersten Gott als erstes Prinzip seiner Metaphysik zu deuten, und von welchen Voraussetzungen er dabei möglicherweise ausgeht, ohne diese eigens zu thematisieren. Bei dem Text,12 der den Bezugspunkt für Cudworths perspektivierende und ebenso pragmatisierende wie transformierende Deutungen und Funktionalisierungen bildet, die Gegenstand der folgenden Überlegungen sein sollen, handelt es sich um fünf Verse, die Cudworth einer Tragödie des Euripides zuschreibt.13 Sie enthalten einen hymnisch gehaltenen Anruf an Zeus.14 Cudworth gibt diese Verse in folgender griechischer Version wieder: ȉպ ijրȟ Ǻ՘ijȡĴȤ‫׆‬, ijրȟ Ԛȟ įԼȚıȢտ‫׫‬ ‫ש‬ցȞȖ‫׫‬, ʍչȟijȧȟ ĴփIJțȟ ԚȞʍȝջȠįȟȚ’ ՗ȟ ʍջȢț Ȟպȟ Ĵ‫׭‬ȣ, ʍջȢț İ’ ՌȢĴȟįտį ȄւȠ įԼȡȝցȥȢȧȣǝ ԔȜȢțijȡȣ ij’ ԔIJijȢȧȟ Ֆȥȝȡȣ Ԛȟİıȝıȥ‫׭‬ȣǝ ԐȞĴțȥȡȢıփıț

die er folgendermaßen übersetzt: Thou self-sprung being, that dost all enfold, And in thine arms heaven’s whirling fabric hold! Who art encircled with resplendent light, And yet liest mantled o’er in shady night! About whom, the exultant starry fires dance nimbly round in everlasting gyres.15

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Zu dieser Art von Beweis siehe Assmann (1999), 40–41 sowie Assmann (1998), 119. Siehe oben Abschnitt II „Eine Alternative zum reduktionistischen Atomismus. Der Problemhorizont“ und auch System I, 285–286. System I, 631–632. Dass diese Verse in der modernen Tragödienforschung Kritias zugeschrieben werden (so schon bei Kritias, Fragment B 19, v. 1–5 (Die Fragmente der Vorsokratiker Bd. II, 318–319 B 19), spielt allerdings hier keine Rolle. Entscheidend ist aus transformationstheoretischer Perspektive allein, dass Cudworth sie für Verse des Euripides hält. Die Orientierung dieser Verse an der Form des Hymnos lässt sich u. a. erkennen an den Partizipialkonstruktionen und den Relativsätzen, die Funktion und Position des Gottes beschreiben. System I, 632. Dass in moderneren Editionen die Lesarten des Fragments etwas anders ausfallen, ist für meine Untersuchung nicht von Interesse, da ich mich auf den Befund stütze, der Cudworth vorlag und damit das spezifische Referenzobjekt seiner Interpretation ausmacht.

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In Anlehnung an die von Johann Lorenz Mosheim angeführte lateinische Übersetzung der Verse, die er von Grotius übernimmt, möchte ich zum Vergleich folgende, von Cudworths eigener Version abweichende Variante einer Übersetzung ins Deutsche vorschlagen: Dich [rufe ich an,] den Selbst-Entspringenden, der du in ätherischer Kreisbewegung die Natur aller Dinge drehst16, dich, den zuzeiten ringsum [helles] Tageslicht, zuzeiten aber auch dunkle Nacht sternenfunkelnd [umtanzen] und auch die unermessliche Menge der Sterne unentwegt umtanzt.

Im Kontrast zu dieser Übersetzung sollen nun einzelne Aspekte der Übersetzung Cudworths zusammen mit der Deutung, die er ihnen gibt, untersucht werden. Schon die Einleitung zu diesem Text enthält die entscheidende transformatorische Weichenstellung. Es ist nämlich sehr bezeichnend, wie Cudworth die von ihm ausgewählten Verse einleitet bzw. dem Leser bereits vor dem eigentlichen Zitat seine Interpretation vermittelt, teilt er doch dem Leser mit, diese Verse enthielten ein klares Zeugnis „of one self-existent Being, that comprehends and governs the whole world“17. Damit ist, wie aus den diesem Euripides-Text vorausgehenden Erörterungen im System klar hervorgeht, der eine und höchste Gott gemeint. Allerdings ist diese Gotteskonzeption keinesfalls, wie man zunächst annehmen könnte, der personale christliche Gott, sondern ein höchstes Prinzip mit stark neuplatonischer Prägung. Nachzuzeichnen ist folglich der Weg, auf dem Cudworth von der im Tragödienfragment angerufenen Gottheit Zeus zu dem einen „self-existent Being“, dem ersten Prinzip einer neuplatonischen Metaphysik und damit von der Dichtung zur philosophischen Aussage(-form) gekommen sein könnte. Bereits der Verwendung des Begriffs Being kommt dabei eine nicht unerhebliche wenn auch eher implizite Bedeutung zu: Denn Cudworth verwendet eben gerade nicht den Begriff Gott, sondern Wesen bzw. Seiendes, und dieser Begriff hat im Gegensatz zu Gott einen eher metaphysisch-abstrakten als einen christlich-personalen Klang. Cudworth könnte also durch die reine Wortwahl die Richtung andeuten, in der seine Auslegung der Verse verlaufen wird. Dieser erste Eindruck wird sich im Folgenden bestätigen. Erstes Prinzip ist Zeus für Cudworth als į՘ijȡĴȤսȣ; d. h. Cudworth rechtfertigt die grundlegende Identifikation von Zeus und erstem Prinzip durch seine Auslegung dieses Adjektivs.18 Er versteht į՘ijȡĴȤսȣ, das er direkt mit „self_____________ 16

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„Drehen“ übersetzt das griechische ԚȞʍȝջȜȧ. Im Lateinischen steht an dieser Stelle „versare“. Begründet werden kann diese Übersetzung durch die häufige dichterische Praxis, statt eines einfachen Verbs ein Kompositum zu benutzen, das allerdings die Bedeutung des Simplex behält. In diesem Fall wäre also ԚȞʍȝջȜȧ als ʍȝջȜȧ zu lesen und mit „versare“ bzw. „drehen“ zu übersetzen. System I, 631. Die Verwendung von į՘ijȡĴȤսȣ in der Bedeutung „self-existent“ ist singulär und nur mit dieser Stelle belegt, vgl. LSJ 284 s. v. 1. Die Frage ist, wie Kritias/Euripides dazu kommt, Zeus mit diesem in einem derartigen Kontext höchst ungewöhnlichen Adjektiv zu beschreiben. Eine

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sprung“ übersetzt, nämlich, wie der einleitende Satz zu den Versen zeigt, als „self-existent“. Damit verwandelt er į՘ijȡĴȤսȣ in einen metaphysischen bzw. ontologischen und dezidiert neuplatonischen Fachbegriff: Er versteht ihn als Synonym für das ebenfalls eher seltene Adjektiv į՘ȚȤʍցIJijįijȡȣ und nimmt auf diese Weise eine semantische Verschiebung vor.19 Denn während į՘ijȡĴȤսȣ im Zusammenhang einer derartigen Charakterisierung des höchsten Prinzips der neuplatonischen Ontologie keine Verwendung findet bzw. nicht belegt ist, wird į՘ȚȤʍցIJijįijȡȣ z. B. von Proklos gebraucht, um hervorzuheben, dass das Eine „Ursprung seiner selbst“20 sei und als Absolutes durch sich für sich selbst hinreicht21. _____________

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mögliche Antwort könnte darin zu suchen sein, dass Kritias hier auf orphische Zeus-Hymnen Bezug nimmt, die Zeus als Prinzip und Schöpfer aller Dinge preisen (vgl. Orphicorum Fragmenta, Frg. 21, 21 a und 298), er also selbst kein Prinzip vor sich haben kann und mithin selbstzeugend sein muss. Diese Vorstellung wiederum könnte entstanden sein unter Heranziehung der Lehren des Anaxagoras über den nous, der – prinzipiengleich – über alles herrscht und in dieser Funktion „allein, selbständig, für sich ist“ („Ȟցȟȡȣ įȤijրȣ Ԛʍ’ ԛįȤȟijȡ‫ ף‬ԚIJijțȟ“); Die Fragmente der Vorsokratiker Bd. I, 404 B 12). Eine genauere Entsprechung zu į՘ijȡĴȤսȣ in einem vergleichbaren Kontext findet sich dann erst später bei Aelius Aristides (117 n. Chr. bis nach 181), in dessen Prosa-Zeus-Hymnos der Gott folgendermaßen beschrieben wird: „Selbstvater, selbst aus sich selbst werdend [und] bedeutender, als aus anderen geworden zu sein“: „į՘ijրȣ ԚȠ įՙijȡ‫ ף‬ȗıȟցȞıȟȡȣ į՘ijȡʍչijȧȢ ijı Ȝįվ ȞıտȘȧȟ Ԯ ԚȠ Ԕȝȝȧȟ ȗıȗȡȟջȟįț“ (Aelius Aristidis, Quae supersunt omnia, tom. II, 340, 24–26). In seinem Kommentar zu dieser Stelle verweist Charles A. Behr, P. Aelius Aristides. The Complete Works, vol. II u. a. auf die oben angeführten Orphiker-Fragmente. Man muss also anerkennen, dass Cudworth bei der Auswahl dieses Fragments sehr darauf geachtet haben muss, dass es gut in seinen Kontext und zu seinen Grundannahmen passt, denn die ausdrückliche Beschreibung von Zeus als „self-existent“ ist äußerst selten und setzt selbst schon – wie bei Aristides – bestimmte philosophische Vorentscheidungen (stoisch-[mittel-] platonischer Provenienz) voraus. Cudworth selber zitiert Aristides in System II, 139 f. äußerst anerkennend. Auch hier geht es ihm darum, den antiken Monotheismus zu beweisen, in dem ein erstes Prinzip wirkend, schöpfend und gestaltend der Schöpfung gegenübersteht. Vgl. System I, 296, wo Cudworth į՘ijȡĴȤսȣ und į՘ȚȤʍցIJijįijȡȣ zwar in einem Atemzug nennt, allerdings beide Male į՘ijȡĴȤսȣ mit „self-originated“, į՘ȚȤʍցIJijįijȡȣ hingegen mit „selfexistent“ übersetzt. In System I, 632 versteht er į՘ijȡĴȤսȣ als „self-existent“, übersetzt es jedoch mit „self-sprung“, d. h. er ist sich möglicherweise der Poetizität des Textes bewusst, die seine Übersetzung leitet, deutet ihn aber als Beschreibung der „true and genuine idea of God in general […]: A perfect conscious being (or mind) existing of itself from eternity, and the cause of all other things“ (System I, 297, Hervorh. L. B.). Vgl. auch System I, 374 f. Aus allen Stellen geht zudem hervor, dass Cudworth die beiden Adjektive į՘ijȡĴȤսȣ und į՘ȚȤʍցIJijįijȡȣ ausschließlich Gott, d. h. dem ersten Prinzip seiner Metaphysik zuschreibt. Vgl. Proklos, Théologie platonicienne 1, 126, 43 ff. und Plotin, Enneade VI 8, 20, 15–20; dazu Beierwaltes (1965), 350 Anm. 58. Vgl. dazu auch Blum (1980), 154 Anm. 112. Systematisch weniger streng, aber dennoch deutlich auf das erste Prinzip seiner Metaphysik bezogen, verwendet Iulian Apostata in seinem Sonnen-Hymnos das Adjektiv į՘ȚȤʍցIJijįijȡȣ (139 d). Hier wird es ausdrücklich mit der Vorstellung der „urschöpferischen Substanz“ (ʍȢȧijȡȤȢȗցȣ ȡ՘IJտį; Iulian Apostata, Kaiser Julians philosophische Werke) verknüpft. Griechischer Text aus: Iulian Apostata, Œuvres completes, tome II/2.

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So mutiert das seit Hesiod – wenn auch mit anderer Bedeutung – in der Dichtung verwendete Adjektiv į՘ijȡĴփșȣ zu einem hochspeziellen philosophischen Kunstwort, zu į՘ȚȤʍցIJijįijȡȣ, das im System in Bezug auf das erste Prinzip von Cudworths Ontologie Verwendung findet, so dass die künstlerischästhetische Form des Ausdrucks von Cudworth auf einen rein metaphysischen Gehalt der Aussage hin gedeutet wird. Wichtig ist, dass die zu Grunde gelegte Metaphysik nicht irgendeine, sondern die des Neuplatonismus ist, die auch weiterhin Cudworths Auslegungen bestimmt. Als erstes Prinzip umfasst Zeus alles, heißt es im einleitenden Satz: „that comprehends and governs the whole world“ (Hervorh. L. B.). Auch mit dieser Formulierung deutet Cudworth Euripides/Kritias um. Während er das im zweiten Vers gebrauchte Verb ԚȞʍȜȝջȜȧ (es liegt in Form eines Partizip Aorist Aktiv vor) mit „enfold“ übersetzt, legt er den Vers allerdings aus, als stünde dort das griechische Äquivalent für „umfassen“ bzw. „comprehend“ oder „contain“, nämlich ʍıȢțջȥıțȟ. Im Unterschied zu ԚȞʍȜȝջȜȧ ist ʍıȢțջȥıțȟ jedoch ein im Neuplatonismus terminologisch gebrauchter Begriff, der verwendet wird, um das Verhältnis zwischen einem Prinzip und dem, was es hervorbringt, was aus ihm hervorgeht, zu beschreiben.22 Cudworth wiederum kennt diesen griechischen Begriff und seine ontologische Bedeutung im Neuplatonismus genau,23 so dass also auch in diesem Fall davon auszugehen ist, dass zusammen mit der Umdeutung der literarischen Ausdrucksform von ԚȞʍȜȝջȜȧ zu ʍıȢțջȥıțȟ zugleich eine bewusste Verschiebung des semantischen Gehalts in Richtung der von Cudworth favorisierten neuplatonischen Metaphysik vorgenommen wird, die damit zum zweiten Mal gleichsam als semantische causa finalis die Perspektivierung des Referenztextes bestimmt. Denn es gibt im Neuplatonismus nur ein einziges Prinzip, das alles umfasst („the whole world“; Hervorh. L. B.) und damit alles hervorbringt und aus sich hervorgehen lässt: das Eine-Gute. So kann Cudworth, nachdem er į՘ijȡĴȤսȣ als į՘ȚȤʍցIJijįijȡȣ gedeutet hat, auch aus „ʍչȟijȧȟ ĴփIJțȟ ԚȞʍȝջȠįȟȚ’“ („that dost all enfold / der Du […] die Natur aller Dinge drehst“24) herauslesen, dass Euripides/ Kritias mit „Zeus“ eigentlich das neuplatonische Eine und damit zugleich das erste Prinzip der eigenen Metaphysik und Naturphilosophie meint. Diese _____________ 22

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Zur Bedeutung von ʍıȢțջȥıțȟ im Neuplatonismus siehe Nasemann (1991), 58–67: „Das ontologisch Höherstehende umfasst das Niedrigere in dem Sinn, daß es das Niedrigere hervorbringt und sowohl einheit- als auch strukturverleihend auf es einwirkt.“ Der Aspekt des Strukturierens spielt auch bei Cudworth eine Rolle: „[…] comprehends and governs the whole world“ (Hervorh. L. B.). Zudem ist auf diese Weise die Vorstellung eines personalen christlichen Weltenlenkers zumindest impliziert, was zugleich der Darstellung der Verse nahezukommen scheint. Siehe z. B. System I, 586: „We have now made it manifest, that according to the ancient Egyptian theology, (from whence the Greekish and the European was derived) there was one intellectual Deity, one mind or wisdom, which, as it did produce all things from itself, so doth ʍıȢțջȥıțȟ ijր Ցȝȡȟ, ‚contain and comprehend the whole‘, and is itself in a manner all things.“ Zur deutschen Übersetzung s. o. Anmerkung 16.

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Umformung eines mythologischen Textes, in deren Verlauf ein relativ komplexer philosophischer Sachverhalt aus der religiös-mythologischen Darstellung herausgelesen wird, hat eine (lange) Tradition, die Cudworth natürlich kennt. Die dezidiert neuplatonische Variante dieser Form der Integration von Religion und Metaphysik begegnet ihm z. B. bei Proklos, auf den Cudworth in einem anderen Kontext25 direkt Bezug nimmt: Where ԫȟ ijț ijո ʍչȟijį, ‚all things one,‘ or ‚one all things,‘ seems to be the supreme Deity, or divine Intellect, as Proclus also interprets it: ‚Ȋո Ցȝį ʍıȢțջȥȧȟ Ս Ǿıւȣ Ȝįվ ʍչȟijį ȞȡȟįİțȜ‫׭‬ȣ Ȝįվ ȟȡıȢ‫׭‬ȣ, […]‘ Jupiter, who containeth the universe, and all things within himself, unitively and intellectually, […] Wherefore, as to the supreme Deity, these Orphic theologers made him to be all things, chiefly upon the two following accounts; first, because all things coming from God, they inferred, that therefore they were all contained in him, and consequently were, in a certain sense, himself; thus much being declared in those Orphic verses cited by Proclus and others […] The second is, because the world produced by God, and really existing without him, is not therefore quite cut off from him, nor subsists alone by itself as a dead thing, but is still livingly united to him, essentially dependent on him, always supported and upheld, quickened and enlivened, acted and pervaded by him; […] (System I, 514–515).

Für die hier erörterte Frage ist von Bedeutung, dass Zeus in diesem Proklos-Text alles umfasst („Ȋո Ցȝį ʍıȢțջȥȧȟ Ս Ǿıփȣ“) und Cudworth ihn als erstes Prinzip („supreme Deity, or divine Intellect“) seines Systems versteht,26 das alles weitere in seiner vielheitlichen Struktur aus sich hervorgehen lässt und trotz seiner Transzendenz durch sein Wirken im Verursachten anwesend und ihm damit immanent ist. Genau das ist der Hintergrund, vor dem Cudworth auch die Verse 3–4 des Zeus-Anrufs in System I, 632 in eine (zumindest implizit) metaphysische Aussage umdeutet. All diese Bemühungen haben den Zweck, zu zeigen, dass fast alle Dichter und Philosophen der Antike eine eindeutig dem Intelligiblen zuzuordnende erste Ursache der weltlich-stofflichen Vielheit annehmen. Dies dient dem Ziel, durch die so aufgezeigte Allgemeinheit den Wirklichkeitsanspruch der Annahme einer intelligiblen Ursache zu untermauern und in einem zweiten Schritt die Unvollkommenheit des reduktionistischen, sich rein auf das Stoffliche beschränkenden Atomismus hervorzuheben. _____________ 25

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In diesem Fall geht es darum, nicht nur den Monotheismus der Antike zu beweisen, sondern ebenso darum, pantheistische Vorstellungen (z. B. die Spinozas), die eine Distinktion zwischen Schöpfung und Schöpfer aufzuheben drohen, durch geschickte Interpretation antiker Texte abzuwenden und als unangebracht und falsch zu erweisen. Speziell ist Cudworth bemüht, eine Auslegung des „grand arcanum of the Orphic cabala […] that God is all things“ (System I, 513) zu finden, die dem „grossly fanatic sense“ derer entgegengehalten werden kann, die „take away all real distinction betwixt God and the creature, and indeed […] allow no other being besides God“ (System I, 513). Zur impliziten Spinoza-Kritik dieser Stelle vgl. Passmore (1951/1990), 5– 6. Dazu oben Abschnitt II „Eine Alternative zum reduktionistischen Atomismus. Der Problemhorizont“ zu System I, 297.

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Die neuplatonische Ausdeutung und damit Funktionalisierung dieses Textes geht jedoch noch weiter, und Cudworth fügt dem metaphysisch-ontologischen Aspekt einen weiteren hinzu, der auf den ersten Blick epistemologisch-mystisch erscheinen mag, aber ebenso eine für Cudworth zentrale ontologische Komponente besitzt, die er bereits durch die Umdeutung des ԚȞʍȝջȜȧ in das neuplatonische ʍıȢțջȥıțȟ angedeutet hat. Damit ergänzt er seine im einleitenden Satz umrissene Interpretation in einer Form, die besonders für den christlichen Neuplatonismus charakteristisch ist: Zeus als erstes Prinzip ist für Cudworth zugleich auch strahlendes Licht bzw. Helle: „God being in himself a most bright and dazzling light“27, das um- und verhüllt wird von einer dunklen, dichten Wolke, damit es den Menschen mit seinem schwachen, unangepassten Erkenntnisvermögen nicht blende bzw. erblinden lasse. Schon die Charakterisierung Gottes als überhelles Licht mutet in ihrem Bezug auf die Verse des Euripides/Kritias auf den ersten Blick überraschend an. Ausgangspunkt der Überlegungen Cudworths, die zu dieser Auslegung führen, sind der dritte und vierte Vers, in denen beschrieben wird, dass die Nacht Zeus umtanzt, was Cudworth als Verhüllung des Zeus versteht.28 Cudworth legitimiert seine Deutung bzw. Übersetzung dadurch, dass er eine Kombination aus einem orphischen Vers und einer Bibelstelle29 heranzieht. Schon dieses Verfahren ist für sich genommen bemerkenswert und veranschaulicht Cudworths grundsätzliche Einstellung gegenüber der Religion und Philosophie der Antike, auf die im Folgenden noch eingegangen werden soll. Um einen Vers einer Tragödie eines heidnischen Dichters aus dem 5. Jahrhundert vor Christus auszulegen, kombiniert er einen Vers aus einem ebenfalls dezidiert heidnischen religiösen Textkorpus, dem orphischen, mit einem Bibelzitat! Dieses Vorgehen ist nur dann sinnvoll, wenn man Cudworth die Annahme unterstellt, alle drei Textstellen besäßen denselben Wahrheitsgrund und damit Aussagegehalt, denn nur dann lassen sie sich aufgrund derselben Motivik der Verhüllung durch eine Wolke bzw. Dunkelheit erklärend zueinander in Beziehung setzen. Indem Cudworth also einen Orpheus zugeschriebenen Vers und eine Passage der Bibel miteinander kombiniert, kann er das Umtanzen der Nacht um Zeus herum in einem ersten Schritt als Verhüllen des Zeus verstehen. Metaphysisch begründet ist dieses Vorgehen in der bereits vorgenommenen Identifikation von Zeus und erstem Prinzip, da nur dieses sich verhüllen muss. Diese Vorstellung ihrerseits führt in einem zweiten Schritt dazu, Zeus, den höchsten Ursprung, in seiner absoluten Transzendenz und Allmacht als überhelles, blendendes Licht zu fassen. _____________ 27 28

29

System I, 632. Bezeichnenderweise muss Cudworth dafür den ersten Halbvers „Ցȟ ʍջȢț Ȟպȟ Ĵ‫׭‬ȣ“ und das eigentlich die Nacht beschreibende Adverb įԼȡȝցȥȢȧȣ ignorieren, die beide nur schlecht mit seiner Verhüllungsthese in Einklang zu bringen sind; vgl. seine eigenen Bemerkungen zu einer weniger esoterischen Auslegung dieser Verse in System I, 632. Höchstwahrscheinlich knüpft Cudworth hier an 2 Mose 20, 21 an; vgl. auch Hiob 37, 5 und 11 sowie 38, 1.

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Auch diese Motivkombination hat Cudworth bereits thematisiert, so dass seine relativ knappen Interpretationen an dieser Stelle in Zusammenhang mit System I, 571, 576 f. und 600 zu sehen sind.30 In den vorausgehenden Textstellen erfährt die Darstellung des ersten, wahren Gottes (diesmal des Gottes der Ägypter, der aber als monotheistisches Paradigma auch für das Euripides/KritiasFragment anwendbar bleibt), dem Charakter der wahren ägyptischen Theologie entsprechend, die den Augen der Vielen entzogen ist, eine Wendung ins Mystische: Cudworth bezeichnet hier den ägyptischen Gott mit einem Zitat des Neuplatonikers Damaskios als IJȜցijȡȣ ԔȗȟȧIJijȡȟ, um seine Unerkennbarkeit hervorzuheben. Auch der Gott der Ägypter ist ein transzendenter „deus absconditus“ (System I, 570). Diese bei Damaskios referierte Auffassung des verborgenen Gottes als IJȜցijȡȣ ԔȗȟȧIJijȡȟ setzt Cudworth dann gleich mit der Charakterisierung des ersten Prinzips als blendender Helle, ebenfalls um dessen Unerkennbarkeit zu betonen (System I, 576 in Kombination mit 600). An dieser Stelle zeigt sich nun die für die besprochene Textstelle System, I 631–632 wesentliche Konvergenz von Mystik und Metaphysik31. Sie nimmt ihren Ausgangspunkt darin, dass Cudworth das Vorgehen der ägyptischen Priester, das wahre Wesen der Gottheit vor der Menge zu verbergen, mit dem Verhalten Gottes gegenüber Moses gleichsetzt. Daraus leitet er dann Konsequenzen in Bezug auf das Wesen Gottes und sein Verhältnis zur Welt ab: Cudworth geht dabei von der für ihn grundlegenden und wiederholt thematisierten, allerdings gerade nicht mystischen, sondern metaphysischen Annahme aus, dass sich Gott als erstes, unkörperliches Prinzip in seiner schöpferischen Kraft als İփȟįȞțȣ Ցȝș (System I, 308) in die Vielheit der Welt hinein manifestiere und seine Wirkung durch sie hindurch entfalte. Das ist nichts anderes als die neuplatonische Annahme, das Intelligible wirke als dynamis auf das Stoffliche und in ihm als Kraft zusammenhaltend und strukturbildend, also so, dass durch diese Form der Immanenz des Göttlichen ein Kontinuum entsteht und erhalten wird. Die sinnlich wahrnehmbare Welt wird auf diese Weise zum Schleier, hinter dem das Göttliche in seiner Intelligibilität und ruhenden Transzendenz verborgen bleibt, während sie zugleich auf das transzendente Göttliche aufgrund der Immanenz Gottes verweisen kann. Ebenso bleibt die wahre Gottheit hinter der Vielgötterei der Priester verborgen, wobei diese Götterlehre dennoch eine vermittelte Gotteslehre erlaubt, also wie die Welt auf die wahre Gottheit hin durchschaubar bleibt.32 Derart ist der _____________ 30 31

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Dazu vgl. Assmann (1999), 46–48. Auf die Bedeutung der damit eng verbundenen Konvergenz von Metaphysik und dem von Cudworth angenommenen Vorgehen der ägyptischen Priester wird unten in Abschnitt IV „Pia philosophia und integumentale Hermeneutik. Vollzugsformen von Transformation und heteronomer Ästhetik“ eingegangen. Dazu System I, 576 f.: „Again, in the Deity here described, there is both a veil or outside, and also something hidden and recondite; the sense seeming to be this, I am all that was, is, and shall be; and the whole world is nothing but myself veiled; but my naked and unveiled brightness no mortal could ever yet behold or comprehend. Which is just as if the sun should say, I am all the colours of the rainbow (whose mild and gentle light may easily be beheld), and they are nothing

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ontologische Sachverhalt der Immanenz einer zugleich in ihrer Transzendenz verharrenden Gottheit mit der mystischen Darstellungsform verschränkt. Der damit verbundene Motivkomplex von Verhüllung, blendender Helle und höchstem Ursprung liegt Cudworths Ausdeutung der Tragödienverse in System I, 631–632 zugrunde und wird zugleich aus ihnen herausgelesen. Dieser Komplex ist, wie nach den Überlegungen zur ersten Gottheit der Ägypter zu erwarten, ausgesprochen platonisch-neuplatonisches Gedankengut:33 Schon im Höhlengleichnis der Politeia Platons, das als Explikation des vorausgehenden Sonnen- und Liniengleichnisses dient, schreibt Platon in der Analogie seinem ersten Prinzip, der Idee des Guten, als zentrale Eigenschaft eine das menschliche Erkenntnisvermögen zunächst blendende Helle zu.34 Diese grundlegende Vorstellung übernimmt, vermittelt u. a. über Aristoteles’ Schrift De anima III 535, Plotin, der das Eine (in seiner Wirkung auf das ihm Nachfolgende) mehrfach als (primäres) Licht oder als Glanz bzw. Helle darstellt.36 Das Motiv der Blendung durch diese Helle findet sich ebenfalls bei Plotin.37 Alle diese Sachverhalte bringt schließlich der christliche Neuplatoniker Dionysios Areopagita treffend zum Ausdruck, der mystische und ontologische Aspekte in seinen Darstellungen des Verhältnisses Gottes zur Schöpfung vereint, z. B. in der Hierarchia Coelestis: […] und schön vervielfältigt sich das [väterliche Licht] und tritt hervor […] Es ist nämlich nicht möglich, daß uns das göttliche Licht anders leuchte als ringsum verhüllt durch eine Vielheit heiliger Schleier. ([…] et pulchre multiplicatur [paternum lumen] et provenit […] Etenim neque possibile est aliter nobis lucere divinum lumen, nisi varietate sacrorum velaminum circumvelatum.)38

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but my simple and uniform lustre, variously refracted and abated; but my immediate splendour and the brightness of my face no mortal can contemplate, without being either blinded or dazzled by it. Wherefore, this description of the Deity may seem not a little to resemble that description which God makes of himself to Moses, ‚Thou shalt see my back-parts, but my face shall not be seen.‘ […] Whereas, according to Philo, the works of God, as manifesting the attributes of his power, goodness, and wisdom, are called the back-parts of the Deity; so are they here in this inscription called the peplum, the veil and exterior garment of it, or else God himself veiled.“ Zur Stelle und ihrem möglichen Vorbild bei Philon vgl. Assmann (1998), 126. Gegen Assmann (1998), 208 ist allerdings einzuwenden, dass Cudworth damit gerade nicht eine Ansicht vertritt, die als Kosmotheismus bezeichnet wurde: Zwar ist Gott der Welt durch sein Wirken immanent, wesentlich aber ihr gegenüber transzendent, was hinsichtlich der Welt bedeutet, dass sie keinesfalls restlos und uneingeschränkt mit Gott identifiziert werden kann oder darf. Die im Folgenden angeführten Stellen beziehen sich explizit auf die Charakterisierung des ersten Prinzips als Licht oder Lichtquelle bzw. Helle und sind als systematische Ergänzungen zu den Ausführungen Cudworths zu verstehen. Siehe Platon, Res publica 515 E–516 C; 518 A–B. Aristoteles, De anima III 5, 430 a 10–19. Z. B. Plotin, Enneade V 5, 7 und in V 6, 4, in: Plotin, Enneades. Vgl. z. B. Plotin, Enneade VI 7, 35–36, in: Plotin, Enneades. Patrologia Latina 122, 1038 c; der Hinweis auf diese lateinische Version des Textes von Pseudo-Dionysios bei Wetherbee (1972), 57.

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Dem ontologischen Sachverhalt, die Welt als hierarchische Abfolge von Hervorbringungen aufzufassen, die ihrerseits als eine Art Theophanien oder Manifestationen des ersten Prinzips, d. h. Gottes verstanden werden und sowohl Gottes Gut-Sein als auch seine Immanenz in der Schöpfung offenbaren,39 korrespondiert Gottes dem Menschen zugewandte Güte darin, gerade und nur durch diese verhüllenden Manifestationen für den Menschen erkennbar zu sein. Das wiederum ist genau die Deutung, die Cudworth unter Heranziehung von Damaskios, Plutarch, Philon und Iamblich für die Tempelinschrift von Sais gibt.40 In Bezug auf Cudworths Deutung des dritten und vierten Verses und der Bezeichnung des Zeus als „being in himself a most bright and dazzling light“ ist es also erst der neuplatonische Hintergrund, der als Interpretationsmatrix eine derartige Auslegung und damit auch eine darauf basierende Funktionalisierung dieser Verse in einem metaphysischen Rahmen ermöglicht und der zugleich das ist, was Cudworth aus diesen Texten herausliest. Diese neuplatonische Bedeutungsebene bezeichnet den Inhalt, auf den hin Cudworth seine antiken Referenztexte liest, die Aufschluss über die antike Gottesvorstellungen geben sollen. Damit ist die neuplatonische Semantik zugleich ausschlaggebender Bestandteil des Bildes antiker Religiosität, das Cudworth als das Eigene auf die Antike projiziert, um derart seine eigenen, aktuellen religiösen Ansichten zu fundieren und zu stärken. Die Konsequenz dieses Vorgehens ist, dass Cudworth literarische Texte dieser Bemühung um einen speziellen, von seinem präsuppositionalen, neuplatonischen Weltbild bestimmten Inhalt unterordnet und ihrer ästhetischen Autonomie entkleidet. So wird die dichterische Ausdrucksebene in eine wesentliche Beziehung zu einem religiösen und philosophischen Inhalt gesetzt, der das Eigentliche der Verse markiert.41 Durch die von ihm vorgenommenen semantischen Verschiebungen bzw. Manipulationen der für seine Zwecke zentralen Begriffe des Ausgangstextes (į՘ijȡĴȤսȣ, ԚȞʍȝջȜȧ, ԐȞĴțȥȡȢıփıțȟ), z. T. aufgrund von Kombinationen dieses Textes mit weiteren antiken Texten, ist es Cudworth damit gelungen, einige Tragödienverse, die einen Anruf an Zeus enthalten, umzudeuten bzw. auszulegen zu Aussagen über das erste Prinzip einer von ihm projektierten religio naturalis und dabei die dichterische Darstellung des Zeus zu einer wenn auch verschlüsselthintersinnigen Darstellung des ersten Prinzips einer neuplatonischen Metaphysik zu machen. Indem Cudworths Interpretation auf einen neuplatonischen Prinzipienbegriff hin erfolgt, wäre eine mögliche moderne Einschätzung seines Vorgehens, dass er in diese Verse eine Philosophie hinein- bzw. aus ihnen herausgelesen habe, die erst ca. 600 Jahre nach ihrer Abfassung entstanden ist. Und da dieser Prinzipienbegriff sehr genau den Ansprüchen seiner eigenen naturphilosophisch-metaphysischen Systematik entspricht, hat er zudem einen der _____________ 39 40 41

Siehe Wetherbee (1972), 57. U. a. System I, 576–578. Vgl. oben Anm. 1. Cudworths Vorgehen kann also als eine heteronome Ästhetik im Sinn von Jahraus (2004), 93–96 aufgefasst werden.

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bedeutendsten griechischen Tragödiendichter (zumindest nach seiner Annahme, der zufolge Euripides diese Verse verfasst habe) zu einem Vertreter eines seinem System nützlichen Monotheismus gemacht, d. h. seiner These und Argumentation eingefügt, und zwar unter Anwendung eines neuplatonisch perspektivierenden Deutungsverfahrens. Auf diese Weise dienen Cudworth die Euripides/Kritias-Verse der Konstruktion einer Antike, die im Wesentlichen denselben Gottesbegriff besaß, den Cudworth auch für seine Zeit propagiert. Der Zeus-Anruf wird also dahingehend transformiert, dass er unter vollständiger Absehung eines möglichen Kontextes in der Tragödie in jeder Weise zu der von Cudworth intendierten Integration von Naturphilosophie und Monotheismus in Position gegen den reduktionistischen Atomismus und den mit ihm verbundenen Atheismus passt.

IV. Pia philosophia und integumentale Hermeneutik. Vollzugsformen von Transformation und heteronomer Ästhetik Nachdem Cudworth diese Exegese vorgenommen hat, beurteilt er sein Vorgehen in Abgrenzung zu einer sich eher am Wortlaut orientierenden Auslegung bzw. Übersetzung der Verse folgendermaßen: For this sense of the third and fourth verses, which we think the words will bear, […] I say, this sense we choose rather to follow, as more rich and august than that other vulgar one, though grammatically and poetically good also: ‚That successive day and night, together with a numberless multitude of stars, perpetually dance round about the Deity.‘ (System I, 632 f.)

Bemerkenswert erscheint an dieser Einschätzung, dass Cudworth sie nicht auf die Form des Textes selbst und seine sprachliche Gestalt wie den Stil anwendet, sondern den Sinn bewertet und ihm ein Moment des Ästhetischen („august“/ „erhaben“)42 zuschreibt. Damit wird der neuplatonische Gehalt der Verse zur Ursache des positiven ästhetischen Urteils der Erhabenheit. Es liegt nahe, darin einen Reflex einer platonisch-neuplatonischen Theorie des Schönen zu sehen, die Schönheit bzw. Erhabenheit eines Gegenstandes oder von Literatur hauptsächlich dadurch definiert, in welchem Maße Objekte und Literatur über sich hinaus hin zur Gottheit bzw. in den Bereich des Transzendenten weisen und derart anagogisch auf das menschliche Bewusstsein bzw. die menschliche Seele zu wirken vermögen. Der Umgang Cudworths mit den betrachteten Versen jedoch, der erst zu dem affirmativ-ästhetischen Urteil über eben diesen durch Cudworth selbst eruierten Sinn führt, weist auf einen weiteren Aspekt hin, der für Cudworths Einschätzung _____________ 42

Vgl. dazu die Belege, die sich im OED zum Adjektiv „august“ 1. finden. Von besonderem Interesse ist hier der Eintrag zu Addison, Spect. No. 414 aus dem Jahr 1712. Er legt eine ästhetische Bedeutung von „august“ zumindest sehr nahe. Leider weist das OED keine Einträge aus Poetiken des 17. Jahrhunderts nach.

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ebenso wesentlich sein dürfte: nämlich auf die Tatsache, dass Cudworth die Renaissance-Vorstellung der sog. prisca sapientia und prisca theologia übernimmt,43 der gemäß das Christentum als monotheistische Religion mit den heidnischen Religionen der Antike bis in die Zeit der Ägypter, die Cudworth an den Beginn dieser Religionsgeschichte stellt,44 im Zentrum einer uranfänglichen Offenbarungswahrheit konvergiert.45 So versteht auch Cudworth aufgrund dieser Geisteshaltung und aufgrund der mit ihr verbundenen und schon in der Renaissance vorgenommenen Projektion eigener, metaphysischer und das heißt eben neuplatonischer Vorstellungen in eine (unbekannte) Vergangenheit die Struktur dieser uranfänglichen Offenbarungswahrheit gleichfalls neuplatonisch. Daraus folgt, dass er, wie gezeigt,46 zunächst auch die Religion der Ägypter im Kern als (neuplatonische) Metaphysik versteht47 und, da sich die griechische Religion für Cudworth von der ägyptischen herleitet und verstehen lässt, diesen spezifischen metaphysischen Kern auch bei Euripides/Kritias sucht und findet. Damit werden die Euripides/Kritias-Verse zu Trägern eines Sinns, der nicht nur anagogisch über den Text als Tragödie hinausweist, sondern der zusätzlich dadurch Dignität gewinnt, dass er in die Zeit zurückweist und von höchstem Alter zu sein scheint.48 Ich nehme daher an, dass sich in Cudworths abschließendem Urteil über den Wert seiner Interpretation dieselbe grundsätzliche Einstellung gegenüber antiken Texten und Zeugnissen widerspiegelt, die als Vorbedingung seine Interpretation antiker Texte bedingt und die damit gleichsam das Fundament seiner neuplatonischen Interpretationsmatrix ausmacht, also eine Antwort auf die Frage geben kann, warum diese Matrix eine neuplatonische Matrix ist. Für den auszulegenden und zu bewertenden Tragödientext allerdings heißt das, dass er eben gerade nicht _____________ 43 44 45

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Siehe Hutton (1997), 220–221. Z. B. System I, 518–519 und 586. Zur Vorstellung der auch so genannten philosophia perennis siehe z. B. Schmidt-Biggemann (1998), 646–701. Zu Cudworths Einschätzung der Position der Ägypter in dieser Entwicklungsgeschichte der translatio sapientiae siehe Assmann (1999), 51. Zum integrativen Charakter dieser Vorstellung, den sich Cudworth in seiner Argumentation immer wieder zunutze macht, vgl. z. B. Hutton (1997), 212–213 und 221 sowie Assmann (1999), 50: „die AllEinheitslehre des Hen-kai-Pan als Quintessenz der ägyptischen Geheimtheologie – und zugleich der allen Religionen gemeinsam zugrunde liegenden natürlichen Theologie“, (Hervorh. L. B.). Bei Cudworth: „We have now made it manifest, that according to the ancient Egyptian theology, (from whence the Greekish and European was derived) there was one intellectual Deity, one mind or wisdom, which, as it did produce all things from itself, so doth ʍıȢțջȥıțȟ ijր Ցȝȡȟ‚ contain and comprehend the whole‘, and is itself in a manner all things.“ (System I, 586– 587) und oben Abschnitt II. zu System I, 514. S. o. Abschnitt III. zu System I, 576–577 und zusätzlich System I, 586–587. Vgl. System I, 537 und Einleitung zu System I, XLII–XLIV. Dahinter steht die Annahme, dass das ursprüngliche, paradiesische Wissen „mit zunehmendem Alter immer schlechter wurde“. Dazu Schmidt-Biggemann (1998), 679–689, bes. 680–682; Zitat auf 681. Das wiederum impliziert, dass das älteste Wissen als dasjenige, das die größte Autorität besitzt, das erhabenste, am meisten schätzenswerte ist; vgl. Neugebauer-Wölk (1999), 2.

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als Tragödientext, sondern als Träger eines speziellen, außerliterarischen Sinns wertvoll und schön ist. Im Anschluss an diese grundsätzlichen Überlegungen soll es darum gehen, Cudworths Verfahren der Deutung antiker Texte im vergleichenden Rückgriff auf ein historisches, mittelalterliches Vorläufermodell genauer zu bestimmen, um sein Vorgehen vor dem Hintergrund dieser transformativen Technik besser einordnen zu können. Ob Cudworth sich dabei dieses Modells oder seiner Ausprägungen in der Renaissance (deren Untersuchung hier leider unterbleiben muss) bewusst war oder nicht, ist zunächst unerheblich, da das mittelalterliche Modell lediglich als Verständnishilfe dienen soll. Die besondere Exegesetechnik, derer sich Cudworth bedient, um einen speziellen, neuplatonischen Sinn aus den Versen des Euripides/Kritias zu eruieren49 und die zugleich als Konkretisierung der Annahme einer prisca sapientia und prisca theologia im Umgang mit Texten der antiken Dichtung angesehen werden kann, besitzt möglicherweise eine Entsprechung im 12. Jahrhundert: die integumentale Hermeneutik als eine Form der „philosophical-literary analysis“50 der dichterischen Elemente der auszulegenden Texte, einer, wie es Frank Bezner nennt, „Hermeneutik des Hintersinns“.51 Eine Betrachtung dieser Art der Hermeneutik kann auf die Frage eine Antwort geben, warum ein Text überhaupt als Träger eines heteronomen Wahrheitskerns angesehen werden kann, den es ausund umdeutend aus ihm herauszudestillieren gilt. Sie ist es, die es Cudworth ermöglicht, in der antiken Dichtung eine „semantische Dynamik“52 zwischen quasi oberflächlicher sprachlicher Verhüllung (dem integumentum) und dem vermeintlich wahren, tieferen Sinn des Gemeinten des sprachlichen Ausdrucks nicht nur zugrunde zu legen, sondern auch für sich nutzbar zu machen.53 Sie _____________ 49 50

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Zu diesem Vorgehen vgl. allg. Bezner (2005), 341. Wetherbee (1972), 36; zum integumentum insgesamt: Wetherbee (1972), 11–73 und bes. die Monografie von Bezner (2005), da auch 34 Anm. 131 mit Literaturangeben zum Thema integumentum. Zur integumentalen Hermeneutik s. besonders auch den Beitrag von Walter Haug im vorliegenden Band. Bezner (2005), 57 u. ö. Bezner weist unter Bezugnahme auf die Studien M.-D. Chenus ausdrücklich darauf hin, „daß der vermeintlich zu vernachlässigende Raum von Theorie und Praxis des allegorisch-symbolischen Hintersinns Teil der Wissensgeschichte des 12. Jh. ist und nicht lediglich als ästhetisches Phänomen begriffen werden sollte“, (57, vgl. auch 69) und bestätigt damit vom 12. Jahrhundert her die oben angestellte Vermutung über Cudworths Einstellung der antiken Dichtung gegenüber. Bezner (2005), 57. Vgl. Bezner (2005), 59: „Das von integumentaler Exegese ‚geleistete‘– oder in ihr reflexiv erkannte – aliud dicit, aliud sentit ist vielmehr überwiegend Teil anderer – naturphilosophischer, methodologischer – Diskurse, die das Phänomen im Rahmen ihrer eigenen Rationalität(en) integrieren und dabei auf eine jeweils spezifische […] Weise bestimmen: […]“ Damit kommt die integumentale Hermeneutik als eine transformative Technik in den Blick. Vgl. auch Bezner (2005), 364 ff., wo Bezner die (antike und mittelalterliche) Dichtung unter der Perspektive der integumentalen Deutung als Medium von Wissen und Wahrheit bestimmt.

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ermöglicht es ihm außerdem, „zu einer philosophisch-theologischen Ästhetik“54 zu gelangen, „bei der die konsequente Reflexion über einen transzendenten Bereich des Seins zu einer Aufwertung der dichterischen Imagination führt.“55 Wobei der Fokus dieser Art des Verstehens auf eine Art des metaphysischen Wissens, wie Bezner bemerkt, gleichzeitig „eine grundsätzliche Heteronomie des Literarischen [impliziert], die (s)eine Autonomie und Selbständigkeit bereits im Ansatz aufhebt.“56 Genau das aber führt dazu, nicht den literarischen Text selbst, sondern seinen Sinn zu bewerten. So kann auch bei einer ästhetischen Beurteilung eines Textes die Ausdrucksebene der Sinnebene untergeordnet werden. Aber die integumentale Hermeneutik des 12. Jahrhunderts bietet nicht nur hinsichtlich Cudworths Vorgehen, antike Dichtung für seine systematischen Zwecke zu funktionalisieren, eine hermeneutische Folie, sondern auch Bezners Charakterisierung der Technik und des Ziels dieser exegetischen Bemühungen liest sich beinahe wie eine Beschreibung der transformatorischen Tätigkeit Cudworths: Bei der Exegese geht es dabei weniger darum, mythische Chiffren schlichtweg durch philosophische Begriffe zu ersetzen, sondern ein komplexes Philosophem aus der ‚Handlung‘ oder Konstellation des Mythos herauszuarbeiten. Zumeist werden dabei die zentralen Elemente einer mythischen Handlung oder ‚Tatsache‘ kurz referiert, hernach schrittweise auf eine philosophische Ebene übertragen, eine Technik summarisch-strukturbezogener Exegese, die Johannes de Garlandia zum allgemeinen Postulat erheben wird.57

Nicht nur, dass Cudworth „mythische Chiffren“ (hier ԚȞʍȝջȜȧ und į՘ijȡĴȤսȣ) als seiner Meinung nach entsprechende neuplatonische Fachbegriffe deutet (ʍıȢțջȥıțȟ und į՘ȚȤʍցIJijįijȡȣ). Vielmehr gelingt ihm durch die damit verbundene Verschiebung des semantischen Gehalts die Ableitung eines neuplatonischen ersten Prinzips in seinem Verhältnis zum Hervorgebrachten aus der Zeusbeschreibung, eben das, was Bezner als das Herausarbeiten eines „komplexen Philosophems“ bezeichnet. In noch höherem Maße gilt dies dann für Cudworths Auslegung des dritten und vierten Verses, wie sie oben versuchsweise nachvollzogen wurde, so dass man meiner Ansicht nach auch bei Cudworth mit einigem Recht von einer integumentalen Hermeneutik in Form einer „summarisch-strukturbezogenen Exegese“58 sprechen kann. _____________ 54 55

56 57 58

Bezner (2005), 74. Bezner (2005), 74. Diese bei Cudworth in seiner abschließenden Bemerkung zu beobachtende „Aufwertung“ ist auch für Bezner, der das 12. Jahrhundert betrachtet, wesentlich mit einer platonisch-neuplatonisch dynamisierten Kosmologie verknüpft. Zu beachten sind allerdings Bezners Einschränkungen 75 f. und 85. Bezner (2005), 85. Bezner (2005), 344; vgl. auch 354. Bezner (2005), 344. Dass es hier um ein Interpretationsverfahren geht, das auf den Neuplatoniker Iamblich und dessen Skopos-Lehre zurückgeht, sei mit Bezner (344 Anm. 22) nur am Rande erwähnt.

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Die Rekonstruktion,59 die Bezner für das Konzept des integumentum und die integumentale Hermeneutik des 12. Jahrhunderts bietet, ermöglicht es außerdem, eine Antwort auf die Frage zu geben, inwiefern es gerade die von Cudworth favorisierte Philosophie des Neuplatonismus ist, die seinen, nun als integumental charakterisierten, transformatorischen Umgang mit der Antike wesentlich bedingt. Dazu ist es nötig, erneut auf die bereits angeführte Skizze der neuplatonisch geprägten Metaphysik Cudworths zurückzukommen und sie in Beziehung zu den philosophisch-theologischen Ansichten des mittelalterlichen Platonikers Bernardus Silvestris zu setzen. Zentral in dieser Hinsicht ist es, dass beide Denker von einem neuplatonischen Modell der Immanenz des Göttlichen in der Welt ausgehen, denn erst dieses eröffnet ihnen als metaphysisches Fundament die Möglichkeit, zunächst die vielen verschiedenen Götter der antik-paganen Mythologie als verschiedene Manifestationen des einen Gottes in seiner Immanenz in der Welt zu interpretieren.60 So charakterisiert Cudworth dieses Verhältnis folgendermaßen: Wherefore the truth of this whole business seems to be this, that the ancient Pagans did physiologize in their theology; and whether looking upon the whole world animated, as the Supreme God, and consequently the several parts of it as his living members; or else, apprehending it at least to be a mirror, or visible image of the invisible Deity, and consequently all its several parts, and things of nature, but so many several manifestations of the divine power and providence, they pretended, that all their devotion towards the Deity ought not to be huddled up in one general and confused acknowledgment of a supreme invisible Being, the Creator and Governor of all; but that all the several manifestations of the Deity in the world, considered singly and apart by themselves, should be made so many distinct objects of their devout veneration. And therefore in order hereunto did they ʍȢȡIJȧʍȡʍȡțı‫ה‬ȟ, ‚speak of the things in nature, and the parts of the world, as persons,‘ and consequently as so many gods and goddesses; yet so, as that the intelligent might easily understand the meaning, that these were all really nothing else but so many several names and notions of that one Numen, divine force and power, which runs through the whole world, multiformly displaying itself therein. (System I, 364–365)

Auch an dieser Stelle ist zu erkennen, dass Cudworth das erste Prinzip seiner Metaphysik in seiner weltdurchwaltenden Funktion als „force“ oder „power“, eben als İփȟįȞțȣ, versteht und damit dessen Immanenz erklärt. Bezeichnenderweise kommt es bei Cudworth dann zu derselben „Konvergenz von Dichtung und Theologie“61, die Bezner bei Bernardus beobachtet.62 Wie bei Bernardus ist es für Cudworth diese Metaphysik, dieses Weltmodell, das er heranzieht, um zu erklären, warum die antik-pagane Dichtung als verhüllende Dichtung zu lesen

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Im Folgenden beziehe ich mich besonders auf Bezner (2005), 364–391. Vgl. dazu Bezner (2005), 383–384. Bezner (2005), 375. Bezner (2005), 385.

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ist,63 denn die antiken mythologischen Dichtungen bringen nach Cudworths Ansicht nichts anderes als dieses neuplatonische Weltbild zum Ausdruck. Wie die einzelnen Aspekte der Welt als Manifestationen des Göttlichen qua Immanenz des ersten Prinzips und aufgrund der daraus resultierenden Ähnlichkeit auf das erste Prinzip verweisen, und wie damit die cognitio ordinis mundi bzw. rerum naturarum durch das richtige Deuten dieser verweisenden Zeichen zur cognitio veri creatoris führt,64 so sind auch die mythischen Elemente, die figmenta und ficta der heidnischen Dichter als Reflexionen auf die Immanenz des Göttlichen zu lesen. Erst die neuplatonische Konzeption der Immanenz legitimiert Cudworth und vor ihm Bernardus dazu, die dichterische Sprache als Chiffren zu verstehen und zu deuten, die auf das eine erste Prinzip hin- und verweisen, denn erst die Immanenz begründet die Ähnlichkeit und damit die Verbindung der weltlichen Manifestationen, die ihrerseits den Inhalt der mythischen Dichtung ausmachen, mit dem ersten Prinzip. Diese Verbindung des Weltlichen mit dem Transzendenten wiederum fundiert metaphysisch die Vernünftigkeit des uneigentlichen Sprachgebrauchs der antiken Dichter.65 _____________ 63

64 65

Vgl. Bezner (2005), 383: „ein vernünftiger uneigentlicher Sprachgebrauch vorliegt: etwas ‚Gott‘ zu nennen, bedeutet in der integumentalen Sinnhaftigkeit nicht, eine Identität mit der Gottheit auszusagen, sondern die Immanenz göttlichen Wirkens zum Ausdruck zu bringen.“ mit Cudworths Aussagen in System I, 514–515, 364–365 und 365–366: „so that his [Origenes’] meaning is, as we have declared, that those figments of the Greeks and other Barbarian Pagans, (which are the same with Balbus’ commentitii et ficti Dii) are really nothing else but the things of nature, figuratively and fictitiously personated, and consequently not so many distinct substantial deities, but only several notions and considerations of one God, or supreme Numen, in the world“ (Hervorh. L. B.). Dazu desweiteren Bezner (2005), 388: „Bernardus dagegen begreift die fabulose Dichtersprache als Medium einer Theologie der Immanenz“; sowie 390 und 409. Siehe Wetherbee (1972), 13 sowie 15–17. Vgl. auch Bezner (2005), 380. Neben den oben angeführten Stellen ist in diesem Zusammenhang noch Cudworths Differenzierung zwischen physiological und philosophical theology zu beachten. Nachdem er die physiological theology als eine unangemessene Deutung der antik-paganen Mythologie und Dichtung zurückgewiesen hat (System II, 255), kontrastiert er sie mit der philosophischen Theologie und bestimmt in diesem Zusammenhang auch den Status der in den Dichtungen vergöttlichten Naturerscheinungen und der vielen antiken Göttergestalten überhaupt: „Neither can there be any other sense made of these personated and deified things of nature, than this, that they were all of them really so many several names of one supreme God, or partial considerations of him, according to the several manifestations of himself in his works. Thus, according to the old Egyptian theology before declared, God is said to have both no name and every name; […]“ (System II, 259). Auch hier greift er auf die Immanenz zurück, um den Polytheismus zu erklären und in seinem Interesse zu rechtfertigen: „That is, they [the intelligent Pagans] professed to behold all things with religious eyes, and to see God in every thing, not only as pervading all things, and diffused through all things, but also being in a manner all things. Wherefore, they looked upon the whole world as a sacred thing, and as having a kind of divinity in it: it being, according to their theology, nothing but God himself visibly displayed. […] As they also commonly conceived of Zeus and Jupiter, after the same manner; that is, not abstractly only (as we now use to conceive of God) but concretely, together with all that which proceedeth and emaneth from him, that is, the whole world.“ (System II, 261; Hervorh. L. B.). Schließlich bekommen seine Überlegungen eine Wendung ins Hermeneutische: Um zur wahren

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Zugleich bedeutet das aber auch, dass Dichtung als uneigentliche Form, die wesentlichen Wahrheiten von Religion und Philosophie auszusprechen, auf ihre wahre Bedeutung hin erst auszulegen und die dichterische Ausdrucksform wie in Cudworths Fall in eine philosophische zu übersetzen ist. Es bedeutet, dass der Hintersinn eruiert werden muss, wenn man nicht beim trügerischen Schein stehen bleiben will. Die in der Unerkennbarkeit66 des ersten Prinzips begründete Notwendigkeit des Verweisungscharakters der Welt67, deren Status ontologisch als vielheitliche Manifestation der immanenten Gottheit bestimmt wird, bedingt also ebenso die von Bezner festgestellte „grundsätzliche Heteronomie des Literarischen“ hin auf einen neuplatonischen Wissensgehalt, die auch bei Cudworth zu beobachten war. Das (mittelalterliche) Konzept der integumentalen Hermeneutik hat sich damit in doppelter Hinsicht als für Cudworths Umgang mit der Antike als ebenso fruchtbar wie charakteristisch erwiesen: Erstens stellt es eine im Rahmen der Fragestellung nach den Konfigurationen des Neuplatonismus besonders interessante Form der Aneignung antiker Texte unter transformationshistorischer Perspektive dar. Hier verdient die Verschränkung von Metaphysik und Dichtung Aufmerksamkeit, da, wie gezeigt, im Fall der integumentalen Hermeneutik das jeweils eigene neuplatonische Weltbild der Immanenz des Transzendenten auf die antiken Dichtungen projiziert und somit als deren Weltbild unterstellt wird. Dies wird dann quasi in einem zweiten Schritt dazu genutzt, um die Werke der antik-paganen Dichtung im eigenen Sinn und unter Berufung auf eben dieses Weltbild als verhüllende Dichtungen, die allein die diesem Weltbild angemessenen Dichtungen sind,68 auf das verhüllte Transzendente hin auszulegen, den uneigentlichen Sprachgebrauch durch den eigentlichen zu ersetzen, statt į՘ijȡĴȤսȣ und ԚȞʍȝջȜȧ eben į՘ȚȤʍցIJijįijȡȣ und ʍıȢțջȥıțȟ zu lesen. Zweitens kann diese Aneignung als eine „Hermeneutik des Hintersinns“69 von Dichtung dazu beitragen, die Frage zu beantworten, welche Formen von Ästhetik im Neuplatonismus möglich sind, denn im Rahmen ihrer Thematisierung (sowohl im Mittelalter wie auch in der modernen Forschung) wird das Problem _____________

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Bedeutung der personifizierten und vergöttlichten Naturerscheinungen zu gelangen, muss die physiologische Bedeutungsebene überschritten werden hin zur philosophischen, d. h. müssen diese dichterischen Bilder gelesen werden als „partial considerations of one supreme God, as manifesting himself in all the things of nature“ (System, II, 269). Vgl. Bezner (2005), 383: „Wo das Göttliche in irritierender Vielzahl auftritt und blasphemisch mit Sternen, Elementen oder natürlichen Kräften gleichgesetzt erscheint, gilt es den ‚eigentlichen‘ Sinn derartiger Aussagen zu beachten.“ Allerdings äußert sich Bezner hier nicht über Cudworths Ansichten zur antikpaganen Dichtung, sondern über die Methode von Bernardus Silvestris, 500 Jahre vor Cudworth und 300 Jahre vor der italienischen Renaissance. Diese Unerkennbarkeit wiederum lässt sich auf die blendende und in diesem Sinne zerstörerische Helle des ersten Prinzips zurückführen, vgl. u. a. System II, 515 und 518–519. Dazu oben Abschnitt III zu Cudworths Auslegungen des dritten und vierten Verses. Vgl. Wetherbee (1972), 37–38 und 67. Bezner (2005), 57.

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der Spannung zwischen dichterischer Darstellung und (neu-)platonischer Metaphysik und Ontologie sowohl als Gehalt dieser Dichtung als auch als dem Dichter unterstelltes Weltbild zentral. Natürlich verlieren die Dichtung und die ihr eigentümliche Sprache als Umoder gar Verhüllungen des Wesentlichen ihre Autonomie. Aber da sie die metaphysische, die wahre Struktur der Welt gerade in ihrer Uneigentlichkeit abbilden, bewahren sie sich einen Wahrheitsanspruch und eine ihnen eigene Dignität, die beide dann erhalten bleiben, wenn man ihren Verweisungscharakter, ihre Uneigentlichkeit in Kauf nimmt. Das, was dem Kunstwerk die Autonomie nimmt, bedingt somit zugleich die diesem Kunstwerk zukommende Schönheit.

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Platonismen in der Ästhetik der französischen Aufklärung. Diderot und Rousseau Katharina Münchberg

I. Der verborgene Platonismus der Aufklärung Welche Bedeutung hatten Platon und die Neuplatoniker für die französische Aufklärung? Gab es in der Aufklärung eine Auseinandersetzung mit dem Platonismus? Wie konnte die platonische Metaphysik vor dem Tribunal der aufgeklärten Vernunft bestehen? Auf diese Fragen gibt es keine einfache Antwort. Keine Epoche scheint den Platonismus so gründlich verdrängt zu haben wie die französische Aufklärung. Die großen platonischen Thesen von der Transzendenz der Ideen, der Unsterblichkeit der Seele und dem Dualismus von Erscheinung und Sein, körperlicher und geistiger Welt, der durch Neuplatonismus und Christentum verfestigt wurden, standen dem Materialismus und der sensualistischen Erkenntnistheorie der Aufklärung entgegen. Die Sorge der Aufklärung, nicht in das vernunftlose Dunkel der frühen Metaphysik zurückzufallen, ließ die Berufung auf den Platonismus verdächtig erscheinen. Doch die aufgeklärten Philosophen konnten und wollten die Tradition des Platonismus nicht gänzlich vergessen. Das Interesse an Platon bekundete sich zunächst in der genealogischen Rekonstruktion der geschichtlichen Ursprünge des modernen Denkens, die mit einer abenteuerlichen Umdeutung des genuinen Platonismus einherging. Eine solche Umdeutung hatte Bayle in seinem Dictionnaire konsequent betrieben: Den griechischen Philosophen verdanke sich die Erkenntnis, dass die Seele stofflicher Natur sei und damit als sterblich gedacht werden müsse.1 Dieser Gedanke wird in dem Artikel „Immatérialisme“ der Encyclopédie aufgegriffen. Platons Timaios ist hier als Referenztext für die These von der Ewigkeit der Materie genannt, die Platoniker Porphyrius und Jamblichos erscheinen als Vertreter eines spirituellen Materialismus, der über die Kirchenväter und Augustinus die Theologie des Mittelalters beeinflusst habe.2 Verstand man den Platonismus als genuinen Materialismus, so ließ sich der Neuanfang, den Descartes in der Philosophie durch die Selbstbehauptung der _____________ 1 2

Blumenberg (1996b), 361–363. Encyclopédie, vol. 8, 570–574.

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autonomen Vernunft gesetzt hatte, durch sein Festhalten an der rein geistigen Substanz der Ideen als ein Rückfall hinter die antiken Positionen verkehren, der durch die Aufklärung überboten wurde. Das geschichtliche Fortschrittsmodell der Künste und Wissenschaften von den dunklen Anfängen zum Licht der Vernunft ließ sich ungeachtet dieser Abgrenzung gegen die neuzeitliche cartesianische Position dennoch erhalten. Dass die Vereinnahmung des Platonismus für den psychologischen Materialismus und den Sensualismus nicht nur im Dienste der Selbstabsicherung der Aufklärung stattfand, sondern gleichzeitig eine Reverenz an den antiken Philosophen bedeutete, zeigt sich deutlich in dem Artikel „Platonisme“, den Diderot verfasst hatte. Diderot widmet sich ausführlich der pseudomaterialistischen Kosmologie des Timaios. Darin manifestiert sich ein eigenes Interesse Diderots. Im Rêve de d’Alembert vertritt Diderot die These von der Sensibilität der Materie. Die konsequent gedachte Einheit von Seele und Körper erfordert es, nicht nur eine materielle Substanz der Seele, sondern auch die Empfindsamkeit der Materie anzunehmen. Der Dualismus von Körper und Geist, auf den Descartes die Autonomie der subjektiven Vernunft gegründet hatte, war mit diesem materialistischen Konzept der matière sensible nicht mehr vereinbar.3 Die Philosophie Platons wurde von Diderot aber auch in anderer Hinsicht für das Projekt der Aufklärung vereinnahmt: als eine Philosophie des Skeptizismus, repräsentiert in der Gestalt des zweifelnden Sokrates, und als dialektische Philosophie, die sich literarischer Mittel bedient.4 In der Form des sokratischen Dialogs konnten die feststehenden Wahrheiten der Metaphysik in bewegliche Rede und Gegenrede von Individuen verwandelt und damit der sinnlichen Erfahrung als der Basis des theoretischen Erkennens ein Eigenrecht eingeräumt werden. Doch eine solche metaphysisch entschärfte Version des Platonismus konnte von dessen problematischer erkenntnistheoretischer Grundvoraussetzung nicht befreien: dem Dualismus von Erscheinung und Sein. Bei Platon sind die materiellen Dinge Erscheinungen und Schatten, denen sich das Seiende, die Ideen, entziehen. Die sensualistische Erkenntnistheorie verabschiedete den darin liegenden Absolutismus der Vernunft: Hume hatte die Abhängigkeit der Ideen von den Eindrücken behauptet, Locke hatte in seinem Essay concerning Human Understanding (1693) die Vorstellung der idées innées bestritten; Diderot versuchte in der Lettre sur les aveugles (1749) zu beweisen, dass die sinnliche Wahrnehmung die konstitutive Bedingung und zugleich Begrenzung der Möglichkeiten des Denkens ist. Im „Discours préliminaire“ der Encyclopédie heißt es programmatisch: „nos sensations ont en effet hors de nous la cause que nous leurs supposons, puisque l’effet qui peut résulter de l’existence réelle de cette cause ne sauroit différer en aucune manière de celui que nous éprouvons.“5 _____________ 3 4 5

Diderot, Le Rêve de d’Alembert, 92. Diderot, Art. „Platonisme“, 110–135, bes. 114, 115. „Discours préliminaire“ der Encyclopédie, vol. 1, 2.

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Die neue historische Anthropologie der Aufklärung bedurfte des Rekurses auf die platonische Metaphysik der Ideen nicht mehr. Denn die Frage nach dem Ursprung der Ideen war keine ontologische, sondern eine genetische. Die sinnliche Empfindung vermittelte durch einen direkten Kausalitätsbezug die existenzielle Wahrheit der Gegenstände, die Ideen hingegen bedurften der Intersubjektivität und der kommunikativen Verständigung, um die reflektierten Sinnesempfindungen zu abstrakten Begriffen umzuformen. Aber die Frage nach dem Verhältnis von Erscheinung und Sein reicht über die Erkenntnistheorie hinaus. Sie ist gleichzeitig eine Grundfrage der Kunsttheorie des 18. Jahrhunderts, die in der Debatte um die mimetische Funktion der Kunst aufgeworfen wurde. In der Kunsttheorie des 18. Jahrhunderts stellte die Aristotelische Theorie der Nachahmung der Natur ein klassizistisches Basiskonzept von ungebrochener Aktualität dar. Es geht nun jedoch mit der Forderung nach der gesteigerten ästhetischen Wirkung der einzelnen Künste und der Freisetzung der Einbildungskraft einher. In Batteux’ Les Beaux-arts réduit à un même principe (1746) wird die Einheit der Künste durch das eine Prinzip der Nachahmung der belle nature begründet. Die Nachahmung soll sich aber nicht auf das Wirkliche, sondern auf das Mögliche des beau vrai beziehen, das durch das Genie erfasst werden kann.6 Auch Marmontel weist dem Ideal, das durch die invention des Dichters gefunden wird, eine wesentliche Bedeutung zu.7 Damit aber kommt es, oftmals unausgesprochen, zur Wiederkehr des Platonischen Gedankens, dass die Nachahmung der Natur nicht in der Kopie des faktisch Seienden aufgehen dürfe, sondern das Sein als das metaphysisch schlechthin Mögliche erfassen müsse. In der Theorie des ästhetisch-produktiven Subjekts hinterlässt Platons Metaphysik der Ideen ihre Spuren. Mit Diderot vertiefen sich die Aporien der Nachahmungsästhetik. Diderot wendet sich von den metaphysischen Implikationen in Batteux’ Naturbegriff ab. Er vertritt eine Wirkungsästhetik, deren neuer Horizont durch den Sensualismus und Materialismus abgesteckt ist. Die Frage nach dem allgemeinen Prinzip der Nachahmung der Natur erweitert Diderot zur Frage nach dem Besonderen der Kunsterfahrung. Die neuen ästhetischen Grundbegriffe Diderots, wie surprise, sublime oder intérêt, betonen die emotionale, imaginative und kognitive Beteiligung des Subjekts im Kunsterlebnis. Gegen den Dualismus von Schein und Sein setzt er die immanente Wahrheit des ästhetischen Scheins, der als Wirklichkeit eigenen Rechts erlebt wird. Indem Diderot den Illusionen der Kunst aber die Wahrheit des sinnlich erfahrbaren Wirklichen zugesteht, kann er auch die ästhetische Erfahrung als eine unbegriffliche Form der Erkenntnis ansehen.

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„Ce [sc. la belle nature] n’est pas le vrai qui est; mais le vrai qui peut être, le beau vrai, qui est représenté comme s’il existoit réellement.“ Charles Batteux, Les Beaux-arts réduits à un même principe, 47–48. Marmontel, Poétique française, 316–342.

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Platonische Denkfiguren sind in der Aufklärung stets gegenwärtig. Doch mehr noch als die Residuen einer deutlich erkennbaren Platon-Rezeption, zu der der sekundäre Platonismus von Shaftesbury gehört, sind es gerade die verborgenen Platonismen in der Ästhetik der Aufklärung, die auf die unbewältigten Schwierigkeiten hinweisen, denen sich die aufgeklärten Philosophen ausgesetzt sahen, die auf der einen Seite die Autonomie des ästhetischen Scheins zu retten, auf der anderen Seite das Kunstwerk zu einem Organon der Wahrheit konkreter Wirklichkeit zu erheben versuchen. Die Rettung des ästhetischen Scheins wird in der Ästhetik der Aufklärung begleitet von einer unerfüllten Sehnsucht nach Sein. Das platonisch-neuplatonische Konzept des Schönen als Vorschein des Seins wird damit implizit und untergründig relevant. Es ist für den Beginn der Ästhetik als theoretischer Wissenschaft im 18. Jahrhundert entscheidend, dass der Platonismus auch dort nicht ausgeschlossen werden konnte, wo er am unhaltbarsten erschien: in der Aufwertung der sinnlichen Wahrnehmung zu einer eigenständigen Erkenntnisform und der Konvergenz von existenzieller und ästhetischer Erfahrung. Wie konnte die Kunst, ohne ihren Anspruch auf ästhetische Autonomie preiszugeben, zu einer existenziellen Wahrheit zurückfinden, in der sich die Fülle des Seins erschließt?

II. Die Vertreibung des Platonismus aus den Künsten. Diderots Ästhetik Diderot hat sich die Frage nach dem Mangel an Sein, der die Kunst begleitet, nicht ausdrücklich gestellt. Dies zeigt sich deutlich in seinen Überlegungen zum Begriff des Schönen. Der Artikel „Beau“ der Encyclopédie ist eine lange und minutiöse Auseinandersetzung mit den kunsttheoretischen Positionen der Zeit, in der Diderots Abneigung gegen einen essenzialistischen Begriff des Schönen deutlich wird. Diderot geht es um den erkenntnistheoretischen Erweis, dass der Begriff des Schönen wie alle Begriffe eine Abstraktion ist, die auf der vorangehenden sinnlichen Erfahrung beruht. Das Schöne ist daher nicht eine gegebene Essenz oder eine idée innée. Es ist vielmehr die Abstraktion dessen, was konkret in der ästhetischen Erfahrung geschieht: der Begriff für einen Wahrnehmungsvorgang, in dem die Aufmerksamkeit des Subjekts auf die inneren und äußeren rapports eines ästhetischen Gegenstandes der Natur oder der Kunst gerichtet ist: „La perception des rapports est donc le fondement du beau; c’est donc la perception des rapports qu’on a désignée dans les langues sous une infinité de noms différents, qui tous n’indiquent que différentes sortes de beau.“8 Diderot insistiert darauf, dass die wahrgenommenen rapports nicht imaginär _____________ 8

Diderot, Art. „Beau“, 135–171, hier: 164–165.

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seien, sondern ihren Grund in der Existenz der ästhetischen Gegenstände und ihres In-der-Welt-Seins haben: Quand je dis donc qu’un être est beau par les rapports qu’on y remarque, je ne parle point des rapports intellectuels ou fictifs que notre imagination y transporte, mais des rapports réels qui y sont, et que notre entendement y remarque par le secours de nos sens.9

Was man die erkenntnistheoretische Aufdeckung der ästhetischen Erfahrung im Feld der sensualistischen Philosophie nennen kann, bedeutet gleichzeitig ihre Ablösung vom Horizont des Platonismus, der die Erfahrung des Schönen mit der Seinsfrage und der Metaphysik der Ideen verbunden hatte. War damit aber das Platonische Problem, dass den Künsten gerade durch ihren darstellenden Bezug auf die Welt ein Mangel an Sein zuwächst, ausgeräumt? In der zeitgleich entstandenen Lettre sur les sourds et les muets von 1751 hat Diderot darauf hingewiesen, dass die Nachahmung der Natur durch die Künste weniger ein ontologisches als vielmehr ein medienästhetisches Problem ist: „Tout art d’imitation ayant ses hiéroglyphes particuliers“10. Dabei gerät die Materialität der Künste neu in den Blick. Das Material wird zum Medium, indem das Kunstwerk durch die Verdichtung seiner materialen Zeichenstruktur eine Illusionskraft entfaltet, die eine imaginär gesteigerte Wirklichkeitserfahrung ermöglicht, die über das Wiedererkennen des dargestellten Wirklichen hinausgeht. Dies ist ein weiterer Schritt, der unter Preisgabe der Substanzialität des Schönen zu einer neuen Ästhetik führt, in der die Objektivität des materialen Kunstwerks an die Subjektivität der ästhetischen Erfahrung zurückgebunden wird.11 1759–1781 erscheinen in der von Melchior Grimm herausgegebenen Correspondance littéraire Diderots Salons. Mit ihnen eröffnet Diderot eine neue literarische Gattung: die Gattung der Kunstkritik. Ihr thematischer Gegenstand ist die zeitgenössische Kunst, die in den Ausstellungen der Académie royale des beaux-arts gezeigt wird. Ihr stilistisches Kennzeichen ist eine schwungvolle Beschreibung der ausgestellten Bilder, die begleitet wird durch Diderots bald polemisches, bald begeistertes Urteil über die ästhetische Qualität der Kunstwerke. Doch Diderots Kunstkritik ist nicht nur ein eigenständiges literarisches Genre, sie ist gleichzeitig ein philosophisches Experiment, in dem das sinnliche und spontane Erlebnis der Bilder nachvollzogen und in eine reflexive Distanz gehoben wird. Diderot erkennt dabei, dass die Intensität der ästhetischen Erfahrung mit der illusorischen Darstellung des Bildes zunimmt. Über Chardins Stillleben bemerkt er: „C’est la nature même; les objets sont hors de la toile et d’une vérité à tromper les yeux.“12 Das Medium Bild erfüllt sich in der Perfektion des sichtbaren Scheins. Der Betrachter genießt nicht das Bild, sondern die _____________ 9 10 11 12

Diderot, Art. „Beau“, 153. Diderot, Lettre sur les sourds et les muets, 182. Stierle (1997), 418. Diderot, Salon de 1763, 379.

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Präsenz der dargestellten Dinge. Denn indem das Bild einen Bezug zwischen dem Subjekt und der natürlichen Welt eröffnet, steigert sich wiederum das Bewusstsein des Subjekts für seine sinnlichen, imaginativen, emotionalen und kognitiven Vermögen, mit denen die Welt erfahren wird, und führt auf das Bild als Kunstwerk zurück. Anders gesagt: Um den Effekt der realistischen Täuschung hervorzurufen, muss das Bild ein getreues Abbild des Wirklichen sein bis hin zu dessen hässlicher Difformität, ohne sich den akademisch-klassizistsischen Kunstidealen zu verpflichten. Aber in dieses Abbild muss ein Freiraum des Imaginären eingehen. Durch die ästhetisch-produktive Gestaltung der Natur durch das génie des Künstlers wird das Bild zum Kunstwerk, an dem der ästhetische Genuss mit der Imagination wächst. Mit dieser Rückbindung des Bildlichen an die Präsenz der Dinge aber bleibt bei Diderot auch unter Abzug des metaphysischen Horizontes ein Platonischer Restbestand im Spiel. Die Platonische Bestimmung des Schönen, das heißt: die Identität des Schönen, Wahren und Guten und die Erscheinung (ekphanestaton) des Schönen in sich selbst, kehrt latent bei Diderot dort wieder, wo die Intensität der ästhetischen Erfahrung von der Vollkommenheit des ästhetischen Scheins abhängig gemacht wird.

III. In Platons Höhle. Diderots antiplatonischer Platonismus Nur einmal hat Diderot die offene Auseinandersetzung mit Platon gesucht: in der Widmung an Grimm, die dem Salon von 1767 vorangestellt ist. Diderot entfaltet hier den Gedanken eines imaginären Ideals des Schönen als Voraussetzung des nachahmenden Kunstwerks. Diderot, der sich selbst im Streitgespräch mit einem Künstler imaginiert (es handelt sich wohl um Falconet), wirft diesem vor, dass in einem portrait, das nach dem Modell einer schönen Frau gemalt werde, noch keineswegs die Schönheit (la beauté) dargestellt sei. Die Repräsentation eines natürlich schönen Individuums („la représentation d’un être quelconque individuel“13) reiche nicht aus, um die ästhetische Qualität eines Kunstwerks zu begründen, die nicht durch den dargestellten Gegenstand, sondern den Gestaltungsakt des ästhetisch-produktiven Subjekts ins Spiel komme. Ein Kunstwerk, das den Namen des Schönen verdiene, müsse über die bloße Repräsentation hinausgehen und sich auf ein modèle idéal beziehen. An dieser Stelle zitiert Diderot Platon: Vous y avez ajouté; vous en avez supprimé; sans quoi vous n’eussiez pas fait une image première, une copie de la vérité, mais un portrait ou une copie de copie, *ĴįȟijչIJȞįijȡȣ ȡ՘Ȝ ԐȝșȚıտįȣ* le fantôme et non la chose14

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Diderot, Salon de 1767, 16, 64. Diderot, Salon de 1767, 64.

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Auf das Drängen des uneinsichtigen Künstlers, der wissen möchte, wo denn das modèle idéal zu finden sei („où est donc le vrai modèle“15), führt Diderot seine platonischen Spekulationen weiter aus: Convenez donc que ce modèle est purement idéal, et qu’il n’est emprunté directement d’aucune image individuelle de nature […] Convenez donc que la différence du portraitiste et de vous, homme de génie, consiste essentiellement, en ce que le portraitiste rend fidèlement la nature comme elle est, et se fixe par goût au troisième rang, et que vous qui cherchez la vérité, le premier modèle, votre effort continu est de vous élever au second.16

Die Gefahr des Selbstwiderspruchs, in die Diderot sich mit seiner PlatonReferenz begibt, scheint ihm selbst kaum bewusst gewesen zu sein. Bereits in dem Artikel „Beau“ war erkennbar, dass Diderot um eine empirischsensualistische Konzeption des Schönen bemüht war, die auf der sinnlichen Erfahrung gründet. Dies ist mit dem genuinen Platonismus nicht mehr zu verrechnen. Bei Diderot rückt die darstellende Kunst auf den zweiten Rang der Platonischen Stufenfolge, indem er die Kunst zwar nicht vom Prinzip der Nachahmung der Natur freispricht, ihr aber eine eigene ästhetische Wahrheit zugesteht.17 Platons Mimesis-Lehre aber enthält keine ästhetische Theorie des Schönen. Da die Malerei nicht die Herstellung der Dinge, sondern deren Darstellung ist, das heißt: da sie nur ein Schattenbild (eidolon) der sinnlich erscheinenden Dinge hervorbringt, hat sie nicht an der aletheia teil, der Lichtung des Seienden im Sein. Die Malerei verdunkelt gleichsam das Licht, das vom Sein auf die phänomenalen Gegenstände fällt, das heißt: Sie verleitet dazu, das philosophische Streben nach der Idee des Guten zu vernachlässigen. Wenn bei Diderot der Künstler dem Philosophen vorwirft, er treibe nichts anderes als Metaphysik, so weiß sich der Philosoph wiederum dadurch zu verteidigen, dass er das Prinzip der Nachahmung, das auf einem substanzialistischen Begriff der belle nature beruht, als eigentlich metaphysisches entlarvt, bis in diesem Wortstreit der Begriff der Metaphysik schließlich seinen Sinn verliert: Vous m’embarrassez; tout cela n’est que de la métaphysique… Eh grosse bête, est-ce que ton art n’a pas sa métaphysique? Est-ce que cette métaphysique qui a pour objet la nature, la belle nature, la vérité, le premier modèle auquel tu te conformes sous peine de n’être qu’un portraitiste, n’est pas la plus sublime métaphysique?18

Der Streit zwischen der Philosophie und der darstellenden Kunst, der bei Platon noch zugunsten der Philosophie aufgehoben wurde, treibt bei Diderot in einen unauflösbaren Widerspruch hinein. Die Zuständigkeit des Philosophen, der die Frage nach dem Wesen des Schönen nicht lösen kann, wird für die Ästhetik letztlich bestritten und dem Kunstkritiker überwiesen, der dem schwierigen _____________ 15 16 17 18

Diderot, Salon de 1767, 65. Diderot, Salon de 1767, 67–68. Vgl. dazu Moog-Grünewald (2006), 256–258. Diderot, Salon de 1767, 68.

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Zusammenhang von wahrgenommenem Kunstwerk und wahrnehmendem Subjekt in der ästhetischen Erfahrung gerecht wird: „Je loue, je blâme d’après ma sensation particulière qui ne fait pas loi. Dieu ne demanderait de nous que la sincérité avec nous-mêmes.“19 Bereits im Salon von 1765 hatte Diderot eine reprise des Platonischen Höhlengleichnisses gewagt. Diderot bespricht Fragonards Gemälde Corésus et Callirhoé. Dieser Text trägt den Titel L’Antre de Platon („Die Höhle Platons“). Diderot erzählt einen wirren Traum, „une vision assez étrange“20, der ihn nachts überfallen hat, nachdem er tagsüber die Gemäldegalerie besucht und abends in den platonischen Dialogen gelesen hatte. Diderot sieht sich in Platons Höhle versetzt. Zwischen unzähligen anderen Gefangenen sitzend, ist er gefesselt, wobei er den Rücken zum Eingang der Höhle gekehrt hat, von dem her Licht in das Dunkle fällt. Auf einer Leinwand in der Tiefe der Höhle werden verschiedene Szenen aufgeführt. Die Urheber dieses Schauspiels sind Gaukler, die hinter dem Rücken der Gefangenen kleine Figuren vor eine Lampe halten, so dass diese lebensgroße Schatten auf die Leinwand werfen. Die Illusionskraft dieser Inszenierung ist so groß, dass die Gefangenen sie nicht als Schein, sondern als wahres Sein wahrnehmen: „former des scènes, mais des scènes si naturelles, si vraies, que nous les prenions pour réelles.“21 Es ist offenkundig, dass Diderot hier mit großer Genauigkeit das Höhlengleichnis aus Platons Politeia wiedergibt. Doch Platons Höhlengleichnis verliert bei Diderot seinen ursprünglichen Sinngehalt. Ist die ‚Höhle‘ bei Platon ein philosophisches Anschauungsbild, das die platonische Seinslehre verständlich machen soll, so wird sie bei Diderot zu einem subjektiven Traumbild. Indem Diderot von seiner eigenen Traumerfahrung erzählt, erhält die Platon-Anspielung eine antiplatonische Akzentuierung. Diderot deutet damit das Höhlengleichnis um, um es als Metapher für die ästhetische Bilderfahrung zu gebrauchen. Denn es sind nicht die Platonischen Schatten des Seins, die hier in Szene gesetzt werden, sondern die Wirklichkeit des ästhetischen Scheins. Auf der Höhlenwand wird ein Schauspiel aufgeführt, das den Mythos von Koresos und Kallirhoe darstellt, wie ihn Fragonard bei Pausanias finden konnte. Die Handlung des Mythos sei kurz referiert: Der Dionysos-Priester Koresos verliebt sich in Kallirhoe, wird aber von ihr abgewiesen. Daraufhin bittet Koresos den Dionysos um Rache. Dionysos sorgt dafür, dass es zwischen Männern und Frauen, Vätern und Töchtern, Brüdern und Schwestern zu einer ungehemmten sexuellen Ausschweifung kommt. Nur durch den Opfertod der Kallirhoe kann die Stadt davon befreit und Dionysos besänftigt werden. Das Schauspiel schließt mit dem Bild, dem Diderots Text gewidmet ist: mit Fragonards Gemälde Corésus et Callirhoé. Bei Fragonard ist das tragische Ende des Mythos dargestellt: Aus _____________ 19 20 21

Diderot, Salon de 1767, 77. Diderot, Salon de 1765, 253. Diderot, Salon de 1765, 254.

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Verzweiflung, dass er dem Dionysos seine Geliebte opfern soll, verübt Koresos im Tempel Selbstmord.

Abb. 1: Fragonard, Corésus et Callirhoé, Musée du Louvre, Paris.22

In seiner Bildbeschreibung macht Diderot die dynamische Bewegung des Blicks, mit dem er das Bild durchgeht, zum strukturierenden narrativen Prinzip. Der Blick dringt zunächst in das Innere des Tempels ein und verweilt auf einem roten, goldbefransten Teppich, der über eine Stufe fällt, auf der eine Opferschale bereitsteht. Zwischen zwei Säulen erkennt Diderot einen Altar, auf dem ein heiliges Feuer entzündet ist, dessen Rauch den Hintergrund des Tempels verhüllt. Diderot geht nun zur Beschreibung der Figuren des Bildes über, die er wie die Figuren eines Dramas nacheinander hervortreten lässt. Zwei weiß gekleidete Jünglinge treten ein, denen ein in sich versunkener Priester folgt. Darauf erscheint ein junges, mit einer Rosenkrone geschmücktes Mädchen, das zu Füßen des Priesters niedersinkt. Der zu Tränen gerührte Betrachter Diderot – „j’essuyais quelques larmes“23 – erkennt, dass es Callirhoé ist, die vom Geliebten geopfert werden soll. Ein weiterer Jüngling erscheint, der hinter dem Mädchen niederkniet. _____________ 22 23

25000 Meisterwerke. Gemälde–Zeichnungen–Grafiken, The Yorck Project Berlin 2005. Diderot, Salon de 1765, 259.

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Seine Schönheit ergreift Diderot zutiefst und weckt sein ganzes Interesse: „Que ce jeune acolyte était beau! Je ne sais si c’était sa modestie, sa jeunesse, sa douceur, qui m’intéressaient.“24 Diderot hebt zudem die Schönheit einer Frau im Vordergrund des Bildes hervor, die ein Kind auf den Knien trägt und durch einen besonderen Lichteffekt erhellt wird. Erst zum Schluss kommt Diderot auf die tragische Verknüpfung von Liebe, Verzweiflung und Tod zu sprechen, die das eigentliche Bildthema ist. In der Bildmitte sind die widersprüchlichen Affekte dargestellt durch eine Allegorie des désespoir, eines schwebenden Geistes, der Amor auf dem Rücken trägt. Die Vielschichtigkeit von Diderots Text, in dem sich philosophischer Kunstmythos, mythische Erzählung und konkrete Bilderfahrung verbinden, erlaubt es Diderot, die ontologische Trennung von Schein und Sein, von Traum und Realität, von Mythos und Bild zu durchspielen. Warum aber bemüht Diderot das berühmte Höhlengleichnis für die Beschreibung des Bildes? Zunächst einmal ist festzuhalten, dass Diderot das Höhlengleichnis stark verkürzt und die Höhleninsassen zu fröhlichen Zuschauern macht, von denen sich nur wenige auf die Selbstbehauptung ihrer Vernunft besinnen. Diderot verschweigt also die Platonische Lösung, dass die Abwendung von den Trugbildern, der Aufstieg aus der Höhle und die Anschauung der Urbilder durch die paideia prinzipiell möglich wäre. Nicht außerhalb der Höhle, sondern im Innern der Höhle muss bei Diderot die Erkenntnis der Differenz von Schein und Sein, Fiktion und Wahrheit gewonnen werden. Für Diderot gibt es den Blick hinter die Schatten auf das ursprüngliche Licht nicht mehr, sein Blick versenkt sich lustvoll in die Inszenierung des Schauspiels. Diderot hat das Platonische Höhlengleichnis damit zu einem Ursprungsmythos der aufgeklärten Vernunft transformiert, die noch im Genuss am ästhetischen Schein der Bilder die Gefahr der ideologischen Verblendung reflektiert. Die kritische Vernunft erhält aber in der ästhetischen Erfahrung ihr Äquivalent. Der Grundgedanke der Platonischen Ideen-Lehre, die Einheit des Wahren, Guten und Schönen, wird von Diderot aufgegriffen und weitergereicht an die Kunst, die durch ihre illusorische Wirkung auf den Betrachter dessen ästhetisch-moralisches Bewusstsein anspricht. Diese Wende zum Subjektivismus der ästhetischen Erfahrung markiert den eigentlichen Bruch mit der Seinslehre, die dem Platonischen Höhlengleichnis eingeschrieben ist. Diderot gibt damit zugleich dem Platonischen Begriff des Simulakrums eine neue ästhetische Bedeutung: die eines Phantasmas, eines im Geist des Träumenden oder des Künstlers erzeugten Bildes. Wenn Diderot die Platonische Metaphysik von Trugbild, Abbild und Urbild zitiert, so doch nur, um sie neu zu akzentuieren. Anders als Platon definiert Diderot Bildlichkeit nicht länger durch eine Ursprungsrelation, sondern als Setzung des Imaginären. Bildlichkeit wird bei Diderot von einer ontologischen zu einer wirkungsästhetischen Kategorie.

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Diderot, Salon de 1765, 259.

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IV. Erneuter Vorwurf der Lügenhaftigkeit der Kunst. Rousseaus Kritik der Aufklärung Während Diderot die Platonische Höhle zu einer Metapher für die aufgeklärte Vernunft umgestaltet, die den Täuschungen durch die Kleriker, Metaphysiker und Staatsmänner ausgesetzt ist, greift Rousseau auf eine andere berühmte Stelle aus Platons Staat zurück, um vor der ideologischen Verblendung zu warnen: auf den Vorwurf der Lügenhaftigkeit der darstellenden Kunst. Bei Rousseau aber wird die Berufung auf Platon zu einer Waffe gegen den kulturellen Fortschrittsoptimismus der aufgeklärten philosophes. Rousseau hat anlässlich der Lettre à M. d’Alembert sur les spectacles (1758) die kleine Schrift De l’imitation théâtrale verfasst. Es handelt sich um die Übersetzung einer längeren Passage zur Mimesis aus dem 10. Buchs von Platons Staat (Politeia 595 A–608 B). Rousseau hat also die Platonische Mimesis-Lehre gründlich studiert. In der Lettre à M. d’Alembert hat er die kulturkritischen Konsequenzen daraus gezogen. Die Vertreibung der Künste aus dem Staat ist bereits bei Platon mit dem Argument begründet, dass das ontologische Defizit der Kunst, die nicht die Urbilder, sondern die Abbilder nachahmt, zugleich ein ethisches Defizit ist. Die Lügen der Kunst führen dazu, das Leben in der polis nicht mehr an der Idee des Guten auszurichten. Rousseau übernimmt diesen Gedanken der negativen Wirkung der Kunst. Die Wahrheit der bürgerlichen Sittlichkeit werde durch die Täuschungen des Theaters zerstört, das mit der Darstellung von schuldhaft-tragischen und lächerlich-komischen Charakteren den Zuschauer zur Nachahmung anrege und damit die Verderbnis der Sitten vorantreibe: „Quoi! Platon bannissoit Homére de sa République, et nous souffrirons Moliére dans la nôtre! Que pourroit-il nous arriver de pis que de ressembler aux gens qu’il nous peint, même à ceux qu’il nous fait aimer?“25 Erst wenn das Theater zur fête publique wird und der gesellschaftliche Schein in Sein aufgehoben wird, kann die Rückkehr zur verlorenen Einheit des Guten, Wahren und Schönen gelingen.26 Der Gedanke, dass die Kunst an der gesellschaftlichen Sprache der Verstellung teilhat, findet sich bereits in Rousseaus erstem Discours von 1750: Avant que l’Art eut façonné nos manières et appris à nos passions à parler un langage apprêté, nos mœurs étoient rustiques, mais naturelles; et la différence des procédés annonçoit au premier coup d’œil celle des caractères. La nature humaine, au fond, n’étoit pas meilleure; mais les hommes trouvaient leur sécurité dans la facilité de se pénétrer réciproquement, et cet avantage, dont nous ne sentons plus le prix, leur épargnoit bien des vices. Aujourd’hui que des recherches plus subtiles et un goût plus fin ont réduit l’Art de plaire en principes, il régne dans nos mœurs une vile et trompeuse uniformité, et tous les esprits semblent avoir été jetté dans un même moule:

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Rousseau, Lettre à M. d’Alembert, 106–107. Zu Einfluss und Rezeption des Platonismus bei Rousseau vgl. Gouhier (1970), 133–184, Burgelin (1973), 55.

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Katharina Münchberg sans cesse la politesse exige, la bienséance ordonne: sans cesse on suit des usages, jamais son propre génie. On n’ose plus être ce qu’on est […] On ne saura donc jamais bien à qui l’on a affaire: il faudra donc, pour connoitre son ami, attendre les grandes occasions, c’est-à-dire, attendre qu’il n’en soit plus tems, puisque c’est pour ces occasions mêmes qu’il eut été essentiel de le connaître.27

Durch den Verlust der Intimität in der zivilisierten Gesellschaft wird das Vertrauen in den Anderen preisgegeben. Wo die individuelle Selbstentfaltung und der Selbstwert des einzelnen Subjekts fehlen, gewinnen Lüge, Täuschung und Korruption an Raum. Die gesellschaftliche Entfremdung des Individuums ist der Preis, der für die ästhetisch-gesellschaftliche Selbstformung zu zahlen ist. In seinem zweiten Discours (1754) hatte Rousseau nochmals den Grundgedanken formuliert, dass der unaufhaltsame Fortschritt des aufgeklärten Wissens und der Künste mit einer sittlichen und moralischen Depravation des Menschen einhergeht. Der hypothetische Anfang der Menschheitsgeschichte konnte damit als ursprüngliche Einheit von Natur und Gesellschaft gedacht werden, aus der sich der Mensch durch den Anspruch auf Perfektibilität selbst vertrieben und damit die ontologische Kluft von Sein und Schein, von innerer Wahrheit und gesellschaftlichem Maskenspiel geöffnet hatte.28 Die Frage, ob das verlorene Glück des état de nature wiedergefunden werden könnte, war für Rousseau nur entscheidbar im Hinblick auf die gelingende Kritik der aufgeklärten Vernunft und ihre Rückführung auf die Evidenz der Erfahrung. Um die Entzweiung von Natur und Gesellschaft zu überwinden und die ursprüngliche Einheit wiederzugewinnen, bleibt dem modernen Individuum nur der Ausweg einer Besinnung auf die eigene Existenz. Die Trennung von Gefühl und Vernunft, von Bedürfnis und Erfüllung, von Natur und Gesellschaft lässt sich nur durch die Selbstbesinnung des empfindsamen Subjekts verwirklichen. In den Confessions hat Rousseau den Versuch gewagt, das Selbstbewusstsein als unvordenklich gegebenen Einheitsgrund zu erkunden, der nicht erst durch die Synthese der Reflexion entsteht, sondern der Vielfalt der Erfahrungen zugrunde liegt. Wenn es dem autobiografischen Schreiben gelingt, die Diversität der Lebenserfahrungen auf die dauerhafte Einheit des Selbst zurückzuführen, so lässt sich die ontologische Einheit des Seins erneut herstellen, in der das Bewusstsein transparent ist und noch nicht durch die Selbsttäuschungen und Täuschungen der äußeren Welt verstellt wird.29 Mit diesem Denken der Einheit zeigt sich bei Rousseau eine latente Affinität zum Neuplatonismus.

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Rousseau, Discours sur les Sciences et les Arts, 8. Vgl. hierzu Jauß (1989), 24–66, bes. 41, und Jauß (1991), 589–601. Eigeldinger (1978), 216–239.

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V. Sehnsucht nach Einheit. Rousseaus Neuplatonismen Auf den ersten Blick scheint es keinen Bezug zwischen Rousseau und dem Neuplatonismus zu geben. Rousseau hat Plotin sicherlich nie gelesen. Kenntnisse des Neuplatonismus konnte er nur indirekt über seine theologischen Studien, insbesondere des Augustinus, gewonnen haben. Dennoch ist die Nähe zum Neuplatonismus frappierend. Es ist einer der wichtigsten und folgenreichsten Gedanken des Neuplatonismus, die platonische Ideenlehre zu einer Metaphysik des Einen zu erweitern. Dem unvordenklichen Grund des Einen kommt bei Plotin die ontologische Priorität vor dem Sein und dem Denken zu. Daher kann das Eine nur durch die zu einer mystischen Erfahrung gesteigerte geistige Schau erreicht werden, und dies setzt die Selbstaufhebung des Denkens voraus. Auch der in sich selbst zwischen Gedachtem und Denkendem gespaltene Akt der Selbstreflexion muss aufgehoben werden, um die Erfahrung des Einen zu ermöglichen.30 Das Denken muss in innerer Evidenz mit sich selbst eins werden. Mit dem Gedanken von der absoluten Transzendenz des Einen entfernt sich der Neuplatonismus entscheidend von der Idee des Guten bei Platon. Hatten die platonischen Ideen an der übergeordneten Idee des Guten wesentlich teil und waren der ontologischen Differenz von Urbild und Abbildern enthoben, so gilt für den Neuplatonismus, dass die drei Hypostasen von Einem, Geist und Seele mit einem Modell des Abstiegs in das Nicht-Sein der Materie verbunden sind.31 Der Neuplatonismus ist beherrscht von einem Denken des Verlustes und der Rückkehr zum unvordenklichen Grund des Einen. Was Rousseau mit Plotin eher als mit Platon verbindet, ist dieser eindeutige und unbedingte Vorrang des Einen vor dem reflexiven Denken. Für Rousseau ist es die Einheit der Naturzustandes, die durch den Prozess der Zivilisation verloren gegangen ist und erst durch die Selbstpreisgabe der Vernunft an die Evidenz der inneren Erfahrung wiederzugewinnen ist. Doch anders als im Neuplatonismus beruht Rousseaus Denken der Einheit wesentlich auf der Autarkie des empfindsamen Subjekts. Das moralische Bewusstsein und sittliche Handeln des Subjekts ist die einzige Möglichkeit, die Verirrungen und Schäden der aufgeklärten Vernunft zu begrenzen. In der Nouvelle Héloïse (1767) hat Rousseau eine literarische Fiktion entworfen, in der sich die Sehnsucht nach der verlorenen Einheit im Freundeskreis der empfindsamen Seelen von Clarens zu erfüllen scheint. Rousseaus Roman vereint theoretische Reflexionen mit der Erzählung eines großen Spannungsbogens von erotischer Leidenschaft, Entsagung und neuer Bindung in Ehe und Freundschaft. In den theoretischen Passagen des Romans hat der Platonismus deutliche Spuren hinterlassen. Rousseau scheut sich nicht, mehrfach auf Platon zu verweisen. Zu nennen sind hier Julies Verteidigung der biologisch-moralischen _____________ 30 31

Halfwassen (1994), 55–57. Plotin, Enneade V 1, in Plotins Schriften.

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Differenz der Geschlechter unter Berufung auf Platons Staat (Nouvelle Héloïse I, XLVI), ihr Ideal der reinen unkörperlichen Liebe, das sich auf das innere Abbild des wahren Schönen in der Seele stützt32, Saint-Preux’ Reflexion über den Selbstmord unter Bezug auf den Phaidon (Nouvelle Héloïse III, XXI), Julies pädagogische Konzeption der natürlichen Erziehung (V, III) und die Frage nach dem Verhältnis von Körper und Seele nach dem Tod (VI, XI). Auf der Ebene der narrativen Gestaltung aber wird dieser direkte Platonismus von indirekten, doch für die ästhetisch-ethische Konzeption des Romans entscheidenden neuplatonischen Reflexionsfiguren abgelöst. Das neuplatonische Muster von Verlust, Selbstpreisgabe und Rückkehr wird zum immanenten Strukturprinzip des Romans. Die Liebesleidenschaft von Julie und Saint-Preux ist der unmittelbare Ausdruck der natürlichen Leidenschaften, die mit den moralischen Empfindungen von honneur und vertu verbunden sind. Die Liebenden stellen ein Bild der ursprünglichen Reinheit der menschlichen Natur dar. Doch auf die natürliche Einheit folgt die Entzweiung durch die Macht der väterlichen Autorität und der gesellschaftlichen Normen, die wiederum aufgehoben wird durch die Wiederherstellung des von den Liebenden nie besessenen, aber erahnten Paradieses unter dem Zeichen der sittlichen Vernunft. Das Idyll von Clarens verwirklicht den Traum einer Versöhnung von natürlicher und gesellschaftlicher Existenz. Es beruht auf dem gegenseitigen Vertrauen der intimen Freunde, die der Korruption der nicht mehr von den Individuen, sondern von sozialen Institutionen getragenen Gesellschaft entgehen. Die Basis des Vertrauens bilden die Vernunft, dargestellt in der Gestalt von Wolmar, die offene Kommunikation der empfindsamen Seelen und die Sorge für den Anderen: „Ce qui me plait le plus dans les soins qu’on prend ici du bonheur d’autrui, c’est qu’ils sont tous dirigés par la sagesse“ (Nouvelle Héloïse V, II, 533). Die Vernunft siegt über die Leidenschaften, indem sie die Gefühle mit dem moralischen Bewusstsein versöhnt. Der Wendepunkt von der Leidenschaft zur Vernunft, der äußerlich durch das Ereignis der Heirat von Julie mit Wolmar markiert ist, ist daher ein point de retour, der zum verlorenen natürlichen Sein zurückführt. Aus der Entfremdung kehrt Julie erneut zu ihrem ursprünglichen Selbst zurück: Toutes ses habitudes étant rompues et toutes ses passions modifiées, dans ce bouleversement général on reprend quelquefois son caractere primitif et l’on devient comme un nouvel être sorti recemment des mains de la nature. (Nouvelle Héloïse III, XVIII, 364)

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Julies Vorstellung der sentimentalen Liebe („Laisse, mon ami, ces vains moralistes, et rentre au fond de ton ame […] c’est là que tu verras ce simulacre éternel du vrai beau dont la contemplation nous anime d’un saint enthousiasme, et que nos passions souillent sans cesse sans pouvoir jamais l’effacer“) wird von Rousseau in einen selbstreflexiven Bezug zur Lesesituation gesetzt durch die Anmerkung: „La véritable philosophie des Amans est celle de Platon; durant le charme ils n’en ont jamais d’autre. Un homme émû ne peut quitter ce philosophe; un lecteur froid ne peut le souffrir“, Rousseau, Nouvelle Héloïse, II, XI, 223.

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Der Verlust verwandelt sich in einen Gewinn, aus der Geliebten wird die empfindsame Freundin, aus den Illusionen entfaltet sich die Wahrheit. Die Voraussetzung für das neue moralische Bewusstsein aber ist die Entdeckung des immer schon gegebenen Selbstbewusstseins und die Restitution des wahren Ich. Rousseaus Fiktion der gelingenden Wiedervereinigung von Vernunft und Gefühl, von Zivilisation und Natur kommt freilich ohne einen mystischen Rest nicht aus. Das unverletzte innere Bild des Guten und Schönen wird für Julie erst mit der Selbstpreisgabe am Tag der Heirat erkennbar, wenn in der Kontemplation und Erinnerung der durchgestandenen Liebeswirren das Urbild der göttlichen Perfektion als Modell für die individuelle Seele aufscheint.33 Der Dualismus von Schatten und Wahrheit, von Erscheinung und Sein, aus dem sich das Leiden des Subjekts herleitet, ist überwindbar durch die Besinnung auf die unzerstörbare Einheit zwischen den Liebenden, die sich im Zeichen der Religiosität in ein neues ethisches Verhältnis zur natürlichen und gesellschaftlichen Welt zu wandeln vermag: „Nous étions trop unis vous et moi pour qu’en changeant d’espéce notre union se détruise.“34 In dieser christlichen Wendung zur Transzendenz findet sich erneut ein neuplatonisches Denkmuster, das deutlich über den indirekten Einfluss der genuin Platonischen Philosophie hinausreicht. Während die von Platon stammende Konzeption der Kluft zwischen den Erscheinungen und den Ideen noch auf ein Schema der Kontinuität des Seins zurückgeführt werden konnte, verschärfte der Neuplatonismus die Antithese von Einheit und Vielheit, von Geist und Materie. Um der Unordnung des Vielen in der materiellen Welt zu entgehen, muss die Seele sich vom Körper lösen und zum Geist streben, in dem Denken und Sein eins sind. In der Selbstbezüglichkeit des reinen Geistes wird die Transzendenz des Einen als die alles bestimmende metaphysische Grundstruktur erkennbar. Das philosophische Programm der Erhebung der Seele zum Göttlichen durch ihre Selbstanschauung, das Plotin in dem Traktat Über das Schöne in den Enneaden entworfen hatte, hatte Augustinus in den Confessiones in die Vision von Ostia und in das Bekehrungserlebnis im Garten von Mailand eingehen lassen und an das christliche Mittelalter weitergegeben.35 Es reicht hinein in Rousseaus Konzeption der Wendung zum Schönen und Guten, die durch das Zurücklassen der Welt des Vielen und die Rückkehr in die Einheit des Ich geschehen soll. Auch in der Nouvelle Héloïse ist dieses Muster erkennbar: Die erotische Anziehung der Körper erlaubt nur ein kurzfristiges Vergnügen, wenn die Seele des Liebenden nicht für das Schöne und Gute empfindsam ist („être sensible à la véritable beauté“, Nouvelle Héloïse III, XIX). So weist bereits die Liebesleidenschaft _____________ 33

34 35

„Adorez l’Etre Eternel […] c’est lui, c’est sa substance inaltérable qui est le vrai modele des perfections dont nous portons tous une image en nous-même.“ Rousseau, Nouvelle Héloïse III, XIX, 358. Rousseau, Nouvelle Héloïse III, XVIII, 365. Zur Erfahrung von Ostia als philosophischer Extase in Abhängigkeit von Plotin vgl. Blumenberg (1996b), 429–431.

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hinaus auf die Wiedervereinigung der Seelen in der Transzendenz.36 Die zwischenzeitliche und innerweltliche Einheit, die durch das geordnete Leben in Clarens geschaffen wird, ist noch durch die union des âmes im Reich des Ewigen zu überbieten. Das Idyll von Clarens ist nicht der Zielpunkt, in den die Wendung vom Körper zum Geist mündet, sondern ein notwendiger Schritt auf dem Weg der Selbsteinkehr der Seele, der die Vollkommenheit vorbereitet. Daher bleibt zwar dem Gatten Wolmar das letzte Gespräch mit der sterbenden Julie vorbehalten. Aber es ist der Schleier, den Saint-Preux von der Weltumsegelung in der Zeit seiner Verbannung mitgebracht hat, der das Totengesicht von Julie verhüllt. Der Schleier erinnert an die erzwungene körperliche Trennung von der Geliebten, die im Augenblick des Todes nochmals geschieht, und verspricht gleichzeitig die spirituelle Wiedervereinigung der Seelen in der Ewigkeit.37 Die Aura des Sakralen, die den Schleier umgibt, macht ihn zu einem mystischen Symbol, das auf die wahre Einheit jenseits der Sprache und jenseits des Seins verweist. Der Friede von Clarens ist das Werk des väterlichen Wolmar, der auf das Prinzip der absoluten Offenheit der Seelen vertraut, um eine ménage à trois zu wagen. In dieser Einheit zu dritt, diesem lebendigen Bild der Trinität, beruht alles auf der moralischen Grundkonstitution der belles âmes, die Wolmar bereits im fehlgehenden Enthusiasmus der frühen Gefühle der Liebenden erkennt. Julie und Saint-Preux werden unter den Augen Wolmars wieder zu unschuldigen Kindern, die für das Gelingen des gemeinsamen Glücks das Vertrauen in ihr Selbst zurückgewinnen müssen: „soyez ce que vous êtes, et nous serons tous contents“ (Nouvelle Héloïse IV, XII). Den gemeinsamen Spaziergang in das Wäldchen von Clarens, dem Erinnerungsort der ersten sinnlichen Liebesfreuden, gestaltet Wolmar bewusst zu einem Akt der Profanierung: „ne craignez plus cet asile, il vient d’être profané“ (Nouvelle Héloïse IV, XII). Der Mythos von der unbeherrschbaren Macht der Gefühle soll in das Licht der Vernunft gerückt werden, um durch das gegenseitige Vertrauen aufgelöst zu werden. Das Unsagbare der sexuellen Leidenschaft soll durch das Miteinander-Sprechen gebannt werden. Doch kann auch diese Profanierung letztlich nicht die ‚heiligen Gesetze der Natur‘ außer Kraft setzen. Die profanierte Liebe verschwindet von der Oberfläche des Bewusstseins, um im verschlossenen Tempel der Gefühle als inneres Bild bewahrt zu bleiben. Die Erinnerung an das verlorene Glück ist ein gefährliches Supplement, das nicht restlos verdrängt werden kann. Die stürmische Bootsfahrt über den Genfersee, die mit einem unfreiwilligen Eintreffen in der erhabenen Bergeslandschaft von Meillerie endet, wo Saint-Preux seine erste Zeit _____________ 36

37

Die Erhebung der erinnerten Liebe in die Transzendenz der (Seelen-)Einheit hat in Saint-Preux’ Absage an Julies Projekt seiner erneuten Verheiratung mit der Freundin Claire einen deutlichen Ausdruck gefunden. Die ursprüngliche Einheit bleibt bestehen, auch wenn die Identität der Liebenden sich verändert hat: „Nous avons beau n’être plus les mêmes, je ne puis oublier ce que nous avons été. […] Le sanctuaire est fermé, mais son image est dans le temple. […] Mais deux amans s’aiment-ils l’un l’autre? Non; vous et moi sont des mots proscrits de leur langue; ils ne sont plus deux, il sont un.“ Rousseau, Nouvelle Héloïse VI, VII, 675–676. Starobinski (1971), 147.

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der Abwesenheit von der Geliebten mit dem Einritzen elegischer Liebesverse von Petrarca und Tasso in den Fels verbracht hatte, ist das unbegriffliche Bild für die Permanenz der Gefühle, die durch die sittliche Vernunft nur zugedeckt werden: „j’éprouvai combien la présence des objets peut ranimer puissament les sentiments violens dont on fut agité près d’eux“ (Nouvelle Héloïse IV, XVII, 519). Als die für immer verlorene Liebe mit aller Macht in der Erinnerung gegenwärtig wird, wird Saint-Preux erneut in die émotion secrète hineingezogen, die er überwunden wähnte, und der auch Julie nur unter heftigem Ringen mit sich selbst widersteht. So bleibt nur die Hoffnung, dass dies die letzte entscheidende Krise auf dem Weg zur Selbsterkenntnis sei: Voila, mon ami, le détail du jour de ma vie où sans exception j’ai senti les émotions les plus vives. J’espère qu’elles seront la crise qui me rendra tout à fait à moi. […] Pour Julie; mes yeux le virent, et mon cœur le sentit: elle soutint ce jour là le plus grand combat qu’une ame humaine ait pu soutenir; elle vainquit pourtant. (Nouvelle Héloïse IV, XVII, 521–522)

Offen bleibt die Frage, warum Rousseau die Liebenden eine solche schmerzhafte Selbstüberwindung erfahren lässt. Warum ist den Liebenden das einfache Glück verwehrt? Weshalb unterwirft sich Julie der väterlichen Autorität, anstatt mit dem Geliebten die Flucht in das freiheitliche England zu wagen? Warum muss der Naturzustand der reinen Empfindung an die vertu preisgegeben werden, um schließlich unter dem Zeichen der Transzendenz wiederhergestellt zu werden? Es ist offenkundig nicht die in der moralisch depravierten Gesellschaft herrschende aufgeklärte Vernunft, deren Triumph über die Natur Rousseau darstellt. Es ist vielmehr das Streben der Seele nach einer absoluten Einheit, die jenseits der Kalamitäten der Existenz liegt und in der kleinen Freundesgemeinschaft ihren Vorschein hat. Damit ist nochmals ein platonisch-neuplatonischer Gedanke aufgegriffen: der der Identität des Schönen und Guten, die durch den erotischen Aufschwung der Seele vom Materiellen zum Intelligiblen erreicht wird. Von der klassizistischen Ästhetik des artifiziellen Schönen, in der sich die Herrschaft der zivilisatorischen Vernunft über die Natur verkörpert, wendet Rousseau sich durch die ästhetisch-ethische Konzeption seines Romans ab. Dies hat im Roman selbst Spuren hinterlassen. In Clarens wird das Schöne durch das Nützliche ersetzt: „Par tout on a substitué l’utile à l’agréable, et l’agréable y a presque toujours gagné“ (Nouvelle Héloïse IV, X, 442). Der einzige Ort, an dem das Schöne um seiner selbst willen zugelassen ist, ist der paradiesische Naturgarten, den Julie mit Wissen und Vernunft angelegt hat. Das Elysée von Clarens erinnert an die fernen Inseln der Südsee. Seine zauberische Schönheit beruht in der freien Entfaltung der Natur, die durch die menschliche Vernunft gefördert, nicht aber reguliert wird. Als Saint-Preux den verschlossenen Garten betritt, verfällt er in eine rêverie, die ihn an diesem Ort der Einsamkeit die gesellschaftliche Wirklichkeit vergessen lässt. Doch der Garten ist gleichzeitig der äußere Spiegel für die innere Sittlichkeit Julies. So hat er eine läuternde Funktion. Die Einbildungskraft wird auf die Erfahrung der Natur zurückgewendet, die

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wiederum zur moralischen Reflexion führt, in der das Ich sich in seiner natürlichen sittlichen Verfassung betrachtet. Der ästhetische Genuss des Naturschönen wird damit zum Selbstgenuss: Il n’y avoit pas jusqu’à ce nom d’Elisée qui ne rectifiât en moi les écarts de l’imagination, et ne portât dans mon âme un calme préférable au trouble des passions les plus séduisantes. Il me peignoit en quelque sorte l’intérieur de celle qui l’avoit trouvé […] j’ai trouvé qu’il y a dans la méditation des pensées honnêtes une sorte de bien être que les méchans n’ont jamais connu; c’est celui de se plaire avec soi-même. (Nouvelle Héloïse IV, XI, 487)

Wenn Rousseau sich in der „Seconde Préface“ weigert, die Frage nach Fiktion oder Wirklichkeit des Briefwechsels zu entscheiden, so wird daran deutlich, dass es ihm mit diesem Roman weniger um eine Ästhetik, als vielmehr um eine Ethik des Schönen geht. Das Schöne liegt nicht in der natürlichen körperlichen Gestalt: Ist es doch gerade der höchste Liebesbeweis Saint-Preux’, sich durch die kranke Geliebte mit der petite vérole anstecken zu lassen, so dass die äußere Verunstaltung seines Gesichts die innere Reinheit seiner Seele bezeugt. Das Schöne findet sich aber auch nicht in den Künsten oder den Wissenschaften: Gründet doch die Verbindung der adeligen Julie mit dem bürgerlichen philosophe auf einem coup de foudre, auf einer natürlichen und geradezu schicksalhaften Empfindung, über welche weder der Standesdünkel noch literarische Modelle oder philosophische Theorien Macht haben. Was also ist das Schöne? Das wahre Schöne erschließt sich nur der sensibilité der empfindsamen Herzen. Es ist die natürliche Sittlichkeit des Subjekts, in der sich die göttliche Naturordnung spiegelt: De la considération de l’ordre je tire la beauté de la vertu, et sa bonté de l’utilité commune […]. Enfin que le caractere et l’amour du beau soit empreint par la nature au fond de mon ame, j’aurai ma regle aussi longtems qu’il ne sera point défiguré. (Nouvelle Héloïse III, XVIII, 358)

Plotin hatte den Aufschwung zum Schönen, den die Seele durch Selbstfindung und Selbsterhebung vollziehen kann, mit der Arbeit eines Bildhauers verglichen, der alles fortmeißelt, bis eine schöne Gestalt hervortritt. Die Schau des Schönen und Guten steht unter der Bedingung der vorausgehenden Selbsterkenntnis, in der das Eine im Selbstbezug des Denkens präsent wird.38 In der Anschauung der Einheit des Geistigen erfüllt sich das Wesen der Seele. Durch die Emanation des Einen in die geistige Weltseele, die wiederum in die körperlich gewordene individuelle Seele herabsinkt, ist die Seele durch einen unerfüllbaren Mangel an Sein gekennzeichnet, den sie nur bewältigen kann, indem sie sich an ihren Ursprung erinnert, sich auf sich selbst konzentriert und so vom Vielen der körperlichen Welt zum Einen zurückfindet. Hans Blumenberg hat gezeigt, dass in dem ‚Seelendrama‘ des Neuplatonismus die Position der inneren Erfahrung und Umkehr freigelassen ist, die erst Augustinus mit der „Entkosmisierung der Seelengeschichte“ und der Übertragung der ontologischen Weltgeschichte auf den _____________ 38

Plotin, Enneade I 6, in Plotins Schriften.

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Spannungsbogen einer individuellen Existenz ausgefüllt hat.39 Rousseaus Bestimmung des Schönen als das Gute und seine Konzeption einer Befreiung der individuellen Seele durch ihre Reinigung von den Leidenschaften, ihr Streben nach der Tugend und ihre Selbsterkenntnis setzt, so erweist es sich, die neuplatonisch-augustinische Denktradition fort, erweitert um die Frage nach der Erfüllbarkeit des Glücks des empfindsamen Subjekts, das dem Zwiespalt von Gefühl und Vernunft, natürlicher Sittlichkeit und gesellschaftlicher Korruption ausgesetzt ist.

VI. Rückblick Die Aufklärung versuchte, die Einheit von Theorie und Erfahrung, Geist und Materie, begrifflichem Denken und sinnlicher Wahrnehmung zu behaupten. Platonische und neuplatonische Reflexionsfiguren tauchen als verdrängte Supplemente dort im aufgeklärten Denken auf, wo dessen Selbstwidersprüche keine Lösung mehr finden konnten. In der Ästhetik der Aufklärung zeigen sich diese Widersprüche eklatant dort, wo die Ästhetik des Klassizismus durch eine neue Ästhetik des Scheins und der ästhetischen Erfahrung überwunden werden sollte. Doch für eine Theorie der ästhetischen Erfahrung bot der Platonismus keine Basis. Dass die Bedeutsamkeit des Platonismus für die Ästhetik damit nicht gebrochen war, zeigt die Diskussion um die Mimesis-Debatte der Zeit, aus der Diderot mit der Berufung auf Platon einen unerwarteten Ausweg gefunden zu haben glaubte. Diderot hatte Platon bemüht, um das Kunstwerk auf die vérité der Darstellung zu verpflichten. Er hat das Platonische Konzept der mimesis aus seinem ursprünglichen ontologischen Horizont herausgelöst, um es in eine Ästhetik des Scheins einzufügen. Die ontologische Frage stellte sich für Diderot neu als die Frage nach der ästhetischen Darstellung des Wirklichen im Kunstwerk. Das Platonische Problem der Seinsvalenz des Bildes wird so zum Problem der Sichtbarkeit, das heißt: der phänomenalen Analogie von Bild und wirklichem Modell und der sinnlich-imaginären Bilderzeugung. Die Hereinnahme des Platonismus in die Ästhetik schlägt bei Diderot durch die neue Voraussetzung des ästhetisch-rezeptiven Subjekts um in einen Anti-Platonismus, der gerade dort sichtbar wird, wo Platon als vermeintliche Autorität angeführt wird. Für Rousseau ist die Berufung auf Platon hingegen ein Hilfsmittel im Kampf gegen eine Kunst, die ihren moralischen Auftrag vergessen hat. Die Konvergenz von Ästhetik und Ethik ist bei Rousseau der Fluchtpunkt für die aufgeklärte Kunst, die ihre Täuschungskraft in den Dienst der bürgerlichen Sittlichkeit stellt. Doch auch diese Konzeption der ästhetisch-ethischen Kunst ist mit dem genuinen Platonismus nicht zu vereinen. Die Vorstellung der verlorenen und wiederzugewinnenden Einheit des Schönen und Guten bedarf einer Überschreitung in _____________ 39

Blumenberg (1996a), 330–332.

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die Transzendenz. Rousseau wiederholt damit eine Bewegung, die in der Philosophiegeschichte mit der Umdeutung des Platonismus durch den Neuplatonismus bereits geschehen war. So ist die immanente Wiederkehr von neuplatonischen Reflexionsfiguren in der Struktur und Thematik der Nouvelle Héloïse das Resultat der prekären Balance von Kunst und Moral, Natur und Gesellschaft, Wirklichkeit und Fiktion. Durch Rousseaus Konzeption des empfindsamen Subjekts, das den Aufschwung zum Einen kraft seiner natürlichen psychischen Grundkonstitution vollzieht, aber gewinnt diese Wiederkehr des Neuplatonismus eine neue, dem genuinen metaphysischen Gedanken geradezu entgegengesetzte Aktualität. Damit zeichnet sich ein Grundproblem der Ästhetik der Aufklärung ab. Ähnlich wie Diderot hatte Rousseau versucht, für die Kunst die Einheit von Schein und Sein zu proklamieren, und auch er hat in der Subjektivität der empfindsamen Seele die entscheidende neue Position gesehen. Wie Diderot verortet auch Rousseau die Erkenntnis der Wahrheit in der Erfahrung. Die Kunst sollte zum Erfahrungsmedium des Subjekts werden. Doch damit war die Frage nach dem Verhältnis von Kunstwerk und selbstevidenter Subjektivität erst gestellt, so dass Rousseaus Kritik an der Aufklärung als der aufgeklärte Beginn der Romantik verstanden werden kann. Der Platonismus erweist sich in der Aufklärung als widerständiges Residuum im Prozess des Überlieferungsgeschehens, der für die Selbstpropagation der Aufklärung vereinnahmt und in seinen Grundpositionen verkehrt wird, da die platonische und neuplatonische Philosophie keinen Ansatzpunkt für eine Theorie der sinnlichen, affektiven und kognitiven Voraussetzungen von Subjektivität bot. Wenn man also fragt, wie sich das Vorkommen von Platonismen in der Ästhetik der Aufklärung überhaupt erklären lässt, so könnte man sagen: Dass der Platonismus einer Aneignung durch die aufgeklärten Philosophen offen stehen konnte, liegt in dem Doppelcharakter der verwandelnden Aneignung, in der das Widerständige vereinnahmt und die freigelassenen Positionen neu besetzt werden. Die Aufklärung konnte die ontologischen und erkenntnistheoretischen Prämissen der Platonischen Metaphysik nicht mehr vertreten, doch gelang es ihr, den Platonismus in das aufgeklärte Projekt einer Synthese von Ästhetik und Ethik, von Kunst und Natur, von Theorie und Erfahrung zu integrieren, über der die Formel von der Einheit des Wahren, Guten und Schönen als neue Formel für das sich selbst suchende Subjekt steht.

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Primärliteratur Batteux, Charles, Les beaux-arts réduits à un même principe (1773), réimpr. Genève 1969. Diderot, Denis, Œuvres complètes. Édition critique et annotée, vols. 1–25, publ. par Herbert Dieckmann/Jean Varloot, Paris 1975–2004. Diderot, Denis, „Beau“, dans : Œuvres completes. Édition critique et annotée, vol. 6, publ. par Herbert Dieckmann/Jean Varloot, Paris 1976, 135–171. Diderot, Denis, Lettre sur les sourds et les muets, dans : Œuvres complètes. Édition critique et annotée, vol. 4, publ. par Herbert Dieckmann/Jean Varloot, Paris 1978, 129–231. Diderot, Denis, Le rêve de d’Alembert, dans : Œuvres complètes. Édition critique et annotée, vol. 17, publ. par Herbert Dieckmann/Jean Varloot, Paris 1987, 89–207. Diderot, Denis, „Platonisme“, dans : Œuvres complètes. Édition critique et annotée, vol. 7, publ. par Herbert Dieckmann/Jean Varloot, Paris 1976, 110– 135. Diderot, Denis, Salon de 1763, dans : Œuvres complètes. Édition critique et annotée, vol. 13, publ. par Herbert Dieckmann/Jean Varloot, Paris 1980, 333– 417. Diderot, Denis, Salon de 1765, dans : Œuvres complètes. Édition critique et annotée, vol. 14, publ. par Herbert Dieckmann/Jean Varloot, Paris 1984, 21– 328. Diderot, Denis, Salon de 1767, dans : Œuvres complètes. Édition critique et annotée, vol. 16, publ. par Herbert Dieckmann/Jean Varloot, Paris 1990, 55– 525. L’Encyclopédie de Diderot et d’Alembert. Ou: Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers (1751–1780), vol. 1, réimpr. facs., Stuttgart/ Bad Cannstatt 1966. Marmontel, Jean-François, Poétique française (1763), vol. 1, réimpr. New York/ London 1972. Platon, Politeia, in: Platonis opera, tom. IV, rec. John Burnet, Oxford, 1902. Plotin, Plotins Schriften, gr.-dt., übers. v. Richard Harder, Hamburg 1956. Rousseau, Jean-Jacques, Œuvres completes, vols. 1–5, par Bernard Gagnebin/ Marcel Raymond, Paris 1959–1995. Rousseau, Jean-Jacques, Nouvelle Héloïse, in: Œuvres complètes, vol. 2, publ. par Bernard Gagnebin/Marcel Raymond, Paris 1964, 5–793. Rousseau, Jean-Jacques, Discours sur les Sciences et les Arts, in: Œuvres complètes, vol. 3, publ. par Bernard Gagnebin/Marcel Raymond, Paris 1964, 5–107. Rousseau, Jean-Jacques, Lettre à M. d’Alembert, in: Œuvres complètes, vol. 5, publ. par Bernard Gagnebin/Marcel Raymond, Paris 1995, 9–125.

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Sekundärliteratur Blumenberg, Hans, Die Legitimität der Neuzeit, ern. Ausgabe, Frankfurt a. M. 1996a. Blumenberg, Hans, Höhlenausgänge, Frankfurt a. M 1996b. Burgelin, Pierre, La philosophie de l’existence de J.-J. Rousseau, éd. 2, Paris 1953/1973. Eigeldinger, Marc, Jean-Jacques Rousseau. Univers mythique et cohérence, Neuchâtel 1978. Gouhier, Henri, Les Méditations métaphysiques de Jean-Jacques Rousseau, Paris 1970. Halfwassen, Jens, Geist und Selbstbewußtsein. Studien zu Plotin und Numenios, Stuttgart 1994. Jauß, Hans Robert, Studien zum Epochenwandel der ästhetischen Moderne, Frankfurt a. M. 1989. Jauß, Hans Robert, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Frankfurt a. M. 1991. Moog-Grünewald, Maria, „Die Landschaften Vernets. Oder: Über das Verhältnis von Naturschönem und Kunstschönem. Anmerkungen zu Diderots Kunstkritik“, in: Aufklärung, hg. v. Roland Galle/Helmut Pfeiffer, München 2006, 247–269. Starobinski, Jean, Jean-Jacques Rousseau. La transparence et l’obstacle. Suivi de sept essais sur Rousseau, Paris 1971. Stierle, Karlheinz, Ästhetische Rationalität. Kunstwerk und Werkbegriff, München 1997.

Der Entzug des Schönen. Neuplatonische Ästhetik bei Samuel Taylor Coleridge Eckhard Lobsien

I. Die generelle Frage nach dem Verhältnis von Neuplatonismus und Ästhetik lässt sich aus literaturwissenschaftlicher und -historischer Sicht in zwei präzisen Teilfragen fassen: 1. Besteht eine ausweisbare Beziehung zwischen einem metaphysischen Konzept des Schönen und jener sinnlich fassbaren Schönheit, die sich in Kunst manifestiert? 2. Gesetzt, eine solche Beziehung ließe sich zeigen, wie muss dann der Begriff des Schönen gefasst werden, um noch die konkretesten Details etwa eines Dramas von Shakespeare belangvoll zu integrieren (statt sie abstrahierend zu überspringen), um also gleichermaßen philosophisch, kunsttheoretisch wie objektanalytisch relevant zu werden bzw. zu bleiben? Beide Fragen lassen sich zusammenziehen in dem Postulat, es müsse sich eine Verbindung herstellen lassen zwischen einer in keiner Denkanstrengung irgend überbietbaren obersten Instanz einerseits (als Gewährleistung einer ebenso unüberschreitbaren Schönheitsidee) und, am anderen Ende der Skala, dem manifesten Kunstprodukt andererseits (einer Zeile von Shakespeare etwa), in dem – durch wie viele Vermittlungsstufen auch immer gebrochen oder transformiert – sich etwas von jenem obersten Bezugspunkt und der ihm gemäßen Seinsweise des Schönen erkennen lässt. Wie also vermag ein ästhetisch konkreter Sachverhalt in seinem lebendigen Rezipiertwerden eine Verbindung zu wahren zu einem intelligiblen Konzept, das nicht von der Art eines rezipierbaren Datums ist? Und wie kann ein oberstes Eines sich noch im fassbarsten Detail, in der die Sinne füllenden Phänomenalität so zur Anzeige bringen, dass es in seinem NichtErscheinen dennoch erscheint, in seinem Sich-Zeigen sich verbirgt? Kein Denker der Moderne hat sich eben dieser Aufgabe mit größerer, lebenslanger Intensität gewidmet als Samuel Taylor Coleridge. Coleridge hat die umschriebene Aufgabe, als wäre sie schon gelöst, in der berühmtesten Definition der Imagination fixiert, die die (nicht nur die englische) Romantik kennt. Sie findet sich am Ende des 13. Kapitels der 1817 publizierten Biographia Literaria:

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Eckhard Lobsien The IMAGINATION then I consider either as primary, or secondary. The primary IMAGINATION I hold to be the living Power and prime Agent of all human Perception, and as a repetition in the finite mind of the eternal act of creation in the infinite I AM. The secondary I consider as an echo of the former, co-existing with the conscious will, yet still as identical with the primary in the kind of its agency, and differing only in degree, and in the mode of its operation. It dissolves, diffuses, dissipates, in order to re-create; or where this process is rendered impossible, yet still at all events it struggles to idealize and to unify. It is essentially vital, even as all objects (as objects) are essentially fixed and dead. FANCY, on the contrary, has no other counters to play with, but fixities and definites. The Fancy is indeed no other than a mode of Memory emancipated from the order of time and space; and blended with, and modified by that empirical phenomenon of the will, which we express by the word CHOICE. But equally with the ordinary memory it must receive all its materials ready made from the law of association.1

Es handelt sich hier um den sorgsam inszenierten rhetorischen Höhepunkt einer ganzen Serie von Verfahren und Schreibstrategien in den vorangehenden Kapiteln, die ganz andere Argumentationsformen verwenden und deshalb den hier verwendeten definitorischen Modus als nur einen unter mehreren möglichen ausweisen.2 Tatsächlich ist diese deklaratorische Reihung mehrerer Definitionen nichts als die Beschreibung einer erst noch zu bewältigenden Aufgabe, keinesfalls die Bilanzierung einer bereits vollbrachten Arbeit. Die thesenartige Definition gewichtiger Begriffe ist in dieser Hinsicht eher ein Modus der Ironie denn der Apophantik. Der Zusammenhang der von Coleridge formulierten Bestimmungen, der in der Serie der Präpositionen indiziert ist, erschließt sich, wenn man diese Sequenz rücklaufend, also vom Begriff der fancy her rekonstruiert. Dann ergibt sich, mit erläuternden Ergänzungen, die sehr verstreute Bemerkungen Coleridges einbeziehen, diese Abfolge. 1. Die elementare Form der künstlerisch kreativen Phantasie ist fancy. Sie bedient sich des im Gedächtnis gespeicherten Vorrats an Materialien der verschiedensten Art, Formulierungen, ‚Bilder‘, Einfälle, Zitate, Allusionen, assoziative Verkettungen von Wahrnehmungseindrücken und Wörtern, die aus ihren vormaligen Kontexten und raumzeitlichen Koordinaten herausgelöst und nun frei selegiert und kombiniert werden, wobei sie – ein entscheidendes Kriterium – materiell unverändert bleiben. Die fancy ist eine rein kombinatorische Phantasie, die allerdings in den erzeugten neuen Kombinationen bestimmte qualitative Gesichtspunkte hervortreten lassen kann; so kombiniert sie etwa ihre Materialien nach dem Kriterium der Similarität, also paradigmatisch. Ihre Produkte sind _____________ 1

2

Ich zitiere nach der Standardausgabe von 1969–2002 The Collected Works of Samuel Taylor Coleridge; hier Biographia Literaria, pt. 1, 304–305. Worauf das resümierende „then“ in der ersten Zeile deutet; vgl. hierzu die ausführliche Analyse in Lobsien (1999).

Der Entzug des Schönen

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nichts Chaotisches, sondern pittoreske Spielformen, die für sich genommen durchaus als Kunst gelten können, freilich als Kunst minderen Ranges. 2. Auf dieser Basis operiert nun die secondary imagination. Sie greift ein in die Substanz der bereitgestellten ‚Materialien‘, überarbeitet, transformiert, modifiziert, rekombiniert sie, um aus ihnen ganz neuartige Figurationen hervorgehen zu lassen, vor allem aber, um die unzähligen Details, Sequenzen, Syntagmen, aus denen jedes Kunstwerk besteht, zu vereinheitlichen und damit zu ‚idealisieren‘. Die bloß einfallsreiche, überraschende Kombinationsarbeit der fancy wird überboten in der Amalgamierung neuer, jedenfalls veränderter Bestandstücke zu einem Ganzen, der Rekreation einer Totalität, die mehr und anderes ist als die Gesamtheit des von ihr Umfassten. Begnügt sich die fancy mit einer (jedenfalls latenten) Paradigmatisierung der aufeinanderfolgenden Momente, so steigert die secondary imagination dieses Ordnen zu einer durchgreifenden Transformation des Gegebenen und Gesagten, so dass dieses zum Konstituens einer Einheit oder Ganzheit wird, als Medium des Sich-Zeigens solcher Ganzheit fungiert. Die fancy respektiert den Eigenwert der von ihr benutzten Materialien, die secondary imagination dämpft und subvertiert ihn im Interesse der angezielten idealisierenden Totalisierung.3 3. Die secondary imagination nennt Coleridge ein Echo der primary imagination. Sie ist eine graduell abgeschwächte, in der Art ihres Operierens aber gleichartige Wiederholung der von der primären Imagination ausgeübten Tätigkeit. Die primary imagination ist nun nichts anderes als die synthetisierende Kraft (in) der Wahrnehmung. Sobald wir die Welt erfassen, haben wir sie immer schon den Apperzeptionsbedingungen unseres endlichen Bewusstseins unterworfen. Wir gewärtigen die Welt so, als ob sie den Vermögen und Bedürfnissen unseres Geistes entspräche, indem wir sie stets schon (eben „primary“) dessen Möglichkeiten entsprechend verwandelt haben. Jede Vermittlung von Natur und Geist (also jede Wahrnehmung) ist ein kreativer, imaginativer Akt, dessen Kreativität freilich stets implizit bleibt, nie abtrennbar ist von dem, was dem kreativformenden Zugriff vorausliegt. Diese Einsicht ist im 18. Jahrhundert längst zu einem vorphilosophischen Topos geworden; sie ist letztlich nichts als eine – freilich hyperbolische – Reformulierung dessen, was die Vermögenspsychologie seit Avicenna der ersten cellula capitis mit den beiden Instanzen sensus communis und vis imaginativa zugewiesen hatte (Formung und Festigung der _____________ 3

Der zu beachtende Vorbehalt „where this process is rendered impossible“, mit dem Coleridge der schöpferischen Leistung der Imagination die Alternative der Einheitsbildung eröffnet, kann gut von einer Bemerkung Kants her verstanden werden, der 1798 in seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht schreibt (Kant [1970], 466 und 468): „Die Einbildungskraft ist […] entweder dichtend (produktiv), oder bloß zurückrufend (reproduktiv). Die produktive aber ist dennoch darum eben nicht schöpferisch, nämlich nicht vermögend, eine Sinnenvorstellung, die vorher unserem Sinnesvermögen nie gegeben war, hervorzubringen, sondern man kann den Stoff zu derselben immer nachweisen. […] Wenn also gleich die Einbildungskraft eine noch so große Künstlerin, ja Zauberin ist, so ist sie doch nicht schöpferisch, sondern muß den Stoff zu ihren Bildungen von den Sinnen hernehmen.“

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diskreten Sinnesdaten). Sobald wir etwas als eine geistige Repräsentation erfassen, auf etwas als mentale Gegebenheit reflektieren, also eine Wahrnehmung als Wahrnehmung bemerken, ist die Vorgegebenheit und passiv-physiologische Registrierung roher Daten qualitativ-imaginativ überschritten; und dies ist immer schon, unhintergehbar, der Fall.4 _____________ 4

William Wordsworth spricht in seinem Gedicht Lines. Written a few miles above Tintern Abbey, on revisiting the banks of the Wye during a tour. July 13 1798 von „all the mighty world / Of eye, and ear, both what they half create / And what perceive;“ (v. 105–107), und verweist in einer Fußnote auf „an admirable line of Young“ (Mason [1992], 213), womit ein Passus aus Night the Sixth. The Infidel Reclaim’d der Night Thoughts von 1744 gemeint ist (VI, 420–428): In Senses, which inherit Earth, and Heavens; Enjoy the various riches Nature yields; Far nobler! give the riches they enjoy; Give tast to Fruits; and harmony to Groves; Their radiant beams to Gold, and Gold’s bright Sire; Take in, at once, the Landscape of the world, At a small Inlet, which a Grain might close, And half create the wonderous World, they see. Our Senses, as our Reason, are Divine. Diesen Gedanken von der halben göttlichen Kreationskraft der Sinne kann man von Young weiter zurückverfolgen bis zu den Cambridge Platonists; vgl. Young, Night Thoughts, 9–13. Dabei zeigt sich eine erstaunliche Inversion. Denn Ralph Cudworth, auf dessen 1731 posthum publizierte Schrift A Treatise Concerning Eternal and Immutable Morality Young anspielt, mahnt dringlich an, die dichte Aufeinanderfolge von Sinnes- und Verstandestätigkeit nicht als einen einheitlichen geistigen Prozess misszuverstehen. „Sense is but the offering or presenting of some object to the mind to give it an occasion to exercise its own inward activity upon. Which two things being many times nearly conjoined together in time, though they be very different in nature from one another, yet they are vulgarly mistaken for one and the same thing, as if it were all nothing but mere sensation or passion from the body. Whereas sense itself is but the passive perception of some individual material forms, but to know or understand, is actively to comprehend a thing by some abstract, free, and universal reasonings (rationes)“ (Cudworth, A Treatise, 57–58). Um die nur scheinbare Einheit, aber tatsächliche Separiertheit von Sinnen und Verstand zu verdeutlichen, paraphrasiert Cudworth direkt im Anschluss an „(rationes)“ Boethius: „from when the mind, ‚as it were looking down‘, as Boethius expresseth it, ‚upon the individuals below it, views and understands them‘“ (Cudworth, A Treatise, 58). Gemeint ist De consolatione philosophiae 5, pr. 4, 31–32: „In quo illud maxime considerandum est: nam superior comprehendendi vis amplectitur inferiorem, inferior vero ad superiorem nulla modo consurgit. Neque enim sensus aliquid extra materiam valet vel universales species imaginatio contuetur vel ratio capit simplicem formam; sed intelligentia quasi desuper spectans concepta forma quae subsunt etiam cuncta diiudicat, sed eo modo quo formam ipsam, quae nulli alii nota esse poterat, comprehendit“ (Boethius, De consolatione philosophiae, 149–150); „Dabei ist besonders zu beachten, daß die höhere Kraft des Begreifens die niedere umspannt, während die niedere sich auf keine Weise zur höheren erheben kann. So gelten die Sinne nichts außerhalb der Materie, noch schaut die Vorstellungskraft die allgemeinen Formen, noch begreift die Vernunft die einfache Form, aber die höchste Einsicht, gleichsam von oben schauend, begreift die Form und erkennt damit auch alles, was unter ihr ist, und zwar auf die Weise, wie sie die Form selbst, welche die anderen alle nicht erkennen können, umgreift; […]“ (Boethius, Trost der Philosophie, 193). Man sieht, wie die strenge Distinktion von inferioren und superioren Vermögen unter dem Eindruck ihres scheinbaren faktischen Zusammenspiels im 18. Jahr-

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4. Die primary imagination ist nun ihrerseits auch nur eine Wiederholung, eine Wiederholung – zu Bedingungen unseres endlichen Geistes – des ewigen Schöpfungsaktes im unendlichen ‚Ich bin‘. Was sich ‚in‘ unserem Wahrnehmungsbewusstsein ereignet, das vollzieht sich auch – und kann eben deswegen wiederholt werden, durch welche Subjektinstanz auch immer – ‚in‘ dem unendlichen ‚Ich bin‘. Diese Formulierung ist, nicht zuletzt wegen der unklaren Signifikanz der Präpositionen, ziemlich rätselhaft. Vor allem muss, eine Crux der Coleridge-Forschung seit je, entschieden werden können, ob das „infinite I AM“ mundan, also reflexionslogisch,5 oder theologisch verstanden werden soll.6 Coleridges Text stellt einen Kontrast her zwischen „finite mind“ und „infinite I AM“: Sind Geist und ‚Ich bin‘ (über den Gegensatz von endlich und unendlich hinweg) das Gleiche? Man kann dies einmal heuristisch ansetzen, insofern mind begabt ist mit der Fähigkeit, sich zu sich zu verhalten und sich insoweit auch prädikativ zu setzen. Also: Das Subjekt des ewigen Schöpfungsaktes (und, es wiederholend, der endliche Geist als Subjekt seiner Perzeptionen) wird nicht einfach als ‚Ich‘, sondern als ‚Ich bin‘ bestimmt, als eine Instanz, die sich zu sich selber verhält. Dann muss dieses Selbstverhältnis doch wohl irgendwie in Verbindung gebracht werden mit der genannten Synthetisierungsarbeit. Kreiert sich das ‚Ich‘ in seinem ‚Ich bin‘ in gleicher Weise wie die von ihm perzipierten Daten? Ist die Ich-plus-bin ‚Binnensetzung‘ Vorbedingung einer, gar jeder, kreativen ‚Außensetzung‘? Aus dem Gegensatz endlich—unendlich folgt nun bereits deutlich, dass das ‚Ich bin‘ nicht als das sich ständig und unumschränkt konstituierende Selbstbewusstsein verstanden werden kann. Dieser Selbstbewusstseinsprozess hat gewiss auch eine Dimension des Unendlichen, nämlich die der gänzlichen Uneingeschränktheit, aber das ist mit dem unendlichen ‚Ich bin‘ _____________

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hundert zugunsten einer überschwänglichen Feier sinnlicher Imaginationsenergie schwindet. Coleridge spricht von der primary imagination, um im Begriff der Imagination Sinnlichkeit und Intellekt zusammenzubringen, um schon der elementaren Arbeit des sensus communis und der stabilisierenden vis imaginativa einen intelligiblen Anteil zuzuschreiben. So wie es Schelling in Vom Ich als Princip der Philosophie (1795) durchgeführt hat: „Ich bin! Mein Ich enthält ein Seyn, das allem Denken und Vorstellen vorhergeht. Es ist, indem es gedacht wird, und es wird gedacht, weil es ist; deßwegen, weil es nur insofern ist und nur insofern gedacht wird, als es sich selbst denkt. Es ist also, weil es nur selbst sich denkt, und es denkt sich nur selbst, weil es ist. Es bringt sich durch sein Denken selbst – aus absoluter Causalität – hervor“ (Schelling, Schriften von 1794–1798, 167). Coleridge hat sich für dergleichen Bewusstseinsphilosophie zwar eine Zeit lang interessiert, sie auch in Passagen der Biographia Literaria direkt übernommen, sie sich jedoch nie wirklich zu eigen gemacht. Seine Differenz zur idealistischen Philosophie (und seine Zugehörigkeit zu einem christlichneuplatonischen Denken) ist genau darin verbürgt, dass er das ‚Ich bin‘ niemals vor- oder außertheologisch gedacht hat. Insofern geht die scharfsinnige Studie von Uehlein (1982), nicht zuletzt bedingt durch eine unzureichende Quellenlage, ins Leere. Typisch für die Forschung ist eine Verlegenheitsformulierung wie diese: „Strikingly parallel to the Logos or Christ is the human imagination that combines and manifests the whole mind and expresses the truth and reason of ideas in a symbolic language grasped by the understanding“ (Engell [1981], 365).

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weder hier noch an irgendeiner anderen Stelle bei Coleridge gemeint.7 Das unendliche ‚Ich bin‘ ist das transzendente Modell des Agierens (nach innen wie nach außen) des ‚mundanen‘, endlichen Selbstbewusstseins. Alles hängt davon ab, wie es gedacht wird, zwingend gedacht werden muss, welches seine Binnenverfassung ist, die als „eternal act of creation“ anzusprechen wäre. Erst wenn die Logik des absoluten ‚Ich bin‘ zutage liegt, kann verstanden werden, wie zu Bedingungen eines endlichen Geistes schöpferische Arbeit geleistet werden kann, inwiefern das Endliche das Unendliche zu wiederholen vermag, inwiefern durch die beiden Wiederholungsstufen „repetition“ und „echo“ hindurch sich im Produkt der kreativen Phantasie, also im Kunstwerk, ein unendliches Ich (im Modus des ‚Ich bin‘) anzuzeigen vermag. Dies also ist die Aufgabe, die Coleridge sich und jeder belangvollen Theorie der Imagination stellt. Man kann sie noch einmal wie folgt darstellen und erweitern. Die sekundäre Imagination produziert ein Kunstwerk als eine organische Ganzheit, sie produziert Schönes. Der Begriff des Schönen impliziert ja, dass das Ganze und seine Teile nicht zu trennen sind, dass sie in doppelter Richtung interdependieren: In jedem Teil ist das Ganze repräsentiert, und im Ganzen sind alle Teile aufgehoben. Das Ganze (Eine) und die Teile (Vielen) sind vollständig ineinander verschränkt, durch eine Wirkkraft vereint. Die Einbildungskraft prägt in die Teile eine Energie ein, die sie nicht nur auf das Ganze hin orientiert, sondern sie selber schon zu Ganzen macht, sie dynamisch auf das Ganze hin ‚wachsen‘ und sie obendrein interagieren und sich modifizieren lässt: Das ist der Gehalt der Wendungen „to re-create“, „to idealize and to unify“. Dann ließe sich die Verbindung (als doppelte Wiederholung, „repetition“ und „echo“) zwischen der Struktur des Geistes als unendlichem ‚Ich bin‘ und dem konkret produzierten Kunstwerk tentativ so fassen: Der künstlerisch-imaginative Schöpfungsakt wiederholt die dynamische Selbstsetzung des göttlichen Geistes. Diese ist unendliche Kreativität, weil der bei sich seiende Geist (das unendliche ‚Ich‘) sich thetisch setzt, sich zu sich verhält, eben sich als ein ‚Ich bin‘ prädiziert. Diese Thesis generiert instantan eine Antithesis, die Setzung des Nicht-Ich, und aus der so erzeugten Opposition Thesis—Antithesis lässt sich eine beiden vorgängige Prothesis (‚göttliches Sein‘, ‚Eines‘) zwingend ableiten. Schließlich ist die Opposition der substantiell identischen Positionen (Thesis = Antithesis) in einer Synthesis gehalten. Das unendliche ‚Ich bin‘ ist nichts anderes als diese Tetrade (in anderer Terminologie: diese Tetraktys). Dann lässt sich weiter sagen: Dieses Prinzip der Gegenübersetzung als Dialektik von Heraussetzung und Rückkehr besitzt universelle Gültigkeit. Die materielle Welt tritt aus der tetradischen Selbstbewegung des Geistes heraus, bleibt jedoch an ihn zurückgebunden, ist von _____________ 7

Seit Publikation der letzten Bände der Notebooks und des in Biographia Literaria als Logosophia vorangekündigten fundamentalen Opus Maximum ist klar, dass Coleridge das unendliche ‚Ich bin‘ immer theologisch, nämlich von Exodus 3, 14 her, gedacht hat: „Ich will sein, der ich sein will!“ (vgl. Steurer [1989], 336). Eine Ausarbeitung dieser diffizilen Position ist hier nicht möglich, sie bleibt einer in Vorbereitung befindlichen Monographie vorbehalten.

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ihm durchwirkt. Der kreative Impuls prägt sich in das Geschaffene derart ein, dass dieses eine Tendenz zur Rückkehr in seinen Ursprung erkennen lässt. Im ‚Ich bin‘ und nur in diesem Urteil hat sich das ‚Ich‘ als Ich; und nur in der Dynamik der Schöpfung kann sich ein Ganzes oder Eines manifestieren, nur über sein Gegenteil kommt es zu sich (wenn auch nie rein als es selber, als ein so und so bestimmtes Etwas). Wenn die Rede vom Echo und von der Wiederholung ernst genommen wird, dann ist strikt analog auch von der poetischen Einbildungskraft zu sagen, dass durch sie der endliche Geist (als das endliche ‚Ich bin‘) und die Einheit des Vielen (also das Schöne) vermittelt sind, so dass sich vom konkret gestalteten Schönen ein Aufstieg zum unendlichen ‚Ich bin‘ jedenfalls denken ließe. Exakt dies ist die von Coleridge in der Verkleidung einer Deklaration formulierte Aufgabe und seine neuplatonische Ästhetik. Ich expliziere in den folgenden Abschnitten insbesondere den Begriff des Schönen, der leicht – und auf dem Hintergrund der Ästhetiken des 18. Jahrhunderts zumal – unterboten werden kann (II), weiter das Problem, dass Kunst in ihrer prägnantesten Gestalt (paradigmatisch: in den Werken Shakespeares) immer auch diaphan zu sein hat und deshalb ‚ideal‘ zu nennen ist (III), und schließlich noch einmal die eben formal grob skizzierte Logik der Tetraktys und ihren fundierenden Status für Kunst – eben die Einheit von metaphysischer und ästhetischer Schönheit (IV).

II. Die sekundäre, kreative Imagination produziert Kunst; sie ist eine bewusste, willentliche Wiederholung der unwillkürlich synthetisierenden Arbeit der primären Imagination. Was diese als eine belangvolle, sinnvoll strukturierte und begreifbare Wirklichkeit konstituiert, das lässt jene kreativ als gestaltete Schönheit in Erscheinung treten. Kunst ist von einer vereinheitlichenden, synthetisierenden Kraft durchwirkt, sie ist Synthese des Vielen und in diesem Sinne Schönheit. Nun möchte es scheinen, als wiederhole Coleridge mit solchen Aussagen lediglich die topische, im 18. Jahrhundert nachgerade automatisierte Formel, Schönheit sei die (formale) Einheit des Mannigfaltigen. Tatsächlich ist genau dies nicht der Fall, und ein formalästhetisches Verständnis von Coleridges Schönheitsdefinition verfehlte gänzlich deren genuinen Gehalt. Die Prädikate idealize und unify, verstünde man sie rein formalistisch, wären geradezu peinlich hyperbolische Benennungen des bloß formalen Arrangements einer vorgegebenen Vielheit, ja die secondary imagination rutschte auf die Stufe der fancy herab, und die hergestellte Analogie zwischen dem sich selber prädizierenden Schöpfergott und dem Künstler verlöre ihren emphatischen Gehalt und schrumpfte zu einem ebenso bombastischen wie leeren Postulat. Tatsächlich muss ‚Einheit‘ oder ‚Synthese‘ aber etwas anderes heißen; denn, wie bereits gesagt, die gestalthafte Einheit eines Mannigfaltigen wäre auch durch assoziativ-similisierende Operationen der fancy herzustellen.

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Dass Coleridge tatsächlich schöne Kunst als Produkt der sekundären Imagination nicht einfach als eine Vereinheitlichung des Mannigfaltigen versteht, erhellt, wenn man seine Ausführungen kontrastiert mit einer Standarddefinition des Schönen wie etwa dieser: So viel ich davon habe bemerken können, lassen sich die Eigenschaften des Schönen auf drey Hauptpunkte bringen. 1. Die Form im Ganzen betrachtet, muß bestimmt, und ohne mühsame Anstrengung gefaßt werden. 2. Sie muß Mannichfaltigkeit fühlen lassen, aber in der Mannichfaltigkeit Ordnung. 3. Das Mannichfaltige muß so in Eines zusammenfließen, daß nichts einzeles [sic] besonders rühret.8

Der Kern dieser Bestimmung ist die Forderung, das Ganze müsse als Ganzes mühelos erfassbar sein, die Ganzheit des Vielen müssen sich als thematische Gegebenheit mit Bestimmtheit darbieten; das Ganze in diesem Sinne ist ein konkretes Phänomen, ein Gestaltmoment, und nicht die bloße Anzeige von etwas diffus Mitgegebenem, etwa in der Art eines unthematischen Horizonts oder eines perspektivischen Fluchtpunkts. Bei Coleridge aber wird das Ganze, das Synthetische, das Eine, die Totalisierung des Pluralen, niemals als ein erfahrbares Faktum (von der gleichen Art wie die synthetisierten Momente) bestimmt. Am 23. Juni 1834 bemerkt er in Anwesenheit seines Neffen und Schwiegersohns Henry Nelson Coleridge, der diese Äußerung aufzeichnet: You may conceive the difference in kind between Fancy and Imagination in this way—that if the check of the senses and the reason were withdrawn, the first would become delirium, and the second mania. The fancy brings together images which have no connection natural or moral, but are yoked together by the poet by some accidental coincidence: Hudibras—Lobster. The imagination modifies images and gives unity to variety; it sees all things in one—il più nell’ uno. There is the epic imagination, the perfection of which is in Milton; and the dramatic, of which Shakspeare is the absolute master.9

Vom pathologischen Extremfall her wird zunächst noch einmal die Differenz der kombinatorischen fancy, die Pittoreskes kreiert, und der secondary imagination, die Schönes schafft, deutlich. Eine gänzlich sich selber überlassene fancy käme einem entfesselten Delirium gleich, einer völlig unstrukturierten rasenden Aufeinanderfolge heterogener Eindrücke, Phantasmen, Wörtern. Völlig gegensätzlich zeigte sich die keiner Vernunftkontrolle mehr unterworfene Imagination; sie übertriebe ihr Bestreben, das Viele in Eines zu bändigen, bis zur manischen Repetition immer der gleichen obsessiven Leitvorstellung. In der normalen poetischen Praxis aber, also in der vom Willen und der Vernunft geführten Phantasiearbeit, zeigt sich die fancy beispielsweise in kuriosen, manieristischen Vergleichen,10 die imagination hingegen als die solche selbstgenügsamen _____________ 8 9 10

Sulzer (1794/1994), 308. Coleridge, Table Talk, pt. 1, 489–490. Das Beispiel, das Coleridge nennt, stammt aus dem 1663 erschienenen zweiten Teil (v. 31) von Samuel Butlers satirischem Epos Hudibras; es vergleicht die Morgenröte mit einem gekochten

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Momente transformierende Kraft der Vereinheitlichung des Vielfältigen. Das Schöne, das daraus resultiert, ist il più nell’ uno, eine Formel, die Coleridge mehrfach verwendet. So bemängelt er am 1. Juni 1834 im Blick auf Walter Landor einen Mangel an Imaginationskraft: […] he seems to be totally deficient in that modifying faculty, which compresses several units into one whole. He does not possess Imagination in its highest form;— that of stamping il più nell’ uno. Hence his poems, taken as wholes, are unintelligible; […].11

Das Viele im Einen – oder umgekehrt gesehen: das Eine, das sich im Vielen manifestiert –, ist keine geometrische Konfiguration, sondern ein dynamisches Ereignis, „effected by a single energy, modified ab intra in each component part“.12 Das wird nun vollends deutlich, wenn man der Herkunft der auffälligen italienischen Wendung il più nell’ uno nachgeht. In einem Tischgespräch vom 27. Dezember 1831 bemerkt Coleridge: Francesco Tessala’s definition of Beauty was—il più nell’ uno—Multitude in unity— and there is no doubt that such is the Principle of Beauty; and it is one of the most characteristic and most infallible criteria of the different ranks of men’s intellects— the instinctive habit which all superior minds have of endeavouring to bring, and of never resting till they have brought into Unity the scattered Facts which occur in conversation or in the statements of men of business.13

Diese Äußerung lässt in intertextueller Verkettung, wie in einem Zeitschacht, jenes Konzept des Schönen sichtbar werden, das Coleridge ständig im Blick hat und das gegen jede bloß formalistische Definition abzugrenzen ist. Mit dem rätselhaften Francesco Tessala ist – ein kurioser Hörfehler von Henry Nelson Coleridge – St. François de Sales gemeint, dessen Traité de l’amour de Dieu (1616) Coleridge in einer italienischen Übersetzung von 1790 benutzte. Dort freilich wird eine Formel wie il più nell’ uno gar nicht verwendet. Stattdessen entfaltet St. François in I, 1 einen Begriff des Schönen, der von einer rein formalen Bestimmung fortschreitet zu einer bedeutsamen qualitativen Definition. Schönheit kann bestimmt werden als Einheit von Ganzheit und Distinktionen, als ein multiples Ganzes, das den Eindruck von Proportionalität, Harmonie und Ordnung vermittelt. In diesem Sinne kann man von einem schönen Heer ebenso wie von einer schönen Musik sprechen. Dieses Schöne ist ein Objekt direkter Erkenntnis (und, im Unterschied zum Guten, kein Gegenstand des Begehrens), durch die sich nun aber eine weitere Qualität zeigt. Denn schön ist das, was sich vollkommen eindeutig, klar, verständlich darbietet. Es genügt nicht, dass an einem wahrgenommenen Gegenstand Unterschiedenheiten in Ganzheit erfahren _____________ 11 12 13

Hummer: „The Sun had long since in the Lap / Of Thetis, taken out his Nap, / And like a Lobster boyl’d, the Morn / From black to red began to turn.“ (Butler, Hudibras, 128). Coleridge, Table Talk, pt. 1, 452. Vorlesung vom 18. Februar 1819; Coleridge, Lectures 1808–1819 On Literature, pt. 2, 362. Coleridge, Table Talk, pt. 2, 261–262.

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werden – diese Elemente des Schönen müssen vielmehr zu Bedingungen vollkommener Klarheit gegeben sein. Das bloß formal Schöne wäre tot, würde es nicht durchwirkt von „clarté et splendeur“, so wie der Körper durchwirkt ist von Seele und Leben und dadurch Schönheit erlangt.14 Die formalen Elemente des Schönen, Einheit und interne Unterschiedenheit, müssen getragen sein von einer ungetrübten Klarheit, um in der Erfahrung des Schönen zur Geltung zu kommen. In höchster Instanz kommt Gott das Prädikat des Schönen zu, weil die ihm eigene Einheit des Unterschiedenen sich mit „infinie clarté“ bekundet. Erst vermöge der clarté treten Distinktes und Ganzheit zusammen zum Schönen. Die rein pythagoreisch-geometrischen Proportionen müssen, so ließe sich sagen, in eine zusätzliche Evidenz eintreten; in ihnen scheint etwas auf, das sie – formal durchaus invariant bleibend – verwandelt in Schönheit; Ganzheit und Unterschiedenheit werden transparent auf eine Instanz hin, die sich als clarté manifestiert und Ganzheit wie Unterschiedenheit genau dadurch zu einer unüberbietbaren Einheit zusammenbringt, dass sie beide rein als sie selber wahrnehmbar macht.15 St. François de Sales zitiert (besser: paraphrasiert) in dem Eingangskapitel „saint Denis“, also Pseudo-Dionysius Areopagita, und zwar De divinis nominibus, Kap. IV. Damit aber gewinnt Coleridges Bemerkung, der mit St. François auch den Areopagiten aufruft, eine beachtliche Tiefenresonanz. St. François bezieht sich auf die mehrfach gebrauchte Sonnen- und Lichtmetaphorik, die verständlich machen soll, wie sich Gott als das substantiell Gute und Schöne allem Seienden mitteilt – sofern es bereit ist, diese ‚Strahlen‘ zu empfangen –, es durchdringt und erhellt. Jedes der Attribute Gottes hat diesen Charakter eines sich mitteilenden intelligiblen Lichts (phos noeton).16 Das Anmutige und das Schöne (kalon, kallos) manifestieren sich wie einstrahlendes Licht in den Dingen, verleihen ihnen Schönheit und heben sie gerade darin in ihrer Singularität auf in ein Allgemeines. Das Schöne (an dem das Anmutige teilhat) wird aus zwei Gründen so genannt: […] weil es allem Seienden auf eine jedem angemessene Weise Schönheit mitteilt, und weil es als Ursache der guten Übereinstimmung und Herrlichkeit aller Dinge wie das Licht seine Schönheit verleihenden Mitteilungen des quellenhaften Strahls in alle

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de Sales, Œuvres, 354. – „Le beau donc étant appelé beau parce que sa connaissance délecte, il faut que, outre l’union et la distinction, l’intégrité, l’ordre et la convenance de ses parties, il ait beaucoup de splendeur et clarté afin qu’il soit connaissable et visible. […] Dieu donc, voulant rendre toutes choses bonnes et belles, a réduit la multitude et distinction d’icelles en une parfaite unité et, pour ainsi dire, il les a toutes rangées à la monarchie, faisant que toutes choses s’entretiennent les unes aux autres, et toutes à lui qui est le souverain Monarque. Il réduit tous les membres en un corps, sous un chef;“ (de Sales, Œuvres, 354 u. 355). Im Notebook von 1800/01 zitiert Coleridge Jeremy Taylor: „He to whom all things are one, who draw[]eth all things to one, and seeeth all things in one, may enjoy true peace & rest of spirit“ (Coleridge, 1794–1804, pt. 1, no. 876). Pseudo-Dionysius, Die Namen Gottes, 46; Suchla (1990), 701 A.

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Wesen hineinblitzt, alles zu sich ruft, weshalb es auch Schönheit genannt wird, und alles in allem in ein und dasselbe zusammenführt.17

Damit ist nun eine gehaltvolle Lesart der Formel il più nell’ uno möglich. Sie will nicht einfach eine deskriptive Bestimmung des Schönen geben, keine Formalästhetik treiben, sondern die Arbeit der sekundären Imagination in einem obersten Prinzip sichern. Coleridge fundiert das kunstproduzierende Vermögen in einer konstitutiven Idee des Schönen,18 und damit in einem obersten Grund, der die Rede vom Echo der Wiederholung göttlichen Seins und Wirkens nachvollziehbar macht. Nicht die schiere Einheit des Mannigfaltigen stiftet Schönheit, nicht die durch Regeln und vom Willen angeleitete Imagination produziert geradehin Kunst, vielmehr operiert die sekundäre Imagination so, dass in ihre Gegenstände clarté einbricht, dass eine Dynamik hin auf eine Ganzheit sich einstellt, die weit mehr ist als die harmonische Abgeschlossenheit einer mehrfältigen Reihe. Was die sekundäre Imagination erarbeitet, ist eine Artikulation, durch die hindurch sich etwas zu erkennen gibt, das alles konkret Artikulierte (literarisch etwa: einen Vers) in seinem Eigenwert belässt und es doch unter den wesentlichen Aspekt einer – mit Pseudo-Dionysius – „guten Übereinstimmung und Herrlichkeit aller Dinge“ stellt. Coleridge definiert das Schöne nicht anders als Plotin, auf den über St. François und Pseudo-Dionysius diese gesamte Argumentation zurückläuft: Beginnen wir also von vorn und geben als erstes an, was denn nun das Schöne in den Körpern ist. Es ist ja etwas, das schon auf den ersten Blick wahrnehmbar wird; es ist, wie wenn die Seele es versteht und ausspricht, sie erkennt es wieder, nimmt es an und gleicht sich ihm sozusagen an. […] Die Form also tritt hinzu und ordnet das, was aus vielen verschiedenen Teilen durch Zusammensetzung eins werden soll, zusammen; sie überführt es in eine Einheit, zu der [alle Teile] beitragen, und bewirkt, daß es eins ist durch innere Stimmigkeit – deswegen, weil sie selber eins ist und auch das Gestaltete eins werden mußte, soweit möglich bei etwas, das aus vielem ist. Sobald es also in eins zusammengefügt worden ist, hat die Schönheit ihren Sitz auf ihm und teilt sich den Teilen ebenso wie dem Ganzen mit. […] So also entsteht der schöne Körper: durch Gemeinschaft mit einer rationalen Struktur, die vom Göttlichen her kommt.19

Coleridge hat in einer Reihe kürzerer Abhandlungen die il più nell’ uno-Formel des Schönen und die Begriffe des Lebens wie des Unendlichen ausdrücklich _____________ 17 18

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Pseudo-Dionysius, Die Namen Gottes, 46–47; Suchla (1990), 701 C–D. Zur Definition des Begriffs ‚Idee‘ formuliert Coleridge: „A Notion may be realized, and becomes Cognition; but that which is neither a Sensation or a Perception, that which is neither individual (i.e. a sensible Intuition) nor general (i.e. a conception) which neither refers to outward Facts nor yet is abstracted from the FORMS of perception contained in the Understanding; but which is an educt of the Imagination actuated by the pure Reason, to which there neither is or can be an adequate correspondent in the world of the senses—this and this alone is = AN IDEA. Whether Ideas are regulative only, according to Aristotle and Kant; or likewise CONSTITUTIVE, and one with the power and Life of Nature, according to Plato, and Plotinus […] is the highest problem of Philosophy, and not part of its nomenclature.“ (Coleridge, Lay Sermons, 113–114). Plotin, Enneade I 6, 2, 49–50.

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parallelisiert und damit weiter präzisiert.20 Ich gebe hier nur einige wenige Hinweise auf Passagen, die die neuplatonische Fundierung jeder Rede vom Schönen deutlich markieren und so überhaupt erst plausibel werden lassen, wieso Schönheit, Leben und Unendlichkeit kohärierende Konzepte sind. „The BEAUTIFUL, contemplated in its essentials, that is, in kind and not in degree, is that in which the many, still seen as many, becomes one.“21 Das Schöne stellt sich als Erfahrung oder als Urteil ein, sobald die Teile eines mehrgliedrigen Gebildes in allseitige Beziehung zueinander eintreten und dabei ein Ganzes generieren. Dieses Schöne konstituiert sich absolut in sich selber, ohne jeden assoziativen Kontextbezug. Es ist definiert als „Multëity in Unity“.22 Der Kunstausdruck multëity wird von Coleridge eigens eingeführt, um eine begrenzte Vielheit zu bezeichnen, die einer Vereinheitlichung fähig ist, die sich nicht in uferlosen Assoziationen zu verlieren droht. Schönheit hat etwas unwiderstehlich Ereignishaftes: Die deutlich gewärtigte multëity (mit je für sich und in ihrer allseitigen Relationiertheit wahrgenommenen Teilen) entlässt aus sich heraus unity; diese Einheit ist mehr als eine Summe oder ein Integral, überhaupt mehr als etwas gestalthaft Wahrnehmbares. Sie ist die Präsenz des Geistigen im MateriellSensuellen. The sense of Beauty subsists in simultaneous intuition of the relation of parts, each to each, and of all to a whole: exciting an immediate and absolute complacency, without intervenience therefore of any interest sensual or intellectual.23

Das Schöne ist eine Zurücknahme des in Similaritäten und Kontiguitäten sowie in Interessen und Willenstendenzen verstrickten sinnlichen Phänomens in bedeutungsfreie Kontemplation und Intuition. Es ist die Reduktion der vielen partiellen Signifikate um der Präsenz des Signifikates überhaupt willen. Dieses platonischplotinische Schöne tritt in Gegensatz zu allem, was die Aufmerksamkeit auf sich _____________ 20

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22 23

So in Definitions of Aesthetic Terms (1814), Essays on the Principles of Genial Criticism (1814), On Consciousness and Self-Consciousness (ca. 1816), On the Infinite (1816), Theory of Life (1816); alle in Coleridge, Shorter Works and Fragments, pt. 1. Die immer neue Perspektivierung des il più nell’ uno und auch die verschiedenen Wendungen, die Coleridge für die Einheitsbildung verwendet (reduce, unite, blend, modify), enthalten eine Pointe besonderer Art. Die scheinbar invarianten Bestimmungen des Schönen, der Imagination, des Lebens, des Unendlichen, unterliegen selber dem, was sie bestimmen. Das Paradigma il più nell’ uno enthält in jeder Definition eine Abweichung von den anderen Bestimmungen. Die il più nell’ unoFormeln sind ihrerseits il più nell’ uno: also Erscheinungen des Wahren als Schönheit, die Selbstübersteigung des diskursiven Denkens in eine (tendentiell) perfekte Gestalt hinein. Essays on the Principles of Genial Criticism, in Coleridge, Shorter Works and Fragments, pt. 1, 371. Coleridge, Shorter Works and Fragments, pt. 1, 372. Coleridge, Shorter Works and Fragments, pt. 1, 378. Dies ist Coleridges Paraphrase von Plotin, Enneade I 6, 3, 9–15. – Wie schwer es selbst Coleridge gelegentlich fällt, sich von der bloß formalen Bestimmung des Schönen freizumachen, erhellt aus einer Definition wie dieser: „The distinct Perception of a Whole arising out of a clear simultaneous Perception of the constituent Parts, in the relations of All to Each, and of each to each and to all, constitutes the BEAUTIFUL.“ (Definitions of Aesthetic Terms, in Coleridge, Shorter Works and Fragments, pt. 1, 350).

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selber lenkt oder irreduzibel das ist, was es ist. Das Schöne ist ganz und gar antipragmatisch verfasst: Es ist – im Extremfall – reine spirituelle Simultaneität, in die möglichst viele Elemente eingezogen sind, in der nichts um seiner Selbst willen auf sich aufmerksam macht, in der die wahrnehmbaren Teile in Relationen aufgehen und diese in dem Ganzen, das seinerseits auf einen umfassenden Grund des Allen in Einem verweist, diesen jedenfalls zwingend in die Reflexion einträgt. In der Erfahrung des Schönen wird dieses Aufgehen jedenfalls als ein Sog, ein Entzug, spürbar. Insoweit kann es sowohl dem Begriff des Unendlichen wie dem des Lebens homolog verstanden werden: „The All in One, the One in all.“24 Anders als derart zirkulär lässt sich das All-Eine nicht definieren. The Absolute then is its own Ground—but we live—move—act—and whatever does not live, act, is but an abstraction of the senses and understanding—The Absolute therefore must not be its own Ground, but its own Cause. Sufficiencia sui + Causa sui = Causa sui sufficiens. This is conceivable in no other form, than the absolute identity of Being and Knowing in the argumentum in circulo before admitted […] I AM for I know myself—I know myself for I am. The […] Know in the first form must therefore be causative—bearing the same relation to the Being, that the Being in the second formula bears to the Knowing.25

Das Selbstverhältnis des Absoluten ist, so fährt Coleridge an der gleichen Stelle fort, kausatives oder generatives Wissen und lässt sich in die Formel kleiden: „I affirm myself as All = Infinity, […] in the same Act in which I affirm All as Myself = Unity“. Das Absolute ist in sich zirkulär verfasst: Sein und Selbstwissen sind eines in dem Sinne, dass die Existenz ein Sich-Wissen einschließt und dieses Sich-Wissen die Existenz ist. Eines kann nicht ohne das andere sein, folglich herrscht zwischen diesen Momenten ein Bedingungsverhältnis. Dieses aber wird in der Formulierung, das Absolute sei sein eigener Grund, nicht hinreichend erfasst; denn es ist seine eigene zureichende Bewirkung. Der Begriff des Lebens wird analog dem des Kunstwerks definiert (oder vice versa), ganz formal als „the internal copula of bodies“, dann genauer (platonisch) als „the power which discloses itself from within as a principle of unity in the many“, oder als „the principle of unity in multeity, as far as the former, the unity to wit, is produced ab intra;“. Direkt anschließend formuliert Coleridge dann seine eigene umfassendere Definition: […] I define life as the principle of individuation, or the power which unites a given all into a whole that is presupposed by all its parts. The link that combines the two, and acts throughout both, will, of course, be defined by the tendency to individuation.26

Ein Individuum entsteht und definiert sich durch die besondere Art und Intensität der Verknüpfung des Vielen zu Einem, durch die Anzahl der Elemente und ihrer _____________ 24 25 26

On the Infinite, in Coleridge, Shorter Works and Fragments, pt. 1, 558. Coleridge, Shorter Works and Fragments, pt. 1, 559. Alle vorangehenden Zitate in Theory of Life, in Coleridge, Shorter Works and Fragments, pt. 1, 510–511.

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Verbindungen – so als wäre es ein Produkt der schönheitsschaffenden sekundären Imagination: Finally, of individuals, the living power will be most intense in that individual which, as a whole, has the greatest number of integral parts presupposed in it; when, moreover, these integral parts, together with a proportional increase of their interdependence, as parts, have themselves most the character of wholes in the sphere occupied by them.27

III. Selegierende und kombinierende Phantasie (fancy) sowie kreative Imagination (secondary imagination) produzieren Gebilde, die phänomenale Vielheit in einer Einheit erfahrbar machen, einer Einheit, die selber nicht als ein phänomenal Gegebenes bestimmt ist, sondern die sich an oder in dem Vielen zeigt. Die Einheit eines Kunstwerks kann als ein distinktes und prägnantes Datum sehr wohl erfasst werden, aber das wäre dann als ein Moment innerhalb jener belangvollen Einheit zu verstehen, von der mit der il più nell’ uno-Formel die Rede ist. Damit allein ist ästhetische Schönheit konstituiert. Dieses Schöne ist nun von Belang – und es verleiht jedem Umgang mit Kunst Gewicht – ausschließlich deshalb, weil es in Entsprechung steht zu einer Position höchster Relevanz und äußerster Denkwie Sagbarkeit. Diese Entsprechung gibt Coleridge an mit den Begriffen echo und repetition. Von dem, was in einer nicht weiter überbietbaren Weise Eines und Vieles zugleich ist und was diese beiden Termini definiert, führt eine Vermittlungskette ‚hinunter‘ zu dem Schönen, das auch Vieles als Eines und Eines im Vielen ist, und das eben deshalb einen Indexwert, eine Verweisungsqualität, eine substantielle Symptomatik, eine dynamische Hinwendung zu jenem Eins-als-Vieles besitzt. Was als Vieles im Kunstwerk zu einer Einheit (in dem emphatischen Sinn einer sich jeder Fassbarkeit entziehenden Einheit jenseits der sich als ein definites Etwas konfigurierenden) zusammentritt, zeigt eine doppelte Dynamik der Selbstübersteigung. Zum einen ist jedes konkrete Moment, so markant es sein mag, versehen mit dem Index ‚konstitutiver Teil eines Ganzen‘. Zum zweiten ist es zusätzlich versehen mit einem Transzendenzimpuls, der das sich in den Teilen formierende Ganze über sich hinaustreibt und ihm eine Relevanz zuwachsen lässt, die in keinem seiner konkreten Momente verbürgt sein kann. Ohne diesen Transzendenzimpuls könnten sich wohl immer neu Einheiten aus Vielheit formen, auch als Produkte der arbeitenden sekundären Imagination, aber sie wären nicht viel mehr als interessante Konfigurationen, pittoreskunverbindliche Spielszenarien, ohne jene essentielle Bedeutsamkeit, die sie allein aus ihrer Position am Ende eines Vermittlungsstranges (echo, repetition) beziehen. _____________ 27

Coleridge, Shorter Works and Fragments, pt. 1, 513.

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Die entscheidende Frage, wie neuplatonische Metaphysik und moderne Ästhetik bei Coleridge vermittelt sind, ist folglich genau diese nach der konkreten dynamischen Beschaffenheit der von der sekundären Imagination produzierten Kunstwerke. Methodisch konkretisiert: Wie kann man ein Kunstwerk – ein Drama von Shakespeare, The Tempest etwa – unter Wahrung seiner spezifischen Faktur so analysieren, dass der Kerngedanke eines Transparentwerdens, einer doppelten Transzendierung, plausibel wird, also aus dem Material des Artefakts selber unmittelbar hervorgeht? Im bereits zitierten Tischgespräch vom 23. Juni 1834 erwähnt Coleridge Milton und Shakespeare als die beiden hervorragendsten Repräsentanten der sekundären Imagination: „There is the epic imagination, the perfection of which is in Milton; and the dramatic, of which Shakspeare is the absolute master“, und fährt fort: The first gives unity by throwing back into the distance, as after the magnificent approach of the Messiah to battle, the poet by one touch—‚far off their coming shone!‘—makes the whole one image: and so at the conclusion of Satan’s address to the entranced angels in which every sort of image from all the regions of earth and air is introduced to diversify and illustrate, the reader is brought back to the single image by He called so loud that all the hollow deep Of Hell resounded. The dramatic imagination does not throw back, but brings close; all nature is stamped with one meaning, as in Lear, &c.28

Die epische Imagination distanziert, versammelt die vielen Details in einer Wendung, die der Wahrnehmung eine größere Reichweite verschafft, die den entscheidenden Bedeutungsakzent setzt, von dem her alles Vorangehende sich als bloßer Vorlauf erweist und in Einheit integriert wird. Die Details werden subordiniert und korreliert, sie werden wahrnehmbar sowohl als sie selber in ihrem Eigenrecht wie auch als teilinsuffiziente Komponenten; es entsteht, so ließe sich sagen, eine perspektivische Durchsicht. Die dramatische Imagination hingegen distanziert nicht, sondern intensiviert, und zwar durch Einprägung einer Zentralbedeutung, einer kohärenzstiftenden Qualität in jedes Detail; es entsteht die Nahwahrnehmung eines Kontinuums. In beiden Fällen aber ereignet sich eine Übersteigung des positiv Gegebenen, ein Transparentwerden dessen, was wir am Kunstwerk primär erfassen, auf etwas anderes hin, das nicht die sich konkret abzeichnende (aristotelische) Einheit des Werkes ist, sondern durch diese hindurch jene andere Einheit, die das Prinzip des Vielen in Einem von einer obersten Relevanzstelle her ‚auflädt‘. Neben den Gedichten Wordsworths und Miltons großem Epos sind es die Dramen Shakespeares und unter ihnen immer wieder Romeo and Juliet, Hamlet und The Tempest, die Coleridge im Lichte dieser neuplatonischen Ästhetik _____________ 28

Coleridge, Table Talk, pt. 1, 490. – Die zitierten Passagen aus Miltons Paradise Lost finden sich in Buch 6, 768 („He onward came, far off his coming shone,“ mit Bezug auf den nahenden Streitwagen des Messias im Himmelskrieg) und Buch 1, 314–315 (bezogen auf Satan, der seine gestürzten Heerscharen anruft); vgl. Carey/Fowler (1968), 766 u. 481.

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interpretiert. Man kann sich das, anhand verschiedener öffentlicher Vorlesungen der Jahre 1811/12 und 1818, am ersten Akt des 1611 geschriebenen Tempest wie folgt verdeutlichen. Das ideale, romantische Drama ist „a Drama, the interests of which are independent of all historical facts and associations, and arise from their fitness to that faculty of our […] nature, the Imagination I mean, which ow[]ns no […] allegiance to Time and Place/“.29 The Tempest appelliert nun nicht einfach an die Imagination der Zuschauer, dieses Stück inszeniert solche Appelle von der ersten Szene an; es thematisiert die imaginative Verwandlung alles Realen, stellt solche Verwandlungen szenisch zur Schau, integriert die vielfältigen Imaginationsakte in eine Gesamt-Imagination (die spezifisch theatralische Illusion) und stellt diese imaginative Einheit der vielen Imaginationen ihrerseits ein in einen Verweisungshorizont, jenseits dessen das absolute Prinzip von Einheit als Vielheit aufscheint, jedenfalls aufzuscheinen hätte. Der Sturm, mit dem das Drama beginnt, ist nur ein vermeintlicher, wiewohl äußerst realistisch inszenierter, obendrein ein metaphorischer Sturm (vgl. 5.1.153).30 Die durch ihn erzeugte überwältigende Phantasie des Untergangs hebt alle Standesunterschiede auf, integriert Höflinge und Seeleute mit ihrer jeweiligen Sprache in die Einheit eines gemeinsamen Erlebens, das seinerseits als Illusion, als magisch induzierter, kunstvoller Wahn ausgewiesen wird, an dem Miranda, die sehr wohl die Inszenierung durch die Kunst ihres Vaters durchschaut, illusionär teilhat. Diese imaginative Versetzung in andere, fremde, gleichzeitige oder frühere, magische oder reale Situationen – also: deren Imaginierung – setzt sich in mehrfachen Staffelungen und wechselnden Registern durch die lange Szene 1.2 fort. Prosperos Erzählung der Vorgeschichte der Inselsituation ist ein ständig erneuerter Appell an Mirandas Aufmerksamkeit und imaginative Beteiligung, die denn auch aus der Vergangenheit einzelne Bilder „like a dream“ (1.2.45) heraufholt. Was Prospero erzählt, die Usurpation der Herrschaft in Mailand durch seinen Bruder Antonio, es ist die Geschichte einer Verführung durch Imagination, „like one / Who having into truth, by telling of it, / Made such a sinner of his memory, / To credit his own lie,“ (1.2.99–102). Prospero seinerseits hat die reale Macht leichtsinnig eingetauscht gegen ein metaphorischillusionäres Fürstentum: „my library / Was dukedom large enough:“ (1.2.109– 110). Das Erzählen seiner Vertreibung aus Mailand intensiviert sich zu einem nachträglichen Erleben, denn – ein von Coleridge mehrfach verwendetes Beispiel – ein einziges Wort kann eine ganze Situation so evozieren, dass sie imaginative Präsenz gewinnt: „The ministers for th’ purpose hurried thence / Me and thy crying self.“ (1.2.131–132). „The power of Poetry is by a single word to produce that energy in the mind as compells the imagination to produce the picture.“31 Das eine treffende Wort „crying“ fokussiert die Imagination so, dass sie die gesamte angesprochene Szene _____________ 29 30 31

Coleridge, Lectures 1808–1819 On Literature, pt. 2, 268. Alle Angaben beziehen sich auf Shakespeare, The Tempest (in der Arden-Ausgabe von 1966). Coleridge, Lectures 1808–1819 On Literature, pt. 1, 362.

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zu entwerfen vermag: „a complete picture is presented to the mind, and in the production of such pictures the power of genius consists.“32 Das so prägnant heraustretende Detail ist nicht um seiner selbst willen da, sondern als Generator eines komplexen imaginativen Zusammenhangs aus lauter Imaginationsszenen. Haben wir in der ersten Szene den Sturm aus der Sicht der Betroffenen illusionär miterlebt, so bietet Ariels Bericht nur kurz darauf eine andere Version (vgl. 1.2.196–214); der zunächst gebildete Eindruck ist zu korrigieren, er wird ersetzt durch eine ‚richtigere‘, jetzt freilich allein anhand einer poetischen Narration auszuformenden Vorstellung. Die Imagination der Zuschauer gerät ins Schweben zwischen zwei Teilvorstellungen, zwischen denen der gemeinte Sachverhalt ortlos wird. Ariel seinerseits, der so suggestiv den inszenierten Schiffsuntergang berichtet, wird selber zum Adressaten einer Erzählung, nämlich Prosperos Erinnerung der Inselsituation vor seiner Ankunft; waren Prosperos hortatorische Appelle an Miranda, ihm Aufmerksamkeit zu schenken, milde gestimmt, so wird Ariel mit handfesten Drohungen dazu bewogen, die imaginative Evokation seiner Vergangenheit mit zu vollziehen. Dass Sprache als Organon der Imagination (also als das Instrument ihrer Entäußerung und ihrer Aktivierung) noch in der Verleugnung eben dieser Funktion wirksam ist, zeigt Caliban, dessen Reduktion der Sprache auf den performativen Akt des Verfluchens („You taught me language; and my profit on’t / Is, I know how to curse“ [1.2.365–366]) vorab dementiert ist durch die plastische Imagination seiner ersten Begegnungen mit Prospero (vgl. 1.2.334–340). So stehen alle Teilszenen dieses ersten Aktes im Bann einer Imagination, die immer Imagination-von-etwas ist und zugleich die Imagination dieser Imaginationen. So gut wie alle Figuren des Tempest treten in knappen Szenen nacheinander auf, werden in aktive und rezeptive Imaginationsarbeit verstrickt und konstituieren die Imagination des Stückes als dessen Modus und Thema zugleich. Wenn Ariel Ferdinand, den Sohn des vermeintlich ertrunkenen Königs von Neapel Alonso, mit Versen tröstet und verlockt, in denen von „a sea-change“ (1.2.403) gesprochen wird, so sind imaginative Transformationen in gegenständlicher („Those are pearls that were his eyes:“ [1.2.401]) wie medialer und intentionaler Hinsicht zur Einheit gebracht. Alles ist Imagination von Imaginationen. Deshalb ist Prosperos Aufforderung an Miranda, „The fringed curtains of thine eye advance,“ (1.2.411), alles andere als manieristisch, sondern zwingend. Die Eröffnung des Blicks auf eine Person auf der Bühne, also unter Bedingungen der Illusion, wird hier wiederholt im Öffnen von Mirandas verhangenem Blick auf Ferdinand. Die auffällige Formulierung intensiviert die Imagination, setzt das Illusions-Paradigma auf der Bühne fort, kopiert das, was die Bewusstseinslage der Zuschauer ausmacht, hinein in den Zustand der Figuren und identifiziert die inszenierte Imagination mit der rezeptiven. Sogleich mutieren die sich wechselseitig gewärtigenden Personen zu „A thing divine“ (1.2.420) _____________ 32

Coleridge, Lectures 1808–1819 On Literature, pt. 2, 523 (Formulierung in einer Vorlesungsnachschrift von John Payne Collier).

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bzw. „goddess“ (1.2.424), womit sie keinen anderen Akt der Imagination vollziehen als den der Zuschauer, die von sich auch sagen könnten, „My spirits, as in a dream, are all bound up.“ (1.2.489). Jede Äußerung bezeichnet ein Erlebnis, eine Empfindung oder Wahrnehmung, die andere – vorangehende und nachfolgende – aufnimmt, variiert, sie miteinander vernetzt: „in every scene you might point out the same judgment still preparing and still recalling like a lively cadenza in music.“33 Alles ist mit allem so verbunden, dass in jedem Detail ein Ganzes als präsent gewärtigt wird, wiewohl es unmöglich ist, dieses Ganze, separiert von den so interagierenden Teilen, zu objektivieren und dann zu definieren. Das Arbeiten der Imagination wird vorgestellt als ein Schweben zwischen den multiplen, sehr kontrastreichen Vorstellungen. The Tempest ist für Coleridge der Inbegriff des idealen Dramas, weil es nicht nur eine Vielheit (eine Vielheit des Imaginierens) integriert in ein Ganzes und dabei die Komponenten ständigen Umwertungen unterzieht, sondern weil es dieses Ganze seinerseits als die Einheit der Imagination (von Imaginationen) darbietet, die selber ‚gehalten‘ sein muss oder einen Bezugspunkt besitzen muss in einer Struktur, die die vollkommene Integration des Mehreren in Eines vorstellt, ohne dann noch Imagination genannt werden zu können. Coleridges metaphysisch fundierte Ästhetik und Poetik lässt sich in einer ergänzenden Überlegung unter dem Leitbegriff der Transparenz oder Verweisung so fassen. In einem Kunstwerk bleibt das konkret Gegebene, bleibt jedes noch so funktionale Detail ganz und gar das, was es ist, freilich nicht als Selbstzweck, sondern als die Ermöglichung von Transparenz. Transparenz kann dabei dreierlei heißen: 1. Das konkret Erfasste wird transparent auf etwas anderes hin – Transparenz ist transitiv. Etwas zeigt sich durch etwas anderes hindurch. Dies ist traditionell in der Form der Allegorie ausgeprägt. 2. Transparenz ereignet sich intransitiv. Das im und als Kunstwerk Geformte wird nicht diaphan auf etwas Bestimmtes hin, sondern das Gesagte, Formulierte, Gesetzte wird überschritten – als reine Überschreitung auf nichts hin („a seachange“). 3. Transparenz muss nicht transitiv hin auf ein Anderes lenken, sie kann sich reflektorisch auf das wahrnehmende Subjekt richten. Wird nämlich in den Kunstwerkzeichen die Präsenz von etwas Nicht-Explizitem gewärtigt, dann sieht sich das Wahrnehmungssubjekt sich selber konfrontiert: „—and thus, as in a mirror, to contemplate its own reflex, its life in the powers, its imagination in the symbolic forms, its moral instincts in the final causes, and its reason in the laws of material nature:“.34 _____________ 33 34

Coleridge, Lectures 1808–1819 On Literature, pt. 2, 450 (Formulierung von J. P. Collier). Coleridge, Lectures 1808–1819 On Literature, pt. 2, 160. – Temporal interpretiert: transitive Transparenz auf etwas Bestimmtes = Modus der Vergangenheit (Vorgängigkeit dessen, was jetzt sich zeigt); intransitive Transparenz = Modus des Futurischen (das leere, unbestimmte Versprechen von etwas); reflektorische Transparenz = Modus der Gegenwart.

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Welche konkreten Verfahren fundieren solches Transparentwerden? Wie ist vom einzelnen Werk her das Sich-Zeigen (sei es von etwas, sei es einer unbestimmten und unbestimmbaren Anzeige) als eine wirklich gegebene Qualität und nicht als leeres, bloß spekulatives Postulat aufzuweisen? Wie kann in der Arbeit am Text sich ein Durchblick öffnen vom je gegebenen, imaginativ transformierten, in einer Imagination der Imaginationen aufgehobenen, zugleich affirmierten wie dementierten, Detail auf jenen Horizont, in dem die Imagination (produktive wie rezeptive) als vollkommene Integration des Vielen in Eines nicht mehr Imagination (weil mehr und anderes als Imagination) ist? Ein Leitbegriff aus der gerade von Coleridge demonstrierten textanalytischen Praxis wäre der der signifikativen Destabilisierung: also das Von-sich-weg-Reden literarischer Texte, die analeptische oder proleptische Verweisung, die Verfahren der Zirkularität und der Wiederholungen mit gleitenden Verschiebungen, das Symptomatischwerden des Details – dezidiert anti-allegorische, offene Verfahren, um im Text eine Ahnung von jenem letzten Bezugspunkt aufkommen zu lassen, der doch (qua echo und repetition) in Produkten der kreativen Imagination als irgendwie anwesend zu denken ist. Kunstwerke inszenieren und agieren einen permanenten Widerspruch von Prägnanz und Verunsicherung, von Präsenz und Entzug, Wörtlichkeit und Wiederholung. Sie sind Orte oder Medien der Transgression, Prozesse des Sich-Einprägens einer Hohlform im Rücken dessen, was wir erfahren, erleben, verstehen. Das Gesagte und das Verstandene ist nicht schon das, was zu denken wäre; aber was anlässlich einer Kunstrezeption denkend zu agieren ist, kann gar nichts anderes sein als eine offene Bewegung, ein ziel- und objektloser Vollzug im Banne einer sich jedem Bestimmungsversuch entziehenden obersten Denknotwendigkeit. Mit welchem Namen diese belegt wird und welche Konsequenzen sich aus dem schließlich applizierten Namen herleiten, ist dann offenkundig – und bei Coleridge ganz gewiss – eine Operation jenseits der Zuständigkeit von Kunst- und Literaturwissenschaften. Sie markiert die Grenze zwischen Poetik, Rhetorik, Ästhetik einerseits und neuplatonischer Theologie andererseits.

IV. Bis zu welchem Grade kann Coleridges Philosophie (einschließlich seiner Ästhetik) in der Tradition eines christlichen Neuplatonismus verstanden werden? Inwieweit ist es also berechtigt, wenn nicht zwingend, seine Ästhetik und Poetik letztlich in theologischen Spekulationen zu fundieren, die das sinnlich Schöne als eine Erscheinungsform einer metaphysischen Struktur begreifbar machen? Dies jedenfalls ist in dem eingangs zitierten Passus aus Biographia Literaria in der Verkettung der Definitionen behauptet. D. Hedley hat in einer wichtigen neueren Studie herausgearbeitet, dass Coleridges Religionsphilosophie ausdrücklich einen Anschluss an die Theologie der Cambridge Platonists herzustellen sucht; ja er

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spricht pointiert von „Coleridge’s Cambridge Platonism“.35 Für Coleridge ist Realität die Explikation aller dem absoluten I AM zuzuschreibenden Attribute. Die Aufgabe einer theologischen Philosophie besteht demzufolge darin, von diesen Explikationen her den Aufstieg zum absoluten Geist zu vollziehen. Aids to Reflection is about the bending back of the soul to God. Yet this bending back or re-flection is only intelligible as the work of the indwelling Logos, the second person of the Trinity. The spiritual nature of man is defined in terms of reflection to God.36

Die Spezifik eines christlichen Platonismus ist an seiner höchsten Systemstelle, also in der Trinitätslehre verbürgt, der immanenten Relationiertheit des höchsten Seins. The Christian affirmation of the absolute as a self-related mind means that for Christian Platonism the true system of the universe is intellectual or intelligible, whereas the strictly Hellenic Neoplatonism rejected the idea of intellection in the supreme source of being as incompatible with its unity.37

In der Tat hat Coleridge in immer neu ansetzenden Versuchen diese intelligible Struktur, also die dynamische Vielheit des Einen, zu explizieren gesucht. Und dies muss auch durchgeführt werden, wenn sich denn dieses Eine, das unhintergehbar ein Vieles ist und nur deshalb ein Eines sein kann, gebrochen in zwei Vermittlungsschritten, im Schönen, letztlich ganz konkret in einem Werk wie The Tempest, wiederholt, sich symptomatisch anzeigt, sich einspiegelt, sich als Denkform erschließt oder in einer sonst qualifizierbaren Weise mit diesem in Beziehung gesetzt werden kann. In welchem Konzept finden Imagination und Schönheit ihre Limesidee? Hier nun ist nochmals bei der Wendung infinite I AM anzusetzen. Dieses ‚Ich bin‘ ist Teil einer tetradischen Struktur, die sich in einfachster Form so symbolisieren lässt: +O I

II III

In einem Tagebucheintrag vom September 1825 erläutert Coleridge: As the Absolute Will, essentially causative of all Reality + O. The Will, causative of its own Reality I = The Father, Contemplative of all Reality in itself and in the contemplated generative II = the adequate Idea, the eternal Alterity, the Son.38

Die Positionen I und II sind durch eine unendlich zirkulierende, beide wechselseitig affirmierende Liebe verbunden – „the circulation and choral eddying of the […] Divine Life, the eternal Act of Communion III = O.“ Position _____________ 35 36 37 38

Hedley (2000), 16. Hedley (2000), 9. Hedley (2000), 11. Coleridge, 1819–1826, pt. 1, no. 5249.

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I (‚Vater‘) lässt sich auch bestimmen als „The eternal Act […] of Ipseity, or the Self-realization of the Absolute Will“ bzw. als „Personëity. […] The Father Almighty. […] Mens absoluta.“ Aus der thetischen Setzung dieser Ipseität (‚Ich bin‘) geht sogleich die antithetische Setzung der Alterität (Position II, ‚Sohn‘) hervor: The causati[]ve Conception and Utterance of THE WORD—or adequate Expression of the paternal Personëity in the Person of God, […] Thus the filial Word is Intelligibile et Mens altera—The Father = Mens et Intelligibile reciprocum. (as the Father knoweth me, even so know I the Father.—),

weiter bestimmbar auch als „Intellectus communicatus, communicativus, et se communicans. Deus Alter et Idem.“ Die instantane Realisierung von Thesis (I) und Antithesis (II) verweist zurück auf den Grund dieses Hervorgangs, die Position der Prothesis (+O), den sich selber begründenden und verursachenden Willen, „Natura Dei. Identitas Absoluta. Prothesis absoluta.“ Diese absolute Prothesis kann als sie selber niemals manifest werden, sondern erst mit dem ‚Ich bin‘ (Position I) und seiner Reflexion in der mens altera wird sie unabweisbar evident, als in sekundärer Position erscheinende primäre Fundierung des sich denkenden Geistes. Da nun Thesis und Anthithesis identisch sind, Ausfaltung der in der Prothesis in vollkommener Einheit umfassten Substanz des Göttlichen, wird ihre Identität in Position III (Synthesis, ‚Geist‘) eigens bekundet. Qua Identität fällt Position III zusammen mit +O, freilich nicht als Grund der ThesisAntithesis-Formation, sondern als deren Konsequenz, die selber schon in der absolut vorgängigen Einheit der Prothesis verbürgt ist. Die Positionen I, II, II lassen sich auch so fassen: 1 The personëity of the Father, the Reason in the Will, and the Will— 2 The personality of the Son, the Will in the form of Reason, […] 3. The individuity of the Spirit, […].39

Immer wieder hat Coleridge diese von der Selbstprädizierung ‚Ich bin‘ ausgehende und diese überhaupt erst verständlich machende dynamische Tetraktys (gelegentlich auch als Pentade mit zusätzlicher Mesothesis) konstruiert, z. B. in diesen beiden Versionen:

_____________ 39

Coleridge, 1819–1826, pt. 1, no. 5297 vom Dezember 1825/Januar 1826.

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Eckhard Lobsien The Absolute Subject The Will Relat. Subject The I Am The Father

Relat. Object. The Word = Reason The Son, the Pleroma Supreme Being. Relatively Subject-Object The Spirit Life Love—

Thesis Love of the Good

Prothesis GOD Mesothesis Love of God. Synthesis Philosophy i.e. Love of Wisdom.40

Antithesis Love of the True

Bei Plotin, so bemerkt Jens Halfwassen, hat der Nous eine trinitarische Struktur von Denken, Gedachtem und Gedanke (nous, noetón, nóesis), wobei der Gedanke die Einheit von Denkendem und Gedachtem, also die Einheit des Unterschiedenen ist. Die grundsätzlich gleiche Struktur haben auch alle anderen Triaden, durch die die Neuplatoniker das Wesen des Geistes als dreifaltige Einheit begriffen: das dritte Moment ist immer die Einheit der beiden vorangehenden Momente, von denen das erste jeweils einfache, unentfaltete Einheit und das zweite deren Selbstentfaltung in die Vielheit ist; das dritte Moment ist somit die Rückkehr der Einheit in sich selbst durch ihre Entfaltung.41

Dies ist jene Struktur, die Coleridge sowohl in seinen Notebooks wie in dem nachgelassenen Opus Maximum in immer neuen Ansätzen unter theologischen Prämissen dargelegt hat. Ein knapper Hinweis auf einen Gedankengang in Fragment 2 des Opus maximum von 1820–23 muss hier genügen. Das Göttliche (Prothesis) setzt sich in einem „eternal act“ als Selbstheit (Vater) und in einem „co-eternal act“42 als Alterität (Sohn, Logos, Idee); damit ist die Identität (Synthesis) aus Ipseität und Alterität durch den spiritus gestiftet. Gott, das unerschaffene höchste Sein, gibt sich rückhaltlos kund, er kommuniziert sich in „the infinite product of an infinite causality“, die sich nun aber nicht haltlos ins unendlich Viele verströmt, sondern die als Resultat wesensgleich ist mit ihrer _____________ 40 41 42

Coleridge, 1827–1834, pt. 1, nos. 5588 (August 1827) u. 5726 (Januar 1828). Halfwassen (2005), 128–129. Coleridge, 1827–1834, 199.

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Verursachung (ohne jede temporale Abstufung). Das, was Gott aus sich heraussetzt (als das andere seiner), ist „God’s co-eternal idea of himself“. Wir haben es also mit einer singulären idem/alter-Doppelung zu tun, die nichts ist als die spezifische Form einer einzigen Substanz. Ipseität und Alterität sind zwei Formen, die die Konfiguration einer „divine reciprocation“ bilden. Der göttliche Willensakt, der sich aus sich selber realisiert, dieses Aus-sich-Heraustreten oder Übertreten der absoluten Einheit des Göttlichen (Prothesis) in zwei Formen, bildet „a form of reality“ eigener Art – „the primary, absolute, co-eternal intercirculation of the Deity.“ In dieser Zirkularität, „an infinite Effect of an Infinite cause“, ist Gott ganz bei sich und doch als Logos so entäußert (in eine Form gebracht), dass es undenkbar wird, er könne in seinen ‚vorangehenden‘ Zustand vollkommen indistinkten Seins zurückkehren oder sich, gegenläufig hierzu, pantheistisch zerstreuen. Gott bringt sich in die distinkte Form von Selbst und Idee (Logos); mit „this first […] substantial intelligible distinction“ sind alle ‚internen‘ Differenz(ierung)en des Göttlichen, alle Gottesattribute oder -namen, umfasst.43 Der Akt dieser Ausformung des Göttlichen in die Zirkularität identisch Desselben (alter et idem) ist das Sein Gottes auf der Stufe des Sich-Mitteilens: „This is truly the breath of life indeed, the perpetual action of the act, the perpetual intellection of the Intellectus and of the Intelligible, and the perpetual being and existing of that which saith ‚I AM‘.“ Gott, der sich als I AM aussagt – „the unwithholding and communicative goodness“ –, zeigt damit diese Seinsform der Entäußerung des Selbst in die Idee, des Seins in den Logos, an. I AM bezeichnet eine Distinktion, die doch vollkommene positive Einheit ist; die Unterschiedenheit von Selbstsein und Idee (Logos) ist geradezu die Bedingung solcher Einheit: For in this idea alone can we render intelligible to our minds that positive unity which is, […] and is affirmed to be, that which it is because it is, and not, as in all subjects that only partake of unity, […] which […] is A because and inasmuch as it is not B, not C, and so on through the whole series of individuals, whose imperfect unity therefore hath no form of its own, hath no being for its form, but borrows its form from its own opposite and from the opposite of being, from negation or limit, and from multeity.44

Das höchste Sein Gottes ist die Negation einer Negation, die vollkommene Tilgung aller Kriterien, die Gegenstände definieren – eben singulär qua „positive unity“. Das gilt nun auch für die Tetraktys. D. h.: Alles uns vertraute Seiende ist durch eine negative (differentielle) Identität definiert; es ist das, was es ist, genau dadurch, dass es nicht etwas anderes ist. Gott aber ist das, was er ist, in der dyadischen (I – II) oder triadischen (I – II – III) Struktur, die niemals so verstanden werden kann, dass der Logos das ist, was das ‚Ich‘ nicht ist, oder die Thesis sich durch ihre Entgegensetzung zur Antithesis als sie selber bestimmt, oder beide _____________ 43 44

Alle vorangehenden Zitate Coleridge, Opus Maximum, 199–207. Die vorangehenden Zitate Coleridge, Opus Maximum, 209–211.

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je distinkt auf eine sie wieder zur Einheit führenden Synthesis verweisen. Das ‚Ich bin‘ ist, was es ist, und weil es in einer Formation gedacht ist, in der es zwar nur eine von vier Positionen besetzt, dabei jedoch nicht durch den wechselseitigen Gegensatz dieser, sondern durch ihre dynamische Identität sich definiert. Das ‚Ich bin‘ ist eben vollkommene Einheit, die sich in einem Pluralen als Bedingung dieser Einheit darstellt. Wie kommt man von diesem ‚Ich bin‘ zu Shakespeares The Tempest? Wie also lassen sich theologisch-metaphysische Wahrheit und ästhetische Erfahrung so verbinden, dass diese nicht ohne jene – bei Strafe ihrer Belanglosigkeit – gedacht werden kann? Die Antwort führt zu einer tiefen Ambivalenz des Ästhetischen. Es ist ja sehr gut möglich und überzeugend, die Erscheinungsformen des il più nell’ uno im Kunstwerk (also als Produkt der sekundären Imagination) als einen Reflex der höchsten Einheit des Vielen45 darzulegen und unter dem Titel Herrlichkeit so zu vermitteln: Als Gestalt hat das Schöne seine materielle Erfassbarkeit, sogar Berechenbarkeit als Verhältnis von Zahlen, als Harmonie und Seinsgesetz. […] Freilich: die Gestalt wäre nicht schön, wäre sie nicht elementar die Anzeige und Erscheinung einer Tiefe und Fülle, die an sich und abstrakt genommen unfassbar, unsichtbar bleibt. […] Erscheinende Gestalt ist nur schön, weil das Wohlgefallen, das sie erregt, im Sichzeigen und Sich-schenken der Tiefenwahrheit und Tiefengutheit der Wirklichkeit selbst gründet, das sich uns als ein unendlich und unausschöpfbar Wertvolles und Faszinierendes offenbart. Die Erscheinung als Offenbarung der Tiefe ist unauflösbar beides zugleich: wirkliche Anwesenheit der Tiefe, des Ganzen, und wirklicher Verweis über sich hinaus auf diese Tiefe. […] Wir ‚erblicken‘ die Gestalt, aber wenn wir sie wirklich erblicken, dann nicht nur die abgelöste Gestalt, sondern die an ihr aufscheinende Tiefe, wir sehen sie als Glanz, als Herrlichkeit des Seins. Wir werden schauend von dieser Tiefe ‚entzückt‘ und in sie ‚entrückt‘, aber (solang es sich um das Schöne handelt), nie so, dass wir die (horizontale) Gestalt hinter uns ließen, um (vertikal) in die nackte Tiefe zu tauchen.46

Dann aber ergibt sich folgendes Dilemma. Entweder die sekundäre Imagination wird profund aus letzten Gründen bestimmt, so dass ihren Produkten eine unersetzbare Relevanz zuwächst: Dann freilich gerät die Ästhetik in den Bann theologischer Setzungen und droht, eine bloße Funktion dieser zu werden. Sie wird heteronom; das Verhältnis von Neuplatonismus und Ästhetik wäre das einer unbehebbaren Subsumption. Oder aber die imaginativ-ästhetische Amalgamierung des Vielen in Eines wird emphatisch nicht-formalistisch gedacht, so wie es Coleridge in der il più nell’ uno-Formel fixiert hat: Dann aber gewinnt der _____________ 45

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Im Notebook vom Spätsommer 1818 notiert Coleridge: „Now here the 01 is the Prothesis, […] The 1 + 1. Thesis. Logos 1 + 1 = I, both in 01 and in the I of I. Antithesis, Spirit—. The I = 3, the 3 = I—The Synthesis, which here and here only is absolute Construction, and Identity of the Prothesis—Hence both the Prothesis and the Synthesis are the Father as well as the God—. God therefore the Unitrine—yet the idea of the Tetractys.—But in all but God as God the Prothesis is the Ground—and therefore the Universe & all its Reflexes are 3 = 1 supra 01 = 4“ (Coleridge, 1808–1819, pt. 1, no. 4436). Balthasar (1988), 111–112.

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Anspruch, hiermit sei etwas Fundamentales angezeigt, den Charakter einer bloßen Prätention. Die Imagination wird zur autonomen Chimäre; das Verhältnis von Neuplatonismus und Ästhetik wäre das einer unvermittelbaren Dualität. In genau diesem Dilemma aber zwischen einer bloßen Nachrangigkeit und einem ebenso hyperbolischen wie unausgewiesenen Anspruch ist die Wahrheit der Imagination verbürgt.47

Primärliteratur Boethius, Anicius Manlius Severinus, Trost der Philosophie, übs. v. Ernst Gegenschatz/Olof Gigon, München 1991. Boethius, Anicius Manlius Severinus, De consolatione philosophiae. Opuscula theologica, ed. Claudio Moreschini, München 2000. Butler, Samuel, Hudibras, ed. by John Wilders, Oxford 1967. Coleridge, Samuel Taylor, The Notebooks of Samuel Taylor Coleridge, 5 vols., ed. by Kathleen Coburn, New York 1957–2002. Coleridge, Samuel Taylor, 1794–1804, in: The Notebooks of Samuel Taylor Coleridge, vol. 1, ed. by Kathleen Coburn, New York 1957. Coleridge, Samuel Taylor, 1808–1819, in: The Notebooks of Samuel Taylor Coleridge, vol. 3, ed. by Kathleen Coburn, Princeton 1973. Coleridge, Samuel Taylor, 1819–1826, in: The Notebooks of Samuel Taylor Coleridge, vol. 4, ed. by Kathleen Coburn/Merton Christensen, Princeton 1990. Coleridge, Samuel Taylor, 1827–1834, in: The Notebooks of Samuel Taylor Coleridge, vol. 5, ed. by Kathleen Coburn/Anthony John Harding, Princeton 2002. Coleridge, Samuel Taylor, The Collected Works of Samuel Taylor Coleridge, 16 vols., ed. by Kathleen Coburn/Bart Winer, Princeton 1969–2002. Coleridge, Samuel Taylor, Lectures 1808–1819 On Literature, ed. by R. A. Foakes, in: The Collected Works of Samuel Taylor Coleridge, vol. 5, ed. by Kathleen Coburn/Bart Winer, Princeton 1987. _____________ 47

Die Erfahrung des Einen im Medium der Kunst – also: neuplatonisch fundierte Ästhetik – kann offenbar immer nur ambivalent ausgearbeitet werden. H. R. Jauß hat dies im Zusammenhang mit Überlegungen zum Begriff des Vollkommenen so formuliert: „Das Vollkommene ist als Faszinosum des Imaginären ambivalent, weil die Fiktionalisierung der Dinge ihre Idealisierung unwillkürlich mit sich führt, so daß der ästhetische Gegenstand in seiner Vollkommenheit sowohl die Macht des Menschen, sich selbst in seinem Werk zu genießen, als auch seine Ohnmacht widerspiegelt, die unvollkommene Welt anders als durch Idealisierung vollkommen machen zu können“ (Jauß [1982], 322).

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Coleridge, Samuel Taylor, Lay Sermons, ed. by R. J. White, in: The Collected Works of Samuel Taylor Coleridge, vol. 6, ed. by Kathleen Coburn/Bart Winer, Princeton 1972. Coleridge, Samuel Taylor, Biographia Literaria or Biographical Sketches of my Literary Life and Opinions, ed. by James Engell/W. Jackson Bate, in: The Collected Works of Samuel Taylor Coleridge, vol. 7, ed. by Kathleen Coburn/Bart Winer, Princeton 1983. Coleridge, Samuel Taylor, Shorter Works and Fragments, ed. by Heather J. Jackson/Kathleen Coburn, in: The Collected Works of Samuel Taylor Coleridge, vol. 11, ed. by Kathleen Coburn/Bart Winer, Princeton 1995. Coleridge, Samuel Taylor, Table Talk. Recorded by Henry Nelson Coleridge (and John Taylor Coleridge), ed. by Carl Woodring, in: The Collected Works of Samuel Taylor Coleridge, vol. 14, ed. by Kathleen Coburn/Bart Winer, Princeton 1990. Coleridge, Samuel Taylor, Opus maximum, ed. by Thomas McFarland, in: The Collected Works of Samuel Taylor Coleridge, vol. 15, ed. by Kathleen Coburn/Bart Winer Princeton 2002. Cudworth, Ralph, A Treatise Concerning Eternal and Immutable Morality, with A Treatise of Freewill, ed. by Sarah Hutton, Cambridge 1996. Plotin, Ausgewählte Schriften, hg. v. Christian Tornau, Stuttgart 2001. Pseudo-Dionysius Areopagita, Die Namen Gottes, hg. u. übs. v. Beate Regina Suchla, Stuttgart 1988. de Sales, Saint François, Œuvres, publ. par André Revier, Paris 1969. Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph, Schriften von 1794 bis 1798, Darmstadt 1980. Shakespeare, William, The Tempest, ed. by Frank Kermode, London 1966. Young, Edward, Night Thoughts, ed. by Stephen Cornford, Cambridge 1989.

Sekundärliteratur Balthasar, Hans Urs von, Schau der Gestalt, in: Herrlichkeit. Eine theologische Ästhetik, Bd. 1, 3. Aufl. Einsiedeln/Trier 1961/1988. Carey, John/Fowler, Alastair (eds.), The Poems of John Milton, London 1968. Engell, James, The Creative Imagination. Enlightenment to Romanticism, Cambridge, Mass. 1981. Halfwassen, Jens, Hegel und der spätantike Neuplatonismus. Untersuchungen zur Metaphysik des Einen und des Nous in Hegels spekulativer und geschichtlicher Deutung, Bonn 1999, 2. Aufl. Hamburg 2005. Hedley, Douglas, Coleridge, Philosophy and Religion. Aids to Reflection and the Mirror of the Spirit, Cambridge 2000. Jauß, Hans Robert, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Frankfurt a. M. 1982.

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Kant, Immanuel, Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik, in: Werke in sechs Bänden, Bd. 6, hg. v. Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1970 Lobsien, Eckhard, Kunst der Assoziation. Phänomenologie eines ästhetischen Grundbegriffs vor und nach der Romantik, München 1999. Mason, Michael (ed.), Lyrical Ballads, London 1992. Steurer, Rita Maria, Genesis – Deuteronomium, in: Das Alte Testament. Interlinearübersetzung hebräisch-deutsch und Transkription des hebräischen Grundtextes nach der Biblia Hebraica Stuttgartensia 1986, Bd. 1, Stuttgart 1989. Suchla, Beate Regina (Hg.), Corpus dionysiacum I. Pseudo-Dionysius Areopagita. De divinis nominibus (Patristische Texte und Studien 33), Berlin 1990. Sulzer, Johann Georg, Allgemeine Theorie der schönen Künste. In einzelnen, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter aufeinanderfolgenden Artikeln abgehandelt (1794), Bd. 4, ND Hildesheim 1994. Uehlein, Friedrich A., Die Manifestation des Selbstbewußtseins im konkreten ‚Ich bin‘. Endliches und Unendliches Ich im Denken S. T. Coleridges, Hamburg 1982.

Idealität und Immanenz. Virginia Woolfs To the Lighthouse Claudia Olk

I. Die Aufnahme platonistischer Philosopheme in der englischen Moderne Die modernistische Auseinandersetzung mit den Werken Platons und der Neuplatoniker steht im Zeichen einer eigentümlichen Paradoxie, die das Verhältnis von Immanenz und Idealität durchdringt. Sie beschreibt einerseits die Hinwendung der Literatur zu sich selbst, die von dem Impuls geleitet ist, mit Traditionen zu brechen und sich unmittelbar in sich selbst zu erfüllen, und andererseits die Einsicht in die Unmöglichkeit dies zu tun, die die Notwendigkeit bedingt, über sich hinaus zu greifen. Die dieser Paradoxie von Selbstbezug und Selbstüberbietung zugrundeliegende Spannung zwischen Idealität und Materialität wird in modernistischen Texten, wie ich anhand von Virginia Woolfs To the Lighthouse zeigen möchte, in der narrativen Immanenz des Textes verhandelt und in dessen Strategien der dialektischen Relationierung von Anschauung und Vorstellung, von Identität und Differenz sowie von Mangel und Vervollkommnung reflektiert. Elemente der platonisch-neuplatonischen Philosophie werden in modernistischen Texten nicht nur hinsichtlich ihrer Topik und Metaphorik reflektiert, sondern beschreiben allgemeine Strukturprinzipien, die sich aus der Spannung zwischen binären Oppositionen entwickeln. In James Joyces Ulysses stehen Platon und Aristoteles paradigmatisch für die ‚Skylla und Charybdis‘, zwischen denen sich experimentelles Schreiben bewegt und angesichts derer sich Joyces Künstlerfigur Stephen Dedalus in der Skylla und Charybdis-Episode des Romans selbstironisch fragt, welcher von beiden Denkern ihn wohl aus seinem Commonwealth verbannt hätte: „Upon my word it makes my blood boil to hear anyone compare Aristotle with Plato. Which of the two, Stephen asked, would have banished me from his commonwealth?“ (Ulysses, 9, 80–83). Während Joyces Portrait des Künstlers als Modernist sich zwischen diesen beiden philosophiegeschichtlichen Extremen ansiedelt, reflektiert auch Virginia

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Woolfs Literarästhetik ein immanentes Kunstverständnis, das sich zwischen transzendenter Idealität und textlich-materieller Dinglichkeit bewegt: From this I reach what I might call a philosophy; at any rate it is a constant idea of mine; that behind the cotton wool is hidden a pattern; that we – I mean all human beings – are connected with this; that the whole world is a work of art; that we are parts of the work of art. Hamlet or a Beethoven quartet is the truth about this vast mass that we call the world. But there is no Shakespeare, there is no Beethoven; certainly and emphatically there is no God; we are the words; we are the music; we are the thing itself. And I see this when I have a shock (MB, 72).1

Woolfs auf den ersten Blick dezidiert anti-platonische These markiert eine radikale Absage an die Suche nach außertextlichen Bezügen im Rahmen eines Form-Substanz-Dualismus. Wahrheit und Wirklichkeit zeigen sich in ihrer Literarästhetik in der Kunst und existieren nicht in einer unabhängig davon vorhandenen Ideenwelt. Ebenso sind Bedeutungserzeugung und Bedeutungsfindung den Werken Woolfs nicht transzendental vorgegeben, sondern befinden sich in einem kontinuierlichen Prozess des Entstehens, der sich aus der Dynamik sprachlicher Bilder und narrativer Strukturen ergibt. Woolfs Ästhetik verbindet den Gedanken einer holistischen Einheit „the whole“ mit dem der Form „the pattern“, die den Kunstschaffenden zur Teilhabe bewegt. Sie beschreibt damit zwar ein antiplatonisch-immanentes Kunstverständnis, fundiert dieses jedoch implizit durch die neuplatonischen Philosopheme der Form als Einheit und der Möglichkeit künstlerischer Partizipation an den idealen Formen, wie sie Plotin in Enneade I 6, 2 beschreibt. Woolfs Widerstand gegen die ästhetische Ontologie des Platonismus kann zugleich als Absage an die Metaphysik aber auch als eine Einholung der idealen Transzendenz in die ästhetische Immanenz des Textes „the thing itself“ gelten, und ist keineswegs das erklärte Ende der Ideen. Die modernistische Reflexion des Schreibens auf sich selbst bleibt mithin auf die Tradition angewiesen, von der sie sich zu lösen versucht.2 Die für Woolfs Werke charakteristische Konstellation zwischen dem Einzelphänomen und dem _____________ 1

2

Woolfs Werke werden im Folgenden gemäß der international üblichen Abkürzungen im Text zitiert: Moments of Being (MB); To the Lighthouse (TL); Jacob’s Room (JR); The Waves (W); The Voyage Out (TVO); Diary (D); A Writer's Diary (AWD). Die Auseinandersetzung der Moderne mit Platon hat sich in den letzten Jahren zu einem Forschungschwerpunkt in der klassischen Philologie und Literaturwissenschaft entwickelt. Arbogast Schmitt (2003) legt seiner Untersuchung einen weiten Modernebegriff zugrunde und analysiert differenziert das gebrochene Verhältnis der Moderne zu Platon im Horizont der modernistischen Wende zur Erfahrung. Daniela Carpi (2005) schlägt eine weitreichende Tradierungsthese vor, derzufolge die Philosopheme Platons als transhistorischer Teil eines kollektiven Unbewussten in die Literatur des 20. Jahrhunderts eingehen: „A particular thought can take possession of a particular age because it may have been latent in a sort of halfdeveloped instinct of the human mind itself. This is what has happened to Plato in the twentieth century“. Carpi (2005), 7. Eric Rabkin verbindet mit dem Rückgriff auf Platon die nostalgische Hoffnung auf eine Repristinierung soziokultureller Erfahrungsbereiche: „At this moment in our history, when technology chews up Nature and mechanism increasingly constrains our lives, we need Plato more than ever“. Rabkin (2005), 20–21.

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Allgemeinen, dem Endlichen und der potentiell unendlichen Kontinuität des Seins, der Welt der sichtbaren Erscheinungen und der Vorstellung von einer unsichtbaren Welt dahinter kann analog zu platonisch-neuplatonischen Gedankenfiguren gelesen werden. Virginia Woolf war eine passionierte Leserin der platonischen Dialoge wie antiker Texte überhaupt.3 Ihre Briefe und Tagebücher belegen eine so kontinuierliche wie ausgedehnte Lektüre philosophischer, historischer und literarischer Werke der Antike und Spätantike. Eine typische Notiz lautet beispielsweise: „Reading Antigone. How powerful that spell is still – Greek an emotion different from any other. I will read Plotinus, Herodotus, Homer I think“ (D IV, 257). Im Jahr 1925, in dem sie auch die Arbeit an ihrem Roman To the Lighthouse aufnahm, veröffentlicht sie den Essay „On not knowing Greek“.4 Im Gegensatz zu ihren Zeitgenossen wie T. S. Eliot5 oder W. B. Yeats,6 war sie nicht an metaphysischen Implikationen antiker Texte interessiert, sondern betrachtete diese als Philologin und war beeindruckt von der Handlungsstruktur der Dramen und dem Argumentationsaufbau der philosophischen Schriften. Wenngleich Virginia Woolf zu keiner Zeit ausschließlich einer bestimmten philosophischen Richtung anhing, so kann dennoch ihre Beschäftigung mit den Werken Platons als eine entscheidende Konstante in ihrer Auseinandersetzung mit Fragen der Philosophie gelten.7 Den Dialogen Platons selbst stand Woolf mit Faszination, dem mit ihnen verbundenen traditionellen Gelehrtentum jedoch mit Skepsis gegenüber,8 da dieses sie mit der Tatsache konfrontierte, als Frau von der universitären Bildung, wie sie beispielsweise ihren Brüdern in Cambridge zuteil wurde, ausgeschlossen zu sein. Insbesondere Woolfs frühe Romane wie The Voyage Out und Jacob’s Room verwenden zahlreiche Anspielungen und Zitate aus antiken Texten. Diese intertextuellen Verweise werden jedoch nicht im Sinne einer vorbehaltlosen Huldigung der Antike gebraucht, sondern dienen der Ironisierung dieser Haltung als Kennzeichen eines bürgerlich-konventionalisierten Geschmacks. So löst die _____________ 3

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Zu Woolfs Griechischkenntnissen, ihrer Platonlektüre und ihrem Unterricht mit Clara Pater und Janet Case siehe: Bell (1972/1973), 71–72; 337. Meisel (1980), 21. Lyons (1994), 292–293. Woolf unternahm gemeinsam mit ihren Geschwistern zwei Griechenlandreisen in den Jahren 1906 und 1932. In ihrem Essay „On not knowing Greek“, betont Woolf die unausweichliche Alterität antiker Literatur und würdigt deren Reinheit, Originalität und hermetische Geschlossenheit, die den Leser inspirieren, es ihm aber nicht gestatten, die Werke jemals vollständig intellektuell zu erfassen. Woolfs erster Essay mit Bezug zur griechischen Antike „Magic Greek“, gilt als verloren. T. S. Eliot war in Harvard Schüler des platonistisch geprägten Ästhetikers und Danteforschers George Santayana und promovierte mit einer kontrovers rezipierten Arbeit über den Philosophen F. H. Bradley („Experience and the Objects of Knowledge in the Philosophy of F. H. Bradley“), dem Autor von Appearance and Reality (1893). Menand (1986). Vgl. D IV, 256. Holtby (1932), 22. Fowler (1999), 218. Fowler (1999), 227.

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Kenntnis des Griechischen und das Vermögen, die Texte im Original zu lesen bei zahlreichen Romanfiguren neben ohnmächtiger Bewunderung auch einen naiveuphorischen Übereifer aus. Woolfs Roman Jacob’s Room parodiert die Verabsolutierung von Bildungsidealen zum Zwecke sozialer Distinktion, die sich in der Überheblichkeit und Lebensferne des jungen Cambridge-Studenten Jacob manifestieren: „‚Probably‘ said Jacob, ‚we are the only people in the world who know what the Greeks meant‘“ (JR, 102).9 Die Passion für die Antike polarisiert die Figuren bereits in The Voyage Out, ihrem ersten Roman. Während Sprachkenntnisse des Griechischen den Männern vorbehalten bleiben, zeigen Frauen, wie die mondäne Clarissa Dalloway entweder Enthusiasmus – „‚I’d give ten years of my life to know Greek,‘ she said, when he had done. […] For an instant she saw herself in her drawing-room in Browne Street with a Plato open on her knees – Plato in the original Greek“ (TVO, 37) – , oder verleihen, wie Mrs. Flushing, ihrer Aversion Ausdruck: „I’d rather break stones in the road“ (TVO, 183). Die Verweise auf antike Texte in Woolfs späteren Romanen sind weniger explizit. In The Waves oder To the Lighthouse werden klassische Texte und platonisch-neuplatonische Philosopheme weniger thematisch oder intertextuell verwendet, sondern sie werden strukturell auf der Ebene ästhetischer Figurationen virulent. Ein entscheidendes Bindeglied zwischen Woolf und der Antike waren die Schriften Walter Paters.10 Woolf hatte nicht nur bei Paters Schwester Clara Privatunterricht im Griechischen genommen, sondern Paters Schriften, und darunter auch Plato and Platonism, befanden sich in der umfangreichen Bibliothek ihres Vaters.11 Bemerkenswert an Paters Platon-Interpretation ist, dass er die Philosophie Platons nicht in erster Linie konventionell als Abhandlung über unsichtbare Formen und intellektuelle Abstraktion begreift, sondern ihre Affinität zur sinnlichen und sichtbaren Welt betont. Pater vertrat nicht nur den Gedanken einer Palingenese des griechischen Geistes in der modernen Kultur, sondern reklamierte Platon gleichsam als Vorläufer des Ästhetizismus, der, verkürzt gesagt, in seinem programmatischen Diktum „art for art’s sake“ die Selbstvervollkommnung der Kunst als deren eigentliches Ziel begreift. Wenngleich Woolf Pater nicht darin folgen würde, Platon in die ästhetische avant-garde einzugemeinden oder ihn gar als einen potentiell „excellent writer of fiction“ zu würdigen,12 so teilt sie doch sein Interesse an den poetischen und _____________ 9

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„Jacob knew no more Greek than served him to stumble through a play. Of ancient history he knew nothing. However, as he tramped into London it seemed to him that they were making the flagstones ring on the road to the Acropolis, and that if Socrates saw them coming he would bestir himself and say ‚my fine fellows‘“ (JR, 102). Wolfgang Iser betrachtet Pater ebenfalls als entscheidende Einflussgröße in Bezug auf Woolfs Ästhetik. Iser (1987/1960), 60. Meisel (1980), 12; 16–17. Silver (1983). Pater (1925/1969), 132. Anne Varty beschreibt Paters Versuche, Platon als Zeitgenossen des Fin de siècle auszuweisen: „Pater never emphasized the distance which the metaphysical imagination had to travel in order to meet Plato; he always wrote of the philosopher’s proximity

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ästhetischen Implikationen platonischer Gedankenfiguren, die in ihren Werken im Rahmen einer dezidierten Kritik an den Erzählkonventionen des realistischen Romans wirksam werden. Ich möchte mich in meiner folgenden Lektüre von To the Lighthouse insbesondere auf zwei Aspekte beschränken, die für Woolfs Aufnahme und Transformation platonisch-neuplatonischer Figuren zentral sind: die Dynamik des Bildes zwischen unmittelbarer Anschauung und Vorstellung und der Gedanke der künstlerischen Schöpfung, der als Figur der Vervollkommnung in den Reflexionsstrukturen des Textes entwickelt wird und eine wirkungsästhetische Struktur erhält.

II. Die Dynamik des Bildes in To the Lighthouse Virginia Woolfs fünfter Roman To the Lighthouse wurde 1927 veröffentlicht und ist vermutlich ihr bekanntestes Werk. Der Roman spielt im schottischen Sommerhaus der Ramsays, einer viktorianischen Großfamilie, und erzählt von ihnen und ihren Hausgästen in einem Zeitraum vor und nach dem ersten Weltkrieg. Der Roman fällt in die drei Teile, die mit „The Window“, „Time Passes“ und „The Lighthouse“ überschrieben sind und von denen jeder sich in weitere Sektionen gliedert. Die Handlung beginnt an einem Septemberabend, an dem Mrs. Ramsay, Mutter von acht Kindern, ihrem sechsjährigen Sohn James in Aussicht stellt, dass er am nächsten Tag in Begleitung seines Vaters zum Leuchtturm segeln dürfe, sofern das Wetter dies erlaube. Die freudige Erwartung des Kindes wird allerdings durch die sogleich erfolgende, maliziös-pessimistische Ankündigung des Vaters, dass das Wetter keineswegs schön genug sein werde, getrübt. Der Roman beginnt mit dem Versprechen an ein Kind, das bereits seine grundlegende Spannung zwischen Verheißung und Erfüllung, Möglichkeit und Unmöglichkeit erzeugt. Der Text etabliert damit von Anbeginn eine Polarität zwischen Subjekt und Objekt, die sich in Abhängigkeit von opponierenden Positionen als Wechselbewegung von Annäherung und Distanz entfaltet. James’ Verhältnis zum Leuchtturm entspricht in der Parallelhandlung des Romans das Verhältnis der Künstlerin Lily Briscoe zu ihrem Gegenstand. Dem zunächst unerfüllt bleibenden Wunsch des Kindes korrespondiert im ersten Teil von To the Lighthouse der misslungene Versuch der Künstlerin, Mrs. Ramsay zu portraitieren. Die Romanhandlung verläuft insgesamt nicht nur entlang der durch die antizipierte Reise zum Leuchtturm angelegten Linearität, sondern beschreibt zugleich eine zyklische Bewegung von Verfall und Wiederherstellung, die in die Idee der Neuschöpfung und Vervollkommnung mündet. So schildert der zweite _____________ and in 1893 even claimed him as a contemporary, aligning him with the aesthetic movement by putting unattributed statements by its proponents into his mouth“. Varty (1994), 259.

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Teil des Romans „Time Passes“ den Verfall und die Wiederherstellung des Sommerhauses. Der Text wird größtenteils aus der Perspektive der Haushälterin, einer chorischen Figur, erzählt und der Leser erfährt auf diese Weise, dass inzwischen zehn Jahre vergangen sind, und dass sowohl Mrs. Ramsay als auch ihre Tochter verstorben sind und einer ihrer Söhne im Krieg gefallen ist. Endet der erste Teil des Romans mit dem Zubettgehen der Familie und beginnt der letzte mit dem morgendlichen Erwachen Lily Briscoes, so lässt sich die Zeitlichkeit dieses mittleren Teils des Romans auf die Dauer einer Nacht kontrahieren. Erzählzeit und erzählte Zeit, Vorder- und Hintergrund sowie die Bedeutsamkeit und Gewichtung von Ereignissen unterliegen in diesem Mittelteil einer Inversion. Der letzte Teil des Romans erzählt schließlich die Fahrt zum Leuchtturm, die Mr. Ramsay mit seinen nun beinahe erwachsenen Kindern Cam und James unternimmt. Die Erzählung führt die Parallele zwischen der Dynamik der Reise zum Leuchtturm und der Dynamik des künstlerischen Prozesses fort, in dem Lily die Arbeit an ihrem Bild schließlich beendet. Die der dreiteiligen Struktur des Romans unterliegende narrative Strategie ist somit die einer Parenthese. Der Leuchtturm wird erreicht, das Gemälde fertig gestellt und der Roman wird beendet. Das Bild des Leuchtturms in To the Lighthouse wird innerhalb eines komplexen symbolischen Gefüges wirksam, das sich in der Hauptsache auf das Konzept von in sich ruhender Schönheit sowie auf das lichtspendende Objekt bezieht, das andere Objekte in den Blick des Betrachters bringt. Das Bild des Leuchtturms ist in vieler Hinsicht paradox. Es bezeichnet nicht nur Stabilität, sondern ist in sich selbst äußerst dynamisch und gründet sich auf wechselseitige Projektionen. Der Leuchtturm ist nicht nur ein zentrales Objekt des Begehrens, das vielfältige Projektionen auf sich zieht, sondern ebenfalls ein Objekt, das als ein umlaufender Lichtkreis Licht auf die Oberfläche anderer Objekte projiziert und damit eine für den Roman konstitutive Polarität der Perspektiven erzeugt. Als solches wird der Leuchtturm zu einer Metapher seiner eigenen symbolischen Funktion für den Leser. Der Leuchtturm, der die Reise zu sich hin inspiriert, bestimmt das Spannungsgefüge des Textes als dessen zentrale Ikone und bleibt eine Landmarke, die die Navigationsbewegung des Lesers im Text leitet, indem er sowohl den Beginn der Reise markiert, als auch zu einem Punkt ständiger Wiederkehr wird. Der Leuchtturm, der am Anfang und am Ende des Romans steht, begründet die narrative Reise zu sich selbst und gewährt Einsichten in die Mechanismen der Ikonizität, in der Zeichen und Bezeichnetes gleichzeitig anwesend sind und sich gegenseitig definieren, ohne vollständig kongruent zu werden. Lesen wird somit nicht zu einem heraklitischen Fluss, sondern der Leuchtturm bildet ein Element der Beständigkeit in einer bewegten See und lenkt die Strukturbewegung des Textes zwischen sich aufbauenden und verebbenden

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Erwartungen.13 Der Wechsel zwischen Stasis und Dynamik wird durch die im Bild des Leuchtturms angelegte, zirkulär alternierende Bewegung zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, Nähe und Distanz, Licht und Dunkelheit weiter verstärkt. Die dem Bild des Leuchtturms innewohnende Struktur beschreibt eine Denkbewegung, wie sie Werner Beierwaltes anhand der Lichtmetaphysik Plotins ausführt. Plotin begreift „Licht als Wesenselement in sich seienden Seins“,14 das als intelligibles Licht seine Analogie im sinnenfälligen Licht findet. Um dieses intelligible Licht zu erfassen und Erleuchtung zu erfahren, muss das Denken sich graduell von dem Sinnlichen und Sichtbaren lösen und sich auf sich selbst zurückwenden. Diese Figur des „Denken[s], das sich selbst denkt“15, die Plotin mit dem Begriff der epistrophé, der Rückkehr des Geistes zu seinem Grund, bezeichnet, charakterisiert nicht nur die dem Denken inhärente Dynamik der Wiederholung, sondern markiert das Denken als in sich sowohl differenziertes wie mit sich selbst identisches: „Indem (das Denkende) denkt, macht es sich zu Zweien, oder vielmehr: weil es denkt, ist es Zwei, und weil es sich selbst denkt ist es Eines“.16 Beierwaltes verwendet zur Illustration dieser Struktur das Bild des in sich ruhenden Kreises, der zugleich steht und sich bewegt. Diese Figur des Denkens, das sich selbst zu seinem Gegenstand macht, wird in To the Lighthouse im Bild des Leuchtturms präsentiert. Die immanente Selbstkonstitution des Bildes zwischen Identität und Differenz, die sich in den Strukturen des Textes entfaltet wird im Horizont eines zentralen neuplatonischen Philosophems zum Vollzug gebracht. Das Bild des Leuchtturms ist nicht nur in sich selbst differentiell, sondern gewinnt eine weitere Dynamik durch seine Relation mit der Hauptfigur des Romans, Mrs. Ramsay. Wie der Leuchtturm zieht Mrs. Ramsay Projektionen, Blicke und Sympathien der anderen Figuren auf sich, die durch ihren Anblick der eigenen Mängel gewahr werden und sich nach Mrs. Ramsays Anerkennung sehnen. Während Figuren wie der kunstbeflissene Naturwissenschaftler Bankes ihr Äußeres idealisieren: „He saw her at the end of the line very clearly Greek, straight, blue eyed“ (TL, 29), ist Mrs. Ramsays Selbstreflexion auf ihr Gegenüber, den Leuchtturm, bezogen: _____________ 13

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Auerbach beschreibt diesen Schwebezustand sich permanent modifizierender Erwartungen anhand von Woolfs Erzählhaltung. In dieser korrespondiert der Verzicht auf einen allwissenden Erzähler der Abwesenheit einer objektiven Realität, zu die der Autor einen exklusiven Zugang hätte, und vermittelt dem Leser auf diese Weise gleichzeitig Nähe und Distanz zu den Figuren. Dem Leser werden unterschiedliche Perspektiven und Standpunkte über die Ereignisse und Figuren vermittelt und er wird befähigt, Zusammenhänge zwischen alternativen Perspektiven herzustellen. Der Roman bedient sich extensiv der Rückblendetechnik wie der wechselseitigen Fokalisierung, die den Effekt einer hochgradig unbeständigen und dynamischen Erzählung erzeugt. Auerbach (1953), 535. Beierwaltes (1977), 76. Beierwaltes (1977), 81. Beierwaltes (1977), 84–85 zitiert Enneade V 6, 1, 22–23.

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Claudia Olk She looked over her knitting and met the third stroke and it seemed to her like her own eyes meeting her own eyes, searching as she alone could search into her mind and her heart, purifying out of existence that lie, any lie. She praised herself in praising the light, without vanity, for she was stern, she was searching, she was beautiful like that light (TL, 63).

Das Zusammentreffen ihres Blickes mit den Lichtstrahlen des Leuchtturms gewährt ihr einen Moment kathartischer Erleuchtung, in dem sie sich zugleich zum Subjekt und Objekt geworden ist. Analog zum Bild des Leuchtturms ist auch Mrs. Ramsay in sich differenziert und vereint die ihr wesenhaften Unterschiede. Wirft der Leuchtturm alternierend Licht und Schatten auf seine Umwelt, so erstrahlt Mrs. Ramsays sichtbare Schönheit nach außen als Fackel („torch of her beauty“ [TL, 41]), die die Dunkelheit der anderen Figuren erleuchtet. In ihrer Innensicht dagegen beschreibt sie ihren inneren, für andere unsichtbaren Wesenskern als „wedge-shaped core of darkness“ (TL, 62).17 Mrs. Ramsays Innerstes präsentiert sich jedoch nicht lediglich als ‚Herz der Finsternis‘, sondern kann im Sinne Plotins, als unsichtbare Schönheit, die an der Form partizipiert, gelesen werden.18 Die Figuration des neuplatonischen Denkens der Einheit als Selbstunterscheidung und Selbstverdopplung wird in To the Lighthouse in der Kreisfigur des Lichts als wiederholend-alternierende Textbewegung sowie in der Gegenüberstellung von Mrs. Ramsay und dem Leuchtturm immanentisiert. Die differentielle Bildlichkeit des Romans sowie die Relation von Subjekt und Objekt erfahren eine weitere Reflexion und Differenzierung auf der Ebene künstlerischer Darstellung, indem Mrs. Ramsay selbst zum Objekt der künstlerischen Betrachtung wird. Die Wahrnehmung der Künstlerin Lily Briscoe, die anfangs verzweifelt versucht, Mrs. Ramsay zu portraitieren, ist durch die Gleichzeitigkeit des Unterschiedenen geprägt: Such was the complexity of things. For what happened to her, especially staying with the Ramsays, was to be made to feel violently two opposite things at the same time; that’s what you feel, was one; that’s what I feel, was the other, and then they fought together in her mind, as now (TL, 102).

Der Widerstreit der empfundenen Gegensätze bildet eine Voraussetzung ihres Kunstschaffens, in dem sie eine nicht-diskursive Form der Anschauung sucht, um die Vielheit der Eindrücke in die Einheit des künstlerischen Ausdrucks zu integrieren. Die Einheit des in sich Differenten und die Notwendigkeit der Zusammenschau im Kunstwerk bilden das künstlerische telos der Malerin19 und begründen eine eigene Logik des Bildes, die Licht und Schatten in gleicher Weise _____________ 17

18 19

Der chiaroscuro-Gegensatz von Licht und Schatten wird ebenfalls in der Konstellation von Mr. und Mrs. Ramsay exponiert, wenn Mrs. Ramsay den intellektuellen Pessimismus ihres Mannes als einschüchternd empfindet: „she could feel his mind like a raised hand shadowing her mind“ (TL, 123). Plotin, Enneade I 6, 2, 239, in Ausgewählte Schriften. Lily zieht unterschiedliche Alternativen in Erwägung, verwirft sie jedoch, da sie die Einheit des Gesamteindrucks gefährden: „the danger was that by doing that the unity of the whole might be broken“ (TL, 53).

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integriert: „A light here required a shadow there“ (TL, 53). Dieses Streben nach formaler Einheit innerhalb ihres Gegenstandes sowie nach emotionaler Einheit in ihrer Beziehung zu ihrem Gegenstand inspiriert die Künstlerin: ‚Could loving, as people called it, make her and Mrs. Ramsay one?‘ for it was not knowledge but unity that she desired, not inscriptions on tablets, nothing that could be written in any language known to men, but intimacy itself, which is knowledge (TL, 51).

„Loving“ beschreibt an dieser Stelle kein sinnliches Begehren, sondern eine Form platonisch-neuplatonischer Liebe, die einem abstrakten und unsichtbaren Gegenstand verschrieben ist, der sich nie vollständig erfassen lässt: „love that never attempted to clutch its object; but, like the love which mathematicians bear their symbols, or poets their phrases, was meant to spread over the world and become part of the human gain“ (TL, 47).20 Der Blick der Künstlerin richtet sich auf die Form, die keine Ähnlichkeit mit den Sinneseindrücken aufweist. Lily betrachtet ihr Objekt, Mrs. Ramsay daher als „august shape“, oder „shape of a dome“, die sich in Gestalt eines violetten Dreiecks in ihrem Gemälde materialisiert (TL, 52). Indem Lily Briscoe zur Darstellung Mrs. Ramsays die Form des violetten Dreiecks wählt, partizipiert die Künstlerin an Mrs. Ramsays Selbstbild eines „wedge-shaped core of darkness“, einer Form, die sich auf sich selbst bezieht und die den anderen Figuren verborgen bleibt. Wie die Figur Mrs. Ramsay so bildet schließlich auch Lilys Gemälde ein korrespondierendes Gegenüber zum Bild des Leuchtturms, das die Romanstruktur illustriert. Das Gemälde wird im letzten Teil des Romans nicht nur in dem Moment vollendet, in dem der Leuchtturm erreicht und der Roman beendet werden, sondern die dreigeteilte Struktur von To the Lighthouse wird formal in den zwei Teilen des Gemäldes der Künstlerin und dessen zentraler Linie reflektiert. Von Beginn an war die Künstlerin von der Frage umgetrieben, wie sie die rechte und die linke Bildhälfte ihres Gemäldes verbinden könne („how to connect this mass on the right hand with that on the left“ [TL, 53]) und entscheidet sich schließlich, das Bild zu vollenden, indem sie eine vertikale Linie in der Bildmitte zieht (TL, 209).21 Die Vertikalität des Leuchtturms erzeugt _____________ 20 21

Plotin beschreibt diese Liebe zum Unsichtbaren in I 6, 4, Plotin, Ausgewählte Schriften, 245. Lilys Linie kann in Verbindung mit Roger Frys kunsttheoretischen Reflexionen über die zentrale Linie in der Malerei gelesen werden. Nach Fry ist die zentrale Linie notwendig, um künstlerische Einheit und Ordnung in einem Gemälde zu schaffen. Fry betrachtet die Einheit des Ausdrucks als das grundlegende ästhetische Prinzip eines selbstbezüglichen Kunstwerks: „In a picture this unity is due to a balancing of the attractions of the eye about the central line of the picture. The result of this balance of attractions is that the eye rests willingly within the bounds of the picture“ Fry (1927), 22. Fry definiert Linien im Rahmen seiner formalistischen Ästhetik generell als symbolische Formen: „Certain relations of directions of line become for him full of meaning; he apprehends them no longer casually or merely curiously, but passionately, and these lines begin to be so stressed and stand out so clearly from the rest that he sees them far more distinctly than he did at first“. Fry (1927), 36. Lilys zentrale Linie betont die ästhetische

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analog gleichsam die zentrale Linie des Romans in der sich seine erzählte Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verschränken. Der Leuchtturm motiviert sowohl die horizontale Bewegung zu sich hin als auch die vertikale Bewegung zurück in der Zeit. Das Bild des Leuchtturms errichtet somit durch seinen kontinuierlichen Entzug räumliche und zeitliche Distanz, die ihrerseits wiederum die Bewegung der Annäherung motiviert. Der Effekt der Gleichzeitigkeit und der wechselseitigen Durchdringung der Perspektiven wird dadurch erzeugt, dass Lily Briscoe ihren zweiten Versuch, ihr Bild zu malen genau dann unternimmt, wenn Mr. Ramsay und die Kinder zum Leuchtturm aufbrechen und die Ankunft der Reisenden am Leuchtturm mit dem letzten Pinselstrich der Künstlerin zusammenfällt. Ihr distanzierter Blick auf den Leuchtturm als abstraktem Gegenstand in der Ferne wird der unmittelbaren Anschauung und Detailperspektive der Reisenden im Moment ihrer Ankunft gegenübergestellt und beschreibt eine narrative Strategie der Selbstverdopplung des Bildes. Dieser liegt eine immanente Verweisstruktur in der Dynamik des Bildes zugrunde, das sich selbst entzweit und aus wechselnder Distanz betrachtet wird. In gleicher Weise wie die Reise zum Leuchtturm nicht nur linear verläuft, wendet sich auch das Bild des Leuchtturms reflexiv auf sich selbst zurück und setzt die Dichotomie von Original und Replik außer Kraft. Der Leuchtturm schafft keine Bezüglichkeit außerhalb seiner selbst und wird in diesem Sinne selbst-referentiell. Die Relationierung von Anschauung und Vorstellung im Bild des Leuchtturms löst sich damit von der metaphysischen Überdeterminiertheit des Signifikats im Platonismus und bringt Zeichen und Bezeichnetes in ein moduliertes Wechselverhältnis. Die Immanentisierung des Gegensatzes zwischen konkreter Betrachtung und abstrakter Vorstellung wird durch die konstitutive Dopplung der Perspektiven auf den Gegenstand erzielt. Diese ist durch eine dialektische Notwendigkeit bedingt, in der jede Figur des Romans den Übergang zur Gegenseite vollziehen muss. In gleicher Weise wie James am Ende des Romans zur unmittelbaren Anschauung des Leuchtturms gelangt, gelangt die Künstlerin zur Vollendung ihres Bildes, indem sie eine Vorstellung ihres nicht mehr unmittelbar präsenten Modells erzeugt. Der Verlauf der Reise, der die Nahansicht des Leuchtturms zum Ziel hat, wird durch den Rückzug von der Unmittelbarkeit des Objekts kontrastiert, den Lily Briscoe im künstlerischen Prozess vollzieht. Die Dynamik des Bildes in To the Lighthouse ist ein Resultat der Schöpfung von Wahrnehmung in der Zeit. Die auf Nähe und Präsenz zielende, antizipatorische Bewegung der Reise, wird durch eine Gegenbewegung zur Abwesenheit und zum Vergangenen ausgeglichen. Der ‚verdoppelte Blick‘22 auf _____________

22

Bedeutung formaler Relationen für die Einheit des Ausdrucks und verleiht den beiden Teilen des Bildes analog zu den beiden Teilen des Romans, in denen sie ihr Bild malt, symbolische Bedeutung. Norman Friedman (1955) hat in Bezug auf To The Lighthouse den Begriff ‚double vision’ geprägt.

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den Leuchtturm wird mit der Wiederholung im Blick der Künstlerin parallel gesetzt. Der Präsenz des Leuchtturms im Moment der Ankunft der Reisenden entspricht die Abwesenheit von Mrs. Ramsay als Lilys Modell. Die Unmöglichkeit einer mimetischen Repräsentation Mrs. Ramsays im Kunstwerk verbindet sich mit Lilys Einsicht in die neuplatonische Analogie der sinnenfälligen Welt zur intelligiblen: „One wanted, she thought, dipping her brush deliberately, to be on a level with ordinary experience, to feel simply that’s a chair, that’s a table, and yet at the same time, It’s a miracle, it’s an ecstasy“ (TL, 202). Wenngleich die dreigeteilte Struktur des Romans sich des Topos von der Zeit als Reise bedient, so verläuft diese nicht linear, sondern stützt sich auf Prozesse der Inversion zwischen Annäherung und Distanzierung und einer Verschiebung von Vorder- und Hintergrund, Präsenz und Absenz.23 Die Reise zum Leuchtturm wird von der Dynamik des Versprechens geleitet, die den Prozess zwischen Annäherung und Ankunft bestimmt. Obwohl das Versprechen am Ende eingehalten wird, markiert die widerwillige Reaktion der Kinder, die mit der Reise ihrem Vater nun lediglich einen Gefallen tun, ein antiklimaktisches Element. Der Wunsch der nun erwachsenen Kinder wird ihnen schließlich gewährt, aber dies geschieht zu einem Zeitpunkt an dem er längst seine Kraft eingebüßt hat. Das ursprüngliche Versprechen und die Kindheitsillusion haben ihre frühere Bedeutung im Moment ihrer Erfüllung verloren. Der Struktur der Reise als Queste aus Versprechen, Aufschub und Erfüllung korrespondiert der zweifache Blick auf den Leuchtturm. Im Moment der Annäherung an den Leuchtturm vergleicht James Ramsay dessen gegenwärtige Gestalt mit seiner früheren Vorstellung und erkennt die Wirklichkeit und Wahrheit seiner Kindheitsvision des Leuchtturms an. The Lighthouse was then a silvery, misty-looking tower with a yellow eye, that opened suddenly, and softly in the evening. Now – James looked at the Lighthouse. He could see the white-washed rocks; the tower, stark and straight; he could see that it was barred with black and white; he could see windows in it; he could even see washing spread on the rocks to dry. So that was the Lighthouse, was it? No, the other was also the Lighthouse. For nothing was simply one thing. The other Lighthouse was true too (TL, 186).

James vergleicht beide Ansichten des Leuchtturms und erkennt die eigentümliche Wahrheit, die beide für ihn besitzen. Der Verdopplung der beiden Ansichten des Leuchtturms im Moment der Ankunft der Reisenden entspricht die Selbstteilung im Blick der Künstlerin und ihrer Wahrnehmungsweise, in der sie sich bei der Fertigstellung ihres Bildes zu ihrem Gegenstand in Beziehung setzt: „She felt curiously divided as if one part of her were drawn out there – it was a still day, hazy; the Lighthouse looked this morning at an immense distance; the other fixed itself doggedly, solidly, here on the lawn“ (TL, 156). _____________ 23

Der Aspekt der Zeitlichkeit war für Woolfs Konzeption des Romans zentral. Ihre frühen Skizzen sind durch den Versuch geprägt, eine Verbindung zwischen dem linearen Zeitverlauf und der holistischen Einheit ihres Entwurfs zu schaffen (D III, 36).

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Der Text erzeugt eine Analogie zwischen zwei Seinsweisen des Bildes, einer gegenwärtigen und einer vergangenen, einer unmittelbar-materialhaft-soliden und einer entfernt abstrakten und strebt nicht an, beide zu vereinigen, oder die eine auf Kosten der anderen aufzugeben, sondern sie zueinander in Beziehung zu setzen und gleichzeitig bestehen zu lassen. Vielleicht hatte Platon gerade diese Analogie des Seins im Sinn, wenn er die Ԑȟįȝȡȗտį im Timaios als das schönste aller Bänder (zwischen dem jeweils immer wieder anders Seienden) nennt.24 James Ramsay entdeckt diese konstitutive Dynamik im Bild des Leuchtturms und seine Entdeckung markiert eine Bewegung, die der Roman so einfach wie eindringlich ‚To‘ the Lighthouse nennt. Genau in diesem Sinne kommt James schließlich am Leuchtturm an.

III. Licht, Liebe und Vollkommenheit als Reflexionsstrukturen künstlerischer Schöpfung in To the Lighthouse Die im Bild des Leuchtturms dargestellte Präsenz des Lichts, seiner Fähigkeit, Formen erscheinen zu lassen und das Ungesehene zu enthüllen, ist zentral für Woolfs Aufnahme platonisch-neuplatonischer Figuren. Licht wird, wie der logos, nicht nur zu einer Vermittlungsinstanz, die konventionelle Wahrnehmungsweisen verändert und auf sich selbst zurückverweist, sondern auch zu einer gestalterischen Energie und Formkraft, die aus dialektischen Konstellationen entsteht und der Neuschöpfung verschrieben ist. Das Licht des Leuchtturms erscheint nicht nur im ersten und letzten Teil des Romans, sondern wird im zweiten Teil zu einer Kraft, die zur Wiederherstellung des verfallenden Sommerhauses führt: „gently as if it laid its caress and lingered stealthily and looked and came lovingly again“ (TL, 132–133).25 Licht, Liebe und die Idee der Vollkommenheit werden insbesondere am Ende des ersten Teils des Romans in der kulminierenden Dinnerszene verbunden. Die Dinnerszene kann nicht nur formal in Anlehnung an das Symposion gelesen werden,26 sondern sie reflektiert ebenso wie dieses die Verbindung von Licht, Schöpfung und Liebe als form- und gemeinschaftsstiftende Prinzipien. Anders als die sieben Sprecher des Symposions, die eros lobpreisen und seine vielfältigen Erscheinungsformen diskutieren, zeigen die Gäste im Hause der Ramsays zu Beginn des Dinners zunächst ihren Mangel an Emotionalität und

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Timaios, 31 C. Neben der im Neuplatonismus durch das Licht angezeigten Denkbewegung der epistrophé, wird Licht in To the Lighthouse auch als unkörperliche Formkraft, wie Plotin es in I 6, 3 bestimmt, metaphorisiert. Die augenfällige Verbindung der Dinnerszene mit dem Symposion wurde von Jean Wyatt (1978) erstmalig thematisiert.

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Schönheitsempfinden geschweige denn Liebe.27 Mrs. Ramsay fragt sich beim Anblick ihres Ehemanns wie sie überhaupt jemals etwas für ihn empfinden konnte, und ihr Eindruck des Ungenügens wird durch die Schäbigkeit des Gastraums verstärkt: „The room (she looked round it) it was very shabby. There was no beauty anywhere“ (TL, 83). Ist die Lage zu Beginn des Abendessens durch die Isolation der Gäste, ihre Gespanntheit und ein allgemeines Unbehagen gekennzeichnet, so werden ihre Perspektiven durch die sich verändernden Lichtverhältnisse im Raum gelenkt und in ihrer Konzentration auf die Betrachtung von Einzeldingen allmählich vereint: Now eight candles were stood down the table, and after the first stoop the flames stood upright and drew with them into visibility the long table entire, and in the middle a yellow and purple dish of fruit. What had she done with it, Mrs. Ramsay wondered, for Rose’s arrangement of the grapes and pears, of the horny pink-lined shell, of the bananas, made her think of a trophy fetched from the bottom of the sea, of Neptune’s banquet, of the bunch that hangs with vine leaves over the shoulder of Bacchus (in some picture), among the leopard skins and the torches lolloping red and gold. Thus brought up suddenly into the light it seemed possessed of great size and depth, was like a world in which one could take one’s staff and climb hills, she thought, and go down into valleys, and to her pleasure (for it brought them into sympathy momentarily) she saw that Augustus too feasted his eyes on the same plate of fruit, plunged in, broke off a bloom there, a tassel here, and returned, after feasting, to his hive. That was his way of looking, different from hers. But looking together united them (TL, 96).

Der Aspekt der Einheit des Differenten wird in dieser Szene nicht nur durch die acht Kerzen, die symbolisch für die acht Kinder der Ramsays stehen, erzeugt, sondern der Blick Mrs. Ramsays verweilt bei der Erscheinung der Phänomene und die Betrachtung der Obstschale im Kerzenlicht verändert ihr Gefühl für Zeit und Raum. Die Obstschale bleibt nicht nur Bestandteil einer Sinneswahrnehmung, sondern verwandelt sich in ihrer Imagination zu einer cornucopia, einem Überrest eines extravaganten mythischen Banketts, in dem die Formen der einzelnen Früchte zu einer mikrokosmischen Landschaft werden, die Mrs. Ramsay mit ihrem Blick durchwandert. Das sich ausbreitende Licht macht nicht nur die Objekte auf dem Tisch sichtbar, sondern grenzt die Szene im Raum gegen die Dunkelheit außerhalb des Raums ab und bewirkt unter den Gästen ein wachsendes Gefühl des Zusammenhalts. Der Anziehungskraft des Leuchtturms auf See entspricht die Anziehungskraft des erleuchteten Landhauses, das die noch fehlenden Gäste in seinen Bann zieht: _____________ 27

Paradoxerweise vereint die Wahrnehmung des Mangels und der Trennung die Hausgäste: „But already bored, Lily felt that something was lacking; Mr. Bankes felt that something was lacking. Pulling her shawl round her Mrs. Ramsay felt that something was lacking. All of them bending themselves to listen thought, ‚Pray heaven that the inside of my mind may not be exposed,‘ for each thought, ‚The others are feeling this […] Whereas, I feel nothing at all‘“ (TL, 94).

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Claudia Olk And so turning into the land that led to the house he could see light moving about in the upper windows. […] The house was all lit up, and the lights after the darkness made his eyes feel full, and he said to himself, childishly, as he walked up the drive, Lights, lights, lights, and repeated in a dazed way (TL, 78).

Die vereinende und verändernde Wirkung von Licht und Liebe verstärken sich wechselseitig. So bedient sich der Betrachter des Hauses der Lichtmetaphorik, um seinem Glücksgefühl Ausdruck zu verleihen, und die der Liebe inhärente Sehnsucht nach Einheit wird unter den Hausgästen durch die einende Kraft des Lichts wachgerufen. Die Komposition der Szene folgt einem dreigeteilten klimaktischen Aufbau, der durch die verschiedenen Stadien der Veränderung in der Figurenwahrnehmung, der parallelen Wirkung des Lichts und den aufeinander folgenden Gängen des Festessens erzeugt wird. Mit der zunehmenden Helligkeit sehen sich auch die einzelnen Gäste buchstäblich in einem anderen Licht. Mrs. Ramsay nimmt ihren Mann nun ungetrübt von Gewohnheit und den Folgen der Zeit wahr: „he seemed a young man; a man very attractive to women“ (TL, 99). Das Licht setzt in dem Moment, in dem der Hauptgang serviert wird, weitere Energien frei. Die wechselseitige Bezogenheit von Licht, Liebe und dem Gericht führt zur Überwindung der Vereinzelung der Anwesenden und initiiert in ihnen einen Sinn für die Teilhabe an der Tischgemeinschaft. Die Einzelwahrnehmungen der Gäste werden darin allmählich in die Einheit einer Vorstellung des Gegenstandes hinein genommen. Die narrative und symbolische Dichte der Szene beschreibt das gemeinsame Abendessen als eine ästhetische Erfahrung temporär angereicherter Präsenz und verleiht ihr sowohl spirituelle als auch sinnliche Perfektion. Im Hauptgang, dem „Bœuf en Daube“,28 materialisiert sich diese Perfektion in ironisch-übersteigerter Weise und stiftet gleichfalls eine Verbindung zwischen dem Sinnlichen und dem Geistigen: „It was rich; it was tender. It was perfectly cooked. […] She was a wonderful woman. All his love, all his reverence, had returned; and she knew it“ (TL, 100). Die Passage vollzieht den platonischen Gedanken der Perfektion innerhalb eines anti-platonischen, dialektischen Paradigmas. Die Dynamik der Szene entsteht durch die Konvergenz des Sinnlichen und des Vollkommenen.29 Die _____________ 28

29

Der Aspekt der lebensspendenden Schöpfung wird nicht nur in der Betrachtung ihrer Kinder thematisiert, sondern auch das Gericht beschreibt nicht nur kulinarische Kreativität, sondern stiftet als tradiertes französisches Rezept von Mrs. Ramsays Großmutter zugleich Kontinuität zwischen den Generationen: „‚It is a French recipe of my grandmother’s‘, said Mrs. Ramsay“ (TL, 100). Das Gericht geht faktisch auf ein von Roger Fry aus Frankreich mitgebrachtes Rezept zurück. Spalding (1980), 128. Siehe auch: Wolfe (1989), 234–235. Einen vergleichbaren, wenngleich nicht in ironischer Absicht vertretenen Ansatz liefert Walter Pater in Plato and Platonism, wo er für eine Verbindung der sinnlichen Wahrnehmung mit intellektueller Abstraktion plädiert: „The lover, who is become a lover of the invisible, but still a lover, and therefore literally, a seer, of it, carrying an elaborate cultivation of the bodily senses, of eye and ear, their natural force and acquired fineness – gifts akin properly to ijո ԚȢȧijțȜչ, as he says, to the discipline of sensuous love – into the world of intellectual abstraction; seeing and hearing there too, associating for ever all the imagery of things seen with the conditions of what

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Dinnerszene und insbesondere der Hauptgang, „the perfect dish“, „the perfect triumph“ erhebt das Alltägliche in den Bereich des Ideellen und verleiht dem Abstrakten damit gleichzeitig einen materiellen Bezug. Es ist die Idee der Perfektion, die die profane Erfahrung aufwertet und es ist die Erfahrung, die die Idee ins Leben ruft, sie erscheinen lässt und ihr Bedeutung innerhalb des Textes zuweist. In der Dinnerszene wird der neuplatonische Gedanke kulminierender Einheit somit durch die Konvergenz der Idee der Perfektion und ihrer Erfahrung in der metaphorischen Materialität des Gerichts und seiner Stellung in der Immanenz des Textes erreicht. Sinneserkenntnis wird gleichsam als Erkenntnis der Idee des Gegenstandes dargestellt. Die Dinnerszene beschreibt mithin eine Ästhetik, die den Bezug zu den sinnlich erfahrbaren Einzeldingen nicht aufgibt, sich aber auch nicht in diesem erschöpft. Und mehr noch: in seiner Hinwendung zum Gegenstand der Vollkommenheit vollzieht der Text dessen narrative Einholung in eine gleichsam immanente Metaphysik. Der Hypostasierung des Hauptgangs korrespondiert ein noch weiter reichender Lobpreis Mrs. Ramsays. So wird die Künstlerin Lily Briscoe beim Anblick von Mrs. Ramsay von einer euphorischen und nahezu metaphysischen Vision ihrer Gastgeberin ergriffen, die nicht nur magnetische Anziehung, Illumination und bleibende Schönheit verkörpert, sondern die Liebe an sich: „There was something frightening about her. She was irresistible. […] (for her face was all lit up – without looking young, she looked radiant) […]. It came over her too now – the emotion, the vibration, of love“ (TL, 101). Die in der Dinnerszene wachgerufenen Emotionen erzeugen einen gemeinschaftstiftenden Sog, der auch in Woolfs Roman The Waves beschrieben wird, wo es heißt: „We are drawn into this communion by some deep, some common emotion. Shall we call it, conveniently, ‚love‘?“ (W, 126). In ihrer Figur Mrs. Ramsay, die diese animierende, anziehende Art der Liebe verkörpert, zeichnet Virginia Woolf eine Parallele zur Konzeption des eros, wie sie im Symposion erscheint. Wie Sokrates es im Symposion in der enigmatischen Stimme der Prophetin Diotima erklärt, ist eros ein dem Mangel entspringendes Phänomen. Das fehlende țĮȜȩȞ, das im anderen erblickt wird, weckt Begehrlichkeit, macht verliebt und setzt auf es hin in Bewegung.30 Attraktiv ist, was fehlt, nämlich um sich selbst steigern zu können. Das stetige Angezogenwerden durch das Schöne, ohne das man nicht zur Vollkommenheit gelangen kann, ist somit Ausdruck eines elementaren Mangels und seiner Überwindung zugleich. _____________

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primarily exists only for the mind, filling that ‚hollow land’ with delightful colour and form as if now at last the mind were veritably dealing with living people there, living people who play upon us through the affinities the repulsion and attraction, of persons towards one another, all the magnetism, as we call it of actual human friendship or love: – There, is the formula of Plato’s genius, the essential condition of the specially Platonic temper, of Platonism. […] For him all the gifts of sense and intelligence converge in one supreme faculty of theoretic vision, șİȦȡտĮ, the imaginative reason“. Pater (1969/1925), 139–140. Symposion, 203 D, 23.

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Mrs. Ramsay verbindet dreierlei: Licht, Schönheit und die generative Kraft der Liebe. Sie ist nicht lediglich ein Medium im Dienst einer übernatürlichen Größe, sondern kann selbst als schöpferische Kraft gesehen werden, die das noch Ungeschaffene und Verborgene in der Welt ihrer Realität hervorbringt. Mrs. Ramsay entfaltet nicht nur ihren moralischen Charakter und ihre eigene Schönheit und Integrität, sondern bringt ebenso das von anderen Figuren unausgesprochene Gefühl der Gemeinschaft ans Licht. Vergleichbar mit der zentralen Perspektive des Sokrates/der Diotima im Symposion nimmt Mrs. Ramsay die Vermittlungsinstanz für den Leser ein und verbindet die begrenzten Einzelperspektiven der anderen Figuren. Ihre Reflexionen über die Intimität, Vollkommenheit und potentielle Permanenz des Moments werden jedoch durch deren Rückbindung an die konkrete Dinglichkeit der Situation ironisierend kontrastiert. Nothing needed to be said; nothing could be said. There it was, all round them. It partook, she felt, carefully helping Mr. Bankes to a specially tender piece, of eternity; […] Of such moments, she thought, the thing is made that endures. „Yes,“ she assured William Bankes, „there is plenty for everybody“ (TL, 105).

Innerhalb des durch das Symposion bereit gestellten strukturellen und thematischen Referenzrahmens zeigt die Dinnerszene sowohl den umfassenden Reichtum ästhetischer Erfahrung und als auch ihre vergängliche Natur. Der erfüllte Moment gibt jedoch nicht unter dem Druck seiner eigenen Intensität nach, sondern die Szene endet damit, dass sich Mrs. Ramsay aus ihr zurückzieht. Der Aufbau dieser Szene folgt nicht einer teleologischen Hierarchie, an deren Ende die Feier der Unsterblichkeit steht. Die Szene findet vielmehr ihre bedeutungsvolle Basis in sich selbst und steht nicht im Dienst des Gedankens unveränderlicher Ewigkeit. In gleicher Weise wie die Künstlerin Lily von am Ende des Romans von ihrem Bild zurück tritt („I have had my vision“ [TL, 209]), wendet sich auch Mrs. Ramsay von dem, was sie geschaffen hat ab, und ihre abschließende Reflexion bekräftigt erneut die Zeitlichkeit der menschlichen Existenz und beschreibt ästhetische Erfahrung als eine Transformation des flüchtigen Moments in eine Weise der Perfektion, die für die Alltagsrealität nicht zugänglich ist. Mrs. Ramsay versucht keine Annäherung an das Ewige, sondern wendet sich der Gegenwart als Fluchtpunkt des Moments zu, der eine fast unwahrnehmbare Trennlinie zwischen Gegenwart und Vergangenheit bildet: With her foot on the threshold she waited a moment longer in a scene which was vanishing even as she looked, and then, as she moved and took Minta’s arm and left the room, it changed, it shaped itself differently; it had become, she knew, giving one last look at it over her shoulder, already the past (TL, 111).

Die temporäre Auflösung des Moments der Einheit und Vollkommenheit markiert allerdings umso mehr eine Rückkehr zum Wünschen. Die Künstlerin Lily Briscoe bleibt in der Wiederaufnahme ihres Portraits eine platonisch Liebende: „To want and not to have, sent all up her body a hardness, a hollowness, a strain. And then to want and not to have – to want and want - … Oh Mrs. Ramsay!“ (TL, 178). Am Ende des Romans bleibt die in der Vorstellung der Künstlerin präsente Mrs.

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Ramsay die treibende Kraft ihres künstlerischen Prozesses, der im Bewusstsein ihrer Unerreichbarkeit auf Einheit und Erfüllung zielt. Für die platonisch liebende Malerin Lily ist der einzige Weg, punktuell am Schönen und Guten teilzuhaben, die geistige und die künstlerische Schöpfung, die dem abwesenden Ideal eine immanente Präsenz verleiht. Die Künstlerin ist verliebt in die Idee von Mrs. Ramsay, und ihr Wunsch bewirkt schließlich deren Rückkehr im Bild als abstrakte, künstlerisch geschaffene Form einer, wie es im Roman heißt, „perfect goodness“ (TL, 202). Die Mechanismen der Schöpfung, Bewahrung und Erneuerung werden am Ende des Romans nicht aufgehoben, sondern durch seine immanenten Reflexionsstrukturen in den Prozess des Lesens und Wieder-Lesens überführt. Dieser ist durch eine Dynamik des Wünschens begründet, die sich fortwährend zu vervollkommnen sucht, und sich genau darin erfüllt.

Primärliteratur Joyce, James, Ulysses, London 2002. Platon, The Collected Dialogues of Plato. Including the Letters, ed. by Edith Hamilton/Huntington Cairns (Bollingen Series LXXI), Princeton 1973. Plotin, Ausgewählte Schriften, hg. u. übers. v. Christian Tornau, Stuttgart 2001. Plotin, Ennead I, transl. by Arthur H. Armstrong, Cambridge, Mass. 1966/2000. Woolf, Virginia, Jacob’s Room (1922), Oxford 1992. Woolf, Virginia, The Voyage Out (1915), ed. and introd. by Jane Wheare, Harmondsworth 1992. Woolf, Virginia, To the Lighthouse (1927), New York/London 1989. Woolf, Virginia, Collected Essays, vol. I–IV, ed. by Leonard Woolf, London 1966–1967. Woolf, Virginia, Moments of Being. Unpublished Autobiographical Writings, ed. by Jeanne Schulkind, Sussex 1976. Woolf, Virginia, The Diary of Virginia Woolf, vol. I–IV, ed. by Anne Olivier Bell/Andrew McNeillie, New York 1977–1980.

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Re-Ontologisierung der Sprache. Anmerkungen zur Poiëtik der modernen Lyrik Maria Moog-Grünewald

I. Die Moderne ist antiplatonisch. Allgemeiner und umfassender: Sie ist wesensmäßig antimetaphysisch. Ohne polemische Wertung ist zu sagen: In ihrem entschieden antimetaphysischen Impuls erkennt die Moderne – verstanden als longue durée1 – ihre Genese, aus ihm bezieht sie ihre Raison d’être. Selbiges gilt für die Philosophie der Moderne wie für ihre Ästhetik. Deutlicher noch und plakativer: Die philosophisch begründete Ästhetik nimmt für sich in Anspruch, nurmehr Folge und Ausdruck der Moderne überhaupt zu sein. Der griechischrömischen Antike, der Spätantike und dem Mittelalter wird gemeinhin eine Ästhetik abgesprochen – leitet sich letztere doch von aisthesis ab, einem Vermögen, das auf das Sinnlich-Wahrnehmbare ausgerichtet ist2 und hieraus wenn nicht die Wahrheit, so doch Wahrheiten im Sinne von Wirklichkeiten erfährt. Das Intelligibel-Einsehbare ist in den Bereich des ‚Unzuständigen‘ verwiesen, in eine Transzendenz, die nur noch konzeptuell den Kontrapunkt einer alles bestimmenden und beherrschenden Immanenz bildet. Die ihrerseits historisch erwachsene Dichotomie von Immanenz und Transzendenz wird einmal mehr ‚beschnitten‘ – mit dem kalkulierten Resultat monomaner Diesseitigkeit. Ihr erkenntnistheoretisches, ästhetisches und philosophisches Analogon hat sie in den Konzepten der Sinnlichkeit, der Materialität, der Phänomenalität, die a fortiori die Poiëtik der Moderne, insbesondere die Poiëtik der Bildenden Künste und der Dichtung, kennzeichnen: Sie sind deren ausgewiesene Merkmale. Der Materialismus der Kunst wird nicht erst in Installationen und Performanzen manifest, er manifestiert sich bereits in einem neuartigen und ausschließlichen Interesse für das Material selbst, genauer: in der für die Moderne spezifischen _____________ 1

2

Bei allen notwendigen epochalen und zudem national-sprachlichen Differenzierungen gibt es gute Gründe – insbesondere philosophisch-erkenntnistheoretischer Natur –, Frühe Neuzeit und Moderne als eine große Epoche von Antike und Mittelalter zu unterscheiden. So mit allem Nachdruck bspw. der jüngst erschienene, umfangreiche und gut dokumentierte Artikel „Ästhetik/ästhetisch“ von Barck/Heininger/Kliche (2000).

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Insistenz auf der jeweiligen Materialität und deren poiëtischen Möglichkeiten. Sie werden herausgespielt über die „Selbstgesetzmäßigkeit der Form“3 und haben in der Sprache ihr höchstes Potential. Über die Sprache, die im Folgenden mit Blick auf die Lyrik der Moderne interessiert, bemerkt Novalis im Monolog, daß es mit [ihr] wie mit den mathematischen Formeln sei – Sie machen eine Welt für sich aus – Sie spielen nur mit sich selbst, drücken nichts als ihre wunderbare Natur aus, und eben darum sind sie so ausdrucksvoll – eben darum spiegelt sich in ihnen das seltsame Verhältnißspiel der Dinge.4

„Man muß mit Novalis beginnen“ – stellt Hugo Friedrich einleitend zu seiner vor einem halben Jahrhundert erschienenen und bis heute keineswegs obsolet gewordenen Studie Die Struktur der modernen Lyrik5 zurecht fest, und tatsächlich ist es Novalis, dessen Schriften neben Husserls Logischen Untersuchungen den russischen Strukturalisten Roman Jakobson am frühesten und am nachhaltigsten geprägt haben.6 Im ganzen waren es – wie Jakobson hervorhebt – die „großen Dichter und tiefen Sprachtheoretiker“, die auf die Sprache als Material und Medium reflektierten und die eine Dichtung intendierten, die nach den Kategorien Jakobsons par excellence die ‚poetische‘ Funktion erfüllt. Deren Eigentümlichkeit besteht bekanntlich darin, daß das Wort als Wort, und nicht als bloßer Repräsentant des benannten Objekts oder als Gefühlsausbruch empfunden wird. [Darin], daß die Wörter und ihre Zusammensetzung, ihre Bedeutung, ihre äußere und innere Form nicht nur indifferenter Hinweis auf die Wirklichkeit sind, sondern eigenes Gewicht und selbständigen Wert erlangen.7

Das ist – in Variation – die Bestimmung der Sprache, wie sie Novalis gegeben hat und die Jakobson kontextuell präzisiert: „Gewinnt in einem Wortkunstwerk die Poetizität, die poetische Funktion, richtungsweisende Bedeutung, so sprechen wir von Poesie.“ Nicht jeder literarische Text, weniger noch jeder beliebige Text erfüllt die ‚poetische Funktion‘ – er kann referentiell, phatisch, metaliterarisch sein –, wie anderseits der poetische Text in freilich minder hohen Graden, doch unhintergehbar partizipiert an Referentialität und Metasprache. Und doch ist – notwendigerweise tautologisch formuliert – die Poetizität das Kriterium der Poesie par excellence, mithin einer Dichtung, die aufgrund ihrer höchstmöglichen Poetizität, auch Rhetorizität, sich von Prosa grundlegend unterscheidet – um die berühmte Differenzierung von Paul Valéry aufzunehmen: Diese erfüllt ihr telos in der sprachlichen Vermittlung; jene scheint ihr telos in sich selbst zu tragen; sie ist _____________ 3 4

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Novalis, Monolog; zit. n. Jakobson (1974), 177. Novalis, Das philosophisch-theoretische Werk, 438. – Den Hinweis verdanke ich dem Aufsatz von Birus (2003). Friedrich (1956), 19. Allerdings beschreibt Friedrich nicht die ‚Struktur‘ im engeren Sinne und im konkreten Verständnis; vielmehr verweist er auf einige Stilmittel und Techniken und benennt ansonsten Kriterien der modernen Lyrik. Jakobson (1974), 176. Jakobson (1979), 79.

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autotelisch, insofern sie reinste Form ist oder doch intendiert, reinste Form zu sein. Die Poesie verweist auf nichts außer auf sich selbst. Valéry hat den Unterschied zwischen Poesie und Prosa in den Anschauungsbildern der Bewegung des Tanzes und der des Gangs zur Vorstellung gebracht. Die Bewegung des Gangs hat ein Ziel, und sie hat mit Erreichung des Ziels ihren Zweck erfüllt. Die Bewegung des Tanzes hat kein anderes Ziel als die Bewegung selbst, eine Bewegung, die nach immer neuen Formen und Weisen des Ausdrucks sucht.8 Dementsprechend hat die Poesie unendlich viele Formen und Weisen des sprachlichen Ausdrucks, mithin ihrer Poetizität. Worin aber besteht seinerseits das Ziel der Poetizität der Poesie? Gérard Genette erkennt es zurecht in einem modernen, einem ‚sekundären‘ Kratylismus, der intendiert, die Arbitrarität der Sprache zu überwinden zugunsten phonetischer, metrischer, semantischer Motiviertheit, der – mit den Worten Valérys – intendiert, eine Symmetrie herzustellen zwischen Form und Inhalt, zwischen Laut und Sinn: „Ainsi entre la forme et le fond, entre le son et le sens, entre le poème et l’état de poésie, se manifeste une symétrie, une égalité d’importance, de valeur et de pouvoir […].“9 Mit der Bestimmung des Ziels der Poetizität – ‚Symmetrie‘ zwischen Form und Inhalt, Korrespondenz zwischen son und sens, kurz: Bezüglichkeit unter dem Vielen und deren Aufhebung in der Einheit – ist aber nichts über das Ziel des Ziels selbst gesagt, über das Ziel der Schöpfung vollkommener Harmonie, oder auch einfacher: über das Ziel, die Motiviertheit der Sprache zu restituieren, was nichts anderes bedeutet als: eine Motiviertheit der Sprache erst zu statuieren, der Sprache einen Status zu geben, den sie nie hatte und letztlich nie haben wird. Dieses Ziel – das Ziel des Zieles – wird von den Dichtern und a fortiori von den Sprachtheoretikern entweder nicht erkannt oder verschwiegen oder gar ausdrücklich negiert. Denn es steht in Widerspruch zu einer qua definitione antimetaphysischen Moderne und der aus ihr abgeleiteten materialistischen Ästhetik, insofern es in einem geradezu absoluten Verständnis essentialistisch ist. Eingestandener- oder uneingestandenermaßen intendiert nämlich – so unsere These – die durch ein Höchstmaß an Poetizität gekennzeichnete Dichtung, ‚mimetisch‘ zu sein durchaus im platonischen Verständnis nicht einer ‚Mimesis des Scheins‘, vielmehr einer ‚Mimesis des Seins‘10. Und das heißt ja nichts anderes, als dass mit den Mitteln der Sprache die Sprache als das materiell Gegebene transzendiert werden soll – wenn nicht auf das Sein selbst hin, so doch auf den Effekt des Seins im Seienden und aus dem Seienden heraus. Das ist ein Paradox. Es wenn nicht aufzulösen, so doch in einer knappen Skizze in seinen erkenntnistheoretischen Voraussetzungen und ästhetischen Folgen zu erklären

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Valéry, Degas danse dessin, 1169–1173. Valéry, Poésie et pensée abstraite, 1332. Platon, Politeia 598 B. Vgl. dazu Moog-Grünewald (2004), 300 et passim.

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und mit wenigen Hinweisen systematisch zu entfalten, ist Absicht der nachfolgenden Anmerkungen zur Poiëtik der modernen Lyrik.11

II. Eine stehende Rede in der Forschung zur Literatur und zur Dichtung der Moderne ist die Rede von der ‚Krise der Sprache‘. Sie wird – je nach Belieben und Interesse – bald den Dichtern und Theoretikern der deutschen Frühromantik, bald Baudelaire, sodann Mallarmé und selbstverständlich Hofmannsthal, den Italienern Ungaretti und Montale, den Spaniern Juán Ramón Jiménez und Antonio Machado, den Surrealisten und schließlich Paul Celan und Peter Handke zudiktiert – nicht ohne wiederum Aktionen und Reaktionen zu konstatieren, zudem zu unterscheiden zwischen einem noch vorhandenen relativen Sprachvertrauen und einer schon ins Verstummen gesteigerten Sprachskepsis. Bei aller notwendigen Differenzierung im Einzelnen, die es im Auge zu behalten gilt, ist aber das Principium in den Blick zu nehmen. Dieses Principium ist – vereinfacht gesagt – die historische Entscheidung für den Nominalismus gegen den Realismus und damit zugleich auch gegen den Analogismus mittelalterlicher Prägung.12 Sprache und Welt treten auseinander, res und verbum sind nicht (mehr) kompatibel. Man mag hierin die früheste Manifestation einer ‚Sprachkrise‘ sehen, doch man sollte nicht übersehen, dass bereits Platon das Verhältnis von res und verbum nicht anders eingeschätzt hat: Der Kratylismus13 ist zumindest in der Sprache der Verständigung die Ausnahme. Und doch wird er in der Sprache der Poesie die Regel. Mit dem Sieg des Nominalismus im Universalienstreit setzt im Bereich der Künste unmittelbar die Gegenbewegung ein: der Versuch, ästhetisch zu restituieren, was erkenntnistheoretisch verabschiedet worden ist. Der Sprache, genauer: der im engeren Sinne poiëtischen Sprache wird überantwortet, ja zugemutet, Analogien wenn nicht zur äußeren Welt (wieder) zu erschaffen, so doch innersprachlich zu inszenieren: als Werk der Kunst, das in seiner ihm eigenen Ordnung in Konkurrenz tritt zu einer nicht mehr erfahrbaren bzw. erfahrenen natürlichen Ordnung und das zugleich deren _____________ 11 12

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Es handelt sich hier um eine erste Skizze, deren Ausführung in einer Monographie geplant ist. Sowohl Blumenberg (1966) als auch Foucault (1966) berücksichtigen aufgrund ihres primär philosophisch-erkenntnistheoretischen, auch anthropologischen Interesses die Folgen der „humanen Selbstbehauptung“ (Blumenberg) für Ästhetik und Poiëtik nicht. Für den Bereich der Künste, insbesondere für den Bereich der Dichtung im emphatischen Sinne gilt es aber zu sehen, dass der „theoretischen Neugierde“ (Blumenberg) eine ästhetische curiositas respondiert, die eben nicht auf eine Strukturgleichheit beschränkt bleibt, vielmehr als ein Contre-discours in aestheticis zu verstehen ist. Zudem ist der von Foucault proklamierte, für Mittelalter wie Neuzeit in Geltung gebrachte Analogismus bereits zu Beginn der Neuzeit keineswegs mehr ontologisch begründet, vielmehr ästhetisch inszeniert. Siehe dazu Moog-Grünewald (2000). Im Dialog Kratylos ist es nicht der Dialogpartner Kratylos selbst, der die Position des ‚Kratylismus‘ vertritt, vielmehr Sokrates.

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ästhetisches Substitut ist. So ist die Lyrik Petrarcas einem Höchstmaß an Rhetorizität geschuldet, wenngleich sie ein Mindestmaß an Referentialität vorspiegelt, und sie ist hierin ästhetische Kompensation eines ontologischen Verlustes. Thomas von Aquin wagt wohl als letzter, den Verlust ausdrücklich zu benennen und sündentheologisch herzuleiten: „tristitia de bono spirituali inquantum est bonum divinum“, bzw. „desperatio de bono inquantum est spirituale“14. In der Folge verflüchtigt sich die Todsünde der acedia in selbstgefällige Melancholie, die ihren Ausweg in ästhetischer curiositas15 sucht und ihr Manifest in einer Dichtung, einer Kunst findet, durch die Neuzeit und Moderne repräsentiert werden. Wenn der petrarkische Canzoniere als frühes Zeugnis ästhetischer curiositas gelten kann, überbieten sodann die petrarkistischen Sammlungen der italienischen Lyriker des Cinquecento und mehr noch der französischen Dichter des 16. Jahrhunderts die von Petrarca wohl erstmals herausgespielten Möglichkeiten rhetorischer Inszenierung. In Metaphorik, Semantik und Stilistik beschränken sie sich nicht auf die Nachahmung eines großen Modells, sind mithin keineswegs epigonal im Sinne einer ‚Literatur zweiten Ranges‘. Vielmehr ist das ihnen eigene rhetorische Prinzip Wiederholung und Variation, und dies nicht allein im Verhältnis zum Modell Petrarca, vielmehr in dem, was man ‚Selbstverhältnis‘ nennen muss: Die Sonette der rinascimentalen petrarkistischen Sammlungen generieren sich gleichsam selbst im Rückgriff auf ein absichtsvoll reduziertes Arsenal an Metaphorik, Semantik und Stilistik. Dies trifft in besonderem Maße auf Pierre de Ronsards Les Amours zu: Jegliche narrative Folge, die Petrarcas Canzoniere durchaus noch unterlegt ist, ist in der Sammlung Ronsards aufgegeben zugunsten von rekurrenten Einheiten, die zueinander im Verhältnis von Variation und Wiederholung stehen. Jegliche, auch nur als Spur vorhandene syntagmatische Folge ist ersetzt durch das paradigmatische Prinzip der Gleichheit und Bezüglichkeit etwa in der Prosodie, des Metrums, der Phoneme und der – in engerem Sinne – Grammatik. Intendiert ist eine Struktur, die ihre Vollkommenheit in sich selbst trägt und die zugleich in ihrer auf continuatio ausgelegten Bewegung die prinzipielle Uneinholbarkeit des Vollkommenen selbst zu ihrem Movens macht. Der entelechische Charakter der Sammlung, mithin jene Komplementarität von Erfülltheit und Dynamik, wird weiterhin forciert durch die einzelnen aufeinander folgenden Sammlungen selbst: Les Amours finden Fortsetzung in der Continuation des Amours und der Nouvelle Continuation des Amours, zudem in zahlreichen „Pièces ajoutées“. Mit den Strukturalisten diese zur Textur gewordene Struktur als Paradigmatisierung des Syntagmas zu kennzeichnen und es als ein Beispiel der _____________ 14 15

Thomas von Aquin, Summa theologica 2–2, q. 35, a. 3. Nach Thomas von Aquin (Summa theologica 2–2, q. 35, a. 1) ist die curiositas eine „Tochter“ der acedia. Dazu ist in aller Knappheit zu erläutern: Die „lähmende Niedergeschlagenheit“, unmittelbare Folge der Unmöglichkeit, Gott zu erfahren, sucht nach ‚Auswegen‘, wendet sich den „äußeren Freuden“ (delectabilia exteriora) zu, „streunt zum Verbotenen“ (evagatio [mentis] circa illicita). Insoweit dieses „Herumstreunen“ die Erkenntniskraft betrifft, handelt es sich um curiositas – eine der sieben, sechs oder auch nur fünf „Töchter“ der acedia.

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‚poetischen Funktion‘ heranzuziehen, trifft den Sachverhalt. Von ungleich größerem Interesse aber ist die Erkenntnis der Funktion der ‚poetischen Funktion‘, des telos dieser hochrhetorisierten rinascimentalen Lyrik, das sich keineswegs in deren Rhetorizität und Strukturalität erschöpft. Vielmehr ist es höchst essentialistischer Natur – freilich ex negativo: In und mit der Sprache selbst, mithin in und mit der Materie, wird ein Überstieg der Sprache bzw. der Materie intendiert ins Außersprachliche und Immaterielle, Spirituelle. Intendiert ist jene die Dichtung par excellence kennzeichnende paradoxale Re-Ontologisierung der Sprache qua Sprache, der Poesie qua Poesie. Sie äußert sich in einer ‚Poiëtik der Transgression‘. Die dafür notwendigen Argumentations- und Anschauungsfiguren bieten ihr in der Epoche der Renaissance die Philosopheme des Platonismus und des Neuplatonismus. So wird, was in Ronsards Les Amours vornehmlich als Struktur kenntlich ist16, bei Pontus de Tyard oder bei Joachim Du Bellay darüber hinaus thematisch: Si nostre vie est moins qu’une journée En l’eternel, si l’an qui faict le tour Chasse noz jours sans espoir de retour, Si perissable est toute chose née, Que songes-tu, mon ame emprisonnée ? Pourquoy te plaist l’obscur de nostre jour, Si pour voler en un plus cler sejour, Tu as au dos l’aele bien empanée ? Là, est le bien que tout esprit desire, Là, le repos où tout le monde aspire, Là, est l’amour, là le plaisir encore. Là, ô mon ame au plus hault ciel guidée! Tu y pouras y recongnoistre l’Idée De la beauté, qu’en ce monde j’adore.17

Die Thematik des vorvorletzten Sonetts aus Du Bellays L’Olive (CXIII) ist eindeutig: Der Aufstieg der Seele in die höchsten, zugleich transzendenten Sphären ermöglicht – ganz im Sinne der platonisch-neuplatonischen Erkenntnistheorie – die ‚Einsicht‘, vulgo: die ‚Schau der Idee der Schönheit‘: „recongnoistre l’Idée/ De la beauté“. Durch die Anaphorisierung gewinnt der Text eine gewisse Musikalität, stellt sich eine Korrespondenz zwischen Laut und Bedeutung ein.18 _____________ 16

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Auch Ronsard thematisiert die Struktur seiner Gedichte und Gedichtsammlungen in pluralen Liebeskonzeptionen. (Vgl. dazu u. a. Hempfer [1991].) Das Interessante und m. W. bislang nicht hinreichend Beachtete ist aber, dass in Ronsards Les Amours die neuplatonische Liebeskonzeption thematisch eher unterrepräsentiert ist, während sie strukturell dominant ist. Joachim Du Bellay, L’Olive, 163. Caldarini bemerkt in der „Introduction“ zu L’Olive, 21: „Et c’est en effet à un résultat musical et poétique à la fois qu’il [sc. Du Bellay] parvient quand il transforme un sonnet de Bernardino Tomitano dans le parfait équilibre de sons et de significations du sonnet CXIII. L’heureuse

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In den darauf folgenden beiden letzten Sonetten der Sammlung wird sodann deutlich, dass die ‚Wiedererkenntnis der idea‘ (anamnesis) zugleich der Ermöglichungsgrund ist für eine neue Poesie, die in ihrer Struktur und in ihren Verfahren die auf Transzendenz zielende Erkenntnisbewegung ästhetisch zu immanentisieren, mithin das Sein im Seienden zu restituieren bzw. zu statuieren sucht. Arriere, arriere, ô mechant Populaire ! O que je hay ce faulx peuple ignorant ! Doctes espris, favorisez les vers Que veult chanter l’humble prestre des Muses. Te plaise donc, ma Roine, ma Déesse, De ton sainct nom les immortalizer, Avec’ celuy qui au temple d’Amour Baize les piez de ta divine image. O toy, qui tiens le vol de mon esprit, Aveugle oiseau, dessile un peu tes yeux, Pour mieulx tracer l’obscur chemin des nues. Et vous, mes vers, delivres et legers, Pour mieulx atteindre aux celestes beautez, Courez par l’air d’une aele inusitée.

Bildlich-metaphorisch ist freilich davon die Rede, dass die Verse „himmlische Schönheiten“ erreichen mögen, „frei, leicht und […] auf nicht gewöhnlicher Schwinge“. Beflügelt wird der Geist des Dichters, Priester der Musen, von Amor, „aveugle oiseau“. Und das heißt: Die Dichtung im emphatischen Sinne – und nur diese steht ja hier in Rede – stellt sich dem Paradox, in der und durch die letztlich unhintergehbare ‚Teilhabe am Seienden‘ die ‚Teilhabe am Sein‘ zu simulieren, mithin Platons Verdikt gegen die Dichtung (Politeia X) mit Platon selbst (Ion, Phaidros, Politeia II/III) zu widerlegen, und sie inszeniert in dieser Absicht eine mythisch-platonische Anschauungsfigur: den Eros. Eros ist Thema und wird Struktur. Denn entscheidend ist in diesem für die Dichtung, die Kunst der Neuzeit wie der Moderne gleichermaßen grundlegenden wie in seiner Tragweite bislang nicht erkannten Prozess der ästhetischen Immanentisierung platonischer und neuplatonischer Philosopheme dessen ‚Erotisierung‘. Es ist – allegorisch gesprochen – die treibende Kraft des Eros, wie ihn Diotima ebenso facettenreich wie bündig beschreibt und wie u. a. Ficino ihn neuplatonisch differenziert, der die ihre eigene Materialität transzendierende Sprache ermöglicht und zugleich dieser Ermöglichungsstruktur ein ‚Anschauungsbild‘ gibt. Es ist Eros, der den Liebesdiskurs _____________ formulation acoustique atteinte grâce au mouvement progressif et ascensionel de l’anaphore y réalise dans le rythme l’élan ascétique qui emporte l’âme vers l’idée selon les théories néoplatoniciennes.“ – Vgl. dazu die oben zitierte Äußerung Valérys zum Verhältnis von son und sens.

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der Epoche der Renaissance sowohl thematisch wie strukturell bestimmt und der deutlich machen kann, dass dessen ‚Pluralisierung‘ bzw. ‚Dialogisierung‘ nicht nur Zeichen der Episteme der Epoche sind, sondern dass diese ‚Pluralisierung‘ (zugleich) Ausdruck jenes ‚erotischen‘ Begehrens ist, das notwendigerweise als unerfüllbares, mithin unendliches, niemals seinen Abschluss findet. In Eros hat die ästhetische curiositas ihre Figuration gefunden.19

III. Das Vorgenannte gilt uneingeschränkt auch für die Lyrik der Moderne. Deutlicher noch: Die Struktur der modernen Dichtung ist ästhetischer Ausdruck des neuplatonischen Philosophems eros. In Differenz zur Dichtung der Frühen Neuzeit, vornehmlich zur rinascimentalen Lyrik und zur Lyrik des Barock, tritt in der Lyrik der Moderne eros als Thema zwar in den Hintergrund, nicht hingegen eros als Strukturprinzip. Die Modi der Textverfahren und in deren Folge der Textkonstitution, mithin der poiesis, vervielfältigen sich ins Endlose und in ein immer Neues, was auch darin begründet ist, dass die letztlich der imitatio verpflichtete Rhetorizität der Frühen Neuzeit in der Moderne durch eine dem Originalitätspostulat gehorchende Poetizität ersetzt ist. Charakteristikum aber ist im einen wie im anderen Fall die Begrenzung auf ein Minimum an Referentialität, an Referentialität auf eine vorgängige ‚Welt‘ und darüber hinaus auf einen vorgängigen ‚Text‘. Erst diese referentiellen Begrenzungen, ja Unterbindungen ermöglichen es, immer neue und immer andere ‚Weisen des Sagens‘ auszuloten, kurz: ‚poetisch‘ zu werden im Sinne Roman Jakobsons, zugleich im Sinne Novalis’, Baudelaires, Mallarmés, Paul Valérys – um vorläufig nur diese zu nennen. Inwiefern aber lässt sich behaupten, dass die Funktion der ‚poetischen Funktion‘, mithin die Funktion aller vornehmlich nicht-referentiellen Dichtung, tatsächlich essentialistisch ist, mithin die Poiëtik der Lyrik der Moderne platonisch, zum wenigsten neuplatonisch geprägt ist? Eine naive Parallelisierung verbietet sich. Die philosophischen und epistemologischen Voraussetzungen sind zu different, als dass eine direkte Bezugnahme, gar umstandslose ‚Wiederbelebung‘ platonischer und neuplatonischer Philosopheme in der Neuzeit und Moderne möglich wäre. Das gilt für die Philosophie nicht anders als für die Ästhetik und Poiëtik. Der deutsche Idealismus ist von anderer Prägung20, und die philosophisch-ästhetischen Bemühungen eines Victor Cousin21 sind nurmehr eine Karikatur des Platonismus und Neuplatonismus: Platonisch-neuplatonische Konzepte werden zu Versatzstücken. Topoi wie die Opposition von Sinnlichkeit _____________ 19 20 21

Zu diesem Konzept vgl. Moog-Grünewald (2006a). Siehe dazu Beierwaltes (2004). Zu nennen ist das erstmals 1853 erschienene Werk Du Vrai, du Beau et du Bien, das auf eine 1818 gehaltene Philosophievorlesung an der Sorbonne zurückgeht.

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und Intellekt, die Vorstellung von Abbild und idea, die Proklamation eines ‚Aufschwungs der Seele‘ aus den Niederungen des Iridischen in die Höhen des Geistes, das Konzept des ‚Absoluten‘ und des ‚Einen‘, zudem die Sakralität des inspirierten Dichters werden frei verfügbar, finden allenthalben Eingang in die Werke insbesondere der französischen Romantiker.22 Mme de Staël, Chateaubriand, Victor Hugo, Lamartine – um nur diese zu nennen – postulieren ein Arcanum des Poetischen in epigonal platonisierender Manier. (Neu)Platonismus bleibt Thema, wird nicht Struktur. Um ein Beispiel zu geben: Außer den oben genannten Topoi ist der Topos der Analogie zwischen sichtbarer Welt und unsichtbarem Universum vielfach aufgenommen und variiert. Repräsentativ ist die Dichtung Victor Hugos. Bereits 1822 formuliert er in der Vorbemerkung zur ersten Ausgabe der Odes et ballades: „[…] le domaine de la poésie est illimité. Sous le monde réel, il existe un monde idéal qui se montre resplendissant à l’œil de ceux que des méditations graves ont accoutumés à voir dans les choses plus que les choses.“23 Das sind (neu)platonisch inspirierte Swedenborgsche Reminiszenzen, die sich auch in „La Pente de la rêverie“ wiederfinden: Une pente insensible Va du monde réel à la sphère invisible ; La spirale est profonde et va s’élargissant, Et pour avoir touché quelque énigme fatale, De ce voyage obscur souvent on revient pâle !24

Und die Allnatur als Träger von Symbolen preisen nachfolgende Verse: Écoute la nature aux vagues entretiens. Entends sous chaque objet sourdre la parabole. Sous l’être universel vois l’éternel symbole, […]25

In diese Filiation wird üblicherweise eines der bekanntesten Sonette Charles Baudelaires aus Les Fleurs du Mal, „Correspondances“, gerückt: La Nature est un temple où de vivants piliers Laissent parfois sortir de confuses paroles; L’homme y passe à travers des forêts de symboles Qui l’observent avec des regards familiers. Comme de longs échos qui de loin se confondent Dans une ténébreuse et profonde unité, Vaste comme la nuit et comme la clarté, Les parfums, les couleurs et les sons se répondent.

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Vgl. dazu u. a. Brix (2001). – Brix weist die Rezeption der Topoi an zahlreichen Beispielen aus der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts nach und geht dabei in der Regel von Cousins Erläuterungen zu seiner Platon-Übersetzung aus. Victor Hugo, Œuvres complètes. Poésie I, 54. (Zit. n. Brix [2001], 52.) Ebd., 631. (Zit. n. Brix [2001], 52.). Ebd., 1018. (Zit. n. Brix [2001], 53.). – Es handelt sich um einen Ausschnitt aus dem Gedicht „Que la musique date du seizième siècle“ aus der Sammlung Les Rayons et les ombres.

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Maria Moog-Grünewald Il est des parfums frais comme des chairs d’enfants, Doux comme les hautbois, verts comme les prairies, – Et d’autres, corrompus, riches et triomphants, Ayant l’expansion des choses infinies, Comme l’ambre, le musc, le benjoin et l’encens, Qui chantent les transports de l’esprit et des sens. 26

Durchaus nimmt die Thematik des Sonetts auf die Swedenborgsche (neu)platonisierende Naturphilosophie Bezug. Darüber hinaus aber – und darin liegt das entscheidend Innovative gegenüber den Romantikern – formuliert das Sonett in freier Verfügung neuplatonischer Philosopheme eine ‚Poiëtik der Korrespondenz‘, deren Verfahren die einzelnen Gedichte wie insgesamt die Sammlung der Fleurs du Mal und zudem die Lyrik der Moderne bestimmt: Metrische, phonische, strukturelle und semantische ‚Korrespondenzen‘ konstituieren die einzelnen Texte und ermöglichen zugleich durch ebensolche Verweisungen zwischen den Texten eine Abfolge, deren Sinn im und als Symbol kenntlich wird. Im Symbol27 manifestiert sich die Intention der Sprache, im Seienden selbst auf das Sein zu verweisen, ja weitestgehende Identität von Seiendem und Sein in der Sprache, allgemeiner: im Kunstwerk zu simulieren. Es wird sprachlichkünstlerisch durch Paradigmatisierung des Syntagmas realisiert. Ihm eignet mithin ein Höchstmaß an Poetizität. Es sind nun Begriff und Sache des Symbols, die es erlauben, die Ästhetik und Poiëtik der Moderne als inversen (Neu)Platonismus28 zu beschreiben. Das moderne Konzept des Symbols als poiëtischer Ausdruck par excellence hat nämlich in auffallender Weise sein Analogon in der platonisch-neuplatonischen Dichtungstheorie.29 Proklos hat sie in seinem umfänglichen, doch nicht systematischen Kommentar zum zehnten Buch der Politeia formuliert.30 In der Intention, Platons Verdikt gegen die Dichtung, wie es im zehnten Buch der Politeia formuliert ist, zu relativieren und zu differenzieren, entwirft Proklos eine metaphysisch begründete Dichtungstheorie. Je nach Erkenntnishaltung, dem in der Seele je dominierenden Erkenntnisvermögen, unterscheidet Proklos drei Typen von Dichtung31, die inspirierte, die epistemische und die mimetische Dichtung. Diesen drei hierarchisch gestuften Dichtungstypen entsprechen drei Repräsentationsformen, die symbolische, die analogische und die mimetische. Das Eidolon (ijր ıՀİȧȝȡȟ) ist die Ausdrucksform der mimetischen Dichtung, die _____________ 26 27

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Charles Baudelaire, Les Fleurs du Mal, 11. Das Verständnis des Begriffs des Symbols ist bekanntlich sowohl historisch wie systematisch äußert vielfältig und differenziert (vgl. dazu aus der Fülle Pochat [1983]). Das hier favorisierte Verständnis von Symbol geht letztlich auf Proklos zurück. Moog-Grünewald (2006b). Ausführlicher dazu Maria Moog-Grünewald, Zur Poietik der modernen Lyrik (im Druck). Proclus Diadochus, In Platonis Rem Publicam Commentarii; Proclus, Commentaire sur la République. Proclus, In Platonis Rem Publicam Commentarii I 178, 6–10.

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Ikon (ԭ ıԼȜօȟ, įԽ ıԼȜցȟıȣ) die der epistemischen Dichtung und das Symbol (ijր IJփȞȖȡȝȡȟ, auch ijր IJփȟȚșȞį) die der inspiriert-entheastischen Dichtung. Die symbolische Form – und nur diese interessiert im Folgenden – stellt die intelligible, die göttliche Welt unmittelbar dar, ja sie ist sie in anderer Weise. Die eine steht für die andere. Die symbolische Dichtungsform ist Ausdruck einer Erkenntnishaltung, in der „das Eine in der Seele“ mit dem göttlichen Einen vereinigt ist32, mithin im Stande der henosis sich befindet. Ihre Voraussetzung ist zugleich Wirkung: Im Zustand der Erleuchtung (ԤȝȝįȞȦțȣ) und der Ekstase (ԤȜIJijįIJțȣ) hervorgebracht vermag die entheastische Dichtung im Hörer den nämlichen Zustand zu erwirken: Erleuchtung und Ekstase.33 Das Unerhörte dieser Zuschreibung liegt nun darin, dass die Dichtung, soweit sie entheastisch ist, in analoger Weise herbeiführen kann, was nach Platon allein sich im telos philosophischen Denkens verwirklicht. Damit verfügt der inspirierte Dichter über ein Wissen, das Platon nur dem Philosophen, dem Dialektiker zuerkannte. Mit Hinweis auf die Theorie der poetischen Mania im platonischen Phaidros (244 A– 245 A) sucht Proklos sein Dichtungsverständnis zu legitimieren: Als Ausdruck einer „Mania, die die Besonnenheit noch überbietet“ („Ȟįȟտį […] IJȧĴȢȡIJփȟșȣ ȜȢıտijijȧȟ“)34, eignet der entheastischen Dichtung göttliches Maß („Țı‫ה‬ȡȟ ȞջijȢȡȟ“)35, das die Seele erfülle und sich als ‚Kosmos‘, als ‚Ornament‘ der Sprache also, zeige. Wohlgeordnetheit nach Metrum und Rhythmus ist denn auch die einzige formale Bestimmung, die Proklos von der entheastischen Dichtung, mithin des Symbols, gibt. Wie sehr Proklos’ Dichtungstheorie letztlich Erkenntnistheorie bleibt, mithin Ästhetik und Poietik gänzlich ausblendet, ist daraus zu ersehen, dass bei der Komposition, der Synthesis, einer entheastischen Dichtung immer „das göttliche, immaterielle und transzendente Sein“36 Orientierung und Maßstab zu sein hat. Vom Intellekt her geleitet faltet der Dichter die göttlichen Wahrheiten symbolisch in eine Geschichte, eine Kette von Vorstellungen, aus. Kriterium ist vorderhand der „wahre Gottesbegriff“, das ȚıȡʍȢıʍջȣ, nicht das ʍȢջʍȡȟ. Und dennoch ist das alte ʍȢջʍȡȟ, das nach Auffassung der antiken Kritiker die vorbildliche Dichtung und Prosa kennzeichnet, die unhintergehbare Grundlage zur Bemessung auch des ȚıȡʍȢıʍջȣ. Die basalen Regeln der Rhetorik und Poietik bleiben also auch dann noch in Kraft, wenn es gilt, das Unsagbare, das ԔȢȢșijȡȟ, in Sprache zu bringen – als Symbol und im Symbol, verstanden als sprachlicher Ausdruck eines letztlich sprachlich nicht Ausdrückbaren, eines indicibile. _____________ 32 33

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Ebd., I 177, 15–23. In der Tat ist es nicht klar, ob Proklos produktions- oder wirkungsästhetisch argumentiert (ebd., I 178, 6–179, 2). Vgl. dazu Sheppard (1980, 171 f.). Ebd., I 178, 24. Zu Begriff und Sache einer manía IJօĴȢȧȟ von Platon bis Proklos siehe Lewy (1929). Ebd., I 178, 25 Hermias Alexandrinus, In Platonis Phaidrum Scholia, rec. Paul Couvreur, Paris 1901, 30,14; zit. n. Bernard (1990), 61.

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Ganz in diesem Verständnis ist die moderne Dichtung, ist die Lyrik der Moderne symbolisch. Wenn auch nicht in dem ausdrücklichen Bestreben, das „göttliche, immaterielle und transzendente Sein“ sprachlich zu entfalten, sucht sie gleichwohl nach einer Sprache, die das sprachlich nicht Darstellbare in Sprache zu fassen, somit die Sprache in der Immanenz zu transzendieren intendiert. In dieser Intention bedient sich bspw. Charles Baudelaire des Verfahrens der Karikatur37, um dem ‚Spleen‘ das ‚Idéal‘ zu entringen, mithin eines Verfahrens, das nurmehr ex negativo Schönheit und Vollkommenheit sprachlich hervorzubringen vermag. In dieser Intention bedient sich Stéphane Mallarmé des Verfahrens der Suggestion, deren Effekt die „notion pure“ ist38: ein Bild – nicht ein Abbild –, das nur mehr aufscheint, um sich im Aufscheinen zu verflüchtigen. Adorno39 spricht mit Verweis auf Benjamin und Baudelaire von apparition – Kennzeichen der ästhetischen Moderne schlechthin, das im Phänomen des ԚȠįտĴȟșȣ40 eine gewisse Entsprechung hat. Präsenz ist nurmehr als Absenz suggeriert; das „reine Werk“, „l’œuvre pure“41, ist mithin poiëtisch weniger realisierbar denn im Momentum ästhetisch erfahrbar, als Aufschein dessen, was nicht ist: „[a]près avoir trouvé le Néant, j’ai trouvé le Beau.“42 Ziel ist das ‚reine Werk‘, mehr noch: die notion pure, in der das Signifikat im Signifikanten ‚aufgeht‘, verschwindet. Mallarmé beschreibt dieses Phänomen in Crise de Vers mit dem bekannten Satz: „A quoi bon la merveille de transposer un fait de nature en sa presque disparition vibratoire selon le jeu de la parole, cependant; si ce n’est pour qu’en émane, sans la gêne d’un proche ou concret rappel, la notion pure.“43 Die Poiëtik der notion pure kommt der Musik als der ‚vergeistigten‘ Kunst par excellence am nächsten. Eine parallele Möglichkeit, Präsenz als Resultat sprachlicher Transgression zu inszenieren, ist die Bezugnahme auf die Bildenden Künste. So machen in Reaktion auf Mallarmé die nachfolgenden Generationen der Moderne in den Bildenden Künsten, allgemein in den visuellen Künsten, das poetische Modell aus; sie wollen Mallarmés radikaler Poiëtik der Negation eine Poiëtik der Präsenz entgegensetzen. Ein herausragender Repräsentant ist Yves Bonnefoy, der in der ‚Unmittelbarkeit‘, die den visuellen Künsten eigne, das letztlich nie einholbare Ziel der Sprach-Künste erkannte und im sog. ‚ekphrastischen Schreiben‘ eine Möglichkeit sah, dieses Ziel wenn nicht zu _____________ 37 38 39

40 41 42

43

Siehe dazu Full (2005). Siehe dazu Moog-Grünewald (2002). Adorno (1970), 130 f.: „Als apparition, als Erscheinung und nicht Abbild, sind die Kunstwerke Bilder. […] Ist apparition das Aufleuchtende, das Angerührtwerden, so ist das Bild der paradoxe Versuch, dies Allerflüchtigste zu bannen. […] Sind Kunstwerke als Bilder die Dauer des Vergänglichen, so konzentrieren sie sich im Erscheinen als einem Momentanen.“ Vgl. dazu Beierwaltes (1966/67). Stéphane Mallarmé, Œuvres complètes, 366. Mallarmé, Brief an Henri Cazalis [juillet 1866], in: Stéphane Mallarmé, Correspondance. 1862 – 71, 220. Zur genauen Datierung (13.2.1866) siehe Mallarmé, Documents Mallarmé, vol. VI, 321. Mallarmé, Œuvres complètes, 368.

Re-Ontologisierung der Sprache

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erreichen, so doch ihm nahe zu kommen. Tatsächlich aber ist die Poiëtik der Ekphrasis nurmehr ein Modus der Poiëtik der Suggestion, nicht anders als die Poiëtik der Präsenz ein Modus der Poiëtik der Absenz bzw. der Negation ist. Ohne die differenten Modi des ekphrastischen Schreibens hier im Einzelnen darlegen zu können, nur soviel und in aller Knappheit: Das ‚ekphrastische Schreiben‘ ist dadurch gekennzeichnet, dass neue Möglichkeiten der poetischen Sprache erprobt werden in der Bezugnahme auf und in der sprachlichen Auseinandersetzung mit Werken der Bildenden Kunst. Die Sprache tritt in Konkurrenz zum Bild, Abstraktheit soll in Konkretion überführt werden. Erhellend ist ein kleiner Text von Francis Ponge, L’Écrit Beaubourg, insofern aus ihm die grundlegende Problematik evident wird. Ponge erinnert sich an ein Gespräch mit Georges Braque; die Erinnerung gewinnt in der Niederschrift die Gestalt eines kleinen moralischen Dialogs, der in nuce eine Reflexion über Möglichkeiten und Status moderner Dichtung ist: Die Maler – so Braque – kennten die Dinge nur von ihrem Anblick her, während die Schriftsteller („les littérateurs“), und darunter durchaus gelehrte, sie von ihrem Namen her kennten. Darin seien sie gegenüber dem Publikum im Vorteil, das die Namen immer lieber möge als alles andere, das genau wissen wolle, wovon die Rede ist.44 Worauf Ponge antwortet: Mais, hors vos amis érudits, que vous appelez littérateurs, les poètes ? Comme vous, ils connaissent les choses de vue et de tous leurs autres sens, croyez-moi. Le drame est qu’ils les connaissent aussi de nom et que c’est avec et contre ces noms, et encore avec d’autres noms, qu’ils doivent dire leur vue : c’est atroce. 45

„Mit und gegen die Namen sagen zu müssen, was sich den Augen zeigt“, ist das Dilemma und die einzigartige Chance der Dichtung, der Poesie, die in genau diesem Verständnis von der Prosa, der Literatur sich unterscheidet. „Mit und gegen die Namen sagen zu müssen, was sich den Augen zeigt“, ist die ungeheure Herausforderung, der sich die Dichtung in der Moderne zu stellen hat und die sie in immer neuen und variierten poiëtischen Verfahren zu parieren sucht – mit Verfahren, die letztlich nichts anderes intendieren, als Name und Ding, res und nomen, in Übereinkunft zu bringen. Mit dem – auch offiziell erklärten – Sieg der Nomina über die Realia suchen die Nomina den Realia eine ‚Heimstatt‘ zu geben, sie ‚aufzunehmen‘. Dazu aber bedarf es einer Sprache, die in jedem Wort, in jedem Ausdruck die ihr gesetzten Grenzen zu überschreiten sucht, die mit dem Wort gegen das Wort arbeitet, mithin in der paradoxalen Insistenz auf der Materialität der Sprache jegliche Materie zu überwinden intendiert. Hierin liegt ihre Idealität, die Proklos gegen Platon zu verteidigen suchte und in deren Verteidigung er sich nurmehr auf Platon beziehen konnte.

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Francis Ponge, L’Ecrit Beaubourg, 901. Ebd.

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Primärliteratur Baudelaire, Charles, Les Fleurs du Mal, in: Œuvres complètes, tome I, publ. par Claude Pichois (Bibliothèque de la Pléiade), Paris 1975. Du Bellay, Joachim, L’Olive, publ. par Ernesta Caldarini, Genève 1974. Cousin, Victor, Du Vrai, du Beau et du Bien (1853), Paris 1875. Hermias Alexandrinus, In Platonis Phaedrum Scholia, rec. Paul Couvreur, Paris 1901 Hugo, Victor, Œuvres complètes. Poésie, tome I, publ. par Claude Gély, Paris 1985. Mallarmé, Stéphane, Œuvres complètes, publ. par Henri Mondor/G. Jean-Aubry (Bibliothèque de la Pléiade), Paris 1945. Mallarmé, Stéphane, Correspondance. 1862 – 1871, tome I, publ. par Henri Mondor, Paris 1959. Mallarmé, Stéphane, Documents Mallarmé, tome VI, publ. par Carl Paul Barbier, Saint-Genouph 1977. Novalis, Das philosophisch-theoretische Werk, in: Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs, Bd. II, hg. v. Hans-Joachim Mähl/Richard Samuel, München/Wien 1978. Platon, Platonis opera, tomi I–V, rec. John Burnet, Oxford 1900–1907. Platon, Phaidros, in: Platonis opera, tom. II, rec. John Burnet, Oxford, 1901. Platon, Politeia, in: Platonis opera, tom. IV, rec. John Burnet, Oxford, 1902. Ponge, Francis, L’Ecrit Beaubourg, in: Œuvres complètes, vol. II, publ. par Bernard Beugnot (Bibliothèque de la Pléiade), Paris 2002. Proclus Diadochus, Commentaire sur la République, 3 vols., publ. par André J. Festugière, Paris 1970. Proclus Diadochus, In Platonis Rem Publicam commentarii, tomi I–II, rec. Wilhelm Kroll, Leipzig 1899–1901, repr. Amsterdam 1965. Thomas von Aquin, Summa theologica, in: Thomae Aquinatis opera omnia, tom. II, rec. Roberto Busa, Stuttgart/Bad Cannstatt 1980. Valéry, Paul, Poésie et pensée abstraite, in: Œuvres, vol. I, éd. établie et annotée par Jean Hytier, Paris 1957. Valéry, Paul, Degas Danse Dessin, in: Œuvres, vol. II, éd. établie et annotée par Jean Hytier, Paris 1960.

Sekundärliteratur Adorno, Theodor W., Ästhetische Theorie, Frankfurt a. M. 1970. Barck, Karlheinz/Heininger, Jörg/Kliche, Dieter, „Ästhetik/ästhetisch“, in: Ästhetische Grundbegriffe I–VII, Bd. I, hg. v. Karlheinz Barck/Martin Fontius/Dieter Schlenstedt, Stuttgart/Weimar 2000, 308–400.

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Beierwaltes, Werner, „Exaiphnés oder: Die Paradoxie des Augenblicks“, in: Philosophisches Jahrbuch 74 (1966/67), 271–283. Beierwaltes, Werner, Platonismus und Idealismus, Frankfurt a. M. 2004. Bernard, Wolfgang, Spätantike Dichtungstheorien. Untersuchungen zu Proklos, Herakleitos und Plutarch, Stuttgart 1990. Birus, Hendrik, „Hermeneutik und Strukturalismus. Eine kritische Rekonstruktion ihres Verhältnisses am Beispiel Schleiermachers und Jakobsons“, in: Roman Jakobsons Gedichtanalyse. Eine Herausforderung an die Philologien, hg. v. Hendrik Birus/Sebastian Donat/Burkhard Meyer-Sickendiek, Göttingen 2003, 11–37. Brix, Michel, Le Romantisme français. Esthétique platonicienne et modernité littéraire, Louvain-Namur 1999. Brix, Michel, „Platon et le platonisme dans la littérature française de l’âge romantique“, dans : Romantisme 113 (2001), 43–60. Blumenberg, Hans, Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt a. M. 1966. Foucault, Michel, Les mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines, Paris 1966. Full, Bettina, Karikatur und Poiesis. Zur Ästhetik Charles Baudelaires, Heidelberg 2005. Friedrich, Hugo, Die Struktur der modernen Lyrik. Von Baudelaire bis zur Gegenwart, Reinbek bei Hamburg 1956. Hempfer, Klaus W., „Intertextualität, Systemreferenz und Strukturwandel. Die Pluralisierung des erotischen Diskurses in der italienischen und französischen Renaissance-Lyrik (Ariost, Bembo, Du Bellay, Ronsard)“, in: Modelle des literarischen Strukturwandels, hg. v. Michael Titzmann/Georg Jäger, Tübingen 1991, 7–43. Jakobson, Roman, „Nachwort“, in: Form und Sinn. Sprachwissenschaftliche Betrachtungen, München 1974, 175–177. Jakobson, Roman, „Was ist Poesie?“ (1934), in: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921–1971, hg. v. Elmar Holenstein und Tarcisius Schelbert, Frankfurt a. M. 1979, 67–82. Lewy, Hans, „Sobria Ebrietas“. Untersuchungen zur Geschichte der antiken Mystik, Gießen 1929. Moog-Grünewald, Maria, „Zwischen Kontingenz und Ordo. Das Emblem in Renaissance und Barock“, in: Aspekte des Barock. Dezentrierte oder rezentrierte Welt?, hg. v. Joachim Küpper/Friedrich Wolfzettel, München 2000, 187–216. Moog-Grünewald, Maria, „Poietik der Décadence. Eine Poietik der Moderne“, in: Fin de siècle, hg. v. Rainer Warning/Winfried Wehle, München 2002, 165– 194. Moog-Grünewald, Maria, „Was ist Dichtung?“, in: Mimesis – Repräsentation – Imagination. Literaturtheoretische Positionen von Aristoteles bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, hg. v. Jörg Schönert/Ulrike Zeuch, Berlin/New York 2004, 283–302.

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Maria Moog-Grünewald

Moog-Grünewald, Maria (Hg.), Eros. Zur Ästhetisierung eines (neu)platonischen Philosophems in Neuzeit und Moderne, Heidelberg 2006a. Moog-Grünewald, Maria, „Inverser Platonismus. Zur erkenntnistheoretischen Begründung moderner Ästhetik bei Giordano Bruno“, in: Renaissance. Episteme und Agon. Festschrift Klaus W. Hempfer, hg. v. Andreas Kablitz/Gerhard Regn, Heidelberg 2006b, 221–238. Pochat, Götz, Der Symbolbegriff in der Ästhetik und Kunstwissenschaft, Köln 1983. Sheppard, Anne D., Studies on the 5th and 6th Essays of Proclus’ Commentary on the Republic, Göttingen 1980.

Über die Autoren LUTZ BERGEMANN ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Teilprojekt A 3 des SFB 644 an der Humboldt-Universität zu Berlin. Forschungsschwerpunkte sind die Philosophie des Neuplatonismus und die Frühe Neuzeit. Dissertation: Kraftmetaphysik und Mysterienkult im Neuplatonismus. Ein Aspekt neuplatonischer Philosophie (2006). JENS HALFWASSEN ist Ordinarius für Philosophie an der Universität Heidelberg. Wichtigste Publikationen: Der Aufstieg zum Einen. Untersuchungen zu Platon und Plotin (1992, 2. erw. Aufl. 2006); Geist und Selbstbewußtsein. Studien zu Plotin und Numenios (1994); Hegel und der spätantike Neuplatonismus (1999, 2. Aufl. 2005); Plotin und der Neuplatonismus (2004); Platonismus im Orient und Okzident. Neuplatonische Denkstrukturen im Judentum, Christentum und Islam (2005, gem. mit R. G. Khoury). WALTER HAUG ist Emeritus an der Universität Tübingen. Nach der Emeritierung nahm er Gastprofessuren in den USA und in der Schweiz wahr. Seine Hauptinteressengebiete sind mittelhochdeutsche Epik und abendländische Mystik. 1985 erschien seine Literaturtheorie im deutschen Mittelalter, die 1992 eine zweite Auflage erfuhr; englische Version 1997. Die wichtigsten Einzelstudien sind zusammengestellt in: Strukturen als Schlüssel zur Welt (1989), Brechungen auf dem Weg zur Individualität (1995) und Die Wahrheit der Fiktion (2003); umfassendes Schriftenverzeichnis im Anhang zu Die höfische Liebe im Horizont der erotischen Diskurse des Mittelalters und der Frühen Neuzeit (2004). THOMAS LEINKAUF ist Professor für Philosophie an der Universität Münster und Direktor der Leibniz-Forschungsstelle. Arbeitsgebiete: Spätantike, Renaissance, Frühe Neuzeit (Leibniz), Deutscher Idealismus (Schelling). Publikationen u. a.: Platons Timaios als Grundtext der Kosmologie in Spätantike, Mittelalter und Renaissance (2005); Der Naturbegriff in der frühen Neuzeit. Semantische Perspektiven zwischen 1500 und 1700 (2005); Nicolaus Cusanus. Eine Einführung (2006).

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Über die Autoren

VERENA OLEJNICZAK LOBSIEN ist Professorin für Neuere Englische Literatur an der Humboldt-Universität zu Berlin und Leiterin des Teilprojekts A 3 im SFB 644 der Humboldt-Universität. Aufsätze und Monographien zur klassischen Moderne sowie zu Literatur und Kultur der Frühen Neuzeit, darunter: Skeptische Phantasie. Eine andere Geschichte der frühneuzeitlichen Literatur (1999), sowie (mit Eckhard Lobsien): Die unsichtbare Imagination. Literarisches Denken im 16. Jahrhundert (2003). ECKHARD LOBSIEN ist Professor für Anglistische Literaturwissenschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. Hauptarbeitsgebiete sind Literaturtheorie und Ästhetik, die Literatur der Frühen Neuzeit und der klassischen Moderne. Zu seinen zahlreichen Monographien zählen Imaginationswelten (2003) und Die Phantasie des Ulysses (2005). MARIA MOOG-GRÜNEWALD ist Inhaberin des Lehrstuhls für Romanische Philologie und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Tübingen. Arbeitsgebiete: Ästhetik und Poetik von der Antike bis zur Moderne; Text-BildVerhältnis: poiëtische Funktionen der Ekphrasis; Antike-Rezeption unter philosophisch-erkenntnistheoretischen und ästhetischen Gesichtspunkten; Mythenrezeption; Giordano Bruno. Zahlreiche Monographien und Sammelbände, darunter: Autobiographisches Schreiben und philosophische Selbstsorge (2004); EROS – Zur Ästhetisierung eines (neu)platonischen Philosophems in Neuzeit und Moderne (2006). KATHARINA MÜNCHBERG ist Privatdozentin für Romanische Philologie an der Universität Tübingen. Dissertation: René Char. Ästhetik der Differenz (2000). Habilitationsschrift: Dante. Die Möglichkeit der Kunst (2003). Forschungsschwerpunkte: Romanische Literatur des Mittelalters und der Moderne, ästhetische Theorie. CLAUDIA OLK ist Privatdozentin am Institut für Anglistik und Amerikanistik der Humboldt-Universität zu Berlin. Dissertation: Reisen und Erzählen. Studien zur Entwicklung von Fiktionalität in narrativen Reisedarstellungen des Spätmittelalters und der Renaissance (1999), Habilitationsschrift zur „Ästhetik des Sehens in der englischen Moderne“ (2006). Forschungsschwerpunkte und Veröffentlichungen: klassische Moderne, Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit sowie Ästhetik und Literaturtheorie.

Über die Autoren

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ARBOGAST SCHMITT ist Professor für Klassische Philologie (Schwerpunkt Gräzistik) an der Universität Marburg, seine wichtigsten Arbeitsgebiete sind: Homer, die griechische Tragödie, Platon und Aristoteles und ihr Verhältnis zu den hellenistischen Philosophien; Entstehung und Geschichte der AntikeModerne-Antithese. Wichtige Publikationen: Selbständigkeit und Abhängigkeit menschlichen Handelns bei Homer (1990); Die Moderne und Platon, (Darmstadt 2004 [= Stuttgart 2003]); Platon und das empirische Denken der Neuzeit (2006).

Namenregister Abaelard 32 Addison, Joseph 152 Adorno, Theodor W. 242 Alanus ab Insulis (von Lille) 32–33, 35, 38 Alberti, Leon Battista 64–65, 76, 81, 86–87, 92–97, 105, 108 Albertus Magnus 63, 81 Alexander von Aphrodisias 66 Allen, Michael J. B. 121 Anakreon 133 Anaxagoras 145 Apelles von Kolophon 133 Archytas Tarentinus 73 Aristides, Publius Aelius Smyrnaeus 145 Aristoteles 14, 20, 51, 59–60, 64– 65, 69–73, 81–82, 87, 89, 102, 107, 111, 150, 165, 195, 213 Arnold, Matthew 4 Assmann, Jan 54, 142–143, 149– 150, 153 Assunto, Rosario 19 Auerbach, Erich 219 Augustinus, Aurelius 20, 22–24, 81, 105, 121–122, 163, 175, 177, 180 Avicenna 187 Bader, Günter 13 Baeumker, Clemens 20 Balthasar, Hans Urs von 9, 14, 208 Barck, Karlheinz 4, 231 Bätschmann, Oskar 94–95 Batteux, Charles 165 Baudelaire, Charles 234, 238–240, 242

Baumgarten, Alexander Gottlieb 3– 4, 19 Bayle, Pierre 163 Beethoven, Ludwig van 214 Behr, Charles A. 145 Beierwaltes, Werner 7–8, 11–12, 20–28, 30, 44–45, 47, 49, 52–54, 59, 63, 89, 91, 97, 109, 124, 145, 219, 238, 242 Bell, Quentin 215 Bembo, Pietro 101, 121, 129 Benivieni, Girolamo 121 Benjamin, Walter 242 Bergemann, Lutz 13 Bernard, Wolfgang 241 Bernardus Silvestris 32, 156–158 Bernhard von Clairvaux 28 Bezner, Frank 32–34, 154–158 Bieman, Elizabeth 118, 121 Binding, Günther 29–30 Birch, Thomas 140 Birus, Hendrik 232 Bjorvand, Einar 121 Blum, Paul Richard 145 Blumenberg, Hans 50, 124, 163, 177, 180–181, 234 Boethius, Anicius Manlius Severinus 20, 76–77, 81, 188, 121 Bonaventura 28 Bonnefoy, Yves 242 Boyle, Robert 132 Bradley, F. H. 215 Braque, Georges 243 Brix, Michel 239 Bruno, Giordano 64, 87, 89, 95, 102, 104, 107–111, 121

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Namenregister

Bruyne, Edgar de 19 Buck, August 86 Burgelin, Pierre 173 Burrow, Colin 117 Butler, Samuel 192–193 Büttner, Stefan 4, 10, 67 Calcidius 20 Caldarini, E. 236 Campanella, Thomas 102, 105 Carey, John 199 Carpi, Daniela 214 Casa, Giovanni della 101 Case, Janet 215 Castiglione, Baldassare 97, 101, 119–120, 129 Cataneo Diaceto, Francesco 94, 99, 101–104 Cazalis, Henri 242 Celan, Paul 234 Chardin, Jean Baptiste Siméon 167 Chateaubriand, François-René de 239 Chaucer, Geoffrey 35, 117, 121 Chenu, Marie-Dominique 20, 154 Chrysipp 60–61, 68, 81 Cicero, Marcus Tullius 31, 64, 66– 67, 81, 92, 105, 119, 121 Claudianus, Claudius 32 Coleridge, Henry Nelson 192–193 Coleridge, Samuel Taylor 4, 6, 11, 185–187, 189–208 Collier, John Payne 202 Coulter, James A. 9, 11, 21–22 Cousin, Victor 238–239 Couvreur, Paul 241 Creuzer, Friedrich 52, 60, 88 Cudworth, Ralph 139–158, 188 Cumberland, Margaret Countess of 121 Cuozzo, Gianluca 92 Curtius, Ernst Robert 20 Cusanus, Nicolaus 28, 87, 92, 96– 97, 124

Damaskios 78, 149, 151 Dante, Alighieri 35, 215 David von Augsburg 28 Demokrit von Abdera 70, 141 Descartes, René, 78, 142, 163–164 Dewey, John 4 Diderot, Denis 164–173, 181–182 Dionysios Areopagita 11, 23–25, 27–30, 44–45, 47, 91, 98, 109, 124, 131, 150, 194–195 Dörrie, Heinrich 128 Doz, André 48 Dronke, Peter 27, 32–34, 37 Du Bellay, Joachim 236 Ebreo, Leone 64, 76, 81, 87, 90–91, 96–99, 101–103, 105–106, 108, 121 Eckhart (Meister E.) 28 Eigeldinger, Marc 174 Eliot, Thomas Stearns 117, 135– 136, 215 Elizabeth I. 119 Ellrodt, Robert 118, 121 Elyot, Sir Thomas 119, 122 Engell, James 189 Epikur 141 Eriugena s. Johannes Scotus Eriugena Euripides 143–144, 146, 148–149, 152–154 Falconet, Étienne-Maurice 168 Faral, Edmond 20 Ficino, Marsilio 4, 6, 64–65, 68, 81, 86–92, 94–104, 106–109, 120– 121, 130–131, 237 Flasch, Kurt 21 Foucault, Michel 234 Fowler, Alastair 199 Fowler, Rowena 215 Fracastoro, Girolamo 105 Fragonard, Jean-Honoré 170–171

Namenregister

Frauenlob s. Heinrich von Meißen Friedman, Norman 222 Friedrich, Hugo 232 Fry, Roger 221, 226 Fuhrmann, Manfred 21 Full, Bettina 242 Gaiser, Konrad 46 Galen 60–61 Gardner, Helen 136 Garin, Eugenio 96, 101 Gascoigne, George 122 Gemma, Cornelius 111 Genette, Gérard 233 Georgius Venetus, Franciscus 90, 102–105 Gersh, Stephen 11 Goethe, Johann Wolfgang von 27 Gorgias 64 Gosebruch, Martin 105 Gottfried von Straßburg 35–38 Gouhier, Henri 173 Gozze, Niccolò Vito di 96 Grayson, Cecil 93 Greenblatt, Stephen 119 Gregorius Tholosanus, Petrus 98, 104 Grimm, Friedrich Melchior 167– 168 Grimmelshausen, Hans Jakob Christoffel von 24 Grotius, Hugo 144 Gysi, Lydia 142 Haas, Alois M. 14 Hadot, Pierre 52 Halfwassen, Jens 8, 10–11, 22, 43– 44, 46–48, 50, 78, 124, 175, 206 Hallensleben, Barbara 9, 14 Halliwell, Stephen 4, 7 Hamilton, A. C. 118 Handke, Peter 234 Hardenberg, Friedrich von s. Novalis

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Harder, Richard 60, 124 Hartmann von Aue 38 Haug, Walter 3, 13, 28, 31, 35, 38, 154 Hedley, Douglas 203–204 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 48, 139, 141 Heininger, Jörg 4, 231 Heinrich von Meißen (Frauenlob) 35 Hempfer, Klaus W. 236 Henkel, Arthur 132 Henrich, Dieter 8, 49, 124 Henry, Paul 52 Hermeias 21, 241 Herodot 215 Hesiod 146 Hilduin, Abt v. St. Denis 25 Hirschberger, Johannes 20 Hobbes, Thomas 141–142 Hoby, Sir Thomas 119–120, 129 Hofmannsthal, Hugo von 234 Holtby, Winifred 215 Homer 24, 173, 215 Horn, Hans-Jürgen 88 Huber, Christoph 32, 35 Hugo von St. Viktor 30 Hugo, Victor 239 Hume, David 164 Husserl, Edmund 232 Hutton, Sarah 141, 153 Iser, Wolfgang 216 Isidor von Sevilla 31 Iulian Apostata 145 Ivánka, Endre von 23 Jaeger, C. Stephen 36–37 Jahraus, Oliver 139–140, 151 Jakobson, Roman 232, 238 Jamblich 21, 151, 163 Jauß, Hans Robert 32, 174, 209 Jean de Meung 35 Jeauneau, Edouard 31

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Namenregister

Jiménez, Juán Ramón 234 Johannes (Evangelist) 37 Johannes Andreas (J. A. Bussi) 92 Johannes de Garlandia 155 Johannes Sarracenus 28 Johannes Scotus Eriugena 9, 11–12, 25–30, 34, 36, 44, 54–55, 124 Johannes vom Kreuz (Juan de la Cruz) 136 Johannes von Salisbury 32, 38 Joyce, James 213 Juliane von Norwich 136 Kant, Immanuel 67, 187, 195 Karl (II.) der Kahle 25, 54 Keats, John 1, 3, 14 Kidson, Peter 29 Klein, Jakob 78 Klibansky, Raymond 20 Kliche, Dieter 4, 231 Klopsch, Paul 20 Knapp, Fritz Peter 31 Krämer, Hans J. 44, 46 Kratylos 234 Kritias 143–146, 148–149, 152–154 Krüger, Gerhard 44 Lamartine, Alphonse de 239 Landor, Walter Savage 193 Langer, Susanne 4 Le Roy, Loys 121 Lee, Vernon s. Paget, Violet Leinkauf, Thomas 6, 61, 64, 66, 69, 87, 98, 111 Leonardo da Vinci 93 Leukipp 141 Levinas, Emmanuel 14 Lewy, Hans 241 Lobsien, Eckhard 6, 9, 11, 186 Lobsien, Verena Olejniczak 4, 6, 8– 9, 119, 124 Locke, John 4, 164 Lomazzo, Paolo 81, 110–111 Lovejoy, Arthur O. 24

Lowrey, Charles E. 142 Lucilius Iunior 69 Lukrez 141 Ludwig (I.) der Fromme 25 Lyons, Brenda 215 Machado, Antonio 234 Macrobius, Ambrosius Aurelius Theodosius 31 Mallarmé, Stéphane 234, 238, 242 Maria Stuart 136 Marius Victorinus, Caius 20 Markschies, Christoph 29–30 Marmontel, Jean-François 165 Mason, Michael 188 McKeon, Richard P. 32 Meisel, Perry 215–216 Menand, Louis 215 Metscher, Thomas 86 Michael Bekkos 25 Michel, Paul 24, 94 Miles, Margaret R. 59 Milton, John 192, 199 Minnis, Alistair J. 20, 32 Molière 173 Montaigne, Michel de 105 Montale, Eugenio 234 Moog-Grünewald, Maria 5, 10, 169, 233–234, 238, 240, 242 Moos, Peter von 31–32 More, Sir Thomas 122 Mosheim, Johann Lorenz von 141– 142, 144 Mühlmann, Heiner 86, 92 Münchberg, Katharina 14 Naredi-Rainer, Paul 64 Nasemann, Beate 146 Nebes, Liane 86 Nelson, John C. 109 Neugebauer-Wölk, Monika 153 Nikolaus von Kues s. Cusanus, Nicolaus

Namenregister

Niphus, Augustinus (Nifo, Agostino) 86–87, 90, 93 Novalis 232, 238 Nussbaum, Martha 4 Ohly, Friedrich 24 Olk, Claudia 6 Olympiodor 21 Origenes 157 Paget, Violet (Vernon Lee) 4 Palladio, Andrea 65 Panofsky, Erwin 28, 55, 67, 86, 107 Parmenides 49 Passmore, John A. 140, 142, 147 Pater, Clara 215–216 Pater, Walter 4, 216, 226–227 Patrizi, Francesco 87, 111 Patz, Kristina 92–93, 105 Paulus (Apostel) 23, 25 Pausanias 170 Persio, Antonio 86 Petrarca, Francesco 121, 179, 235 Phidias 53 Phillips, Edward 122 Philo von Alexandreia (Philo Iudaeus) 150–151 Pico della Mirandola, Giovanni 61, 90, 119, 121 Platon 6, 9–10, 14, 19–21, 38, 43– 47, 49–53, 59–64, 66, 69, 71, 73, 75, 77–78, 80–82, 87, 89–90, 95– 96, 98–99, 101–105, 107–109, 118, 120, 131, 150, 163–170, 172– 173, 175–177, 181–182, 195, 213– 216, 224, 226–227, 233–234, 237, 239–241, 243 Plotin 4–11, 19–23, 31, 44, 46–54, 59–64, 66, 68–70, 74–76, 81, 88– 92, 95–101, 104, 106–108, 110, 118–121, 124, 128–129, 145, 150, 175, 177, 180, 195–196, 206, 215, 219–221, 224 Plutarch 151

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Pochat, Götz 240 Polyklet 61 Ponge, Francis 243 Porphyrios 102, 163 Proklos 9, 20–24, 27, 32, 35, 45, 78, 102, 124, 145, 147, 240–241, 243 Pseudo-Dionysios Areopagita s. Dionysios Areopagita Pythagoras 108 Quinn, David B. 118 Quintilian 122 Rabkin, Eric 214 Radcliffe, Lieut.-Col. Emilius C. Delme 132 Radke, Gyburg 9, 77, 80 Raleigh, Sir Walter 120 Rappe, Sara 8 Regen, Frank 52 Reudenbach, Bruno 29 Richard von St. Viktor 28 Ritter, Joachim 3 Ronsard, Pierre de 235–236 Rousseau, Jean-Jacques 173–182 Rufinus, Flavius 32 Rüfner, Vinzenz 31 Ruh, Kurt 23, 25 Ruskin, John 4 Sales, St. François de 193–195 Santayana, George 215 Scheer, Brigitte 4 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 53, 189 Schiller, Friedrich 67 Schlesier, Renate 10 Schmidt-Biggemann, Wilhelm 153 Schmitt, Arbogast 4, 10, 64, 66, 68, 77, 80–81, 214 Schöndorf, Hildegard 89 Schöne, Albrecht 132 Schwarz, Werner 35 Schwyzer, Hans-Rudolf 52

256

Namenregister

Scott, Alexander B. 20, 32 Seneca, Lucius Annaeus 68–71, 81 Shaftesbury, Anthony Earl of 4, 14, 166 Shakespeare, William 132, 185, 191–192, 199–200, 208, 214 Sheppard, Anne D. R. 21–22, 241 Sidney, Sir Philip 9, 119 Siegmann, Georg 52 Silver, Brenda 216 Simson, Otto von 28 Sokrates 62, 164, 216, 227–228, 234 Spalding, Frances 226 Speer, Andreas 29–30 Spenser, Edmund 8, 117–123, 126, 129, 132, 135–136 Spielmann, Heinz 65 Spinoza, Benedictus de 107, 142, 147 Staël, Mme de 239 Starobinski, Jean 178 Steurer, Rita Maria 190 Stevin, Simon 78 Stierle, Karlheinz 167 Stiglmayr, Joseph 45 Sturlese, Rita 108 Suchla, Beate 131, 194–195 Suger, Abt v. St. Denis 28–30 Sulzer, Johann Georg 192 Swedenborg, Emanuel 239–240 Tasso, Torquato 179 Tatarkiewicz, Wáadisáaw 19 Tauler, Johannes 28 Taylor, Jeremy 194 Telesio, Bernardino 86, 105 Theodosios (I.) der Große 32 Thierry von Chartres 77 Thomas von Aquin 70, 235 Thomas von Britannien (T. d’Angleterre) 35

Tomitano, Bernardino 236 Tornau, Christian 51 Tyard, Pontus de 236 Tynjanov, Jurij 6 Uehlein, Friedrich 55, 189 Ungaretti, Giusepp 234 Valéry, Paul 232–233, 237–238 Varty, Anne 216–217 Vasari, Giorgio 81 Vergauwen, Guido 9, 14 Vieta, Franciscus 78 Vitruvius Vaccus, Marcus 64, 81, 92 Wachinger, Burghart 31 Warburg, Aby 13 Warwick, Anne Countess of 121 Wehrli, Max 24 Wetherbee, Winthrop 150–151, 154, 157–158 Wiegmann, Hermann 21 Wilde, Carolyn 86, 93, 96 Wilde, Cornelia 132 Wilhelm von Conches 32 Wilhelm von Moerbeke 20 Wind, Edgar 13 Wolf, Gerhard 96 Wolfe, Linda 226 Wolfram von Eschenbach 38 Woolf, Virginia 213–217, 219, 223–224, 227 Wordsworth, William 188, 199 Wyatt, Jean 224 Yeats, William Butler 215 Young, Edward 188 Zeuch, Ulrike 64 Zima, Peter V. 139