Nehmt einander an: Der ökumenische Weg der Evangelischen Kirche im Rheinland zwischen dem Zweiten Vatikanischen Konzil und dem Reformationsjubiläum (1960–2017) [1 ed.] 9783788732745, 9783788730987


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Nehmt einander an: Der ökumenische Weg der Evangelischen Kirche im Rheinland zwischen dem Zweiten Vatikanischen Konzil und dem Reformationsjubiläum (1960–2017) [1 ed.]
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Hans-Georg Link / Barbara Rudolph (Hg.)

Nehmt einander an Der ökumenische Weg der Evangelischen Kirche im Rheinland zwischen dem Zweiten Vatikanischen Konzil und dem Refomationsjubiläum (1960–2017)

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-7887-3098-7 Weitere Angaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de  2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstr. 13, D-37073 Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Umschlaggestaltung: Andreas Sonnhüter, Niederkrüchten Umschlagabbildung: Ökumenischer Pilgerweg beim 96. Deutschen Katholikentag 2006 in Saarbrücken  KNA Satz: Dorothee Schönau, Wülfrath Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Göttingen

Inhalt

Vorwort .......................................................................................................................9 Präses Manfred Rekowski Grußwort ................................................................................................................... 13 Erzbischof Maria Kardinal Woelki Einführung Die Auswirkungen des Zweiten Vatikanischen Konzils auf die Evangelische Kirche im Rheinland ............................................................................................................. 17 Hans-Georg Link I. Publikate der 1960er Jahre I.1 I.2 I.3 I.3.1 I.3.2 I.3.3 I.4 I.4.1 I.4.2 I.5. I.6 I.7 I.7.1 I.7.2 1.8 I.9

Landessynode 1961 ........................................................................................ 83 Landessynode 1963 ........................................................................................ 88 Landessynode 1964 ........................................................................................ 94 Aus dem Bericht des Präses ............................................................................. 94 Zur Bitte des Papstes um Vergebung (Beschluss 1964/34) ............................... 97 Wort der Landessynode an die Gemeinden zur konfessionellen Lage (Beschluss 1964/35) ....................................................................................... 97 Landessynode 1965 ........................................................................................ 99 Aus dem Bericht des Präses ............................................................................. 99 Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland zum derzeitigen Gespräch zwischen den Konfessionen und Kommentar von Präses Beckmann ... 110 Landessynode 1966 ...................................................................................... 115 Landessynode 1967 ...................................................................................... 117 Landessynode 1968 ...................................................................................... 128 Aus dem Bericht des Präses ........................................................................... 128 Katholische Beobachter auf der Landessynode 1969....................................... 132 Berichte des Konfessionskundlichen Ausschusses (1961–1969) ...................... 133 Katholiken und Protestanten angesichts des Konzils ...................................... 137 Podiumsgespräch zwischen Lorenz Kardinal Jaeger und Präses Joachim Beckmann

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Inhalt

II Publikate der 1970er Jahre II.1 Landessynode 1970 ...................................................................................... 161 II.2 Vorbereitung auf die Landessynode 1973 ..................................................... 167 II.2.1 Wo steht die Ökumene heute? ..................................................................... 167 Reinhard Frieling II.2.2 Die Beziehungen der Evangelischen Kirche im Rheinland zur katholischen Kirche seit 1945 ....................................................................... 173 Arnold Nieland II.3 Landessynode 1973 ...................................................................................... 180 II.3.1 Erklärung der Landessynode über die Zusammenarbeit der evangelischen und katholischen Kirche, Beschluss Nr. 60 ................................................... 180 II.3.2 Erklärung zur Vergebungsbitte des Papstes (Beschluss 1973/61) .................... 182 II.3.3 Referat zum Hauptthema der Landessynode 1973 »Ökumene am Ort«.......... 182 Arnold Nieland II.3.4 Referat zum Hauptthema der Landessynode 1973 »Ökumene am Ort«.......... 187 Johannes Hüttenbügel (katholisch) II.4 Landessynode 1976 ...................................................................................... 195 II.4.1 Wort der Landessynode der Evangelischen Kirche im Rheinland 1976 an ihre Kirchenkreise und Gemeinden zum Gespräch und zur Zusammenarbeit mit den evangelischen Freikirchen ..................................... 195 II.4.2 Brief an die Freikirchen................................................................................ 197 II.4.3 Evangelische Freikirchen im Gespräch oder in Zusammenarbeit mit der Landeskirche ............................................................................................... 198 Pastor Weiss, Herrnhuter Brüdergemeine II.4.4 Evangelische Freikirchen im Gespräch oder in Zusammenarbeit mit der Landeskirche ............................................................................................... 205 Jürgen Schroer II.5 Landessynode 1978 ...................................................................................... 209 II.5.1 Partnerschaft mit orthodoxen Kirchen und Gemeinden (Beschluss 1978/36).... 209 II.5.2 Wort an die Synode ..................................................................................... 211 Bischof Augoustinos, Griechisch-Orthodoxe Kirche II.5.3 Wort an die Synode ..................................................................................... 216 Erzpriester Cilerdzic, Serbisch-Orthodoxe Kirche II.5.4 Partnerschaft mit orthodoxen Kirchen und Gemeinden (Einführung in die Vorlage) ......................................................................... 217 Gerhard Koslowsky III. Publikate der 1980er Jahre III.1 Landessynode 1985 ...................................................................................... 223 III.1.1 Taufe, Eucharistie und Amt (Beschluss) ........................................................ 223 III.1.2 Taufe, Eucharistie und Amt Stellungnahme zu den Konvergenzerklärungen der Kommission für Glaube und Kirchenverfassung des Ökumenischen Rates der Kirchen............ 223

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Inhalt

III.1.3 Einleitungsreferat zu den Konvergenzerklärungen der Kommission für Glaube und Kirchenverfassung des Ökumenischen Rates der Kirchen ............ 244 Enno Obendiek III.2 Brief zur Tauffrage, 1987 .............................................................................. 254 Präses Gerhard Brandt IV. Publikate der 1990er Jahre IV.1 Landessynode 1993 ...................................................................................... 259 IV.1.1 Erklärung der Landessynode 1993 der Evangelischen Kirche im Rheinland über das Verhältnis zur römisch-katholischen Kirche und zu anderen Kirchen (Beschluss 1993/91) ..................................................................................... 259 IV.1.2 »Ein Herr, ein Glaube, eine Taufe«. Zur ökumenischen Bedeutung der Taufe ... 265 IV.1.3 »Lehrverurteilungen – kirchentrennend« (Beschluss 1993/94 und Erklärung) .... 269 IV.2 Notwendigkeit und Möglichkeiten ökumenischer Zusammenarbeit am Ort (Handreichung Nr. 46, 1993) ....................................................................... 276 IV.3 Vereinbarung zwischen der Evangelischen Kirche im Rheinland und dem Erzbistum Köln sowie den Bistümern Aachen, Essen, Münster und Trier zur gegenseitigen Anerkennung der Taufe, 1996 ............................................ 306 IV.4 Beteiligung an der Heilig Rock Wallfahrt 1996 ............................................. 311 IV.4.1 Stellungnahme des Ausschusses für Innerdeutsche Ökumene und Catholica der Evangelischen Kirche im Rheinland zur Wallfahrt zum Heiligen Rock in Trier ......................................................................... 311 IV.4.2 Pilgerlied, Peter Beier ................................................................................... 313 IV.4.3 Pilgerlied (Auslegung), Barbara Rudolph ....................................................... 314 IV.4.4 Wort an die katholischen Gemeinden des Bistums Trier und die Gemeinden der Evangelischen Kirche im Rheinland ........................................................ 316 IV.4.5 Wo stehen wir heute in der katholisch-evangelischen Ökumene? Chance und Probleme .................................................................................. 318 Vortrag von Präses Peter Beier V. Publikate der 2000er Jahre V.1

V.2 V.3 V.3.1 V.3.2 V.3.3 V.3.4 V.4 V.4.1

Landessynode 2000 ...................................................................................... 333 Unterwegs zur Gemeinschaft des europäischen Protestantismus (Beschluss 16 und Erklärung) Wort zum 31. Oktober 2000 ........................................................................ 342 Landessynode 2001 ...................................................................................... 344 Beschluss zur Erklärung der EKD zu »Dominus Iesus« (Beschluss 2001/35) ... 344 Wort der Landessynode zur Ökumene: Stationen (Anlage 1 zum Beschluss) ... 346 Gemeindepartnerschaften am Ort (Anlage 2 zum Beschluss) .......................... 349 Ökumene – Zustand und Zukunft (Vortrag) ................................................. 353 Jörg Haustein Landessynode 2004 ...................................................................................... 368 Aus dem Bericht des Präses ........................................................................... 368

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Inhalt

V.4.2 Ordination, Dienste und Ämter nach evangelischem Verständnis (Beschluss 2004/10) ..................................................................................... 371 V.4.3 Darf die Kirche vom Mahl des Herrn ausschließen? (Beschluss 2004/34) ....... 395 V.5 Landessynode 2005 ...................................................................................... 413 V.6 Landessynode 2006 ...................................................................................... 415 V.7 Landessynode 2007 ...................................................................................... 418 V.8 Landessynode 2008 ...................................................................................... 425 VI. Publikate der 2010er Jahre VI.1 VI.2 VI.2.1 VI.2.2

VI.3 VI.4 VI.4.1 VI.4.2 VI.5 VI.5.1 VI.5.2

VI.6

Landessynode 2010 ...................................................................................... 431 Landessynode 2011 ...................................................................................... 434 Aus dem Bericht des Präses .......................................................................... 434 Die Heilig-Rock-Wallfahrt 2012 – eine ökumenische Herausforderung (Vortrag) ............................................... 435 Barbara Rudolph Landessynode 2012 ...................................................................................... 444 Landessynode 2013 ...................................................................................... 446 Aus dem Bericht des Präses .......................................................................... 446 Rückblick auf die Beteiligung der Evangelischen Kirche im Rheinland an der Wallfahrt in Trier .............................................................................. 448 Vorbereitungen auf das Reformationsjahr 2017 ............................................ 455 Einladung zum Reformationsjubiläum und auf einen gemeinsamen Weg zum Jahr 2017 ............................................................................................. 455 Christusfest. Ökumene der Profile – Ökumene der Gaben – Ökumene der Umkehr Überlegungen zur ökumenischen Dimension des Reformationsjubiläums 2017 ....................................................................... 457 Bericht der Ökumenischen Visite in der Evangelischen Kirche im Rheinland vom 11. bis 21. Juni 2015 ........................................................... 462

Nachwort ............................................................................................................... 478 Barbara Rudolph

Die Texte dieser Ausgabe sind im Wesentlichen unverändert vom Original übernommen, ausgenommen sind gelegentliche Korrekturen offensichtlicher Schreibfehler und eine sanfte Angleichung an die Rechtschreibreform. Aufgrund dessen gibt es mitunter unterschiedliche Schreibweisen für dieselbe Bezeichnung.

Vorwort Präses Manfred Rekowski

»2017 werden wir erstmals in der Geschichte der getrennten Kirchen die Erinnerung an den 500. Jahrestag der Reformation auch in ökumenischer Gemeinschaft feiern.« Dass heute die Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx, und der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Landesbischof Professor Dr. Heinrich Bedford-Strohm, diesen Satz gleichlautend formulieren, stellt nach Jahrhunderten der Abgrenzung dasselbe Ziel ökumenischer Weggemeinschaft unserer Kirchen deutlich vor Augen. Ökumenisches Denken und Handeln beinhaltet für die Kirche immer auch die Selbstvergewisserung und Selbstbefragung zu Positionen und Zielen im Vergleich mit denen der anderen christlichen Konfessionen. Ökumenisch Kirche sein bedeutet, Kirche in Bewegung zu sein, lernende Kirche zu sein. Einen Teil dieses Lernprozesses in der Evangelischen Kirche im Rheinland zeichnet diese von Dr. Hans-Georg Link und Oberkirchenrätin Barbara Rudolph zusammengestellte Dokumentation nach. Sie bezieht sich zwar vornehmlich auf die Beziehung zwischen der römisch-katholischen Kirche und der Evangelischen Kirche im Rheinland, beachtet allerdings in einigen Dokumenten auch, dass der ökumenische Weg der Evangelischen Kirche im Rheinland immer auch in achtsamer Partnerschaft mit den orthodoxen Kirchen und den Freikirchen gegangen wurde. Mein besonderer Dank gilt in dieser differenzierten Veröffentlichung dem Aspekt, dass nicht nur die großen Synodalbeschlüsse oder Ausarbeitungen anderer Gremien wiedergegeben wurden. Vielmehr zeigen gerade auch die kleinen Texte einzelner Autoren, wie lange und intensiv an Themen gearbeitet wurde, deren Vollzug heute als gängige Praxis wahrgenommen wird – etwa die gegenseitige Anerkennung der Taufe oder lebendige Ökumene vor Ort.

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Vorwort

Hans-Georg Links Einführung »Die Evangelische Kirche im Rheinland und das Zweite Vatikanische Konzil« ermöglicht eine systematische Zuordnung der nachfolgenden Dokumente in den kirchengeschichtlichen Kontext. Dieser Text verdeutlicht bereits die Konstanz, mit der in der Evangelischen Kirche im Rheinland die innerkatholische Diskussion wahrgenommen, gewürdigt und begleitet wurde. Einzelne Veröffentlichungen oder Vorträge verhehlen nicht die Enttäuschung auf evangelischer Seite darüber, dass der weitere Weg in der katholischen Kirche nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil bis in die jüngste Zeit nicht stetig auf Öffnung den anderen Konfessionen gegenüber ausgerichtet war. Solchen vermeintlichen Rückschritten in der Ökumene wurden, wie die Dokumente zeigen, differenzierende und gesprächsoffene Ausarbeitungen gegenübergestellt. Diese unbeirrten Impulse für eine ökumenische Gemeinschaft – häufig von Diskussionen und Beschlüssen unserer Landessynoden mitgetragen – ermöglichten den anhaltenden Dialog über theologische Grundsatzfragen oder die kirchliche Praxis in den Gemeinden vor Ort. Entsprechend dürfen die nachfolgenden Texte nicht jeweils isoliert betrachtet werden. Sie sind einerseits in den Kontext der Diskussion zu besonderen Themenstellungen in unserer evangelischen Kirche einzuordnen. Andererseits sind sie auch immer als Wahrnehmung und Weiterentwicklung der Diskussionen innerhalb der katholischen Kirche zu betrachten. Dann wird besonders deutlich, dass der Weg unserer Kirchen in den vergangenen Jahrzehnten stets ein ökumenischer war: Reformen in Liturgie und Gottesdienst, das Bemühen um eine zeit- und zugleich bibelgemäße Verkündigung, um das richtige Verständnis von Taufe und Abendmahl, aber auch die Gespräche über die divergierenden Vorstellungen vom Amts- und Kirchenverständnis oder den Umgang mit konfessionsverbindenden Ehen haben unsere Kirchen einander nähergebracht. Dieser Weg aufeinander zu muss auch in den jeweils eigenen Kirchen traditionsbegründete Vorurteile und andere Widerstände überwinden. Das bezeugen die zusammengestellten Dokumente beispielhaft an den Diskussionen um die Wallfahrten zum Heiligen Rock in Trier 1996 und 2012. Aber sie zeigen auch Lösungswege für anscheinend unüberwindbare ökumenische Problemstellungen auf: Zunächst geht es um die Vergewisserung und gemeinsame Bekräftigung »Christus ist als Grund der Kirche zu bezeugen«; sodann weist sorgsames Quellenstudium zu neuem Verständnis bei traditionsbelasteten Einstellungen; letztlich sind gemeinsam erarbeitete Vorschläge nachvollziehbarer zu vermitteln als einseitige Erklärungen. Was die sehr verdienstvolle Zusammenstellung der Texte nur ansatzweise vermitteln kann, was aber zum Verständnis des zurückgelegten ökumenischen Weges unsrer Kirchen ebenso wichtig ist, sind die Begegnungen, die den Geist der Dokumente erst lebendig werden lassen. Diese Begegnungen, die gemeinsame Feier von Gottesdiensten und kirchlichen Festen, der Austausch über Erkenntnisse und Erfahrungen sind stetig mehr und intensiver geworden – sowohl zwischen den Bischöfen und Präsides der Region als auch zwischen den kirchenleitenden Gremien und in der vielfältigen kirchlichen Praxis vor Ort. Ich bin daher besonders dankbar, dass diese Veröffentlichung zum ökumenischen Weg unserer Kirche auch eine Würdigung durch das Grußwort des Erzbischofs von Köln, Rainer Maria Kardinal Woelki, erfährt, der diese Begegnung sucht und zum gegenseitigen Wohle fördert. Die in dieser Dokumentation vorgelegten Texte aus den mehr als fünfzig zurückliegenden Jahren zeigen, dass durch beharrliche und vor allem vertrauensvolle Zusammenarbeit

Vorwort

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die Verbundenheit in ökumenischer Weggemeinschaft wächst. Ich bin überzeugt davon, dass die in der Vorbereitung des Reformationsjubiläums begonnenen theologischen Beratungen über die für unsere Kirchen bedeutenden Grundsatzfragen auch in Zukunft mit großer Intensität weiter betrieben werden – sowohl in unserer rheinischen Region als auch weit darüber hinaus. Vor diesem Hintergrund lässt sich feststellen: Aus dem Imperativ »Nehmt einander an« (Röm 15,7) ist in vielen Arbeitsfeldern unserer Kirchen bereits ein Perfekt geworden: »Wir haben einander angenommen!«

Präses Manfred Rekowski

Grußwort Erzbischof Rainer Maria Kardinal Woelki



Liebe Leserinnen und Leser, auf dem Weg zum bevorstehenden Reformationsjubiläum finden Sie in dieser Schrift wichtige ökumenische Stationen der Evangelischen Kirche im Rheinland markiert. Gerne bin ich bei Ihnen im Gedenken und Feiern dieses Ereignisses als ein Fest des Christusbekenntnisses. Gleich zu Beginn meiner Amtszeit als Erzbischof von Köln war es mir ein wichtiges Anliegen und eine große Freude, als ein Zeichen ökumenisch gewachsener und bewährter Verbundenheit den Gottesdienst am Reformationstag 2014 in der Kölner Trinitatiskirche mitzufeiern und beim anschließenden Empfang zugegen zu sein. Diese ökumenische Verbundenheit ist besonders in den letzten fünf Jahrzehnten gewachsen und gestärkt worden. Davon geben die in diesem Buch vorgelegten Dokumente beeindruckend Zeugnis. Als evangelische und katholische Christinnen und Christen haben wir in gemeinsamer ökumenischer Gefährtenschaft von- und miteinander gelernt und Wege zueinander gefunden. Für die katholische Kirche hat das Zweite Vatikanische Konzil besonders mit dem Ökumenismusdekret »Unitatis redintegratio« den Weg von einem jahrhundertelangen Gegeneinander zu einem aufrichtigen Miteinander gewiesen. Möglich wurde dieses Umdenken durch die Besinnung auf das Evangelium Jesu Christi als die für alle Christinnen und Christen verbindende Orientierung. Es stimmt, was Martin Luther 1517 in seiner 62. These zum Ausdruck gebracht hat: »Der wahre Schatz der Kirche ist das allerheiligste Evangelium von der Herrlichkeit und Gnade Gottes.« (WA 1,236) Präses Nikolaus Schneider hat 2011 bei seiner Begegnung mit Papst Benedikt XVI. im Erfurter Augustinerkloster gesagt, dass die Reformatoren die »Reformation als Umkehr ∗

 bilder-erzbistum-koeln.de.

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Grußwort

der Kirche zu Christus« verstanden haben. Diese Reformation der Umkehr zu Christus ist die bleibende Aufgabe, zu der uns das Evangelium anspornt. »Es gibt keinen echten Ökumenismus ohne innere Bekehrung.« (Unitatis redintegratio n. 6) So war es auf diesem Weg folgerichtig, dass 1996 eine Vereinbarung zwischen der Evangelischen Kirche im Rheinland und dem Erzbistum Köln sowie den Bistümern Aachen, Essen, Münster und Trier zur gegenseitigen Anerkennung der Taufe getroffen wurde, denn – so heißt es in der Vereinbarung: »Die Taufe gliedert den Getauften in den Christusleib, die Kirche, ein.« Dieser regionalen Taufanerkennung folgte im Jahr 2007 die im Magdeburger Dom von elf Kirchen der ACK unterzeichnete Taufanerkennung. Diese gegenseitige offizielle Anerkennung der Taufe »geht weit über einen ökumenischen Höflichkeitsakt hinaus und stellt eine ekklesiologische Grundaussage dar.« (Ut unum sint n. 42) Noch sind längst nicht alle theologischen Fragen der Ökumene geklärt, theologisches Nachdenken bleibt weiterhin gefordert. Ökumene – soll sie tragfähig sein – bedarf eines langen Atems wie auch einer heilsamen Ungeduld, in der das Leiden an der Spaltung sich bisweilen ausdrückt. Ökumene darf allerdings nicht allein den Fachtheologinnen und Fachtheologen vorbehalten bleiben, vielmehr wächst sie von unten, aus den lebendigen Beziehungen und Freundschaften der Christinnen und Christen unterschiedlicher Konfessionen vor Ort. Diese lebendigen Beziehungen, wie sie beispielsweise in den in erfreulicher Häufigkeit und Intensität anzutreffenden Gemeindepartnerschaften einen Ausdruck finden, zu stärken, ist mir ein wichtiges Anliegen. Das Hören auf das Wort Gottes und die Lebensgestaltung in Christus – zwei wichtige reformatorische Anliegen – bilden die Basis. Nicht vergessen werden darf, dass jedes ökumenische Bemühen des Gebetes und der Begegnung im Gebet bedarf. Ich bin dankbar, dass wir bereits seit vielen Jahren zwischen dem Erzbistum Köln und der Evangelischen Kirche im Rheinland pflegen, was das Konzil »geistlicher Ökumenismus« genannt hat (Unitatis redintegratio n. 8). Jährlich kommen wir zu Beginn des Kirchenjahres und in der Passionszeit zusammen, um Gott zu danken, ihn zu preisen, sein Wort zu hören und um den Beistand seines Geistes zu bitten. Ohne diese gemeinsame geistliche Ökumene bleiben unsere Konferenzen, Papiere und Seminare kraftlos. Ich bin zuversichtlich, mit der Evangelischen Kirche im Rheinland weiterhin gut in ökumenischer Verbundenheit unterwegs sein zu können. Das Christuszeugnis, das wir als Kirche unserer Gesellschaft schuldig sind, werden wir in Wort und Tat gemeinsam geben. Letztlich geht es dabei um die Frage nach Gott. Wenn wir als Christen hier stumm bleiben, werden wir im Dialog der Religionen kaum bestehen können. Die in diesem Band veröffentlichten Dokumente beweisen, dass Bedeutsames auf dem Weg zu- und miteinander erreicht wurde, und machen Mut, uns gegenseitig zu stützen, unverzagt nach vorne zu blicken und den Rat des Apostels Paulus zu beherzigen »Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat zu Gottes Lob.« (Röm 15,7)

Erzbischof Rainer Maria Kardinal Woelki

Einführung

Die Auswirkungen des Zweiten Vatikanischen Konzils auf die Evangelische Kirche im Rheinland∗ Hans-Georg Link Dem Andenken an Professor D. Dr. Joachim Beckmann, Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland von 1957 bis 1971

Vorbemerkungen Der Evangelischen Kirche im Rheinland (EKiR) ist seit ihren Anfängen im 16. Jahrhundert geographisch und geschichtlich der Weg einer Diasporakirche vorgezeichnet. Geographisch teilt sie sich ihr Gebiet zwischen Emmerich und Saarbrücken, Aachen und Wetzlar mit insgesamt sieben Bistümern der römisch-katholischen Kirche (Aachen, Essen, Köln, Limburg, Mainz, Münster, Trier), auf deren Gebieten sie unterschiedlich stark, aber nirgendwo mehrheitlich vertreten ist. Historisch verbinden die Christen im Rheinland zwar seit der Zeit Konstantins im 4. Jahrhundert eine mehr als tausendjährige gemeinsame Geschichte, aber von der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts waren die Beziehungen zwischen evangelischer und katholischer Kirche im Rheinland durch vielfältige Spannungen, Feindschaft bis hin zu Unterdrückung geprägt; im besten Fall kam es zu einem friedlichen Nebeneinander. Umso einschneidender zeigt sich die Veränderung in den Beziehungen beider Kirchen zueinander, die durch das Zweite Vatikanische Konzil in Gang gesetzt worden ist. Weil die EKiR von Anfang an mit der römisch-katholischen Kirche in einer Art Schicksalsgemeinschaft verbunden war und ist, wirken jedoch die vier Jahrhunderte des Gegeneinander bei ihr bis heute nach, während erst seit gut vier Jahrzehnten die Chancen des Zueinander mit besonderer Intensität ausgelotet werden. So ist es ein zugleich äußerst wichtiges, interessantes und vielschichtiges Unternehmen, die Auswirkungen des Konzils auf die EKiR zu untersuchen. Um keine falsche, weil einseitige Perspektive aufkommen zu lassen, sei von vornherein darauf aufmerksam gemacht, dass das Verhältnis zur römisch-katholischen Kirche zwar die wichtigste ökumenische Beziehung der EKiR darstellt, aber keineswegs ihre einzige. Seit deren Gründung gehört die EKiR dem Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK, 1948) an, der Konferenz Europäischer Kirchen (KEK, 1959) und der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE, früher: Leuenberger Kirchengemeinschaft, Zuerst veröffentlicht in: Konzil und Bistum. Das II. Vatikanische Konzil und seine Wirkung im Bistum Aachen und bei den Nachbarn. Festgabe für Bischof Heinrich Mussinghoff zur Vollendung des 70. Lebensjahres, hg. v. Karl Borsch und Johannes Bündgens, Einhard-Verlag Aachen 2010, 377–421; Hans-Georg Link, Das Zweite Vatikanische Konzil und die Evangelische Kirche im Rheinland, in: Kirchliche Zeitgeschichte, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2012, Bd. 25, 418–460.



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Einführung

1973). Sie hat sich an Vollversammlungen des Ökumenischen Rates, am Lima-Prozess zu Taufe, Eucharistie und Amt sowie besonders am konziliaren Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung intensiv beteiligt. Hinzu kommen bilaterale Beziehungen auf ihrem Territorium zu Freikirchen und in jüngster Zeit verstärkt zu orthodoxen Kirchen. Letztlich muss auch noch die umfassende Umkehrbewegung der rheinischen Kirche zum Judentum erwähnt werden, die bis zum Pogrom von 1938 zurückreicht. Gerade weil von jenen anderen ökumenischen Beziehungen im Rahmen dieser Abhandlung kaum die Rede sein kann, ist es umso wichtiger, bei der Erörterung der besonderen Beziehungen der rheinischen zur katholischen Kirche ihre übrigen ökumenischen Bindungen nicht zu vergessen. Denn nur so kann man es richtig einordnen, dass sich die rheinische Kirche zwischen 1973 und 1993 zwanzig Jahre lang zwar nicht von ihrer katholischen Schwesterkirche abgewendet, wohl aber schwerpunktmäßig anderen ökumenischen Themen und Aufgaben zugewendet hat, von denen hier nicht ausführlich berichtet werden kann. Als Quellen für die Bearbeitung der evangelisch/katholischen Beziehungen im Rheinland vor, während und nach dem Konzil kommen zunächst die jährlichen Präsesberichte vor der Landessynode in Betracht sowie deren entsprechende Beschlüsse. Sie sind zusammen mit Vorträgen und Bibelarbeiten zum Teil in hoher Auflage veröffentlicht, jedoch nicht im Buchhandel erhältlich, sondern über die Präsidialkanzlei des Landeskirchenamtes. Zu wichtigen Themen und Anlässen gibt es Handreichungen, Arbeitshilfen und Sonderdrucke, die in der Regel von der Kirchenleitung herausgegeben werden und über die Pressestelle der EKiR zu bekommen sind. Protokolle und Ausarbeitungen des Ausschusses für Konfessionskundliche und Catholica-Fragen, später auch des Theologischen Ausschusses sind entweder über die Bibliothek bzw. das Archiv der EKiR zugänglich oder über die entsprechenden Abteilungen des Landeskirchenamtes.

I. Öffnungen und Spannungen zwischen den Konfessionen vor dem Konzil 1.

Anfänge in den 30er Jahren

Fragt man nach den Wurzeln im 20. Jahrhundert, die das in den vorhergehenden Jahrhunderten festgefahrene Verhältnis zwischen evangelischer und katholischer Kirche aufgelockert haben, dann stößt man auf Ereignisse, die bis in die nationalsozialistische Zeit zurückreichen. In der Auseinandersetzung mit juden-, christen- und menschenfeindlichen Ideologien sowie mit Praktiken der damaligen Machthaber und ihrer millionenfachen Anhänger fanden Angehörige verschiedener christlicher Kirchen zueinander. Arnold Nieland, der Beauftragte für konfessionskundliche Fragen in der Evangelischen Kirche im Rheinland während der 60er Jahre, beschreibt die Situation im sog. Dritten Reich folgendermaßen: »Im Kampf gegen den gemeinsamen Gegner kam man sich näher und lernte sich kennen und schätzen – bis hin zur Zweisamkeit in Gefängniszellen und KZs. In den Grenzsituationen des Lebens wurde deutlich, dass es eine Gemeinsamkeit im Glauben an den Herrn gibt, die von den Menschen gesetzte konfessionelle Grenzpfähle hinter sich lässt. Man begann, langsam und vorsichtig, besorgt um die Zustimmung der

Einführung

19

Gemeindeglieder, das Gemeinsame stärker zu betonen als das Trennende. Gegenseitige Vertretung von Pfarrern im Kriege – bei den Kriegspfarrern draußen eine Selbstverständlichkeit – wurde auch zu Hause etwa bei Amtshandlungen praktiziert, wo durch Einberufung und Tod eine nicht zu schließende Lücke entstand ... Tief verwurzelte Gegnerschaft und Unkenntnis wurden aufgelockert, als lange Jahre hindurch Soldaten evangelischer Konfession im katholischen Rheinland einquartiert waren, wie sie im Felde zusammen standen, ohne die Trennung der Konfessionen als entscheidendes Hindernis zu erkennen.«1 Die ersten Begegnungen des Kölner Stadtdechanten Robert Grosche mit der Theologie Karl Barths und evangelischen Christen gehen ebenfalls in die 30er und 40er Jahre zurück. Bereits im Januar 1945, als es für die meisten Menschen nur noch um die Frage des nackten Überlebens ging, machte sich Grosche Gedanken »über die psychologischen Voraussetzungen der Wiedervereinigung: Abbau der Missverständnisse, Überwindung des Hochmuts, ehrliche Anerkennung der bei den anderen vorhandenen Werte, Eingeständnis des durch die Kirchenspaltung bei uns selbst eingetretenen Verlustes an natürlicher Substanz«.2 Nach dem Ende des Krieges gründete Stadtdechant Grosche zusammen mit dem Kölner evangelischen Superintendenten Hans Encke im Januar 1946 einen »ökumenischen Arbeitskreis«, »in dem Theologen beider Konfessionen ... zu einem theologischen Gespräch zusammenfinden sollen ... (Wir) haben ... uns geeinigt, den 1. Korintherbrief gemeinsam zu lesen.«3 Diese ersten ökumenischen Gespräche über der aufgeschlagenen Bibel (im Urtext!) haben das ökumenische Klima in Köln jahrzehntelang positiv beeinflusst.4 Als dritte Wurzel erwähne ich die Vertreibung von Millionen Menschen aus den damaligen deutschen Ostgebieten, die mit dem Kriegsende 1945 einsetzte und Auswirkungen bis in das Rheinland zeitigte. Denn nun wurden Tausende meist evangelische Heimatvertriebene ins katholische Rheinland »verschlagen«, wo demzufolge zahlreiche neue evangelische Diasporagemeinden entstanden. »Die katholischen Christen erlebten – oft erstmalig – in ihrer nächsten Nachbarschaft, dass man als Christ evangelisch leben und sterben konnte. Dies ließ das Fragen nach der anderen Konfession in ihrem echten Bekennen deutlich vernehmen.«5

1 Die Beziehung der Evangelischen Kirche im Rheinland (EKiR) zur Katholischen Kirche seit 1945, in: Handreichung (der EKiR) Nr. 27 (zit.: H 27), 1972, 12f. 2 Kölner Tagebuch 1944 bis 1946, Köln 1992, 96f. 3 Zit. in: H.-G. Link (Hg.), Kölner Ökumenisches Bibelgespräch. 60 Jahre Robert Grosche Kreis 1946 bis 2006, Kölner Ökumenische Beiträge (zit.: KÖB) 52, Köln, Januar 2006, 15. 4 Dieser älteste ökumenische Gesprächskreis seit 1946 existiert bis zum heutigen Tage und trifft sich zu ökumenischen Bibelgesprächen unter meiner Leitung an jedem zweiten Mittwoch im Monat (10.00 Uhr bis 12.30 Uhr) seit kurzer Zeit wieder genau in demselben Haus: Marzellenstraße 26, in dem er 1946 gegründet worden ist und in dem heute die Erzbischöfliche Bibel- und Liturgie-Schule untergebracht ist. 5 A. Nieland, H 27,14.

20 2.

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Stagnation und Spannungen in den 50er Jahren

In den ersten Nachkriegsjahren wurde aus den positiven Erfahrungen während der Kriegszeit kein großes Kapital geschlagen, um die Beziehungen zwischen evangelischer und katholischer Kirche weiter in eine freundliche oder gar freundschaftliche Richtung zu entwickeln. Beide großen Konfessionen waren mit sich selbst beschäftigt: mit ihrem inneren und äußeren Wiederaufbau. Wenn unumgänglich, öffnete man das eigene Kirchengebäude für die andere Konfession und versuchte sogar erste Schritte zu einer gemeinsamen Sozialarbeit. Aber im Vordergrund stand unbedingt die neue Positionierung der eigenen Kirche und Gemeinde; man wollte »keine Grenzsteine verrücken«. Wenn überhaupt, dann nahm man auf evangelischer Seite die sich im Genfer Ökumenischen Rat der Kirchen zusammenschließende weltweite Gemeinschaft von nicht-katholischen Kirchen zur Kenntnis, die zu ihren ersten Versammlungen 1948 vor der rheinischen Tür in Amsterdam und 1954 im amerikanischen Evanston bei Chicago zusammenkamen. Nieland fasst die ersten zehn Nachkriegsjahre so zusammen: »Es ist verwunderlich, wie wenig man dabei an die Ökumene zu Hause gedacht hat ... Solange sie zusammengeprügelt wurden, suchten die Kirchen Halt aneinander. Als die Sonne wirtschaftlicher Erholung lachte, als der staatliche Druck abgelöst wurde vom Wohlwollen der Mächtigen, suchten beide Kirchen ihre eigene Position zu festigen und auszubauen ... Über die ökumenische Fernstenliebe, die nach der erzwungenen Abstinenz davon seit 1933 so verständlich war, vergaßen wir die Liebe zum Christenbruder am Ort, der ein anderes Gesangbuch hatte. Die zehn Nachkriegsjahre waren ein Zeitraum großartigen und erstaunlichen kirchlichen Wiederaufbaus – aber im Blick auf die Zusammenarbeit der beiden großen Kirchen in ihren leitenden Organen und Personen auf allen Ebenen betrübliche Jahre der Stagnation, gar des Rückschrittes gegenüber 1935–1945.«6 Hinzu kamen religiöse und theologische Entfremdungen. Am 1. November 1950 hatte Papst Pius XII. das – unfehlbare! – Dogma von der leibhaftigen Aufnahme Mariens in den Himmel verkündet. Im Namen der deutschen Bischofskonferenz wurde 1954 in Fulda das gesamte deutsche Volk dem unbefleckten Herzen Mariens geweiht. Diese öffentliche Weiterentwicklung von Mariologie und Marienfrömmigkeit durch den Papst für die katholische Weltkirche sowie durch die deutsche Bischofskonferenz für das gesamte Volk rief nicht nur bei den Protestanten im Rheinland einen Sturm theologischer und emotionaler Entrüstung hervor. Exemplarisch für die religiös aufgeladene Stimmung in evangelischen Kreisen gegenüber einer solchen katholischen »Anmaßung« zitiere ich aus einer Predigt des Essener Superintendenten Immanuel Pack, die er am Reformationstag 1954 zu Johannes 14,6 unter der Überschrift »Solus Christus, sola scriptura, sola gratia« gehalten hat: »Wir haben am Reformationsfest dieses Jahr allerlei Veranlassung, ›Protestanten‹ zu sein ... Wir protestieren, weil wir die katholischen Brüder im Irrglauben sehen, weil wir ihren Eifer als einen Eifer zum Bösen erkennen ... Dieses Reformationsfest im Schatten des marianischen Jahres (kann) Befreiung, Lösung und Segnung bedeuten ... Die katholische Kirche redet ganz offiziell in den Lehrbüchern von der Teilnahme Marias an dem Erlösungswerk Jesu Christi ... Aus dem Christus und Maria, wird Maria und 6

H. 27, 1972, 13f. Ähnliche Erfahrungen haben die evangelische und katholische Kirche auf dem Boden der ehemaligen DDR und der friedlichen Revolution von 1989 miteinander gemacht.

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Christus und das Solus Christus ist völlig verloren. Maria rettet das Abendland. Maria vermittelt das Heil der Welt. Maria ist die Hoffnung der Una Sancta ... Ist Maria der Typus der Kirche, dann wird mit der Verherrlichung Marias auch die Kirche verherrlicht ... Der Anspruch auf Weltherrschaft hat hier seine Wurzeln. Sie ist ecclesia thriumphans und nicht ecclesia crucis ... Beim Mariendogma von 1950 handelt die Kirche auch ohne Zeugnis der Schrift und ohne Bestätigung durch Tradition, weil sie ja der lebendige Christus ist ... Der Satz der katholischen Kirche: ›Die Wahrheit ist beim unfehlbaren päpstlichen Lehramt‹, hat die (Heilige) Schrift gegen sich. Er ist darum für uns eine unerträgliche Anmaßung ... Nach katholischer Lehre gilt der Satz: »Christus kommt nur zu den Reinen« ... Das ist der Beweggrund für alle Werkgerechtigkeit ... Nach der Lehre der Schrift und der evangelischen Kirche gilt der Satz: »Christus kommt zum Sünder, zum wirklichen Sünder. Sola gratia. Das ist frohe Botschaft. Das ist der Weg zum Leben.«7 Diese Predigt enthält auch konziliantere Passagen gegenüber dem Katholizismus, aber sie hat 1954 ihr Pathos in der abgrenzenden Auseinandersetzung: Wir sind aus gutem Grund Protestanten und wollen keine Katholiken sein. Zu den theologischen Entfremdungen traten in der zweiten Hälfte der 50er Jahre handfeste kirchen- und kulturpolitische Spannungen. Sie entsprangen einerseits einem in der Restaurationszeit der Bundesrepublik wieder erstarkten Konfessionalismus, andererseits einem daraus sich entwickelnden Konkurrenzkampf der großen Kirchen um einen größtmöglichen politischen Einfluss in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit. Es begann mit der Errichtung des Bistums Essen am 1. Januar 1958 und der Besetzung des neuen Bischofsstuhls mit dem gleichermaßen kompetent, öffentlichkeitswirksam und charmant auftretenden Dr. Franz Hengsbach, der es 30 Jahre später sogar zu Kardinalswürden brachte. Auf evangelischer Seite rief diese katholische Maßnahme eine gewisse Beunruhigung hervor, um nicht zu sagen Beängstigung vor katholischer Dominanz in der Öffentlichkeit. Der damalige rheinische Präses Joachim Beckmann kommentierte das Ereignis in seinem Bericht vor der Landessynode 1959: »Die Entstehung dieses Bistums hat vor allen Dingen im Bereiche der Essener evangelischen Gemeinden einige Beunruhigungen hervorgerufen, da dies Bistum sich besonders durch eine starke Publizistik hervortat. Es ist dann ja so gekommen, dass in der Presse im Allgemeinen von dem ›Ruhrbistum‹ gesprochen wurde, von dem ›Ruhrbischof‹, als ob es nur ein katholisches Land gäbe, das ›die Ruhr‹ hieße, in dem es eben nur einen Ruhrbischof geben kann.«8 Hinzu kam ein Konflikt um das Simultaneum Altenberger Dom bei Köln. Es gab Bestrebungen von Seiten des Kölner Erzbistums, in der bis 1803 existierenden ehemaligen Zistenzienser-Abtei erneut Angehörige des nach wie vor lebendigen Zistenzienser-Ordens anzusiedeln. Das wurde von der rheinischen Landessynode 1958 als Kampfansage und »Gefährdung des konfessionellen Friedens« verstanden. Die evangelischen Ängste gingen so weit, dass ein historisches und juristisches Gutachten zum Simultaneum Altenberg in 7

In: Höre und gehorche. Predigten, Essen 1954, 141–147 passim. Als Schüler habe ich diese Predigt gehört; ihr Pathos in der Auseinandersetzung mit dem Katholizismus ist mir bis heute in lebendiger Erinnerung. 8 In: Verhandlungen der 8. ordentlichen rheinischen Landessynode, Mülheim/Ruhr 1959 (zit.: LS 1959), 63.

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Auftrag gegeben wurde. Darin steht zu lesen: »Durch allerhöchste (preußische) Kabinettsordre vom 16. August 1834 wurden ... weitere 13.800 Reichstaler (von König Friedrich Wilhelm III.) bewilligt unter der Bedingung, dass die Kirche zum Simultangebrauch auch für das Bedürfnis der in der Umgebung wohnenden Evangelischen gewidmet werde ... Das Verhältnis katholische Kirche/evangelische Kirche ist in den Jahren 1857 bis hinein in die 50er Jahre des 20. Jahrhunderts geprägt durch einen permanenten Kleinkrieg, bei dem die katholische Kirche immer wieder versuchte, ihr eigenes Nutzungsrecht peu à peu auszubauen ... Nachdem hierüber jahrelang ein nicht unerheblicher Streit geherrscht hat, weil die evangelische Kirche zu Recht darin die Anmaßung eines Hausrechts durch die katholische Kirche sah, ist dieser Streit, so scheint es nach Aktenlage, nunmehr im Sinne der alten Regelung beigelegt.«9 Auf dem Hintergrund dieser und anderer Entwicklungen konnte Präses Beckmann vor der Landessynode 1959 feststellen, »dass die Sorgen der letzten Synode, die Zistenzienser möchten nach Altenberg zurückkehren, sich als unbegründet erwiesen haben«. Allerdings sprach er auch noch von »einigen Streitfragen in der Benutzung des Kirchengebäudes« und regte eine Verständigung darüber an, »um dadurch unnötige Reibungsflächen zu entfernen«.10 Ebenfalls gehört in diesen Zusammenhang die kulturpolitische Auseinandersetzung um die Besetzung des Intendantenpostens beim WDR. Beckmann spricht hier davon, dass »die Besorgnis sehr stark gewachsen (ist), dass eine steigende katholische Vorherrschaft in unseren Ländern sich anbahne ... Es ist doch außer aller Frage, dass stärker noch als vor drei oder vier Jahren diese Beunruhigung unter den evangelischen Christen in unseren Ländern gewachsen ist. Darum glaube ich, dass wir etwas tun müssen.« Er berichtet dann von einem Gespräch mit dem nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Franz Meyers, in dem er die Position vertreten habe, »dass es nicht gut ist ... eine konfessionelle Personal- und Kulturpolitik zu treiben ... Vor einem solchen Versuch, der von vielen Protestanten als der Weg einer Bemühung zu einer Rekatholisierung Deutschlands angesehen wird, (kann) nur gewarnt werden ... Wir möchten ein offenes, ehrliches, brüderliches Miteinander ohne den Gedanken einer Vorherrschaft ... Wir werden nur miteinander als Christen die auf uns zukommenden Kämpfe bestehen oder miteinander untergehen.«11 Diese Auseinandersetzung zeigt nicht nur, wie weit in den 50er Jahren das konfessionalistische Denken in den gesellschaftspolitischen Raum vorgedrungen war, sondern belegt auch das psychologisch nicht zu unterschätzende Unterlegenheitsgefühl, unter dem evangelische Christen im katholischen Rheinland litten und teilweise noch heute leiden. Ein weiterer Beleg dafür ist der »Zeitschriftenbeobachtungsdienst« (!) der örtlichen katholischen Zeitungen, der seit 1960 nicht nur Informationen über katholische Themen lieferte, sondern eben auch »beobachtete«, was sich sonst noch im katholischen Raum tat.12 9

Vermerk: Simultaneum Altenberger Dom, Archiv der EKiR OA 6/44, o.J., MS S. 3,16f. LS 1959, 8. 11 LS 1961, 62f.; vgl. auch 81: das Votum des Kölner Superintendenten Hans Encke. Bis 1961 war Hanns Hartmann Intendant des WDR, dann folgte ihm Klaus von Bismarck. 12 Bericht des Konfessionskundlichen Ausschusses, in: Berichte über die verschiedenen kirchlichen Arbeitsgebiete, 1961 (zit.: KA 1961), MS S. 27. 10

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Die katholische Tendenz zur »Belehrung der Völker, zur Klerikalisierung der Welt, sogar zu einer falschen Weltherrschaft der Kirche« sah Beckmann auch noch in der Sozialenzyklika von Papst Johannes XXIII. »Mater et Magistra« aus dem Jahr 1961 wirksam.13 Schließlich muss das Thema »Mischehe« genannt werden. Denn es war der Bereich, in dem die betroffenen Christen beider Konfessionen die Spannungen zwischen den Lagern am intensivsten und nachhaltigsten zu spüren bekamen. Wie stark die »Mischehenfrage«, wie man sich damals ausdrückte, das Klima in den Konfessionen beherrschte, geht aus öffentlichen Erklärungen hervor, die beide Seiten zu Beginn des Jahres 1958 von den Kanzeln verlesen und in der Presse verbreiten ließen. »Das bleibend ungelöste Problem der Mischehe, vor allem in der Folge der Verschärfung der römisch-katholischen Stellungnahme in neuerer Zeit, hat zur Folge, dass sich unsere Pfarrerkonferenzen und Kreissynoden immer wieder damit zu befassen haben.« Auf katholischer Seite wird es in den entsprechenden Gremien nicht anders gewesen sein. Präses Beckmann bezeichnete das Mischehenproblem als den »Punkt, der leider unser Verhältnis zur römisch-katholischen Kirche dauernd belastet«14. 3.

Vorsichtige Öffnungen vor dem Konzil

Es gehört zu den Auswirkungen der millionenfachen Bevölkerungsverschiebung von Ost nach West infolge des verlorenen Zweiten Weltkrieges, dass im damals fast ausschließlich katholischen Rheinland Angehörige der beiden Konfessionen langsam, aber sicher ihre Berührungsängste voreinander überwanden. Die in den 50er Jahren sprunghaft ansteigende Zahl von Eheschließungen zwischen Mitgliedern beider verschiedener Bekenntnisse trug nicht unerheblich zu dieser Entwicklung bei. Neue evangelische Kirchengemeinden, deren Mitglieder größtenteils Flüchtlinge aus den deutschen Ostgebieten waren, entstanden sowohl in den Städten als auch auf dem Lande. So kam es durch Taufen von Kleinkindern, Konfirmation bzw. Firmung von Heranwachsenden, kirchliche Trauungen und Bestattungen zu ersten Begegnungen zwischen Freunden, Freundinnen, Paaren, Familien und schließlich ganzen Gruppen, die verschiedenen Ortsgemeinden und Kirchen zugehörten. Persönliche Kontakte zwischen Pfarrern und Priestern am Ort begannen zu wachsen, später auch zwischen Superintendenten und Dechanten bis hin zu Personen im kirchenleitenden Dienst. Diese Entwicklung vollzog sich – wie meistens – von unten nach oben. Begegnungen auf der alltäglichen Ebene von Geschäften, Schulen und Berufen einerseits sowie die notvolle Lage konfessionsverschiedener Familien andererseits weckten das Interesse an konfessionskundlichen Fragen. Vorträge zu entsprechenden Themen stießen auf derart große Nachfrage, dass der Bericht des Konfessionskundlichen Ausschusses 1961 erstaunt vermerkt: »Die von Pfarrer Jongen geleitete Mischehenarbeit hat sich – vor allem durch zahlreiche Vortragsanforderungen – so sehr ausgeweitet, dass der Ausschuss nach Wegen sucht, Pfarrer Jongen möglichst ganz für diese Arbeit freistellen zu lassen.«15 Wo es – meist in Städten – möglich war, richtete man erste Gemeindeseminare zu kon13 14 15

Präses-Bericht 1963, in: LS 1963, 104. LS 1959, 8. KA 1961, S. 27.

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fessionskundlichen Fragen ein, an manchen Orten wie z. B. Düsseldorf sogar ökumenische Wochen, die »großen Zuspruch« fanden. Auf einer dieser Vortragsveranstaltungen fiel der programmatische Satz von Präses Beckmann: »Wir müssen aus dem Zustand der Koexistenz (seit 1648) und dem der Kooperation heute zur Kommunion kommen.«16 Die jährliche ökumenische Gebetswoche für die Einheit der Christen wurde 1908 von dem anglikanischen Theologen Paul Wattson ins Leben gerufen. Der Weltgebetstag der Frauen am ersten Freitag im März – heute: »Frauen aller Konfessionen laden ein« – geht sogar auf Initiativen im späten 19. Jahrhundert zurück. Aber im Rheinland gewannen beide erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts an Boden. Zu Beginn der 60er Jahre fing man an, gemeinsame geistliche Veranstaltungen zu planen und durchzuführen. Kurze Zeit später nahmen diese spirituellen Begegnungen einen sprunghaften Aufschwung, aber ihr Beginn gestaltete sich zaghaft und mühsam. Auch innerhalb der Evangelischen Kirche im Rheinland begann das Eis allmählich zu schmelzen. Um mit dem katholischen Gegenüber besser bekannt zu werden, beriefen die Synoden der über 40 rheinischen Kirchenkreise jeweils Beauftragte für konfessionskundliche Fragen, die Interessenten in den Gemeinden informierten und berieten. Die Landessynode richtete Anfang der 60er Jahre einen Konfessionskundlichen Ausschuss17 ein, dessen Aufgabe darin bestand, konfessionelle Fragen und Entwicklungen im Rheinland aufzugreifen und die Kirchenleitung bei konfessionstheologischen und -politischen Fragen zu beraten. Eine seiner ersten Tätigkeiten bestand darin, sich mit dem Aufsehen erregenden Buch von Heinz Schütte »Um die Wiedervereinigung im Glauben« zu befassen. Es kann durchaus sein, dass diese geschilderten Öffnungen von der evangelischen zur katholischen Seite bereits Reaktionen auf die offizielle Ankündigung des Konzils am 25. Januar 1959 darstellen. Diese Ankündigung schlug in weiten evangelischen Kreisen gewissermaßen wie eine Bombe ein, und zwar meist in negativer Hinsicht. Denn man erinnerte sich an das aus evangelischer Sicht »unselige« Konzil von 1869/70 mit seiner Dogmatisierung der päpstlichen Unfehlbarkeit und hatte, wie dargelegt, mit der katholischen Kirche in den 50er Jahren nicht die besten Erfahrungen gemacht. Daher befürchteten viele im evangelischen »Lager« eine Fortsetzung und weitere Verhärtung der 1870 eingeschlagenen ultramontanen und antimodernistischen Linie. So reagierten viele evangelische Stimmen im Rheinland zunächst abwehrend bis ablehnend auf die Ankündigung eines neuen Konzils. Einzig, dass Papst Johannes XXIII. von einem »ökumenischen Konzil« gesprochen hatte, machte stutzig und weckte neugieriges Interesse. Präses Beckmann äußerte sich vor der rheinischen Landessynode am 9. Januar 1963 – erstmals! – zur Konzilsankündigung: »Wir sind in mancherlei Hinsicht überrascht über den Eifer, mit dem römisch-katholische Christen das Thema der Wiedervereinigung behandeln und auch mit uns darüber diskutieren wollen. Dadurch ist auf der anderen Seite unter den evangelischen Christen mancherlei Verwirrung entstanden ... Es ist dar16

Zit. bei A. Nieland, H 27, 15. Heute lautet sein offizieller Name: Ausschuss für Innereuropäische Ökumene und CatholicaFragen (AÖC).

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aus zu erkennen, wie oft durch die aus der Vergangenheit vorhandenen protestantischen Ressentiments dieses Verständnis für die großen Aufgaben der Wiedervereinigung der Kirchen gehindert wird ... Es ist zweifellos eine Illusion zu meinen, dass gegenwärtig durch irgendeine denkbare Überlegung eine Annäherung der Kirchen auf dogmatischem Weg erreicht werden könnte.«18 Aus dieser Stellungnahme wird zunächst deutlich, dass Präses Beckmann die Überraschung teilt, die die Ankündigung und beginnende Vorbereitung des Konzils auf evangelischer Seite größtenteils hervorgerufen haben. Beckmann erkennt sofort »die große Aufgabe der Wiedervereinigung der Kirchen«, eine Erwartung, die aus der politischen Diskussion der 50er Jahre stammt und wohl etwas voreilig bzw. naiv in das ökumenische Gespräch übernommen worden ist. Beckmann sieht aber auch selbstkritisch, wie wenig der deutsche Protestantismus auf diese große Herausforderung vorbereitet ist. Er anerkennt durchaus, dass aufgrund der Erfahrungen in den Jahren 1933 bis 1945 »gerade im deutschen Raum das Verhältnis der Christen zueinander praktisch anders geworden« ist. Aber er erblickt vorerst überhaupt keine theologische Brücke, über die es zu einer »Annäherung der Kirchen auf dogmatischem Wege« kommen könnte. Im Gegenteil: »Gerade die Entwicklung seit dem tridentinischen Konzil hat ja in gewisser Beziehung im Bereich der Mariologie und der Lehre vom Papsttum eigentlich den Graben eher tiefer gemacht, als er war.«19 Schon in dieser ersten ausführlichen Kommentierung Beckmanns zum Konzil zeigt sich, mit welcher Aufmerksamkeit, Umsicht und theologischen Kompetenz er die neuen Entwicklungen innerhalb der katholischen Kirche verfolgt hat. Er hat mit seiner Autorität als rheinischer Präses dazu beigetragen, dass auf evangelischer Seite die beschriebenen Öffnungen eingeleitet wurden. Die Evangelische Kirche im Rheinland kann sich glücklich preisen, in jenen Jahren des Konzils einen Theologen und Kirchenführer vom Format Joachim Beckmanns an der Spitze ihrer Leitung besessen zu haben.

II. Aufbrüche und Wechselwirkungen während des Konzils Für die Aufarbeitung dieses kurzen, aber entscheidenden ökumenegeschichtlichen Zeitabschnitts standen mir im Wesentlichen zwei Quellen zur Verfügung: die jährlichen Präsesberichte vor der jeweils im Januar tagenden Landessynode der Evangelischen Kirche im Rheinland sowie die knappen zweijährigen, von Oberkirchenrat Arnold Nieland verfassten Berichte des Konfessionskundlichen Ausschusses, dessen Vorsitzender er war. Während der Konzilsjahre gab es in den Präsesberichten regelmäßig ein ganzes eigenes Kapitel zur römisch-katholischen Kirche. Es stand meist gleich an zweiter Stelle nach dem vorrangigen Bericht über die ökumenischen Ereignisse, die mit der Genfer ökumenischen Bewegung zusammenhingen, und vor dem, was der Präses zur Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und schließlich zur rheinischen Landeskirche zu sagen hatte.20 Darin 18

LS 1961, 61. Ebd. 20 In Synodalberichten späterer Präsides findet sich ein solches Kapitel, falls überhaupt, an erheblich späterer Stelle, meist handelt es sich nur um relativ kurze Abschnitte, manchmal wird das katholische Thema ganz übergangen. 19

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wird ein gleichermaßen theologisch wie ökumenisch durchdachter Aufbau der Beckmann’schen Präsesberichte sichtbar, die Prioritäten zu setzen und Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden wussten. Der Rang, den sie vor den gewählten Vertretern der gesamten rheinischen Kirche dem römisch-katholischen Gegenüber in jenen Jahren einräumten, lässt die hohe Bedeutung erkennen, die Präses Beckmann dem Zweiten Vatikanischen Konzil von Anfang an zubilligte. 1.

Zur ersten Session 1962

In seinem ersten vom Konzil geprägten Kapitel zur römisch-katholischen Kirche würdigt Beckmann im Januar 1963 zunächst dessen Unterschiedenheit vom Trienter Konzil – 400 Jahre nach seiner Beendung 1563 – und unterstreicht damit von vornherein die kirchengeschichtliche Zäsur des Zweiten Vatikanums. Er erläutert: Für uns ist es interessant, »die ungeheure Verschiedenheit von einst und jetzt ins Auge zu fassen«21. Er meint damit nicht nur den Unterschied der Zeiten, sondern auch der theologischen Intentionen von Abgrenzung damals zur Zuwendung heute: »Ein großer Teil der Bischöfe der katholischen Kirche legt Wert darauf, dass auf dem Konzil nichts geschieht, was nach der protestantischen Seite neue Gräben aufwirft«. 22 Dass spätestens mit dem Beginn des Konzils neue Bewegung in die Beziehung zu den nicht-katholischen Kirchen insgesamt gekommen ist, macht für Beckmann die päpstliche Einladung an Beobachter aus allen wichtigen Kirchen deutlich, an den offiziellen Verhandlungen des Konzils teilzunehmen. Er beobachtet große Erwartungen, die besonders auf deutschem Boden von evangelischer und noch mehr von katholischer Seite an das Konzil gerichtet werden – bis hin zum Wiedervereinigungs-Enthusiasmus, den er ebenso zurückweist wie die »vielen Skeptiker und Pessimisten«, denen der bisherige Verlauf des Konzils nicht Recht gegeben hat. Theologisch hebt Beckmann als wichtigstes Kennzeichen der ersten Session die neue Wertschätzung der Bibel hervor: »Wie wird mit einem Mal dort von der Heiligen Schrift geredet als dem wichtigsten, was im Gottesdienst eine ganz entscheidende Rolle zu spielen hat ... Und wenn so von der Heiligen Schrift gesprochen wird, wie es auf dem Konzil geschah, dann können wir evangelische Christen dafür nur dankbar sein.« Beckmann sieht darin in erster Linie eine lang ersehnte Aufnahme von Anliegen der Reformation und der reformatorischen Kirchen, mehr noch: eine Anerkennung der Reformation mit ihrer Wertschätzung der Gemeinde, der Volkssprache im Gottesdienst, des Abendmahls unter beiderlei Gestalt bis hin zur Aufwertung des Gemeindegesangs, wie das in der Konstitution über die Liturgie der Fall ist. Mit anderen Worten: Erstmals wird von offizieller katholischer Seite die theologische Legitimität der Reformation zugestanden – das erfüllt den Lutheraner Beckmann mit unverhohlener Befriedigung. Schließlich sieht er auch, dass auf dem Konzil »über das sonst bei uns übliche Bild hinaus«23 etwas erkennbar wird von innerkatholischen Reformbestrebungen und Reformbewegungen, wie er und viele Protestanten sie nicht erwartet hatten. Dass Präses Beckmann mit dieser positiven Einschätzung des Konzilbeginns nicht alleine stand, macht der Bericht des Konfessionskundlichen Ausschusses von 1963 deutlich. 21 22 23

LS 1963, 99. LS 1963, 105. LS 1963, 104–106 passim.

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Dort ist an erster Stelle davon die Rede, »Gebete für das Konzil vorzubereiten und sie den Gemeinden zum Gebrauch anzubieten«. Der Ausschuss regt ferner an, »im Raum der rheinischen Kirche eine konfessionskundliche Bücherei« einzurichten sowie »Handbüchereien für die konfessionskundlichen Vertreter in den Kirchengemeinden«. Aus diesen Vorschlägen wird großer Wissensdurst und erheblicher Nachholbedarf ersichtlich, der im Blick auf gründliche Informationen über die katholische Seite damals bestand. In dieselbe Richtung weist auch die Übersetzung von zwei Artikeln aus dem Holländischen zur Frage der Konditionaltaufe und zu Richtlinien der reformierten Synode für das Gespräch mit Katholiken, die allen rheinischen Pfarrern zugesandt wurden. Das wirkt heute beinahe wie ein ökumenischer Nachhilfeunterricht im Eiltempo. Insgesamt wird das ehrliche und eilige Bemühen erkennbar, das in evangelischen Gemeinden erwachte große Interesse am Konzil angemessen zufriedenzustellen: »Die Tatsache der Abhaltung des Konzils ließ es ihm (dem Ausschuss) besonders dringend erscheinen, die begonnene Arbeit gerade jetzt mit besonderer Intensität fortzuführen, um die Gemeinden zuverlässig zu informieren und ihnen zu helfen, die Ereignisse im Raum der katholischen Kirche vom Evangelium her recht zu beurteilen.«24 2.

Zur zweiten Session 1963

Papst Paul VI. hatte knapp vier Monate nach dem Tod seines Vorgängers Johannes XXIII. im zweiten Teil seiner Ansprache am 29. September 1963 zur Eröffnung der zweiten Sitzungsperiode des Konzils u. a. Folgendes gesagt: »Unsere Stimme zittert, Unser Herz bebt, weil ihre (die Delegierten der getrennten christlichen Gemeinschaften) Gegenwart hier für Uns ein unaussprechlicher Trost und eine große Hoffnung ist, gleich wie ihre lange Trennung Uns zutiefst schmerzt. Wenn uns eine Schuld an dieser Trennung zuzuschreiben ist, so bitten wir demütig Gott um Verzeihung und bitten auch die Brüder um Vergebung, wenn sie sich von uns verletzt fühlen. Was uns betrifft, sind wir bereit, der Kirche zugefügtes Unrecht zu verzeihen und den großen Schmerz ob der langen Zwietracht und Trennung zu vergessen. Möge der himmlische Vater diese Unsere Erklärung gnädig annehmen und zwischen uns allen den wahren brüderlichen Frieden wieder herstellen ... Wir haben keine Angst, gelassen jene glückliche Zeit abzuwarten, wo die vollkommene Wiederversöhnung endlich Wirklichkeit wird.«25 Diese päpstlichen Worte haben bei evangelischen Christen und Kirchen zumindest in Deutschland einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen; sie haben wie ein Befreiungsschlag gewirkt und zu einem emotionalen Durchbruch in den evangelisch-katholischen Beziehungen geführt. Das geht aus vielen evangelischen Äußerungen nicht nur im Rheinland hervor, die sich auf diese Sätze beziehen. Dass es sich bei ihnen nicht um eine vorübergehende captatio benevolentiae zu Beginn eines neuen Pontifikats gehandelt hat, zeigt ihre Aufnahme im Ökumenismusdekret vom 21. November 1964 – ein gutes Jahr später: »Auch von den Sünden gegen die Einheit gilt das Zeugnis des heiligen Johannes: ›Wenn wir sagen, wir hätten nicht gesündigt, so machen wir ihn zum Lügner, und sein Wort ist nicht in uns.‹ 24

KA 1963, S. 34f. In: P. Hünnermann / B.J. Hilberath (Hg.), Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil (zit.: HTK), Band 5, Freiburg i. Br. (2006) 2009, 510. Das im Text groß geschriebene Uns betrifft den Papst persönlich, das klein geschriebene uns die Gesamtheit der römisch-katholischen Kirchenglieder. 25

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(1Joh 1,10) In Demut bitten wir also Gott und die getrennten Brüder um Verzeihung, wie auch wir unsern Schuldigern vergeben.«26 Präses Beckmann bekannte vor der Landessynode im Januar 1964, dieses päpstliche Wort »gewiss nicht ohne Bewegung vernommen« zu haben. Er erkannte auch scharfsichtig, dass hier die reformatorische Rechtfertigungsbotschaft bei dem höchsten Repräsentanten der katholischen Kirche Pate gestanden hatte: »Das Wichtigste, was bisher geschehen ist, war vielleicht jenes Wort des Papstes, das wir ja alle gehört haben, von dem Angebot und der Forderung der Vergebung zwischen den Kirchen. Es kann kein Zweifel sein, dass dies für uns als evangelische Christen schon deswegen von besonderem Gewicht ist, weil es ja gerade zum Erbe der Reformation gehört, das Evangelium als Evangelium der Vergebung zu verstehen, und darum auch zu wissen um die Notwendigkeit, dass in der Christenheit Versöhnung geschieht, Vergebung der Sünden zwischen den Christen.« Aus dieser Erkenntnis zog der rheinische Präses m. W. als erster die Schlussfolgerung, dass diese Worte des Papstes nicht ohne Antwort der evangelischen Kirchen in Deutschland bleiben dürfen: »Es wird vielleicht doch die Aufgabe des Rates der EKD sein müssen, für die EKD eine Antwort zu geben in der Erkenntnis, dass alle Kirchen, die sich auf das Evangelium von Jesus Christus gründen, allein von seiner Vergebung leben und der gegenseitigen Vergebung bedürfen.«27 Die Landessynode ist dieser Anregung ihres Präses gefolgt und hat mit überwältigender Mehrheit – bei nur je einer Gegenstimme und Enthaltung – folgenden Beschluss gefasst: »Die Landessynode der EKiR bittet den Rat der EKD, auf die Bitte des Papstes um Vergebung eine evangelische Antwort zu erteilen.«28 Dem ist der Rat zwei Monate später am 19. März 1964 in Berlin mit einem »Wort ... zum derzeitigen Gespräch zwischen den Konfessionen« gefolgt. In ihrem Mittelteil kommt diese Ratserklärung auf die Rede Pauls VI. zu sprechen, in der es um »wechselseitige Vergebung für Beleidigungen und Ungerechtigkeiten zwischen den Konfessionen« geht. Der Rat der EKD hat darauf mit folgenden Worten geantwortet: »Es ist eine aus der Heiligen Schrift gewonnene Erkenntnis der Reformation, dass die Kirche Jesu Christi nicht rein ist in sich selbst, sondern von der rechtfertigenden Gnade ihres Herrn lebt. Selbstgerechtigkeit und Selbstrechtfertigung wären die schlimmste Verkehrung ihres Wesens. So lassen wir, die wir uns mit Freuden evangelische Christen nennen, uns auch im Gespräch zwischen den Konfessionen mit ganzem Ernst zur fünften Bitte des Vater Unsers rufen: Vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldigern. Jeder einzelne prüfe sich, wo er im Umgang mit dem römisch-katholischen Mitchristen Verzeihung erbitten oder gewähren muss.«29 Auch hier ist das Kernthema der Reformation, die Rechtfertigung, angesprochen. Mit diesem, dem innersten Kern des Evangeliums entsprechenden gegenseitigen öffentlichen Zusprechen von Vergebung hat das Verhältnis zwischen evangelischer und katholischer Kirche in den Jahren 1963/64 zumindest im Rheinland und in Deutschland eine neue, nie zuvor er-

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Ökumenismusdekret (zit.: ÖD), Z. 7 (2), in: K. Rahner / H. Vorgrimler, Kleines Konzilskompendium (zit.: KKK), Freiburg i. Br. (1966) 1967, 237f. 27 LS 1964, 17 passim. 28 LS 1964, 49, Beschluss Nr. 34. 29 LS 1965, 30.

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reichte Grundlage erhalten. Und man muss hinzufügen: Die Initiative dazu ging von dem »Angstgegner« der Protestanten, dem Papst in Rom, aus. Joachim Beckmann will in seinem Kommentar, der zusammen mit dem Ratswort der EKD in der rheinischen Kirche in mehreren hunderttausend Exemplaren verbreitet wurde, ebenfalls zur »Klärung der interkonfessionellen Lage« beitragen. Er tritt der »Verwirrung« entgegen, »als ob durch die Vorgänge in Rom eine völlige Änderung des Verhältnisses zwischen den Kirchen eingetreten sei, als ob eine Wiedervereinigung der Kirchen unmittelbar vor der Tür stehe.« Einerseits bejaht er: »Niemand kann die Bedeutung einer solchen Ausräumung von jahrhundertelangen Hindernissen zwischen uns unterschätzen.« Andererseits warnt er vor »schwärmerischem Enthusiasmus« und spricht von »Beschwernissen, ja Ärgernissen«, die nach wie vor zwischen den Konfessionen stehen. Er mahnt also zu Nüchternheit und geduldiger theologischer Weiterarbeit an den vorhandenen Konfliktpunkten wie der Konditionaltaufe, der »Mischehen- und Missionspraxis«, der Glaubens- und Gewissensfreiheit. Aber nicht Resignation, sondern Hoffnung hat das letzte Wort: »Auch da, wo am Schluss ein klares Nein zu der Einladung des Papstes an die getrennten Brüder, in die Hürde Roms heimzukehren30, gesagt werden muss, ist die Hoffnung auf die Überwindung der Spaltung durch die Buße der Christenheit, also auf ihre Umkehr zu Christus, der eigentliche Tenor des Wortes.«31 Die rheinische Landessynode von 1964 hat es nicht mit ihrer Anregung an den Rat der EKD sein Bewenden haben lassen, vielmehr hat sie auch ein eigenes, vom konfessionskundlichen Ausschuss vorbereitetes »Wort der Landessynode an die Gemeinden zur konfessionellen Lage« verabschiedet. Darin kommt sie auf das von vielen rheinischen Gemeinden praktizierte Gebet für das Konzil zu sprechen, auf große Anteilnahme und wachsende Aufmerksamkeit auf »das geistliche Ringen auf dem Konzil«, auch auf die Bitte des Papstes um Vergebung, die mit »Bewegung« aufgenommen worden ist. Für das theologische Gespräch mit Gliedern der römisch-katholischen Kirche schärft sie den eigenen Gemeindegliedern die reformatorischen particula exclusiva erneut ein: »Christus allein ..., die Bibel allein ..., im Glauben allein ...« Man will so »in redlicher theologischer Arbeit« und »in ökumenischer Gesinnung« zum gegenseitigen Verstehen beitragen, aber auch die »schweren Belastungen« nicht verschweigen: »Für die praktische Zusammenarbeit sehen wir in der Behandlung der Mischehen eins der schmerzlichsten Hindernisse.«32 Erstaunlicherweise ist die rheinische Landessynode neun Jahre, also fast ein Jahrzehnt später, noch einmal auf die päpstliche Vergebungsbitte zurückgekommen und hat dazu am 11. Januar 1973 erneut einen Beschluss gefasst: »Dankbar erinnern wir uns der Vergebungsbitte Papst Pauls VI. (und) nehmen ... diese Bitte an, indem wir mit dem Gebet des Herrn sprechen: Herr, vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.« Nun wird auch das solus Christus zusammen mit anderen reformatorischen Einsichten aus seiner formelhaften Isolierung herausgenommen und in einen öku30

Papst Paul VI. hatte in seiner Ansprache am 29.9.1963 auch Folgendes gesagt: Das Konzil »öffnet ... alle Türen und ruft und lädt alle Schafe Christi ein, die noch nicht von dem einzigen Schafstall Christi umschlossen werden.« In: HTK 5, 509. 31 LS 1965, 31f. passim. 32 LS 1964, 51f.

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menischen Horizont gestellt: »Wir haben schon erfahren, dass uns derselbe Christus, von dessen Gnade wir in unserer Kirche leben, eindringlich auch in den anderen Kirchen begegnet ist. Wir haben gelernt (!), das grundlegende Zeugnis der reformatorischen Bekenntnisse von ihren geschichtlich bedingten Denkformen zu unterscheiden und es so im Dialog der Kirchen fruchtbar werden zu lassen.«33 Hier wird nach rund zehn Jahren erstmals ein ökumenischer Lernprozess angesprochen, der zweifellos erst durch die päpstliche Vergebungsbitte ermöglicht worden ist und sogar eigene Lernschritte im Blick auf das reformatorische Erbe zu erkennen gibt. 3.

Zur dritten Session 1964

Im Anschluss an die zweite Session war Papst Paul VI. vom 4. bis 6. Januar 1964 zu seiner ersten päpstlichen Auslandsreise ins Heilige Land geflogen. Dort kam es in Jerusalem nach Jahrhunderten der Trennung zur ersten Begegnung zwischen den Repräsentanten der bis dahin verfeindeten Ost- und Westkirche, Patriarch Athenagoras von Konstantinopel und Papst Paul VI. von Rom. Die brüderliche Umarmung zwischen beiden machte auf die kirchlich-ökumenische wie die weltlich-politische Öffentlichkeit gleichermaßen einen starken emotionalen Eindruck: die erste Geste der Versöhnung nach Jahrhunderten der Feindschaft! Präses Beckmann sah das allerdings vor der Landessynode 1965 ganz anders: »Im ökumenischen Raum war dieses Treffen von einer schockierenden Wirkung. Was sollte dieses Treffen bedeuten? Eine Überrollung des ÖRK durch eine unmittelbare Union zwischen West- und Ostrom?« Zustimmend zitiert Beckmann dann einen amerikanischen (!) Methodisten u. a. mit folgenden Sätzen: Zu den »Auswirkungen (der) gegenseitigen brüderlichen Umarmung ... gehört auch, dass der Protestantismus seine Stellung innerhalb der ökumenischen Bewegung, deren hauptsächlicher und bewegender Baumeister er gewesen ist, sorgenvoll überprüft ... Die protestantische Führungsgruppe muss genug vorsichtige, aber feste Kritik laut werden lassen, um die hierarchischen und klerikalen Gruppen Roms und Konstantinopels daran zu hindern, die ökumenische Bewegung zu beherrschen und die protestantischen Impulse einzufrieren.«34 Als Konsequenz aus dieser Sicht fordert Beckmann in Anspielung auf Karl Marx’ Kommunistisches Manifest: »Protestanten aller Kontinente vereinigt euch!« Was an dieser Stellungnahme betroffen macht, ist nicht die nach wie vor nur zu berechtigte Forderung nach mehr Einheit innerhalb des weltweiten Protestantismus, sondern dass Beckmann diese Sicht als einzigen Kommentar zu jenem ökumenegeschichtlich einmaligen Vorgang vorträgt. Es hat ihm offenbar auch nicht gefallen, dass 1961 auf der Dritten Vollversammlung des ÖRK in Neu Delhi »die Orthodoxie nahezu vollständig in die ökumenische Gemeinschaft eingerückt (!) ist ... Die Kraft des katholischen Erbes ist dadurch sehr viel stärker geworden als zuvor.«35 Nur schwer nachvollziehbar und aus heutiger Sicht geradezu unverständlich erscheint es, dass dem damaligen Leiter der rheinischen Kirche nicht klar geworden ist, dass das Oberhaupt der katholischen Kirche in 33 34 35

In: K. Immer (Hg.), Ökumene am Ort (zit.: Ö. a. O.), Düsseldorf 1973, 5f. LS 1965, 87. LS 1965, 94.

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Jerusalem gegenüber dem Repräsentanten der orthodoxen Kirchen denselben Schritt der Versöhnung unternommen hat, den er nur wenige Monate zuvor mit seiner Bitte um Vergebung gegenüber anderen nichtkatholischen Kirchenvertretern bereits getan hatte. Das Auftauchen der orthodoxen Kirchen – der ältesten Säule der Christenheit! – auf der internationalen ökumenischen Bühne verursachte bei vielen Protestanten offenbar mehr Sorgen als Freude! Im Blick auf die beiden Hauptdokumente der dritten Session, die Kirchenkonstitution und das Ökumenismusdekret, äußert sich Beckmann wieder in gewohnter Fachkompetenz und Umsicht. Als kundiger Kirchenhistoriker sieht er, dass in der Kirchenkonstitution der alte Konflikt des Konstanzer Konzils aus dem 15. Jahrhundert zwischen Papalismus und Konziliarismus wieder zum Vorschein kommt und zu einer Lösung gebracht werden soll: »Ist also, fragen wir, das Problem wirklich gelöst oder ist es nur umschrieben?«36 Mit dieser Frage hat Beckmann die Ambivalenz des Textes präzise erfasst, die der Auslegung der Kirchenkonstitution bis heute zu schaffen macht. Aus der Sicht des evangelischen Theologen bezeichnet Beckmann dann das Dekret über den Ökumenismus als »das bedeutendste Dokument des Konzils ... Es wird hier eine neue Position bezogen für ein ökumenisches Gespräch, und diese ist für die Geschichte der römisch-katholischen Kirche sicherlich eine nahezu revolutionäre Tat, eine Überraschung, eine Wandlung wie nie zuvor.«37 Er meint damit die damals unerhörte Öffnung der katholischen zu den anderen östlichen und westlichen Kirchen, sodass »die rein introvertierte Überzeugung, dass die römisch-katholische Kirche qualitativ und quantitativ mit der Kirche Christi identisch ist, … nun nicht mehr festgehalten werden« kann. Das bedeutet keineswegs, dass Beckmann mit allen Aussagen der Kirchenkonstitution und des Ökumenismusdekrets einverstanden wäre: »Der tiefste Gegensatz (ist) dieser große evangelisch-katholische Gegensatz über die Grundstruktur der Kirche und damit auch ihrer Einheit«, die nach katholischer Auffassung »gerade auf dem Papsttum ruht«.38 Dennoch sieht Beckmann Aufbrüche, Angebote und Chancen zum inhaltlichen Dialog, zu dem er gerade die Protestanten herausgefordert sieht: »Wir können dann nicht mehr so weiter reden über Rom, wie das bisher weithin bei uns der Fall war.«39 »Es gilt auch eine Bereitschaft zum Gespräch, eine Bereitschaft zu einer neuen Kooperation, die wir ja immer bejaht haben, und wenn sie nun auch uns von dort entgegengebracht wird, werden wir gerne alles tun, um das Verhältnis der Kirchen zueinander zu verbessern.«40 Beckmanns ausführliche Auseinandersetzung mit dem Konzil vor der Landessynode 1965 wird wiederum vom Konfessionskundlichen Ausschuss begleitet, der in seinem entsprechenden Bericht überhaupt kein anderes Thema mehr anschneidet. Er spricht »von Pfarrern und Gemeinden dringend gewünschter Information über die Ereignisse im katholischen Raum«. Um sie zu befriedigen, hat man die vom Evangelischen Bund herausgegebenen »Briefe aus Rom« kostenlos weitergegeben. Es ist von »einer Fülle von 36 37 38 39 40

LS 1965, 96. LS 1965, 97. LS 1965, 98; vgl. HTK 5, 593. LS 1965, 95. LS 1965, 99.

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Vorträgen in rheinischen Gemeinden« die Rede, die sich alle mit dem Konzil befassen. Der Vorsitzende Arnold Nieland ist »inzwischen von einigen Referaten im Landeskirchenamt entlastet worden, um sich der konfessionskundlichen Arbeit besonders annehmen zu können«41. Man gewinnt von Präsesbericht, Landessynode und ihrem Konfessionskundlichen Ausschuss den Eindruck, dass die dritte Session des Konzils mit ihrer ekklesiologischen und ökumenischen Thematik weitgehend auch die Tagesordnung innerhalb der Evangelischen Kirche im Rheinland bestimmte. Man spürte offenbar, dass es hier nicht nur um Reformen innerhalb einer Teilkirche ging, sondern, wie Präses Beckmann immer wieder betonte, um Fragen der gesamten Christenheit. 4.

Zur vierten Session 1965

Von den elf im Verlauf der 4. Session offiziell verabschiedeten und verkündeten Konzilserklärungen hat sich Präses Beckmann zu vier Texten vor der Landessynode 1967 geäußert. Es geht darin um die Themen Offenbarung, nichtchristliche Religionen, Religionsfreiheit und »die Kirche in der Welt von heute« (Gaudium et spes). Dass ein Präses vor seiner Landessynode nicht zu allen Konzilstexten Stellung nehmen kann oder gar muss, ist nachgerade selbstverständlich. Dennoch erstaunt, dass er zu zwei weiteren Erklärungen kein einziges Wort verloren hat: zum Dekret über das Laienapostolat – ein urprotestantisches Thema! – und zur Aufhebung der Exkommunikation zwischen Konstantinopel und Rom. Er war wohl zu sehr mit der durch das Konzil veränderten und herausgeforderten Lage des Protestantismus beschäftigt, als dass er die Tragweite der ebenfalls veränderten Beziehungen zwischen Katholizismus und Orthodoxie sorgsam hätte bedenken können. In seiner Kommentierung der »dogmatischen Konstitution über die göttliche Offenbarung« anerkennt Beckmann an erster Stelle dankbar die neue Bedeutung der Bibel »für die dogmatischen Entscheidungen wie für die kirchliche Praxis«. Er spricht in diesem Zusammenhang davon, dass »in gewisser Hinsicht die Gegenreformation zu Ende« gekommen ist und »wirklich ein Wandel« geschehen und »eine neue Epoche« angebrochen ist. Natürlich entgeht Beckmann keineswegs die Achillesferse der Konstitution, dass nämlich »die authentische Interpretation der Bibel niemand anders als dem kirchlichen Lehramt befohlen bleibt«42. »Damit, dass sich die Kirche zur letzten maßgeblichen Interpretin der Heiligen Schrift selbst aufwirft, unterwirft sie die Heilige Schrift dem Lehramt der Kirche, und damit ist ein entscheidender Anstoß, der zur Reformation geführt hat, nun auch bis heute in der Kontroverse unverändert.«43 Dass also die alte kontroverstheologische Frage nach dem Verhältnis von Schrift und Tradition in dieser Konstitution noch nicht zufriedenstellend oder gar abschließend beantwortet wird, hat Beckmann klar erkannt.

41

KA 1965, 22. Vgl. dazu Nr. 12 der Konstitution: »Alles, was die Art der Schrifterklärung betrifft, untersteht letztlich dem Urteil der Kirche ...«, KKK 375. 43 LS 1967, 113. 42

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Ausgesprochen positiv äußert er sich zu der »Wendung«, die das Konzil im Blick auf das Verhältnis von Kirche und Israel vollzogen hat.44 Die »deutliche Absage an den Antisemitismus«, die das Konzil »gewagt« hat, zählt er zu seinen »schönen und guten Taten«. Und er kommt zu dem Schluss: »Auch hier haben wir – meine ich – gemeinsam zu lernen und nachzudenken über das rechte Verhältnis, das wirklich theologisch und christlich rechte Verhältnis von Kirche und Israel.« Ähnlich dankbar und erfreut kommentiert Beckmann die letzte Erklärung des Konzils vom 7. Dezember 1965 »über die Religionsfreiheit«45. In der Anerkennung der Freiheit des Menschen zur Religion, und zwar ebenso als Einzelpersonen wie als Gruppen in religiösen Gemeinschaften, sieht er ebenfalls »eine ziemlich radikale Wendung vollzogen ... Auch hier hat es sicher viel Mühe gekostet, die Tradition der Kirche zu durchstoßen«46. Abschließend kommt Beckmann auf die »Pastoralkonstitution Kirche in der Welt von heute« zu sprechen, die ebenfalls erst am vorletzten Tag des Konzils verabschiedet wurde, immerhin gegen 75 Nein-Stimmen.47 Er bewundert uneingeschränkt den Mut, mit dem das Konzil die wichtigsten ethischen Probleme unserer Zeit, die »wirklich heißen Eisen« angegangen ist. »Was hier über Kultur und Wirtschaft, über menschlichen Fortschritt, über Staat und Gesellschaft, über Ehe und Familie, über Krieg und Frieden und vor allem auch über den Atheismus gesagt worden ist, ist erstaunlich ... Und was hier gesagt ist – glaube ich –, werden wir auf weite Strecken bejahen und nicht sehr viel anders sagen können.« Denn Beckmann ist sich darüber im Klaren, dass die großen Herausforderungen der Gegenwart, die er mit den Stichworten »Friede, Gerechtigkeit und Freiheit«48 umreißt, wenn überhaupt, dann gewiss nicht mehr von einer Kirche allein, sondern nur noch »gemeinsam mit den christlichen Kirchen in der ganzen Welt« gemeistert werden können. So kommt er am Ende seiner Ausführungen zur vierten Session des Konzils zu dem hoffnungsvollen Ausblick, »dass wir gerade als die gemeinsam Fragenden und die nicht schon durch gemeinsame Antworten der Vergangenheit Festgelegten uns diesen Dingen widmen dürfen«49. Gerade weil Beckmann weiß, mit welchen enormen Schwierigkeiten jede Kirche, natürlich auch die rheinische, bei diesen ethischen Grundfragen zu kämpfen hat, erfüllen ihn zum Schluss angesichts des katholischen Wagnisses und der evangelischen Aussicht auf gemeinsame Arbeit gaudium et spes. 5.

Zum Konzil insgesamt

Man wird es nicht von der Evangelischen Kirche im Rheinland insgesamt behaupten können, wohl aber von ihrem damaligen Präses, dass er das Zweite Vatikanische Konzil von seiner Ankündigung an aufmerksam in Blick genommen hat. Das hängt mit seinem altkirchlich-umfassenden Kirchenverständnis zusammen, dem er schon vor Beginn des 44 Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen (Nostra aetate), Z. 4, in: KKK 357ff. 45 KKK 661ff. 46 LS 1967, 116. 47 Vgl. KKK 424; Text: 449ff. 48 Damit nimmt er in gewisser Weise das spätere Programm des konziliaren Prozesses für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung vorweg. 49 LS 1967, 116f.

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Konzils 1961 Ausdruck gegeben hat: »Je länger, je mehr versteht sich heute auch eine Landessynode als ein Glied eines weltumspannenden Ganzen, ja der einen heiligen katholischen oder ökumenischen Kirche, die wir im Glaubensbekenntnis bekennen.« Von diesem Ansatz aus war er von vornherein hellhörig, als ein »ökumenisches Konzil« angekündigt wurde, und sah sich als Leiter seiner Kirche vom Konzil gleichermaßen angesprochen wie herausgefordert. So verstand er auch die Angehörigen der rheinischen Landeskirche insgesamt »als solche, die ja trotz allem meinen, ein und denselben Herrn und ein und dieselbe Kirche, nämlich die Kirche des Dritten Glaubensartikels zu bekennen«.50 Fünf Jahre später äußerte sich Beckmann einen guten Monat nach Beendigung des Konzils vor der rheinischen Landessynode zu seiner Tragweite. Zunächst nennt er drei positive Gesichtspunkte: Er ist als erstes beeindruckt von der Fülle der Themen wie der Dokumente, mit denen sich das Konzil befasst hat. Entscheidend aber ist für Beckmann die neue Dimension des Kirche-Seins, in die das Konzil vorgedrungen ist. Er nennt sie »die Horizontale« und meint damit, »dass die katholische Kirche zum ersten Male seit der Reformationszeit angefangen hat, die Fenster nach den Seiten aufzumachen, um zu erkennen, was da außerhalb ihres Gebäudes für andere christliche Bauwerke entstanden sind.« Auf diesem Weg ist ein Prozess des Entdeckens, des Staunens, teilweise schon des Anerkennens anderer christlicher Kirchen in Gang gekommen, der sich in dem neuen Wort von den »getrennten Brüdern« zu erkennen gibt, nachdem früher nur von »Abgefallenen, Häretikern und Sektierern« die Rede gewesen war51. Auf diesem Hintergrund erkennt Beckmann drittens die epochale Tragweite des Konzils: »Die Epoche der Gegenreformation ist zu Ende.«52 Damit sind gegenseitige Abgrenzungen, Dominanzbestrebungen und Betonungen der Gegensätze nicht mehr zeitgemäß. Nun stehen in der nach-konziliaren Zeit andere, neue Aufgaben zur Bewältigung an: »Die katholische Kirche steht vor der ganz großen Aufgabe, das, was in Rom gearbeitet worden ist, in allen Kontinenten zu verarbeiten, das zu verwirklichen, was da an Programmsätzen ausgesagt ist. Es wird sicher Jahrzehnte dauern ...« Die Hauptaufgabe für die evangelische Kirche sieht Beckmann darin, mit der katholischen Kirche den Dialog »neu zu beginnen«, also nicht die bisherigen Schablonen und Vorurteile zu wiederholen, sondern hinzuhören, zuzuhören und nach neuen, eventuell auch gemeinsamen Antworten zu suchen. Dass das für den Protestantismus nicht nur eine gewaltige Herausforderung ist, sondern auch eine immense Herkulesarbeit, der er möglicherweise noch nicht gewachsen ist, sieht Beckmann sehr deutlich: »Wir dagegen haben die großen Probleme, die uns das Konzil in der ganzen Christenheit stellt, nicht nur angesichts der Schwierigkeiten der Gespaltenheit des Protestantismus in der Welt und im ökumenischen Raum, sondern auch in Folge der inneren theologischen Spannungen in unserer eigenen Kirche, in Angriff zu nehmen.«53 Bei dem neuen Gespräch, das nun zwischen den Konfessionen beginnen muss, geht es letztlich nur um eine einzige Grundfrage, die quaestio facti suae existentiae: »Das Konzil 50 51 52 53

LS 1961, 57, 63. LS 1966, 13. LS 1967, 112. LS 1966, 13f.

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fragt uns nämlich im Grunde nach den biblischen Grundlagen der evangelischen Kirchen. Es fragt uns nach der Legitimation der Reformation. Es fragt uns nach dem Recht des Protestantismus.«54 Diese Formulierungen lassen etwas von dem Rechtfertigungsdruck erkennen, von der Defensive, in die Beckmann den gesamten Protestantismus durch das Konzil versetzt sieht: Haben evangelische Kirchen noch eine Daseinsberechtigung, nachdem das Konzil die Heilige Schrift wiederentdeckt und damit eines der Hauptanliegen der Reformation aufgenommen hat? Oder hat der Protestantismus mit der Übernahme vieler seiner Einsichten durch das Konzil seine historische Mission erfüllt?55 Man spürt es Beckmanns Auseinandersetzung mit dem Konzil 1967 ab, wie er auf diese, das evangelische Selbstverständnis zutiefst erschütternde Fragen vielleicht etwas zu apologetische Antworten gibt. Es ehrt ihn, dass er sofort nach der Formulierung dieser petitio principii den Versuch einer Antwort unternommen hat. Dazu nimmt er sich nicht irgendwelche Nebenschauplätze vor, sondern – wie es dem Gewicht der Frage entspricht – die (dogmatischen) Konstitutionen des Konzils: über die Liturgie, die göttliche Offenbarung und die Kirche, dazu das Ökumenismusdekret. An der Liturgiekonstitution hebt Beckmann »das leidenschaftliche Bekenntnis zum Messopfer« hervor, dem gegenüber die Bemerkungen zu Bibel, Wortgottesdienst und Muttersprache »nicht entscheidend« sind. »Damit stehen wir also vor der großen bleibenden, tiefen Kontroverse der Kirchen, die sich im Gottesdienst getrennt haben.«56 Diese Bemerkung wird dem Geist und Buchstaben der Liturgiekonstitution nun doch nicht gerecht. Man gewinnt den Eindruck, Beckmann will »die tiefe Kontroverse der Kirchen« festhalten, um seinerseits die Trennung im Gottesdienst zu begründen. Ähnlich verfährt er mit der Offenbarungskonstitution. Zwar anerkennt er hier – wie dargelegt – den Rang der Bibel, der eine neue Epoche eröffnet, aber er spitzt den Konflikt mit dem Lehramt derart zu, dass er zum Schluss von einem »bis heute in der Kontroverse unveränderten« Anstoß spricht, der zur Reformation geführt habe. Auch hier drängt sich der Eindruck auf, Beckmann wolle die Felle gewaltsam zurückholen, die ihm bereits weggeschwommen sind. Bei der Kirchenkonstitution anerkennt er den Versuch, zum ersten Mal in der Kirchengeschichte eine Lehre von der Kirche vorzulegen; er bestätigt auch »eindrucksvolle biblische Betrachtungen« und bezeichnet diese Erklärung insgesamt als »das theologisch großartigste Werk des Konzils«. Aber auch hier konzentriert er seine Darstellung auf das, was man den »Betriebsunfall« der Konstitution genannt hat: hierarchische Struktur der Kirche, Primat des Papstes und Mariologie. So kann er davon sprechen, dass hier »die Glaubensdifferenzen besonders tief« sind: »Überall da, wo die römisch-katholische Lehre von ›Kirche‹ spricht, würden wir ›Christus‹ sagen.«57 Beckmann unterstreicht nicht die Neu-

54

LS 1967, 112. Das ist durchaus nicht nur eine Beckmann’sche Frage, der Waldenser-Theologe Paolo Ricca setzt sich mit ihr bis heute auseinander. 56 LS 1967, 112f. 57 LS 1967, 113f. 55

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ansätze der Konstitution, sondern beschränkt sich auf das, »was in der Reformation schon Streitpunkt war«58. Positiver beurteilt er in seiner abschließenden Auseinandersetzung mit dem Konzil das Ökumenismusdekret, mit dem er sich auch am ausführlichsten beschäftigt hat: »Dafür kann man nur dankbar sein.« Er freut sich über die Anerkennung, die hier den Christen und Kirchen außerhalb der katholischen Kirche zuteil wird. Er zeigt sich erstaunt darüber, »wie positiv auf diesem Konzil nicht nur die orthodoxen Kirchen, sondern gerade auch der Protestantismus in seinen geistlichen Leistungen und Werten beurteilt wird.« Er kommt noch einmal auf das päpstliche »Wort von der Vergebung« zu sprechen und sieht »Chancen für einen Anfang« zwischen den Kirchen, »gerade bei den großen ethischen Aufgaben«. Aber auch hier meldet Beckmann Fragen und Zweifel an. Er bezweifelt, dass sich das Wort von der ecclesia semper reformanda59 auf die Kirche selbst beziehen kann. Er stellt stattdessen die Frage: »Meint das katholische Prinzip des Ökumenismus irgendwie vielleicht doch die Heimkehr aller Getrennten in das römisch-katholische Vaterhaus?«60 Die selbstkritischen Töne, die gerade im ersten Kapitel des Ökumenismusdekrets über »die katholischen Prinzipien des Ökumenismus« durchaus zu finden sind61, erwähnt Beckmann nicht. So bleibt von Beckmanns abschließender Auseinandersetzung mit dem Konzil vor der Landessynode 1967 ein zwiespältiger Eindruck zurück. Er sieht und anerkennt den epochalen kirchen- und theologiegeschichtlichen Einschnitt, den das vierjährige überraschende Ereignis in Rom ohne Zweifel bedeutet. Aber gleichzeitig bestätigt er die Enttäuschung »vieler römisch-katholischer verantwortlicher Männer«, weil sie den Eindruck haben, »dass wir ihnen so recht nicht trauen mit dem, was im Konzil geschehen ist«62. Man kann Beckmann gewiss nicht den Vorwurf machen, das Konzil nicht ernst genug genommen zu haben; im Gegenteil: Man kann fragen, ob er sich von der Wucht des konziliaren Geschehens nicht zu stark in die Defensive hat abdrängen lassen. Jedenfalls halten seine Antworten, die er auf die ihn bedrängenden Existenzfragen nach der Legitimation der Reformation und dem (Existenz-)Recht des Protestantismus zu geben versucht hat, dem Ansatz, der Vielfalt und Differenziertheit der vorgelegten Konzilstexte nicht in jedem Fall stand. Dass nun aber mit und seit dem Konzil ein neues Kapitel in den Beziehungen und im Gespräch zwischen den Konfessionen unwiderruflich begonnen hat, unterliegt für Beckmann keinem Zweifel mehr. Die neue Aufgabe lautet auch in der evangelischen Kirche: »Aufarbeitung des Konzils«. In diesem Sinne ist als erster wieder der Konfessionskundliche Ausschuss tätig geworden: »Der Ausschuss wird gerade für diese Aufgabe seine Mitarbeiter unterrichten, damit diese wichtige Arbeit in den Gemeinden sachkundig getan wird.«63 So wird man abschließend festhalten dürfen, dass man nach Beendigung des Konzils zumindest auf der Leitungsebene der Evangelischen Kirche im Rheinland sehr genau verstanden hatte, was die Stunde geschlagen hatte. 58 59 60 61 62 63

LS 1967, 114. ÖD Z. 6 spricht von einer »dauernden Reform« der Kirche, zu der sie Christus ruft; KKK 237. LS 1967, 114f. ZB. Z.3,6; 4,10; 7,2. LS 1967, 111. KA 1967, 30.

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III. Auswirkungen auf die ökumenische Zusammenarbeit nach dem Konzil Durch das Ereignis des Konzils ist zwischen den Konfessionen ein Interesse aneinander geweckt worden, das so zuvor nicht bestanden hat. Man kann von gegenseitiger Entdeckerfreude sprechen, unmittelbar während und nach dem Konzil auch von Euphorie, die fast alle Bereiche des kirchlichen Lebens erfasst hatte. Nachdem man schon vor und vor allem während des Konzils neugierig aufeinander geworden war, suchte man nun nach dem Konzil nach Wegen und Weisen geeigneter Zusammenarbeit. Ich werde in diesem Kapitel versuchen, die wichtigsten Stationen dieses aufeinander Zugehens nachzuzeichnen, während es im an- und abschließenden Kapitel darum gehen soll, die theologischen Auswirkungen auf das Leben der Evangelischen Kirche im Rheinland darzustellen. Man kann von drei Phasen der Auswirkungen des Konzils auf die Evangelische Kirche im Rheinland sprechen. Die erste reicht vom Kölner Kirchentag 1965 bis zur Landessynode 1973 mit ihrem Thema »Ökumene am Ort«. Nach einer Zeit, in der andere Themen wie Kirchenreform, das Antirassismusprogramm des Ökumenischen Rates und der konziliare Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung im Vordergrund standen, kam es in den 90er Jahren unter Präses Peter Beier zu einer zweiten Phase der evangelisch-katholischen Begegnungen, deren Höhepunkt im Jahr 1996 mit dem Luthergedenken, der Trierer Christuswallfahrt und der rheinischen Taufvereinbarung erreicht wurde. Die dritte Phase seit der Jahrtausendwende ist durch regionale Ausdifferenzierungen in den verschiedenen Bistümern gekennzeichnet, mit denen es die Evangelische Kirche im Rheinland zu tun hat. 1.

Vom Kölner Kirchentag 1965 zur Landessynode 1973

1.1 Das Podiumsgespräch zwischen Präses Beckmann und Kardinal Jaeger in Köln 1965 Schon die teilnehmenden Zuhörer und erst recht die darüber schreibende Presse betrachteten das öffentliche Gespräch zwischen Präses Beckmann und Kardinal Jaeger als das entscheidende Ereignis des 12. Deutschen Evangelischen Kirchentages in der katholisch geprägten Stadt Köln. Ein Berichterstatter erklärt, warum: »Seit dem Streitgespräch zwischen Cajetan und Luther in der Reformationszeit war es das erste Mal, dass ein römischkatholischer Kardinal und Wissenschaftler mit einem evangelischen Theologieprofessor und Kirchenführer vor breitester Öffentlichkeit und auf höchster Ebene freimütig diskutierte. Das zweistündige Podiumsgespräch zum Thema ›Katholiken und Protestanten angesichts des Konzils‹, das der Paderborner Erzbischof und Beauftragte der Fuldaer Bischofskonferenz für ökumenische Fragen, Lorenz Kardinal Jaeger, und der rheinische Präses und Professor für ökumenische Kirchenkunde, D. Dr. Joachim Beckmann, in der überfüllten Messehalle 4 führten, war ein kirchengeschichtliches Ereignis ersten Ranges und ein Meilenstein in der Geschichte der interkonfessionellen Beziehungen.«64 Dass es knapp 450 Jahre, genau 447 Jahre gedauert hat, bis das in der Reformationszeit abgebrochene Gespräch auf deutschem Boden offiziell wieder aufgenommen wurde, macht diese 64

In: Erlebter Kirchentag Köln 1965. In der Freiheit bestehen, Stuttgart/Berlin 1965, 158.

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Kölner Begegnung am 30. Juli 1965 in der Tat zu einem epochalen Ereignis. Es hat sich seitdem in Köln auf dieser Ebene und in dieser Form bis zum heutigen Tag nicht wiederholt, weder auf dem Weltjugendtag 2005 noch auf dem 31. Deutschen Evangelischen Kirchentag 2007. Damals 1518 lud Kardinal Cajetan den jungen Reformator Luther zum Verhör nach Augsburg, wo er Rede und Antwort zu stehen hatte; jetzt war Präses Beckmann im Wesentlichen der Fragesteller, während Kardinal Jaeger als Konzilsteilnehmer antwortete. Damals ging es um Abgrenzung, jetzt um Zuwendung. Beckmann beurteilte die Begegnung in der Rückschau so: »Hier ist ein neuer Anfang ... Wir (haben) angefangen, aus einer abgewandten Situation eine zugewandte zu machen, das heißt, wir fangen wieder an, miteinander zu sprechen, was wir 400 Jahre fast nicht mehr getan haben.«65 Man hatte sich darauf verständigt, das Ökumenismusdekret in den Mittelpunkt des Gesprächs zu stellen. Im Verlauf des Dialoges kamen sieben Themen zur Sprache: die Frage nach der Kirche, die Taufe, die Vergebungsbitte des Papstes, Gemeinschaft beim Gottesdienst, die Hierarchie der Wahrheiten, das Verhältnis von Schrift und Tradition sowie die Abendmahlsfrage.66 Es fällt auf, wie versiert in der Genfer Ökumene sich Kardinal Jaeger äußert. Zur Kritik an dem katholischen Fülle-Denken beruft er sich auf die berühmte Toronto-Erklärung des ÖRK von 195067: »Die Toronto-Erklärung des Weltrates der Kirchen sichert allen Mitgliedskirchen die Freiheit zu, ihr eigenes Kirchenverständnis und ihre eigene Beurteilung der übrigen Kirchen festzuhalten. Die katholische Kirche ist nicht Mitglied des Weltkirchenrates. Aber sie hält sich im Ökumenismusdekret an diese dort aufgestellte Regel.«68 Zur Verhältnisbestimmung von Schrift und Tradition weist Jaeger Beckmann auf die Ergebnisse der 4. Weltkonferenz für Glauben und Kirchenverfassung 1963 in Montreal69 hin: »Erinnern Sie sich bitte an die Vorlage, die die Kommission ›Faith and Order‹ für die Tagung in Montreal erarbeitet hat, wo ausdrücklich drin stand, sola scriptura allein genügt nicht, die Schrift allein genügt nicht; es muss notwendig die Tradition dazu kommen.«70 Präses Beckmann beginnt seinen Beitrag mit einem programmatischen Satz, der oft zitiert worden ist: »Das epochemachende kirchengeschichtliche Ereignis des 20. Jahrhunderts ist zweifellos, dass die Christenheit, die jahrhundertelang auseinandergegangen ist, sich wieder sucht, aufeinander zugeht, bewegt von der Frage nach der Einheit der Kirche Christi ...«71 In seiner Einführung zum Ökumenismusdekret kommt Beckmann zum 65

A. a. O., 297. In: Deutscher Evangelischer Kirchentag Köln 1965. Dokumente (Zit.: KD 1965), F. Lorenz (Hg.), Stuttgart/Berlin 1965, 871–881. 67 Die Kirche, die Kirchen und der ÖRK in: Die Einheit der Kirche (zit.: EdK). Material der ökumenischen Bewegung, L. Vischer (Hg.), ThB 30, München 1965, 251–261. 68 KD 1965, 864. 69 Schrift, Tradition und Traditionen, EdK 195–211. 70 KD 1965, 878. In einer Fußnote merkt Jaeger kritisch an: »In Montreal hieß es: ›scriptura numquam sola‹ ... Die Reformatoren des 16. Jahrhunderts haben das eigentliche theologische Problem der Tradition kaum oder gar nicht gesehen, weil sie die Tradition fast immer als ›Menschensatzung‹ in Gegensatz stellten zum ›Wort Gottes‹« (KD 1965, 879 A 2.). 71 KD 1965, 866. 66

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Schluss auf die »ergreifende Beschreibung« des evangelischen Christentums zu sprechen72, die »vielleicht das Überraschendste und Überwältigendste darstellt, was überhaupt bisher je von Seiten einer katholischen Autorität zur evangelischen Kirche gesagt worden ist ... Dieser Text, meine ich, kann nur mit Dankbarkeit, aber auch nicht ohne eigene Beschämung zur Kenntnis genommen werden. Denn wir könnten dazu nur sagen: Gott gebe, dass es unter uns immer so ist, wie es hier ausgesprochen wird.«73 Diese Äußerungen müssen genügen, um den Geist zu illustrieren, in dem dieses Kölner Gespräch geführt worden ist. Klaus von Bismarck, seinerzeit Intendant des WDR, der das Gespräch ein- und ausleitete, hatte Recht, als er abschließend feststellte: »Weil dies Gespräch in einer solchen Atmosphäre der Herzlichkeit und Sachlichkeit geführt worden ist, kann es, so meine ich, Modell sein für den ökumenischen Dialog ...« Er schloss mit dem Wunsch, dass eine neue Hinwendung zum Evangelium die Konfessionen von einem »unbußfertigen Konfessionalismus« zu einem »gläubigen Ökumenismus beflügelt«74. 1.2

Die Entwicklung ökumenischer Kooperationsstrukturen

Nachdem sich der Kölner Kirchentag 1965 insgesamt als ein großes Forum der Begegnung, des Gesprächs und der Kommunikation erwiesen hatte, wie es zuvor nicht der Fall gewesen war, suchte man anschließend auf breiter Ebene, die neu gewonnenen Erkenntnisse in die Tat umzusetzen. Das geschah anfangs so vielfältig und kreativ, dass Oberkirchenrat Nieland erstaunt feststellen konnte: »Die Fülle der zwischenkirchlichen Aktivitäten ist in den letzten Jahren so erfreulich angewachsen, dass sie weder von der Landeskirche besonders angeregt noch reglementiert werden mussten.«75 Es begann in den Ortsgemeinden auf der spirituellen Ebene. Die zaghaften Pflänzchen der ökumenischen Gebetswoche für die Einheit der Christen und des Weltgebetstages begannen auf einmal, in die Höhe zu schießen und zahlreiche Menschen anzulocken. Schon 1967 berichtete der Konfessionskundliche Ausschuss von einer Erhebung, »die eine Übersicht über die Zahl und die Liturgien der ›ökumenischen‹ Gottesdienste im Raum der rheinischen Kirche verschaffen soll«.76 Offenbar war eine solche Übersicht nicht so schnell zu gewinnen, weil nun praktisch überall ökumenische Gottesdienste wie Pilze aus dem Boden schossen. Reinhard Frieling, damals Mitarbeiter des konfessionskundlichen Instituts der EKD in Bensheim, zitiert in einem Vortrag eine Statistik, die das überdurchschnittliche Engagement im Rheinland belegt: »Im Bundesdurchschnitt hatten 35,8 % aller evangelischen Kirchengemeinden im Jahr 1970 interkonfessionelle gottesdienstliche oder informative Veranstaltungen durchgeführt. In der Evangelischen Kirche im Rheinland waren es sogar 57,4 %.«77

72 73 74 75 76 77

Z. 23,1 und 2, in: KKK 248f. KD 1965, 870f. KD 1965, 885. H 27, 1972, 16. KA 1967, 30. H 27, 1972, 10.

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Hier werden auch »informative Veranstaltungen« angesprochen, also Vorträge oder Seminare, um die ökumenische Bildung zu befördern. Häufig ging es dabei auch um schwierige Fragen von konfessionsverschiedenen Ehen, nun aber mit der Aussicht z. B. auf gemeinsame Trauformulare. In jenen Jahren gab es kaum eine Stadtgemeinde, in der nicht Angebote zur ökumenischen Bildung gemacht wurden. Hinzu kam an dritter Stelle das weite Feld von Diakonie und Caritas. Gemeinsame Sammlungen für gemeinsame Projekte kamen in Mode. An manchen Orten taten sich die Bahnhofsmission oder die Telefonseelsorge ökumenisch zusammen. Später kam eine Diskussion auf über ökumenische Sozialstationen. Nach und nach gingen alle rheinischen Kirchenkreise dazu über, wegen der großen Nachfrage Beauftragte für konfessionskundliche und andere ökumenische Themen ehrenamtlich zu ernennen, die nicht nur mit entsprechenden schriftlichen Informationsmaterialien ausgestattet, sondern auch auf Tagungen z. B. im Rengsdorfer Pastoralkolleg für ihre Aufgaben geschult wurden. So entwickelte sich innerhalb der rheinischen Kirche allmählich ein Netzwerk kompetenter Ökumene-Fachleute, an die man sich wenden konnte und die ihrerseits den Gemeinden zur Verfügung standen. Einige von ihnen wirkten außerdem im Konfessionskundlichen Ausschuss der Landeskirche mit, der 1961 ins Leben gerufen worden war. Inzwischen heißt er »Ausschuss für innereuropäische Ökumene und Catholica-Fragen« (AÖC). Ihm gehörten zu seinen besten Zeiten nicht nur Mitglieder der rheinischen Landeskirche an, sondern auch je ein Vertreter der Freikirchen und der altkatholischen Kirche, seit den frühen 90er Jahren auch ein kompetenter Ökumenereferent aus einem der fünf Bistümer, mit denen es die Evangelische Kirche im Rheinland hauptsächlich zu tun hat. Zu entsprechenden Themen und besonderen Anlässen wurde auch ein orthodoxer Theologe eingeladen. Schließlich muss auch noch die »ökumenische Gebietskommission NRW« genannt werden, die Ende 1968 aus der Taufe gehoben wurde und hochrangige Repräsentanten der beiden Konfessionen vereinte. Drei Jahre später wurde daraus Ende 1971 die noch heute existierende »Konferenz der katholischen Bischöfe und evangelischen Präsides von NRW«. Ihre kirchenpolitische Aufgabe bestand von vornherein darin, sich solcher Fragen anzunehmen, die das Kirche-Staat-Verhältnis betreffen, zum Beispiel Probleme mit dem Religionsunterricht in der Sekundarstufe II, Fragen von konfessionellen Grundschulen in privater Trägerschaft, theologische Lehrstühle an Hochschulen u. ä. Gerade bei konfessionellen Streitpunkten, von denen es nach wie vor genug gibt, sollte die Kommission als »Vertrauensausschuss« wirksam werden, der die einzelnen Kirchenleitungen berät und möglichst zu allseits verträglichen Lösungsvorschlägen beiträgt. Diese Institution hat sich zumindest als Feuerwehr der kurzen Wege nun seit Jahrzehnten bewährt. Wenn sie auch m. W. nicht durch wegweisende Initiativen in Erscheinung getreten ist, so hat sie doch immer wieder dazu beigetragen, konfessionellen Schaden von den beteiligten Kirchen abzuwenden oder wenigstens zu begrenzen.78 78 Die Protokolle dieser naturgemäß nicht öffentlichen Zusammenkünfte von 1968 bis 1980 befinden sich im landeskirchlichen Archiv in sechs Ordnern versammelt. Die späteren liegen in der Düsseldorfer landeskirchlichen Präsidialkanzlei. Mir fehlen Zeit und Raum, um mich für diese Abhandlung mit diesen Protokollen näher zu befassen.

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An letzter Stelle erwähne ich die Öffentlichkeitsarbeit beider Kirchen, die zumindest als gemeinsame Aufgabe auch schon in den späten 60er und frühen 70er Jahren in Blick gekommen ist. Zeitweilig hat es eine kleine Reihe »Kirchen informieren« gegeben. Kooperationen von epd und KNA sind angedacht worden. Man wollte sogar gemeinsame öffentliche Stellungnahmen zu allgemeinen Fragen von Interesse abgeben. Auf gemeindlicher Ebene sind hin und wieder ökumenische Gemeindebriefe erschienen. Aber nach meinem Eindruck ist den Gemeinden und Kirchenleitungen auf dem Feld der Publizistik am schnellsten der Atem bzw. das Geld ausgegangen. Abgesehen von diesem kleinen Wermutstropfen kann man aber zusammenfassend feststellen, dass in der zweiten Hälfte der 60er Jahre ökumenische Kooperationsstrukturen entwickelt worden sind, die sich größtenteils bewährt haben und deshalb auch heute noch weitgehend vorhanden sind. 1.3

»Ökumene am Ort« – Die Landessynode 1973

Bereits 1967 war der erste Teil, 1970 der zweite Teil des ökumenischen Direktoriums aus Rom in deutscher Übersetzung erschienen, das die Anregungen des Ökumenismusdekrets in handlungsorientierte Schritte umsetzte.79 Die Würzburger Synode der deutschen Bistümer diskutierte Anfang Januar 1973 erstmals über die »pastorale Zusammenarbeit der Kirchen im Dienst an der christlichen Einheit«, deren eindrucksvoller Text Ende 1974 mit großer Mehrheit verabschiedet wurde.80 Er nimmt seinen ökumenischen Ausgangspunkt ebenfalls von der »Kirche am Ort«. Die EKD hatte Anfang der 70er Jahre eine »Handreichung für evangelisch-katholische Zusammenarbeit« veröffentlicht. Im Juni 1972 hatten die Kirchen im Land NRW eine Kooperationsvereinbarung geschlossen, und im September war die Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen (ACK) in NRW gegründet worden. In diesen Zusammenhang gehört die rheinische Landessynode vom Januar 1973, die »nach einer Zeit rasanter Entwicklungen im Verhältnis der Konfessionen zueinander versucht ..., Klarheit über das Erreichte zu gewinnen, um gleichzeitig nach verantwortbaren Wegen zu suchen, die uns der Einheit der Christenheit näherführen«81. Es war das erste und bis heute einzige Mal, das sich die Synode »Ökumene am Ort« als Hauptthema wählte. Als Beleg für ihre Ernsthaftigkeit hatte sie neben Oberkirchenrat Nieland als katholischen Korreferenten den Ökumenebeauftragten des Erzbistums Köln, Prälat Johannes Hüttenbügel, eingeladen, der einen eindrucksvollen Vortrag zum vergangenen und einem künftigen »universalen Konzil«82 hielt. So kamen durchaus auch theologische Aspekte zu den Themen Kirche, Taufe und Abendmahl u. a. zur Sprache, auf die ich zurückkommen werde. Den Hauptakzent erhielt aber gemäß dem presbyterial-synodalen Ansatz der rheinischen Kirche die »Ökumene am Ort«. Der neue rheinische Präses Karl 79

Konfessionskundliche Schriften des Johann-Adam-Möhler-Instituts Nr. 8/9, Paderborn 1967/1970. 80 In: Gemeinsame Synode der Bistümer in der BRD. Beschlüsse der Vollversammlung, Freiburg 1976, 774–806. 81 So OKR Nieland in seinem Hauptreferat, Ö. a. O. 1973, 7. 82 Ö. a. O. 1973, 14ff., 18.

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Immer begründete das mit folgenden Worten: »Ökumene am Ort« ist der Ernstfall von Ökumene. Da, wo wir als Nachbarn zusammen wohnen, arbeiten und feiern, haben wir als Christen bisher mehr Gründe für Trennung als für Gemeinsamkeit gefunden. »Ökumene am Ort« ist jedoch auch für viele Gemeinden der Glücksfall geworden: Örtliche ökumenische Aktionen aus den letzten beiden Jahrzehnten haben Christen in vielen getrennten Kirchen ermutigt, einander kennenzulernen.«83 Gleichzeitig stellte Immer klar, dass es mit dem evangelisch-katholischen Verhältnis nur um den ersten Teil der Ökumene am Ort geht, während in einem zweiten die Beziehungen zu freikirchlichen, orthodoxen und altkatholischen Gemeinden in den Blick genommen werden sollen. Dieses Programm macht deutlich, wie umfassend inzwischen das ökumenische Denken im Rheinland geworden war. Der Catholica-Ausschuss, wie er nun genannt wurde, hatte im Vorfeld der Synode eine umfassende Fragenbogen-Aktion durchgeführt, die er in einer statistischen Übersicht zusammenfasste. Daraus geht hervor, dass am häufigsten – in knapp 500 Gemeinden – »gemeinsame Gottesdienste« jeweils am Sonntag zweimal jährlich stattfinden. Hinzu kommen gemeinsame Schulgottesdienste und andere Veranstaltungen in jeweils knapp 400 Gemeinden. Das wird nur noch durch die Zahl von 580 »gemeinsamen Trauungen« übertroffen. Dabei fällt auf, dass angesichts dieser großen Zahl an Gottesdiensten laut dieser Statistik nur in 36 Fällen »Interkommunion« praktiziert worden ist.84 Nach Vorträgen, Informationen und ausführlichen Diskussionen zum Thema verabschiedete die Landessynode 1973 eine »Erklärung über die Zusammenarbeit der evangelischen und katholischen Kirche«, die ebenfalls der Catholica-Ausschuss vorbereitet hatte, »zur Weiterleitung an die Gemeinden«. Sie besteht aus drei Teilen: einer Besinnung über »die eine Kirche Christi«, Bemerkungen zur Abendmahlsgemeinschaft und Vorschlägen zur »lebendigen Zusammenarbeit« am Ort. Auf die ersten beiden Themen wird später einzugehen sein. Für die Zusammenarbeit vor Ort macht sich die Erklärung das sog. Lunder Diktum von 195285 zu eigen: »Ökumenischer Grundsatz sollte werden, dass alles gemeinsam geschieht, was nicht aus Gewissens- oder Zweckmäßigkeitsgründen getrennt getan werden muss.«86 Im Einzelnen werden den Gemeinden sieben Vorschläge unterbreitet, die zuvor von Nieland und Hüttenbügel vorgetragen und mehrheitlich akzeptiert worden waren: 1. 2.

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Gemeinsames Hören auf die Heilige Schrift, also: ökumenische Bibelgespräche, -seminare, -wochen Ökumenische Gottesdienste: »Solche Gottesdienste sollen nach gründlicher Vorbereitung in nicht zu großen Abständen stattfinden.« Gedacht ist dabei in aller Regel an Wort-Gottesdienste.

Ö. a. O. 1973, 1. H 27, 1972, 19f. 85 Sollten unsere Kirchen sich nicht fragen, ... ob sie nicht in allen Dingen gemeinsam handeln müssten, abgesehen von solchen, in denen tiefe Unterschiede der Überzeugung sie zwingen, für sich alleine zu handeln? Wort an die Kirchen der 3. Weltkonferenz für Glauben und Kirchenverfassung in Lund 1952, EdK 92. 86 Ö. a. O. 1973, 4. 84

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3. 4. 5. 6. 7.

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Soziale Dienste, besonders in Neubauvierteln, wo man »bereits im Stadium der Planung mit den entsprechenden katholischen Stellen Verbindung aufnehmen« soll. »Es ist anzustreben, kirchliche Bauvorhaben gemeinsam zu planen, durchzuführen und zu nutzen«: ökumenische Gemeindezentren. Erwachsenenbildung: gemeinsame Seminare »Gemeinsame Seelsorge an konfessionsverschiedenen Ehen«: »Von beiden Seiten zu erarbeitende Richtlinien sollen dazu Anregungen geben.« Ökumenische Ausschüsse auf Ortsebene: »Presbyterien, Pfarrgemeinderäte und Kirchenvorstände sollten ... gemeinsame Sitzungen halten.«87

Mit diesem Katalog hat die Landessynode den rheinischen Gemeinden einen Orientierungsrahmen an die Hand gegeben, der es jedem Ort ermöglicht, das Seine zum Zusammenwachsen der Christen beizutragen. Daher schließt die Erklärung mit einer Ermutigung: »Auch kleine Schritte sollten in der Gewissheit geschehen, dass sie dem großen Ziel dienen.«88 Damit hat die Landessynode 1973 aus den »rasanten Entwicklungen« der vorherigen Jahre die »verantwortbaren Wege« herausgefiltert, die sie den Gemeinden für die kommenden Jahre guten Gewissens empfehlen konnte. Sie haben noch heute ihre Gültigkeit. Arnold Nieland, zusammen mit Joachim Beckmann der Initiator der ökumenischen Entwicklung im evangelischen Rheinland, verabschiedete sich 1973 von der Synode: »Ich stehe am Ende einer Lebensarbeit für die Einigung der Christen ... Die Ergebnisse dieser letzten 15 Jahre sind erheblich. Sie reichen nicht aus ... Dass wir über die Kooperation hinaus endlich einmal zur Kommunion, zur vollen verpflichteten Gemeinschaft89 der Christen kommen sollten, darf nicht nur eine eschatologische Hoffnung sein, sondern ist die Zukunft, an die wir gewiesen sind.«90 2.

Das Jahrzehnt der 90er Jahre

Mit der Synodalerklärung von 1973 über die Zusammenarbeit von evangelischer und katholischer Kirche war für die Evangelische Kirche im Rheinland die erste Phase der Aufarbeitung des Konzils und der von ihm ausgelösten rasanten Entwicklungen abgeschlossen. Sie stellte in gewisser Weise auch eine Antwort auf die Erklärung der ökumenischen Kommission des Erzbistums Köln vom 15. Februar 1972 dar: »Ökumene im Erzbistum Köln. Grundsätzliche Überlegungen und praktische Empfehlungen«.91 Die weitere Entwicklung kann ich nur holzschnittartig skizzieren. In ökumenischer Hinsicht wandte sich die Landessynode nun anderen Kirchen zu, die, wie Präses Immer es 87

Ö. a. O. 1973, 4f. Ö. a. O. 1973, 5. 89 Nieland spielt hier auf die Einheitsformel der Dritten Vollversammlung des ÖRK 1961 in Neu Delhi an: »Wir glauben, dass die Einheit, die zugleich Gottes Wille und seine Gabe an seine Kirche ist, sichtbar gemacht wird, indem alle an jedem Ort ... durch den Heiligen Geist in eine völlig verpflichtete Gemeinschaft geführt werden ...«, EdK 159f. 90 Ö. a. O. 1973, 13. 91 In: Kirchlicher Anzeiger für die Erzdiözese Köln 112/5, 15. Februar 1972, und Sonderdruck. 88

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angesprochen hatte, ebenfalls zur »Ökumene am Ort« gehören. Nach drei Jahren befasste die Landessynode sich 1976 mit evangelischen Freikirchen und freien Gemeinden und verabschiedete dazu ein offizielles Wort.92 Zwei Jahre später ging es 1978 um »Partnerschaft mit orthodoxen Kirchen und Gemeinden« und ebenfalls um eine öffentliche Äußerung.93 Mitte der 80er Jahre verabschiedete die Landessynode eine umfangreiche Stellungnahme zu den berühmten Konvergenzerklärungen der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung von Lima 1982: »Taufe, Eucharistie und Amt«.94 Im selben Jahr schloss der Rat der EKD mit dem katholischen Bistum der Altkatholiken in Deutschland, das seinen Sitz in Bonn hat, eine »Vereinbarung über eine gegenseitige Einladung zur Teilnahme an der Feier der Eucharistie«95. 1987 kam zwischen der Vereinigten Evangelisch-lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD) und der Evangelisch-methodistischen Kirche eine »Deklaration der gegenseitigen Gewährung von Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft«96 zustande. Ein Jahr später vereinbarte die Kirche von England mit dem damaligen »Bund der Evangelischen Kirchen (BEK) in der DDR und der EKD« die Meißener Erklärung97, in der es u. a. auch um die gegenseitige Gewährung eucharistischer Gastfreundschaft geht. So entstand über die Beziehung zur katholischen Kirche hinaus in den 70er und 80er Jahren ein umfangreiches Netzwerk zwischen der rheinischen und anderen Kirchen, zu denen in den USA auch noch die United Church of Christ (UCC) gehört. Man kann in dieser Hinsicht einerseits von indirekten Auswirkungen des Konzils sprechen, andererseits haben diese zwischenkirchlichen Vereinbarungen mit der Verabschiedung der LimaErklärungen und dem von ihnen ausgelösten Impuls zu tun. Die zweite Phase der intensiveren Begegnung mit der katholischen Kirche begann im Rheinland erst wieder Anfang der 90er Jahre. 2.1

Die Erklärungen der Landessynode 1993 zur römisch-katholischen Kirche

Am 25. Juli 1543 hatte Erzbischof Hermann von Wied sein mit Martin Bucer und Philipp Melanchthon verfasstes Reformprogramm »Einfältiges Bedenken« auf dem Bonner Landtag zur Entscheidung gestellt. Die drei weltlichen Stände der Grafen, Ritter und Städte waren einverstanden, der geistliche Stand in Gestalt des Kölner Domkapitels wandte sich dagegen. Damit war der weltpolitisch bedeutsame Reformationsversuch gescheitert, das Erzstift Köln blieb katholisch, gegenseitige Verwundungen und Ängste waren die zum Teil bis heute nachwirkenden Folgen.98 Die 450-jährige Wiederkehr des kirchengeschichtlichen Entscheidungsjahres 1543 war auf der rheinischen Landessynode 1993 der Motor, um nach Möglichkeit einen Schlussstrich unter jahrhundertelange konfessionelle Auseinandersetzungen zu ziehen. In Köln nahm man das 450-jährige »Jubilä92

In: H 46, 1993, 31–34. H 46, 1993, 38–40. 94 In: Landessynode 1985 (zit.: LS), G. Brandt (Hg.), Düsseldorf 1985, 51–78. 95 H 46, 1993, 40–42. 96 H 46, 1993, 44–46. 97 H 46, 1993, 46–48. 98 Vgl. dazu R. Sommer, Hermann von Wied. Erzbischof und Kurfürst von Köln, Teil 1: 1477– 1539, SRK 142, Pulheim 2000, 421ff. 93

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um« zum Anlass für zahlreiche Veranstaltungen, Veröffentlichungen und eine Ausstellung.99 Beflügelt wurde das aktuelle Gespräch zwischen den Konfessionen durch ein Schreiben der römischen Glaubenskongregation vom 28. Mai 1992 »über einige Aspekte der Kirche als Communio«.100 Es kam darüber zu einem Briefwechsel zwischen Präses Peter Beier und Kardinal Josef Ratzinger, auf den zurückzukommen sein wird101. Schließlich erschien am 25. März 1993 die überarbeitete Fassung des »Direktorium zur Ausführung der Prinzipien und Normen über den Ökumenismus«102, die ebenfalls zu lebhaften Diskussionen Anlass bot. Auf diesem Hintergrund verabschiedete die rheinische Landessynode am 12. Januar 1993 bei nur zwei Enthaltungen103 gleich drei Erklärungen, die alle das Ziel verfolgten, nun von evangelischer Seite aus das Verhältnis zur katholischen Kirche soweit wie irgend möglich zu verbessern. Am wichtigsten ist die erste Erklärung »über das Verhältnis zur römisch-katholischen Kirche und zu anderen Kirchen«, da sie eine umfassende ökumenische Grundsatzerklärung darstellt, die auf die Ereignisse von 1543 zurückgreift und bis zum Beginn des dritten Jahrtausends vorausschaut: I. Was uns prägt, II. Was wir zu sagen haben, III. Was wir hoffen.104 Ihre Bedeutung wird auch dadurch unterstrichen, dass sie die umfangreichste Stellungnahme ist, die die rheinische Landessynode zum Thema Ökumene bisher abgegeben hat, und mehr noch dadurch, dass sie jeden Abschnitt in Anlehnung an die Barmer Theologische Erklärung von 1934 mit einem Bibelwort beginnt. Die geschichtliche Orientierung der Erklärung spricht von »gemeinsamen Grundlagen«, die bis in altkirchliche Zeit zurückreichen. Sie erwähnt »eine mehr als tausendjährige gemeinsame Geschichte« der Christen im Rheinland und sieht die evangelische und katholische Kirche in einer »Schicksalsgemeinschaft« miteinander verbunden. Im Hauptteil, der sich mit den Themen Dank, Gemeinsames, Trennendes und Aufgaben befasst, ist auch ein Abschnitt mit »Schuld« überschrieben. 20 Jahre nach der Erklärung zur päpstlichen Vergebungsbitte wird nun eigenes Versagen bekannt: »Wir bekennen, dass wir zu lange in der römisch-katholischen Kirche nur ein feindliches Gegenüber gesehen und die Lehrverurteilungen des 16. Jahrhunderts übernommen haben ... Wir bekennen, dass unsere Kirche an den Angehörigen der Täuferbewegung schuldig geworden ist, indem sie sie als ›Wiedertäufer‹ verurteilt hat ... Wir bekennen, dass wir als evangelische Christen und Kirche uns in unserem Selbstverständnis zu sehr vom Gegensatz zu anderen Christen und Kirchen haben leiten lassen.« Dieses erst- und einmalige Schuldbekenntnis 99

Vgl. dazu H.-G. Link u. a. (Hg.), 450 Jahre Kölner Reformationsversuch. Zwischen Reform und Reformation, KÖB 28, Alfter 1993. 100 Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls (zit.: VAS) 107, Bonn 1992. 101 Vgl. auch die kritischen Bemerkungen zu dem Vorgang im Präsesbericht von 1993 in: Landessynode 1993 (zit.: LS), P. Beier (Hg.), Düsseldorf 1993, 31–33. 102 VAS 110, Bonn 1993. 103 Sie stammen von Präses Beier selbst und von dem damaligen Kölner Stadtsuperintendenten, dem späteren rheinischen Präses und EKD-Ratsvorsitzenden Manfred Kock. 104 H 46, 1993, 9–16.

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ist mit Erkenntnissen und Folgerungen verbunden, die das Verhältnis zur katholischen wie zu anderen Kirchen auf eine neue Ebene bringen. Denn, so steht es im hoffnungsorientierten dritten Teil zu lesen, »den Beginn des dritten Jahrtausends möchten wir nicht mit den ungelösten Konflikten des zweiten belasten ... Wir möchten mit der römischkatholischen Kirche und mit allen anderen Kirchen in unserem Bereich weiterhin auf dem Weg bleiben ...«105 Die zweite Erklärung befasst sich mit der Aufarbeitung der seit dem 16. Jahrhundert zwischen den Konfessionen stehenden gegenseitigen Lehrverurteilungen, die von der ersten Begegnung Papst Johannes Pauls II. mit Repräsentanten der EKD am 17. November 1980 in Mainz angeregt worden war und fünf Jahre später erstaunliche Ergebnisse zutage förderte.106 Der Spitzensatz lautete: »Die Gemeinsame Ökumenische Kommission (GÖK) bittet daher die Leitungen der betroffenen Kirchen, verbindlich auszusprechen, dass die Verwerfungen des 16. Jahrhunderts den heutigen Partner nicht treffen ...«107 Dazu leistet die rheinische Erklärung von 1993 »Lehrverurteilungen – kirchentrennend?« einen beachtlichen Beitrag. Denn sie äußert sich zu den drei entscheidenden Kontroversfragen der Reformationszeit: Rechtfertigung, Abendmahl bzw. Eucharistie und Papsttum. In ihrer Stellungnahme nimmt sie inzwischen gewonnene theologische Erkenntnisse und Klärungen auf, um sie in verbindliche Entscheidungen zu überführen. Dabei lässt sie sich von der Einsicht leiten: »Als ein erster Schritt zur Überwindung der Trennung ist es unerlässlich, diesen Lehrverurteilungen ihre kirchentrennende Funktion offiziell zu nehmen.« So kommt die Erklärung schließlich zu folgender »verbindlicher« Feststellung: »Die aufgeführten reformatorischen Verwerfungsurteile im Blick auf Rechtfertigung, Abendmahl/Eucharistie und Papsttum haben für uns keine kirchentrennende Bedeutung mehr.«108 Mit dieser verbindlichen Äußerung hat die Synode der Evangelischen Kirche im Rheinland 1993 einen Schritt getan, der meines Wissens von keiner anderen Erklärung oder Kirche bisher so nachvollzogen worden ist. Auch die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre (GER) bezieht sich, wie ihr Name sagt, lediglich auf das Thema Rechtfertigung, während es auf dieser weltweiten Ebene bis heute nicht gelungen ist, entsprechende Erklärungen zur Abendmahlsfrage und zum Papsttum zustande zu bringen. In dieser Hinsicht steht die rheinische Kirche an der Spitze der ökumenischen Aufarbeitung der Lehrverurteilungen. Allerdings ist mir nicht bekannt, ob und wie die angesprochenen katholischen Gesprächspartner im Rheinland dazu Stellung genommen haben. In der dritten Synodalerklärung geht es um die »ökumenische Bedeutung der Taufe«. Sie formuliert in ihrem Mittelteil ein eigenes Bekenntnis zu der »einen Taufe zur Vergebung der Sünden«, wie es das altkirchliche Bekenntnis von Nizäa-Konstantinopel aus dem Jahr 381 ausdrückt, um daran die Folgerung anzuschließen: »Auf dem Boden dieses gemeinsamen Glaubens bekräftigen wir die gegenseitige Anerkennung der in unseren Kirchen vollzogenen Taufen.«109 Beflügelt von der hessischen Taufvereinbarung von 1977 macht die rheini105

H 46, 1993, 10, 13f., 15. Vgl. Lehrverurteilungen – kirchentrennend? I, K. Lehmann / W. Pannenberg (Hg.), DdK4, Freiburg/Göttingen 1986. 107 A. a. O., 195. 108 LS 1993, 77, 80 (Hvg. von mir). 109 LS 1993, 71 (Hvg. von mir). 106

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sche Erklärung auch Vorschläge zur ökumenischen Umsetzung der Taufe in Gottesdienst, Gemeinde und Öffentlichkeit. Die Landessynode hat diese Erklärung lediglich zur Kenntnis genommen, aber damit die Erwartung verbunden, dass »eine Vereinbarung zur ökumenischen Bedeutung der Taufe zwischen der Evangelischen Kirche im Rheinland und den entsprechenden katholischen Diözesen vorbereitet werden kann«110. Weder vorher noch nachher hat die rheinische Landessynode wichtigere ökumenische Beschlüsse gefasst als an diesem 12. Januar 1993. Umso erstaunlicher ist es, dass Präses Beier als Leiter der Synode das Kunststück fertigbrachte, alle drei Erklärungen in einer knappen Stunde – 55 Minuten! – über die Bühne zu bringen, ohne eine Aussprache, die jede der drei Erklärungen verdient hätte. Er sah auf dem Hintergrund des CommunioSchreibens aus Rom mehr die Gefahren als die Chancen der ökumenischen Situation 1993. Ihm lag am Herzen, »dass die evangelische Kirche gerade jetzt und insbesondere an der Basis keine der errungenen Gemeinsamkeiten preisgeben darf«111. Dazu hatte der Ausschuss für Innerdeutsche Ökumene und Catholica, wie er nun hieß, eine umfangreiche Ausarbeitung der Synode vorgelegt: »Notwendigkeit und Möglichkeiten ökumenischer Zusammenarbeit am Ort«112. Sie fasst in der »Grundlegung« die bisherigen ökumenischen Grundlagen der Evangelischen Kirche im Rheinland zusammen. Im Hauptteil »Ökumenische Zusammenarbeit am Ort« kommen Begegnungen, ökumenische Spiritualität und gemeinsames Leben und Handeln zur Sprache. Der dritte Teil skizziert den »offenen Weg vor uns« von der gegenseitigen Anerkennung der Taufe bis zur konziliaren Gemeinschaft der Kirchen. Diese als weiterführende Orientierungshilfe für Ortsgemeinden gedachte Zusammenfassung damaliger ökumenischer Möglichkeiten wurde zusammen mit einer Materialsammlung früherer ökumenischer Vereinbarungen und der programmatischen rheinischen Erklärung über das Verhältnis zur römisch-katholischen und anderen Kirchen noch im selben Jahr 1993 in der Handreichung Nr. 46 in mehreren tausend Exemplaren veröffentlicht. Es liegt jedoch eine gewisse Tragik darin, dass im Unterschied zur Landessynode 1973 zwanzig Jahre später »die Probleme der innerdeutschen Ökumene ... nicht das Schwerpunktthema der Synode«113 gebildet haben. Der damalige Präses Peter Beier und sein Nachfolger Manfred Kock hatten andere Schwerpunkte. Aber ein gutes Jahr später wurde am 19./20. August 1994 in Altenberg ein »Ökumenischer Kirchentag« gefeiert, der unter der Überschrift »Gemeinde von Morgen gemeinsam gestalten« mit etwa 7000 Teilnehmenden und mit einem abschließenden Taufgedächtnisgottesdienst, an dem Präses Beier, Kardinal Meisner, Metropolit Augustinus u. a. mitwirkten, den Willen der Basis zu ökumenischer Gemeinschaft eindrucksvoll unterstrich. Er schickte die »Altenberger Botschaft« mit einer Ökumenekerze in die Gemeinden: »In Erinnerung an den Ökumenischen Kirchentag am 20. August 1994 in Altenberg und zur bleibenden Vergegenwärtigung der erlebten ökumenischen Verbundenheit mit Christen 110

LS 1993, 69. LS 1993, 32; vgl. dazu H.-G. Link, Anmerkungen zum Schreiben der Glaubenskongregation über »einige Aspekte der Kirche als Communio«, in: Auf dem Weg zur Gemeinschaft der Kirchen?, Chronologische Nachlese zum Gedenkjahr 1993 an den Kölner Reformationsversuch vor 450 Jahren, KÖB 35, Köln 1995, 35–43. 112 H 46, 1993, 61–96. 113 So P. Beier in seinem Präsesbericht vor der Landessynode 1993; LS 1993, 33. 111

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vieler Konfessionen entzünden wir das Altenberger Ökumenische Feuer auch in unserer Gemeinde. Das Feuer dieser Kerze ist ein mahnendes Zeichen zum Gebet um die Verbreitung des ökumenischen Bewusstseins in den christlichen Gemeinden und Kirchen. Es soll unser Denken erhellen, unser Fühlen erwärmen und unserem Reden und Tun die Richtung weisen hin zur gemeinsamen Anbetung des einen Herrn, durch den wir uns auch untereinander verbunden wissen. So richtet das Altenberger Ökumenische Feuer unsere unterschiedlichen Wege auf das Ziel aus, Gemeinde von Morgen gemeinsam zu gestalten.«114 2.2

Der Höhepunkt im Jahr 1996

Im Jahr 1996 gab es für das Rheinland drei bemerkenswerte ökumenische Ereignisse: eine offizielle Taufvereinbarung, im Lutherjahr – 450 Jahre nach seinem Tod – einen Papstbesuch im Land der Reformation und die Trierer Heilig-Rock-Wallfahrt. Das Konzil hatte die ökumenische Bedeutung der Taufe erheblich aufgewertet und das Ökumenische Direktorium von 1993 hatte empfohlen, »gemeinsame Erklärungen über die gegenseitige Anerkennung der Taufen abzugeben«115. Der Kölner Ökumenische Studienkreis hatte bereits 1990 den Entwurf einer ökumenischen Tauferklärung erstellt116, der auch bei der Erklärung zur ökumenischen Bedeutung der Taufe von 1993 Pate gestanden hatte. Nun kam es nach mehrjähriger Vorbereitung am 26. März 1996 zur offiziellen Unterzeichnung einer »Vereinbarung zwischen der Evangelischen Kirche im Rheinland und dem Erzbistum Köln sowie den Bistümern Aachen, Essen, Münster und Trier zur gegenseitigen Anerkennung der Taufe«117. Sie enthält eine Präambel, eine theologische Grundlegung, kirchenrechtliche Regelungen sowie einen Anhang: gemeinsame pastorale Empfehlungen. Diese theologische und kirchenrechtliche Vereinbarung ist ein seit der Reformationszeit einmaliger ökumenischer Vorgang im Rheinland; man kann ihn als Höhepunkt in der offiziellen Annäherung der Evangelischen Kirche im Rheinland und der genannten fünf Bistümer bezeichnen. Umso unverständlicher ist es, dass der Akt der Unterzeichnung nicht – wie in Magdeburg 2007 – im Rahmen eines ökumenischen Gottesdienstes vor der Öffentlichkeit rheinischer Christinnen und Christen vollzogen wurde, sondern in der Vertretung der rheinischen Landeskirche bei der Landesregierung von NRW in kleiner Runde unter bewusstem Ausschluss der Öffentlichkeit, sozusagen als »Winkelmesse«. Offenbar scheuten die Repräsentanten der beteiligten Kirchen das Licht einer größeren ökumenischen und publizistischen Beteiligung und wollten die gemeinsamen pastoralen Empfehlungen zu Taufvorbereitung, Taufgottesdienst und Taufgedächtnis entgegen der Vorlage auch nur als »Anhang« gelten lassen, den sie nicht mitunterzeichneten. So waren die Grenzen dieser kirchengeschichtlichen Vereinbarung und ihrer gemeindlichen Auswirkungen von vornherein deutlich markiert. 114

In: H.-G. Link (Hg.), Auf dem Weg zur Gemeinschaft der Kirchen?, KÖB 35, Köln 1995, 167. Leider ist damals versäumt worden, über dieses bisher im Rheinland einmalige ökumenische Ereignis eine Dokumentation zu erstellen. 115 Vgl. LG 15; UR 22; VAS 110, Z. 94, S. 57. 116 H 46, 1993, 95f. 117 Zit.: VAT; als Manuskript gedruckt in: KÖN 2/6, 1996 blauer Anhang.

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Zu den Annäherungen des Konzils mit seiner Öffnung gegenüber den Kirchen der Reformation zählt auch die Revision des katholischen Lutherbildes. Präses Beckmann äußerte schon vor der Landessynode 1967 sein Erstaunen, »dass bei der Konferenz der Lutherforscher in Finnland eben auch die römisch-katholischen Forscher mit im Gespräch dabei waren und dass man es heute fertigbringt, über ein so kritisches Thema wie die Reformation, die Theologie Luthers schon so zusammenzuarbeiten«118. Das führte dazu, dass im Jubiläumsjahr von Luthers 500. Geburtstag 1983 die internationale gemeinsame Kommission von römisch-katholischen und evangelisch-lutherischen Theologen eine Erklärung veröffentlichte, die für traditionelle katholische Ohren den revolutionären Titel trug: »Martin Luther – Zeuge Jesu Christi«.119 Jetzt im Jahr 1996 kam es erstmals in Deutschland zu einem »Wort zum 450. Todesjahr Martin Luthers aus der evangelischen und katholischen Kirche in Thüringen und Sachsen-Anhalt«120, das von den fünf leitenden Geistlichen unterzeichnet war. Am 22. Juni 1996 hatte der Bischof von Paderborn zu einem ökumenischen Wortgottesdienst mit Papst Johannes Paul II. in den Paderborner Dom eingeladen. Dort hielt der Papst eine Ansprache, in der er auch auf Martin Luther zu sprechen kam: »Luthers Ruf nach Reform der Kirche war in seiner ursprünglichen Absicht ein Aufruf zu Buße und Erneuerung, die im Leben eines jeden Einzelnen zu beginnen haben. Dass dennoch Trennung aus diesem Anfang geworden ist, hat viele Gründe. Dazu gehört jenes Versagen in der katholischen Kirche, das bereits Papst Hadrian VI. mit bewegenden Worten beklagt hat, sowie das Hereintreten politischer und wirtschaftlicher Interessen, aber auch Luthers eigene Leidenschaft, die ihn weit über das anfangs Gewollte hinaus in eine radikale Kritik der katholischen Kirche, ihrer Lebensordnung und ihrer Lehre hineingetrieben hat. Wir alle haben Schuld auf uns geladen. Deshalb sind wir alle zur Buße aufgefordert und müssen uns alle immer wieder neu vom Herrn reinigen lassen.«121 Auch im Rheinland fanden 1996 unzählige Veranstaltungen zum Themenfeld Luther und die katholische Kirche statt. Die Kölner Dominikaner veranstalteten z. B. in ihrer Kirche St. Andreas am Hauptbahnhof dazu eine 10- bis 12-teilige Sommerreihe. In der Karl-Rahner-Akademie fanden Podiumsgespräche statt, etwa mit dem katholischen Lutherforscher Otto Herrmann Pesch. Sogar der Kölner Dom öffnete am 8. November um 17 Uhr seine Pforten für eine ökumenische Martinsfeier, in der anhand der berühmten Lutherrose von Grundschulkindern und Erwachsenen die Kernaussagen von Luthers Theologie erläutert wurden.122 Als theologischen Beitrag zum Lutherjahr im spezifischen Sinn versuchte der Ausschuss für innerdeutsche Ökumene und Catholica das Wort »katholisch« aus seiner konfessionalistischen Enge zu befreien und ihm seine altkirchliche 118

LS 1967, 111. In: Dokumente wachsender Übereinstimmung (DWÜ), H. Meyer u. a. (Hg.), Band II, Paderborn / Frankfurt a.M. 1992, 444–451. 120 In: KÖN 2/6, 1996: »Das aktuelle Dokument« (Hvg. von mir). 121 In: KÖN 3/6, 1996, Das aktuelle Dokument (3), Z. 6. Wie man damals hörte, sei der Papst bereit gewesen, diesen Worten Taten folgen zu lassen und auf der Wartburg ein selbstkritisches Wort zum Umgang der damaligen katholischen Kirche mit Luther zu sprechen; auf deutscher katholischer Seite sei man jedoch der Meinung gewesen, dafür sei »die Zeit noch nicht reif«. 122 Vgl. KÖN 4/6, 1996, S. 5; KÖN 1/7, 1997, Pressestimmen. 119

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und ökumenische Weite zurückzugewinnen, so dass das Wort auch für evangelische Ohren und Herzen akzeptabel werden könnte: »Evangelische Katholizität«123. Dieser Versuch ist von der Düsseldorfer Kirchenleitung nur mit spitzen Fingern entgegengenommen und in sichere Schließfächer verfrachtet worden, wo er vermutlich bis heute ruht. Die Zeit war offenbar für einen solchen Vorstoß noch nicht reif. Ist sie es heute? Vom 19. April bis zum 16. Mai 1996 fand im Bistum Trier eine Heilig-Rock-Wallfahrt statt. Bekanntlich gilt die im Trierer Dom aufbewahrte alte Tunika als Leibrock Christi und insofern als Symbolgewand (vgl. Joh 19,23) für die ungeteilte Christenheit. »Darum weiß sich die Heilig-Rock-Wallfahrt 1996 dem Anliegen der Ökumene zutiefst verpflichtet«, schrieb der gastgebende Bischof Hermann Josef Spital in seinem Grußwort für das Pilgerbuch124. Die Wallfahrt erhielt das Leitwort: »Mit Jesus Christus auf dem Weg« (vgl. Joh 14,6). Frühzeitig hatte Bischof Spital die Evangelische Kirche im Rheinland zur Mitbeteiligung eingeladen. Das war derart ungewöhnlich, dass Präses Beier den CatholicaAusschuss um eine Stellungnahme bat: »Erstmals in der Geschichte dieser Wallfahrt sollen evangelische Christen dazu eingeladen werden, sich an den Vorbereitungen zu beteiligen und dabei die reformatorische Tradition einzubringen.« Nach etwa einjähriger Diskussion befürwortete die Mehrheit im Ausschuss die Einladung als »Zeichen einer ökumenischen Gastfreundschaft, die deutlich machen kann, dass alle Christen zu dem Ziel der in Christus vorgegebenen Einheit unterwegs sind ... Dabei sind sie sich durchaus darüber im Klaren, dass ein solcher gemeinsamer Pilgerweg beiden Seiten die Bereitschaft zum Risiko abverlangt.«125 Den Anfang des ganzen Unternehmens machte in der Osterwoche gleichsam als tonangebende Ouvertüre ein ökumenisches Symposium in der katholischen Akademie Trier, an dem neben den beiden Schirmherren Spital und Beier auch kein geringerer als der Ökumene-Kardinal aus Rom Edward Cassidy teilnahm. Es folgte in der letzten Aprilwoche ein ökumenischer Pilgerweg von Köln nach Trier, der wohl allen Teilnehmenden – mit den Pilgerandachten unterwegs, der Fußwaschung in Cochem oder dem Tischlein-deckdich-Picknick vor den Toren Triers – in unvergesslicher Erinnerung bleiben wird. Am 30. April fand der »Tag der Ökumene« in Trier statt, der wiederum als Pilgerweg von der evangelischen Konstantin-Basilika über den Hauptmarkt zum Dom gestaltet wurde. Anschließend unterzeichneten im Pilgerzelt bei gelöster Atmosphäre Präses Beier und Bischof Spital ihr gemeinsames Wort an die katholischen und evangelischen Gemeinden im Rheinland. In diesem bewegenden Dokument steht zu lesen: »Christus selbst ist mit uns auf dem Weg, und deshalb verbindet uns heute schon mehr als uns trennt ... Kirche im vollen Sinn können wir nur sein mit den anderen. Deshalb ist der gemeinsame Weg der Christen der verschiedensten Glaubensrichtungen vor Ort nicht ein beliebiges Ziel neben vielen anderen, sondern eine grundlegende Wirklichkeit und Aufgabe unserer Gemeinden ... Vor unserem Herrn Jesus Christus sehen wir uns verpflichtet, die im vergangenen

123

Manuskript, H.-G. Link (Hg.), Köln 1997, 30 S. Pilgerbuch 1996, S. Schmitt (Hg.), Trier 1996, 8. 125 Stellungnahme ... zur Wallfahrt zum Heiligen Rock in Trier vom 6. Juni 1994, in: KÖN 2/6 1996, 1. gelbes Blatt. 124

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Jahrtausend entstandenen Spaltungen der Christenheit im dritten Jahrtausend nicht fortdauern zu lassen.«126 Die Wiederentdeckung des wandernden Gottesvolkes in Gestalt der Trierer Heilig-RockWallfahrt hat Peter Beier derart inspiriert, dass er sogar ein »Pilgerlied« dazu gedichtet hat, das nicht nur in das Pilgerbuch, sondern inzwischen auch in ein Ergänzungsheft des Trierer Gotteslob aufgenommen worden ist.127 In Trier hat Präses Beier, der am 10. November desselben Jahres überraschend starb, am 10. April auf dem Symposium sein ökumenisches Testament für Christen und Kirchen im Rheinland formuliert: »Würde mir heute gesagt, deine Zeit, Freund, ist um, bestelle dein Haus, schreibe das Testament, was müsste ich als ökumenische Hinterlassenschaft, was als ökumenische Bitte formulieren? Das: Im Jahr 2000. Kommt im Rheinland zusammen. Wagt den Versuch einer ersten rheinisch-ökumenischen Synode. Macht wird sie nicht haben. Aber Vollmacht vielleicht. Zum Dialog. Zur Versöhnung. Mitten in getroster Verzweiflung. Der Wind geht scharf. Immer ist Endzeit. Und was werden wir unserem Richter sagen? Unser gekreuzigter und auferweckter Herr segne das Bistum Trier und die Evangelische Kirche im Rheinland.«128 2.3

Die Wende an der Jahrtausendwende

Auf katholischer Seite hatte man frühzeitig damit begonnen, sich darüber Gedanken zu machen, wie man die Jahrtausendwende auch zu einem ökumenischen Ereignis machen könne. In seiner Ökumene-Enzyklika von 1995 hatte sich Johannes Paul II. ausdrücklich zur Fortsetzung der ökumenischen Öffnung des Konzils bekannt und zur lokalen Zusammenarbeit aufgerufen: »Mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil hat sich die katholische Kirche unumkehrbar dazu verpflichtet, den Weg der Suche nach der Ökumene einzuschlagen und damit auf den Geist des Herrn zu hören, der uns lehrt, aufmerksam die ›Zeichen der Zeit‹ zu lesen ... Die Beziehungen der Christen untereinander zielen nicht nur auf das gegenseitige Kennenlernen, auf das gemeinsame Gebet und auf den Dialog ab. Sie sehen vor und fordern schon jetzt jede nur mögliche praktische Zusammenarbeit auf den verschiedenen Ebenen: pastoral, kulturell, sozial und auch im Zeugnis für die Botschaft des Evangeliums.«129 Angeregt von solchen ermutigenden Worten und durch Modelle von örtlichen ökumenischen Projekten, die ich schon Anfang der 90er Jahre in Liverpool, Birmingham und Coventry kennengelernt hatte, kam es Ende der 90er Jahre auch im Rheinland zu einer verbindlicheren Form ökumenischer Zusammenarbeit auf lokaler Ebene. Den Anfang machten die katholische Pfarrgemeinde St. Adelheid und die evangelische TrinitatisKirchengemeinde in Köln-Neubrück, die nach zweijähriger Vorbereitung am Trinitatissonntag, 30. Mai 1999, die erste ökumenische Gemeindepartnerschaft am Ort auf deut-

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In: KÖN 3/6, 1996, Das aktuelle Dokument (1). In: Pilgerbuch 1996, 284. 128 In: KÖN 1/7, 1997, Das aktuelle Dokument. 129 Enzyklika Ut Unum Sint (zit.: UUS) von Papst Johannes Paul II. über den Einsatz für die Ökumene, 25. Mai 1995, VAS 121, Bonn 1995, Z. 3, S. 6 und Z. 40, S. 30. 127

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schem Boden miteinander abschlossen.130 Die erarbeitete und von den Kirchenleitungen akzeptierte »Vereinbarung« wurde im Rahmen eines ökumenischen Gottesdienstes von Mitgliedern aus Pfarrgemeinderat und Presbyterium zusammen mit den beiden Ortspfarrern auf dem Altar feierlich unterzeichnet und von nicht enden wollendem Beifall in der überfüllten Kirche begleitet.131 Der Abschluss dieser ersten offiziellen Gemeindepartnerschaft am Ort mit Brief und Siegel wirkte wie eine Initialzündung. Nur wenige Monate später folgten Gemeinden in Frechen und Wuppertal dem Kölner Beispiel. Im Laufe der Jahre entstand eine kleine Partnerschaftsbewegung, die sich vom nördlichen auf das südliche Rheinland ausdehnte, dann auf Baden und Westfalen übergriff und inzwischen zumindest bis nach Erfurt vorgedrungen ist. Ein weiterer ökumenischer Meilenstein wurde im Herbst 1999 gesetzt, als am Reformationssonntag, 31. Oktober, in der Augsburger St. Anna-Kirche die zuvor heftig umstrittene Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre (GER) von hochrangigen Vertretern der römisch-katholischen Kirche und des Lutherischen Weltbundes feierlich unterzeichnet wurde.132 Papst Johannes Paul II. ging beim Angelusgebet auf dem Petersplatz in Rom sofort darauf ein: »Ich möchte dem Herrn danken für dieses Zwischenziel auf dem Weg der Einheit und Gemeinschaft unter den Christen. Dieser Weg ist zwar steinig, aber auch reich an Freude ... Anlass zur Dankbarkeit ist zudem die Tatsache, dass dieses tröstliche Zeichen die Schwelle des Jahres 2000 berührt. Damit können sich die Christen beim Großen Jubiläum zwar noch nicht in voller Einheit darstellen, doch immerhin so, dass sie der Überwindung der Spaltungen des zweiten Jahrtausends sehr nahe sind.«133 Diese Passage lässt deutlich werden, mit welchen positiven Erwartungen der Papst der Jahrtausendwende entgegensah. Eine schnelle Verbindung zum Rheinland war dadurch gegeben, dass Präses Manfred Kock als EKD-Ratsvorsitzender an dem Ereignis in Augsburg teilnahm und anschließend dazu Stellung nahm: Die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre »markiert eine bedeutsame Annäherung zwischen allen reformatorischen Kirchen und der römischkatholischen Kirche in einer zentralen Frage der christlichen Lehre. Darum hat sie Bedeutung für alle Gliedkirchen der EKD ... Der weitere Dialog zwischen den reformatorischen Kirchen und der römisch-katholischen Kirche muss danach streben, dass sich die beteiligten Kirchen gegenseitig als Kirche Jesu Christi anerkennen.«134 Kock hatte damit eine Brücke von den lutherischen zu allen reformatorischen Kirchen, also auch zur unierten Evangelischen Kirche im Rheinland geschlagen. Kardinal Meisner äußerte sich ebenfalls anerkennend: »Das größte Verdienst der Gemeinsamen Erklärung besteht in den 130

Zum Hintergrund vgl. H.-G. Link (Hg.), Ökumenische Gemeindeerneuerung. Vorschläge für Ortsgemeinden, KÖB 25, Köln 1993, 5–23; H.-G. Link (Hg.), Ökumenische Gemeindepartnerschaft am Ort. Vorschläge – Modelle – Berichte – Dokumentation, KÖB 42, Köln 2002, 88 S. 131 In: KÖN 2/9, 1999, Pressestimmen. 132 Vgl. dazu F. Hauschildt (Hg.) u. a., Die gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre. Dokumentation des Entstehungs- und Rezeptionsprozesses (zit.: GER), Göttingen 2009, 1115 S. 133 GER 1046. 134 GER 1048f.

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gefundenen Formulierungen, welche die gegenseitigen Verurteilungen ablegen, ohne die jeweils eigene Überzeugung zu schmälern.«135 Viele rheinische Gemeinden feierten das kirchengeschichtliche Ereignis mit. In Köln sprach Harding Meyer am 31. Oktober und Otto Herrmann Pesch am 1. November, verbunden mit einem ökumenischen Lob- und Dankgottesdienst in der Dominikanerkirche St. Andreas136. Dorothea Sattler und ich hielten später auf dem 94. Katholikentag in Hamburg am 2. Juni 2000 Vorträge, in denen es um Stellenwert und Konsequenzen der GER »für das ökumenische Zusammenleben von Gemeinden am Ort« ging137. In all diesen Vorgängen ist etwas davon Wirklichkeit geworden, dass – wie es das Ökumenismusdekret sagt – »der Geist Christi ... sich gewürdigt hat, die getrennten Kirchen und Gemeinschaften als ›Mittel des Heils‹ (media salutis) zu gebrauchen«138. Aber nicht alle Erwartungen an die Jahrtausendwende wurden erfüllt. Die ökumenische Versammlung im Rheinland, zu der Präses Beier und Bischof Spital in ihrem Brief an die Gemeinden vom 30. April 1996 eingeladen hatten, kam nicht zustande. Sie fand nach Beiers plötzlichem Tod keinen einflussreichen Fürsprecher mehr und wurde zu keinem Zeitpunkt ernsthaft vorbereitet. Schlimmer noch erging es dem »panchristlichen Treffen«, das dem Papst schon 1994 vor Augen gestanden hatte: »Die ökumenische und universale Dimension des Jubeljahres wird von einem denkwürdigen panchristlichen Treffen in geeigneter Weise herausgestellt werden können.«139 Zu diesem Treffen ist niemals eingeladen worden, es ist auch nicht sorgfältig vorbereitet worden, und von einer Haltung brüderlicher Zusammenarbeit mit den Christen anderer Konfessionen und Traditionen, die sich der Papst gewünscht hatte, konnte bald gar keine Rede mehr sein. Denn statt die »Erfüllung des Lebens des Christen und der Kirche im dreieinigen Gott« zu feiern, wie der Papst sich die »feierliche Durchführung« des großen Jubeljahres 2000 vorgestellt hatte, erschien am 6. August 2000 die Erklärung der römischen Glaubenskongregation »Dominus Iesus – Über die Einzigkeit und die Heilsuniversalität Jesu Christi und der Kirche«140. In dieser kleinen Schrift, die, wie am Schluss versichert wird, von Papst Johannes Paul II. »mit sicherem Wissen und Kraft seiner apostolischen Autorität bestätigt und bekräftigt«141 worden ist, steht nun der eine Satz geschrieben, der nicht nur der jahrelangen hoffnungsvollen par cum pari-Zusammenarbeit von reformatorischen und römisch-katholischer Kirche die Grundlage entzog, sondern schlimmer noch das öffentliche Klima des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Kirchen auf Jahre hin in eine Atmosphäre des Misstrauens verwandelte: »Die kirchlichen Gemeinschaften hinge135

KNA-ÖKI 46, 9.11.1999, S. 4. Vgl. KÖN 4/9, 1999, Gelbe Seiten. 137 In: Sein ist die Zeit. 94. Deutscher Katholikentag Hamburg. Dokumentation, Bonn 2001, 94ff., 101ff. 138 KKK 233. 139 Apostolisches Schreiben Tertio Millennio Adveniente von Papst Johannes Paul II. an die Bischöfe, Priester und Gläubigen zur Vorbereitung auf das Jubeljahr 2000, 10. November 1994, VAS 119, Bonn 1994, Z. 55, S. 43. 140 Zit.: DJ, VAS 148, Bonn 2000. 141 DJ 33. 136

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gen, die den gültigen Episkopat und die ursprüngliche und vollständige Wirklichkeit des eucharistischen Mysteriums nicht bewahrt haben, sind nicht Kirchen im eigentlichen Sinn.«142 Die Wogen der Empörung schlugen hoch außerhalb und teilweise auch innerhalb der katholischen Kirche, wie sich jeder an den Vorgängen Interessierte erinnern wird. Das Schlimmste an der Formulierung besteht meines Erachtens darin, dass sie bei formalem und zum Teil wörtlichem Bezug auf Texte des Konzils wie das Ökumenismusdekret143 den Sinn der dortigen Aussagen in ihr Gegenteil verkehrt, mit anderen Worten, die ökumenische Geschäftsgrundlage mit den reformatorischen Kirchen aufkündigt.144 Dadurch, dass die abgrenzenden Behauptungen im Jahr 2007 von der Glaubenskongregation sinngemäß und teilweise wörtlich wiederholt worden sind145, können sie auch nicht die mildernden Umstände eines theologischen Betriebsunfalls für sich in Anspruch nehmen. Wie hat die evangelische Kirche auf diese neue Situation reagiert? Ein Jahr nach der Unterzeichnung der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre verschickte das Düsseldorfer Landeskirchenamt ein »Wort zum Reformationstag 2000« an die Gemeinden mit der etwas trotzigen Überschrift: »Wir sind Kirche!« Es setzt sich mit Dominus Iesus auseinander und kommt zu dem Schluss: »Wir machen unsere weiteren ökumenischen Bemühungen nicht von dem herabsetzenden Urteil einer römischen Kongregation abhängig. Deshalb rufen wir alle Christinnen und Christen in unserer Kirche auf, denen die wachsende Gemeinschaft mit unserer Schwesterkirche am Herzen liegt, sich wegen dieses Rückschlags nicht enttäuscht abzuwenden, sondern vor Ort Schritt für Schritt die Annäherung unserer Gemeinden voranzubringen.«146 Die EKD-Synode hat zu der Erklärung Dominus Iesus noch im November 2000 einen Beschluss gefasst, den sich die rheinische Landessynode zu eigen gemacht hat. Darin ist von »Betrübnis« über drei »in der Erklärung Dominus Iesus manifeste theologische Irrtümer« die Rede, die einzeln benannt werden. Der rheinische Beschluss der Landessynode 2001 fährt dann versöhnlicher fort. Er will auf dem gemeinsamen Weg auch mit der römisch-katholischen Kirche fortschreiten. »An der gewonnenen Gemeinschaft halten wir fest. Ein Zeichen für diese Gemeinschaft sind die vielen Reaktionen, die uns nach der Veröffentlichung von Dominus Iesus erreicht haben. Sie haben uns in unserer Hoffnung auf eine lebendige ökumenische Zukunft gestärkt.« In diesem versöhnlichen Geist ist der rheinische Beschluss mit dem Satz überschrieben: »Der Weg der Evangelischen Kirche im Rheinland bleibt ökumenisch.«147 An dem Wort zum Reformationstag 2000 und dem gemeinsamen Beschluss der Landessynode 2001 wird erkennbar, welche Auswirkungen das Konzil auf die Evangelische Kirche im Rheinland nach 35 Jahren gezeitigt hat, so dass der von ihm begonnene Prozess der 142

DJ Z. 17, Abs. 2, S. 23. ÖD 22,3; KKK 248. 144 Vgl. dazu H.-G. Link, Von der Öffnung zur Abgrenzung. Ökumenismusdekret und die Erklärung Dominus Iesus im Vergleich, in: KNA-ÖKI 6. Februar 2001, 12–14. 145 Antworten auf Fragen zu einigen Aspekten bezüglich der Lehre über die Kirche, besonders die 5. Frage und Antwort, in: KNA-ÖKI 29, 17. Juli 2007, Dokumentation. 146 H.-P. Friedrich, Schreiben an die Kirchenkreise und Gemeinden der EKiR vom 5.10.2000 (Az. III/12-10-10-2). 147 M. Kock (Hg.), Unser Weg bleibt ökumenisch. Beschlüsse der Landessynoden 2000 und 2001. Dokumentation, Düsseldorf 2002, 16–18 passim. 143

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ökumenischen Öffnung nun auch innerhalb der rheinischen Landeskirche »unumkehrbar« geworden ist. 3.

Regionale Akzente

Auch im ersten Jahrzehnt nach der Jahrtausendwende haben wichtige ökumenische Ereignisse stattgefunden: 2001 die Verabschiedung der Charta Oecumenica über die ökumenische Zusammenarbeit der Kirchen in Europa, 2003 der erste ökumenische Kirchentag in Berlin: »Ihr sollt ein Segen sein«, 2005 der Weltjugendtag in Köln, 2007 die gegenseitige Taufanerkennung in Magdeburg, der 31. Deutsche Evangelische Kirchentag in Köln und die dritte europäische ökumenische Versammlung in Sibiu/Rumänien, 2010 der zweite ökumenische Kirchentag in München: »Damit ihr Hoffnung habt.« Diese ökumenischen Begegnungen haben jedoch nicht mehr einen so unmittelbaren Bezug zum Konzil wie die Ereignisse in den 90er Jahren. Der rheinische Ausschuss für Innereuropäische Ökumene und Catholica hat schwerpunktmäßig an den Themen Ordination und Abendmahl gearbeitet, die im letzten Teil zu besprechen sind. So sollen hier zum Abschluss die regionalen Akzente verdeutlicht werden, die in der Zusammenarbeit zwischen der Evangelischen Kirche im Rheinland und den fünf katholischen Bistümern auf ihrem Gebiet sich zum Teil schon seit Jahrzehnten herauskristallisiert haben. Sie sind eine Art von ortskirchlicher Ökumene. Ich stelle sie kurz in alphabetischer Reihenfolge vor: Im Bistum Aachen148 gab es offenbar seit den 60er Jahren gute persönliche Beziehungen der Bischöfe Pohlschneider, Hemmerle und Mussinghoff zu den evangelischen Superintendenten. Sie finden u. a. ihren Ausdruck darin, dass sie bis heute zweimal jährlich abwechselnd im Bischofshaus und in der Wohnung eines der vier Superintendenten mit ihren Ehefrauen zu einem Abendessen und Gespräch über aktuelle Fragen zusammenkommen. An wichtigen Amtseinführungen können Geistliche der anderen Konfession in liturgischer Kleidung teilnehmen. Die Aachener Kreissynode hat schon 1970 den Leiter der Bischöflichen Akademie, Prälat Philipp Boonen, zu einem Vortrag über »Gemeinsame Aufgaben: pastorale Reformen in unseren Kirchen« eingeladen. Umgekehrt nehmen seit Anfang der 70er Jahre auch evangelische Männer am jährlichen Bußgang mit dem Aachener Friedenskreuz teil, der am Vorabend des Passionssonntags in der Fastenzeit stattfindet. Die Evangelische Gesellschaft und die Bischöfliche Akademie führen seit den 60er Jahren einzeln und gemeinsam Veranstaltungen zu ökumenischen Themen durch. Das gute Einvernehmen zwischen den Konfessionen findet darin seinen besonderen Ausdruck, dass zur Ökumene-Kommission des Bistums seit 1972 bis heute je ein evangelischer Pfarrer, ein orthodoxer Geistlicher und ein freikirchlicher Vertreter gehören – eine bislang einmalige Konstellation im Bereich der deutschen Bistümer.

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Vgl. dazu das Schreiben des Beauftragten für Ökumene im Bistum Aachen Dr. Herbert Hammans an den Verfasser vom 25.1.2010.

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Im Bistum Essen gab es schon seit den 50er Jahren und bis zum heutigen Tag die zukunftsweisende »gemeinsame Sozialarbeit der Konfessionen im Bergbau«. Mitte der 60er Jahre wurde ein »Kontaktkreis« zwischen der Evangelischen Kirche im Rheinland und dem Bistum Essen ins Leben gerufen. 1977 gründeten Bischof Hengsbach und Präses Immer die »Stiftung Energie und Umwelt an Rhein und Ruhr«. Stadtsuperintendenten und Stadtdechanten beteiligten sich in den 80er Jahren an örtlichen ACK-Zusammenkünften in Essen. In Essen finden auch zum 9. November und zum »sozialpolitischen Aschermittwoch« regelmäßig ökumenische Gottesdienste statt.149 Wegweisend für die ökumenische Entwicklung im Bistum Essen wurde das »Hamborner Brüdermahl«, das der rührige Duisburger Rechtsanwalt und ökumenische Pionier Eberhard Spiecker 1963 aus der Taufe gehoben hatte.150 Es begann mit Bischof Dr. Franz Hengsbach, im folgenden Jahr war Präses Beckmann zu Gast und seit 1965 kommen – von wenigen Ausnahmen abgesehen – regelmäßig der Essener Bischof und der rheinische Präses gemeinsam zum jährlichen Hamborner Brüdermahl, das nach wie vor Eberhard Spiecker als Gastgeber ausrichtet. Besondere Akzente setzten die Besuche von anglikanischen, katholischen und presbyterianischen Kirchenführern aus Irland 1973 und 1987. 1989 war der Leiter des kirchlichen Außenamtes des Moskauer Patriarchats Metropolit Philaret eingeladen. Ihren bisherigen Höhepunkt erreichten die Hamborner Brüdermahle 1999 mit dem Besuch von Kardinal Josef Ratzinger, der zur Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre einen Vortrag hielt. Im Erzbistum Köln hat die ökumenische Zusammenarbeit die längste Tradition, denn sie begann bereits 1946 mit dem erwähnten Robert-Grosche-Kreis151, heute offiziell »Kölner Ökumenisches Bibelgespräch« genannt. Zeitgleich mit dem Beginn des Konzils nahm 1962 der »Ökumenische Arbeitskreis der Kirchen in Köln«152 seine Tätigkeit auf, bis er 1989 in die ACK Köln überführt wurde. Ab 1968 machte das Kölner Politische Nachtgebet in der regelmäßig überfüllten Antoniterkirche mit Dorothee Sölle und ihrem ökumenischen Trägerkreis von sich reden. 1980 wurde der »Evangelisch-katholische Arbeitskreis für Ökumene im Stadtbereich Köln« ins Leben gerufen. Er hat bis zum Jahr 2008 nicht weniger als elf Kölner Ökumenetage zuwege gebracht, die so gut wie alle auch dokumentiert sind.153 Erfreulicherweise blieben sie nicht auf die Stadt Köln beschränkt. In Düssel und Wülfrath gibt es seit 1988 ökumenische Dorfkirchentage; da sie meistens Anfang November stattfinden, tragen sie die schöne Überschrift: »Reformation aller Heiligen«. Von dem Altenberger öku149

Diese Informationen verdanke ich dem Ökumene-Referenten des Bistums Essen Dr. Gerd Lohaus. 150 Vgl. dazu die Aufstellung von Ökumene-Daten, die mir E. Spiecker am 28.1.2010 zugänglich gemacht hat. 151 Dazu s.o. Anm. 2–4. 152 Vgl. dazu W. Korstick, Ökumenischer Arbeitskreis der Kirchen in Köln. Seine Geschichte, seine Aufgaben, sein Wirken. Eine Chronik von 1962–1986, Köln 1986; H. Aubel, Ökumene – Wo stehen wir heute in Köln?, Katholikenausschuss in der Stadt Köln, Nr. 13, Mai 1985. 153 Vgl. die Liste in: Ökumene in Köln – Ein Segen für Köln, Dokumentation 10. Ökumenetag, H.-G. Link / M. Müller (Hg.), KÖB 50, Köln 2004, 7f.

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menischen Kirchentag 1994 war schon die Rede. Seitdem gibt es im rheinisch-bergischen Kreis an verschiedenen Orten in unregelmäßigen Abständen Ökumenetage. Auch in Wuppertal werden seit 1998 ökumenische Kirchentage veranstaltet, der letzte am Pfingstmontag 2010 in Elberfeld.154 Kardinal Höffner unterstützte die ökumenische Bewegung mit seiner kleinen Schrift »Ermutigung zur ökumenischen Praxis in den Gemeinden«155; der Diözesanrat des Erzbistums veröffentlichte 1994 mit dem Segen von Weihbischof Klaus Dick eine »Handreichung zur Arbeit in der Ökumene vor Ort«. Kardinal Meisner verfasste im November 1998 einen Pastoralbrief zur Ökumene. Hinzu kamen öffentliche Äußerungen des Kölner Ökumenischen Studienkreises mit Prof. Johannes Brosseder und mir zu wichtigen theologischen Fragen156. In den 90er Jahren gab es vor Pfingsten die »Kölner Ökumenische Woche«, ökumenische Pfingsttage in Altenberg und die ökumenische Martinsfeier im Kölner Dom.157 Im Jahr seiner 750-jährigen Grundsteinlegung 1998 fanden insgesamt sieben ökumenische Gottesdienste dort statt158, was man im Blick auf dieses Symbol-Bauwerk für das katholische Selbstverständnis schon als unerhört bezeichnen muss. Bei manchem ökumenischen Anlass durften nun auch evangelische Prediger die Domkanzel betreten, dazu zählen Stadtsuperintendent Heinz Aubel, OKR Jürgen Regul, die Präsides Beier, Kock und Schneider und am spektakulärsten zum Weltgebetstag 1998 als erste Frau in der Geschichte des Domes die Kölner Pfarrerin Almuth Voß. Seit 1998 finden in Abständen ökumenische Brückenwege statt, die sich großer Beliebtheit erfreuen, im neuen Jahrzehnt kamen Ökumenemonate in Gemeinden und gemeinsame Taufwege hinzu. Die Gemeindepartnerschaft am Ort, die in Köln-Neubrück geboren wurde, sei noch einmal in Erinnerung gebracht. Seit dem Evangelischen Kirchentag in Köln 2007, zu dem Präses Schneider und Kardinal Meisner eine eindrucksvolle gemeinsame Bibelarbeit und einen ökumenischen Fernsehgottesdienst im Dom beisteuerten, finden mit beiden jeweils am Vorabend des ersten Advent eine ökumenische Adventsvesper in Köln und am Vorabend des ersten Fastensonntags eine ökumenische Passionsandacht in Düsseldorf statt. Als Symbol für die ökumenische Bewegung hat die Kölner ACK ein etwa sechs Meter hohes und künstlerisch eindrucksvolles Kölner Ökumenekreuz geschaffen, das im Domforum gegenüber der Kathedrale seinen Ort hat, zu Ökumenemonaten von Gemeinden ausgeliehen wird, Brücken- und Taufwege begleitet und auf dem ersten und zweiten

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Die vorstehenden Informationen verdanke ich dem Ökumene-Referenten des Erzbistums Köln Dr. Raimund Lüllsdorff in einem Schreiben vom 5. Februar 2010. 155 Zeitfragen 26, Köln 1986. 156 Vgl. dazu: Ökumenische Entdeckungen. Aus der Arbeit des Kölner Ökumenischen Studienkreises, J. Brosseder / H.-G. Link (Hg.), KÖB 49, Köln 2004. 157 Vgl. dazu und zu vielen anderen ökumenischen Unternehmungen in Köln: H.-G. Link (Hg.), Ökumenische Rechenschaft 1987–2004. Berichte – Übersichten – Zusammenfassungen, KÖB 48, Köln 2004. 158 Vgl. dazu H.-G. Link, Dank an die Verantwortlichen für das Domjubiläum, in: KÖN 1/9, 1999, S. 3.

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ökumenischen Kirchentag in Berlin und München einen erfreulichen spirituellen Blickfang bot. Das Bistum Münster verfügt über die größte katholisch-theologische Fakultät in Deutschland mit gleich zwei Lehrstühlen für ökumenische Theologie. Die evangelischtheologische Fakultät hat zumindest ein ökumenisches Institut mit einem Professor als Leiter vorzuweisen. Diese Konstellation prädestiniert zu universitärer ökumenischer Kooperation. Das Ökumenereferat der Diözese mit Dr. Michael Kappes hat eine äußerst kreative theologische und praktische Zusammenarbeit mit anderen Bistümern und evangelischen Landeskirchen entwickelt.159 Mit der Evangelischen Kirche im Rheinland verbindet das Bistum Münster nur ein relativ kleines gemeinsames Gebiet am Niederrhein. Dort finden seit 1986 in Kevelaer und Kleve regelmäßige Tagungen zu ökumenischen Themen statt. Zu dem jeweiligen Jahresthema werden drei Abendveranstaltungen aus der Sicht der drei großen Konfessionsfamilien angeboten: katholisch, evangelisch und orthodox. Einige Jahresthemen seien genannt: Die Bibel im Glauben und Leben der Kirchen (2007), Das Kirchenverständnis im ökumenischen Gespräch (1992), Einig in der Lehre von der Rechtfertigung? (1991, 1998, 2000), Das Papsttum im ökumenischen Gespräch (1994), Wie steht es um die Ökumene am Ort? (1991/92, 2004), Gemeinschaft von Frauen und Männern in der Kirche (1995), Typisch katholisch – typisch evangelisch? (2008).160 Von den Ereignissen im Bistum Trier ist schon im Zusammenhang der Heilig-RockWallfahrt 1996 ausführlich die Rede gewesen. Seit 1999 gibt es im Rahmen der jährlichen Heilig-Rock-Tage im April oder Mai auch jeweils einen »Tag der Ökumene«, der im Jahr 2010 bereits zum elften Mal stattfindet. Im vormittäglichen ökumenischen Gottesdienst haben von 1999 bis 2002 vier Frauen nacheinander die Predigt gehalten161. Als Prediger und/oder Referenten waren u. a. zu Gast: Landesbischöfin Margot Käßmann, Bischöfin Bärbel Wartenberg-Potter, Professor Dr. Konrad Raiser und seine Frau Elisabeth als Predigerin, Professor Dr. Theodor Schneider, Metropolit Augoustinus, Bischof Walter Klaiber, Kardinal Walter Kasper.162 Die nächste Heilig-Rock-Wallfahrt hat bereits im Jahre 2012 stattgefunden. Zu ergänzen bleibt, dass seit 1972 am Buß- und Bettag regelmäßig ein ökumenischer Gottesdienst entweder im katholischen Dom oder in der evangelischen Konstantin-Basilika mit Präses und Bischof gefeiert wird, in dem der jeweilige Gast die Predigt und der Gastgeber die Liturgie hält. Im Jahr 2003 hat der Katholikenrat Trier eine Rahmenvereinbarung für ökumenische Gemeindepartnerschaften am Ort ausgearbeitet, die von Bischof Marx 159

Davon zeugen Schriften wie »Die Botschaft von der Rechtfertigung in ihrer Bedeutung für Menschen heute«, Münster 1999; »Ermutigung für die ökumenische Arbeit vor Ort. I. Grundlagen, II. Modelle«, Münster 2003; »Ökumenische Gemeindepartnerschaften am Ort. Leitlinien ...«, 2006. 160 Vollständige Liste von Dr. Michael Kappes am 28. Januar 2010. 161 Margot Käßmann, Bärbel Wartenberg-Potter, Elisabeth Raiser, Barbara Rudolph. 162 Diese Informationen verdanke ich dem Ökumene-Referenten des Bistums Trier Dr. Siegfried Schmitt.

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ratifiziert worden ist. Insgesamt sind im Bistum Trier bisher 18 solcher Partnerschaften abgeschlossen worden.163 Im Jahr 2010 sind seit der Beendigung des Zweiten Vatikanischen Konzils rund 45 Jahre vergangen, fast ein halbes Jahrhundert. Welche Auswirkungen hat es im Rheinland gezeitigt? Drei Aspekte möchte ich nennen: Die Euphorie während und nach dem Konzil war so etwas wie »erste Liebe« nach einer jahrhundertelangen Eiszeit; sie dauerte etwa bis zum Anfang der 70er Jahre. Es gab Phasen der Ernüchterung, etwa als 1973 klar wurde, dass die römisch-katholische Kirche nicht dem ÖRK beitreten würde; 1992 mit der Communio-Schrift und 2000 mit der Veröffentlichung von Dominus Iesus. Und es gab Phasen der Konsolidierung in den evangelisch-katholischen Beziehungen; dazu zählen meines Erachtens die Jahre von 1993 bis 1999 und die Zeit ab 2007. Insgesamt wird man sagen dürfen, dass in, mit und unter allen Auf- und Ab-Bewegungen sich ein Prozess der Zuwendung von evangelischen und katholischen Christen und Kirchen vollzogen hat, der – wie die bisher einschneidendste Krise im Jahr 2000 gezeigt hat – unumkehrbar geworden ist. Offen bleibt die Frage, wann es zu einem offiziellen Akt der Versöhnung und des Bundesschlusses zwischen evangelischer und katholischer Kirche kommen wird.164 Das überschreitet den Rahmen des Rheinlandes erheblich und verlangt nach einer gesamtkirchlichen Antwort.

IV. Theologische Auswirkungen auf das Leben der Evangelischen Kirche im Rheinland Sobald das Konzil mit seiner inhaltlichen Arbeit begonnen hatte, wurde schnell klar, dass hier in erster Linie keine innerkatholischen Fragen behandelt wurden, sondern Themen, die jede Kirche, also die ganze Christenheit betreffen. Deshalb widmete der ökumenisch hellhörige Präses Beckmann den Entwicklungen auf dem Konzil so viel Raum in seinen Jahresberichten vor der Landessynode. Eine solche umfassende Sicht der ZueinanderBewegung der Kirchen vertrat auch Präses Beier, als er 1992 zu dem CommunioSchreiben der Glaubenskongregation in seinem Brief an Kardinal Ratzinger Stellung nahm: »Ich weiß sehr wohl, dass dieses Schreiben nicht an die anderen Kirchen und auch nicht an die einzelnen römisch-katholischen Christen gerichtet ist. Wir sind jedoch in der evangelischen Kirche der Auffassung, dass jedes größere Ereignis und jeder größere Vorgang in einer Kirche die anderen Kirchen und ihre Glieder mitbetrifft. Ihr Schreiben bewerte ich als solch einen größeren oder bedeutenderen Vorgang von ökumenischer Tragweite, zumal Ihr Schreiben auch direkte Aussagen über die nicht römischkatholischen Kirchen enthält.«165 In dieser Hinsicht waren sich Präses und Kardinal völlig einig, wie aus Ratzingers Antwort deutlich hervorgeht: »In zwei Punkten kann ich Ihnen uneingeschränkt zustimmen. Ein Brief an die Bischöfe der katholischen Kirche ist keine 163

Liste der Gemeinden vom 1.12.2009 bei Ordinariatsrat Dr. S. Schmitt. Vgl. dazu H.-G. Link, »Gemeinsam auf dem Weg in versöhnter Verschiedenheit«. Vorschlag für ein gemeinsames Wort evangelischer und römisch-katholischer Christen ..., in: H.-G. Link, Die Zeit ist reif, Sonderdruck Junge Kirche, Beilage zu 2/2003, 59–61. 165 Schreiben vom 25. November 1992, 40023 Az. 12-11-1. 164

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rein innerkatholische Angelegenheit, sondern betrifft die Christenheit im Ganzen. Insofern ist es nicht nur berechtigt, sondern wünschenswert, dass auch die übrigen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften dazu Stellung beziehen. Richtig ist ferner, dass es nicht angeht, den Text als nebensächliche Angelegenheit abzutun ... Deshalb kann ich auch Ihr Schreiben als Ausdruck der Sorge im Ringen um die Einheit des Leibes Christi sehr wohl verstehen. Verletzend wäre Gleichgültigkeit oder das Ignorieren des anderen; Sorge ist Ausdruck gemeinsamer Verantwortung, und daher hilft sie gerade auch da, wo sie kritisch ist.«166 Schon dieses Herangehen an ökumenische Probleme in »gemeinsamer Verantwortung« war ein gutes Vierteljahrhundert nach dem Konzil eine nicht zu unterschätzende Auswirkung seines Geistes und seiner Ergebnisse. Der Wortlaut der Konzilstexte hat in der Evangelischen Kirche im Rheinland keine allzu große Rolle gespielt. Wirklich zur Kenntnis genommen und bearbeitet wurde eigentlich nur das Ökumenismusdekret, wozu wahrscheinlich auch die Konzentration des bahnbrechenden Beckmann/Jaeger-Gesprächs 1965 auf diese Erklärung beigetragen hat. In theologischen Erörterungen spielten auch Passagen aus der Kirchenkonstitution – etwa die Ziffern 8 und 15 –, ebenfalls auch aus der Offenbarungskonstitution – z. B. Ziffer 10 – eine gewisse Rolle. Sonst war es nur der berühmte Abschnitt über das Verhältnis zum Judentum in der Erklärung zu den nichtchristlichen Religionen167, der gerne aufgegriffen wurde. Wichtiger als einzelne Textpassagen waren verschiedene Themen, die zum Teil heftig diskutiert wurden. Es gab typisch evangelische Themen wie die immer wieder angesprochene sog. Mischehenfrage, die Praxis der Konditionaltaufe und die Frage der »Interkommunion« beim Abendmahl. Auf katholischer Seite interessierte man sich ökumenisch mehr für Fragen der Liturgie insgesamt, der Sakramente und des Kirchenverständnisses. Beide Kirchen trafen sich in ihrem Interesse an der Aufarbeitung des Verhältnisses zum Judentum, wobei die evangelische Seite möglicherweise »die Nase vorn« hatte. Im Rahmen dieses Beitrages ist es selbstverständlich völlig ausgeschlossen, auch nur annähernd die theologischen Themen auszuschöpfen, die hier zur Debatte stehen. Ich kann und will lediglich versuchen, einige Themenfelder anzusprechen und auf erste Auswirkungen im Bereich der Evangelischen Kirche im Rheinland aufmerksam zu machen. 1.

Zum Gottesdienst

Im evangelischen Rheinland wie in evangelischen Kreisen in Deutschland insgesamt begann man aufzuhorchen, als man in der Liturgiekonstitution des Konzils von der »Schatzkammer der Bibel« las, von Schriftlesungen, die »reicher, mannigfaltiger und passender« ausgestaltet werden sollten, vom »Gebrauch der Muttersprache«, von »Homilie«, also Schriftpredigt und »eigenen Wortgottesdiensten«168. Man verstand diese neuen Töne auf dem Konzil als endliche Aufnahme jahrhundertealter reformatorischer Einsich166 167 168

Schreiben vom 23. Februar 1993, Citta del Vaticano. Nostra aetate, Z. 4 und 5, KKK 357–359. KKK 60–69 passim.

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ten und Forderungen. Nachdem sich der katholische Messgottesdienst in dieser Weise der Schrift und dem Wortgottesdienst geöffnet hat: Hat sich im Gegenzug der evangelische Wortgottesdienst auch der katholischen Sakramentsfeier geöffnet? Davon kann m. E. nur sehr bedingt die Rede sein. Die wichtigste evangelische Neuerung besteht darin, dass die Feier des Abendmahls nicht länger »im Anschluss« an den Wortgottesdienst gehalten wird, wie es in den 50er Jahren noch gang und gäbe war, sondern – sofern sie angeboten wird – in die Liturgie des »Hauptgottesdienstes« hineingenommen wird. Bekanntlich wurden im ersten Jahrfünft nach dem Konzil gemeinsame liturgische Texte für den Gottesdienst erarbeitet. »Es soll die Einheit der Texte Zeichen des ökumenischen Willens der Kirchen sein«, schrieb Präses Beckmann zusammen mit dem Mainzer Bischof Volk in einer Erklärung zu den »neuen ökumenischen liturgischen Texten«169. Davon sind im evangelischen Rheinland aber praktisch nur das Vater Unser, das Apostolikum und das Agnus Dei übernommen worden, nicht aber das Gloria in excelsis Deo, nicht einmal die ökumenische Fassung des Gloria Patri, auch nicht das Sanctus und das Große Glaubensbekenntnis von Nizäa-Konstantinopel. Trotz vielfacher Bemühungen nicht nur von meiner Seite170 ist es bis heute nicht gelungen, dieses einzige gemeinsame Bekenntnis der Christenheit wenigstens in evangelischen Abendmahlsgottesdiensten des Rheinlandes liturgisch zu beheimaten. Hier sind elementare ökumenisch-liturgische Hausaufgaben seit Jahrzehnten nicht erledigt worden. Auch in anderer Hinsicht könnte in evangelischen Sonntagsgottesdiensten ökumenisch mehr getan werden, als in der Regel geschieht: Ich denke hier an die Begrüßung nicht-evangelischer (und nicht-deutscher) Gottesdienstteilnehmer, an die Fürbitte für katholische Nachbargemeinden, an ein Gebet für das Zusammenfinden von Christen und Kirchen. Ökumenische Wortgottesdienste werden inzwischen landauf landab gefeiert, allerdings nehmen ihre Zahl und die Qualität ihrer Vorbereitung nach meiner Beobachtung vielfach ab. An manchen Orten, wo sie wie in der Kölner Antoniterkirche regelmäßig gefeiert werden, hat sich die Struktur des Vesper-Gottesdienstes als hilfreich erwiesen.171 In jüngerer Zeit wird auch die Praxis des Chorgesangs im anglikanischen evensong wiederentdeckt und manchmal übernommen.172 Ermutigend ist auch die zunehmende Einbürgerung von Stundengebeten in City-Kirchen. Zwei evangelische Wünsche möchte ich abschließend formulieren. Es wäre erstens erfreulich, wenn die Teilnahme an evangelischen Gottesdiensten auch als Erfüllung der katholischen Sonntagspflicht anerkannt würde. Und zweitens: Ökumenische Gottesdienste sollten nicht nur an Wochentagen, sondern auch an Sonn- und Feiertagen zur Selbstverständlichkeit werden.

169

W. Beinert u. a., Glaubensbekenntnis und Gotteslob der Kirche. Eine Handreichung zu den ökumenischen Neuübersetzungen, Zürich/Freiburg 1971, 8. 170 Vgl. H.-G. Link, Bekennen und Bekenntnis ÖS 7, BH 86, Göttingen 1998, 209ff. 171 Vgl. dazu H.-G. Link, Vorschläge zur Gestaltung ökumenischer Gottesdienste, in: L. Klein / H.G. Link (Hg.), Gemeinsam Feiern. Ökumenische Gottesdienste im Kirchenjahr, ÖK 2, Zürich / Neukirchen-Vluyn 1993, 100ff. 172 Z. B. in den Kölner Kirchen am Neumarkt Antoniter und St. Aposteln.

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Zu Taufe und Rechtfertigung

Die bis 1967 übliche Praxis, alle Konvertiten in der römisch-katholischen Kirche bedingungsweise zu taufen173, bedeutete für die evangelische Kirche einen Stein des Anstoßes ersten Ranges. Präses Beckmann und seine Nachfolger haben immer wieder ihre kritische Stimme dagegen erhoben, da sie eine Diskriminierung evangelisch vollzogener Taufen darstellt.174 Kardinal Jaeger bemerkte dazu schon während des berühmten Gesprächs 1965: »Herr Präses, ich habe schon wiederholt erklärt, dass die Taufe überhaupt kein kontroverstheologisches Problem zwischen uns ist, höchstens ein disziplinäres Problem ... Ich habe die ganz innige Bitte: Räumen wir doch diese Angelegenheit zwischen den Kirchen aus ...«175 Das ökumenische Direktorium von 1967 entspannte dann insofern die Lage, als es einen theologischen Dialog über die Taufe, die Ausarbeitung geregelter Verfahrensweisen, schließlich den Abschluss von Übereinkommen über die gegenseitige Anerkennung der Taufe empfahl.176 Dazu ist es im Rheinland jedoch erst eine Generation später in den 90er Jahren gekommen. Warum erst so spät? Präses Brandt sah sich noch 20 (!) Jahre nach den Empfehlungen von 1967 aus dem konkreten Anlass einer Konditionaltaufe dazu genötigt, die rheinische Pfarrerschaft »zu äußerster Korrektheit bei der Spendung der Taufe« anzuhalten.177 Der theologische Verständigungsprozess, der in anderen Kirchen bereits in den 70er und 80er Jahren zu beachtlichen Ergebnissen geführt hatte178, wurde im Rheinland erst in den 90er Jahren nachgeholt und führte dann sowohl zu der landessynodalen Erklärung »Zur ökumenischen Bedeutung der Taufe« von 1993 als auch zu der erwähnten Vereinbarung von 1996. Die Tauferklärung von 1993 bezieht sich sowohl auf Lima als auch auf Texte des Konzils und formuliert als Mitte folgendes ökumenisches Taufbekenntnis: »Auf dem Weg zur sichtbaren Gemeinschaft unserer Kirchen bekennen wir gemeinsam ›die eine Taufe zur Vergebung der Sünden‹, begründet im Evangelium, wie es die Bibel bezeugt, verpflichtend geworden im Missionsauftrag Christi, bekräftigt in den altkirchlichen Bekenntnissen, festgehalten in den Bekenntnisschriften der Reformation und den Dekreten des Konzils von Trient, bejaht als sakramentales Band der Einheit im Zweiten Vatikanischen Konzil und in der Konvergenzerklärung von Lima, verkündigt als Zeichen 173

»Wenn du getauft bist, dann taufe ich dich nicht; wenn du aber nicht getauft bist, dann taufe ich dich jetzt ...« Vgl. ÖD I. Paderborn 1967, Z. 14, S. 43: »Der Brauch, unterschiedslos alle zu taufen, welche die volle Gemeinschaft mit der katholischen Kirche wünschen, kann nicht gebilligt werden.« 174 Präses Beckmann in einem Schreiben an Kardinal Frings vom 31. Mai 1965: »Ich erkläre, dass kein vernünftiger Zweifel darüber bestehen kann, dass die Pfarrer der EKiR sich bei der Taufe an die Vorschriften der Agende über den Vollzug der Taufe halten, zumal sie durch ihr Amtsgelübde ausdrücklich dazu verpflichtet sind«, in: H.-G. Link (Hg.), »Wir bekennen die eine Taufe ...« (BET). Ökumenische Texte zu Tragweite, Anerkennung, Gedächtnis und Feier der einen Taufe, KÖB 21, Köln (1992) 1994, 49. 175 KD 1965, 873. 176 ÖD I, 45. 177 Schreiben im Juli 1987, BET 56. 178 Z. B. in Hessen 1977, in Baden 1980, Vgl. BET 32–38. Bischof Kamphaus von Limburg hat sich in seinem Schreiben an Präses Beier vom 1.3.1993 ausdrücklich darauf bezogen.

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des neuen Lebens in Christus und gefeiert als Sakrament in den Liturgien unserer Kirche.«179 Aus diesem Bekenntnis zur gegenseitigen Taufanerkennung leitet die Erklärung Folgerungen ab für die »ökumenischen Beziehungen zwischen unseren Kirchen« im Blick auf Gottesdienstgestaltung, Gemeindeverständnis und gemeinsames Zeugnis in der Öffentlichkeit. Insgesamt war diese landessynodale Tauferklärung von 1993 nicht nur eine hilfreiche Vorlage für die zwischenkirchliche Vereinbarung von 1996, sondern sie enthält darüber hinaus auch Anregungen für den innerkirchlichen Umgang mit der Taufe, die bis heute wegweisend geblieben sind. Erst in der zwischenkirchlichen Vereinbarung von 1996 wurde das jahrzehntelang die Beziehungen zwischen den Kirchen belastende Problem der Konditionaltaufen zufriedenstellend gelöst.180 Einen Schritt weiter führt die gemeinsame »theologische Grundlegung« der Taufe, die von »Rechtfertigung und Neuschöpfung« des Menschen spricht. Sie bezieht endlich die im Neuen Testament stark betonte ekklesiologische Dimension mit ein und zitiert zustimmend die Tauferklärung von Lima 1982: »Die Taufe gliedert den Getauften in den Christusleib, die Kirche, ein ... Daher ist unsere eine Taufe in Christus ein Ruf an die Kirchen, ihre Trennungen zu überwinden und ihre Gemeinschaft sichtbar zu manifestieren.« Von dieser theologischen Erkenntnis kommt die Vereinbarung zu der liturgischen Folgerung, »dass Angehörige der jeweils anderen Kirchen bei der Tauffeier bestimmte liturgische Funktionen übernehmen«181 können. In den gemeinsamen pastoralen Empfehlungen werden Vorschläge unterbreitet, wie die ökumenische Dimension der Taufe auch in konfessionellen Taufgottesdiensten mit Worten, Gesten und Riten zum Ausdruck gebracht werden kann. Sie empfehlen ebenso wie das ökumenische Direktorium von 1993182 gemeinsame Taufgedächtnisfeiern, die inzwischen an verschiedenen Orten im Rheinland zu einer festen Einrichtung geworden sind.183 Das Thema der Rechtfertigung des Menschen vor Gott, Herzstück reformatorischer Theologie, ist von Präses Beckmann u. a. immer wieder als Kern der Auseinandersetzung mit dem Katholizismus ins Feld geführt worden.184 Einen ersten Schritt zur Überwindung der Kontroverse hat die rheinische Landessynode 1993 mit ihrer Erklärung zu den Lehrverurteilungen getan. Dort hat sie als »Ergebnis« festgehalten: »Auf eine Rechtfertigungslehre, wie sie in dem Dokument ›Lehrverurteilungen – kirchentrennend?‹ zusammenfassend erläutert wird, trifft das Urteil nicht mehr zu: ›So bleiben wir ewiglich geschieden und gegeneinander‹ (Schmalkaldische Artikel II, 2.5); es wird von uns insofern künftig nicht mehr verwendet.«185 Über diese Absage an frühere Lehrverurteilungen hinaus hat die 179

LS 1993, 71. VAT, Kirchenrechtliche Regelung Z. 2»4, KÖN 2/6, 1996, 5. 181 VAT, Theologische Grundlegung Z. 3, KÖN 2/6, 1996, 3, 6. 182 Z. 96, S. 58. 183 Vgl. dazu die Schrift des Diözesanrates: Ökumenisches Taufgedächtnis. Grundsätzliche Überlegungen und praktische Vorschläge zur Gestaltung, Köln 2004; Taufgedächtnis und Glaubenserneuerung. Anregungen ..., ÖC-Texte 8, Frankfurt a.M. 2005. 184 Z. B. in seinem Gespräch mit Kardinal Jaeger, KD 1965, 877. 185 LS 1993, 80. 180

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rheinische Kirche jedoch keine Anstrengungen unternommen, zu einer positiven Verständigung über das Herzstück der Reformation zu gelangen. Das ist umso befremdlicher, als wenige Jahre später 1999 die »Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre« offiziell unterzeichnet worden ist. Soweit mir bekannt ist, hat sich die rheinische Landessynode zu keinem Zeitpunkt mit dieser epochalen Erklärung befasst, zu ihr Stellung genommen oder sie ihren Gemeinden ans Herz gelegt. Während die meisten deutschen – und ausländischen – evangelischen (Landes-)Kirchen offizielle positive Stellungnahmen abgegeben haben, unter ihnen eine so reformiert geprägte wie die Lippische186, hat die rheinische dazu kein eigenes Wort gefunden. Die Vorschläge zu »pastoralen Konsequenzen für das Leben von Gemeinden«, die von mir seinerzeit auf einem Pastoralkolleg in Rengsdorf und auf dem Hamburger Katholikentag vorgetragen und anschließend veröffentlicht wurden187, sind im Rheinland nicht aufgegriffen worden. Dabei geht es in der Frage der Rechtfertigung ebenso wie bei der Taufe um das Thema der Anerkennung: unserer Anerkennung durch Gott sola gratia, allein aus Gnade, sowie unserer gegenseitigen Anerkennung als Christen, als Menschen und nicht zuletzt auch als Kirchen. Insofern hatte der damalige Ratsvorsitzende Manfred Kock recht, als er in seiner Augsburger Stellungnahme zur Unterzeichnung der Gemeinsamen Erklärung darauf hinwies, dass es im weiteren Dialog nun darum gehen muss, »dass sich die beteiligten Kirchen gegenseitig als Kirche Jesu Christi anerkennen«188. Dazu gehören Verbindungslinien zwischen Taufe und Rechtfertigung, die bisher theologisch noch nicht ausführlich und ausdrücklich genug gezogen worden sind. Es wäre wünschenswert, von den Kirchen im Rheinland einen substanziellen Beitrag zur Weiterentwicklung dieses Kernthemas des Evangeliums zu erhalten. 3.

Zur Abendmahlsfrage

Aus evangelischer Sicht lautet die ökumenische Abendmahlsfrage: Ist es möglich, die Kommunion im Gottesdienst einer Kirche zu empfangen, mit der volle Kirchengemeinschaft noch nicht besteht? Daher konzentriert sich im Rheinland das Abendmahlsthema im Blick auf die katholische Kirche weitgehend auf die Frage nach Interkommunion bzw. eucharistischer Gastfreundschaft. Im Vorfeld dieser Fragestellung wollte Präses Beckmann 1965 von Kardinal Jaeger erfahren, ob nach katholischer Auffassung die Christusgemeinschaft im evangelischen Abendmahl nur bezeichnet oder auch vollzogen wird. Jaeger antwortete mit Augustinus gegen Zwingli, dass ein »Zeichen« tatsächlich auch etwas bewirkt, also als signum efficax zu verstehen ist und es sich insofern auch bei der evangelischen Abendmahlsfeier um »eine geistliche Realität« handelt.189 In dieselbe Richtung argumentierte auch Msgr. Jo186

Vgl. GER 2009, 534ff., bes. 685ff. In: Una Sancta 3/2000, 253–258; Sein ist die Zeit. Dokumentation des 94. Deutschen Katholikentages in Hamburg, Kevelaer 2001, 101–104. 188 GER 2009, 1048f. 189 KD 1965, 880f. Vgl. auch die auf Kardinal Ratzinger zurückgehende Formulierung, dass »auch eine am Sukzessionsbegriff orientierte Ekklesiologie, wie sie in der katholischen Kirche gilt, keineswegs heilschaffende Gegenwart des Herrn im lutherischen Abendmahl leugnen muss«, in: 187

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hannes Hüttenbügel in seinem Korreferat vor der Landessynode 1973, dass nach katholischem Verständnis Eucharistie »nicht nur Einheit voraussetzt und darstellt, sondern auch Einheit schafft ..., Einheit unter den an ihr Teilnehmenden je neu bewirkt«190. In gewisser Weise haben diese beiden katholischen Voten damit auch dem evangelischen Abendmahl das »bezeichnet und bewirkt« (significatur et efficitur) zugestanden, von dem das Ökumenismusdekret im Blick auf Eucharistie und Einheit der Kirche spricht191. Arnold Nieland ging es in seinem Hauptvortrag 1973 gezielt um »das Problem der Interkommunion«. Mit Berufung auf das johanneische Jesuswort: »Wer zu mir kommt, den werde ich nicht hinausstoßen« (Joh 6,37), vertritt er die offene evangelische Einladung zum Abendmahl, die zur Folge hat, dass »wir auch grundsätzlich nicht die Absicht ... (haben), eine solche Teilnahme von Katholiken an der Abendmahlsfeier zu hindern«. Das bedeutet für ihn jedoch keineswegs, Interkommunion einfach zu praktizieren, ohne sich mit der Partnerkirche darüber verständigt zu haben: »Es ist kein ökumenischer Stil, Entscheidungen vorwegzunehmen, ohne die andere Seite daran zu beteiligen.«192 Diese Sicht macht sich die Synodalerklärung von 1973 zu eigen. Sie unterstreicht ausdrücklich ihren Willen, über das Thema Abendmahlsgemeinschaft in »offizielle Beratungen« einzutreten und die kirchentrennenden Faktoren nun im »beharrlichen Gespräch« aufzuarbeiten. Um jedoch Unsicherheiten im Verhalten und Unklarheiten über die eigene Position möglichst zu vermeiden, stellt die Erklärung im Anschluss an eine Formulierung aus der reformierten Kirche in Holland folgenden Grundsatz auf: »Solange noch keine Einigung erzielt ist, soll in der Evangelischen Kirche im Rheinland niemand vom Abendmahl zurückgewiesen werden, der in seiner Kirche im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes getauft und zum Abendmahl zugelassen ist, sofern er sich nicht durch Ordnungen seiner Kirche daran gehindert weiß.«193 Das ist die offizielle Haltung der Evangelischen Kirche im Rheinland zur Abendmahlsfrage bis zum heutigen Tag. Schwieriger ist die Frage zu beantworten, wann, wo, mit wem und wie oft das von der Landessynode so dringlich geforderte »beharrliche Gespräch« und sogar »offizielle Beratungen« über das Abendmahl mit der katholischen Seite im Rheinland anschließend nun geführt worden sind. Ich habe darüber keine Belege gefunden.194 Erst zwanzig (!) Jahre später spielt das Thema auf der Landessynode 1993 im Zusammenhang mit den Lehrverurteilungen wieder eine Rolle. Jetzt geht es ebenso wie bei der Rechtfertigung darum, die Verwerfungen der Messe aus der Reformationszeit außer Kraft zu setzen und so den Boden für eine weitergehende Verständigung aufzulockern: »Auf die römisch-katholische Messe, wie sie in dem Dokument ›Lehrverurteilungen – kirchentrennend?‹ beschrieben wird, treffen die Verwerfungen der Schmalkaldischen Artikel sowie der Ausdruck des Heidelberger Katechismus (Frage 80) ›vermaledeite Kirche und Rechtfertigung. Das Verständnis der Kirche im Licht der Rechtfertigungslehre, Paderborn / Frankfurt a.M. 1994, Z. 203, S. 102. 190 LS 1973, Ö. a. O. 22. 191 UR 2, KKK 230. 192 LS 1973, Ö. a. O. 11f. 193 LS 1973, Ö. a. O. 4. 194 Der Vollständigkeit halber will ich wenigstens anmerken, dass die Landessynode 1985 eine Stellungnahme zu den Lima-Erklärungen des ÖRK beschlossen hat, in der auch ein Abschnitt zum Thema Eucharistie vorkommt, in: LS 1985, 58–67.

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Abgötterei‹ nicht zu; er wird von uns insofern künftig nicht mehr verwendet.«195 Über diese bemerkenswerte Korrektur reformatorischer Bekenntnisaussagen hinaus hat Präses Beier noch einmal vor derselben Synode die offene Einladung zum Abendmahl von 1973 bekräftigt: »Wir üben eucharistische Gastfreundschaft, weil wir nicht die Herren des Tisches sind.«196 Drei Jahre später nimmt die Taufvereinbarung von 1996 Erkenntnisse aus dem Ökumenismusdekret auf und bringt Taufe und Eucharistie in eine positive Beziehung zueinander: »Als Anfang und Ausgangspunkt des Christseins ist sie (die Taufe) hingeordnet auf das einmütige Bekenntnis des Glaubens und auf die eucharistische Gemeinschaft im Herrenmahl.«197 Im Zusammenhang mit einer Revision von Artikeln der rheinischen Kirchenordnung über die Kirchenzucht hat sich die Landessynode 2004 mit einer ausführlichen Stellungnahme zu der Frage befasst: »Darf die Kirche vom Mahl des Herrn ausschließen?« Ausgehend von der Erläuterung einschlägiger neutestamentlicher Passagen vertritt die Stellungnahme eine Reihe pointierter diskussionswürdiger Thesen: »Jesus Christus gibt sich in seinem Mahl selbst. Er ist Geber und Gabe des Mahles und damit der Herr seines Mahles ... Die Sündenvergebung durch Christus ist bedingungslos, aber nicht folgenlos ... Ein Amt zur Leitung der Mahlfeier wie überhaupt des Gottesdienstes hat es in neutestamentlicher Zeit offensichtlich nicht gegeben ... (Die) Leitfrage lautet bei Paulus nicht: ›Bin ich würdig?‹, sondern: Feiern wir das Mahl des Herrn würdig, nämlich dem entsprechend, dass wir miteinander der Leib des Herrn sind?«198 Gerade weil in dieser Schrift die Fragen nach Ausschluss vom und Zulassung zum Abendmahl von eigenen evangelischen Voraussetzungen aus erörtert werden, eignet sie sich ausgesprochen als Grundlage für evangelisch-katholische Gespräche zum Thema Abendmahlsgemeinschaft, besonders die Abschnitte: IV. Die Leitung der Mahlfeier, VI. Abgrenzung und Ausschluss anderer und VII. Die Verknüpfung mit der Kirchendisziplin. Die Stellungnahme verneint ihre selbstgestellte Ausgangsfrage und vertritt stattdessen die These, dass an die Stelle (kirchen-) rechtlicher Regelungen eine verantwortliche Selbstprüfung und seelsorgerliche Begleitung der Eingeladenen treten soll. Sie ist sich darüber im Klaren, dass diese Position nicht alle anstehenden Fragen klärt, aber sie ist ein guter Ausgangspunkt für einen neuen Ansatz zur Beantwortung der Frage nach Gemeinschaft beim Abendmahl. Zum Schluss bekräftigt die Stellungnahme die evangelische Einladung zu eucharistischer Gastfreundschaft. Im Unterschied zur früheren Rede von Interkommunion, die auf eine generelle gegenseitige Teilnahme abzielt, legt der Begriff »eucharistische Gastfreundschaft« den Akzent auf das Entgegenkommen des jeweiligen Gastgebers und die Besonderheit der jeweiligen Situation. In diesem Sinn macht sich das Papier abschließend die Resolution vom ersten ökumenischen Kirchentag in Berlin zu eigen: »Die Zeit ist reif für eucharistische Gastfreundschaft ... Deshalb bitten wir die evangelischen Kirchen und besonders ihre Leitungen, häufiger und regelmäßig das Abendmahl zu feiern mit einer trinitarisch 195

LS 1993, 80. LS 1993, 32. 197 VAT, KÖN 2/6, 1996, 3; Vgl. UR 22, 2; KKK 248. 198 Eingeladen sind alle. Warum die Kirche nicht vom Mahl des Herrn ausschließen darf (Zit.: KMH), Beschluss der Landessynode der EKiR vom 15. Januar 2004, Sonderdruck 4, 7, 9. 196

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gestalteten Liturgie und einem sorgfältigen Umgang mit den Elementen Brot und Wein. Wir bitten die römisch-katholische Kirche und besonders ihre Bischöfe und Priester, ... eucharistische Gastfreundschaft Angehörigen konfessionsverbindender Familien zu gewähren und anderen getauften Christen in besonderen ökumenischen Zusammenhängen ...«199 Welche Auswirkungen haben die rund 40-jährigen Bemühungen um Gemeinschaft beim Abendmahl auf die Gestaltung der evangelischen liturgischen Feier im Rheinland? Heutzutage kann man davon ausgehen, dass in jeder evangelischen rheinischen Gemeinde in der Regel einmal monatlich ein Abendmahlsgottesdienst gefeiert wird, kaum seltener, manchmal häufiger, gelegentlich sogar sonntäglich. Vergleicht man das mit der erwähnten Praxis noch vor 50 Jahren, dann sieht man den großen Fortschritt, der in der liturgischen Wiedergewinnung des Abendmahls bereits geschehen ist. Seit Ende der 70er Jahre kann man geradezu von einer Wiederentdeckung des Abendmahls nicht nur in der rheinischen Kirche sprechen; dafür stehen die »Lorenzer Ratschläge« des Nürnberger Kirchentages 1979.200 Das neue »Evangelisches Gottesdienstbuch« für die Evangelische Kirche der Union (EKU) und die Vereinigte Evangelisch-lutherische Kirche Deutschlands (VELKD), das 1999 auch im Rheinland an die Stelle der früheren EKU-Agende getreten ist, trägt mit verschiedenen Formen von Abendmahlsgebeten, mit liturgischen Gesängen und sorgfältigen Textvorschlägen erheblich zur liturgischen Aufwertung von Abendmahlsgottesdiensten bei.201 Die rheinische Stellungnahme von 2004 unterstreicht in der Liturgie die Anrufung des Heiligen Geistes (Epiklese), den Austausch des Friedensgrußes sowie eschatologische Maranatha-Gesänge, um die »verändernde Kraft« des Abendmahls zur Geltung zu bringen.202 Sie nähert sich von der umfassenden Einladung Jesu her dem verändernden und verwandelnden Charakter der Mahlgemeinschaft für die Teilnehmenden. Das alles sind beachtliche Schritte zur Wiedergewinnung der sakramentalen Dimension von (Abendmahls-)Gottesdiensten. Auch für die Evangelische Kirche im Rheinland gilt die Empfehlung der EucharistieErklärung von Lima: »Der beste Weg zur Einheit in der eucharistischen Feier und Gemeinschaft ist die Erneuerung der Eucharistie selbst in Bezug auf Lehre und Liturgie in den verschiedenen Kirchen.«203 Denn in evangelischen Abendmahlsfeiern fehlen oft noch die ökumenische Dimension und die ihr entsprechende liturgische Sensibilität. In dieser Hinsicht lautet die Leitfrage nicht: »Wie bringen wir unser Selbstverständnis am besten zum Ausdruck?«, sondern: »Was können wir dazu beitragen, dass Angehörige der anderen Kirche in unserer Feier des Abendmahls bzw. der Eucharistie das Mahl Jesu Christi wiedererkennen können?«204 Es geht dann um einen Prozess des wechselseitigen Wiederer199

KMH 17. In: G. Kugler (Hg.), Forum Abendmahl, GTB aktuell 346, Gütersloh 1979, 159ff. 201 Berlin 1999, 680 S. 202 KMH 15. 203 Eucharistie-Erklärung von Lima 1982, in: Taufe, Eucharistie und Amt (zit.: TEA). Konvergenzerklärungen der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung des ÖRK, Frankfurt a.M. / Paderborn 1982, Z. 28, S. 27. 204 H.-G. Link, Ökumenische Sensibilität im Gottesdienst. Liturgische Vorschläge auf dem Weg zur eucharistischen Gastfreundschaft, in: J. Brosseder / H.-G. Link (Hg.), Eucharistische Gastfreundschaft. Ein Plädoyer evangelischer und katholischer Theologen, Neukirchen-Vluyn 2003, 3. Auflage, 165. 200

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kennens, bei dem das Verstehen des Anderen maßgebend ist. Das beginnt mit der Struktur der Abendmahlsliturgie. Spätestens seit Lima 1982, noch dazu, da die Landessynode 1985 eine ausführliche Stellungnahme abgegeben hat, kann zumindest jede/r Ordinierte die altkirchliche trinitarische Grundstruktur kennen und liturgisch umsetzen: Danksagung an den Vater, Vergegenwärtigung Christi, des Sohnes, Anrufung des Heiligen Geistes.205 Dass viele Leitende von Abendmahlsfeiern immer noch kein vertrautes Verhältnis zu den Schöpfungsgaben Brot und Wein/Saft gewonnen haben, merkt man an der meist völlig fehlenden Gabenzubereitung, an der Rezitation der Einsetzungsworte ohne Bezug zu den Elementen, an der oft hilflosen und undurchdachten Weise der Austeilung und – am gravierendsten! – am Umgang mit den Gaben nach der Feier. Viele machen sich nicht klar, welchen Anstoß sie mit diesem liturgischen (Fehl-)Verhalten gerade katholischen Christen geben, den wir nach Paulus doch vermeiden sollen (Röm 14,13). Schließlich fehlt in vielen evangelischen Abendmahlsfeiern ein Bewusstsein für die weltumspannende Weite des Leibes Christi und demzufolge eine Bitte um die Einigung der Christenheit und wenigstens eine Fürbitte für andere Christen am Ort, die u. U. zur selben Zeit ebenfalls Abendmahl oder Eucharistie feiern. Es wäre schon viel gewonnen, wenn man sich für das Verständnis und die Feier derer interessierte, mit denen man Abendmahlsgemeinschaft halten möchte. 4.

Zur konfessionsverschiedenen Ehe

Dass sich im Blick auf die ökumenische Lage konfessionsverschiedener Ehen in den vergangenen Jahrzehnten viel zum Positiven verändert hat, geht schon aus den unterschiedlichen Bezeichnungen hervor. In den 50er und 60er Jahren übernahm man einfach den aus dem katholischen Eherecht stammenden unschönen Begriff »Mischehe«206, der im Deutschen an die NS-Rassenideologie erinnert und zwischen Konfessionen und Religionen nicht unterscheidet. In den 70er Jahren bürgerte sich der den Sachverhalt beschreibende neutrale Ausdruck »konfessionsverschiedene Ehe« ein, während der zielorientierte positive Begriff »konfessionsverbindende Ehe« erst aus den 80er Jahren stammt.207 Das Thema »Mischehe« gehörte zu den »wunden Punkten« auf der evangelischen Beschwerdeliste gegenüber der katholischen Kirche in den 50er und 60er Jahren. Stein des Anstoßes war in erster Linie die Pflicht zu katholischer Kindererziehung, damit verbunden die Missachtung der Gewissensbindung des nicht-katholischen Ehepartners und natürlich die ungelöste Abendmahlsfrage. So kann man nachvollziehen, dass »dieses Hindernis eines guten Verhältnisses der Konfessionen«208 von evangelischer Seite immer wieder angesprochen wurde. Denn die Nöte konfessionsverschiedener Paare haben »die sonst mögliche Gemeinsamkeit vergiftet und viel Leid in die Familien getragen«209.

205

Vgl. Die Eucharistie-Erklärung von Lima, TEA 19–22. Lateinisch: matrimonium mixtum, dazu W. Schöpsdau, Konfessionsverschiedene Ehe. Ein Handbuch (zit.: KVE), BH 61, Göttingen 1995, 3. Auflage, 8 A 2. 207 Vgl. B. und J. Beyer, Konfessionsverbindende Ehe. Impulse für Paare und Seelsorger, Mainz 1987, 2. Auflage. 208 So Präses Beckmann, LS 1965, 99. 209 So OKR Nieland, H. 27, 1972, 17. 206

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Dieses pastorale Problem stand auf evangelischer Seite so sehr im Vordergrund, dass es die kirchengeschichtliche Öffnung der katholischen Kirche auf dem Konzil zuzudecken drohte. So empfand es jedenfalls kein geringerer als der katholische ökumenische Pionier Heinrich Fries aus München, der in einem »offenen Wort« dazu bemerkte: »Es ist zu einfach und wird dem Geschehen des Konzils keineswegs gerecht, wenn dafür die Frage der Mischehe als Testfall des Konzils hochgespielt und zum Maßstab des Ganzen gemacht wird. Wir verkennen keineswegs die Bedeutsamkeit dieser Frage. Wir können aber nicht einsehen, warum gerade diese Einzelfrage zum Prüfstein aller Fragen auf dem Konzil gemacht werden soll ...«210 Tatsächlich konnte das Konzil in dieser Angelegenheit wegen der ganz unterschiedlichen Lage in den verschiedenen Ländern nur wenig ausrichten. Es sprach sich immerhin in einem »Votum« zur Frage der Kindererziehung für die Gewissensachtung des nichtkatholischen Partners aus, »soweit es dem katholischen Teil möglich ist«. Ansonsten überantwortete es das Thema dem Papst als »dringliches Anliegen, das keinen Aufschub duldet«211. Es kam zunächst 1966 zu einer »Instruktion über die Mischehe« von Seiten der Glaubenskongregation, bevor Papst Paul VI. in einem Motuproprio vom 31. März 1970 den regionalen Bischofskonferenzen den Auftrag erteilte, eigene Ausführungsbestimmungen zu erlassen. Die deutschen Bischöfe ergriffen postwendend diese Chance und luden erstmals evangelische Theologen zur Mitarbeit ein, um bereits ein knappes Jahr später im Januar 1971 ein gemeinsames »Wort zur Zusammenarbeit in der Seelsorge an konfessionsverschiedenen Ehen« zu veröffentlichen, das meines Wissens zum ersten Mal von der Deutschen Bischofskonferenz und dem Rat der EKD verantwortet wurde. Damit waren zwar noch nicht alle Fragen gelöst, aber der emotionale Bann zwischen den Konfessionen in Deutschland gebrochen. Noch im selben Jahr erschienen ebenfalls in der Verantwortung von Deutscher Bischofskonferenz und Rat der EKD liturgische Ordnungen für die »gemeinsame kirchliche Trauung«. Drei Jahre später kamen 1974 »Gemeinsame kirchliche Empfehlungen für die Ehevorbereitung konfessionsverschiedener Partner« heraus. Und so ging es weiter212, bis man sich in den 80er Jahren auch an die theologische Aufarbeitung des Eheverständnisses heranwagte. Dabei kam überraschend schnell eine gemeinsame Sicht der Ehe zum Vorschein. Ihre entscheidenden inhaltlichen Elemente: eine schöpfungsmäßige ganzheitliche Lebensgemeinschaft, das Angewiesensein auf Gottes Segen und Gnade zum Gelingen und eine lebenslange, prinzipiell unauflösliche Beziehung, teilen beide Konfessionen miteinander. Insofern »könnte auch die evangelische Seite vom ›Sakrament‹ der Ehe sprechen ...«213 Heute ist die Gewissensbindung wie Gewissensentscheidung jedes Ehepartners längst Allgemeingut in beiden Kirchen. Für die religiöse Erziehung der Kinder gibt es Ratschlä210

Konziliante Christen, in: In der Freiheit bestehen, Broschüre zum 12. DEK in Köln 1965, 53. M. von Galli / B. Moosbrugger, Das Konzil und seine Folgen, Luzern / Frankfurt a.M. 1966, 146f. 212 Die wichtigsten Dokumente sind zugänglich bei W. Schöpsdau, KVE 126ff. 213 Lehrverurteilungen – kirchentrennend? I., 149. 211

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ge und Empfehlungen, da man der fortschreitenden Säkularisierung keinen Vorschub leisten will, aber von Pflicht oder gar Zwang in die eine oder andere Richtung ist nirgendwo mehr die Rede. Gemeinsame Trauungen haben sich eingespielt, sind aber auf dem Rückzug. Insofern hat sich die Lage konfessionsverschiedener Familien in den vergangenen Jahrzehnten spürbar entspannt, und das kann man auch im Rheinland deutlich merken. Einzig die Frage der Abendmahlsgemeinschaft steht auch und gerade für konfessionsverschiedene Familien ungelöst im Raum. Dabei bricht sich mehr und mehr die Erkenntnis Bahn, dass konfessionsverbindende Familien vom Problemfall zum Modell kirchlicher Gemeinschaft werden können.214 Der katholische Dogmatiker Peter Neuner spricht in diesem Zusammenhang von der innersten Zelle der »Hauskirche«, die als solche auch ekklesiale Qualität besitzt, die ihr auch offiziell zugestanden werden soll.215 Was hat die Evangelische Kirche im Rheinland zu dieser Entwicklung beigetragen? Einerseits ist es ganz offenkundig, dass die Probleme konfessionsverschiedener Ehen natürlich nicht von einer evangelischen Landeskirche mit einigen Bistümern für sich gelöst werden können. Deshalb habe ich die konziliare und deutsche Entwicklung dieses Themas kurz skizziert. Andererseits darf man aber doch von einer großen Kirche, die sich auf allen verfügbaren Kanälen lautstark über das Elend der »Mischehe« beklagt hat, erwarten, dass sie zur positiven Lösung des Problems auch einen kleinen Beitrag beisteuert. Hier ist allerdings zunächst auf einen eklatanten Selbstwiderspruch hinzuweisen, dass nämlich die Evangelische Kirche im Rheinland zwar immer wieder öffentlich pointiert die Gewissensfreiheit für nicht-katholische Ehepartner eingefordert hat, für die Ehepartner ihrer eigenen Pfarrer jedoch strikt am Zwang zur Zugehörigkeit zur evangelischen Kirche und folglich auch zur evangelischen Kindererziehung festgehalten hat: »Die Pfarrfrau muss der evangelischen Kirche angehören.«216 Das bedeutete, dass der Pfarrfrau ohne Rücksicht auf ihre bisherige Kirchen- und Gewissensbindung ein Konfessionswechsel aufgezwungen wurde, anderenfalls wurde dem Ehepartner die Festanstellung als Pfarrer verweigert.217 Diese Regelung wurde erst 1978 mit Hilfe der ACK-Klausel geändert. Leider ist mir weder eine Veröffentlichung noch eine Initiative bekannt geworden, die die Evangelische Kirche im Rheinland zugunsten konfessionsverschiedener Ehepaare und Familien unternommen hätte. In Köln hat man in den 90er Jahren auf Anregung des katholischen Bildungswerkes hin mit Angeboten zur »konfessionsverbindenden Ehevorbereitung« begonnen. Es steht zu hoffen, dass solche Angebote auch in anderen Städten 214

Dafür steht vor allem das »Netzwerk konfessionsverbindender Paare und Familien« ein, das sich als »Netz über die Grenzen der Konfessionen – (als) ein Netz der einen Kirche versteht« (c/o Lauber, Sudetenstraße 22, 71263 Weil der Stadt). 215 Ökumenische Theologie. Die Suche nach der Einheit der christlichen Kirchen, Darmstadt 1997, 251–256. 216 Evangelisches Kirchenrecht im Rheinland, II. Das Dienstrecht der Pfarrer ..., Düsseldorf 1963, § 35 Abs. (1), Satz 2, S. 14 (Hvg. von mir). 217 Vgl. dazu W. Stoffels, Einträchtig beieinander wohnen. Gelebte Ökumene, Rheinbach 2008, 27 ff: »... und die Ehefrau ist katholisch«. Ich selbst und noch mehr meine aus der mennonitischen Tradition stammende Ehefrau haben die unerbittlichen Folgen dieser Bestimmung schmerzlich zu spüren bekommen.

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gemacht werden. Eine Kirche, die derart stark durch ihre Diasporasituation geprägt ist und sich selbst als Diasporakirche versteht wie die rheinische, sollte aber auch ihrerseits wegweisende Initiativen für im Rheinland besonders zahlreiche konfessionsverschiedene Familien ergreifen und so zu erkennen geben, dass es ihr nicht nur um die Freiheit ihrer eigenen Kirchenglieder, sondern auch um das Zusammenwachsen der Christen und Kirchen im alltäglichen Zusammenleben von konfessionsverbindenden Familien zu tun ist. 5.

Zum Kirchen- und Ordinationsverständnis

Dieser umfassende Themenbereich ist bisher auf drei rheinischen Landessynoden zur Sprache gekommen: 1. 1973 im Zusammenhang des Themas »Ökumene am Ort«, 2. 1993 im Umfeld der Communio-Schrift von 1992 und 3. 2004 im Rahmen einer evangelischen Neubesinnung auf Amt und Ordination. Die Frage nach der Kirche und dem Kirchenbegriff wurde 1965 in Köln als erstes Thema von Präses Beckmann an Kardinal Jaeger gerichtet. In reformatorischer Frontstellung wollte er von Jaeger erfahren, ob auch die hierarchischen Kirchenstrukturen vom Neuen Testament her begründbar sind und wer in der katholischen Kirche die erste Geige spielt: die Heilige Schrift oder das kirchliche Lehramt. Jaeger verwies ohne nähere Ausführungen auf »alle jene Ansätze« im Neuen Testament, bestätigte auch, dass sich die römischkatholische Kirche als die eine Kirche Jesu Christi versteht, aber den Hauptakzent legte er darauf, dass die katholische Kirche »offen (ist) für ekklesiale Elemente, die sich auch in den getrennten Kirchen zeigen«, dass sie sich »auf dem Weg« und keineswegs am Ziel befindet. In einer Fußnote vermerkte er, dass die Kirchenkonstitution »keine vollständige und abgeschlossene Ekklesiologie bieten will«218, mit anderen Worten die Öffnung erst begonnen hat und nicht als abgeschlossen betrachtet werden darf. In seiner Stellungnahme zum traditionellen Konflikt zwischen Schrift und Lehramt kommt Jaeger der reformatorischen Position am nächsten: »Das Lehramt ... stellt sich nicht über die Schrift, sondern mit ihrer Interpretation unter die Schrift ... So bleibt die Schrift normans non normata sowohl für die Theologie als auch für das Lehramt der Kirche.«219 Beckmann war von dieser Auskunft offensichtlich überrascht und rief emphatisch aus: »Wahrlich ein hoffnungsvoller Ansatz!«220 Zugleich deutete er zumindest an, dass auch die evangelische Seite mit ihren eigenen Traditionen das Verhältnis von Schrift und Tradition neu zu durchdenken hat. Auch Prälat Hüttenbügel verwies in seinem Vortrag vor der Landessynode 1973 auf die Öffnung, die sich aus dem Unterschied in der Verhältnisbestimmung zur Kirche Jesu Christi zwischen ist und verwirklicht in der Beschreibung der Existenzgestalt der katholischen Kirche ergibt.221 Er unterstrich mit dem Ökumenismusdekret, dass der Heilige 218

KD 1965, 871f., 878 mit A 1. KD 1965, 879. Damit nahm Jaeger am 30. Juli vorweg, was in der Offenbarungskonstitution erst am 18. November verbindlich gemacht wurde: »Das Lehramt ist nicht über dem Wort Gottes, sondern dient ihm.« (Z. 10), KKK 372. 220 KD 1965, 880. 221 LG 8, KKK 131. Ökumenische Theologen kennen die subsistit-Diskussion zur Genüge. 219

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Geist die nicht-katholischen Kirchen als »Mittel des Heils«222 in Dienst nimmt und die katholische Kirche ihre Fülle nur zusammen mit allen Getauften erreicht. Sein Spitzensatz hieß: »Die Mitte ist nicht die katholische Kirche, sondern Christus.« Hüttenbügel empfahl der Landessynode, zwei ökumenische »Nahziele« anzustreben: erstens »das Bewusstsein einer universalen Zusammengehörigkeit (zu) schaffen« und zweitens, mit Berufung auf die Vierte Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Uppsala 1968, »ein wirklich universales Konzil für alle Christen« ins Auge zu fassen.223 Dass die Synode Hüttenbügel gut verstanden hatte, zeigt sich daran, dass in ihrer Abschlusserklärung über die evangelisch-katholische Zusammenarbeit seine Gesichtspunkte wieder auftauchen. Dort ist ebenfalls von dem »Bewusstsein der universalen Zusammengehörigkeit« die Rede, von Überwindung der Spaltung, von der Einheit der Kirche und der lebendigen Vielfalt an Glaubensäußerungen. Präses Beckmann hielt damals vor der Landessynode eine Bibelarbeit zu dem berühmten ökumenischen Text Epheser 4,1–6. Darin betont er auf dem Hintergrund der Weltmissionskonferenz von Bangkok 1972/73, wie unerlässlich die Einigkeit im Geist ist, um Frieden auf der Erde zu bewirken. Und er schlägt eine Brücke von der Einheit der Kirche zur Einheit der Menschheit, wie es 1971 von der Löwener Konferenz für Glauben und Kirchenverfassung angedacht worden ist. In den verschiedenen Beiträgen vor der Landessynode 1973 treten faszinierende Wechselwirkungen zwischen Einsichten aus Rom und Genf zutage. Die abschließende Erklärung zur Zusammenarbeit ist ein schöner Beleg dafür, wie viele Erkenntnisse die rheinische Synode in wenigen Jahren über ein erweitertes Verständnis von Kirche gewonnen hat. Als ihre Zielvorstellung benennt sie mit der Dritten ökumenischen Vollversammlung von Neu Delhi 1961 »die Verbindung aller Christen an jedem Ort ... in einer alle verpflichtenden Gemeinschaft«224. Sie hat diese Gemeinschaft auch mit anderen wie den Freikirchen und orthodoxen Kirchen gesucht und teilweise auch verwirklicht. Zwanzig Jahre später hatte sich der Wind gedreht, verursacht durch das Schreiben der römischen Glaubenskongregation »über einige Aspekte der Kirche als Communio«. Seine innerkatholische Absicht bestand darin, den Vorrang der Gesamtkirche vor den Teilkirchen festzuschreiben. In seinem letzten Kapitel über »kirchliche Gemeinschaft und Ökumenismus« steht dann aber auch ein einziger Satz zu nicht-katholischen und nichtorthodoxen, also den meisten im Ökumenischen Rat zusammengeschlossenen Kirchen: »Die Wunde ist allerdings noch viel tiefer bei den kirchlichen Gemeinschaften, die die apostolische Sukzession und die gültige Eucharistie nicht bewahrt haben.«225 Diese im Vergleich zum Ökumenismusdekret (22, 3) in Form und Inhalt verschärfte These verletzte ihrerseits Präses Peter Beier derart tief, dass er sich gleich dreimal zur Wehr setzte: in einem öffentlichen Vortrag vor der Kölner Karl-Rahner-Akademie, mit 222

UR 3.4, KKK 233. LS 1973, 15f., 18. 224 LS 1973, 3. 225 VAS 107, 28. Mai 1992, Bonn 1992, Z. 17, S. 18; dazu: H.-G. Link, Anmerkungen zum Schreiben der Glaubenskongregation über »einige Aspekte der Kirche als Communio«, in: H.-G. Link (Hg.), Auf dem Weg zur Gemeinschaft der Kirchen?, KÖB 35, Köln 1995, 35–43. 223

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einem an Kardinal Ratzinger persönlich gerichteten Schreiben und in seinem Präsesbericht vor der Landessynode 1993. Beier führt drei Gesichtspunkte ins Feld: Theologisch wendet er ein, »die Reformation habe den nicht schriftgemäßen Missbrauch in beiden Bereichen (Sukzession und Eucharistie) beseitigt und der Klarheit des Evangeliums aufgeholfen«. Zeitgeschichtlich spricht er von »einem historischen Moment, der uns angesichts der missionarischen Herausforderungen zum Schulterschluss zwingt. Und dieser Schulterschluss bleibt für lange Zeit ausgeschlossen ... Der Umzug in ein gemeinsames Haus mit unterschiedlichen Etagen findet nicht statt.« Und als Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland formuliert er folgende ökumenische Richtlinien: Entwickelte ökumenische Beziehungen am Ort »müssen unter allen Umständen festgehalten werden«; Christen anderer Konfessionen bleiben in evangelischen Gemeinden willkommen, und: »Der Tisch des Herrn steht allen getauften Christen offen.«226 In seinem persönlichen Schreiben an Kardinal Ratzinger vom 25. November 1992 macht Beier noch einen weiteren, den entscheidenden theologisch-ökumenischen Gesichtspunkt geltend: »Vulnerati sumus. Allein nicht nur wir, die Ökumene und die Einheit der einen Kirche Jesu Christi auf Erden ist verletzt und verwundet, wenn eine Kirche der oder den anderen Kirchen das Kirche-Sein abspricht.«227 Wenn diese Interpretation auch m. E. überzogen ist, so macht sie doch deutlich, mit welchem ungeheuren persönlichen und theologischen Engagement dieser rheinische Präses das ökumenische Geschäft betrieben und vorwärts gebracht hat. Dazu gehört auch seine Initiative für eine Versammlung der Leuenberger Kirchengemeinschaft in Budapest 1991 und das von ihm angeregte Dokument: »Die Kirche Jesu Christi. Der reformatorische Beitrag zum ökumenischen Dialog über die kirchliche Einheit«, den es seit der Reformation so noch nicht gegeben hat.228 Kardinal Ratzinger hat Präses Beier ausführlich, menschlich feinfühlig und theologisch bemerkenswert geantwortet. Als Leiter der Glaubenskongregation muss er den Text natürlich verteidigen. Aber er gibt dem Begriff »kirchliche Gemeinschaften« doch eine erstaunliche Interpretation: »Wenn unser Dokument – auf den Spuren des II. Vatikanums – den Begriff ›Kirche‹ grundsätzlich für die auf der apostolischen Sukzession beruhenden Gemeinschaften reserviert und die Reformationskirchen im Allgemeinen als ›kirchliche Gemeinschaften‹ benennt, so ist dies keine Missachtung, sondern der Versuch, die andere theologische Struktur und die andersartige Weise des Kircheseins anzuerkennen ... Mir scheint, dass wohl auch deswegen Luther den Begriff ›Gemeinde‹ dem Begriff ›Kirche‹ vorgezogen hat, gewiss nicht ohne tiefe theologische Gründe.«229 Die Formulierung von der »andersartigen Weise des Kircheseins«, die bei den Reformationskirchen von Kardinal Ratzinger ausdrücklich anerkannt wird, geht m. E. noch über Wendungen des Zweiten Vatikanischen Konzils hinaus, wo dieses Kirchesein den reformatorischen Kirchen expressis verbis noch nicht zuerkannt wird. In diesem Sinne schließt Kardinal Ratzinger seinen Brief ausgesprochen versöhnlich: »Wenn die Erregung aber zu neuer 226 Steht die Glaubwürdigkeit Gottes durch die Kirchen auf dem Spiel? In: P. Beier, Verantwortung konkret. Texte zum Zeitgeschehen, Neukirchen-Vluyn 1994, 137f.; Vgl. auch LS 1993, 31f. 227 Z. 40023, Az. 12-11-1. 228 Leuenberger Texte 1, Frankfurt a.M. (1994), 2. Auflage 1996, 131 S. 229 Brief vom 23. Februar 1993. Vgl. die Formulierung, dass katholischerseits »das Kirchesein der lutherischen Kirchen nicht bestritten wird« in: Kirche und Rechtfertigung. Das Verständnis der Kirche im Licht der Rechtfertigungslehre (1994), in: DWÜ 3, 1990–2001, Z. 204, S. 384.

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Intensität des Sprechens miteinander und des Zuhörens aufeinander führt, ist sie heilsam und positiv gewesen.« Dieser Briefwechsel zwischen Präses Beier und Kardinal Ratzinger hat ohne Zweifel zur positiven Klärung der angespannten ökumenischen Lage im Rheinland 1993 und zu einer Atmosphäre beigetragen, in der die Taufvereinbarung von 1996 ausgearbeitet und unterzeichnet werden konnte. In ihr finden sich spärliche, aber wichtige ekklesiologische Aussagen. Der entscheidende erste Satz der kirchenrechtlichen Regelung lautet: »Die ... vollzogene Taufe ist zwischen unseren Kirchen (!) anerkannt.« Die theologische Grundlegung hält fest: »Die Taufe gliedert den Getauften in den Christusleib, die Kirche, ein« (Z. 3). Und die pastoralen Empfehlungen unterstreichen den ökumenischen Aspekt: »Der katholische und der evangelische Taufgottesdienst soll deutlich machen, dass der Täufling damit der einen Kirche Jesu Christi eingegliedert wird (Z. 2).230 Hier ist zum ersten Mal im Rheinland auf gleicher Augenhöhe von der einen Kirche Jesu Christi und von »unseren Kirchen« in einem offiziellen und verbindlichen Dokument gesprochen worden. Die Fragen nach Amt und Ordination sind in der rheinischen Kirche erst um die Jahrtausendwende eigens thematisiert worden. Den Anlass dazu boten innerkirchliche Überlegungen zum evangelischen Pfarrerbild und zu neuen Gesamtkonzeptionen gemeindlicher Aufgaben. Der rheinische Ansatz zur Beschäftigung mit Amt und Ordination ist also personal und parochial geprägt, erst in zweiter Hinsicht ökumenisch. Immerhin hat der Ausschuss für Innereuropäische Ökumene und Catholica im November 2001 dazu eine Ausarbeitung vorgelegt: »Apostolische Tradition und Ordination.«231 Darin werden Zusammengehörigkeit und Unterschiedenheit von apostolischer Tradition und Sukzession im ökumenischen Glaubensbekenntnis von 381, im Augsburger Bekenntnis von 1530, aus römisch-katholischer, anglikanischer und ökumenischer (Lima 1982, Wien 1994) Sicht erörtert. Zusammenfassend werden neun Folgerungen für das ordinierte Amt in der (evangelischen) Kirche formuliert. Nr. 3 und 8 lauten: »Ein im Auftrag der Gemeinde verliehenes Amt, das ihr gleichwohl mit der Vollmacht der Verkündigung und Sakramentsverwaltung gegenübertritt, ist grundlegend für jede Kirche ... Ordinationen sollen in Zukunft nicht ohne ökumenische Beteiligung ordinierter Amtsträger anderer Kirchen vorgenommen werden.« Diese und andere Vorarbeiten sind dann in eine umfassende Ausarbeitung eingeflossen, die die rheinische Landessynode am 14. Januar 2004 »zustimmend zur Kenntnis genommen« hat: »Ordination, Dienst und Ämter nach evangelischem Verständnis«232. Diese Schrift befasst sich mit Zusammenhängen des Themas in verschiedenen Fragehorizonten: rheinisch, ökumenisch, rechtlich; mit theologischen Grundlagen und Konsequenzen für den ordinierten Dienst. Unter den »ökumenischen Anfragen« geht es um die apostolische Tradition, das Gegenüber zur Gemeinde, gesamtkirchliche Verantwortung, Bischofsamt und apostolische Sukzession u. a. In den »theologischen Grundlagen«, die sich wiederum

230 231 232

VAT 3,5,7. Leider unveröffentlicht; in Abteilung III des LKA der EKiR zugänglich. Sonderdruck, Düsseldorf 2004 (zit.: ODÄ).

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für das ökumenische Gespräch über Amt und Ordination hervorragend eignen, werden die Aufgaben des ordinierten Amtes so zusammengefasst: −





»die für die Kirche konstitutiven Handlungen verantwortlich zu vollziehen und durch sie öffentlich (für alle erkennbar) herauszustellen, was Kirche zur Kirche macht (konstitutive Aufgabe), die empirisch gegebene Kirche, die als corpus permixtum als Gemeinschaft der gerechtfertigten Sünder, immer auch eine ›Kirche im Widerspruch‹ ist, kritisch an ihrem Grund zu messen und auf ihr Ziel auszurichten (kritische Aufgabe) und die Gemeinde als communio sanctorum in der einen ›heiligen, allgemeinen (katholischen) und apostolischen Kirche‹ zu bewahren und ihre Teilhabe an den ›Gütern‹ und Gaben, die das Heil vermitteln, zu fördern (kommunikative Aufgabe).«233

Als Konsequenzen ergeben sich daraus Ordinationen für Pfarrer/innen, Prädikanten/innen und Diakon/innen. Diese Ausarbeitung ist sicherlich nicht das letzte Wort zu den Fragen von Amt und Ordination, aber sie ist der erste ökumenisch gesprächsfähige und von der rheinischen Landessynode akzeptierte Beitrag zu den aus römisch-katholischer Sicht besonders wichtigen Fragen der Kirchengemeinschaft. 6.

Zum Verhältnis von Christen und Juden

Am 28. Oktober 1965 verabschiedete das Konzil die Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen »Nostra aetate«. Mit ihrem vierten Abschnitt über die geistliche Verbindung zum »Stamm Abrahams«234 hat sie, was heute von niemandem mehr bestritten wird, ein neues Kapitel im Verhältnis zwischen katholischer Kirche und dem Volk Israel aufgeschlagen – in dieser Hinsicht das wichtigste Kapitel in ihrer langen Geschichte. In Deutschland hat sich der Gesprächskreis »Juden und Christen« beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK), das bekanntlich seinen Sitz im rheinischen Bonn-Bad Godesberg hat, in besonderer Weise dieses Themas angenommen. Von seiner ersten öffentlichen Äußerung 1979 »theologische Schwerpunkte des jüdisch-christlichen Gesprächs« bis zu seiner vorerst letzten 2009 »Nein zur Judenmission – Ja zum Dialog zwischen Juden und Christen« hat er über 30 Jahre lang unter maßgebender Beteiligung des langjährigen Aachener Akademieleiters Hans-Hermann Henrix Themen wie Schoa, Auschwitz oder den Pogrom von 1938 bearbeitet und dazu beigetragen, dass die christlich-jüdische Wende des Konzils im deutschen Katholizismus Früchte getragen hat.235 Wie hat die Evangelische Kirche im Rheinland den Text von »Nostra aetate« und das Thema einer neuen Beziehung zwischen Christen und Juden aufgenommen? Wir stehen hier vor einem paradoxen Tatbestand, nämlich dass die Evangelische Kirche im Rheinland kein Thema des Konzils so intensiv bearbeitet hat wie die Erneuerung des Verhält233

ODÄ S. 14, 16–23. KKK 357–359. 235 Vgl. Die Liste der Erklärungen, Stellungnahmen und Arbeitspapiere des ZdK und vor allem die von Hans-Hermann Henrix mitherausgegebenen beiden Dokumentationsbände: Die Kirchen und das Judentum, I. 1945–1985, Gütersloh/Paderborn 1988; II. 1986–2000, ebd. 2001 (zit.: KJD). 234

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nisses von Christen und Juden, dass sie sich dabei jedoch so gut wie überhaupt nicht auf das entsprechende Kapitel 4 von Nostra aetate bezieht. Das hängt mit ihrem eigenen Zugang zu diesem Thema und seiner Aufarbeitung zusammen, den ich hier nur summarisch darstellen kann. Der rheinische Pfarrer Karl Immer (sen.), in dessen Gemeinde die Barmer Theologische Erklärung 1934 verabschiedet worden war, verlas in seinem Gottesdienst nach dem Pogrom vom 9. November am 13. November 1938 alt- und neutestamentliche Texte, in deren Zusammenstellung man eine »christliche Theologie des Judentums in nuce entdecken kann. Wir wagen zu behaupten, dass in dieser Zusammenstellung eine theologische Neuorientierung in der Richtung des rheinischen Synodalbeschlusses (von 1980) erkennbar wird.«236 Jedenfalls ist es aktenkundig, dass die rheinische Landessynode bereits am 15. Januar 1965 – ziemlich genau neun Monate vor der Verabschiedung und Veröffentlichung von Nostra aetate – einen Beschluss gefasst hat, in dem sie die EKD bittet, eine Studienkommission einzurichten, »die das Verhältnis der Kirche zum Judentum theologisch klären soll«237. Als diese Kommission 1975 ihre erste Ausarbeitung zu »Christen und Juden« veröffentlicht hatte, berief die rheinische Kirchenleitung einen eigenen Ausschuss »Christen und Juden«, in dem ebenso wie beim ZdK-Gesprächskreis auch jüdische Mitglieder vertreten sind. Sein bis heute wichtigstes Ergebnis ist die Erarbeitung des rheinischen Synodalbeschlusses vom 11. Januar 1980 »Zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden«, den sich die Synode als erste innerhalb der EKD-Gliedkirchen mit überwältigender Mehrheit zu eigen gemacht hat. Darin wird mit einer Deutlichkeit wie nie zuvor das Verhältnis von Kirche und Judentum neu bestimmt: »Wir glauben die bleibende Erwählung des jüdischen Volkes als Gottes Volk und erkennen, dass die Kirche durch Jesus Christus in den Bund Gottes mit seinem Volk hineingenommen ist.« Damit wird in der rund zweitausendjährigen Geschichte des Christentums eine Umkehr in der Verhältnisbestimmung vollzogen, wie sie seit den Tagen des Apostels Paulus nicht mehr geschehen ist. An erster Stelle steht die bleibende Erwählung des jüdischen Volkes als Volk Gottes und erst an zweiter Stelle die Kirche: »Darum verneinen wir, dass das Volk Israel von Gott verworfen oder von der Kirche überholt sei«.238 An diesen Leitsätzen orientiert sich die Aufarbeitung des christlich-jüdischen Verhältnisses innerhalb der Evangelischen Kirche im Rheinland bis heute. So bahnbrechend diese Erkenntnisse des Synodalbeschlusses von 1980 sind, es erstaunt doch, dass unter den vier genannten Gründen für die Notwendigkeit, zu einem neuen Verhältnis zu kommen, die maßgebende Konzilserklärung von 1965 mit keiner Silbe erwähnt wird. Das war auch später nicht anders, als ein Symposium zum zehnjährigen Jubiläum des rheinischen Synodalbeschlusses stattfand. Erst nach 25 Jahren erinnerte Präses Nikolaus Schneider in seinem Vorwort zum Jubiläumsband »... um Seines Namens willen« daran: »25 Jahre 236

So die Herausgeber B. Klappert / H. Starck, in: Umkehr und Erneuerung. Erläuterungen zum Synodalbeschluss ..., Neukirchen-Vluyn 1980, in ihrem Vorwort VIII (Zit. UE); vgl. B. Klappert / G. van Norden (Hg.), Tut um Gottes Willen etwas Tapferes. Karl Immer im Kirchenkampf, Neukirchen-Vluyn 1989, 117–126. 237 H 39, 1980, 115. 238 Synodalbeschluss 4. 4, UE 265.

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rheinischer Synodalbeschluss sind auch 40 Jahre nach dem Vatikanum II von 1965, welches auf römisch-katholischer Seite die Neuorientierung im Verhältnis der christlichen Kirche zu Israel und Judentum entscheidend angestoßen hat.«239 Dessen ungeachtet hat es die rheinische Kirche an Erklärungen, Handreichungen und Arbeitshilfen, insbesondere zu den Jahrestagen des Pogroms von 1938, nicht fehlen lassen. Auch die Landessynode hat sich immer erneut mit öffentlichen Worten zugunsten Israels zu Wort gemeldet. Sie hat sogar die Kirchenordnung, also ihre eigene Verfassung, zweimal im Sinne des Synodalbeschlusses von 1980 verändert. 1987 hat sie in drei Artikeln Hinweise auf das notwendige Gespräch zwischen Christen und Juden auf allen Ebenen eingefügt240. Und 1996 hat sie dem Grundartikel I, der die Bekenntnisgrundlagen der Evangelischen Kirche im Rheinland benennt, folgenden abschließenden Satz hinzugefügt: Die Evangelische Kirche im Rheinland »bezeugt die Treue Gottes, der an der Erwählung seines Volkes Israel festhält. Mit Israel hofft sie auf einen neuen Himmel und eine neue Erde.«241 Diesen eindrücklichen Worten hat die rheinische Kirche auch Taten folgen lassen. Bereits 1969 empfahl die Landessynode Kirchengemeinden, Kirchenkreisen und der Kirchenleitung, das christliche Versöhnungswerk in Nordgaliläa »Nes Ammim« tat- und finanzkräftig zu unterstützen, in dem seit 1963 Christen aus Holland, Deutschland, der Schweiz und den USA ein »Zeichen für die Völker« aufrichten.242 1993 richtete die Evangelische Kirche im Rheinland in Wuppertal eine eigene »Studienstelle Christen und Juden« ein, die Gemeinden und Schulen mit Vorträgen, Tagungen und Veröffentlichungen unterstützt. Hinzu kommt das von dem rheinischen Pfarrer Michael Krupp an der Hebräischen Universität in Jerusalem aufgebaute »Studium in Israel«. Schließlich hat die rheinische Kirche einen Teil ihres Gemeindegrundstücks von Barmen-Gemarke der jüdischen Gemeinde in Wuppertal geschenkt, die dort ihre neue, 2002 eingeweihte Bergische Synagoge errichtet hat. Hier stehen nun – einmalig in Deutschland – die evangelische Kirche, in der 1934 die Barmer Theologische Erklärung beschlossen worden ist, und die neue Bergische Synagoge im Abstand von nur wenigen Metern nebeneinander. Die evangelische Seite versteht dieses Nebeneinander sozusagen als 7. Barmer These, die damals zum christlich-jüdischen Verhältnis nicht formuliert und deshalb nun in dieser gebauten Form ergänzt worden ist243. Man wird dem Weg von Umkehr und Erneuerung, den die Evangelische Kirche im Rheinland seit dem Synodalbeschluss von 1980 nun eine Generation lang in Wort und 239

»... um Seines Namens willen. Christen und Juden vor dem Einen Gott Israels. 25 Jahre Synodalbeschluss ..., K. Kriener / J.M. Schmidt (Hg.), Neukirchen-Vluyn 2005, VI. 240 Vgl. H. 45: Kirche und Israel. Zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden, Düsseldorf 1993, 61f.; KJD II, 556, 743f. 241 Kirchenordnung der EKiR vom 10.1.2003, Sonderdruck 3; KJD II, 743f. 242 Vgl. S. Schoon / H. Kremers, Nes Ammim. Ein christliches Experiment in Israel, Neukirchen-Vluyn 1978. 243 Präses N. Schneider zählt noch weitere Initiativen der EKiR auf in seinem Vortrag zu 25 Jahre rheinischer Synodalbeschluss, in: Zum Verhältnis von Juden und Christen, Kölnische Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit, Schriftenreihe. Neue Serie, 2, Köln 2006, 34–36.

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Tat gegangen ist, seine Hochachtung nicht gut versagen können. Nur eines ist verwunderlich: dass sie diesen Weg auf weite Strecken hin gegangen ist, ohne vergleichbare Entwicklungen in der katholischen Schwesterkirche aufzugreifen; umgekehrt scheint es ähnlich verlaufen zu sein. Es ist schon eine Hilfe, dass die Erklärungen, die beide Kirchen insgesamt je für sich abgegeben haben, nun zusammen mit anderen Stellungnahmen in zwei großen Dokumentationsbänden gebündelt zugänglich sind: »Die Kirchen und das Judentum.«244 In Köln gab es immerhin in den 90er Jahren Vortragsreihen zum jüdischen und christlichen Selbstverständnis, die von der Karl-Rahner- und der Melanchthon-Akademie zusammen mit der Synagogengemeinde veranstaltet wurden. Ähnliches geschah und geschieht unter dem Dach der Kölnischen Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit. Die Schulreferate beider Konfessionen arbeiten im Blick auf das christlichjüdische Verhältnis erfreulicherweise ebenfalls in verschiedenen Städten des Rheinlandes schon seit Jahr und Tag zusammen. Inzwischen gibt es, wie Hans-Herman Henrix festgestellt hat, »einen zwischenkirchlichen sachlichen Zusammenklang in der Grundfrage, wie denn Kirche und Christenheit die so schwere Last des geschichtlichen Versagens gegenüber dem jüdischen Volk und Judentum wahrnehmen, sie anerkennen und zum Inhalt ihrer Umkehr und Erneuerung machen«.245 Auch Präses Nikolaus Schneider bekundet im Blick auf »Nostra aetate« und weitere katholische Erklärungen aus jüngster Zeit Freude darüber, »dass wir uns im Prozess der Erneuerung des Verhältnisses von Kirche und Israel in einer großen ökumenischen Weggemeinschaft befinden«246. Auf diesem Hintergrund ist es einerseits erfreulich, andererseits aber doch irritierend, dass der Bonner Gesprächskreis »Juden und Christen« beim ZdK und die Düsseldorfer Kirchenleitung der Evangelischen Kirche im Rheinland im Abstand von nur drei Monaten zum selben Thema der Judenmission theologisch ähnlich gerichtete öffentliche Erklärungen abgegeben haben – allerdings ohne auch nur im geringsten aufeinander Bezug zu nehmen und wie es scheint auch nur voneinander zu wissen.247 Zwar handelt es sich beim ZdK-Gesprächskreis »Juden und Christen«, beim ständigen Ausschuss der Evangelischen Kirche im Rheinland »Christen und Juden« und der Arbeitsgemeinschaft »Christen und Juden« beim Deutschen Evangelischen Kirchentag um unterschiedliche Gremien, aber es müsste doch möglich sein, zu Themen, die beide Kirchen angehen wie die Frage der Judenmission, Gedenktage wie die Erinnerung an die Opfer der Schoa (27. Januar) oder dem Judenpogrom von 1938 (9. November), auch zum Israel-Sonntag und zu politischen Herausforderungen wie dem Antisemitismus und dem Rechtsradikalismus gemeinsame Stellungnahmen zu veröffentlichen und ein gemeinsames christliches Zeugnis für Israel in der Öffentlichkeit zu geben. Der Segen der 244

I. Dokumente von 1945–1985; II: Dokumente von 1986–2000. Verschlungene Wege der Rezeption. Der rheinische Synodalbeschluss und die katholische Kirche, in: »... um Seines Namens willen«, A. a. O., 46. 246 25 Jahre rheinischer Synodalbeschluss, A. a. O., 40. 247 Absage an Begriff und Sache christlicher Judenmission. Beschluss der Kirchenleitung der EKiR vom 12./13.12.2008, Arbeitshilfe Düsseldorf 2009; Nein zur Judenmission – Ja zum Dialog zwischen Juden und Christen. Erklärung des Gesprächskreises »Juden und Christen« beim ZdK vom 9.3.2009, Bonn 2009. 245

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neuen Zuwendung beider Kirchen zum Judentum soll jedenfalls auch ihrer Beziehung untereinander zugute kommen. Epilog Anfang der 60er Jahre hatte Präses Beckmann vor Beginn des Konzils berechtigte Sorgen vor einer Rekatholisierung Deutschlands im Konkurrenzkampf der Kirchen um öffentlichen Einfluss in der Bundesrepublik Deutschland. 30 Jahre danach sprach Anfang der 90er Jahre der Kölner Stadtdechant Johannes Westhoff davon, wie viel es ihm bedeutet, dass die beiden »großen« Kirchen in der Öffentlichkeit als miteinander befreundet wahrgenommen werden. Aus diesen beiden Voten wird ersichtlich, welchen enormen Weg zueinander die katholische und evangelische Kirche im Rheinland innerhalb nur einer Generation genommen haben. Es ist deutlich geworden, dass die Evangelische Kirche im Rheinland auf diesem Weg zwei kreative Phasen erlebt hat: 1965–1973 und 1993–1999 und eine kritische Zeit von 2000–2007. Innerhalb der rund 40-jährigen Zeitspanne von 1960–1999 haben sich evangelische und katholische Christen kennengelernt, manche sind sogar eine konfessionsverschiedene, heute: konfessionsverbindende Ehe miteinander eingegangen. Feindschaft, Fremdheit und Vorurteile sind unterwegs – Gott sei Dank – großenteils auf der Strecke geblieben. Am wichtigsten ist, dass die Gemeinden am Ort, die Basis jeder Kirche, zueinander gefunden, aneinander Gefallen und miteinander Wege gefunden haben, die sie gemeinsam nach innen wie nach außen gehen können. Manche Gemeinden haben es bis zu einer Partnerschaft am Ort miteinander gebracht. Viele stehen heute vor der Frage, ob sie Kraft und Atem genug besitzen, um Durststrecken auf dem Weg zu überwinden, der sich als wesentlich länger herausstellt, als die Enthusiasten der 60er Jahre sich haben träumen lassen. Immerhin haben die Auseinandersetzungen 1992/93 und die Krise an der Jahrtausendwende gezeigt, dass die Gemeinden, die Landessynode und die Präsides der Evangelischen Kirche im Rheinland nicht mehr bereit sind, das inzwischen gewachsene und gewonnene Miteinander wieder aufs Spiel zu setzen: Zu teuer ist es errungen und zu kostbar sind seine Früchte. Insofern haben gerade diese kritischen Zeiten zutage gefördert, wie intensiv inzwischen die Beziehungen zueinander geworden sind. Dabei ist der Weg zueinander beileibe noch nicht zum Abschluss gekommen. Im Gegenteil: Es hat sich ein ökumenischer Reformstau gebildet, der nach Auflösung und Weiterentwicklung verlangt. Im Blick auf die Anerkennung evangelischer und ökumenischer Gottesdienste am Sonntag, gemeinsame Taufgottesdienste und eucharistische Gastfreundschaft stehen Entscheidungen an, die zwar nicht allein im Rheinland, wohl aber im Einvernehmen von Deutscher Bischofskonferenz und Rat der EKD getroffen werden können. Auch die Klärung des Verhältnisses von apostolischer Tradition und Sukzession, die schon 1982 in Lima248 angedacht worden ist, wartet auf eine Klärung in Deutschland. Man muss nicht auf Rom abschieben, was man im eigenen Land bewältigen kann. Natürlich besteht zwischen einer evangelischen Landeskirche und der katholischen Weltkirche ein enormes Ungleichgewicht. Und doch können hier im Rheinland Vorarbeiten

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TEA, Amt-Erklärung, Z. 34 mit Kommentar, S. 42.

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erledigt werden, statt notwendige Entscheidungen einfach nach Rom zu delegieren bzw. ergeben von dort entgegenzunehmen. Wir leben im Land der Reformation bzw. der Kirchenspaltung. Die Ereignisse des Kölner Reformationsversuchs von 1543 haben gezeigt, wie unglücklich eine Entwicklung über Jahrhunderte auseinanderlaufen kann, wenn notwendige Entscheidungen nicht rechtzeitig getroffen werden. Im Jahr 2017 jährt sich Luthers Thesenanschlag in Wittenberg, der Beginn der Reformation zum 500. Mal. Das ist eine Gelegenheit, an Verständigung zu erreichen, was 1543 im Rheinland verlorengegangen ist. Dazu können regelmäßige ökumenische Treffen am 2. Pfingsttag, ein ökumenischer Pfingstbrief der »Bischöfe und Präsides«, eine ökumenische Versammlung, wie sie Präses Beier und Bischof Spital 1996 vorgeschlagen haben, sowie eine rheinische Landessynode mit dem Thema »Gemeinsames ökumenisches Zeugnis 2017« gehören. Wer 2017 zu einer offiziellen Versöhnung zwischen evangelischer und katholischer Kirche in Deutschland kommen will, muss jedenfalls jetzt mit den Vorarbeiten dafür beginnen.249

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Vgl. dazu meinen Vorschlag für ein gemeinsames Wort evangelischer und katholischer Christen: »Gemeinsam auf dem Weg in versöhnter Verschiedenheit«, in: H.-G. Link, Die Zeit ist reif. Anregungen und Anstöße auf dem Weg zum 1. Ökumenischen Kirchentag in Berlin, Sonderdruck Junge Kirche. Beilage zu 2/2003, 59–61.

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I.1 Landessynode 1961

Aus dem Bericht des Präses Joachim Wilhelm Beckmann zur Lage der Kirche∗ Hochwürdige Synode, liebe Brüder und Schwestern, sehr verehrte Gäste! Zu Beginn des Jahres 1961 sind wir als Synode versammelt, und vor uns scheint es, was die gesamte Weltlage und in Sonderheit auch die Lage der christlichen Kirchen in der Welt angeht, nicht gerade hell, sondern eher dunkel zu sein. Beim Eintritt in das 16. Jahr nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ist noch kein Friede, keine Beruhigung der weltpolitischen Lage und offenbar auch keine Hoffnung auf eine internationale Entspannung, obwohl im steigenden Maße jeder Mensch in der Welt zu sehen beginnt, dass die Zukunft der Welt, menschlich gesprochen, davon abhängen wird, ob das, was mit dem Experiment der UNO begonnen ist, gelingt. Aber in diesem vor uns liegenden Jahr versammelt sich ja, wie wir wissen, auch der Ökumenische Rat der Kirchen unter dem Thema »Christus, das Licht der Welt«. Und so ist es eigentlich von dieser Botschaft her im Blick auf unsere Zukunft nun doch nicht dunkel; denn das Licht, das da war und das da ist und das da kommt, ist dasselbe Licht. Darum gehen wir auch durch die Dunkelheiten dieser Zeit in dem Lichte, das uns erhellt und vor allem auch unsere Zukunft hell sein lässt. I. Ökumene Wir beginnen, glaube ich, mit Recht mit einem Blick in den ökumenischen Bereich. Je länger, je mehr versteht sich heute auch eine Landessynode als ein Glied eines weltumspannenden Ganzen, – ja der einen heiligen katholischen oder ökumenischen Kirche, die wir im Glaubensbekenntnis bekennen. Darum sind wir beteiligt an allem, was der Ökumenische Rat getan hat oder tut. Wir erinnern uns an die beiden wichtigen Tagungen auf Rhodos 1959 und St. Andrews 1960, die hauptsächlich zur Vorbereitung der kommenden Weltkirchenkonferenz in Neu Delhi dienten. Schon unsere letzte Synode hat sich mit dem Problem, das der Ökumene gestellt ist: »Integration des Internationalen Missi-



Protokoll der Landessynode 1961, S. 57–63.

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I. Publikate der 1960er Jahre

onsrates und des Weltkirchenrates«, beschäftigt, und ich brauche nur darauf hinzuweisen, dass nunmehr alle Vorbereitungen getroffen sind, dieses wichtige Stück der kommenden ökumenischen Einheit zum Beschluss zu erheben. Außerdem ist auch interessant, dass die Diskussion um eine, sagen wir nicht »Veränderung, wohl aber Verdeutlichung der Basis des Ökumenischen Rates der Kirchen soweit gediehen ist, dass ein konkreter, beachtlicher Vorschlag gemacht werden kann, bei dem ein protestantisches und ein orthodoxes Interesse zur Hebung kommt«. Auf der einen Seite die Hineinnahme des Wortes »nach der Heiligen Schrift« und auf der anderen Seite die Aufnahme der Dreieinigkeit. Wir dürfen hoffen, dass diese verbesserte und erweiterte Basis des Ökumenischen Rates auf der kommenden Tagung angenommen wird. Wir würden es sehr begrüßen, da sie unsere volle Zustimmung findet. Sehr stark hat sich die Ökumene mit den internationalen Problemen befasst. Sie hat ein beachtliches Werk vorgelegt über die Kirche im Zeitalter der Atomphysik, ein sehr wichtiges Studiendokument, an dem weiterzuarbeiten auch die Aufgabe der Gliedkirchen sein wird. Die übrigen vielen Einzelheiten lasse ich beiseite, weil unser Bericht sonst zu lang werden würde. Eines scheint aber für die Vergangenheit der letzten zwei Jahre besonders gewichtig zu sein: eine stärkere Annäherung der Orthodoxen, vor allen Dingen auch der russisch-orthodoxen Kirche, an den Ökumenischen Rat der Kirchen. Die Verhandlungen, die geführt worden sind, die Delegationen, die ausgetauscht worden sind, zeigen, dass hier vielleicht doch noch ein neues Element in die ökumenische Bewegung hineinkommt. Wir können es ja nur begrüßen, wenn gerade sozusagen der rechte Flügel der Ökumene nun in steigendem Maße sich an der ökumenischen Arbeit beteiligt, da ja schmerzlicherweise immer noch die römischkatholische Kirche in diesem ökumenischen Gespräch fehlt. Aber auch dort zeigen sich ja erste Anzeichen, von denen wir auch schon hier und da einiges vernommen haben. Im europäischen Raum der Ökumene erinnere ich an die zweite Konferenz von Nyborg 1960, auf der eine offenkundige Befestigung der ökumenischen Beziehung der europäischen christlichen Kirchen begonnen hat. Wir freuen uns, dass bei der Entwicklung dieser europäischen Kirchenkonferenz diejenigen, die vor einigen Jahren noch kritisch beiseite standen, inzwischen in die aktive Mitarbeit, ja in die leitende Arbeit eingetreten sind. Wir finden, dass das klein gewordene Europa es ganz besonders nötig hat, auch auf kirchlichem Gebiet in eine besondere Aussprache einzutreten, zumal da die anderen großen Kontinente Asien, Afrika usw. schon lange, jedenfalls länger schon als wir, ihre ökumenischen Räte haben, die für die besonderen Probleme der verschiedenen Kontinente von Wichtigkeit sind. Bei dieser Gelegenheit möchte ich ein paar Worte sagen zu dem Unternehmen der sogenannten Prager Friedenskonferenz. Diese Sache ist ja besonders vorangetrieben worden von dem Ökumenischen Rat der Kirchen in der Tschechoslowakei. Es ist für den, der die Lage in Ost und West und vor allem die kirchliche Lage in den Ostblockstaaten einigermaßen kennt, nicht wunder zu nehmen, dass ein solches Unternehmen versucht wird, das ja eigentlich keine kirchenamtliche Konferenz ist und sein will, sondern eine Versammlung derer, die persönlich an der Lösung und Beratung der Friedensfrage innerhalb der Kirche besonders interessiert sind. Wir haben mit den Vertretern der Prager Friedenskonferenz vor nicht langer Zeit eine Aussprache über diese ganze Sache gehabt, und zwar vonseiten der Evangelischen Kirche der Union aus. Wir haben unsere Bedenken,

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unsere Fragen, die wir formal wie auch inhaltlich an das Unternehmen haben, sehr offen ausgesprochen. Wir haben auch im Ergebnis uns darin verständigt, dass wir noch einmal des Weiteren im nächsten Jahre in Prag miteinander sprechen müssen. Uns schien es im ganzen Rahmen der Ökumene bei dem Stand der Dinge besonders schwierig zu sein, dass hier eine Konferenz stattfindet, die nicht von den Gliedkirchen, von den Kirchen als solchen, beschickt wird, sondern nur aus Einzelpersönlichkeiten besteht, wie das in einem weitaus früheren Stadium der Ökumene notwendig war, jetzt aber überholt ist. Nachdem aber unsere Kirchen in den Ökumenischen Rat der Kirchen eingetreten sind, nachdem wir auch die Nyborger Konferenz zu Stand und Wesen gebracht haben, schien es uns schwierig zu sein, daneben noch ein anderes in der gleichen Richtung liegendes Unternehmen zu fördern, das in seiner Struktur undeutlich ist. Dabei haben wir zum Ausdruck gebracht und bleiben dabei, dass uns die Verhandlung der Weltfriedensfrage sehr am Herzen liegt und wir allen Nachdruck darauf legen möchten, dass diese Frage auch auf ökumenischen Konferenzen, wie auch auf der Europäischen Konferenz auf der Tagesordnung bleibt. Andererseits hielten wir es für besonders wichtig, dass die Vertreter der Kirchen aus dem Westen nach Möglichkeit immer wieder Wege suchen, um im Osten Besuche zu machen. Solch einen Besuch haben wir z. B. im vergangenen Jahre, d. h. 1959, von der Evangelischen Kirche der Union ausgemacht, indem Präses Wilm, Oberkirchenrat Stöver und ich vom Westen und Generalsuperintendent Jacob von der östlichen Seite der Kirche der Union eine Reise dorthin gemacht haben. Wir sind bei der Fakultät in Prag gewesen, wir haben Gemeinden besucht, wir haben gepredigt und haben einen starken Eindruck von der wirklich schweren Situation des Protestantismus in diesem, östlichen Raume bekommen. Wir meinen, dass es notwendig wäre, gerade mit diesen Brüdern in einen dauernden Kontakt zu kommen wegen der schwierigen Lage der Christenheit in allen Ostblockstaaten, die ja uns vor Augen ist. Diese ist aber weniger zu beheben durch große Konferenzen, es ist viel mehr zu erreichen durch die unmittelbaren Besuche; und wir hoffen, dass es auch möglich sein wird, in Ungarn, in Rumänien und auch anderswo in absehbarer Zeit unsere evangelischen Kirchen aufzusuchen. Unsere Mitarbeit im ganzen Bereich der Ökumene, das muss immer wieder gesagt werden, ist deutscherseits noch längst nicht so entwickelt, wie das bei anderen Kirchen in der Welt der Fall ist. Die deutsche Theologie hat nach unserer Überzeugung einen großen Beitrag im ökumenischen Gespräch zu leisten. Aber wer an ökumenischen Tagungen teilgenommen hat, muss den Eindruck haben, wie viel stärker hier die Theologie der Englisch sprechenden Welt eine Rolle spielt. Ob das nur damit zusammenhängt, dass die meisten großen deutschen Theologen nicht Englisch können, das ist eine Frage für sich. Es ist freilich die wichtigste Sprache nächst dem Griechischen für einen evangelischen Theologen, denn die Weltkirchensprache des Protestantismus bzw. der Ökumene ist Englisch, während die römische Kirche offenbar beim Lateinischen geblieben ist. Insofern wird es notwendig sein, dass wir die deutsche evangelische Theologie ins Englische übersetzen. Diese Arbeit muss in jahrelanger Mühe geschehen. Wir sollten uns diese wichtige Mühe machen, denn ich bin der Meinung, dass die reformatorische Theologie in keinem Lande der Welt bis zum heutigen Tage mit solcher Intensität, mit solcher Gründlichkeit bearbeitet, ausgebaut und studiert worden ist wie in unserem Lande. Sollten wir uns nicht überhaupt die Mühe machen, das Angebot der Mitarbeit an der Weltkirchenkonferenz in Neu Delhi so anzunehmen, wie es uns in dem schönen Schriftchen

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»Jesus Christus, das Licht der Welt« entgegengebracht wird? Wir sollten m. E. in unseren Gemeinden die Bibelarbeit und das Studium der übrigen Dokumente mitmachen und, so wie es der Generalsekretär Visser’t Hooft vorgeschlagen hat, alle teilnehmen an der Weltkirchenkonferenz in Neu Delhi im November 1961. II. Römisch-katholische Kirche Es ist nicht immer üblich auf unseren Synoden – und ich kann mich auch aus den letzten Jahren nicht daran erinnern –, dass ein Wort über unser Verhältnis zur römischkatholischen Kirche gesprochen wird. Aber es scheint mir in diesem Jahr nicht zu umgehen zu sein. Die Ankündigung des Ökumenischen Konzils durch Papst Johannes XXIII. hat besonders in Deutschland ein unerwartetes Echo gehabt. Das zeigt die große Publizität, die dieser Ankündigung in Deutschland zuteil geworden ist. Gerade hier ist das Thema der Wiedervereinigung der Kirchen innerhalb des Katholizismus wie innerhalb des Protestantismus mit neuer Intensität auf die Tagesordnung gesetzt worden. Wir sind in mancherlei Hinsicht überrascht über den Eifer, mit dem die römisch-katholischen Christen das Thema der Wiedervereinigung behandeln und auch mit uns darüber diskutieren wollen. Dadurch ist auf der anderen Seite unter den evangelischen Christen mancherlei Verwirrung entstanden. Das erfährt man, wenn man sich zu diesen Problemen öffentlich äußert, in zahlreichen Briefen, von denen sehr viele das Unverständnis zeigen, das viele Protestanten von dem Problem des Verhältnisses von protestantischer und katholischer Kirche haben. Dies ist natürlich schmerzlich, und wir haben hier die Aufgabe, dieses ein wenig in Ordnung zu bringen. Es ist daraus zu erkennen, wie oft durch die aus der Vergangenheit vorhandenen protestantischen Ressentiments dieses Verständnis für die große Aufgabe der Wiedervereinigung der Kirchen gehindert wird. Wir müssen allerdings sehen, dass von einer Veränderung des Verhältnisses der beiden Kirchen zueinander in dogmatischem Sinn keine Rede sein kann. Es ist zweifellos eine Illusion zu meinen, dass gegenwärtig durch irgendeine denkbare Überlegung eine Annäherung der Kirchen auf dogmatischem Wege erreicht werden könnte. Gerade die Entwicklung seit dem tridentinischen Konzil hat ja in gewisser Beziehung im Bereich der Mariologie und der Lehre vom Papsttum eigentlich den Graben eher tiefer gemacht, als er war. Auf der anderen Seite ist gerade im deutschen Raum das Verhältnis der Christen zueinander praktisch anders geworden, als es früher war. Das ist zweifellos eine Folge der Jahre 1933 bis 1945. Es ist eben diese Generation, die aus den Kämpfen jener Jahre hervorgegangen ist, durch den gemeinsamen Gegner in einer ganz besonderen Weise einander angenähert worden. Trotzdem sind im Zusammenleben katholischer und evangelischer Christen in unserem Lande einige Probleme aufgetaucht, die einigermaßen beunruhigend sind. Es ist so, dass etwa in unserem Lande, wie überhaupt in den verschiedenen Gebieten Westdeutschlands, wir als Männer der Kirche Anfragen, Briefe, Hinweise bekommen, die alle in die Richtung weisen, als sei die Besorgnis sehr stark gewachsen, dass eine steigende katholische Vorherrschaft in unseren Ländern sich anbahne. Man liest darüber mancherlei in persönlichen Briefen oder hört darüber viel in Aussprachen mit Leuten aus dem Bereich der Beamtenschaft, der Juristen, der Philologen, aber auch in anderen Bereichen. Immer wieder werden wir von einzelnen Menschen auf Einzelheiten aufmerksam gemacht mit einer langen Serie von Klagen darüber, dass hier personalpolitische Schwierigkeiten bestehen, dass hier Evangelische zurückgesetzt oder nicht befördert werden usw.

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Man könnte hier eine ganze Serie von Tatbeständen aufstellen, was ich jedoch unterlassen möchte. Natürlich kann auf der anderen Seite auch auf entgegengesetzte Tatbestände hingewiesen werden. Ich erinnere an die Auseinandersetzungen über die Besetzung des Intendantenpostens beim Westdeutschen Rundfunk, worüber auch eine ganze Literatur entstanden ist. Aber es ist doch außer aller Frage, dass stärker als noch vor drei oder vier Jahren diese Beunruhigung unter den evangelischen Christen in unseren Ländern gewachsen ist. Darum glaube ich, dass wir etwas tun müssen. Aber wir müssen nicht denken, dass hier eine Leitung der Landeskirche das Entscheidende tun kann. Es wird sehr viel, ja es wird alles davon abhängen, dass wir stärker als bisher evangelische junge Männer dazu bringen, dass sie Studienräte werden, dass sie in die Berufe hineingehen, in die sich in den letzten Jahren in starkem Maße unsere katholischen Mitchristen gedrängt haben. Wir haben ja als Protestanten offenbar stärkere Neigung zur industriellen Welt. Und so kann man in weiten Bereichen sehen, wie ein ganz anderes Zahlenverhältnis zwischen Protestanten und Katholiken im industriellen Bereich einerseits und im Bereich der sogenannten Geisteswissenschaften andererseits, also der Philologie, Juristerei, Medizin usw., vorhanden ist. Wir haben also hier mancherlei zu bedenken und hoffen, dass wir in einem guten Miteinander einige Fortschritte erzielen können. Eines aber möchte ich doch noch sagen – ich habe es auch dem Herrn Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-Westfalen gesagt –: Wir bitten alle politisch Verantwortlichen, insbesondere diejenigen katholischen Bekenntnisses, daran zu denken, dass es nicht gut ist, in einem Staat von heute, in der Bundesrepublik Deutschland überhaupt eine konfessionelle Personal- und Kulturpolitik zu treiben. Schon einmal, meine Brüder und Schwestern, hat sich dieses Unterfangen gerächt. Ich erinnere an die Zeiten zwischen 1920 und 1933. Damals habe ich deutlich gesehen, in welch starkem Maße die damalige Konfessionspolitik des Zentrums die Menschen dahin geführt hat, dem Nationalsozialismus zuzustimmen, als er das berühmte Propagandawort in die Welt setzte: »Entkonfessionalisierung des öffentlichen Lebens.« Damals sind unzählige Protestanten darauf zugegangen in der Überzeugung, dass sie damit endlich von einem unerträglichen Drucke befreit würden. Konfessionspolitik dient weder der rechten Demokratie, der menschlichen Zusammenarbeit in unseren Staaten, sie dient aber im Grunde auch gar nicht der Kirche, denn sie ist nicht der kirchlich gebotene Weg. Im Zeitalter der schweren Bedrohung der Christenheit in Europa, ja in der ganzen Welt, aber gerade in Deutschland, kann vor einem solchen Versuch, der von vielen Protestanten als der Weg einer Bemühung zu einer Rekatholisierung Deutschlands angesehen wird, nur gewarnt werden. Es kann nichts eintragen für die Rettung der Kirche. Wir möchten ein anderes Verhältnis zueinander haben, wir möchten ein offenes, ehrliches, brüderliches Miteinander ohne den Gedanken einer Vorherrschaft. Wir möchten nicht Missionsobjekt irgendjemandes sein, sondern echte Toleranz untereinander als solche, die ja trotz allem meinen, ein und denselben Herrn und ein und dieselbe Kirche, nämlich die Kirche des Dritten Glaubensartikels, zu bekennen. Wir werden nur miteinander als Christen die auf uns zukommenden Kämpfe bestehen oder miteinander untergehen.

I.2 Landessynode 1963

Aus dem Bericht des Präses Joachim Wilhelm Beckmann zur Lage der Kirche∗ I. Die ökumenische Bewegung 1. Die Prager Allchristliche Friedenskonferenz 1961 2. Die dritte Weltkonferenz des Ökumenischen Rates der Kirchen in Neu Delhi 1961 3. Dritte Europäische Kirchenkonferenz Nyborg 1962 II. Römisch-katholische Kirche 1. Enzyklika Mater et magistra 2. Vorbereitung und Erste Sitzungsperiode des 2. Vatikanischen Konzils

I. Lassen Sie mich nach diesen einleitenden Bemerkungen nun zunächst zu dem Bereich der ökumenischen Bewegung kommen und uns ein paar Dinge in Erinnerung rufen, die in den letzten zwei Jahren uns bewegt haben. Wir können trotz aller Probleme und Schwierigkeiten, die wir in mancher Hinsicht empfunden haben, an der Prager allchristlichen Friedenskonferenz 1961 nicht vorübergehen. Sie hat sich konstituiert und einen nicht geringen Eindruck in der weiten Welt gemacht; es ist ein Fortsetzungsausschuss gebildet worden, man hat mit Genf offizielle Verbindungen aufgenommen, und die Stellung dieser Gemeinschaft, die sich dort gebildet hat, ist zweifellos gegenüber der Vergangenheit gestärkt worden. Für uns, die wir in einer eminenten Weise von der OstWest-Spannung betroffen sind, liegen hier ja einige Probleme vor, die es uns auch nicht möglich gemacht haben, uns gleichsam offiziell von Kirchenwegen daran zu beteiligen. Die Kritik, die gerade in unserem Lande oder sagen wir in Deutschland daran geübt worden ist, war stark genug. Wir haben gerade im Rate der Union über diese Fragen sehr eindrückliche und ausführliche Besprechungen gehabt. Der Rat hat auch Versuche gemacht, in ein Gespräch zu kommen. Mir scheint trotz aller Probleme und Bedenken, die nicht aus der Welt zu schaffen sind, notwendig zu sein, diese Gelegenheit zu einem Ge∗

Protokoll der Landessynode 1963, S. 100–106.

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spräch immer wieder wahrzunehmen und dabei die Gemeinschaft der Brüder hinter den Mauern und Eisernen Vorhängen zu suchen. Wir haben in so vielen Fällen die tiefe Dankbarkeit zu hören bekommen, dafür dass wir uns auch mit ihnen zusammensetzen, dass wir Zeit für sie haben, dass wir mit den kleinen protestantischen Minderheitskirchen der Tschechoslowakei und anderer Länder Verbundenheit pflegen. Es gibt ja außerhalb Deutschlands eine solche Fülle von protestantischen Minderheitskirchen im Osten wie im Westen, deren Existenz sehr stark daran hängt, wie sich (wie sie dort selbst sagen) die reformatorische Mutterkirche in Mitteleuropa zu ihnen verhält. Ferner ist immer noch zu bedenken, dass eine solche Konferenz, die damals in Prag stattfand, sozusagen eine einzigartige Gelegenheit ist, dass Kirchen über die Grenzen hinweg sich treffen können. Die Oststaaten geben den Kirchen hier die einzige Möglichkeit, als Kirchen zusammenzukommen. Denn zwischen den Staaten, soweit wir es übersehen können, sind ziemlich hohe Grenzen, und man hat es offenbar nicht gern, wenn die Kirchen über die staatlichen Grenzen der Ostblockstaaten hinaus irgendwelche engeren Verbindungen haben. So ist diese Friedenskonferenz eine Möglichkeit, die unbedingt genutzt werden muss, weil es für alle Beteiligten, besonders für die Kirche dort, eine ungeheuer wichtige Gelegenheit ist, sich überhaupt persönlich und menschlich sprechen zu können über die Grenzen der Staaten hinaus. Ich habe nicht die Möglichkeit, dies weiter zu vertiefen, aber es scheint mir doch wichtig zu sein, Verständnis dafür zu wecken, dass bei aller Problematik, die ganz deutlich gesehen werden muss, die oft in theologischen Formulierungen oder in Resolutionen liegen mag, das Wichtigste für uns hierbei auf alle Fälle die Möglichkeit einer brüderlichen Aussprache ist. Wir wissen von einer ganzen Anzahl von Brüdern dort, die uns inständig gebeten haben, gerade ihnen in der richtigen theologischen Hilfe zur Seite zu stehen. Aber wie gesagt, das sei nur erwähnt, weil uns diese Fragen auch weiterhin noch in Zukunft beschäftigen müssen. Das zweite große Ereignis von Weltbedeutung ist natürlich die Tagung des Ökumenischen Rates, die dritte Hauptversammlung gewesen in Neu Delhi, über die ich das letzte Mal vor einem Jahre hier auf der Synode ausführlich berichtet habe. Dieser Weltkonferenz ist schon inzwischen das Zentralkomitee in Paris gefolgt. Die Fortsetzung der Arbeit ist tatkräftig in Angriff genommen. In diesem Jahre wird z. B. wieder eine große Weltkonferenz für Faith and Order in Kanada stattfinden und dann die andere für uns so wichtige Konferenz der Abteilung für Weltmission und Evangelisation. Man sieht also daraus, wie in Verfolg der Neu Delhi-Konferenz die ökumenische Bewegung ihre Aufgaben intensiv in Angriff nimmt. Sie erinnern sich daran, welche Bewegung es in der Welt gegeben hat in Bezug auf die Aufnahme der orthodoxen Kirche, aber auch auf andere Ereignisse, die vor allem bei uns diskutiert worden sind. Mir scheint immer noch das wichtigste Geschehen dieser Konferenz der weittragende Beschluss über die Integration des Internationalen Missionsrates in den Ökumenischen Rat der Kirchen zu sein. Darum wird auch die kommende Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland dieses Thema behandeln, und auch wir werden uns auf unserer Synode damit beschäftigen. Das ist die große Frage und Aufgabe, das Problem Kirche und Mission neu in Angriff zu nehmen und neuen Lösungen zuzuführen, da offensichtlich die Lösung des 19. Jahrhunderts nun endgültig dabei ist, der Vergangenheit anzugehören. Aus Gründen der Zeitknappheit soll über Neu Delhi diesmal nicht mehr gesagt werden, nachdem wir das letzte Mal

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schon ausführlich über die Sache gesprochen haben. Nur eins sei noch hinzugefügt: Wir haben uns vorgenommen, die Sektionsberichte von Neu Delhi auf unseren Kreissynoden zu behandeln, und 1962 ist der erste Versuch gemacht worden mit der Sektion Zeugnis. Wir hoffen aber auch, dass in den nächsten Jahren die anderen Sektionsberichte Gegenstand der Behandlung unserer Synoden werden. Denn nur dann, wenn die ökumenischen Anstrengungen, die ökumenischen Sätze und Erörterungen, bis in die Gemeinde hinein verfolgt werden, hat es ja Sinn, überhaupt von einem ökumenischen Zusammenschluss der Kirchen zu sprechen. Nicht nur Institutionen sollen sich da treffen, sondern die ganze Christenheit, und darum muss die Christenheit über das sprechen, was in den Konferenzen gemeinsam erarbeitet ist. Gerade die Sektionsberichte sind ja dazu da, dass die einzelnen Kirchen auf die Herausforderungen dieser Berichte antworten, und mir läge sehr daran, dass die Evangelische Kirche in Deutschland und auch unsere Kirche insbesondere, sich an diesem ökumenischen Gespräch aktiv beteiligte. Bis hierhin war es leider bei uns so, dass wir einen großen Teil des Gesprächs im ökumenischen Raum den Kirchen des angelsächsischen Raumes überlassen haben. Nun aber werden wir mit Notwendigkeit dazu gedrängt, die reformatorische Theologie des Kontinents zu vertreten und ihr neuen Raum in allen ökumenischen Gesprächen zu verleihen. Schließlich ist im ökumenischen Raum noch zu nennen die 3. Europäische Kirchenkonferenz in Nyborg 1962. Wir nehmen als Rheinische Kirche mit der Westfälischen zusammen immerhin ein bisschen den Ruhm in Anspruch, die Anfänge dieser Konferenz unternommen zu haben. Wir freuen uns daran, dass dieses unser Kind so trefflich gediehen ist und dass also schon jetzt in Nyborg im vergangenen Jahr eine so weitwirkende Konferenz stattgehabt hat. Auch hier ist es wichtig, dass Europa in Erscheinung tritt, nicht nur, um eine neue ökumenische Konzeption zu finden, sondern auch eine Möglichkeit des Ost-West-Gesprächs. Denn wir haben ja hier die Freude gehabt, dass eine große Zahl von Brüdern aus den verschiedenen Kirchen des großen weiten Ostraumes mit uns zusammen hat sprechen können. Bedenken Sie, hier in Nyborg konnten sich Brüder aus der Berlin-Brandenburgischen Kirche aus West und Ost treffen, was man auf deutschem Boden nicht kann. Das ist allein schon Grund genug, solche Möglichkeiten auszukaufen, wenn keine anderen sich bieten. Die Frage, die uns begreiflicherweise bewegt, ist: Wie kommt die ökumenische Bewegung auf dem eingeschlagenen Weg ihren Zielen näher? Wir sehen, was fördert, aber wir sehen natürlich auch, was hindert. Wir haben beides ins Auge zu fassen. Das, was fördert, was die ökumenische Bewegung wirklich vorwärts bringt, das sind im Großen und Ganzen nicht wir alten Kirchen, sondern das sind die jungen Kirchen. Sie sind die Unruh in der Uhr. Und diese Unruh ist von großer Wichtigkeit. Denn die bedächtigen, konservativen und nachdenklichen Väter und Großväter der Christenheit in Europa sind immer ängstlich besorgt, dass sie ihre überlieferten Leitbilder nicht verlieren. Dagegen die jungen Kirchen stehen an den heutigen Fronten der Christenheit. Sie sind in ganz anderer Weise Bedrängnissen ausgeliefert, die uns nicht so unmittelbar betreffen. Sie sind darum von der Frage der Einheit der Kirche viel mehr bedrängt als wir. Wir haben uns ganz anders an eine lange Geschichte mit Uneinigkeiten und Konfessionen gewöhnt, und trotzdem ist ja doch die Verschiedenartigkeit der Konfessionen eigentlich ein Widersinn gegen das Kirchesein der Kirche Christi in der Welt, die nur eine Konfession, eine einzige, kennen könnte. Die Not der jungen Kirchen in ihren äußeren Bedrängnissen, aber

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auch in ihren inneren Bedrängnissen, ist das eigentlich vorwärts treibende Element, was fördert. Was hindert, das habe ich schon angedeutet, das sind unsere kirchentraditionellen Leitbilder, das ist auch zum Teil unsere Gleichgültigkeit, dass wir ja in uns selbst genug haben und nicht so leidenschaftlich bewegt sind, nach vorne vorzustoßen. Es hindert sicherlich auch ein wenig, was sich in der Ökumene abgezeichnet hat, nämlich die weltweiten, großen und bedeutenden konfessionellen Gruppen, die zwar auch ihre großen wichtigen Vorzüge haben als weltweite Organisationen, aber die nun auch gerade ein wenig in die Tendenz hineingeraten, sich als große Weltkonfessionen stärker als je zu zementieren, und damit der Gefahr nicht entgegenstehen, dass die Einheit umso schwieriger, die Wiedervereinigung der Kirchen umso weniger zustande kommen kann. Da ist es meiner Überzeugung nach die besondere Aufgabe aller Unionskirchen, dafür zu sorgen, dass zwischen diesen Blöcken der Zement nicht fehlt, die Verbundenheit nicht fehlt, sondern dass gerade hier etwas da ist, das sich hineingibt in das Ganze, das nicht etwas für sich sein will. Und es ist sicher schön, dass sich auch die unierten Kirchen niemals in die Versuchung haben bringen lassen, so etwas wie einen unierten Konfessionsblock neben die anderen zu stellen. Die nächste Konferenz von Faith and Order 1963 hoffen wir, wird entscheidende Schritte vorwärts tun können. Die Formel über die Einheit von St. Andrews 1961, die ja in Neu Delhi eine Rolle gespielt hat, wird uns, wird jede Gemeinde zu beschäftigen haben. Denn diese Frage durchzuklären, ist schon eine große theologische Aufgabe, und wir werden auch einen Beitrag dazu zu leisten haben. Denn gerade die Geschichte der Theologie im Deutschland des vorigen Jahrhunderts, zum Beispiel die Geschichte der Diskussionen um die Union, hat ja eine solche Menge von theologischer Arbeit hervorgebracht, die leider längst in den Schubfächern der Bibliotheken und Archive verlorengegangen ist, dass, wenn man sie wieder einmal aufschlägt, man staunt, wie unsere Väter und Großväter im vorigen Jahrhundert die großen Fragen, die heute ökumenisch heißen, damals von allen Seiten durchdacht haben: Einheit der Kirche, Union – denken Sie nur an die berühmte Schrift von Julius Müller »Das göttliche Recht der Union«. II. Wir müssen weiter in unseren Erwägungen. Wir kommen nun zur römisch-katholischen Kirche. Wir schauen in diesen Tagen besonders natürlich auf den hinter uns liegenden Abschnitt des 2. Vatikanischen Konzils, das wir mit großer Spannung erwartet haben. Aber wir denken auch einen Augenblick einmal an die bedeutende, interessante, umfangreiche und anspruchsvolle Enzyklika »Mater et Magistra«. Gerade an ihr haben wir Evangelischen studieren können, wie man – evangelisch geredet – nicht verfahren kann. Hier ist ja deutlich, wie eine katholische Theologie mit ihren Ansprüchen und ihren Konstruktionen die Dinge des sozialen Lebens und der Sozialpolitik in Angriff nimmt und wie sie sich versteht als Lehrmeisterin der Völker. Im Grund unterliegt die Wissenschaft bis zu einem gewissen Grade wesentlich ihren Grundsätzen, den Maßstäben und maßgeblichen Erklärungen der Kirche. Dies würden wir in gewisser Beziehung als eben einen typisch römisch-katholischen Versuch einer Klerikalisierung der Welt oder auch Christianisierung der Welt ansehen, während es nach unserer Überzeugung zu den besonderen Erkenntnissen und Aufgaben der evangelischen Theologie und Kirche gehört, um der Freiheit des Menschen von einer falschen Weltherrschaft der Kirche willen hier ein deutliches und immer wiederholtes Nein zu sagen. Nach der eindrucksvollen Vorbereitung ist

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nun die 1. Sitzungsperiode des 2. Vatikanischen Konzils in der Öffentlichkeit, durch die Tatsache der Beobachter auch vor der Öffentlichkeit der Christenheit der nichtkatholischen Kirchen, zu Ende gegangen. Die Erwartungen, die an dies Konzil gestellt sind, sind, besonders auf deutschem Boden, offenbar groß und ganz besonders stark – wie wir beobachten – in katholischen Kreisen. Zeitweise war ja geradezu ein gewisser Enthusiasmus da, dass man meinte, wir stehen jetzt bei dem kommenden Konzil vor entscheidenden Schritten der römisch-katholischen Kirche auf eine Wiedervereinigung mit den Protestanten. Nun, das ist langsam aber sicher und auch mit Recht zurückgegangen, und doch hat der bisherige Verlauf vielen Skeptikern und Pessimisten Unrecht gegeben. Der schöne und interessante Bericht, auf den ich einmal hinweisen möchte in »Kirche in der Zeit« von dem Waldenser Bruder Vinay ist sehr instruktiv. Er ist mit der Beste, den ich bisher über das Konzil gelesen habe. Er hat mit Recht herausgestellt, was hier für eine Möglichkeit im römischen Katholizismus sich anbahnt. Wie wird mit einem Mal dort von der Heiligen Schrift geredet als dem wichtigsten, was im Gottesdienst eine ganz entscheidende Rolle zu spielen hat. Wie wird von der Gemeinde gesprochen, die am Gottesdienst Anteil nehmen muss, die nicht nur dabei zu stehen hat, sondern die in der Volkssprache verstehen, hören, mitbeten, mitsingen soll. Lauter Dinge, die in der Reformationszeit ja das heiße Anliegen der Reformatoren und der reformatorischen Kirchen gewesen sind. Es ist ferner erwogen, das Abendmahl in beiderlei Gestalt wieder freizugeben. Bis in die Fragen des Kirchengesangs hinein ist deutlich geworden, was der Protestantismus der Welt für die römisch-katholische Kirche bedeutet. Das theologisch Interessante für uns Theologen war ja der Streitpunkt über die zwei Quellen der Offenbarung. Wir Evangelischen nehmen natürlich besonders leidenschaftlich an einer solchen Diskussion Anteil, weil sie ja auch eine interprotestantische Diskussion gewesen ist. Bis in unsere Tage hinein immer wieder kommt die Frage nach den zwei Quellen der Offenbarung in der theologischen Diskussion ans Licht, und wir können also nicht einfach sagen: Die Protestanten haben immer nur für die eine Quelle der Offenbarung plädiert, in Wirklichkeit aber beweist unsere Theologiegeschichte das Gegenteil. Erst in der neuesten Zeit, gerade im 20. Jahrhundert hat die Protestantische Kirche zum ersten Male unter Anführung Karl Barths doch offenbar sich mit besonderer Leidenschaft gegen eine ZweiQuellentheorie gewandt und mit großer Intensität betont: Nur eine Quelle hat die Offenbarung und dabei das »sola scriptura« in dieser Beziehung ganz neu verstehen gelernt. Das Aufregendste an der Diskussion für uns ist ja dies, dass immer wieder herauskommt, ein großer Teil der Bischöfe der katholischen Kirche legt Wert darauf, dass auf dem Konzil nichts geschieht, was nach der protestantischen Seite neue Gräben aufwirft. Das ist es ja auch gewesen, was uns im Blick auf das Konzil besonders beschäftigt hat. Wir haben verschiedentlich zum Ausdruck gebracht, dass unsere einzige Sorge die wäre, dass das Konzil die Gräben zwischen Rom und den nicht römisch-katholischen Kirchen vertiefen könnte. Wir haben soweit wir Verbindungen haben aufnehmen können – immer gebeten, das zu bedenken. Denn das steht außer Frage: In der heutigen Welt, der Weltsituation von heute, ist alles, was in Rom geschieht oder nicht geschieht, für die gesamte Christenheit von Bedeutung. Unser Verhältnis zueinander ist doch offenbar irgendwie trotz aller Schwierigkeiten und Probleme, die wir ganz deutlich sehen, in Bewegung gekommen, ohne dass die dogmatischen Gegensätze auch nur etwas abgeschwächt oder eingeebnet worden sind. Es ist unser Verhältnis zueinander schon dadurch ein anderes, dass es zum ersten Mal jetzt möglich geworden ist, dass durch Einladungen der römisch-

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katholischen Kirche Beobachter aus den großen Kirchen der Welt an diesem Konzil teilnehmen können. Das ist ein Symbol von nicht zu übersehender Wichtigkeit. Umgekehrt waren sie auch eingeladen an der Konferenz in Neu Delhi. Das zeigt eben, dass hier erst einmal Brücken geschlagen werden. Und die wichtigsten, die hier geschlagen werden müssen, sind die menschlichen Brücken des Verstehens und der Bemühungen, sich gegenseitig in den so lang uns beschäftigenden dogmatischen und ethischen Fragen näherzukommen oder wenigstens begreifen zu wollen, was der andere mit dem, was er sagte oder heute sagt, eigentlich meint. Es ist klar, dass die Denkstrukturen zwischen den Kirchen oft so verschieden geworden sind, dass es ungeheuer schwer ist, bei denselben Worten in den gegensätzlichen Formulierungen überhaupt nur den eigentlichen Sinn der Intention dieser Sätze zu verstehen. Wir werden also im Jahre 1963 nach den weiteren Vorbereitungen die wichtigsten Dinge noch erleben, die auf dem Konzil zu geschehen haben. Wir warten mit Spannung darauf, wie einige von den großen Problemen, die in den Schemata noch nicht zur Bearbeitung gekommen sind, auf dem Konzil zur Entscheidung kommen werden. Offenbar hat die Leitung des Konzils eingesehen, dass man über viele Dinge nicht mit rascher Hand zur Tagesordnung übergehen konnte, und deswegen auch sind wichtige Umstellungen erfolgt, ein Zeichen dafür, dass hier auch etwas über das sonst bei uns übliche Bild hinaus sichtbar wird von innerkatholischen Reformbestrebungen und Reformbewegungen. Und wenn so von der Heiligen Schrift gesprochen wird, wie es auf dem Konzil geschah, dann können wir evangelischen Christen dafür nur dankbar sein. Wir hoffen, dass dort weitere Schritte getan werden, die es uns ermöglichen, das Gespräch in der Christenheit miteinander in noch größerem Rahmen zu führen als bis jetzt. Die Ökumene war ja immer offen dafür, und wir wünschen nichts dringender, als dass alle christlichen Kirchen, auch die römisch-katholische, in dies Gespräch eintreten.

I.3 Landessynode 1964

I.3.1 Aus dem Bericht des Präses Joachim Wilhelm Beckmann zur Lage der Kirche∗ II. Ökumene Damit komme ich zu einem zweiten Punkt meiner Darlegungen: »Kirche in Deutschland, ökumenisch gesehen.« Im ökumenischen Raum hat sich eine Wandlung seit Neu Delhi durch die Integration des Internationalen Missionsrates angebahnt. Und zwar hat sich das Selbstverständnis des Ökumenischen Rates der Kirchen in einem gewichtigen Satz verändert, indem nämlich in die Basis etwas Dynamisches hineingekommen ist. Die Basis, die bisher bestand, war sozusagen ein Bekenntnissatz. Nun aber ist dieser Bekenntnissatz verwandelt worden in den Satz, in dem die Kirchen gemeinsam bekennen: Wir kommen zusammen um der gemeinsamen Aufgabe willen, um des Auftrags willen, der an uns gestellt ist. Wir wollen gemeinsam zu erfüllen trachten, wozu wir berufen sind. Dies ist das eigentliche zentrale Ereignis von Neu Delhi gewesen, dieses Ja zu dem gemeinsamen Auftrag. Das hat sich in der Basis gezeigt, das hat sich in der Integration gezeigt. An diesem gewichtigen Satz wird nun im ökumenischen Raum gearbeitet, nämlich um dies zu erkennen, was das heißt: »gemeinsam zu erfüllen trachten, wozu wir berufen sind«. Dass dies nur noch gemeinsam geschehen kann, das ist die große Erkenntnis der letzten Jahre, das ist der eigentliche große Erfolg der ökumenischen Bewegung. Nicht, dass es ihr schon gelungen ist, eine Einheit unter den Kirchen herzustellen, sondern dass in diesem Bemühen die Erkenntnis ans Licht gekommen ist, dass unsere Existenz als Kirche ihren Sinn in ihrer Berufung zur Mission hat und dass darin auch alle unsere Einigungsbemühungen ihren Sinn haben, nicht eine weltumspannende Großmacht, »Kirche« genannt, zu werden, sondern die sich in die ganze Welt verströmende Macht Jesu Christi zu sein, dass erfüllt wird, wozu die Kirche da ist, wozu sie gesandt wurde, wie es in Math 28 steht: Gehet! Die großen ökumenischen Versammlungen des vergangenen Jahres haben einige von den damit verbundenen Problemen deutlich gemacht. In Montreal kam die Einheitsfrage der Kirche mit erneuter Verschärfung in die Ökumene hinein, und zwar durch die Diskussion mit der Orthodoxie. Zum ersten Male zeigte sich hier deutlicher als je zuvor, was es bedeutet, wenn man mit der Orthodoxie in einer ökumenischen Versammlung wirklich ∗

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diskutiert. Auf der anderen Seite hat sich in Montreal vor allen Dingen begeben, dass Professoren der deutschen Theologie dort zum ersten Mal große Überraschungen hervorriefen und dass die dort versammelten Delegierten aus den verschiedenen Gebieten der Welt den Eindruck hatten, dass hier neue, entscheidende Fragen vom Neuen Testament an sie gestellt seien, dass es eben nicht geht, sich bloß und allein oder meistens mit den dogmatischen Vergangenheiten, den Bekenntnisschriften, den Dogmen zu befassen, sondern dass das Neue Testament selbst in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung zu rücken ist. Ich sehe darin einen gewichtigen Schritt, denn wir verschanzen uns ja gegenseitig hinter der Großartigkeit unserer mächtigen Traditionen und Bekenntnisse und wollen nicht gerne auf die Heilige Schrift unmittelbar angesprochen sein, oder wenn wir es tun und geschehen lassen, dann sind die Wege und Kanäle, durch die wir sprechen, gewöhnlich die Kanäle unserer eigenen kirchlichen Traditionen. In Helsinki waren die Lutheraner zusammen, und einige von uns waren als offizielle Besucher dabei, nicht als Delegierte. Wir haben gesehen, welche Probleme auftauchen, wenn man sich der Frage stellt, wie man das Evangelium heute aktualisieren kann, wie man das, was in der Bibel steht, in der Rechtfertigungslehre, in der Christologie so vergegenwärtigen kann, dass es ohne Preisgabe dessen, was in den kerygmatischen Äußerungen der Heiligen Schrift ausgesprochen ist, neu gesagt wird. Es ist darum kein Wunder, dass es die deutschen Theologen waren, die in Helsinki eine vielleicht voreilige Beschlussfassung über die Rechtfertigung verhinderten. Die schwere Aufgabe, eine Botschaft der Konferenz zu diesem Thema zu verabschieden, erwies sich als nicht lösbar. Und gerade sie wird die Aufgabe sein, das Evangelium den Menschen von heute zu sagen, an der wir auch beteiligt sein werden, weil es im letzten Grunde die Aufgabe ist, die sich für die ganze Ökumene stellt, die Aufgabe, die besonders die reformatorische Theologie und ihre Kirchen im ökumenischen Raum zur Geltung zu bringen haben. Das ist das eigentliche Erbe, das wir einzubringen haben und um das noch in den nächsten Jahren ein mächtiger Streit der Diskussion sich ergeben wird. Was in Mexiko passierte, ist ja erst in den letzten Tagen bekannt geworden. Ich möchte aus der Botschaft dieser ersten Konferenz der ökumenischen Kommission für Weltmission, wie es dort heißt (for mission and evangelism), ein paar Worte vorlesen, die die Hauptsache, die uns angeht, enthalten: Aufruf zur Einheit der Mission. »Wir fordern alle Christen auf, in dieser Aufgabe zusammenzuarbeiten. Wir sind überzeugt, dass jetzt die Zeit gekommen ist, da wir gemeinsam planen und gemeinschaftlich handeln müssen. Die Tatsache, dass Christus nicht geteilt ist, muss in der Struktur missionarischer Arbeit unmissverständlich deutlich gemacht werden. Die gegenwärtigen Organisationsformen der Mission machen diesen Sachverhalt nicht sichtbar; im Gegenteil, sie verbergen ihn vielfach. Man muss die weitreichenden Konsequenzen erkennen, die sich daraus für alle Kirchen ergeben. Auch die missionarische Aufgabe ist unteilbar und erfordert Einheit. Sie ist ebenso unteilbar wie das Evangelium, und sie ist unteilbar, weil sich die Kirchen in allen Ländern derselben entscheidenden Aufgabe gegenübersehen. Und sie ist auch unteilbar, weil jede christliche Kirche in allen Teilen der Welt gefordert ist, die Liebe Gottes in Christus aufzuzeigen, in Zeugnis und Dienst vor der ganzen Welt. Mission erfordert Einheit, weil sie im Gehorsam gegenüber dem einen Gott geschehen muss und weil wir gegenüber der säkularisierten oder der unchristlichen Welt kein wirksames Zeugnis ablegen können, wenn wir uns voneinander trennen. Die Gaben, die Gott jeder Kirche gewährt hat, brau-

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chen wir, um für die gesamte Kirche Zeugnis ablegen zu können.« Jeder, der diese Worte nicht nur hört, sondern sie erwägt, wird empfinden, welches Gewicht sie haben und vor welchen Problemen die Kirche steht im Blick auf den Satz: Mission erfordert Einheit, denn die Aufgabe ist unteilbar, und alle Christen müssen in dieser Aufgabe zusammenarbeiten. III. Katholische Kirche Von der Ökumene gehen wir nun über zur römisch-katholischen Kirche. Das vergangene Jahr 1963 brachte uns nicht nur das Jubiläum des Tridentiner Konzils, das im Jahre 1563 abschloss, sondern auch die zweite Session des II. Vaticanum unter dem inzwischen neuberufenen Papst Paul VI. Wir erinnern uns einiger Überraschungen dieser zweiten Session, Überraschungen nicht nur für die nichtrömisch-katholische Christenheit. Auf der anderen Seite aber sah man auch, wie groß die Hindernisse sind, die sich bei einem so großen Konzil von über 3000 Mitgliedern ergeben. Sie zeigen, welche gewaltigen Aufgaben, die fast übermenschlich groß sind, in einer solchen Synode für eine Kirche vor Augen stehen. Die konkreten Ergebnisse sind ja, wie uns deutlich ist, noch sehr schmal. Sie enthalten zwar im Bereich der Liturgie einige nicht unwichtige Dinge, von denen wir demnächst noch etwas Genaueres werden hören und sagen können, aber vielleicht ist die größte Bedeutung dieses Konzils überhaupt darin zu sehen, dass die römisch-katholische Kirche in einem bisher nicht da gewesenen Maße das Erlebnis der Horizontalen hat, das Zusammenkommen von verantwortlichen Menschen aus der ganzen Welt zu einer Beratung über eine Menge von gewichtigen Punkten, etwas, was ja der römisch-katholischen Kirche sonst ganz fernsteht, weil dort alles vertikal, von oben nach unten konstruiert ist. Ich glaube, dass dies für die Struktur der römisch-katholischen Kirche möglicherweise einige Folgen haben wird. Das Wichtigste, was bisher geschehen ist, war vielleicht jenes Wort des Papstes, das wir ja alle gehört haben, von dem Angebot und der Forderung der Vergebung zwischen den Kirchen. Es kann kein Zweifel sein, dass dies für uns als evangelische Christen schon deswegen von besonderem Gewicht ist, weil es ja gerade zum Erbe der Reformation gehört, das Evangelium als Evangelium der Vergebung zu verstehen und darum auch zu wissen um die Notwendigkeit, dass in der Christenheit Versöhnung geschieht, Vergebung der Sünden zwischen den Christen. Man kann sagen, dass wir für die Aufgeschlossenheit und den brüderlichen Geist, von dem viele Worte beim Konzil getragen waren, dankbar gewesen sind. Wir haben auch das Wort des Papstes, von dem ich eben sprach, gewiss nicht ohne Bewegung vernommen. Es wird vielleicht doch die Aufgabe des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland sein müssen, für die Evangelische Kirche in Deutschland eine Antwort zu geben in der Erkenntnis, dass alle Kirchen, die sich auf das Evangelium von Jesus Christus gründen, allein von seiner Vergebung leben und der gegenseitigen Vergebung bedürfen. Niemand von uns erwartet bald greifbare organisatorische Ergebnisse auf dem Wege der Wiedervereinigung der getrennten Kirchen. Hier und da hat sich so etwas wie Enthusiasmus gezeigt – man kann das an vielen Stellen beobachten, gerade auch in der römisch-katholischen Christenheit in Deutschland, und manche haben aus den Worten, die auf dem Konzil gesprochen wurden, schon weittragende Folgerungen gezogen, als ob das alles schon Beschlüsse seien. Wir stehen erst an den Anfängen der Gewinnung einer neuen ökumenischen Erkenntnis, und wir wollen lernen, neu im ökumenischen Geist zusammenzuarbeiten, wenn und wo

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es geht. Wir haben noch viel Arbeit nötig, um uns besser zu verstehen und uns kennenzulernen. Jedes ernsthafte Gespräch zwischen römischen Theologen und uns zeigt ja die ungeheure Schwierigkeit und die wahre Tiefe der Gegensätze und die tatsächlich menschlich unüberwindliche Problematik in dem Verstehen der entscheidenden Grundfragen, nicht nur der Rechtfertigung, sondern auch der Kirche. Wir wollen uns bemühen, in geduldiger theologischer Arbeit und in redlicher Suche nach der Wahrheit weiterzukommen. Wir wissen aber, dass hier noch menschlich, theologisch, kirchlich unüberwindlich hohe Mauern und Hindernisse zwischen uns stehen. Natürlich begrüßen wir, dass der Kölner Kardinal ein so mutiges Wort gesagt hat im Blick auf die Probleme der Mischehen. Wir haben ja von Anfang an gesagt, dass dies für uns zu den besonders wichtigen Problemen gehört, die gelöst werden müssen, wenn es zu einem neuen und besseren Zusammenleben und auch Zusammenarbeiten kommen soll. Hoffen wir, dass, wenn das Konzil zu Ende ist, sich ein Weg abzeichnet, vielleicht eine Möglichkeit, die uns eine Annäherung erleichtert.

I.3.2 Antrag an den Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland betr. Bitte des Papstes um Vergebung∗ Der Präses verliest den Antrag an den Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland. Nach kurzer Aussprache wird beschlossen: Beschluss 34: Die Landessynode der Evangelischen Kirche im Rheinland bittet den Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland, auf die Bitte des Papstes um Vergebung eine evangelische Antwort zu erteilen. Der Beschluss wird bei einer Gegenstimme und einer Enthaltung angenommen.

I.3.3 Wort der Landessynode an die Gemeinden zur konfessionellen Lage∗∗ Beschluss 35: Das Wort der Landessynode an die Gemeinden zur konfessionellen Lage wird in der vorgeschlagenen Abänderung bei einer Enthaltung angenommen. Es hat folgende endgültige Fassung: Wort der Landessynode an die Gemeinden zur konfessionellen Lage (1) Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland hat uns aufgerufen, dafür zu beten, dass die Verhandlungen des Zweiten Vatikanischen Konzils »der Wahrheit, dem Frieden und der Gemeinschaft im Glauben unter den Kirchen« dienen möchten. Viele rheinische Gemeinden sind diesem Aufruf gefolgt. Mit großer Anteilnahme und wachsender Aufmerksamkeit haben wir das geistliche Ringen auf dem Konzil beobachtet. Wir sind ∗ ∗∗

Protokoll der Landessynode 1964, S. 49. Protokoll der Landessynode 1964, S. 51–52.

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dankbar für die Stimmen, aus denen ein neues Verständnis für die alleinige Herrschaft Christi und die grundlegende Bedeutung der Heiligen Schrift für die Kirche spricht. (2) Wir bitten unsere Gemeinden, sich in neuer Besinnung der Tat Gottes in der Reformation zu erinnern und mit der Bereitschaft zu Dienst und Opfer den Anruf Gottes erneut zu hören: Christus allein ist unser Herr. Wir sollen ihm gehorchen und aller Menschenherrschaft in der Gemeinde wehren. Die Bibel allein ist Quelle und vollkommene Richtschnur des Glaubens. Wir wollen immer besser lernen, mit ihr zu leben und keine dem Evangelium fremden Wege zu gehen. Im Glauben allein haben wir Anteil an der rettenden Gnade Gottes. Er lässt uns das Heil in Jesus Christus finden und bewahrt uns davor, in eigener Leistung unsere Rettung zu suchen. (3) Auf der Grundlage dieser Wahrheit des Evangeliums, die uns selbst zur Erneuerung herausfordert, sprechen wir mit den Gliedern der römisch-katholischen Kirche. Wir wollen uns besser kennenlernen und uns bemühen, in redlicher theologischer Arbeit einander zu verstehen und zu helfen. Wir sind willens, in ökumenischer Gesinnung zusammenzuarbeiten, wo immer es geht. Wir haben nicht die schwärmerische Hoffnung, als sei ein organisatorischer Zusammenschluss der Kirchen in absehbarer Zeit zu erwarten. Für die praktische Zusammenarbeit sehen wir in der Behandlung der Mischehen eins der schmerzlichsten Hemmnisse. Darum begrüßen wir, dass auch über dieses Problem auf dem Konzil gesprochen wurde. Wir hoffen, dass das Konzil nicht auseinandergeht, ohne eine dem Evangelium entsprechende Befreiung von dieser schweren Belastung für das Verhältnis der Konfessionen und das Gewissen der Mischehenpartner gefunden zu haben. (4) Mit Bewegung haben wir die Bitte des Papstes um Vergebung für verletzendes und unbrüderliches Verhalten gehört. Die Synode hat den Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland gebeten, auf diese Bitte eine evangelische Antwort zu geben. Denn Kirchen, die sich auf das Evangelium von Jesus Christus gründen, leben allein von seiner Vergebung und bedürfen der gegenseitigen Vergebung. Wir bitten den Herrn, dass er selbst die ganze Christenheit auf Erden ausrüste mit seinem Geist zum Heil der Welt und zur Verherrlichung seines Namens.

I.4 Landessynode 1965

I.4.1 Aus dem Bericht des Präses Joachim Wilhelm Beckmann zur Lage der Kirche∗ I. Ökumenische Ereignisse 1. Um die Jahreswende Tagung der Kommission für Weltmission und Evangelisation in Mexiko/Ende der 2. Session des 2. Vatikanischen Konzils/Treffen des ökumenischen Patriarchen und des Papstes im Heiligen Land 2. Ostasiatische christliche Konferenz in Bangkok (Februar) 3. Tagung des Exekutivausschusses des Ökumenischen Rates der Kirchen in Odessa (Februar) und Tutzing (Juli) 4. Zweite allchristliche Friedensversammlung in Prag (Juni) 5. 19. Generalversammlung des Reformierten Bundes in Frankfurt a.M. (August) 6. IV. Europäische Kirchenkonferenz (Oktober) II. Römisch-Katholische Kirche 1. Die erste Enzyklika des Papstes Paul VI. 2. Die 3. Session des II. Vatikanischen Konzils und ihre Ergebnisse a) Constitutio de ecclesia b) Die Dekrete (de oecumenismo) c) Der Ausgang der 3. Session d) Die zur 4. Session vertagten Vorlagen Verehrte, liebe Brüder und Schwestern! Zur Ergänzung des Berichtes der Kirchenleitung, der Ihnen schon gedruckt übermittelt worden ist, möchte ich nun in einem zweiten Teil der Berichterstattung etwas über die Kirche im Jahre 1964 hier sagen. Am Beginn des Jahres 1965 denken wir 20 Jahre zurück an das Ende des Krieges, dem bis zum heutigen Tage noch kein Friedensvertrag gefolgt ist. Wir denken zurück an das Frühjahr 1945, wo die Evangelische Kirche im Rheinland zu neuen Möglichkeiten aufgebrochen ist. Und die ganze Arbeit der hinter ∗

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uns liegenden zwanzig Jahre ist ja der Versuch eines Wiederaufbaus einer bis in die Grundfesten gefährdeten und zerstörten evangelischen Kirche in unserem Lande. Ich möchte in dem heute zu erstattenden Bericht gleich zu Anfang zum Ausdruck bringen, was am Schluss noch einmal an einigen Punkten gezeigt werden soll, wie die Fragen, die der Kirche von der Welt von heute gestellt werden, in den Ereignissen kirchlichen Lebens, im ökumenischen Raum und in allen Gliederungen der Ökumene, aber auch in der römisch-katholischen Kirche sichtbar werden. Berichte, die heute auf Synoden bei uns gegeben werden, sind überall Berichte im ökumenischen Horizont. Wir haben längst gelernt, uns in diesem Zusammenhang zu verstehen und unsere Arbeit als einen Bestandteil weltumspannender kirchlicher Bruderschaft zu begreifen. So geht uns alles an, was irgendwo in den Kirchen der Welt geschieht, vor allen Dingen aber alles, was im ökumenischen Raume, im Rate der Kirchen der Welt an Ereignissen von Wichtigkeit ist. I. Ökumenische Ereignisse 1. Wir denken zurück an die Jahreswende 1963/1964, wo wir auch hier im Januar vor einem Jahre versammelt waren. Damals schauten wir zurück auf die gerade abgeschlossene erste Tagung der neuen Kommission für Weltmission und Evangelisation, die in Mexiko stattgefunden hatte. In dieser Tagung, die die erste war seit Neu Delhi, geschah der Beginn der Integration auf der Ebene des Ökumenischen Rates der Kirchen im Weltmaßstab. Zwei Dinge sind es, die von dieser Tagung bleibende Bedeutung haben, erstens die Stiftung des Christlichen Literaturfonds, eine große und ungeheuer wichtige Sache angesichts der Tatsache, dass durch die Arbeit, die die UNESCO heute tut, in einigen Jahren 350 Millionen Menschen mehr lesen und schreiben lernen werden. In steigendem Maße wird dem Analphabetismus zu Leibe gerückt, und es ist der Stolz aller freiwerdenden Staaten der Welt, Schulen zu bauen. Die Bildungsaufgaben und -fragen gehören zum größten Thema unserer Zeit. Und hier steht die Kirche vor einer geradezu unlösbaren Frage: Was bekommen diese Menschen zu lesen? Wo sind die Druckereien, wo sind die Männer und Frauen, die die Zeitschriften herausgeben, wo ist das Geld für Tageszeitungen, für christliche Literatur aller Art? Darum ist der Christliche Literaturfonds, der einige Millionen Dollar umfassen soll, eine bescheidene, aber ungeheuer wichtige Sache für die erste Entstehung einer neuen Weise missionarischer Aktivität. Bedenken Sie, der Literaturfonds ist gebildet von der Kommission für Weltmission und Evangelisation. Literatur auszubreiten, ist heute eine unmittelbare missionarische Aufgabe geworden. Das andere ist das zweite Programm des Theologischen Education-Fund, d. h. also des bisher schon angefangenen und im ersten Abschnitt durchgeführten Fonds für die Gründung theologischer Seminare, die Ausbildung des theologischen Nachwuchses in allen Kirchen der Welt. Auch dieser ökumenische Fonds ist eine ungeheuer wichtige Einrichtung missionarischer Art, denn es wird alles darauf ankommen, dass in den Kirchen der Welt für die theologische Ausbildung der in den Kirchen heranwachsenden jungen Pastoren gesorgt wird. Da die meisten dieser Kirchen dazu nicht imstande sind, aus eigenen Kräften zu entwickeln, was hier getan werden muss, so wird im Weltmaßstab wiederum eine Arbeit geleistet, die von größter Bedeutung ist. Denn wer sich einmal klargemacht hat, was es für eine Kirche bedeutet, für Theologen, die zu predigen haben, die zu arbeiten haben, dass ihnen nahezu alles fehlt an dem, was wir in reichem Maße in unserer

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Literatur an Unterstützung und Hilfe haben, dann wird einem deutlich, welche riesige Aufgabe hier besteht, Theologie zu treiben in den verschiedensten Gebieten der Welt durch die Entsendung von Theologieprofessoren und ihren Helfern, und vor allen Dingen auch für theologische Literatur zu sorgen, für die Übersetzung von theologischen Standardwerken. Welche ungeheure Bedeutung hat es, dass es möglich wird, große und bedeutende Standardwerke der Theologie in die verschiedenen Weltsprachen zu übersetzen, damit wenigstens auf diese Weise die Möglichkeit gegeben wird, Literatur auf dem Gebiet der Theologie in einem bisher noch nicht da gewesenen Maße zu empfangen. Gleichzeitig mit dieser Tagung von Mexiko endete damals die 2. Session des Vatikanischen Konzils, und im Anschluss daran fand jene überraschende Reise des Papstes Paul VI. nach Palästina statt, wo er sich mit dem Ökumenischen Patriarchen Athenagoras getroffen hat. Im ökumenischen Raum war dieses Treffen von einer schockierenden Wirkung. Was sollte dieses Treffen bedeuten? Eine Überrollung des Ökumenischen Rates der Kirchen durch eine unmittelbare Union zwischen West- und Ostrom? So ist es verständlich, wenn innerhalb der ökumenischen Literatur Amerikas oder der Englisch sprechenden Völker interessante Erörterungen stattfanden. Ein methodistischer Exekutivdirektor des theologischen Ausbildungsfonds hat hierüber sich sehr instruktiv geäußert in The Christian Century von 1964. Da schrieb er: »Die gegenseitige brüderliche Umarmung der beiden Oberhäupter der römisch-katholischen Kirche und der orthodoxen Kirchen bei ihrer Begegnung im Heiligen Land war eine symbolische Handlung mit vielerlei Auswirkungen. Zu ihnen gehört auch, dass der Protestantismus seine Stellung innerhalb der ökumenischen Bewegung, deren hauptsächlicher und bewegender Baumeister er gewesen ist, sorgenvoll überprüft. Die Abwesenheit der Protestanten bei der Begegnung im Heiligen Lande ist jedenfalls ein Symbol. Die protestantische Führungsgruppe muss genug vorsichtige, aber feste Kritik laut werden lassen, um die hierarchischen und klerikalen Gruppen Roms und Konstantinopels daran zu hindern, die ökumenische Bewegung zu beherrschen und die protestantischen Impulse einzufrieren. Meine Hoffnung ist, dass der weltweite Protestantismus alle Möglichkeiten zum ökumenischen Konsens untereinander ausschöpfen wird. Die protestantischen Weltbünde könnten ihre schwindende Daseinsberechtigung durch die Schaffung solcher Möglichkeiten wiederherstellen. Wir brauchen dringend eine panprotestantische konziliare Bewegung, die sowohl innerhalb wie außerhalb des Ökumenischen Rates wirksam wird. Die gezielte Bildung eines solchen protestantischen Blockbewusstseins wäre heilsam. Er könnte voranschreiten, ohne dem bedächtigeren Gang des Ökumenischen Rates der Kirchen angeglichen werden zu müssen.« – Diese herausfordernden Sätze sind nicht ohne Interesse, und unsere Ohren nehmen das gern zur Kenntnis, wenn aus amerikanischer Sicht die Frage nach dem protestantischen Erbe im Raume der Ökumene aufgeworfen wird. Nun, inzwischen hat sich auf orthodoxer Seite auch ergeben, dass aus dieser Begegnung in Palästina keine sehr weittragenden Folgerungen gezogen werden konnten. Auf der Panorthodoxen Konferenz hat man sich darüber in einigen Sätzen ziemlich klar geäußert und hat zum Ausdruck gebracht, wie es hier heißt: »Es ist hier klar geworden, dass eine angemessene Vorbereitung und die Schaffung entsprechender Voraussetzungen für die Absicht notwendig sind, in fruchtbarer Weise einen theologischen Dialog, nämlich mit der römisch-katholischen Kirche, zu beginnen.« Dies ist eine sehr zurückhaltende Äuße-

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rung, die deutlich macht, dass hinter dem Besuch des ökumenischen Patriarchen jedenfalls die Orthodoxen Kirchen offenbar nicht gestanden haben. 2. Im selben Frühjahr, von dem wir jetzt sprechen, fand fern von uns eine gewichtige Konferenz statt, die zum Ausdruck bringt, dass in Ostasien Kirchen sind, die gemeinsame Kirchenkonferenzen halten. Die Ostasiatische Christliche Konferenz in Bangkok ist ja nicht zum ersten Male versammelt gewesen. Sie zeigt uns deutlich, dass wir hier – Gott sei Dank! – mit lebendigen und selbständigen Kirchen es zu tun haben, die imstande sind, Dokumente zu verfassen, deren Studium sich auch für uns zu lesen lohnt. Ich erinnere an das sehr instruktive Dokument, das in KIRCHE IN DER ZEIT abgedruckt war (in Nr. 10 des vergangenen Jahres): »Christliche Begegnung mit Menschen anderen Glaubens«, eine erstaunliche theologische Darlegung, aus der sehr viel Interessantes hervorgeht. Ich lese nur einen kleinen Satz daraus: »Mit welcher Kühnheit haben Männer wie Johannes und Paulus den Sprachgebrauch der griechischen Philosophie, die Symbole der Mysterienreligionen und die Gedankengebilde der Gnosis in den Dienst des Evangeliums gestellt! Die Christen Asiens müssen aktueller innerhalb der Kultur ihrer eigenen Völker leben. Dies schließt vielleicht die Preisgabe vieles Liebgewordenen ein, eine Art Selbstentäußerung, die schmerzlich und gefährlich sein wird. Aber nur so wird der Geist zeigen, wie der Glaube in der Sprache der einheimischen Kulturen neu dargelegt werden kann, in Formen des Gemeinschaftslebens, in denen der Glaube Licht ausstrahlt, und in Taten, die für die Bedürfnisse der zeitgenössischen Gesellschaft belangvoll sind.« Ich kann auf die Einzelheiten dieser sehr instruktiven Dokumentation nicht eingehen. Aber eins wird daraus deutlich, dass in den ostasiatischen Kirchen so etwas geschieht wie eine Einwurzelung des Evangeliums über das hinaus, was bisher die Missionare aus dem Westen gebracht haben. Man will wirklich selbständig werden, und dazu gehört entscheidend auch das, was eben von mir verlesen ist. Ich glaube, es ist ein Zeichen dafür, dass wir in der Mission einer neuen großen Epoche entgegengehen. 3. Der Ökumenische Rat hat als sein kleinstes Gremium den sog. Exekutivausschuss, der im vergangenen Jahre zweimal tagte, und zwar in Odessa zum ersten Male im Bereich der Sowjetunion und in Tutzing im Juli. Bei dieser Zusammenkunft sieht man zuerst in Odessa ganz deutlich, welche Folgen sich für die Ökumene daraus ergeben, dass das Konzil in Rom weitergegangen ist und dass die Frage »Katholizismus innerhalb und außerhalb der Ökumene« eine brennende Frage der Ökumene selbst geworden ist. Man hat eine 12-Punkte-Erklärung über die christliche Einheit in ökumenischer Sicht verfasst, die sich geradezu nach draußen wendet und zum Ausdruck bringt, was man eigentlich im Ökumenischen Rat der Kirchen unter Einheit versteht, welchen Weg zur Wiedervereinigung der Kirchen man hier beschreitet. Auch dies Dokument ist es wert, studiert zu werden. Es wird hier deutlich gemacht, dass der Ausgangspunkt der gemeinsame Glaube an Jesus Christus ist und dass auf diesem Boden alle Mitgliedskirchen gleiches Recht genießen. Verknüpfung – wie es hier heißt – multilateraler Beziehungen der Kirchen vollzieht sich hier, wobei jede Kirche das Recht zu eigener Initiative hat, darum also zu einem Dialog, der in gegenseitiger Anerkennung der Kirchen als den Herrn bekennender Kirchen geführt wird, dass die Kirchen vielleicht große Vorbehalte gegeneinander haben, aber doch bereit sind, sich als gleichberechtigt an einem gemeinsamen Gespräch zu betei-

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ligen und – dem Gespräch entsprechend – ihre gegenseitige Solidarität zu vollziehen in gegenseitigem Beistand in der Not, im gemeinsamen Zeugendienst für Christus, in ihrer Verkündigung und Missionsaufgabe. Es ist sehr interessant zu sehen, wie eben das Thema »Fortschritt christlicher Einheit« in der ganzen Welt gerade auch durch das ökumenische II. Vatikanische Konzil in Rom neu in Bewegung gekommen ist. Die Schwierigkeiten sind ja wahrlich nicht kleiner, sondern auf manche Weise größer geworden. Daneben sei noch darauf hingewiesen, dass sich ja der Ökumenische Rat in allen seinen Institutionen immer wieder mahnend mit dem Abrüstungsproblem beschäftigt, und was wir darüber gelesen haben, ist ziemlich weitgehend im Blick auf die Vorschläge, die gemacht werden. Das Wichtigste für uns scheint mir dies zu sein, dass wir von dort aus auch angeredet werden, und zwar ganz ausdrücklich: »Wir appellieren an die Kirchen, ihren Friedenseifer zu intensivieren und gemeinsam mit anderen Menschen guten Willens die Regierungen zu Maßnahmen, wie wir sie vorgeschlagen haben, zu drängen.« Hier wird also gerade vom Ökumenischen Rat aus und von seinem Exekutivkomitee aus den Kirchen zugeredet, sich selbst von sich aus in ihren Ländern an die Regierungen zu wenden im Sinne konkreter Vorschläge und Maßnahmen, die hier im Einzelnen dargelegt werden, auf die ich natürlich in meinem kurzen Bericht nicht eingehen kann. Ich unterstreiche das nur, dass wir hier geradezu aufgefordert sind, im ökumenischen Raum überall, wo es Kirchen gibt, etwas zu unternehmen zugunsten des Friedens und auch der einzelnen Probleme, um deren Lösung es hierbei geht. Wir hoffen also, dass einiges Weitere auch in unserem Kreise geschehen kann. Das andere, was dort besprochen wurde, waren die Themen: »Glaubensfreiheit« und »Rassenkonflikte«, zwei Dinge, die wie alles andere, was Sie bisher gehört haben, auch auf dem römischen Konzil zur Verhandlung stehen, weil es sich um weltumspannende Probleme handelt. Das Thema »Glaubensfreiheit« wird ja vonseiten der Ökumene vorgetrieben, um eine richtige Auslegung der UNOCharta zu erreichen, dass eben Glaubensfreiheit mehr ist als Gewissensfreiheit, dass Glaubensfreiheit als Religionsfreiheit in sich schließt die Erlaubnis zur Begründung selbständiger Gemeinschaften und zum Erwerb der dazugehörigen Einrichtungen in dieser Welt. Noch immer ist deutlich, wie man aus den Dokumenten ersehen kann, dass in weiten Gebieten der heutigen Welt es so etwas wie Glaubensfreiheit in gar keiner Weise gibt, und nicht nur im Raum des Ostsektors der Welt, sondern auch in weiten Gebieten der sogenannten westlichen Welt. Was die Rassenkonflikte angeht, die ja auf die Welt in steigendem Maße zukommen, so haben sich die ökumenischen Konferenzen immer wieder mit diesem Problem beschäftigen müssen. Wir stehen ja im Ganzen hier so ein bisschen an der Seite. Wir erfahren nur von ferne von diesen Problemen etwas. Wir sollten aber stärker als bisher uns auch theologisch mit dem Problem der Rassenfrage beschäftigen. Wenn Sie in der heutigen Literatur in Deutschland nachschauen, werden Sie nur ganz weniges über diese Probleme finden. Wenn Sie sich orientieren wollen, müssen Sie schon in die englisch-sprechende Literatur greifen, um etwas Theologisches zu dieser Frage zu bekommen. Mir scheint es je länger desto mehr notwendig zu sein, die Fragen anzufassen, damit wir nicht eines Tages überrollt werden von den Problemen und auf die an uns gerichteten Fragen theologisch überhaupt keine Antwort wissen. 4. Im Sommer fanden zwei ganz verschiedene große Konferenzen statt, die uns noch in Erinnerung sein werden, auf der einen Seite die P r a g e r Friedenskonferenz, die Zweite Christliche Friedenskonferenz, und auf der anderen Seite hier in Deutschland, zum ers-

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ten Male auf deutschem Boden, die 19. Generalversammlung des Reformierten Weltbundes. Sie wissen alle, wie stark die Prager Friedenskonferenz bis in unsere Gemeinden hinein umstritten war und ist. Vor kurzem hat sich Präses Wilm hierzu in der JUNGEN KIRCHE (Jahrgang 1964) geäußert, indem er die Argumente gegen und für die Friedenskonferenz gut zusammengestellt hat, die ja auch bei uns hin und her erörtert worden sind. Eines scheint mir nur wichtig zu sein, immer wieder zu erwähnen: Wenn man überhaupt die Notwendigkeit bejaht, dass man mit Menschen sehr verschiedener politischer Situationen, verschiedener gesellschaftlicher Strukturen und auch unter sehr entgegengesetzten politischen Regimen als Christen und Kirchen miteinander sprechen muss, dann muss man einiges mit in Kauf nehmen, das sich nicht ganz vermeiden lässt, wenn man zusammenkommen will. Wenn Sie nun die Botschaften, die von Prag in diesem Jahre ausgegangen sind, gelesen haben, dann werden Sie sagen müssen, dass die Botschaft, die an die Kirchen gerichtet worden ist, eine Reihe von sehr gewichtigen und beachtenswerten Sätzen in sich schließt. Ich erinnere nur daran, wie in dieser Botschaft, die ja auch an uns gerichtet ist und die wir zu hören haben, folgende Worte stehen: »Das Kreuz Jesu Christi ist der Friede« und seine Auferstehung ist das Leben. Christus wirkt durch seinen Geist in Menschenherzen Vertrauen, Verstehen, Bereitschaft zum Gespräch und Befreiung von Angst. Er ist der Friede, der höher ist als alle Vernunft. Sein Friede ist mehr als der Friede in unseren Herzen. Sein Friede ist mehr als gute internationale Beziehungen, sein Friede macht zu Opfern bereit. Er treibt dazu, Hunger und Elend, Unrecht und Misstrauen zu bekämpfen, er gibt die Gelegenheit, etwas für den Nächsten zu tun, und schafft die Möglichkeit zum Zusammenleben. Deshalb können wir an dem Frieden in Jesus Christus nur teilhaben, wenn wir in die Beziehungen zwischen den Völkern Versöhnung und Vertrauen hineintragen und die Barrieren des Missverständnisses und der Vorurteile niederlegen helfen.« In dem 2. Teil wird dann etwas Eindrucksvolles gesagt über unsere Schuld, unsere eigene Untreue, was sehr beachtlich zu hören ist: »Wir bekennen, dass wir dem Bunde Gottes untreu geworden sind und dass unsere Arbeit für die Verständigung, den Frieden ungenügend ist. Zwar hat der Weltrat der Kirchen oft zu den Fragen des Weltgeschehens Stellung genommen, zwar hat die Christliche Friedenskonferenz zu aktivem Handeln aufgerufen, aber Haltung und Handlung unserer Kirchen blieben leider hinter diesen Beschlüssen zurück … Das Evangelium, der Bund Gottes, ist konkret auf Leben und Frieden gerichtet. Auch wenn das Evangelium keine Anweisungen gibt, wie der Frieden zu organisieren ist, erlaubt es nicht, dass Christen sich der Sache des Friedens versagen. Wer sich nicht für den Frieden zwischen den Völkern und für die Erhaltung des Menschenrechts im eigenen Lande einsetzt, unterstützt die Kräfte des kalten Krieges und trägt zur Steigerung des Misstrauens und der Spannungen bei, die im Atomzeitalter zu einer Weltkatastrophe führen können.« Es wird dann neben dieser Botschaft auch ein würdiges Wort – meine ich – an die Regierungen der Völker gerichtet, und wenn man diese eigentlichen Botschaften der Konferenz ansieht, wird man sagen müssen, dass die Intention, die hier zum Ausdruck kommt, eigentlich von der ganzen Christenheit gebilligt werden könnte. Allerdings muss man damit rechnen, dass Menschen, die unter ganz anderen gesellschaftlich-politischen Voraussetzungen leben müssen, ja von dieser Tatsache irgendwie mit betroffen sind, dass wir umso mehr die Aufgabe haben, mit ihnen in einem dauernden, unaufhörlichen Gespräch zu bleiben. Wir legen ja als evangelische Christen besonderen Wert darauf, mit den Vertretern der Kirchen auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs in immer neue Verbundenheit zu treten und

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mit ihnen Verbindungen aufzunehmen. Gerade dazu hat uns auch das, was wir in den letzten Jahren getan und geredet und versucht haben, immer wieder Gelegenheit gegeben, diese Verbindung herzustellen. Wir denken an die evangelischen Kirchen in Rumänien, in Jugoslawien und in der Tschechoslowakei, in Polen und überall. Wir sind gerade wieder dabei, ihnen auf neue Weise unsere Hilfsbereitschaft zu zeigen und zu dokumentieren, dass wir über alle Differenzen miteinander verbunden sind in unserem gemeinsamen Herrn und darum auch unsere Gemeinschaft konkretisieren wollen. 5. Die 19. Generalversammlung des Reformierten Bundes fand in Frankfurt am Main statt. Das Interessante an dieser Konferenz war ja in der theologischen Diskussion auch wiederum, wie heiß in der Frage der Konkretion der Rassenbeziehungen gerungen werden musste. Da stand Südafrika vor allem im Vordergrund, aber auch Nordamerika, wo die Fragen besonders brennend sind. Sehr bemerkenswert war es, in welch ausführlicher Weise sich diese Konferenz mit dem Problem der römisch-katholischen Kirche beschäftigt hat. Ich glaube, bisher ist das noch nicht so ausführlich geschehen wie in diesem Dokument, und was hier im Einzelnen ausgeführt ist, ist nicht nur nachdenkenswert, sondern auch zu praktizieren in unseren konkreten Beziehungen, die wir zwischen der evangelischen und der römisch-katholischen Kirche in unserem Land haben. Darüber hinaus sind auch sehr instruktive ökumenische Richtlinien verhandelt worden, die auch für uns und unsere Arbeit nicht übersehen werden sollten. In der Erklärung des Reformierten Weltbundes über ökumenische Richtlinien wird auf der einen Seite zum Ausdruck gebracht, welche ökumenischen Ereignisse als vom Hl. Geist bewirkt angesehen werden können, das Wachsen der Gemeinschaft der Kirchen im Ökumenischen Rat, die größere Übereinstimmung über das Wesen der Einheit, das neue Klima auch innerhalb des römischen Katholizismus, die zunehmende Zahl von Gliedkirchen des Weltbundes, die schon Unionskirchen sind oder die in einem Gespräch sich befinden, das die Union zum Ziele hat, das Drängen vieler junger Kirchen und Vereinigungen, wie die Ostasiatische Christliche Konferenz, um eine Überprüfung der Aufgaben der Konfessionellen Weltbünde. Sehr schön ist, was der Reformierte Weltbund in dieser Deklaration sagt: »Wenn die großen Konfessionen der Welt, unter ihnen die reformierten Kirchen, konfessionellen Vorrang anstreben und ihre großen Weltbünde zum Selbstzweck machen, dann verraten sie Jesus Christus. Aber wenn sie mit Erfolg danach streben, durch die Betonung ihrer konfessionellen Eigenart das gemeinsame evangelische Erbe zu bereichern, erfüllen sie dadurch den Willen des einen Hauptes der Kirche und sind wirklich die Werkzeuge des Heiligen Geistes.« Dementsprechend wird dann den Gliedkirchen empfohlen, in dieser Richtung fortzufahren. Es ist auch hier nicht möglich, auf die Einzelheiten einzugehen. Wir haben mit Dankbarkeit und Freude erfahren, wie Sie ja alle wissen, dass der rheinische Pfarrer Wilhelm Niesel, der Moderator des Reformierten Bundes in Deutschland, für die nächsten Jahre zum Präsidenten des Reformierten Weltbundes berufen worden ist. 6. Schließlich wäre in diesem ökumenischen Bereich noch darauf aufmerksam zu machen, dass die IV. Europäische Kirchenkonferenz in diesem Jahr zum ersten Male auf einem Schiff stattfinden musste aus politischen Gründen. Aber auf diesem Schiff hat sie nun eines fertiggebracht, was wir seit langer Zeit gewünscht haben, nämlich die Bildung einer Satzung, einer Satzung über das hinaus, was bisher an inoffiziellen Bindungen da

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war. Am Anfang dieser Arbeit stand das Zusammenkommen, das die Präsides der westfälischen und der rheinischen Kirche mit den Brüdern von den Niederlanden und von Belgien gehabt haben in gemeinsamen Konferenzen. Ich erinnere an die Brüsseler Konferenz, die schon vor vielen Jahren den Anfang dieser Arbeit der Europäischen Kirchenkonferenz gesetzt hat. Wir sind froh darüber, dass aus diesen Anfängen etwas geworden ist, das auch in einer bestimmten Konstituierung die Gemeinschaft befestigt, denn wir meinen, dass die europäischen Fragen zwischen unseren Kirchen diesseits und jenseits der Weltspaltung ganz besonders dringend zu besprechen sind. Wir denken doch gar nicht daran zu meinen, dass Europa nur der Westen sei. Wir denken nicht daran, etwas aufzugeben von der europäischen gemeinsamen Verantwortung im Rahmen der Ökumene. Aber gerade darum ist es wichtig, dass die großen traditionsreichen europäischen Kirchen miteinander in ein engeres Gespräch kommen, weil ja auch dadurch etwas Wichtiges mit bewerkstelligt werden kann, nämlich, ob ein protestantisches, nicht auf der römisch-katholischen Tradition beruhendes europäisches gemeinsames Erbe und Anliegen für die Zukunft Europas besteht. Ich glaube, dass die Protestanten wegen ihrer Herkunft und ihrer eigenen Geschichte zu sehr in den Nationalitäten ihrer Länder befangen waren und es schwer haben, europäisch und ökumenisch zu denken. Hier haben wir in allen Bereichen neu zu lernen, und auch die Europäische Kirchenkonferenz soll uns dazu verhelfen. Es sei noch erwähnt, dass auch die NordischDeutsche Kirchenkonferenz in Schweden stattgefunden hat, die ja seit vielen Jahren immer wieder, vor allen Dingen im deutschen Ostbereich, ihre Konferenz gehabt hat. Hier wird sozusagen etwas getan für die Nord-Süd-Beziehungen zwischen Skandinavien einerseits und den mitteleuropäischen Kirchen andererseits. Auch dies ist nicht unwichtig und gehört auch in den europäischen Gesamtrahmen hinein. Die neuen Probleme, das kann man abschließend sagen, die sich uns heute im ökumenischen Bereich stellen, sind neue Fragen an den Protestantismus, die einfach dadurch hervorgerufen worden sind, dass ja durch Neu Delhi die Orthodoxie nahezu vollständig in die ökumenische Gemeinschaft eingerückt ist. Das ist nicht ohne gewichtige Folgerungen. Die Kraft des katholischen Erbes ist dadurch sehr viel stärker geworden als zuvor. Ich habe eben ja verlesen, was jener Amerikaner sagte. Es war mir interessant, dass auf den beiden großen konfessionellen Weltkonferenzen in Helsinki wie auch in Frankfurt etwas sichtbar wurde bei manchen Vertretern dieser Weltbünde, dass man eigentlich über sie hinaus danach streben wollte, alle Protestanten miteinander zu vereinigen. Ich habe deswegen jetzt einmal den von manchen angefochtenen Satz gebracht: Protestanten aller Kontinente, vereinigt euch! – eine Aufgabe, die anscheinend im Blick auf die große Weiterentwicklung nicht ohne Wichtigkeit sein wird. Beunruhigung über das Weiterkommen der Ökumene ist natürlich da vorhanden, wo man in dem Kampf um die Existenz der Kirchen elementar bedroht ist durch die Spaltung. Alle Erklärungen sind darin einig, dass die Spaltungen der Kirche, das Nebeneinander, das Auseinander die Glaubwürdigkeit des Evangeliums besonders in Frage stellen. Aber die alten Kirchen mit ihren großen Bünden, auch die Ökumene in ihrer Gesamtheit, steht rätselratend vor dem Problem, wie man diese überwinden kann. Und es bleibt für unsere Sicht dabei, dass das schwerste und tiefste Kernproblem der ökumenischen Bewegung der evangelischkatholische Gegensatz ist, der zwar in mannigfachen Schattierungen vorhanden ist, aber

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in Wirklichkeit immer auf einen entscheidenden theologischen Kernpunkt zurückgeführt werden kann. Wo liegen die Wege zur Vereinigung der Kirchen? Das ist die große Frage in allen Kontinenten heute. Wo liegen die Hindernisse? Aber wir wollen uns nicht an andere wenden, sondern uns selbst fragen, ob wir Wege nach vorne wissen, ob wir Auswege aus dem Dilemma wissen, in dem wir heute innerhalb der Christenheit der Welt stehen. Wir wissen: Es ist nur eine Kirche, es ist nur ein Evangelium und ist nur eine Aufgabe für die ganze Christenheit dringender als je zu erfüllen. Und trotzdem: Wie wollen wir die zwischen uns liegenden Gräben überspringen, zuschütten oder beseitigen? Dazu wird noch eine ganze Zeit vergehen. Das zeigt sich uns besonders, wenn wir unseren Blick auf die römisch-katholische Kirche richten. II. Römisch-Katholische Kirche 1. Wir stehen im Jahre 1964 zwischen dem Ende der 2. und der 3. Session des II. Vatikanischen Konzils. Wir stehen schon vor der 4. Session, die im Herbst dieses Jahres das Konzil zum Abschluss bringen wird. Wir haben mit einiger Leidenschaft an diesen Entwicklungen teilgenommen, weil wir wissen, dass alles, was hier geschieht, nicht nur für die römisch-katholische Kirche von Wichtigkeit ist, sondern die ganze Christenheit angeht. Die ganze Christenheit ist von dem betroffen, was hier geschieht oder nicht geschieht. Und wir nehmen alle daran teil, weil wir wissen, dass die Dinge, die hier beschlossen oder nicht beschlossen werden, für die Zukunft des Zusammenlebens der Kirche und die Lösung der uns gemeinsam gestellten Aufgaben von großer Bedeutung sein werden. Papst Paul VI. hat im August des vergangenen Jahres seine erste Enzyklika herausgebracht. Diese Enzyklika ist voll freundlicher Anreden an die verschiedenen Gruppen innerhalb der Welt. Wenn man sie im Einzelnen liest, sieht man die konzentrischen Kreise, wie er sie von Rom aus sieht. Aber eins ist gerade in der Hauptsache dieser Enzyklika bedeutungsvoll und sichtbar geworden: der Angelpunkt des Kirchenproblems im Papsttum. Er weist bedauernd darauf hin, dass für eine ganze Reihe von christlichen Kirchen gerade der Papst mit seinem Amte das große entscheidende Hindernis der Einheit wäre. Er bringt dann ganz klar zum Ausdruck, dass nach seiner Überzeugung die Einheit der Kirche gerade auf dem Papsttum ruhe, obwohl alle nichtrömisch-katholischen Kirchen an diesem Punkte genau gegenteiliger Überzeugung sind. Hier wird deutlich, dass der tiefste Gegensatz dieser große evangelisch-katholische Gegensatz über die Grundstruktur der Kirche und damit auch ihrer Einheit ist. Der Dialog aber hat angefangen, ein neuer Dialog, wie er bisher so nicht bestanden hat. Und in diesem Dialog, meine ich, dürften die Protestanten der Welt in keiner Weise versagen. Das ist die große Frage, vor die wir jetzt gestellt werden. Wenn die Ergebnisse des Konzils gedruckt für uns vorliegen, werden wir uns schon über das, was da steht, im Dialog mit der römischkatholischen Kirche unsere Gedanken machen müssen. Wir können dann nicht mehr so weiterreden über Rom, wie das bisher weithin bei uns der Fall war. 2. Die Constitutio de ecclesia ist auf dem Konzil zum Abschluss gebracht worden. Wir haben sie nicht im Originaltext vor Augen und können darüber auch nicht im Einzelnen sprechen. Unabhängig von der Frage des Konzilschlusses wird man sagen müssen, dass in dieser Constitutio die römisch-katholische Kirche versucht hat, eine sehr schwere und für mein Empfinden nahezu unlösbare Frage zum Abschluss zu bringen, nämlich die Lösung

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des Gegensatzes zwischen dem Papalismus und dem Konziliarismus. Mir fiel dieser Tage ein Blatt in die Hand, woraus ich doch einen Satz vorlesen möchte, weil es auch zur Geschichte der Konzile interessant ist, sich das noch ins Gedächtnis zu rufen. Genau vor 550 Jahren hat das große Konzil von Konstanz Folgendes beschlossen (es ist doch sehr interessant, das heute nach 550 Jahren mal wieder zu hören): »Die gegenwärtig im Hl. Geist rechtmäßig versammelte Synode ist ein allgemeines Konzil, das die streitende katholische Kirche repräsentiert, und hat ihre Gewalt unmittelbar von Christus, welcher jeder, wes Amtes oder Standes er sei, selbst wenn er die päpstliche Würde inne hätte, in allem zu gehorchen verpflichtet ist, was den Glauben, die Beseitigung des gegenwärtigen Schismas und die allgemeine Reformation der Kirche Gottes an Haupt und Gliedern betrifft.« Dies ist die klassische Formulierung des römischen Konziliarismus vor 550 Jahren. Sie wissen ja, dass trotzdem bald schon das Entgegenstehende geschah, was seinen Höhepunkt fand im Triumph des Papalismus im 1. Vatikanischen Konzil 1870. Nun steht seitdem ungelöst nebeneinander, was in Konstanz und was in Rom beschlossen wurde. Und das heutige Konzil hat den Versuch gemacht, mit sehr differenzierten Formulierungen das Problem des Verhältnisses von Papst und Bischöfen zu lösen. Es ist der Begriff der Kollegialität der Bischöfe eingeführt worden mit den Sätzen, dass die Kollegialität der Bischöfe als solche mit dem Papst an der Spitze Inhaber der »suprema et plena potestas ecclesiae« sei, jedoch: »collegium sine capite (damit ist nämlich nicht Christus, sondern der Papst gemeint), non datur.« Also das Kollegium besteht nicht ohne das Haupt, den Papst. Auf der anderen Seite steht nun dieser Formulierung dialektisch entgegen, dass der Papst dieselbe suprema et plena potestas auch ohne das Kollegium hat. Wenn das, meinen wir, eine Lösung des Problems sein soll, dann muss noch klargemacht werden, wie man diese Paradoxie wird zu lösen haben. Aber das ist eine Paradoxie in der römisch-katholischen Kirchengeschichte seit Jahrhunderten, und wir müssen im Studium dieses Dokumentes noch zu eruieren versuchen, was daraus für Folgerungen theologisch und praktisch gezogen werden. Ist also, fragen wir, das Problem wirklich gelöst oder ist es nur umschrieben? Nun kommt dazu, dass an dieser Stelle von höchster Autorität die berühmte nota explicativa eingefügt wurde. Diese nota explicativa hat dafür gesorgt, das ist meine Überzeugung, dass eine Exegese dieser Texte auf keinen Fall im Sinne des Konziliarismus erfolgen kann. Das ist die Bedeutsamkeit dieser nota explicativa, von der Methode, in der sie durchgeführt wurde, abgesehen. Was die Dekrete des Konzils angeht, so braucht uns das Dekret über die katholischen orientalischen Kirchen weniger zu interessieren, aber umso mehr das bedeutendste Dokument des Konzils, nämlich das Dekret über den Ökumenismus. Über das Dekret werden wir erst im Einzelnen zu sprechen haben, wenn es uns im Wortlaut vorliegt, denn wir sind ja gerade auch als protestantische Kirche die in diesem Dekret Angesprochenen. Es ist da etwas geschehen wie eine neue Eröffnung des katholischen Ökumenismus zu den übrigen Kirchen. Es wird hier eine neue Position bezogen für ein ökumenisches Gespräch, und diese ist für die Geschichte der römisch-katholischen Kirche sicherlich eine nahezu revolutionäre Tat, eine Überraschung, eine Wandlung wie nie zuvor. Die rein introvertierte Überzeugung, dass die römisch-katholische Kirche qualitativ und quantitativ mit der Kirche Christi identisch ist, kann nun nicht mehr festgehalten werden. Jedoch auch an dieser Stelle fand ja jener eigentümliche Eingriff der hohen Autori-

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tät statt, als der Satz, der im Urtext des Konzils stand, verändert wurde. Er ist so instruktiv, dass wir ihn einmal Lateinisch hören müssen. Von den Protestanten wird Folgendes erklärt: »Spiritu sancto movente in ipsis sacris scripturis deum inveniunt sibi loquentem in Christo«, das heißt: Durch den heiligen Geist finden sie in den heiligen Schriften Gott, der durch sie zu ihnen spricht in Christus. Eine sehr schöne Formulierung über den Protestantismus. Aber es wurde daraus folgende schmerzliche Veränderung gemacht: »Spiritum sanctum invocantes in ipsis sacris scripturis deum inquirunt quasi sibi loquentem in Christo.« Dies ist nun ein sehr schmerzlicher Rückschritt von dem wunderbaren Konzilstext, denn jetzt heißt es: Sie rufen den heiligen Geist an. Das ist etwas anderes. Sie werden nicht von ihm bewegt. Es wäre wohl zu viel gewesen, das von uns zu sagen. Weiter also: Und wir suchen in den heiligen Schriften Gott, quasi, als ob er zu uns in Christus spräche. Ob das »quasi« in der heutigen Latinität nur »als ob« heißt, ob es subjektiv oder objektiv zu verstehen ist? Dies wäre auch eine interessante Frage der Exegese dieses Textes. Es könnte nämlich positiv gewandt heißen: Sie sind dabei der Überzeugung, dass zu ihnen in diesen Schriften Christus spricht und dass sie darum Gott in ihnen suchen. Leider, müssen wir sagen, ist diese Änderung angenommen worden. Es wurden allerdings die Väter des Konzils vor eine ausweglose Lage gestellt. Und diese Situation gehört ja zu den schmerzlichen Schlussakten des Konzils. In den Schlussakten sind auch noch einige andere schmerzliche Dinge passiert, die nicht unterschlagen werden dürfen. Das eine war die überraschende Formulierung des Papstes, dass er Lateinisch Folgendes sagte: »Ecclesiae indoles simul monarchica et hierarchica«. Während bis dahin das Wort monarchica nie vorgekommen war, erschien völlig überraschend in diesem Schlusswort des Papstes nicht nur das Wort von den hierarchischen Eigenschaften der Kirche, sondern auch von ihrer monarchistischen Struktur. Nun, wer die Constitutio de ecclesia in ihren Formulierungen genau studiert, wird verstehen, dass man auch so reden kann. Darüber hinaus kam in der Rede des Papstes noch etwas anderes ans Licht, dass man sagen könnte: Am Schluss des Konzils kam es nun doch trotz allem zu einem Triumph des Papsttums und der Maria. Der Papst sagte hier Folgendes: »Zur Ehre der Jungfrau und unserem Trost erklären wir die Heilige Maria zur Mutter der Kirche, d. h. des ganzen Volkes Gottes, der Gläubigen sowohl wie der Hirten, die sie ihre liebevollste Mutter nennen. Und wir möchten, dass mit diesem Titel die Jungfrau von nun an vom ganzen christlichen Volk noch mehr geehrt und angerufen werde. Es handelt sich um einen Titel, der in der christlichen Frömmigkeit nicht neu ist. Gerade mit dem Namen der Mutter mehr als mit jedem anderen Namen pflegen sich ja die Gläubigen und die ganze Kirche an Maria zu wenden.« Dieser Name gehört in der Tat zur echten Substanz der Marienfrömmigkeit und findet seine Rechtfertigung eben in seiner Würde als Mutter Gottes, ja, als Mutter des Wortes Gottes. Der Papst hoffte, dass die Jungfrau die Stunde der Einigung der Christen beschleunigen werde. Auch dies ist sehr instruktiv, da ja offenkundig auf dem Konzil alles getan wurde, um eine Stärkung der mariologischen Aussagen der Kirche zurückzudämmen. Aber diesem hat nun am Schluss der Papst in seiner Ansprache eben etwas entgegengesetzt und sicher mit Überzeugung und aus den Gründen der hinter ihm stehenden Kreise, die also gegen – wie man zu sagen pflegte – die fortschrittlichen Kräfte des Konzils waren. Es ist noch einmal deutlich geworden, dass der Papst von dem, was ihm zugesprochen ist seit dem Vatikanum, nichts preiszugeben gewillt ist und dass auch in der Mariologie keinerlei Rückschritte zu erwarten sein werden. Ein schmerzliches Ende, das den Bruder Vinay, den Berichterstatter des Konzils, in

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KIRCHE IN DER ZEIT zu der Schlussbemerkung führte, die ich doch noch eben vorlesen möchte: »Die evangelischen Christen mussten sich ganz fremd in der Peterskirche fühlen. Sie kehrten erschüttert und betrübt nach Hause. Es gab keine Glaubensgemeinschaft zwischen ihnen und der römisch-ökumenischen Versammlung.« Man kann das verstehen, wenn man sich diese Schlussakte des Konzils vor Augen stellt. Zum Schluss ist noch auf die Bedeutsamkeit der nichtbeschlossenen Stücke hinzuweisen. Es steht noch Wichtigstes aus: das Schema über die Religionsfreiheit, das Verhältnis zu den anderen Religionen, insbesondere auch zu Israel, und das schwierige Thema von Kirche und Welt. Die bisherige Diskussion auf dem Konzil hat gezeigt, dass man innerhalb der römisch-katholischen Kirche zum Teil in noch größeren Schwierigkeiten im Blick auf die großen moralischen Fragen von heute steht als wir. Wir sollten also sehen, dass auch hier eine große Erschütterung der bisherigen Selbstverständlichkeiten eingetreten ist. Die zahlreichen Themen kamen zum ersten Male auf das Konzil: Ehe und Familie, Friede, Rassenfrage, Hunger, Geburtenkontrolle und dann auch dann die Mischehe. Und gerade was die Mischehe angeht, wurde ja – wir sagen vielleicht: bedauerlich – die Sache so von dem Konzil abgetan, dass man sich an den Papst gewandt hat in einer Deklaration und ihn gebeten hat, dies in einem Motuproprio selbst zu entscheiden. Wir sind sehr gespannt, ob es so wird, wie das Konzil es vorschlägt, denn wir werden sagen müssen, wenn die Sätze des Konzils praktiziert werden können, so bedeutet das in der Tat eine große Erleichterung in diesem Bereiche, und wir wären wirklich dankbar, wenn es gelingen möchte, dieses Hindernis eines guten Verhältnisses der Konfessionen entscheidend abzubauen. Wie gerne würden wir zu vielem, was hier in Rom gesagt worden ist, erfreuliche und dankbare Zustimmung geben. Aber können wir übersehen, wie eben trotz des starken Wortes, das auch heute in Rom gesagt wurde: »ecclesia semper reformanda« der Begriff dessen, was reformatio ist, nun eben doch ein ganz anderer ist, als er uns durch die Reformation selbst gelehrt wurde? Können wir übersehen, wie fern das meiste, was etwa in der Constitutio de ecclesia ausgesprochen wird, von dem ist, was wir nach dem Neuen Testament unter Kirche verstehen gelernt haben? Also: Es gilt, keinerlei falsche Hoffnungen und Illusionen zu hegen, sondern in redlicher Nüchternheit die Tiefe der Grundverschiedenheit unserer Kirchen aufs Neue zu sehen und uns aufs Neue in unserer Freude am Evangelium und der Kirche freier Christen in der Gemeinschaft Jesu Christi stärken zu lassen. Dennoch: Es gilt auch eine Bereitschaft zum Gespräch, eine Bereitschaft zu einer neuen Kooperation, die wir ja immer bejaht haben, und wenn sie nun auch uns von dort entgegengebracht wird, werden wir gerne alles tun, um das Verhältnis der Kirchen zueinander zu verbessern.

I.4.2 Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland zum derzeitigen Gespräch zwischen den Konfessionen∗ Die Synode hatte den Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland gebeten, auf die Bitte des Papstes um Vergebung für verletzendes und unbrüderliches Verhalten eine evangelische Antwort zu geben. ∗

Protokoll der Landessynode 1965, S. 29–32.

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Am 19. März 1964 veröffentlichte der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (nach Beratung mit der Kirchenkonferenz) ein Wort »zum derzeitigen Gespräch zwischen den Konfessionen«, das auch dem entspricht, worum die Synode gebeten hatte. Das Wort des Rates wurde in unserer Kirche mit einem Kommentar des Präses in mehreren hunderttausend Exemplaren verbreitet. Wir möchten es wegen seiner Wichtigkeit uns noch erneut in Erinnerung rufen: EVANGELISCHE ANTWORT Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland zum derzeitigen Gespräch zwischen den Konfessionen Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland, am 19. März 1964 in Berlin versammelt, wendet sich mit folgendem Wort zur gegenwärtigen interkonfessionellen Lage an die Gliedkirchen der Evangelischen Kirche in Deutschland und ihre Gemeinden. Der in den letzten Jahrzehnten erfolgte ökumenische Aufbruch der Christenheit ist ein Zeichen Gottes für die Welt. Kirchen, die seit langem getrennt sind, gehen aufeinander zu. Angehörige verschiedener Konfessionen bedenken miteinander im Lichte Jesu Christi die Herrlichkeit und Aufgabe des Christenstandes in der Welt. Unter menschlichem Bemühen und Beten ist, wie wir glauben, Gottes Geist am Werk, die ganze Christenheit auf Erden zu sammeln. Dankbar empfinden wir die Gemeinschaft im Ökumenischen Rat der Kirchen, die auch die orthodoxen Kirchen umfasst und in der Vollversammlung von Neu Delhi 1961 besonders in Erscheinung getreten ist. Wenngleich die römischkatholische Kirche bisher von der ökumenischen Bewegung Abstand gehalten hat, nehmen wir evangelischen Christen doch starken Anteil am Verlauf des II. Vatikanischen Konzils, in dem ein tiefgreifendes Ringen um einen neuen Weg des römischen Katholizismus sichtbar wird. Zwar stehen im gegenwärtigen Augenblick in wichtigen, für das Verhältnis der Konfessionen grundlegenden Fragen wie der Lehre von der Kirche oder des Verhältnisses von Heiliger Schrift und Tradition die Entscheidungen noch aus, so dass ein umfassenderes Wort zum Konzil nicht gesprochen werden kann. Aber wir glauben doch, bei vielen römisch-katholischen Mitchristen, ja weithin in der römisch-katholischen Kirche, die wachsende Bereitschaft zu einem offenen Gespräch zu erkennen, in dem Kräfte des Evangeliums und Impulse der Reformation zu spüren sind. Angesichts dieses Geschehens danken wir Gott von neuem für die Gabe der Reformation, in der das Evangelium von Jesus Christus als die Botschaft vom Frieden mit Gott wieder hell hervorgetreten ist. Zugleich werden wir gefragt, ob wir nicht selber den Reichtum der Gnade Gottes missachten. Auch in der Geschichte der Kirche handelt Gott so, dass sich vor ihm kein Fleisch rühme. Alles neue Leben strömt nicht aus unserem Werk und Verdienst, sondern allein aus seiner Güte. Zu Beginn des 2. Konzilsabschnittes hat Papst Paul VI. ein Wort gesprochen, das auch an uns Evangelische gerichtet war. Darin ging es um wechselseitige Vergebung für Beleidigungen und Ungerechtigkeiten zwischen den Konfessionen. Es ist eine aus der Heiligen Schrift gewonnene Erkenntnis der Reformation, dass die Kirche Jesu Christi nicht rein ist in sich selbst, sondern von der rechtfertigenden Gnade ihres Herrn lebt. Selbstgerechtigkeit und Selbstrechtfertigung wären die schlimmste Verkehrung ihres Wesens. So

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lassen wir, die wir uns mit Freuden evangelische Christen nennen, uns auch im Gespräch zwischen den Konfessionen mit ganzem Ernst zur fünften Bitte des Vaterunsers rufen: Vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldigern. Jeder einzelne prüfe sich, wo er im Umgang mit dem römisch-katholischen Mitchristen Verzeihung erbitten oder gewähren muss. Unter Gottes reinigender Vergebung werden wir frei, sein Evangelium klarer zu bezeugen. Im Wetteifer des Glaubens, der Liebe und der Hoffnung wollen wir mit den römisch-katholischen Mitchristen an der gemeinsamen Überwindung der Ärgernisse arbeiten, die im Zusammenleben der Christen heute das christliche Zeugnis von der Welt in Frage stellen. Auch angesichts der Beschwernisse um Mischehen- und Missionspraxis, um die bedingte Wiederholung der Taufe sowie im Blick auf die Durchsetzung von Glaubens- und Gewissensfreiheit liegt uns daran, dass ein dem Evangelium gemäßes Verhältnis zwischen uns entsteht. Eine Gemeinschaft, die aus dem Verschweigen des Trennenden erwachsen würde, wäre voreilig und trügerisch. Wir können einander nicht besser als mit der ganzen Wahrheit ehren. Das ökumenische Gespräch kann nicht darin bestehen, dass die Lehr- und Glaubensunterschiede verharmlost werden oder dass die eine Kirche einen falschen Anspruch an die andere stellt. Gegenüber der auch in der jüngsten Zeit wieder laut gewordenen Einladung zur Heimkehr in die Hürde Roms glauben und bekennen wir evangelischen Christen, dass Jesus Christus selber und er allein der gute Hirte ist, der uns durch sein Sterben und Auferstehen das Vaterhaus Gottes unmittelbar erschlossen hat. Für die Einigung der Christenheit und ihr gemeinsames Bekenntnis vor der Welt hat darum kein anderer Weg Verheißung als die Buße, in der wir uns gemeinsam aus dem Geiste Gottes erneuern lassen. Mitten in der Spaltung der Christenheit kann Gott jeden Schritt der Umkehr zu Jesus Christus auf wunderbare Weise segnen. Unter seinem Wort und Sakrament erwacht da und dort die Erfahrung des geheimnisvollen Verbundenseins in der einen heiligen christlichen Kirche, die ohne unser Zutun in Jesus Christus schon vorhanden ist und über irdische Kirchengrenzen hinausreicht. Wir sind gewiss, dass Gott auch auf den rätselvollen Umwegen der Kirchengeschichte zu seinem herrlichen Ziel kommt. Darum gilt es im Erleiden der schmerzhaften Trennung, die Wahrheit seines Evangeliums rein und lauter zu bezeugen und für seine ganze Christenheit zu bitten: Geheiligt werde dein Name, dein Reich komme, dein Wille geschehe wie im Himmel also auch auf Erden. Kommentar zum Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland von Präses D. Dr. Joachim Wilhelm Beckmann Das Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland ist lange Zeit erwartet worden. Es bedurfte einer gründlichen Überlegung, denn eine spontane Reaktion auf die Überraschungen des II. Vatikanischen Konzils, insbesondere das Wort des Papstes an die nichtrömische Christenheit, konnte dem Gewicht der Sache nicht entsprechen. Die Frage musste jedenfalls auch beantwortet werden, ob schon jetzt eine evangelische Ant-

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wort möglich wäre oder ob man besser bis zum Abschluss des Konzils warten solle. Die Entscheidung ist für ein Wort vor dem Ende des Konzils gefallen. Allerdings nicht in Gestalt einer Stellungnahme der Evangelischen Kirche zum Konzil, auch nicht in einer Antwort an den Papst, sondern in einem Wort an die evangelische Christenheit in Deutschland. Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland wendet sich nicht an den Papst oder das Konzil, er spricht über das Gespräch zwischen den Konfessionen zu den evangelischen Gemeinden. Hätte er sich an die römisch-katholische Kirche direkt wenden können? Man kann fragen, ob er die Bevollmächtigung gehabt hätte, namens der Evangelischen Kirche in Deutschland zur römisch-katholischen Kirche zu sprechen. Es bleibt auch zu überlegen, ob es sich hier nicht vor allem auch um eine Aufgabe handelt, die im ökumenischen Rahmen geklärt werden muss. So war es wohl richtig und gut, dass der Rat ein klärendes Wort an die evangelische Kirche selbst richtete, das natürlich auch dazu bestimmt ist, von der katholischen Kirche mitgelesen zu werden. Die Bedeutung dieses Wortes springt nicht sofort in die Augen, das zeigt auch die erste Reaktion in der Öffentlichkeit. Aber was hätte man denn eigentlich von der evangelischen Kirche erwarten können? Etwas wesentlich anderes? Jede besonnene Überlegung führt zu dem Ergebnis, dass hier im Grunde alles das gesagt worden ist, was im Augenblick die evangelische Kirche erklären kann. Und dass der Rat dies getan hat, dass er es gewagt hat, dies Wort zu veröffentlichen, dafür sollten wir mit Recht einfach dankbar sein. Ist es nicht auch ein Zeichen dafür, dass die evangelische Kirche ein Wort zum konfessionellen Gespräch hat? Dies Wort will nun in all seinen Sätzen genau bedacht werden, denn es ist das Ergebnis einer sorgfältigen Überlegung, nicht nur im Kreis des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland. Das Wort will zur Klärung der interkonfessionellen Lage beitragen. Es will die evangelische Auffassung der gegenwärtigen Situation zum Ausdruck bringen, nachdem durch viele Worte in den letzten Monaten eine nicht zu übersehende Verwirrung hervorgerufen war: als ob durch die Vorgänge in Rom eine völlige Änderung des Verhältnisses zwischen den Kirchen eingetreten sei, als ob eine Wiedervereinigung der Kirchen unmittelbar vor der Tür stehe, als ob es nur noch einer Antwort der evangelischen Kirche bedürfe, und die wesentlichen Hindernisse seien damit ausgeräumt. Die Klärung, die das Wort erstrebt, ist hilfreich für alle, Protestanten und Katholiken. Man kann das an den positiven Urteilen ebenso verdeutlichen wie an den Hinweisen auf die unbezwungenen Hindernisse zwischen uns und der römischen Kirche. Das Ganze ist hineingestellt in die ökumenische Bewegung unseres Jahrhunderts, von der wir glauben, dass in ihr der Heilige Geist am Werk ist, die ganze Christenheit auf Erden zu sammeln. In diesem Licht wird auch das römische Konzil gesehen. Wenn das möglich ist, wie groß muss dann die Hoffnung sein, die wir im Blick auf die noch ausstehenden Beschlüsse und Auswirkungen des Konzils haben! Das Wort sieht dabei nun gerade nicht von der Reformation weg – im Gegenteil, es sieht »Kräfte des Evangeliums und Impulse der Reformation« wirksam und erinnert darum dankbar an die »Gottestat der Reformation«, zumal das Wort des Papstes um die wechselseitige Vergebung zwischen den Konfessionen dem Missverständnis ausgesetzt schien, als ginge es hier für uns um ein Schuldbekenntnis wegen der Reformation und der durch sie mit hervorgerufenen, abendländischen Kirchenspaltung.

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In der ökumenischen Diskussion der letzten Jahrzehnte haben wir sehen und verstehen gelernt, dass die Konfessionen nicht imstande sind, ihre Entstehung als Schuld und Sünde zu beurteilen, weil dadurch Kirchenspaltungen hervorgerufen seien. Es ist von entscheidender Bedeutung zu erkennen, dass die Kirchenspaltung als solche nicht die Sünde schlechthin ist, sondern dass eine Trennung um der Wahrheit des Evangeliums willen unter Umständen notwendig sein kann (darüber kann man bei Paulus im Brief an die Galater und 1. Korinther einiges lesen!). Bei dem Wort des Papstes geht es übrigens ja überhaupt nur um »Beleidigungen und Ungerechtigkeiten«, die sich zwischen den Konfessionen in der Auseinandersetzung ereignet haben. Wer von uns wäre nicht bereit, hierfür um Verzeihung zu bitten und Verzeihung zu gewähren? Niemand kann die Bedeutung einer solchen Ausräumung von jahrhundertelangen Hindernissen zwischen uns unterschätzen. Aber die eigentlichen Beschwernisse liegen hier im Grunde nicht. Es geht weniger um »Bewältigung der Vergangenheit« als um Gegenwart und Zukunft. Hier ist es hilfreich, sich vorzunehmen, einander besser zu verstehen, einander nicht »zu beleidigen und zu verfolgen«, aufeinander zu hören – ja einander zu lieben. Dann wird die Mauer der Vergangenheit von selbst zusammenbrechen. Aber nun gibt es auch noch »Beschwernisse«, ja Ärgernisse, die keineswegs hinter uns liegen, sondern zwischen uns. Das Wort des Rates spricht davon um der Wahrheit willen. Und wenn hier der Weg zueinander offensichtlich auch noch ganz dunkel ist, so ist das Wort des Rates doch frei von jeder Resignation. Auch da, wo am Schluss ein klares Nein zu der Einladung des Papstes an die getrennten Brüder, in die Hürde Roms heimzukehren, gesagt werden muss, ist die Hoffnung auf die Überwindung der Spaltung durch die Buße der Christenheit, also auf ihre Umkehr zu Christus, der eigentliche Tenor des Wortes. Das Wort ist getragen von Zuversicht in der Gewissheit, dass Gottes Verheißungen wahr sind und dass er seine Gemeinde zu seinem Ziel führen wird, von schwärmerischem Enthusiasmus jedoch findet sich keine Spur. Umso mehr kann es dazu dienen, dass das Gespräch zwischen den Konfessionen im Glauben an das Evangelium, in der Liebe Christi und in der Hoffnung auf die Zukunft Gottes vorwärts gehe.

I.5 Landessynode 1966

Ansprache des Präses Joachim Wilhelm Beckmann∗ Nun ein paar Worte über die Kirche in dieser Welt, die wir in ein paar Hinweisen angeleuchtet haben. Die Kirche im Jahre 1965 ist bestimmt durch ein wahrhaft bedeutendes Ereignis: Das Konzil der römisch-katholischen Kirche, das seit 1962 getagt hat, ist zu Ende gegangen. Wer das Ergebnis, allein was das Volumen angeht, überschaut, wird staunen über die gewaltige geistige Leistung, die hier die Theologen und Bischöfe dieses Konzils vollbracht haben. Man muss etwa, wenn man das Dokument über die Kirche ansieht, staunen über die große theologische Kraft, die sich hier zeigt und die etwas Imponierendes hat. Wir haben heute keine Möglichkeit, auch nur in irgendeinem Sinne etwas zu diesem Konzil, seiner Bedeutung und seinen Ergebnissen zu sagen. Das wird später geschehen müssen. Aber es kann kein Zweifel daran sein, dass dieses Konzil ungefähr für die katholische Welt das bedeutet hat, was unser Eintritt in den ökumenischen Bereich bedeutete. Zweifellos ist hiermit eine ganz neue Dimension des Kirche-Seins in der römischen Kirche entdeckt worden, nämlich die Horizontale. Das ist eine wichtige und große Sache. Eine Kirche, die so vertikal konstruiert ist, dass sich oft auch nahegelegene Bistümer kaum als Nachbarn verstehen, ist in Rom auf dem Konzil in einen neuen horizontalen Zusammenhang gebracht worden, der bis heute die Stärke des Protestantismus war. Denn die Stärke des Protestantismus war die Horizontale, nicht die Vertikale. Die Vertikale ist immer sehr schwach gewesen, und daher ist es für die katholische Kirche überhaupt schwer, sie in ihrem Kirche-Sein zu verstehen. Ein anderes Ergebnis wird sicher das sein, wenn man es so ausdrücken soll, dass die katholische Kirche zum ersten Male seit der Reformationszeit angefangen hat, die Fenster nach den Seiten aufzumachen, um zu erkennen, was da außerhalb ihres Gebäudes für andere christliche Bauwerke entstanden sind. Bis dahin hat man von ihnen keine Kenntnis genommen, hat sie negiert, hat ihnen das Kirche-Sein bestritten, ja, hat erklärt, dass sie nur als Abgefallene, Häretiker, Sektierer zu bezeichnen seien. Nun sind neue Worte gefallen, das neue Wort von den »getrennten Brüdern«. Das heißt also, es sind neue Entdeckungen in der römischen Kirche gemacht worden, deren Auswirkungen noch gar nicht ans Licht gekommen sind. Wir wissen, was es bedeutet, wenn man zum ersten Mal entdeckt, dass es Kirche und Christentum auch weit über die Grenzen der eigenen Kirche hinaus gibt.



Protokoll der Landessynode 1966, S. 12–14.

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Die nach-konziliare Christenheit, katholische und protestantische, steht vor großen neuen Aufgaben. Die katholische Kirche steht vor der ganz großen Aufgabe, das, was in Rom gearbeitet worden ist, in allen Kontinenten zu verarbeiten, das zu verwirklichen, was da an Programmsätzen ausgesagt ist. Es wird sicher Jahrzehnte dauern, ja es wird wohl nicht während der nächsten Jahrzehnte beendet werden können. Die protestantische Kirche der Welt ist herausgefordert, in vieler Hinsicht den Dialog mit der römisch-katholischen Kirche neu zu beginnen. Wir können ja nicht behaupten, dass der Dialog in den letzten Jahrhunderten besonders stark gewesen ist. Wir haben allen Grund dazu, ihn wirklich neu anzufangen, und zwar mit einer Kirche, deren Kraft – auch im Theologischen – auf diesem Konzil zweifellos sichtbar geworden ist. Was für kühne Versuche sind dort gemacht worden, ja, eines echten »aggiornamento«, wie der Papst damals gesagt hat, eines echten Bemühens, auf den Tag, auf die Gegenwart hin sich auszurichten. Wir dagegen haben die großen Probleme, die uns das Konzil in der ganzen Christenheit stellt, nicht nur angesichts der Schwierigkeiten der Gespaltenheit des Protestantismus in der Welt und im ökumenischen Raum, sondern auch infolge der inneren theologischen Spannungen in unserer eigenen Kirche, in Angriff zu nehmen.

I.6 Landessynode 1967

Aus dem Bericht des Präses Joachim Wilhelm Beckmann zur Lage der Kirche∗ II. TEIL Bericht zur Lage der Kirche 1966 […] Nun möchte ich noch, wie es vorgesehen ist nach der Ordnung der Rheinischen Kirche, als Präses etwas zur Lage der Kirche sagen, und zwar aus drei Bereichen: I. Was den ökumenischen Bereich angeht, II. Was die römisch-katholische Kirche und unser Verhältnis zu ihr angeht und III. Was die Evangelische Kirche in Deutschland und ihre innere Situation angeht. I. Also zuerst zur Frage der Ökumene. War das Jahr 1966 ein Einschnitt in der Geschichte der ökumenischen Bewegung? Der Generalsekretär, der uns allen bekannte Visser’t Hooft, der seit den Anfängen sozusagen eines der Symbole der ökumenischen Bewegung war, ist in diesem Jahre ausgeschieden, und ein ganz neuer Mann, den meisten von uns – wer nicht speziell im ökumenischen Raum tätig war – sicher unbekannt, der amerikanische Presbyterianer Blake, kam. Ein Zeichen für den Weg der ökumenischen Bewegung, dass der zweite Generalsekretär ein Nordamerikaner ist, ein Mann, den viele kennen als einen leidenschaftlichen Praktiker ökumenischen Fortschrittes, ein Mann, der überraschende Vorschläge in Amerika gemacht hat über den Zusammenschluss von Kirchen, der es besonders versteht, die Synodalen seiner und anderer Synoden zu schockieren durch unerhörte Vorschläge. Und ich glaube, von dort sind, was die Zukunft der Ökumene angeht, allerlei Dinge zu erwarten. Jedenfalls aus dem Stadium reiner theoretischer Betrachtungen über die Situation hinaus wird er alles tun, um nach vorwärts durchzustoßen und die Menschen in den Kirchen davon zu überzeugen, dass für die Zukunft alles darauf ankommt, dass die christliche Familie, die innerhalb der Welt in stärkerem Maße eine Minderheit wird – einfach durch die Bevölkerungsexplosion Asiens und Afrikas –, in eine Situation hineingerät, in der deutlich wird: Die missionarische Aufgabe der Kirche kann in steigendem Maße nur durch eine Gemeinsamkeit kirchlichen Handelns erfüllt werden. ∗

Protokoll der Landessynode 1967, S. 103–117.

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Ich möchte heute unsere Aufmerksamkeit auf eine Tatsache des vergangenen Jahres richten, nämlich auf die »Weltkonferenz für Kirche und Gesellschaft«. Diese war ein besonderes Wagnis allein schon durch das Thema, aber auch dadurch, dass hier nicht die üblichen Delegierten der Kirchen, die in solchen Konferenzen oft jahrelange Erfahrung haben, sondern Berufene zusammenkamen, auch durch das Wagnis, die Theologen etwas zurücktreten zu lassen und lauter Laien aus den verschiedensten Berufen in diese Gemeinsamkeit hineinzunehmen und eine ungewöhnlich große Zahl von Vertretern der farbigen Kirchen aus Afrika und Asien. Ich glaube, dass wir bisher von der Bedeutsamkeit des Themas der Konferenz noch nicht genug Kenntnis genommen haben. Ich glaube, dass wir gerade in Deutschland und auch wir in der Rheinischen Kirche die Aufgaben, um die es hier geht, noch deutlicher sehen sollten. Das Thema der Konferenz heißt: »Christen leben in der technischen und gesellschaftlichen Revolution unserer Zeit.« Dieser Wirklichkeit uns zu stellen, ist eine der großen Aufgaben, mit denen wir als Kirche und Christen zu tun haben. Wenn man den Versuch macht, in einem kleinen Querschnitt die wichtigsten Themen und Probleme aufzureißen, könnte man sich an die vier Sektionen, die es dort gab, einigermaßen anschließen. Das 1. Thema war: »Wirtschaftliche Entwicklung in weltweiter Sicht«. – Die Ökumene, die Kirche kümmert sich um die Probleme der wirtschaftlichen Entwicklung! Welch eine Wendung! Was kam zur Sprache? Die politische und wirtschaftliche Dynamik der neuerwachten Völker. Eine der überraschendsten Reden hielt Raul Prebisch, Sekretär der Welthandelskonferenz. Er erörterte die Probleme der Entwicklungshilfe unter Gesichtspunkten, wie sie uns gewöhnlich unbekannt sind, und machte deutlich, warum die bisherige Art und die bisherige Höhe der Entwicklungshilfe nicht ausreichen können. Das wichtige Zitat, das ich mir gemerkt habe und das wir alle hören sollten, lautet: »Wenn wir diese Entwicklung sich selbst überlassen, werden die Armen immer ärmer und die Reichen immer reicher werden mit allen katastrophalen Konsequenzen, die darin liegen« – wobei wir bedenken wollen, dass im Hintergrund dieses Satzes steht, dass die große Mehrzahl der Reichen, die immer reicher werden, zur christlichen Familie in der Welt gehört und dass die ganz große Mehrzahl der Armen, die immer ärmer werden, zu den Nichtchristen gehört. Die leidenschaftlichste Rede vielleicht hielt der nigerianische Rechtsanwalt Bola Ige. Er übte leidenschaftliche Kritik an den Formen des Neokolonialismus, wie sie in unserer Zeit auf neue Weise sich im Bereiche politisch-wirtschaftlicher Verfügungen ausbreiten. In seinem Referat kam jene uns in Afrika wie in Asien so oft begegnende heiße Hoffnung heraus auf die große Revolution, wobei das Wort »Revolution« sehr viel mehr umfasst als das, was wir historisch in unserem Bereich als Revolution kennen und zu verstehen glauben. Die große Revolution – das ist jene große Wandlung der Menschheit zu einer allumfassenden Gesellschaft. Die große Revolution ist die Beseitigung dessen, dass die wenigen Besitzenden zu den Weißen gehören und dass sie im Grunde über alles verfügen, was in der Welt geschieht und geschehen kann, dass sie die Inhaber der größten Mächte

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sind und dass von ihnen im Grunde auch Krieg und Frieden für alle Bereiche der Welt abhängen. Man spürt in den Reden der Afrikaner und Asiaten jenes – man könnte fast sagen Minderwertigkeitsgefühl, das darin zum Ausdruck kommt, dass sie empfinden: Die eigentlichen Machtblöcke, die eigentlichen Großen, das sind die anderen, gegenüber denen wir nur ganz wenig tun können. Sie möchten doch alle mit uns, miteinander ein neues gemeinsames Leben. Wer draußen war in Asien und Afrika, weiß auch, wie es um das wirkliche Leben der Millionen von Menschen bestellt ist und was dort wirklich geschehen muss. Und ich unterstreiche: Diese Probleme gehen uns Christen deswegen an, weil sie im Kerne ethische Probleme sind über die Frage: Was muss geschehen, dass die Milliarden von Menschen – am Ende des Jahrhunderts werden es mehr als 6 Milliarden sein – menschenwürdig leben können? Dies ist die Entscheidungsfrage der Zukunft, der wir entgegengehen. Es geht um die Rettung der Menschheit, nicht nur einzelner Gruppen, nicht nur gewisser Kreise, sondern der Gesamtheit der Menschen im Blick auf die Entwicklung, der bis heute noch niemand Herr geworden ist. Das 2. Thema, was dort verhandelt wurde, war: »Wesen und Auftrag des Staates im Zeitalter dieses gesellschaftlichen Umbruchs«. – Das Verhältnis von Macht und Recht und Gesellschaft, die Bedrohung der Demokratie durch die Technokratie, das sind die Gefahren, die heute gesehen werden, nachdem man in vielen Ländern angefangen hat, die europäisch-amerikanischen Vorbilder demokratischen Lebens zu übertragen auf afrikanischasiatische Verhältnisse – die Enttäuschung, die dahintersteht, verspürt man: dass, während die Demokratie offenbar in anderen Gebieten einigermaßen funktioniert, sie hier gar nicht funktioniert. Und die Frage ist: Woran liegt das? Wer ist der Schuldige daran? Diese Frage führt dazu, die Diskussion über das Thema zu eröffnen: Wie soll sich der Christ zu den heutigen revolutionären Umwandlungen verhalten? Unsere Tradition – das ist offenkundig – ist in der Kirche Christi von Grund auf antirevolutionär, obwohl nach dem schönen neuen Buch von Friedrich Heer Europa »Mutter der Revolutionen« genannt werden kann. Man kann aber nun sagen: vielleicht trotzdem! Wir wissen alle und wir kennen unsere Geschichte, gerade die Geschichte der Evangelischen Kirche Deutschlands, genug, wie misstrauisch die evangelische Christenheit, die evangelische Theologie, die evangelische Pfarrerschaft dem Gedanken einer etwa notwendigen Wandlung oder einer Revolution gegenübergestanden hat. Revolution – das galt als das schlechthin Antichristliche. Und hier wird darum gerungen, die Frage zu klären, ob es nicht ein ganz neues, ein ganz anderes, ein wahrhaft christliches Verständnis der Revolution geben kann, ob es wirklich dabei bleiben muss, wie es die Regel der abendländischen Kirche war, antirevolutionär und also extrem konservativ zu sein. Es wurde gefragt, ob nicht in der Heiligen Schrift im Grunde etwas ganz anderes anvisiert ist, etwas im tiefsten Grunde Revolutionäres, ob nicht ein revolutionäres Ethos in ihr enthalten ist in Bezug auf die weltverändernde Macht des Reiches Gottes und die dynamische Erwartung einer Zukunft, in der alles sich wandelt, alles dem Andersartig-Neuen zugeht, was Gott der Welt zugedacht hat. Und darum wurde die Frage gestellt, ob die Kirche nicht heute neu lernen muss, ihre Solidarität mit den Armen, den Hungernden, den Unterdrückten, den Entrechteten, den Deklassierten, den Diskriminierten in einer ganz anderen Weise als bisher zum Ausdruck zu bringen, weil Gott der Freund der Armen, der Anwalt der Diskriminierten und Elenden ist. Welche Infragestellung unserer eigenen Traditionen! Welche

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Probleme, die auf uns zukommen und von denen ich meine, dass sie uns ernsthaft beschäftigen müssen, intensiver als bisher, weil auch hierin wesentliche Sätze der Verkündigung und Erörterungen der Bibel Alten und Neuen Testaments zur Sprache gebracht werden. Das 3. Thema ist: »Die Suche nach einer neuen Form internationaler Zusammenarbeit in einer pluralistischen Gesellschaft«. – Hier sprachen Kohnstamm und Gollwitzer als zwei Hauptreferenten, bei denen der eine als Theologe redete, sowie in einem anderen Bereiche Heinz Dietrich Wendland – was ich eben vergessen habe zu sagen – über das Problem des Krieges, der nicht mehr gerecht sein kann, also über die Unmöglichkeit, den Krieg zu rechtfertigen. Aber demgegenüber gab der andere Referent jene wichtige Ergänzung, die in der Diskussion über die Friedensfrage auch heute seit Jahren bei uns immer stärker in den Vordergrund tritt: Was kann real geschehen – nicht nur in theologischen Erörterungen, sondern real –, dass Formen einer Zusammenarbeit der Völker gefunden werden, die einen kommenden Krieg ausschließen? Das war eines der Hauptthemen: Wie kann ein Krieg vermieden werden durch weltumspannende Vereinbarungen, durch eine neue Gemeinschaft aller Staaten und Völker eben in der Richtung, in der in der Ökumene seit vielen Jahren nicht nur im Ausschuss für die internationalen Angelegenheiten gearbeitet wird? In der Tat geht es darum, ob es möglich sein wird, in der Gesellschaft, der wir entgegengehen, ein gemeinsames, von Christen und Nichtchristen bejahtes Ethos zu finden, ein sozial-ethisches Ethos einer Zusammenarbeit, in der die Menschen Wege finden, die es ausschließen, dass sie mit den letzten Methoden zerstörerischer Gewalt ihre gemeinsamen Probleme zu lösen trachten. Aber auch gerade hier in der Diskussion kam es heraus, was wir seit Jahren auch kennen, dass jene große, tiefe Aporie in der ganzen Welt die harte, unlösbare Frage des Friedens, der Zukunft ist, die – wie alle glauben – zu lösen eine elementare Lebensnotwendigkeit zum Überleben der Menschheit ist. Und dann schließlich ein 4. Abschnitt über: »Die Frage des einzelnen und der Gemeinschaft in der modernen sich wandelnden Gesellschaft«, der Gesellschaft, die durch die Begriffe »Stadt«, »Technik« und »Pluralismus« bestimmt ist mit ihren Erschütterungen aller überlieferten menschlichen Gemeinschaften, der herkömmlichen Verbände und Verbundenheiten und der damit zusammenhängenden Vereinsamung, ja geradezu Atomisierung eines immer größeren Kreises von Menschen. In dieser Wirklichkeit kommt die Frage der Existenz des Christen, seiner Existenzmöglichkeit, ja auch der Existenz der Gemeinde ganz neu heraus, und die Gefahr der Gettoisierung des Christen und der Christenheit, des Inseldaseins abseits von der großen Straße der Geschichte, hinausgedrängt mit dem Gedanken, »es vergehe die Welt und es komme die Gnade«, ist drohend und beängstigend groß. Insgesamt also ein Ringen von Christen aus den verschiedenen Bereichen aller sechs Kontinente um die Lösung der Weltprobleme, in die wir alle verwickelt sind: die Frage der Gerechtigkeit, die Frage der Freiheit und die Frage des Friedens. Mir scheint, das sind die drei entscheidenden großen Fragen, um die es nicht nur auf dieser Konferenz, sondern um die es im Zusammenleben der heutigen Welt geht. Wird es möglich sein, das immer größer werdende Elend einer größer werdenden Zahl von Menschen zu bekämp-

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fen, zu überwinden mit Hilfe der Großmächte, über die vor allen Dingen die weißen Völker verfügen, also das Problem von Armut und Reichtum, von Krankheit und Gesundheit, das Problem einer neuen, menschenwürdigen Gemeinschaft zu lösen? Nur dann werden die Katastrophen vermieden werden können, die bereits am Horizont unserer Zeit sichtbar werden. Und das andere: Die Zukunftsmöglichkeit der menschlichen Gesellschaft ist auch bestimmt durch die Lösung der Frage des Raumes an Freiheit, jenes Minimalraumes, um den der Mensch kraft seiner Existenz kämpft und kämpfen muss und immer kämpfen wird. Vom Frieden habe ich eben schon ein paar Worte gesagt: Ausschaltung des Krieges und Lösung des Gesamtproblems durch eine Vereinbarung in einer immer stärker werdenden Weltgemeinschaft. Man kann sagen: Gegen Gerechtigkeit, Freiheit und Frieden auf Erden spricht alles, was in der Welt geschieht. Nur eines spricht dafür: die Botschaft Gottes. Und darum zu ringen, sie zu verkündigen, ja, an ihr zu wirken, das scheint mir die Aufgabe des Christen im Blick auf die Zukunft zu sein, die im Zeichen dieser Hoffnung steht, der Hoffnung des kommenden Reiches, und die darum eine Aufgabe ist, die in der Liebe zu den Menschen, ihrer vielfältigen unerhörten Not sich zu verwirklichen hat und im Glauben, dass der Schöpfer dieser Welt seine Welt nicht aus seiner Zukunft entlässt. In den schönen Worten der Botschaft dieser Konferenz habe ich mir einige Sätze angestrichen, die ich ganz kurz noch einmal hier vorlesen möchte: »Als Christen müssen wir uns für die Umwandlung der Gesellschaft einsetzen. In der Vergangenheit haben wir das gewöhnlich durch stille Bemühungen um soziale Erneuerung getan, indem wir in den und durch die vorhandenen Institutionen ihren Regeln gemäß gearbeitet haben. Heute beziehen viele von denen, die sich dem Dienst Christi und ihres Nächsten widmen, eine radikalere und revolutionärere Stellung. Sie leugnen keineswegs den Wert von Tradition und sozialer Ordnung, aber sie sind auf der Suche nach einer neuen Strategie, mit deren Hilfe grundlegende Änderungen in der Gesellschaft ohne zu großen Zeitverlust herbeigeführt werden können.« Wer in den asiatischen Völkern lebt, versteht die Sorge um den großen Zeitverlust! – Des Weiteren lesen wir: »Möglicherweise wird in Zukunft die Spannung zwischen diesen beiden Lagern einen wichtigen Platz im Leben der christlichen Gemeinschaft einnehmen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist es wichtig, dass wir die tiefere Verankerung dieser radikalen Position in der christlichen Tradition erkennen und ihr einen berechtigten Platz im Leben der Kirche und in der gegenwärtigen Diskussion über die soziale Verantwortlichkeit einräumen.« Und dann heißt es:

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»Der Gott, der seinen Sohn ans Kreuz gesandt und seine Macht in Schwachheit geoffenbart hat, hat uns an diesen Punkt geführt und bietet Seinem Volk neue Möglichkeiten des Dienstes und des Zeugnisses an. Wenn die Kirche wirklich als Dienerin lebt, mag sie ihren einzigartigen Auftrag entdecken, den sie in dieser unserer Zeit hat. Angesichts der Erfordernisse für eine neue Beziehung zwischen den reichen und den armen Nationen und zwischen den mächtigen und den unterdrückten Klassen kann die Kirche verstehen, dass der Mächtige die Hilfe des Schwachen ebenso nötig braucht wie der Schwache die des Starken. Wenn wir uns an den Geist dieser Konferenz halten wollen, muss unser letztes Wort an die Kirchen ein Ruf zur Buße und zur Erkenntnis des göttlichen Gerichts sein, aber auch ein dringender Appell zu wirksamerem und entschiedenerem Handeln, das ein Ausdruck unseres Zeugnisses vom Evangelium in der Welt, in der wir leben, ist.« II. Ich komme zum Zweiten, zur römisch-katholischen Kirche. Ein Jahr ist vergangen nach dem Ende des II. Vatikanischen Konzils. Unendlich viel ist seitdem gesagt und geschrieben worden, fast schon eine Bibliothek von Schriften, von Büchern, von Wiedergaben und Dokumenten. Was aber ist seitdem geschehen? Ist etwas zwischen uns geschehen, ist etwas zwischen uns neu geworden? Ist so etwas wie ein neuer Anfang sichtbar, eine bessere Atmosphäre, ein neues Klima? Hat der Dialog begonnen? Wie steht es mit der Zusammenarbeit? Nun, es gibt Ansätze, die hoffnungsvoll sind. Ich denke da zunächst an das inzwischen gewonnene offizielle Verhältnis zwischen dem Ökumenischen Rat der Kirchen und der römisch-katholischen Kirche. Ich meine, dieses Konsultationsorgan sei überaus positiv zu beurteilen. Wenn an dieser Stelle ein dauerndes Klima des Gesprächs, des Dialogs im Weltmaßstab anhebt, dann werden viele Fragen, die dringend notwendig auch im Weltmaßstab anzugreifen sind, von einer Stelle aus in Angriff genommen werden können, die die Möglichkeit hat, von dort aus in die großen kirchlichen Bereiche hineinzuwirken. Das Zweite ist, wenn ich auf Deutschland sehe, die Konferenz des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Fuldaer Bischofskonferenz. Auch hier ist ein erster Anfang eines Dialogs gemacht. Es ist ja u. a. nicht überraschend, dass gerade in Deutschland positiv und negativ die größten Chancen liegen, weil die Reformation ja auf deutschem Boden entstanden und die große abendländische Kirchenspaltung von hier aus eine weltweite Größe geworden ist. Darum wird an dieser Stelle auch Entscheidendes geschehen und geschehen müssen. – Die Themen, die zwischen uns stehen und die angerührt werden, sind uns ja nicht unbekannt: Eheverständnis und Mischehe, Taufe, also Conditionaltaufe, gemeinsame Gebete oder gemeinsame Gebets- und Wortgottesdienste und konkrete Zusammenarbeit im ganzen weiten Bereich der Sozialethik und Sozialpolitik. Auch hier würde ich bei allen vorsichtigen und langsamen Schritten, die getan werden, sagen: Es ist wichtig, dass ein derartiges, zum ersten Male eben offizielles Verhältnis zwischen dem deutschen Katholizismus und der Evangelischen Kirche in Deutschland in

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die Wege geleitet worden ist. Und man kann nur hoffen, dass sich alle Beteiligten an dieser Stelle Mühe geben, das Notwendige behutsam, besonnen, aber auch tapfer zu tun. Nun noch ein Drittes: Es sind gemeinsame Texte in Bearbeitung und Vorbereitung und zum Teil auch schon abgeschlossen, und wir werden in absehbarer Zeit hoffentlich davon im Einzelnen mehr hören – Texte, von denen wir glauben, dass sie gemeinsam in den Kirchen gesprochen werden sollten oder könnten, was das Vaterunser angeht, das Apostolische Glaubensbekenntnis und auch eine ganze Reihe von den großen Perikopen der Heiligen Schrift, die in unseren Gottesdiensten als Evangelien gelesen zu werden pflegen. Ich brauche gar nicht zu erinnern daran, dass hinter diesen ganzen Arbeiten eine schon seit Jahren bestehende, immer stärker werdende Forschungsarbeit der Alttestamentler der verschiedenen Konfessionen, der Neutestamentler und neuerdings auch der Kirchenhistoriker – vor allem der Lutherforscher – steht. Welch eine ungeheure Wandlung, dass im vergangenen Jahre bei der Konferenz der Lutherforscher in Finnland eben auch die römisch-katholischen Forscher mit im Gespräch dabei waren und dass man es heute fertig bringt, über ein so kritisches Thema wie die Reformation, die Theologie Luthers schon so zusammenzuarbeiten! Auf der anderen Seite stehen wir vor Enttäuschungen oder zumindest nichterfüllten Hoffnungen – man kann sogar sagen: auf beiden Seiten. Es ist interessant, aus dem Munde vieler römisch-katholischer verantwortlicher Männer zu hören, dass sie eigentlich etwas mehr an Echo, an Antwort erwartet hätten und dass sie den Eindruck haben, dass wir ihnen so recht nicht trauen mit dem, was im Konzil geschehen ist. Darüber möchte ich gleich noch etwas Ausführlicheres sagen. Wir erinnern an die so unglückliche Mischehen-Instruktion mit ihren für uns unbegreiflichen Zumutungen. Wir erinnern an eine ganze Reihe von Problemen der innerdeutschen Schulpolitik und an die immer noch nicht recht gelöste Frage der Conditionaltaufe, um die wir uns schon seit Jahren bemühen. Es zeigt sich, dass es nicht so leicht ist, sich gegenseitig in kritischen Entscheidungen zu verstehen. Jedoch müssen wir damit rechnen, dass wir auf beiden Seiten Erwartungen an den andern stellen, die er so ohne weiteres nicht erfüllen kann. Wir sollen daraus lernen, wie schwer es ist, trotz einer gemeinsamen Sprache, die wir sprechen, durch diese Sprache hindurch den andern in dem, was er damit meint und sagen will, recht zu verstehen. Hier ist noch sehr viel nachzuholen. Auf eine große und wesentliche Aufgabe möchte ich noch zu sprechen kommen, die vor uns steht und die auch nicht durch die an sich gute Stellungnahme der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland erledigt ist. Wir müssen uns als evangelische Christenheit, als Kirchen in der Welt, in Deutschland, um eine Antwort auf das Konzil bemühen. Dieses Echo wird nicht nur von drüben erwartet, sondern wir selbst brauchen diese Klärung. So müssen wir immer wieder daran gehen, nicht nur zur Eröffnung des Dialogs, sondern auch zu einem neuen sich daraus ergebenden Selbstverständnis zu kommen. Dies kann nicht nur durch Experten geschehen, sondern ist eine Sache, die die evangelische und katholische Christenheit angeht. Denn in diesem Gespräch über die Fragen des Konzils, d. h. also letzthin über die Frage des tiefsten Gegensatzes, den es im ganzen

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ökumenischen Bereich überhaupt gibt, den protestantisch-katholischen Gegensatz, sind wir alle gefordert zu klären, zu antworten und neu zu verstehen. Einige Hinweise auf die hier anliegenden Kernfragen und -antworten darf ich mir erlauben, in diesem Zusammenhang zu geben. Wir haben alle gesehen, dass das Konzil für die römisch-katholische Kirche so etwas bedeutet wie das Ende einer Epoche. Manche haben gesagt: Die Epoche der Gegenreformation ist zu Ende. Es kann sein, dass das stimmt. Das sieht man vor allen Dingen darin, dass in der römisch-katholischen Kirche selbst vieles in Bewegung gekommen ist, was sogar die Besorgnisse führender Kreise hervorgerufen hat. Innerhalb der römisch-katholischen Theologie, vor allen Dingen auch in Deutschland und Frankreich, sind ungeheure Dinge gesagt worden, Dinge, die bis dahin undenkbar gewesen wären, die zeigen, was durch das Konzil in Bewegung geraten ist, auch im Rahmen des römisch-katholischen Katholizismus. Aber ich meine, das Konzil hat auch uns etwas zu sagen und stellt an uns Fragen. Das Konzil fragt uns nämlich im Grunde nach den biblischen Grundlagen der evangelischen Kirchen. Es fragt uns nach der Legitimation der Reformation. Es fragt uns nach dem Recht des Protestantismus. Auf diese Frage Antwort zu geben, ist eine größere Aufgabe, als dass wir sagen: Bis auf weiteres gedenken wir zu bleiben, was wir waren. Auch wir sind mit der römisch-katholischen Kirche, was das Konzil deutlich gemacht hat, in eine Bewegung hineinversetzt, so dass das Problem des »aggiornamento« nicht eine Sache der römischen Kirche, sondern des gesamten Christentums überhaupt ist. Lassen Sie mich aus den großen, bedeutenden Erklärungen des Konzils ein paar herausheben, die in den letzten Jahren gelegentlich in der Diskussion waren, die aber weiter gründlich bedacht werden müssen: Zunächst das tiefe und gewichtige Problem des christlichen Gottesdienstes. Auf dem Konzil ist ganz eindeutig geworden, dass – wie die Reformation, wie vor allem Luther ganz klar erkannt hat – das Herz der römisch-katholischen Kirche in der Messe schlägt, nirgendwo so wie da, und dass an dieser Stelle nun alles noch einmal vertieft und verstärkt worden ist. Die Theologie der Messe und das leidenschaftliche Bekenntnis zum Messopfer ist wiederholt worden. Damit stehen wir also vor der großen, bleibenden, tiefen Kontroverse der Kirchen, die sich im Gottesdienst getrennt haben. Demgegenüber ist alles, was gesagt worden ist an erfreulichen Worten über die Bibel im Gottesdienst, über die Wortgottesdienste, über die Muttersprache im Gottesdienst – das sind alles gute und wichtige Dinge – nicht entscheidend. Das muss an diesem Punkte völlig deutlich gesehen werden. Dasselbe gilt auch in dem Bereich, der ziemlich spät erst im Konzil zu einer entscheidenden Lösung kam, nämlich in der Frage der Lehre von der O f f e n b a r u n g. Auch hier kann man wieder dankbar erkennen, welche neue Bedeutung die Heilige Schrift in dem römischen Katholizismus, wie er sich im Konzil ausgesprochen hat, gewinnt, wie es überhaupt zu den erfreulichsten und gewichtigsten Dingen gehört, dass man der Bibel einen bedeutenderen Rang sowohl für die dogmatischen Entscheidungen wie für die kirchliche Praxis zuerkennt als bisher. Und darin ist ja in gewisser Hinsicht die Gegenreformation zu Ende. Denn man könnte fast sagen: Die Gegenreformation ist in mancher Beziehung eine antibiblische Bewegung gewesen für unser Empfinden, weil die Reforma-

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tion eine Kirche von Menschen mit der Bibel in der Hand geschaffen hat, bei der jeder Laie in den Stand versetzt wurde, mit der Bibel in der Hand selbst zu hören, zu prüfen und zu lernen. Darum jene merkwürdige Negation dieses biblischen Christentums der Reformation durch lange Zeiten hindurch. Aber nun ist das schon durch einige Zeit hindurch nicht mehr so. Auch darin ist wirklich ein Wandel da, eine neue Epoche. Die Bibel soll eine ganz andere Rolle spielen als bisher. Das können wir nur begrüßen. Allerdings bleibt es gerade dabei, dass die authentische Interpretation der Bibel niemand anders als dem kirchlichen Lehramt befohlen bleibt, auch wenn die Bindung des kirchlichen Lehramtes an das Wort Gottes, an die Offenbarung unterstrichen worden ist. Hier ist freilich ein Punkt, an den wieder angeknüpft werden kann. Denn was kann das heißen, dass das Lehramt nichts anderes sagen kann, als was das Wort Gottes bereits gesagt hat? Uns ist eben doch klar: Damit, dass sich die Kirche zur letzten maßgeblichen Interpretin der Heiligen Schrift selbst aufwirft, unterwirft sie die Heilige Schrift dem Lehramt der Kirche, und damit ist ein entscheidender Anstoß, der zur Reformation geführt hat, nun auch bis heute in der Kontroverse unverändert. Drittens: Das theologisch großartigste Werk des Konzils ist nach meinem Urteil die Constitutio über die Kirche. Sie enthält eindrucksvolle biblische Betrachtungen. Die ersten Kapitel sind geradezu gesättigt mit biblischem Lehrgut über die Kirche als Leib Christi, als Volk Gottes. Aber dann hören die Bibelzitate mehr und mehr auf, und dann kommen erst die großen Lehrentfaltungen der römisch-katholischen Kirchenlehre. Zum ersten Male in der ganzen Geschichte der römisch-katholischen Kirche hat sich die römische Kirche über sich selbst so ausgesprochen, indem sie eine Lehre von der Kirche entwickelt hat, wie sie bis dahin nicht dagewesen ist. Aber hier kommt nun das alles heraus, was in der Reformation schon Streitpunkt war: die hierarchische Struktur der Kirche, das Wesen des bischöflichen Amtes in der Nachfolge der Apostel, der Primat des Papstes und auch das biblische Recht der Mariologie. Gestehen wir es ein: An diesen Punkten verstehen wir unsere römisch-katholischen Brüder am wenigsten. Hier sind die Glaubensdifferenzen besonders tief, und wenn man sich gerade dies große Dokument klarmacht, müssen wir Evangelischen an einer großen Zahl von Stellen sagen: Überall da, wo die römisch-katholische Lehre von »Kirche« spricht, würden wir »Christus« sagen. Nun aber das andere: Das Große auf dem Konzil war der Blick nach draußen, nach dem Außerhalb der römisch-katholischen Kirche, die Öffnung zur Ökumene hin, und dafür kann man nur dankbar sein. Ich habe in einem Vortrag einmal gesagt: Es ist so, als wenn diese römisch-katholische Kirche die Türen und Fenster aufgemacht hat, um zu sehen, was außerhalb ihrer Kirche im Christentum inzwischen geschehen ist. Das ist eine wichtige Anerkennung, dass es auch außerhalb der römisch-katholischen Kirche offenbare Wirkung des Heiligen Geistes, lebendiges Christentum, eine ganze Menge von Dingen gibt, die eigentlich nicht hätten sein können, wenn man streng nach der bisherigen Lehre die Wirklichkeit hätte beurteilen müssen. Wir sind dankbar für die ganz neue Anerkennung der ökumenischen Bewegung. Wer 20 Jahre zurückblättert, muss sagen: Hier ist etwas Großes geschehen, auch in der Beurteilung der von Rom getrennten christlichen Kirchen, wenn man im Ökumenismusdekret liest, was sie dort über die evangelischen Kirchen sagen! Es wird

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nicht nur gesagt, dass wir »getrennte Brüder« sind, sondern es wird von uns einiges gesagt, was uns nur beschämen kann, über unseren Glauben und unsere guten Werke, über unseren Gottesdienst und unsere Kirchenlieder und vieles andere, lauter Dinge, die zum Ausdruck bringen, wie positiv auf diesem Konzil nicht nur die orthodoxen Kirchen, sondern gerade auch der Protestantismus in seinen geistlichen Leistungen und Werten beurteilt wird. Wir sind ferner erfreut, hier zu lesen, dass zur Wiedervereinigung gehört die Erneuerung der Kirchen, die Bekehrung der Herzen. In diesem Zusammenhang lesen wir auch bewegten Herzens das Wort von der Vergebung, von dem ich überzeugt bin, dass es zu den gewichtigsten und schwersten Dingen gehört, wenn zwischen den Kirchen ein neuer Anfang gemacht werden soll, indem sie das hinter sich lassen können, was sie getrennt hat durch das, was sie sich gegenseitig angetan haben. Darum geht es ja in den furchtbaren Dingen, die die Christen und die Kirchen in den Religionskriegen und auch in anderen Kriegen einander zugefügt haben. Wir bejahen das Angebot eines gemeinsamen Gebetes, eines gemeinsamen Hörens auf das Wort Gottes. Wir warten auf den ökumenischen Dialog. Wir begrüßen die Zusammenarbeit, die in Aussicht gestellt ist, gerade bei den großen ethischen Aufgaben, mit denen wir zu tun haben. Und doch bleibt auch gerade hier die ernste Frage: Meint das katholische Prinzip des Ökumenismus irgendwie vielleicht doch die Heimkehr aller Getrennten in das römischkatholische Vaterhaus? Sie kann es – sagen viele – nicht meinen, und viele Katholiken sagen: »Nein, glaubt es uns, dass es nicht so gemeint ist!« Aber wir hören dann den harten, schweren Satz von der Identifikation der römisch-katholischen Kirche mit der Kirche Christi, zwar nicht in ihrer Quantität – es gibt auch Kirchen Christi außerhalb der römischen Kirche –: aber in der Qualität. Denn es ist außer aller Frage, dass dem Glauben hier Ausdruck verliehen wird: Nur die römisch-katholische Kirche ist die von Christus selbst gestiftete Kirche. Sie ist insofern die wahre Kirche Christi. Kann es von hier aus ein Gespräch, ein offenes Gespräch geben? Ist das Gespräch nicht von vornherein durch diesen Wall verhindert? Nicht wahr, das ist eine Frage, die unsere Herzen bewegen muss. Sind hier noch echte Möglichkeiten offen? Im Konzil wird gesagt: Die Kirche muss reformabel sein, eine ecclesia semper reformanda. Ja, das wird unterstrichen, und trotzdem muss man fragen: Worauf kann sich das allenfalls beziehen? Wirklich auf die Kirche selbst? Hier scheinen mir auch gerade im Blick auf den Ökumenismus die großen Fragen zu liegen, mit denen wir uns in aller Deutlichkeit und Klarheit im Gespräch mit unseren römisch-katholischen Brüdern befassen müssen. Lassen Sie mich nicht vergessen, daran zu erinnern, was nun auch wieder zu den schönen und guten Taten des Konzils gehört, dass sie es gewagt haben, eine deutliche Absage an den Antisemitismus zu formulieren, dass sie gewagt haben, wesentliche Sätze über das Verhältnis von Kirche und Israel zu sagen. Ich glaube, dass dies auch für die kommende Geschichte von großer Wichtigkeit ist. Es würde zu weit führen, dies alles zu erwähnen; wir sind dankbar dafür, dass eine solche Wendung aus dem Dokument über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen uns vor Augen steht. Auch hier haben wir – meine ich – gemeinsam zu lernen und nachzudenken über das rechte Verhältnis, das wirklich theologisch und christlich rechte Verhältnis von Kirche und Israel. Ich komme zum Schluss dieses Teils zu dem letzten großen Dokument des Konzils über den Aufbruch der Kirche in die Welt von heute, wobei vorweg vermerkt werden soll, dass die Erklärung des Konzils zur Religionsfreiheit auch zu dem gehört, was beson-

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ders erfreulich ist, weil auch hier sich eine ziemlich radikale Wendung vollzogen hat, die Anerkennung der Freiheit des Menschen zur Religion als eine Feststellung, die für alle gelten soll, dass die menschliche Person das Recht auf Religionsfreiheit hat und auch dass menschliche Gruppen dieses Recht haben, ihre Religion in Freiheit zu bekennen und sich zusammenzufügen zu religiösen Gemeinschaften. Auch hier hat es sicher viel Mühe gekostet, die Tradition der Kirche zu durchstoßen. Dafür sind wir dankbar gerade als Protestanten, die ja schon seit Jahrhunderten in dieser Sache anders als die Katholiken gedacht haben, dass jetzt auch die römisch-katholische Kirche ein Wort in dieser Richtung gesagt hat. Vielleicht das schwerste Wagnis des Konzils und, was vielleicht im Endeffekt am wenigsten zum Ziele gekommen ist, ist die Stellung der Kirche in der Welt von heute. Wir wissen ja alle, welche enormen Schwierigkeiten jeder Kirche entgegenstehen, wenn wir uns mit den großen ethischen Problemen, dem Leben des Christen in der Welt von heute, und mit den ethischen Problemen der modernen Gesellschaft überhaupt zu befassen haben. Wir sind dankbar dafür, dass die römische Kirche es gewagt hat, dieses wirklich heiße Eisen anzufassen. Was hier über Kultur und Wirtschaft, über menschlichen Fortschritt, über Staat und Gesellschaft, über Ehe und Familie, über Krieg und Frieden und vor allem auch über den Atheismus gesagt worden ist, ist erstaunlich. Die brennenden Fragen von heute sind der Reihe nach in Angriff genommen worden. Und was hier gesagt ist – glaube ich –, werden wir auf weite Strecken bejahen und nicht sehr viel anders sagen können. Auch hier scheint mir der Ansatz zu einem gesamtkirchlichen Gespräch gegeben und notwendig. Denn die großen Fragen, wie ich sie eben im ersten Teil andeutete, Friede, Gerechtigkeit und Freiheit, können unter allen Umständen auch nur gemeinsam mit den christlichen Kirchen in der ganzen Welt in Angriff genommen werden. Noch haben wir zu wenig Gemeinsames sagen können. Und auf der anderen Seite zeigen ja alle kirchlichen Entschließungen, auch die des römischen Konzils, dass es hier viel mehr Fragen als gültige Antworten gibt, dass hier viel mehr unbeantwortete Probleme vorliegen, viele Verlegenheiten, wie man dem großen, radikalen, revolutionären Wandel der Industriewelt in einem echten, menschlich-christlichen Ethos begegnen will. Aber darum ist uns auch der Ausblick hoffnungsvoll, dass wir gerade als die gemeinsam Fragenden und die nicht schon durch gemeinsame Antworten der Vergangenheit Festgelegten uns diesen Dingen widmen dürfen, in denen es ganz besonders auf die Fragen des wirklichen Handelns in der wirklichen Welt ankommen wird.

I.7 Landessynode 1968

I.7.1 Aus dem Bericht des Präses Joachim Wilhelm Beckmann zur Lage der Kirche∗ Wenn wir nun unseren Blick auf die Kirche, die in dieser Welt lebt, richten, müssen wir uns zunächst den Tatbestand vor Augen stellen, der für die Existenz und für die Zukunft der Kirche von entscheidender Bedeutung ist, nämlich das Verhältnis der Kirchen zueinander. Dies ist nach meiner Überzeugung eines der Kernprobleme des Überlebens der Kirche in der Zukunft, denn die Kirche steht in der heutigen Welt vor den immer mächtiger werdenden Mächten als eine gespaltene Größe da, die nicht in Einmütigkeit des Geistes, nicht in Einheit der Botschaft und ihrer Ordnung handeln kann, sondern nebeneinander oder sogar gegeneinander existiert und darum der Welt ein trauriges Schauspiel bietet, ja zu der Frage Anlass gibt, wer denn nun imstande sei zu entscheiden, welche von den vielen Kirchen die wahre Kirche Christi sei. Das Verhältnis der Kirchen zueinander ist am tiefsten seit Jahrhunderten bedroht durch die evangelisch-katholische Kontroverse. Dies ist der tiefste ökumenische Gegensatz, den es überhaupt gibt: der Gegensatz zwischen Protestantismus und römischem Katholizismus, und er gibt für die Frage der Wiedervereinigung der Kirchen die größten Probleme überhaupt auf. Durch das Konzil ist keine grundsätzliche Änderung in dem dogmatischen Verhältnis der Kirchen sichtbar geworden. Das 2. Vatikanische Konzil hatte ja auch nicht die Absicht, an der Lehre der Kirche im Blick auf die anderen Kirchen zu arbeiten. Es hat aber anderes Wesentliches geleistet. Es ist keine Frage, dass die Aufgabe der Auseinandersetzung zwischen dem Inhalt der reformatorischen Bekenntnisse und den Sätzen des Tridentinums noch aussteht. Obwohl wir mehr als 400 Jahre nebeneinander bestanden haben, ist eine echte Auseinandersetzung über den Gehalt dieser gegensätzlichen Bekenntnisse noch nicht erfolgt, und man wird auch nicht sagen können, dass die Gewichtigkeit der Kontroverse durch die Länge der Zeit an Bedeutung wesentlich abgenommen hätte. Andererseits jedoch hat sich durch das Konzil im Bereich des praktischen Lebens der Kirchen miteinander eine wesentliche Änderung vollzogen. Durch das Konzil ist so etwas wie eine neue Epoche in der Geschichte der römisch-katholischen Kirche eingeleitet worden. Die katholische Kirche hat gegenüber einer vierhundertjährigen Geschichte seit der Reformation ihre Türen nach draußen wieder geöffnet. Sie hat Sätze formuliert – das gilt besonders für den Kirchenbegriff –, die es möglich erscheinen lassen, ∗

Protokoll der Landessynode 1968, S. 24–29.

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dass auch die katholische Kirche von Kirchen außerhalb der römischen Kirche sprechen kann. Das gehört in der katholischen Tradition mit zu dem Schwersten, und noch Papst Pius XII. hat anders gesprochen als das Konzil, wie die Enzyklika Mystici Corporis ausweist. Das Konzil hat also über die bisherigen Lehräußerungen der Kirche hinaus etwas Neues auf den Tisch gelegt. Dies sollte man nicht bestreiten, wenn es auch noch so schwer ist, anzuerkennen, dass innerhalb der katholischen Kirche überhaupt Änderungen dogmatischer Art denkbar sind. In Wirklichkeit hat die neue Erklärung über die Kirche auch innerhalb der römischen Kirche Wandlungen hervorgerufen, was sich daran zeigt, dass die theologische Arbeit in der katholischen Kirche sich darum bemühen muss, ihr traditionelles Kirchenverständnis mit der neuen Interpretation des Konzils in Übereinstimmung zu bringen. Außerdem wird von der römisch-katholischen Kirche aus den Erklärungen des Konzils die Folgerung gezogen, mit den nichtrömischen Kirchen Begegnungen, Konsultationen, ja Arbeitsgemeinschaften ins Leben zu rufen. Dies ist ein ganz entscheidender Schritt nach vorn. Damit ist die römisch-katholische Kirche nach unserer Überzeugung in die ökumenische Bewegung eingetreten. Gewiss kann sie nicht dem Ökumenischen Rat beitreten, übrigens wäre das auch ein Problem für den Ökumenischen Rat, wie er heute ist. Denn wenn man nur die Tatsache bedenkt, dass die römische Kirche größer ist als die Hälfte der ganzen Christenheit, so ergibt sich daraus, dass sie durch ihren Beitritt die ganze bisherige Struktur des Ökumenischen Rates verändern würde. Es gibt also nichts Besseres, als was wir im Augenblick erreicht haben: feste Konsultationen zwischen dem Ökumenischen Rat und dem Sekretariat für die Einheit der Kirche und natürlich darüber hinaus entsprechende Konsultationen, Begegnungen und Arbeitsgemeinschaften bis hinein in die einzelnen Kirchen und Bistümer. Hier wäre noch sehr viel Beachtliches zu erwähnen, wenn man nur an die Aufgabe des gemeinsamen Bibelstudiums denkt. Aber es soll nur noch auf eines hingewiesen werden, nämlich das katholische Zugeständnis des gemeinsamen Gebetes mit nichtkatholischen Christen. Wer die römisch-katholische Tradition, das römisch-katholische Kirchenverständnis ein wenig kennt und erforscht hat, der weiß, wie groß der Schritt ist, den diese Kirche damit getan hat, dass sie das Gebet mit den nichtkatholischen Christen gestattet, ja die Katholiken sogar darum bittet, mit den anderen Christen gemeinsam zu beten. Dies ist eine Art Aufhebung der einst so radikal vollzogenen Spaltung. Dies ist ein wichtiger Schritt zur Wiedervereinigung der Kirchen, denn mit wem man anfängt, zusammen zu beten, den kann man dann schon nicht mehr als einen Abgefallenen, geschweige denn einen Ketzer bezeichnen, der verwerflich ist, sondern muss ihn als einen, wenn auch von der eigenen Kirche getrennten Bruder ansehen. Dies scheint mir das Entscheidende zu sein für das evangelisch-katholische Verhältnis in der heutigen kirchlichen Situation. Von daher kann man die Lage bei allen kritischen Fragen, die nicht überhört werden können, nur positiv beurteilen. Schon die Klimaänderung ist wichtig, aber vor allen Dingen sind die Dinge, die jetzt angefangen haben, günstige Voraussetzungen tieferer Wandlungen. In diesem Zusammenhang möchte ich darauf hinweisen, dass im deutschsprachigen Raum die Möglichkeit eines gemeinsamen Textes des Vaterunsers zwischen den Kirchen erreicht worden ist. Der Text ist vor nicht langer Zeit veröffentlicht worden, und man kann nur wünschen, dass alle Kirchen ihn sich nun auch zu eigen machen. In diesem Faktum eines gemeinsamen Wortlauts des Herrengebetes ist mehr enthalten als nur das praktisch Wichtige, sondern hierin ist auch enthalten die Zuerkennung des Christennamens gegenseitig und miteinander, das Bekenntnis zu dem einen Herrn der einen Kirche über die

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Konfessionsgrenzen hinaus. Ich meine, dass wir dafür Gott dankbar sein dürfen, wie sehr sich hier die Tore zu öffnen angefangen haben. Bei der Lage der Kirche in der heutigen Welt ist dieser Gewinn eines neuen christlichen Miteinanders voll elementarer Notwendigkeit. So gewiss zwischen uns tiefe Gegensätze in der Lehre vorhanden sind und wir uns gegenseitig menschlicher Irrtümer zeihen, so gewiss müssen wir dieses christliche Gegeneinander überwinden, indem wir uns trotzdem als Brüder verstehen und gelten lassen. Dies müssen wir heute neu gemeinsam einüben. Die christliche Familie in der heutigen Welt muss aufhören, sich zu streiten. Sie muss miteinander umzugehen lernen, denn an der Art, wie die Christen als Brüder in der Welt miteinander umgehen, wird die Welt erkennen, ob sie seine Jünger sind. So steht es bereits im Evangelium des Johannes. Noch kann niemand absehen, wohin der Weg geht, aber das konfessionelle Zeitalter müssen wir als definitiv hinter uns liegend erkennen und nach vorwärts überwinden um des Evangeliums willen, das die Kirche der Welt heute und morgen schuldig ist. Ich komme zum Ökumenischen Rat der Kirchen. Wenn wir die Situation innerhalb des Ökumenischen Rates der Kirchen ansehen, so werden wir sagen können, dass in den etwa fünf Jahrzehnten ökumenischer Bewegung seit dem ersten Weltkrieg bis heute Unerhörtes erreicht worden ist. Ermessen wir, was es bedeutet, dass in diesen fünf Jahrzehnten der allergrößte Teil der christlichen Kirchen in der Welt sich diesem Ökumenischen Rat angeschlossen hat? Zwar haben wir eben gehört, dass die römisch-katholische Kirche nicht zum Ökumenischen Rat gehört, aber auch ihr Verhältnis zum Ökumenischen Rat hat sich grundsätzlich ins Positive gewandelt, so dass man heute sagen kann, es bestehen nur noch wenige Kirchen, abgesehen von den Sekten, die dem Ökumenischen Rat noch nicht beigetreten sind. Die abseits stehenden Gruppen sind besonders gewisse fundamentalistische Kirchen, die hauptsächlich im amerikanischen Raum leben, die eine Zeitlang versuchten, eine eigene Ökumene zu entwickeln. Außerdem wäre die Pfingstbewegung zu nennen, die aber – wie mir scheint – auch schon auf dem Wege ist, Kirche zu werden, und wahrscheinlich auch den Weg in die Ökumene finden wird. Dieser Tatbestand ist ein gewaltiger Erfolg der ökumenischen Bewegung, und er war sicherlich auch ein Anlass dazu, dass die römisch-katholische Kirche ihr Verhältnis dazu neuerdings grundlegend geändert hat. Die ökumenische Kooperation in der Welt ist eine großartige Leistung. Sie ist sowohl eine diakonische wie eine theologische, literarische und missionarische Wirklichkeit. Wir wissen heute längst von der ökumenischen Diakonie. Wir erkennen, wie notwendig sie inzwischen geworden ist. Aber wir sollten uns daran erinnern, dass es eine ökumenische Diakonie im großen Stil erst seit der Zeit gibt, wo die Kirchen sich in der ökumenischen Bewegung zusammengefunden haben. Hier hat man angefangen, über die Grenzen der eigenen Konfessionskirchen hinaus an die anderen Kirchen zu denken, ja sogar etwas zu tun für die Gesamtheit der Kirche und nicht mehr zu fragen: Haben die anderen auch die richtige Konfession, haben sie auch eine richtige Theologie, sondern sie einfach als christliche Brüder, die wegen ihrer Nöte Hilfe brauchen, anzusehen. Die ökumenische Diakonie, die sich bei uns in der Sammlung »Brot für die Welt« seit Jahren darstellt, zeigt einfach, dass im ökumenischen Raum Großartiges geschaffen wurde. Das gilt allerdings auch für die ökumenische Hilfe im theologischen Bereich. Wir ahnen nicht, was es bedeutet, dass für die theologische Ausbildungsarbeit der jungen Kirchen ununterbrochen etwas gemeinsam getan wird. Wir wissen ja, was davon abhängt, ob es in einer

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Kirche gut ausgebildete Pastoren gibt. Wie schwach jedoch die bisherige Ausbildung in den meisten Minderheitskirchen in der Welt bis zum heutigen Tage ist, das machen sich nur wenige klar. Es fehlt an theologischer Literatur, an theologischen Lehrern, an der notwendigen Vorbildung. Denn wo gibt es schon höhere Schulen, die die Voraussetzung für eine theologische Arbeit darstellen? Die jungen Kirchen sind schon dadurch gefährdet, dass ihre Pastoren nicht die Voraussetzungen für eine Verkündigung mitbringen, die ja nicht ohne eine gründliche Kenntnis der Heiligen Schrift in ihren Sprachen, nicht ohne ein gründliches Studium der Theologie möglich ist. Und gerade in der heutigen Zeit, wo die Auseinandersetzungen mit den Religionen und Ideologien härter geworden sind als zuvor, ist die Bildung des theologischen Nachwuchses eine Lebensfrage für die Kirchen. Darum ist diese ökumenische Kooperation in der theologischen Ausbildung von größter Wichtigkeit. Außerdem möchte ich noch erwähnen, dass auch die Mission als eine gemeinsame Aufgabe des Ökumenischen Rates begriffen worden ist. Wie kühn war es, sich vorzunehmen, über die konfessionellen Grenzen hinweg Mission in allen Kontinenten gemeinsam zu treiben und nicht mehr, wie bisher, lediglich im Bereich der eigenen Konfession. Hier brechen Zukunftsperspektiven auf, die in die Richtung einer Überwindung der traditionellen Konfessionen in eine neue christliche Zukunft der Kirche hineinweisen. Vielen erscheint das vielleicht als etwas Utopisches, aber ich bin überzeugt, dass wir durch die Notwendigkeit der kirchlichen Gemeinschaft in der heutigen Welt neue Wege geführt werden, deren Anfänge in der ökumenischen Kooperation liegen. Ein Drittes, was hier gesagt werden muss, ist das erstaunliche Gelingen der geistigen Durchdringung der Weltprobleme. Was verdanken wir allein der Arbeit der ökumenischen Institutionen an der Friedensfrage. Wahrscheinlich wäre so etwas wie das Friedenswort der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland von 1950 nicht möglich gewesen, wenn die Ökumene nicht in Amsterdam 1948 so vom Frieden gesprochen hätte. Wir haben es doch erst langsam lernen müssen, was es um die kirchliche Aufgabe im Dienst am Frieden in der Welt heute ist. Die Ökumene hat dadurch, dass sie jahrzehntelang darauf bestand, dass die Friedensaufgabe für den Dienst der Kirche in der Welt von entscheidender Bedeutung ist, uns geholfen, dass wir gelernt haben, was wir in den letzten Jahren miteinander im Dienst am Frieden begonnen haben. Man kann denen nur dankbar sein, die uns aus dem ökumenischen Raum dazu geholfen haben. Das Gleiche betrifft das Problem der Gerechtigkeit. Man muss einmal die Vorarbeiten und die Arbeit auf der Genfer Konferenz von 1966 studieren, dann wird man erkennen, wie enorm die Leistungen sind, die hier für uns alle vollzogen wurden. Wenn man in den Dokumenten liest, wie es gelingt, in einer gespaltenen, in so tiefen Gegensätzen zerrissenen Welt innerhalb der christlichen Ökumene zu gemeinsamen Vorstellungen, Äußerungen und Vorschlägen zu kommen, dann kann man nur staunen, was der Heilige Geist hier zuwege gebracht hat. Man muss bewundern, dass auch in der römisch-katholischen Kirche in Bezug auf die schweren sozialethischen Fragen in den letzten Jahren Worte gesagt worden sind, die bis dahin niemand dieser Kirche zugetraut hätte. Heute können die sozialethischen Probleme der Menschheit nur noch im Weltmaßstab erörtert werden, weil die ganze Menschheit aufeinander angewiesen ist. Und darum ist die geistige Durchdringung der Weltprobleme, die in der Ökumene angefangen hat und in den nächsten Konferenzen fortgesetzt werden wird, das Zeichen einer wesentlichen theologischen Leistung für die Kirche in der Welt von heute. Jedoch – und das ist das Letzte in diesem Zusammenhang – am wenigsten ist es der Ökumene gelungen, die Spaltung zwi-

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schen den konfessionellen Kirchen zu überbrücken. Zwar ist man sich nähergekommen, man redet miteinander, zwar sind die Studien vorangegangen, aber es zeigt sich doch, dass in den Konfessionen die harten Widerstände vorhanden sind und dass der Weg zu einer Union ungeheuer schwer ist. Müssen wir nicht darum unseren Vätern dankbar sein, dass es ihnen gegeben wurde, trotz mancher Bedenken und Widerstände solche Schritte zur Union zu wagen? Auch die Inder haben es gewagt in der Kirche der südindischen Union, aber natürlich waren auch sie stark umstritten und angegriffen. Aber es hat sich gezeigt, dass es auch diesen Weg der Union nach vorwärts gibt. Obwohl es in der ganzen Welt eine große Menge von Unionsverhandlungen gibt, vor allen Dingen zwischen verwandten Kirchen, muss man doch sagen, dass die Ergebnisse aufs Ganze gesehen immer noch zu mager sind.

I.7.2 Katholische Beobachter auf der Landessynode 1969∗ Zur Frage der Einladung eines Beobachters der katholischen Kirche zur Landessynode beschließt die Synode einstimmig: Beschluss 78: Landessynode ist damit einverstanden, wenn die Kirchenleitung zu künftigen Tagungen der Landessynode einen Beobachter der katholischen Kirche einlädt. Zur Vorlage: Einladung eines Beobachters der katholischen Kirche zur Landessynode Oberkirchenrat Nieland berichtet, dass in anderen Landeskirchen die beiderseitige Einladung von Beobachtern beider Kirchen bereits geschieht. Die Kirchenleitung hat zunächst von einer solchen Einladung abgesehen, da die Zuständigkeit im katholischen Bereich bei sieben katholischen Bistümern im Bereich der Rheinischen Landeskirche nicht eindeutig zu ermitteln ist. Zur Klärung dieser Frage soll die ökumenische Gebietskommission für Nordrhein-Westfalen einen entsprechenden Vorschlag machen. Es wird weiter darauf hingewiesen, dass die berechtigte Erwartung einer Einladung eines evangelischen Beobachters ungeklärt bleibt, weil es bisher innerhalb der katholischen Kirche kein der Landessynode entsprechendes Gremium gibt, das in bestimmten Zeitabständen zusammentritt. Der Ausschuss hat dennoch folgenden Beschluss gefasst: Landessynode bittet die Kirchenleitung, zu künftigen Tagungen der Landessynode einen Beobachter der katholischen Kirche einzuladen (einstimmig).



Protokoll der Landessynode 1968, S. 246, 285–286.

I.8 Berichte des Konfessionskundlichen Ausschusses

Anlage zu den Protokollen der Rheinischen Landessynoden 1961–1969 Konfessionskundlicher Ausschuss 1961 Seit der letzten Landessynode ist der Konfessionskundliche Ausschuss der Landessynode zweimal zusammengetreten. Seine erste Sitzung hat er im Anschluss an eine Dienstbesprechung mit den Beauftragten für konfessionskundliche Fragen in den einzelnen Kirchenkreisen am 9. und 10.11.1959 im »Haus der Begegnung« in Mülheim/Ruhr gehalten. Er hat sich dabei mit dem Problem der »Weihen« von Bauwerken nichtkirchlichen Charakters durch die römisch-katholische Kirche und die evangelische Mitwirkung befasst. Er beantragte bei der Kirchenleitung die Einholung eines theologischen Gutachtens zu dieser Frage. Am 6.4.1960 hat der Ausschuss abermals dieses Problem behandelt und sich außerdem mit dem Antrag der Synode Ottweiler betreffend Patenrecht befasst, der eine Änderung der Kirchenordnung notwendig machen würde. Er hörte außerdem ein Kurzreferat seines Mitgliedes Pfarrer Professor D. Lother über das Buch von Schütte »Um die Wiedervereinigung im Glauben«. Der vom Konfessionskundlichen Ausschuss angeregte Zeitschriftenbeobachtungsdienst der örtlichen katholischen Zeitungen und Zeitschriften wird durch Pfarrer Koch-Mehrin versehen. Seine Vierteljahrsberichte bieten einen vorzüglichen Einblick in die dort vorherrschende Thematik. Die Berichte gehen den Synodalbeauftragten für konfessionskundliche Fragen regelmäßig zu. Die von Pfarrer Jongen geleitete Mischehenarbeit hat sich – vor allem durch zahlreiche Vortragsanforderungen – so sehr ausgeweitet, dass der Ausschuss nach Wegen sucht, Pfarrer Jongen möglichst ganz für diese Arbeit freistellen zu lassen. Zu der Frage der »Weihen« wird bei einer kommenden Sitzung Herr Oberkirchenrat D. Sucker ein Grundsatzreferat halten. Die ständige Unterrichtung der Synodalbeauftragten über die aktuellen Probleme des Verhältnisses zur römisch-katholischen Kirche ist eine im Augenblick besonders wichtige Aufgabe des Konfessionskundlichen Ausschusses und seiner Mitglieder.

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Konfessionskundlicher Ausschuss 1963 Der Konfessionskundliche Ausschuss hat in der Berichtszeit zwei Sitzungen abgehalten (am 15.5.62 und am 26.10.62). Er befasste sich mit einer Fülle von Problemen. 1. Er billigte den Plan, Gebete für das Konzil vorzubereiten und den Gemeinden zum Gebrauch anzubieten. 2. Er beriet ausführlich über den Auftrag der Kirchenleitung, für den evangelischen Katechismus einen konfessionskundlichen Teil vorzubereiten. Er hat drei seiner Mitglieder beauftragt, dem Ausschuss einen Vorschlag dazu vorzulegen. 3. Der Beauftragte der Landeskirche für die Mischehen- und konfessionskundliche Arbeit berichtete über den von ihm geleisteten Dienst und führte aus, wie die wachsende Vortragstätigkeit, die Materialhilfe für die Synodalvertreter für konfessionskundliche Fragen, deren Informierung und die Beratung von Pfarrern und Gemeinden und die seelsorgerliche Betreuung von ihm ausgeübt werde. Der Konfessionskundliche Ausschuss nahm zustimmend von diesem Bericht Kenntnis. 4. Der Ausschuss hielt es für wichtig, dass im Raum der Rheinischen Kirche eine konfessionskundliche Bücherei besteht, aus der Pfarrer und Gemeinden Bücher über diese Fragen ausleihen können. Er hielt außerdem die Schaffung von Handbüchereien für die konfessionskundlichen Vertreter in den Kirchengemeinden für wichtig. 5. Der Ausschuss billigte die geplante Übersetzung von zwei Artikeln aus dem Holländischen. Es handelt sich dabei um einen Artikel aus katholischer Feder über die Frage der Konditionaltaufe und um die Richtlinien der Reformierten Synode über Gespräche mit Katholiken. (Beide Schriften sind inzwischen erschienen und gehen allen rheinischen Pfarrern zu.) Nach dem Ausscheiden des bisherigen Beauftragten der Landeskirche stellte der Ausschuss in der zweiten Sitzung den Antrag, eine Landespfarrstelle für konfessionskundliche Arbeit zu errichten, die auch den Beobachtungsdienst katholischer Zeitschriften übernehmen soll. Der Katechismusausschuss wurde ergänzt. Von den Vorarbeiten nahm der Konfessionskundliche Ausschuss zustimmend Kenntnis. Die Tatsache der Abhaltung des Konzils ließ es ihm besonders dringend erscheinen, die begonnene Arbeit gerade jetzt mit besonderer Intensität fortzuführen, um die Gemeinden zuverlässig zu informieren und ihnen zu helfen, die Ereignisse im Raum der katholischen Kirche vom Evangelium her recht zu beurteilen. Konfessionskundlicher Ausschuss 1965 Unmittelbar vor der letzten Tagung der Landessynode hat der Konfessionskundliche Ausschuss am 2.1.1964 eine Stellungnahme zum Konzil erarbeitet. Sie wurde bei der

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Landessynode gründlich behandelt und ging als Bitte an den Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland heraus, er möge eine evangelische Antwort auf die päpstliche Bitte um Vergebung geben. Die Vorarbeiten des rheinischen Konfessionskundlichen Ausschusses und der Landessynode führten schließlich unter Mitarbeit rheinischer Ausschussmitglieder zum »Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland zur konfessionellen Lage«, das an alle Gemeinden als Material für Besprechungen verteilt wurde. Die von Pfarrern und Gemeinden dringend gewünschte Information über die Ereignisse im katholischen Raum erfolgte während der dritten Session des Konzils durch die kostenlose Weitergabe der vom Evangelischen Bund herausgegebenen »Briefe aus Rom«. Mitglieder des Konfessionskundlichen Ausschusses nahmen an den Tagungen der Beauftragten für konfessionskundliche Fragen in den Kirchenkreisen teil. Der bei dieser Gelegenheit vorgetragene Wunsch nach Informationen über den Stand der Mischehenfrage wurde dadurch erfüllt, dass ein neues Mischehenheft in mehr als 40.000 Exemplaren in den Gemeinden kostenlos verteilt worden ist. Mitglieder des Konfessionskundlichen Ausschusses haben in einer Fülle von Vorträgen in rheinischen Gemeinden Probleme des Konzils behandelt. Gemäß dem Wunsch des Ausschusses ist der Vorsitzende inzwischen von einigen Referaten im Landeskirchenamt entlastet worden, um sich der konfessionskundlichen Arbeit besonders annehmen zu können. Konfessionskundlicher Ausschuss 1967 In der Berichtszeit ist der Konfessionskundliche Ausschuss zweimal zusammengetreten. Bei beiden Sitzungen wurde deutlich, dass es unmöglich ist, einen so großen Kreis – auch von »Laien« – vollzählig zu versammeln. Der Ausschuss befasste sich mit Mischehenfragen, Fragen der Doppeltrauung bei Orthodoxen, einer geplanten Antwort auf das Konzil, wie sie dann bei der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland erfolgte, der Möglichkeit der Teilnahme am Abendmahl evangelisch getrauter Katholiken (Antrag der Kreissynode Krefeld), die abgelehnt wurde. Im Juni fand unter der Mitverantwortung des Ausschusses ein konfessionskundliches Pastoralkolleg mit 32 Teilnehmern statt, das vor allem der Aufarbeitung des Konzils galt. Der Ausschuss wird gerade für diese Aufgabe seine Mitarbeiter unterrichten, damit diese wichtige Arbeit in den Gemeinden sachkundig getan wird. In diesem Zusammenhang ist eine Erhebung im Gange, die eine Übersicht über die Zahl und die Liturgien der »ökumenischen« Gottesdienste im Raum der Rheinischen Kirche verschaffen soll. Konfessionskundlicher Ausschuss 1969 Der Konfessionskundliche Ausschuss hält im Jahre zwei Tagungen ab, in denen er versucht, die derzeitige Lage des deutschen Katholizismus in den Blick zu bekommen. Von sachkundigen Referenten lässt er sich berichten, um zu Anregungen und Beschlüssen zu kommen. Diese Sitzungen werden für die konfessionskundlichen Mitarbeiter der Lan-

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deskirche ergänzt durch die Tagungen des Pastoralkollegs über konfessionskundliche Fragen. Selbstverständlich hat den Ausschuss im Berichtszeitraum die Schulfrage sehr stark beschäftigt. Er hat dazu ein ausführliches Referat von Herrn Oberkirchenrat Himmelbach gehört. Die Lage in der katholischen Kirche in Deutschland nach dem Konzil hat den Konfessionskundlichen Ausschuss selbstverständlich in jeder Sitzung beschäftigt, doch hat er sich darüber auch ausführlich von Sachkennern berichten lassen. Der Bonner Dozent Dr. Geißer (früher Bensheim) hat durch ein Referat über den »Bund für evangelisch-katholische Wiedervereinigung« dem Ausschuss zu einer klaren Urteilsbildung dieser Bestimmungen verholfen, über die der 2. Vorsitzende dieses Bundes im Ausschuss ausführlich informiert hatte. Das ökumenische Direktorium und die Ausführungsbestimmungen der Fuldaer Bischofskonferenz konnte der Ausschuss schon in einem sehr frühen Stadium der Erwägung kennenlernen. Ebenso hat er mit seinem Rat auf die Bildung der Ökumenischen Gebietskommission Einfluss genommen. Die Ereignisse beim Essener Katholikentag und deren evangelische Beurteilung haben den Ausschuss auf Grund eines Berichtes von Pfarrer Hild, Bensheim, beschäftigt. Zurzeit haben einige Ausschussmitglieder auf Bitten des Landeskirchenamtes den Auftrag übernommen, das von der VELKD herausgegebene »Handbuch zu Freikirchen und Sekten« mit einem rheinischen Kommentar zu versehen, um es für die Hand der Pfarrer im Rheinland gebrauchsfertig zu machen.

I.9 Katholiken und Protestanten angesichts des Konzils Podiumsgespräch Katholiken und Protestanten im »Forum Konzil« am 30.7.1965 des 12. Deutschen Evangelischen Kirchentages mit Erzbischof Dr. Lorenz Kardinal Jaeger, Paderborn, und Präses Professor D. Dr. Joachim Beckmann, Düsseldorf Gesprächsleitung Intendant D. Klaus von Bismarck, Köln∗

I. JAEGER: Verehrte Zuhörerinnen und Zuhörer, liebe Brüder und Schwestern! Niemand kann mehr Zweifel hegen über den Ursprung der ökumenischen Bewegung, wie sie in unserem Jahrhundert zunächst außerhalb der katholischen Kirche in Erscheinung trat. Sie ist ein Werk des Heiligen Geistes, der die Christenheit zur Buße und Umkehr ruft. Das Ziel der ökumenischen Bewegung ist die Überwindung der Spaltungen in der Christenheit, die, wie das Konzil sagt, nicht ohne Schuld der Menschen auf beiden Seiten entstanden sind. Wie die katholischen Christen dabei mitwirken können und sollen, das zeigt ihnen das Konzil im Dekret über den Ökumenismus. Für das rechte Verständnis dieses Dekrets ist es entscheidend zu wissen: Das Konzil will keine Magna Charta der ökumenischen Bewegung aufstellen. Es wendet sich lediglich an die katholischen Christen, um ihnen die Mittel und Wege aufzuzeigen, wie sie selber an dieser Bewegung teilnehmen können. Wenn es aber schon ganz allgemein gilt, dass jedes große Ereignis in der Christenheit heute alle Kirchen interessiert, so kann man das noch mit viel mehr Recht von dem Zweiten Vatikanischen Konzil sagen – und am meisten von dem Dekret über den Ökumenismus. An dieses Dekret denken wir zuerst, wenn wir davon sprechen, wie katholische und evangelische Christen zum Konzil stehen. Der große und schöne Text des Dekrets atmet den Geist Johannes’ XXIII. Dieser charismatische Papst hatte das Konzil einberufen und ihm zwei Zielsetzungen gegeben, die er beide miteinander verband: die innere Erneuerung der Kirche und den Dienst an der Einheit der Christen. Johannes XXIII. war es, der die nichtkatholischen christlichen Gemeinschaften einlud, Beobachter zum Konzil zu senden. Indem er selbst ihre teure Gegenwart begrüßte, gab er den Beobachtern jene ganz freimütige Arbeitsmöglichkeit in einem Klima der Offenheit und des Vertrauens ohne alle Vorbehalte. Dieser charismatische Anstoß Johannes’ XXIII. ist von seinem Nachfolger als verpflichtendes Erbe übernommen und weitergeführt worden. Die Eröffnungsreden Pauls VI. zur zweiten und zur dritten Sitzungsperiode mit ihrer christozentrischen Haltung und ihrer ökumenischen Offenheit gaben neue Impulse für die originale und homogene Ausarbeitung des Ökumenismusdekrets, dessen endgültige Fassung, so scheint mir, eine neue Ära im Verhältnis der christlichen Kirchen eröffnet. ∗

Deutscher Evangelischer Kirchentag 1965. Dokumente, Stuttgart/Berlin 1965, S. 862–884.

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Die ökumenische Arbeit des Zweiten Vatikanischen Konzils ist von evangelischer Seite vielfältig anerkannt worden. Professor Dr. Edmund Schlink, Konzilsbeobachter der EKD, sagt von dem zweiten Kapitel des Ökumenismusdekrets: »Die Anweisungen dieses Kapitels sind zwar an die Mitglieder der römisch-katholischen Kirche gerichtet. Aber sie sind meines Erachtens in allem Wesentlichen ebenso von den anderen Kirchen als gültig anzuerkennen und zu beherzigen. Denn sie formulieren in der Tat das, was im Verkehr der getrennten Brüder miteinander als erstes nottut, das, was unter Christen selbstverständlich sein sollte, aber leider nicht überall selbstverständlich ist. Wenn diese Grundsätze ökumenischen Verhaltens sich in der Praxis durchsetzen, so darf man davon erwarten, dass auf beiden Seiten der Kirchengrenzen manche längst hart und unbrauchbar gewordene Scholle neu aufgebrochen wird. Dieses Kapitel lässt in besonderer Weise die Ernsthaftigkeit des ökumenischen Willens deutlich werden, von dem das Sekretariat für die Einheit der Christen und darüber hinaus viele Konzilsväter bestimmt sind.« Freilich fehlt es auch nicht an kritischen Stellungnahmen zum Konzil und seiner ökumenischen Haltung. Es sei mir erlaubt, die wichtigsten Punkte hier zu nennen und vorwegnehmend darauf schon zu antworten. Die erste kritische Frage lautet etwa wie folgt: Das Ökumenismusdekret lässt kaum etwas davon erkennen, dass Gottes Handeln mit seinem Volk in der Geschichte ein Geheimnis ist. Die Tatsache, dass die Christenheit gespalten ist, stellt ein Rätsel dar, das wir nicht zu durchdringen vermögen. Wie kann das eine Volk Gottes gespalten sein? Warum konnte es dazu kommen? Ist es einfach der Fehler bestimmter Gruppen, oder ist es Gottes Gericht über den Ungehorsam aller Christen? Welche uns verborgenen Pläne verfolgt Gott, wenn er den Zustand der Getrenntheit zulässt? Dieser Einwand ist durchaus ernst zu nehmen, und eine ganze Anzahl von Konzilsvätern hat ihn bereits in den Generalkongregationen erwogen. Das Konzil war nicht unempfindlich gegenüber solchen Forderungen, und deshalb sagt es im endgültigen Dekret im 3. Artikel: »In dieser einen und einzigen Kirche Gottes sind schon von den ersten Zeiten an Spaltungen entstanden, die der Apostel aufs schärfste tadelt und verurteilt. In den späteren Jahrhunderten aber sind noch weiter ausgedehnte Zwistigkeiten entstanden, und es kam zur Trennung recht großer Gemeinschaften von der vollen Gemeinschaft mit der katholischen Kirche, oft nicht ohne Schuld der Menschen auf beiden Seiten.« Aber das Konzil konnte und wollte keine Theologie der Spaltungen geben. Das bleibt eine Aufgabe für die wissenschaftliche Forschung der späteren Zeit, und mit Recht wurde schon auf die Ansätze für eine solche Theologie in den Reden der Konzilsväter verwiesen. Ein zweiter Einwand könnte etwa so formuliert werden: Das Dekret ist im Vergleich zu anderen Texten des Konzils zu irenisch. Sein Tenor könnte als bloße Großzügigkeit verstanden werden. Auch diesen Einwand hat das Konzil sehr ernst genommen. In dem endgültigen Wortlaut des Dekrets wird ausdrücklich gesagt, dass es schwere und tiefgehende Unterschiede zwischen der katholischen und evangelischen Kirche gibt, die letzten Endes in einer verschiedenen Auslegung der Offenbarung beruhen. Deshalb sagt das Dekret im 11. Artikel,

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dass nichts dem ökumenischen Geiste so fern ist wie ein falscher Irenismus, der den ursprünglichen und sicheren Sinn der kirchlichen Glaubenslehre verdunkelt und die bestehenden Unterschiede minimalisiert. Ein dritter Einwand lautet wie folgt: Ein schwerwiegender Mangel des Schemas liegt darin, dass es die nichtrömischen Christen und deren Kirchen nach quantitativen Maßstäben beurteilt. Der Gedanke dabei scheint der, dass die Fülle der Kirche aus zahlreichen Elementen besteht. Diese Elemente sind in der katholischen Kirche in ihrer Vollzahl vorhanden, während sie sich in nichtrömischen Kirchen in größerer oder kleinerer Zahl finden. Diese Betrachtungsweise stellt aber für die Begegnung der Kirchen eine große Schwierigkeit dar. Denn auf diese Weise werden die nichtrömischen Kirchen nicht von ihrer Mitte her verstanden, sondern sie werden nach dem Maße ihrer Übereinstimmung mit der römisch-katholischen Kirche beurteilt. Dabei ist es dann fast unvermeidlich, dass im Verhältnis zu anderen Kirchen die Bedeutung der sehr vitalen evangelischen Gruppen, die die Innerlichkeit des Glaubens betonen, verkannt wird. Nur darum, weil die Elemente, die als für die Kirche konstitutiv bezeichnet werden, dort nicht zu finden sind. Auf diesen Einwand möchte ich wie folgt antworten: Jede Kirche kann nur von ihren Voraussetzungen her sich öffnen auf die übrige Christenheit hin. Die Toronto-Erklärung des Weltrates der Kirchen sichert allen Mitgliedskirchen die Freiheit zu, ihr eigenes Kirchenverständnis und ihre eigene Beurteilung der übrigen Kirchen festzuhalten. Die katholische Kirche ist nicht Mitglied des Weltkirchenrates. Aber sie hält sich im Ökumenismusdekret an diese dort aufgestellte Regel. Übrigens wird das sogenannte quantifizierende Denken des Dekrets ergänzt und modifiziert durch eine andere Art der Betrachtung, die dem vorhin genannten evangelischen Anliegen gerecht wird. Professor Schlink sagt dazu: »Es finden sich sowohl im Dekret De Oecumenismo als auch innerhalb der Diskussionsvoten Aussagen, die ein solches quantifizierendes Denken durchbrechen, Aussagen, die vom unmittelbaren Eindruck des Christuszeugnisses, des Gebetes, des gottesdienstlichen Lebens und der sakramentalen Frömmigkeit, des Dienstes an der Welt und des Martyriums im Bereich der getrennten Kirche bestimmt sind. Der Maßstab ist hier viel unmittelbarer der christologische und pneumatologische und damit der allen Kirchen gemeinsam biblische.« Noch ein letzter Einwand, der ein ganz zentrales Thema berührt. Er wurde wie folgt formuliert: »Es ist kein Versuch unternommen worden, vom Christusbekenntnis das größere oder geringere Gewicht der verschiedenen dogmatischen Entscheidungen zu unterscheiden.« Bei diesem Einwand dürfte eine wichtige Stelle im endgültigen Dekret übersehen worden sein. Der 11. Artikel des Dekrets sagt nämlich wörtlich: »Beim ökumenischen Dialog müssen die katholischen Theologen, wenn sie in Treue zur Lehre der Kirche in gemeinsamer Forschungsarbeit mit den getrennten Brüdern die göttlichen Geheimnisse zu ergründen suchen, mit Wahrheitsliebe, mit Bruderliebe und Demut vorgehen. Beim Vergleich der Lehren miteinander soll man nicht vergessen, dass es innerhalb der katholischen Lehre eine Rangordnung oder Hierarchie der Wahrheiten gibt, je nach der verschiedenen Art ihres Zusammenhangs mit dem Fundament des christlichen Glaubens. So

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wird der Weg bereitet werden, auf dem alle in diesem brüderlichen Wettbewerb zur tieferen Erkenntnis und deutlicheren Darlegung der unerforschlichen Reichtümer Christi angelegt werden.« Soweit das Dekret. Den besten Kommentar dazu gab Erzbischof Andreas Pangrazio von Görz, der vor dem versammelten Konzil erklärte: »Wenn auch alle geoffenbarten Wahrheiten mit demselben göttlichen Glauben zu glauben und alle konstitutiven Elemente der christlichen Kirche mit derselben Treue festzuhalten sind, so behaupten und besitzen sie doch nicht alle dieselbe Stelle. Es gibt Wahrheiten, die gehören zur Ordnung des Zieles, wie das Geheimnis der Allerheiligsten Dreieinigkeit, der Menschwerdung des Wortes und der Erlösung, der göttlichen Liebe und Gnade gegenüber der sündigen Menschheit, des ewigen Lebens in der Vollendung des Reiches Gottes und andere. Es gibt aber auch andere Wahrheiten, die zur Ordnung der Heilsmittel gehören, wie z. B. die Wahrheit von der Siebenzahl der Sakramente, der hierarchischen Struktur der Kirche, der apostolischen Sukzession und andere. Diese Wahrheiten betreffen die Mittel, die der Kirche von Christus übergeben sind für den irdischen Pilgerweg. Dann aber hören sie auf. Tatsächlich betreffen nun die Lehrunterschiede zwischen den Christen weniger jene Wahrheiten, die zur Ordnung des Zieles gehören, sondern eher jene, die zur Ordnung der Mittel gehören und den ersteren ohne Zweifel untergeordnet sind. Man kann sagen, dass eine Einheit der Christen tatsächlich besteht im gemeinsamen Glauben und Bekennen derjenigen Wahrheiten, die zur Ordnung des Zieles gehören. Wenn diese Unterscheidung nach der Hierarchie der Wahrheiten und Elemente angewendet wird, wird – wie ich meine – jene Einheit besser sichtbar werden, die zwischen allen Christen schon besteht. Alle Christen sind in den ersten Wahrheiten der christlichen Religion schon vereint.« So dieser Konzilsvater unwidersprochen vor dem versammelten Konzil. Und damit, verehrte Zuhörer, lassen Sie mich die Serie der Einwendungen und Antworten beenden mit dem beglückenden Hinweis auf unsere schon bestehende Gemeinsamkeit. Die Basis dieser wirklichen, wenn auch noch nicht vollkommenen Einheit ist die gemeinsame Taufe und das gemeinsame Bekenntnis zum dreieinigen Gott, wie zum menschgewordenen Gottessohn Jesus Christus, unserem Herrn und Erlöser. Diese schon vorhandene Einheit befähigt uns, vor der ganzen Welt ein gemeinsames Christuszeugnis abzulegen und auf dieser Grundlage als Christen zusammenzuarbeiten. VON BISMARCK: Mit Ihnen zusammen danke ich Herrn Kardinal Jaeger für seine Einführung und möchte an Herrn Präses Beckmann die Frage stellen: Ist es nicht wirklich so, dass wir evangelischen Christen uns etwas schwer tun, die Hierarchie der unterschiedlichen katholischen Glaubenswahrheiten richtig aufzufassen? Ich habe es deshalb begrüßt, dass Herr Kardinal Jaeger auf die Hierarchie der katholischen Glaubenswahrheiten eingegangen ist. Denn in dem schon lange andauernden Gespräch mit Katholiken habe ich gelernt, dass wir uns oft die katholische Auffassung etwas zu blockhaft starr vorstellen. Natürlich ist die Vorstellung richtig, dass es einige Grundsatzwahrheiten gibt, von denen die katholischen Brüder und Schwestern nicht abgehen. Wir übertragen fälschlich diesen Eindruck vom Festhalten an unabänderlichen Grundsätzen auf das Ganze und kommen dadurch zu einer falschen Sicht. Ich bitte Herrn Präses Beckmann, zu dieser These Stellung zu nehmen. Aber ich bitte ihn zunächst einmal, sich zum Dekret als Ganzem einführend zu äußern.

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BECKMANN: Verehrte und liebe Brüder und Schwestern! Das epochemachende kirchengeschichtliche Ereignis des 20. Jahrhunderts ist zweifellos, dass die Christenheit, die jahrhundertelang auseinander gegangen ist, sich wieder sucht, aufeinander zugeht, bewegt von der Frage nach der Einheit der Kirche Christi in der Wirklichkeit der Christenheit auf Erden. Die Gründe sind mannigfaltig, Weltmission und Bibelstudium auf der einen Seite, aber auch die großen Sorgen um die Entwicklung der Geschichte der Menschheit und die Zukunft des Christentums im Zeitalter der Planetarisierung der Menschheit, um einen Ausdruck Teilhard de Chardins zu gebrauchen, im Zeitalter der Industrialisierung, am Ende des kolonialen Zeitalters, wo in der Welt Hunger und Armut über einen großen Teil der Menschen hereingebrochen ist. Den ökumenischen Konferenzen seit dem Ausgang des Ersten Weltkrieges folgte nun das Zweite Vatikanische Konzil mit Beobachtern aus den nichtkatholischen Kirchen. Für uns evangelische Christen ein eindrucksvolles und ein erstaunliches Geschehen, auch in seinen bisherigen Ergebnissen. Leider können wir auf alle Ergebnisse nicht eingehen, obwohl auch zum Beispiel das Ergebnis des Konzils im Bereich der Liturgie für uns bedeutsame Erkenntnisse enthält. Es soll heute nur die Rede sein von dem eben schon genannten Dekret über den Ökumenismus, zumal da dieses Dekret ein besonders kraftvolles Zeugnis ist für die Wandlung innerhalb der römisch-katholischen Kirche gegenüber der ökumenischen Bewegung. Hier hat sich eine tiefgreifende Wandlung in den letzten Jahrzehnten vollzogen. Das Dekret ist zwar an die katholische Christenheit gerichtet, aber es gibt ja nichts auf dem Vatikanischen Konzil heute, das nicht die ganze Christenheit angeht. Das haben wir von Anfang an behauptet, genauso wie alles, was im Bereiche des Ökumenischen Rates geschieht, auch die Christenheit angeht, die nicht zu ihm gehört. Wir sind heute in der kleiner gewordenen Welt als die große Familie Gottes bei all unseren Verschiedenheiten so aufeinander angewiesen, dass nirgendwo etwas geschehen kann, bei dem man nicht berücksichtigen muss, was es für die anderen bedeutet. Wir als evangelische Christen, meine ich, fühlten uns durch das Dekret angesprochen, obwohl es sich nicht an uns unmittelbar wendet. Wir fühlen uns zu einer Antwort herausgefordert, einzutreten in den uns neu angebotenen ökumenischen Dialog. Unser verehrter Gesprächspartner Kardinal Jaeger hat uns eben in seinem Überblick besonders teilnehmen lassen an den Fragen, die sich bereits in der Öffentlichkeit um den Inhalt des Dekrets ergeben haben. Ich möchte ganz anders zu dem Dekret Stellung nehmen: als ein evangelischer Theologe, der versucht, zum Ausdruck zu bringen, was uns an diesem Dekret besonders überrascht und erfreut hat, um dann Fragen aufzuwerfen, mit denen wir in den Dialog eintreten möchten. Das erste ist die Bejahung der ökumenischen Bewegung. Die Synode in Rom hat freudigen Herzens, wie es im Text heißt, dies alles erwogen, nämlich was in der ökumenischen Bewegung Gott durch die Gnade des Heiligen Geistes seit Jahren getan hat. Noch nie ist nach meiner Kenntnis so positiv und von einer so hohen Stelle der römisch-katholischen Kirche über die ökumenische Bewegung gesprochen worden. Es wird im Dekret geradezu zitiert, was in der Basis des Ökumenischen Rates der Kirchen bekannt wird. Es wird gesagt, dass in dieser Bewegung nicht nur die einzelnen, jeder für sich, sondern auch die Gemeinschaften, in denen sie die Frohe Botschaft vernommen haben und die sie ihre Kirche und Gottes Kirche nennen, danach streben, zu der einen sichtbaren Kirche Gottes

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hinzugelangen, die wahrhaft universal und zur ganzen Welt gewandt sein soll, damit sich die Welt zum Evangelium bekehre und so ihr Heil finde zur Ehre Gottes. Ein großer Teil des Dekrets behandelt die katholischen Prinzipien des Ökumenismus. Es ist wichtig zu beachten, dass es nicht um die Prinzipien des katholischen Ökumenismus geht, sondern um die katholischen Prinzipien des Ökumenismus. Und hier ist von großer Wichtigkeit für uns, was ausgesprochen wird über das Verhältnis der nichtkatholischen Christen zur römisch-katholischen Kirche. Wir haben schon einiges davon gehört. Ich lese ein paar Worte, die von großem Gewicht sind: »Die katholische Kirche betrachtet sie (das heißt also hier uns) als Brüder in Verehrung und Liebe. Denn wer an Christus glaubt und in rechter Weise die Taufe empfangen hat, steht dadurch in einer gewissen, wenn auch nicht vollkommenen Gemeinschaft mit der katholischen Kirche.« Und dann heißt es weiter: »Nichtsdestoweniger sind sie in dem Glauben und in der Taufe gerechtfertigt und dem Leibe Christi angegliedert, darum gebührt ihnen der Ehrenname des Christen, und mit Recht werden sie von den Söhnen der katholischen Kirche als Brüder im Herrn anerkannt.« Ich meine, dass wir dafür dankbar sein dürften, wenn eine solche Feststellung dort getroffen worden ist und für das brüderliche Gespräch eine entscheidende Voraussetzung in sich schließt, dass wir hier also unter Brüdern im Herrn miteinander reden dürfen. Von den anderen Elementen, die hier genannt werden, möchte ich im Einzelnen nicht sprechen. Ich habe nachher noch einige Fragen dazu zu stellen, obwohl sie wichtige Dinge erwähnen: das Wort Gottes als das in der Bibel geschriebene Wort, das Leben in der Gnade usw. Ich kann das jetzt überschlagen und zu dem anderen Punkte übergehen, der mir ebenso wichtig ist, weil an dieser Stelle manche kritische Frage auftaucht. Es wird hier von den Kirchen, den getrennten »Kirchen und den kirchlichen Gemeinschaften« gesprochen. Viele haben sich an der Unterschiedlichkeit gestoßen und haben gefragt, was das denn solle; wir werden noch darauf zu sprechen kommen. Das Entscheidende aber ist, dass hier etwa von uns protestantischen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften folgender Satz gesagt werden kann: »Der Geist Christi hat sich gewürdigt, sie als Mittel des Heils zu brauchen, deren Wirksamkeit sich von der der katholischen Kirche anvertrauten Fülle der Gnade und Wahrheit herleiten.« Das Entscheidende ist, dass hier nicht nur von den einzelnen Christen, sondern auch von den Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften als den Mitteln des Heils gesprochen wird. Es wird auch davon gesprochen, dass hier der Heilige Geist heilsam gewirkt hat für die Welt. Es kommt dann im Konzil eine ausführliche Ermahnung an die katholischen Christen, mit Eifer an dem ökumenischen Werke teilzunehmen. Wir können unsererseits die evangelischen Christen der ganzen Welt nur mit auffordern, in gleicher Weise mit Eifer am ökumenischen Werke teilzunehmen. Es wird dann eine ganze Reihe von Dingen erwähnt, was das bedeutet, z. B. die Ausmerzung aller Worte, Urteile und Taten, die der Lage der getrennten Brüder nach Gerechtigkeit und Wahrheit nicht entsprechen und dadurch die gegenseitigen Beziehungen mit ihnen erschweren; und dann ist vom Dialog die Rede, von der Kenntnis der Lehre, von der Zusammenarbeit und vom gemeinsamen Gebet. In der praktischen Ausführung der Prinzipien, um die es hier in dem 2. Kapitel des Dekrets geht, wird sehr schön am Anfang von der dauernden Reformation der Kirche

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geredet. Es heißt hier: »Jede Erneuerung der Kirche besteht wesentlich im Wachstum der Treue gegenüber ihrer eigenen Berufung, und so ist ohne Zweifel hierin der Sinn der Bewegung in Richtung auf die Einheit zu sehen. Die Kirche wird auf dem Wege ihrer Pilgerschaft von Christus zu dieser dauernden Reformation gerufen, deren sie alle Zeit bedarf, soweit sie menschliche und irdische Einrichtung ist« usw. Auch dies ist ein gewichtiges Wort, ein positives Wort zu der immer wieder neu notwendig werdenden reformatio ecclesiae. Es gibt keinen echten Ökumenismus, heißt es weiter, ohne innere Bekehrung. Das ist wahrhaftig ein geistliches und großartiges Wort. Denn wir wissen alle, dass ohne ein Neuwerden durch den Geist, durch eine neue Liebe aus ihm ein Verlangen nach der wirklichen, kirchlichen Einheit und Gemeinschaft zueinander nicht werden kann. In diesem Zusammenhang ist vom Konzil aufgenommen worden, was in der bekannten Vergebungsbitte des Papstes vorher schon ausgesprochen war; wir werden nachher über diese Frage noch ein Wort sprechen. Ich lese jetzt nur vor, wie es hier schlicht heißt: »In Demut bitten wir also Gott und die getrennten Brüder um Verzeihung, wie auch wir unseren Schuldigern vergeben.« Für die brüderlichen Gespräche wird es meiner Überzeugung nach unumgänglich notwendig sein, dass in der Annahme dieser Bitte ein Gespräch darüber stattfindet, welche Bedeutung diese Bitte hat und welche Folgerungen sich aus der gegenseitigen Annahme der Vergebung unserer Schuld ergeben. Denn auch dies wird von großem Gewicht sein für die kommende Zusammenarbeit, um die es sich ja hier handelt im Dialog und im Tun. Es wird dann auch sehr positiv gesprochen von dem einmütigen Gebet, von der gegenseitigen sorgfältigen Kenntnis, von der ökumenischen Unterweisung und der praktischen Zusammenarbeit. Das ist ein ziemlich ausführlicher Bereich, auf den ich aber im Einzelnen nicht eingehen möchte. Das Wichtigste für unsere Zusammenarbeit scheint mir zu sein, dass hier auch so etwas auf uns zukommt wie der Wille zu einer ökumenischen Kooperation. Eine ökumenische Kooperation wird eine der großen und ganz gewichtigen Aufgaben der nächsten Zukunft sein und ich denke, dass diese auch große Aussichten im ganzen Bereich der Welt hat, zumal da die ökumenische Diakonie zu den ganz großen, gewichtigen Dingen gehört, die der Kirche von heute im Blick auf die weite Welt gemeinsam aufgetragen sind. Ich komme nun zu dem letzten Punkt, zu dem ich ein paar Worte sagen möchte, weil er uns besonders angeht im Ökumenismusdekret, nämlich zu der Stellungnahme des Konzils zu den getrennten Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften im Abendland. Hier sind wir als evangelische Christen vor der katholischen Hörerschaft des Dekrets beschrieben, indem von uns geredet wird, wer wir sind, wie wir von dort gesehen werden, und man muss sagen, es sind hier einige erstaunliche und wichtige Dinge ausgesprochen worden. Es ist klar, dass es für die katholische Kirche schwierig ist, den Protestantismus etwa auf eine gemeinsame Formel zu bringen. Dies könnten wir bei vieler Gegensätzlichkeit und Verschiedenartigkeit leichter selbst unternehmen. Aber es ist klar, dass es nicht die Aufgabe des Konzils sein konnte, sozusagen eine Bestimmung und Definition des Wesens des Protestantismus zu geben. Es ist aber deutlich zum Ausdruck gebracht, dass es nach der römisch-katholischen Überzeugung ganz bestimmte Dinge gibt, die den Protes-

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tantismus kennzeichnen, z. B. das Bekenntnis zu Christus. »Unser Geist wendet sich erst den Christen zu, die Jesus Christus als Gott und Herrn und einzigen Mittler zwischen Gott und den Menschen offen bekennen zur Ehre des einen Gottes. Wir wissen zwar, dass nicht geringe Unterschiede gegenüber der Lehre der katholischen Kirche bestehen. Insbesondere über Christus als das fleischgewordene Wort Gottes und über das Werk der Erlösung, sodann über das Geheimnis im Dienst der Kirche und über die Aufgabe Mariens im Heilswerk. Dennoch freuen wir uns, wenn wir sehen, wie die getrennten Brüder zu Christus als Quelle und Mittelpunkt der kirchlichen Gemeinschaft streben. Aus dem Wunsch zur Vereinigung mit Christus werden sie notwendig dazu geführt, die Einheit mehr und mehr zu suchen und für ihren Glauben überall vor den Völkern Zeugnis zu geben.« In der Tat, das gehört zum Wesen des Protestantismus, die Überzeugung, ganz besonders das Bekenntnis zu Christus in den Mittelpunkt zu stellen und alles andere demgegenüber an die zweite und dritte Stelle zu rücken. Von hier aus käme auch eine neue Frage im Hinblick auf die eben angedeutete Erörterung über die »Hierarchie der Wahrheiten«, worüber noch an späterer Stelle bei der Diskussion gesprochen werden muss. Es wird dann von den Protestanten besonders ihre Stellung zur Heiligen Schrift gerühmt, ihre Hochschätzung und Liebe, ja fast kultische Verehrung und unablässiges und beharrliches Studium dieses Heiligen Buches. Und dann kommt der berühmte Text, wie er im Konzil festgelegt wurde nach einer Vorformulierung, die uns vielleicht noch mehr zugesprochen hätte, als im Text hier steht. Er sagt Folgendes: dass wir »unter Anrufung des Heiligen Geistes in der Heiligen Schrift Gott, wie er zu uns spricht, in Christus, suchen«, nämlich »der von den Propheten vorherverkündigt wurde und der das für uns fleischgewordene Wort Gottes ist«. »In der Heiligen Schrift betrachten (wir als Protestanten) das Leben Christi und was der göttliche Meister zum Heil der Menschen gelehrt und getan hat, insbesondere die Geheimnisse seines Todes und seiner Auferstehung.« An dieser Stelle kommt eine Frage auf uns zu, die wir noch diskutieren müssen, nämlich welche Autorität der Heiligen Schrift in der Kirche zukommt. Zweifellos ist das eine der ganz zentralen Fragen. Zum Schluss wird dann noch etwas gesagt über Taufe und Abendmahl, und es wird unterstrichen, dass die Taufe zwischen uns allen ein »sakramentales Band der Einheit« begründet. Dennoch ist sie nur ein Anfang und Ausgangspunkt, da sie ihrem Wesen nach auf die Erlangung der Fülle des Lebens in Christus zielt. Und hier kommt dann das Problem, warum zwar uns alle das sakramentale Band der Taufe verbindet, warum aber auf der anderen Seite dies für das heilige Abendmahl nicht Geltung haben kann, weil, wie es hier formuliert ist, »die ursprüngliche und vollständige Wirklichkeit des eucharistischen Mysteriums« in den protestantischen Kirchengemeinschaften nicht voll bewahrt worden ist. Aber nun zum Ende. Diesen kleinen Abschnitt muss ich doch einmal vorlesen, da er für uns eine ergreifende Beschreibung evangelischen Christenglaubens und evangelischen Christentums darstellt und darum vielleicht das Überraschendste und Überwältigendste darstellt, was überhaupt bisher je von Seiten einer katholischen Autorität zur evangelischen Kirche gesagt worden ist. »Das christliche Leben dieser Brüder wird genährt durch den Glauben an Christus, gefördert durch die Gnade der Taufe und das Hören des Wortes Gottes. Das zeigt sich im privaten Gebet, in der biblischen Betrachtung, im christlichen Familienleben und im Gottesdienst der zum Lobe Gottes versammelten Gemeinde.

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Der Christusglaube zeitigt seine Früchte in Lobpreisung und Danksagung für die von Gott empfangenen Wohltaten. Hinzu kommen ein lebendiges Gerechtigkeitsgefühl und eine aufrichtige Nächstenliebe. Dieser werktätige Glaube hat auch viele Einrichtungen zur Behebung der geistigen und leiblichen Not, zur Förderung der Jugenderziehung, zur Schaffung menschenwürdiger Verhältnisse im sozialen Leben und zur allgemeinen Festigung des Friedens hervorgebracht.« Dieser Text, meine ich, kann nur mit Dankbarkeit, aber auch nicht ohne eine gewisse Beschämung zur Kenntnis genommen werden. Denn wir könnten dazu nur sagen: Gott gebe, dass es unter uns immer so ist, wie es hier ausgesprochen wird. So erweckt das Dekret große Hoffnungen. Unsere Dankbarkeit gegen Gott für das bisher Anerkannte und Ausgesprochene ist, meine ich, berechtigt. Aber das Dekret weiß auch zugleich selbst um die Schwierigkeiten, deren Überwindung, wie es selbst aussagt, alle menschlichen Kräfte und Fähigkeiten übersteigt. Und darum hofft das Konzil ganz und gar auf das Gebet Christi für die Einheit. Nun beginnt der Dialog, und im Dialog müssen wir ausgehen von der Kernfrage des Ganzen, nämlich von der Frage: Wie steht es um die eine Kirche Christi? Hier möchte ich den Herrn Kardinal gern fragen, was der Sinn der Ausführungen über die Einheit der Kirche ist, da hier ja jene kritische Frage im Hintergrund steht. Versteht sich die römisch-katholische Kirche wirklich als die, die schlechthin mit der Kirche Christi identisch ist, und wie versteht sie von hier aus die Christen außerhalb der römischkatholischen Kirche? Ich will es so scharf formulieren, weil damit die in unseren Kreisen lebendige Frage ganz deutlich herauskommt. VON BISMARCK: Es ist jetzt notwendig, dass wir uns dem Katalog kritischer Fragen nüchtern stellen.

II. BECKMANN: Die erste wichtige Grundfrage, die sich uns für das Gespräch stellt, ist die Frage nach der Kirche, nach dem Kirchenbegriff. Hier wird sie in Zusammenfassung des großen Wortes über die Kirche in einem kurzen Satz geboten, und dabei ist formuliert: »Jesus Christus will, dass sein Volk durch die gläubige Predigt des Evangeliums und die Verwaltung der Sakramente durch die Apostel und durch ihre Nachfolger, die Bischöfe, mit dem Nachfolger Petri als Haupt, sowie durch ihre Leitung in Liebe unter der Wirksamkeit des Heiligen Geistes wachse« usw. JAEGER: Hierhinter steht die Frage nach dem Selbstverständnis der römischkatholischen Kirche, wie sie sich theologisch formuliert als Kirche Christi und römischkatholische Kirche. Auf diese Frage, meine ich, sollten wir zunächst einmal zu sprechen kommen. Das ganze Ökumenismusdekret und noch mehr die Konstitution »Über die Kirche« zeigen deutlich und unmissverständlich, dass sich die römisch-katholische Kirche als die

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Kirche Jesu Christi versteht. Und ich habe eben bei dem Hinweis auf die TorontoFormel festgestellt, dass ja auch im Weltkirchenrat jede Kirche sich von ihren Voraussetzungen her versteht und sich zu den anderen Kirchen hin öffnet. Und so auch die katholische Kirche. Aber diese römisch-katholische Kirche ist durchaus offen für die ekklesialen Elemente, die sich auch in den getrennten Kirchen zeigen. Sie haben ja selber das hervorgehoben, was das Dekret über die evangelische Kirche sagt. Ich glaube, dass man weiter dabei im Auge behalten muss, dass die Kirche niemals behauptet und irgendwie unterstellt, dass sie ihre Vollendung schon erreicht hätte. Vielmehr erklärt sie, dass sie auf dem Wege ist, um diese Kirche der eschatologischen Vollendung, die Braut des Herrn, sine ruga et macula, ohne Falten und Runzeln, darzustellen. Ein Hochziel, das erst in der Kirche in der Vollendung des eschatologischen Volkes Gottes erreicht sein wird. BECKMANN: Die Kernfrage der Auslegung der Heiligen Schrift an dieser Stelle wird natürlich die sein, ob die römisch-katholische Exegese, die ja auch in unserem Dekret kurz wiederholt wird, im Neuen Testament eine feste Grundlage hat, nämlich dass die Nachfolger der Apostel die Bischöfe sind, das Bischofskollegium entsprechend dem Kollegium der Zwölf, und dass der Nachfolger Petri – nicht nur Petrus als der erste damals in Jerusalem, sondern der Nachfolger Petri als solcher – darum auch an die Stelle des ersten im Kollegium der Zwölf für alle Zukunft eingetreten ist. Die Frage ist von uns zu stellen, ob das aufgrund der Heiligen Schrift sich zwangsläufig und unwidersprechlich ergeben muss. JAEGER: Ich denke, wir sind uns darin einig, dass die Heilige Schrift der Niederschlag der Verkündigung des Glaubens und des Lebens der Kirche in der Zeit der Apostel ist. Und da es in jener Zeit noch keinerlei Reflexion theologischer Art über die apostolische Amtsnachfolge gegeben hat, kann man infolgedessen in der Schrift unmöglich schon die Gliederung der Kirche, den organisatorischen Aufbau expressis verbis aufweisen. Wohl aber sind alle jene Ansätze da, die schon in der nachapostolischen Zeit den Episkopat, den Primat, kurz die Hierarchie der Kirche, sich entfalten lassen. BECKMANN: Wir kommen noch einmal zurück auf die Frage nach der alleinigen Autorität der Heiligen Schrift im Hinblick auf das kirchliche Lehramt. Aber es wird vielleicht gut sein, wenn wir an dieser Stelle zu der zweiten Frage übergehen, die ja auch zum Kirchenproblem gehört. Das Verhältnis der katholischen Kirche zu den außer ihr zusammengeschlossenen Kirchen und den getrennten Brüdern überhaupt ist positiv bestimmt durch das sakramentale Band der Taufe. Dies ist, glaube ich, kein Streit zwischen uns. Wir alle bejahen, dass es dieses sakramentale Band der Taufe gibt, da wir durch die Taufe in den Leib Christi eingefügt sind. Nun stehen hier zwei Dinge, die für uns wichtig sind. Es heißt hier im Dekret, Ziffer 3: »Wer an Christus glaubt und in der rechten Weise die Taufe empfangen hat.« Das ist die erste Frage. Was steht hinter dem Wort »in der rechten Weise«? Und zweitens: Was ist gemeint mit der »gewissen, wenn auch nicht vollkommenen Gemeinschaft«? Diese Formulierung ist knapp, und man müsste vielleicht etwas deutlicher sagen, was diese beiden Begriffe bedeuten. JAEGER: Für uns ist die Taufe für die Zugehörigkeit zur Kirche conditio sine qua non, und die rechte Form, die rechte Spendung der Taufe ist eben die vom Herrn in der

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Schrift gegebene Form, die Anweisung des Übergießens des Wassers oder des Untertauchens oder der Besprengung mit Wasser unter dem Sprechen der trinitarischen Taufformel. Überall, wo diese Taufe in der rechten Weise gespendet wird, ist damit auch für den Getauften die Teilhabe an dem Gnadenleben, das der Herr schenkt, gegeben. BECKMANN: Ich danke für diese Erklärung. Das müsste ja zur Folge haben, meiner Überzeugung nach, dass die bisher geübte Praxis der Konditionaltaufe zwischen uns durch eine feste Erklärung über die rechte Weise der Taufspendung aus der Welt geschafft werden könnte. Das wäre eine große Sache. JAEGER: Herr Präses, ich habe schon wiederholt erklärt, dass die Taufe überhaupt kein kontroverstheologisches Problem zwischen uns ist, höchstens ein disziplinäres Problem. Wenn die Taufe korrekt gespendet ist, kann und darf, und zwar unter Sünde, niemand den Versuch machen, diese Taufe anzuzweifeln oder zu wiederholen. Aber hier liegt eben die Not. Weil das Taufverständnis bzw. die Auffassung über die Notwendigkeit der Taufe nicht überall die gleiche ist oder nicht zu allen Zeiten so obligatorisch gesehen worden ist, ist hier und da bei der Spendung der Taufe leichtfertig umgegangen worden. Es ist schon eine rechte Not, auch für den katholischen Pfarrer, wenn er nicht die Gewissheit bekommen kann, hier ist genau nach der Agende, unter gewissenhafter Innehaltung und Beobachtung der in der Agende gegebenen Anweisung, getauft worden. Es ist schmerzlich, wenn, um die Gewissheit der Taufe zu garantieren, zu einer bedingten Spendung geschritten wird, die ja erfolgt unter der Formel: »Falls Du noch nicht getauft sein solltest«, also conditio, Bedingung, »dann taufe ich Dich jetzt«. Ich habe die ganz innige Bitte: Räumen wir doch diese Angelegenheit zwischen den Kirchen aus und suchen wir der Not der Brüder auf der anderen Seite gerecht zu werden, indem wir uns gewissenhaft an das halten, was die Kirchenleitung mit der Agende vorgeschrieben und festgesetzt hat. BECKMANN: Vielen Dank! Ich hoffe, dass wir hier auf einem Wege sind, der zu einer allgemein anerkannten Lösung zwischen uns führen wird. JAEGER: Ich darf vielleicht zum Erweis der Richtigkeit dessen, was ich sagte, darauf hinweisen, dass von uns die in der bayerischen Landeskirche gespendeten Taufen immer als gültig angesehen worden sind. BECKMANN: Das tut uns auch im Rheinland wohl, dass so etwas gesagt wird. Ich glaube, wir werden der Zeit wegen zu einem dritten Punkt übergehen müssen. Hier steht, wie wir alle seit langem wissen, die Frage nach der Vergebungsbitte vor uns. Die Evangelische Kirche in Deutschland hat seinerzeit, ich glaube vor gut einem Jahr, bereits auf die ausgesprochene Bitte des Papstes geantwortet. Für uns ist natürlich die Schwierigkeit die, dass es im Protestantismus keine Stelle gibt, die für alle sprechen kann. Der Ökumenische Rat der Kirchen als solcher wäre wahrscheinlich nicht in der Lage, für die gesamte Christenheit, die zu ihm gehört, auf eine solche Bitte generell zu antworten. Jedenfalls habe ich deswegen den Wunsch, dass darüber noch zwischen den Beteiligten gesprochen wird. Wir bitten die katholischen Brüder, Verständnis dafür zu haben, dass auf die uns ja so

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von Herzen angehende Bitte nicht spontan und ursprünglich geantwortet werden kann. Dies zum Verständnis dieser schwierigen Frage. Wir müssen uns ja auch darüber klar werden, worum es sich dabei im Konkreten handelt und welche Folgerungen sich hieraus für unser Zusammensein ergeben werden. JAEGER: Wenn das Konzil als Voraussetzung für wirkliche ökumenische Arbeit Einkehr und Umkehr, Bußgesinnung verlangt, dann sind das nicht leere Worte; denn der Anlass zu der ganzen Kirchenreform, die jetzt im Konzil eingeleitet wird, entsteht eben aus der Menschlichkeit und Sündhaftigkeit der Kirche, soweit sie menschliche und irdische Einrichtung ist. Die Kirche ist in der Welt. Somit sind Mängel und Deformationen, historische Fehler und persönliche Schuld, Sünde und Laster nicht nur grundsätzlich möglich, sondern immer wieder auch traurige Wirklichkeit. So heute, so in den vergangenen Jahrhunderten. Die Notwendigkeit der Kirchenreform, die hier im Dekret (im 6. Artikel) so stark unterstrichen wird, ergibt sich nicht aus irgendwelchen opportunistischen Zeitgründen, Fortschrittsbegeisterung, Änderungsfreudigkeit, Modernität, mechanischer Anpassung, Angst vor dem Kommunismus und was immer da sein mag, sondern primär aus der Forderung des Herrn der Kirche im Evangelium, der die Kirche zur neuen Gerechtigkeit, Heiligkeit und Freiheit ruft. Kirchenreform ist nicht in das Belieben der Kirche oder der Kirchenleitung gestellt, sondern ist die der Kirche und ihrer Leitung vom Herrn gestellte Aufgabe und Möglichkeit zugleich. Und ich bitte, auch die Äußerungen des Konzils und Johannes‘ XXIII. und Pauls VI. in diesem Sinne verstehen zu wollen. Die Bitte um Vergebung ist für die Kirche die Erfüllung von Gottes Willen in der Nachfolge Christi im Hinblick auf das Kommen des Reiches. Voraussetzung für diese Reformwilligkeit ist das ehrliche Leiden an der unreformierten Kirche, das Gebet für die Erlösung von allem Übel. Die Hindernisse für diese Reform, für diese echte Buße und Umkehr sind beispielsweise die Indifferenz, kirchliche Selbstzufriedenheit, illusionäre Beurteilung der Lage der Kirche, oberflächliche, verengte oder einseitige Ekklesiologie, defätistische Ordnungslosigkeit und anderes mehr. Aber ich wäre sehr, sehr dankbar, wenn jedes Misstrauen, was da noch immer zwischen den Kirchen steht, doch ausgeräumt würde und wir in der Anerkennung unserer Sünden und Fehler und im Gespräch miteinander alle Voraussetzungen schaffen würden für die vertrauensvolle Zusammenarbeit, die unter Christen einfach notwendig ist, wenn Christentum nicht zum Ärgernis für die ganze Welt werden soll. VON BISMARCK: Ich darf Ihnen den Text, einen Satz, verlesen. Es heißt in dieser sogenannten »Schulderklärung« im Dekret, dass es zur Trennung recht großer Gemeinschaften von der vollen Gemeinschaft der katholischen Kirche oft nicht ohne Schuld der Menschen auf beiden Seiten gekommen ist. Ich möchte den Herrn Kardinal fragen: Ist nicht ein solch öffentliches Bekenntnis auch der Schuld der katholischen Kirche doch sehr neu und beachtenswert? JAEGER: Das ist psychologisch leicht verständlich. Sie müssen den Schock verstehen, unter dem die Kirche zur Zeit des Tridentinum stand, und müssen verstehen, dass jeder verletzte Organismus sofort Abwehrstoffe bildet und sogleich aus sich heraus alles versucht, um dieser Verwundung zu wehren und die Verletzungen immun zu machen, dass sie nicht zu einer Gefährdung des Gesamtorganismus führen.

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VON BISMARCK: Vielen Dank für diese offene Antwort! BECKMANN: Wir sind uns darin einig, dass die Gemeinschaft beim Gottesdienst im Blick auf die tiefgreifenden Unterschiede in der Lehre der Kirche überhaupt und auch speziell in der Lehre über das Sakrament des Abendmahls – dass eine solche Gemeinschaft zwischen uns nicht möglich ist. Wäre sie möglich, wäre ja die Kirche eins in der vollkommenen Weise. Dagegen haben wir an dieser Stelle eine Frage. Die Frage nämlich, da bei den Worten des Dekrets nur vom Gebet geredet wird, ob darin eingeschlossen ist, was wir für entscheidend wichtig halten würden: die Lesung der Heiligen Schrift und auch die Auslegung der Schrift. Hier ist die Rede davon: »Es ist erwünscht, dass sich die Katholiken mit den getrennten Brüdern im Gebet zusammenfinden.« Gebetsgottesdienste werden hier als eine echte Bezeugung für das Band, mit dem alle Christen verbunden sind, bezeichnet. Wir meinen jedoch, dass es gerade im Blick auf Matthäus 18, Vers 20 »Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen …«, das hier zitiert wird, nicht möglich ist, versammelt zu sein, ohne dass das Wort Christi selbst auch hier zu Wort käme. Ich denke, dass das nicht durch das Dekret ausgeschlossen sein soll. JAEGER: Das ist durch das Dekret auch nicht ausgeschlossen. Es ist vielleicht das Dekret missdeutet worden unter dem Eindruck der Erklärung oder Anweisung, die von den deutschen Bischöfen bei ihrer Versammlung in Hofheim im März dieses Jahres ergangen ist über die gemeinsamen Gottesdienste katholischer und nicht-katholischer Christen. Ich darf zum Verständnis dieser Verlautbarung darauf hinweisen, dass vorausgegangen waren die Ratschläge für die Begegnung evangelischer und katholischer Christen, die im Januar des Jahres 1965 von der VELKD erlassen und später auch von der EKD empfohlen worden waren. Und darum suchten die katholischen Bischöfe in ihrer Anweisung alles zu vermeiden, was unter Umständen die nicht-katholischen Christen, also evangelische Brüder, in Gewissensbedrängnis bringen würde, wenn sie etwa eingeladen würden zur gemeinsamen biblischen Meditation, zur Feier der Agape usw. Das Dekret des Ökumenismus ist ein ganz weit gesteckter Rahmen, aber nur ein Rahmen, in dem nicht nur das Gebet, sondern auch die Bibellesung, auch die biblische Meditation möglich ist, in dem vor allen Dingen auch die gemeinsame theologische Arbeit gewünscht und erfordert wird. Ein Rahmen, der noch ausgefüllt werden muss durch die Landeskonferenzen der Bischöfe. Das konnte vom Konzil nicht geschehen, weil die politischen, die sozialen, die kulturellen Verhältnisse der einzelnen Länder zu unterschiedlich sind, um zu wissen, was möglich und was nicht möglich ist, welche Zusammenarbeit über den rein religiösen Bereich hinaus dort durchführbar ist und was nicht oder noch nicht empfohlen werden kann. BECKMANN: Ich denke, wir können noch einmal zurückkommen auf die angedeutete Frage nach der Rangordnung oder Hierarchie der Wahrheiten. Wir sind uns sicher darüber einig, dass es sich hier um eine sehr schwere theologische Frage handelt, die auch jetzt gar nicht zwischen uns so interpretiert werden kann, dass alle in Kürze verstehen können, was hier auf dem Spiel steht; denn es würde ja vielleicht deutlich werden müssen, dass es bei der Frage der Hierarchie der Wahrheiten zwischen den Konfessionen je eine andere hierarchische Wahrheitsordnung gibt. Das wird sogar zum Wesen der Verschiedenartigkeit der Bekenntnisse gehören, dass sie in der Hierarchie der Wahrheiten

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bestimmte Dinge umgestellt haben und dass deswegen in der Tat hier eine Forschungsarbeit einsetzen muss, an der man auf die ganz harten, schweren Probleme stoßen wird, zu denen ich z. B. bei der Hierarchie der Wahrheiten nennen würde: den Grundbegriff der Reformation in der Rechtfertigung durch Glauben. Hier ist eine von den ganz großen und schweren Differenzen, und es würde sich beim Hierarchiestudium zeigen, dass dies eine integrale Bedeutung für das Gesamte hat. JAEGER: Ganz zweifellos stoßen wir hier auf die eigentlich zentralen kontroverstheologischen Fragen. Fragen, um die aber auch der theologische Arbeitskreis, in dem Altbischof Professor Dr. Stählin mit mir zusammen präsidiert, nun schon seit 17 Jahren sich bemüht. Und wir haben die Begriffsinhalte Glaube, Gnade usw. weithin doch schon abgeklärt. Die Unterschiedlichkeit liegt nicht da, wo eine primitive Kontroverstheologie sie sieht, sondern sie ist viel diffiziler und feiner und kann mit grobschlächtigen Methoden nicht gefasst werden. Denn wir müssen ja immer uns bei der theologischen Diskussion bewusst bleiben, dass Luther aus dem Katholizismus kam. Und wenn er auch Grundbegriffe anders verstand, so spürt man doch immer noch die Provenienz aus der spätmittelalterlichen Schultheologie, aus der augustinischen Tradition, aus der Dogmatik der Kirche. Und es ist für den gelehrten Theologen verhältnismäßig leicht, dann zu zeigen, wie weit reicht hier noch das gemeinsame Verständnis katholischer und evangelischer Glaubensauffassung und wo liegen jetzt die Unterschiedlichkeiten. Nur können wir das hier nicht in extenso behandeln; es brauchte ein eigenes wissenschaftliches Forum, um das abzuklären. BECKMANN: Es war sicher interessant zu hören, dass es hier Wahrheiten des Ziels und der Ordnung gibt. Wir werden auch darüber nachzudenken haben, auch im Gespräch, wie weit sie in Verbindung miteinander stehen und wie weit sie diskutabel sind. Ich erinnere daran, dass kein Geringerer als Luther in den Schmalkaldischen Artikeln damals zum Ausdruck gebracht hat, dass es erstens einen Bereich von Wahrheiten gibt, über die kein Streit ist: Das sind die großen grundlegenden Wahrheiten des altkirchlichen Dogmas. Dann Wahrheiten, über die man nur bekenntnismäßig reden kann, die also nicht zur Diskussion stehen können; das war die Rechtfertigungstheologie. Und dann der große Bereich der Wahrheiten, über die man unter vernünftigen Christenleuten sprechen könnte. Aber, das Kardinale in dem Ganzen steckt natürlich in der Mitte: in der Frage der Rechtfertigung des Sünders durch Glauben. JAEGER: Dass man diese Hierarchie der Wahrheiten zu wenig gesehen und zu wenig beachtet hat im Gespräch der Konfessionen, ist eines der Haupthindernisse, dass die Verständigung im theologischen Bereich nicht weiter gediehen ist. Und ich bin der Ansicht, genau wie es der Erzbischof Pangrazio von Görz vor dem versammelten Konzil auseinandergesetzt hat, dass hier bereits eine Einheit der Christen im gemeinsamen Glauben und Bekennen derjenigen Wahrheiten, die zur Ordnung des Zieles gehören, vorhanden ist und dass wir von dort aus in den primären Wahrheiten der christlichen Religion schon eine Familie bilden. Und über die anderen müsste dann sehr ernsthaft gesprochen werden und sehr intensiv. Das kann man nicht machen mit irgendeinem leicht hingeworfenen Zeitungsartikel, das geht auch nicht einfach in einem Podiumsgespräch, sondern da muss schon ein ernsthaftes theologisches Bemühen einsetzen, um an

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Hand der Bekenntnisschriften, an Hand der Heiligen Schrift, an Hand der Lehren der Kirche die Gemeinsamkeit zu erarbeiten oder zumindest ein gegenseitiges Verständnis zu erreichen. VON BISMARCK: Herr Kardinal, darf ich dazu noch eine Frage stellen, um diese Versammlung richtig zu informieren? Wie sind die bisherigen Beschlüsse des Konzils zu verstehen? Handelt es sich bei den bisherigen Beschlüssen des Konzils überhaupt um Dogmen, also um nicht bezweifelbare Glaubenssätze der katholischen Kirche? Wie weit handelt es sich um Empfehlungen, um reine Ratschläge? Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie die Bedeutsamkeit oder den Rang der Konzilsbeschlüsse noch ein wenig interpretieren könnten, weil ich weiß, dass es hier Unklarheiten gibt. JAEGER: Ich darf Ihnen da mit Folgendem antworten: Nach der ersten oder während der ersten Sitzungsperiode dieses Konzils sagte mir ein deutscher Konzilsbeobachter: »Ich hätte niemals geglaubt, dass die katholische Theologie derartige Möglichkeiten in sich birgt und dass so unterschiedliche Auffassungen über diese und jene Frage bestünden. Ich hatte ein völlig falsches Bild von der Kirche. Ich hatte sie immer als einen großen monolithischen Block gesehen, der starr und unbeweglich, in allen Dingen uniform und homogen einer Meinung ist.« Ich glaube, das kann man auch nicht nur von der Kirche auf dem Konzil sagen, sondern von der katholischen Theologie überhaupt. Es ist ja auch das vorauszusetzen: Ein theologisches Bemühen durch 2000 Jahre, das mit solcher Liebe, mit solcher Intensität gepflegt worden ist, an dem die größten Geister der Jahrhunderte mitgearbeitet haben, muss ja, wie von vornherein anzunehmen ist, eine ungeheure Fülle des Reichtums der Aussagen in sich schließen, die aber immer, basierend auf der Schrift, ausgerichtet oder normiert durch das kirchliche Lehramt, hingerichtet sind auf das eine Ziel, das Evangelium, so wie es in Schrift und Tradition überkommen ist, weiterzugeben.1 BECKMANN: Vielleicht ist jetzt der Augenblick, unter Überschlagung einiger Zwischenfragen auf die andere große Frage einzugehen, nämlich auf die Frage nach der göttlichen Autorität der Heiligen Schrift und die Autorität des kirchlichen Lehramtes. Hier ist ja einer von den »rochers de bronce« des Protestantismus: das sola scriptura, die schlechthinnige Überordnung der Heiligen Schrift als des Wortes Gottes über die Kirche mit dem berühmten Satz aus der Reformation: verbum dei condit articulos fidei, Gottes Wort gründet Glaubensartikel, außer ihm niemand; keine Kirche, kein Mensch ist imstande, aus eigener Vollmacht Dogmen zu formulieren. Hier steht ja ein zentraler Punkt 1

Schriftlicher Zusatz nach Abschluss des Gesprächs: Das II. Vatikanische Konzil wollte keine neuen unfehlbaren dogmatischen Lehrentscheidungen vorlegen, sondern die authentische Lehre der Kirche verkünden. Dabei kommen der dogmatischen Konstitution »Über die Kirche« eine größere Autorität und ein höherer theologischer Gewissheitsgrad zu als den pastoralen Dekreten des Konzils. – Auch bei den feierlichen Aussagen der genannten Konstitution über das Kollegium der Bischöfe handelt es sich nicht um eine neue unfehlbare dogmatische Entscheidung, sondern um die mit der Autorität des Konzils vorgetragene authentische, in Schrift und Tradition begründete Lehre. Von großer Wichtigkeit ist die amtliche Feststellung der Theologischen Kommission des Konzils, dass die Konstitution »Über die Kirche« keine vollständige und abgeschlossene Ekklesiologie bieten will.

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zur Diskussion. Wenn wir einig sind, dass die Heilige Schrift Gottes Wort ist, dann ist die Frage, ob es dazu eines die Heilige Schrift authentisch interpretierenden Lehramtes bedarf, oder ob man nicht daran festhalten muss, dass die Heilige Schrift als das lebendige Wort Gottes dieses Lehramt selbst innehat. Dies, glaube ich, ist eine Kernfrage, eine große, schwere Frage zwischen den Konfessionen. JAEGER: Herr Präses, ich glaube, dass wir hier in manchen Punkten auch sehr schnell einig sind. Erinnern Sie sich bitte an die Vorlage, die die Kommission »Faith and Order« für die Tagung in Montreal erarbeitet hat, wo ausdrücklich drinstand, sola scriptura allein genügt nicht, die Schrift allein genügt nicht; es muss notwendig die Tradition dazukommen.2 Und ich glaube, dass heute alle Theologen profunder Art sich dazu bekennen; denn schon die Frage nach dem Kanon kann ja gar nicht anders gelöst werden, und es gibt darüber hinaus eine Fülle von anderen Fragen. Aber ich darf, zurückgehend auf den Ausgangspunkt Ihrer Frage, zunächst einmal feststellen: Durch die Inspiration ist die Schrift ein Werk Gottes geworden, als Objektivation des Glaubens der Urkirche. Sie ist damit bleibende Norm der Glaubenslehre späterer christlicher Zeiten. Es setzt aber nun doch, und mit Recht, die Arbeit der Theologie ein. Theologie ist, wenn ich sie recht sehe, nicht nur wissenschaftlich-methodische Reflexion auf das Glaubensbewusstsein der Kirche, sondern das Glaubensbewusstsein der Kirche wird selber mit Hilfe dieser Reflexion entfaltet. Es kommt reflex zu sich selbst, führt nicht nur zu einem tieferen Glaubensverständnis, sondern auch zu neuen Glaubenssätzen. Für das katholische Glaubensverständnis ist somit Theologie nicht bloß die unverbindliche menschliche Reflexion bleibender reformabler Art auf eine unveränderliche Größe, also hier die Schrift, sondern die Weise, in der absolute Glaubensgeschichte wird, irreversibel, also nicht rückkehrbar, sondern nur noch nach vorne offen. Aber solche Glaubensgeschichte mittels theologischer Reflexion als einem ihrer konstitutiven Momente bleibt dennoch immer an den Anfang gebunden, an die Offenbarung Jesu Christi in der apostolischen Zeit, die sich in der Schrift rein und als normans non normata objektiviert hat. Jetzt kommt das Wichtige: Das Lehramt, das autoritativ unter dem Beistand des Heiligen Geistes die Schrift interpretiert, stellt sich nicht über die Schrift, sondern mit ihrer Interpretation unter die Schrift. Das Lehramt weiß und ist sich dessen ständig bewusst, dass ihm die Schrift als geistgewirkte und unter dem Beistand des Heiligen Geistes gelesene das Richtige sagt. So 2

Schriftlicher Zusatz nach Abschluss des Gesprächs: In einem der Studiendokumente für die Tagung in Montreal hieß es: »scriptura nunquam sola«. Die Heilige Schrift ist entstanden als Niederschlag der vorhergehenden Tradition. Sie kann nur angenommen und verstanden werden im Zusammenhang mit dieser Tradition. Die Reformatoren des 16. Jahrhunderts haben das eigentliche theologische Problem der Tradition kaum oder gar nicht gesehen, weil sie die Tradition fast immer als »Menschensatzung« in Gegensatz stellten zum »Wort Gottes«. Auch die Väter des Konzils von Trient brauchten lange Wochen, bevor sie die eigentliche theologische Fragestellung für das Dekret über die Tradition herausgearbeitet hatten. Das Dekret sollte ursprünglich ergänzt werden durch eine Lehre über das Wirken des Heiligen Geistes in der Kirche, namentlich in der kirchlichen Verkündigung und in der Auslegung der Heiligen Schrift. Jedoch kam das Konzil von Trient nicht mehr zu dieser namentlich von Kardinal Cervini angeregten Ergänzung. Das II. Vatikanische Konzil hat die Probleme der Tradition und ihres Verhältnisses zur Heiligen Schrift erneut diskutiert und wird in der vierten Konzilsperiode im Dekret »Über die Offenbarung« eine Erklärung darüber veröffentlichen.

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bleibt die Schrift normans non normata sowohl für die Theologie als auch für das Lehramt der Kirche. Die Schrift selbst ist auch immer das Aktuelle in der Kirche, ja das jetzt amtlich Verkündete. Wenn also der katholische Dogmatiker die aktuelle kirchliche Lehre als den unmittelbaren Gegenstand seines Nachdenkens zugewiesen bekommt, so weist man dem Dogmatiker gerade damit auch die Schrift als unmittelbaren Gegenstand seiner dogmatischen Forschung zu. Die Schrift also ist es, mit der der Dogmatiker sich unmittelbar zu beschäftigen hat, da er die Schrift nicht von der aktuellen Kirchenlehre adäquat scheiden kann. VON BISMARCK: Darf ich, bevor ich Herrn Präses Beckmann Raum für eine letzte Frage gebe, ein Stichwort von Herrn Kardinal Jaeger aufnehmen und als Frage an Herrn Präses Beckmann richten? Der Herr Kardinal hat eben sehr klar gesagt, dass, jedenfalls nach der Konzeption der katholischen Kirche, das Lehramt nicht über der Schrift, nicht über dem Wort steht. Und er hat betont, dass eben die Kirche auch aus Erde gemacht, ein irdenes Gefäß ist. Meine kritische Frage an Präses Beckmann lautet: Kann es nicht auch geschehen, dass die Kirchen der Reformation bewusst oder vor allem unbewusst so viel Tradition angesammelt haben, dass sie ihre Lehre vom Wort praktisch über das Wort stellen? Dass sie ihre Lehre vom Wort wie eine heilige Sache vor sich hertragen und dabei gar nicht merken, wie sehr sie nicht nur vom Wort, sondern auch von der Geschichte bestimmte Kirchen sind? BECKMANN: Als Antwort an beide, ganz kurz, erstens: Es ist hoffnungsvoll, wenn das Wort von der Schrift als der norma normans gesagt werden kann. Es ist zweitens hoffnungsvoll, wenn sogar das kirchliche Lehramt als dieser Schrift unterworfen interpretiert werden kann. Wahrlich ein hoffnungsvoller Ansatz! JAEGER: Ich darf einfügen: Jedem Bischof wird bei der Bischofsweihe das Evangelium auf Kopf und Schulter gelegt, um ihm zu zeigen: Du stehst unter dem Wort. BECKMANN: Dritter Satz: Hoffnungsvoll ist auch die in beiden Kirchen anfangende neue Besinnung auf Schrift und Tradition. Auch in der evangelischen Theologie wird man sagen, dass es ihr nach Abklingen der großen Gegensätze im 17. Jahrhundert deutlich geworden ist, dass sie selbst eine Tradition gebildet hat und dass sie damit rechnen muss, dass auch ihre eigene Tradition bei der Erkenntnis der Schrift ihr zur Seite, aber auch im Wege steht. Dies hat aber zur Folge, dass eine Rangordnung zwischen Schrift und Tradition so formuliert wird, die deutlich macht, dass die Tradition norma normata und die Heilige Schrift norma normans bleibt. Wir erwarten ja noch ein Wort über die Schrift und Tradition in der letzten Session. Wir sind sehr gespannt, wie das ausfallen wird. Leider haben wir keine Zeit mehr, uns hier darüber weiter zu verbreiten. Ich habe noch eine letzte Frage, die ist nicht unwichtig. Sie betrifft nämlich das heilige Abendmahl. In dem letzten Abschnitt über sakramentales Leben heißt es: »Obgleich nach unserem Glauben vor allem wegen des Fehlens des Weihesakramentes die ursprüngliche und vollständige Wirklichkeit des eucharistischen Mysteriums nicht bewahrt worden ist (von uns nämlich), bekennen sie doch bei der Gedächtnisfeier des Todes und der Aufer-

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stehung des Herrn im heiligen Abendmahl, dass hier die lebendige Gemeinschaft mit Christus bezeichnet werde, und sie erwarten seine glorreiche Wiederkunft.« An dieser Stelle, würde ich sagen, sind wir Protestanten, in unserer größeren Mehrheit jedenfalls, nicht voll verstanden. Wir würden nämlich sagen, dass im Abendmahl die lebendige Gemeinschaft mit Christus nicht nur bezeichnet wird, sondern sich auch vollzieht. Aber meine Frage ist die: Wird in diesem Dekret bestritten, dass es eine solche Christusgemeinschaft in dem evangelischen Abendmahl geben kann, weil unser Abendmahl nicht durch geweihte Priester ausgeteilt wird? Ist das die Überzeugung, die hier zugrunde liegt? Denn es heißt ja: »Wegen des Fehlens des Weihesakraments.« Ist hier also, obwohl bei uns die Einsetzungsworte und die Elemente gebraucht werden, obwohl wir das Abendmahl des Herrn feiern wollen, nur Gedächtnisfeier des Todes und der Auferstehung und nur eine Bezeichnung der Gemeinschaft und kein Vollzug? Dies ist eine wichtige Frage zur Interpretation dieses bedeutsamen Textes, aber auch für unser ökumenisches Verhältnis zueinander. JAEGER: Zweifellos. Ich darf zunächst einmal an diese Zwischenbemerkung anknüpfen, dass das Wort significare hier nicht nur ein, wie soll ich mal sagen, zwinglianisch verstandenes Zeichen ist, sondern darüber hinaus ein signum efficax, wie wir in der Sprache der Theologen sagen; es zeigt für uns leibsinnliche Menschen, die wir ja auf die äußere Anschauung angewiesen sind, etwas an, was dieses gesetzte Zeichen dann auch tatsächlich bewirkt. Also, es ist schon als eine geistliche Realität, nicht zwinglianisch verstanden. Nun zu der anderen Frage: Die Kirche ist tatsächlich der Überzeugung, und zwar aus einer uralten Tradition, die sich zurückverfolgen lässt in ihren Ansätzen bis auf die Schrift, dann aber sich auch schon findet bei den ersten Vätern, dass das Abendmahl, also die Eucharistiefeier, nur der geweihte Priester vollziehen kann. Ganz zweifellos ist explicite das nicht in der Schrift selbst entfaltet, aus dem Grund, den ich schon auf Ihren ersten Einwurf hin nannte, dass ja in der Schrift nur der Niederschlag der Verkündigung des Lebens, des Glaubens der Kirche sich findet, noch nicht eine Theologie und eine Reflexion über kirchliche Ämter. Aber schon Clemens von Rom bietet eine erste Theologie des Priestertums, wenn auch seine Terminologie noch ungefestigt ist. Er gründet die priesterliche Vollmacht auf den Willen Christi und der Apostel und vergleicht sie mit der Hierarchie des Alten Testaments, bringt auch Anspielungen auf die Liturgie. Ignatius von Antiochien arbeitet dann in mystischer Form eine Theologie des Bischofsamtes aus. Der Bischof führt nach ihm schon den Vorsitz beim Kult, und der Kult kann nur zu Recht gefeiert werden, wenn der Bischof ihn vollzieht oder der vom Bischof Beauftragte. Sicher, das Priestertum konstituiert nicht die Kirche, steht nicht der Gemeinschaft der Gläubigen einfach gegenüber, aber es ist die eigentliche sakrale Funktion und Diakonie in der Kirche, eine in dem durch Taufe und Firmung konstituierten und geheiligten, in der Eucharistie geeinten Volke Gottes einbeschlossene personale Größe. Ich glaube nicht, dass man mit dieser apostolischen Tradition mit einer Handbewegung fertig werden kann, um an ihre Stelle das Volk als Ganzes, das Volk Gottes oder die Gemeinde als Ganzes zu setzen. VON BISMARCK: Vielen Dank! Meiner Ankündigung gemäß möchte ich nunmehr beiden Gesprächspartnern nacheinander Gelegenheit geben, die offene Debatte mit den

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Bemerkungen, die ihnen wichtig scheinen, zusammenzufassen und abzuschließen. Danach werde ich versuchen, ein Schlusswort zu sprechen. BECKMANN: Sie werden verstehen, dass es sich hier nicht um ein Schlusswort handeln kann, sondern um einen Hinweis darauf, dass es in diesem Gespräch um den Anfang eines Dialogs gegangen ist, der unzweifelhaft durch eine lange Zeit hindurch noch geführt werden muss. Sie haben an einigen Stellen deutlich gesehen, dass die großen reformatorischen Erkenntnisse, wie sie in ihren Bekenntnissen sich aussprechen, auch heute noch in der Diskussion höchst aktuell sind. Dass also die Reformation damit sich auch als eine bleibend lebendige Gegenwart erwiesen hat. Es war nur ein kleiner Ausschnitt aus den Fragen, die zur Diskussion stehen. Wir haben versucht, an ein paar Beispielen deutlich zu machen, was zwischen uns an hoffnungsvollen Erkenntnissen und Ausgangspunkten steht; wie aber auch gerade gewisse entscheidende Fragen ganz und gar ungelöst zwischen uns stehen. Wichtig aber bleibt, dass wir einander zugewandt miteinander reden und nicht nur übereinander voneinander abgewandt. Das ist durch Jahrhunderte geschehen. Heute fangen wir, das ist überaus hoffnungsvoll, wieder an, mit dem anderen unmittelbar zu sprechen. Ein zweites: Das Konzil ist noch nicht zu Ende. Wir erwarten noch eine Beratung ganz wichtiger Themen. Wir hoffen dabei vor allem, dass es dazu kommen wird, die Erklärung über die Religionsfreiheit zu verabschieden. Alle wissen, wie dieses erwartet wird, nicht nur im Kreise der Christen, sondern auch darüber hinaus. Wir sind sehr gespannt, ob es dem Konzil gelingen wird, die fast noch wichtigere Frage »Die Kirche und die moderne Welt«, die ja eine sehr umfangreiche und komplizierte Materie ist, mit all ihren sozial-ethischen Problemen, zu verabschieden. Ob es gelingt? Wir hoffen es sehr und würden es sehr begrüßen, wenn wir auch wegen der Zusammenarbeit im ökumenischen Raume zu einer Vereinbarung kämen. Der dritte Punkt betrifft das Thema der Mission. Sie wissen alle, dass das Problem der Mission mit dem Problem der Einheit der Kirche ganz eng zusammengehört und dass auch in der heutigen Welt bekanntlich nichts so sehr die Glaubwürdigkeit des Evangeliums anficht als das bunte Neben-, Gegen- und Widereinander christlicher Konfessionen. Hier liegt die tiefste Dynamik, die eigentlich legitimste Dynamik aller Bestrebungen zu irgendwelchen Kooperationen, zu einem besseren Zusammenkommen. Wir wissen auch, wie schwer das hier ist. Dann ist eben hier angekündigt worden das Thema Schrift und Tradition, das Schema von der Offenbarung. Und als letztes erwähne ich noch das uns auch wichtig erscheinende Schema über die nichtchristlichen Religionen. Dabei erwarten wir aus mannigfachen Gründen auch ein Wort im Blick auf Israel, auf das jüdische Volk; es dürfte auf gar keinen Fall fehlen. Schließlich hoffen wir auch, dass nach den Beratungen der vierten Session und ihrem Ergebnis auch eines Tages in der Frage der konfessionsverschiedenen Ehe eine das Verhältnis der Konfessionen zueinander erleichternde Lösung gefunden werden wird. Wir haben hier darüber nicht gesprochen. Das Konzil hat ja die Erledigung dieser Aufgabe, wenn ich recht gelesen habe, dem Papst selbst übergeben, und wir erwarten von hier ein wichtiges Wort. Wir haben wirklich in diesem Punkte eine Hoffnung.

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Unser Gespräch hat Ihnen hoffentlich gezeigt, dass wir keine Enthusiasten sind, aber auch keine Leute mit Resignation, sondern, nach der Bibel gesprochen, Menschen, die »geduldig in Hoffnung« sind. JAEGER: Ich bin Herrn Präses Beckmann vor allem dankbar für das Wort, das er gesagt hat: Dieses Gespräch möge Anfang, aber nicht Abschluss sein. Es kann und darf nicht Abschluss sein, denn die Kirche selber hat in ihrer Konstitution »Über die Kirche« gesagt, dass der Dialog für die Kirche wesensnotwendig sei. Erst im Gespräch findet der Glaube hin zu seiner vollen Entfaltung. Im Ringen mit den Problemen, die durch Schrift, durch das Tagesgeschehen, durch die Neugestaltung der Gesellschaft aufgeworfen werden, bekommt der Glaube seine rechte Tiefe, ist der Mensch immer wieder gezwungen, sich dem Herrn zu nahen und in seinem Antlitz, in seinem Wort den Aufschluss zu suchen. Nur im Glauben, nur im Dialog mit den Aufgaben, den Leiden des Tages gewinnt der Glaube seine erforderliche Breite und seine starke Kraft, dieses Leben zu tragen und zu formen. Ich bejahe also darum, und nicht nur ich, sondern die Kirche als Ganzes, den Wunsch nach dem ferneren Gespräch, das gerade auf theologischem Gebiet so wichtig ist. Ich bin deshalb dankbar, dass der Rat der EKD den Herrn Landesbischof Dietzfelbinger beauftragt hat, den Kontakt herzustellen mit den Beauftragten der katholischen Bischöfe, und ich hoffe, dass es nicht bloß bei einer Kontaktstelle bleibt, die, wie man zu sagen pflegt, den Sand aus dem Getriebe entfernt, sondern dass man sich auch Gedanken macht um die Zukunft des Christentums und darüber hinaus sich ehrlich und redlich fragt, welche theologischen Fragen und Bemühungen müssen jetzt gemeinsam in rechter Folge aufgegriffen werden, um dieses Zueinander wirksamer und besser voranzutreiben. Der Wunsch und die Erwartungen, die eben Herr Präses Beckmann ausgesprochen hat hinsichtlich der vierten Sitzungsperiode des Konzils, kann ich dahin beantworten, dass das Dekret über die Religionsfreiheit kommen wird. Es wird am 14. September als erstes behandelt werden, und ich glaube, dass es gut wird und die Zustimmung der Öffentlichkeit findet; denn ich kenne den Entwurf, der nun endgültig zur Beschlussfassung versandt wird an die Väter. Ich habe selber daran mitgearbeitet, und er findet meine Zufriedenheit. Es wird ebenso das Dekret über die nicht-christlichen Religionen, speziell über das Verhältnis der Christen zu den Juden, kommen. Eine Frage, die leider Gottes zu einem Politikum geworden ist, das schon schmerzliche Weiterungen im praktischen Leben im Orient nach sich gezogen hat. Trotz alledem wird die Kirche die Wahrheit sagen, ohne unangemessene Rücksicht auf mögliche Verluste und Folgen. Ein Wort zur Mischehe. Die Situation ist deshalb so schwierig, weil es sich hier vorwiegend um eine kirchenrechtliche Frage handelt und weil die Verhältnisse in den einzelnen Ländern so voneinander verschieden sind. Eine hundertprozentige Lösung wird sich nicht finden lassen. Man muss eine optimale Lösung finden, und ich hoffe, dass auch die sich jetzt abzeichnet. Schließlich das 13. Schema, »Kirche und moderne Welt« – eine Frage, die eigentlich nach dem bisherigen Konzilsverständnis nicht auf ein Konzil gehört, weil das Konzil ja wesentlich zu tun hat mit Glaubensfragen, Fragen des Kultes etc., aber weniger mit der Regelung temporärer Einzelfragen. Trotzdem muss die Kirche eine Antwort geben auf die Gewissensnot so vieler Menschen, muss irgendein Wort sagen, wenn es auch viel-

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leicht nur Geltung hat rebus sic stantibus, d. h. für die Situation, wie sie sich heute und hier und jetzt abzeichnet. Auch wenn ein solches Dekret etwas aus dem herkömmlichen Rahmen von Konzilsaussagen herausfällt, so muss und wird diese Erklärung kommen. Sie wissen selber, in dem Meinungswirrwarr von heute wird eine solche Aussage niemals den Beifall und die Zustimmung aller finden. Nicht einmal Gott der Herr findet bei all seinen Entscheidungen, bei all seinen Heimsuchungen, den Beifall der Menschen. So darf ich schließen mit einem Wort wirklichen Dankes, dass mir die Gelegenheit geboten worden ist, hier vor Ihnen das Dekret über den Ökumenismus zu behandeln, an dem ich selbst aktiv von Anfang an mitgewirkt habe. Nicht, dass wir jetzt das ganze Problem erörtert hätten, nicht, dass wir auch die vielen, vielen Fragen, die Sie jetzt im Anschluss an das Dekret aufwerfen, hier schon gelöst hätten. Ich kann hier mit dem Dank nur die Bitte verbinden, greifen Sie nach dem Buch. Ich habe selbst einen Kommentar dazu geschrieben.3 Lesen Sie sich ein, damit demnächst nicht nur auf höchster Ebene, sondern auch unten auf der Ebene der Gemeinden ein aktives Gespräch stattfinden kann. Wenn jetzt der Kontakt zwischen Rom und dem Weltkirchenrat hergestellt worden ist in einem regelmäßig wiederkehrenden Meinungsaustausch, wenn demnächst das Sekretariat Bea ein Direktorium für die ökumenische Arbeit herausgibt, ich meine, dann müssten auch die Gemeinden auf evangelischer Seite soweit sein und sich soweit mit diesem Dekret und seinen Anregungen auseinandergesetzt haben, dass auch sie solche praktischen Leitsätze und Normen erarbeiten können, die dann ganz sicherlich mit Dank und Freude auch von den Kirchenleitungen akzeptiert würden. Ich darf schließen mit einem guten Segenswunsch für diesen Kirchentag, für eine recht, recht fruchtbare und gesegnete Arbeit. VON BISMARCK: Der Beifall hat es schon gezeigt, wie dankbar wir alle für diese Möglichkeit einer unmittelbaren Information waren. Aber wenn ich recht zugehört und recht aufgenommen habe, wie Sie mit dabei waren, dann war dieses Gespräch mehr als eine Information. Das lag einmal an den Personen. Wir haben ja sehr deutlich gemerkt – ganz zum Schluss kam das auch bei Herrn Kardinal Jaeger noch sehr klar heraus –, wie sehr die beiden in ihren Kirchen überaus repräsentativen Gesprächspartner persönlich engagiert sind und eine vorwärts gerichtete Überzeugung in dieser Sache vertreten, die gewiss nicht von jedermann in ihren eigenen Kirchen geteilt wird. Ich glaube, über die Information hinaus hat dieses Gespräch auch erwiesen, dass in beiden Kirchen, in beiden Konfessionen etwas in Bewegung geraten ist. In einem Augenblick, wo man sich heute viel mehr in Tuchfühlung um die Wahrheit auseinandersetzt, ist es auch kein Wunder, dass ein unbußfertiger Konfessionalismus neu auftritt. Denn jeder will natürlich theologisch siegen. Die echte Bewegung – und das ist in diesem Gespräch deutlich geworden – beginnt dort, wo entdeckt wird, dass beide Konfessionen gemeinsam einem Dienstherrn verantwortlich sind, zu dem sie sich bekennen. Diese Bewegung führt zu der Erkenntnis, dass die Konfessionen beide in ihrem 3

Lorenz Jaeger, Das Konzilsdekret »Über den Ökumenismus«. Sein Werden, sein Inhalt, seine Bedeutung. Verlag Bonifatius-Druckerei, Paderborn 1965.

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gegenwärtigen Zustand nicht genügen, führt auch zu einem Leiden unter diesem Sachverhalt. Und das hat unser Gespräch erwiesen: Eine bei diesem Leiden unter der Trennung beginnende Bewegung führt die Partner aufeinander zu, bedeutet eine neue Hinwendung zum Evangelium, das die Konfessionen zu einem gläubigen Ökumenismus beflügelt. Für diese Bewegung gibt es seit langem Erweise: das gemeinsame Zeugnis in der Zeit des Nationalsozialismus und das gemeinsame Leiden unter ihm; die Wiederentdeckung der Bibel in beiden Konfessionen; das, wie ich schon sagte, gemeinsame Leiden unter der unvollkommenen und der Verkündigung des Evangeliums eigentlich entgegenstehenden Darstellung des Evangeliums in den Kirchen und das unter dem Leiden daran sich ergebende neue Bild von der Kirche. Ich will noch einen vierten Erweis in unserem Land nennen, dessen Erwähnung in der Nachbarschaft von Herrn Kardinal Jaeger und Herrn Präses Beckmann naheliegt: die gemeinsame Sozialarbeit der Konfessionen, die mich mit Herrn Kardinal Jaeger seit 15 Jahren in der Sache immer wieder zusammengeführt hat. Sie dient offenbar den Konfessionen zur Überwindung ihrer Selbstgenügsamkeit, ihrer Statik und ihrer Begrenztheit, so dass sie einmal die ganz praktischen Aufgaben und zum anderen die Weltverantwortung der Christenheit neu entdecken. Hier kann es sich herausstellen, dass um dieser praktischen und der Weltverantwortung willen die innerchristlichen Unterschiede verblassen und sich die Aufgabe einer gemeinsamen missionarischen Strategie von ökumenischer Weite ergibt. Ich wage zu hoffen, dass dies Gespräch einen Schritt weitergeführt hat im Sinne dieser Bewegung, nicht nur in der erfrischend klaren Feststellung der Gemeinsamkeiten, sondern auch im Ansprechen der unüberwundenen Schwierigkeiten und Trennungen. Weil dies Gespräch in einer solchen Atmosphäre der Herzlichkeit und Sachlichkeit geführt worden ist, kann es, so meine ich, Modell sein für den ökumenischen Dialog, den wir, wie beide Partner schon betont haben, weiterzuführen haben, wenn wir der Botschaft Christi und dem Gebot der Stunde gerecht werden wollen. In diesem Sinne danke ich in Ihrer aller Namen noch einmal den beiden Gesprächspartnern und ihren Beratern, danke Ihnen für die Aufmerksamkeit, mit der Sie dabei waren.

II. Publikate der 1970er Jahre

II.1 Landessynode 1970

Aus dem Bericht des Präses Joachim Wilhelm Beckmann zur Lage der Kirche∗ Hohe Synode! Liebe Brüder und Schwestern! I.

Aus dem Bereich der Ökumene

1. Das Jahr 1969 lag zwischen Uppsala und den Weltbundtagungen, die in diesem Jahre stattfinden werden. Der Lutherische Weltbund tagt in Porto Alegre und der Reformierte Weltbund in Nairobi. So sind die Monate dieses Jahres sicher besonders ausgefüllt gewesen mit den Aufgaben, die für diese, einen großen Teil der Gesamtökumene betreffenden Kirchentagungen notwendig sind. Aber auf der anderen Seite hat man auch erst angefangen, nach Uppsala an die Arbeit zu gehen und die Aufgaben, die in Uppsala gestellt worden sind, in ersten Anfängen durchzuführen. 2. Auf diese Weise kam es im Mai des vergangenen Jahres zu der interessanten und die bedrohliche Situation in diesem Bereich kennzeichnenden Tagung einer Konsultation in London über die Rassenfrage. Dies war ein Auftrag von Uppsala und eine Aufgabe, die in den nächsten Jahren die ökumenische Arbeit wesentlich bestimmen wird. Es ist nicht möglich, über diese aufregende Tagung ausführlicher zu berichten. Es würde auch viel zu weit führen. Entscheidend ist nur, dass im Anschluss an diese Tagung die Ergebnisse, die dem Zentralausschuss im Herbst vorgelegt worden sind, in wesentlichen Punkten angenommen wurden. Es ist für uns alle wichtig, an dieser großen Frage des Weltproblems des Rassismus, wie es abgekürzt genannt wird, teilzunehmen. Die ökumenische Zentrale hat uns in ihrem Materialdienst (Nr. 24, November 1969) den Text von dem, was im Zentralausschuss in Canterbury am 21. August beschlossen worden ist, in deutscher Sprache zugänglich gemacht. Wenn man diesen Text, der nicht sehr lang ist, aber doch eine ganze Menge von Einzelheiten umfasst, ansieht, dann versteht man, dass es sich tatsächlich bei den Problemen des Rassismus um eine Weltfrage handelt, an deren Lösung auch die Zukunft des Weltfriedens – vor allen Dingen des sozialen Weltfriedens – hängen wird. Ich lese nur zwei oder drei Sätze hieraus: »Die wachsenden Spannungen und Konflikte zwischen den Rassen verlangen nach Taten: Die Zeit drängt. Die Verbreitung, Hartnäckigkeit und Bosheit des Rassismus hat ∗

Protokoll der Landessynode 1970, S. 54–60.

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viele Christen aufgerüttelt; doch die augenscheinliche Ohnmacht der Kirchen, Versöhnung zu stiften, hat manche andere gelähmt. Und viele haben gar resigniert. Wir müssen betroffen erkennen, dass die Bedrohung durch den Rassismus – ungeachtet des Kampfes, den Kirchen, Missionsgesellschaften und Kirchenräte unter oft heroischem, persönlichem Einsatz gegen ihn geführt haben – heute größer ist als je zuvor. Wir rufen die Kirchen auf, über Wohltätigkeit, Zuwendungen und die üblichen Programme hinaus zu sachgerechtem und opferbereitem Handeln zu finden, um damit menschenwürdige und gerechte Beziehungen der Menschen untereinander zu schaffen und einen radikalen Neuaufbau der Gesellschaft voranzutreiben.« Es wird dann im Einzelnen noch ausgeführt das große Programm, an dessen Finanzierung sich zu beteiligen alle Kirchen aufgerufen werden. Dann schließt dieser Text mit folgenden eindrucksvollen Worten: »Wir kämpfen nicht gegen Fleisch und Blut; gegen die Mächte und Gewalten, die Mächte des Bösen, die tiefverwurzelten teuflischen Kräfte der Rassenvorurteile und des Hasses müssen wir ankämpfen. Es geht darum, den Teufel auszutreiben. Die Dämonen bedienen sich unserer sozialen, wirtschaftlichen und politischen Strukturen. Die Wurzel des Übels aber sitzt so tief wie die Sünde des Menschen, und nur Gottes Liebe und die gehorsame Antwort des Menschen können sie ausreißen.« 3. Dieselbe Tagung des Zentralausschusses in Canterbury hat zum ersten Mal seit vielen Jahren einen Brief an die Mitgliedskirchen geschrieben. Dieser Brief war offenbar aus mehreren Gründen nötig, weil innerhalb der Mitgliedskirchen allerlei kritische Fragen an den Weg der Ökumene seit Uppsala oder schon in Uppsala gestellt worden sind. Ich habe ihn deswegen schon vor einiger Zeit allen zum Studium zugeschickt. Mit der Handreichung Nr. 20 haben Sie diesen interessanten und wichtigen Brief bereits zum Lesen bekommen. Auch hierin werden die Hauptprobleme von Uppsala her einschließlich der Probleme des Rassismus erörtert und, es wird in der Hauptsache von dem gesprochen, was auch in Uppsala im Vordergrund stand: Was können die Kirchen praktisch im Kampf gegen Armut und gegen die immer tiefer werdende Kluft zwischen reichen und armen Ländern tun? Die Kirchen müssen nicht nur an Entwicklungsaufgaben mitarbeiten, sondern gleichzeitig fragen, wie wirtschaftliche und gesellschaftliche Strukturen und Institutionen beschaffen sein müssen, damit Entwicklungen wirksam werden können. Unser wichtigstes Anliegen sollte es jedoch sein, dass Entwicklung nicht nur als rein wirtschaftlicher und technologischer Prozess begriffen wird, sondern als Weg zum wahren Menschsein für alle Menschen und zu einer verantwortlichen Gesellschaft, in der der Mensch als Geschöpf Gottes in seiner Freiheit und Würde geachtet wird. Es wird – wie die, die es gelesen haben, sich erinnern können werden – beklagt, dass wir in vielen Punkten keine Fortschritte gemacht haben auf dem Weg zur christlichen Einheit. Bei der Verletzung der Menschenrechte haben wir manchmal das Wort genommen, aber oft geschwiegen. Wir haben nicht genug getan, um Gruppen, die aus rassischen oder anderen Gründen bedrückt sind, zu unterstützen, obwohl wir Diskriminierung und Unterdrückung entschieden verurteilen. In dem letzten Teil dieses wichtigen Briefes werden wir noch einmal alle aufgefordert, uns an dieser ganzen Sache der Ökumene in jeder Kirche und in jeder Gemeinde nach Kräften zu beteiligen. 4. Ein kurzes Wort im Anschluss hieran über den Bereich der ökumenischen Diakonie, von dem man ja sagen kann, dass hier die größten Fortschritte in den letzten Jahren

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erzielt worden sind. Ich erwähne in diesem Zusammenhang nur eine einzige Sache. Man darf doch sagen, dass die christliche gemeinsame Aktion in Biafra ein Experiment der Liebe ist, das nahezu ohne Beispiel war, eine Leistung ökumenischer Zusammenarbeit an einer besonders bedrohlichen und gefährdeten Stelle, ein Zeichen dafür, dass die Kirchen angefangen haben, nicht nur jede für sich an ihrer Stelle, in ihrem Bereich, sondern auch in großer Gemeinsamkeit eine so wesentliche Sache gleichsam vorbildlich zu ihrer Aufgabe zu machen. 5. Nur ein letztes Wort in diesem Zusammenhang: Bedauerlicherweise ist in der uns bekannten Prager Friedenskonferenz am Ende des vergangenen Jahres eine schwere Krise ausgebrochen. Sie wissen, dass auf der Regionalkonferenz in Buckow im Oktober ein Misstrauen gegen den Generalsekretär Ondra ausgesprochen wurde, und zwar offenkundig aus politischen Hintergründen, so dass Ondra sich veranlasst sah, am 5.11. seinen Rücktritt zu erklären. Die Versuche des Vorsitzenden, Professor Hromadka, hier einen besseren Weg der Gemeinschaft zu finden, sind gescheitert und auch die Bemühungen, die in Kreuznach auf der Regionalkonferenz in der Bundesrepublik geschehen sind. Sie haben zwar Vertrauen für Ondra zum Ausdruck gebracht. Aber es war nichts mehr rückgängig zu machen. Noch schmerzlicher wurde die Situation dadurch, dass der Vorsitzende, Professor Hromadka, sein Amt zur Verfügung stellte, kurz darauf einen Herzinfarkt erlitt, und dann am 2. Weihnachtstag gestorben ist. Damit ist eine der großen ökumenischen Persönlichkeiten aus unserer Mitte geschieden. Wer ihn gekannt hat, wird die Art und Weise, wie er Theologie trieb, wie er Seelsorger und wie er engagiert war in den großen Aufgaben der Welt und des Weltfriedens, nicht vergessen. Ganz gleich, wie man im Einzelnen zu Äußerungen und Problemen der Friedenskonferenz gestanden haben mag – sie war ja die Schöpfung Hromadkas in besonderem Maße –, man wird sagen müssen: Bedauerlich ist auf alle Fälle das Schicksal eines mit so viel Vertrauen angefangenen Versuches, über die hohen Mauern in Europa hinweg als Christen zusammenzukommen und zusammenzubleiben. Auch hier hat es sich leider wieder gezeigt, dass die großen Mächte der Welt auch in der Kirche eine Mitsprache beanspruchen und es der Kirche oft nicht ermöglichen, ihren Weg eindeutig und in Einfalt zu gehen. Wir gedenken Hromadkas, gerade weil er ein Mann ist, der nicht nur durch die Prager Friedenskonferenz in der Welt bekannt geworden ist, sondern auch als Mitglied des Ökumenischen Rates der Kirchen und als ein großer Theologe, ein Mann von Weltruf, der vieles erlitten und durchgemacht hat und trotzdem bis zuletzt mit einer tiefen, großen Freudigkeit am Evangelium gehangen und es verkündigt hat, wir gedenken seiner in herzlicher Teilnahme und Verbundenheit. II. Die römisch-katholische Kirche im ökumenischen Feld 1. Wenn man am heutigen Tage, im Januar 1970, von der römisch-katholischen Kirche spricht, fällt einem ein, dass vor hundert Jahren, 1870, das I. Vatikanische Konzil seinen Abschluss gefunden hat in jener weltberühmten Erklärung über die Unfehlbarkeit des päpstlichen Lehramtes. Wenn man noch einmal hundert Jahre zurückblickt, 1770, welcher Tiefpunkt auch in der Geschichte der römisch-katholischen Kirche unmittelbar vor der französischen Revolution. Und nun 1970, was für zwei Jahrhunderte in der Geschichte einer so großen, weltumspannenden Kirche, wenn man an das denkt, was in der heutigen römisch-katholischen Kirche an zähem Ringen um die Verwirklichung der

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Beschlüsse des II. Vatikanischen Konzils angehoben hat, wie auch hier die sogenannten konservativen und die progressiven Kräfte sich messen, die einen, um das, was war und immer sein soll, zu halten, und die anderen, um im Sinne des aggiornamento einen neuen Weg nach vorn zu finden. Wirklich, es sind große Fortschritte in diesen Jahren erzielt worden, die auch für die Ökumene, für uns alle von entscheidender Bedeutung sind. 2. Das Beispiel einer großen innerkirchlichen Wandlung steht vor uns allen, denke ich, in der Leistung des niederländischen Katechismus. Ein erstaunlicher Tatbestand, dass in der römisch-katholischen Kirche ein solches Buch in unseren Tagen hat erscheinen können! Aber auch etwas anderes: Wir haben heute im Gottesdienst eine Reihe von Gebeten in unserer Sprache gebraucht, die in den letzten Jahren in den Niederlanden entstanden sind und die uns auch deutlich zeigen, dass dort geistliche Kräfte lebendig geworden sind, die so ökumenisch sind, dass wir sie gleichsam ohne weiteres in unsere Gottesdienste übernehmen können. 3. Wir denken an die großen liturgischen Reformen der letzten Jahre. Das neue Messbuch wird in Gebrauch genommen. In der römisch-katholischen Messe wird die Zahl der Lesungen aus der Bibel um eine weitere vermehrt. Drei Lesungen – eine alttestamentliche und zwei neutestamentliche – sollen gelesen werden. Welche Wendung zum Wort wird hier sichtbar. Und dann denken wir an die Veränderung des Messkanons, der für uns – meine ich – aus theologischen Gründen von besonderer Bedeutung ist. Wir denken auch an die katholische Bibelübersetzung, durch die in einer Sprache von heute die Bibel jetzt in einem bisher nicht da gewesenen Maße den Christen in die Hand gegeben werden soll. Dabei möchte man noch alles tun, dass diese Arbeit auch über die Kirche einer Konfession hinaus im gesamten deutschen Sprachraum wirksam würde. Die Perikopen werden jetzt schon gemeinsam mit uns übersetzt. 4. Die Fragen der Kirchenreform sind in allen Kirchen schwierig. Es ist kein Wunder, dass sie in der römisch-katholischen Kirche, einer Kirche, die so stark auch eine Kirche des kanonischen Rechtes ist, ganz besonderen Schwierigkeiten begegnet. Wir denken an die Bischofssynoden und ihre Probleme, nach vorwärts durchzustoßen. Wir denken an die Opposition, die in Rom und auch anderswo ans Licht trat. Gerade in den letzten Wochen haben wir aus den Niederlanden wieder gehört, welcher weittragende Beschluss dort im Blick auf den Zölibat gefasst worden ist. Es ist für uns besonders erregend, an diesen Dingen teilzunehmen, um auch etwas daraus zu lernen und zu erkennen, was in der Kirche Gottes dieser Welt in ihren verschiedenen Konfessionen, soweit sie auch voneinander gestanden haben, nun in unerhörter Nähe miteinander geschieht. 5. Der wichtigste ökumenische Schritt des vergangenen Jahres seitens der römisch-katholischen Kirche war nach meiner Überzeugung der Besuch des Papstes in Genf am 10. Juni 1969. Dieser sollte zum Ausdruck bringen das vorbehaltlose Ja zur ökumenischen Bruderschaft, zur ökumenischen Zusammenarbeit, besonders zur ökumenischen Diakonie. Es geschah eine, sagen wir, gleichsam offizielle Anerkennung dessen, was hier in Genf seine Zentrale im ökumenischen Dienste hat, eine Ausführung im Grunde dessen, was auf dem II. Vatikanischen Konzil im ökumenischen Dekret bereits ausgesprochen ist, aber gewiss auch noch kein Ja des Beitritts zum Ökumenischen Rat. Aber dazu

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kann man in diesem Augenblick eigentlich nur sagen, dass der Ökumenische Rat auch wohl noch nicht fähig wäre, dieses gewaltige Problem des Beitritts der römisch-katholischen Kirche so zu lösen, dass daraus nicht neue, tiefe Erschütterungen für die gesamte ökumenische Bewegung werden könnten. Darum finde ich es gut, dass in dieser bedeutenden Sache mit großer Vorsicht und Sorgfalt verfahren wird. 6. Auch in unserer eigenen Mitte ist es zu neuen Formen ökumenischer Zusammenarbeit gekommen. Wir haben im vergangenen Jahre in unserem Lande, in NordrheinWestfalen, und auch anderswo ökumenische Gebietskommissionen begründet, die nach meiner Überzeugung von größter Wichtigkeit sind. Wir sind sehr dankbar, dass diese ökumenischen Gebietskommissionen in einer ganzen Reihe von gemeinsamen Fragen und Problemen haben arbeiten können, um auf diese Weise eine dauernde Koordination in allem, was wir zusammen tun können zur Lösung unserer gemeinsamen Fragen, herbeizuführen. In Deutschland wurde nicht nur an dem gemeinsamen Vater-Unser-Text gearbeitet, sondern auch andere liturgische Texte werden in starkem Maße im deutschen Sprachraum abgestimmt. Es wird nicht nur an der gemeinsamen Bibelübersetzung, zunächst an den Perikopen, gearbeitet, sondern auch an einem gemeinsamen apostolischen Glaubensbekenntnis. Auch ein neuer Text für das Nicänum liegt bereits im ersten Entwurf vor und wird in einigen Tagen das Licht der Öffentlichkeit erblicken. Darüber hinaus haben wir in unserer gemeinsamen Arbeit auch angefangen, ein gemeinsames Liederbuch für die heranwachsende Jugend zu schaffen – alles Hinweise darauf, was heute gemeinsam möglich ist und was wir mit großer Dankbarkeit entgegennehmen sollten. Noch ein Letztes: Von der römisch-katholischen Kirche sind die Evangelischen herausgefordert worden, an der von ihr entworfenen Aktion Missio teilzunehmen. Wir sind außerordentlich dankbar, dass uns unsere römisch-katholischen Mitchristen diese Sache nicht nur vorgemacht haben, nämlich das Hereinbringen der missionarischen Probleme in die Höheren Schulen durch eine ganz besondere Aktion, sondern dass sie auch uns gebeten haben, daran mitzumachen und dieses gemeinsam zu tun. So hat auch gerade in der früher so kritischen Frage der Mission eine neue Zusammenarbeit begonnen. Die Zusammenarbeit in der Aktion Missio halte ich für eine der wesentlichen Aufgaben, bei denen wir uns noch einiges einfallen lassen müssten, um uns kräftiger an der ganzen wichtigen Aufgabe zu beteiligen. 7. Auch die Probleme, die seit Jahren so unlösbar schienen, werden ja langsam lösbarer. Wir sind auf dem Wege zu einer gemeinsamen Trauung, die bei den gemischten Ehen sich ergeben könnte. Die Vorarbeiten, die in letzter Zeit gemeinsam angefangen haben, machen uns Hoffnung, dass die Lösung nicht mehr lange auf sich warten lassen wird. Die schwierigsten Probleme, die noch vor uns stehen, sind ja natürlich die Probleme der Interkommunion. Sie wissen, dass im Gebiet der Niederländischen Kirche dieser Punkt besonders stark vorangetrieben wird. Sie wissen aber auch andererseits, welche Probleme wir in unserem eigenen Kreise in Bezug auf Interkommunion noch haben. Aus verschiedenen anderen Motiven würde ich sagen: Angesichts dessen, dass hier das Letzte auf dem Spiel steht und dass da, wo Interkommunion ist, ja die Kirchengemeinschaft sich völlig realisiert, müssen die Warnungen derer gehört werden, die auf beiden Seiten die Frage

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stellen, ob die Abendmahlsgemeinschaft nicht noch sorgfältiger bedacht werden muss, angesichts der ungelösten Kernfrage, was es um Messe und Abendmahl ist, die seit der Reformation noch nicht einer neuen Lösung zugeführt werden konnte. Wir sollten gerade in diesen die Gewissen so stark bindenden Fragen niemanden überfordern und keine überstürzten Dinge tun, die nachher uns wieder zurückwerfen könnten.

II.2 Vorbereitung auf die Landessynode 1973

II.2.1 Wo steht die Ökumene heute?∗ Reinhard Frieling Im Zuge des Zweiten Vatikanischen Konzils erlebte die ökumenische Bewegung einen großen Aufschwung. Jetzt scheint eine Phase des ruhigeren Studiums eingetreten zu sein – was die einen für eine ganz normale Entwicklung halten, während andere enttäuscht von einer Krise sprechen. Auf Weltebene behandelt eine gemeinsame Arbeitsgruppe die Beziehungen zwischen der römisch-katholischen Kirche und dem Ökumenischen Rat der Kirchen; nahezu alle Gremien des Vatikans und des Ökumenischen Zentrums in Genf haben untereinander Kontakt. In einer umfangreichen Studie kam die Gemeinsame Arbeitsgruppe im Sommer 1972 zu dem Ergebnis, eine Mitgliedschaft Roms im Ökumenischen Rat käme in naher Zukunft nicht in Betracht. In Deutschland wird die evangelisch-katholische Zusammenarbeit ebenfalls durch eine gemeinsame Kommission zwischen dem Rat der EKD und der katholischen Deutschen Bischofskonferenz geregelt. Eine gemischte Ehekommission hat Empfehlungen für eine gemeinsame Seelsorge an konfessionsverschiedenen Ehen erarbeitet, die inzwischen erschienen sind. In der Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen in Deutschland ist die römisch-katholische Kirche durch zwei Gäste und Beobachter offiziell vertreten; und die Ökumenische Centrale in Frankfurt hat seit einem Jahr auch einen hauptamtlichen römisch-katholischen Mitarbeiter. In einigen Gebieten Deutschlands ist die römisch-katholische Kirche Mitglied der regionalen Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen. In evangelisch-katholischen Landeskommissionen beraten die Leitungen der katholischen Bistümer und der evangelischen Landeskirchen gemeinsam über aktuelle kirchliche Probleme. Nach dem Augsburger Ökumenischen Pfingsttreffen, das im Jahre 1971 vom Evangelischen Kirchentag und dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken veranstaltet wurde, besteht jetzt darüber Einmütigkeit, die Ökumene »von unten« aufzubauen und Modelle für die »Ökumene am Ort« zu erarbeiten. Hier ist sicherlich noch viel mehr ökumenische Zusammenarbeit möglich, als sie bisher von den Gemeinden praktiziert wird.

Aus: Handreichung Nr. 27, Dezember 1972 (zur Vorbereitung der Landesynode 1973 mit dem Schwerpunktthema »Ökumene am Ort«).



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Wer von der Ökumene raschere Fortschritte als nur ein geregeltes Miteinander erwartet hatte, spricht nun von einer »Stagnation«. Ein solches Pauschalurteil wird jedoch dem nicht gerecht, was eigentlich die ökumenische Bewegung bewegt. Man muss die Vielschichtigkeit des ökumenischen Problems in seinen theologischen und soziologischen Dimensionen sehen. Mit etwas gutem Willen und Tatkraft allein kann die Ökumene nicht entscheidend vorangebracht werden. Es gibt zahlreiche Beispiele dafür, wie gutgemeinter Enthusiasmus in lähmende Resignation umschlagen kann, wenn schnelle Erfolge ausbleiben. Für die Ökumene am Ort empfiehlt sich als erster Schritt immer noch das bessere gegenseitige Kennenlernen, d. h. ein Informationsaustausch über die Motive, Ziele und Vorbehalte in den ökumenischen Bemühungen. Wenn sich heute in der ökumenischen Bewegung einige Polarisierungen abzeichnen, dann liegt im gegenseitigen Informationsdefizit eine der Hauptursachen. Polarisierungen Folgende Polarisierungen kennzeichnen die gegenwärtige ökumenische Situation: 1.

Viele ökumenisch engagierte Christen werfen den Kirchenleitungen vor, sie seien nur auf Ruhe und Ordnung bedacht und nähmen allen Experimenten den Wind aus den Segeln. Etliche Kirchenführer wiederum sehen das Gespenst einer »Dritten Konfession« herannahen. Sie fürchten, dass ökumenische Enthusiasten die Einheit der Christen an den traditionellen Konfessionskirchen vorbei suchen und dann statt der erhofften universalen Einigung nur die Spaltung der Kirche durch eine weitere »ökumenische« Konfession vergrößern.

In der Spannung zwischen retardierender Amtskirche und revolutionärer Spontan-Ökumene (in nahezu allen Kirchen!) vertreten beide Seiten berechtigte Anliegen. Vielen Christen sind die klassischen Gegensätze zwischen den Konfessionen nicht mehr bewusst. Sie erfahren in ihren Familien, im Freundeskreis, in der Schule und auch bei interkonfessionellen Aktionen eine Gemeinschaft im Glauben, die ihnen die Ökumene ziemlich problemlos erscheinen lässt. Auch zahlreiche Theologen fragen in neuer Weise nach Sinn und Grenze der Konfessionalität. Die traditionellen Kontroverslehren, so sagen sie, hätten an Gewicht und kirchentrennender Bedeutung verloren. Stattdessen bildeten sich innerhalb jeder Kirche und quer durch die Konfessionskirchen neue »Konfessionen«, seien sie dogmatisch (z. B. geschichtliches oder ungeschichtliches Wahrheitsverständnis) oder ethisch geprägt (unterschiedliches Verständnis von Revolution, Befreiung, Sozialisierung o. ä.). Die leitenden Gremien in beiden Kirchen weichen dieser Entwicklung im Allgemeinen nicht aus. Aber sie übersehen auch nicht, dass jede Konfessionskirche noch von und in ihrer Tradition lebt. Die Synoden und Kirchenleitungen in aller Welt wollen ihre Kirchen nicht in sich geschlossen, homogen und nach außen genau abgegrenzt bewahren. Sie möchten jedoch ihr Wächteramt so wahrnehmen, dass Einseitigkeiten nach Möglichkeit vermieden und neue Wege der Kirche im Kontext der gesamten Evangeliumsverkündigung geprüft werden. Das Erfahren von »Unterschieden quer durch die Konfessionen« müsse beispielsweise mit den noch existierenden Kontroverslehren in Beziehung

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gesetzt werden – und das nicht im Rahmen abstrakter Theorien oder Dogmen, sondern in Zusammenhang mit dem Leben der Kirchen, mit der Frömmigkeit, dem Kult, dem Recht und allem Handeln kirchlicher Gruppen. 2.

Eine andere Polarisierung betrifft die Frage nach den Motiven und Prioritäten ökumenischen Handelns. Innerhalb der Gemeinschaft der Kirchen des Ökumenischen Rates und auch in den evangelisch-katholischen Beziehungen fand in den letzten Jahren eine Akzentverschiebung von mehr theologischen und innerkirchlichen Problemen zu anthropologischen und gesellschaftlichen Fragen statt.

Die einen sehen in dieser Entwicklung einen legitimen »Sach-Ökumenismus«, der mit dem Grundsatz Ernst macht, die Christen und ihre Kirchen sollten alle Dinge gemeinsam tun, die sie nicht aus Lehr-, Gewissens- oder Zweckmäßigkeitsgründen getrennt tun müssen. Die »Sache« der Christen sei die Verkündigung des Evangeliums durch Wort und Tat. Darum gebühre nicht der Frage der christlichen Einheit eine permanente Priorität, sondern dem Dienst an den Menschen. Für solchen gesunden »Pragmatismus« sei allerdings die theologische Reflexion unentbehrlich, um von Fall zu Fall entscheiden zu können, ob eine interkonfessionelle Kooperation möglich sei, oder ob unterschiedliche Prinzipien, Motivationen und Zielvorstellungen eine Zusammenarbeit verhindern. Der Sach-Ökumenismus beziehe sich sowohl auf Spiritualität wie auf Humanität, und er schließe Gottesdienst und Diakonie ein. Motiv und Ziel sei aber nicht, christliche Einheit zu demonstrieren oder den kirchlichen Einfluss gegenüber säkularen Instanzen zu stärken. Es gehe vielmehr darum, Menschen in ihrem Leben zu helfen und zu diesem Zwecke Instrumente des gemeinsamen kirchlichen Dienstes in der Welt zu schaffen. In diesem »kirchenkritischen« Ökumenismus sehen andere eine falsche Polarisierung von Evangelium und Kirche. Natürlich sei die Kirche kein Selbstzweck, und statt jeglicher »kirchlicher Nabelschau« müsse der Dienst der Kirche für die Menschen betont werden. Aber zur Ausrichtung dieses Dienstes sei es nötig, zunächst die gemeinsame Basis des Glaubens herauszustellen, die geistliche Einheit in Christus zu entdecken und auch kirchlich sichtbar zu machen, um dann gemeinsam in der Welt zu handeln. Wenn diese geistliche Taufe nicht gesucht würde, sei der sogenannte Sach-Ökumenismus nichts als substanzloser Aktivismus. Trotz erklärter Gegenabsichten verwechsle der Pragmatismus »ökumenisches« und »ökonomisches« Handeln, statt der erhofften Einheit der Kirche würde schließlich nur die Koexistenz getrennter Kirchen zementiert. Diese Polarisierung in der ökumenischen Bewegung ist ein Spiegelbild der in allen Kirchen bestehenden Spannung zwischen »Horizontalisten« und »Vertikalisten«, einschließlich der damit verbundenen gegenseitigen Missverständnisse, Verzerrungen und einseitigen Interpretationen, die hier nicht entfaltet werden können. Katholische und evangelische Prinzipien des Ökumenismus Die Feststellung ist durchaus richtig, dass die genannten Polarisierungen in jeder Kirche und quer durch die Konfessionen zu finden sind. Andererseits zeichnet sich aber auch immer mehr ab, dass das katholische und das evangelische Selbst- oder Kirchenverständnis zu unterschiedlichen Prinzipien des Ökumenismus führen. Zur Zeit des ökumeni-

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schen Aufbruchs in den sechziger Jahren hat man das zwar auch beachtet, aber jetzt scheinen diese Prinzipien verstärkt ins Bewusstsein zu dringen, so dass sachgemäß eher von nüchterner Einsicht oder von Desillusionierung als von Stagnation in der ökumenischen Bewegung zu sprechen ist. 1.

Die römisch-katholische Kirche versteht sich als gottmenschliche Institution, als Sakrament der Welt. In ihr, so lehrt das II. Vatikanum, ist die eine Kirche Christi, die im Glaubensbekenntnis bekannt wird, verwirklicht (»subsistit«, Kirchenkonstitution Nr. 8). Das soll jedoch nicht ausschließen, dass auch die von Rom getrennten Kirchen Elemente der Wahrheit besitzen. Und es schließt ein, dass die katholische Kirche von den Erfahrungen der Nichtkatholiken etliches lernen kann. Aber grundsätzlich versteht die katholische Kirche sich selbst als Mitte, der die andern Kirchen wie in konzentrischen Kreisen zugeordnet sind, »optimal als katholische Kirche am nächsten dem Ursprung, realisierend das katholische Erbe, offen und geweitet für die Aufnahme fast gegensätzlicher Meinungen im organischen Einheitsgefüge« (Professor Albert Brandenburg, Paderborn, im Kritischen Ökumenischen Informationsdienst von KNA vom 19.1.1972). Darum kann sie sich auch nicht als eine Konfessionskirche gleichberechtigt neben andern sehen: Dogmatisch betrachtet gibt es kein »par cum pari« der römisch-katholischen Kirche und der evangelischen Kirchen.

Die katholischen Prinzipien des Ökumenismus besagen also: bei Wahrung der eigenen Identität offen zu sein für die berechtigten Anliegen der andern. Man spricht nicht mehr von der »Rückkehr« der getrennten Brüder, sondern richtet den Blick auf eine zukünftige Einheit, bei der nach einem langwierigen Prozess der Konvergenz alle legitimen christlichen Anliegen in die »katholische Fülle« integriert sein werden. Solche angestrebte Einheit ist mehr als eine Gemeinschaft geschichtlich gewordener Konfessionskirchen. »Das Nebeneinander verschiedener Kirchen und der Föderalismus erscheinen immer mehr als Nicht-Form der Kirche« (Brandenburg). Von diesem Verständnis her wird einsichtig, warum vor allem katholische Ökumeniker gegenüber dem bloßen »Sach-Ökumenismus« skeptisch sind. Andererseits ermöglicht das Bild von den konzentrischen Kreisen jedoch, bei der praktischen Zusammenarbeit der Kirchen den Grundsatz der Gleichberechtigung (»per cum pari«) zu wahren. Vor allem für die Ökumene am Ort dürfte das wichtig sein. 2.

Die evangelischen Kirchen besitzen weder eine einmütige Lehre über die Kirche noch allgemein anerkannte Einheitskonzeptionen. Mit den Worten des Augsburgischen Bekenntnisses richtet sich das Augenmerk darauf, dass »einträchtiglich nach reinem Verstand das Evangelium gepredigt und die Sakramente dem göttlichen Wort gemäß gereicht werden«. (Die Frage nach einem »Lehrkonsens« stellt sich durch die lateinische Übersetzung: »consentire de doctrina evangelii«). Die Kirche hat hier keinen gottmenschlichen Charakter. Sie ist kein Sakrament, sondern »nur« Gemeinschaft der Glaubenden, die in der Welt Gottes Wort verkündigt. Fragen der Kirchenordnung sowie das Problem der Einheitsgestalt der Kirche besitzen dann nur menschliche Qualität und leiten sich nicht von einem göttlichen Recht ab. Während durch Jahrhunderte im Protestantismus das Einheitsproblem wenig beachtet wurde, weil man zwischen der einen unsichtbaren Kirche und der gespaltenen sichtbaren Kirche unterschied, sieht man heute deutlicher, dass die Kirchenspaltungen das Zeugnis des

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Evangeliums beeinträchtigen. Aber auffallend wenig vernimmt man auf evangelischer Seite im Unterschied zur katholischen Seite Worte wie »Schmerz über die Spaltung« und »Sehnsucht nach Einheit«. Das evangelische Kirchenverständnis begründet eine Haltung, die angesichts der unterschiedlichen Tradition der getrennten Konfessionen eher nach mehr Gemeinschaft zwischen den Kirchen (Plural) strebt, als dass Zukunftsvisionen über die Einheit der Kirche (Singular) entwickelt werden. Der Föderalismus oder die gegenseitige Anerkennung in der »Kirchengemeinschaft« zwischen selbständigen Konfessionskirchen kann im Protestantismus durchaus als eine Form der Kirche, als legitime kirchliche Gemeinschaft gelten. Der »Sach-Ökumenismus« findet darum im Protestantismus mehr Anhänger als in der katholischen Kirche. Das evangelische Kirchen- und Einheitsverständnis führt aber auch dazu – und das ist bei etlichen ökumenischen Veranstaltungen zu bemerken –, dass evangelische Christen im Vergleich mit Katholiken der Ökumene vielfach gleichgültiger gegenüberstehen. Jedenfalls haben vier Jahre Konzil in den katholischen Gemeinden das ökumenische Bewusstsein stärker entwickelt, als es fünfzig Jahre ökumenischer Bewegung innerhalb des Protestantismus vermocht haben. 3.

Die Skizze der katholischen und evangelischen Prinzipien des Ökumenismus kann zeigen, dass die Ursache für das langsame Fortschreiten der ökumenischen Bewegung nicht einfach in der Polarisierung zwischen bremsenden Kirchenleitungen und revolutionärer Spontan-Ökumene, sondern vielmehr in tiefreichenden theologischen Unterschieden liegt. Die ökumenische Bewegung stößt gegenwärtig an zwei Grenzen: Einmal kann die römisch-katholische Kirche mit ihrem Verständnis von »redintegratio unitatis« (Wiederherstellung der Einheit) nicht weiter als bisher auf die andern Kirchen zugehen, ohne ihr Selbstverständnis aufzugeben, und zum andern wollen die nichtrömisch-katholischen Kirchen sich nicht in der beschriebenen Weise vom Katholizismus integrieren lassen.

Dieses ökumenische Dilemma zeigt sich beispielsweise auf Weltebene, wo die Mitgliedschaft der römisch-katholischen Kirche im Ökumenischen Rat der Kirchen vorläufig auf Eis gelegt wurde. Es trat beim Augsburger Ökumenischen Pfingsttreffen zutage, wo die sogenannten Amtskirchen sich zurückhielten, um nicht mit gewagten Experimenten identifiziert zu werden, und wo deutlich wurde, dass es sich hier um eine Eintagsfliege der »freien Ökumene« handelte. Ganz evident wird das Dilemma daran, dass trotz der oft zitierten Einheit in Christus und im Heiligen Geist und trotz beachtlicher theologischer Konvergenzen in der Abendmahlslehre die offene Kommunion (gegenseitige Zulassung zum Abendmahl) oder gar die Interkommunion (volle Abendmahlsgemeinschaft) vorerst tabu sind. Konsequenzen für die Ökumene am Ort Diese Kurzanalyse der ökumenischen Positionen weist auf Grenzen und Möglichkeiten für die ökumenische Bewegung hin. Zur Resignation besteht keine Veranlassung. Es gilt vielmehr, trotz der kontroversen Einheitskonzeptionen vor allem »am Ort« eine Politik der kleinen und konkreten Schritte zu betreiben, bei der die Christen verschiedener Konfession durch besseres gegenseitiges Verstehen langsam zu einer Verständigung in einzelnen Punkten kommen. Die Einsicht in die unterschiedlichen Prinzipien des Ökumenis-

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mus zerstört zwar die Illusion einer raschen Vereinigung der Kirchen, aber sie darf nicht verhindern, dass katholische und evangelische Christen mehr und mehr die gemeinsame Basis ihres Christusglaubens entdecken und in gemeinsamem christlichen und kirchlichen Leben praktizieren. Die Polarisierung, die beim Stichwort »Sach-Ökumenismus« deutlich wurde (nämlich die Frage nach der Priorität der Bemühungen um »innerchristliche Einheit« oder um »Dienstgemeinschaft in der Welt«), ist durch Vereinseitigungen entstanden. Die Ökumene am Ort braucht jedoch beide Bemühungen, und je nach Situation der Gemeinden muss die Frage der Priorität entschieden werden. 1.

Im Großen und Ganzen führen trotz des ökumenischen Aufschwungs sämtliche Gremien der katholischen und evangelischen Kirche noch ein Eigenleben. Man hat offenbar im eigenen Bereich genügend Probleme und Arbeit, so dass die ökumenische Zusammenarbeit oft nur sporadisch geschieht oder nur eine Angelegenheit einiger Spezialisten ist. Hier und da machen kirchliche Vereine oder Gruppen bessere Erfahrungen, beispielsweise in den Studentengemeinden und Jugendkreisen, wo freimütig ein offenes gegenseitiges Gastrecht praktiziert wird.

Zu einer totalen Integration einzelner Arbeitszweige ist es jedoch bisher kaum gekommen. Öffentliche Veranstaltungen wie gemeinsame Gottesdienste, Vorträge, Seminare o. ä. werden gern von den Kirchengemeinden als erster Schritt zu einer evangelisch-katholischen Begegnung gewählt. Seit zwei Jahren etwa hört man jedoch kreuz und quer aus Deutschland, dass das ökumenische Interesse zu schwinden scheint, sobald der Reiz des Neuen nachlässt und das gemeinsame Tun qualitativ nicht mehr biete als das Gewohnte in der eigenen Kirche. Im Bundesdurchschnitt hatten 35,8 % aller evangelischen Kirchengemeinden im Jahre 1970 interkonfessionelle gottesdienstliche oder informative Veranstaltungen durchgeführt. In der Evangelischen Kirche im Rheinland waren es sogar 57,4 %. Umgekehrt ausgedrückt: 64,2 % der evangelischen Gemeinden in der Bundesrepublik und 42,6 % im Rheinland veranstalteten noch keine ökumenischen Zusammenkünfte. In 13,4 % der Gemeinden der BRD bestehen ökumenische Arbeitskreise (im Rheinland 26,3 %). Solche Gremien sind eine geeignete Kontaktstelle, um die anstehenden Probleme zwischen den Kirchen zu besprechen. Die meisten Kreise arbeiten privat, d. h. die Teilnehmer haben kein Mandat und keine Kompetenz, um für ihre Gemeinden oder ihre Vereine sprechen zu können. Die Folgen liegen auf der Hand: Wenn nicht durch gemeinsame Veranstaltungen sichtbare Erfolge zu verzeichnen sind, degradieren unverbindliche Gespräche solch einen Kreis über kurz oder lang zu einer Belanglosigkeit. Aber auch dort, wo evangelische und katholische Kirchenvorstände sich offiziell an einem »lokalen Christenrat« beteiligen, wird die Schallmauer der Unverbindlichkeit selten durchbrochen. Alles in allem wird man jedoch bei nüchterner Betrachtung der Entwicklung in den letzten zehn Jahren sagen müssen, dass die katholische und evangelische Kirche in Deutschland sich in erstaunlichem Maße dem ökumenischen Anliegen geöffnet haben. 2.

Neben den genannten Polarisationen und theologischen Prinzipien richtet sich nun das Augenmerk bei der »Ökumene am Ort« auf die »technische« Frage, wie man erreichen kann, dass die ökumenische Zusammenarbeit den überlasteten Pfarrern und kirchlichen Mitarbeitern statt nur mehr Arbeit eine wirkliche Entlastung bringt.

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Wenn die Ökumene am Ort nicht zu einem esoterischen Zirkel kleiner werdender Gesinnungsgemeinschaften werden soll, müssen eigene interkonfessionelle Gremien geschaffen werden, die 1.

ein klar umrissenes Mandat haben und dem Wunsch entsprechen, die Zuständigkeit für die ökumenische Arbeit zu regeln, und die

2.

sowohl alle am Ort vertretenen amtlichen Gemeinden wie auch die kirchlichen Vereine und Gruppen repräsentieren.

Nur so kann über die Konfessionsgrenzen hinweg eine wirklich konzertierte Aktion von Amt und Gemeinde, von Institution und Charisma, von Kirchengemeinde und relativ freien Vereinen aufgebaut werden. Wenn solch ein Ökumenischer Rat am Ort funktioniert, kann das herkömmliche Konkurrenzdenken abgebaut und manche Doppelarbeit vermieden und somit auch eine Entlastung der kirchlichen Mitarbeiter erreicht werden. Freilich braucht es einige Zeit wachsenden Vertrauens in den Gemeinden, bis man ein solches ökumenisches Gremium bilden kann. Es muss auch geprüft werden, ob diese Verinstitutionalisierung die ökumenische Bewegung in den Gemeinden nicht auch hemmen kann. Von Strukturerneuerungen sind keine Patentlösungen zu erwarten, und sie ersetzen schon gar nicht den Heiligen Geist. Aber was sich auf Ortsebene in hoffnungsvollen Ansätzen und Erwartungen durch das Wirken des Heiligen Geistes bewegt, was sich jedoch aufgrund nicht vorhandener oder wegen schlecht funktionierender Gremien nicht recht entfalten kann, das könnte durch die Schaffung solcher Koordinationszentren neuen Auftrieb bekommen. Ökumenische Räte am Ort können schließlich auch dazu beitragen, die erwähnten Polarisierungen zu überwinden, indem die Christen Sinn und Grenze der Konfessionalität erkennen und den Weg der »Dritten Konfession« bewusst vermeiden. In der brüderlichen Gemeinschaft aller an einem Ort würde sich bruchstückhaft das Gebet Christi erfüllen, »dass alle eins seien«.

II.2.2 Die Beziehung der Evangelischen Kirche im Rheinland zur Katholischen Kirche seit 1945∗ Arnold Nieland Bei einem Treffen evangelischer und katholischer Publizisten aus der ganzen Bundesrepublik im Kloster Maria Laach begrüßte Präses Beckmann namens der Evangelischen Kirche im Rheinland die Anwesenden im Kapitelsaal des Klosters »auf dem Boden der rheinischen Kirche«. Er begann seinen kurzen Überblick über die Geschichte dieser evangelischen Kirche mit dem lapidaren Satz: »Die Geschichte dieser Kirche ist nur zu verstehen als eine ständige Auseinandersetzung mit der katholischen Kirche.« So richtig dieser Satz für die Anfänge evangelischen Lebens am Rhein und das Gestaltwerden dieser Kirche ist, so entspricht er aus verschiedenen – zwischenkirchlichen und innerevangelischen – Gründen nicht mehr der heutigen Wirklichkeit. Das Verhältnis der Kirchen Aus: Handreichung Nr. 27, Dezember 1972 (zur Vorbereitung der Landessynode 1973 mit dem Schwerpunktthema »Ökumene am Ort«). ∗

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zueinander ist anders geworden – sie begannen, erste Schritte aufeinander hin zu tun. Davon wird hier zu reden sein. Im Jahre 1945 sahen beide Kirchen auf den Kampf zurück, den sie – je für sich und gemeinsam – gegen Unrecht und Übergriffe während des Dritten Reiches geführt hatten. Im Kampf gegen den gemeinsamen Gegner kam man sich näher und lernte sich kennen und schätzen – bis hin zur Zweisamkeit in Gefängniszellen und KZs. In den Grenzsituationen des Lebens wurde deutlich, dass es eine Gemeinsamkeit im Glauben an den einen Herrn gibt, die von den Menschen gesetzte konfessionelle Grenzpfähle hinter sich lässt. Man begann, langsam und vorsichtig, besorgt um die Zustimmung der Gemeindeglieder, das Gemeinsame stärker zu betonen als das Trennende. Gegenseitige Vertretung von Pfarrern im Kriege – bei den Kriegspfarrern draußen eine Selbstverständlichkeit – wurde auch zu Hause etwa bei Amtshandlungen praktiziert, wo durch Einberufung und Tod eine nicht zu schließende Lücke entstand. Noch galt es aber als Besonderheit, wenn ein evangelischer Christ durch einen katholischen Priester beerdigt wurde. Man muss dabei bedenken, dass in einigen Gegenden der Hass zwischen den Konfessionen eine lange Tradition hatte1. Diese tief verwurzelte Gegnerschaft und Unkenntnis wurde aufgelockert, als lange Jahre hindurch Soldaten evangelischer Konfession im katholischen Rheinland einquartiert waren, wie sie im Felde zusammenstanden, ohne die Trennung der Konfession als entscheidendes Hindernis zu erkennen. Es will uns heute unverständlich erscheinen, in welchem Maße aus dieser von Theologen und Laien getragenen Annäherung nun nach 1945 eine über zehn Jahre lang dauernde Entfremdung wurde. Man kehrte sich nicht grundsätzlich voneinander ab. Aber beide Kirchen hatten so viel mit sich zu tun, dass sie im hektischen Aufbau der Organisation und der Gebäude keine Zeit füreinander hatten. Natürlich gewährte man sich Gastrecht in den Kirchen, wo es nötig war, das hing irgendwie noch mit der Kriegssituation zusammen. Es gab auch eine zukunftweisende Sache, die »Gemeinsame Sozialarbeit der Konfessionen im Bergbau«. Man lud sich zu zahllosen Kircheneinweihungen ein und weihte gemeinsam Brücken und Stadtsparkassen. Aber man legte keinen Wert darauf, den anderen und seine Art genauer kennenzulernen. »Man wollte doch keine Grenzsteine verrücken«, so konnte man es bei solchen Einweihungsansprachen hören. Es ist im Rückblick so, als habe die Wiedererrichtung der eigenen Kirche – organisatorisch und baulich – so viele Kräfte verzehrt, dass der Blick über den Zaun, das Händereichen über den Graben nicht mehr möglich war – von wenigen Einzelvorkommen abgesehen. Beide Kirchen sahen auf sich und vergaßen, dass aus dem Gespräch der Arbeit mit dem anderen der eigenen Gemeinschaft neue Kräfte zufließen.

1

Dieser Hass stammte nicht nur aus der Zeit der »Gemeinden unter dem Kreuz« und der Gegenreformation, sondern war von beiden Seiten bis in die Gegenwart geschürt worden. Die bewusste Versetzung evangelischer Beamter in rein katholische Gebiete sollte ja Gegensätze zwischen diesen und der Bevölkerung vermehren. Diese Methode führte die verschiedenen Konfessionen Preußens aber nicht zusammen, sondern betonte die Unterschiede.

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Das Engagement für die Ökumene, das in den Jahren nach 1945 mächtig anstieg, richtete den Blick nach draußen, auf die hilfsbereite weltweite Gemeinschaft der nicht-römischen Christenheit. Es ist verwunderlich, wie wenig man dabei an die Ökumene zu Hause gedacht hat. Wir müssen das bedauern, wir können das beklagen, die bedrückende Tatsache dieses Versäumnisses ist nicht aus der Welt zu schaffen. Solange sie zusammengeprügelt wurden, suchten die Kirchen Halt aneinander. Als die Sonne wirtschaftlicher Erholung lachte, als der staatliche Druck abgelöst wurde vom Wohlwollen der Mächtigen, suchten beide Kirchen ihre eigene Position zu festigen und auszubauen. Wo man gemeinsam hätte planen können, reizte der Erfolg der einen Kirchengemeinde die andere, noch mehr zu erreichen. Die überstürzte Einrichtung konfessioneller Kindergärten ist das eine Beispiel dafür. Das andere ist die – manchmal gegen starken Widerstand erkämpfte – Errichtung konfessioneller Volksschulen. Hier vergaß man die Erkenntnisse, die man in der Heimat und an der Front gewonnen hatte, wenn es um Positionen ging. Über die ökumenische Fernstenliebe, die nach der erzwungenen Abstinenz davon seit 1933 so verständlich war, vergaßen wir die Liebe zum Christenbruder am Ort, der ein anderes Gesangbuch hatte. Die zehn Nachkriegsjahre waren ein Zeitraum großartigen und erstaunlichen kirchlichen Wiederaufbaus – aber im Blick auf die Zusammenarbeit der beiden großen Kirchen in ihren leitenden Organen und Personen auf allen Ebenen eigentlich betrübliche Jahre der Stagnation, gar des Rückschritts gegenüber 1935–1945. Langsam und sehr zaghaft wurden dann erste Schritte zueinander getan. Sie begannen mit – nach bisheriger Meinung – verkehrten Fronten. In den Kirchen begann man, sich mit konfessionskundlichen Problemen zu befassen. Der Drang, sich besser, genauer, tiefer zu erkennen, wurde von Jahr zu Jahr deutlicher. Dieser Wille wurde gefördert und unterstützt durch D. Sucker und sein Konfessionskundliches Institut in Bensheim sowie das gleichnamige katholische Institut in Paderborn. Im Rheinland berief die Landessynode einen Konfessionskundlichen (heute Catholica-)Ausschuss. Vorträge der »Bensheimer« hier und in der Konferenz evangelischer Diasporapfarrer sowie in Gemeinden beeinflussten weite Kreise der kirchlichen Mitarbeiter. Die Diasporapfarrer waren hier in besonders eklatanter Weise zur Stellungnahme herausgefordert. Das Einströmen von Millionen evangelischer Flüchtlinge ließ nicht nur neue Diasporagemeinden entstehen, sondern änderte auch das Verhältnis der früher kleinen Diasporagemeinden zu ihrer katholischen Umwelt. Die katholischen Christen erlebten – oft erstmalig – in ihrer nächsten Nachbarschaft, dass man als Christ evangelisch leben und sterben konnte. Dies ließ das Fragen nach der anderen Konfession in ihrem echten Bekennen deutlich vernehmen. Das lag auch daran, dass Suckers Institut in Bensheim nicht mehr wie der »frühere« Evangelische Bund für die »Wahrung deutsch-protestantischer Interessen« stritt, sondern fundierte Kenntnis der anderen Konfession vermitteln wollte. Solchen Einflüssen hat sich die rheinische Kirche bereitwillig geöffnet und durch alle Kreissynoden Beauftragte für diese Fragen berufen, die den Gemeinden ihres Kirchenkreises in konfessionskundlichen Fragen Rat und Hilfe erteilen sollten. Langsam begannen denn auch persönliche Kontak-

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te zu wachsen zwischen den Pfarrern und Priestern am Ort, den Superintendenten und Dechanten, den Mitgliedern der Kirchenleitung und den Bischöfen im weiten Raume der rheinischen Kirche. Schon vor der Ankündigung des II. Vatikanischen Konzils wurden die Kontakte enger, die Begegnungen häufiger. Das ungestüme Drängen katholischer Theologen und Laien nach der Einheit der Christen fand in evangelischen Kreisen Echo und Verstärkung. Erfahrungen aus Verfolgungs- und Kriegszeiten meldeten sich zu Wort. Ökumenische Wochen mit Vorträgen von Rednern aller Konfessionen fanden großen Zuspruch und führten schließlich mancherorts zu einer Intensivierung der ökumenischen Gebetswoche und zur gemeinsamen Durchführung des Weltgebetstages der Frauen. Vorträge und gemeinsame Gemeinde-Seminare über zwischenkirchliche Probleme machten die Notwendigkeit besseren Kennenlernens deutlich und drängten zur weiteren theologischen Durcharbeitung der Möglichkeiten, zu einer Einheit der Christen zu kommen. In der ersten Düsseldorfer ökumenischen Woche hielt Präses Beckmann – zum Erstaunen der Katholiken sofort dazu bereit – einen Vortrag. Er gab die Richtung künftiger Arbeit an: »Wir müssen aus dem Zustand der Koexistenz (seit 1648) und dem der Kooperation heute zur Kommunion kommen.« Die Ergebnisse des II. Vatikanischen Konzils ließen die Hoffnung wachsen, dass solche Zukunftspläne einmal Wirklichkeit werden können. Das Konzil hat die evangelischen Gemeinden stark interessiert. Vorträge über dieses Thema fanden immer ein breites evangelisches und katholisches Publikum. Unsere Gemeinden spürten, dass es hier nicht um innere Reparaturen und Reformen einer Teilkirche ging, sondern um Fragen der gesamten Christenheit. So gewiss wir als evangelische Christen nicht alle Beschlüsse des Konzils und seine Folgeerscheinungen bejahen können, so deutlich muss die Befriedigung darüber geäußert werden, dass sich nun endlich auch kirchenamtlich eine neue Wertung der Reformation und der aus ihr herausgewachsenen Kirchen durchgesetzt hat. Der im Ökumenismusdekret des Konzils verankerte Grundsatz des par cum pari bei Verhandlungen zwischen den Kirchen hat sich auch für die Gespräche in unserem Raum heilsam ausgewirkt. Die Fülle der Kontakte beim Konzil zwischen katholischen und evangelischen Theologen verschiedenster kirchlicher Dienststellen musste erfreuliche Auswirkungen auch in Deutschland haben. Nun verlief auch die Geschichte der rheinischen evangelischen Kirche nicht mehr nur in Auseinandersetzung mit dem römischen Katholizismus, sondern in fruchtbarer Begegnung. Die Wege der beiden Kirchen beginnen, sich zu nähern wie Schienen vor einer Weiche. Es besteht nicht die Aussicht, dass daraus eine Einschienenbahn wird, aber dass die Schienen auf die Dauer parallel laufen werden. Für dieses Streben nach gleichlaufenden Arbeitsweisen gibt es in der Gegenwart eine Reihe von bezeichnenden Beispielen. Die Fülle der zwischenkirchlichen Aktivitäten ist in den letzten Jahren so erfreulich angewachsen, dass sie weder von der Landeskirche besonders angeregt noch reglementiert werden mussten. Von wenigen Ausnahmefällen abgesehen, wo ökumenischer Enthusiasmus über das Ziel schoss, haben sich die Begegnungen allerorts und auf allen Ebenen erfreulich entwickelt und zu einer Verstärkung des Bewusstseins über das gemeinsame Gut der Konfessionen beigetragen.

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Da fanden gemeinsame Wortgottesdienste statt, in denen die Pfarrer beider Kirchen im Ornat zusammenwirkten. Sie wurden sehr bald nicht mehr als spektakuläre Ereignisse empfunden, sondern gewannen ihren festen Platz im gottesdienstlichen Leben vieler Gemeinden. Sie wurden vorbereitet und ermöglicht durch die gemeinsame theologische Arbeit der Pastoren, die manchmal so weit geht, dass sie die Texte ihrer Predigten gemeinsam exegesieren und meditieren. Dazu finden in manchen Gemeinden in Abständen gemeinsame Sitzungen der Presbyterien und Pfarrgemeinderäte zur Beratung gemeinsamer Anliegen statt. Dass Dechanten an Tagungen der Kreissynoden teilnehmen – leider gibt es kein katholisches Gegenstück dazu –, hat in manchen Kirchenkreisen zu schriftlich fixierten Abmachungen darüber geführt, an welchen Problemen man arbeiten und wie man gemeinsam handeln will. Das wirkte natürlich auf die Arbeit der Landeskirche ein. Infolgedessen war es eine natürliche Konsequenz solcher Entwicklung, dass die katholische Kirche zur Landessynode eingeladen wurde und dass ihr Vertreter an der gesamten Tagung teilnahm. Kirchentag und Katholikentag veranstalteten ökumenische Gottesdienste, in denen meist der rheinische Präses predigte, wie er auch beim Hamborner nun schon traditionellen Liebesmahl gemeinsam mit Bischof Hengsbach die Schriftauslegung hält. Man folgt dabei dem guten ökumenischen Grundsatz, gemeinsam zu tun, was man tun kann, und nur das getrennt zu tun, was man um des Gewissens willen nicht gemeinsam tun kann. Dass dazu noch die Frage der gemeinsamen Kommunion gehört, ist allen ein tiefer Schmerz. Vollends unverständlich erscheint die ablehnende Haltung der Kirchen – vor einer theologischen Aufarbeitung des Problems – der Jugend, für die der offene Katholizismus der benachbarten Holländer ein Ideal darstellt. Zusammenarbeit der Kirchen geschieht in vielen Bereichen der Diakonie seit Jahren. Sie wird neu aufgegriffen im Bereich der politischen Verantwortung. Es wird auch in der Öffentlichkeit unseres Volkes erwartet, dass die Kirchen zu wichtigen Fragen (Ehe- und Scheidungsrecht usw.) gemeinsam mahnend und warnend ihre Stimme hören lassen. Das ist auf dem Gebiet der Schule noch immer schwierig, obschon entscheidende Gespräche über diese Frage im Lande Nordrhein-Westfalen von Präses Beckmann angeregt und mit Erfolg geleitet worden sind. Erneut werden die Kirchen in der Frage des Bildungsplanes der Bundesregierung mit wachsamer Sorge gemeinsam ihr Wort zu sagen haben2. Um die Kirchen in die Lage zu versetzen, zu gemeinsamen Erkenntnissen zu kommen und diese gemeinsam auszudrücken, hat die Evangelische Kirche im Rheinland die Bildung von zwei ökumenischen Kommissionen angeregt, wie sie im »Ökumenischen Direktorium« vorgesehen sind. Es besteht seit 1957 die ökumenische Landeskommission Nordrhein-Westfalen, gebildet von den drei Landeskirchen und den fünf Bistümern. Es besteht außerdem eine ökumenische Gebietskommission zwischen dem Bistum Trier und der rheinischen Kirche. In diesen Kommissionen ist die Gelegenheit gegeben, schwierige und kritische Fragen in der Offenheit einer Gruppe zu erörtern, die sich kennt und die 2

Über die Frage, auf welche Weise in der Oberstufe der Höheren Schule der Religionsunterricht von den Lehrern beider Konfessionen auch zeitweise gemeinsam gegeben werden kann, laufen zurzeit Verhandlungen zwischen den Kirchen mit den Regierungen. Falls dieser Unterricht offiziell ermöglicht wird, geschieht ein großer Schritt zur gemeinsamen Verantwortung der Christen.

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aus der gemeinsamen Arbeit miteinander vertraut ist. Die Kommissionen bieten ihre guten Dienste an, überall da zu helfen, wo örtliche Nöte nicht am Ort einer Lösung zugeführt werden können. Das Wort »Mischehe« ist bisher nicht vorgekommen, Daraus darf nicht der Eindruck entstehen, als sei das Problem im Rheinland unwesentlich. Vom Kölner Mischehenstreit an bis 1970 haben die Nöte der konfessionsverschiedenen Ehen die sonst mögliche Gemeinsamkeit vergiftet und viel Leid in die Familien getragen. Wie sollte es anders sein in einer typischen Diasporakirche, wie die rheinische es wenigstens links des Rheines ist. Viele, oft vergebliche Versuche sind in den Jahren zuvor von allen Einrichtungen, Institutionen, Gremien gemacht worden, hier zu helfen. Erst das Motuproprio Pauls VI. vom April 1970 hat hier eine neue Lage in der Praxis geschaffen. Zwar hat sich entgegen allen Erwartungen das Mischehenrecht im Grundsatz nicht geändert. Aber durch den Auftrag des Papstes an die Bischofskonferenzen, Ausführungsbestimmungen zu erlassen, wurde es möglich, »zu einem schlechten Gesetz gute Ausführungsbestimmungen zu erlassen«. Erstmalig haben sich die Bischöfe entschlossen, zur Erarbeitung dieser Bestimmungen evangelische Theologen zuzuziehen. Sie haben die Möglichkeit, Änderungen am Vorentwurf anzubringen, mit Erfolg genutzt. Auch die Erarbeitung der inzwischen erschienenen Richtlinien für die gemeinsame Seelsorge an konfessionsverschiedenen Ehen ist in Zusammenarbeit der beiden großen Kirchen unter Hinzuziehung eines Beauftragten der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen erfolgt. Es ist zu hoffen, dass diese gesetzlichen Bestimmungen nun auch wirklich zu einer Entschärfung der Mischehensituation führen, wobei allerdings zu bedenken ist, dass alte gegensätzliche Positionen allein durch Bestimmungen nicht aus der Welt zu schaffen sind. Wie stark der Gedanke gemeinsamer Verantwortung inzwischen gewachsen ist, erweist sich auch aus der Vereinbarung, die die Kirchen in NRW im Juni 1972 auf Vorschlag des Bischofs von Münster beschlossen haben. Hier wird der Rahmen abgesteckt, in dem die Kirchen auf den Gebieten der Diakonie, der Öffentlichkeitsarbeit, der Sorge für die Schulen und der Erwachsenenbildung gemeinsam handeln können. Wichtig ist dabei die Absprache, dass die Kirchen sich bei wichtigen Vorhaben rechtzeitig vorher informieren wollen, damit Doppelplanungen vermieden werden. Eine erste Frucht dieser vereinbarten Zusammenarbeit ist das Unternehmen »Kirchen informieren«. Hier sind in bestimmten Gebieten von NRW allen Tageszeitungen dreimal im Jahr kirchliche Mitteilungen beigelegt worden, um auf diese Weise an alle Haushaltungen heranzukommen. Das Leserecho ist gut. Die Aktion soll auch 1973 fortgeführt werden. Die im September 1972 gegründete »Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Nordrhein-Westfalen« umschließt außer den beiden großen Kirchen auch orthodoxe und freikirchliche Gemeinden. Aus den zaghaften Anfängen in der Arbeit der Ökumenischen Landeskommission scheinen langsam Ergebnisse zu erwachsen. Die Kooperation der großen Kirchen nimmt sichtbare Formen an.

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II. Publikate der 1970er Jahre

Statistische Übersicht: »Ökumene am Ort I« (Ergebnis einer Umfrage in den Gemeinden der Evangelischen Kirche im Rheinland – Stand vom 1. Dezember 1972)* I. Zusammenarbeit der Gemeinden

ja

Besteht Zusammenarbeit? Gemeinsame Gottesdienste Gemeinsame Veranstaltungen, Vorträge Gemeinsame Schulgottesdienste

498 492 393 390

Wie oft haben Gottesdienste stattgefunden?

jährlich 1 x jährlich 2 x jährlich 3 x jährlich 4 x jährlich 5 x öfter

141 122 71 40 13 82

Wo haben die Gottesdienste stattgefunden?

wechselseitig ev. Kirche kath. Kirche sonstige Räume

34 344 313 34

An welchem Wochentag?

Sonntag Montag Dienstag Mittwoch Donnerstag Freitag Samstag

235 8 23 61 32 54 33

Sind diese Gottesdienste als regelmäßige Einrichtung geplant? Wie oft im Jahr?

323 jährlich 1 x jährlich 2 x jährlich 3 x häufiger

70 117 26 55

*Die Fragen wurden an ca. 1500 Gemeinden bzw. Bezirkspfarrer versandt; die Übersicht bezieht sich auf 900 Antworten, die bis zum 1. Dezember eingingen.

II.3 Landessynode 1973

II.3.1 Erklärung der Landessynode über die Zusammenarbeit der evangelischen und katholischen Kirche Beschluss Nr. 60∗ Die Landessynode nimmt dankbar zur Kenntnis, dass die Zusammenarbeit zwischen katholischen und evangelischen Kirchengemeinden im Bereich der Evangelischen Kirche im Rheinland enger wird. Dieses Bewusstsein der universalen Zusammengehörigkeit muss vertieft werden. Mit den Reformatoren bekennen wir die eine Kirche Christi. Christus ist der Kirche vorgegeben als Grund und Hoffnung ihrer Einheit. Der Gehorsam gegen Christus und seinen Willen mit der einen Kirche verpflichtet uns, alles in unseren Kräften Stehende zur Überwindung der Spaltung zu tun. Bei diesem Bemühen haben wir schon jetzt eine Gemeinschaft mit Jesus Christus und darum auch untereinander. Die Einheit der Kirche ist aber kein Selbstzweck. Nur wenn wir die Einheit der Kirche beharrlich suchen, können wir Christus der Welt glaubwürdig bezeugen. Was wir als Christen erbitten, fordern und tun, muss darum ein Bekenntnis zu dieser Einheit der Kirche sein, in der von der Urchristenheit an die lebendige Vielfalt der Glaubensäußerungen eingeschlossen ist. So werden unsere Gemeinden, wo sie mit Christen der anderen Konfession Gemeinschaft suchen, sich auf dem Weg zu der einen Kirche Jesu Christi finden, deren Gestalt wir heute noch nicht kennen. Der jetzige Stand der Zusammenarbeit der beiden großen Kirchen darf nicht das Ende unserer ökumenischen Bestrebungen sein. Das Ziel muss vielmehr die Verbindung aller Christen an jedem Ort sein. Die Zusammenarbeit in einer alle verpflichtenden Gemeinschaft kann erst verwirklicht werden, wenn sie auch die Christen der Freikirchen, aller übrigen Kirchen und Gemeinschaften mit einbezieht. Dabei übersehen wir nicht die Hindernisse, die einem solchen Ziel noch entgegenstehen. »Ökumene am Ort« hat es mit der jeweiligen Lage in den Gemeinden zu tun. Die Schwierigkeiten sind hier nicht nur theologisch, sondern oft auch psychologisch begründet. Noch immer erschweren Vorurteile den unbefangenen Umgang miteinander; nicht selten herrscht die Sorge vor einer Änderung des gewohnten kirchlichen Lebensstils. Wo evangelische und katholische Christen zusammenleben, ist vielfach ein starkes Streben nach dem gemeinsamen Herrenmahl zu spüren. Das hat sich besonders deutlich ∗

Protokoll der Landessynode 1973, S. 173–176.

II. Publikate der 1970er Jahre

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während des ökumenischen Pfingsttreffens in Augsburg (1971) gezeigt und dort seinen Niederschlag in zahlreichen Resolutionen gefunden. Wenn das ökumenische Leben in den Gemeinden nicht gehemmt werden soll, muss das Thema »Abendmahlsgemeinschaft« und die damit zusammenhängenden Fragen Gegenstand offizieller Beratungen besonders der beiden großen Kirchen werden, die möglichst schnell aufgenommen oder fortgeführt werden sollen. So wird das beharrliche Gespräch auch hier zu einem Verständnis vom Herrenmahl führen, das die Gemeinschaft evangelischer und katholischer Christen ermöglicht. Die bedeutsame Vorarbeit, die von Theologen beider Kirchen schon geleistet wurde, muss dabei genutzt werden. Wir verkennen nicht die schwerwiegenden Lehrdifferenzen, die noch zwischen den Kirchen stehen; wir übersehen auch nicht die unterschiedliche Bedeutung, die der katholischen Eucharistie einerseits und dem evangelischen Abendmahl andererseits im Leben der Kirchen jeweils zugemessen wird. Es geht nicht um ein Verschmelzen zweier Grundhaltungen, sondern um das Aufarbeiten ihrer kirchentrennenden Bedeutung und um ihren gemeinsamen Ursprung. Solange noch keine Einigung erzielt ist, soll in der Evangelischen Kirche im Rheinland niemand vom Abendmahl zurückgewiesen werden, der in seiner Kirche im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes getauft und zum Abendmahl zugelassen ist, sofern er sich nicht durch Ordnungen seiner Kirche daran gehindert weiß. Für eine lebendige Zusammenarbeit gibt es in den Gemeinden eine Fülle von Möglichkeiten. Die gemeinsame Erklärung der Diözesen und Landeskirchen in Nordrhein-Westfalen (Juni 1972) über eine evangelisch-katholische Zusammenarbeit gibt dafür eine Reihe von Anregungen, ökumenischer Grundsatz sollte werden, dass alles gemeinsam geschieht, was nicht aus Gewissens- oder Zweckmäßigkeitsgründen getrennt getan werden muss. Als Beispiele seien genannt: − Gemeinsames Hören auf die Heilige Schrift ist durch die weithin übereinstimmenden Ergebnisse der Bibelwissenschaft leichter geworden. − Im ökumenischen Gottesdienst bekennen sich Christen zu ihrem gemeinsamen Herrn. Solche Gottesdienste sollen nach gründlicher Vorbereitung in nicht zu großen Abständen stattfinden. − Vom Kindergarten bis zur Altenarbeit können soziale Dienste gemeinsam angeboten und geleistet werden. Hierzu sollten insbesondere Gemeinden in Neubauvierteln bereits im Stadium der Planung mit den entsprechenden katholischen Stellen Verbindung aufnehmen. − Es ist anzustreben, kirchliche Bauvorhaben gemeinsam zu planen, durchzuführen und zu nutzen. − Im Rahmen der Erwachsenenbildung sollen gemeinsame Seminare geplant und durchgeführt werden. − Die gemeinsame Seelsorge an konfessionsverschiedenen Ehen ist ein wesentlicher Teil gelebter Ökumene. Von beiden Seiten zu erarbeitende Richtlinien sollen dazu Anregungen geben. − Auf Ortsebene eingesetzte ökumenische Ausschüsse können auf allen diesen Gebieten gute Dienste tun. Soweit örtliche freie ökumenische Gruppen bestehen, sollen sie bei Besetzung der Ausschüsse berücksichtigt werden. Presbyterien, Pfarrgemeinderäte und Kirchenvorstände sollten insbesondere vor neuen Aktivitäten gemeinsame Sitzungen halten. Auch kleine Schritte sollten in der Gewissheit geschehen, dass sie dem großen Ziel dienen.

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II.3.2 Erklärung zu der Vergebungsbitte des Papstes Paul VI. vom 29.9.1963∗ Beschluss Nr. 61 der Landessynode 1973: Dankbar erinnern wir uns der Vergebungsbitte Papst Pauls VI. Wie der Lutherische Weltbund bei seiner V. Vollversammlung in Evian-les-Bains (14.–24.7.1970), so nehmen wir diese Bitte an, indem wir mit dem Gebet des Herrn sprechen: Herr, vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern. Aufgetragen ist uns der Dienst für die eine Kirche Jesu Christi, die durch Überwindung der Spaltungen zur Darstellung gebracht werden will. Wir haben schon erfahren, dass uns derselbe Christus, von dessen Gnade wir in unserer Kirche leben, eindringlich auch in anderen Kirchen begegnet ist. Wir haben gelernt, das grundlegende Zeugnis der reformatorischen Bekenntnisse von ihren geschichtlich bedingten Denkformen zu unterscheiden und es so im Dialog der Kirchen fruchtbar werden zu lassen. Wir warten auf die Gemeinschaft am Tisch des Herrn und sind gewiss: Wenn wir einander vergeben, wie uns der himmlische Vater in seinem Sohne Jesus Christus vergibt, wird uns die große Tischgemeinschaft eröffnet und geschenkt sein.

II.3.3 Referat zum Hauptthema der Landessynode 1973∗∗ »Ökumene am Ort« Arnold Nieland Es gibt in allen Kirchen Stimmen, die in der ökumenischen Aktivität der Gegenwart nicht mehr sehen als den Versuch, sich über Geschwindigkeitsbegrenzungen der ökumenischen Entwicklung zu einigen. In Wirklichkeit geht es um wesentlich mehr. Nach einer Zeit rasanter Entwicklungen im Verhältnis der Konfessionen zueinander versucht man überall, Klarheit über das Erreichte zu gewinnen, um gleichzeitig nach verantwortbaren Wegen zu suchen, die uns der Einheit der Christenheit näherführen. Solches Atemholen nach einem schnellen Lauf darf man nicht als Stagnation abtun. Ich nenne die letzten Stationen dieses Laufes: 1971 tagt die Kommission für Glauben und Kirchenverfassung in der Jesuitenhochschule in Löwen über den Fragen der zwischenkirchlichen Beziehungen. Der Zentralausschuss des Ökumenischen Rates hat sich in Utrecht 1972 von Dr. Lukas Vischer einen Bericht über die gemeinsame Arbeitsgruppe der römisch-katholischen Kirche und des Ökumenischen Rates der Kirchen erstatten lassen. In Malta haben 1969 bis 1972 offizielle Vertreter des Einheitssekretariats und des Lutherischen Weltbundes über die Frage des Amtes verhandelt, um auf diese Weise die gemeinsamen Teilnahmen am Abendmahl zu ermöglichen. In der vergangenen Woche wollte die gemeinsame Synode der Diözesen in Deutschland in erster Lesung über »Pastorale Zusammenarbeit vor Ort« verhandeln. In verschiedenen deutschen Diözesen haben die ökumenischen Bistumskommissionen Vorschläge erarbeitet, wie man in den Gemeinden enger zusammenarbeiten könnte. Es schien daher an der Zeit, dass unsere Landessynode auf diese ∗ ∗∗

Protokoll der Landessynode 1973, S. 177. Protokoll der Landessynode 1973, S. 118–125.

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verschiedenen Vorschläge eine Antwort erteilt und ihrerseits Ratschläge gibt, wie wir zu einer engeren Zusammenarbeit kommen können, auch wenn wir heute nur das evangelisch-katholische Verhältnis betrachten. Von jenen Zeiten an, da in Köln Märtyrer um ihres evangelischen Bekenntnisses willen verbrannt wurden, bis zu der Gegenwart, wo katholische Theologen bei evangelischen Synodaltagungen liebe Gäste und Mitarbeiter sind, ist ein weiter und mühseliger Weg gewesen. Wenn man mit Recht sagt, dass die Geschichte der Evangelischen Kirche im Rheinland nicht zu verstehen ist ohne ihren ständigen Gegensatz zur römisch-katholischen Kirche, so hat sich das inzwischen erheblich geändert. Vom Kölner Mischehenstreit an bis zu der heutigen Regelung konfessionsverschiedener Ehen ist ein Weg zurückgelegt worden, von dem wir alle noch vor 20 Jahren nicht gedacht hätten, dass wir sein bisheriges Ergebnis erleben würden. Den Anstoß zu dieser Entwicklung hat ganz ohne Frage das Zweite Vatikanische Konzil gegeben. Sicherlich waren in der Zeit des Dritten Reiches unter den gemeinsamen erlittenen Verfolgungen und durch Erlebnisse des Krieges in der Heimat und im Felde Annäherungen der Konfessionen erfolgt. Aber bei der engen Bindung katholischer Gemeinden und Theologen an ihre Hierarchie wäre eine Annäherung nicht möglich gewesen, wenn nicht Johannes XXIII. bei der Einberufung des Zweiten Vatikanischen Konzils die große Anstrengung der römisch-katholischen Kirche ausdrücklich ökumenisch motiviert hätte. Er wollte die Fenster öffnen zu den anderen Kirchen hin, er wollte mit ihnen den Weg in die gemeinsame Zukunft suchen. Die Konstitution über die Kirche, das Dekret über den Ökumenismus und die darauffolgenden wichtigen Dokumentationen ökumenischer Zusammenarbeit sind Marksteine einer Entwicklung, die bis dahin unmöglich erschien. Wir stehen jetzt an einem Punkt, an dem wir zurücksehen, um zu fragen, was ist geschehen und wie kann es weitergehen. Die Kirchen haben bisher Rücken an Rücken gestanden oder sich gegenseitig bekämpft und erst sehr spät bemerkt, dass das Gebet des Herrn aus Johannes 17 uns alle nicht nur zum Gespräch miteinander ermutigt, sondern uns zur Arbeit miteinander verpflichtet. Zur Vorbereitung dieser Landessynode hat sich der Catholica-Ausschuss der Evangelischen Kirche im Rheinland um eine Statistik über die Zusammenarbeit zwischen evangelischen und katholischen Kirchengemeinden bemüht. Die Fragebogen gingen an rund 1500 Bezirks- oder Gemeindepfarrer, von denen 900 antworteten. Leider sind die Fragen nicht so präzise gestellt worden – unser Statistiker war damals noch nicht im Dienst –, dass sie nun zu einer eindeutigen Statistik geführt hätten. Die Mitglieder des Catholica-Ausschusses haben sich mit großem Fleiß bemüht, die Fragebögen auszuwerten. Es ist trotzdem nicht gelungen, zu einer übersichtlichen Auswertung der Antworten zu kommen, da wir uns verpflichtet wussten, nicht nach dem ironischen Wort von Bischof Dibelius zu handeln: »Ich glaube nur der Statistik, die ich selber gefälscht habe«, sondern wirklich das wiedergegeben haben, was in den Fragebogen aufgeführt war. Wir werden erneut eine solche Statistik herstellen müssen, um einen genauen Überblick über das zu bekommen, was in unseren Gemeinden geschieht. Eine Verbesserung ist möglich und nötig. Immerhin, wie viel geschieht schon in unseren Gemeinden gemeinsam! Hunderte von ökumenischen Gottesdiensten werden in jedem Jahr gehalten. Es finden auch in der Diaspora viele gemeinsame Sitzungen von Presbyterien und Pfarrgemeinderäten statt, unter Umständen als regelmäßige Einrichtung. Vor allen Dingen erscheint die Zahl der gemeinsamen Trauungen seit dem November 1970 erstaunlich hoch angesichts der

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Tatsache, dass diese Form der Trauung ja nur als eine Möglichkeit angeboten werden sollte, nicht aber der Normalfall einer Mischehentrauung sein oder werden darf. Am aufschlussreichsten sind die zum Teil sehr umfangreichen Berichte der Beauftragten der Kirchenkreise für Ökumene. Aus ihnen ergibt sich vor allem in den großen Städten eine erstaunliche Aktivität in Gottesdiensten, Vortragsveranstaltungen, gemeinsamen Aktionen der Jugend und anderer Gemeindegruppen. Es finden zum Teil gemeinsame Eheseminare statt, die nicht nur von Mischehen-Brautpaaren besucht werden. Informationen über die Kirchen werden von ihren Repräsentanten in Pfarrkonferenzen und Kreissynoden vorgelegt. Von den Gemeinden wird solche Aktivität längst nicht mehr als Sensation empfunden, sondern als eine erfreuliche Bestätigung längst gehegter Erwartungen. Diese statistische Erhebung ist erstmalig für den Bereich einer Landeskirche versucht worden. Da sie beide Kirchen betrifft, stehen die ausgefüllten Fragebogen natürlich den katholischen Brüdern zur weiteren Auswertung zur Verfügung. Trotz solcher Gemeinsamkeit sind auch in den Fragen der Mischehe noch Forderungen und Bitten der evangelischen Kirche unerfüllt geblieben. Wir werden nicht müde werden, darauf hinzuweisen, dass nach unserer Auffassung die rechtliche Ordnung der Ehe nicht Sache der Kirchen sein kann, nachdem und solange die Standesämter diesen Dienst für uns übernehmen. Wir haben die Hoffnung, dass nach dem Durchbruch in den Durchführungsbestimmungen der deutschen Bischofskonferenz in Zukunft auch hier Änderungen erfolgen können. Es ist der Synode im Präsesbericht der Text der Vereinbarung vorgelegt worden, die die Evangelischen Kirchen im Rheinland und von Westfalen und Lippe mit den Bistümern im Lande NRW geschlossen haben. Zu den hier genannten Gebieten gehört u. a. das Schulwesen, obwohl sich alle Beteiligten darüber im Klaren waren, dass hier sehr erhebliche Probleme noch zwischen den Kirchen stehen. Ich darf an zwei Beispielen das darstellen: Es geht einmal um den Religionsunterricht in der Sekundarstufe II der Höheren Schulen und seine Gestaltung. Die katholische Kirche ist nach wie vor der Meinung, dass ein Schüler in katholischer Religion nur dann im Abitur geprüft werden könne, wenn er alle vier Kurse im Laufe der letzten beiden Schuljahre in der eigenen Konfession belegt hat. Wir haben erklärt, dass es sicher einem katholischen Schüler nicht schade, wenn er beim Abitur auch auf gewisse Kenntnisse in evangelischer Theologie zurückgreifen könne und umgekehrt. Wir stehen vor der Tatsache, dass die Schüler unserer Höheren Schulen sich nicht mehr in einen bestimmten Religionsunterricht zwingen lassen wollen. Sie melden sich von diesem Religionsunterricht unter Umständen ab, um die Freiheit der Wahl zwischen den Angeboten verschiedener Religionslehrer und verschiedener Konfessionen zu haben. Es bedeutet das Ende des Religionsunterrichtes, wenn wir die Schüler zwingen wollen, alle Kurse, die sie belegen können, in der gleichen – nämlich ihrer eigenen Konfession – zu nehmen, und wir haben die Bischöfe dringend gebeten, es nicht dahin kommen zu lassen, dass die Kirchen im Gegensatz zueinander und unabhängig voneinander ihre Vorstellungen den Kultusministerien vortragen. So ist es in Niedersachsen geschehen. Wir müssen auch darauf hinweisen, dass die Lage für die Evangelische Kirche im Rheinland auch deshalb besonders schwierig ist, weil wir gleichzeitig mit vier Bundesländern und deren Kultusministerien und ihren verschiedenen Regelungen zu verhandeln haben.

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Ein ähnlich kompliziertes Problem stellt sich bei der Frage der konfessionellen Grundschule in privater Trägerschaft. Es gibt innerhalb der katholischen Kirche Tendenzen, nicht nur private Höhere Schulen, sondern auch private Realschulen und private Grundschulen zu errichten, nachdem gerade die Konfessionalität der Grundschulen, z. B. in Rheinland-Pfalz, aufgehoben worden ist. Wir haben uns sehr energisch gegen Grundschulen in privater Trägerschaft gewehrt. Um Missverständnissen vorzubeugen: Unsere Ablehnung der Übernahme von Grundschulen in kirchliche Trägerschaft schließt nicht aus, dass wir prinzipiell für die Möglichkeit eintreten, Schulen gleich welcher Art einschl. Kindergärten, Fachhochschulen und Hochschulen in privater Trägerschaft zu errichten und zu führen. Durch die Errichtung eigener privater Grundschulen werden wir uns sicher aus dem öffentlichen Schulwesen herausdrängen lassen, denn dadurch hätte der Staat jederzeit die Möglichkeit zu erklären: Wer Religionsunterricht haben will, möge auf eine konfessionelle Privatschule gehen, für Religionsunterricht ist in den öffentlichen Schulen kein Raum mehr. Solange wir Verantwortung im Bereich des öffentlichen Schulwesens wahrnehmen können, ist um der Schule und ihres Auftrags willen unsere Präsenz wichtig und notwendig. Bei der Schwierigkeit der Erteilung des Religionsunterrichts durch Lehrermangel und durch Abmeldungsmöglichkeiten der Schüler dürfen wir dem Staat die Möglichkeit nicht an die Hand geben, uns herauszudrängen. Wir befinden uns hier leider auch im Gegensatz zu unserer westfälischen Schwesterkirche, die sich den katholischen Bitten gegenüber wesentlich aufgeschlossener gezeigt hat als die Evangelische Kirche im Rheinland. Wahrscheinlich ist das dritte Problem für die Zusammenarbeit das Schwierigste. Ich meine das Problem der Interkommunion. Da gibt es laut unserer Statistik nur 36 Gemeinden von 900, in denen Interkommunion geübt worden ist. Es handelt sich meistens um Gemeinden, die innerhalb eines gemeinsamen Gottesdienstes auch Abendmahl angeboten haben. Einige dieser Gemeinden haben erklärt, dieser Versuch sei zwar einmal unternommen worden, solle aber nicht wiederholt werden. Wir sind davon überzeugt, dass die Dunkelziffer der Interkommunionshandlungen wesentlich größer ist, als die Statistik ergibt. Aus einer Fülle von Bemerkungen, die man dann möglichst nicht getan haben möchte, ergibt sich deutlich, dass in beiden Kirchen solche Handlungen stattfinden, ohne von einer Genehmigung der Kirchenleitung gedeckt zu sein. Die Kirchenleitung der Evangelischen Kirche im Rheinland hat in unserer Zusammenkunft der Präsides und Bischöfe in NRW erklärt, dass weder sie noch die Leitung des Kirchentages die Absicht habe, anlässlich des Deutschen Evangelischen Kirchentages im Sommer dieses Jahres Interkommunionsfeiern zu veranstalten. Sie hat aber gleichzeitig darauf hingewiesen, dass es nicht möglich sei, zu kontrollieren, ob alle Teilnehmer an einer evangelischen Abendmahlsfeier auch zur evangelischen Kirche gehören oder ob nicht Katholiken den Versuch machen, doch zu kommunizieren. Wir haben auch darauf hingewiesen, dass es uns nicht nur nicht möglich sei, sondern wir auch grundsätzlich nicht die Absicht hätten, eine solche Teilnahme von Katholiken an der Abendmahlsfeier zu hindern.

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Wir haben dem Kirchentag vorgeschlagen, zu den Abendmahlsfeiern anlässlich des Düsseldorfer Kirchentages einzuladen mit einer in der reformierten Kirche in Holland üblichen Formulierung: »Zum Tisch des Herrn werden alle die geladen, die in ihrer Kirche im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes getauft und zum Abendmahl zugelassen sind, sofern sie sich nicht durch Ordnungen ihrer Kirche daran gehindert wissen, dieser Einladung zu folgen.« Wir sind davon überzeugt, dass hier sehr loyal gegenüber der katholischen Kirche verfahren wird. Wir sind uns darüber klar, dass dies nicht das Endergebnis dieser Frage sein darf. Erfreulicherweise ist die wissenschaftliche Bearbeitung der Frage der Interkommunion überall, auch in der katholischen Kirche, lebhaft im Gange. Wie die Evangelische Kirche im Rheinland immer wieder vor der sogenannten ökumenischen Trauung mit einer selbst angefertigten Liturgie gewarnt hat, bevor nicht Vereinbarungen mit der katholischen Kirche über eine solche Trauung geschlossen wären, sind wir auch der Überzeugung, dass man Interkommunion nicht feiern kann, ohne mit der anderen Kirche, und zwar nicht nur mit einzelnen wohlgesonnenen Pastoren, sondern mit den Bischöfen, darüber zu einer Einigung gekommen zu sein. Es ist kein ökumenischer Stil, Entscheidungen vorwegzunehmen, ohne die andere Seite daran zu beteiligen. In Diskussionen mit katholischen Theologen stellt sich immer wieder heraus, dass bei aller Offenheit für die Frage der Interkommunion die Antwort meist dahin geht, dass die Entscheidung des Konzils beachtet werden müsse. Der Text im Dekret über den Ökumenismus Nr. 22 lautet: »… obgleich sie (nämlich die von uns getrennten Gemeinschaften) nach unserem Glauben vor allem wegen des Fehlens des Weihesakraments die ursprüngliche und vollständige Wirklichkeit (substantia) des eucharistischen Mysteriums nicht bewahrt haben, bekennen sie doch bei der Gedächtnisfeier des Todes und der Auferstehung des Herrn im heiligen Abendmahl, dass hier die lebendige Gemeinschaft mit Christus bezeichnet wurde, und sie erwarten seine glorreiche Wiederkunft«. Hat sich nicht inzwischen einiges entwickelt an neuen Vorstellungen über die Bedeutung des Abendmahls? Haben nicht die evangelischen Kirchen trotz des Fehlens des Weihesakramentes durch ihre Offenheit gegenüber den Worten der Schrift einiges beizutragen zur Frage der Interkommunion? Ist es nicht von Bedeutung, dass die evangelische Kirche beim Abendmahl keine rechtlichen Bestimmungen treffen möchte, sondern nach den Worten des Herrn handeln: »Wer zu mir kommt, den werde ich nicht hinausstoßen.« Sollte man nicht innerhalb der katholischen Kirche auf diese Stimme Christi deutlicher hören, als auf einschränkende rechtliche Ordnungen zu verweisen – wir erinnern an das Ergebnis von Malta! Wir sind der Überzeugung, dass die Abendmahlsfeier vor dem Herrn der Kirche am ehesten bestehen kann, die sich am eindeutigsten und am nächsten an sein Wort hält, ganz unabhängig von dem, was kirchliche Instanzen über diese Feier im Einzelnen bestimmt haben oder bestimmen wollen. Wir haben die Hoffnung, dass, obwohl es im Augenblick unmöglich erscheint, wir auch in dieser Frage eine Lösung finden werden, nachdem wir innerhalb der Evangelischen Kirche in Deutschland zu einer völligen Abendmahlsgemeinschaft gekommen sind. Beides ist lange Zeit als unmöglich angesehen worden. Die Lösung kann auf keinen Fall in der Einrichtung einer Einbahnstraße gefunden werden.

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Um was geht es bei all diesen Fragen? Nicht darum, dass eine Kirche sich durchsetzt. Nicht darum, dass eine Kirche alte Rechtspositionen festigt und bewahrt in der Hoffnung, damit ihren Bestand zu sichern. Nicht darum, dass die Statistik stimmt, als wenn man das Wirken des Heiligen Geistes durch statistische Zahlen belegen oder gar ersetzen könne. Wenn die Christenheit in der Diaspora dieser Zeit und Welt überleben will, hat sie, menschlich gesehen, nur dann eine Chance dazu, wenn die Christen zu einer verträglichen Kooperation beider Kirchen mit Entschlossenheit bereit sind. Dazu aufzufordern ist der Sinn der Verhandlungen dieser Synode. Unsere Bereitschaft zur Kooperation zu erklären, ist die Aufgabe, der sich die Verhandlungen der Synode und ihrer Ausschüsse stellen. Wir wollen alle jene Möglichkeiten besprechen und herausstellen, die heute schon möglich sind. Ich stehe am Ende einer Lebensarbeit für die Einigung der Christen und die Zusammenarbeit der Kirchen in der Diaspora, im Dienst des Kriegspfarrers und verantwortlich für die Kirchenkreisarbeit in der Landeskirche. Die Ergebnisse dieser letzten 15 Jahre sind erheblich. Sie reichen nicht aus. Wir werden weiter an dieser Arbeit bleiben müssen, nicht weil wir etwas erreichen wollen, sondern weil wir von der Liebe Christi dazu gedrängt werden. Es geht nicht um die Einheit als oberstes Prinzip. Wichtiger als die Einheit muss uns die Wahrheit des Evangeliums sein. Wir dürfen nicht verheimlichen, was zwischen uns steht, und wir dürfen nicht verschweigen, was uns immer noch trennt. Ich halte es nicht für ein Unglück, dass es zwei große Kirchen und unterschiedliche Formen der Frömmigkeit gibt. Ein Unglück ist es nur, wenn verschiedene Weisen, christlich zu glauben, so gegeneinander kämpfen, als gehe es zwischen ihnen um Leben und Tod. Ein Unglück ist es nur dann, wenn über den Kampf in der Hierarchie der Wahrheiten die Liebe vergessen wird. Aber dass wir über die Kooperation hinaus endlich einmal zur Kommunion, zur vollen verpflichteten Gemeinschaft der Christen kommen sollten, darf nicht nur eine eschatologische Hoffnung sein, sondern ist die Zukunft, an die wir gewiesen sind. Konkurrenz zwischen den Kirchen sollte nur darin bestehen dürfen, dass eine die andere an Liebe zum Bruder zu übertreffen versucht. Wir müssen lernen, es als selbstverständlich anzusehen, dass jemand begründen muss, warum er etwas getrennt tut, was gemeinsam geschehen könnte – nicht umgekehrt. Erst dann ist Ökumene am Ort ihrer Verwirklichung nahe.

II.3.4 Referat zum Hauptthema der Landessynode 1973∗ Ökumene am Ort Msgr. Johannes Hüttenbügel aus Köln Die Formel »Ökumene am Ort« geht auf Neu Delhi (1961) und seine berühmt gewordene Einheitsformel zurück: »Wir glauben, dass die Einheit sichtbar gemacht wird, indem alle an jedem Ort, die in Jesus Christus getauft sind und ihn als Herrn und Heiland bekennen, durch den Heiligen Geist in eine völlig verpflichtete Gemeinschaft geführt werden, die sich zu dem einen apostolischen Glauben bekennt, das eine Evangelium ∗

Protokoll der Landessynode 1973, S. 125–134.

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verkündigt, das eine Brot bricht, sich in gemeinsamem Gebet vereint, ein gemeinsames Leben führt, das sich in Zeugnis und Dienst an alle wendet.« Die Weltkirchenkonferenz von Uppsala (1968) hat Neu Delhi in der Weise präzisiert, dass es die Kirchen an allen Orten zur Einsicht auffordert, dass sie zusammengehören und aufgerufen sind, gemeinsam zu handeln. Das Zweite Vatikanische Konzil hat ähnlich die Vision der Einheit der einen und einzigen Kirche Jesu Christi beschworen. Es hat mehrfach den Wunsch betont, zur Wiederherstellung der Einheit beizutragen; es hat das ganze Volk Gottes, insbesondere die Bischöfe, aufgefordert, die Einheit zu fördern. Wie fern oder wie nahe stehen wir der Verwirklichung dieser Einheit? Welches sind die geeigneten Schritte auf das Ziel zu? Gibt es vielleicht Nahziele, die wir ins Auge fassen sollten? Lassen Sie mich Ihnen, bevor wir auf die Fragen der Praxis zu sprechen kommen, einige wenige Gedanken zu grundsätzlichen theologischen Fragen vortragen. Es darf nämlich nicht der Eindruck entstehen, als könne man relativ leicht über eine gemeinsame Praxis im Leben der Kirche sprechen, zur eigentlichen und zentralen Frage aber, wie wir der Einheit der Christenheit näherkommen, werde nichts gesagt. Wenn schon ein Katholik auf Ihrer Synode zum Thema »Ökumene am Ort« sprechen darf, erwarten Sie zu Recht, dass er auch zu den grundsätzlichen Fragen sich wenigstens in Kürze äußert. Sie haben bei Ihren Vorlagen auch die »Handreichung zur Ökumene am Ort« mit dem Aufsatz von Reinhard Frieling: Wo steht die Ökumene heute?, darin den Absatz über katholische und evangelische Prinzipien des Ökumenismus. Ich kann dem, was dort zu den katholischen Prinzipien des Ökumenismus gesagt ist, im Wesentlichen zustimmen, möchte jedoch einiges präzisieren. Der dogmatischen Konstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils über die Kirche geht es in der Nr. 8 um die Darstellung der Kirche als einer sichtbaren-unsichtbaren Ganzheit. Beide Seiten gilt es zu verbinden, die unsichtbare, den geheimnisvollen Leib Christi, die geistliche Gemeinschaft, die mit himmlischen Gaben beschenkte Kirche, und die sichtbare, die mit dem Amt versehene Gemeinschaft der Glaubenden, die sichtbare Versammlung, die irdische Kirche. Die Sichtbarkeit der Kirche wird durch zwei theologische Analogien erläutert, die Analogie zum Mysterium der Inkarnation und der damit zusammenhängenden Idee des Heilsorgans oder des Sakramentes. So kommt das Konzil zu der zentralen Aussage: »Diese Kirche, in dieser Welt als Gesellschaft verfasst und geordnet, ist verwirklicht in der katholischen Kirche, die vom Nachfolger Petri und von den Bischöfen in Gemeinschaft mit ihm geleitet wird.« Damit ist gesagt: Die wahre und einzige Kirche Jesu Christi existiert in geschichtlicher Konkretheit. Sie ist damit als solche – bei allem Mysteriencharakter – feststellbar und erkennbar. Und: Die konkrete Existenzform dieser von Christus gestifteten Kirche ist die katholische Kirche. Es heißt nicht mehr wie früher: Die Kirche Jesu Christi ist die katholische Kirche. Es wird der Tatsache Rechnung getragen, dass es außerhalb der katholischen Kirche vielfältige Elemente der Heiligung und der Wahrheit gibt. Kirchlichkeit fällt nicht einfachhin mit der katholischen Kirche zusammen. Der Heilige Geist bedient sich der getrennten Kirchen als Mittel des Heils. Die Spaltungen in der Christenheit sind für die Kirche ein Hindernis, dass die Fülle ihrer Katholizität in allen Getauften wirksam wird. Umgekehrt, so sagt das Konzil, wird es auch für die Kirche schwieriger, die Fülle der Katholizität unter jedem Aspekt der Wirklichkeit des Lebens auszuprägen. Die Vollgestalt der Katholizität und Apostolizität erhält die Kirche Jesu Christi dann, wenn unter Wahrung der Einheit im Notwendigen die gebührende Freiheit gegeben ist hinsichtlich der verschiedenen Formen des geistlichen Lebens, der äußeren Lebensgestaltung, der liturgischen Riten sowie

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der theologischen Ausarbeitung der Offenbarungswahrheit (zum Vorstehenden siehe Kommentar zur dogmatischen Konstitution über die Kirche von Professor Grillmeier). Frieling verwendet das Bild von den konzentrischen Kreisen, als deren innersten Kreis sich die katholische Kirche verstehe, um die die anderen Kirchen, Religionen und Weltanschauungen konzentrisch gelagert seien. Aber die Mitte ist nicht die katholische Kirche, sondern Christus. Das Denkmodell der konzentrischen Kreise erscheint mir fragwürdig, denn es kann ja nicht übersehen werden, dass die Gemeinsamkeit zwischen denen, die Christus bekennen, und die gemeinsame Unterschiedenheit dieser Gruppe von denen, die sich nicht zu Christus bekennen, nicht im Modell von konzentrischen Kreisen eingefangen werden kann. Das wäre auch auf Grund der Texte des Zweiten Vatikanischen Konzils nicht möglich. Die größere Nähe zu Christus bemisst sich nach katholischer Auffassung primär nach der Intensität des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe, also nach dem Leben aus der göttlichen Wirklichkeit, die uns Christus durch die Kirche vermittelt, aber auch nach der Annahme seines Willens mit der sichtbaren Gestalt dieser Kirche in der Geschichte. Hier nun ist eine zweite Aussage des Konzils zu nennen, die bedeutsam ist. Weil die Kirche zugleich eine sichtbare, menschliche und geschichtliche Größe ist, bedarf sie der beständigen Reinigung und Erneuerung, ist sie die ecclesia semper reformanda, die sich um immer größere Treue zu Christus zu bemühen hat. Dies ist das dynamische Element, das Hoffnung gibt, dass sich verengte Sichten öffnen und einseitige, geschichtlich gewordene Fixierungen aufgebrochen werden. Die jüngsten theologischen Gespräche auf Weltebene sowohl als auch in vielen Ländern machen deutlich, dass neue und vertiefte Erkenntnisse des Heilsmysteriums möglich sind. Freilich wird auch deutlich, dass nicht jede neue theologische Position ohne weiteres damit rechnen kann, rezipiert zu werden. Hier spielt die organische Einordnung in das Gesamt des Glaubens die entscheidende Rolle. Diese Einordnung darzustellen und zu begründen, ist Aufgabe der am Glauben der Kirche orientierten Theologie. Hier muss beharrliche Arbeit mit Geduld, die einmal als ökumenische Tugend bezeichnet wurde, Hand in Hand gehen. Es ist nicht erstaunlich, dass gerade die Frage nach dem Leitungsamt in der Kirche in unserer Zeit sich immer mehr zu der Frage entwickelt, die die umstrittenste ist. Gleichzeitig aber ist es ein Zeichen der Hoffnung, dass beide Kirchen und ihre Theologen sich mit gleicher Intensität dieser Frage zuwenden. Wir sind realistisch genug, um mit Prognosen vorsichtig zu sein, wann wir hier mit entscheidend weiterführenden Ergebnissen rechnen können. Aber wir sind auch gläubig genug, um an die Vollendung dessen zu glauben, was der Heilige Geist in dieser Zeit begonnen hat. So viel zum Grundsätzlichen. Gibt es Nahziele, die wir ins Auge fassen sollten? Ich nenne zwei: Wir müssen zunächst in unseren Kirchen in gemeinsamen Bemühungen das Bewusstsein einer universalen Zusammengehörigkeit schaffen und an der Bewusstseinsänderung auf dieses Ziel hinarbeiten. Nach Aussage der Theologen stehen wir am Ende des Zeitalters von Reformation und Gegenreformation. Dieses Zeitalter war von der Ausbildung und allmählichen Verfestigung von gegensätzlichen Bekenntnissen gekennzeichnet, die durch

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die Verquickung mit der Politik zur Spaltung der einen Kirche in die Konfessionen und Kirchenregimente führte. Joseph Lortz hat in seiner Geschichte der Reformation in Deutschland aufgewiesen, dass das konfessionelle und politisch-konfessionelle Prinzip in den Jahren 1521 bis 1529 entstand und dass sich seither das Denken in Frontstellungen verfestigte. In der Folge wurde kennzeichnend, dass jede Konfession sich eben durch das bestimmte, wodurch sie von der anderen verschieden war. Katholisch hieß nicht reformatorisch, reformatorisch hieß nicht katholisch sein (Heinrich Fries). Wir haben den Katechismus gegeneinander gelehrt und gelernt, sagt Henri de Lubac. Heute empfinden wir lebhaft das Unchristliche solcher Konfessionalisierungen, die oft im Widerstreit zur wahren Katholizität und Apostolizität der Kirche stehen. Wir haben, wenn man so sagen kann, an die Zeit vor dem zweiten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts anzuknüpfen, als das Bewusstsein der Zusammengehörigkeit noch ungebrochen vorhanden war. Dieses Bewusstsein heute wieder neu zu schaffen, müsste das erste Nahziel sein, denn es ist das Fundament, auf dem Ökumene am Ort erst sinnvoll, ja überhaupt möglich ist. Denn die Spaltung der Christenheit in getrennte Konfessionen stand nicht am Beginn der Reformation, ja sie steht sogar in ausdrücklichem Gegensatz zu dem von allen Seiten geäußerten Willen. Die Sorge um die Einheit der Kirche, auch um das Sichtbarwerden dieser Einheit in den Ämtern der Kirche, hat Luther zeitlebens nicht verlassen. In einer Spätschrift aus dem Jahre 1539, also sieben Jahre vor seinem Tode: »Von den Konziliis und Kirchen« hat er sieben notae ecclesiae aufgezählt, also sieben Kennzeichen, »woran doch ein armer irriger Mensch merken will oder kann, wo solch heilig christlich Volk in der Welt ist«. »Zum fünften«, heißt es hier, »erkennet man die Kirche äußerlich dabei, dass sie Kirchendiener weihet oder beruft oder Ämter hat, die sie bestellen soll, denn man muss Bischöfe, Pfarrer und Prediger haben, von wegen und im Namen der Kirchen, viel mehr aber aus Einsetzung Christi.« In einer noch späteren Schrift aus dem Jahre 1541, »Wider Hans Worst«, verwahrt sich Luther scharf dagegen, »er sei von der Heiligen Kirche gefallen und habe eine neue andere Kirche angerichtet«. Er weist im Gegenteil nach, dass die Papstkirche wegen ihrer Änderungen die neue und also die falsche Kirche sei. Es berührt den katholischen Leser tief, wenn er in jedem Absatz dieser Schrift die Beteuerung Luthers hört: »Wir dichten nichts Neues, sondern halten und bleiben bei dem alten Gottes Wort, gleich wie es Christus befohlen, die Apostel und die ganze Christenheit getan« (Karl Gerhard Steck, Luther für Katholiken, München 1969, S. 388). Ich weise kurz auf die Confessio Augustana hin, wo es im Abschnitt V heißt: »Damit wir diesen Glauben erlangen, ist das Amt (ministerium) des Lehrens des Evangeliums und der Ausspendung der Sakramente eingesetzt« (institutum est). Luther ging es um die innere, verborgene, geistliche Wirklichkeit der Kirche, die er aber nicht im Gegensatz zur Kirche des Amtes sah, wie es später gelegentlich, wie ich meine zu Unrecht, in die Entgegensetzung der unsichtbaren zur sichtbaren Kirche geschehen ist. Heute sind wir unbefangen genug, voreinander zuzugestehen, dass zur Zeit Luthers das Amt diese geistliche Wirklichkeit so überlagerte, dass der Reformator sie nicht in ihrer Unversehrtheit zu erkennen vermochte. Das Zweite Vatikanische Konzil hat das Amt – und dies durchaus in sachlicher Übereinstimmung mit der reformatorischen Sicht (Kirchenkonstitution Nr. 28, Anm. 99) – als Dienst bezeichnet, Dienst auch und gerade an der Fülle und Unversehrtheit dieser geistlichen Wirklichkeit, und damit die richtigen Proportionen wiederhergestellt.

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Und noch ein zweites Nahziel. Die Vollversammlung von Uppsala hat davon gesprochen, dass die ökumenische Bewegung die Zeit vorbereiten müsse, in der ein wirklich universales Konzil für alle Christen sprechen könne. Seither ist dieser Gedanke nicht mehr verstummt, er gewinnt mehr und mehr an Interesse und Bedeutung. Die Anglikanische Lambethkonferenz hat ihn noch im gleichen Jahre aufgegriffen, die Kommission für Glauben und Kirchenverfassung des ökumenischen Weltrates hat sich 1971 in Löwen damit beschäftigt, allenthalben bemüht man sich um die Bildung von Strukturen – etwa in Christenräten oder Arbeitsgemeinschaften der christlichen Kirchen –, die der Einübung in die Begegnung der Kirchen dienen sollen, mit der mehr oder weniger deutlichen Zielsetzung, ein universales Konzil vorzubereiten. Die ökumenische Arbeit leidet oft darunter, dass sie kein Ziel vor sich sieht. Es bleibt alles in einem Stadium der Unverbindlichkeit. Die Vorstellung eines universalen Konzils könnte der ökumenischen Arbeit ihre innere Spannung und Dynamik wiedergeben, die sie gelegentlich zu verlieren droht. Was kann konkret geschehen, um Ökumene am Ort zu verwirklichen und damit auch auf die genannten Nahziele zuzugehen? Es hieße Ihre Zeit und Geduld strapazieren, wenn ich Ihnen hier vortragen wollte, was anderswo ausführlich gesagt ist. Ich verweise auf die Vorlage des Catholica-Ausschusses zu dieser Synode und auf die Handreichung für evangelisch-katholische Zusammenarbeit, die von der EKD herausgegeben wurde und zurzeit neu bearbeitet wird. Auf katholischer Seite nenne ich die Vorlage zur Synode der deutschen Bistümer: Pastorale Zusammenarbeit der Kirchen im Dienst an der christlichen Einheit, die gerade in diesen Tagen in Würzburg diskutiert wurde und in die die von einigen Diözesen herausgegebenen Vorlagen eingearbeitet sind. Ich möchte vielmehr schwerpunktartig einiges herausstellen, was mir besonders wichtig zu sein scheint. 1. Eine unerlässliche Voraussetzung für das Gelingen von Ökumene am Ort ist, dass wir uns gemeinsam um eine Spiritualität bemühen, aus der Ökumene am Ort geistlich zu leben vermag. Ich meine damit ein geistlich-geistiges Klima, in dem unseren Gemeindegliedern eine herzliche Zuwendung zum getrennten Bruder möglich wird, in dem das Gebet um die Wiedervereinigung und das Verlangen nach ihr selbstverständlich wird, in dem sie die Kraft finden, festsitzende Bitterkeiten zu überwinden, in dem die Bitte um Vergebung ausgesprochen werden kann und ein offenes Gehör findet. Der einzelne erfährt Kirche vor allem in seiner Ortsgemeinde, in einer konkreten Gemeinschaft christlichen Glaubens und Lebens am Ort (Synodenvorlage). Am Ort muss sich auch das Wesentliche der Ökumene vollziehen, die Überwindung der Fremdheit, die Vergebung, die gegenseitige Annahme. Eine vierhundertfünfzigjährige Geschichte hat die Gläubigen unserer Kirchen geprägt und in den Köpfen und Herzen Hindernisse aufgerichtet, die, menschlich gesprochen, nicht in wenigen Jahren abgebaut werden können. Der Heilige Geist ist kein Magier und Zauberer, auch wenn wir daran glauben, dass ihm bei der Veränderung des Menschen der entscheidende Part zufällt. Es gibt bestimmte konfessionell geprägte Haltungen, die gerade Ökumene am Ort erschweren. Auf katholischer Seite ist dies etwa ein Misstrauen gegenüber Reformen und Veränderungen in der Kirche oder gegenüber dem Gedanken von der Vielfalt im kirchlichen Leben, die leicht als Zersetzung der Einheit gesehen wird. Wir Katholiken können von der katholischen Tübinger Schule lernen, das Thema Einheit in der Vielfalt und Vielfalt in der Einheit für heute neu fruchtbar zu machen, lernen, dass Spannungen und

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Gegensätze Ausdruck von Leben in der Kirche sind und zu deren Fruchtbarkeit beitragen, solange sie nicht zu sich ausschließenden Gegensätzen werden. Sicherlich gibt es ebenso spezifische Hindernisse auch auf evangelischer Seite. Hier wäre beispielsweise zu fragen, welche Bedeutung das in Uppsala diskutierte Thema der Katholizität als einer Qualität der Kirche Christi faktisch für die evangelischen Kirchen in Deutschland hat. Ein anderes Spezifikum, das oft zu einem ökumenischen Hindernis wird, ist dies, dass viele evangelische Christen die Einheit und objektive Verbindlichkeit von Kirche und Glauben gering zu veranschlagen scheinen. Es entsteht dann der Eindruck einer subjektiven Beliebigkeit in Dingen des Glaubens und der Kirche, die Interpretationen zulässt, die in der Sicht des katholischen Partners nicht mehr durch die gemeinsamen Grundlagen von Schrift und Glaubenssymbolen gedeckt sind. Wolfhart Pannenberg hat in der Festschrift für Heinrich Fries Bedenkenswertes hierzu gesagt. Je eindeutiger solche Hindernisse ins Bewusstsein gehoben und abgebaut werden, umso leichter und unbefangener wird das Aufeinanderzugehen sein. 2. Eine Grundlage für die ökumenische Arbeit am Ort ist die zuverlässige Information über den Partner, damit falsche Meinungen und Urteile ausgemerzt und überwunden werden. Am besten und wirksamsten geschieht dies wohl zunächst innerhalb der eigenen Gemeinden. Vorhandene Literatur, die solcher Information dient, sollte auf ihre Eignung geprüft werden, besonders die Kleinschriften, die gerne aus den Schriftenständen unserer Kirchen wegen ihrer kurzen und prägnanten Darstellungsweise mitgenommen werden, die auch gelegentlich Anlass zu Klagen geben und selbst zu dankbaren Objekten für Fernsehsendungen werden. Es empfiehlt sich, Darstellungen des Glaubens und des Lebens einer Kirche zu bevorzugen, deren Verfasser dieser Kirche angehören oder die eine sachliche richtige Darstellung erwarten lassen. Für Nordrhein-Westfalen bietet es sich an, solche Schriften in den ökumenischen Mitteilungen bekanntzugeben, die von der Arbeitsgemeinschaft der Kirchen dieses Landes herausgegeben werden. 3. Bei der Zusammenführung der Gemeinden vermitteln gemeinsames Gebet und gemeinsamer Wortgottesdienst ökumenische Erfahrungen, die weder durch Informationen noch durch den Dialog erreicht werden können. Gebet und Gottesdienste, gemeinsame Tage der Besinnung und der Einkehr sind erste, aber große Schritte auf dem Weg zu der koinonia im neutestamentlichen Sinn, die einmal am Ende des Weges stehen soll. Im Hören der Heiligen Schrift und in der Antwort des Dankens und der Anbetung findet die trotz aller Spaltung verbliebene Einheit ihren tiefsten Vollzug. Die gemeinsame Vorbereitung der Wortgottesdienste ist besonders wertvoll. Im gemeinsamen Lesen der Heiligen Schrift werden die Gemeinden mit den gesicherten Ergebnissen der Exegese vertraut gemacht. Gerade hier sollte es die Liebe gebieten, nicht der Verwirrung Vorschub zu leisten, sondern der Stärkung und Festigung des Glaubens. Was für die Schriftlektüre gilt, gilt in gleicher Weise auch angesichts der vielfältigen Herausforderungen unseres Glaubens in dieser Zeit. Die Gespräche sollen in erster Linie dem Ziel dienen, den Beteiligten »Rechenschaft über die Hoffnung, die in ihnen lebt« (1Petr 3,15) zu ermöglichen. Allein was die Medien an Problemen in das Land hinaustragen, bietet reichlich Stoff zur Aufarbeitung.

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Die Behandlung der Generationenfrage, die Vermittlung zwischen den Generationen, die Aufarbeitung von Konflikten betrifft die Beteiligten aus allen Kirchen gleicherweise, sowohl in religiöser wie menschlicher Hinsicht. Die gemeinsame Übernahme von Verantwortung im gesellschaftlichen Bereich, sowohl am Ort als auch angesichts der weltweiten Probleme, sei wegen ihrer Bedeutung wenigstens kurz erwähnt. Zum einzelnen verweise ich auf die genannten Vorlagen. 4. Die Geistlichen der getrennten Kirchen mögen ihren Gemeinden in der ökumenischen Begegnung vorangehen. Hier liegen schon Erfahrungen vor, die, soweit ich sehe, nur positiv sind. Tiefe und Bedeutung für die Teilnehmer werden solche Treffen da bekommen, wo Geistliches gesprochen und verhandelt wird, wobei natürlich die menschliche und persönliche Begegnung in ihrem Wert nicht gering veranschlagt werden darf. Ein kirchliches Haus oder Kloster könnte für einen Tag solcher Gemeinsamkeit gewählt werden. Themen bieten sich in Fülle an: Es sei nur beispielhaft hingewiesen auf das Referat von Professor Ratzinger vor dem Einheitssekretariat in Rom vom 15. November 1972 zum Thema »Ökumene am Ort« oder auf die Schrift von Wolfhart Pannenberg »Das Glaubensbekenntnis, ausgelegt und verantwortet vor den Fragen der Gegenwart« (Siebenstern-Taschenbuch Nr. 165). Das Gespräch wird sehr rasch und wie selbstverständlich zu den Fragen hinführen, die man als Fragen der geistlichen Existenz und der Existenz des Geistlichen in dieser Zeit bezeichnen könnte: Was bewegt die Geistlichen zutiefst? Wo liegen ihre Freude und ihre Hoffnung, aber auch ihre Sorge und Not? Wie können sie sich gegenseitig stärken und Mut machen zur Darstellung ihres geistlichen Auftrages? Wie verhält sich dieser Auftrag zu den drängenden gesellschaftskritischen und politischen Aufgaben? Wie verkraften sie den Misserfolg? Gemeinsame Studienreisen zu herausragenden Zentren kirchlichen und ökumenischen Lebens (z. B. Jerusalem, Rom, Genf, Taizé) haben starke verbindende Kraft. 5. Bei Begegnungen aller Art werden notwendig auch unterschiedliche Auffassungen zutage treten. Es muss möglich sein oder werden, dem Gesprächspartner auch eine von der eigenen verschiedene Meinung zuzugestehen und sie in der Bereitschaft des Verstehens zu ertragen. Hierzu gehört auch die von Herrn Oberkirchenrat Nieland angesprochene Frage der Interkommunion. Lassen Sie mich zu dieser schwierigen und bedrängenden Frage dieses sagen. Nach 1Kor 10,16 und 17 versteht der heilige Paulus die koinonia, also die volle Gemeinschaft, als Anteilnahme und Anteilgabe am Leibe Christi; die Teilnahme an der Eucharistie bedeutet den Zusammenschluss zum Leibe Christi. Zu der Einheit des Leibes Christi gehört nach katholischem, aber auch nach reformatorischem Verständnis wesentlich auch das eine Amt der Kirche. Da über dieses eine Amt noch kein gemeinsames offizielles Verständnis zwischen den Kirchen erreicht ist, ist nicht nur nach katholischem, auch nach orthodoxem und zum Teil anglikanischem Verständnis derzeit Interkommunion noch nicht möglich. Es ist jedoch zu berücksichtigen, dass auch nach katholischem Verständnis Eucharistie nicht nur Einheit voraussetzt und darstellt, sondern auch Einheit

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schafft. Der Aspekt der Einheit stiftenden Wirkung der Eucharistie ist auch für die innerkatholische Eucharistiefeier bedeutsam; auch die innerkatholische Eucharistiefeier ist nicht nur von der Vorstellung bestimmt, dass sie Einheit voraussetzt, sondern dass sie Einheit unter den an ihr Teilnehmenden je neu bewirkt. Es ist gemeinsame Aufgabe der Kirchen, diesen Aspekt in die offiziellen zwischenkirchlichen Gespräche einzubringen. 6. Schließlich sei noch auf Folgendes hingewiesen: Ökumene am Ort muss sich in einem organischen Wachstumsprozess verwirklichen. Es muss an der Stelle angesetzt werden, die die besten Voraussetzungen bietet. Was in einer Gemeinde möglich ist, muss es nicht auch in der anderen sein? Zuviel auf einmal beginnen wollen, würde überfordern und lähmend wirken. Die Erfahrung lehrt, dass die Initiative in einem Bereich andere Initiativen nach sich zieht. Enttäuschungen und Misserfolge werden nicht ausbleiben. Wir alle müssen lernen, sie zu verarbeiten und nicht mutlos zu werden. Das gibt mir die Überleitung zu einem Zitat, mit dem ich schließe. Papst Paul VI. hat im Jahre 1963 beim ersten Empfang der ökumenischen Konzilbeobachter folgende Worte an diese gerichtet: »Nicht auf die Vergangenheit zurückschauen, sondern auf die Gegenwart und vor allem auf die Zukunft sehen. Andere können und sollen die Erforschung der geschichtlichen Vergangenheit vorantreiben. Wir schauen lieber auf das, was sein muss, als auf das, was gewesen ist. Wir wenden uns etwas Neuem zu, das es zu schaffen, einem Traum, den es zu verwirklichen gilt.«

II.4 Landessynode 1976

II.4.1 Wort der Landessynode der Evangelischen Kirche im Rheinland 1976 an ihre Kirchenkreise und Gemeinden zum Gespräch und zur Zusammenarbeit mit den evangelischen Freikirchen∗ I.

Der gemeinsame Grund

Mit den evangelischen Freikirchen verbindet uns das biblische Zeugnis und die reformatorische Erkenntnis: Das Heil des Menschen ist gegründet in der Gnade, die uns durch Jesus Christus zuteil wird. Alle Menschen sind eingeladen, diese Gnade im Glauben anzunehmen. Als Glieder seines Leibes verbindet uns Jesus Christus. Er ist der gemeinsame Herr, der Grund und die Hoffnung unseres Lebens. Er ruft uns, ihm nachzufolgen und Gottes rettende Liebe in Wort und Tat zu bezeugen. II. Der gemeinsame Auftrag Damit »die ganze Gemeinde der ganzen Welt das ganze Evangelium verkündigen« kann (Internationaler Kongress für Weltevangelisation, Lausanne 1974), suchen wir für die Gemeinschaft aller Christen an jedem Ort eine Form, die ihre Zusammengehörigkeit in Christus sichtbar zum Ausdruck bringt und ihre Verpflichtung zum gemeinsamen Dienst am besten entspricht. Bei diesem Suchen vertrauen wir auf die Leitung durch den Heiligen Geist. Die verschiedenen Weisen, in denen Gott gelobt wird, und die vielfältigen Existenzformen, die sich entwickelt haben, brauchen dabei kein Hindernis zu sein für die Gemeinschaft in Zeugnis und Dienst. Wie das Beispiel der Urchristenheit zeigt, ist Vielfalt eine verheißungsvolle Möglichkeit und ein Gewinn für alle Glieder des Leibes Christi. Darum freuen wir uns über die vielen Wirkungsmöglichkeiten, die uns in der Volkskirche von unserem Herrn gegeben sind. Wir sind aber auch dankbar, dass es daneben die freikirchlichen Lebensformen gibt. Sie stellen uns die kritische Frage nach der Gestalt der eigenen Kirche. Dabei werden auch unbequeme Folgerungen im Blick auf unsere kirchlichen Strukturen und gottesdienstlichen Formen auf uns zukommen. Um dem Auftrag unseres Herrn



Protokoll der Landessynode 1976, S. 80–85.

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besser als bisher gerecht zu werden, hoffen wir in der Zusammenarbeit mit den evangelischen Freikirchen auf gegenseitige Hilfe. III. Schwierigkeiten miteinander Geschichte und Gegenwart der Beziehungen zwischen landeskirchlichen und freikirchlichen Gemeinden sind im Raum der Evangelischen Kirche im Rheinland von einer lebendigen, oft auch spannungsreichen Vielfalt bestimmt. Die Ursachen für die Schwierigkeiten, die wir miteinander haben, sind vielfältig und je nach Eigenart des Gesprächspartners verschieden. Dazu gehören u. a.: − − − − − −

Unterschiede im Verständnis von Kirche, Gemeinde und Mitgliedschaft unterschiedliche Auffassung von Taufe und Abendmahl unterschiedliche Lebensformen und Größenordnungen der Gemeinden selbstgerechtes oder unverbindliches Christsein mangelnde Kenntnis voneinander, Vorurteile gegeneinander und das Unvermögen vieler unserer Gemeindeglieder, zwischen Freikirchen und Sekten zu unterscheiden.

Besonders belastend war in der Vergangenheit oft genug die gegenseitige Abwerbung. Deshalb verweisen wir auf eine Äußerung der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland: »Es ist in Demut anzuerkennen, wenn jemand, den wir durch die Taufe für die Gemeinde Jesu Christi in Anspruch genommen und durch religiöse Unterweisung zu Christus zu führen versucht haben, durch den Dienst einer anderen Kirche zum persönlichen Glauben an den Herrn Jesus Christus kommt. Es ist aber ernste Schuld und führt nicht zur Erbauung, sondern zur Zerstörung der Kirche Jesu Christi, wenn eine Kirche, im eigensüchtigen Streben, sich auszubreiten, lebendige Glieder einer anderen Kirche abwendig macht, um sie für sich zu gewinnen.« Wir haben als landeskirchliche Gemeinden einen erheblichen Teil der Schwierigkeiten und der Entfremdung zu verantworten. IV. Der gemeinsame Weg Die Landessynode bittet die Gemeinden, die vorhandenen Verbindungen zu freikirchlichen Gemeinden zu pflegen und zu stärken und neue Verbindungen anzuknüpfen. Unterschiede in Lehre und Leben dürfen uns nicht hindern, schon jetzt die nötigen gemeinsamen Schritte zu tun, die wir in der Nachfolge unseres Herrn Jesus Christus dieser Welt schuldig sind. Sie sind begründet im Ruf des Herrn, der seine Gemeinde sammelt. Er lädt uns ein zur Mahlgemeinschaft, zur gemeinsamen Feier des Lobes Gottes, zum gemeinsamen Hören auf sein Wort im Studium der Heiligen Schrift und zum gemeinsamen Gebet. Hier müssen Grenzen überwunden werden, um die Gemeinschaft unter Jesus Christus sichtbar werden zu lassen. Grundsatz sollte werden, dass alles gemeinsam geschieht, was nicht aus Gewissens- oder Zweckmäßigkeitsgründen getrennt getan werden muss.

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Aus der Fülle weiterer Möglichkeiten der Zusammenarbeit am Ort, zum Teil schon erprobt und bewährt, seien hier genannt: − − −

− − − − − − − − − − − − − − −

Vorbereitung und Durchführung gemeinsamer Evangelisationen Zusammenarbeit in den Aufgaben der Weltmission theologische Gespräche über das, was uns noch trennt (z. B. »Was konstituiert die Kirche?«, »Gemeinde und Amt«, »Gemeinde und Bekenntnis«, »Gemeinde und Taufe«, »Gemeinde und Abendmahl«) gegenseitige Information Einladung der freikirchlichen Pastoren und Prediger zu den Pfarrkonventen gemeinsame Seelsorge in bestimmten Fachbereichen (Krankenhaus-, Telefonseelsorge, Familienberatung, Suchtkranke, »Mischehen«) Erwachsenenbildung, Jugendarbeit, Altenarbeit Beteiligung an Bürgerinitiativen und gemeinsame Interessenvertretung gegenüber öffentlichen Stellen (vor allem im diakonischen Bereich) praktische Zusammenarbeit im diakonischen Bereich gemeinsame Aktionen zugunsten notleidender Menschengruppen und Völker gegenseitige Besuche im Gottesdienst und Kanzeltausch gegenseitige Besuche von Gemeindegruppen Einladung an alle Gemeinden am Ort zu gemeinsamen Gottesdiensten Überwindung einer falschen Konkurrenz zwischen Allianzgebetswoche und der Gebetswoche für Einheit der Christen Verbesserung der Beteiligung freikirchlicher Pastoren und Katecheten am Religionsunterricht in den Schulen Bildung von Arbeitsgemeinschaften (Christenräten) unter Einbeziehung der katholischen und orthodoxen Gemeinden gegenseitige Öffnung von Häusern, Kirchen und Räumen für Zwecke der anderen gemeinsame Bauvorhaben.

Auch kleine Schritte sollten in der Gewissheit getan werden, dass sie dem großen Ziel dienen.

II.4.2 Brief an die Freikirchen Die Landessynode richtet den folgenden Brief an die evangelischen Freikirchen, die an der Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen in Nordrhein-Westfalen bzw. in der Region Südwest als Mitglieder oder Gäste teilnehmen: Auf unsere Bitte haben Vertreter mehrerer evangelischer Freikirchen bei Tagungen von Kreissynoden und bei der Tagung der Landessynode mit uns darüber nachgedacht, wie wir brüderlich aufeinander hören und einander besser verstehen können. In den Beratungen haben wir ausgesprochen, wie wir es in der Vergangenheit an Toleranz, an Brüderlichkeit und an Liebe gegenüber evangelischen Freikirchen haben fehlen lassen. Dadurch haben wir Spaltungen der Kirche mitverschuldet.

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Umso dankbarer sind wir dafür, dass in den vergangenen Jahren, über die Begegnung vieler einzelner in der Evangelischen Allianz hinaus, durch die Erfahrungen in der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen neues Vertrauen zueinander zu wachsen begonnen hat. Die Landessynode hat, beraten durch einige Vertreter evangelischer Freikirchen, die Kirchenkreise und Gemeinden gebeten, am Ort eine tiefere Gemeinschaft von Zeugnis und Dienst zu suchen. Wir erlauben uns, Ihnen unseren Beschluss im Wortlaut zuzusenden. In der Hoffnung, dass Sie unsere Bitte mit Vertrauen aufnehmen, möchten wir Sie um Ihre Bereitschaft bitten, mit unseren landeskirchlichen Gemeinden zusammen die nächsten Schritte zu suchen und zu tun.

II.4.3 Evangelische Freikirchen im Gespräch oder in Zusammenarbeit mit der Landeskirche∗ Pastor Weiss, Herrnhuter Brüdergemeine in Nordrhein-Westfalen Herr Präses, meine verehrten Damen und Herren, liebe Schwestern und Brüder in Christus! Für Ihre Einladung und für die Begrüßung danke ich herzlich. Ich möchte meinem Referat zwei kurze Vorbemerkungen vorausschicken: Die eine, dass jetzt weder Zeit noch wohl die Aufgabe ist, die Freikirchen im Einzelnen vorzustellen. Ich denke, dass das der Arbeitsgang auf verschiedenen Kreissynoden gewesen ist. Es wird Ihnen deutlich sein, da die einzelnen Freikirchen eine Art Kirchenfamilie bilden, die in sich weit davon entfernt ist, homogen zu sein. Das erschwert das Gespräch zwischen den verschiedenen Freikirchen und der Landeskirche. Sie haben – so meine ich – nur eines gemeinsam, dass sie sich auch untereinander nicht alle gut kennen und dass eine Einladung zum Gespräch zwischen Ihnen und uns auch immer eine Einladung ist zu einem innerfreikirchlichen ökumenischen Gespräch. Und ein zweites: Sie haben um dieses Referat einen Herrnhuter gebeten. Ich bin sicher, dass Vertreter anderer Freikirchen sicher deutlich andere Akzente setzen würden. Im Detail kann ich nur für meine eigene Kirche, die Herrnhuter Brüdergemeine, die Evangelische Brüder-Unität, sprechen, und ich denke, dass die anwesenden Vertreter aus anderen Freikirchen bei anderer Gelegenheit das Wort nehmen dürfen. Ihre Synodenvorlage »Evangelische Freikirchen im Gespräch oder in Zusammenarbeit mit der Landeskirche«, theologisch fundiert, zielt auf Konkretion und Praxis. Es wird darauf ankommen, dieses »paper«, das, wie ich meine, von einem guten Geist diktiert ist, mit Leben zu erfüllen. Dabei wird die Vitalität unserer Partnerschaft sich darin erweisen, ob wir Fortschritte machen, offener aufeinander zu hören und miteinander zu reden sowie in der Gemeinschaft aller an jedem Ort, die in Jesus Christus getauft sind und ihn als Herrn und Heiland bekennen, alles gemeinsam zu tun, was nicht um der Wahrheit willen getrennt getan werden muss. Aber ich bin nicht sicher, ob unser Dialog nicht bald unter Kurzatmigkeit leiden würde, weil ihn Verdrängungen oder Verkürzungen ins Stot∗

Protokoll der Landessynode 1976, S. 38–47.

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tern und Stocken bringen könnten. Weil wir unsere Traditionen nicht draußen vor der Tür lassen können, lassen Sie uns über einen ersten Punkt gemeinsam nachdenken: 1.

Wahrheit und Glaubwürdigkeit

1.1 Die Volkskirche und ihre Alternativen Von Freikirchen und Landeskirchen reden heißt zunächst: von Alternativen reden. Die Charakterisierung dieser Alternativen im Sinne einer gegenseitigen Bestreitung, eines dialogischen oder komplementären Verhältnisses oder eines Entwurfes für eine neue Gemeinschaftsgestalt der Kirche Jesu Christi soll uns als offene Frage begleiten. (Zum Folgenden: H. Küng, Die Kirche). In der Landes- oder Volkskirche sehe ich allgemein die enge Zusammenordnung der Kirche in ihrem Verhältnis zur Öffentlichkeit bezeichnet, wie sie als Volk in Erscheinung tritt. Ein entscheidender Unterschied zwischen den Freikirchen und der Volkskirche hängt davon ab, wie wir das Verhältnis der Kirche zur Öffentlichkeit bestimmt sehen. In dem Maße, wie die erste Christengemeinde aus dem Gemeinwesen des synagogalen Judentums auswanderte, setzte sie sich selber dem Vorwurf aus, eine häretische Sekte zu sein. Die Problematik beginnt an der Stelle, da das junge Christentum mit dem Anspruch in die Welt der Völker eintritt, das neue Gottesvolk zu sein, dessen König Jesus Christus ist. Seine missionarische Ausbreitung im römischen Imperium ließ es alsbald geeignet erscheinen, die Rolle der öffentlichen Staatsreligion zu übernehmen. Als Reichskirche wurde sie zum integrierenden, aber auch integrierten Element der gesellschaftlichen Ordnung. Die Verbindung von Gottesvolk und Reichsvolk zum Corpus christianum, der Übergang von der missionarischen Freiwilligkeitsgemeinde zur organisierten Großkirche führte zu einer Vergesellschaftlichung des Evangeliums, das fortan stärker im Sinne der religiösen Betreuung des Volkes interpretiert wurde. Kirche und Gesellschaft fielen zusammen, die eine dient der anderen durch kirchliche Amtshandlungen bzw. staatliche Amtshilfen. Ich möchte es beinahe als ein tragisches Geschick bezeichnen, dass sich das reformatorische Ringen um die Freiheit des Evangeliums wohl nur durch die Konsolidierung der Reformation in protestantischen Landeskirchen durchhalten ließ. Aber dieses Prinzip der territorialen Religionssouveränität – cuius regio, eius religio – wurde in demselben Augenblick problematisch, in dem sich die eine Kirche in mehrere Konfessionen und später auch Freikirchen aufspaltete. Seither schwebt die Kirche zwischen der Scylla, der Staatskirche, und der Charybdis, der Sekte. Beide Tendenzen bestimmen die Strukturen der Volkskirche und der Freikirchen bis heute. Wie wir alle wissen, ist der Weg der christlichen Gemeinde von der jüdischen Sekte zur etablierten Großkirche, zur Landes- und zur Volkskirche nicht ohne Widerspruch geblieben. Im Streit um die »wahre Kirche« entstanden im Untergrund die Reformbewegungen als Alternativen zur Großkirche. Aus der Kirchengeschichte möchte ich nur auf jenen ziemlich breiten Strom erneuernder Tendenzen hinweisen, die bald im Inneren der organisierten Großkirche, bald durch Abfall von ihr vom Ende des 12. Jahrhunderts bis teils in die Wirren des 30-jährigen Krieges hinein wirkten: die Waldenser, die Hussitten und die Böhmischen Brüder (die einen der Ursprünge meiner eigenen Kirche darstellen). Ihr Protest richtete sich gegen den konstantinischen Status der Christenheit. Die Wahrheitsfrage führte sie über die Bibel zur

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Imitatio Christi und zum normativen Beispiel der Urgemeinde. Als Salz der Erde ist die christliche Gemeinde in der Welt eine Minderheit. Je mehr sie tolerierte oder propagierte Volkskirche werden will – das ist die konstantinische Versuchung –, entfernt sie sich von ihrem christologischen Ursprung und apostolischen Auftrag. Als weltflüchtige Konzentration und prophetischen Protest an der kirchlichen und weltlichen Obrigkeit könnte man den Ansatz jener Ekklesiologie bezeichnen. Der Reformation des 16. Jahrhunderts kann die Erfüllung des antikonstantinischen Programms ihrer Vorgänger nicht gutgeschrieben werden. Der damals über diese Frage vernachlässigte Dialog drängt sich heute neuerdings auf, aber natürlich in einer völlig veränderten Lage. Auch die Freikirchen, deren Ursprung teils bis in die Reformationszeit zurückreicht, haben sich von ihren Anfängen an als Alternativen zu ihrem je verschiedenen volkskirchlichen Christentum verstanden. In der Regel und in der Hauptsache sind sie nicht aus Konfessionsstreitigkeiten oder dogmatischen Kämpfen hervorgegangen, sondern verdanken ihre Existenz dem missionarischen Eifer um kirchlich entfremdete Menschen oder einer praktisch gelebten Frömmigkeit, die sie mit den verfassten Kirchen in Konflikt brachte. Wir werden gut daran tun, die Volkskirche und ihre Alternativen zusammen zu sehen, um die ganze Kirche Christi zu begreifen. Eine Zusammenschau wird nicht nur zur Addition der verschiedenen Wahrheitsmomente führen, sondern auch den Streit um die Wahrheit und das Ringen um Glaubwürdigkeit deutlich zu machen haben. Wie es unangemessen war, Landesfürsten, landeskirchliche Konsistorien und Landes-Universitäten zu den alleinigen Instanzen der Wahrheitsfindung werden zu lassen, so kann heute über die Frage nach der Glaubwürdigkeit nicht nach Mehrheiten abgestimmt werden. Aber das sollten wir auch in den Freikirchen bedenken; zu fordern sind nicht Legitimation, Reputation oder Gleichberechtigung für unsere Kirchen in der Minderheit, gefordert ist die Glaubwürdigkeit der Kirche Christi. 1.2 Aspekte und Kriterien für das Gespräch und die Zusammenarbeit Wir leben in einer Situation, die gekennzeichnet ist von einer Pluralität miteinander ringender, einander ergänzender oder bestreitender theologischer Entwürfe. Diese Pluralität ist nur dann nicht destruktiv, wenn das Gespräch zwischen den Positionen und den in ihnen sich niederschlagenden Traditionen erhalten bleibt. Unser Gespräch sollte sich weniger in der abgrenzenden Aussage als in der Frage äußern, die das Gespräch eröffnet. Geht es um die Wahrheitsfrage, kann der Dialog durchaus die Form des Streites um die Wahrheit annehmen. Aber wir sollten dann nie als Hüter der Wahrheit in den Dialog eintreten, sondern als Anwälte ihrer Einheit und Unteilbarkeit. Solche Dialogbereitschaft wird damit zur Herausforderung für jede Kirche und Theologie, welche die Wahrheitsfrage als in der Geschichte oder im Bekenntnis der Kirche abschließend beantwortet ansieht. Gegenüber Tendenzen, Auseinandersetzungen durch geistliche Disqualifizierungen zu lösen, sollten wir die Grundeinsicht zur Geltung bringen, dass der Geist allein in die volle Wahrheit führt. Dieser Geist ist allen gegeben. Damit sagen wir, dass der Prozess der Wahrheitsfindung das ganze Volk Gottes einschließt und nie abgeschlossen ist. Im Dialog setzen wir uns dem Risiko der Veränderung aus, die wir als Erneuerung der Kirche Christi durch den Geist Gottes erwarten.

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Was diese Aspekte und Kriterien für das Gespräch und die Zusammenarbeit zwischen Kirchen bedeuten, ist schon in der sogenannten »Toronto-Erklärung« des Ökumenischen Rates 1950 bedacht: Dort lesen wir von der Verpflichtung, keine besondere Lehre von der Kirche zur Grundlage der Gemeinschaft von Kirchen zu machen. Die Voraussetzung ist, dass die Kirchen bereit sind, »in den anderen Kirchen Elemente der wahren Kirche anzuerkennen«. Diese gegenseitige Anerkennung verpflichtet dazu, das eigene kirchliche Selbstverständnis daraufhin befragen zu lassen, ob es das Evangelium als Quelle der Gemeinschaft mit Gott und unter Menschen bezeugt. Die Freikirchen haben sich immer nur als ein Teil der Gemeinde Gottes in der Welt verstanden, und der Leib Christi ist nicht mit der eigenen Denomination identisch. Damit kommen wir 2.

zur Frage nach dem Verständnis von Kirche und Gemeinde,

die für das Verständnis der Freikirchen eine so entscheidende Rolle spielt. In den 20er und 30er Jahren der Reformationszeit hat es mehrere Gesandtschaften der Böhmischen Brüder zu Martin Luther gegeben. Der gelehrte Reformator zeigte sich wiederholt besorgt über die unzureichende wissenschaftlich-theologische Arbeit jener Männer aus der böhmischen Untergrundkirche: »Wenn ich's bei euch erlangen könnt, wollt ich bitten, dass ihr die Sprachen nicht also verachtet, sondern, weil ihr wohl könntet, eure Prediger und geschickte Knaben allzumal ließet gut Lateinisch, Griechisch und Hebräisch lernen ..., denn ich erfahre, wie die Sprachen über die Maßen helfen zum lautern Verstand göttlicher Schrift.« Voll Lobes war Luther dagegen für die Ordnungen der brüderischen Gemeindekirche: »Da ihr gut verfasste Ordnungen habt, so gebt sie nicht auf. Ich musste aus vielen Gründen zerstören. Ich könnte nicht anders ... Doch möchte ich gern eine gute Ordnung einführen, denn ich will die Kirche nicht zerstören, sondern aufbauen.« Und aus Begegnungen der Böhmischen Brüder mit dem reformierten Flügel der Reformation wird von Bucer überliefert: »Ihr habt ein großes Geschenk Gottes, nämlich das Band der Liebe und Einheit, Ordnung und Verbindung findet sich in euren Gemeinden; wo diese fehlen, kann Christus nicht gelehrt und nicht gepredigt werden, da ist er verjagt und ausgeschlossen. Viele haben das Joch des Antichristen von sich abgewälzt, aber das Joch Christi wollen sie nicht auf sich nehmen.« Ich habe diese Episoden aus der Kirchengeschichte absichtlich so breit zitiert, weil sie typisch sein können für Empfindungen, die, und wenn auch nur unterschwellig, in der Volkskirche heute lebendig sind: Die »reine Lehre« garantiert noch keine lebendige Gemeinde und umgekehrt: Sogenannte geistlich lebendige Gemeinden werden sich immer wieder an der Schriftgemäßheit ihres Selbstverständnisses zu prüfen haben. Unser gemeinsamer Grund ist das biblische und reformatorische Bekenntnis vom Heil der Menschen durch die Gnade Jesu Christi, diese im Glauben anzunehmen und in der Nachfolge zu bezeugen. Die freikirchliche Beschreibung von Kirche als »Versammlung derer, die durch das Wort Gottes zum Glauben an den auferstandenen und erhöhten

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Herrn Jesus Christus gerufen wurden« (Otmar Schulz, ökumenische Arbeitshefte Nr. 7/8, S. 12), ist durchaus mit der Meinung Luthers vereinbar, wenn wir in dem Artikel CA VII die Aussagen über die »Versammlung der Heiligen« ebenso hervorheben wie die über Wort und Sakrament und gleichzeitig mit bedenken, was Luther in der Vorrede zur Deutschen Messe über jene ausgeführt hat, »so mit Ernst Christen sein wollen«. Freilich ist der Wahrheitsanspruch von Bekenntnissen und theologischen Aussagen an den Prozess der Rezeption, der kritischen Zustimmung durch alle Glieder des Volkes Gottes gebunden. Als allgemeingültig für das Gemeindeverständnis aller Freikirchen werden wir herausstellen können, dass erst derjenige, der das Angebot der Gemeinschaft mit Gott ernst nimmt und auf sich selbst anwendet, indem er dem Anspruch der Zusage Gottes folgt, zum Glied der Gemeinde Jesu Christi wird. Der verpflichtende Bekenntnischarakter der Kirchenmitgliedschaft ist in den einzelnen Freikirchen unterschiedlich akzentuiert: Während in den meisten die Aufnahme in die Gemeinde von einem hörbaren und sichtbaren Bekenntnis abhängt – bei den Baptisten sind Glaubenstaufe und Gemeindeaufnahme miteinander verbunden –, gilt in anderen, dass sie bei ihren Gliedern den persönlichen Glauben an Christus erwarten, so ist uns die Frage nach der Bewertung des persönlichen Glaubens gestellt. Der Glaube ist göttliche »promissio« und zugleich menschliche Antwort. Es ist unmöglich, zwischen diesen beiden Aspekten zu trennen, aber wir werden beide zu unterscheiden haben. Die Gemeinde Jesu Christi ist eine Schöpfung des Wortes, das gleichzeitig konstitutive Bedeutung für den Glauben hat. Aber das verkündigte Wort verlangt nach Antwort, Gehorsam und Nachfolge des Menschen und schafft so die Gemeinschaft der Glaubenden. Aber normativ und konstitutiv für das Verständnis von Kirche und Gemeinde kann niemals eine persönliche Glaubenserfahrung oder subjektive Heilsgewissheit sein. Aber weil Gott auf das Subjekt des Menschen zielt, weil das Heilsangebot sich die Entsprechung in der Heilsaneignung sucht, kommt es zu persönlichem Glauben, zu persönlichem Bekenntnis und zu einem neuen Leben. Es ist eindrücklich, wie sich Luther an dieser Stelle – etwa in den Schmalkaldischen Artikeln – nicht nur von der Papstkirche seiner Zeit, sondern ebenso gegen die Enthusiasten und das innere Licht der Schwärmer abgegrenzt hat. Als reformatorische Kirchen sind wir Kirchen des objektiven Heilsgeschehens und nicht der subjektiven Gläubigkeit. Indem wir diese antischwärmerische Front betonen, wollen wir nicht die Frage unterdrücken, ob dadurch nicht die Offenheit für die gegenwärtige Wirklichkeit des Heiligen Geistes verstellt wird, die Offenheit für den erneuernden Eingriff Gottes bei Kirchen, Gemeinden und Menschen, die mit Begeisterung Christen sind? Indem die Freikirchen das Evangelium der Umkehr, den persönlichen Glauben und die Freiheit zum Zeugnis betonen, laden sie die Volkskirche zu einem Gespräch über wesentliche Aspekte der christlichen Existenz ein, die in anderen reformatorischen Kirchen oft zu gering geachtet worden sind. Aus dem freikirchlichen Gemeindeverständnis folgt mit Konsequenz, dass man nur freiwillig Mitglied einer Kirche sein kann. In allen Freikirchen gibt es eine Schwelle, an der der Mensch – nicht immer punktuell, sondern im Prozess eines Glaubenswachstums – Antwort schuldig ist auf das Angebot der Gnade Gottes. Dieses Prinzip bedeutet de facto eine Alternative zu dem volkskirchlichen Mitgliedschaftsrecht, das durch staatliche Amtshilfe in dieser Frage Tendenzen zu einem Staatskirchenrecht mindestens nicht mindert. Die Säuglingstaufe wird zumindest dann fragwürdig, wenn ausschließlich in ihrem Vollzug das Gesamtzeugnis dessen Gestalt gewinnt, was im Neuen

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Testament über die Taufe ausgesagt ist. Die Gemeinde Jesu Christi wird vor allem in der versammelten Ortsgemeinde sichtbar, die in ihrem Einssein mit Christus das deutlichste Zeugnis für ihren Herrn in der Welt zum Ausdruck bringt. Diese überschaubare Gemeinde gliedert sich in eine Gemeinschaft geordneter Dienste. Menschen sind bereit, in vielen Bereichen verantwortliche Haushalterschaft zu praktizieren, bis dahin, dass in den Freikirchen das kircheneigene Beitragssystem ganz selbstverständlich ist. Das konnten am Schluss nur einige Stichworte sein. 3.

Wandlungen zur Diasporasituation

Der wichtige Beitrag von Bischof Krusche in Sachsen 1973 ist heute schon zitiert worden. Zu den großen Veränderungsprozessen der Kirche gehört heute die Wandlung der Gemeinde zu einer Minderheit in einer nichtchristlichen-nachchristlichen Umwelt. Wir nennen diese nicht mehr dem schlaff gewordenen corpus christianum angepasste Form der Kirche ihre Diasporagestalt. Worauf sich die Christen in der DDR seit Jahren einstellen, was bei uns durch Meinungsumfragen immer wieder noch einmal befragt wird, ob vielleicht doch nicht sein könnte, was auf biblische Strukturen hinweisen könnte, das hat den Weg und die Existenz der Freikirchen als kleine Minderheiten von Anfang an bestimmt. Ich gebe zu, wir haben uns diesen Weg nicht freiwillig gesucht, und die Anfechtung ist immer da, größer sein zu wollen, einflussreicher, anerkannter und gleichberechtigter. Und auch wir haben die Diasporasituation der Kirche erst biblisch zu deuten begonnen. Wir sollten es in Freikirchen und Volkskirche gemeinsam versuchen und uns zu einem Lernprozess gegen die Angst, gegen die Resignation und gegen die Emigration ermutigen. Denn das ist eine der großen Versuchungen, wie sie Bischof Krusche formuliert hat, die Diaspora – »eine heimliche und schleichende Preisgabe der Orientierung auf die Sendung.« Dazu darf es nicht kommen. Was ist präzise gemeint, wenn wir den Begriff Diaspora verwenden? Nicht die konfessionelle Minderheitensituation, dass Katholiken in Nordfriesland leben müssen oder nord-/ westdeutsche Reformierte in Niederbayern. Wir erkennen die spezifisch theologische und heilsgeschichtliche Bedeutung des biblischen Diasporabegriffs. Der Gedanke, dass die Gemeinde zerstreut wird – worin sich auch Gottes Gericht vollziehen kann –, verbindet sich mit dem der Sendung in die Welt. Wie Jesus als Ausgestoßener durch Palästina wanderte und die erste Christengemeinde als Minderheit in andersgläubiger Umgebung lebte, so wandert Gottes Volk durch die Welt und setzt sein Werk fort. Somit ist Diaspora der biblische Begriff für die Existenz der Kirche. Wir sehen in der Diaspora-Existenz der Gemeinde besondere Zeichen für Verheißungen und Aufträge Gottes in dieser Welt: a) Die Diaspora-Situation ist ein Hinweis auf die Fremdlingschaft und das Unterwegssein des Leibes Christi bis zum endzeitlichen Gesammeltwerden. Das wandernde Gottesvolk hat auf Erden keine Heimat und ist an keinen Ort zu binden. b) Die Diaspora-Existenz ist ein Zeichen für die Kreuzgestalt der Gemeinde. Die Existenz der Gemeinde ist gegeben mit der Inkarnation ihres Hauptes, ihre Gestalt ist die des verstreuten Leibes Christi, den Christus in seiner Menschwerdung angenommen hat. Das Schicksal des Evangeliums ist darum das Schicksal der Gemeinde Gottes.

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c) Die Diaspora ist der Raum des Apostolates. Gemeinde ist wesentlich Diaspora, sie weiß sich zum Dienst in der Welt und an der Menschheit berufen. Gegen die Gefahr, sich zum Zwecke der Selbsterhaltung von allem abzuschirmen, was den Bestand und die Identität unserer Kirche gefährden könnte, werden wir uns auf mindestens zwei Lernfeldern nicht loszulassen haben: bei der missionarischen Weitergabe des Evangeliums und bei der Mitarbeit in der Gesellschaft. Um auf diesen beiden Prüfständen bestehen zu können, braucht es die Einübung in Größen- und Mittel-Anpassung. Die kleine Gruppe ist »diasporafest« zu machen (vgl. Hoekendijk, Die Kirche ...), d. h. widerstandsfähig gegen den Umweltdruck, aber verfügbar für andere Menschen. In ihr, in dieser Gruppe und Gemeinschaft, wird der kirchliche Laie zum fachmännischen Träger des Apostolates, indem er Christi Solidarität mit der Welt im alltäglichen Leben demonstriert. Moltmann spricht in seinem Buch über die Kirche vom Weg von der Betreuungskirche des Volkes zur weltoffenen Gemeinschaftskirche für das Volk. In einer solchen braucht es Gemeinschaft und Zurüstung in solidarischen Gruppen. 4.

Der missionarische Auftrag

Gerade in der Diaspora bleibt uneingeschränkt der Auftrag, das Evangelium von der Menschenliebe Gottes weiterzutragen. Eine Kirche ist immer so frei, wie sie sich von Gott dazu befreit sieht, so viel Menschen wie möglich mit Jesus bekanntzumachen, der zu einem Leben befreit, das sich lohnt und das uns bleibt. Die Freikirchen sind zum Teil um dieses Auftrages willen entstanden, und Kirche und Mission waren für sie immer identisch. Zinzendorf und Wesley konnten sagen: »Die ganze Welt ist meine Parochie.« »Wir können uns nicht helfen, wir können das Evangelium nicht an die Kette legen.« Auch dieser missionarische Impuls war eine Alternative zum Volkskirchentum ihrer Zeit, in der der Missionsauftrag in der Zeit der Apostel und durch die Christianisierung des Abendlandes erfüllt zu sein schien. Sind Berufung und Mission nach altprotestantischer Auffassung einmal geschehen, dann ist die Kirche heute nicht mehr missionarisch, sondern unterrichtet, betreut und tauft die Christenkinder, wobei es unsere gemeinsame Erfahrung sein dürfte, dass es christianisierte Menschen besonders schwer haben, lebendige Christen zu werden. Bisher war Mission überwiegend Übersee-Mission. Seit Mexiko-City '63 spricht man dagegen von der »Mission in sechs Kontinenten«, und Lausanne verpflichtet die ganze Gemeinde, der ganzen Welt das ganze Evangelium zu bringen. Die Frage ist: Welche Konsequenzen haben diese Sicht von Kirche und Mission und der bleibende missionarische Auftrag für das Gespräch und die Zusammenarbeit zwischen Volkskirche und Freikirchen? Wo liegen in einer volkskirchlichen Gesellschaft unsere Missionsaufträge und unsere Missionsfelder, und wie sehen unsere Missionsstrategien aus? Volkskirche kann doch nicht nur als empirische Größe gesellschaftlich gesetzt werden, die sich immer wieder von Generation zu Generation aus sich selbst heraus erneuert. Volkskirche kann nach meinem Verständnis immer nur ein biblisch-missionarischer Sollensbegriff sein, der als solcher ein Akt des Glaubens und ein Werk der Schöpfung und Erwählung Gottes bleibt. Auch die Freikirchen bleiben dieser Welt zugewandt, weil Jesus Christus in seiner Liebe und Treue nicht nachlässt, an dieser von ihm geliebten Welt festzuhalten. Sie dürfen sich nicht aus Gleichgültigkeit, Hochmut oder Angst von ihr zurückziehen, wenn für solche Absetzbewegung zu einer individualistisch-subjektiven Frömmigkeit die Freikirchen

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nicht immer ganz unanfällig gewesen sind. Aber steht auf der anderen Seite bei der Volkskirche dem Gewinn an Weltlichkeit vielleicht ein Verlust an prophetischer Kritik der Welt gegenüber? Aber hüten wir uns hier vor falschen Alternativen. Es gibt in der Gemeinschaft Jesu Christi kein »Entweder-oder« zwischen der Umkehr des Herzens und der Humanisierung der Verhältnisse. Es gibt christlich kein »Entweder-oder« zwischen der vertikalen Dimension des Glaubens und der horizontalen Dimension der Liebe. Wer hier trennt und spaltet, zerstört die Einheit von Gott und Mensch in der Person Christi und seiner Zukunft. Diese Problematik, vor der wir alle stehen, geht als ein Wesensmerkmal, das viele unter uns belastet, durch alle Kirchen und Freikirchen. 5.

Zum Schluss

Wer sind wir, Vertreter aus Freikirchen und Landeskirche? Gesprächspartner, ungleiche Partner, die dennoch zusammenarbeiten wollen? Ich meine: zuerst einmal Miterben Christi, Botschafter an Christi statt und Anwärter seiner Königsherrschaft, Leute, die Jesus gemeint hat, als er betete, dass sie in ihm und seinem Vater eins seien, damit die Welt glaube. Wenn die Gruß- und Wunschformeln in den neutestamentlichen Briefen nach einem neuen Sitz im Leben verlangten, dann wäre er hier: die Mitfreude, der Dank, die Ermahnung, das Mitleiden, die Solidarität, die Grüße an die Brüder und Schwestern. Wir sollten uns nicht aus den Augen lassen in einer tragenden geistlichen Gemeinschaft, in der das mutuum colloquium und die consolatio fratrum geübt werden. Ich will die Konturen, die unterschiedlichen Traditionen und die Alternativen nicht verwischen, wenn ich zum Schluss das Gemeinsame von Freikirchen und Volkskirche darin sehe, dass wir alle befreit werden möchten, Volk Gottes zu sein. Darum lasst uns eifern – nicht wetteifern, aber eifern –, ob wir nicht etliche gewinnen.

II.4.4 Evangelische Freikirchen im Gespräch oder in Zusammenarbeit mit der Landeskirche∗ Jürgen Schroer Kurze Zeit nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges vereinbarten einige Kirchen in Deutschland, ihre nach der Kapitulation neu gewonnene Handlungsfreiheit dazu zu benutzen, so eng wie möglich zusammenzuarbeiten. Die Frauen und Männer, die sich diese Zusammenarbeit der Kirchen versprachen, waren Bekannte, zum Teil Freunde geworden durch die gemeinsamen Vorhaben der evangelischen Allianz. Dort haben sie gemeinsam gebetet als Einzelpersonen, wie es die Regeln der Allianz gebieten; jetzt konnten sie diese personale Beziehung nutzen, um nicht nur für sich selber zu sprechen, sondern als Vertreter der Kirchen, denen sie angehörten. Christen in Freikirchen und Volkskirche hatten in den Jahrzehnten vorher erfahren, dass die Kirche viele Möglichkeiten hat, ihre Freiheit aufs Spiel zu setzen und sogar zu ver∗

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spielen, und dass die Gesellschaft der Kirche viele Formen der Gefangenschaft anbietet. Ebenso hatten Christen in Freikirchen und Volkskirche erfahren, dass außerhalb Deutschlands Kirchen im Prozess der Ökumene längst fortgeschritten waren und erfahren hatten, dass brüderliche Liebe eine Gemeinsamkeit organisieren kann, die die Glaubwürdigkeit von Zeugenschaft und Dienst nicht schwächt, sondern stärkt. Die Arbeit der Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen, zunächst auf der Ebene der damaligen EKD, später ebenso regional nach Bundesländern gegliedert (seit 1975 auch in Rheinland-Pfalz als »Region-Südwest«), bezeichnet einen Prozess, in dem Kirchen lernen, aufeinander zu hören, beharrlich einander zu befragen, die Zeichen der jeweils geschenkten Freiheit ebenso zu erkennen wie die Zeichen der jeweils drohenden oder sich anbietenden Gefangenschaft der Kirche und der Christen. Aus dem Kreis der Mitglieder und Gäste der Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen ist heute die evangelische »Familie« unter sich – die Gruppe also, die als erste nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, zusammen mit der Altkatholischen Kirche, mit der gemeinsamen Arbeit begonnen hatte, bevor später die römisch-katholische Kirche und die orthodoxen Kirchen dazukamen. Unsere Beratungen haben wir vorbereitet durch die der Kreissynoden – diese erfreulicherweise an vielen Orten ebenfalls durch gemeinsame Überlegungen mit den örtlichen ökumenischen Nachbarn. Indem wir Unterschiede sachlich ernst genommen, sie also weder verharmlost noch überbetont haben, haben wir vielerorts in den Freikirchen Partner neu entdeckt. Wir haben einander als ungleiche Partner kennengelernt, haben Schwierigkeiten der Partnerschaft zwischen personell und strukturell so ungleichen Partnern erkennen müssen, sind aber in der Überzeugung gestärkt worden, dass das Gespräch und die Zusammenarbeit zwischen Landeskirche (als Volkskirche) und Freikirchen verstärkt werden müssen, wenn wir es ernst nehmen mit Zeugenschaft und Dienst der Christen und der Kirchen. Die Synode der EKD hat im November 1975 die Problematik unserer Volkskirche ohne Vorbehalte eingestanden. Sie hat die Ungewissheit über die Zukunft unserer Volkskirche offen ausgesprochen. Aber sie hat nicht einfach die Freikirche als die Kirche von morgen bezeichnet, sondern gemeint, die volkskirchliche Struktur als eine Möglichkeit zu Zeugenschaft und Dienst unter Zeitgenossen benutzen zu können. Damit hat sie nicht die Freikirche als mögliche Existenzform der Kirche Jesu Christi heute abgelehnt. Gerade durch die Offenheit der Fragestellung hat die Synode der EKD meines Erachtens zu neuem Gespräch mit den Freikirchen über Freiheit und Gefangenschaft der Kirche ermutigt. Auf diesem Hintergrund möchte ich die Tendenzen der Vorlage deuten, die vom ökumenischen Ausschuss unter Beteiligung freikirchlicher Brüder und im Einvernehmen mit dem theologischen Ausschuss ausgearbeitet worden ist. 1. Freikirchen und Landeskirche, deren Vertreter hier aufeinander hören und miteinander sprechen wollen, gründen sich auf das gleiche Fundament: Sie verstehen sich als Kirchen des Evangeliums von Jesus Christus, dessen Wiederentdeckung seinerzeit zur Reformation führte. Sie sind Kirchen, die nach ihrem Selbstverständnis darauf angewiesen sind, dass das Evangelium von Jesus Christus sie beständig von neuem befreit. Freilich: Das Bekenntnis zu Jesus Christus als dem tragenden Fundament kann von uns nicht mit einer Stimme ausgesprochen werden. Die Pluralität der Überzeugungen bedeutet nicht nur manchmal eine Zerreißprobe, sondern ist geradezu zu einem Kennzeichen zeitgenössischen Bekennens zu Jesus Christus geworden. Auf die Frage, wer Jesus Chris-

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tus für uns heute ist, zu welcher Freiheit er uns befreit, können wir zurzeit nicht eine allein zutreffende Antwort geben, sondern müssen uns mit mehreren Teilantworten begnügen. Die Pluralität stellt in jeder Kirche, in Freikirchen und Landeskirche, unsere Hörfähigkeit, unsere Korrekturbereitschaft und unsere aktive Toleranz auf eine harte Probe. Sie ist jedoch unter Anerkennung der Voraussetzung, dass, wie die Landessynode 1970 formulierte, das Bekenntnis der verschiedenen Zeugen Jesus Christus meint, den Befreier, die einzige Möglichkeit, Zeugenschaft und Dienst wirksam, und das heißt gemeinsam, wahrzunehmen. 2. Die Freiheit, zu der Jesus Christus die Christen und die Kirchen befreit, verstehen wir als die Freiheit zu Zeugenschaft und Dienst. Um der Gemeinsamkeit von Zeugenschaft und Dienst willen sprechen wir konkret von der Ökumene am Ort: Die Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Neu Delhi hat 1961 zur Gemeinschaft aller Christen an jedem Ort ermahnt und ermutigt: Der internationale Kongress für Weltevangelisation in Lausanne hat 1974 davon gesprochen, dass die ganze Gemeinde der ganzen Welt das ganze Evangelium bringen soll. Der Generalsekretär des Ökumenischen Rates, Dr. Philip Potter, hat 1974 vor der Bischofssynode in Rom zur Aufgabe der Evangelisation in der modernen Welt ausgeführt: »Evangelisation findet statt an einem bestimmten Ort und mit bestimmten Personen oder Gruppen. Deshalb ist die örtliche Kirche die Basis jeder Evangelisation, das ganze Volk Gottes in der Gemeinschaft, wie es Gottesdienst feiert, lebt und arbeitet unter den Menschen in einem Dialog der Solidarität. Worauf es hier ankommt, ist, dass zwischen örtlichen Kirchen ein Dialog stattfindet in gegenseitigem Respekt und im gegenseitigen Korrigieren, in einer Kollegialität des gegenseitigen Mitteilens und Bereichertwerdens durch die ›Gnade Gottes in ihren mannigfaltigen Formen‹ (1Petr 4,10). Zweitens muss Evangelisation, die an einem bestimmten Ort und unter bestimmten Menschen stattfindet, die Ganzheit der Menschen und der Gruppen ernst nehmen, an die sie sich richtet. Wort und Tat, Verkündigung und Dienst, Theologie und Praxis, Kontemplation und Kampf, geduldige Hoffnung und vorwärtsdrängendes Engagement sind unauflöslich zusammengebunden und machen den eigentlichen Rhythmus der Evangelisation aus.« »Die eigentliche Herausforderung an die Kirchen besteht nicht darin, dass die moderne Welt an der evangelistischen Botschaft uninteressiert wäre, sondern die Herausforderung liegt in der Frage, ob die Kirchen in ihrem Leben und Denken soweit erneuert sind, dass sie ein lebendiges Zeugnis für die Integrität des Evangeliums geworden sind. Die evangelisierenden Kirchen müssen selbst die gute Nachricht neu empfangen und es dem Heiligen Geist erlauben, ihr Leben neu zu schaffen, wann und wo er will« (soweit Dr. Philip Potter). 3. Für den gemeinsamen Weg sind Schritte genannt, die an Ort und Stelle verabredet und getan werden müssen, ähnlich wie wir das vor drei Jahren im Blick auf die Zusammenarbeit mit unseren römisch-katholischen Nachbarn getan haben. Unsere Kirchen sind organisatorisch getrennt; das erleichtert uns nicht, im ökumenischen Sinn als Zeugen Jesu Christi und als Diener der Menschen zu arbeiten. Aber die Aufgaben von Zeugenschaft und Dienst fordern uns heute nicht oder nicht mehr zum Übertritt von einer Kirche zur anderen heraus. Ohne unsere gegenwärtige kirchliche Organisation zu verän-

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dern, ist eine Reihe von geistigen und geistlichen Entscheidungen notwendig, die ich nennen möchte: 3.1 Wir müssen lernen, mit offenen Grenzen zu leben. Weil Christus nicht nur in meiner eigenen Kirche lebendig ist, sondern auch in der Kirche des Partners, bedeutet die Öffnung der Grenzen nicht die Verwischung der Konturen, sondern eröffnet erst die Möglichkeit, die Konturen richtig kennenzulernen und von beiden Seiten zur Diskussion zu stellen. Zur »ökumenischen Gastbereitschaft« im beiderseitigen Sinn, zwischen Freikirchen und Volkskirche, müssen sie einen Weg finden; für gemeinsame Arbeitsvorhaben mehrerer Kirchen ist die rein personal bestimmte evangelische Allianz nicht strukturiert. Die Allianz nimmt umgekehrt in ihrer Handlungsfreiheit Aufgaben wahr, die bei den organisierten Kirchen und Freikirchen nicht ohne Schwierigkeiten unterzubringen sind. Wann und wie also laden wir uns gegenseitig verbindlich und regelmäßig ein, um die Kirche des Partners kennen und verstehen zu lernen, ohne Konversionsdruck auszuüben oder zu verspüren? 3.2 Zum Kennen- und Verstehenlernen gehört die Freude am Erfolg und die Sorge um die Schwäche des anderen. Paulus, der Zeuge Jesu Christi, spricht von der Mit-freude und dem Mit-leiden der Mitglieder. Das heißt: Im Vollzug »ökumenischer Gastbereitschaft« lernen wir hoffentlich der Versuchung zu widerstehen, auf Kosten des anderen leben zu wollen, von seinen Misserfolgen oder Fehlern profitieren, durch Abgrenzung von ihm uns profilieren zu wollen. Wir wissen, wie häufig die Enttäuschung an einer Kirche als Institution oder an einem ihrer Mitarbeiter zum Austritt bzw. zum Übertritt zu einer anderen Kirche führt. Wir kennen die Vielfalt von Gründen für solche Enttäuschung, kennen auch die Selbstgerechtigkeit, die ungeistlichen Gründe, die scheinbare Bewältigung der eigenen Vergangenheit durch Trennung von einem Abschnitt meiner eigenen Lebensgeschichte. Aber wir kennen hoffentlich auch die echten Verwundungen, die Menschen in Freikirchen und Volkskirche einander beibringen können. Ich möchte uns allen den Mut und die Demut zu einer brüderlichen Verabredung wünschen, von den Enttäuschungen an der Kirche des jeweils anderen nicht profitieren zu wollen, weder innerlich (zur Stärkung meines Selbstbewusstseins) noch äußerlich (durch Abgrenzung und Abwerbung): Diese Verabredung würde es uns ermöglichen, Mitfreude und Mitleiden im Kreis der Mitglieder zu lernen. 3.3 Wir sind unseren Zeitgenossen Zeugenschaft und Dienst schuldig, die nicht von feindlichen Brüdern oder entfremdeten Vettern geleistet werden. Im Ernst steht die Glaubwürdigkeit unserer Botschaft auf dem Spiel. Das Gebet für die Einheit derer, die in Zeugenschaft und Dienst unserer Generation das Heil bezeugen wollen und sollen, kann zur Heuchelei werden, wenn Beter, auf dem Weg über ihre Institutionen in Freikirchen und Landeskirche, die Verständigung und das Einvernehmen verhindern. Wir haben eine geistliche Anfrage, die nach unserer Freiheit in Freikirchen und Landeskirche, geistlich zu bewältigen und zu beantworten. Wir müssen dabei wissen, dass die tatsächliche Zerteilung der Christenheit, auch der evangelischen Konfessionsfamilie, eine mindestens so deutliche Sprache spricht wie unsere Beteuerungen (auch im Gebet), nach Gemeinsamkeit der Christen an jedem Ort zu streben.

II.5 Landessynode 1978

II.5.1 Partnerschaft mit orthodoxen Kirchen und Gemeinden∗ Beschluss 36 der Landessynode 1978: »Die Landessynode nimmt die Ausarbeitung – Partnerschaft mit orthodoxen Kirchen und Gemeinden – mit Dank entgegen und bittet die Kirchenleitung, die erforderlichen Maßnahmen zu veranlassen. Partnerschaft mit orthodoxen Kirchen und Gemeinden Unsere evangelische Kirche ist seit längerer Zeit mit orthodoxen Kirchen verbunden durch die gemeinsame Mitgliedschaft im Ökumenischen Rat der Kirchen und in den Arbeitsgemeinschaften Christlicher Kirchen in Deutschland. Dies hat jetzt für die Evangelische Kirche im Rheinland seinen deutlichen Ausdruck gefunden. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte ist es auf einer Tagung der Landessynode zu einer Begegnung mit Vertretern orthodoxer Kirchen gekommen. Die orthodoxe Kirche ist neben der römischkatholischen und der evangelischen Kirche die drittgrößte in der Bundesrepublik. Von den ungefähr 600.000 orthodoxen Christen bei uns leben rund 130.000 im Gebiet der Evangelischen Kirche im Rheinland. Davon stellen die orthodoxen Griechen (meist griechische Arbeitnehmer) mit 90.000 Gemeindegliedern den größten Anteil, die Serben mit etwa 30.000 den zweitgrößten. In jeweils kleiner Zahl leben bei uns auch Glieder anderer orthodoxer Kirchen. Manche Gemeinden haben einen hohen Prozentsatz von Emigranten und Flüchtlingen. Sie haben aus politischen Gründen und um ihres Glaubens willen ihre Heimat verlassen oder wurden im letzten Krieg als Zwangsarbeiter verschleppt und sind nicht wieder zurückgekehrt. In brüderlicher Verbundenheit mit dem ökumenischen Patriarchat in Konstantinopel, dem die »Griechisch-Orthodoxe Metropolie von Deutschland und das Exarchat von Mitteleuropa« mit Sitz in Bonn untersteht, haben sich die Evangelische Kirche in Deutschland und ihr Diakonisches Werk verpflichtet, sich der sozialen Belange der griechisch-orthodoxen Arbeitnehmer anzunehmen und die Griechisch-Orthodoxe Metropolie von Deutschland in ihrer seelsorgerlichen Arbeit zu unterstützen. Der Schwerpunkt liegt in unserer rheinischen Kirche zurzeit im sozialen Bereich und wird vom Diakonischen Werk über die bei ihm angestellten griechischen Sozialarbeiter wahrgenommen. ∗

Protokoll der Landessynode 1978, S. 140–143, 66–72, 73, 74–78.

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Nun haben auf der Landessynode Vertreter orthodoxer Kirchen ihren Willen zur weiterführenden ökumenischen Begegnung zum Ausdruck gebracht. Bischof Augoustinos von der Griechisch-Orthodoxen Metropolie in Deutschland erklärte für seine Kirche u. a.: »Die Existenz einer so großen orthodoxen Kirche mit ausgeprägtem kirchlichem Leben in fast allen größeren Städten der Bundesrepublik Deutschland und Berlin (West) ist für unsere, aber auch für Ihre Kirche eine noch nie dagewesene Gelegenheit und Chance, einander besser zu verstehen und kennenzulernen und die Beziehungen zwischen unseren Kirchen zu intensivieren. Und zwar eben nicht nur auf der Hochebene ökumenischer Tagungen und Konferenzen, sondern sozusagen von Haus zu Haus in nachbarschaftlichem Beieinanderwohnen nicht nur der Geistlichen, sondern auch der Gemeindeglieder.« »Dabei sind wir der Meinung, dass vor allem das theologische Gespräch vertieft werden sollte und dass dieser Dialog – will er das Ziel der christlichen Einheit nicht aus dem Auge verlieren – nur fruchtbar sein kann, wenn er ein Dialog der Liebe und der Wahrheit ist.« Auch die Landessynode ist der Meinung, dass in einem solchen Dialog die orthodoxen Kirchen und Gemeinden in unserem Bereich als geistliche Partner ernst genommen und wir selbst bewahrt werden vor bloßem Betreuungsdenken und der Gefahr direkter oder indirekter kirchlicher »Abwerbung« (Proselytenmacherei). Manche orthodoxe Kirchen sind in ihrem Heimatland der einzige Zeuge christlichen Glaubens und haben ihn jahrhundertelang in nichtchristlicher Umwelt unter großen Opfern bewahrt. Bis heute geben die orthodoxen Kirchen Bekenntnis und Liturgie der Alten Kirche lebendig weiter. Geist und Charakter der orthodoxen Kirchen erschließen sich ihren Partnern nicht nur durch theologische Gespräche, sondern durch Begegnung mit dem Leben orthodoxer Gemeinden. Dieses Gemeindeleben hat seinen Mittelpunkt im Gottesdienst und umschließt von der Liturgie her den Menschen mit seiner ganzen Familie oder gar Sippe. Die orthodoxen Brüder und Schwestern in unserem Lande leben in Diaspora und haben uns wissen lassen, dass sie das brüderliche Gespräch mit unserer Kirche brauchen. Wir brauchen die Begegnung mit ihnen, weil wir nicht in Selbstgenügsamkeit stecken bleiben dürfen, sondern am Glaubensleben der anderen teilhaben wollen. Die Landessynode bittet darum die Kreissynoden und Gemeinden, diese Begegnung zu suchen. Das gilt besonders für Gemeinden, in deren Bereich orthodoxe Christen leben. Das bedeutet, 1. sich durch Literatur und geeignete Referenten, wobei das Landeskirchenamt (Ökumene-Referat) behilflich ist, mit der Orthodoxie vertraut zu machen, 2. eine genaue Bestandsaufnahme der orthodoxen Gemeinden im eigenen Bereich durchzuführen, soweit dies noch nicht erfolgt ist, 3. Begegnungen mit orthodoxen Christen zu suchen, 4. Erfahrungen, die in den Gemeinden gemacht wurden, zu sammeln und auszutauschen, 5. der Kirchenleitung bis Mitte 1979 über die Ergebnisse dieser Arbeit zu berichten und Vorschläge zu unterbreiten.

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Für März 1978 ist eine Konsultation der kreiskirchlichen Ökumene-Referenten und für Anfang 1979 ein Pastoralkolleg mit orthodoxen Priestern und Pfarrern der Evangelischen Kirche im Rheinland vorgesehen.« In der Aussprache beantragt der Synodale Dr. Dietrich, die fünf Punkte am Schluss der Vorlage wie folgt zu ergänzen: Zu Punkt 3: ... zu suchen und die entsprechenden Räumlichkeiten für die Durchführung ihrer gottesdienstlichen Veranstaltungen bereitzustellen. Zu Punkt 4: Erfahrungen, die in den Gemeinden und Kirchenkreisen gemacht wurden ... Außerdem bittet er, in dem Anschreiben an die Gemeinden darauf hinzuweisen, dass man auf die verschiedenen Gruppierungen der orthodoxen Kirchen achthaben möchte. Die Synode stimmt den vorgeschlagenen Ergänzungen zu und beschließt einstimmig:

II.5.2 Wort an die Synode Bischof Augoustinos, Griechisch-Orthodoxe Kirche Hochwürdiger Herr Präses, sehr geehrte Synodalen, liebe Brüder und Schwestern in Christo, am Anfang meiner Einführung in die Problematik der »Ökumene am Ort«, wie sie sich der orthodoxen Seite darstellt, möchte ich dem Herrn Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland und der Kirchenleitung sowie der Landessynode, aber auch den Herren Oberkirchenrat Schroer und Kirchenrat Locher meinen sehr herzlichen Dank für die Einladung aussprechen, an Ihrer Synodaltagung teilzunehmen, die sich mit dem Thema »Partnerschaft mit orthodoxen Kirchen und Gemeinden« beschäftigt. Ihre Einladung an mich war zugleich eine Aufforderung, mich an der Erörterung des Themas zu beteiligen und Ihnen eine kurze Einführung dazu zu geben. Und das ist vielleicht das Beste, was wir im Hinblick auf das Thema tun können: nämlich die »Ökumene am Ort« auf dieser Synodaltagung ganz konkret zu üben. Der heilige Chrysostomos sagt einmal, dass es in der »Ökumene, in der weiten Welt, eine Kirche gibt, ob sie auch vielfach getrennt ist. Trennt sie der Raum, so vereint sie doch der Herr, der allen gemeinsam ist«. Diese Weltweite der Kirche haben wir zuerst vor Augen, wenn wir von Ökumene sprechen. Aber natürlich wissen wir, dass heutzutage unter Ökumene und ökumenischer Bewegung noch etwas anderes verstanden wird. Nämlich der Aufbruch der Kirchen, sich nach allen Schismen und Trennungen der fast zweitausendjährigen Geschichte der Christenheit gemeinsam auf den Weg zu machen, um schließlich das Ziel der christlichen Einheit zu erreichen. Dieser Aufbruch ist nur möglich gewesen aus der Buße heraus, aus der Umkehr von den eigenen Wegen, aus der Abwendung von den Spaltungen, Glaubenskämpfen und Zwangsunionen. Und so ist der Ökumenismus einmal eine Korrektur von Fehlern der

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Vergangenheit – zum andern aber wird deutlich, dass ökumenische Bewegung, ökumenischer Dialog nur möglich sind in geistlicher Erneuerung der Kirche. In diesem Sinn ist die ökumenische Bewegung das große kirchengeschichtliche Ereignis der Neuzeit. Und noch vor hundert Jahren war unvorstellbar, was wir heute in dieser Hinsicht erleben dürfen. Welche Stellung nimmt nun die orthodoxe Kirche in dieser Bewegung ein, und welche Bedeutung hat diese Kirche für den ökumenischen Dialog? Sie alle wissen, dass die überragende Gestalt des ökumenischen Patriarchen Athinagoras von Konstantinopel das ökumenische Gespräch und die Annäherung der Kirchen aneinander in charismatischer und mitreißender Weise in Gang gebracht und gefördert hat. Das wirkt noch lange nach. Weniger bekannt ist die Tatsache, dass bereits Anfang der zwanziger Jahre unseres Jahrhunderts entscheidende Initiativen für die ökumenische Bewegung auch von Konstantinopel ausgingen. Der Ökumenische Rat der Kirchen und seine Vorgänger gehen darauf zurück. Dass deshalb heute nahezu alle orthodoxen Kirchen dem Ökumenischen Rat der Kirchen in Genf angehören, ist deshalb gar nicht verwunderlich. Und es wird Ihnen ja auch bekannt sein, dass die Orthodoxie wesentliche Beiträge zur Entwicklung der ökumenischen Bewegung immer wieder leistet. Fast noch wichtiger als die Mitarbeit in solch einem hohen Gremium und in der weltweiten Versammlung der christlichen Kirchen sind aber wohl die Beiträge unserer Kirche zum ökumenischen Dialog »am Ort«, d. h. also auf lokaler Ebene, dort, wo sich die Pfarrer und Gemeinden tagtäglich und im Alltag begegnen. Deshalb möchte ich nun kurz von den ökumenischen Erfahrungen der griechisch-orthodoxen Kirche in Deutschland sprechen, von unserer Stellung zu und unter den anderen Kirchen und von der ökumenischen Zusammenarbeit in Theorie und Praxis. Seit 1963 gibt es in Deutschland eine Griechisch-Orthodoxe Metropolie, die – wie alle griechischen Auslandskirchen – zum ökumenischen Patriarchat gehört. Sie ist Exarchat des ökumenischen Patriarchats von Konstantinopel in Mitteleuropa. Der ökumenische Patriarch von Konstantinopel hat – wie Ihnen sicher bekannt ist – einen Ehrenprimat unter allen orthodoxen Hierarchen. Für die Griechen ist mit diesem Patriarchat kein Problem verbunden, anscheinend aber doch für die westlichen Kirchen. Aus ökumenischen und kirchenpolitischen Gründen sollte man aber die historischen Rechte und die zentrale Stellung dieses Patriarchats, das zu den vier alten Patriarchaten gehört, auch im Westen bedingungslos unterstützen. Das ist jedenfalls von größter Bedeutung für die kirchliche Entwicklung der Ökumene und der ökumenischen Bewegung, weil die Existenz und Wirksamkeit des ökumenischen Patriarchats ihrer Basis und ihrem Ziel nach allein kirchlich ist, und zwar kirchlich im neutestamentlichen Sinne. An der Spitze der Griechisch-Orthodoxen Metropolie von Deutschland steht der Metropolit von Deutschland, Erzbischof Irineos, der zugleich Exarch des ökumenischen Patriarchen in Zentraleuropa ist. Die Griechisch-Orthodoxe Metropolie von Deutschland umfasst ca. 350.000– 370.000 griechisch-orthodoxe Gläubige, die von etwa 50 Priestern betreut werden. Unsere Kirche, die als Körperschaft des öffentlichen Rechts anerkannt ist, ist damit die drittgrößte Glaubensgemeinschaft in der Bundesrepublik Deutschland.

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Die Existenz einer so großen orthodoxen Kirche mit ausgeprägtem kirchlichen Leben in fast allen größeren Städten der Bundesrepublik Deutschland und Berlin (West) ist für unsere, aber auch für Ihre Kirche eine noch nie dagewesene Gelegenheit und Chance, einander besser zu verstehen und kennenzulernen und die Beziehungen zwischen unseren Kirchen zu intensivieren. Und zwar eben nicht nur auf der Hochebene ökumenischer Tagungen und Konferenzen, sondern sozusagen von Haus zu Haus im nachbarschaftlichen Beieinanderwohnen nicht nur der Geistlichen, sondern auch der Gemeindeglieder. Diesem Miteinander auch im kirchlichen Leben können wir so wenig ausweichen wie den Begegnungen im Alltagsleben in Schule, Fabrik, Geschäft und Wohnhäusern. Für die meisten Griechen ist dies die erste Begegnung nicht nur mit westlicher Lebensweise und Technik, sondern auch mit westlichem Denken und Glauben. Denn Griechenland ist ein rein orthodoxes Land und hat eine andere Geistesgeschichte als Mittel- und Westeuropa. Die Griechen stehen aber dem Neuen, das in der Migration auf sie zukommt, zumeist offen und aufnahmebereit gegenüber. Auch die griechisch-orthodoxe Kirche zieht sich in dieser Situation nicht auf sich selbst zurück, sondern ist bemüht – neben ihren zahlreichen und vielfältigen kirchlichen Aufgaben, deren Erfüllung fast ihre Kräfte übersteigen –, die ökumenische Verpflichtung im Großen und im Kleinen nie aus dem Blick zu verlieren. Dabei sind wir der Meinung, dass vor allem das theologische Gespräch vertieft werden sollte und dass dieser Dialog – will er das Ziel der christlichen Einheit nicht aus dem Auge verlieren – nur fruchtbar sein kann, wenn er ein Dialog der Liebe und der Wahrheit ist. Ein Verschweigen der nun einmal vorhandenen Unterschiede zwischen den Konfessionen, ein Drum-herum-reden um theologische und kirchliche Probleme, die einer Einigung im Wege stehen, entspricht nicht unserer Auffassung vom ökumenischen Dialog und hilft auch nicht zur Überwindung der Gegensätze. Man sollte sich auch vor einer gar nicht so seltenen Selbsttäuschung hüten, die bereits dort tragende Ergebnisse sieht und feststellen möchte, wo noch gar keine echten Übereinkünfte stattgefunden haben. Wir sind der Meinung, dass die Wahrheitsfrage gestellt werden muss und wir um ihre Beantwortung nicht herumkommen, Ein Gleiches gilt auch von den Gesprächen auf Gemeindeebene. Natürlich stehen hier im kirchlichen Alltag die praktischen Fragen ganz im Vordergrund. Es hat sich aber erwiesen und zeigt sich immer wieder, dass es auch dabei um grundsätzliche Entscheidungen geht und dass die Problematik an allen Orten und in unterschiedlichen Verhältnissen sich zuletzt doch auf einige wenige Punkte reduziert. Erlauben Sie mir, auf einige dieser Punkte näher einzugehen, die wichtig sind für die »Ökumene am Ort«. Zuerst möchte ich dabei etwas ansprechen, das wir vielleicht mit dem Ausdruck »Betreuungsdenken« der westlichen Kirchen bezeichnen können. Als Ende der fünfziger Jahre die ersten Griechen als Arbeitnehmer nach Deutschland kamen, war es verständlich und wahrscheinlich auch angebracht, in diesen Menschen vor allem Betreuungsobjekte zu sehen und nicht Partner im ökumenischen Dialog. Nun aber – nach fast zwei Jahrzehnten – müsste diese Einstellung eigentlich überwunden und das Betreuungsdenken durch ein partnerschaftliches ersetzt werden. Wir wissen, dass das Betreuungsdenken auch mit dem falschen, romantisierenden Bild zusammenhängt, das man sich im Westen von der

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orthodoxen Kirche als einer Kirche nur der Liturgie und des Gebets noch immer macht. Von dieser Kirche erwartet man keine Beiträge zur Lösung theologischer, sozialer oder überhaupt praktischer Fragen. Man kennt auch nicht die Vitalität orthodoxen Gemeindelebens, das den Menschen mit seiner ganzen Familie oder gar Sippe umfasst und in dem es keine Spezialisierung nach Alters-, Berufs- oder anderen Gruppen gibt. Solche orthodoxen Gemeinden haben sich inzwischen auch seit vielen Jahren in Deutschland konstituiert. Und wir meinen, dass sie den deutschen Kirchengemeinden adäquate Partner sein können. Ein Betreuungsdenken scheint uns in dieser Situation die Sache nicht mehr zu treffen. Wir denken auch, dass die Orthodoxen selbst, ihre Kirchengemeinden für die Sozialarbeit unter ihnen mit verantwortlich und maßgebend sein sollten. Denn das Betreuungsdenken birgt auch noch eine besondere Gefahr in sich: Die Betreuten werden zu leicht zu Missionsobjekten, und eine gutgemeinte soziale Fürsorge verkehrt sich dann in eine handfeste Missionierung. Die orthodoxe Kirche und insbesondere das ökumenische Patriarchat lehnen aber jede Art von Proselytismus strikt ab und erwarten das auch von den christlichen Schwesterkirchen. Unserer Meinung nach ist jede Proselytenmacherei völlig unökumenisch: Darüber hinaus müssen wir aber auch noch auf die Tatsache aufmerksam machen, dass die auf solche Weise missionierten Migranten in dem Maß ihre Identität als Gläubige und Griechen verlieren, in dem sie sich von ihrem orthodoxen Glauben entfernen oder ihn unter den gegebenen Umständen gar aufgeben. Dies sind keine grundlosen Befürchtungen, sondern sehr harte und bedauerliche Realitäten, wie sie uns zum Beispiel hier in Nordrhein-Westfalen durch die Wirksamkeit der Südosteuropa-Mission entgegentreten – für die übrigens auch ein Sozialbetreuer des Diakonischen Werkes tätig ist. Ein weiterer Punkt folgt aus dem ersten: Wenn vor allem die orthodoxen Kirchengemeinden maßgebend sein sollen und sind für den Pastoralen Dienst an den griechischen Arbeitnehmern (und der pastorale Dienst schließt nach orthodoxer Auffassung den Menschen als Ganzes mit allen seinen geistlichen, geistigen, familiären, sozialen, beruflichen und vielen anderen Problemen ein), so brauchen wir vor allem Hilfe bei der Errichtung kirchlicher Zentren. Die Gemeinden brauchen einen Ort, wo sie sich versammeln können zu Gottesdiensten, zum Sakramentsempfang, wo sie priesterlichen Rat und Hilfe erbitten, wo sie zusammenkommen, um sich ihrer Gemeinschaft bewusst zu werden. Wenn einer Gemeinde der Ort für solche Versammlung fehlt, kann sich – theologisch gesprochen – der Leib Christi nicht konkretisieren, der Gemeinde fehlt die Möglichkeit, sich zu organisieren, die Charismen können sich nicht entfalten. Unterkunft in nur zeitweise geliehenen und sonst anderweitig genutzten Räumen hindert die Entfaltung und Entwicklung kirchlichen Lebens. Das sehen wir in den Gemeinden, die ihre Gottesdienste in fremden Kirchen feiern müssen – so dankbar wir in der Not für diese Hilfe auch immer sind. Eine Liturgie zu später Mittagszeit nach den Gottesdiensten der anderen Konfession ist aus vielen und begreiflichen Gründen niemals so gut besucht wie einer am Vormittag – ganz abgesehen von der Schwierigkeit mit dem Fastengebot vor der Kommunion.

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Umgekehrt haben wir überall dort, wo ein eigenes orthodoxes Kirchenzentrum entstand, eine Steigerung der Gemeindeaktivität nach Qualität und Quantität feststellen können, zum Beispiel in Berlin, Dortmund, Bielefeld u. a. Die Hilfe der Evangelischen Kirche durch das Diakonische Werk, die ja so oder so geleistet wird, sollte darauf zielen, die Selbsthilfe und die Initiativen zur Bildung von eigenen Institutionen und Organisationen der Gemeinden zu unterstützen. Wegen der bereits erwähnten Identitätsfindung und -bewahrung soll das alles in den orthodoxen Kirchengemeinden geschehen. Wenn das nicht schnell geschieht, handeln andere, die nicht im kirchlichen Sinn, vielleicht sogar gegen die Kirche arbeiten und das Ziel haben, die Identität der Menschen zu zerstören. Sie sind meist sehr gut organisiert, dabei zielstrebig und effektiv in ihrer Arbeit. Ein von kirchlicher Seite derart gezielter Dienst an den Migranten ist im Übrigen auch wichtig zur Stärkung der Selbstbestätigung der Griechen hier in der fremden Umwelt. Ohne konkrete Gemeindewerdung und ohne geistliche Zentren im kirchlichen Leben der griechisch-orthodoxen Gläubigen wird man auch in der evangelischen Kirche nicht über »Ökumene am Ort« sprechen können, sondern im günstigsten Fall über Beziehungen zum griechisch-orthodoxen Pfarrer und einigen Gemeindegliedern, die er dennoch um sich sammelt. Die evangelischen Christen können auch kein orthodoxes kirchliches Leben kennenlernen – sie registrieren dann nur in ihrer eigenen, den Orthodoxen für einzelne Gottesdienste überlassenen Kirche den fremdartigen Weihrauchgeruch, die »Verschmutzung« ihres Gotteshauses durch die fremden Gäste u. ä. Vielleicht kann eine mehr oder weniger positive Verständigung von Pfarrer zu Pfarrer entstehen. Das ist aber nicht das, was wir uns unter »Ökumene am Ort« vorstellen. Es ist also dringend notwendig, die erwähnten Gemeindezentren zu schaffen, und zwar vor allem in den Gebieten, wo Griechen in größerer Zahl leben und aller Voraussicht nach auch wohnen bleiben. Und es sollte sich dabei um Räume handeln, die den Griechen ständig und jederzeit zur Verfügung stehen und nicht nur zeitweise oder für bestimmte, zeitlich begrenzte Veranstaltungen. Erst dann kann »Ökumene am Ort« besprochen, geplant, verwirklicht werden. Als Beispiel für eine solche Entwicklung möchte ich Berlin nennen, wo mit Hilfe der evangelischen Kirche und des Staates ein solches Zentrum mit orthodoxer Kirche entstand. Der Kirchenbesuch hat um 20 % zugenommen, und es sind nicht nur die Gemeindeaktivitäten aller Art, sondern auch die ökumenischen Beziehungen sehr viel lebendiger und intensiver geworden. Und es ist für die dortige Gemeinde nicht unwichtig, dass demzufolge den Vorsitz des Ökumenischen Rates Berlin ein Orthodoxer innehat. Noch wichtiger ist aber bei alledem, dass Christen von anderen Christen diese christliche Liebe und brüderliche Dienste erfahren. Schon das allein schafft Ökumene. Und die ökumenische Einstellung der orthodoxen Christen wird durch solche konkrete Hilfe, die sie erleben, geprägt, und mit Sicherheit fallen andere Erfahrungen, die sie etwa mit politischen Ideologien oder Ähnlichem machen, dagegen stark ab und üben dann keine Anziehungskraft mehr aus. Nicht ohne Bedeutung für die Ökumene am Ort ist auch die Tatsache, dass inzwischen die sogenannte 2. Generation der Migranten vorhanden ist –

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eine Generation, die hier in Deutschland zusammen mit evangelischen und katholischen Kindern aufwuchs. Das wird sich für die praktische Ökumene in den Gemeinden zweifellos positiv auswirken. Denn diese Generation hat nicht nur keine Sprachprobleme, sondern ist auch mit deutscher Mentalität vertraut, auch mit der der deutschen Kirchen. Allerdings muss es auch hier unsere Sorge sein, dass diese Generation nicht durch die vielen Schwierigkeiten der Migration und eine unzureichende kirchliche Versorgung an atheistische Ideologien oder an Sekten – ich erinnere nur an die »Zeugen Jehovas« – verlorengeht. Das wäre nicht nur ein Verlust für die Orthodoxie, sondern für die gesamte Christenheit. Ökumene am Ort ist eine große Chance für uns alle. So wie die Dinge jetzt liegen, geht es fast über die Kräfte der Griechisch-Orthodoxen Metropolie von Deutschland, alle ihre Geistlichen so einzusetzen und arbeiten zu lassen, wie es notwendig wäre. Die geistliche Effektivität lässt sicher manchmal noch zu wünschen übrig. Die Gründe dafür habe ich Ihnen dargelegt. Dennoch ist die Griechisch-Orthodoxe Metropolie von Deutschland nachdrücklich bemüht, in allen regionalen Arbeitsgemeinschaften Christlicher Kirchen voll mitzuarbeiten. In der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in der Bundesrepublik Deutschland stellt sie den 2. Vorsitzenden, ebenso im europäischen Migrationsausschuss. Im Berliner Ökumenischen Rat ist – wie bereits erwähnt – der 1. Vorsitzende orthodox. Die Chance zu nutzen, auf allen Ebenen den Dialog des Glaubens und der Liebe zu führen – und diese Chance ist uns in Mittel- und Westeuropa durchaus gegeben –, sind wir gewillt. Dass diese Chance auch von uns nicht immer voll genutzt wird oder werden kann, ist auch eine Tatsache. Falls Bemühungen von Ihrer Seite um eine »Ökumene am Ort« auf Hindernisse stoßen und die Kontakte mit den griechisch-orthodoxen Christen nicht zustande kommen sollten, so liegt das an Unzulänglichkeiten, die wir oben anführten. Bitte wenden Sie sich dann an die Metropolie selbst. Denn es ist absolut notwendig, dass im Gebiet der Evangelischen Kirche im Rheinland Begegnungen zwischen uns auf allen Ebenen stattfinden.

II.5.3 Wort an die Synode Erzpriester Cilerdzic, Serbisch-Orthodoxe Kirche Sehr geehrter Herr Präses! Liebe Brüder und Schwestern! Im Namen der Serbisch-Orthodoxen Diözese von Westeuropa, gleichzeitig auch im Namen der Serbisch-Orthodoxen Kirche, danke ich der Evangelischen Kirche im Rheinland herzlich für die brüderliche Einladung zur außerordentlichen Synodaltagung. Es ist mir eine große Ehre und eine Freude, dass ich als Vertreter meiner Kirche als Gast an dieser Tagung teilnehmen darf. Dass die beiden Kirchen Kontakt halten und im gemeinsamen Gebet vor Gott hintreten können, um die zurzeit bestehenden, aber auch

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Zukunftsprobleme zu erörtern, ist ein Gnadengeschenk Gottes! Ich bin Ihnen besonders dafür dankbar, dass Sie auf dieser Tagung auch die Partnerschaft der evangelischen mit der orthodoxen Kirche zum Thema gewählt haben. So möchte ich auf den letzten Absatz der allgemein bekannten Vorlage zu diesem Thema Bezug nehmen, in dem beschrieben wird, dass Ihre Kirche bereit ist, das brüderliche Gespräch mit den orthodoxen Kirchen und Gemeinden zu führen, indem ich vonseiten der serbisch-orthodoxen Kirche betonen möchte, dass wir tatsächlich das brüderliche Gespräch suchen und auch darauf angewiesen sind. Ich weiß, dass die evangelische Kirche eine brüderliche Verbundenheit mit dem Ökumenischen Patriarchat in Konstantinopel unterhält. Auch mit der serbischen Kirche ist sie eng und tief verbunden. Wie Sie wissen, liebe Brüder und Schwestern, ist meine Kirche im Ökumenischen Rat in Genf vertreten. Ich möchte an dieser Stelle auch noch einmal erwähnen, dass unsere Kirche seit Kriegsende in unserer Heimat und auch hier in vielen schwierigen Situationen von Ihrer Kirche in hohem Maße moralisch und finanziell unterstützt wird. Und auf diese Hilfe Ihrerseits sind wir sehr angewiesen. Uns trennen nur die Sprachen. Zum Schluss möchte ich Ihnen und Ihrer Kirche Gottes Segen wünschen und um einen erfolgreichen Verlauf der Tagung bitten.

II.5.4 Partnerschaft mit orthodoxen Kirchen und Gemeinden (Einführung in die Vorlage) Gerhard Koslowsky Liebe Schwestern und Brüder! Mit der Vorlage, die Sie in Händen haben, wollen wir versuchen, ein weiteres Stück des Auftrags wahrzunehmen, den uns der Ökumenische Rat der Kirchen auf der Vollversammlung von Neu Delhi 1961 mit auf den Weg gegeben hat. Die Fragestellungen und Aufträge der späteren Vollversammlungen von Uppsala und Nairobi werden wir deshalb nicht weniger ernst nehmen. Aber das in Neu Delhi aufgebrochene Fragen nach der »Ökumene am Ort« haben wir in unserer Landeskirche erst teilweise beantwortet, nämlich mit der »Erklärung der Landessynode über die Zusammenarbeit der evangelischen und der katholischen Kirche« (1973) und dem »Wort zum Gespräch und zur Zusammenarbeit mit den evangelischen Freikirchen« (1976), ganz davon abgesehen, dass der Vollzug in Kirchenkreisen und Gemeinden hinter den von der Landessynode gesprochenen Worten noch weit hinterherhinkt. Wenn wir uns »Partnerschaft mit orthodoxen Kirchen und Gemeinden« zur Aufgabe stellen, betreten wir nicht nur darin Neuland, dass wir uns nun einer weiteren Gruppe von Christen zuwenden, mit denen wir in der gleichen Gesellschaft leben. »Ökumene am Ort« bedeutete im Gespräch mit den römisch-katholischen und freikirchlichen Christen,

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dass wir eine gemeinsame Sprache, Kultur und Geschichte mit unseren Partnern voraussetzen konnten. Jetzt aber leben seit einiger Zeit Hunderttausende von Christen in unserer Mitte, die Sprache, Kultur und Geschichte in wesentlichen Teilen nicht mit uns gemeinsam haben. Sie sind für uns nicht einfach Fremdlinge, und sei es in dem positiven Sinn, in dem Altes und Neues Testament von Fremdlingen sprechen. Sie sind durch unseren gemeinsamen Herrn, durch das Zeugnis der Heiligen Schrift als Grundlage des Glaubens und durch einige Jahrhunderte gemeinsamer Kirchengeschichte mit uns verbunden. Außerdem ist die Orthodoxie von Anfang an eine treibende Kraft in der ökumenischen Bewegung und Mitbegründerin des Ökumenischen Rates der Kirchen. Nun haben wir in unserem Land die bedauerliche Erfahrung gemacht, dass sich die Fremdheit in Sprache und Kultur stärker auswirkt als die Gemeinsamkeit des christlichen Glaubens. Weil orthodoxe Christen fast ausnahmslos aus anderen Ländern stammen, werden sie von uns als Fremdlinge empfunden und vielfach auch behandelt. Umgekehrt spielt bei den orthodoxen Christen die nationale Identität vielfach eine sehr starke Rolle, und das hat zur Folge, dass die Notwendigkeit zur Bewahrung und Pflege eigenen Lebens Abkapselung gegenüber der Umwelt – jedenfalls in vielen Fällen – mit sich bringt. Vonseiten unserer Kirche hat es in den vergangenen Jahren schon Ansatzpunkte gegeben, um die natürlichen Schranken der Fremdheit zu überwinden und christliche Bruderschaft zu praktizieren. Ich denke hier weniger an die seit vielen Jahren praktizierte brüderliche Zusammenarbeit in den Arbeitsgemeinschaften der Christlichen Kirchen auf Bundes- und Landesebene, so wertvoll sie für alle Beteiligten sein mag. Vielmehr denke ich bei diesen Ansatzpunkten zur »Ökumene am Ort« zuerst an die vielfältige Wirksamkeit des Diakonischen Werkes und seiner Gliederungen, die hier im Einzelnen nicht dargestellt werden kann. Ich denke aber auch an manche Einladungen in Gemeindekreise, Bibelstunden und Gottesdienste unserer Kirche und an die Verteilung von Schriftenmaterial in der Heimatsprache der zu uns gekommenen Schwestern und Brüder. Beide Ansatzpunkte haben aber auch ihre Schattenseiten. Es darf erstens nicht der Eindruck entstehen, die Nächstenliebe zu unseren orthodoxen Mitchristen sei hauptsächlich ein diakonisches und soziales Problem, das allenfalls noch mancher Verbesserung und Intensivierung bedürfe. Das ist es gewiss auch, und Verbesserung und Intensivierung sind dringend wünschenswert: Hier liegt das Recht des Vorschlags, diese Vorlage auch vom innerkirchlichen Ausschuss dieser Synode behandeln zu lassen. Aber wir dürfen uns nicht damit zufrieden geben, Partnerschaft allein auf der diakonischen Ebene zu üben: Zu leicht entsteht eine Geber-Nehmer-Mentalität. Wer den anderen als Partner ernst nimmt, darf die geistliche Dimension dieser Partnerschaft nicht außer Acht lassen. Im Gegenteil, er muss ihr Priorität einräumen. Und deshalb ist es wichtig, dass vor allem der theologische Ausschuss dieser Synode unsere Vorlage behandelt. Es ist zu würdigen, dass meines Wissens erstmalig ein orthodoxer Bischof vor einer rheinischen Landessynode das Wort ergreift, eine wahrhaft historische Stunde! Zweitens haben nun viele unserer Gemeindeglieder bei ihren gutgemeinten Versuchen, orthodoxe Christen mündlich oder schriftlich anzusprechen, die schmerzliche Erfahrung machen müssen, dass das, was sie als Werbung für das Evangelium unseres Herrn Jesus

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Christus verstanden haben, von orthodoxen Christen als Abwerbung und Entfremdung von der eigenen Kirche verstanden werden musste. Sie empfinden manche Versuche unserer Seite – und seien sie in noch so guter Absicht geschehen – als Proselytismus (so nennt man mit einem Fremdwort den Versuch, Glieder anderer Kirchen für die eigene zu gewinnen). Wir haben davon gehört. Manche Kreise in unserer Kirche, die das noch nicht verstanden haben, haben mehr Schaden angerichtet als wirkliche Hilfe geleistet. Innerhalb der geistlichen Dimension unserer Partnerschaft werden wir also zu respektieren haben, dass die orthodoxen Kirchen einen eigenen Typus von Kirche darstellen, deren Bekenntnisstand wir zu achten haben, genauso, wie wir untereinander den verschiedenen Bekenntnisstand unserer Gemeinden respektieren und beachten. Und wir sollten bedenken, dass wir eine lange Übung im inner- und zwischenkirchlichen Dialog haben, während viele orthodoxe Kirchen in ihrem Land die einzigen Zeugen christlichen Glaubens am Ort sind. Orthodoxe Kirchen und Gemeinden leben in unserem Land in der Diaspora. Diaspora heißt Zerstreuung. Wir dürfen glauben, dass das Streuen Werk unseres Herrn ist. Und wir dürfen glauben, dass er uns mit dem Leben orthodoxer Kirchen und Gemeinden in unserer Mitte eine Chance gegeben hat. Die orthodoxen Brüder in unserer Mitte vertreten nicht nur die Minderheit der bei uns lebenden orthodoxen Christen, höchstens für die, die nur in juridischen Kategorien zu denken gewohnt sind. Wer mit geistlichen Augen zu sehen gelernt hat, wird in ihnen die Repräsentanten der nach Millionen zählenden und über die ganze Welt verstreuten orthodoxen Christenheit erkennen. Die Gelegenheit zur Begegnung ist jetzt für uns da, sie kann für beide Seiten fruchtbar werden, wenn wir sie nutzen, zumal wir hier einmal kirchengeschichtlichen Schutt nicht wieder zu erneuern haben. Wenn es uns ernst ist mit den Beteuerungen, dass uns an der Erneuerung unserer Kirche liegt, wenn es uns ernst ist mit unseren Worten von der Lernbereitschaft, dann ist der Eintritt in den Dialog nicht nur auf den Ebenen der Arbeitsgemeinschaften Christlicher Kirchen in Bund und Land erforderlich, sondern dann ist es jetzt an der Zeit, das gegenseitige Kennenlernen am Ort voranzutreiben. In welcher Richtung für uns eine Chance liegt, aus der Begegnung mit orthodoxen Kirchen neue geistliche Impulse zu empfangen, hat Dr. Christoph Hinz aus der DDR im Oktober 1977 auf der Konsultation der Konferenz Europäischer Kirchen in Sofia so ausgedrückt: »Ich habe keine persönlichen Beziehungen zu Brüdern der orthodoxen Kirche und empfinde das als einen starken Mangel. Ich ahne, wenn ich ihre theologischen Beiträge zur ökumenischen Debatte lese und höre, dass die so intransingent behaupteten Wahrheiten sich in der theologischen Diskussion eigentlich verfremdet zeigen, weil ihr ursprünglicher Sitz im Leben abgeblendet ist: die Liturgie des Gottesdienstes. Ich ahne, dass ich orthodoxe Theologie und Kirche erst voll verstehen würde, wenn ich an ihrer Liturgie mitfeiernd teilnehmen könnte, an ihrer Anbetung der Wahrheit und Heilsmacht des dreieinigen Gottes in der Doxologie. Ich weiß aus der Schrift, dass Hymnus und Doxologie die Anfechtungen der Geschichte zu übersteigen vermag, so dass ihre Leiden angesichts der Epiphanie des ewigen Heils zurückbleiben.« Mit Christoph Hinz sollten wir hier unseren eigenen Mangel eingestehen. Und während er – und sicherlich auch viele von uns – noch dem Missverständnis erliegt, als sei orthodoxe Liturgie überwiegend von der theologia gloriae geprägt, wenn er danach fragt, ob

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nicht auch orthodoxe Brüder in der Kreuznachfolge der Jünger ein von Christus regiertes Zeugnis zu vernehmen vermögen, erinnern wir uns daran, wie oft gerade der orthodoxen Christenheit konkrete Kreuznachfolge zugemutet wurde und vielerorts immer noch wird. Und es lohnt sich, einmal nachzulesen, was der orthodoxe Theologe Nikos Nissiotis auf der Vollversammlung in Neu Delhi zum unauflöslichen Zusammenhang von Martyria (Zeugnis) und Martyrium gesagt hat. Und wenn wir darüber hinaus uns an die besondere Vitalität der Diakonie in der Orthodoxie erinnern lassen, dann können wir ermessen, an welchem Reichtum dieser Kirche – und ich meine hier nichts anderes als ihren geistlichen Reichtum – wir durch die Begegnung mit ihr teilhaben können. Sie sind adäquate Partner, und wir sollten mehr Gebrauch davon machen. Patriarch Athenagoras hat uns eingeladen zum »Dialog des Glaubens und der Liebe«. In diesen Dialog werden wir das Erbe der Reformation und sicher auch vieles aus der knapp fünfhundertjährigen Geschichte unserer Kirche einzubringen haben, dessen wir uns nicht zu schämen brauchen. Aber wir werden das erst tun können, wenn wir als Hörende und Lernende angesichts des reichen Glaubens- und Erfahrungsschatzes der orthodoxen Kirchen auch unser eigenes Defizit erkannt haben. Der Dialog wird nicht einfach sein. Er ist auf der einen Seite schwierig dadurch, dass die orthodoxen Kirchen untereinander in einem ständigen Dialog begriffen sind, der ihren gemeinsamen Standort nicht immer leicht erkennen lässt. Aber er ist auf der anderen Seite schwierig auch dadurch, dass auf unserer Seite bisher immer noch mehr Überheblichkeit als Interesse zu erkennen gewesen ist. Das soll nun anders werden. Im Unterschied zur Behandlung der Zusammenarbeit mit den Freikirchen ist nicht daran gedacht, dieses Thema zum Proponendum für Kreissynoden vorzuschlagen. Manche könnten sich da überfordert fühlen. Dennoch scheint es richtig und dem Wesen unserer Kirche angemessen, dass vor einem endgültigen Wort der Landessynode an die Gemeinden zur Partnerschaft mit orthodoxen Kirchen und Gemeinden unsere Gemeinden und Synoden Gelegenheit hatten, sich ausführlich mit der Orthodoxie zu beschäftigen. Nach der Verabschiedung der Vorlage in dieser oder einer anderen Form werden im Frühjahr die Ökumene-Referenten der Kirchenkreise zu einer besonderen Tagung ins griechisch-orthodoxe Zentrum nach Bonn-Beuel eingeladen werden und auch mit Material versehen werden. Die Punkte 1–4, die am Schluss der Vorlage aufgeführt sind, sollen dann als Anhaltspunkte dienen dafür, in welcher Richtung gearbeitet werden kann. Die Schwerpunkte werden dabei sicher überall anders aussehen. Der freigelassene Termin unter »4.« wäre von dieser Synode festzulegen. Mit dem aus den Gemeinden und Kirchenkreisen zurückkommenden Material wird sich dann der ständige ökumenische Ausschuss weiter beschäftigen und in Zusammenarbeit mit den verschiedenen orthodoxen Kirchen und Gemeinden eine endgültige Stellungnahme der Synode vorbereiten. Die heutige Vorlage soll also im Wesentlichen dazu dienen, eine erste Anregung für die eigene Arbeit am Ort zu geben. Wir erhoffen von der Begegnung mit den orthodoxen Kirchen in unserem Land Gewinn auch für das Leben unserer eigenen Kirche und bitten den Herrn um seinen Segen, dass alle Gespräche und Zusammenarbeit uns zu der größeren Einheit führen, die er selbst im hohepriesterlichen Gebet für uns erbeten hat.

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III.1 Landessynode 1985

Konvergenzerklärung zu Taufe, Eucharistie und Amt III.1.1 Beschluss: Taufe, Eucharistie und Amt Die Landessynode der Evangelischen Kirche im Rheinland beschließt das folgende Votum. Sie bittet die Kirchenleitung, diese Stellungnahme dem Ökumenischen Rat der Kirchen zuzuschicken. Auf diese Weise entspricht die Evangelische Kirche im Rheinland der Bitte des Ökumenischen Rates der Kirchen, eine Stellungnahme zu den Konvergenzerklärungen der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung des Ökumenischen Rates der Kirchen abzugeben. Die Synode bittet die Kirchenleitung, die Gemeinden zu verstärkter Beschäftigung mit den Konvergenzerklärungen von Lima zu ermuntern und dabei auf das dazu bereits vorhandene Arbeitsmaterial hinzuweisen.

III.1.2 Taufe, Eucharistie und Amt Stellungnahme zu den Konvergenzerklärungen der Kommission für Glaube und Kirchenverfassung des Ökumenischen Rates der Kirchen Die Erklärung der Kommission für Glaube und Kirchenverfassung versteht sich als eine Konvergenzerklärung. Sie macht Linien der theologischen Diskussion deutlich, die aufeinander zulaufen. Wir sehen in ihr den Versuch, diese Linien miteinander zu verbinden, erreichte Übereinstimmungen trotz auch noch vorhandener Divergenzen festzuhalten und dadurch zur Weiterarbeit an den noch offenen Fragen zu ermuntern. Begriffe und Denkstrukturen aus verschiedenen theologischen Traditionen treffen in diesem Text zusammen. Wir erkennen darin die Chance, dass sich die christlichen Kirchen, die durch unterschiedliche theologische Lehren und Denkweisen geprägt sind, besser verstehen lernen und füreinander öffnen. Die Frontstellungen der konfessionellen Kontroversen werden aufgebrochen und verändert. Dieser Prozess wird von uns als heilsam empfunden. Traditionelle Positionen werden erneut befragt, neue Zusammenhänge werden deutlich. Wir nehmen den Text als ein Ganzes auf. Einige Formulierungen, die für sich allein genommen bedenklich erscheinen mögen, bedingen und interpretieren sich gegenseitig. Wir möchten den Text von den Ansätzen der reformatorischen Theologie aus verstehen und deutlich machen, wo wir zustimmen können, zugleich aber uns öffnen für Gedanken anderer theologischer Traditionen. Wenn wir unsere Anfragen und Bedenken ausdrücken, dann nehmen wir damit das begonnene Gespräch auf und führen es weiter.

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Dabei fragen wir uns, ob es sich bei den Bedenken, die wir im Einzelnen oder im Gesamten haben, noch um kirchentrennende Gegensätze oder nur um Unterschiede theologischer Lehre handelt, die eine legitime ökumenische Vielstimmigkeit ausdrücken. Bei der Entscheidung über diese Bedenken kann von der Erörterung ekklesiologischer Grundfragen nicht abgesehen werden. Wir gliedern unsere Stellungnahme in systematische Abschnitte, jeweils unterteilt in einen zustimmenden Kommentar (a), in Anfragen an unsere eigenen Positionen und Traditionen (b) und Bedenken und Anfragen an die Erklärung (c). Den einzelnen Abschnitten sind Zusammenfassungen der wichtigen Sätze aus den Abschnitten der Erklärung vorangestellt. Sie sind nicht in jedem Fall wörtliche Zitate, immer aber sinngemäße. Die deutsche Übersetzung gibt an einigen nicht unwichtigen Stellen den englischen Text nicht exakt wieder. Wir haben uns dort auf den englischen Text bezogen und das in unserer Stellungnahme hervorgehoben. TAUFE Wir begrüßen die Begründung aller Aussagen über die Taufe im Zeugnis der Schrift, insbesondere in den Abschnitten 1) – 7). Die Begründung bringt nicht nur die Vielfalt der neutestamentlichen Bilder und Beschreibungen der Taufe zur Geltung, sondern bewahrt gleichzeitig davor, einen Aspekt besonders hervorzuheben und zu verallgemeinern. Auf diesem Hintergrund hören wir die Anfragen, die sich an unsere bisherige Lehre und Praxis ergeben, fragen aber auch unsererseits, ob dieser grundsätzliche Ansatz in der Konvergenzerklärung überall durchgehalten worden ist. Dies gilt insbesondere im Blick auf folgende Fragenkreise, die wir für besonders wichtig halten: 1. Gottes Handeln und das Handeln der Menschen in der Taufe 2. Taufe und Heiliger Geist 3. Taufe und Glauben 4. »Säuglingstaufe« und »Gläubigentaufe« 5. Taufe und Gemeinde 6. Taufe und Einheit der Kirche 7. Die Bedeutung des Wortes und der Symbole im Vollzug der Taufe 1.

Gottes Handeln und das Handeln der Menschen in der Taufe

»Die christliche Taufe ist im Wirken Jesu von Nazareth, in seinem Tod und seiner Auferstehung verwurzelt. Sie ist Eingliederung in Christus, Aufnahme …, Gabe Gottes ... (Taufe 1), Teilhabe an Christi Tod und Auferstehung, Reinwaschung, neue Geburt, Erleuchtung …, Erneuerung …, Erfahrung der Rettung ..., Befreiung ... (Taufe 2), sie gründet in und bezeugt Christi Treue bis zum Tod und weist hin auf die Treue Gottes (Taufe 12), beide Formen der Taufe verkörpern Gottes eigene Initiative in Christus ... (Taufe 12 Kommentar).« (a) In diesen wie in vielen anderen Aussagen ist deutlich herausgestellt, dass Gott in der Taufe am Menschen handelt und dass der Täufling in der Taufe primär als Empfangender gesehen wird, der in ihr am Christusgeschehen teilbekommt. Das neue Leben in Christus (Taufe 7), die neue ethische Orientierung (Taufe 4), die Einheit der Kirche (Taufe 6), die gemeinsame Verantwortung der Getauften (Taufe 10) und die Motivation, sich um die Verwirklichung des Willens Gottes in allen Bereichen des Lebens zu bemü-

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hen (Taufe 10), sind klar als Konsequenz aus dem in der Taufe erfahrenen Handeln Gottes dargestellt. (b) Auch wenn die Teilhabe am neuen Leben in Christus in unserer Kirche stets als ein Aspekt des Taufgeschehens gesehen worden ist, ist er doch auf dem Hintergrund der fast ausschließlich geübten Säuglingstaufe in der Praxis des Lebens unserer Gemeindeglieder oft zurückgetreten. Insofern haben wir den Hinweis, dass zum Freispruch in der Taufe die Heiligung des Getauften hinzugehört (Taufe 3) und dass die Taufe eine Dynamik besitzt, die das ganze Leben umfasst (Taufe 7), als Anfrage an uns zu hören. (c) Wir fragen unsererseits, ob die Beschreibung der Taufe als »Ritus der Hingabe an den Herrn« (Taufe 1) nicht das Missverständnis wecken könnte, als seien letztlich doch die Getauften Subjekt des Geschehens; auch könnte die Formulierung, die Taufe sei zugleich Gottes Gabe und menschliche Antwort auf diese Gabe (Taufe 8), eine Gleichwertigkeit von Gottes Handeln und menschlichem Tun in der Taufe nahelegen. Einige fragen auch, ob Ausdrücke wie »Befreiung zu einer neuen Menschheit« (Taufe 2) und »Jesus Christus, der Befreier aller Menschen« (Taufe 10) nicht die Tatsache verdunkeln, dass noch nicht die gesamte Menschheit erlöst ist. Schließlich verweisen wir auf die irreführende Übersetzung von »initiates« in (Taufe 7); die Taufe führt nicht ein, sondern eröffnet die Wirklichkeit des neuen Lebens. 2.

Taufe und Heiliger Geist

»Der Heilige Geist ist am Werk im Leben der Menschen vor, bei und nach ihrer Taufe (Taufe 5). Gott verleiht jedem (getauften) Menschen die Salbung und Verheißung des Heiligen Geistes (Taufe 5). Der Heilige Geist stärkt das Leben des Glaubens in ihren Herzen bis zur endgültigen Erlösung (Taufe 5). (In der Taufe) ... ist auch die Teilhabe an Christi Tod und Auferstehung untrennbar verbunden mit dem Empfang des Heiligen Geistes (Taufe 14). Alle stimmen darin überein, dass die christliche Taufe mit Wasser durch den Heiligen Geist geschieht (Taufe 14). In jeder umfassenden Taufliturgie sollten zumindest folgende Elemente enthalten sein: die Verkündigung der Schrift …, Anrufung des Heiligen Geistes … (Taufe 20).« (a) Dass die Gabe des Heiligen Geistes zur Taufe gehört, wird ebenso deutlich bezeugt wie das Wirken dieses Geistes schon vor und auch nach der Taufe (Taufe 5). Ebenso wird die Unverfügbarkeit des Geistes anerkannt, wenn von der »Verheißung des Geistes« die Rede ist und die Anrufung des Heiligen Geistes als notwendiger Bestandteil der Taufliturgie genannt wird (Taufe 20). Auch wird in diesem Zusammenhang die Spannung zwischen dem »Schon« und dem »Noch nicht« der Erlösung klar erfasst. (b) Angesichts der Erfahrung, dass vielen Christen bei uns das Wirken des Heiligen Geistes schwer verständlich ist, werden wir diesen Aspekt in der Taufverkündigung stärker als bisher herausstellen müssen (Taufe 14, 1. Absatz). (c) Andere Formulierungen scheinen uns weniger angemessen zu sein: »Gott verleiht jedem Menschen« (Taufe 5, Mitte) ist zwar nur falsch übersetzt (engl.: ... upon all baptised persons), aber die Fortsetzung »... die Salbung und Verheißung des Heiligen Geistes« legt das Missverständnis nahe, als sei der Geist ex opere operato mit der Taufe gege-

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ben. Dieses Missverständnis taucht in (Taufe 14) wieder auf, wenn es dort heißt: »Ihrer vollen Bedeutung nach bezeichnet und bewirkt die Taufe beides ...« und weiter: »Verschiedene Handlungen sind mit dem Geben des Geistes in Verbindung gebracht worden.« 3.

Taufe und Glauben

»Die Notwendigkeit des Glaubens für den Empfang des Heils, wie es in der Taufe verkörpert und dargestellt ist, wird von allen Kirchen anerkannt (Taufe 8). Die Taufe ist nicht nur auf eine augenblickliche Erfahrung bezogen, sondern auf ein lebenslängliches Hineinwachsen in Christus (Taufe 9). Das Leben der Christen ist ... ein Leben ständigen Ringens wie jedoch auch ständiger Erfahrung der Gnade (Taufe 9). Die Gläubigen- wie auch die Säuglingstaufe findet in der Kirche als der Gemeinschaft des Glaubens statt ... In beiden Fällen wird die getaufte Person im Verständnis des Glaubens wachsen müssen (Taufe 12). Diejenigen, die die Kindertaufe üben, ... müssten sich gegenüber der Praxis einer offensichtlich unterschiedslosen Taufe schützen und ihre Verantwortung ernster nehmen, getaufte Kinder zu einer bewussten Verpflichtung Christus gegenüber hinzuführen (Taufe 16).« (a) Mit Recht wird betont, dass Taufe und Glauben zusammengehören, dass aber der Glaube nicht auf einen bestimmten Zeitpunkt zu fixieren ist, sondern ein lebenslängliches Hineinwachsen in Christus und ein ständiges Ringen wie eine ständige Erfahrung der Gnade ist (Taufe 9). Ebenso ist es zu begrüßen, dass in der Taufe die Gemeinschaft des Glaubens bezeugt wird, in die auch die Kinder schon aufgenommen werden können. (b) Da die enge Beziehung des Glaubens auf die Taufe vielen unserer Gemeindeglieder nicht mehr bewusst ist, werden wir alle Hinweise darauf besonders ernst zu nehmen haben. Dazu gehören – der Vollzug der Taufe im Rahmen der christlichen Gemeinschaft (Taufe 12) – die verantwortliche Einstellung zur christlichen Erziehung und Unterweisung (Taufe 12 und 16, Kommentar) – die Hinführung zu einem bewussten Bekenntnis zur Gabe der Taufe (Taufe 12) – die genannten Erwartungen zu erfüllen, um eine »unterschiedslose Taufe« zu vermeiden (Taufe 16 und 21, Kommentar b) – die Möglichkeit der Taufe Heranwachsender und Erwachsener stärker ins Bewusstsein zu bringen. (c) Bei aller Anerkennung der Notwendigkeit, den Glauben als ein Geschehen zu sehen, das sich in der Gemeinschaft der Kirche ereignet, haben wir allerdings Bedenken, von einem »korporativen Glauben« zu sprechen (Taufe 12, Kommentar) oder von der Möglichkeit, dass das Bekenntnis des Glaubens bei der Taufe »von der Kirche« abgelegt werde (Taufe 15). Auch die Absage an das Böse kann unseres Erachtens nur vom Täufling selbst – und dann also nur bei einer Erwachsenentaufe – vollzogen werden. 4.

»Säuglingstaufe« und »Gläubigentaufe«

»Die Möglichkeit, dass zur neutestamentlichen Zeit auch die Kindertaufe praktiziert wurde, kann nicht ausgeschlossen werden. Die Taufe nach einem persönlichen Glaubensbekenntnis ist

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jedoch die in den neutestamentlichen Schriften am eindeutigsten belegte Praxis. Im Lauf der Geschichte hat sich die Taufpraxis in verschiedenen Formen entwickelt (Taufe 11). Jede Taufe gründet in und bezeugt Christi Treue bis zum Tod (Taufe 12). Der Unterschied zwischen Säuglings- und Gläubigentaufe wird weniger scharf, wenn man erkennt, dass beide Formen der Taufe Gottes eigene Initiative in Christus verkörpern und eine Antwort des Glaubens, die innerhalb der Gemeinschaft der Glaubenden gegeben wird, zum Ausdruck bringen … In einigen Kirchen, die die Tradition der Kindertaufe und der Gläubigentaufe miteinander verbinden, haben sich zwei gleichberechtigte Alternativen für den Eintritt in die Kirche als möglich erwiesen (Taufe 12, Kommentar). – Die Taufe ist eine unwiederholbare Handlung (Taufe 13).« (a) Wir begrüßen, dass die beiden Formen der Taufe als gleichberechtigt nebeneinander genannt werden, auch wenn die Taufe nach einem persönlichen Glaubensbekenntnis die in den neutestamentlichen Schriften am eindeutigsten belegte Praxis ist (Taufe 11). Ebenso bejahen wir, dass jede Taufe in Christi Treue bis zum Tod gründet und sie bezeugt (Taufe 12), und dass der persönliche Glaube des Empfängers der Taufe und die beständige Teilnahme am Leben der Kirche wesentlich dafür sind, dass die Früchte der Taufe voll empfangen werden (Taufe 12, Kommentar). Für entscheidend halten wir darüber hinaus den Hinweis auf die Unwiederholbarkeit der Taufe (Taufe 13). (b) Wir hören die Aufforderung zu einer verantwortlichen Einstellung zur christlichen Unterweisung, die ihrem Wesen nach nie abgeschlossen ist, und die Betonung der Notwendigkeit einer späteren persönlichen Antwort des Glaubens als Anfragen an unsere bisherige Praxis (vgl. 3 b). (c) Wir halten es für irreführend, wenn in Taufe 13, Kommentar der Eindruck erweckt wird, als würde in manchen Freikirchen nicht noch heute vor der Aufnahme in die volle Mitgliedschaft die Wiedertaufe geübt. Um der ökumenischen Wahrhaftigkeit und des Respekts vor der – von uns nicht geteilten – Auffassung dieser Kirchen willen, sollte hier anders formuliert werden. 5.

Taufe und Gemeinde

»Durch ihre eigene Taufe werden Christen in die Gemeinschaft mit Christus, miteinander und mit der Kirche aller Zeiten und Orte geführt (Taufe 6). Sie (die Taufe) hat ihren Sitz im Leben und Glauben der Kirche … Bei jeder Taufe bekräftigt die ganze Gemeinde neu ihren Glauben an Gott ... Die Taufe sollte daher immer im Rahmen der christlichen Gemeinschaft gefeiert und entfaltet werden (Taufe 12). Da die Taufe zutiefst verbunden ist mit dem gemeinschaftlichen Leben und dem Gottesdienst der Kirche, sollte sie normalerweise während eines öffentlichen Gottesdienstes vollzogen werden (Taufe 23).« (a) Wir freuen uns über die starke Betonung der Aussage, dass die Taufe in den Leib Christi eingliedert (Taufe 6) und dass sie in der Kirche als der Gemeinschaft des Glaubens stattfindet (Taufe 12). (b) Wir erkennen darin die Aufforderung, unsere eigene Praxis dahin zu ändern, dass die Taufe grundsätzlich im Rahmen des Gemeindegottesdienstes gefeiert wird (Taufe 12 und

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Taufe 23). Wir sehen darin die sinnvollste Form der Erinnerung der Gemeinde an ihre eigene Taufe und an ihre Verantwortung für die Getauften. Daneben sollte auch der Brauch des Taufgedächtnisses in unserer Kirche wiederentdeckt werden, etwa im Rahmen der Osternachtfeier. (c) Da die Taufe ein für allemal gültig und in Kraft gesetzt ist, halten wir den Satz »Die Taufe muss ständig wieder bekräftigt werden« (Taufe 14 c, Kommentar) für missverständlich. 6.

Taufe und Einheit der Kirche

»Unsere gemeinsame Taufe, die uns mit Christus im Glauben vereint, ist ... ein grundlegendes Band der Einheit ... Daher ist unsere eine Taufe in Christus ein Ruf an die Kirchen, ihre Trennungen zu überwinden und ihre Gemeinschaft sichtbar zu manifestieren (Taufe 6). Die Notwendigkeit, die in der Taufe begründete Einheit wiederzugewinnen, gehört zum Zentrum der ökumenischen Aufgabe … (Taufe 6, Kommentar).« (a) Wir begrüßen die Feststellung, dass die Taufe die Getauften mit Christus und mit seiner Gemeinde vereint (Taufe 2), und dass die Taufe ein grundlegendes Band der Einheit ist (Taufe 6). (b) Wir nehmen den »Ruf an die Kirchen, ihre Trennungen zu überwinden und ihre Gemeinschaft sichtbar zu manifestieren« (Taufe 6), als auch an uns gerichtet auf und erkennen die Notwendigkeit an, die in der Taufe gegebene (nicht begründete – gegen Taufe 6 Kommentar) Einheit wiederzugewinnen. (c) Wir können den Satz in Taufe 6: »Wenn die Einheit der Taufe ... realisiert wird, kann ein echtes christliches Zeugnis abgelegt werden ...« allerdings so nicht nachsprechen, da er eine Bedingung festlegt, ohne die ein Zeugnis für die heilende und versöhnende Liebe nicht möglich sein soll. Der englische Text ist hier besser: »As the unity ...«, was im Deutschen am besten mit »In dem Maß, wie ...« wiedergegeben werden müsste. Statt »realisiert« würden wir in demselben Satz lieber »besser sichtbar wird« formulieren und in Taufe 6, Kommentar statt von der Unfähigkeit der Kirchen lieber davon sprechen, dass die Kirchen sich zurzeit nicht in der Lage sehen, gegenseitig ihre verschiedenen Taufpraktiken anzuerkennen, was nach dem englischen Text näherliegt. Das Verhältnis von Volk Gottes (Taufe 1) und Volk Christi (Taufe 2) im Blick auf unsere Beziehung zum Volk Israel bedarf einer weiteren Klärung. 7.

Die Bedeutung des Wortes und der Symbole im Vollzug der Taufe

»In jeder umfassenden Taufliturgie sollten zumindest folgende Elemente enthalten sein: Verkündigung der Heiligen Schrift ... (Taufe 20). Es ist angemessen, im Rahmen des Taufgottesdienstes die Bedeutung der Taufe zu erläutern, wie sie sich aus der Schrift ergibt ... (Taufe 21). In der Taufe sollte die symbolische Dimension des Wassers ernst genommen und nicht heruntergespielt werden (Taufe 18). Wie es in den frühen Jahrhunderten der Fall war, kann die Gabe des Geistes in der Taufe auf zusätzliche Weise bezeichnet werden, z. B. durch das Zeichen der Handauflegung, durch Salbung und Ölung. Auch das ... Zeichen des Kreuzes erinnert an die verheißene Gabe des Geistes ... (Taufe 19).

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(a) Wir bejahen, dass die Verkündigung der Heiligen Schrift (besonders der Taufbefehl) unter den Elementen der Taufliturgie als erste genannt wird (Taufe 20), halten es aber nicht nur für angemessen, sondern für unbedingt notwendig, im Rahmen des Taufgottesdienstes die Bedeutung der Taufe zu erläutern, wie sie sich aus der Schrift ergibt (Taufe 21). Ebenso begrüßen wir, dass die symbolische Dimension des Wassers ernst genommen wird (Taufe 18), und halten deshalb eine Taufe ohne die Verwendung von Wasser für nicht stiftungsgemäß und somit nicht für akzeptabel (Taufe 21, Kommentar). Schließlich halten wir auch das Zeichen des Kreuzes (»Allein schon das Zeichen ...« statt »das wahre Zeichen«) und das der Handauflegung für sinnvolle Verdeutlichungen des Taufgeschehens. (b) Die in anderen Kirchen geübte Form des Untertauchens stellt eine berechtigte Anfrage an unsere Taufpraxis dar, in der der tiefe Einschnitt, den die Taufe ursprünglich im Leben des Getauften bedeutete, nicht mehr zur Geltung kommt. Allerdings sehen wir aus praktischen Gründen zurzeit noch keinen Weg, diese Übung in unsere Kirche einzuführen. Den Hinweis auf die mit der Taufe verbundenen Missverständnisse (Taufe 21, Kommentar) wollen wir hören. (c) Nicht zustimmen können wir der Auffassung, im Wasser komme die Kontinuität zwischen alter und neuer Schöpfung zum Ausdruck. Die Taufe bedeutet nach neutestamentlichem Verständnis gerade das Gegenteil: Diskontinuität zwischen dem bisherigen und dem neuen Leben des Christen (vgl. Röm 6). Jede Symbolik, die nicht im Wort der Schrift begründet ist oder ihr gar widerspricht, ist abzulehnen (Kommentar 18). In dieselbe Richtung zielt unsere Frage, ob nicht die mit der Taufe häufig verbundene Salbung/Ölung zu einer Häufung der Symbole führt, die die eigentliche Bedeutung der Taufe eher verdunkelt als erhellt. Wir sollten uns mit der allen gemeinsamen Aussage begnügen, dass die Taufe mit Wasser und durch den Heiligen Geist geschieht (Taufe 14). EUCHARISTIE Das Herrenmahl – wir wählen in unserer Stellungnahme durchgehend diesen Ausdruck (vgl. S. 18) – ist in der reformatorischen Theologie vorwiegend unter dem Aspekt der Sündenvergebung gesehen worden. Auch wenn wir diesen Gesichtspunkt als einen entscheidenden beibehalten wollen, sind wir doch dankbar dafür, dass das Herrenmahl durch die Erklärung in den Zusammenhang des ganzen Heilswerkes Gottes gestellt wird. Insgesamt wird dadurch das Verständnis vielschichtiger. Wir gliedern die Stellungnahme in fünf Abschnitte: 1. Das Handeln des dreieinigen Gottes 2. Wort und Antwort 3. Gemeinschaft der Gläubigen (Communio) 4. Schöpfung und Eschatologie 5. Feier des Herrenmahls

230 1.

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Der dreieinige Gott als der Handelnde

Die Kirche empfängt die Eucharistie vom Herrn (Euch 1). Gott schenkt uns diese Gabe in Christus (Euch 2). Sie ist völlig seine Gabe (Euch 26), und er selbst ist der Handelnde. Bei ihm liegt der primäre Ursprung und letztliche Erfüllung des eucharistischen Geschehens (Euch 14). Das lebendige Zentrum ist der menschgewordene Sohn, durch den und in dem es vollbracht wird (Euch 14). Das Opfer Christi ist ein für allemal am Kreuz vollbracht (Euch 5). Menschwerdung Christi, Leben, Tod, Auferstehung und Himmelfahrt sind einmalig und unwiederholbar (Euch 8). Christus ist es, der in der Eucharistie die Kirche sammelt, lehrt und nährt. Er steht dem Mahl vor. Die Eucharistie ist nicht Schöpfung oder Besitz der Versammlung, sondern wird immer als Gabe empfangen. Der Heilige Geist als Kraft der Liebe ermöglicht dieses Geschehen (Euch 14). Die ganze Handlung ist von seinem Wirken abhängig (Euch 16). Er macht den gekreuzigten und auferstandenen Christus gegenwärtig und erfüllt die Verheißung der Einsetzungsworte (Euch 14). Es ist die Kirche, die die Eucharistie empfängt (Euch 1). Sie spricht das große Lobopfer für die ganze Schöpfung (Euch 4). Christus handelt durch die freudige Feier seiner Kirche (Euch 7). Sie ist mit dem Sohn vereinigt. Sie bringt in Gemeinschaft mit Christus ihre Fürbitte dar (Euch 8). (a) Der umfassende trinitarische Ansatz bestimmt die Darstellung der Eucharistie. Dieser Ansatz stellt zugleich den in Christus handelnden Gott in besonderer Weise als Geber heraus. Der Text setzt bei der Christologie ein. Die Gabe des Herrenmahls ist die Frucht des einmaligen Lebens, Sterbens und Auferstehens Christi, das unwiederholbar ist. Die Vergegenwärtigung Christi als Geschehen im Heiligen Geist kommt durch die Aufnahme der Tradition der Epiklese besonders zur Geltung. Auch die Antwort der feiernden Gemeinde ist Werk des Heiligen Geistes. (b) Der trinitarische Ansatz ist für unsere theologische Tradition nicht vollkommen neu, aber ungewohnt. Er veranlasst uns, stärker über den Zusammenhang der Eucharistie mit dem ganzen Heilshandeln Gottes nachzudenken. Es ist auch der Schöpfer, der uns die Gabe des Herrenmahls schenkt und der von seinem Heilshandeln im Bund mit Israel her die Treue hält, uns im Kommen Christi den Anbruch seines Reiches erfahren lässt und in seinem Geist die Kraft des wahren Lebens ist. (c) In diesem Bereich haben wir aber auch Anfragen an die Erklärung. Das Verhältnis des Wirkens des Heiligen Geistes zum Handeln der Kirche ist zu wenig geklärt. In einigen Sätzen bekommt die Kirche als Subjekt des Handelns zu starkes Gewicht. Wirken des Heiligen Geistes und Handeln der Kirche dürfen nicht einfach als identisch beschrieben werden. Ist das Gleichgewicht der Aussagen über Vater, Sohn und Geist als Handelnde gewahrt? In gleicher Weise muss bei der Aufnahme der Leib-Christi-Vorstellung die Unterscheidung zwischen Christus als dem Haupt und der Kirche als den Gliedern gewahrt bleiben. 2.

Wort und Antwort

Grundlegend für die Feier ist die Verheißung der Einsetzungsworte (Euch 14). Worte und Handlungen Christi stehen im Mittelpunkt der Feier (Euch 13). Die Mahlzeiten Jesu während seiner irdischen Wirksamkeit verkündigen und stellen die Nähe des Gottesreiches dar (Euch 1). Die Anamnese ist Gedächtnis all dessen, was Gott für das Heil der Welt getan hat

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(Euch 8). Sie will nicht nur in Erinnerung rufen, sondern ist die wirksame Verkündigung, Vergegenwärtigung und Vorwegnahme (Euch 7). In ihr stärken gepredigtes Wort und eucharistisches Mahl sich gegenseitig. Es gehört zur Feier, dass sie die Wortverkündigung einschließt (Euch 12). Sie ist Verkündigung und Feier der Taten Gottes (Euch 3). Gemäß der Verheißung Christi empfängt jedes getaufte Glied des Leibes Christi in der Eucharistie die Zusage der Vergebung der Sünden (Euch 2). Im Passahfest sehen die Christen die Eucharistie vorweggenommen. Die Eucharistie ist die große Danksagung an den Vater für alles, was er in Schöpfung, Erlösung und Heiligung vollbracht hat (Euch 3), das große Lobopfer, durch das die Kirche für die ganze Schöpfung spricht (Euch 4). Das Lobopfer ist nur möglich durch Christus, mit ihm und in ihm (Euch 4). Die Feier der Eucharistie ist der zentrale Akt des Gottesdienstes (Euch 1). (a) Übereinstimmend mit evangelischem Verständnis beginnt die Erklärung mit den Einsetzungsworten. Sie sind Verheißungsworte, durch die die Zusage der Vergebung der Sünden empfangen wird. Diese Worte hängen zusammen mit der Verkündigung des irdischen Jesus und stehen in Verbindung mit dem Passahmahl. Wortverkündigung und Mahl gehören zusammen. Eine Verselbständigung der Elemente wird vermieden. Die Realpräsenz ist auf die ganze Feier mit Wort und Mahl bezogen. Durch die Aufnahme der Anamnese wird der biblische Zusammenhang des Heilsgeschehens im Abendmahl betont. Das Mahl steht im Zusammenhang des ganzen Gottesdienstgeschehens. Es steht in Verbindung zum gepredigten Wort und ist zentraler Akt des Gottesdienstes. Da das Herrenmahl Danksagung und Lobopfer der feiernden Gemeinde ist, wird es mit Recht auch Eucharistie genannt. (b) Die Texte fordern uns heraus zu überprüfen, ob die reformatorische Tradition nicht zu ausschließlich den Tod Christi betont hat. Ist es nicht eine Engführung, die Bedeutung des Herrenmahles fast allein in der Sündenvergebung zu sehen? Das Neue Testament sieht das letzte Mahl Jesu im Zusammenhang der Passahtradition und des Bundesmahls auf dem Sinai als Mahl der Befreiung und als Mahl der Bundestreue Gottes. Es stellt dies ebenso in den Zusammenhang des Essens Jesu mit den Zöllnern und Sündern wie mit seiner Verkündigung vom anbrechenden Gottesreich. Es ist auch das Mahl, das der auferstandene Herr mit seinen Jüngern feiert und bei dem sie ihn erkennen. Wir begrüßen es, dass die Erklärung diese Zusammenhänge so hervorhebt. Die Anamnese als liturgisches Stück ist unserer Tradition weitgehend fremd geblieben. Nehmen wir sie mit der Erklärung neu auf, so kann sie damit deutlich machen, dass die Einsetzungsworte nicht schon durch die bloße Rezitation »repraesentatio« sind, und das heißt mit dem Denken des Alten Testaments nicht nur Erinnerung, sondern wirksame Verkündigung und Vergegenwärtigung. In einigen evangelischen Gemeinden wird das Herrenmahl noch nicht im Zusammenhang des ganzen Gottesdienstes begriffen, sondern als Sondergottesdienst oder Anhang aufgefasst. Hier führt uns die Erklärung weiter auf einen Weg, den wir erst betreten haben. Ist in den Kirchen der Reformation nicht der Feiercharakter des Herrenmahls erheblich zu kurz gekommen? Welche Rolle spielen Lob und Dank in unserer Abendmahlsfeier? Die Begriffe Opfer und Darbringung müssen nicht unbedingt kultisch verstanden werden. Verstehen wir sie als Lobopfer und gehorsame Annahme der Gabe Gottes, mit der wir uns selbst darbringen, so kennzeichnen sie die angemessene Antwort der Gemeinde. Dies gilt umso mehr, weil die Herabrufung des Geistes (Epikle-

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se) auf die Gemeinde bedeutet, dass der Geist Gottes uns fähig und bereit macht, die Selbsthingabe Christi für uns zu erkennen und dankbar anzunehmen. (c) Im ganzen Text ist »Eucharistie« die vorherrschende Bezeichnung. Auch wenn wir die Hervorhebung des eucharistischen Gedankens begrüßen, halten wir diese ausschließliche Verwendung für bedenklich und »Herrenmahl« für den besseren, die anderen Namen einschließenden Ausdruck. Gerät nicht durch die vorwiegende Verwendung von »Eucharistie« die Kirche als das handelnde Subjekt zu sehr in den Mittelpunkt? Es muss eindeutig gewahrt bleiben, dass der dreieinige Gott uneingeschränkt der Handelnde ist und Christus nicht ungewollt zum Objekt der handelnden Kirche wird. In diesem Zusammenhang würden wir auch den Begriff »Gemeinde« an manchen Stellen dem Begriff »Kirche« vorziehen. Kam in der reformatorischen Tradition der Aspekt des Freudenmahls bisher zu kurz zugunsten der Sündenvergebung, so scheint sich dies im vorliegenden Text umgekehrt zu haben. Ohne die anderen Gesichtspunkte zurückzudrängen, sind wir doch der Meinung, dass der Aspekt der Sündenvergebung und der Versöhnung mit Gott einer besonderen Betonung bedarf. In unserer Landeskirche ist ein Beschluss »Zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden« gefasst worden. Aufgrund dieses neuen Verstehensprozesses ist uns die weitere Klärung der Beziehung des jüdischen Passahmahls zum christlichen Herrenmahl wichtig. Die Bedeutung von Wort und Geist für das Geschehen des Herrenmahles bedarf einer weiteren Klärung: Wie verhalten sich Verheißung der Einsetzungsworte (Promissio) und Epiklese zueinander? Wird nicht die Epiklese stärker betont als die Einsetzungsworte? Hängt die Gegenwart des Geistes an der Epiklese? Sie darf nach unserer Meinung keinen kausalen Charakter erhalten. Wo die Promissio der Einsetzungsworte gesprochen wird, kann die Antwort der Gemeinde nur noch Dank sein. Deswegen würden wir in Euch 14 umformulieren: »... dankt die Kirche dem Vater für die Gabe des Heiligen Geistes, weil das eucharistische Geschehen Wirklichkeit wird«. Der Eindruck muss vermieden werden, als ob durch die Betonung der Epiklese die mit den Verheißungsworten schon geschenkte Gabe erneut von menschlichem Handeln abhängig gemacht wird. Einem damit naheliegenden konsekratorischen Verständnis der Epiklese über den Elementen im Sinn einer Wandlungslehre können wir nicht zustimmen. Die mit den Einsetzungsworten gegebenen Zeichen sind nicht Zeichen für den abwesenden, sondern für den gegenwärtigen Christus. Sie sind darin wirksam und bedürfen darum keiner Konsekration, die sie wirklich macht. Die Lima-Erklärung stellt fest: Die Frage der Gegenwart Christi in den Elementen konnte noch nicht geklärt werden. Wir möchten anregen, weiter darüber nachzudenken. Dazu verweisen wir auf die Leuenberger Konkordie (Abschnitt 18–19). Bedenken gegen die Anamnese ergeben sich, wo sie mit dem Opfergedanken verbunden wird und nicht eindeutig als vergegenwärtigende Verkündigung verstanden wird. Der Begriff des kultischen Opfers in Verbindung mit dem Herrenmahl ist nachneutestamentlich. Der Gedankengang »Opfer – Sühne – Vermittlung« müsste anhand des Hebräerbriefes geprüft und formuliert werden. Wo der Opferbegriff für Handeln der Gemeinde Verwendung finden soll, muss er klar als Lobopfer und gehorsame Annahme des Opfers Christi bestimmt werden. Das gilt ebenso für das Verhältnis von Danksagung und Darbringung. Wir müssen einen Sprachgebrauch vermeiden, in dem kirchliches Handeln und Handeln Gottes im Geschehen des Herrenmahls als gleichrangig ausgedrückt werden. Dass das Herrenmahl im Zentrum des Gottesdienstes steht, ist eine Erkenntnis, die in der evangelischen Tradition nicht immer

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genügend ausgedrückt wurde. Dieser Erkenntnis und der damit verbundenen kritischen Anfrage an unsere eigene Tradition stimmen wir voll zu. Gleichwohl können wir uns nicht dazu verstehen, das Herrenmahl als den zentralen Akt des Gottesdienstes zu bezeichnen. Wir sind der Auffassung, dass das gepredigte Wort im Gottesdienst ebenfalls zentrale Bedeutung hat. Die Darstellung, dass die Eucharistie das gepredigte Wort »einschließt«, trägt dem u. E. noch nicht genügend Rechnung. Im Gottesdienst sind Predigt und Sakrament einander zugeordnet. 3.

Gemeinschaft der Gläubigen (Communio)

Im Essen und Trinken des Brotes und Weines gewährt Christus Gemeinschaft mit sich selbst. Christus vereint die Gläubigen mit sich (Euch 4). Die eucharistische Gemeinschaft mit dem gegenwärtigen Christus ist zugleich auch die Gemeinschaft im Leibe Christi, der Kirche (Euch 19). Das Teilhaben an einem Brot und einem gemeinsamen Kelch an einem bestimmten Ort macht deutlich und bewirkt das Einssein der hier Teilhabenden mit Christus und mit den anderen mit ihnen Teilhabenden zu allen Zeiten und an allen Orten (Euch 19). Die Eucharistie bringt in die Gegenwart eine neue Wirklichkeit, die die Christen in das Bild Christi verwandelt und sie zu wirksamen Zeugen macht (Euch 26). Durch sie durchdringt die alles erneuernde Gnade Gottes die menschliche Person und Würde und stellt sie wieder her (Euch 20). Durch die Vereinigung mit Christus werden die Gläubigen verwandelt (Euch 4). Vereint in dem Herrn, werden wir in dem Bund erneuert, der durch das Blut Christi besiegelt worden ist (Euch 11). Die eucharistische Feier fordert Versöhnung und Gemeinschaft unter all denen, die als Brüder und Schwestern in der einen Familie Gottes betrachtet werden. Sie ist ständige Herausforderung bei der Suche nach angemessener Beziehung im sozialen, wirtschaftlichen und politischen Leben. Alle Arten von Ungerechtigkeit werden radikal herausgefordert, wenn wir am Leib Christi teilhaben (Euch 20). Die Äußerungen der Liebe in der Eucharistie sind direkt auf das Selbstzeugnis Christi als Diener bezogen, an dessen Dienen die Christen selbst teilhaben. Sie sind aufgerufen, mit den Ausgestoßenen solidarisch zu sein (Euch 24). In der Eucharistie findet die Gemeinschaft des Volkes Gottes ihre volle Darstellung. Das Teilhaben an Brot und Kelch bewirkt das Einssein mit allen Teilhabenden zu allen Zeiten und Orten. Eucharistische Feiern haben es immer mit der ganzen Kirche zu tun, wie auch die ganze Kirche an jeder einzelnen Feier beteiligt ist (Euch 19). Als Teilnehmer an der Eucharistie erweisen wir uns als unwürdig, wenn wir uns nicht aktiv an der ständigen Wiederherstellung der Situation der Welt und der menschlichen Lebensbedingungen beteiligen (Euch 20). (a) Es ist Christus selbst, der im Herrenmahl Gemeinschaft mit sich schenkt. Die Gemeinschaft, die im Sakrament sichtbar wird, ist von ihm geschenkt und wird nicht durch menschliches Tun hergestellt. In dieser Gemeinschaft verbindet er die Gläubigen miteinander. Er verwandelt sie und macht sie fähig, sich selbst in ihrem Leben zum Opfer zu bringen und mit Wort und Tat seine Zeugen zu sein. Christus ist nicht nur der Diener der Gläubigen, sondern er will alle, für die er gestorben ist, zu seinem Fest einladen. Die Feier des Herrenmahls hat auch eine missionarische und ethische Dimension. Die Teilnehmer am Mahl werden mit dieser Speise ausgerüstet, um Apostel in der Welt zu sein. Weil Christus Gemeinschaft gestiftet hat, sind sie zur Einigkeit verpflichtet, um ihr Zeugnis nicht zu schwächen. Wir empfinden es als wohltuend, dass die Hartnäckigkeit ungerechtfertigter konfessioneller Gegensätze offen angesprochen wird. Der missionarische Auftrag schließt das Zeugnis gegen alle Ungerechtigkeit, die Solidarität mit den

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Ausgestoßenen und den Dienst der Versöhnung ein. So entspricht es dem Dienst des irdischen Jesus wie dem des Auferstandenen, der zu seinem Mahl einlädt. (b) Die Gemeinschaft, die Christus in seinem Mahl schenkt, verwandelt die Gläubigen. Der Aspekt der Heiligung im Geschehen des Herrenmahls wird eindrucksvoll unterstrichen. Hier erweist sich der Gedanke der Herabrufung des Geistes auf die Gemeinde (Epiklese) als besonders hilfreich. Heiligung ist wie Rechtfertigung zuerst ein Handeln Christi an uns. Hier liegt eine wichtige Anfrage an reformatorische Theologie vor. Aus guten Gründen war sie um klare Unterscheidung von Rechtfertigung und Heiligung bemüht. Aber ist daraus nicht allzu oft eine Trennung geworden, die biblischen Aussagen (z. B. Röm 12) nicht entspricht? Die Möglichkeit, Heiligung als Werk Christi zu begreifen, sollten wir aus der Erklärung dankbar aufnehmen. In diesem Zusammenhang könnte auch der Opferbegriff Verwendung finden (Euch 10). Die durch das Mahl Christi Geheiligten werden deutlich auf die ethischen Konsequenzen des Herrenmahls hingewiesen. Sie liegen nicht nur im individuellen Bereich, sondern haben auch soziale Komponenten. Herkömmliches protestantisches Denken hat die Bedeutung des Herrenmahls stark auf die individualistische Heilsversicherung verengt. Die Texte unterstreichen demgegenüber die diakonische und missionarische Seite. Das Mahl der Versöhnung schließt den Auftrag der Versöhnungsbotschaft ein (2Kor 5). (c) Wir fragen jedoch, ob zwischen der Heiligung durch Christus und menschlichem Tun deutlich genug unterschieden wird. Wird die Gnade Gottes schon manifest durch menschliches Eintreten für Gerechtigkeit und Frieden? Der Begriff der »Wiederherstellung der Welt« erscheint bedenklich, weil er dazu verleiten könnte anzunehmen, durch menschliche Aktivitäten im politischen Bereich sei eine Welt herstellbar, die nicht mehr der Erlösung durch Gott bedürfte. Werden Teilnehmer am Herrenmahl »unwürdig«, wenn sie sich an diesen Aktivitäten nicht ausreichend beteiligen? Hier sollte es bei der Wortwahl des englischen Textes »inconsistent« = »unvereinbar« oder »inkonsequent« bleiben, schon wegen der traditionellen Missverständnisse des Begriffes »unwürdig« (Euch 20). Nicht ohne Bedenken sehen wir auch die Beschreibung der Kirche in diesem Zusammenhang. Kann man sagen, dass sie im Herrenmahl ihre »volle Darstellung« findet? Muss nicht, wenn vom Einsatz mit Christus die Rede ist, noch einmal zwischen der empirischen Kirche und der Communio Sanctorum unterschieden werden? Kann eine Kirche in ihrer empirischen Gestalt beanspruchen, die ganze Kirche zu sein? Inwieweit kann in die »Darstellung« auch die Kirche als raum- und zeitübergreifende Größe einbezogen werden? Es muss klar sein, dass wir mit dem Ausdruck »gegenseitige Sündenvergebung« (Euch 21) nichts anderes meinen können als gegenseitiges Verzeihen infolge geschehener Vergebung durch Gott. 4.

Schöpfung und Eschatologie

Die Mahlzeiten des irdischen Jesus verkündigen und stellen die Nähe des Gottesreiches dar. Die Eucharistie führt diese Mahlzeiten weiter und dies immer als Zeichen des Gottesreiches. Sie ist Vorwegnahme des Hochzeitsmahls des Lammes (Euch 1). Sie ist Vergegenwärtigung wie Vorwegnahme (Euch 7), Vorgeschmack der Parusie Christi und des vollendeten Gottesreiches (Euch 6). Im Lobopfer werden Brot und Wein, Früchte der Erde und menschlicher Arbeit, dem Vater im Glauben und in Danksagung dargebracht. Die Eucharistie bezeichnet,

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was die Welt werden soll (Euch 4). Die Welt, der Erneuerung verheißen ist, ist in der eucharistischen Feier in Danksagung, Gedächtnis und Fürbitte gegenwärtig (Euch 23). Durch die Eucharistie gibt der Heilige Geist einen Vorgeschmack des Reiches Gottes, Leben der neuen Schöpfung und Zusicherung der Wiederkehr des Herrn (Euch 18). Die Eucharistie eröffnet die Schau der göttlichen Herrschaft, die als letztgültige Erneuerung der Schöpfung verheißen wurde, und ist deren Vorgeschmack. Die Kirche feiert freudig das Kommen des Reiches in Christus und nimmt es vorweg (Euch 22). (a) Wie das Herrenmahl Vergegenwärtigung der Heilstaten Gottes im Bund mit Israel und im Leben und Sterben Jesu ist, so ist es auch Zeichen des Gottesreiches und Vorgeschmack seiner Wiederkunft. Der Zukunftsaspekt wird in der Erklärung eindrücklich unterstrichen. Das entspricht alttestamentlichem Denken, das Vergegenwärtigung der Heilsereignisse immer mit eschatologischem Ausblick verbinden. Ebenso sieht Jesus seine Verkündigung im Zusammenhang mit dem eschatologischen Freudenmahl. Mit dem Kommen des Reiches Gottes soll auch die Schöpfung neu werden. Indem Christus seine Gegenwart mit den Zeichen von Brot und Wein verbindet, die Elemente der Schöpfung sind, wird die ganze Schöpfung in das Geschehen des Herrenmahls einbezogen. (b) Der eschatologische Aspekt des Herrenmahls hat seit den Arnoldshainer Thesen immer mehr Gewicht in unserer Kirche bekommen. Das hat sich freilich noch nicht genügend in unserer Abendmahlspraxis ausgewirkt. Darum begrüßen wir, dass dieser Gesichtspunkt in der Erklärung so stark unterstrichen wird. Ebenso sehr freuen wir uns über die Weite, die das Verständnis des Herrenmahls durch die Beachtung des kosmologischen Horizonts bekommt. (c) Fraglich ist uns freilich, ob die Spannung zwischen dem »Schon« und »Noch nicht« überall gewahrt oder ob sie nicht eher im Sinne präsentischer Eschatologie aufgelöst ist. Genauer beschrieben werden müsste nach unserer Meinung auch die Art und Weise, in der die Welt in der eucharistischen Feier »gegenwärtig« ist (Euch 23). 5.

Die Feier des Herrenmahls

In der Eucharistie sammelt, lehrt und nährt Christus die Kirche. Er selbst lädt zu dem Mahl ein und steht ihm vor (Euch 29). Der Glaube wird durch die Feier des Herrenmahls vertieft (Euch 30). Es ist darum angemessen, dass es wenigstens jeden Sonntag gefeiert wird (Euch 31). In vielen Kirchen wird über die Zulassung getaufter Kinder als Kommunikanten diskutiert (Euch 19, Kommentar). Die eucharistische Liturgie ist ihrem Wesen nach ein einheitliches Ganzes und besteht historisch aus Elementen in unterschiedlicher Anordnung und verschiedener Bedeutung (Euch 27). Die Bejahung eines gemeinsamen eucharistischen Glaubens schließt weder in der Liturgie noch in der Praxis Uniformität ein. Eine gewisse liturgische Vielfalt wird als bereichernde Tatsache anerkannt (Euch 28). In den meisten Kirchen führt ein ordinierter Amtsträger den Vorsitz bei der Feier. Er ist der Botschafter, der die göttliche Initiative repräsentiert (Euch 29). (a) Die Bedeutung des Herrenmahls für das Leben der Kirche und für den Glauben des einzelnen Christen soll ihren Ausdruck auch in der Häufigkeit der Feier finden. Es gibt einen Prozess wachsender Übereinstimmung, der zur Einheit in der Feier des Herren-

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mahls führen kann. Liturgische Vielfalt steht dem nicht hindernd im Wege, sondern wird als Bereicherung erkannt (Euch 33). (b) Hat das Herrenmahl in unserer gottesdienstlichen Praxis bereits den Platz, den es nach unserer theologischen Erkenntnis einnehmen muss? Wir glauben, dass unsere Kirche hier noch zu lernen hat. Auch einer größeren Vielfalt liturgischer Möglichkeiten sollten wir uns aufschließen. Die Frage nach der Teilnahme getaufter Kinder am Herrenmahl wird seit einiger Zeit auch in unseren Gemeinden gestellt und ist bereits in vorläufigen Beschlüssen der Landessynode bejaht worden. Wir sollten uns aber fragen, ob wir dieses Anliegen entschieden genug vertreten und ob die Anstrengungen zur Einbeziehung der Kinder in die Mahlgemeinschaft bei uns nicht noch stärkeres Gewicht bekommen sollten. Bei der Frage der Aufbewahrung der Elemente stoßen wir auf die unterschiedlichen Auffassungen über die fortwährende Gegenwart Christi in den Elementen. Hier wird dazu aufgefordert, den gegenseitigen Respekt auch bei der Aufbewahrungspraxis zum Ausdruck zu bringen. Schließlich müssen sich unsere Gemeinden fragen lassen, inwieweit sie mit dem nicht verbrauchten Brot und Wein nach dem Abendmahl angemessen umgehen. (c) Kritisch sehen wir die Aufzählung der einzelnen Elemente der Liturgie. Nach welchen Kriterien erfolgte ihre Auswahl und Anordnung? Legitimiert das Historische, sprich die Tradition, die Auswahl? Auf die Problematik der Epiklese über den Elementen wurde schon hingewiesen (s. zu 2 c). Dass über die Bedeutung der Einsetzungsworte noch keine Einigkeit besteht, kommt in den unterschiedlichen Auffassungen über die fortdauernde Gegenwart Christi in den geweihten Elementen zum Ausdruck, aus denen sich eine unterschiedliche Aufbewahrungspraxis ergibt. Uns fällt auf, dass in diesem Zusammenhang nicht vom Glauben die Rede ist. Die Bedeutung von ordinierten Amtsträgem als Vorsteher der Feier wird im Abschnitt über das Amt zu behandeln sein. AMT Der Abschnitt »Amt« der Erklärung ist der umfangreichste. Wir sehen schon darin einen Hinweis auf die besondere Problematik des Themas. Trotz Übereinstimmung der Kirchen über die Notwendigkeit des Amtes sind die Auffassungen über Wesen und Bedeutung sowie die praktische Ordnung des Amtes außerordentlich verschieden. Angesichts dieses Tatbestandes wurde 1927 in Lausanne festgestellt, dass bischöfliche, presbyteriale und kongregationale Elemente ihren Platz in der Ordnung der Kirche finden müssten. Dem entsprechend wäre es die Aufgabe einer Konvergenzerklärung zu untersuchen, welche Gemeinsamkeiten die drei genannten Verfassungsformen verbinden. Im vorliegenden Text können wir diese Aufgabe nur in sehr begrenztem Umfang wahrgenommen finden. Vielmehr entsteht bei uns der Eindruck, dass die bischöfliche Verfassung Ausgangs- und Zielpunkt der Erwägungen ist. Dieser Eindruck verstärkt sich durch die Beobachtung, dass mehrmals die richtigen exegetischen Erkenntnisse, die sich in den Kommentaren finden, in Hauptabschnitten aufgegeben oder übersprungen werden zugunsten der normativen Kraft der bischöflichen Tradition. Trotz dieser grundsätzlichen Einwände möchten wir den Text positiv aufnehmen, zumal im ersten Abschnitt die fundamentale Bedeutung der »Berufung des ganzen Volkes Gottes« bekannt wird. Dabei verstehen wir den

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Text von den genannten biblischen Einsichten her, befragen ihn und lassen uns von ihm befragen. Wir tun dies in den Abschnitten: 1. Christus und Amt 2. Gemeinde und Amt 3. Amt und Ämter 4. Geist und Amt 5. Wege zur gegenseitigen Anerkennung 1.

Christus und Amt

Jesu Leben des Dienens, sein Tod und seine Auferstehung bilden das Fundament einer neuen Gemeinschaft, die ständig aufgebaut wird durch die gute Botschaft des Evangeliums und die Gaben der Sakramente (Amt 1). So wie Christus die Apostel auserwählt und ausgesandt hat, so fährt er durch den Heiligen Geist fort, Personen für das ordinierte Amt auszuwählen und zu berufen (Amt 11). Durch Christus werden Menschen befähigt, sich lobpreisend Gott und dienend ihren Nächsten zuzuwenden (Amt 2). Die Kirche ist berufen, das Reich Gottes zu verkünden und vorweg darzustellen (Amt 4). Die Kirche braucht Personen, die öffentlich und ständig dafür verantwortlich sind, auf ihre fundamentale Abhängigkeit von Christus hinzuweisen (Amt 8). Das Amt solcher Personen … ist konstitutiv für das Leben und Zeugnis der Kirche (Amt 8). Die ordinierten Amtsträger sind Repräsentanten Jesu Christi gegenüber der Gemeinschaft und verkünden seine Botschaft der Versöhnung (Amt 11). Die Präsenz der ordinierten Amtsträger erinnert die Gemeinschaft an die göttliche Initiative und an die Abhängigkeit der Kirche von Jesus Christus, der die Quelle ihrer Sendung und die Grundlage ihrer Einheit ist (Amt 12). Besonders in der eucharistischen Feier ist das ordinierte Amt der sichtbare Bezugspunkt der tiefen und allumfassenden Gemeinschaft zwischen Christus und den Gliedern seines Leibes (Amt 14). Die Autorität des ordinierten Amtsträgers ist begründet in Jesus Christus, der sie vom Vater empfangen hat und der sie durch den Heiligen Geist im Akt der Ordination verleiht (Amt 15). Die Autorität Christi ist einzigartig (Amt 16). Die Autorität Christi ist eine Autorität, die von der Liebe für »die Schafe, die keinen Hirten haben«, geleitet wird. Autorität in der Kirche kann nur authentisch sein, wenn sie diesem Modell zu entsprechen sucht (Amt 16). Weil Jesus kam, »um zu dienen«, bedeutet ausgesondert werden, zum Dienst geweiht werden (Amt 15). Der auferstandene Herr ist der wahre Ordinator (Amt 39). (a) Alle Ämter in der Kirche haben ihren Auftrag und ihre Vollmacht vom gekreuzigten und auferstandenen Herrn. Christus selbst ist der Ordinator. Er befähigt Menschen durch den Heiligen Geist, wählt sie aus und beruft sie. Dies muss zwar nicht bedeuten, dass alle spezifischen Formen der Ämter, wie sie sich in den Kirchen geschichtlich entwickelt haben, direkt auf die Einsetzung Christi zurückzuführen sind, wohl aber muss sich alle Amtsausübung in der Kirche kritisch am Beispiel seines Dienstes messen lassen. Seine Autorität ist einzigartig. Sie ist eine Autorität der Liebe und des Dienstes. Die Art, in der er das Evangelium verkündet und gelebt hat, enthält zugleich die authentische Beschreibung des inhaltlichen Auftrags aller kirchlichen Ämter. Wir stimmen der Aussage zu, dass es für den Dienst der Kirche notwendig ist, dass sie ständig auf die fundamentale

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Abhängigkeit von Christus hingewiesen wird und dadurch einen Bezugspunkt ihrer Einheit erhält. (b) Diese Aufgabe des Amtes gegenüber Leben und Handeln der Kirche sowie ihre Bedeutung für ihre Einheit ist in unserer Kirche – auch in ihrer kritischen Funktion – nicht immer deutlich genug gesehen. (c) In diesem Zusammenhang ergeben sich für uns aber auch wichtige Bedenken. Wohl sind Ämter für die Erfüllung des Auftrages der Kirche erforderlich, und es ist sinnvoll, für diese Ämter zu ordinieren. Grundlage der Kirche jedoch sind allein Wort und Sakrament. Nicht Taufe, Eucharistie und Amt und Amtsinhaber sind für uns Bezugspunkt der Einheit, sondern das, was Christus uns durch ihre Verkündigung schenkt. In der Ausübung des Amtes geschieht so Vergegenwärtigung, Repräsentation Christi. Aber die Amtsinhaber werden nicht zu Repräsentanten Christi. Einer Verselbständigung des Amtes gegenüber Wort und Sakrament können wir nicht zustimmen. 2.

Gemeinde und Amt

In einer zerbrochenen Welt beruft Gott die ganze Menschheit, sein Volk zu werden (Amt 1). Die Kirche ist berufen, das Reich Gottes zu verkünden und vorweg darzustellen. Sie verwirklicht dies durch die Verkündigung des Evangeliums an die Welt und durch ihre Existenz als Leib Christi (Amt 4). Die Kirchen müssen ihren Ausgangspunkt bei der Berufung des ganzen Volkes Gottes nehmen (Amt 6). Alle Glieder der Kirche … sind berufen, ihren Glauben zu bekennen und von ihrer Hoffnung Rechenschaft abzulegen (Amt 4). Alle Glieder sind berufen, ihr ganzes Sein »als ein lebendiges Opfer« darzubringen und für die Kirche und das Heil der Welt zu beten. Die ordinierten Amtsträger stehen wie alle Christen sowohl zum Priestertum Christi als auch zum Priestertum der Kirche in Beziehung (Amt 17). Der Heilige Geist verleiht der Gemeinde verschiedene Gaben. Sie werden für das gemeinsame Wohl des ganzen Volkes gegeben und äußern sich in Werken des Dienstes innerhalb der Gemeinschaft und an der Welt (Amt 5). Jesus berief die Zwölf zu Repräsentanten des erneuerten Israel. In diesem Moment vertreten sie das ganze Volk Gottes und üben gleichzeitig eine besondere Rolle inmitten dieser Gemeinschaft aus. Man kann sagen, dass die Apostel sowohl die Kirche als Ganze als auch die Personen in ihr, die mit spezifischer Autorität und Verantwortung betraut sind, vorweg abbilden (Amt 10). Einerseits bedarf die Gemeinschaft des ordinierten Amtsträgers. Andererseits kann das ordinierte Amt nicht abgesehen von der Gemeinde existieren. Die ordinierten Amtsträger können ihre Berufung nur in der und für die Gemeinschaft erfüllen. Sie bedürfen der Anerkennung, Unterstützung und Ermutigung durch die Gemeinschaft (Amt 12). Autorität hat den Charakter der Verantwortung vor Gott und wird in Zusammenarbeit der ganzen Gemeinschaft ausgeübt (Amt 15). Ordinierte Amtsträger dürfen weder Autokraten noch unpersönliche Funktionäre sein … Sie sind an die Gläubigen in wechselseitiger Abhängigkeit und Zusammenarbeit gebunden. Nur wenn sie Antwort und Anerkennung der Gemeinschaft suchen, kann ihre Autorität vor Entstellungen durch Isolation und Herrschaft geschützt werden (Amt 16). Die Ordination findet innerhalb einer Gemeinschaft statt, die eine bestimmte Person öffentlich anerkennt (Amt 15). Genau genommen bezeichnet die Ordination ein Handeln Gottes und der Gemeinschaft, durch das die Ordinierten durch den Geist für ihre Aufgabe und durch die Anerkennung und Gebete der Gemeinde getragen werden (Amt 40). Durch die Einordnung der Ordinationshandlung in den Zusammenhang des

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Gottesdienstes und insbesondere der Eucharistie wird das Verständnis der Ordination als ein Akt der gesamten Gemeinschaft und nicht eines bestimmten Standes in ihr oder des einzelnen Ordinierten bewahrt (Amt 41). (a) Zur Überwindung der Unterschiede müssen die Kirchen ihren Ausgangspunkt bei der Berufung des ganzen Volkes Gottes nehmen. Diese Berufung setzt die bleibende Erwählung Israels voraus. Alle Glieder sind berufen, sich als ein »lebendiges Opfer« zu bringen. Der Auftrag der Kirche, dem das Amt dienen soll, ist dem ganzen Volk Gottes erteilt. (b) Diese Darstellung der biblischen Sicht findet unsere Zustimmung. Wir versuchen, in unserer Kirche durch eine presbyterial-synodale Ordnung diesem Bild gerecht zu werden. Wir fragen uns freilich auch selbst, ob nicht auch bei uns durch die Heraushebung von Amtsträgem eine Struktur gefördert wird, die dem widerspricht. Wir sehen, dass in anderen Kirchen der Zusammenhalt als Volk Gottes und als Leib Christi eine viel stärkere Rolle spielt als in der evangelischen Tradition. Wir fühlen uns durch das biblische Motiv herausgefordert zum ökumenischen Gespräch. (c) Im vorliegenden Text finden wir den genannten richtigen biblischen Ansatz nicht durchgehalten. Gemeinde und Amt stehen einander nicht wirklich gegenüber. Das wird an vielen Einzelheiten deutlich: Die Verantwortung der Gemeinde für die Verkündigung wird nicht erwähnt. Die Gemeinde erkennt zwar an, unterstützt und ermutigt die Amtsträger, sie hat ihnen gegenüber aber keine kritische Rolle. Das ordinierte Amt wird als der Bezugspunkt zwischen Christus und den Gliedern seines Leibes gesehen, es hat also eine Mittlerfunktion. Kollegialität besteht nur innerhalb des Kollegiums der Ordinierten. Synodale Zusammenkünfte werden nur am Rande erwähnt. Leitung der Feier des Herrenmahls und Gemeindeleitung werden so miteinander verknüpft, dass sie nur den Ordinierten vorbehalten sind. An manchen Stellen stehen sich »Kirche« und »Gemeinschaften« gegenüber. Der Begriff der Gemeinde fehlt, so dass die Kirche als Amtskirche erscheint. In dieser Darstellung vermissen wir die in Lausanne herausgestellten Aspekte der presbyterialen und kongregationalen Kirchenverfassung, die in unserer Kirche eine bewährte Tradition haben. Dazu zählt auch das Amt des Gemeindeältesten (siehe Artikel 1 von »Emden 1571«; vgl. auch »Barmen IV«, 1934). Dem entspricht es, dass der Begriff »Presbyter« nur auf Ordinierte angewendet wird. 3.

Amt und Ämter

Der Heilige Geist verleiht der Gemeinde verschiedene und einander ergänzende Gaben (Amt 5). Alle Glieder sind berufen, mit Hilfe der Gemeinschaft die Gaben zu entdecken, die sie empfangen haben (Amt 5). Das ordinierte Amt, das selbst ein Charisma ist, darf nicht zu einem Hindernis für die Vielfalt der Charismen werden (Amt 32). Die Sendung Christi muss in unterschiedlichen politischen, sozialen und kulturellen Zusammenhängen verwirklicht werden. Um diese Sendung glaubwürdig zu erfüllen, sind angemessene Formen des Zeugnisses und Dienstes in jeder Situation zu suchen (Amt 4). Die Existenz der zwölf und anderer Apostel zeigt als solche schon, dass es bereits von Anfang an in der Gemeinschaft unterschiedliche Rollen gab (Amt 9). Die Rolle der Apostel als Zeugen für die Auferstehung Christi ist einzigartig und unwiederholbar. Daher besteht ein Unterschied zwischen den Aposteln und den

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ordinierten Amtsträgern, deren Ämter auf denen der Apostel gründen (Amt 10). Das Wort Charisma bezeichnet die Gaben, die der Heilige Geist jedem Glied des Leibes Christi verleiht … Das Wort Dienst im weitesten Sinne bezeichnet den Dienst, zu dem das ganze Volk Gottes berufen ist ... Der Ausdruck »ordiniertes Amt« bezieht sich auf Personen, die ein Charisma empfangen haben und die die Kirche zum Dienst ernennt durch die Ordination, durch Handauflegung und Anrufung des Heiligen Geistes um Handauflegung. Die hauptsächliche Verantwortung des ordinierten Amtes besteht darin, den Leib Christi zu sammeln und aufzubauen durch die Verkündigung und Unterweisung des Wortes Gottes, durch die Feier der Sakramente und durch die Leitung des Lebens der Gemeinschaft in ihrem Gottesdienst, in ihrer Sendung und in ihrem fürsorgenden Dienst (Amt 13). Diese Aufgaben werden nicht ausschließlich durch das ordinierte Amt ausgeübt … Jedes Glied des Leibes kann an der Verkündigung und Unterweisung des Wortes teilhaben, kann zu sakramentalem Leben beitragen. Das ordinierte Amt erfüllt diese Funktion in repräsentativer Weise (Amt 13, Kommentar). Das Neue Testament beschreibt nicht eine einheitliche Amtsstruktur, die als Modell oder bleibende Norm für jedes zukünftige Amt der Kirche dienen könnte … Im 2. und 3. Jahrhundert bildete sich das dreifache Amt von Bischof, Presbyter und Diakon als Struktur für das ordinierte Amt der Kirche heraus (Amt 19). Der Bischof war Leiter der Gemeinde. Er wurde ordiniert und eingesetzt, um das Wort zu verkünden und die Feier der Eucharistie zu leiten. Er wurde von einem Kollegium von Presbytern und Diakonen umgeben. In diesem Kontext war das Amt des Bischofs ein Zentrum der Einheit innerhalb der ganzen Gemeinschaft (Amt 20). Das Neue Testament verwendet niemals die Ausdrücke »Priestertum« oder »Priester«, um das ordinierte Amt oder den ordinierten Amtsträger zu bezeichnen. Dieser Ausdruck bleibt einerseits dem einzigartigen Priestertum Jesu Christi vorbehalten und andererseits dem königlichen und prophetischen Priestertum aller Getauften ... In der alten Kirche wurden diese Ausdrücke allmählich dazu benutzt, das ordinierte Amt und den Amtsträger als Leiter der Eucharistie zu bezeichnen (Amt 17, Kommentar). Obwohl es keine einheitliche neutestamentliche Struktur gibt … könnte dennoch das dreifache Amt des Bischofs, Presbyters und Diakons heute als ein Ausdruck der Einheit, die wir suchen, dienen (Amt 22). Die Kirchen brauchen Personen, die in verschiedener Weise die Aufgaben des ordinierten Amtes zum Ausdruck bringen und ausführen in seinen diakonischen, presbyterialen und episkopalen Aspekten und Funktionen (Amt 22). Das ordinierte Amt sollte in einer persönlichen, kollegialen und gemeinschaftlichen Weise ausgeübt werden. Persönlich dadurch, dass auf die Präsenz Jesu Christi unter seinem Volk am wirksamsten durch eine Person hingewiesen werden kann, die ordiniert ist, um das Evangelium zu verkünden. Kollegial, denn es bedarf eines Kollegiums von ordinierten Amtsträgern. Das enge Verhältnis zwischen dem ordinierten Amt und der Gemeinschaft muss Ausdruck finden in einer gemeinschaftlichen Dimension, in der die Ausübung des ordinierten Amtes im Leben der Gemeinschaft verwurzelt sein muss (Amt 26). Das ordinierte Amt muss verfassungsmäßig oder kirchenrechtlich geordnet in der Kirche so ausgeübt werden, dass jede dieser drei Dimensionen angemessen Ausdruck finden kann (Amt 27). Die Kirche ist berufen, der Welt das Bild einer neuen Menschheit zu vermitteln. In Christus ist nicht Mann noch Frau. Frauen wie Männer müssen ihren Beitrag zum Dienst Christi in der Kirche entdecken. Die Kirche muss den Dienst erkennen, der von Frauen verwirklicht werden kann, ebenso wie den, der von Männern geleistet werden kann (Amt 18). (a) Das Neue Testament beschreibt keine einheitliche Amtsstruktur. Es findet sich eine Vielfalt von Formen. Sie entspricht der Vielfalt der verschiedenen Gaben, die der Geist

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der Gemeinde schenkt. Das Amt ist selbst ein Charisma, und es ist wichtig, dass es nicht zum Hindernis für die Vielfalt der Gaben wird. Jedes Charisma dient zur Sammlung und zur Auferbauung des Leibes Christi. Die in den Kirchen zum Teil gewachsene Amtsstruktur bedarf einer Reform, die die Dreigliedrigkeit und damit die Vielfalt der Gaben besser zum Ausdruck bringt. Zu dieser Reform gehört es auch, dass der Beitrag der Frauen zum Dienst Christi entdeckt wird. (b) Wir stimmen mit diesen Sätzen, hinter denen neutestamentliche Aussagen stehen, überein. Wir fragen uns, ob nicht in unserer Kirche das ordinierte Predigeramt eine Monopolstellung bekommen hat, die die Vielfalt der Gaben behindert. Wir halten es für notwendig, darüber nachzudenken, ob nicht auch zu anderen Ämtern in den Bereichen der Leitung und der Diakonie ordiniert werden sollte. Daraus würden sich neue Formen der Ämter ergeben. Die Diskussion über die Dreigliederung in Bischofs-, Presbyter- und Diakonen-Amt könnte zum Anstoß der Neuordnung der Ämter werden. Wir sehen keine biblischen Gründe, Frauen von der Ordination auszuschließen. Dementsprechend werden in unserer Kirche Frauen ordiniert. Wir sehen jedoch, dass Frauen in den leitenden geistlichen Ämtern noch nicht genügend vertreten sind. (c) Wir können im vorliegenden Text leider nicht erkennen, dass die genannten Ansätze konsequent befolgt werden. Von der Vielfältigkeit der Ämter, wie sie ausdrücklich erwähnt wird, geht der Text unvermittelt zu dem einen ordinierten Amt über, das geschichtlich gewachsen ist. Es ist dann nur noch von ihm allein die Rede. Als seine vornehmste Aufgabe wird die Leitung bei der Feier des Herrenmahls hervorgehoben und damit der Amtsbegriff auf das Priestertum eingeengt, obwohl zu Recht festgestellt wird, dass das Neue Testament diesen Ausdruck für das ordinierte Amt nicht verwendet. Die dreigliedrige Struktur des Amtes wird in Wirklichkeit als hierarchische beschrieben. Bischöfe, Presbyter und Diakone stehen in ihren Ämtern nicht nebeneinander, sondern sind einander untergeordnet. Im Bischofsamt fallen alle Aufgaben und Vollmachten zusammen. Es ist das eigentliche Amt der Kirche. Für die Ordination von Frauen werden aus der Exegese von Gal 3,28 keine Konsequenzen gezogen, sondern nur die unterschiedlichen Auffassungen nebeneinandergestellt. 4.

Geist und Amt

Der Heilige Geist vereinigt diejenigen, die Jesus Christus folgen, in einem einzigen Leib und sendet sie als Zeugen in die Welt (Amt 1). Der Geist beruft Menschen zum Glauben, heiligt sie durch viele Gaben, gibt ihnen Kraft, das Evangelium zu bezeugen, und befähigt sie, in Hoffnung und Liebe zu dienen. Der Geist erhält die Kirche in der Wahrheit und leitet sie trotz der Schwachheit ihrer Glieder (Amt 3). Der Geist ist der Geber unterschiedlicher Gaben, die das Leben der Gemeinschaft bereichern. Um ihre Wirksamkeit zu fördern, wird die Gemeinschaft manche dieser Charismen öffentlich anerkennen (Amt 32). Indem sie ordiniert, sorgt die Kirche unter der Eingebung des Heiligen Geistes für treue Verkündigung des Evangeliums und schlichten Dienst im Namen Jesu Christi. Die Handauflegung ist das Zeichen der Gabe des Geistes (Amt 39). Der Akt der Ordination durch Handauflegung der dazu Ernannten ist zugleich Anrufung des Heiligen Geistes (epiklesis), sakramentales Zeichen; Anerkennung der Gaben und Verpflichtung (Amt 41). Wenngleich die Wirkungen der Epiklese der Kirche von der Freiheit Gottes abhängen, ordiniert die Kirche im Vertrauen darauf, dass Gott

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in Treue zu seiner Verheißung in Christus sakramental in kontingente geschichtliche Formen menschlicher Beziehungen eingeht und sie für seine Zwecke benutzt. Ordination ist ein im Glauben vollzogenes Zeichen, dass die bezeichnete geistliche Beziehung gegenwärtig ist in, mit und durch die gesprochenen Worte, vollzogenen Handlungen und benutzten Formen (Amt 43). Da Ordination vor allem eine Aussonderung mit Gebet um die Gabe des Heiligen Geistes ist, ist die Autorität des ordinierten Amtes nicht als Besitz des Ordinierten zu verstehen (Amt 15). In Anerkennung des gottgegebenen Charismas des Amtes wird die Ordination für irgendeines der einzelnen ordinierten Ämter niemals wiederholt (Amt 49). Der Geist hält die Kirche in der apostolischen Tradition bis zur Vollendung der Geschichte im Reich Gottes. Apostolische Tradition in der Kirche bedeutet Kontinuität in den bleibenden Merkmalen der Kirche der Apostel (Amt 34). Innerhalb dieser apostolischen Tradition besteht eine apostolische Sukzession des Amtes, die der Kontinuität der Kirche in ihrem Leben in Christus und ihrer Treue zu den von den Aposteln weitergegebenen Worten und Taten Jesu dient … Es sollte ein Unterschied zwischen der apostolischen Tradition der ganzen Kirche und der Sukzession des apostolischen Amtes gemacht werden (Amt 34, Kommentar). Die Sukzession ist ein Ausdruck der Beständigkeit und daher Kontinuität von Christi eigener Sendung, an der die Kirche teilhat. Innerhalb der Kirche hat das ordinierte Amt eine besondere Aufgabe, den apostolischen Glauben zu bewahren und zu vergegenwärtigen. Die geordnete Weitergabe des ordinierten Amtes ist daher ein wirksamer Ausdruck der Kontinuität der Kirche durch die Geschichte (Amt 35). Das Zeichen der apostolischen Sukzession weist daher nicht nur auf die historische Kontinuität hin, es manifestiert auch eine gegenwärtige geistliche Wirklichkeit (Amt 36, Kommentar). (a) Der Heilige Geist beruft und heiligt Menschen, schenkt ihnen verschiedene Gaben, um das Evangelium zu bezeugen und Menschen zu dienen. Er erhält die Kirche in der Wahrheit, indem er sie in der Kontinuität der apostolischen Verkündigung des Evangeliums bewahrt. Diese apostolische Tradition der Kirche als ganzer ist mit Amt 34 und Amt 35 von der bischöflichen Sukzession zu unterscheiden. Sie findet sich auch in Kirchen, die an der bischöflichen Sukzession nicht festgehalten haben. Ordination geschieht als Anrufung des Geistes im Vertrauen auf Gottes Verheißung. In Amt 40 wird so die Ordination als Handeln Gottes und der Gemeinde angemessen beschrieben. (b) Dankbar nehmen wir die Betonung des epikletischen Charakters der Ordination auf, der in der Praxis unserer Kirche nicht immer ausreichend deutlich wurde. Wir begrüßen die Aufforderung, apostolische Tradition primär als Kontinuität der Verkündigung in Wort und Sakrament und im Dienst der Liebe zu verstehen. In diesem Zusammenhang könnte bischöfliche Sukzession als ein Bestandteil und Ausdruck der Apostolität der Kirche als ganzer begriffen werden, wenn sie als Zeichen, jedoch nicht als eine Garantie der Kontinuität und Einheit angesehen wird (Amt 38). (c) Darum vermögen wir nicht einzusehen, dass die Einheit der Kirche durch die Annahme der bischöflichen Sukzession am besten gefördert würde. In Amt 39, Kommentar, wird die Ordination durch den Bischof besonders bevorzugt. Diese starke Betonung des Bischofsamtes lässt uns fragen, ob der bischöflichen Sukzession nicht doch eine weitergehende als die in Amt 35 und Amt 36 beschriebene Bedeutung zugemessen wird. Einer Auffassung, die die apostolische Tradition durch die bischöfliche Sukzession sicherstellen will, können wir jedoch nicht zustimmen. In der Beschreibung der Ordination haben wir

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Bedenken gegen den Begriff »sakramentales Zeichen«, soweit er als Ausdruck für den »Charakter indelebilis« verstanden werden könnte. So ist für uns auch die Handauflegung nicht »Gabe des Geistes«, sondern Zeichen für die Verheißung des Geistes. Der Geist weht, wo er will, und eine andere Gewissheit als die des Glaubens, der der Verheißung traut, ist uns nicht gegeben. 5.

Wege zur gegenseitigen Anerkennung

Alle Kirchen müssen die Formen des ordinierten Amtes und das Maß, in dem sie seinen ursprünglichen Intentionen treu sind, überprüfen (Amt 51). Kirchen können ... ihre jeweiligen ordinierten Ämter anerkennen, wenn sie sich gegenseitig gewiss sind, das Amt von Wort und Sakrament weiterzugeben in Kontinuität mit der apostolischen Zeit. Der Akt der Weitergabe sollte in Übereinstimmung mit der apostolischen Tradition geschehen, die die Anrufung des Heiligen Geistes und die Handauflegung einschließt (Amt 52). Kirchen, die die bischöfliche Sukzession bewahrt haben, werden gebeten, … den apostolischen Inhalt des ordinierten Amtes in Kirchen anzuerkennen, die eine solche Sukzession nicht bewahrt haben – Kirchen ohne bischöfliche Sukzession ... werden gebeten zu erkennen, dass die Kontinuität mit der Kirche der Apostel durch die sukzessive Handauflegung der Bischöfe tiefen Ausdruck findet (Amt 53). (a) Wir stimmen damit überein, dass auf dem Weg zur gegenseitigen Anerkennung alle Kirchen ihre Formen des ordinierten Amtes überprüfen müssen. (b) Wir haben in den vorhergehenden Abschnitten jeweils unter b) angedeutet, in welcher Richtung diese Überprüfung in unserer Kirche erfolgen müsste: Erkennen der kritischen Funktion des Amtes, Verstehen der Sukzession als Zeichen für Kontinuität, Überwindung einer Monopolstellung des ordinierten Predigtamtes. (c) Wir vermissen den Hinweis, dass auch die bischöfliche Sukzession in der gleichen Weise hinterfragt werden muss und nicht fraglos akzeptiert werden kann. In Amt 53 b wird nicht deutlich, ob mit Anerkennung der bischöflichen Sukzession auch die Übernahme einer sakramentalen Bischofsweihe gefordert ist, wie sie in der katholischen und orthodoxen Kirche geübt wird. Einer solchen vermöchten wir nicht zuzustimmen. Abschließende Bemerkungen Mit dieser Stellungnahme sind die ersten drei vom Ökumenischen Rat der Kirchen gestellten Fragen beantwortet. In Beantwortung der vierten Frage stimmt die Landessynode zunächst den Gesichtspunkten der EKD (EKD Texte 7, Seite 19) zu, die folgenden Wortlaut haben: 1. Wir bitten die Kommission, nach dem Eingang der erbetenen Antworten den Kirchen eine Übersicht zuzuleiten, aus der ersichtlich wird: (a) in welchen Aussagen ein Konsens sich abzeichnet; (b) hinsichtlich welcher im Text noch differierender Aussagen sich weitere Konvergenzen erkennen lassen;

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(c) hinsichtlich welcher Aussagen offenbar keine Übereinstimmung besteht und welches die gegensätzlichen Standpunkte bzw. Beweggründe sind. 2. Die Kommission sollte ihrerseits Vorschläge unterbreiten, auf welche Weise noch bestehende Divergenzen auf dem Wege zur Kirchengemeinschaft überwunden werden können. Es scheint uns wichtig, dass das Ziel einer gegenseitigen Anerkennung und immer volleren Gemeinschaft der Kirchen nicht aus dem Auge verloren wird. 3. Gerade die vorliegenden Konvergenzerklärungen über Taufe, Eucharistie und Amt haben uns immer wieder erkennen lassen, dass sie einer grundlegenden Aussage über den gemeinsamen Glauben bedürfen, in dem die Kirchen wurzeln. Deshalb möchten wir die Kommission ermutigen, das neue Studienprojekt über ein »gemeinsames Aussprechen des apostolischen Glaubens heute« mit Nachdruck anzugreifen und die Kirchen daran zu beteiligen. Dabei bedarf auch die Frage der Klärung, unter welchen Voraussetzungen Zeugnisse des Glaubens in konkreten Herausforderungen so formuliert werden können, dass sie die Einheit des Glaubens der Gesamtkirche nicht gefährden (status confessionis und ethische Häresie); und fügt hinzu: 4. Durch die Konvergenzerklärungen fühlen wir uns ermutigt, unsere Gemeinden mit deren Absichten zu befassen und das Gespräch weiterzuführen. Der Synodale Twardella weist noch darauf hin: 1. Bei der Weitergabe des Textes an die Gemeinden soll von der Aufnahme und nicht von der Annahme des Textes gesprochen werden. 2. Für die Arbeit am Text in den Gemeinden soll auch der englische Urtext Beachtung finden. 3. Bei der Weiterarbeit an den Texten sollen die Gemeindepfarrer die aus dem Bereich der orthodoxen und anglikanischen Kirchen stammenden Traditionen und Begriffe erläutern. Der Präses gibt seiner Freude und Dankbarkeit Ausdruck, dass so aufgeschlossen über das Lima-Papier gesprochen worden ist. Er dankt allen, die an der Vorbereitung dieser Vorlage mitgewirkt haben, besonders dem Ständigen Theologischen Ausschuss.

III.1.3 Einleitungsreferat zu den Konvergenzerklärungen der Kommission für Glaube und Kirchenverfassung des Ökumenischen Rates der Kirchen Enno Obendiek LIMA »Der Ruf zur Einheit ist wie der Lauf eines Stromes, er hört nicht auf. Er ist von Anfang an in jeder Generation auf immer neue Weise laut geworden. Er ist heute in besonderer Weise an uns gerichtet: Die Stimme des Geistes Gottes an die getrennten Kirchen, der Ruf des Hirten an seine verstreute Herde.« Mit diesen Sätzen hat am 3. August 1927 Bischof Charles Brent in Lausanne die 1. Sitzung der ökumenischen Kommission für Glaube und Kirchenverfassung eröffnet. Nach rund 60 Jahren ökumenischer Geschichte und damit auch Kirchengeschichte haben diese

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Sätze nichts an Dringlichkeit eingebüßt. Sie sind modern, wichtig und christlich. Derjenige, der den Ruf des Hirten an seine verstreute und manchmal auch sich streitende Herde zur Einheit nicht hört, verletzt nicht nur die anderen Christen, sondern Christus selbst. Was immer die Christen und die christlichen Kirchen sich unter der Einheit der Christen vorstellen – sie werden nicht vergessen, dass der Ruf zu dieser Einheit nicht zuerst von ihnen kam, er kommt von Christus. Und darum hören wir ihn. Die Vorlage der Ökumene zu »Taufe, Eucharistie und Amt«, nach dem Ort der letzten Beschlussfassung auch »Lima-Dokument« genannt, versteht sich als eine Einladung, diesen Ruf des auferstandenen Christus zur Einheit neu zu hören. Es ist zugleich die Einladung, unser in den vergangenen Jahren etwas nervöses und aufgekratztes Verhältnis zur Ökumene neu zu entdecken. Sie, die Ökumene, ist bis auf die ersten Seiten der säkularen Presse bekannt, um nicht zu sagen berüchtigt geworden durch eine Theologie und eine Praxis, die die einen als eine einseitig politische bis hin zur »DC-Theologie« bezeichneten, während andere darin die Nachfolge Jesu entdeckten. Aber unsere hastige Antwort auf solche praktischen Vorgaben der Ökumene könnte Ausdruck eines größeren Problems sein, das sich an dieser Stelle besonders deutlich zeigt. Es könnte sein, dass unsere leidenschaftliche Reaktion, die positive und die ablehnende, auf praktische Vorgaben der Ökumene die Kurzatmigkeit unserer theologischen Diskussion und Position insgesamt offenbart, nach der wir es heute fertigbringen, um ein anderes Beispiel zu nennen, ebenso kurzatmig und hastig mit der Barmer Erklärung Atomwaffen abzulehnen und zu befürworten, ebenso, wie wir mit der Geschichte vom barmherzigen Samariter den Sonderfonds der Ökumene einklagen und verweigern können. Über solcher Aufregung kann übersehen und vergessen werden, dass andere Christen in der Ökumene in unauffälliger Arbeit zu entdecken suchten, dass und wie die Christenheit schon jetzt gemeinsam glaubt, gemeinsam spricht und gemeinsam handelt. Das freilich ist wahr: Wer sich auf Ökumene einlässt, der lässt sich auf andere Christen ein, auf andere Kirchen, Theologien, Ordnungen und Geschichte und darum auch auf andere Folgen alles dessen. Es sind in vielen Dingen noch getrennte Christen, die w e g e n dieser Trennung und gegen diese Trennung zur Ökumene ja sagen. Sie wollen nicht länger die Trennung des Christus hinnehmen. Eine der vielen Möglichkeiten, die Überwindung dieser Trennung zu verhindern oder gar zu verweigern, ist die Behauptung – und das entsprechende Verhalten –, allein im Besitz der Wahrheit zu sein und nur denen den Zugang zu dieser Wahrheit zu eröffnen, die so werden, wie wir sind, wir Baptisten, wir Orthodoxen, wir Protestanten. So lässt sich trefflich reden, kritisieren, belehren und überheblich schweigen, aber nur sehr schwer hören. So lässt sich der andere nicht wahrnehmen, der Christ aus der Karibik oder aus Asien, der nicht gewillt ist, unsere 2000jährige Geschichte der christlichen Kirche in Europa – jenen (nach Goethe) »Mischmasch aus Irrtum und Gewalt« – zu wiederholen, und der nicht bereit ist, unsere weit über eine Verlobung hinausgehende Bindung an die abendländische Philosophie abzusegnen. Niemand kann von diesen Menschen verlangen, dass sie sich zweimal bekehren, einmal zu Christus und dann zu einer ganz bestimmten, möglichst weißen Theologie. Erst nachdem wir gehört haben, wie und wer andere Christen sind, werden wir reden können und ganz gewiss auch kritisieren dürfen. Das Ziel dieses Hörens, Redens und unserer Kritik aber kann nicht die Heimkehrökumene sein, die die Einheit der Kirche erst dann feststellt, wenn etwa reformatorische Botschaft und Ordnung Orthodoxie, Anglikanismus und Freikirche verdrängt hat. Hören heißt hier, den anderen kennenler-

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nen, ihn sehen, ihn anerkennen, damit wir im Glauben wachsen und in der Erkenntnis zunehmen, beides wird im Neuen Testament hoch gepriesen. Wer als etwas tief gekühlter Mitteleuropäer am dramatischen Ablauf eines orthodoxen Gottesdienstes oder am Gottesdienst unserer schwarzen Brüder und Schwestern teilnimmt, die – wie wir es singen, aber nicht tun – Gott »mit Herzen, Mund und Händen« loben, empfindet vieles als fremd. Aber: Was uns fremd erscheint, ist damit noch nicht falsch. Sich auf diese Reise zu begeben, das Volk Gottes in für uns fremden Gegenden und Formen zu entdecken, auch dazu ist Lima eine Einladung. Ein Ökumeniker hat es dem Sinn nach so gesagt: Die Frage, die wir zu stellen und die wir zu hören haben, kann nicht lauten: Was fehlt den anderen von uns? Sie kann nur lauten: Wie bleiben wir mit den anderen bei Christus? Mit dieser Frage, die uns und anderen zu stellen ist, ist eine vordergründige Vorstellung von Einheit der Kirchen und in der Kirche verändert. Es ist jene Vorstellung von (politischer oder soziologischer) Einheit, die die geschlossene Institution oder gar Fraktion will, weil die in diesem Sinn einheitliche Kirche im weiten Bereich des Politischen angeblich mehr Macht hat, sich besser durchsetzen kann, mehr Respekt einflößt, besseres Gehör erwarten darf. Sie macht nach außen ein schlechtes Bild, wenn sie uneins ist. Nicht zuletzt diese Erkenntnis ist am Anfang dieses Jahrhunderts mit ein Motiv gewesen, Ökumene zu wollen – was im Raum des Politischen sinnvoll ist und sein muss, kann die große Versuchung für die Kirche sein, Einheit nicht zu wollen, weil Christus sonst getrennt ist, sondern weil die einige Kirche in der Öffentlichkeit einfach besser dasteht. So aber muss, angesichts der erdrückenden Realität der Vielzahl getrennter und manchmal sich bekämpfender Kirchen, das Ziel der Einheit weit hinaus geschoben werden. Wie kann man im Ernst glauben, diese Art von Einheit erreichen zu können? Das macht Einheit als Ziel gesetzlich, das macht angesichts der Aussichtslosigkeit auch Einheit als Ziel bedrückend und programmiert Enttäuschung. Es ist auch jene Vorstellung von Einheit, die innerhalb der Kirche manchmal mit moralischer Entrüstung, sehr oft mit angefochtenem Glauben nicht zulassen will, dass Christen sich streiten. Moralische Entrüstung ist es immer dort, wo Rechthaberei Belehrung austeilt. Angefochtener Glaube ist es da, wo ernsthafte Christen in diesem Streit den Verlust der Liebe und der Verweigerung des Friedens entdecken. Das ist gegen den Glauben und gegen den Willen Christi, der gerade das zum Ausweis der Christen machte, »dass jedermann erkennen wird, dass ihr meine Jünger seid, so ihr Liebe untereinander habt« (Joh 13,55), und die Menge der Gläubigen in der Apostelgeschichte war »ein Herz und eine Seele« (Apostelgeschichte 4, 32). Wer unter der Uneinigkeit der Christen nicht leidet, lebt für sich, und das ist in der Bibel nicht vorgegeben. Aber auch diese Vorstellung von Einheit, nimmt man die Realitäten in den christlichen Gruppen in unseren Gemeinden, Kreissynoden und in unserer Landessynode ernst, könnte als ein fernes Ziel bedrückend bleiben und Wahrheit und Verheißung des schon gemeinsamen Glaubens verdunkeln. Schließlich hat die Ökumene selbst die Frage nach der Einheit erschwert, aber auch realistischer gemacht dadurch, dass sie die Existenz der sogenannten nichttheologischen Faktoren auf ihrer Konferenz in Lund 1952 ausdrücklich in die Diskussion eingebracht hat. Sie hat darauf aufmerksam machen wollen, dass die Unterschiede der Kirchen nicht nur in sogenannten objektiven Lehrsätzen, in unterschiedlichen Glaubensaussagen, in für den jeweils anderen fremden Dogmen festzumachen sind, sondern dass Kirchen auch bestimmt sind in ihrer Gestalt und in ihren Äußerungen durch Geschichte, Landschaft und Kultur des Volkes, in dem sie leben. Die Geschichte des Protestantismus in Deutschland ist nicht zu denken ohne

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etwa die Geschichte Preußens, in Widerspruch, in Zustimmung und in wechselseitiger historischer Bedingung. Diese nichttheologischen Faktoren sind damit nicht schlecht oder falsch, sondern sie werden als tatsächlich vorhanden hingestellt. Es ist mit ihnen zu rechnen; weil diese Bedingungen nicht aufzuheben sind, kann das Ziel der Einheit aller Christen nicht die Uniformität sein. Wenn so die politische, fraktionelle Einheit, die Abwesenheit binnenkirchlicher Konflikte und die – freilich illusionäre – Aufhebung soziokultureller Faktoren die Voraussetzung der Einheit der Kirche wären, dann wäre der Ruf nach Einheit der Kirche nicht ein theologischer, sondern ein politischer Faktor. Es wäre ein weltlicher Wunsch, ein Wunsch nach persönlichem Erfolg, der von Menschen zu machen wäre und nach aller Erfahrung nicht machbar ist. Aber wer sich auf Ökumene einlässt, lässt sich darauf ein, dass solche falschen Vorstellungen verändert werden zu Gunsten einer Realität von Einheit, die in Christus vorgegeben ist. Wer sich auf Ökumene einlässt, macht nicht die Einheit der Kirchen, sondern entdeckt die schon vorgegebene, schon vorhandene Einheit der Kirchen. Sie liegt nicht in der Zustimmung der Kirchen zueinander. Sie liegt in der Zustimmung der Christen zu Christus. Deshalb kann das Lima-Dokument in seinem Vorwort sagen: »Indem sie die Streitigkeiten der Vergangenheit hinter sich lassen, haben die Kirchen begonnen, viele verheißungsvolle Konvergenzen in ihren gemeinsamen Überzeugungen und Perspektiven zu entdecken. Diese Konvergenzen geben die Gewissheit, dass die Kirchen trotz sehr unterschiedlicher theologischer Ausdrucksformen in ihrem Verständnis des Glaubens vieles gemeinsam haben.« Wir werden unsere idealistische und darum entmutigende Vorstellung von Einheit verändern müssen, nicht deshalb, weil sie in jenem vordergründigen Sinn nicht zu erreichen ist und wir deshalb allen Grund haben zu resignieren. Im Gegenteil, wir werden uns deshalb ändern müssen, weil wir die schon vorgegebene Einheit der Christen und der Kirchen im Glauben an Christus zu entdecken haben. Das ist eine bessere, tragfähigere, fundamentalere, geistlichere Einheit, als wir sie je herstellen können. Wir leben von dieser vorgegebenen Einheit bereits jetzt in unseren Gemeinden, in unseren Synoden, in unserer Landeskirche. Die in der jüngsten Vergangenheit kontrovers, manchmal auch laut geführte Debatte um den Frieden etwa hat gezeigt, dass die Einheit in unserer Kirche trotz der Unterschiede, die nicht nur im klassisch-konfessionellen Bereich zwischen reformiert und lutherisch beruhen, immer noch tragfähiger ist, breiter ist, realer ist, als viele gefürchtet und manche erwartet haben. Das Lima-Dokument möchte uns einladen, weit über unsere eigenen Grenzen hinaus andere Christen und andere Kirchen in dieser in Christus vorgegebenen Einheit zu entdecken. Die Frage kann also hier nicht lauten: Wie bringen wir die anderen zu der Einheit der Kirchen, wie sie uns vorschwebt? Sie muss lauten: Wo können wir heute schon Elemente der Einheit entdecken, die als große Verheißung für die ganze Christenheit nach wie vor gilt? Schließlich sei die Frage erlaubt, ob uns die Entdeckung dieser Einheit auch dadurch versperrt wird, dass wir die Frage nach der Einheit immer bedingungsweise gekoppelt haben mit der Frage nach der Wahrheit, gut deutsch nach dem Motto »alles oder nichts«. In vielen Situationen und in vielen Urteilen scheint das eine auf Kosten des anderen zu gehen, die Einheit auf Kosten der Wahrheit oder die Wahrheit auf Kosten der Einheit. Die mühevolle Arbeit, die Evangelische Kirche in Deutschland zu einer größeren Einheit zu bringen, ist vor einigen Jahren daran gescheitert, dass kurz vor Einlaufen in die Zielgerade ultimativ verlangt wurde, erst die theologischen Fragen restlos zu klären, ohne sie

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könne es keine Einheit geben. Unterstellt, es ginge denen, die auf die Wahrheit pochen, nicht um Rechthaberei, unterstellt auch, in unserem innerprotestantischen Gespräch, auch in unserem Gespräch auf dieser Landessynode, ist die Wahrheit noch nicht für alle Fragen und für alle Zeiten gefunden, wenn Luther oder Calvin zitiert werden, unterstellt also, die Großen und die Kleinen in dieser Kirche könnten geirrt haben oder irren und die Geschichte der Kirche Christi habe weit vor der Reformation begonnen: Müssten wir dann nicht eine Vorstellung von Wahrheit entdecken, die etwas anderes ist als die Verteidigung eines Territoriums? Müssten wir nicht eine Wahrheit entdecken, die den anderen einlädt, statt ihn auszuladen, die frei macht, statt den anderen zu belasten, die Anerkennung einschließt und nicht nachträglich die Anerkennung zu unseren Gunsten fordert? Könnte es sein, dass unsere Reihenfolge »erst die Wahrheit, dann die Einheit«, falsch, weil subjektiv, eigennützig, egoistisch und nach den Regeln der Welt ist, also die theologische Erkenntnis lauten könnte: Nur in der Einheit wird auch die Wahrheit sichtbar und erkannt? Wir werden die Frage nach der Wahrheit nicht nivellieren. Pilatus mit seiner nihilistischrhetorischen Frage ist keine Möglichkeit. Aber wir werden uns trennen müssen von einer Vorstellung von Wahrheit, die tote Richtigkeiten anbietet und nicht mehr betroffen macht. Christus ist die Wahrheit, das sagt die Bibel und sie gibt uns damit einen großen Satz, der von uns interpretiert, »übersetzt« werden muss. Aber wenn wir ihn in dieser biblisch-elementaren Form bei unseren Beratungen vor Augen hätten, wenn wir ihn bei der Begegnung m i t anderen Christen und i n anderen Christen entdecken würden, würde unsere Frage anders lauten. Sie kann in dem Gespräch mit anderen Kirchen und Christen nicht mehr lauten: Wer oder wo ist die wahre Kirche? Sie kann nur noch lauten: Wie wird Kirche wahr? Dieser Frage nachzugehen, ist die Einladung und die Absicht des Lima-Dokumentes. Seit 60 Jahren bemüht sich die Ökumene in ihrer Abteilung für Glaube und Kirchenverfassung, die Einheit in Taufe, Abendmahl und dem Verständnis des Amtes zu entdecken. Auf allen Konferenzen der Kommission für Glaube und Kirchenverfassung kamen diese Themen in Variationen vor, so 1927 in Lausanne »Geistliches Amt in der Kirche und die Sakramente«, 1937 in Edinburgh »Amt und Sakramente«, 1952 in Lund »Interkommunion«, 1963 in Montreal »Das Erlösungswerk Christi und das Amt seiner Kirche«. Diese Themen standen am Anfang, und sie erbitten heute unsere Stellungnahme. Es hat viele Jahre lang eine stille, gründliche, seriöse und von nur wenigen beachtete theologische Arbeit gegeben, die mehr gewollt hat als die simple und unkritische Mischung unendlich vieler christlicher Standpunkte zu einem für alle tragbaren leidlichen Kompromiss. Den Verdacht, man habe sich unter den rund 120 Theologen aus der gesamten Ökumene, einschließlich einiger Vertreter der römisch-katholischen Kirche mit vollem Stimmrecht, 1982 in Lima auf den kleinsten gemeinsamen Nenner geeinigt, diesen Verdacht legt die Selbstbezeichnung des Lima-Dokumentes als Konvergenzpapier nahe. Der Vorläufer dieses Dokumentes, das Accra-Papier von 1974, nannte sich noch ein Konsens-Dokument. Jetzt hat man sich etwas zurückgenommen, man entdeckt sich gemeinsam auf einem Weg, macht Station auf diesem Weg, schaut zurück auf die Strecke, die zurückgelegt ist, und nach vorwärts auf das Ziel zu einem hoffentlich eines Tages mit gutem Gewissen so zu nennenden Konsens. Das Lima-Dokument ist insofern bescheiden, es ist keine Erpressung, es wird nicht aufgezwungen. Das wird schon dadurch deutlich, dass in seinem Text nicht nur die in Lima von allen gemeinsam verabschiedeten Stücke enthalten sind, sondern mit der Überschrift

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»Kommentar« jeweils auch die Minderheitsvoten, über die es noch zu diskutieren gilt. Noch haben die Kirchen nicht alles gemeinsam, noch ist das Ende des Weges nicht zu erkennen, und darum ist es auch eine falsche Erwartung zu glauben, im Lima-Dokument stünde alles, was theologisch überhaupt zu den Themen Taufe, Herrenmahl und Amt gesagt werden könnte. Die Messlatte einer eigenen kompletten Dogmatik wird man hier nicht anlegen dürfen, weil Lima selbst keine Dogmatik anbietet, sondern den Ausgangspunkt bei dem nimmt, was alle Christen, wenn auch in tausend verschiedenen Formen, immer getan haben und immer tun werden, beim Gottesdienst. Das ist das Ausgangsdatum, das ist das, was Christen verbindet, das ist das Ziel ihrer Überlegungen, das ist das Zentrum von Kirche. Es wird uns nicht schwer fallen, beim Lesen dieses Dokumentes Defizite und Fehler zu entdecken. Wir werden diese Defizite und Fehler, wo wir es für wichtig halten, auch anmelden. Wir werden also fragen müssen, ob die Kirche durch das Lima-Dokument nicht von der Vermittlerin der Botschaft zur Vermittlerin des Heils qualifiziert wird, ob »der Glaube der Kirche durch die Jahrhunderte« ein Maßstab ist, statt mit allen nach der biblischen Botschaft als Maßstab zu fragen, ob man so nach dem »Amt«« fragen darf mit allen implizierten Missverständnissen, statt nach dem »Dienst« zu fragen – und nur von diesem redet die Bibel! Es gibt den Einwand, dass es sich beim Lima-Dokument um Probleme der Oberbrüder handelt, nicht aber um solche der Basis; die Praxis ist schon weiter als die Theorie und in vielen Gemeinden wird Ökumene gemacht ohne Wenn und Aber. Es gibt im Einzelnen viele Fragen, es gibt auch den grundsätzlichen Einwand, dass die von Lima vorgeschlagenen Themen angesichts von Hunger, Folter und wahnsinniger Rüstung nicht die Themen sind, die der Christenheit auf den Nägeln brennen sollten. Abgesehen davon, dass auch etwas über Hunger und Folter und Rüstung und den christlichen Gehorsam gegenüber diesen von Menschen fabrizierten Problemen und Herausforderungen in diesem Text enthalten ist – wer das Lima-Dokument liest als einen Text »an sich«, kann sich die Zeit des Lesens sparen. Wer aber neugierig und willig ist, für Glauben und Handeln gemeinsame Orientierung mit allen anderen Christen zu entdecken, der wird solche Entdeckungen auch machen. Inzwischen hat es viele Äußerungen, zustimmende, ablehnende und kritisch würdigende gegeben. In unserer Landeskirche haben sich Pfarrkonvente, Kreissynoden und Gemeindegruppen mit dem Dokument beschäftigt. Es gibt auch einige wenige Rückäußerungen. Ich möchte dabei besonders erwähnen, dass sich auch das Diakonische Werk dezidiert theologisch geäußert hat. Ich halte es für bemerkenswert, dass sich ein Arbeitszweig unserer Kirche auch für diese Themen für zuständig erklärt, dem wir üblicherweise ganz andere Kompetenzen zuteilen. In kirchlichen und theologischen Zeitschriften ist viel dazu geschrieben worden, auch kritisch Ablehnendes. Die EKD-Synode in Worms 1983 hat das Ihnen zugesandte rote Heft »EKD-Texte Nr. 7« weit verbreitet. Dabei handelt es sich um Anregungen, nicht um ein Votum der Evangelischen Kirche in Deutschland zu Lima. Das Schema, das wir in der Vorbereitungskommission der EKD-Synode zur Beschäftigung mit dem Lima-Dokument eingeführt hatten, bestand – grob gesagt – in den vier Fragen: Wo können wir Lima zustimmen? Wo gibt es Anfragen an uns? Wo müssen wir Anfragen an Lima anmelden? Was müssen wir ablehnen? Wir hatten gemeint, auf diese Weise auch eine vielleicht uferlose Diskussion begrenzen zu können und zu dürfen. Viele Gruppen und Institutionen haben dieses Schema übernommen. Die am Ende des Vorwortes im Lima-Dokument genannten und uns vorgelegten anderen vier Fragen sind

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damit schon in einer etwas kritischen Weise verändert worden. Da es beim Lima-Text nicht um eine Rezension geht, also um eine noch mögliche Veränderung von Sätzen, Formulierungen oder Abschnitten, sondern um eine Rezeption, meinten wir, auf diese Weise, indem wir uns selbst zu Betroffenen machen, dem Anliegen der Rezeption zu entsprechen. Unser Ständiger Theologischer Ausschuss hat sich, wie im Vorwort seines Votums angemerkt, ebenfalls im Wesentlichen an dieses Schema gehalten. So ist Ihnen mit dem Lima-Dokument selbst und den kommentierenden Dokumenten aus unserem Bereich Material zugegangen, von dem wir geglaubt haben, es könne den Zugang zu einer solchen im guten Sinn des Wortes theologischen Materie eröffnen. Die Art der so angebotenen Fragestellung möchte freilich auch verhindern, dass wir uns der Ökumene entweder durch theologische Besserwisserei oder durch blinde Akklamation präsentieren. Ich möchte jetzt nicht an den einzelnen Abschnitten entlanggehen und so in die Materie einführen. Ich gehe davon aus, dass Sie sich das gute Material, das Ihnen zugeschickt worden ist, etwas zu Eigen gemacht haben. Ich erlaube mir aber dennoch ein paar unsystematische Bemerkungen, die mir persönlich, der ich seit 1974 mit dieser Materie beschäftigt bin, wichtig sind. Vergessen Sie bitte nicht, dass es sich bei dem Lima-Dokument nicht um einen katholisch-evangelischen Dialog handelt. Es gibt in der Ökumene sehr viele bilaterale Gespräche zwischen den einzelnen Konfessionen und zwischen einzelnen Kirchen. Das Lima-Dokument ist zum ersten Male in der Geschichte der christlichen Kirche das Ergebnis eines jahrelangen und weltweit geführten multilateralen Gespräches und Prozesses. Selbstverständlich liegt es nahe, dass wir in unserer Situation das Gespräch auf die bilaterale Ebene evangelisch-katholisch ziehen. Wir sollten aber nicht aus dem Auge verlieren, dass die bei uns auch vorhandenen sog. Freikirchen quantitativ in der Ökumene eine viel größere Rolle spielen, als uns das bewusst ist. – Wir werden von selbst merken, dass sich auch die Orthodoxie in diesen Text kräftig eingebracht hat. Wir werden fragen müssen, ob der orthodox-anglikanisch-hochkirchliche Beitrag zum Lima-Dokument nicht sehr stark ist, während der freikirchliche Beitrag wesentlich schwerer zu erkennen ist. Die positiven Aussagen, die uns in den einzelnen Abschnitten selbst zum Lernen anregen sollen, sollten wir für uns festhalten. Um einige Beispiele zu nennen: Aus dem Abschnitt über die Taufe sollten wir lernen, dass wir mit der Taufe hineingenommen werden in die weltweite Christenheit. Wir sind nicht in die Landeskirche getauft, in die Ortsgemeinde, das sicher auch, und wir werden noch einiges tun müssen, um das privatistische Verständnis von Taufe zu überwinden. Der Hinweis auf die weltweite Christenheit, die als die Gemeinde Gottes existiert und in die wir dann durch die Taufe aufgenommen werden, ist wichtig. Die Ausführungen über das Herrenmahl stellen dieses Sakrament in einen viel größeren Zusammenhang, als es sich mit dem bei uns üblichen Wort vom Abendmahl missverständlich breit gemacht hat. Das gesamte Wirken Jesu, die Gemeinschaft mit den Sündern während seiner gesamten Wirksamkeit und nicht nur das Abendmahl am Gründonnerstag-Abend sind für das Verständnis des Herrenmahls wichtig. Dadurch wird ein viel breiterer Horizont im Verständnis des Herrenmahls eröffnet, das Missverständnis und die Einengung des Herrenmahls auf die zweifelhafte Historisierung des Gründonnerstages zurückgedrängt. Der Abschnitt 20 aus dem mittleren Teil des Lima-Dokumentes bringt uns neue Erkenntnisse über die Folgen der Teilnahme am Herrenmahl.

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Bitte vergessen Sie nicht, dass die abendländische, vor allem protestantische Theologie sich sehr viel Gedanken gemacht hat darüber, was Christus von denen erwartet, die zum Herrenmahl eingeladen sind, bevor sie am Herrenmahl teilnehmen. Hier wird ausgesprochen, was Christus von denen, die zum Herrenmahl eingeladen sind, erwartet, nachdem sie am Herrenmahl teilgenommen haben. Es wäre für uns ein Anlass, Agenden-Formulierungen, Praxis des Herrenmahls und unsere Predigt zum Herrenmahl daraufhin zu überprüfen, was an neuer Ethik mit dem Herrenmahl eröffnet wird. Wir werden Fragen anmelden zu dem, was unter Nr. 27 als die Lima-Liturgie bekannt gemacht worden ist. Aber es sei der Hinweis erlaubt, dass diese Lima-Liturgie zum ersten Mal in einer ökumenischen Versammlung in Vancouver gefeiert worden ist und damit zum ersten Mal in der Geschichte der Ökumene eine solche Versammlung einen gemeinsamen Gottesdienst gefeiert hat, nachdem bis dahin auf solchen ökumenischen Versammlungen alle Konfessionen und Kirchen zu ihren eigenen gottesdienstlichen Veranstaltungen auseinandergegangen sind. Auch die Lima-Liturgie ist ein bescheidenes Angebot, das sich niemand als letzte Stufe der Erkenntnis und der Praxis vorstellt und das dennoch jetzt schon eine verbindende Kraft hat. Nur schwer wird uns der Zugang zu dem Abschnitt über das Amt gelingen. Aber wir möchten bitte auch hier nicht vergessen, dass unser vergleichsweise unkompliziertes Verhältnis zum Verständnis des Amts einer Auffassung in anderen Kirchen gegenüber steht, die das Amt zum Träger der Wahrheit macht. Mit reformatorischen Erkenntnissen werden wir nicht so anderen gegenüber umgehen können, als hätten sie uns vor Fehlern bewahrt. Wenn eine orthodoxe Stimme zur Frage der Ordination von Frauen im LimaDokument sagt, es gäbe dieses Problem für die Orthodoxen nicht, weil es nie eine Frauenordination gegeben habe, dann werden wir uns erinnern, dass es auch heute noch eine Gliedkirche der Evangelischen Kirche in Deutschland gibt, in der Frauen nicht ordiniert werden. Das wird uns vor Überheblichkeit bewahren. Jedenfalls werden wir niemand zwingen dürfen, seine tausendjährige dogmatische und praktische Überzeugung einfach zu kippen. Im Übrigen werden wir uns selbstkritisch fragen müssen, ob nicht auch in unserer Kirche, was Amtsverständnis und heimliche Hierarchie angeht, in der Praxis sehr oft eingeführt ist und sich durchgesetzt hat, was wir theoretisch und theologisch kritisieren. Die Beispiele und Hinweise ließen sich vermehren. Mit Euphorie ist nichts gewonnen und die Liste der kritischen Einwände könnte mühelos vom Vorwort bis zum letzten Thema von der bischöflichen Sukzession vorgestellt werden. Leitelement, Ziel unserer Überlegungen, die Absicht unserer Adresse nach Genf sollte zum Ausdruck bringen, was die von uns und 76 anderen Kirchen angenommene und unterschriebene Leuenberger Konkordie von 1973 als einem für uns verpflichteten Dokument über Kirchengemeinschaft formuliert hat: »Kirchengemeinschaft im Sinne dieser Konkordie bedeutet, dass Kirchen verschiedenen Bekenntnisstandes aufgrund der gewonnenen Übereinstimmung im Verständnis des Evangeliums einander Gemeinschaft an Wort und Sakrament gewähren und eine möglichst große Gemeinsamkeit in Zeugnis und Dienst an der Welt erstreben. Indem die beteiligten Kirchen unter sich Kirchengemeinschaft erklären und verwirklichen, handeln sie aus der Verpflichtung heraus, der ökumenischen Gemeinschaft aller christlichen Kirchen zu dienen. Sie verstehen eine solche Kirchengemeinschaft im europäischen Raum als einen Beitrag auf dieses Ziel hin. Sie erwarten, dass die Überwindung ihrer bisherigen

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Trennung sich auf die ihnen konfessionell verwandten Kirchen in Europa und in anderen Kontinenten auswirken wird, und sind bereit, mit ihnen zusammen die Möglichkeit von Kirchengemeinschaft zu erwägen.« Hinter diese Aussage können und dürfen wir nicht zurück. Hier liegt ein ungehobener Schatz. Müsste er nicht kapitalisiert werden? Die Evangelische Kirche der Union ist Ökumene. Dass sie das ist und wir innerprotestantisch darin leben, ist Geschichte Gottes mit seiner Kirche. Aber Leuenberg, wo konfessionelle Geschichte und Erkenntnisse als nicht mehr kirchentrennend festgestellt werden, erlaubt auch eine Vision, die nach vorne zeigt, also zeigt, wie es weitergehen könnte. Die Landessynode ist herzlich eingeladen, zur Vorbereitung einer Antwort nach Genf sich auf zwei Dinge während dieser Tagung einzulassen: Wir haben vor einigen Jahren, als wir die Friedensfrage auf der Landessynode verhandelten, durch die ungewöhnliche Organisation der Verhandlung dieser Friedensfrage dargestellt und erreicht, dass alle Landessynodalen sich an dieser Frage beteiligt haben. Wir haben sie nicht von vornherein einem besonderen Ausschuss der Landessynode überwiesen, sondern haben uns gemeinsam eingelassen darauf, dass wir die Landessynode schlicht eingeteilt haben nach einem fast objektiven alphabetischen Schema, eine Art der Diskussion, die im nachhinein von vielen Beteiligten spontan bejaht und auch zur Wiederholung empfohlen wurde. Eben das möchten wir heute tun. Wiederum ist die Landessynode eingeladen, sich dadurch für alle auf eine alle berührende Frage einzulassen. Das, was als Ergebnis der Beratungen in den einzelnen Gruppen festgehalten wird, wenn denn die Gruppe meint, etwas festhalten zu sollen, wird danach dem Theologischen Ausschuss der Landessynode zugewiesen, der wiederum seine Beratungsergebnisse der Landessynode während dieser Tagung noch vorlegen wird. Auf diese Weise, durch die Installierung möglichst vieler kleiner Gruppen, wird es interims ein gemeinsames Gespräch geben, so dass, wie wir hoffen, jeder der hier engagiert ist, auch zu Wort kommen kann. Das ist wichtig, weil das Lima-Dokument darum bittet, »eine offizielle Stellungnahme zu diesem Text auf der höchsten hierfür zuständigen Ebene der Autorität, sei es nun ein Rat, eine Synode, eine Konferenz, eine Vollversammlung oder ein anderes Gremium«, abzugeben. Nach unserem theologischen und rechtlichen Verständnis ist für uns die Landessynode die »höchste hierfür zuständige Ebene der Autorität«. Zum anderen möchten wir Sie bitten, während der Beratungen beide Texte nebeneinander zu legen, einmal das Lima-Dokument selbst und die Vorlage unseres Ständigen Theologischen Ausschusses. Die Bitte geht dahin, das Votum des Theologischen Ausschusses dahin zu überprüfen, ob Sie sich dieses Votum als eine Antwort der Rheinischen Kirche auf die Anfrage von Lima vorstellen können. Wenn nach Ihrer Meinung darin Wesentliches fehlt, bringen Sie es bitte in Ihrer Arbeitsgruppe zur Sprache. Aber ich möchte Sie bitten, auch zu überprüfen, ob es sich bei einem solchen Einwand um Ihr sehr ehrenwertes, aber auch individuelles Anliegen handelt, oder ob diesem Einwand oder dieser Ergänzung oder dieser Verstärkung viele in der Gruppe sich anschließen. Das Votum des Theologischen Ausschusses unserer Landeskirche ist ein Angebot. Die Mitglieder der Landessynode sind eingeladen, es zu nutzen. Erlauben Sie mir noch zwei Hinweise für die Arbeit des gemeinsamen Nachdenkens, miteinander Redens und Beschließens. Das Lima-Dokument ist als theologischer Text wichtig, weil die Ökumene, die wir alle wollen, nicht von den Gefühlen der Sympathie lebt und leben kann, denen auch Gefühle der Antipathie und des Misstrauens gegenüber-

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stehen. Ökumene lebt vom Glauben und der darin – auch bei verschiedenen oder gar gegensätzlichen Teilaussagen – vorgegebenen und zu entdeckenden Einheit. Ob das Lima-Dokument auf dem Weg zu dieser Einheit einen Schritt weiterführt, muss sich herausstellen. Aber weder die Verdächtigungen und Befürchtungen der Kritiker der Ökumene, die die Superkirche oder die Traumtänzerei von theologischer Ideologie fürchten, noch die Hoffnungen der Sympathisanten, die nicht schnell genug die sichtbare Einheit erreichen können, erlauben die Würdigung der Lima-Texte auf ihre Verwertbarkeit hin. Dieser selbstgewählte Effizienzdruck könnte sich erweisen als ein ungewollter Ausdruck von Angst, einer Angst, die die eigene Position unter keinen Umständen aufgeben kann oder die die von den Vätern überkommenen Positionen nicht als gute Gabe Gottes ernst nehmen will. Auch hier könnte es sich um nicht-theologische Faktoren handeln. Aber auch die Institution Kirche, auch eine Landessynode – und nicht nur die wissenschaftlichen Lehrstühle – haben eine Verantwortung für Theologie. Eine Kirche, die sich selbst seit langer Zeit als eine »semper reformanda« bezeichnet, und die damit mehr meint als die in jeder dritten Generation fällige Veränderung der Kirchenordnung, könnte sich diesem Dokument mit Gelassenheit und Entdeckerfreude nähern. Ihr geht es in erster Linie nicht um die Verteidigung ihrer Position, sondern darum, die Stimme des guten Hirten zu hören und zu tun, was er sagt. Und – ich wiederhole noch einmal, dass der Lima-Text selber bescheiden zu uns kommt. Das heißt mit anderen Worten, dass von uns erbeten ist, die Einheit der Christen im Fundamentalen zu entdecken, nicht im Totalen. Niemand ist überfordert. Nicht jeder Satz oder gar Nebensatz fordert unser Bekenntnis heraus. Nach menschlichem Ermessen wird es auf lange Zeit so sein, dass uns in der Ökumene nicht das Totale, sondern das Fundamentale eint und dass dies Fundamentale die Basis ist, noch mehr Einheit zu wollen. Das sagt das Lima-Dokument selbst in seinem Vorwort: »Wir tun dies (die Vorlage dieses Dokumentes) in tiefer Überzeugung, denn wir sind uns in zunehmendem Maße unserer Einheit im Leibe Christi bewusst geworden. Wir haben Grund dafür gefunden, uns an der Wiederentdeckung des Reichtums unseres gemeinsamen Erbes im Evangelium zu erfreuen. Wir glauben, dass der Heilige Geist uns zu diesem Augenblick geführt hat, einem ›kairos‹ (einem von Gottes Geist erfüllten Augenblick) der ökumenischen Bewegung, indem es bedauerlicherweise noch getrennten Kirchen möglich geworden ist, wesentliche theologische Übereinstimmung zu erzielen. Wir meinen, dass viele bedeutsame Schritte möglich sind, wenn unsere Kirchen mutig und erfinderisch genug sind, Gottes Gabe der kirchlichen Einheit zu erfassen.«

III.2 Brief zur Tauffrage 1987 Präses Gerhard Brandt, Juli 1987∗

Liebe Schwestern und Brüder! Der konkrete Anlass einer »bedingungsweisen« Taufe, der inzwischen nach einem ausführlichen Austausch mit Vertretern der römisch-katholischen Kirche geklärt und zu einem befriedigenden Abschluss gebracht werden konnte, nötigt mich, Sie zu äußerster Korrektheit bei der Spendung der Taufe anzuhalten. Die Taufe muss nach agendarischer Form vollzogen werden. Dabei ist die Taufformel zu verwenden: »N.N., ich taufe dich im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.« Bei der Taufhandlung begießt der Pfarrer »mit der Hand dreimal das Haupt des Kindes mit Wasser in einer für die Zeugen sichtbaren Weise«. Eine bloße Berührung des Hauptes des Täuflings mit der befeuchteten Hand ist kein gültiger Vollzug der Taufe! Ich bitte Sie nachdrücklich, das wichtige Gut ökumenischer Gemeinsamkeit in der Spendung des Taufsakramentes durch äußerste Sorgfalt beim Vollzug der Taufe zu schützen. Wir sind das sowohl unseren katholischen Schwestern und Brüdern als auch unseren eigenen Gemeindegliedern schuldig. Ich habe dem Erzbischof von Köln versichert, dass die Amtsträger unserer Kirche die Taufe in der agendarischen Form gültig spenden. Ich bitte Sie, mein Wort nicht in Frage zu stellen. Auf das rechte Verhältnis von evangelischer Freiheit und kirchlicher Ordnung werden wir im Bereich von Gottesdienst und Amtshandlungen überhaupt deutlicher achten müssen. Es ist kein leerer Formalismus, wenn die Ordinanden sich bei ihrer Ordination verpflichten, den »Dienst nach den geltenden Ordnungen treu und gewissenhaft« zu tun. Die Gemeinsamkeit in den Handlungen hat große Bedeutung für die Gemeinschaft in einer Kirche. Ich weiß wohl, dass nicht jeder mit allen Details unserer agendarischen Ordnungen glücklich ist. Aber sie entstehen in einem langen Entwicklungsprozess auf breiter Ebene kirchlicher Beschlussorgane. Willkürliche Eingriffe in so zustande gekommene Ordnungen gefährden die kirchliche Gemeinschaft. Und: Das persönliche Ermessen ist noch kein Ausweis für größere Sachgemäßheit! Bedürfen derzeitige Regelungen einer Überarbei∗

In: Kölner Ökumenische Beiträge Nr. 21, 1992, S. 56f.

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tung, so haben wir den dafür vorgesehenen Weg zu einer neuen gemeinsamen Entscheidung zu beschreiten. Ich bitte Sie darum dringend, sorgfältig darauf zu achten, dass die Ordnungen unseres gottesdienstlichen Handelns nicht in die freie Verfügbarkeit des Einzelnen geraten. Die Glieder unserer Gemeinden erfahren Vergewisserung in ihrem Glauben auch durch die wiedererkennbare Ordnung in der gottesdienstlichen Gestalt der Kirche. In der Verbundenheit unseres gemeinsamen Dienstes grüße ich Sie herzlich. Ihr D. Gerhard Brandt

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IV.1 Landessynode 1993

IV.1.1 Erklärung der Landessynode 1993 der Evangelischen Kirche im Rheinland über das Verhältnis zur römisch-katholischen Kirche und zu anderen Kirchen∗ Beschluss 91: 1. Die Landessynode nimmt die Vorlage des Ständigen Theologischen Ausschusses und des Ausschusses für Innerdeutsche Ökumene und Catholica über das Verhältnis der Evangelischen Kirche im Rheinland zur römisch-katholischen Kirche und zu anderen Kirchen zustimmend entgegen. 2. Die Landessynode bittet die Kirchenleitung, geeignete offizielle Schritte gegenüber der römisch-katholischen Kirche und anderen Kirchen zu unternehmen, um, soweit es unserer Kirche möglich ist, zur Überwindung des Trennenden und zur Verbesserung der Beziehungen beizutragen. 3. Die Landessynode bittet die Presbyterien und die Kreissynodalvorstände, diese Erklärung in den Kirchengemeinden bekannt zu machen, um das Maß an Gemeinschaft, das bereits besteht, am Ort in geeigneten Formen zum Ausdruck zu bringen. 4. Die Kirchenleitung wird gebeten, eine Handreichung herauszugeben, die den Beschluss der Landessynode und weitere für die ökumenische Zusammenarbeit wichtige Materialien enthält. Das Verhältnis der Evangelischen Kirche im Rheinland zur römisch-katholischen Kirche und zu anderen Kirchen »Wir viele sind ein Leib in Christus, aber untereinander ist einer des anderen Glied.« (Röm 12,5) 450 Jahre nach dem Reformationsversuch von 1543 im Erzstift Köln und 20 Jahre nach der »Erklärung der Landessynode über die Zusammenarbeit der evangelischen und der katholischen Kirche« sehen wir uns angesichts der zueinander rückenden Kirchen, Länder und Kulturen im Europa der neunziger Jahre herausgefordert, unseren Ort als evangelische Christen im Rheinland und unsere Beziehungen zur römisch-katho-



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lischen Kirche sowie zu anderen Kirchen erneut zu bedenken und trotz mancher Rückschläge unsere ökumenische Verpflichtung zu bekräftigen. I. Was uns prägt »So könnt Ihr mit allen Heiligen begreifen, welches die Breite und die Länge und die Höhe und die Tiefe ist, auch die Liebe Christi erkennen, die alle Erkenntnis übertrifft, damit ihr erfüllt werdet mit der ganzen Gottesfülle.« (Eph 3,18f.) 1. Geschichtlich Wir leben im Rheinland in einer Gegend, die mit den Städten Köln, Mainz und Trier zu den am frühesten christianisierten Gebieten nördlich der Alpen gehört. Unsere christlichen Wurzeln reichen bis in die altkirchliche Zeit vor der sog. Konstantinischen Wende zurück. Uns verbinden mit allen Christen im Rheinland dieses altkirchliche Erbe, die Missionierung des mittelalterlichen Frankenreichs und eine mehr als tausendjährige gemeinsame Geschichte. Wir sind dankbar dafür, dass uns der Blick für diese, allen Christen im Rheinland gemeinsamen Grundlagen in jüngster Zeit geschärft worden ist: Die Geschichte, die wir miteinander teilen, ist länger als die, die uns voneinander trennt. Auch die Bemühungen des damaligen Kölner Erzbischofs Hermann von Wied zusammen mit Martin Bucer aus Straßburg und Philipp Melanchthon aus Wittenberg um eine Reformation der Kirche im Jahr 1543 geschahen mit der Absicht, »damit Einhelligkeit in der Lehre und im Kirchendienst, in Übungen und in der Zucht bei uns durchgeführt wird, so viel Gnade der Herr dazu geben will.«1 Leider ist es damals nicht gelungen, zu jener Einhelligkeit zu gelangen. Durch das Zweite Vatikanische Konzil (1962–1965), das öffentliche Gespräch zwischen Präses Beckmann und Kardinal Jaeger auf dem Kölner Kirchentag 1965 und die Würzburger Synode der deutschen Bistümer (1971–1975) haben sich die Beziehungen zwischen evangelischer und katholischer Kirche deutlich verbessert. Das hat im Rheinland einen ersten sichtbaren Ausdruck gefunden in der Erklärung der Landessynode vom 11.1.1973 über die »Zusammenarbeit der evangelischen und katholischen Kirche«2. Im Blick auf die seither vergangenen zwanzig Jahre können wir feststellen, dass unsere Kirchen sich vor allem auf der Ebene von Ortsgemeinden ein gutes Stück nähergekommen sind: Wir haben uns kennen und achten gelernt und befinden uns auf dem Weg zu ökumenischer Partnerschaft an vielen Orten unseres Landes. Gerade weil wir uns als Evangelische Kirche im Rheinland mit der römisch-katholischen Kirche in einer Schicksalsgemeinschaft befinden, betonen wir die im Grundartikel IV unserer Kirchenordnung von 1952 ausgesprochene ökumenische Verpflichtung, »an der Verwirklichung der Gemeinschaft der Christenheit auf Erden teilzunehmen.«3 2. Geographisch Als Evangelische Kirche im Rheinland befinden wir uns in einem geographischen und konfessionellen Schnittpunkt Europas. Als Kirche in einem alten europäischen Durchzugsgebiet hatten wir von alters her die Aufgabe, verschiedene Einflüsse und Traditionen miteinander zu vermitteln. Das ist im Blick auf das lutherische und reformierte Erbe seit 1817 in der Form einer unierten reformatorischen Kirche geschehen. So gehören wir nach wie vor zu den in der Evangelischen Kirche der Union (EKU) zusammengeschlossenen Kirchen. Darüber hinaus sehen wir unseren ökumenischen Auftrag in unserer

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aktiven Mitwirkung in der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), der Konferenz Europäischer Kirchen (KEK) und dem Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK). Wir bleiben unserem alten Erbe treu, wenn wir uns in diesem Schnittpunkt Europas heute erneut auf unsere Aufgabe zurückbesinnen, zwischen verschiedenen Regionen und Konfessionen zu vermitteln. Wir sehen darin zugleich eine Herausforderung und eine Chance für die ökumenische Verantwortung unserer Kirche in den neunziger Jahren. II. Was wir zu sagen haben 1. Dank »Mit Freuden sagt Dank dem Vater, der euch tüchtig gemacht hat zu dem Erbteil der Heiligen im Licht.« (Kol 1,12) Als Evangelische Kirche im Rheinland vergegenwärtigen wir uns heute, dass wir das Evangelium von unseren Müttern und Vätern im Glauben in einem jahrhundertelangen Überlieferungsvorgang vor und nach der Reformation empfangen haben. Uns wird bewusst, wie viel wir in unserem gegenwärtigen Glauben und Leben dem Dasein anderer Christen und Kirchen verdanken. Deshalb sagen wir insbesondere Dank für die altkirchliche und mittelalterliche Weitergabe des Evangeliums, die uns mit allen Christen im Rheinland verbindet; für die reformatorische Auslegung des Evangeliums im 16. Jahrhundert und für reformatorische Bestrebungen im Rheinland, vor allem von Adolf Clarenbach, Martin Bucer, Philipp Melanchthon und Hermann von Wied; für die Standhaftigkeit der evangelischen Gemeinden unter dem Kreuz und für das seit Napoleons Zeiten gewonnene Recht der freien Religionsausübung; für das Zueinanderfinden von lutherischen und reformierten Gemeinden zu einer unierten Kirche; für hoffnungsvolle ökumenische Erfahrungen während der Zeit des Nationalsozialismus und verstärkt seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil mit der römisch-katholischen Kirche; für die weltweite ökumenische Gemeinschaft, zu der wir gehören, an der wir Anteil nehmen und von der wir lernen wollen; für erste, auch gemeinsame Schritte auf dem Weg zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden. 2. Gemeinsames »So seid ihr nun nicht mehr Gäste und Fremdlinge, sondern Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen, erbaut auf dem Grund der Apostel und Propheten, da Jesus Christus der Eckstein ist.« (Eph 2,19f.) Im Zeitalter der Ökumene erkennen wir dankbar, dass die Trennungen zwischen unseren Kirchen nicht bis in die Tiefen unserer Grundlagen reichen, sondern dass uns mehr Gemeinsamkeiten erhalten geblieben sind, als wir noch bis vor kurzer Zeit wahrgenommen haben. Uns verbinden die Heilige Schrift Alten und Neuen Testamentes; der Glaube, der in den drei altkirchlichen Glaubensbekenntnissen, dem ökumenischen aus dem Jahr 381 (dem sog. Nizäno-Konstantinopolitanum), dem Apostolischen und dem Athanasianischen zum Ausdruck kommt; die Taufe auf den Namen des Dreieinigen Gottes, die Grundstruktur des christlichen Gottesdienstes in Anbetung, Wortverkündigung und Feier des Herrenmahls; die Feier des Sonntags sowie der Ablauf des Kirchenjahres; die synodale Tradition der sieben ökumenischen Konzile. Wie sich aus den Lehrgesprächen der letzten Jahrzehnte ergeben hat, haben evangelische und katholische Theologen sogar über das Verständnis des Evangeliums von unserer Rechtfertigung aus Glauben allein Übereinstimmung erzielt, »dass wir Sünder allein aus der vergebenden Liebe Gottes leben, die wir uns nur schenken lassen, aber auf keine

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Weise, wie abgeschwächt auch immer, ›verdienen‹ oder an von uns zu erbringende Voroder Nachbedingungen binden können«.4 Angesichts von Gemeinsamkeiten, die sich heute auch auf Entkirchlichung, Minderheitserfahrungen und Herausforderungen durch die moderne Welt erstrecken, lernen wir es neu, das Gesicht der uns verbindenden Grundlagen höher einzuschätzen als ehedem. So können wir heute dankbar feststellen: »Was uns miteinander verbindet, ist stärker als das, was uns noch trennt.«5 3. Trennendes »Lasst uns aber wahrhaftig sein in der Liebe und wachsen in allen Stücken zu dem hin, der das Haupt ist, Christus.« (Eph 4,15) Gerade angesichts des Gemeinsamen zwischen unserer und der römisch-katholischen Kirche dürfen wir aber auch das nach wie vor Trennende zwischen unseren Kirchen nicht verschweigen. Es belastet unser Verhältnis, dass die Teilnahme an evangelischen und ökumenischen Gottesdiensten für katholische Christen nicht als Erfüllung der Sonntagspflicht anerkannt wird; unsere Ämter nicht als vollgültig anerkannt werden; es keine ausdrückliche und offizielle Verlautbarung über die gegenseitige Anerkennung der Taufe für unseren Bereich gibt; evangelische Christen zur Kommunion in der römisch-katholischen Kirche nicht zugelassen sind; konfessionsverschiedene Familien in unseren Kirchen häufig Schwierigkeiten haben, konfessionsverbindend zu leben; Identitätsängste und Machtkämpfe der Annäherung unserer Kirchen im Wege stehen; unsere beiden Kirchen deshalb zu einem gemeinsamen Zeugnis für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung kaum in der Lage sind. Wir halten die Einrichtung einer Gemeinsamen Ökumenischen Kommission für notwendig, um diese und andere zwischen unseren Kirchen stehende Trennungen so weit wie möglich aufzuarbeiten. Die noch nicht erreichte volle Übereinstimmung im Kirchenverständnis sollte uns nicht daran hindern, so bald wie möglich über die angeschnittenen Fragen zwischen unseren Kirchen ein offizielles Gespräch zu beginnen. 4. Schuld »Wenn wir unsere Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, dass er uns die Sünden vergibt und reinigt uns von aller Ungerechtigkeit.« (1Joh 1,9) Im Licht der uns verbindenden Grundlagen erkennen wir deutlicher als zuvor die Schuld, die wir wie unsere Vorfahren im Blick auf die nach wie vor bestehenden Trennungen zwischen Christen und unseren Kirchen zu verantworten haben. Wir bekennen, dass wir zu lange in der römisch-katholischen Kirche nur ein feindliches Gegenüber gesehen und die Lehrverurteilungen des 16. Jahrhunderts übernommen haben. Wir erkennen, dass diese Lehrverurteilungen von damals unseren heutigen römisch-katholischen Partner größtenteils nicht mehr treffen.6 Als Wichtigstes nennen wir die Beurteilung der Messe als einer »vermaledeiten Abgötterei«7 und die Belegung des Papsttums mit dem Ausdruck »Antichrist«8. Dazu schließen wir uns der Stellungnahme der Arnoldshainer Konferenz an: »Eine Messe, die nicht als Ergänzung des einmaligen Opfertodes Jesu Christi verstanden wird, die nicht zur Anbetung der Abendmahlselemente führt, die nicht als Sühne für die Toten gilt und deren Zentrum das Mahl der Gemeinde ist, in dem Christus sich selbst gibt, wird von den Verwerfungen der Schmalkaldischen Artikel und des Heidelberger Katechismus nicht getroffen. In einer so verstandenen Eucharistiefeier erkennen evangelische Christen das Mahl des Herrn wieder ... Ein Papstamt, das sich nicht über, sondern unter die Heilige Schrift stellt und dessen Lehrentscheidungen folglich an der Heiligen Schrift zu

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prüfen und zu messen sind, wird von den Verwerfungen der Schmalkaldischen Artikel nicht getroffen.«9 Wir bekennen, dass unsere Kirche an den Angehörigen der Täuferbewegung schuldig geworden ist, indem sie sie als »Wiedertäufer« verurteilt hat.10 Wir erkennen, dass die damaligen Lehrverurteilungen unsere heutigen freikirchlichen Partner größtenteils nicht mehr treffen.11 Glaubensgemeinschaften, die die Praxis der Erwachsenentaufe pflegen und die Kindertaufe anderer Kirchen anerkennen, werden nicht mehr mit dem Ausdruck »Wiedertäufer« belegt. Wir bekennen, dass wir als evangelische Christen und Kirche uns in unserem Selbstverständnis zu sehr vom Gegensatz zu anderen Christen und Kirchen haben leiten lassen. Wir erkennen, dass unsere überkommenen Urteile und Abgrenzungen unsere heutigen ökumenischen Partner größtenteils nicht mehr treffen. Christen und Kirchen, die mit uns denselben Glauben an den dreieinigen Gott teilen, können nicht länger als unsere Gegner betrachtet werden; sie sind unsere Schwestern und Brüder in der Gemeinschaft des einen weltweiten Christusleibes. 5. Aufgaben »Ertragt einer den andern in Liebe und seid darauf bedacht, zu wahren die Einigkeit im Geist durch das Band des Friedens.« (Eph 4,2f.) 450 Jahre nach dem Reformationsversuch im Erzbistum Köln wollen wir als Evangelische Kirche im Rheinland einen neuen Impuls zur Verbesserung unserer Beziehungen zu anderen Kirchen, insbesondere zur römisch-katholischen Kirche, geben. Wir sind bereit −



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dem apostolischen Glauben, wie er im ökumenischen Glaubensbekenntnis von 381 zum Ausdruck kommt, in unserer Kirche verstärkt Geltung zu verschaffen und auf seiner Grundlage mit anderen Christen und Kirchen zusammenzuwirken;12 die Taufe als sakramentale Grundlage unserer ökumenischen Gemeinschaft anzuerkennen und begrüßen eine ausdrückliche offizielle gegenseitige Anerkennung der Taufe auf der Grundlage des Lima-Dokuments; in unseren Gottesdiensten alle zur Teilnahme am Abendmahl einzuladen, die in ihrer Kirche im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes getauft sind; das Evangelium von Jesus Christus angesichts der Herausforderungen durch die moderne Welt gemeinsam zu bezeugen; uns am konziliaren Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung weiterhin tatkräftig zu beteiligen; die Ökumenische Dekade »Kirchen in Solidarität mit den Frauen« zu unterstützen und uns für eine gerechte Gemeinschaft von Frauen und Männern in der Kirche einzusetzen; am jeweiligen Ort mit allen ökumenisch aufgeschlossenen, insbesondere mit römischkatholischen Gemeinden zusammenzuarbeiten und »das Maß an Gemeinschaft, das bereits besteht, am Ort in geeigneten Formen zum Ausdruck zu bringen.«13 uns gemeinsam um ein neues Verhältnis zum Gottesvolk Israel zu bemühen.

III. Was wir hoffen »Der Gott der Hoffnung erfülle euch mit aller Freude und Frieden im Glauben, dass ihr immer reicher werdet an Hoffnung durch die Kraft des Heiligen Geistes.« (Röm 15,13)

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Den Beginn des dritten Jahrtausends möchten wir nicht mit den ungelösten Konflikten des zweiten belasten. Wenn auch nicht alle unsere Hoffnungen in Erfüllung gehen werden, so hoffen wir doch auf erste Schritte zu ihrer Verwirklichung. Denn wir brauchen gerade jetzt solche ermutigenden Zeichen, die uns in der gegenwärtigen Situation davor bewahren, in Resignation zu verfallen. Deshalb hoffen wir auf – eine gemeinsame Überwindung der Verwerfungen, die seit dem 16. Jahrhundert zwischen unseren Kirchen stehen; – eine ausdrückliche Verlautbarung mit der römisch-katholischen Kirche über die gegenseitige Anerkennung der Taufen für unseren Bereich;14 – eine verbindliche gegenseitige Anerkennung der evangelischen und römisch-katholischen Kirche als Glieder des einen Leibes Christi aufgrund unserer einen Taufe; – eine Anerkennung der Ämter; – verbindliche gegenseitige Vereinbarungen mit der römisch-katholischen Kirche für die Seelsorge an konfessionsverbindenden Familien; – verbindliche gegenseitige Vereinbarungen über die Anerkennung der Taufe mit den täuferischen und baptistischen Kirchen; – verbindliche Gespräche und Vereinbarungen mit den orthodoxen Kirchen in unserem Bereich im Blick auf Taufe und konfessionsverbindende Ehen; – verbindliche gegenseitige Vereinbarungen mit anderen Kirchen über die Einladung zur Teilnahme an der Feier des Herrenmahls15 und, wo möglich, über Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft16; – eine gesamtchristliche konziliare Versammlung noch in diesem Jahrzehnt. Wir möchten mit der römisch-katholischen Kirche und mit allen anderen Kirchen in unserem Bereich weiterhin auf dem Weg bleiben, damit das Gebet unseres gemeinsamen Herrn Jesus Christus erfüllt werde, dass »alle eins seien, damit die Welt glaube«. (Joh 17,21)17 Wuppertal-Barmen, 24. September 1992, vom Theologischen Ausschuss und vom Ausschuss für Innerdeutsche Ökumene und Catholica (IOC) gemeinsam einstimmig verabschiedet.

Anmerkungen 1 Nachwort Hermann von Wied, in: Einfältiges Bedenken. Reformationsentwurf für das Erzstift Köln von 1543, Düsseldorf 1972, 223. 2 In: Ökumene am Ort. Handreichung der Kirchenleitung der Evangelischen Kirche im Rheinland vom Juli 1973, 3–5. 3 Kirchenordnung der Evangelischen Kirche im Rheinland, Grundartikel IV, in: Ev. Kirchenrecht im Rheinland I, Düsseldorf 1973, 5. 4 Lehrverurteilungen – kirchentrennend? I, Freiburg/Göttingen 1986, 75. 5 A. a. O. 196. 6 Vgl. a. a. O. 195. 7 So der Heidelberger Katechismus in der Antwort auf Frage 80. 8 So M. Luther in den Schmalkaldischen Artikeln II, 4, in: Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche (BSELK), 1963, 430.

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9 Stellungnahme der von der Arnoldshainer Konferenz eingesetzten Theologischen Kommission zum Dokument »Lehrverurteilungen – kirchentrennend?« 29. Sept. 1991, MS S. 50f. 10 So das Augsburger Bekenntnis, Artikel IX: Von der Taufe, BSELK 63. 11 Vgl. die Erklärung von Zürich vom 5. März 1983, in: Baptist and Reformed in Dialogue Studies from the World Alliance of Reformed Churches (WARC) Nr. 4, 1983, S. 47. 12 Vgl. die ökumenische Studienarbeit der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung »Gemeinsam den einen Glauben bekennen«, Frankfurt/Main 1991. 13 Die Einheit der Kirche als Kolonia: Gabe und Berufung. Erklärung der Vollversammlung von Canberra 1991, 3.2, in: Ök. Rundschau, 1991/2, 182. 14 Vgl. die entsprechenden »Vereinbarungen der Konferenz der Kirchenleitungen in Hessen zur Taufe« von 1977. 15 Vgl. die entsprechende Vereinbarung zwischen der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und dem Katholischen Bistum der Alt-Katholiken in Deutschland über »eine gegenseitige Einladung zur Teilnahme an der Feier der Eucharistie« vom 29. März 1985. 16 Vgl. die »Deklaration« zwischen der Evangelischen und der Evangelisch-Methodistischen Kirche »der gegenseitigen Gewährung von Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft« von 1987; und »Auf dem Weg zu sichtbarer Einheit«. Eine gemeinsame Feststellung zwischen der Kirche von England und der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) vom 18. März 1988 (Meißener Erklärung). 17 Wir denken dabei – wie es auf der 7. Vollversammlung des ÖRK in Canberra/Australien vorgeschlagen worden ist – an das Jahr 1998, in dem der Ökumenische Rat der Kirchen fünfzig Jahre alt wird.

IV.1.2 »Ein Herr, ein Glaube, eine Taufe« Zur ökumenischen Bedeutung der Taufe∗ I. Grundlagen 1. Die ökumenische Begegnung der christlichen Kirchen hat uns insbesondere seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil sehen gelehrt, dass in Lehre und Praxis der Taufe über alle Trennungen hinweg ein Band der Einheit aller Getauften erhalten geblieben ist. Uns verbinden Erkenntnisse und Mahnung des Epheserbriefes: »Bemüht euch, die Einheit des Geistes zu wahren durch den Frieden, der euch zusammenhält. Ein Leib und ein Geist, wie euch durch eure Berufung auch eine gemeinsame Hoffnung gegeben ist; ein Herr, ein Glaube, eine Taufe; ein Gott und Vater aller, der über allem und durch alles und in allem ist« (Eph 4,3–6). Deshalb stimmen wir der Konvergenzerklärung von Lima (1982) zur Taufe zu: »Unsere eine Taufe in Christus (ist) ein Ruf an die Kirchen, ihre Trennungen zu überwinden und ihre Gemeinschaft sichtbar zu manifestieren« (S. 6).



Protokoll der Landessynode 1993, S. 179–183.

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2. Die Synode der Evangelischen Kirche im Rheinland hat dazu in ihrer Stellungnahme zu den Lima-Erklärungen vom Januar 1985 festgehalten: »Wir nehmen den ›Ruf an die Kirche, ihre Trennungen zu überwinden und ihre Gemeinschaft sichtbar zu manifestieren‹ als auch an uns gerichtet auf und erkennen die Notwendigkeit an, die in der Taufe gegebene Einheit wiederzugewinnen« (LS 1985, Taufe 6b). Darüber hinaus weiß sich die Evangelische Kirche im Rheinland in Grundartikel IV ihrer Kirchenordnung »verpflichtet, ... durch Zusammenarbeit mit den Kirchen der Ökumene an der Verwirklichung der Gemeinschaft der Christenheit auf Erden teilzunehmen«. 3. Im Ökumenismus-Dekret des Zweiten Vatikanischen Konzils heißt es: »Die Taufe begründet also ein sakramentales Band der Einheit zwischen allen, die durch sie wiedergeboren sind« (§ 22). Nach der Dogmatischen Konstitution über die Kirche weiß sich die römisch-katholische Kirche »mit jenen, die durch die Taufe der Ehre des Christennamens teilhaft sind, ... aus mehrfachem Grunde verbunden. So erweckt der Geist in allen Jüngern Christi Sehnsucht und Tat, dass alle in der von Christus angeordneten Weise in der einen Herde unter dem einen Hirten in Frieden geeint werden mögen« (S. 15). Auf diesem Hintergrund empfiehlt das ökumenische Direktorium (1, 1967): »Aus der Ehrfurcht vor dem Sakrament der Eingliederung, das der Herr für den Neuen Bund eingesetzt hat, und um die zu seiner ordnungsgemäßen Spendung notwendigen Erfordernisse besser hervorzuheben, ist sehr zu wünschen, dass der Dialog mit den getrennten Brüdern nicht allein auf die Frage eingeschränkt wird, welche Elemente für eine gültige Taufe unbedingt notwendig sind. Vielmehr ist achtzugeben auf die Fülle des sakramentalen Zeichens und der bezeichneten Wirklichkeit (ressacrament), wie dies aus dem Neuen Testament hervorgeht, umso leichter über die gegenseitige Anerkennung der Taufe ein Übereinkommen unter den Kirche zu erreichen« (§ 17). 4. Die verschiedenen Äußerungen stellen uns die Taufe als das »sakramentale Band der Einheit« zwischen unseren Kirchen vor Augen. In dieser Verbundenheit aller Getauften erkennen wir, dass wir alle jetzt schon Gemeinschaft im Kreuz Jesu Christi haben; dass wir gemeinsam in seinen Tod und seine Auferstehung hinein getauft sind; dass wir gemeinsam der Teilhabe an seinem Priestertum gewürdigt sind; dass wir durch die Taufe ein und denselben Geist empfangen haben; dass wir weltweit Glieder eines Leibes sind. Diese Verbundenheit verpflichtet uns, entschlossen die Barrieren abzubauen, die wir in der Vergangenheit zwischen uns errichtet haben, und gibt uns nach 450 Jahren neue Richtung für die Förderung der sichtbaren Gemeinschaft zwischen unseren Kirchen. II. Erklärung Auf dem Weg zur sichtbaren Gemeinschaft unserer Kirche bekennen wir gemeinsam »die eine Taufe zur Vergebung der Sünden«, begründet im Evangelium, wie es die Bibel bezeugt, verpflichtend geworden im Missionsauftrag Christi, bekräftigt in den altkirchlichen Bekenntnissen, festgehalten in den Bekenntnisschriften der Reformation und den Dekreten des Konzils von Trient, bejaht als sakramentales Band der Einheit im Zweiten Vatikanischen Konzil und in der Konvergenzerklärung von Lima,

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verkündigt als Zeichen des neuen Lebens in Christus und gefeiert als Sakrament in den Liturgien unserer Kirche. Auf dem Boden dieses gemeinsamen Glaubens bekräftigen wir die gegenseitige Anerkennung der in unseren Kirchen vollzogenen Taufen. Wir erkennen uns gegenseitig als Schwestern und Brüder des erstgeborenen Sohnes Gottes, und wir nehmen unsere gemeinsame Taufverantwortung in der Gemeinschaft des einen Leibes Christi wahr. III. Folgerungen Aus der gemeinsamen Taufverantwortung ergeben sich Folgerungen für die ökumenischen Beziehungen zwischen unseren Kirchen im Blick auf ihr Leben in Gottesdienst, Gemeinde und Öffentlichkeit. Dazu empfehlen wir, folgende Anregungen zu prüfen. 1. Gottesdienst a) Da jede Taufe ökumenische Bedeutung hat, sollte die Tauffeier diese ökumenische Dimension zum Ausdruck bringen. Das kann dadurch geschehen, dass bei Taufe von Angehörigen andere Kirchen mitwirken. Der Dank an Gott für die schon geschenkte und schon bestehende Verbindung zwischen unseren Kirchen kann in Gebeten und Liedern formuliert werden. Die aus der Taufe sich ergebende Verpflichtung, sich für die volle Verwirklichung der Gemeinschaft zwischen unseren Kirchen einzusetzen, hat in der Taufverkündigung ihren Ort. Wir schlagen vor, dass künftig eine entsprechende Formulierung in die Taufliturgie aufgenommen wird. b) »Die Fülle des sakramentalen Zeichens und der bezeichneten Wirklichkeit, wie dies aus dem Neuen Testament hervorgeht« (ökumenisches Direktorium 1,17) soll in der Ausgestaltung der Tauffeier deutlich werden. Hier können unsere Kirchen voneinander lernen. In Lima wurden dazu verschiedene Vorschläge gemacht: »In der Feier sollte die symbolische Dimension des Wassers ernst genommen und nicht heruntergespielt werden. Der Akt des Untertauchens kann die Realität lebendig zum Ausdruck bringen, dass in der Taufe der Christ am Tode, am Begräbnis und an der Auferstehung Christi teilhat. In jeder umfassenden Taufliturgie sollten zumindest folgende Elemente enthalten sein: die Verkündigung der Heiligen Schrift, die sich auf die Taufe bezieht; Anrufung des Heiligen Geistes; Absage an das Böse; Bekenntnis des Glaubens an Christus und die heilige Dreieinigkeit; Verwendung von Wasser; Erklärung, dass die Getauften eine neue Identität als Kinder Gottes und als Glieder der Kirche empfangen haben und dazu berufen sind, Zeugen des Evangeliums zu sein. Wie es in den früheren Jahrhunderten der Fall war, kann die Gabe des Geistes in der Taufe auf zusätzliche Weise bezeichnet werden, z. B. durch das Zeichen der Handauflegung, durch Salbung oder Ölung. Auch das wahre Zeichen des Kreuzes erinnert an die verheißene Gabe des Heiligen Geistes ... Die Wiederentdeckung solcher lebendiger Zeichen könnte sicherlich die Liturgie bereichern.« (Konvergenzerklärung von Lima 1982 zur Taufe, §§ 18ff.) Außerdem sei erinnert an einen biblischen Taufspruch als Leitwort für das künftige Leben des Getauften, an Segensworte für die Täuflinge von Pfarrer, Paten und Eltern, an das weiße Taufgewand und an die Taufkerze.

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c) Um das Taufbewusstsein in unseren Gemeinden zu beleben, ist es sinnvoll, einmal jährlich das Taufgedächtnis in ökumenischer Gemeinschaft zu feiern. Das geschieht nach alter Tradition während der Feier der Osternacht. Andere Gelegenheiten sind die zweiten Feiertage der drei großen christlichen Hauptfeste, besonders der Pfingstmontag. Nach evangelischer Tradition ist der 6. Sonntag nach Trinitatis dem Taufgedächtnis gewidmet. d) Taufen von Täuflingen aus konfessionsverbindenden Familien können im Rahmen eines ökumenischen Gottesdienstes vollzogen werden. Dabei muss das Missverständnis einer sog. »ökumenischen Taufe« ausgeschlossen werden. e) Beim Übertritt von der einen zur anderen Kirche ist von der Gültigkeit der empfangenen Taufe auszugehen, es sei denn eine Taufe sei nachweisbar nicht rite vorgenommen worden. Kommen Zweifel über die Gültigkeit der vom Pfarrer der anderen Kirche am Ort vollzogenen Taufen auf, sollten sie einvernehmlich geklärt werden. Konditionaltaufen dürfen nur vorgenommen werden, wenn die Zweifel an dem ordnungsgemäßen Vollzug der Taufe begründet sind und im Gespräch der Kirchenleitungen nicht ausgeräumt werden können. Zu Einzelheiten verweisen wir auf die Vereinbarungen der Konferenz der Kirchenleitungen in Hessen zur Taufe (1977). 2. Gemeinde Die christliche Gemeinde ist als vielgestaltiger Leib Christi der Ort, an dem sich das Zusammenleben der Getauften zu bewähren hat. Ökumenische Gastfreundschaft ist die Grundform alltäglicher christlicher Gemeinschaft, die heute neu eingeübt werden sollte. a) Es sollten regelmäßige Tauftermine angeboten werden, auf die hin in ökumenischer Gemeinschaft vorbereitet wird. Dazu bieten sich ebenfalls die zweiten Feiertage der christlichen Hauptfeste im Kirchenjahr an oder z. B. jeder erste Sonntag zu Beginn eines Quartals. Die Vorbereitung kann in Form eines Taufseminars von drei bis vier Abenden geschehen. b) Die Taufe soll ein Ausgangspunkt und Anstoß zu weiteren ökumenischen Gemeindebeziehungen sein. Besonders wichtig ist es, dass Kinder in konfessionell gebundenen Kindergärten und Grundschulen in ökumenischem Geist erzogen werden. c) Die Taufe begründet die Gleichrangigkeit aller Getauften. Dazu gehört die Aufwertung des allgemeinen Priestertums gegenüber einem Übergewicht des ordinierten Amtes; die gleichberechtigte Gemeinschaft von Frauen und Männern in der Kirche; die mündliche Teilhabe sog. Laien an Leitungsaufgaben unserer Kirchen. 3. Öffentlichkeit Die Taufe ist kein privater Vorgang, sondern verpflichtet zur Weltverantwortung. Daher ist es eine wichtige Folgerung, dass Getaufte ein gemeinsames Zeugnis ihres Glaubens, ihrer Liebe und ihrer Hoffnung in der Öffentlichkeit geben.

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a) Das Zeugnis ökumenischer Gemeinschaft von Christen, Gemeinden und Kirchen untereinander vermittelt unserer vielfach zerrissenen Welt eine Hoffnung zur Überwindung ihrer Konflikte. b) Insbesondere gehört es zur Berufung aller Getauften, gemeinsam für Benachteiligte wie Ausländer oder Flüchtlinge im Alltag der Welt einzutreten und sich für die Überwindung von Nationalismus und Rassismus entschlossen einzusetzen. c) Mit dem Konziliaren Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung haben die Kirchen gemeinsam neu begonnen, die Weltverantwortung der Getauften einzuüben.

IV.1.3 »Lehrverurteilungen – kirchentrennend?«∗ Beschluss 94: Die Landessynode nimmt die Stellungnahme des Ständigen Theologischen Ausschusses und des Ausschusses für Innerdeutsche Ökumene und Catholica zu »Lehrverurteilungen – kirchentrennend?« zustimmend zur Kenntnis und macht sich das Ergebnis (III) zu eigen. Die Kirchenleitung wird beauftragt, die Stellungnahme an die Arnoldshainer Konferenz weiterzuleiten. I. Thema 1. Anlass In den evangelischen Bekenntnisschriften des 16. Jahrhunderts, die für Ordination sowie Presbyter- und Synodalgelübde von grundlegender Bedeutung sind, und in den Canones des Konzils von Trient (1545–1563), die zu den römisch-katholischen Lehrgrundlagen gehören, sind zwischen den reformatorischen und der römisch-katholischen Kirche gegenseitige Lehrverurteilungen ausgesprochen worden. Da sie bis heute gültig sind, stehen sie einer Verständigung unserer Kirchen in Grundfragen des Glaubens im Wege. Die 1980 von der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz eingesetzte Gemeinsame Ökumenische Kommission (GÖK) hat die Situation und die sich daraus ergebende ökumenische Aufgabe folgendermaßen beschrieben: »Die veränderte Lage der Christenheit in der Welt und die in Verbindung damit entstandene ökumenische Bewegung, besonders die ökumenischen Gespräche zwischen der römisch-katholischen und den evangelischen Kirchen seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil, aber auch konvergierende Entwicklungen im kirchlichen Leben auf beiden Seiten haben zu einem Abbau der konfessionellen Konfrontation früherer Jahrhunderte und zu einem neuen Bewusstsein der Verbundenheit im Glauben an Jesus Christus geführt. Dieses ist heute stärker als die Erinnerung an die Gründe der im 16. Jahrhundert eingetretenen Trennung. Dennoch stehen die damals ausgesprochenen gegenseitigen Verurteilungen, Verwerfungen und unterschiedlichen Lehren noch heute zwischen den Kirchen ∗

Protokoll der Landessynode 1993, S. 183, Anhang S. 272–282.

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und verhindern weitere Fortschritte auf dem Wege zu voller gegenseitiger Anerkennung und Gemeinschaft. Die Überprüfung dieser Verurteilungen und Lehrunterschiede ist deshalb eine dringende Aufgabe der Kirchen auf dem Wege der ökumenischen Verständigung.« (LV 19) Die Lehrverurteilungen beziehen sich hauptsächlich auf die drei Themenbereiche: Rechtfertigung, Abendmahl/Eucharistie und Papsttum. 2. Inhalt Die entscheidenden Gegensätze sollen mit den folgenden Zitaten kurz zusammengefasst werden: a) Rechtfertigung (1) Nach reformatorischem Verständnis beinhaltet die Rechtfertigungslehre den »ersten und obersten Artikel«, die Mitte des christlichen Glaubens: »Von diesem Artikel kann man nicht weichen oder nachgeben, es falle Himmel und Erde oder was nicht bleiben will« (Luther, Schmalkaldische Artikel, 1537, 11,1). Inhaltlich betrifft die Rechtfertigungslehre folgende sieben traditionelle Themen: Verderben des unerlösten Menschen vor Gott, Konkupiszenz/Begierde, die Passivität des Menschen vor Gott, rechtfertigende Gnade, das Verständnis des Glaubens, Heilsgewissheit und Verdienst. Den positiven Kern des reformatorischen Glaubens formuliert das Augsburger Bekenntnis von 1530 folgendermaßen: »Weiter wird gelehrt, dass wir Vergebung der Sünde und Gerechtigkeit vor Gott nicht durch unsere Verdienste, Werke und Gott versöhnenden Leistungen erreichen können. Vielmehr empfangen wir Vergebung der Sünde und werden vor Gott gerecht aus Gnade um Christi willen durch den Glauben, (das heißt) wenn wir glauben, dass Christus für uns gelitten hat und dass uns um seinetwillen die Sünde vergeben, Gerechtigkeit und ewiges Leben geschenkt wird. Diesen Glauben will Gott als Gerechtigkeit, die vor ihm gilt, ansehen und zurechnen – wie Paulus im 3. und 4. Kapitel des Römerbriefes (bes. 21ff. und 4,5) sagt.« (Artikel 4) Aus dieser reformatorischen Erkenntnis wurden folgende entscheidende Verwerfungen abgeleitet: »Auch werden die verworfen, die nicht lehren, dass man durch Glauben Vergebung der Sünden erlangt, sondern durch eigenes Handeln, das Gott versöhnen will« (Artikel 12). »Demnach verwerfen und verdammen wir«, dass die »Gerechtigkeit des Glaubens« nicht bedeutet »Vergebung der Sünden erlangen, sondern von wegen der durch den Heiligen Geist eingegossenen Liebe, Tugend und daraus folgender Werke mit der Tat vor Gott gerecht gemacht werden« (Konkordienformel 1580, Epitome III, Neg. 3). Auf dem Hintergrund der Rechtfertigungslehre ist auch der Satz der Schmalkaldischen Artikel im Zusammenhang mit der Messtheologie zu verstehen: »So bleiben wir ewiglich geschieden und gegeneinander« (a. a. O., II, 2.5). (2) Diesen Verwerfungen stehen die Verurteilungen des Konzils von Trient gegenüber: »Wenn jemand sagt, dass die Menschen gerechtfertigt werden, entweder einzig und allein durch die Anrechnung der Gerechtigkeit Christi, oder einzig und allein durch die Nachlassung der Sünden unter Ausschluss der Gnade und der Liebe, die durch den Heiligen Geist in ihre Herzen eingegossen wird und ihnen anhaftet; oder auch die Gnade, durch die wir gerechtfertigt werden, sei nur die Gunst Gottes: der sei ausgeschlossen« (anathe-

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masit). »Wenn jemand sagt, der rechtfertigende Glaube sei nichts anderes als das Vertrauen auf die um Christi willen unsere Sünde nachlassende Barmherzigkeit Gottes; oder dieses Vertrauen allein sei es, wodurch wir gerechtfertigt werden: der sei ausgeschlossen« (Dekret über die Rechtfertigung, Canon 11 und 12, DS 1561/62). b) Abendmahl/Eucharistie Der Gegensatz hat sich in der Reformationszeit auf das Verständnis der Messe zugespitzt. (1) In den Schmalkaldischen Artikeln (11,2.5) heißt es dazu: »Da aber die Messe nichts anders ist noch sein kann – wie der Messkanon und alle Messbücher besagen – als ein Werk des Menschen – auch böser Schurken –, mit dem einer sich selbst und andere mit sich gegen Gott versöhnen, Vergebung der Sünden und Gnade erwerben und verdienen will …, soll und muss man sie verdammen und verwerfen. Denn das ist direkt gegen den Hauptartikel, der da besagt, dass nicht ein böser oder guter Messdiener mit seinem Werk, sondern das Lamm Gottes und der Sohn Gottes unsere Sünde trägt (Joh. 1,29).« Den Gegensatz zwischen Abendmahl und römisch-katholischer Messe fasst der Heidelberger Katechismus (1563) in Frage 80 folgendermaßen zusammen: »Das Abendmahl bezeugt uns, dass wir für alle unsere Sünden vollkommene Vergebung haben durch das Opfer Jesu Christi, das er selbst ein für allemal am Kreuz dargebracht hat, und dass wir durch den Heiligen Geist mit Christus vereinigt werden, der jetzt mit seinem wahren Leib zur Rechten des Vaters im Himmel thront und dort angebetet werden will. Die Messe aber lehrt, dass die Lebendigen und die Toten nur dann durch das Leiden Christi Vergebung für ihre Sünden empfangen, wenn Christus täglich von neuem von den Messpriestem für sie geopfert wird, und dass Christus leiblich in Brot und Wein sei und darum dort angebetet werden soll. Dadurch verleugnet die Messe das einmalige und einzige Opfer und Leiden Jesu Christi und ist eine vermaledeite (fluchwürdige) Abgötterei.« (2) Dem stehen die Verwerfungen des Konzils von Trient entgegen: »Wer sagt, das Opfer der Messe sei nur ein Lob- und Dankopfer oder eine bloße Erinnerung an das Opfer am Kreuz, nicht aber ein Sühnopfer; oder es nütze nur dem, der es empfängt, und es dürfe nicht für Lebende und Verstorbene für die Sünden, Strafen, Bußen und andere Nöte dargebracht werden: der sei ausgeschlossen« (Lehre über das Opfer der heiligen Messe, Canon 3, DS 1753). Wer »jene wunderbare und einzigartige Verwandlung der ganzen Substanz des Brotes in den Leib und der ganzen Substanz des Weines in das Blut, wobei nur die Gestalten des Brotes und Weines bleiben« leugnet und stattdessen behauptet, es »bleibe die Substanz des Brotes und Weines zugleich mit dem Leibe und Blute unseres Herrn Jesu Christi bestehen, der sei ausgeschlossen« (Dekret über die heilige Eucharistie, Canon 2, DS 1652). c) Papsttum (1) Der Konflikt um die gegenseitige Anerkennung der ordinierten Ämter hat sich in der Reformationszeit auf die Stellung zum Papsttum konzentriert. Dazu liegen jedoch auf beiden Seiten keine offiziellen Verwerfungssätze vor. Weil aber Luther der Meinung war,

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dass der damalige Papst »sich über und wider Christus gesetzt und erhöht hat«, darum bezeichnete er ihn in den Schmalkaldischen Artikeln (11,4) als »Antichrist«. (2) Auf römisch-katholischer Seite sind erst im Vatikanum l 1870/71 Jurisdiktionsprimat und Unfehlbarkeit des Papstes dogmatisiert worden. Dazu wurde festgestellt: »Wenn es aber einer unternimmt, dieser Unserer Definition zu widersprechen, was Gott verrichten möge: der sei ausgeschlossen« (Dogmatische Konstitution über die Kirche Christi, Canon, DS 3074f.). 3. Tragweite Diese gegenseitigen Lehrverurteilungen sind bis zum heutigen Tag offiziell nicht außer Kraft gesetzt worden. Im Gegenteil: Jeder und jede Ordinierte in der evangelischen Kirche und jeder zum Priester Geweihte in der römisch-katholischen Kirche ist jeweils summarisch auf die Bekenntnis-Grundlagen seiner bzw. ihrer Kirche und damit auch auf die in ihnen enthaltenen Lehrverurteilungen verpflichtet. Diesem Tatbestand widersprechen jedoch inzwischen theologisch erarbeitete und ökumenisch gewachsene grundlegende Gemeinsamkeiten zwischen unseren Kirchen. Sie haben bereits zu der Übereinstimmung geführt, »dass Jesus Christus und sein Evangelium die Quelle, Mitte und Norm des christlichen Lebens sind. Die Besinnung darauf muss die gespaltene Christenheit zur Buße führen und zur Bemühung um Überwindung der Trennung der Kirche, die die Einheit des Leibes Christi verletzt und dem Gebet des Herrn für die Einheit der Glaubenden widerspricht.« (LV 20) Als ein erster Schritt zur Überwindung der Trennung ist es unerlässlich, diesen Lehrverurteilungen ihre kirchentrennende Funktion offiziell zu nehmen. Es ist z. B. ein unerträglicher Selbstwiderspruch in der evangelischen Kirche, sich einerseits für die Abendmahlsgemeinschaft zwischen den Kirchen einzusetzen und andererseits bekenntnismäßig die Messe als »vermaledeite Abgötterei« festzuhalten. Die offizielle Aufhebung der gegenseitigen Lehrverurteilungen macht den Weg dazu frei, ein vertieftes gemeinsames Verständnis von Rechtfertigung, Abendmahl/Herrenmahl/Eucharistie und Amt in unseren Kirchen zu gewinnen. Ohne eine solche Aufarbeitung der Konflikte aus der Reformationszeit ist die gegenseitige Anerkennung der evangelischen und römisch-katholischen Kirche nicht möglich und das Ziel der Kirchengemeinschaft nicht erreichbar. II. Weg Der Prozess zur Aufarbeitung der gegenseitigen Lehrverurteilungen hat bereits eine Reihe von Stationen durchlaufen, die hier kurz benannt werden sollen. 1. Am 17. November 1980 fand in Mainz erstmals eine Begegnung zwischen dem Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland und Papst Johannes Paul II. statt. Dabei wurde vereinbart, eine Gemeinsame Ökumenische Kommission (GÖK) zu bilden, die die zwischen den Konfessionen stehenden Probleme überwinden und das gemeinsame Zeugnis der Kirchen stärken sollte. 2. Von 1981 bis 1985 befasste sich im Auftrag der Gemeinsamen Ökumenischen Kommission der Ökumenische Arbeitskreis evangelischer und katholischer Theologen (ÖAK,

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Stählin-Jäger-Kreis) mit der Aufarbeitung der gegenseitigen Lehrverurteilungen aus dem 16. Jahrhundert zu den Themen Rechtfertigung, Sakramente und Amt. 3. Aufgrund der Ergebnisse des Ökumenischen Arbeitskreises verfasste die Gemeinsame Ökumenische Kommission am 26. Oktober 1985 ihren Schlussbericht »Zur Überprüfung der Verwerfungen des 16. Jahrhunderts«. Sein Kernsatz lautet: »Die Gemeinsame ökumenische Kommission bittet daher die Leitungen der betroffenen Kirchen, verbindlich auszusprechen, dass die Verwerfungen des 16. Jahrhunderts den heutigen Partner nicht treffen, insofern seine Lehre nicht von dem Irrtum bestimmt ist, den die Verwerfung abwehren wollte« (LV, 195). 4. Ergebnisse der Untersuchungen des Ökumenischen Arbeitskreises, der Schlussbericht der Gemeinsamen Ökumenischen Kommission sowie eine Einführung der Herausgeber zum »Entstehen und Werden der Studie« sind als Buch veröffentlicht: K. Lehmann / W. Pannenberg (Hg.) Lehrverurteilungen – kirchentrennend?, I. Rechtfertigung, Sakramente und Amt im Zeitalter der Reformation und heute, Freiburg i. Br. / Göttingen 1986, 199 S. (abgekürzt LV) 5. Im November 1986 fasste die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland zum Thema Lehrverurteilungen folgenden Beschluss: »Von allen Beteiligten ist die Frage zu beantworten, ob die gegenseitigen Verwerfungen des 16. Jahrhunderts die jeweils gemeinte Kirche heute noch treffen, d. h. zu prüfen, ob deren Lehre von dem Irrtum bestimmt ist, den die Verwerfung abwehren wollte.« 6. In den Jahren 1987 bis 1990/91 sind im Auftrag des damaligen Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR (BEK), der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD) und der Arnoldshainer Konferenz (AKf) drei Stellungnahmen erarbeitet worden: a) Votum des Facharbeitskreises Faith and Order- und Catholica-Fragen zum »Schlussbericht der Gemeinsamen Ökumenischen Kommission zur Überprüfung der Verwerfungen des 16. Jahrhunderts«, Berlin (Ost), Dezember 1990, USB-Nr. 266/90, 29 S. b) Stellungnahme des Gemeinsamen Ausschusses der VELKD und des Deutschen Nationalkomitees des Lutherischen Weltbundes zum Dokument »Lehrverurteilungen – kirchentrennend?«, 13. September 1991, Nr. 42/1991, 103 S. c) Die Stellungnahme der von der Arnoldshainer Konferenz eingesetzten Theologischen Kommission zum Dokument »Lehrverurteilungen – kirchentrennend?«, 29. September 1991, Nr. III/78/91, 52 S. 7. In der römisch-katholischen Kirche sind die Dokumente zu den Lehrverurteilungen 1986 entgegengenommen und zur Ausarbeitung von Stellungnahmen weitergeleitet worden: a) Die Ökumenische Kommission der Deutschen Bischofskonferenz arbeitet an einer Stellungnahme, die voraussichtlich im Frühjahr 1993 abgeschlossen sein wird.

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b) Der Päpstliche Rat zur Förderung der christlichen Einheit in Rom sammelt und koordiniert die Stellungnahmen aus verschiedenen Ländern bzw. Bischofskonferenzen. c) Mit einer offiziellen römisch-katholischen Stellungnahme zur Frage der Lehrverurteilungen ist im Verlauf des Jahres 1993 zu rechnen. Schlussfolgerungen: Die Landessynode der Evangelischen Kirche im Rheinland ist – wie die Entscheidungsgremien aller Gliedkirchen der Evangelischen Kirche in Deutschland – aufgefordert, nun ihrerseits zur Frage der Lehrverurteilungen eine verbindliche Äußerung abzugeben. III. Ergebnis A. 1. Die Synode will mit ihrer Erklärung zu der kirchentrennenden Bedeutung der Lehrverurteilungen des 16. Jahrhunderts einen Beitrag zur gegenseitigen Anerkennung zwischen reformatorischen Kirchen und römisch-katholischer Kirche leisten. 2. Sie sieht in der Aufarbeitung der historischen Lehrverurteilungen und der durch sie verursachten Konflikte einen wichtigen Schritt auf dem Wege zu gemeinsamer Erkenntnis der in Christus gegebenen Einheit der Kirchen. 3. Die Synode begrüßt dankbar die Arbeit der Gemeinsamen Ökumenischen Kommission (GÖK), dokumentiert in dem Band »Lehrverurteilungen – kirchentrennend?« (1986). Sie sieht darin einen neuen Ansatz, um verfestigte Positionen durch gemeinsame theologische Arbeit zu überwinden. In ähnlicher Weise suchen viele Gemeinden und ökumenische Arbeitskreise neue Orientierungspunkte, um den einen Glauben zu bekennen und gemeinsam zu handeln. B. Die Synode bejaht folgende Ergebnissätze des ökumenischen Arbeitskreises evangelischer und katholischer Theologen als Ausgangspunkte für einen weiteren theologischen Klärungsprozess: Zur Rechtfertigung: »Was das Verständnis der Rechtfertigung des Sünders angeht, so treffen die beiderseitigen ... Verwerfungsaussagen des 16. Jahrhunderts nicht mehr mit kirchentrennender Wirkung den Partner von heute« (LV 74). Zum Abendmahl/Eucharistie: »Wichtige Kontroversen der Vergangenheit können aus heutiger Sicht als theologisch soweit aufgearbeitet gelten, dass die Gründe für gegenseitige Verurteilungen entfallen« (LV 121). Zum Papsttum: »Auf ein Papsttum, dessen Amt dem Evangelium untergeordnet ist, kann ... das Urteil der Reformation über den Papst keine Anwendung finden« (LV 169). Die Synode bejaht ebenfalls die Präzisierungen, die die von der Arnoldshainer Konferenz eingesetzte theologische Kommission dazu getroffen hat: 1. »Eine Rechtfertigungslehre, die besagt, dass wir Sünder allein aus der vergebenden Liebe Gottes leben, die wir uns nur schenken lassen, aber auf keine Weise, wie abgeschwächt auch immer, ›verdienen‹ oder an von uns zu erbringende Vor- oder Nachbedingungen

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binden können (LV 75), wird von den Verwerfungen der Schmalkaldischen Artikel und der Konkordienformel nicht getroffen.« (AKf, S. 50) 2. »Eine Messe, die nicht als Ergänzung des einmaligen Opfertodes Jesu Christi verstanden wird, die nicht zur Anbetung der Abendmahlselemente führt, die nicht als Sühne für die Toten gilt und deren Zentrum das Mahl der Gemeinde ist, in dem Christus sich selbst gibt, wird von den Verwerfungen der Schmalkaldischen Artikel (11,2) und des Heidelberger Katechismus (Frage 80) nicht getroffen. In einer so verstandenen Eucharistiefeier erkennen evangelische Christen das Mahl des Herrn wieder.« (S. 50) (Die Seitenzahlen beziehen sich auf die in Abschnitt II Nr. 6c aufgelistete Stellungnahme.) 3. »Ein Papstamt, das sich nicht über, sondern unter die Heilige Schrift stellt und dessen Lehramtsentscheidungen folglich an der Heiligen Schrift zu prüfen und zu messen sind, wird von den Verwerfungen der Schmalkaldischen Artikel nicht getroffen. Es ist eine offene Frage, wie die Unterordnung des Papstamtes unter das Wort Gottes angesichts des im I. Vaticanum definierten Anspruchs unfehlbarer Lehrgewalt verwirklicht werden kann.« (AKf, S. 51 – s.o.) Die Synode begrüßt die mit diesen Feststellungen erreichte Klärung. Die Ergebnisse sind zwar noch keine ausreichende Grundlegung einer gemeinsamen theologischen Lehre im Sinn einer Konkordie. Dazu sind weitere theologische Anstrengungen notwendig, die die noch bestehenden Differenzen, vor allem in der Amtsfrage, aufarbeiten. Sonst ist der bisher erarbeitete Konsens gefährdet. Als einen notwendigen Schritt auf dem Wege zur sichtbaren Einheit erklärt die Synode dennoch verbindlich: Die aufgeführten reformatorischen Verwerfungsurteile im Blick auf Rechtfertigung, Abendmahl/Eucharistie und Papsttum haben für uns keine kirchentrennende Bedeutung mehr. Daraus ergibt sich u. a. als Konsequenz: »Polemische und nicht zutreffende Ausdrücke gegen den anderen und seine Lehre müssen zurückgenommen und künftig vermieden werden« (LV 195). Die Synode stellt daher fest: Auf eine Rechtfertigungslehre, wie sie in dem Dokument »Lehrverurteilungen – kirchentrennend?« zusammenfassend erläutert wird, trifft das Urteil nicht mehr zu: »So bleiben wir ewiglich geschieden und gegeneinander« (Schmalkaldische Artikel II, 2.5); es wird von uns insofern künftig nicht mehr verwendet. Auf die römisch-katholische Messe, wie sie in dem Dokument »Lehrverurteilungen – kirchentrennend?« beschrieben wird, treffen die Verwerfungen der Schmalkaldischen Artikel sowie der Ausdruck des Heidelberger Katechismus (Frage 80) »vermaledeite Abgötterei« nicht zu; er wird von uns insofern künftig nicht mehr verwendet. Auf ein Papsttum, dessen Amt dem Evangelium untergeordnet ist, trifft der Ausdruck »Antichrist« nicht zu; er wird von uns insofern künftig nicht mehr verwendet. Die Lehrverurteilungen behalten zwar ihre Bedeutung als damalige Grenzmarkierungen und bleiben Warnungen. Sie dürfen uns aber nicht daran hindern, auf dem Weg zu größerer sichtbarer Einheit voranzuschreiten. Um dem Ziel einer Kirchengemeinschaft in Wort und Sakrament näherzukommen, empfiehlt die Synode, die Lehrgespräche mit der römisch-katholischen Kirche fortzusetzen. Sie erklärt ihre Bereitschaft, das ihre dazu beizutragen, dass der Prozess der Verständigung im Bereich der rheinischen Kirche spürbar gefördert wird.

IV.2 Notwendigkeit und Möglichkeiten ökumenischer Zusammenarbeit am Ort, 1993∗

Vorwort Die Ausarbeitung »Notwendigkeit und Möglichkeiten ökumenischer Zusammenarbeit am Ort« des landeskirchlichen Ausschusses für Innerdeutsche Ökumene und Catholica erhebt nicht den Anspruch, theologische Grundsatzfragen zu klären. Sie möchte in einer Zeit, in der nach allgemeinem Empfinden die ökumenische Zusammenarbeit der Kirchen ins Stocken geraten ist, unsere evangelischen Gemeinden im Rheinland an die Notwendigkeit einer solchen Zusammenarbeit erinnern, zu der sie nach unserer Kirchenordnung verpflichtet sind. Dabei lässt sie sich von dem ökumenischen Grundsatz leiten, dass letztlich die Gemeinde der Ort ökumenischer Zusammenarbeit ist, so wichtig dafür auch Beschlüsse auf landeskirchlicher und weltweiter Ebene sind. Darum möchte sie unseren Gemeinden Anregungen für eine solche Zusammenarbeit geben, indem sie auf Modelle hinweist, die im Laufe der Zeit auf örtlicher Ebene bereits erprobt und erfolgreich durchgeführt werden konnten. Sie hegt auch nicht die Erwartung, dass jede Gemeinde alle in der Handreichung enthaltenen Anregungen aufgreifen und in die Tat umsetzen müsste, um ihrem ökumenischen Engagement gerecht werden zu können. Vielmehr versteht sie sich als Angebot, dem ökumenischen Grundsatz von Lund (1952) soweit wie möglich zu entsprechen: »Die Kirchen sollten in allen Dingen gemeinsam handeln, außer in solchen, in denen sie aus Gründen des Glaubens und Gewissens gezwungen werden, noch getrennt zu handeln.«

A. Grundlegung I. Die ökumenische Grundlage der Evangelischen Kirche im Rheinland 1.

Das Zeugnis der Heiligen Schrift

Im hohenpriesterlichen Gebet bittet Jesus Christus für die Gemeinschaft der Seinen, »dass sie alle eins seien. Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir, so sollen auch sie in uns sein, damit die Welt glaube, dass du mich gesandt hast.«



In: P. Beier (Hg.), Handreichung Nr. 46, Düsseldorf 1993, S. 59–94.

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Die Gemeinschaft der Christenheit auf Erden entspricht dem letzten Willen ihres Herrn: Sie setzt die Gemeinschaft der Liebe zwischen Vater und Sohn fort in der Gemeinschaft der Glaubenden; sie kommt zum Ziel im Glauben der Welt an Gottes Gesandten. Der Epheserbrief mahnt zur »Einigkeit im Geist durch das Band des Friedens: ein Leib und ein Geist, wie ihr auch berufen seid zu einer Hoffnung eurer Berufung; ein Herr, ein Glaube, eine Taufe; ein Gott und Vater aller, der da ist über allen und durch alle und in allen« (Eph 4,3–6). Dem einen Vater, Herrn und Geist entspricht die Gemeinschaft der Christen in einem Leib, in einem Glauben und einer Taufe, die in der Einigkeit des Geistes und der gemeinsamen Hoffnung zum Ausdruck kommt. »Der dreieinige Gott will durch eine einige Christenheit geehrt sein.«1 2.

Die Bekenntnisse

Die Evangelische Kirche im Rheinland weiß sich diesem Zeugnis der Heiligen Schrift verpflichtet. Sie bekennt sich mit dem Ökumenischen Glaubensbekenntnis von NizäaKonstantinopel (381) zu der »einen, heiligen, katholischen und apostolischen Kirche« und versteht sich als deren Teil. Sie bezeugt mit dem Augsburger Bekenntnis (Art. 7), dass es »zur wahren Einheit der christlichen Kirche (genügt), dass das Evangelium einmütig im rechten Verständnis verkündigt und die Sakramente dem Wort Gottes gemäß gefeiert werden«.2 Sie bejaht mit der Theologischen Erklärung von Barmen (Art. 3) die christliche Kirche als »Gemeinde von Brüdern (und Schwestern), in der Jesus Christus in Wort und Sakrament durch den Heiligen Geist als der Herr gegenwärtig handelt« (vgl. dazu auch Grundartikel I der rheinischen Kirchenordnung). 3.

Grundartikel IV

Auf dem Hintergrund dieses Schriftzeugnisses und dieses durch die Jahrhunderte überlieferten christlichen Glaubenserbes verpflichtet sich die Evangelische Kirche im Rheinland, die lutherische, reformierte und unierte Traditionen vereinigt, in ihrem Grundartikel IV nicht nur dazu, innerhalb der reformatorischen Kirchen »die kirchliche Gemeinschaft der Evangelischen Kirche der Union und der Evangelischen Kirche in Deutschland zu fördern«, sondern darüber hinaus auch »durch Zusammenarbeit mit den Kirchen der Ökumene an der Verwirklichung der Gemeinschaft der Christenheit auf Erden teilzunehmen«. Diese »Zusammenarbeit mit den Kirchen der Ökumene« geschieht auf örtlicher, landeskirchlicher und internationaler Ebene. In einer Zeit, in der die »Verwirklichung der Gemeinschaft der Christenheit auf Erden« ins Stocken geraten zu sein scheint, kommt es umso mehr darauf an, die Möglichkeiten der ökumenischen Zusammenarbeit am Ort entschlossen wahrzunehmen. Dieses Proponendum will den Gemeinden dazu Vorschläge unterbreiten und Spielräume eröffnen, die der verbreiteten Resignation wehren und unausgeschöpfte Möglichkeiten aufzeigen können. Denn um die ökumenische Gemeinschaft der Christenheit auf Erden ist es letztlich so gut bzw. so mangelhaft bestellt, wie 1

Erklärung der Gemeinsamen Ökumenischen Kommission zur 1600-Jahr-Feier des Glaubensbekenntnisses von Nizäa-Konstantinopel, 1981; in: H.-G. Link (Hg.), Gemeinsam glauben und bekennen. Handbuch zum Apostolischen Glauben, Neukirchen-Vluyn / Paderborn 1987, 238. 2 In: G. Gaßmann (Hg.), Das Augsburger Bekenntnis Deutsch 1530–1980. Revidierter Text, Göttingen/Mainz 1980, 27.

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sie von Angehörigen der verschiedenen Kirchen und Kulturkreise an ihrem jeweiligen Ort erfahren wird. II. Bestandsaufnahme: Die Entwicklung der ökumenischen Beziehungen in der Evangelischen Kirche im Rheinland 1.

Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft

Im Rahmen der Evangelischen Kirche in Deutschland bzw. der Evangelischen Kirche der Union besteht zwischen der Evangelischen Kirche im Rheinland und den folgenden Kirchen seit 1987 Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft: mit der Evangelisch-methodistischen Kirche in der Bundesrepublik Deutschland und West-Berlin sowie mit der United Church of Christ (Vereinigte Kirche Christi) in den Vereinigten Staaten von Nordamerika. Ein Jahr zuvor (1986) hat die Landessynode der Evangelischen Kirche im Rheinland wie alle Gliedkirchen der Evangelischen Kirche in Deutschland einer Vereinbarung über die gegenseitige Einladung zur Teilnahme an der Feier der Eucharistie mit dem Katholischen Bistum der Alt-Katholiken in Deutschland zugestimmt. 2.

Partnerkirchen

a)

Die Evangelische Kirche im Rheinland unterhält partnerschaftliche Beziehungen zu Kirchen in Asien und Afrika, die in der durch den Zusammenschluss der Rheinischen Mission (gegründet 1828) und der Bethel-Mission (gegründet 1886) 1971 entstandenen Vereinigten Evangelischen Mission (VEM) zu einem ökumenischen Verbund zusammengeschlossen sind. Dabei werden multilaterale Beziehungen der Kirchen angestrebt, die durch die früheren Missionsgesellschaften entstanden sind. Partnerkirchen der Vereinigten Evangelischen Mission (VEM), der sich 1975 auch die ZaireMission angeschlossen hat, sind:

AFRIKA 1. Namibia Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Namibia (ELCRN) 2. Botswana Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Botswana (ELCB) 3. Tansania Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Tansania (ELCT), der 15 Gliedkirchen angehören, darunter insbesondere: Die Nord-West-Diözese (NWD) Die Nord-Ost-Diözese (NED) Die Ost- und Küstensynode (ECS) Die Karagwe-Diözese (KAD)

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4. Ruanda Die Episkopale Kirche in Ruanda (Diözese Butare), (EER/DB) Die Presbyterianische Kirche in Ruanda (EPR) 5. Zaire Die Kirche Christi im Zaire (ECZ), der 63 Gliedkirchen angehören, darunter insbesondere: Die Gliedkirche der Jünger Christi (CDCZ) Die Baptistische Gliedkirche im Kivu (CBK) Die Gliedkirchen der Vereinigten Evangelischen Kirchengemeinden an der Lulonga (CADELU) 6. Kamerun Die Evangelische Kirche von Kamerun (EEC) Im Auftrag der Evangelischen Kirche von Westfalen ASIEN 7. Indonesien Der Indonesische Kirchenrat (DGI), dem 53 Kirchen angehören, darunter insbesondere: Die Christlich-Protestantische-Toba-Batakkirche (HKBP) Die Christliche Kirche in Indonesien (HKI) Die Christlich-Protestantische Kirche in Indonesien (GKPI) Die Christlich-Protestantische Simalungun-Batakkirche (GKPS) Die Christlich-Protestantische Karo-Batakkirche (GBKP) Die Christlich-Protestantische Angkola-Batakkirche (HKBPA) Die Christliche Batak-Versammlungskirche (GPKB) Die Christlich-Protestantische Kirche auf Nias (BNKP) Die Evangelische Kirche in Irian-Jaya (GKI) Die Christlich-Protestantische Mentawai-Kirche (GKPM) Die Christliche Kirche in Ost-Java (GKJW) 8. Hongkong Die Synode der Chinesisch-Rheinischen Kirche in Hongkong (CRC) 9. Sri Lanka Die Methodistische Kirche in Sri Lanka 10. Philippinen Die Vereinigte Evangelische Kirche auf den Philippinen (UCCP) b) Darüber hinaus bestehen freundschaftliche Beziehungen zu den evangelischen Kirchen in Ungarn, zu einigen Mitgliedskirchen des Ökumenischen Rates der Kirchen in Polen, zur Evangelischen Kirche der Böhmischen Brüder in der CSFR, zur Evangelischen Kirche in Siebenbürgen, zu den reformatorischen Kirchen in Rumänien, zu den evangelischen Kirchen in Österreich, Italien und Frankreich sowie zu den evangelischen Kirchen in den Niederlanden und den Vereinigten evangelischen Kir-

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chen in Belgien. Hier arbeitet die Evangelische Kirche im Rheinland unter anderem aktiv im deutsch-belgischen Bruderrat mit. c)

Nicht zuletzt pflegen einzelne Kirchenkreise und Kirchengemeinden partnerschaftliche Beziehungen zu christlichen Gemeinden in aller Welt, wobei vor allem auf den Bundesschluss hinzuweisen ist, den die Vereinigte Kirche Christi in den Philippinen und der Kirchenkreis Koblenz im Rahmen der Bundesschlüsse auf der Weltversammlung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung in Seoul geschlossen haben.3

d) Schließlich ist die Evangelische Kirche im Rheinland Mitglied in den regionalen Arbeitsgemeinschaften Christlicher Kirchen in Nordrhein-Westfalen, Südwest und Rhein-Main, so wie viele ihrer Gemeinden sich an den lokalen Arbeitsgemeinschaften christlicher Kirchen beteiligen. Gemeinsam mit der Evangelischen Kirche von Westfalen und der Lippischen Landeskirche besteht ein Gesprächskreis mit der Evangelisch-methodistischen Kirche und dem »Bund freier evangelischer Gemeinden« (Baptisten) sowie ein »Ökumenisches Forum«, das einmal jährlich veranstaltet wird und an dem sich auch Vertreter anderer Freikirchen dieser Region beteiligen. 3.

Beschlüsse der Landessynode über die Beziehungen zu anderen Kirchen

a)

Römisch-katholische Kirche

1971 Freigabe der von der katholischen Deutschen Bischofskonferenz und dem Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland herausgegebenen Ordnung der kirchlichen Trauung konfessionsverschiedener Paare unter Beteiligung der Pfarrer beider Kirchen zur Erprobung für den Bereich der Evangelischen Kirche im Rheinland.4 1972 Gemeinsame Erklärung der Diözesen und Landeskirchen in Nordrhein-Westfalen über eine evangelisch-katholische Zusammenarbeit im sozialen und kulturellen Bereich. 1973 Erklärung der Landessynode über die Zusammenarbeit der evangelischen und katholischen Kirche am Ort. Antwort der Landessynode auf die Vergebungsbitte Papst Pauls VI. 1974 Erneute Bitte an die Evangelische Kirche in Deutschland, auf die Vergebungsbitte Papst Pauls VI. zu antworten.

3

Vgl. Seoul‚ 90. »Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung«. Das Schlussdokument der Weltkonvokation des ÖRK in Korea zum konziliaren Prozess, epd-Dokumentation 16/90, Frankfurt/Main 2. April 1990, 31 Nr. 6. 4 Gemeinsame kirchliche Trauung. Ordnung der kirchlichen Trauung für konfessionsverschiedene Paare unter Beteiligung der Pfarrer beider Kirchen, Kassel/Regensburg 1971.

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1979 Ökumenische Wortgottesdienste an Sonntagen (Bitte an die katholische Deutsche Bischofskonferenz) 1980 Anmeldung evangelischer Schüler an katholischen Bekenntnisschulen (Informationsmaterial für Eltern) b) Freikirchen 1976 Wort der Landessynode zum Gespräch und zur Zusammenarbeit mit den evangelischen Freikirchen. 1987 Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft mit der Evangelisch-methodistischen Kirche in der Bundesrepublik Deutschland und West-Berlin. c)

Orthodoxe Kirchen

1978 Partnerschaft mit orthodoxen Kirchen und Gemeinden. 1989 Pastorale Zusammenarbeit mit orthodoxen Kirchen. d) Andere Kirchen 1974 Zustimmung der Landessynode zur Konkordie reformatorischer Kirchen in Europa (Leuenberger Konkordie) von 1973. 1983 Erklärung der Landessynode über »Die ökumenische Dimension der Diakonie«. 1985 Stellungnahme der Landessynode zur Konvergenzerklärung der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung: Taufe, Eucharistie und Amt. 1986 Vereinbarung über eine gegenseitige Einladung zur Teilnahme an der Feier der Eucharistie mit dem katholischen Bistum der Altkatholiken in Deutschland. 1987 Wahrnehmung der Kirchengemeinschaft mit der United Church of Christ (Vereinigte Kirche Christi) in den USA. 1990 Zustimmung zur »Meißener Feststellung« von 1988: »Auf dem Weg zu sichtbarer Einheit« mit der Kirche von England (anglikanische Kirche).

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Resolution der Landessynode zum konziliaren Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung. 4.

Beschlüsse der Landessynode zur Lage im südlichen Afrika

1971 Erklärung der Landessynode zum Programm des Ökumenischen Rates der Kirchen zur Bekämpfung des Rassismus. 1973 Die Entschließung der Bremer Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland zur Lage im südlichen Afrika wird den evangelischen Gemeinden im Rheinland als Informationsmaterial zugeleitet. 1974 Zur Lage im südlichen Afrika – Denkschrift über Rassenkonflikt. 1975 Stellungnahme der Landessynode zur Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen – Antirassismusprogramm. 1979 Beschluss der Rheinischen Landessynode zum Sonderfonds zur Bekämpfung des Rassismus. 1980 Beschluss der Rheinischen Landessynode zum Sonderfonds des Antirassismusprogramms. 1982 Weitere Beschlüsse zum Programm zur Bekämpfung des Rassismus. 1983 Gespräch mit dem Namibischen Kirchenrat. 1984 Partnerschaft mit den Kirchen in Namibia. 1985 Kirchensteuermittel für den Sonderfonds zur Bekämpfung des Rassismus. Solidarität mit den Leidenden. Bank- und Geschäftsbeziehungen zu rassistischen Regimen. 1987 Wirtschaftssanktionen gegen die Republik Südafrika. Geschäftsverbindungen von Banken zu Südafrika. Generalamnestie für alle politischen Gefangenen in Südafrika. 1988 Geschäftsverbindungen von Banken zu Südafrika und Wirtschaftssanktionen gegen die Republik Südafrika.

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Boykott südafrikanischer Kohle. Stellungnahme zum Vereinigungsprozess der lutherischen Kirchen in Namibia. 1989 Bitte an den Rat und die Synode der EKD, die Übergangsregelung für die deutschsprachigen weißen Kirchen in Südafrika auf drei Jahre festzulegen. Danach sollten erneute Vereinbarungen mit den drei Kirchen nur dann getroffen werden, wenn deren schwarze Schwesternkirchen dagegen keine grundsätzlichen Bedenken erheben. 5.

Beschlüsse der Landessynode zum Verhältnis von Christen und Juden

1965 Bitte der Landessynode an die Bundesregierung um Aufnahme normaler diplomatischer Beziehungen zum Staat Israel. Bitte der Landessynode an die Evangelische Kirche in Deutschland, eine Studienkommission einzurichten, die das Verhältnis der Kirche zum Judentum theologisch klären soll. 1969 Bitte der Landessynode an die Kirchenkreise und Kirchengemeinden, dem Versöhnungswerk Nes Ammim als Förderer beizutreten. 1974 Stellungnahme der Landessynode zum Lebensrecht des Staates Israel. 1975 Erneute Stellungnahme der Landessynode zum Lebensrecht des Volkes Israel. 1976 Einsetzung eines Ausschusses zum Thema »Christen und Juden« und Bitte an Juden, in diesem Ausschuss mitzuarbeiten. Stellungnahme gegen den Anti-Zionismusbeschluss der UNO und erneute Bekräftigung des Existenzrechtes für den Staat Israel. 1978 Wort der Landessynode an die Gemeinden zum Gespräch zwischen Christen und Juden. 1980 Synodalbeschluss zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden. 1983 Erklärung der Landessynode zum Verhältnis von Christen und Juden aus Anlass der 50. Wiederkehr des Beginns des nationalsozialistischen Regimes. 1987 Änderungen der Kirchenordnung, durch die die Beteiligung am Gespräch zwischen Christen und Juden als Aufgabe der Kirchengemeinde bezeichnet wird (Art. 5), das durch die Kreissynode (Art. 140 i) und die Landessynode (Art. 169, 6) gefördert werden soll.

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1988 Zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden – Überlegungen im Blick auf die Wiederkehr des 50. Jahrestages der Synagogenbrände. III. Ökumene am Ort – Klärungen 1.

Ökumene

Das Wort Ökumene wird heutzutage in unterschiedlichem Verständnis gebraucht. Im Neuen Testament bezeichnet Oikoumene den ganzen bewohnten Erdkreis (z. B. Lk 2,1). Heute kann man zwei Grundbedeutungen unterscheiden: (1) Ökumene ist die Gemeinschaft zwischen Christen und Kirchen verschiedener Konfessionen bzw. Traditionen (»vertikale Ökumene«). (2) Ökumene ist die Gemeinschaft zwischen Christen und Kirchen verschiedener Kontinente und Kulturen (»horizontale Ökumene«). Der Klärung dienen zwei Abgrenzungen: (1) Ökumene bezeichnet üblicherweise nicht die Gemeinschaft innerhalb derselben Konfession eines Landes. (2) Ökumene bezeichnet üblicherweise nicht die Gemeinschaft zwischen Religionen.5 Die verschiedenen Aspekte des Begriffs »Ökumene« kann man mit Matthias Sens folgendermaßen zusammenfassen: »Ökumene ist die Gemeinschaft aller Christen und Kirchen in der Überwindung konfessioneller, nationaler, kultureller und sozialer Grenzen, die in Zeugnis und Dienst unterwegs ist zur Einheit der Menschheit unter Christus.«6 2.

Ökumene am Ort

Ökumene am Ort bezieht sich auf die Gemeinschaft aller an einem größeren oder kleineren Ort lebenden Christen, Gemeinden und Kirchen. Dazu gehören im Rheinland in erster Linie die Glieder der evangelischen und römisch-katholischen Kirche, die seit der Reformationszeit in einer Art Schicksalsgemeinschaft miteinander verflochten sind. Dazu zählen heute ebenfalls Angehörige der Freikirchen sowie der alt-katholischen, anglikanischen und orthodoxen Kirchen. Übersiedler, Aussiedler und Ausländer der verschiedensten Länder gehören selbstverständlich mit zur Ökumene am Ort. 3.

Ökumenische Gemeinschaft

Ökumenische Gemeinschaft reicht vom gegenseitigen Kennenlernen bis zum gemeinsamen Beten und Handeln. Sie sollte sich von dem Grundsatz leiten lassen, »in allen Dingen gemeinsam (zu) handeln …, abgesehen von solchen, in denen tiefe Unterschiede der Überzeugung sie zwingen, für sich allein zu handeln«.7 Dabei ist in erster Linie nicht an 5 Matthias Sens, »Ökumene« und »ökumenisch«, in: H.M. Moderow / M. Sens (Hg.), Orientierung Ökumene. Ein Handbuch, Berlin 1979, 13ff. 6 A. a. O. 15. 7 Sog. Lunder Diktum von 1952, in: Gemeinsam glauben und bekennen, a. a. O. 22.

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eine Verschmelzung der verschiedenen Gemeinschaften am Ort gedacht, sondern daran, die Vielfalt ihrer unterschiedlichen Ausprägungen in der Einheit des gemeinsamen Geistes zum Blühen zu bringen. Ziel der ökumenischen Bewegung am Ort ist eine Gemeinschaft von Christen wie sie von der 3. Vollversammlung des Ökumenischen Rates 1961 in Neu Delhi beschrieben worden ist: »Alle an jedem Ort, die in Jesus Christus getauft sind und ihn als Herrn und Heiland bekennen, (werden) durch den Heiligen Geist in eine völlig verpflichtete Gemeinschaft geführt …, die sich zu dem einen apostolischen Glauben bekennt, das eine Evangelium verkündigt, das eine Brot bricht, sich in gemeinsamem Gebet vereint und ein gemeinsames Leben führt, das sich in Zeugnis und Dienst an alle wendet.«8 Die 5. Vollversammlung hat 1975 in Nairobi dieses Ziel verdeutlicht: »Jede Einzelgemeinde (ist) bestrebt, die angebahnten Beziehungen aufrecht zu erhalten und neue Beziehungen zu ihren Schwestergemeinden anzuknüpfen und diesen Beziehungen in konziliaren Zusammenkünften Ausdruck zu verleihen, wo immer die Erfüllung des gemeinsamen Auftrags dies erfordert.«9

B. Ökumenische Zusammenarbeit am Ort Die Notwendigkeit ökumenischer Zusammenarbeit hat darin ihren Grund, dass alle Christen im Namen desselben Vaters, Sohnes und Heiligen Geistes die Taufe empfangen haben. Die Konvergenzerklärung von Lima 1982 stellt dazu fest: »Unsere gemeinsame Taufe, die uns mit Christus im Glauben vereint, ist so ein grundlegendes Band der Einheit (Eph 4,3–6) … Die Einheit mit Christus, an der wir durch die Taufe teilhaben, hat wichtige Folgen für die Einheit der Christen … Daher ist unsere eine Taufe in Christus ein Ruf an die Kirchen, ihre Trennungen zu überwinden und ihre Gemeinschaft sichtbar zu manifestieren.«10 Ökumenische Zusammenarbeit ist also weder eine beliebige noch eine zusätzliche Aufgabe, vielmehr gehört sie zu den Grundfunktionen der Kirche, die im Sakrament der Taufe ihre Grundlage hat. Die Evangelische Kirche im Rheinland hat sich in ihrer Stellungnahme zu den Lima-Erklärungen vom Januar 1985 diese Sicht ausdrücklich zu eigen gemacht: »Wir nehmen den Ruf an die Kirchen, ihre Trennungen zu überwinden und ihre Gemeinschaft sichtbar zu manifestieren, als auch an uns gerichtet auf und erkennen die Notwendigkeit an, die in der Taufe gegebene Einheit wiederzugewinnen.«11 I. Begegnungen 1.

Einander kennenlernen

Oft ist es erstaunlich, wie wenig Christen verschiedener Konfessionen, die jahrzehntelang zusammen an einem Ort leben, über die jeweils andere Konfession wissen. Interesselosig8

In: L. Vischer (Hg.), Die Einheit der Kirche. Material der ökumenischen Bewegung, ThB 30, München 1965, 159f. 9 In: H. Krüger / W. Müller-Römheld (Hg.), Bericht aus Nairobi 1975, Frankfurt/Main 1976, 26. 10 Taufe, Eucharistie und Amt. Konvergenzerklärungen der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung des Ökumenischen Rates der Kirchen, Frankfurt/Main, Paderborn 1982, 10f., § 6. 11 In: Landessynode 1985. Beschlüsse der Synode, 57: Taufe und Einheit der Kirche (6 b).

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keit aneinander, Gleichgültigkeit, Vorurteile und blanke Unkenntnis stehen einer Verständigung oft mehr im Wege als Glaubensfragen. Deshalb empfehlen wir unseren Gemeinden, regelmäßige Begegnungsmöglichkeiten zu schaffen, damit man sich im Lauf der Zeit kennen, verstehen und schätzen lernen kann. Dazu tragen u. a. bei: (1) Halb- oder vierteljährliche Gespräche zwischen den Pfarrern: das sog. »Ökumenische Konveniat«; (2) Regelmäßige Kontakte zwischen den Gemeindevorständen, z. B. Presbyterium und Pfarrgemeinderat; (3) Begegnungen zwischen Gemeindegruppen wie Jugendlichen, Eltern mit Kleinkindern, Senioren; (4) Gegenseitige Besuche der Gottesdienste, z. B. von Konfirmanden und Firmlingen mit ihren Eltern und Paten; (5) Einladungen zu Festen und Jubiläen; (6) »Ökumenischer Frühschoppen« einmal im Monat im Anschluss an den Gottesdienst; (7) Eine Besuchsreihe bei allen Kirchen am Ort: »Christen lernen Christen kennen«; »Kirchen stellen sich vor«. 2.

Miteinander ins Glaubensgespräch kommen: Themenreihen

Man kann nicht erwarten, dass nach jahrhundertelanger Eigenentwicklung die Fremdheit zwischen Angehörigen verschiedener Konfessionen in wenigen Jahren verschwindet. Sie muss ausgesprochen, aufgearbeitet und ökumenisch fruchtbar gemacht werden. Über die uns alle zutiefst prägende konfessionelle Vergangenheit mit einem Achselzucken zur Tagesordnung übergehen zu wollen, wäre dem Reichtum und der Tiefendimension unseres konfessionellen Erbes ebenfalls nicht angemessen. In den verschiedenen Konfessionen warten Schätze an christlicher Erfahrung und Erkenntnis darauf, von anderen Kirchen entdeckt und in das gemeinsame ökumenische Haus eingebracht zu werden. Dem dient das Gespräch über unseren gemeinsamen Glauben und sein jeweiliges Verständnis. In zahlreichen Gemeinden haben sich seit Beginn der siebziger Jahre ökumenische Gesprächskreise zusammengefunden und gemeindliche Pionierarbeit geleistet. Es ist verständlich, wenn ihnen zum Teil nach jahrelangem Gedankenaustausch zuweilen der Atem ausgeht. Es hat den Anschein, als befänden sich zurzeit viele ökumenische Gruppen in einer solchen Motivations- und Orientierungskrise. Andererseits sind während der siebziger und achtziger Jahre von Kommissionen einzelner und mehrerer Kirchen so viele ökumenische Themen erörtert und Ergebnisse erzielt worden wie nie zuvor.12 Nach unserem Eindruck sind sie jedoch bisher auf gemeindli12

Die meisten Ergebnisse sind in folgenden Veröffentlichungen zugänglich: H. Meyer / H.J. Urban / L. Vischer (Hg.), Dokumente wachsender Übereinstimmung. Sämtliche Berichte und Konsenstexte interkonfessioneller Gespräche auf Weltebene 1931–1982, Frankfurt/Main, Paderborn 1983, 709 S.; H.-G. Link (Hg.), Gemeinsam glauben und bekennen. Handbuch zum Apostolischen Glauben, Neukirchen-Vluyn / Paderborn 1987, 363 S.

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cher, synodaler und kirchenleitender Ebene unserer evangelischen Kirche noch nicht hinreichend zur Kenntnis genommen worden, geschweige denn als gemeinsame Glaubensaussage offiziell anerkannt worden. Je länger ein ökumenischer Gesprächskreis besteht, desto wichtiger wird es für sein eigenes Überleben, sich weder von Tagesaktualität zu Tagesaktualität zu hangeln noch sich in irgendeinen Aktionismus zu stürzen, vielmehr das gegenseitige Kennenlernen von der Oberfläche in die Tiefe gegenseitigen Verstehens zu führen. Dem dienen Themenreihen, die man auch für ökumenische Gemeindeseminare verwenden kann, z. B.: (1) Unser gemeinsames Kirchenjahr. Wie feiern wir die christlichen Feste?13 (2) Besondere evangelische und katholische Feiertage (Karfreitag, Reformationstag, Buß- und Bettag, Fronleichnam, Allerheiligen, Marienfeste). (3) Unsere gemeinsamen Glaubensbekenntnisse: Das apostolische und das ökumenische Bekenntnis von Nizäa-Konstantinopel (381).14 (4) Was uns noch trennt (Umgang mit Maria, den Heiligen, dem Papst, der Kirche).15 (5) Taufe, Eucharistie und Amt. Der Lima-Prozess.16 (6) Den einen Glauben gemeinsam bekennen. Der Weg zu einem gemeinsamen Ausdruck des apostolischen Glaubens.17 (7) Wachsende Übereinstimmung zwischen evangelischer und katholischer Kirche.18 (8) Der konziliare Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung.19 (9) Gemeinsame Herausforderungen heute (neue Sekten und Jugendreligionen, erschöpfte Schöpfung, Hunger und Weltwirtschaft u. a. m.).20 (10) Nöte und Chancen konfessionsverbindender Familien.21 13

Vgl. dazu u. a. F. Thiele (Hg.), Religiöse Feste der Juden, Christen und Moslems. Daten und Erläuterungen, Konstanz 1986, 53 S. 14 Vgl. dazu u. a. Deutsche Bischofskonferenz (Hg.), Katholischer Erwachsenenkatechismus. Das Glaubensbekenntnis der Kirche, Bonn 1985, 462 S. 15 Vgl. dazu u. a. H. Glässgen (Hg.), Evangelisch – Katholisch. Muss das sein? Was verbindet, was trennt, Freiburg 1987, 142 S. 16 Vgl. dazu u. a. E.-E. Pioch (Hg.), Ökumene in der Gemeindepraxis. Ein Handbuch zu den Konvergenzerklärungen von Lima, Breklum 1986, 192 S. 17 Vgl. dazu u. a. Den einen Glauben bekennen. Auf dem Weg zu einem gemeinsamen Ausdruck des apostolischen Glaubens auf der Grundlage des Glaubensbekenntnisses von Nizäa-Konstantinopel (381), Studiendokument der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung (Faith and Order Paper Nr. 140), Genf 1988, 108 S. 18 Vgl. dazu u. a. Bilaterale Arbeitsgruppe der Deutschen Bischofskonferenz und der Kirchenleitung der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirchen Deutschlands (VELKD), Kirchengemeinschaft in Wort und Sakrament, Hannover/Paderborn 1984, 110 S. 19 Vgl. dazu u. a. L. Coenen (Hg.), Unterwegs in Sachen Zukunft. Das Taschenbuch zum konziliaren Prozess, Stuttgart/München 1990, 257 S. 20 Vgl. dazu u. a. H. Reller / M. Kießig (Hg.), Handbuch Religiöse Gemeinschaften, Gütersloh 1985, 795 S. 21 Vgl. dazu u. a. B. und J. Beyer, Konfessionsverbindende Ehe. Impulse für Paare und Seelsorger, Mainz 1986, 120 S.

288 3.

IV. Publikate der 1990er Jahre

Bibel-Teilen

Für evangelische Christen liegt es besonders nahe, das Gespräch über den gemeinsamen Glauben mit der aufgeschlagenen Bibel in der Hand zu suchen. Dazu ist in Lateinamerika und Südafrika eine Bibelmeditation in sieben Schritten entwickelt worden, die unter dem Namen Bible-Sharing – Bibel-Teilen – bekannt geworden ist und auch in europäischen ökumenischen Gruppen immer mehr Anhänger gewinnt: (1) Wir bitten Gott um seine Gegenwart. (2) Wir lesen den Bibelabschnitt. (3) Wir wiederholen Worte, Wendungen, Satzteile laut und besinnlich, mit kurzen Pausen dazwischen, ohne Kommentare, damit das Bibelwort »einsickern« kann. (4) Wir bedenken und bewegen den Text in Stille (ca. 5 Min.). (5) Wir teilen uns gegenseitig mit, was uns besonders angesprochen hat, ohne zu diskutieren. (6) Wir besprechen miteinander, wozu Gottes Wort uns in unserer konkreten Alltagswelt bewegen will. (7) Wir beschließen das Bibel-Gespräch mit kurzen Gebeten, einem gemeinsamen Gebet oder einem Lied.22 Man braucht für eine solche gemeinschaftliche Bibel-Meditation mindestens 45 Minuten Zeit, kann sie aber durchaus auf die doppelte Zeitspanne und länger ausdehnen. II. Ökumenische Spiritualität Ökumene hat im gemeinsamen Gebet und Gottesdienst ihr Zentrum. Indem Christen sich gemeinsam vor Gott versammeln und zu ihm beten, wird deutlich, dass die ökumenische Bewegung keine menschliche Erfindung ist und Kirchengemeinschaft von Gott erbeten sein will. 1.

Gegenseitige Fürbitte

Im Fürbittengebet jedes Sonntagsgottesdienstes ist Gelegenheit, für die Christen und Gemeinden anderer Kirchen am eigenen Ort und die Gemeinschaft mit ihnen zu beten. In Abendmahlsgottesdiensten liegt es besonders nahe, die alte Bitte um die Vereinigung der ganzen Christenheit aufzunehmen. Der Ökumenische Rat der Kirchen hat schon in den siebziger Jahren einen Ökumenischen Fürbittkalender erarbeitet – 1989 ist er in vollständig überarbeiteter Fassung erschienen23 –, der mit zahlreichen Gebetsvorschlägen dazu anleitet, in jedem Gottesdienst für ein bestimmtes Gebiet der Erde und seine Be22 Vgl. dazu das Faltblatt »Bibel-Teilen«. 7 Schritte zum Leben; zu beziehen bei: Erzbischöfliches Seelsorgeamt – Familienseelsorge, Okenstraße 15, 79108 Freiburg/Br. (Tel.: 0761 – 5144-201). 23 H.-G. Link (Hg.), Mit Gottes Volk auf Erden. Ökumenischer Fürbittkalender, Frankfurt/Main 1989, 336 S.

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wohner Fürbitte zu tun. »So werden die an einem Ort zum Gottesdienst versammelten Christen jeden Sonntag daran erinnert, dass sie zur weltweiten Gemeinschaft der Christenheit gehören, sie erfahren etwas von dem Reichtum wie von den Nöten des umfassenden Leibes Christi, dessen Teil sie sind, und sie wissen zumindest einmal im Jahr, dass Christen in aller Welt an ihren eigenen Freuden und Leiden Anteil nehmen.«24 2.

Andachten

In der Advents-, Passions- und Osterzeit finden in manchen Kirchen wöchentliche Andachten statt. Da sich der teilnehmende Personenkreis meist in überschaubaren Grenzen hält, bietet sich eine ökumenische Durchführung an. Bewährt haben sich namentlich das ökumenische Hausgebet im Advent25, der Jugendkreuzweg am Freitag vor Palmsonntag26 sowie Bildmeditation zum Hungertuch.27 In anderen Gemeinden finden monatliche ökumenische Friedensgebete an Wochentagen statt. Auch die mancherorts üblichen täglichen Stundengebete (Morgenlob, Vesper, Komplet) können mit ökumenischer Beteiligung gehalten werden. 3.

Wortgottesdienste

a)

Für jede Kirche ist der Gottesdienst ihre spirituelle Mitte. Die evangelische stimmt mit der katholischen Kirche darin überein, dass ein Grundbestand ökumenischer Wortgottesdienste nach Möglichkeit ein »fester Bestandteil des liturgischen Lebens der Gemeinden« werden soll.28

Um sie zu einem solchen festen Bestandteil des Gemeindelebens werden zu lassen, empfiehlt es sich, auf regelmäßig wiederkehrende Termine etwa in vierteljährlichem Abstand hinzuarbeiten. Aus evangelischer Sicht spricht nichts dagegen, solche Wortgottesdienste auch am Sonntag, etwa als Abendgottesdienst, stattfinden zu lassen. b) Zahlreiche Anlässe bieten sich zur Auswahl an, wie etwa: − − − − − − − 24

Beginn des Kirchenjahres am 1. Advent Heiligabendvesper Silvestervesper Neujahr (Weltfriedenstag) Epiphanias: z. B. Sternsingen; Neujahrsbegegnung Allianzgebetswoche (erste volle Januarwoche) Gebetswoche für die Einheit der Christen (18.–25. Januar oder Woche vor Pfingsten)

A. a. O. 8. Die Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen – Region Südwest – gibt dazu jährlich ein neues Faltblatt heraus, das in der Ökumenischen Zentrale, Neue Schlesingergasse 22–24, 60311 Frankfurt/Main, bezogen werden kann. 26 Das Jugendhaus Düsseldorf e.V., Postfach 32 05 20, 40477 Düsseldorf, veröffentlicht jährlich einen »Kreuzweg der Jugend« mit Texten, Liedern und Bildern u. a. 27 Die bekannten Misereor-Hungertücher aus verschiedenen Erdteilen können bezogen werden bei Misereor, Mozartstraße 9, 52064 Aachen. 28 Erklärung der deutschen Bischöfe vom 11. Mai 1976, in: J. Höffner, Ermutigung zur ökumenischen Praxis in den Gemeinden, Zeitfragen 26, Köln 1984, 4. 25

290 − − − − − − − − − − − − − − − − −

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Weltgebetstag der Frauen (1. Freitag im März) Gemeinsamer Beginn der Passionszeit am Aschermittwoch: Kreuzandacht (eventuell auch mit anschließendem Fischessen) Palmsonntag (Eröffnung der Karwoche) Gründonnerstag (Agape und Gebetsnacht) Karfreitag (Einladung katholischer Gemeindeglieder und eines katholischen Predigers) Osternacht (Lichtfeier mit Austausch der Osterkerzen) Ostermontag (Emmausgang mit Kaffeetrinken, Osterliedersingen, Gemeinschaftstänzen und Lesung der Emmaus-Geschichte) Woche vor Pfingsten (Gemeinschaft der Kirchen) Woche nach Pfingsten (Konziliarer Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung) Letzter Sonntag vor den Sommerferien: Familiengottesdienst mit Reisesegen Schuljahresbeginn: Gottesdienst für die Schulanfänger mit ihren Eltern Woche der ausländischen Mitbürger (letzte Septemberwoche): Gottesdienst mit ausländischen Gruppen und Agape Erntedankfest: Gottesdienst mit Brotsegnung und anschließender Mahlzeit Reformationstag: Gottesdienste und andere Veranstaltungen Martinstag 10./11.11.: Laternenumzug, Vesper, Martinsgansessen Allerheiligen, Volkstrauertag: Totengedenken, Friedensgebet Buß- und Bettag

c)

Eine sorgfältige dialogische Ausarbeitung der Liturgie (Psalmen, Lieder, Antwortgesänge, Chöre u. a.) trägt maßgeblich zur Bereicherung ökumenischer Wortgottesdienste bei. Ausdrücklich sei auf symbolische Vorgänge hingewiesen, die meist eine tiefere Ebene erreichen, als Worte allein es vermögen: Segenshandlungen, Friedensgruß, Prozessionen u. a. m. Es kommt der Glaubwürdigkeit wie der Ganzheitlichkeit der ökumenischen Begegnung zugute, wenn sich an die Wortgottesdienste ein Beisammensein (Stehkaffee, Agape, Abendessen) anschließt. Es hat sich bewährt, dass eine Gruppe die Verantwortung für Vorbereitung und Ausgestaltung der ökumenischen Wortgottesdienste sowie des anschließenden gemeinsamen Beisammenseins übernimmt.

4.

Taufgottesdienste

Taufen werden in den verschiedenen christlichen Kirchen vollzogen. »Die Taufe, die mit Wasser durch Übergießen oder Eintauchen und auf den Namen des Vaters und Sohnes und des Heiligen Geistes in einer Kirche vollzogen ist, wird von der katholischen und der evangelischen Kirche anerkannt.«29 a)

Gemeinsame Taufvorbereitung

Eine Folgerung aus der gegenseitigen Anerkennung der Taufe besteht darin, sich gemeinsam auf die Taufe vorzubereiten. »Die Vorbereitung von Täuflingen, Eltern und Paten auf die Taufe bietet eine besondere Chance, sich auf die gemeinsamen Glaubensgrundla-

29

Gemeinsames Wort der Deutschen Bischofskonferenz und des Rates der EKD zur konfessionsverschiedenen Ehe vom 1. Januar 1985, II.

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291

gen zu besinnen. Wir empfehlen daher, wo immer möglich, die ökumenische Dimension bei der Taufvorbereitung zu betonen.«30 (1) Man kann sich neben anderen auf die altkirchlichen Taufdaten: Osternacht, Pfingsten und Epiphanias besinnen und jeweils die 2. Feiertage von Weihnachten, Ostern und Pfingsten als regelmäßige Tauftermine verabreden. (2) Man kann auf diese regelmäßig wiederkehrenden Tauftermine hin ein- bis dreimal jährlich gemeinsame Abende zur Vorbereitung auf die Taufe anbieten. An diesen Abenden können sowohl der gemeinsame Taufansatz der Kirchen wie ihre unterschiedliche Gestaltung zur Sprache kommen. (3) Aus der gemeinsamen Vorbereitung ergibt sich ein Ansatzpunkt für die gegenseitige Anteilnahme an den jeweiligen Tauftagen in Form von Grüßen, Blumen, Geschenken, Besuchen und gemeinsamer Tauferinnerung. b) Taufgottesdienst Es ist wichtig, im Taufgottesdienst zu verdeutlichen, dass der Täufling nicht nur der je eigenen Konfession, sondern damit der einen Kirche Jesu Christi eingegliedert wird. Diese ökumenische Dimension der Taufe sollte der verantwortliche Amtsträger durch geeignete Lieder, Worte und Gesten zum Ausdruck bringen. Unser Taufvollzug in der Evangelischen Kirche im Rheinland bedarf einer sorgfältigen Rücksichtnahme auf die Taufpraxis anderer Kirchen; außerdem kann er eine Bereicherung durch sinnvolle Zeichenhandlungen, die in anderen Traditionen üblich sind, durchaus vertragen. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auf die Kreuzbezeichnung des Täuflings, die gemeinsame Handauflegung von Pfarrer, Eltern und Paten sowie das Überreichen einer Taufkerze. Nach evangelischem Verständnis können dem Täufling »christliche Paten« an die Seite treten, die ihm betend, beratend und helfend beistehen; sie können einer anderen Kirche, die Mitglied der ACK ist, angehören und sich mit Lesungen und Gebeten an der Tauffeier aktiv beteiligen. Da die liturgischen Elemente der Tauffeier weitgehend identisch sind (Taufevangelium, Glaubensbekenntnis, Taufritus), spricht nach evangelischem Verständnis nichts dagegen, gemeinsame Taufgottesdienste zu feiern, in denen der evangelische Amtsträger die evangelischen und der katholische die katholischen Täuflinge tauft. Eine von Geistlichen verschiedener Konfessionen gemeinsam gespendete Taufe gibt es nicht, wohl aber unter Beteiligung von Geistlichen verschiedener Kirchen gemeinsam gefeierte Taufgottesdienste. Eine Liturgie für solche Gottesdienste ist noch zu erarbeiten. c)

Taufgedächtnis

Um die mit der einen Taufe gegebene theologische Verwurzelung der ökumenischen Grunddimension unserer Kirche in den Gemeinden zu lebendigem Bewusstsein zu bringen, empfehlen wir die Einführung regelmäßiger Taufgedächtnisgottesdienste. »Der Brauch 30

Die Bedeutung der Konvergenzerklärungen zu Taufe, Eucharistie und Amt (Lima 1982) für unsere Kirchen und Gemeinden. Eine Äußerung des Ökumenischen Arbeitskreises der Kirchen in Köln vom 11. Januar 1982, 2 a.

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des Taufgedächtnisses (sollte) in unserer Kirche wiederentdeckt werden, etwa im Rahmen der Osternachtfeier!«31 Solche ökumenischen Taufgedächtnisgottesdienste sind auf evangelischen Kirchentagen (z. B. 1985 in Düsseldorf) wie auf Katholikentagen (z. B. 1986 in Aachen) sowie zum Abschluss der Tagung des Zentralausschusses des Ökumenischen Rates der Kirchen in Genf am 24. Januar 1987 gefeiert worden.32 Im Verlauf des Kirchenjahres ist nach alter evangelischer Tradition der 6. Sonntag nach Trinitatis dem Leben aus der Taufe gewidmet. Dieses Datum bietet sich dort an, wo Osternachtfeiern noch nicht üblich sind. 5.

Abendmahlsgottesdienste

a) Die Feier des Abendmahls rückt in unserer wie in anderen Kirchen immer mehr in den Vordergrund. Wir freuen uns über diese Entwicklung, die uns außer der immer schon zentralen Verbindung zu Jesus Christus unsere Verbundenheit mit der ganzen Christenheit auf Erden zunehmend erkennen lässt. »In der Eucharistie findet die Gemeinschaft des Volkes Gottes ihre volle Darstellung. Eucharistische Feiern haben es immer mit der ganzen Kirche zu tun …«33 Wir sprechen uns dafür aus, dieser ökumenischen Dimension in unseren Abendmahlsfeiern stärker als bisher Rechnung zu tragen. Das beginnt mit einer größeren Häufigkeit unserer Abendmahlsgottesdienste; wir schlagen zumindest monatliche Abendmahlsfeiern vor. »Die Bedeutung des Herrenmahls für das Leben der Kirche und für den Glauben des einzelnen Christen soll ihren Ausdruck auch in der Häufigkeit der Feier finden.«34 Unsere gottesdienstlichen Abendmahlsfeiern bedürfen insgesamt der Überprüfung daraufhin, inwieweit sie der schon heute erreichten ökumenischen Verständigung über die Bedeutung und Tragweite des Herrenmahls entsprechen. »Der beste Weg zur Einheit in der eucharistischen Feier und Gemeinschaft ist die Erneuerung der Eucharistie selbst in bezug auf Lehre und Liturgie in den verschiedenen Kirchen.«35 »Wir glauben, dass unsere Kirche hier noch zu lernen hat.«36 Wo immer es sinnvoll erscheint, empfehlen wir, in Abendmahlsgottesdiensten wieder häufiger das Ökumenische Glaubensbekenntnis von Nizäa-Konstantinopel (381) zu verwenden, das wir mit den meisten Kirchen teilen. Wir betrachten es als eine wesentliche Bereicherung, im Abendmahlsgebet dem trinitarischen Ansatz der Lima-Erklärung zur Eucharistie zu entsprechen und die Danksagung an den Vater (Präfation) sowie die Vergegenwärtigung des Sohnes (Einsetzungsworte) mit der Anrufung des Heiligen Geistes (Epiklese) zu verbinden.37 Eine stärker dialogische Gestaltung der Abendmahlsliturgie

31

Stellungnahme der rheinischen Landessynode 1985, a. a. O. 56, 5 b. Diese »Genfer Liturgie« ist im Materialdienst der Ökumenischen Centrale 1988/I, Nr. 5, veröffentlicht. 33 Taufe, Eucharistie und Amt. Lima 1982, a. a. O. 23, § 19. 34 Stellungnahme der rheinischen Landessynode 1985, a. a. O. 67, 5 a. 35 Taufe, Eucharistie und Amt. Lima 1982, a. a. O. 27, § 28. 36 Stellungnahme der rheinischen Landessynode 1985, a. a. O. 67, 5 b. 37 Vgl. dazu Lima 1982, a a. a. O. 19–23. 32

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zwischen Liturg und Gemeinde, wie sie die sog. Lima-Liturgie vorsieht, trägt entscheidend zur »Auflockerung« unserer Abendmahlsfeiern bei. Schließlich müssen wir eingestehen, dass der Umgang mit den Elementen nach der Abendmahlsfeier in unserer Kirche ein ungelöstes Problem darstellt. Wir können und dürfen uns nicht selbstgerecht über den Anstoß hinwegsetzen, den wir mit einer sorglosen oder gar fahrlässigen Praxis in dieser Hinsicht Angehörigen katholischer und orthodoxer Kirchen geben. Wir empfehlen, bei der Vorbereitung auf die angemessene Menge an Brot und Wein sorgfältigst zu achten, die übrig bleibenden Elemente nach der Feier in kleinem Kreis von Presbytern und Lektoren zu verzehren und die alte Praxis der Austeilung an Kranke und andere bei der Feier Abwesende zu neuem Leben zu erwecken.38 Erst wenn wir unsere eigene Theologie und Praxis der Abendmahlsfeiern in ökumenischem Geist erneuert haben, gewinnen wir an Überzeugungskraft, Angehörige anderer Kirchen zu unseren Abendmahlsfeiern einzuladen. b) Unsere Kirche hat in den vergangenen zwanzig Jahren eine erfreuliche Erweiterung der Sakramentsgemeinschaft mit anderen Kirchen erreicht: 1973 ist die Leuenberger Konkordie zwischen lutherischen, reformierten und unierten Kirchen verabschiedet worden. 1985 haben die evangelische und altkatholische Kirche in Westdeutschland die gegenseitige Einladung zur Teilnahme an den jeweiligen Abendmahlsfeiern vereinbart. Eine entsprechende Vereinbarung wird gegenwärtig zwischen der anglikanischen und evangelischen Kirche erarbeitet. Schließlich haben 1987 die evangelische und die Evangelischmethodistische Kirche ebenfalls Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft beschlossen. Wir möchten unsere Gemeinden ermutigen, wo immer möglich, diese Vereinbarungen mit Leben zu erfüllen und die Sakraments- und Lebensgemeinschaft mit altkatholischen, anglikanischen und evangelisch-methodistischen Gemeinden zu suchen, wo immer sie sich anbietet. c) Eine wechselseitige Abendmahlsgemeinschaft zwischen der römisch-katholischen Kirche, den orthodoxen und reformatorischen Kirchen ist noch nicht erreicht. Wir können diese fortdauernde Trennung am Tisch des Herrn zwischen unseren Kirchen nur mit tiefem Schmerz und wachsender Ungeduld zur Kenntnis nehmen. Dennoch bitten wir darum, die Geduld nicht zu verlieren und die katholische Kirche nicht unangemessen zu bedrängen oder gar an den Pranger zu stellen. Es ist kein ökumenisch verheißungsvoller Weg, sich zu nehmen oder ertrotzen zu wollen, was nur in gegenseitiger Übereinkunft gewährt werden kann. Es hat mehr Verheißung, die noch verbleibenden katholischen Anfragen (Opferbegriff, Gegenwart Christi, Vorsitzfrage, Kirchengemeinschaft) ernst zu nehmen und nach Möglichkeit in Theologie und Praxis des Abendmahls zu entkräften. Solange noch keine Einigung erzielt ist, soll die Erklärung der Landessynode vom 11. Januar 1973 bekräftigt werden, dass in der Evangelischen Kirche im Rheinland niemand von der Teilnahme am Abendmahl zurückgewiesen wird, »der in seiner Kirche im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes getauft und zum Abendmahl zugelassen ist, sofern er sich nicht durch Ordnungen seiner Kirche daran gehindert weiß«.39

38

Vgl. Lima 1982, a. a. O. 28, § 32. Erklärung der Landessynode über die Zusammenarbeit der evangelischen und katholischen Kirche am Ort, 1973.

39

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III. Gemeinsames Leben und Handeln 1.

Konfessionsverbindende Familien

a) Begriffsentwicklung: Mischehe – konfessionsverschiedene Ehe – konfessionsverbindende Ehe Das veränderte ökumenische Bewusstsein lässt sich nicht zuletzt auch an der in der Überschrift stichwortartig beschriebenen Begriffsentwicklung für solche Ehen ablesen, in denen einer der beiden Partner einer anderen Konfession angehört. Sprach man früher in solchen Fällen abfällig von »Mischehen«, vor denen man darum meinte warnen zu müssen, weil man befürchtete, dass eine solche Ehe zwangsläufig zu einem Abfall von der eigenen Glaubensüberzeugung führt, so spricht man heute lieber von konfessionsverschiedenen und manchmal sogar von konfessionsverbindenden Ehen. Dahinter steht die Überzeugung, dass das, was beide Konfessionen miteinander verbindet, stärker ist als das, was sie voneinander trennt. So heißt es beispielsweise in den vom Sekretariat der katholischen Deutschen Bischofskonferenz und der Kirchenkanzlei der Evangelischen Kirche in Deutschland 1981 herausgegebenen »Gemeinsame(n) kirchliche(n) Empfehlungen für die Seelsorge an konfessionsverschiedenen Ehen und Familien«: »Darum sind die Kirchen heute in der Lage, in solchen Ehen nicht mehr eine Ausnahme zu sehen, vor der ausschließlich zu warnen wäre. Eine konfessionsverschiedene Ehe kann zur wachsenden Einheit unter den Kirchen beitragen, wenn die Verwurzelung in der eigenen Konfession nicht gefährdet wird und beide Partner sich in einer tiefen Gemeinsamkeit des Glaubens finden«.40 b) Gemeinsame Trauungen Seit 1970 sind gemeinsame kirchliche Trauungen für solche Paare möglich, von denen der eine Partner der evangelischen, der andere der römisch-katholischen Kirche angehört. Dabei handelt es sich allerdings noch nicht um eine ökumenische Trauung im kirchenrechtlichen Sinn. Wohl aber sieht diese Regelung vor, dass sich an einer katholischen Trauung ein evangelischer und bei einer evangelischen Trauung ein katholischer Pfarrer beteiligen kann. Handelt es sich um eine katholische Trauung, so muss diese nach wie vor in einer katholischen Kirche stattfinden, wobei der katholische Pfarrer auch die Traufrage stellt, während bei einer evangelischen Trauung für den katholischen Partner zuvor beim Bischof die Erlaubnis eingeholt werden muss, die ihn von seiner Verpflichtung entbindet, sich katholisch trauen zu lassen. Eine wichtige Voraussetzung dafür ist das Versprechen des katholischen Ehepartners, das in seiner Ehe Mögliche zu tun, dass die aus dieser Ehe hervorgehenden Kinder im Glauben der römisch-katholischen Kirche erzogen werden. Dieses Versprechen muss auch dann von dem katholischen Ehepartner abgegeben werden, wenn bereits vor der Eheschließung feststeht, dass die Kinder im evangelischen Glauben erzogen werden. In diesem Falle bedeutet ein solches Versprechen nach den Ausführungsbestimmungen der katholischen Deutschen Bischofskonferenz zum Motu proprio »Matrimonia Mixta«, dass der katholische Ehepartner an der religiösen Erziehung und religiösen Gestaltung vor allem dadurch mitwirken muss, dass er 40

Arbeitshilfen 22, Bonn 1981, S. 9.

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seinen eigenen Glauben beispielhaft lebt und die Aufgeschlossenheit der Kinder für die Eigenart der Kirche fördert, der sie selbst nicht angehören.41 Auch wenn in der evangelischen Kirche vor der Trauung ein solches Versprechen von den Brautleuten nicht verlangt wird, so erwartet sie jedoch, dass die Kinder einer solchen Ehe von beiden Elternteilen im christlichen Glauben erzogen werden. c)

Gemeinsamer Gottesdienstbesuch und Beteiligung am Leben der Gemeinden

Um den Glauben des Ehepartners der jeweils anderen Konfession besser kennen und verstehen zu lernen, empfehlen wir den gemeinsamen Besuch der Gottesdienste in beiden Kirchen. Auch wenn der katholische Ehepartner nach wie vor dazu verpflichtet ist, an der sonntäglichen Eucharistiefeier teilzunehmen, so heißt es dazu in den gemeinsamen Empfehlungen für die Seelsorge an konfessionsverschiedenen Ehen und Familien von 1981 allerdings auch: »Ein katholischer Christ, der an einem Sonntag aus schwerwiegendem Grund an einem nichtkatholischen Gottesdienst teilnimmt, ist dann nicht zum zusätzlichen Besuch einer Eucharistiefeier verpflichtet, wenn ihm das nur unter großen Schwierigkeiten möglich wäre.«42 Eine weitere Schwierigkeit für konfessionsverschiedene Familien liegt darin begründet, dass es dem römisch-katholischen Christen von seiner Kirche aus verwehrt ist, in einem evangelischen Gottesdienst an einem Abendmahl teilzunehmen, wie umgekehrt es von römisch-katholischer Seite einem evangelischen Christen nicht erlaubt ist, die Eucharistie zu empfangen. Versuche, in dieser Frage zu einer einvernehmlichen Regelung zu kommen, haben bisher zu keinem Ergebnis geführt. Zwar kennt die römisch-katholische Kirche Ausnahmefälle, in denen evangelische Christen zur Eucharistiefeier zugelassen werden können, doch konnte sich die römisch-katholische Deutsche Bischofskonferenz bisher noch nicht dazu entschließen, darunter auch die Teilnahme eines evangelischen Christen an der Eucharistiefeier zu verstehen, der in einer konfessionsverschiedenen Ehe lebt. Wir ermutigen dazu, Gottesdienstbesucher, die einer anderen Konfession angehören, im Gottesdienst zu begrüßen und ausdrücklich zur Teilnahme am Abendmahl einzuladen, wie dies in manchen Gemeinden schon üblich ist. Dem Besuch konfessionsverschiedener Familien von Veranstaltungen der jeweils anderen Konfession stehen heute keine Schwierigkeiten mehr im Wege. Hier ist auch der Ort, wo unterschiedliche Glaubenserfahrungen miteinander ins Gespräch gebracht und als Bereicherung des eigenen Glaubens erfahren werden können. Wir empfehlen spezielle Gesprächsangebote für konfessionsverschiedene Ehepaare, wie sie sich bereits in manchen Gemeinden bewährt haben. Der Sinn dieser Angebote liegt darin, ihnen nicht nur die Schwierigkeiten, sondern auch die Herausforderungen, Aufgaben und Möglichkeiten bewusst zu machen, gemeinsam das Trennende zwischen den Konfessionen zu überwinden. 41

Besonders hingewiesen sei in diesem Zusammenhang auf das in Baden erarbeitete, ökumenisch besonders hilfreiche Formular C der Gemeinsamen kirchlichen Trauung von 1974, zu beziehen beim Ev. Oberkirchenrat, Postfach 22 69, Karlsruhe. 42 A. a. O. 20.

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Aus dieser Erkenntnis heraus hat unsere Landeskirche alle bis 1970 bestehenden Hindernisse für eine gemeinsame Beteiligung am Leben unserer Gemeinden aus dem Weg geräumt. So ist eine römisch-katholische Trauung und eine römisch-katholische Kindererziehung heute beispielsweise kein Hinderungsgrund mehr, Mitglied des Presbyteriums einer evangelischen Kirchengemeinde zu sein oder werden zu können. d) Ökumenische Vorhut Wenn sich konfessionsverschiedene Ehepaare heute gelegentlich als ökumenische Vorhut verstehen, so wird man nüchtern feststellen müssen, dass solche Ehepaare allein alle Probleme, die in einer über 450-jährigen Spaltung aufgetreten sind, nicht überwinden können. Dennoch wird man positiv anerkennen müssen, dass die Ausführungsbestimmungen der katholischen Deutschen Bischofskonferenz zu »Matrimonia Mixta« nicht ohne Druck aus den damaligen Gruppen konfessionsverschiedener Ehepaare zustande gekommen sind. Zwar können auch diese Ausführungsbestimmungen nicht davon absehen, dass es nach wie vor zwischen beiden Konfessionen schwerwiegende Unterschiede im Ehe-, Sakraments- und Amtsverständnis gibt, doch müssen diese bei einigem guten Willen nicht mehr auf dem Rücken der Ehepaare ausgetragen werden. Das setzt freilich voraus, dass solche Ehepaare bereit sind, ihrer eigenen Gewissensentscheidung zu folgen und dabei Seelsorger und Gemeinden zu suchen, die sie dazu ermutigen, aus ihrer eigenen Betroffenheit heraus Brücken zwischen den nach wie vor getrennten Kirchen zu bauen und auf diese Weise ihren ganz persönlichen Beitrag zur Einheit der Kirche zu leisten. Dazu wird es freilich nötig sein, dass sie selbst ihre Ehe nicht nur als gegenseitige Bereicherung erfahren und ihre eigenen Erfahrungen weitergeben, sondern auch bereit sind, Rücksicht zu nehmen auf alle, die auf Grund ihrer Erfahrungen noch immer Vorbehalte gegenüber einer ökumenischen Öffnung der eigenen Gemeinde haben. Wir möchten alle konfessionsverschiedenen Ehepaare dazu ermutigen, weiterhin ihren Beitrag dazu zu leisten, dass in den Kirchen die Bereitschaft wächst, bessere Lösungen für die Probleme solcher Ehen zu finden, in denen beide Partner aus dem Glauben ihrer Kirche heraus leben möchten. Dies trifft auch für jene Ehen zu, in denen einer der beiden Partner einer orthodoxen Kirche angehört. Gerade im Hinblick auf diese Ehen wäre es dringend erforderlich, dass die Evangelische Kirche in Deutschland mit den orthodoxen Kirchen zu ähnlichen Regelungen kommt, wie sie seit 1970 mit der römischkatholischen Kirche bestehen. Die Synode der Evangelischen Kirche im Rheinland hat darum 1989 in ihrem Beschluss über »Pastorale Zusammenarbeit mit orthodoxen Kirchen« die Kirchenleitung beauftragt, sich unter anderem der Ausarbeitung einer agendarischen Form für eine kirchliche Trauung orthodox/evangelischer Ehepaare anzunehmen, und die Bitte ausgesprochen, dass bis zur Erstellung einer solchen agendarischen Form für gemeinsame Trauungen möglichst bald Handreichungen für eine pastorale Begleitung bei evangelisch/orthodoxen Trauungen gegeben werden sollen.43 2.

Gemeinsames Zeugnis in ökumenischer Diakonie

Das gemeinsame Zeugnis von Christen wurzelt in ihrer Christusbeziehung und verweist auf ihre gemeinsame Hoffnung. Es entspricht dem ganzheitlichen Dienen Jesu an den 43

In: Landessynode 1989.

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Menschen im Alltag der Welt als »ökumenische Diakonie«. Auftrag, Inhalt und Reichweite des gemeinsamen Zeugnisses werden durch das Evangelium begründet und begrenzt. »Der Impuls zum gemeinsamen Zeugnis kommt nicht aus irgendeiner Strategie, sondern aus der persönlichen und gemeindlichen Erfahrung Jesu Christi. Das Bewusstsein der Gemeinschaft mit Christus und untereinander schafft die Dynamik, die Christen dazu drängt, gemeinsam ein sichtbares Zeugnis zu geben.«44 Das gemeinsame Zeugnis beginnt auf der gemeindlichen Ebene, es setzt sich fort im Dienst an der Gesellschaft und mündet in die Teilnahme am konziliaren Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung. a)

Gemeindliche Diakonie

In jeder Ortsgemeinde gibt es Aufgaben, die besser in ökumenischer Partnerschaft mit einer anderen Pfarr- bzw. Kirchengemeinde bewältigt werden können. Dazu können u. a. gehören: − − − − −



gemeinsame Besuche bei Neuzugezogenen, besonders in Neubaugebieten; Möglichkeiten für Mütter mit Kleinkindern: sog. Krabbelgruppen; Veranstaltungen und Freizeiten für Jugendliche, z. B. gemeinsame Fahrten zu Kirchentagen; Besuchsdienste für Kranke und ältere Menschen, z. B. »grüne Damen«; Einbeziehung von Aus- und Übersiedlern sowie Ausländern in das Gemeindeleben, z. B. durch Sprachkurse, Hausaufgabenhilfe, Hilfestellung bei Behörden, Begegnungsabende, Folklore, Feste; gemeinsame Haussammlungen, z. B. für Adveniat und »Brot für die Welt«.

b) Gesellschaftliche Verantwortung Christliche Gemeinden richten ihr gemeinsames Zeugnis nicht nur vor der Welt aus, um ihr ein Beispiel der Gemeinschaft zu geben, sondern auch für die Welt, damit möglichst viele Menschen etwas von der Güte Gottes zu spüren bekommen: »Wenn nur ein(e) einzige(r) weniger leidet, geht es der Welt schon besser« (Leitwort der ökumenischen Sammlung von »Brot für Brüder« und Misereor in der Westschweiz). Als Möglichkeiten gemeinsamer Verantwortung bieten sich, besonders in Städten, aber auch auf Kirchenkreis- bzw. Dekanatsebene, an: − − − − − − 44

gemeinsame Einrichtungen wie z. B. die Bahnhofsmission; Sorge für Problemgruppen wie z. B. Arbeitslose, Ausländer, Suchtkranke, Obdachlose; gemeinsame Beratungsdienste wie z. B. Telefonseelsorge, Ehe-, Erziehungs- und Lebensberatung; Zusammenarbeit bei Sozialstationen, Kindergärten, Krankenhäusern, Altersheimen; Mitwirkung bei der Planung von Neubaugebieten und der Sanierung von Wohnvierteln (z. B. Beteiligung an Bürgerinitiativen); Beteiligung an Dorf-, Stadt- oder Stadtteilfesten.45

Gemeinsames Zeugnis. Ein Studiendokument der Gemeinsamen Arbeitsgruppe der Römischkatholischen Kirche und des Ökumenischen Rates der Kirchen, 1980, in: Gemeinsam glauben und bekennen, a. a. O. 240. 45 Vgl. Der Bischof von Münster, Wegweisung für die Ökumene am Ort. Eine Handreichung für die Gemeinden, Münster 1984, 20f.

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c) Teilnahme am Konziliaren Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung Wir erfahren es täglich immer mehr, wie nicht nur unser Kontinent, sondern unsere Welt insgesamt zusammenrückt. Christen gehören auf Grund ihrer Taufe mit der weltweiten Christenheit auf Erden zusammen; sie nehmen teil an der Verantwortung der Regionen der Erde füreinander. Die 6. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen hat 1983 in Vancouver alle Kirchen aufgerufen, sich in einem Konziliaren Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung zusammenzufinden.46 Dieser Prozess hat u. a. zu den Konferenzen und Erklärungen von Stuttgart 1988, Dresden 1988/89, Basel 1989 und Seoul/Südkorea 1990 geführt. Nun kommt es darauf an, die Einsichten und Forderungen dieses weltweiten Prozesses in ökumenischer Gemeinschaft kennenzulernen und vor Ort umzusetzen. Dazu tragen bei: − − − − − − − −

Gruppen, die die bisher vorliegenden Dokumente des Prozesses studieren, um sich kundig zu machen, worum es geht47; Gruppen, die einen Aspekt von Gerechtigkeit, Frieden oder Bewahrung der Schöpfung in die Tat umsetzen; persönliche Selbstverpflichtungen; Gottesdienste zu den Themen48; Eine-Welt-Läden; Einladungen von Menschen aus den armen Ländern der Welt und Besuche bei den Menschen dort; ein konziliarer Begegnungstag in einer Gemeinde, z. B. am Buß- und Bettag; eine konziliare Begegnungstagung in einer Region49, etwa an einem Wochenende.

d) Öffentlichkeitsarbeit Das ökumenische Zeugnis wird durch Öffentlichkeitsarbeit entscheidend gefördert. Dazu gehören: − − − − − − − 46

ein gemeinsamer Begrüßungsbrief für Neuzugezogene; ein jährlicher oder halbjährlicher gemeinsamer Gemeindebrief; regelmäßige Hinweise auf Veranstaltungen anderer Kirchengemeinden im eigenen Gemeindebrief; Informationen in der Lokalpresse; gemeinsame Hinweisschilder auf die sonntäglichen Gottesdienste; gemeinsame Kreuzwege oder Prozessionen; eine öffentliche Versammlung unter freiem Himmel, z. B. für den konziliaren Prozess.

Vgl. Bericht aus Vancouver 1983, W. Müller-Römheld (Hg.), Frankfurt/Main 1983, 116. Vgl. dazu: Unterwegs in Sachen Zukunft. Das Taschenbuch zum konziliaren Prozess, L. Coenen (Hg.), 1990; Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung. Ein Werkbuch für die Gemeinde, Schibilski/Schlüter/Stobbe (Hg.), Düsseldorf 1990. 48 Vgl. dazu die vom Generalvikariat Trier, Hauptabteilung Pastorale Dienste, herausgegebenen Materialsammlungen und gottesdienstlichen Aufbereitungen zu den drei Themen, 1990. 49 Bisher haben im Rheinland zwei Tagungen stattgefunden: in St. Augustin vom 26.–28. Februar 1988 und in Knechtsteden vom 27.–29. Oktober 1989. 47

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3.

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Ökumenische Partnerschaften

Ökumenische Partnerschaften stellen reife und verbindliche Formen ökumenischer Zusammenarbeit dar. Sie leben von persönlichen Begegnungen, beruhen auf Gegenseitigkeit, sind auf Dauer angelegt und beinhalten einen Lernprozess, der von Erfahrungen und Begegnungen gespeist wird. Sie beginnen am jeweiligen Ort, können sich aber bis zu den Enden der Erde erstrecken. Die Außenbeziehungen der ökumenischen Partnerschaften befruchten in aller Regel die örtlichen und konfessionellen Innenbeziehungen. Sie lassen Beziehungen menschlich konkret werden, die sonst anonym und allgemein bleiben. Das Maß des ökumenisch verbindlichen Engagements einer Gemeinde lässt sich häufig an der Intensität ihrer Partnerbeziehungen ablesen. a) Partnerschaften am Wohnort Am naheliegendsten ist es, dass zwei Gemeinden der evangelischen und römischkatholischen Kirche in ihrem jeweiligen Wohnbereich gute ökumenische Nachbarschaftsbeziehungen entwickeln, so dass sie sich im Lauf der Zeit als Geschwister innerhalb einer Familie verstehen und erfahren können. Dem guten partnerschaftlichen Verhältnis der beiden Pfarrer kommt dabei in aller Regel eine Schlüsselrolle zu. Häufig gibt es, zumindest in größeren Städten, innerhalb eines Wohngebietes weitere, meist kleinere Gemeinden freikirchlicher oder orthodoxer Prägung, die leider gern übersehen werden. In vielen Gebieten leben außerdem Ausländerinnen und Ausländer, die sich darüber freuen, von Einheimischen in ihre Gemeinschaft eingeladen zu werden. Alle in einem überschaubaren Wohngebiet lebenden Christen und Gemeinden sollten eine ökumenische Partnerschaft am Ort anstreben, die zumindest einmal jährlich sichtbar in Erscheinung tritt und in einem ökumenischen Gemeinderat bzw. einer örtlichen Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen (ACK) ihre Struktur erhält.50 b) West-Ost-Partnerschaften Nach 1945 sind zwischen West- und Ost-Deutschland zahlreiche Gemeindepartnerschaften entstanden. Wer an ihnen beteiligt war bzw. ist, weiß um ihren hohen Stellenwert im Leben vieler Gemeinden. Heute ist es an der Zeit, solche Partnerschaften nach Westen und Osten über die Grenzen des deutschen Gebietes hinaus auszudehnen. Es ist heute nicht schwer, Partnerschaften mit Gemeinden in den Niederlanden, Frankreich oder Großbritannien aufzubauen. Zusätzlich ist es heute notwendig, Partnerschaften mit Gemeinden im östlichen Europa aufzunehmen. Besonders wichtig ist es, ökumenische Partnerschaften mit orthodoxen Gemeinden in der Sowjetunion zu suchen. Nur so werden sich die konfessionellen und nationalen Gräben allmählich überwinden lassen. In einer Zeit des wieder zusammenwachsenden Europas kommt es besonders darauf an, die ökumenischen Beziehungen auf unserem Kontinent zwischen Kirchen und Gemeinden zu erweitern. Für alle Partnerschaften gilt, dass man auch an kommunale Städtepartnerschaften anknüpfen und zu entsprechenden Kirchengemeinden Beziehungen aufnehmen kann. 50 In England ist das Modell von Local Covenants, örtlichen Bundesschlüssen zwischen Ortsgemeinden, entwickelt worden: Local Churches in Covenant. A Paper approved by the Roman Catholic Bishops of England and Wales, 1988, CMO Publications, Ashstead Lane, Godalming, Surrey GU7 1ST.

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c) Nord-Süd-Partnerschaften Über die Vereinigte Evangelische Mission und ihre Vorläufer hat die Evangelische Kirche im Rheinland schon lange Beziehungen zu Kirchen der südlichen Erdhälfte. Heute geht es darum, solche und andere Beziehungen von der Ebene der Missionen und Kirchenleitungen auf die Ebene der Kirchenkreise und Gemeinden zu verbreitern. Dabei legen sich Partnerschaften zu ehemaligen rheinischen Missionsgebieten wie Indonesien und Namibia besonders nahe. Nicht jede Gemeinde, wohl aber zumindest jeder Kirchenkreis kann solche Partnerschaftsbeziehungen entwickeln.51 In der Badischen Kirche ist ein Modell von »Zwillingspartnerschaften« entwickelt worden, in dem elf Gemeinden Partnerschaftsbeziehungen zu je einer Gemeinde in Polen und Südafrika angeknüpft haben.52 So lernt man am besten, mit dem ökumenischen Kreuz aus West und Ost, Nord und Süd zurechtzukommen.

C. Der offene Weg vor uns I. Die nächsten Schritte Ökumenische Begegnung ereignet sich auf einem Weg, der ursprünglich fremde Partner einander immer intensiver entdecken lässt. Wir sind zutiefst dankbar für die Umkehrbewegung der Kirchen zueinander in unserem Jahrhundert. Wir freuen uns über die Schritte aufeinander zu, die innerhalb einer Generation möglich geworden sind. Ein über vierhundertjähriger Entfremdungsprozess kann jedoch nicht in dreißig Jahren überwunden werden. Wir verstehen die Zeit nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil als ein erstes gegenseitiges Wiederentdecken unserer Kirchen, dem in den neunziger Jahren ein vertieftes gegenseitiges Kennenlernen folgen muss. Bis zur offiziellen Aufhebung der Trennung zwischen unseren Kirchen und der Aufnahme voller Kirchengemeinschaft haben wir noch einen weiten Weg vor uns. Deshalb wollen wir nicht versäumen, was wir heute bzw. in naher Zukunft tun können, um das Unsere auf dem Weg zur konziliaren Gemeinschaft unserer Kirchen beizutragen. Die übernächsten Schritte können erst getan werden, wenn die nächstliegenden unternommen worden sind. 1.

Gegenseitige Anerkennung der Taufe

Die Tauferklärung von Lima schlägt eine ausdrückliche gegenseitige Anerkennung der Taufe zwischen Kirchen vor: »Gegenseitige Anerkennung der Taufe wird als ein bedeutsames Zeichen und Mittel angesehen, die in Christus gegebene Einheit in der Taufe zum Ausdruck zu bringen. Wo immer möglich, sollten die Kirchen die gegenseitige Anerkennung ausdrücklich erklären.«53

51

Die in Duisburg beheimatete Kindernothilfe vermittelt Patenschaften für Einzelkinder namentlich in Indien und Brasilien. 52 Vgl. U. Duchrow / G. Liedke, Schalom: Zwillingspartnerschaften, Stuttgart 1987, 225ff. 53 Lima 1982, Tauferklärung § 15, a. a. O. 15.

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In allgemeiner Form haben sich die Evangelische Kirche in Deutschland und die Deutsche Bischofskonferenz verständigt, die Taufe gegenseitig anzuerkennen. Das ist aber mehr beiläufig als ausdrücklich geschehen.54 Da es zwischen der Evangelischen Kirche im Rheinland und den zu ihrem Gebiet gehörigen römisch-katholischen Diözesen insgesamt keine ausdrückliche Taufanerkennung gibt, schlagen wir eine schriftliche Vereinbarung über die gegenseitige Anerkennung der Taufe und ihre ökumenischen Auswirkungen im Blick auf Vorbereitung, Vollzug und Tragweite der einen Taufe vor.55 Wir erklären unsere Bereitschaft, die Gültigkeit der in anderen Kirchen im Namen des dreieinigen Gottes und mit Wasser vollzogenen Taufen anzuerkennen und daraus für die ökumenische Zusammenarbeit am Ort angemessene Folgerungen zu ziehen. Wir begrüßen es, wenn eine entsprechende Vereinbarung auch mit den sogenannten Freikirchen (besonders mit den evangelisch-freikirchlichen Baptisten-Gemeinden und den Mennoniten-Gemeinden) zustande kommt. 2.

Ökumenische Gottesdienste am Sonntag

Der Sonntag ist der Feiertag der Auferstehung Jesu Christi von den Toten. Dieser Feiertag verbindet die gesamte Christenheit. Man kann ihn nicht besser »heiligen«, als dass Christen verschiedener Herkunft zusammenkommen, um ihren gemeinsamen Ursprung miteinander zu feiern. Insofern gibt es keinen angemesseneren Tag für ökumenische Gottesdienste als den Sonntag. Dass die meisten christlichen Konfessionen am Sonntagvormittag für sich zu Gottesdiensten zusammenkommen, hat eine lange Tradition, die respektiert werden soll. Dennoch wird der erste Tag der Woche umso mehr geehrt, je mehr Christen sich zur gemeinsamen Anbetung Gottes an diesem Tag vereinen. Daher empfehlen wir ökumenische Gottesdienste am Sonntag ausdrücklich. In diesem Zusammenhang erneuern wir unsere Bitte an die römisch-katholische Kirche, die Teilnahme an evangelischen und ökumenischen Gottesdiensten als Erfüllung der Sonntagspflicht anzuerkennen. 3.

Gegenseitige eucharistische Gastfreundschaft

Gastfreundschaft zählt zu den Kardinaltugenden christlicher Existenz; denn im Fremden begegnet uns Christus. Eucharistische Gastfreundschaft gewährt den Angehörigen einer fremden Konfession Gastrecht am Tisch des Herrn. Die Evangelische Kirche im Rheinland macht sich den ökumenischen Grundsatz zu eigen, allen am Tisch des Herrn Gastfreundschaft zu gewähren, »die an die Gegenwart des Herrn im Abendmahl glauben und sich in gutem Einvernehmen mit ihrer Kirche befinden.«56 54

Gemeinsames Wort der Deutschen Bischofskonferenz und des Rates der EKD zur konfessionsverschiedenen Ehe vom 1. Januar 1985, II. 55 Vgl. dazu den »Entwurf einer ökumenischen Tauferklärung« des Kölner ökumenischen Studienkreises vom 16. März 1990, in: Die ökumenische Bedeutung der Taufe, Kölner Ökumenische Beiträge Nr. 12, April 1990, 16ff. 56 Vgl. Erklärung der Landessynode 1993 über die Zusammenarbeit der evangelischen und katholischen Kirche, s. S. 259.

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Denn nach evangelischem Verständnis ist weder ein Pfarrer noch eine Kirche, vielmehr der lebendige Christus selbst der an seinen Tisch Einladende. Auf diesem Hintergrund haben wir die Bitte an die römisch-katholische Kirche, aus der einseitigen eine gegenseitige eucharistische Gastfreundschaft werden zu lassen. Die bereichernde Gemeinschaft, die wir in den vergangenen Jahren mit der altkatholischen (1985), der evangelisch-methodistischen (1988) und der anglikanischen Kirche (1991) erfahren haben, möchten wir auch mit unseren römisch-katholischen Schwestern und Brüdern nicht missen. Erste Schritte können darin bestehen, konfessionsverbindenden Familien und bei besonderen ökumenischen Anlässen eucharistische Gastfreundschaft zu gewähren. 4.

Gemeinsame Seelsorge an konfessionsverbindenden Familien

Der Personenkreis, der bisher am meisten unter der konfessionellen Spaltung zu leiden hat, sind bekanntlich die konfessionsverbindenden Ehen und Familien. Ein erster Schritt zur Linderung der Not ist mit dem Angebot einer »gemeinsamen kirchlichen Trauung« für konfessionsverbindende Paare im Jahre 1971 gemacht worden. Wir bekräftigen dieses Angebot als eine gute ökumenische Chance, besonders für Paare, die in beiden Kirchen beheimatet sind. Die seelsorgerliche Begleitung solcher Paare sollte zumindest darin bestehen, ihnen einen ökumenischen Gesprächskreis in der Gemeinde anzubieten, und die Taufe ihrer Kinder ökumenisch vorzubereiten und ggf. auch zu vollziehen. Es sollten aber auch Wege beschritten werden, solche Familien zumindest einmal jährlich gemeinsam zu besuchen bzw. zu einem Abend der Begegnung einzuladen und sie zum Engagement in beiden Kirchen zu ermutigen, z. B. zum jeweils gemeinsamen Gottesdienstbesuch in beiden Ortskirchen. Denn die konfessionsverbindenden Familien sind nicht die Stiefkinder, vielmehr die Vorhut der ökumenischen Gemeinschaft zwischen unseren Kirchen. 5.

Vereinbarung über ökumenischen Religionsunterricht an öffentlichen Schulen

Die junge Generation nach 1970 lebt größtenteils nicht mehr in einem konfessionellen, vielmehr in einem nach-konfessionellen Lebenszusammenhang, in dem die Fragen nach dem Christsein wichtiger geworden sind als die nach der konfessionellen Herkunft. Angesichts des unerhörten Traditionsabbruchs in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts muss die nachwachsende Generation nicht nur die Frage nach dem Sinn des Christseins für sich neu beantworten, sondern auch das christliche Erbe im Dialog mit Angehörigen des Islam vertreten können. Mit anderen Worten, die künftigen Generationen haben es mehr mit dem inter-religiösen als mit dem inter-konfessionellen Gespräch zu tun. Ihr hauptsächliches Gegenüber wird aber die Mehrheit der nicht religiös Interessierten sein. Dieser inter-religiösen und atheistischen Herausforderung kann nicht mehr der konfessionelle, sondern nur noch ein ökumenisch verantworteter Religionsunterricht entsprechen. So wünschenswert es ist, dass jeder heranwachsende junge Mensch in einer geprägten christlichen Tradition beheimatet wird, so notwendig ist es gleichzeitig, dass er seine religiösen Wurzeln im Gespräch mit Anders- und Nichtglaubenden zu schätzen und zu behaupten lernt. Daher halten wir es – ganz abgesehen von den praktischen Erfordernis-

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sen der jeweiligen Schule – für ein Gebot der Stunde, den Religionsunterricht nicht länger konfessionell, vielmehr grundsätzlich ökumenisch zu verantworten. Zumindest an berufsbildenden Schulen und Gymnasien sollten die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass der Religionsunterricht in Zukunft ökumenisch erteilt werden kann.57 6.

Konfessionszugehörigkeit kirchlicher Mitarbeiter

Ohne Zweifel müssen kirchliche Mitarbeiter einer christlichen Kirche angehören. Deshalb sollten zumindest im sozialen, aber zunehmend auch im pädagogischen und theologischen Bereich nicht ausschließlich Angehörige der eigenen Konfession, vielmehr überzeugende Vertreter des christlichen Glaubens dieser oder jener Herkunft in den Kirchen eine Anstellung finden. Auf diese Weise entstehen Lernfelder zwischen den Konfessionen, die der Ermittlung christlicher Identität nur zugute kommen können. Soziale, karitative und pädagogische Verantwortung wird in Zukunft zunehmend ökumenisch wahrgenommen werden müssen. II. Hoffnungen und Ziele Ökumenische Zusammenarbeit in den neunziger Jahren betrifft schließlich auch unsere Kirchen insgesamt. Denn die kleinen Schritte in unseren Gemeinden brauchen ein unterstützendes Umfeld im Zueinander der Kirchen. Auf dem Hintergrund der ökumenischen Entwicklung der vergangenen dreißig Jahre sind nun auch offizielle Schritte zwischen den Kirchen möglich und notwendig, die noch vor der Jahrtausendwende getan werden sollten. 1.

Rücknahme der Verwerfungen zwischen unseren Kirchen

Offiziell stehen die Lehrverurteilungen der reformatorischen Bekenntnisschriften und des Konzils von Trient noch immer zwischen unseren Kirchen. Wir freuen uns über die Ergebnisse der Gemeinsamen Ökumenischen Kommission (GÖK) von 1985, dass die meisten Verurteilungen die heutigen Partner nicht mehr betreffen. Daher machen wir uns im Blick auf die Leitung der Evangelischen Kirche im Rheinland und anderer betroffener Kirchen die Bitte des Schlussberichtes zu eigen, »verbindlich auszusprechen, dass die Verwerfungen des 16. Jahrhunderts den heutigen Partner nicht treffen«.58 Eine solche Erklärung sollte in nicht allzu ferner Zeit im Rahmen eines ökumenischen Gottesdienstes von den Leitern der beteiligten Kirchen gemeinsam abgegeben werden. Damit wäre eine tragfähige Grundlage für ein Zusammenleben unserer Kirchen in »versöhnter Verschiedenheit« geschaffen. 2.

Anerkennung der Ämter und Gottesdienste

Wir möchten der Hoffnung Ausdruck geben, dass es angesichts der Aufarbeitung des Amtsverständnisses in den Konvergenzerklärungen von Lima 198259 und der Studienar57

Zu Einzelheiten vgl. die Stellungnahme des Schulreferates des Ev. Stadtkirchenverbandes Köln zum konfessionellen Religionsunterricht in der Region Köln, 1988, 4 S. 58 Lehrverurteilungen – kirchentrennend?, K. Lehmann und W. Pannenberg (Hg.), Freiburg 1986, 195. 59 Lima 1982, a. a. O. 29ff.

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beit der Gemeinsamen Ökumenischen Kommission der römisch-katholischen Kirche möglich wird, die Ämter der evangelischen Kirchen als vollgültig anzuerkennen. Zugleich erhoffen wir uns in der evangelischen Kirche ein neues Verständnis des Papstamtes, wie es im Schlussbericht der Gemeinsamen Ökumenischen Kommission angesprochen wird: »Auch evangelische Christen können heute verstehen, dass in der römisch-katholischen Kirche das Amt des Papstes als ein Dienst an der im Evangelium begründeten Einheit der Kirche verstanden und gelebt wird. Auf ein Papsttum, dessen Amt dem Evangelium untergeordnet ist, kann das kritische Urteil der Reformation über den Papst keine Anwendung finden.«60 Wir hoffen darauf, dass als Folge dieser gegenseitigen Anerkennung der Ämter evangelische Gottesdienste von der römisch-katholischen Kirche voll anerkannt werden und die Teilnahme an ihnen als Erfüllung der Sonntagspflicht gilt. Wir hoffen zugleich darauf, dass sich in unserer evangelischen Kirche die Verbindung von Wortgottesdienst und Abendmahlsfeier immer mehr durchsetzt. 3.

Konziliare Gemeinschaft

Die 3. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen hat 1961 in Neu Delhi die Einheit der Kirchen erstmals beschrieben: »Wir glauben, dass die Einheit, die zugleich Gottes Wille und seine Gabe an seine Kirche ist, sichtbar gemacht wird, indem alle an jedem Ort, die in Jesus Christus getauft sind und ihn als Herrn und Heiland bekennen, durch den Heiligen Geist in eine völlig verpflichtete Gemeinschaft geführt werden, die sich zu dem einen apostolischen Glauben bekennt, das eine Evangelium verkündigt, das eine Brot bricht, sich im gemeinsamen Gebet vereint und ein gemeinsames Leben führt, das sich in Zeugnis und Dienst an alle wendet. Sie sind zugleich vereint mit der gesamten Christenheit an allen Orten zu allen Zeiten in der Weise, dass Amt und Glieder von allen anerkannt werden und dass alle gemeinsam so handeln und sprechen können, wie es die gegebene Lage im Hinblick auf die Aufgaben erfordert, zu denen Gott sein Volk ruft.«61 Die 5. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen hat 1975 in Nairobi/ Kenia diesen Ansatz aufgegriffen und zum Modell einer konziliaren Gemeinschaft der Kirchen weiterentwickelt: »Die eine Kirche ist als konziliare Gemeinschaft von Gemeinden (local churches) zu verstehen, die ihrerseits tatsächlich vereinigt sind. In dieser konziliaren Gemeinschaft hat jede der Gemeinden zusammen mit den anderen volle Katholizität, sie bekennt denselben apostolischen Glauben und erkennt daher die anderen als Glieder derselben Kirche Christi an, die von demselben Geist geleitet werden … Zu diesem Zweck ist jede Einzelgemeinde bestrebt, die angebahnten Beziehungen aufrecht zu erhalten und neue Beziehungen zu ihren Schwestergemeinden anzuknüpfen und diesen Beziehungen in konziliaren Zusammenkünften Ausdruck zu verleihen, wo immer die Erfüllung ihres gemeinsamen Auftrages dies erfordert.«62 60

Lehrverurteilungen – kirchentrennend?, a. a. O. 194. In: L. Vischer (Hg.), Die Einheit der Kirche. Material der ökumenischen Bewegung, ThB. 30, München 1965, 159f. 62 Bericht aus Nairobi 1975, M. Krüger und W. Müller-Römfeld (Hg.), Frankfurt/Main 1976, 26. 61

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Wir erinnern daran, dass bereits in der Vorrede zum Augsburger Bekenntnis von 1530 ein »(all-)gemeines, freies, christliches Konzil«63 gefordert worden ist. Wir sind der Meinung, dass die Zeit reif und die Jahrtausendwende ein gegebener Anlass ist, auf eine solche konziliare Zusammenkunft der Christenheit zuzugehen. Auf dem Weg dorthin ermutigen wir die Leitung der Evangelischen Kirche im Rheinland, auf eine ökumenische Provinzialsynode im Rheinland hinzuarbeiten. Eine solche ökumenische Zusammenkunft im Rheinland verbreitet die Hoffnung, die unsere Gemeinden brauchen, und kann vor der Welt glaubwürdig bezeugen, dass wir zusammengehören und demselben dreieinigen Gott dienen.

63

Die Bekenntnisschriften der ev.-luth. Kirche, 1930, 1963, 5. Aufl. Göttingen, 48.

IV.3 Vereinbarung zwischen der Evangelischen Kirche im Rheinland und dem Erzbistum Köln sowie den Bistümern Aachen, Essen, Münster und Trier zur gegenseitigen Anerkennung der Taufe 1996∗

Präambel Ausgehend von den Beschlüssen der Landessynode 1993 der Evangelischen Kirche im Rheinland1 und unter Bezugnahme auf die Empfehlung des Direktoriums zur Ausführung der Prinzipien und Normen über den Ökumenismus des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen vom 25. März 19932 haben das Erzbistum Köln und die Bistümer Aachen, Essen, Münster und Trier sowie die Evangelische Kirche im Rheinland durch ihre Vertreter folgenden Text erarbeitet. Berücksichtigt wurden dabei vor allem die Canones 849 bis 878 des Codex des kanonischen Rechtes (CIC) und die Artikel 31 bis 39 b der Kirchenordnung der Evangelischen Kirche im Rheinland sowie die entsprechenden liturgischen Bücher bzw. die Agende. Hinzugezogen wurden die Konvergenzerklärungen der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung des Ökumenischen Rates der Kirchen »Taufe, Eucharistie und Amt«3 (Lima 1982) sowie die offiziellen Stellungnahmen unserer Kirchen4 zu diesem Dokument. Absicht dieser Übereinkunft ist, die in Christus gegebene Einheit in der Taufe deutlicher zum Ausdruck zu bringen und Unstimmigkeiten über den gültigen Vollzug der Taufe in Zukunft möglichst auszuschließen. Deshalb treffen die Evangelische Kirche im Rheinland und das Erzbistum Köln sowie die Bistümer Aachen, Essen, Münster und Trier zur gegenseitigen Anerkennung der Taufe folgende Vereinbarung: In: Amtsblatt der Evangelischen Kirche im Rheinland, März 1996, S. 111ff. 1 Beschluss Nr. 91 bis 93, in: Evangelische Kirche im Rheinland, Landessynode 1993. Beschlüsse vom 12. Januar 1993, S. 61–74. a) Erklärung der Landessynode der Evangelischen Kirche im Rheinland über das Verhältnis zur römisch-katholischen Kirche und zu anderen Kirchen. b) »Ein Herr, ein Glaube, eine Taufe« – Zur ökumenischen Bedeutung der Taufe. c) »Lehrverurteilungen – kirchentrennend?« 2 Nr. 93 und 94, in: Päpstlicher Rat zur Förderung der Einheit der Christen, Direktoriums zur Ausführung der Prinzipien und Normen über den Ökumenismus vom 25.03.1993 – Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls Nr. 110, S. 57 (Direktorium). 3 Taufe, Eucharistie und Amt. Konvergenzerklärungen der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung des Ökumenischen Rates der Kirchen (Frankfurt, Paderborn 1985). 4 Eine katholische Stellungnahme zu den Konvergenzerklärungen der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung des Ökumenischen Rates der Kirchen vom 21.7.1987 – Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls Nr. 79; Stellungnahme der Landessynode 1985, in: Verhandlungen der rheinischen Landessynode 1985 (Düsseldorf 1985) S. 156–163. ∗ 1

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Theologische Grundlegung Es ist gemeinsame Auffassung beider Kirchen: 1.

Die Taufe hat ihr Vorbild in Jesu eigener Taufe durch Johannes, sie schöpft ihre Kraft aus Tod und Auferstehung Jesu sowie aus der Sendung des Geistes. Sie wird vollzogen im Auftrag und in der Vollmacht des auferstandenen und erhöhten Herrn5.

2.

Im Sakrament der Taufe handelt der dreieinige Gott am Menschen: Der Täufling wird in Tod und Auferstehung Jesu hineingenommen6. In diesem Geschehen wird ihm die Befreiung von aller Schuld zuteil7. Die Taufe schenkt Rechtfertigung und Neuschöpfung des Menschen8. Denn sie gibt Anteil am neuen Leben Jesu Christi. Sie ist Gabe des Heiligen Geistes und Antwort des Menschen auf dieses Geschenk, das von ihm im Glauben ergriffen wird. Sie führt die Getauften in die Gemeinschaft mit dem dreieinigen Gott und stiftet Gemeinschaft untereinander9.

3.

Die Taufe gliedert den Getauften in den Christusleib, die Kirche, ein. Darum ist die Taufe »ein grundlegendes Band der Einheit«10 zwischen allen, die durch sie wiedergeboren sind. Als Anfang und Ausgangspunkt des Christseins ist sie hingeordnet auf das einmütige Bekenntnis des Glaubens11 und auf die eucharistische Gemeinschaft im Herrenmahl12. »Daher ist unsere eine Taufe in Christus ein Ruf an die Kirchen, ihre Trennungen zu überwinden und ihre Gemeinschaft sichtbar zu manifestieren.13

4.

Die Taufe als grundlegende Gnadenzusage Gottes ist unwiederholbar. Sie kann auch nicht ungeschehen gemacht werden. Sie ist der von Gott eröffnete Weg in die Gemeinschaft des Heils.

5.

Taufe und Glaube gehören zusammen. Deshalb geht seit altkirchlicher Zeit der Taufe von Erwachsenen eine längere Zeit der Einführung in den Glauben und in das Leben aus dem Glauben voraus (Katechumenat). Die Taufe erfolgt also gemäß der im Neuen Testament bezeugten Praxis im Anschluss an das Bekenntnis des Glaubens. Die Kindertaufe, seit früher Zeit bezeugt, ist theologisch darin begründet, dass Gott seine Gnade frei und unverdient, unabhängig von menschlichen Vorleistungen allen schenkt. Kirche, Eltern und Paten tragen gemeinsam die Verantwortung für eine christliche Erziehung der Kinder und schaffen Voraussetzungen für das Hineinwachsen in den Glauben und das Leben in der Kirche.

5 6 7 8 9 10 11 12 13

Mt 28,18–20. Röm 6,3–6; Kol 2,12. 1Kor 6, 11; Apg 2,38; 22,16. Vgl. 2Kor 5,17; Tit 3,5; 1Petr 1,23. Vgl. 1Joh 1,3.6f.; 2Kor 13,13. Lima, Taufe Nr. 6, a. a. O. S. 10. Vgl. Eph 4,3–6. Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Ökumenismusdekret Nr. 22. Lima, Taufe Nr. 6, a. a. O. S. 11.

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Kirchenrechtliche Regelung 1.

Die im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes entweder durch Untertauchen in Wasser oder durch Übergießen mit Wasser vollzogene Taufe ist zwischen unseren Kirchen anerkannt. Diese Form ist in die Kirchenordnung bzw. den Taufordo aufgenommen.

2.

Beim Wechsel von der einen zur anderen Kirche ist von der Gültigkeit der empfangenen Taufe auszugehen, es sei denn, die Taufe sei offenkundig nicht entsprechend der gültigen Taufordnung der betreffenden Kirche vorgenommen worden.

3.

Sollten im Einzelfall Zweifel über die Gültigkeit der in der anderen Kirche vollzogenen Taufe aufkommen, sollen sie zwischen den Kirchen geklärt werden. Konditionaltaufen dürfen nur vorgenommen werden, wenn die Zweifel am ordnungsgemäßen Vollzug einer Taufe im Gespräch zwischen den Kirchen nicht ausgeräumt werden konnten. Eine solche bedingungsweise gespendete Taufe soll privat und nicht öffentlich vollzogen werden.

4.

Die Übernahme des Patenamtes ist durch die jeweiligen kirchlichen Bestimmungen geregelt.

5.

Die Taufe verpflichtet die Eltern und Paten zu einer christlichen Erziehung und zu einem christlichen Zeugnis.

6.

Konfessionsverschiedene Partner sollen vor der Eheschließung im Respekt vor der gegenseitigen Gewissensüberzeugung entscheiden, in welcher Kirche die Kinder getauft und erzogen werden. Dabei sind die geltenden Ordnungen der beiden Kirchen zu beachten. Wenn die Partner einer konfessionsverschiedenen Ehe um die Taufe ihres Kindes bitten, ohne sich über dessen Kirchenzugehörigkeit geeinigt zu haben, so wird die Taufe erst vollzogen, wenn die Eltern zu einem gemeinsamen Beschluss gekommen sind. Über Aufschub der Taufe wird das Pfarramt der anderen Kirche unterrichtet.

7.

Die Taufe als »grundlegendes Band der Einheit«14 zwischen allen, die durch sie neugeboren sind, eröffnet die Möglichkeit, dass Angehörige der jeweils anderen Kirche bei der Tauffeier bestimmte liturgische Funktionen übernehmen, die durch das geltende Recht und die Ordnungen der beiden Kirchen bestimmt werden. Eine gemeinsame Spendung der Taufe ist ausgeschlossen.

8.

Im Fall einer Nottaufe genügt es, wenn Wasser über den Kopf des Täuflings gegossen wird und dazu die trinitarische Taufformel gesprochen wird.

14

Lima, Taufe Nr. 6, a. a. O. S. 10.

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Wird im Notfall ein Kind von einem Pfarrer oder Gemeindemitglied getauft, ohne dass bereits die Kirchenzugehörigkeit des Täuflings bestimmt ist, so ist das Kind in die Kirche aufgenommen, der es nach Entscheidung der Eltern angehören soll. Dies ist dem zuständigen Pfarramt mitzuteilen. DDr. phil. h.c. Peter Beier Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland

Joachim Kardinal Meisner Erzbischof von Köln

Dr. Heinrich Mussinghoff Bischof von Aachen

Dr. Hubert Luthe Bischof von Essen

Dr. Reinhard Lettmann Bischof von Münster

Dr. Hermann Josef Spital Bischof von Trier

Anhang Gemeinsame Pastorale Empfehlungen zur Vereinbarung über die gegenseitige Anerkennung der Taufe 1.

Taufvorbereitung

Die gegenseitige Anerkennung der Taufe eröffnet die Möglichkeit gemeinsamer Vorbereitung auf die Taufe. Sie bietet die besondere Chance, sich auf die verbindenden Glaubensgrundlagen und die Unterschiede zu besinnen15. Ergebnis einer solchen Vorbereitung könnte die Beteiligung an den jeweiligen Taufgottesdiensten sein, etwa in Form von Grußworten oder der Übergabe von Geschenken. 2.

Taufgottesdienst

Der katholische und der evangelische Taufgottesdienst soll deutlich machen, dass der Täufling damit der einen Kirche Jesu Christi eingegliedert wird16. Diese grundlegende ökumenische Dimension sollte durch die Wahl geeigneter Lieder, Einführungsworte, Gesten und Riten erfahrbar werden. Sie kommt im Dank für die bereits erreichte Gemeinschaft und in der Bitte um Überwindung der noch bestehenden Trennungen zur Sprache. a)

15

Für den evangelischen Taufgottesdienst kann dies bedeuten, dass in ihm Kreuzzeichen, Handauflegung und die sogenannten ausdeutenden Riten der katholischen Taufliturgie (Überreichung von Taufkleid, Taufkerze und Salbung) in angemessener Weise berücksichtigt werden.

Vgl. Erklärung des Ökumenischen Arbeitskreises der Kirchen in Köln vom 11.1.1989: »Die Bedeutung der Konvergenzerklärungen zu Taufe, Eucharistie und Amt (Lima 1982) für unsere Kirchen und Gemeinden« Nr. 2A. in: Kölner Ökumenischer Stadtführer (1993), S. 67. 16 Vgl. Leitung der Evangelischen Kirche im Rheinland (Hg.), Notwendigkeit und Möglichkeit der ökumenischen Zusammenarbeit am Ort, in: Handreichung Nr. 46 (Düsseldorf 1993) 76; Vgl. Direktorium, Kapitel IV – Nr. 92, S. 57.

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Für den katholischen Taufgottesdienst kann dies bedeuten, dass dem Täufling ein biblischer Taufspruch mit auf den Weg gegeben, eine Ansprache über ein Schriftwort gehalten und die Taufe häufiger im Rahmen der sonntäglichen Eucharistiefeier gespendet wird. b) Der(die) Taufpate(in) bzw. der(die) Taufzeuge(in) kann den Vortrag der Lesung und/oder des Fürbittgebetes übernehmen. Die Teilnahme eines Amtsträgers der jeweils anderen Kirchen an einer Tauffeier wird für die beteiligten Bistümer vom Ortsordinarius geregelt und in der Evangelischen Kirche im Rheinland vom zuständigen Presbyterium entschieden. 3.

Taufgedächtnis

Die in der einen Taufe grundgelegte Gemeinschaft zwischen unseren Kirchen sollte dadurch zum Ausdruck kommen, dass evangelische und katholische Christen in einer liturgischen Feier das Gedächtnis ihrer Taufe begehen. Dabei erneuern sie gemeinsam »die Absage an die Sünde und die Verpflichtung, ein entschiedenes christliches Leben zu führen, die sie durch ihre Taufversprechen übernommen haben. Sie verpflichten sich, mit der Gnade des Heiligen Geistes zusammenzuwirken, um dazu beizutragen, die Trennungen unter den Christen zu heilen«17. Als Termine für ein Taufgedächtnis bieten sich Ostern und Pfingsten an sowie das Fest der Taufe Jesu (Sonntag nach Epiphanias), die Tage der Osterzeit und nach alter evangelischer Tradition der sechste Sonntag nach Trinitatis.

17

Direktorium, Nr. 96, a. a. O., S. 58.

IV.4 Beteiligung an der Heilig-Rock-Wallfahrt 1996

IV.4.1 Stellungnahme des Ausschusses für Innerdeutsche Ökumene und Catholica der Evangelischen Kirche im Rheinland zur Wallfahrt zum Heiligen Rock in Trier∗ Anlass Für das Jahr 1996 plant die Diözese Trier eine Bistumswallfahrt zum Heiligen Rock in Trier. Erstmals in der Geschichte dieser Wallfahrt sollen evangelische Christen dazu eingeladen werden, sich an den Vorbereitungen zu beteiligen und dabei die reformatorische Tradition einzubringen. Aus diesem Anlass hat sich der Ausschuss für Innerdeutsche Ökumene und Catholica unserer rheinischen Landeskirche mit dieser Frage beschäftigt, ob wir eine solche Einladung annehmen können, oder ob es trotz allen Fortschritts in den Beziehungen beider Kirchen von Schrift und Bekenntnis her auf unserer Seite nach wie vor nicht doch erhebliche Bedenken gegenüber katholischer Volksfrömmigkeit gibt, wie sie in dieser Wallfahrt zum Ausdruck kommen könnte. Der Ausschuss ist der Meinung, dass wir solche Vorbehalte gerade um der Ökumene willen nicht verschweigen sollten, zumal eine kritische Stellungnahme auch für den Partner hilfreich ist und darum auch von uns erwartet wird. Schwierigkeiten Bis heute gibt es bei uns grundsätzliche Bedenken gegen Heiligen- und Reliquienverehrung und damit verbundene Wallfahrten, die in der Vergangenheit als ein Ausdruck der Gegenreformation verstanden wurden. Darum fragen wir: Widersprechen solche Praktiken nicht dem reformatorischen Grundsatz, wonach es neben Christus keine anderen Mittler des Heils gibt, und wir darum auch nur durch den Glauben an ihn gerettet werden können? Ebenso können und wollen wir nicht verschweigen, dass es bei einer nicht geringen Anzahl unserer Gemeindeglieder noch immer Angst davor gibt, durch eine Beteiligung an einer solchen Wallfahrt im Zeichen der Ökumene von katholischer Seite vereinnahmt zu werden. Und darum fragen sie: − Welcher Eindruck entsteht auf beiden Seiten, wenn offizielle Vertreter und Gemeindeglieder unserer Kirche sich an einer solchen Wallfahrt beteiligen? ∗

Unveröffentlicht.

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Geht es dabei letztlich nicht doch um die Rückkehr der evangelischen Christen in den Schoß der »allgemein seligmachenden« römisch-katholischen Kirche? Besteht durch unsere Beteiligung an dieser Wallfahrt nicht die Gefahr, dass alte Gräben wieder neu aufgerissen werden, von denen wir bisher der Meinung waren, dass sie bei uns heute keine Rolle mehr spielen? Können wir als evangelische Christen eine Beteiligung an einer solchen Wallfahrt, ihre Ablehnung durch die Reformation einfach beiseite schieben? Chancen

Solchen Bedenken gegenüber weisen Mitglieder unseres Ausschusses darauf hin, dass sich die Intention dieser Wallfahrt inzwischen erheblich verändert hat. So wird heute – wie in frühchristlicher Zeit – der ungenähte Rock Christi (Joh 19,23) als Symbol der Einheit wieder besonders betont, wobei man sich auf altkirchliche Auslegungen dieser Bibelstelle beruft. Ferner spielt heute die Frage der historischen Echtheit in den römischkatholischen Überlegungen keine Rolle mehr, wie überhaupt die Schwierigkeiten, die evangelische Christen in der Vergangenheit mit solchen Wallfahrten hatten, heute auch von katholischen Christen geteilt werden. Umgekehrt ist es auch innerhalb unserer Kirche gerade in letzter Zeit zu einer Wiederentdeckung von Symbolen und zeichenhaften Handlungen gekommen, wobei wir mit unseren römisch-katholischen Mitchristen darin übereinstimmen, dass diese zwar niemals das Wort Gottes als Anrede an den Menschen ersetzen, wohl aber verdeutlichen können. Darum ist es auch als positiv zu werten, dass für die kommende Wallfahrt im Anschluss an Johannes 14,6 ein Motto ins Auge gefasst wurde, dem auch evangelische Christen verpflichtet sind: »Mit Jesus Christus auf dem Weg«. Darum werten diese Mitglieder unseres Ausschusses die Einladung zu dieser Wallfahrt als Zeichen einer ökumenischen Gastfreundschaft, die deutlich machen kann, dass alle Christen zu dem Ziel der in Christus vorgegebenen Einheit unterwegs sind. Dieser gemeinsame Weg bietet für sie zugleich nun aber auch die Chance, dass wir uns dabei in der unterschiedlichen Praxis unserer Frömmigkeit kennenlernen und möglicherweise auch näherkommen können, ohne verpflichtet zu sein, die Praxis der anderen einfach übernehmen und nachvollziehen zu müssen. Dabei sind sie sich durchaus darüber im Klaren, dass ein solcher gemeinsamer Pilgerweg beiden Seiten die Bereitschaft zum Risiko abverlangt und man darum auch erst im Nachhinein wird sagen können, ob wir auf diesem Weg nicht nur einander, sondern auch Christus nähergekommen sind. Der Ausschuss bittet deshalb vor allem die evangelischen Gemeinden im Bereich der Diözese Trier, die in der Stellungnahme angesprochenen Fragen zu erörtern und eine Entscheidung darüber herbeizuführen, ob und in welcher Form sie sich etwa an gemeinsamen Gottesdiensten und Bibelarbeiten im Rahmen dieser Wallfahrt beteiligen können. Bonn, den 6. Juni 1994

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IV.4.2 Pilgerlied∗

Pilgerbuch zur Heilig-Rock-Wallfahrt Trier 1996: Mit Jesus Christus auf dem Weg, Trier 1996, S. 284; Gotteslob. Katholisches Gebet- und Gesangbuch. Ausgabe für das Bistum Trier. Anhang 2014.



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IV.4.3 »Sein Wort hält stand ...«∗ Barbara Rudolph Das »Pilgerlied« zur Wallfahrt nach Trier im Jahr 1996 von Peter Beier, Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland. Auslegung Im »Gotteslob« findet sich im regionalen Teil des Bistums Trier ein Lied, das aus der Feder eines evangelischen Pfarrers stammt, aber das sich in keinem evangelischen Gesangbuch findet. Das ist ungewöhnlich und zeigt die tiefe Verbundenheit des Bistums mit der evangelischen Landeskirche. Ungewöhnlich beginnt auch das Lied in der ersten Strophe für ein Pilger- und Wallfahrtslied, nämlich mit dem Bekenntnis: Wir wichen aus! Was für ein gewagter Anfang für ein Pilgerlied, was für ein Auftakt für eine Pilgerreise. Ausgewichen, abgewichen vom richtigen, vom rechten Weg. Aufbruch ist hier Umkehr, oder, in der Sprache Jesu und der Bibel, Buße. Was für ein Anfang, schon das allererste Wort: Wir! Nach Jahrhunderten der Trennung, des Streitens und des Ringens um den rechten Weg im Glauben: Wir! Evangelische und katholische Christenmenschen gemeinsam. Auf der Christuswallfahrt. Wie ist das möglich? Nicht Menschenwerk, nicht Freundschaft, sondern gemeinsame Christusnachfolge. Am Ende aller Wege liegt es nicht an unserem Laufen und Wollen, sondern Christus, das Wort Gottes, nimmt unter uns Gestalt an: Dein Wort hält stand. Wer sich in der protestantischen Tradition auskennt, für den klingt darin die Barmer Theologische Erklärung von 1934 an, die Präses Beier auch an anderer Stelle während der Trierer Wallfahrt zitiert. Die letzte These endet mit dem lateinischen Satz: Verbum Dei manet in aeternum – Gottes Wort bleibt in Ewigkeit. Und Präses Beier führt dazu aus: »Ist Christus das eine Wort, dann sind unsere ökumenischen Gespräche zusamt der konkreten Ergebnisse nicht etwa Früchte unserer Leistung, sondern nichts als erste, unsichere Schritte längst fälligen Gehorsams.« Die ersten beiden Aussagen dieses ungewöhnlichen Pilgerliedes sind die Grundaussagen des Glaubens über Mensch und Gott: Wir wichen aus – dein Wort hält stand. Es ist die Kernaussage der Rechtfertigungslehre: allein aus Gnade. So sind wir gemeinsam unterwegs. Dieser evangelische Zugang zum Pilgerweg stellt radikal in Frage: die Frömmigkeit, die Tradition, die Irrtümer der Kirchengeschichte. Nicht in Überheblichkeit oder Ignoranz, sondern im Wissen um die eigene Begrenztheit: wie Fremde fremd im eigenen Land. Und wendet sich betend und bittend an Gott: Den Segen auf uns lege. Wie in der ersten Strophe, so findet sich in allen der sechs Strophen das gemeinsame »wir« und die Anrede, das »Du«. Gemeinsam treten evangelische und katholische Menschen im Gebet vor den einen Gott, der sich – wie der »Heilige Rock« symbolisiert – ungeteilt allen Menschen zuwendet.



In: Paulinus. Wochenzeitung im Bistum Trier, Nr. 20, 15. Mai 2011, S. 7.

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Die zweite Strophe lässt die Pilger nun gemeinsam losziehen, eben nicht aus eigener Kraft und in eigener Regie, sondern in der Nachfolge Jesu Christi, mit der Bitte: Bring uns zurecht und nimm uns mit. Vom Dunkel ins Licht, vom Tod ins Leben, vom Karfreitag zu Ostern, vom Abend in den Morgen, denn Gott selbst setzt Maß für Tritt und Schritt, Aufbruch ins Leben, das Christus schenkt. In der dritten Strophe nimmt der Dichter die Welt mit ins Gebet: Mag sein, die Zeit geht böse. Die Worte vom Heil und Wohl in dieser Strophe erinnern an einen Satz des evangelischen Theologen Karl Barth: Nachdem Gott alles für das Heil dieser Welt getan hat, sind wir Menschen frei, alles für das Wohl dieser Welt zu tun. In diesem Sinne betet Präses Beier: Gib Heil und Wohl den Menschen hier. In dieser Strophe wird nun auch das alte Trier genannt: Der Ort in Deutschland, der die längste Zeit der deutschen Geschichte gesehen hat, steht nun für die Gegenwart Jesu Christi durch alle Zeiten hindurch. Als Bettler stehen wir da – keine noch so ehrwürdige Tradition trägt uns –, sondern Christus trägt, ihm wenden wir uns zu: vom Bösen uns erlöse. In der vierten Strophe wagt Peter Beier nun den schlimmen Streit, für den der »Heilige Rock« in Trier so lange Zeit gestanden hat, direkt anzusprechen. Der Blick auf die Liebe Gottes lässt leiden an der Kirche und der Zwietracht Deiner Christenheit. Wie oft war der Christenheit in den Konfessionen das eigene Hemd näher als der Rock? Doch durch das äußere Gewand scheint das Herz Jesu, sodass wir gemeinsam bitten: Zieh an Dein Herz, was sich entzweit. Der »Heilige Rock« gewinnt neue Bedeutung, wenn er zum Verweis auf Christus wird, wie Marie Luise Thurmair gedichtet hat: Da schreitet Christus durch die Zeit, in seiner Kirche Pilgerkleid (GL 249 / EG 566). Die fünfte Strophe geht mit der Kirche hart ins Gericht: Noch würfeln wir um Dein Gewand. Das ist schon ein gewagter Vergleich: Nicht auf der Seite der Jünger, sondern auf der Seite der Henker sieht der Dichter die Christinnen und Christen. Die römischen Soldaten erkennen in ihrem Unglauben den Wert des Gewandes, die Glaubenden reißen’s doch in Teile. Aber die Hände, die nach den Würfeln greifen, die Hände, die reißen und zerreißen wollen, werden gehalten, ihnen wird Einhalt geboten: Wir gehen ja an einer Hand. In der sechsten Strophe klingt, wie schon zuvor im Lied, die gemeinsame Zukunft an. Aus der Wallfahrt nach Trier wird der Pilgerweg zum himmlischen Jerusalem: Wir ziehn hinauf zur Heilgen Stadt. Herz und Hand Christi, zerrissen und durchbohrt am Kreuz, halten und erhalten die zerrissene Christenheit. Der eine Name verbindet alle Namen. Der eine lädt alle ein an seinen Tisch: Brich uns das Brot. Eine Einladung, die dem evangelischen Präses selbstverständlich gewesen ist, mehr noch, zu der er sich in aller Ernsthaftigkeit gerufen sieht. »Es bilde sich doch niemand ein«, sagte er in Trier 1996, »wir könnten auf getrennten Wegen das neue Jahrtausend bestehen.« Das Lied endet mit dem Ruf an Christus: Hör uns und sprich das Amen.

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IV.4.4 Wort an die katholischen Gemeinden des Bistums Trier und die Gemeinden der Evangelischen Kirche im Rheinland∗ »Mit Jesus Christus auf dem Weg« – dieses Leitwort der Hl.-Rock-Wallfahrt 1996 im Bistum Trier ist zur Mitte einer ökumenischen Initiative geworden, die weit über diese Wallfahrt hinausreicht. Zum ersten Mal in der Geschichte der Hl.-Rock-Wallfahrten wurde die evangelische Schwesterkirche vom Bischof von Trier eingeladen, an der Vorbereitung der Wallfahrt mitzuwirken und – gemeinsam mit den anderen Kirchen der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen – Region Südwest – an einem Tag der Ökumene im Rahmen der Wallfahrt teilzunehmen. Und sie nahm diese Einladung an. In einem ökumenischen Symposion in der Osterwoche 1996 haben wir als Schirmherren zusammen mit Gästen aus der weltweiten Ökumene und aus unseren beiden Kirchen den gegenwärtigen Stand und die nächsten Schritte auf dem Weg zur Gemeinschaft unserer Kirchen bedacht. Die Ermutigung, die wir durch diese Gespräche erfahren haben, möchten wir an Sie weitergeben. Wir sind gemeinsam der Überzeugung, dass die Einheit nicht nur das Ziel unseres Weges ist, sondern uns in Jesus Christus, dem Gekreuzigten und Auferstandenen, schon geschenkt ist. Das ungeteilte Gewand des Herrn dürfen wir als Zeichen dieser Einheit verstehen. Christus selbst ist mit uns auf dem Weg, und deshalb verbindet uns heute schon mehr als uns trennt. Dies schließt ein, dass beide Kirchen sich ihrem Glaubenserbe verpflichtet fühlen. Daher sind die weiten Schritte auf dem Weg zur Kirchengemeinschaft stets im Lichte der jeweiligen Glaubenstradition mitzudenken, an die wir gebunden bleiben, bis die Einigkeit gereift ist. In den letzten Jahrzehnten ist die Sehnsucht nach dieser Einigung in unseren Gemeinden, in vielen Arbeitsgruppen und im gemeinsamen Gebet gewachsen. Wir ermuntern Sie, auf diesem Weg mutig weiterzugehen. Unumkehrbar ist die Einsicht geworden: Kirche im vollen Sinn können wir nur sein mit den anderen. Deshalb ist der gemeinsame Weg der Christen der verschiedensten Glaubensrichtungen vor Ort nicht ein beliebiges Ziel neben vielen anderen, sondern eine grundlegende Wirklichkeit und Aufgabe unserer Gemeinden. Als konkrete Schritte für die nächsten Jahre schlagen wir vor: 1. Die verantwortlichen Gremien der Gemeinden und die Seelsorgerinnen und Seelsorger sollten sich regelmäßig über ihre jeweiligen pastoralen Schwerpunkte und Ziele informieren und alle schon jetzt gegebenen Möglichkeiten gemeinsamen Handelns ausschöpfen. Solch eine Antwort an Caritas und Diakonie auf die Nöte und Probleme der Menschen vor Ort ist dabei ein besonderer Prüfstein christlicher Glaubwürdigkeit.

In: Katholische Akademie Trier (Hg.), Mit Jesus Christus auf dem Weg. Unterwegs zur Gemeinschaft der Kirchen, Trier 1996, S. 69f. ∗

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2. In der religiösen Erziehung der Kinder sollte alles vermieden werden, was andere verletzt. Denn die Taufe und das Bekenntnis zu Jesus Christus sind die gemeinsame Basis, auf der wir stehen. Gemeinsame Taufgedächtnisgottesdienste können dieses Bewusstsein kräftigen und unsere Verantwortung für die nächste Generation stärken. 3. Das Wissen um die unterschiedlichen Traditionen im Glauben und die Erfahrung anderer Formen von Gottesdienst und Gemeindeleben ist weiterzuentwickeln. Die vielfältigen Möglichkeiten in Erwachsenenbildung, Gesprächskreisen, Gemeindebriefen usw. sollten verstärkt dafür genutzt werden. Die bereits auf regionaler Ebene erzielten Übereinstimmungen in fundamentalen Glaubensfragen, die in den letzten Jahrzehnten erreicht wurden, sind noch nicht Bestandteil unseres Glaubensbewusstseins geworden. Hier sind in den nächsten Jahren intensive Anstrengungen notwendig, um diese Erkenntnis im Alltag unserer Gemeinden mit Leben zu füllen. 4. Das gemeinsame Gebet ist die Seele der ökumenischen Bewegung. Ökumenische Gottesdienste sind vielerorts schon lange geübte Praxis. Sie sollten zu einem festen und regelmäßigen Bestandteil allen Gemeindelebens werden. Die Vielfalt unserer Gebets- und Gottesdiensttraditionen können wir durch Besuche beieinander erfahren. Sie können uns Anregung geben für die Entfaltung gemeinsamer gottesdienstlicher Formen. Vor unserem Herrn Jesus Christus sehen wir uns verpflichtet, die im vergangenen Jahrtausend entstandenen Spaltungen der Christenheit im dritten Jahrtausend nicht fortdauern zu lassen. Deshalb sollten wir alle in den nächsten Jahren verstärkt an ihrer Überwindung mitarbeiten. Wir denken daran, uns zur Jahrhundertwende wiederzutreffen in einer weiteren ökumenischen Versammlung im Rheinland, um uns gegenseitig und unserem Herrn Jesus Christus Rechenschaft zu geben über unsere Bemühungen. Trier, den 30. April 1996 Am Tag der Ökumene im Rahmen der Heilig-Rock-Wallfahrt 1996 Dr. Hermann Josef Spital Bischof von Trier

Dr. Dr. h.c. Peter Beier Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland

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IV.4.5 Wo stehen wir heute in der katholisch-evangelischen Ökumene? Chancen und Probleme Vortrag von Präses Peter Beier anlässlich des ökumenischen Symposiums in Trier am 10. April 1996∗ Sehr verehrte Damen und Herren, liebe Schwestern und Brüder, es ist gut, nach Trier zu reisen, in eine Stadt, die wie wenige andere das widersprüchliche Gedächtnis des Westens, der Rheinlande, in Landschaft, Stein und Wort bewahrt, – den imperialen Glanz Roms und Märtyrerzeugnisse der ersten Christenheit, das einigende Band mittelalterlicher Latinität und die fortdauernde Wucht der Französischen Revolution, das Geburtshaus des Karl Marx und die erloschenen Spuren der Synagoge. Wenn Christen reisen und Gedächtnis haben, befinden sie sich immer auch – willentlich oder nicht – auf einem Bußweg. Ich bin der Einladung des Herrn Bischofs zu diesem Symposium und zur Heilig-RockWallfahrt gern gefolgt. Es gab für mich nicht die geringste Zögerlichkeit, obwohl man mit wenig freundlichem Gegenwind aus wechselnden Richtungen zu rechnen hatte. Die Gründe liegen am Tage: − − −





Noch nie ist eine Wallfahrt in ihrer ökumenischen Bedeutung so klar erkannt, bedacht und formuliert worden. Noch nie lag eine überaus freundliche, ökumenisch vertretbare Einladung zur Beteiligung evangelischer Gemeinden und Christen auf dem Tisch. Noch nie bestand die Möglichkeit, ein wichtiges Traditionsstück römisch-katholischer Frömmigkeit aus dem Blickwinkel aktiver Nachbarschaft und ökumenischer Gastfreundschaft anregend, kritisch und selbstkritisch wahrzunehmen. Und – soweit ich informiert bin – noch nie sind Weg und Ziel der Wallfahrt theologisch derart fundamentiert worden, dass unbezweifelbar Jesus Christus, der Gekreuzigte und Auferweckte, in der Mitte der Versammlung steht. Man müsste sich schon in das Dunkel eigener Vorurteile zurückziehen, um das nicht zu sehen, – sich die Ohren zustopfen, um das nicht zu hören: Mit Jesus Christus auf dem Weg! Hinzu kommt, dass es für mich in Zukunft kein Ereignis, kein größeres Treffen von Christen geben kann, das nicht unser aller Fürbitte, Geleit und Anteilnahme bedarf. Die Zeiten sind dahin, dass einer auf Kosten des anderen Partners zu leben versucht und eigenes Profil ausschließlich aus dem erklärten, den Menschen aber kaum noch verständlichen Gegensatz zur Schwesterkirche zieht. Was den einen betrifft, wird mehr und mehr alle betreffen. Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten der

In: Katholische Akademie Trier (Hg.), Mit Jesus Christus auf dem Weg. Unterwegs zur Gemeinschaft der Kirchen, Trier 1996, S. 5–14. ∗

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Nachbarkonfession hinterlässt zwar immer noch den Eindruck von Noblesse, ist jedoch in Wahrheit den diplomatischen Faxen des neunzehnten Jahrhunderts zuzurechnen. Die Welt nämlich mischt sich gefragt oder ungefragt ein in unsere gehüteten Interna, indem sie knochentrocken zur Kenntnis gibt: Wir unterscheiden nicht mehr zwischen Katholiken und Protestanten. Ihr seid Christen. Das reicht zu Markierung – und Abgrenzung. Welche Antwort halten wir auf die in dieser Feststellung versteckte Frage nach unserem gemeinsamen Zeugnis und Dienst bereit? −

Nicht zuletzt bin ich hier, um zu lernen. Ich sage das mit vorsichtiger Bescheidenheit. Protestanten haben und pflegen ein gebrochenes Verhältnis zur Tradition. Dafür gibt es gute Gründe. Sie sind hinreichend bekannt. Selbst im Jahr des Luthergedächtnisses finden hier und da die eigentümlichsten Verrenkungen statt, um nur ja den Eindruck zu vermeiden, man beabsichtige, aus Luther einen Heiligen zu machen, – eine Versuchung, der heute kaum jemand erliegen dürfte. Aber einzugestehen, dass er – sub specie hominum – ein großer Mann in der Christenheit war, dessen Größe sein letzter schriftlicher Satz bezeugt: »Bettler sind wir, das ist wahr«, gehört doch wohl zum Respekt vor der je eigenen Tradition, ohne die Kirche keine sichtbare Gestalt hat, sondern in ihrer Unkenntlichkeit für andere zur Lemure wird.

Auf den Respekt vor und die Würde der Tradition kommt es mir an. Und zwar in Irrtum und Wahrheit. Ich gehe als Streiter für die Theologie des Wortes Gottes in unserer Kirche kein Risiko ein, wenn ich in diesem Zusammenhang frage: −







Ist für Protestanten die vorreformatorisch-katholische Tradition im Rheinland etwa nicht die eigene und haben unsere Vorfahren im Glauben etwa nicht gemeinsam in der Hohen Domkirche zu Trier gebetet? War die alte Wallfahrt zum Heiligen Rock für Protestanten ein schädlicherer Abfall vom Glauben als die protestantische Versuchung, Staat und staatliche Macht oder Blut und Boden zu vergötzen? Welchen Wert könnten – wo nicht für den persönlichen Glauben, sehr wohl aber für die Sichtbarkeit des zerbrechlichen Gefäßes Kirche – Orte, Gegenstände und Zeichen der Tradition haben, die unübersehbaren Hinweischarakter besitzen – den Hinweis auf Grund und Mitte der Schrift? Es ist wahr: Wir haben im Glauben nichts als das Wort, das Wort vom Kreuz. Wir leben im Glauben, nicht im Schauen. Wer sehen will, kommt im Sichtbaren um. Das Gehör ist Organ des Glaubens. Es ist das Wort, das sich Gehör verschafft und tut, was es sagt. Deshalb bleibt Kirche – auch in ihren sichtbaren Gestalten – nichts anderes als creatura verbi divini.

Ein schwerwiegender und die Kirche verwüstender Irrtum des Protestantismus besteht aber darin, in der Kirche des Wortes mit einem Abstraktum – einem von der Lebenswirklichkeit des Menschen, seiner Leiblichkeit zum Beispiel, seiner ganzheitlich-personalen Existenz sowie dem Stoff, der Materie abgezogenen, entfremdeten Etwas – zu verwechseln. An die Stelle der menschenverändernden Lebendigkeit des Wortes setzte sich

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dreist verkopfte Theologie. Das war nie gemeint. Weder im Zeugnis der Schrift noch in Luthers Theologie. Mit meiner Schlussfrage begebe ich mich nun doch auf evangelisches Glatteis: Haben wir eigentlich je gründlich bedacht, dass das Bekenntnis zur Fleischwerdung des Wortes Gottes in Jesus Christus eine erneuerte Sicht des Glaubens auf den Leib, die Chemie, den Stoff, die Materie, die Dinge öffnet? Freilich geht es dabei nicht im Geringsten um die heidnische Heiligung des Endlichen, Vorläufigen. Es könnte aber sehr wohl um die Wiederherstellung der »anderen« Würde des Menschen, der Tiere, der Dinge überhaupt und entschieden gehen, wenn die Botschaft von der Fleischwerdung des Wortes Gottes Sinn macht. Nicht zuletzt geht es dann auch um das Wiedererkennen der Würde von Gegenständen unserer christlichen Tradition. I Der archimedische Punkt Gesucht ist zunächst der eine Punkt, aus dem das Auf und Ab ökumenischer Bewegung und erreichter ökumenischer Gemeinschaft abzuleiten wäre. Gibt es diesen? Es scheint, als überwöge die Komplikation der Verhältnisse die Klarheit der Absichten bei weitem. Im Augenblick ist jeder mit sich selbst beschäftigt. Die Tagesanforderungen in beiden Großkirchen sind hart. Die Mittel werden schmal. Hand in Hand mit wachsenden Problemen geht die Versuchung der Abgrenzung, des Einschlusses in die eigene Hürde. Es handelt sich dabei keineswegs – wie häufig vorgeworfen – um eine Art Versuchung, der die Hierarchien gern nachgeben. Kirchengemeinden ringen inzwischen um ihren Bestand. Trotz der Ablenkung vom Erfordernis ökumenischer Gemeinschaft durch das Alltagsgrau der Geschäfte führen Ahnungen und Wünsche ihr Eigenleben. Ökumene – der Begriff vereint Differentes unter einem Dach. Ganz abgesehen vom Binnenverhältnis der römisch-katholischen Kirche und der Evangelischen Kirche im Rheinland, einem Provinzstück der Weltkirche, erweiterten sich die Grenzen des Begriffs auf gerade unheimliche Weise. Ökumene bezeichnete – wie wir wissen – in der Antike die bewohnte, vornehmlich mediterrane Welt. Heute heißt die bewohnte Welt »Raumschiff Erde«. Höchstberechtigt und von höchstem Interesse ist es zurzeit für Christen und Nichtchristen, die bewohnte Welt für Mensch und Geschöpf überhaupt bewohnbar zu halten. Der Ökumenismus trat in eine neue Dimension, unter deren Druckverhältnis die innerchristliche Ökumene marginal erscheint. Wir können uns vor Dialoganforderungen kaum noch bewegen. Zwei Millionen Muslime in unserem Land haben ein Recht auf unsere Dialogbereit-

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schaft. Überdies: Wie sollen wir Christen in beiden Kirchen dem wachsenden Säkularisierungsprozess in Kirche und Gesellschaft begegnen – und wie den andrängenden sozialpolitischen Herausforderungen? Alles wird auf einmal von allen erwartet. Möglichst schnell mit konkreten Ergebnissen. Das lähmt und ermüdet. Die Liste der Prioritäten wäre neu zu schreiben. Gleichwohl wissen wir in beiden Kirchen sehr genau: Gelingt es im nächsten Jahrtausend nicht, eine wie auch immer beschreibbare und wie auch immer organisierte Gemeinschaft beider Großkirchen herzustellen, dann wird unserer erwiesenen Unglaubwürdigkeit unser beider öffentliche Bedeutungslosigkeit entsprechen, dann ist der Weg ins Ghetto unvermeidlich und die merkwürdigsten religiösen Anbieter, darunter ausgesprochen fundamentalistisch-menschenfeindliche, werden das Feld beherrschen. Ökumene als Bestandswahrungsinteresse? Wahrheitsfragen durch das naheliegende Konkrete außer Kurs gesetzt? Ohne berechtigte Interessen zu denunzieren, sind wir uns sicher darin einig, dass es nicht in erster Linie Interessen sein können, die unser Verhältnis bestimmen. Wovon ist also auszugehen? Zunächst davon, dass Gesprächspartner kenntlich sein müssen. Sie müssen Profil haben. Es muss klar sein, wer mit wem redet, wer mit wem Abmachungen trifft. Menschen, die Gesicht verloren oder eilfertig in bester ökumenischer Absicht preisgaben, sind miserable Verhandlungspartner und unzuverlässig, jedem Modewind verfallen. Man hat gemeint, mich persönlich auf einen scheinbaren Widerspruch hinweisen zu sollen. Wie kann der in der katholisch-evangelischen Ökumene entschieden engagierte Präses gleichzeitig die Einigung des europäischen Protestantismus im Leuenberger Prozess betreiben? Konterkariert dieses Bestreben die bilateralen ökumenischen Bemühungen nicht geradezu? Meine Antwort heißt: Wenn es zur Kirchengemeinschaft kommen soll, weil sie erreicht werden muss, dann doch nur im Austausch unverwechselbarer Profile. Diese müssen aber auch wirklich vorhanden und verhandelbar sein. Aus ökumenischen Rücksichten bin ich deshalb dankbar dafür, dass erstmals seit den Tagen der Reformation die Leuenberger Kirchengemeinschaft ihr Kirchenverständnis für jedermann deutlich erklärt hat. Im Respekt vor dem Profil des Partners wie in der hoffentlich mitgesetzten Konvertierbarkeit des Profils wächst verlässliche Ökumene. Kaum anders. Ich füge hinzu: Der öffentlich geforderte interreligiöse Dialog, dem wir uns keineswegs verweigern, macht doch nur Sinn, wenn die Christenheit hierzulande in wichtigen Fragen mit einem Mund reden kann. Wir haben Terrain zu bereinigen, bevor wir uns an fremde Ufer wagen. Diese erreichen wir nur gemeinsam.

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Längst ist jedoch nicht das im Blick, was ich den archimedischen Punkt der anzustrebenden Kirchengemeinschaft nenne, aus dem sich alles verpflichtend ergibt. Nicht unsere Interessen nämlich, nicht unsere frommen oder durchtriebenen Wünsche, nicht der Traum von der Heimkehr in den orbis catholicus, nicht unser spirituelles Vermögen und schon gar nicht unsere konfessionelle Leistungsfähigkeit geben unseren Bemühungen Bestand, sind Motor der Ökumene. Ich will es so ausdrücken: Selbst wenn die numerische und geistliche Kraft der Großkirchen ungebrochen wäre, selbst wenn dem äußeren Anschein nach überhaupt kein Anlass bestünde, über das Problem der Einheit in der Vielfalt nachzudenken –, wir brächten gerade dann unsere Tage unter dem Zorn dessen zu, der selber der Eine ist und will, »dass sie alle eins seien«. Ich fasse diesen archimedischen Punkt, der in seinem nucleus schlichtweg ökumenisch i s t, in den ersten Satzteil der ersten These der Theologischen Erklärung von Barmen 1934: »Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes …« Ist er das, dann ist er es auch, der die Zerteilung seines Wortes und seines Leibes nicht gutheißt. Ist er das, dann mögen zwar die Schriften des neutestamentlichen Kanons die Vielfalt der Konfessionen begründen, rechtfertigen wird er sie nicht. Ist er das, dann muss uns der heilige Schrecken darüber im Gedächtnis brennen, dass wir der Herausforderung des Einen Wortes Gottes bisher halsstarrig die Antwort schuldig blieben. Ist er das, dann bleibt aber die Einheit der Christenheit im Glauben und in der Liebe vorgegeben, dann ist Einheit längst gestiftet und vollzogen, so dass wir lediglich nach unserem Gehorsam gegenüber dieser Stiftung gefragt sind. Ist er das, dann sind unsere ökumenischen Gespräche zusamt den konkreten Ergebnissen nicht etwa Früchte unserer Leistung, sondern nichts als erste, unsichere Schritte längst fälligen Gehorsams. Ist er das, dann wird er uns zweifellos vor seinen Richtstuhl ziehen und fragen: Was habt ihr denn da in meinem Namen mit den in euren Kirchen euch anvertrauten Menschen gemacht? Wo sind die, die eurer Zwietracht wegen verlorengingen? Kain, wo ist dein Bruder Abel? Ökumenische Arbeit ist darum schwere Buße. Wer sie triumphalistisch instrumentalisiert, hat überhaupt noch nicht begriffen, was auf dem Spiel steht. Der Seelen Seligkeit nämlich, – um es in der Sprache alter Frömmigkeit auszudrücken.

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II Stationen Wir sind in den vergangenen dreißig Jahren einen langen Weg gegangen. Wir haben einige Stationen erreicht. Kreuzwegstationen. Das werden diejenigen bestätigen, die als Beauftragte in den ökumenischen Kommissionen tätig waren. Ökumenische Phraseologie, schäumende Begeisterung und völlig überdrehte und deshalb respektlose Erwartungen gegenüber dem Partner erwiesen sich nach der Sitzungsperiode des II. Vaticanums als schlechte Helfer. Knochenarbeit war gefragt. Sie ist geleistet worden. Das verpflichtet zu großem Dank. Es leitet auch zum Staunen darüber an, dass sich durchaus bewegen lässt, was so unbeweglich erscheint. Hier war neben viel Rechthaberei und Angst die Geduld der Heiligen. Was brauchen wir eigentlich mehr die Christenheit? Die Geduld der Heiligen gründet aber in der bleibenden Unruhe darüber, dass wir die nächsten Stationen erreichen müssen. Ohne Hast und Hetze. Bald. Vergegenwärtigen wir uns noch einmal, was für das Rheinland dokumentiert ist und verbindlichen Rang hat. 1.

Im Jahr 1959 fand die letzte Wallfahrt zum Heiligen Rock in Trier statt. 1996 ist die Evangelische Kirche im Rheinland offiziell zur Teilnahme geladen. Man kann die Differenz zwischen beiden Daten gar nicht hoch genug veranschlagen. Und das deshalb, weil doch keineswegs selbstverständlich war, ein innerkatholisches Ereignis mit ökumenischem Interesse zu verbinden und die Wallfahrt christologisch zu zentrieren. Das danken wir – es muss ausdrücklich vermerkt sein – dem Bischof von Trier und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Die Begegnungen zwischen katholischen und evangelischen Christen aus diesem Anlass werden für sich sprechen. Wir wollen nichts unversucht lassen, die Gemeinden im Hören des Wortes Gottes und im Gebet zusammenzuführen. Gleicher Dank gilt der spontanen Bereitschaft der Trierer evangelischen Ortsgemeinde und ihrem Presbyterium. Ich bin dankbar dafür, dass hier nicht erst umständliche Überzeugungsarbeit zu leisten war. Wir werden sehen und vielleicht wiederum staunen, welcher Segen für uns alle auf diesem Unternehmen liegt.

2.

Wir blicken zurück auf die enorme gelehrte Arbeit, die seit dem II. Vatikanischen Konzil geleistet wurde. Sie ist inzwischen dokumentiert und eindrucksvoll bezeugt in den beiden Bänden »Dokumente wachsender Übereinstimmung«.

Ich schlage vor, am Ende dieses Symposiums die Gemeinden beider Kirchen im Bistum, insbesondere aber die verantwortlichen Theologinnen und Theologen, in einem Sendschreiben auf die Dokumente aufmerksam zu machen und kritischer Durchsicht sowie Kenntnisnahme zu empfehlen. Wird dieses wichtige Arbeitsergebnis nämlich von den Praktikern kaum wahrgenommen, so steht zu befürchten, dass die Sache selbst verlorengeht, dass Anregungen nicht aufgegriffen und ökumenischer Lethargie Vorwände geliefert werden.

324 3.

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Anlässlich der Erinnerung an den 450-jährigen Reformationsversuch des Hermann von Wied in der Kölner Region hat die Landessynode der Evangelischen Kirche im Rheinland einige wichtige Erklärungen verabschiedet, die der Vergegenwärtigung bedürfen.

Sie hat ihr Verhältnis zur römisch-katholischen Kirche und zu anderen Kirchen in Form einer Erklärung bestimmt. Sie hat eucharistische Gastfreundschaft für diejenigen angeboten, die ohne Schaden für ihr Gewissen und ihre eigene kirchliche Bindung sich zum Tisch des Herrn halten wollen. Wir wissen sehr wohl, welche schmerzliche Wunde wir mit dieser Öffnung berührten. Nach unserem neu gewonnenen Verständnis des Heiligen Abendmahls war aber eine andere Haltung nicht mehr verantwortbar. Wir hoffen sehr, dass von unseren Partnern dieser Schritt nicht missdeutet oder als Schritt in die falsche Richtung missverstanden wird. Wir jedenfalls sind es nicht, die anderen etwas »voraus« haben wollen. Wir vollziehen nur, was dem Stand unserer Schrifterkenntnis entspricht. Die Synode hat weiter Stellung genommen zur ökumenischen Bedeutung der Taufe in einer Lehrschrift unter dem Titel »Ein Herr, ein Glaube, eine Taufe«. Sie hat sich in einem dritten Text geäußert zum Thema »Lehrverurteilungen – kirchentrennend?« Auch diese Entscheidung wartet noch auf den praktischen Vollzug in den Gemeinden. Viel wäre gegen die Macht der Vorurteile gewonnen, wenn wenigstens die verantwortlichen Geistlichen wüssten, was an Lehrverurteilungen unter keinen Umständen mehr aufrechterhalten werden darf. 4.

Am 26. März dieses Jahres ist endlich auch die Erklärung zur gegenseitigen Anerkennung der Heiligen Taufe zwischen den römisch-katholischen Bistümern Aachen, Essen, Köln, Münster und Trier unterzeichnet und verabschiedet worden. Neu an dieser Erklärung ist, dass sie sich nicht nur auf die Probleme der kirchlichen Rechtspraxis bezieht und das Problem de jure ordnet, sondern dem Papier eine gemeinsame theologische Präambel verordnet, – ein überaus wichtiger Schritt, der für die Taufpraxis Maßstäbe setzt.

5.

Alle diese Stationen verflüchtigen sich jedoch im leeren Raum, gäbe es in den Gemeinden unmittelbar keine praktischen Entsprechungen. Nicht überall, aber an vielen Orten hat sich das ökumenische Nebeneinander in ein geschwisterliches Miteinander verwandelt. Was da in dreißig Jahren an selbstverständlicher Freundschaft wuchs, an gemeinsamen Wortgottesdiensten, an sozialen Diensten eingerichtet wurde, ist inzwischen statistisch nicht mehr verrechenbar. Gott sei Dank. Wir können in diesem Zusammenhang nur bitten: Werdet nicht müde und haltet, was ihr habt. Wir haben immer noch keine blasse Ahnung davon, wie sehr wir uns um des gemeinsamen Zeugnisses und Dienstes willen eines Tages brauchen werden.

Erfreulich ist außerdem, dass inzwischen auch regional Kirchen- und Gemeindetage – freilich mit unterschiedlichem Echo – in Wuppertal, Wülfrath, Trier und Altenberg gewagt wurden. Der Mühe aller Beteiligten gehört der Dank unserer Kirchen.

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III Wacken, Klötze, Chancen Wir sind zu einem Symposium zusammengekommen. Das ist kein Selbstzweck. Und ebenso wenig selbstverständlich. Fassen wir den von mir formulierten »archimedischen Punkt« ins Auge, dann dürfen wir auch nicht verschweigen, was uns in postmoderner Zeit beschwert, welche Arbeiten vor uns liegen, welche Hindernisse angegangen werden müssen. Die Liste von Beschwernissen, die ich zusammenstelle, darf niemand betrüben. Sie ist bekannt. Lösungen sind längst nicht in Sicht. Schmerzen dienen dem Körper zur Warnung. Werden sie überspielt, droht chronische Erkrankung. Ich will hier wenigstens auf einige Störungen von mehr oder weniger großem Gewicht hinweisen: 1.

Ich bedauere, dass jenes Papier, welches die Folgerungen aus der gegenseitigen Anerkennung der Taufe zieht, nicht Bestandteil des offiziellen Vereinbarungsdokumentes geworden ist. Über die Aufhellung der Gründe sollte man gelegentlich oder während des Symposiums arbeiten. Es könnte ja sein, dass wir eine konfessionelle Kopflastigkeit des Papiers, das doch für die Taufpraxis bedeutsam sein könnte, übersehen haben. Ich kann mir eigentlich schlecht vorstellen, dass dem lehrmäßige Gründe entgegenstehen. Wenn ja, sollten diese namhaft gemacht werden, damit Abhilfe geschaffen werden kann.

2.

Leider stellen wir auf beiden Seiten fest, dass weiterhin die Partner in konfessionsverbindenden Ehen Stiefkinder der Seelsorge geblieben sind. Das mag freilich auch im akuten Zeitmangel der Seelsorger und Seelsorgerinnen begründet sein. Ich bin aber misstrauisch und vermute eher, dass eine gewisse Scheu und Hilflosigkeit angesichts der besonderen Problemlagen in Ehen mit konfessionsverschiedenen Partnern die Situation entschärft haben. Welche Maßnahmen wären hier von Verantwortlichen in Gemeinde- und Kirchenleitung auf den Weg zu bringen?

3.

Das Problem eines ökumenisch verantworteten Religionsunterrichts an weiterführenden Schulen wartet dringend auf eine Lösung. Warten wir weiter zu, werden wir mit großer Wahrscheinlichkeit Brandenburger Verhältnisse bekommen. Der beste Staatsvertrag hält nur so lange, wie der entsprechende gesellschaftliche Konsens über die Bedeutung des Religionsunterrichts besteht. Die Zeiten sind ungünstig. Aus missverständlicher Liberalität unter dem Vorwand demokratischer Grundsätze wird einem Fach zu Leibe gerückt, das seiner Herkunft und Qualität nach eine ungebrochene kulturelle und gesellschaftliche Relevanz hat. Rücken wir nicht bald zusammen, wird die Jugend der Verlierer sein.

4.

Zu den Merkposten gehört auch der ökumenische Gottesdienst am Sonntag. Es ist hier nicht der Ort und außerdem nicht meine Aufgabe, das theologische Problem des Verhältnisses von Wortgottesdienst zur Feier der Heiligen Messe sowie zur Sonntagspflicht des katholischen Christen zu entfalten. Dass aber eine neue Anstrengung unternommen werden muss, um eine ökumenisch erträgliche und der Gemeinschaft förderliche Verhältnismäßigkeit herzustellen, scheint mir unabdingbar. Abgesehen vom theologischen Problem käme vielleicht eine numerisch begrenz-

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te und vereinbarte Zahl von Sonntagsgottesdiensten in Frage insbesondere für jene seltenen Gelegenheiten, die etwa in der Form eines Ortsfestes katholische und evangelische Christen zusammenführen. 5.

Die Lobby unserer caritativen und diakonischen Verbände ist so stark, dass der theologisch-ökumenische Impetus trotz gegenteiliger verbaler Beteuerungen viel zu kurz kommt. Wir könnten durch Konzentration von Menschen und Mitteln mehr für die Menschen im Land und sehr viel mehr für Entwicklungsaufgaben erreichen. Freilich gibt es auch auf diesem Sektor nachahmenswerte Exempel der ökumenisch verantworteten Telefonseelsorge im Bistum. Über Ansätze von Kooperationen sind wir aber immer noch nicht hinaus. Wünschenswert wäre außer den regulären Treffen der Profis die Einrichtung einer Caritas-Diakonie-Konferenz, die sich ausschließlich dem Problem ökumenischer Projektförderung stellt. Den praktischen Anstoß könnte durchaus ein gemeinschaftliches Integrationsprojekt liefern, das die Eingliederung von Ausländern und ausländischen Familien in unsere Gemeinden am Ort in den Blick nimmt und nüchtern abseits von multikultureller Suada unsere Möglichkeiten bilanziert.

6.

Die eigentlichen »Wacken und Klötze«, die unseren Weg behindern, sind nun wahrhaftig nicht vom Bistum Trier und der rheinischen Kirche als Spezial-Parcours platziert worden. Die liegen seit fast fünf Jahrhunderten da. Manchmal scheint es, die Stangen der Oxer seien durch unsere Dickköpfigkeit um einen halben Meter erhöht worden. Manchmal tun wir leichtsinnig so, als gäbe es weder Gräben, Oxer noch andere Hindernisse. Die Beseitigung dessen, was uns im Weg steht, ist nicht in Macht und Möglichkeiten eines Bistums oder einer Landeskirche gegeben. Man kann das gegenüber denen, deren Ungeduld mehr zerstört als baut, nur immer wieder betonen. Denn das ist doch klar: Fortschritte auf dem dornigen Terrain der Anerkennung kirchlicher Ämter, der eucharistischen Gastfreundschaft, der Frauenordination – sollten sie denn je zu unseren Lebzeiten erschwinglich sein – hängen ab von der Frage, was denn die heilige Kirche ihrem Wesen nach sei. Und das weiß eben nicht »ein jedes Kind«, wie Luther fröhlich meinte. In den Provinzialkirchen der Weltkirche bleiben uns die Hände gebunden, selbst wenn wir hier und da die Praxis stiller Duldung oder begrenzter, unauffälliger Regelverletzungen üben. Was wir aber tun können, nämlich die Hauptverantwortlichen auf ihre Pflichten hinzuweisen, wenn es Christen denn wirklich um den »archimedischen Punkt« geht, die theologische Arbeit kräftig anzumahnen und zu befördern und allen Christen guten Willens beiständig zu sein, das sollen wir auch beherzt und ohne ängstliche Rücksichten ins Werk setzen. Auf ein vernachlässigtes Gebiet des innerchristlichen Diskurses will ich in diesem Zusammenhang ausdrücklich aufmerksam machen. Die deutsche Bischofskonferenz und der Rat der EKD haben neulich ein überraschend einmütiges Dokument zustande gebracht. Ich meine das Diskussionspapier »Zur wirtschaftlichen und sozialen Lage« der Republik. Sicher enthält die Schrift

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keine umwerfenden Neuigkeiten. Allerlei kritische Anmerkungen mag der kundige Sozialethiker auch machen. Erstaunlich ist für mich etwas ganz anderes: Bei sehr unterschiedlichen moraltheologischen und ethischen Ansätzen ist ein gemeinsames Wort gelungen, das immerhin den nach wie vor leider unberatenen öffentlichen Diskussionsverlauf mit beeinflusste. Mit anderen Worten: Wir müssen versuchen, uns über den Graben der Naturrechtslehre, die katholisches Denken wesentlich bestimmt, und der Grundlegung evangelischer Ethik hinweg zu verständigen, damit wir in wichtigen Lebensfragen des Staates und der Gesellschaft, nicht zuletzt auch auf dem Sektor der Individualethik, zu öffentlich verantwortbaren Absprachen gelangen, selbst wenn das Fundament noch nicht gelegt ist und zerbrechlich bleibt. Darin sehe ich eine der vornehmsten ökumenischen Pflichten, die wir uns nicht unseretwegen, sondern der Würde der Menschen unseres Landes wegen aufladen. Bis zum Tage habe ich nicht verstanden, warum wir moraltheologische Fragen im Ökumenediskurs nur marginal behandelten. 7.

Alle Hindernisse auf dem gemeinsamen Weg, alle »Wacken und Klötze« also bieten auch erhebliche Chancen. Seit den Tagen der Reformation sind sich die beiden Kirchen noch nie so nahe gewesen wie heute. Chancen, mögen sie noch so gering erscheinen und kaum den Applaus der Menge auf sich ziehen, sind zu ergreifen. Ich erwähne hier exemplarisch einige Punkte, die wir beachten sollten: – Natürlich haben wir es in einer Reihe von Kirchengemeinden, an der »Basis« der Kirche also, mit ökumenischen Abnutzungserscheinungen zu tun. Die Gründe dafür sind unterschiedlicher Natur. Kein Wunder, wenn Ortspfarrer und Kirchenvorstände ökumenischen Bitten mit dem Hinweis begegnen: Was sollen wir denn noch alles tun? Wir sind überfordert. In Zeiten der Überforderung ist das Hemd näher als der Rock. Hier sollten wir wieder verstärkt der mutua consolatio fratrum et sororum eine Chance einräumen. Dass wir nur gemeinsam erstarken als Christen am Ort, darf nicht als Binsenweisheit im christlichen Handel bleiben, sondern hat der Formung des Selbstbewusstseins zu dienen. Das nämlich ist in Zeiten einer neuen Ängstlichkeit unterentwickelt. Überdies müssen Kirchenleitungen und kirchliche Ämter und Werke mehr als bisher Organisationshilfe anbieten für ökumenische Programme am Ort, die das Mögliche ohne Überforderung aktivieren. – In Großbritannien existieren seit Jahren Modelle ökumenischer Gemeindepartnerschaften auf der Grundlage vertraglicher Vereinbarungen, die das Erschwingliche am Ort erschwinglich machen. Die Gefahr der Ausbildung einer »dritten Konfession« besteht nicht, sofern man sich von schwärmerischen Verirrungen freihält. Ökumenische Sachlichkeit wäre für einen solchen Schritt oberstes Gebot. Hilfreich und öffentlichkeitswirksam aber könnte es sein, wenn im Wege einer Absprache sich aus katholischem Kirchenvorstand und evangelischem Presbyterium so etwas wie ein »soziales Gewissen am Ort« ausbildete, – eine Herausforderung, der wir in schlimmen Zeiten mit diakonischer Phantasie zu begegnen haben.

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– Das, was einmal der konziliare Prozess genannt wurde, tritt vermutlich in eine neue Phase der Entwicklung. So steht jedenfalls zu hoffen. In Erfurt wird man im Sommer zu einer vorbereitenden Konferenz zusammenfinden. Ich rege an, eine inhaltlich gefüllte Grußadresse des Bistums und der rheinischen Kirche an die Versammlung zu richten, in der unser gemeinsamer Wille – sollte er vorhanden sein – der Unterstützung des Vorhabens zum Ausdruck kommt. In Zeiten der Stagnation ist Innovation bitter nötig. Ein entsprechender Appell würde – mindestens binnenkirchlich – als ermutigendes Zeichen versöhnter Gemeinschaft aufgenommen. IV Konkrete Utopie Eine abschließende Bemerkung sei mir gestattet. Sie ist subjektiver Natur und beansprucht nichts außer ein wenig Nachdenklichkeit in der Nachfolge Jesu. Utopisten sind lächerlich, Visionäre nicht gefragt. Pausbäckig tönte neulich ein liberaler Politiker: Wir brauchen keine Visionen und Utopien, sondern Macher. Viel Glück, kann ich nur sagen. Nachdem der Herr nämlich ziemlich unverblümt einem neuen Thatcherismus, diesem Rinderwahn in unserer Gesellschaft, das Wort geredet hatte, verstieg er sich zu dem erwähnten Satz. Ich halte dagegen: Eine Gesellschaft ohne Visionäre, ohne lebendige Tagträume, die das Jetzt-Fällige, das immerhin Mögliche ins Bewusstsein heben, – ohne konkrete Utopien, die vom blinden ideologischen Idol dadurch unterschieden sind, dass sie Bodenhaftung haben und Sinn fürs Reale entwickeln, wird eine Gesellschaft, deren Rückgrat wesentlich die Deutsche Mark ist, zugrunde gehen. Da mache sich niemand etwas vor, – insbesondere diejenigen nicht, die sich in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und übrigens auch in der Kirche für Macher halten. Genau sie werden an ihren Einbildungen scheitern. Ich könnte meine Überzeugung auch schärfer fassen: Ein Land, das keine Propheten hat, das das Eine Wort Gottes nicht mehr tragen will, bereitet den eigenen und den Untergang anderer vor. Rufen wir doch die Propheten zurück und pflegen wir nicht nur ihre Gräber. Wir sind dringend auf sie angewiesen. Nicht zuletzt in der Ökumene. Vor der Jahrtausendwende – immerhin ein Datum – brauchen wir so etwas wie eine Perspektive 2000.

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Oder halten wir uns etwas darauf zugute, Männer wie Visser‘t Hooft und Papst Johannes vergessen zu haben? Da prüfe jeder sich selbst. In seinem Apostolischen Schreiben zur Vorbereitung auf das Jubeljahr 2000 Tertio Milenio Adveniente vom 10. November 1994 unterbreitete der Papst einen interessanten Vorschlag, das gemeinsame Glaubensbekenntnis der Kirchen betreffend. Wir sind also gefragt, welche konkrete Antwort wir dem Vorschlag erteilen und welche Konsequenzen wir für unseren Weg daraus ziehen wollen. Das berühmte Zitat »Ich habe einen Traum« ist abgenutzt. Aber freilich habe ich einen. Würde mir heute gesagt, deine Zeit, Freund, ist um, bestelle dein Haus, schreibe das Testament, was müsste ich als ökumenische Hinterlassenschaft, was als ökumenische Bitte formulieren? Das Im Jahr 2000. Kommt im Rheinland zusammen. Wagt den Versuch einer ersten rheinisch-ökumenischen Synode. Macht wird sie nicht haben. Aber Vollmacht vielleicht. Zum Dialog. Zur Versöhnung. Mitten in getroster Verzweiflung. Der Wind geht scharf. Immer ist Endzeit. Und was werden wir unserem Richter sagen? Unser gekreuzigter und auferweckter Herr segne das Bistum Trier und die Evangelische Kirche im Rheinland. Nieuwvliet, 2. April 1996

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V.1 Landessynode 2000

Unterwegs zur Gemeinschaft des europäischen Protestantismus∗ Beschluss 16: 1. Die Landessynode der Evangelischen Kirche im Rheinland nimmt die Erklärung »Unterwegs zur Gemeinschaft des europäischen Protestantismus – Die Evangelische Kirche im Rheinland als Glied der Leuenberger Kirchengemeinschaft im Europa des 21. Jahrhunderts« in der geänderten Fassung zustimmend zur Kenntnis. Sie begrüßt den inzwischen erfolgten Beitritt der Evangelischen Kirche in Deutschland zur Leuenberger Kirchengemeinschaft. Die Landessynode hält insbesondere folgende Schritte für erforderlich: 1.1 Die Evangelische Kirche im Rheinland setzt sich ein für die Gründung einer Evangelischen Synode in Europa auf der Basis der Leuenberger Kirchengemeinschaft. 2. Auf dem Weg zur Gemeinschaft des europäischen Protestantismus und im Interesse der Fortentwicklung einer protestantischen und weltweiten Ökumene sind weitere Konsequenzen wünschenswert; dazu könnten z. B. diese Anregungen gehören: 2.1 Die Leuenberger Konkordie und die Leuenberger Kirchengemeinschaft sollen in den Gemeinden, Pfarrkonventen und auf Kreissynoden zum Thema gemacht werden. 2.2 Der Sonntag Oculi soll der Leuenberger Konkordie, der Leuenberger Kirchengemeinschaft und dem Gustav-Adolf-Werk gewidmet werden. 2.3 Gemeindepartnerschaften mit Gemeinden aus Leuenberger Mitgliedskirchen, auch im Rahmen von Städtepartnerschaften, sollen in allen Kirchenkreisen angestrebt werden. 2.4 In den Ordinationsvorhalt soll ein Hinweis auf die Leuenberger Konkordie eingefügt werden.



Protokoll der Landessynode 2000, S. 138–147.

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2.5 Die Kirchenleitung berichtet der Landessynode in den kommenden Jahren, inwieweit diese Anregungen in Zusammenarbeit mit den anderen Mitgliedskirchen der Leuenberger Kirchengemeinschaft umgesetzt werden konnten. 3. Die Kirchenleitung wird beauftragt, eine theologische Stellungnahme zur Frage der Ämter, insbesondere der apostolischen Tradition und Sukzession sowie des Bischofsamtes, zu erarbeiten. Der Landessynode 2001 ist darüber zu berichten.

Die Erklärung im Wortlaut: Unterwegs zur Gemeinschaft des europäischen Protestantismus – Die Evangelische Kirche im Rheinland als Glied der Leuenberger Kirchengemeinschaft im Europa des 21. Jahrhunderts – Eine Erklärung der Landessynode 2000 der Evangelischen Kirche im Rheinland Einführung 1. Mit dem Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 und dem Zusammenbruch des Eisernen Vorhangs ist Europa in ein neues Stadium seiner Geschichte eingetreten. Die weitreichendste Folge des Zweiten Weltkrieges, die 40-jährige Aufspaltung unseres Kontinents in einen östlichen und einen westlichen Machtbereich, ist seitdem grundsätzlich überwunden. Mit der Wende von 1989 hat Europa eine neue Chance zu politischer Integration sowie zu kultureller und religiöser Innovation erhalten. 2. Diese neue historische Situation fordert die evangelischen Kirchen heraus, dem Protestantismus eine gemeinsame Stimme im künftigen europäischen Haus zu erschaffen. Damit sollen sie jenen europäischen Horizont gewinnen, den die Reformatoren, insbesondere Martin Bucer, Johannes Calvin und Philipp Melanchthon, bereits im Blick hatten, der aber im Gefolge konfessionalistischer und nationalistischer Entwicklungen verengt ist. 3. Vom 24.–30. März 1992 versammelten sich erstmals Vertreter evangelischer Kirchen aus Ost- und Westeuropa in Budapest zu einer »Europäischen Evangelischen Versammlung«, die drei Jahre nach der europäischen Wende die »christliche Verantwortung für Europa« in Blick zu nehmen versuchte. 1995 hat die EKD-Synode in Friedrichshafen mit ihrer Äußerung »Europa fordert die Christen« einen Anfang gemacht, Europa in das Blickfeld der deutschen evangelischen Christenheit zu rücken. Ihr folgte wenig später das Arbeitspapier der rheinischen Landessynode vom 9. Januar 1996 »Europa mitgestalten. Auftrag für Christen, Gemeinden und Kirchen«, das zu konkreten Schritten ermutigt. Bereits 1989 hat die erste Europäische Ökumenische Versammlung in Basel stattgefunden, deren Abschlussdokument »Frieden in Gerechtigkeit« die soziale Verantwortung im gemeinsamen Haus Europa unterstreicht. Der Basistext der zweiten Europäischen Öku-

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menischen Versammlung 1997 in Graz betont »das christliche Zeugnis für die Versöhnung« im zusammenwachsenden Europa. 4. Auf dem Hintergrund dieser europäischen »Gehversuche« und im Blick auf die Jahrtausendwende sehen wir uns als Synodale der Evangelischen Kirche im Rheinland veranlasst, – Rückschau auf 50 Jahre ökumenische Gemeinschaft zu halten – eine Standortbestimmung zu versuchen – Herausforderungen zu benennen und – ein neues Ziel in den Blick zu nehmen. In Ergänzung zu unserem Arbeitspapier »Europa mitgestalten« wollen wir mit dieser Erklärung unseren Gemeinden und ihren Gliedern die bereits bestehenden ökumenischen Bindungen unserer rheinischen Kirche ins Bewusstsein rufen, ihre Tragweite erläutern und ihre Vertiefung im Leben unserer Gemeinden stärken. Auf diese Weise soll diese Erklärung zur Selbstvergewisserung, zur ökumenischen Orientierung und zu einem europäischen Aufbruch von Kirchen und Gemeinden an der Schwelle zum 21. Jahrhundert beitragen. I. Rückschau auf 50 Jahre ökumenische Gemeinschaft 5. Wir freuen uns, dass die Evangelische Kirche im Rheinland (EKiR) über die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) zu den Gründungsmitgliedern des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) gehört, der am 23. August 1998 fünfzig Jahre alt geworden ist. Unsere Kirche beteiligt sich ebenfalls seit Beginn (1948) an der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in der Bundesrepublik Deutschland (ACK) sowie an der Konferenz Europäischer Kirchen (KEK), die 1959 gegründet worden ist. 6. So sind wir seit über fünfzig Jahren mit anderen reformatorischen und zunehmend auch mit römisch-katholischen und altkatholischen sowie mit orthodoxen Christinnen und Christen verbunden. Wir nehmen »durch Zusammenarbeit mit den Kirchen der Ökumene an der Verwirklichung der Gemeinschaft der Christenheit auf Erden« teil (Grundartikel IV der Kirchenordnung). Als Glieder der EKiR sind wir ein Teil der »einen, heiligen, katholischen und apostolischen Kirche«, zu der sich das Ökumenische Glaubensbekenntnis von 381 bekennt. 7. In den vergangenen Jahrzehnten haben wir Impulse von verschiedenen Seiten erhalten und sie in der rheinischen Kirche aufgenommen. Das Programm des ÖRK zur Bekämpfung des Rassismus hat einen intensiven Diskussions- und Erkenntnisprozess ausgelöst, der die politische Verantwortung für die Menschenrechte geschärft hat. Gemeindepartnerschaften haben das Blickfeld erweitert. Die Gemeinschaft zwischen den Gliedkirchen der Evangelischen Kirche der Union (EKU) hatte in konfessioneller und politischer Hinsicht vor und nach 1989 grenzüberschreitenden Charakter. Im Liedgut des neuen Evangelischen Gesangbuchs sowie in den liturgischen Elementen des neuen Gottesdienstbuches sind ebenfalls vielfältige ökumenische Anstöße wirksam geworden.

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8. In besonderer Weise wissen wir uns der Gemeinschaft reformatorischer Kirchen verpflichtet, die durch die Verabschiedung der Leuenberger Konkordie am 16. März 1973 ermöglicht worden ist. Sie auf der gemeindlichen Ebene zu stärken, ist ein Grundanliegen dieser Erklärung. II. Standortbestimmung: Die Leuenberger Kirchengemeinschaft seit 1973 9. Am 10. Januar 1974 hat unsere Landessynode der Leuenberger Konkordie zugestimmt. Damit ist die EKiR der Leuenberger Kirchengemeinschaft beigetreten. Neue Erfahrungsfelder haben sich dadurch erschlossen. Wir heben drei Gesichtspunkte hervor: – Verbindliche Kirchengemeinschaft, Gemeinsamkeit in Lehre und Bekenntnis – Europaweiter Blickwinkel – Verbindliche Kirchengemeinschaft. 10. Mit der Unterzeichnung der Leuenberger Konkordie ist unsere Kirche in verbindliche Kirchengemeinschaft mit allen anderen heute ca. 90 unterzeichnenden Kirchen eingetreten: mit lutherischen, reformierten und unierten; mit böhmischen Brüdern, Waldensern und Methodisten in Europa. Diese Gemeinschaft greift bereits über Europa hinaus nach Südamerika. Die EKiR teilt mit den 90 anderen Unterzeichnerkirchen ein gemeinsames Verständnis des Evangeliums und der Sakramente, lebt in gottesdienstlicher Gemeinschaft, strebt gemeinsame kirchliche Institutionen an und übt die Arbeit am gemeinsamen öffentlichen Zeugnis ein. Die Gültigkeit der Ordination wird gegenseitig anerkannt: »Sie gewähren einander Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft. Das schließt die gegenseitige Anerkennung der Ordination und die Ermöglichung der Interzelebration ein« (Z. 33). Gleichzeitig sind damit die seit der Reformationszeit »entgegenstehenden Trennungen« (Z. 34) aufgehoben. 11. Mit dieser erstmals seit dem 16. Jahrhundert erklärten Kirchengemeinschaft ist zugleich das Tor zu gemeinsamem »Zeugnis und Dienst« in Europa aufgestoßen. Wir haben mit der Leuenberger Konkordie die innerprotestantische Kirchenspaltung weitgehend überwunden und mit den Unterzeichner-Kirchen volle Kirchengemeinschaft gewonnen. Die in der Leuenberger Konkordie formulierten theologischen, spirituellen und pastoralen Grundsätze bilden die unverzichtbare Basis für jedes weitere Gespräch, z. B. über das Amtsverständnis, um mit der römisch-katholischen Kirche und den orthodoxen Kirchen zu einer Übereinkunft zu gelangen, die auch einmal zu einer Kirchengemeinschaft mit diesen Kirchen führen kann. Gemeinsamkeit in Lehre und Bekenntnis 12. Die EKiR gehört zu den Gebieten, in denen schon 1817 durch den preußischen König Friedrich Wilhelm III. eine Union zwischen lutherischen und reformierten Gemeinden eingeführt worden ist. Diese altpreußische Union hat allerdings auf ein eigenes Bekenntnis verzichtet. Lutheraner und Reformierte sind jedoch im Laufe von Jahrzehnten einander nähergekommen. Heute hat sich diese Union im Bewusstsein der Gemeinden durchgesetzt. Nach 156 Jahren hat dann die Leuenberger Konkordie sowohl die entscheidenden Übereinstimmungen im Evangelium und den Sakramenten ausgespro-

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chen als auch die Aufhebung der gegenseitigen Verurteilungen erklärt. Wir haben es hier mit einem Prozess der theologischen Konsensbildung in Lehre und Bekenntnis zu tun. Europaweiter Blickwinkel 13. Mit der Unterzeichnung der Leuenberger Konkordie hat sich den rheinischen Gemeinden eine Gemeinschaft in Europa erschlossen, die in dieser Form vorher nicht gegeben war. Aus diesem europaweiten Blickwinkel ist unsere rheinische Kirche Teil einer wesentlich umfassenderen Kirchengemeinschaft. Das bedeutet einerseits den Verzicht auf Tendenzen zur Selbstgenügsamkeit, andererseits kommt dadurch die größere Gemeinschaft zumindest der reformatorischen Kirchen zur Geltung. Das Gustav-Adolf-Werk (GAW) hat schon 1832 mit einer evangelischen Diaspora-Partnerschaft in Europa begonnen. Wir besinnen uns heute verstärkt auf unsere evangelischen Gemeinsamkeiten und gewinnen so eine neue Gesprächsfähigkeit mit der römisch-katholischen und den orthodoxen Kirchen. 14. 1994 hat die vierte Vollversammlung der Leuenberger Kirchengemeinschaft in Wien unter der Überschrift: »Die Kirche Jesu Christi« den »reformatorischen Beitrag zum ökumenischen Dialog über die kirchliche Einheit« verabschiedet. Es ist das erste Mal seit der Reformation, dass die evangelischen Kirchen Europas sich auf ein gemeinsames Dokument über die Kirche geeinigt haben. Insbesondere verweisen wir auf den Schlussabschnitt: »Die Leuenberger Konkordie als ökumenisches Einheitsmodell«. Außerdem sind drei Lehrgesprächsgruppen zu den Themen – Kirche, Staat und Gesellschaft – Kirche und Israel – Gesetz und Evangelium beauftragt worden, Erklärungen der Leuenberger Kirchengemeinschaft für die nächste Vollversammlung vorzubereiten. Sie soll vom 19.–25. Juni 2001 in Belfast stattfinden. Wir sind dafür dankbar, dass damit selbstbezogenen Tendenzen in unserer Kirche Einhalt geboten wird. Gleichzeitig werden die europäischen und synodalen Dimensionen unseres Kirche-Seins gestärkt. III. Herausforderungen Das Gespräch mit der anglikalischen Kirchengemeinschaft und die Frage nach dem Bischofsamt 15. Seit dem Lutherjahr 1983 ist es zu einer Annäherung zwischen dem Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR (BEK), der EKD und der Kirche von England gekommen. Sie hat in der Feststellung von Meißen vom 18. März 1988 »Auf dem Weg zu sichtbarer Einheit« ihr greifbares Ergebnis erzielt. Sie stellt zwar eine »engere Gemeinschaft zwischen unseren Kirchen« fest, nicht aber die volle Abendmahlsgemeinschaft, weil die Übereinstimmung im Verständnis der Ämter, insbesondere des Bischofsamtes, noch nicht vollständig gelungen ist.

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16. Im finnischen Porvoo ist 1992 zwischen lutherischen Kirchen in Skandinavien und der anglikanischen Kirchengemeinschaft auf den Britischen Inseln eine »neue Etappe« zwischen den beteiligten Kirchen erreicht worden. Ihre Vereinbarung beinhaltet Kanzel-, Abendmahls- und Ordinationsgemeinschaft. 17. Wenn der begonnene Einigungsprozess des Protestantismus auf gesamt-europäischer Ebene gelingen soll, müssen die theologischen Vereinbarungen von Leuenberg 1973, Meißen 1988 und Porvoo 1992 in ein konstruktives Verhältnis zueinander gebracht werden. Als Glieder der Leuenberger Kirchengemeinschaft hören wir die Anfrage von Meißen und Porvoo, welches Gewicht wir der apostolischen Tradition und Sukzession sowie dem Bischofsamt (der Episkope) beimessen. Unterschiedliche Erfahrungen mit dem Bischofsamt und kirchlicher Hierarchie in und seit der Reformationszeit hindern uns nicht daran, diese Anfragen unserer lutherischen und anglikanischen Schwesterkirchen aufmerksam zu hören und Antworten auf diese an uns gerichteten Fragen zu suchen, denn wir wissen uns dem gesamt-europäischen Einigungsprozess des Protestantismus verpflichtet. Umgang mit Minderheitskirchen 18. Minderheitskirchen, wie z. B. die Waldenser in Italien oder die Böhmischen Brüder in Tschechien, sind auf die Unterstützung von Schwesterkirchen angewiesen. Sie haben eigene unverwechselbare Diaspora-Erfahrungen in das Konzept des europäischen Protestantismus einzubringen. Der Umgang anderer Kirchen mit ihnen ist ein Gradmesser für Religionsfreiheit und christliche Partnerschaft in ihrem jeweiligen Land. Andererseits können Diaspora-Erfahrungen von Minderheitskirchen unserer Kirche auf ihrem künftigen Weg wertvolle Hilfestellung leisten. Denn Diaspora-Fähigkeit gehört zu den künftigen Merkmalen bisheriger Mehrheitskirchen, die sie von Minderheitskirchen lernen können. Beziehungen zu charismatischen und pfingstlerischen Gemeinden 19. Wie in fast allen Ländern breiten sich auch im Rheinland charismatisch und pfingstlerisch geprägte Gruppen aus, die entweder zu ausländischen Kirchen, z. B. in Afrika, USA oder Südkorea, gehören oder sich ohne jede Verbindung mit einer bestehenden Kirche neu konstituieren. Das zum Teil erstaunlich große Wachstum dieser Gruppen verweist auf eine tiefe Sehnsucht vieler Menschen nach unmittelbaren spirituellen Erfahrungen. Hier ist nach einer Theologie des Dritten Glaubens gefragt, die einer schöpferischen evangelischen Spiritualität den Weg bereitet und den Dialog mit charismatischen und pfingstlerischen Gruppen eröffnet. Das Verhältnis von Protestantismus und Kultur 20. Wir begrüßen, dass seit Februar 1999 für den Bereich der EKD und der Vereinigung Evangelischer Freikirchen (VEF) ein Konsultationsprozess »Gestaltung und Kritik. Zum Verhältnis von Protestantismus und Kultur im neuen Jahrhundert« eingeleitet worden ist. Dabei kommt es uns darauf an, in den Begegnungsfeldern »Religion, Gedenk-Kultur, Kunst, Jugendkultur, Bildung und Wissenschaft, Medien, Sport und Spiel, Alltag und Sonntag« die prägende und kritische Kraft des christlichen Glaubens neu zur

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Geltung zu bringen. Dies bedeutet, die europäischen Bildungstraditionen der Aufklärung kritisch aufzunehmen, die Tiefendimensionen des »Protestantismus als Bildungsbewegung« – im Unterschied zu einer vor allem auf technologischen Fortschritt gerichteten globalen Entwicklung – bewusst zu machen und friedens- sowie kulturpolitisch wirksam werden zu lassen. IV. Ziel: Die wachsende Gemeinschaft des europäischen Protestantismus – Empfehlungen und Anregungen Gemeinde-Ebene Bisher hat unsere Kirche eher formal zur Leuenberger Kirchengemeinschaft gehört. Um ihre Mitgliedschaft nach über 25 Jahren im Leben unserer Gemeinden erfahrbar werden zu lassen, unterbreiten wir daher folgende Anregungen. 21. Wir schlagen vor, dass sich Pfarrkonvente und Kreissynoden mit dem Inhalt der Leuenberger Konkordie befassen. Man kann sie auch in Gemeindegruppen zum Jahresthema machen. Ihr Text ist im neuen Evangelischen Gesangbuch (Nr. 859) größtenteils abgedruckt. 22. Wir empfehlen, in Anlehnung an das Datum der Verabschiedung (16. März) jährlich am Sonntag Oculi der Leuenberger Konkordie, der Leuenberger Kirchengemeinschaft und des Gustav-Adolf-Werkes in geeigneter Form zu gedenken. Entsprechende liturgische Hilfen sind erwünscht. 23. Wir empfehlen, Gemeindepartnerschaften zwischen Gemeinden aus Leuenberger Mitgliedskirchen zu entwickeln und durch regelmäßige gegenseitige Besuche mit Leben zu füllen. Das kann z. B. in Verbindung mit schon bestehenden Städtepartnerschaften geschehen oder im Zusammenhang mit dem Netzwerk der »Ökumenischen GemeindeErneuerung«. 24. Wir schlagen vor, nach Formen von gemeinsamem Zeugnis und Dienst zu suchen. Ansatzpunkte sind dafür die jährlichen Leuenberger Begegnungstagungen in Berlin. Der zeitlich befristete Austausch des theologischen Nachwuchses vor der ersten eigenständigen Berufsausübung wäre ein weiterer Schritt. Regionale Ebene 25. Die gegenseitige Information soll gefördert und die Interaktion koordiniert werden. 26. Wünschenswert sind gemeinsame öffentliche Worte der Leuenberger Kirchengemeinschaft zu wichtigen ethischen und gesellschaftlichen Fragen, wie z. B. der Asylthematik und der Arbeitslosigkeit, zu Nationalismus und dem Verhältnis von Kirche und Israel. 27. In den Ordinationsvorhalt wird ein Hinweis auf die Leuenberger Konkordie eingefügt.

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28. Die Kirchen der Leuenberger Kirchengemeinschaft schaffen einen gesetzlichen Rahmen, der es Gemeindegliedern ermöglicht, Mitglieder der bisherigen Kirchengemeinde zu bleiben, aus deren Bereich sie auf Dauer ins benachbarte Ausland verzogen sind. Die örtliche Nähe zur ehemaligen Wohnsitz-Kirchengemeinde soll dabei gegeben sein. Dies gilt in der Regel für Bewohnerinnen und Bewohner von Grenzregionen. Dabei ist allerdings darauf zu achten, ob nicht möglicherweise bei den Gemeinden auf der anderen Seite der Grenze der dringende Wunsch nach einer Integration der dorthin Verzogenen in diese Gemeinde geäußert wird. In diesem Zusammenhang sind Kontakte mit den Kirchenleitungen benachbarter ausländischer Kirchen unerlässlich. Europäische Ebene Wenn der Protestantismus im Europa des 21. Jahrhunderts zu Gehör kommen will, braucht er entsprechende Institutionen. Dem dienen folgende Vorschläge: 29. Eine umfassende Gemeinschaft reformatorischer Kirchen braucht eine »Evangelische Synode in Europa«, wie sie bereits 1996 von Präses Beier und unserer Landessynode gefordert worden ist. In einem ersten Schritt werden die bisher etwa alle sieben Jahre stattfindenden Leuenberger Vollversammlungen zu Synoden der Leuenberger Kirchengemeinschaft. Sie sollen alle drei Jahre zusammentreten. 30. Angesichts der guten Erfahrungen mit den Europäischen Ökumenischen Versammlungen in Basel 1989 und Graz 1997 ist die Einrichtung eines im Abstand von etwa fünf Jahren wiederkehrenden Europäischen Kirchentags sinnvoll. So können Christinnen und Christen in Europa an einem jeweils wechselnden Ort sich begegnen, sich austauschen, miteinander feiern und gemeinsam planen. 31. Der europäische Protestantismus braucht einen eigenen, sichtbaren Ort, wie er für andere Konfessionen bereits in Canterbury, Istanbul (Konstantinopel) oder Rom gegeben ist. Dafür kommen aus kirchengeschichtlichen und kulturellen Gründen die Orte Genf, Straßburg und Wittenberg infrage. Wittenberg hat den Vorzug, nicht nur die Wiege der Reformation zu sein, sondern auch in der Mitte Europas zu liegen, und kann daher eine Brückenfunktion zu Osteuropa übernehmen. 32. Gemeinsame Projekte sollten entwickelt werden, etwa eine europäische Ausbildungsstätte für evangelische Theologinnen und Theologen an der Waldenserfakultät in Rom. 33. Um das Gespräch mit den orthodoxen Kirchen, der römisch-katholischen, der altkatholischen und anderen Kirchen kompetent vorwärtsweisend führen zu können, muss der europäische Protestantismus künftig weitere theologische Positionen erarbeiten, die er in den Dialog mit diesen Kirchen einbringen kann. 34. Der europäische Protestantismus muss als kompetenter und kritischer Gesprächspartner an den politischen Entscheidungszentren in Europa präsent sein.

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Schlussbemerkung 35. Der waldensische Theologe Paolo Ricca hat beim ersten Tag rheinischer Gemeinden 1992 in Köln bedauert, dass wir uns in unseren »brüderlichen Trennungen« eingelebt haben und gefordert, die »eingeschlafene evangelische Einheit« zu neuem Leben zu erwecken. Die hier vorgeschlagenen Schritte entsprechen den drei vorrangigen Aufgaben, die Paolo Ricca für evangelische Christinnen und Christen im künftigen Europa benannt hat: – –



Die europäische evangelische Christenheit kommt synodal zusammen, um sich gegen die »Festung Europa« zu wenden und für das »offene Haus Europa« einzutreten. Die evangelische Kirchengemeinschaft im europäischen Haus bezeugt den dreieinigen Gott, der seine Gemeinschaft mit uns in seinem Wort, seinem Bund und seiner Liebe erschlossen hat. Evangelische Christinnen und Christen setzen sich dafür ein, dass Europa zu einem Kontinent des Zusammenlebens, des Teilens und des gegenseitigen Helfens wird.

V.2 Wort zum 31. Oktober 2000

Wir sind Kirche!∗ Ein Wort zum 31. Oktober 2000 anlässlich der Erklärung »DOMINUS IESUS« über die Einzigkeit und die Heilsuniversalität Jesu Christi und der Kirche der Kongregation für die Glaubenslehre der römisch-katholischen Kirche »Es weiß, gottlob, ein Kind von sieben Jahren, was die Kirche sei, nämlich die heiligen Gläubigen und die Schäflein, die ihres Hirten Stimme hören. Denn so beten die Kinder: ›Ich glaube eine heilige christliche Kirche‹. Diese Heiligkeit besteht … im Wort Gottes und rechten Glauben« (Luther, Schmalkaldische Artikel III). »Was glaubst du von der heiligen allgemeinen christlichen Kirche? Dass der Sohn Gottes aus dem ganzen menschlichen Geschlecht sich eine auserwählte Gemeinde zum ewigen Leben durch seinen Geist und Wort in Einigkeit des wahren Glaubens von Anbeginn der Welt bis ans Ende versammelt, schützt und erhält und dass ich derselben ein lebendiges Glied bin und ewig bleiben werde« (Heidelberger Katechismus, Frage 54). Vor einem Jahr, am 31. Oktober 1999, wurde in Augsburg die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre samt Begleitdokumenten von maßgebenden Vertretern des Lutherischen Weltbundes und des Vatikans feierlich unterzeichnet. In einer der zentralen Aussagen heißt es: »Lutheraner und Katholiken haben gemeinsam das Ziel, in allem Christus zu bekennen, dem allein über alles zu vertrauen ist als dem Mittler, durch den Gott im Heiligen Geist sich selbst gibt und seine erneuernden Gaben schenkt.« Fragen, »die weiterer Klärung bedürfen«, haben u. a. mit der »Lehre von Kirche, von der Autorität in ihr, von ihrer Einheit, vom Amt und von den Sakramenten« zu tun. Im Blick darauf gilt: »Die Rechtfertigungslehre ist Maßstab oder Prüfstein des christlichen Glaubens. Keine Lehre darf diesem Kriterium widersprechen.« Deshalb ist es sehr bedauerlich, dass die Kongregation für die Glaubenslehre in Rom, statt zur vereinbarten Fortsetzung des Dialogs einzuladen, am 5. September 2000 die Erklärung »Dominus Iesus« veröffentlicht hat, in der auch zu Fragen der Lehre von der Kirche Stellung genommen wird. Sie enthält nicht hinnehmbare Äußerungen über die aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen. Von ihnen wird nämlich behauptet, sie seien »nicht Kirchen im eigentlichen Sinn«, eine Aussage, die in dieser Schärfe vom Aus den Unterlagen der Kirchenleitung; vgl. auch: Kölner Ökumenische Nachrichten 4/10, November/Dezember 2000, gelbe Seiten Nr. 14.



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Zweiten Vatikanischen Konzil gerade vermieden worden ist. So fällt nun ein tiefer Schatten auf den bisherigen über dreißigjährigen Weg des ökumenischen Dialoges zwischen der römisch-katholischen Kirche und den reformatorischen Kirchen und auf den durch die Unterschriften in Augsburg im Herbst vergangenen Jahres erreichten Konsens. Wir bekräftigen demgegenüber: Die Kirche als Geschöpf des in der Heiligen Schrift bezeugten göttlichen Wortes lässt sich nicht mit einer der vorhandenen Kirchen oder mit ihrer Gesamtheit gleichsetzen. Die Kirche ist einerseits Gegenstand des Glaubens und andererseits zugleich eine sichtbare Gemeinschaft, eine soziale Wirklichkeit, die nur in der Vielfalt der Kirchen erfahren werden kann. Diese aber haben den Auftrag, in ihrer geschichtlich gewachsenen Gestalt, die ja Ausdruck ist der »vielfältigen Gnade Gottes« (1Petr 4,10), das Wesen der Kirche als das in Christus erwählte Volk Gottes zu bezeugen. Wir machen unsere weiteren ökumenischen Bemühungen nicht von dem herabsetzenden Urteil einer römischen Kongregation abhängig. Deshalb rufen wir alle Christinnen und Christen in unserer Kirche auf, denen die wachsende Gemeinschaft mit unserer Schwesterkirche am Herzen liegt, sich wegen dieses Rückschlags nicht enttäuscht abzuwenden, sondern vor Ort Schritt für Schritt die Annäherung unserer Gemeinden voranzubringen. Es gilt, unbeirrt am ökumenischen Gespräch über die wichtigen Fragen der Rechtfertigung, der Abendmahlsgemeinschaft, der Kirche und des Amtes festzuhalten und dabei der Verheißung unseres Herrn zu vertrauen: »Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen« (Mt 18,20).

V.3 Landessynode 2001

Wort der Landessynode zur Ökumene∗ V.3.1 Der Weg der Evangelischen Kirche im Rheinland bleibt ökumenisch Beschluss zur Erklärung der EKD zu »Dominus Iesus« 1. Die Landessynode der Evangelischen Kirche im Rheinland begrüßt folgenden Beschluss der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland zur vatikanischen Erklärung »Dominus Iesus« vom 9. November 2000 und macht ihn sich zu eigen: »Herr ist Jesus (1Kor 12,3; Röm 10,9). Durch sein Leben, Leiden und Sterben hat er uns mit Gott versöhnt und von den Mächten des Verderbens erlöst. Mit seiner Auferstehung von den Toten hat er bereits auch unser Leben zu erneuern begonnen. Er ist der eine und einzige Mittler zwischen Gott und den Menschen (1Tim 2,5). In Wort und Sakrament feiern wir das Geheimnis des Heils, das uns in seiner Person erschlossen ist. Dieser Herr hat uns in seinen Dienst gestellt, um »die Botschaft von der freien Gnade Gottes auszurichten an alles Volk« (Barmer Theologische Erklärung, These 6). Herr ist Jesus – daran erinnert auch die Erklärung Dominus Iesus der Kongregation für die Glaubenslehre der römisch-katholischen Kirche. Sie bekräftigt eine allen Christen gemeinsame, in der Reformation neu zum Leuchten gebrachte Wahrheit. Darüber freuen wir uns. Doch in die Freude über das Einverständnis im Blick auf fundamentale Einsichten unseres gemeinsamen Glaubens mischt sich Betrübnis über die in der Erklärung Dominus Iesus manifesten theologischen Irrtümer. Es betrübt uns, – dass die römisch-katholische Kirche sich selbst als die einzige vollkommene Realisierung der Kirche Jesu Christi versteht und damit bestreitet, dass sich der Leib Christi in einer Vielzahl von Schwesterkirchen verwirklicht und dass sich die Treue Gottes auch darin bewährt; – dass die römisch-katholische Kirche der Wahrheit des Evangeliums nicht die Kraft zutraut, die Identität und die Kontinuität der einen, heiligen, katholischen und apostolischen Kirche in der Vielfalt unterschiedlicher Kirchen zu wahren. Mit dem Augsburgischen Bekenntnis erklären wir: »Zur wahren Einheit der christlichen ∗

Protokoll der Landessynode 2001, S. 183–185.

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Kirche ist es genug, dass das Evangelium einträchtig im reinen Verständnis gepredigt und die Sakramente dem göttlichen Wort gemäß gereicht werden« (CA 7). Wer mehr will, will zu viel. Und wer zu viel will, beschädigt den ökumenischen Prozess, der in unseren Kirchen bereits vielfache Frucht bringt; – dass man am Ende der Erklärung Dominus Iesus den Eindruck gewinnt, hier identifiziere die römisch-katholische Kirche in falscher Weise die Autorität Jesu Christi mit ihrer eigenen Autorität. Wir bekräftigen den Glauben, »dass der Sohn Gottes sich selber aus dem ganzen menschlichen Geschlecht eine auserwählte Gemeinde ... versammelt, schützt und erhält« (Heidelberger Katechismus, Fr. 54). Doch wir wissen, dass Trübsal Geduld bringt; Geduld aber bringt Bewährung; Bewährung aber bringt Hoffnung; Hoffnung aber lässt nicht zu Schanden werden, denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist (Röm 5,3–5). In solcher Liebe halten wir fest an der Gemeinschaft des einen Leibes Jesu Christi, der einen Kirche. Und freuen uns an der Wahrheit des Evangeliums, die wir in der ganzen Welt allen Menschen bezeugen wollen. Wir sind gewiss, dass die befreiende und erneuernde Wahrheit des Evangeliums auch die konfessionsunterschiedenen Kirchen immer wieder so erneuern und reformieren wird, dass in ihnen Jesus allein der Herr ist. Ihm befehlen wir alle Bemühungen um die sichtbare Einheit der einen, heiligen, katholischen und apostolischen Kirche an, die in allen ihren Gestalten evangelisch ist.« 2. Diese Bemühungen sind sichtbar geworden in dem gemeinsamen Weg, den die Evangelische Kirche im Rheinland in den vergangenen Jahrzehnten mit den anderen Kirchen zurückgelegt hat. Wir haben dabei viel empfangen. Auch mit der römisch-katholischen Kirche wollen wir auf diesem Weg fortschreiten (siehe Anlage 1: »Stationen auf dem gemeinsamen Weg im Rheinland«).∗ 3. Wir danken den römisch-katholischen Schwestern und Brüdern, die diesen Weg bisher mit uns gegangen sind. An der gewonnenen Gemeinschaft halten wir fest. Ein Zeichen für diese Gemeinschaft sind die vielen Reaktionen, die uns nach der Veröffentlichung von »Dominus Iesus« erreicht haben. Sie haben uns in unserer Hoffnung auf eine lebendige ökumenische Zukunft gestärkt. 4. Zu einer lebendigen ökumenischen Zukunft gehört – gerade auch im Blick auf den gemeinsamen Kirchentag in Berlin 2003 –, dass wir die offen gebliebenen schwierigen Fragen, die unsere Kirchen noch trennen, zielstrebig und sorgfältig weiter bearbeiten: Schrift und Tradition; Beziehung zwischen Amt und Amtsträger; Wesen der »einen, heiligen katholischen und apostolischen Kirche«; Gemeinschaft im Abendmahl. 5. Die Landessynode dankt den Gemeinden für das bisherige ökumenische Engagement. Um die bereits bestehende Gemeinschaft zu vertiefen, bittet sie die Gemeinden – möglichst oft Gottesdienste ökumenisch zu feiern; – in den eigenen Gottesdiensten regelmäßig Fürbitte für unsere Schwesterkirchen zu halten und in den Abkündigungen auf wichtige Ereignisse aus ihrem Leben einzugehen; ∗

Siehe S. 346.

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– die an Mitglieder anderer Kirchen gerichtete Einladung zum Heiligen Abendmahl zu bekräftigen; – weiter mit Christinnen und Christen anderer Kirchen die Heilige Schrift zu lesen, um so gemeinsam das biblische Zeugnis von der freien Gnade Gottes zeitgemäß entfalten zu können; – im ökumenischen Gespräch schwierige und strittige Fragen nicht auszusparen; – in allen kirchlichen Arbeitsfeldern der ökumenischen Zusammenarbeit verstärkt Aufmerksamkeit zu schenken; – den konziliaren Prozess für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung zu stärken; – vertragliche Partnerschaften mit Gemeinden anderer Kirchen am Ort anzustreben (vgl. z. B. den Vertrag in Anlage 2).∗ 6. Die Landessynode bittet die Gemeinden, über diesen Beschluss mit ihren ökumenischen Partnern vor Ort das Gespräch zu suchen. II. Die Landessynode bittet die Kirchenleitung, diesen Beschluss den Gemeinden der Evangelischen Kirche im Rheinland und den mit ihr in den Arbeitsgemeinschaften Christlicher Kirchen (Region Südwest und Nordrhein-Westfalen) verbundenen Kirchen in geeigneter Weise zur Kenntnis zu bringen.

V.3.2 Stationen auf dem gemeinsamen Weg im Rheinland∗∗ 1965 fand der Evangelische Kirchentag in Köln statt. Einer seiner weithin beachteten Höhepunkte war das Podiumsgespräch von Kardinal Jaeger, dem damaligen Beauftragten der Bischofskonferenz für ökumenische Fragen, und Präses Beckmann. Er unterstrich in seinem Schlusswort, es sei vor allem anderen wichtig, »dass wir einander zugewandt miteinander reden und nicht nur übereinander voneinander abgewandt. Das ist durch Jahrhunderte geschehen. Heute fangen wir an, das ist überaus hoffnungsvoll, wieder an, mit dem anderen unmittelbar zu sprechen.« Nachdem es bereits im Juni 1972 zu einer gemeinsamen Erklärung der Erzdiözesen und Diözesen sowie der Landeskirchen in Nordrhein-Westfalen über eine mögliche evangelisch-katholische Zusammenarbeit im Lande gekommen war, beauftragte die Landessynode 1973 die Kirchenleitung, mit den Diözesen darüber in Verhandlungen einzutreten, und betonte: »Mit den Reformatoren bekennen wir die eine Kirche Christi. Christus ist der Kirche vorgegeben als Grund und Hoffnung ihrer Einheit. Der Gehorsam gegen Christus und seinen Willen mit der einen Kirche verpflichtet uns, alles in unseren Kräften Stehende zur Überwindung der Spaltung zu tun. Bei diesem Bemühen haben wir schon jetzt eine Gemeinschaft mit Jesus Christus und darum auch untereinander.

∗ ∗∗

Siehe S. 349. Protokoll der Landessynode 2001, S. 186–188: Anlage 1.

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Die Einheit der Kirche ist aber kein Selbstzweck. Nur wenn wir die Einheit der Kirche beharrlich suchen, können wir Christus der Welt glaubwürdig bezeugen. Was wir als Christen erbitten, fordern und tun, muss darum ein Bekenntnis zu dieser Einheit der Kirche sein, in der von der Urchristenheit an die lebendige Vielfalt der Glaubensäußerungen eingeschlossen ist. So werden unsere Gemeinden, wo sie mit Christen der anderen Konfession Gemeinschaft suchen, sich auf dem Weg zu der einen Kirche Jesu Christi finden, deren Gestalt wir heute noch nicht kennen.« Für diesen verheißungsvollen Aufbruch – »Ökumenischer Grundsatz sollte werden, dass alles gemeinsam geschieht, was nicht aus Gewissens- oder Zweckmäßigkeitsgründen getrennt getan werden muss« – gab die Landessynode 1973 eine Reihe von Anregungen, die auch heute noch nicht überholt sind, ja im Lichte der jüngsten Verlautbarungen aus Rom neue Aktualität gewinnen. Sie nannte unter anderem, gemeinsame soziale Dienste vom Kindergarten bis zur Altenarbeit anzubieten, besonders in Neubauvierteln, anzustreben, kirchliche Bauvorhaben gemeinsam zu planen, durchzuführen und zu nutzen; Richtlinien für die gemeinsame Seelsorge an konfessionsverschiedenen Ehen zu erarbeiten; Presbyterien, Pfarrgemeinderäte und Kirchenvorstände sollten regelmäßig, insbesondere vor neuen Aktivitäten, gemeinsame Sitzungen halten. Das Ökumenische Pfingsttreffen vor dreißig Jahren 1971 in Augsburg hatte den ausgeprägten Wunsch der Teilnehmenden nach dem gemeinsamen Abendmahl in zahlreichen Resolutionen deutlich gemacht. Die Landessynode 1973 nahm ihn auf, als sie darauf drang, es müsse »das Thema ›Abendmahlsgemeinschaft‹ und die damit zusammenhängenden Fragen Gegenstand offizieller Beratungen besonders der beiden großen Kirchen werden, die möglichst schnell aufgenommen oder fortgeführt werden sollen«. Sie war sich dabei der nach wie vor kirchentrennenden theologischen und nicht-theologischen Faktoren durchaus bewusst, wagte aber dennoch die entscheidende, im Lichte des Evangeliums zu verantwortende Einladung: »Es soll in der Evangelischen Kirche im Rheinland niemand vom Abendmahl zurückgewiesen werden, der in seiner Kirche im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes getauft und zum Abendmahl zugelassen ist«. Damit wurde eine Entwicklung eingeleitet, die zu vielfältigen, vertrauensvollen und sich ständig vertiefenden Begegnungen und Beziehungen zwischen den Konfessionen führte. Die Erinnerung an die 450 Jahre zuvor unter Erzbischof Hermann von Wied versuchte, dann aber gescheiterte Reformation im Kur-Erzbistum Köln, veranlasste 1993 die Landessynode zur Erklärung über das Verhältnis zur römisch-katholischen Kirche und zu anderen Kirchen. Sie zog damit in gewisser Weise Bilanz: »Im Blick auf die seither vergangenen zwanzig Jahre können wir feststellen, dass unsere Kirchen sich vor allem auf der Ebene von Ortsgemeinden ein gutes Stück nähergekommen sind: Wir haben uns kennen und achten gelernt und befinden uns auf dem Weg zu ökumenischer Partnerschaft an vielen Orten unseres Landes.« Und es war ihr durchaus bewusst: »Angesichts von Gemeinsamkeiten, die sich heute auch auf Entkirchlichung, Minderheitserfahrungen und Herausforderungen durch die moderne Welt erstrecken, lernen wir es neu, das Gewicht der uns verbindenden Grundlagen höher einzuschätzen als ehedem. So können wir heute dankbar feststellen: ›Was uns miteinander verbindet, ist stärker als das, was uns noch trennt.‹« Zu diesem Trennenden gehörte für sie allerdings nicht zuletzt auch, dass »Identitätsängste und Machtkämpfe der Annäherung unserer Kirchen im Wege stehen.«

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Bisherige Höhepunkte in den gemeinsamen ökumenischen Bemühungen um noch intensivere geistliche Gemeinschaft zwischen unserer Landeskirche und den römischkatholischen Diözesen in ihrem Bereich waren zwei Ereignisse des Jahres 1996: Die Konferenz der Kirchenleitungen (Landeskirchen und Diözesen) in Hessen, der die Evangelische Kirche im Rheinland für die Kirchenkreise Wetzlar und Braunfels angehört, hatte schon 1977 eine Übereinkunft zur Taufe abgeschlossen. Aber 1996 konnte nun auch eine Vereinbarung zwischen der Evangelischen Kirche im Rheinland und dem Erzbistum Köln sowie den Bistümern Aachen, Essen, Münster und Trier zur gegenseitigen Anerkennung der Taufe erarbeitet und unterzeichnet werden. Sie bezieht sich nicht nur auf Probleme der kirchlichen Rechtspraxis, sondern formuliert darüber hinaus in einer theologischen Grundlegung die gemeinsame Auffassung beider Kirchen von diesem Sakrament. Es war ein wichtiges Ergebnis, das auch für die Taufpraxis Maßstäbe setzt. Ebenfalls 1996 fand nach fast vierzig Jahren wieder eine Heilig-Rock-Wallfahrt im Bistum Trier statt. Sie stand unter dem Leitwort »Mit Jesus Christus auf dem Weg«. Durch den Bischof von Trier wurde die Evangelische Kirche im Rheinland offiziell zur Teilnahme eingeladen und gebeten, an der Planung und Durchführung mitzuwirken. Diese große Geste ökumenischen Vertrauens und geistlicher Verbundenheit wurde von der Kirchenleitung ebenso positiv beantwortet wie auch von Kirchenkreisen und Gemeinden im Bereich des Bistums Trier. Am Beginn der Wallfahrt stand ein weithin beachtetes ökumenisches Symposium, an dem auch Kardinal Cassidy aus Rom und Generalsekretär Raiser aus Genf teilnahmen. Zusammen mit Bischof Spital hatte Präses Beier die Schirmherrschaft übernommen, und beide wandten sich mit dem Plan einer Rheinischen Ökumenischen Versammlung zur Jahrtausendwende an die übrigen Bischöfe im Bereich der Landeskirche. Leider fanden sie sich trotz intensiver bilateraler Vorbereitungen letztlich nicht zur Zustimmung bereit. Am Ökumene-Tag der Wallfahrt unterzeichneten Bischof und Präses einen Brief an die Gemeinden, in dem sie ihre gemeinsame Überzeugung so formulierten: »Christus selbst ist mit uns auf dem Weg und deshalb verbindet uns heute schon mehr, als uns trennt. Dies schließt ein, dass beide Kirchen sich ihrem Glaubenserbe verpflichtet fühlen. Daher sind die weiteren Schritte auf dem Weg zur Kirchengemeinschaft stets im Lichte der jeweiligen Glaubenstradition mit zu bedenken, an die wir gebunden bleiben, bis die Einigung gereift ist. In den letzten Jahren ist die Sehnsucht nach dieser Einigung in unseren Gemeinden, in vielen Arbeitsgruppen und im gemeinsamen Gebet gewachsen. Wir ermuntern Sie, auf diesem Weg mutig weiterzugehen. Unumkehrbar ist die Einsicht geworden: Kirche im vollen Sinne können wir nur sein mit den anderen. Deshalb ist der gemeinsame Weg der Christen der verschiedensten Glaubensrichtungen vor Ort nicht ein beliebiges Ziel neben vielen anderen, sondern eine grundlegende Wirklichkeit und Aufgabe unserer Gemeinden.« Diese Botschaft ist heute genauso aktuell wie vor fünf Jahren. Für die Evangelische Kirche im Rheinland gilt der Grundsatz: Wir bleiben auf dem Weg. Das Ziel ist Gottes Reich. Das gemeinsame Zeugnis der Kirchen ist nötiger denn je.

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V.3.3 Gemeindepartnerschaften am Ort∗ Die in Ziffer 5 letzter Spiegelstrich des Wortes der Landessynode 2001 zur Ökumene angeführte Anlage 2 hat folgenden Wortlaut: Vereinbarung zwischen der Evangelischen Kirchengemeinde W i c h l i n g h a u s e n vertreten durch das Presbyterium und der Katholischen Kirchengemeinde S t . M a r i e n, vertreten durch Pfarrgemeinderat und Kirchenvorstand Im Bekenntnis zur gemeinsamen Taufe als dem grundlegenden Band der Einheit in Christus, getragen von der Bitte Jesu, »dass alle eins seien« (Joh. 17, 21), in großer Dankbarkeit Gott gegenüber für die neu geschenkte geistliche Gemeinschaft zwischen Katholiken und Evangelischen, bestärkt durch die »Gemeinsame katholisch-lutherische Erklärung zur Rechtfertigungslehre«, ermutigt durch das zwanzigjährige geschwisterliche Miteinander unserer beiden Gemeinden, unterzeichnen wir mit Zustimmung der Kirchenleitungen folgende Partnerschaftsvereinbarung Mit ihr geben wir dem zwischen uns gewachsenen Miteinander einen verbindlichen Rahmen und verpflichten uns, dieses Miteinander auch weiterhin zu fördern und auszubauen. Nachbarschaftsökumene gehört in die erste Priorität unserer beiden Gemeinden. 1. Nachbarschaftsökumene hat ihre Mitte im gemeinsamen Gottesdienst. Wir setzen uns zum Ziel, regelmäßige ökumenische Gottesdienste und Andachten durchzuführen. Sie sollen durch ihre besonders festliche Ausgestaltung (Zusammenwirken der Chöre, Mitarbeit vieler Gruppen, überlegte Wahl des Zeitpunktes) für beide Gemeinden Höhepunkte des Kirchenjahres sein. 2. Nachbarschaftsökumene gehört ins Zentrum des Gemeindelebens. Wir setzen uns zum Ziel, insbesondere die Kerngemeinde und die Mitarbeiterschaft immer wieder neu für ein verbindliches ökumenisches Miteinander zu gewinnen. 3. Nachbarschaftsökumene dient dem vertieften gegenseitigen Verstehen und Annehmen in Besinnung auf die gemeinsamen biblischen Grundlagen und verbindenden Traditionen. Wir setzen uns zum Ziel, durch regelmäßige gemeinsame Veranstaltungen dieses Gespräch zu fördern (Bibelabende, Glaubensgespräche, Vortragsabende, Seminare, Podiumsdiskussionen) und durch gegenseitige Besuche Fremdheiten abzubauen.



Protokoll der Landessynode 2001, S. 188–192: Anlage 2.

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4. Nachbarschaftsökumene ist der gegebene Ort, eine ökumenische Spiritualität zu entdecken und zu leben und den konfessionsverbindenden Gruppen, Ehen und Familien eine geistliche Heimat zu geben. Wir setzen uns zum Ziel, Formen zu entwickeln, die dem gerecht werden (gemeinsames Bibellesen, gemeinsames Gebet, gemeinsames Liedgut, gemeinsame Andacht, geistlich vertiefte Formen gemeinsamer Weltverantwortung, Begleitung konfessionsverbindender Ehen, Familien und Gruppen, gemeinsame Trauungen). 5. Nachbarschaftsökumene ist der Ort, an dem Lebensfragen des Einzelnen, der Stadt(teil)öffentlichkeit und der Gesellschaft gemeinsames Thema sind. Wir setzen uns zum Ziel, solche drängenden Fragen in unseren beiden Gemeinden immer wieder zum Thema zu machen (gemeinsame Informations- und Diskussionsveranstaltungen). Wir werden bemüht sein, notwendige öffentliche Stellungnahmen gemeinsam zu verantworten (gemeinsame Kanzelworte, gemeinsame Meinungsbildung in den Gemeindebriefen, gemeinsame Presseerklärungen, gemeinsames öffentliches Handeln). 6. Nachbarschaftsökumene entfaltet sich in der lebendigen Begegnung der Gruppen und Mitarbeitenden. Wir setzen uns zum Ziel, die Kontakte zwischen den Gruppen und Arbeitsbereichen durch gemeinsame Aktionen zu fördern, insbesondere ihr Zusammenwirken bei den gemeinsamen Gottesdiensten und Festen. 7. Nachbarschaftsökumene bezieht ganz selbstverständlich Kinder und Jugendliche mit ein. Wir setzen uns zum Ziel, die Zusammenarbeit zwischen unseren Kindergärten zu fördern und in den Schulen mit ökumenischen Gottesdiensten und anderen Angeboten gemeinsam präsent zu sein. 8. Nachbarschaftsökumene lebt von der Gastfreundschaft. Wir setzen uns zum Ziel, uns gegenseitig einzuladen, insbesondere an Höhepunkten des Gemeindelebens (Festgottesdienste, Feste, Jubiläen), und ermuntern uns nicht nur zur Teilnahme, sondern auch zur Mitwirkung (durch Grußwort, Gebet, Lesung, Bericht). 9. Nachbarschaftsökumene braucht die wechselseitige Anteilnahme. Wir setzen uns zum Ziel, uns gegenseitig zu informieren (persönlich, im Gemeindebrief, in den gottesdienstlichen Abkündigungen) und füreinander zu beten (öffentlich im Gottesdienst und persönlich). 10. Nachbarschaftsökumene bedarf der Institutionalisierung. Wir setzen uns zum Ziel, unserem Miteinander verbindliche Formen zu geben: – In der Regel in zweijährlichen Abständen tagen Presbyterium (1. Bezirk), Pfarrgemeinderat und Ökumenischer Arbeitskreis gemeinsam, um den Verlauf der Partnerschaft zu überdenken und um zu beraten, in welcher Richtung sie weiterentwickelt werden soll. – Die Pfarrer/innen unserer beiden Gemeinden treffen sich in regelmäßigen Abständen, die Mitarbeiter/innen nach Bedarf.

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– Der Ökumenische Arbeitskreis regt gemeinsame Aktionen an. Er plant, koordiniert und reflektiert eigenverantwortlich die Zusammenarbeit unserer beiden Gemeinden, unbeschadet der Kompetenzen der Leitungsgremien. 11. Nachbarschaftsökumene ist ein offener Prozess. Die Partnerschaft unserer beiden Gemeinden ist offen für die Partnerschaft mit weiteren Gemeinden am Ort. Wuppertal, Pfingstmontag 2001 -------------------------Pfarrer

-------------------------Pfarrer

-------------------------Presbyter/in

-------------------------Pfarrgemeinderat

-------------------------Presbyter/in

-------------------------Kirchenvorstand

Erläuterungen 1. Die nachbarschaftlichen ökumenischen Beziehungen zwischen katholischen und evangelischen Kirchengemeinden haben vielerorts eine solche Dichte erreicht, dass sie durch vertragliche Vereinbarungen aus der Zone des Zufälligen in eine Form überführt werden sollten, die nicht nur Einzelne, sondern die Gemeinden als Ganze und ihre Leitungsgremien auf Dauer bindet. In Großbritannien gibt es solche ökumenischen Gemeindepartnerschaften schon länger. Im europäischen Rahmen liegt den Kirchen seit Juli 1999 der Entwurf einer »Charta Oecumenica für die Zusammenarbeit zwischen den Kirchen in Europa« vor. 2. Das hier vorgelegte Muster für eine Partnerschaftsvereinbarung soll nicht von den Gemeinden einfach kopiert werden, sondern ist als Anregung zu eigener Gestaltung gedacht. Jede ökumenische Nachbarschaft hat ihr eigenes Profil, das sich auch in der je besonderen Form ihrer Partnerschaftsvereinbarung widerspiegeln sollte. 3. Der vorliegende Entwurf setzt eine evangelische und eine katholische Kirchengemeinde als Partner voraus, ist aber offen für weitere Partner – etwa aus den Freikirchen oder der Orthodoxie. Ziel sollte sein, alle christlichen Gemeinden eines überschaubaren parochialen Bereichs durch solche Partnerschaften untereinander zu verbinden und das Netz der Partnerschaften immer enger zu knüpfen. 4. Eine Partnerschaft ist mehr und anderes als eine Arbeitsgemeinschaft benachbarter Gemeinden. Diese Vereinbarung will nicht Zusammenarbeit organisieren, sondern Zusammenleben verbindlich strukturieren. Sie formuliert kein Arbeitsprogramm, sondern beschreibt Kommunikationsprozesse, wie das geistliche Miteinander zweier

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Gemeinden vor Ort Gestalt gewinnen und gefestigt werden kann. Sie fordert nicht dazu auf, sich an bestimmten ökumenischen Zielen abzuarbeiten, sondern will zur Kreativität anregen. Es ist ein Konvivienzmodell, kein Kooperationsmodell. 5. Deshalb hat die Präambel alles Gewicht. Sie beschreibt und bekennt die von Katholiken und Evangelischen immer schon vorgegebene und geschenkte Zusammengehörigkeit, die uns in allem, was wir gemeinsam tun, trägt, stärkt, ermutigt, aber auch verpflichtet. Wir würden dieses von Gott geknüpfte geistliche Einheitsband verleugnen und missachten, würden wir uns dieser Verpflichtung entziehen. Nicht wir erarbeiten uns die christliche Einheit, sondern das Gottesgeschenk der Einheit verpflichtet uns zur Einigkeit. Deshalb der Schlüsselsatz: »Nachbarschaftsökumene gehört in die erste Priorität unserer Gemeinden.« 6. Die in elf Punkten beschriebenen und angeregten Kommunikationsprozesse zwischen den Gemeinden haben nicht Re-Integration zum Ziel, sondern gegenseitiges Verstehen und wechselseitige Annahme. Ängste – hier werde den Gemeinden und ihren Gliedern zugemutet, ihr eigenes Profil in einer höheren Einheit aufgehen zu lassen – sind unbegründet. Nicht Verlustängste, sondern Entdeckerfreude und Lernbereitschaft prägen das ökumenische Miteinander. 7. Alle elf Punkte haben den gleichen Aufbau: Eine These wird vorangestellt, aus ihr wird eine Zielsetzung abgeleitet. Die These reicht weiter, als die konkrete Zielsetzung einlöst. Noch andere Zielsetzungen können aus ihr entwickelt werden. Die Thesen schreiten die Begegnungsfelder zwischen den Gemeinden ab und gewichten sie (mit dem gemeinsamen Gottesdienst als Mitte), die Zielsetzungen versuchen die Begegnung zu gestalten. Noch andere Begegnungsfelder könnten genannt werden. Die Reihe ist offen. Sechs Gründe für eine Partnerschaftsvereinbarung zwischen benachbarten katholischen und evangelischen Kirchengemeinden 1. Jede Institutionalisierung hat einen Entlastungseffekt. Es muss nicht in jedem Jahr neu ausgehandelt werden, was man ökumenisch miteinander macht. Eine Vereinbarung schreibt eine gewachsene gemeinsame Praxis fest, gibt ihr den Charakter des Selbstverständlichen und macht die Partner frei zu Innovationen. 2. Jede gewachsene ökumenische Zusammenarbeit vor Ort kommt irgendwann an den Punkt, wo man das gemeinsam Erreichte sichern möchte – im Blick auf die nachwachsende Generation, im Blick auf Störfaktoren von außen und innen, im Blick auf Stimmungsschwankungen in den Gemeinden. Eine Vereinbarung stabilisiert das Erreichte und schafft auf höherem Niveau eine Basis, auf der man Ökumene weiterbauen kann. 3. Eine Vereinbarung betrifft die ganze Gemeinde und ist Sache ihrer Leitungsgremien. Nicht nur ökumenisch erweckte Kreise und Personen in den Gemeinden tragen jetzt die ökumenische Nachbarschaft, sondern die Gemeinden als Ganze. Das ökumenische Miteinander ist nicht mehr nur Hobby Weniger, sondern verpflichtende Lebensgestalt der Gemeinden. Ökumene erhält eine höhere Verbindlichkeit.

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4. Die Vereinbarung zwischen zwei Gemeinden ist ein öffentliches Ereignis. Sie hat Signalfunktion. Dem öffentlichen Ärgernis der Trennung setzt sie das öffentliche Gegenzeichen von Einheit entgegen. Öffentlichkeit muss hier freilich inszeniert werden. Die Vereinbarung darf nicht im stillen Winkel unterschrieben werden, sondern in einem ökumenischen Gottesdienst, und nicht nur von den Vertretern der Leitungsgremien, sondern von möglichst vielen Gemeindemitgliedern. Zuvor muss der Vereinbarungsentwurf in den Gemeinden öffentlich diskutiert werden. 5. Der vorliegende Musterentwurf einer Partnerschaftsvereinbarung addiert nicht mögliche ökumenische Aktivitäten. Er ist kein Aktionsprogramm, sondern strukturiert geistliches Zusammenleben vor Ort. Die elf Leitsätze (fett gedruckt) geben die Struktur vor, unter der das geistliche Miteinander in den Blick genommen werden soll. Sie beschreiben die Begegnungsfelder zweier Gemeinden. Sie wollen zuallererst nicht zu Aktivitäten aufrufen, sondern den Blick füreinander schärfen. Die Partnerschaftsvereinbarung hat eine wichtige heuristische Funktion. Mit ihr können zwei Gemeinden sich einander immer tiefer entdecken. 6. Partnerschaftsvereinbarungen zwischen benachbarten Gemeinden sind einer ökumenischen Vision verpflichtet: der Vision der konziliaren Gemeinschaft. Das andere Einheitsmodell, das der »versöhnten Verschiedenheit«, hat durch »Dominus Iesus« zurzeit seine orientierende und visionäre Kraft eingebüßt. Rom verbindet damit das Programm der (Re-)Integration, die evangelische Ökumene das Programm wechselseitiger Anerkennung der Kirchen. Der Streit um das geistliche Amt blockiert derzeit eine Vermittlung. Das Modell der »konziliaren Gemeinschaft« geht einen anderen Weg: Vernetzt die verschiedenen konfessionellen Kirchen und Gemeinden vor Ort so eng, dass sie nicht mehr voneinander loskommen! Denn ihr seid schon – durch die eine, gemeinsame Taufe – so aneinander gebunden, dass ihr nicht mehr voneinander loskommen könnt. Gebt diesem (geistlichen!) Geschehen Gestalt, indem ihr das Netz der Partnerschaften immer enger knüpft! Das heißt zugleich: Die Partnerschaft zwischen zwei Gemeinden kann sich nicht selbst genügen, sondern ist offen für weitere Partner: katholische, orthodoxe, freikirchliche, evangelisch-landeskirchliche. Wolfgang Stoffels

V.3.4 Ökumene – Zustand und Zukunft∗ Jörg Haustein Einleitung Wirkliche oder vermeintliche Zeitenwenden bringen stets ein starkes Rückblicks- und Ausblicksbedürfnis mit sich. So auch beim vorsichtshalber zweimal begangenen Jahrtausendwechsel 2000 und 2001. Das Bedürfnis nach Rück- und Ausblick ist in Kauf zu nehmen, da Christinnen, Christen und Kirche eigentlich stets Rechenschaft ablegen sollten über das Geschehene (und nicht Geschehene). Und da wir ja auch stets »nach ∗

Protokoll der Landessynode 2001, S. 77–90.

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dem Reiche Gottes trachten« sollen, ist auch der Blick in die Zukunft zu richten und auf unsere verschiedenen Möglichkeiten des Trachtens. Im Mittelpunkt eines solchen Erwägens, was war und was zu tun wäre, soll heute die Ökumene stehen. Das ist nicht unbedingt selbstverständlich. Es gäbe eine Reihe weiterer dringlicher Themen, die die Synode einer Kirche Christi auch an diesem Tag beschäftigen könnte. Dass es heute die Ökumene ist, liegt vielleicht an der spannungsreichen Eigenart dieses theologischen Themas. Diese Spannung, soviel kurz vorweg, besteht im Unterschied zwischen Theorie und Praxis. Ökumene ist ein durchweg positiv besetzter Begriff: Niemand kann keine Ökumene wollen, jeder will ökumenisch sein. Ja, es gibt im ganzen kirchlichen Leben aller Konfessionen kaum einen Begriff, der positiver besetzt ist. Dabei kann Ökumene alles Mögliche sein: Vor einigen Jahren wurde per Anzeige ein Ökumene-Referent/Referentin für die Zentrale der ESG gesucht. Erfordert waren sozialwissenschaftliche Kenntnisse, kommunikations- und wirtschaftswissenschaftliche und solche über die Dritte Welt. Theologische, religionswissenschaftliche oder konfessionskundliche Kompetenz war nicht gefragt. In diesem Vortrag bedeutet Ökumene die zwischenkirchlichen Beziehungen, wohl wissend, dass der Begriff auch damit nicht erschöpft ist. Damit wieder zur Ambivalenz des Begriffes: Fragt man nach der ökumenischen Wirklichkeit, nach »praktizierter« Ökumene, nach »wirklicher« Ökumene, so heißt es oft, frei nach Bismarck, »mit der Ökumene ist es soso lala«. Und das ist eben nicht erst nach den so oft erwähnten »jüngsten Verlautbarungen« Roms so, es ist eine Dauerspannung. Dieser Spannung möchte ich nun nachgehen in einem kurzen Rückblick, einer Analyse ökumenischer Gegenwart und einem Versuch, ökumenische Handlungsmöglichkeiten vorzustellen. Dass ein Kirchenhistoriker so etwas kaum tun kann, ohne zuweilen einen Blick in die Vergangenheit zu werfen, bitte ich billigend in Kauf zu nehmen. Kirchengeschichte ist nicht eine Tüte voller »oller Kammellen«, sondern die Kirchengeschichte ist das Gedächtnis und das Gewissen von Theologie und Kirche. 1. Rückblick – Das »Jahrhundert der Ökumene« Statt eines großen historischen Rückblickes will ich auf drei Jahreszahlen hinweisen, mit denen der ökumenische Aufbruch des letzten Jahrhunderts verbunden ist: 1948 – 1963 – 1973. a) 1948 wurde in Amsterdam der Ökumenische Rat der Kirchen gegründet. Jedes Wort dieses Satzes ist ein Interpretament des historischen Ereignisses: 1948 heißt eben auch: nicht schon 1900 oder 1910, mit der ersten Weltmissionskonferenz in Edinburgh, nicht 1918/19, aufgrund der Erfahrungen des Großen Krieges. Es gehört zur Tragik des 20. Jahrhunderts, dass weder auf staatlicher noch auf kirchlicher Ebene die Völker und die Menschen früher zueinander fanden. Ob UNO und ÖRK aber ohne das unbeschreibliche Elend des Zweiten Weltkrieges und der Massenvernichtung von Menschen solche Solidität erreicht hätten, die sie noch heute trägt? Der Gründungsort Amsterdam trägt einer großen ökumenischen und toleranten Tradition Rechnung, deren sich unser Nachbarland rühmen darf. Von den Niederlanden lernen heißt Anstand und Widerstand lernen, und unsere rheinische Kirche hat ja in ihrer

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Geschichte gezeigt, dass sie durchaus lernbereit war. Der ÖRK war 1948 ein anderer als in Harare 1998. Er ist in die Jahre gekommen und glänzt nicht mehr so. Viel an hoffnungsvoller Dynamik ist ihm abhanden gekommen, aber nicht die Hoffnung selbst. Die Dauerspannungen zwischen Protestanten und Orthodoxen sind nicht zu leugnen, sie sind existenzgefährdend. Aber es besteht die Hoffnung der Erkenntnis, dass dies weniger christlich-theologische Spannungen sind als soziokulturelle. Die Meinungsverschiedenheiten gehen durch die Konfessionen: Für den lutherischen Pfarrer in Lettland sind ordinierte Frauen ebenso ein Problem wie für den griechisch-orthodoxen Popen in Thessaloniki, für den orthodoxen Popen in Los Angeles ist Homosexualität ebensowenig ein Problem wie für die anglikanische Priesterin in Southampton. Die Ahnung, dass dies so ist und wir auf theologische Verteufelungen verzichten müssen, wenn es darauf ankommt, das ist das Entscheidende, das Historische am ÖRK. Und hierzu gehört auch die zurückhaltende, aber eben nicht mehr ablehnende Haltung der römisch-katholischen Kirche zum ÖRK. Ihre offizielle Mitarbeit bei »Faith and Order« zeigt, dass sie in dem Bereich mitwirken will, der ihr am wichtigsten ist. Das hängt bereits mit dem zweiten Datum zusammen: b) 1963: Das Zweite Vatikanische Konzil ist wie ein guter Weinjahrgang, über den man erst in ferner Zukunft ein abschließendes Urteil fällen kann: Er schmeckt bereits seit langem sehr gut, er kann aber noch exzellent werden oder aber: Essig. Das Konzil war von Anfang an strittig: Viele haben es erhofft, manche haben es hingenommen. Der historische Rückblick ist eindeutig: Es war der Aufbruch der römisch-katholischen Kirche in die Welt und in die Wirklichkeit der anderen Kirchen, vergleichbar mit der Aufgabe einer »splendid isolation«, vergleichbar mit dem Eintritt der USA in die Weltgeschichte. Ich möchte es mir nicht nehmen lassen, Johannes XXIII. als den Papst mit der größten kirchenhistorischen Wirkung in diesem Jahrhundert anzusehen, auch wenn die Medien einen anderen hierzu bereits gekürt haben (nach ihm käme für mich dann Benedikt XV.). Vielleicht wäre die römisch-katholische Kirche ohne das Konzil heute geschlossener, mächtiger. Vielleicht wäre sie sogar größer. Es gibt etliche römisch-katholische Blättchen, die »ihren« Katholiken das vorgaukeln. Wie auch immer, sie wäre nicht so christlich, wie sie heute ist, sie wäre auch nicht so ökumenisch, ja, sie wäre nicht so evangelisch. Mit dem Konzil hat sich uns die katholische Kirche nähergebracht, sie ist vom feindlichen Bruder zur Schwesterkirche geworden (man beachte die politische correctness!). Auf die Ängste, die dieses Ereignis in seiner Kirche zurückgelassen hat, komme ich noch zurück. Die Gattung des Ereignisses ist ebenfalls ökumenisch zu würdigen. Hohe Synode, das größte Ereignis in unserer römisch-katholischen Schwesterkirche war nicht ein Papst, nicht ein Dogma, nicht eine Marienerscheinung, es war eine Synode! c) 1973: Die Leuenberger Konkordie war wohl der innerevangelische Höhepunkt des Jahrhunderts. Als vor 27 Jahren Reformierte, Lutheraner und Unierte wieder zueinander fanden, war das historisch, aber auch theologisch überfällig. Das 19. Jahrhundert sah die Unionen und den vor allem lutherischen Protest dagegen: »War auf dem Colloquio zu Marburg 1529 Christi Leib und Blut im Brodt und Wein, so ist es noch

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1817« lautet die 78. These von Claus Harms. Ohne dies zu negieren, hat Leuenberg etwas anderes in die Mitte gestellt: die vergebliche Bitte Zwinglis an Luther, doch nicht die Kirchengemeinschaft zu verweigern. Nun konnte gemeinsam bekannt werden, dass das religiöse Miteinander in einer Kirche, bei einem Abendmahl über einer unterschiedlichen Interpretation dieses Geschehens steht. Wie das Zweite Vatikanum, so hat auch die Leuenberger Konkordie und die aus ihr erwachsene Leuenberger Kirchengemeinschaft ihre volle historische Wirksamkeit noch nicht entfaltet. Mehr und mehr wächst hier ein ökumenisches Modell, das nicht mehr nur als »evangelisches Modell« zwar akzeptiert, aber in dieser Kennzeichnung auch relativiert wurde. Vielleicht wird »Leuenberg« einmal das ökumenische Modell schlechthin. Seine Grundlage ist letztlich CA VII mit seiner ekklesiologischen Grundaussage, die nicht nur Lutheranern, Reformierten und Anglikanern selbstverständlich ist, sondern die auch die römischen Confutatoren von Augsburg 1530 in nuce gelten ließen: »Es wird auch gelehret, dass allezeit müsse eine heilige christliche Kirche sein und bleiben, welche ist die Versammlung aller Gläubigen, bei welchen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakrament laut des Evangelii gereicht werden [pure docetur et recte administrantur]. Denn dies ist genug zu wahrer Einigkeit der christlichen Kirchen, dass da einträchtlich nach reinem Verstand das Evangelium gepredigt und die Sakramente dem göttlichen Wort gemäß gereicht werden. Und ist nicht not zur wahren Einigkeit der christlichen Kirche, dass allenthalben gleichförmige Zeremonien, von den Menschen eingesetzt, gehalten werden«. Auf der Grundlage dieser Erkenntnis und des Willens zur Kirchengemeinschaft hat die Ökumene der Kirchen der Reformation im letzten Jahrhundert große Fortschritte gemacht. Sie haben dazu geführt, dass evangelische Christinnen und Christen nahezu überall in Europa und zunehmend weltweit in kirchlicher Gemeinschaft stehen bzw. in gottesdienstlicher Gemeinschaft. Und in diese Gemeinschaft ist die Altkatholische Kirche doch bereits eingeschlossen, was zeigt, dass die schwerere Ökumene nicht die evangelisch-katholische, sondern die evangelisch-römisch-katholische ist. 2. Der gegenwärtige Zustand der Ökumene Aller ökumenischer Fortschritt ist nur dann wirklich historische Wegmarke, wenn er tatsächlich im Leben der Kirche und ihrer Mitglieder spürbar wird, und zwar möglichst vielfältig (weshalb die reformatorischen Gedanken Luthers und Calvins eben welthistorisch waren, die eines Wessel von Gansfort eben nicht). Insofern sind viele der genannten Daten evangelisch-evangelischer Ökumene in unserer ökumenischen Wirklichkeit kaum spürbar. Hier zählen vorwiegend Fortschritte, wo es um eine auf der Welt einmalige Konstellation geht: Auf engem Raum leben römisch-katholische und evangelische Kirche mit jeweils etwa 30 Millionen Mitgliedern zusammen. Sie besitzen die gleichen Rechte, haben die gleiche Mitgliederstruktur, die gleichen infrastrukturellen Voraussetzungen und sind unvorstellbar reich. Die römisch-katholische und die evangelische Kirche bestimmen das religiöse Leben unseres Landes weitgehend, sie bestimmen das gesellschaftliche Leben immer noch in erheblichem Maße. Für die evangelische Kirche, gerade die im Rheinland, ist das Verhältnis zur römisch-katholischen Kirche das Zentrum ökumeni-

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scher Fragestellungen. Daher nun eine kurze Analyse des gegenwärtigen Verhältnisses im Spiegel der letzten Monate. Vorgestern ging offiziell das »Heilige Jahr« der römisch-katholischen Kirche zu Ende. Es hat eine Reihe von ökumenisch bedenkenswerten Ereignissen hervorgebracht: Am 18. Januar wurde in der Hauptkirche San Paolo fuori le mura in einem ökumenischen Gottesdienst eine der »Heiligen Pforten« geöffnet, am Sonntag Invokavit hörten wir die Vergebungsbitten des Papstes, im September 2000 sorgte die Seligsprechung von Pius IX. und die Erklärung »Dominus Iesus« für ökumenisches Interesse. Als »Dominus Iesus« veröffentlicht wurde, sahen manche einen Bruch zu den bisherigen Ereignissen, auch einen Kontrapunkt zu dem ökumenischen Hoffnungszeichen in der Unterzeichnung der GER am 31. Oktober 1999. Doch ich möchte behaupten, dass alles sehr wohl zusammenpasst, und in der ökumenischen Linie, wie sie vom römischen Lehramt vorgegeben wird, ist keineswegs ein Bruch. Denn diese ökumenische Linie folgt überall genau der ekklesiologischen Erklärung, die »Dominus Iesus« sein will. Daher zunächst zu diesem Text: »Die Gläubigen sind angehalten zu bekennen, dass es eine geschichtliche, in der apostolischen Sukzession verwurzelte Kontinuität zwischen der von Christus gestifteten und der katholischen Kirche gibt ... Mit dem Ausdruck ›subsistit in‹ wollte das Zweite Vatikanische Konzil zwei Lehrsätze miteinander in Einklang bringen: auf der einen Seite, dass die Kirche Christi trotz der Spaltungen voll nur in der katholischen Kirche weiterbesteht, und auf der anderen Seite, ›dass außerhalb ihres sichtbaren Gefüges vielfältige Elemente der Heiligung und der Wahrheit zu finden sind‹ (LG 8), nämlich in den Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften, die nicht in voller Gemeinschaft mit der katholischen Kirche stehen. Bezüglich dieser Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften ist festzuhalten, dass ›deren Wirksamkeit sich von der der katholischen Kirche anvertrauten Fülle der Gnade und Wahrheit herleitet‹ (UR 3)« (Dominus Iesus 19). Daraus folgt logischerweise: »Es gibt also eine einzige Kirche Christi, die in der katholischen Kirche subsistiert ... Die kirchlichen Gemeinschaften hingegen, die den gültigen Episkopat und die ursprüngliche und vollständige Wirklichkeit des eucharistischen Mysteriums nicht bewahrt haben, sind nicht Kirchen im eigentlichen Sinn ...« (Dominus Iesus 17). Es ist oft und richtig gesagt worden, dass hier nichts Neues gesagt wurde, dass aber der Zeitpunkt das Bedenkenswerte sei. Warum musste das nun gesagt werden? Zwei Gründe bieten sich an, die allerdings zusammenhängen: Es sollen innerkatholische Diskussionen gesteuert werden, die eine Öffnung der vatikanischen Ekklesiologie vorantrieben. Einige Dogmatiker suchen oder vertreten eine Interpretation des »subsistit«, das die exklusive Ekklesiologie von Lumen Gentium aufbricht. Auch in anderen Kirchen könne die Kirche des Credo »subsistieren« (in welchen, sei dann genauer zu eruieren). Natürlich hat die Glaubenskongregation recht, wenn sie nun betont, dass dies so in den Konzilstexten nicht steht. Aber es geht den Vertretern der offeneren Ekklesiologie um die Intention des Konzils. Welchen Sinn habe der Verzicht auf ein »est« als den, die Entwicklung voranzubringen? Dieser Tendenz will das Lehramt

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den Boden entziehen. Das wird nicht gelingen, denn sie hat bereits zu viele Anhänger, und eine »Erklärung« wie »Dominus Iesus« hat nicht den Stellenwert wie seinerzeit die höchst autoritative Beendigung der Diskussion um die Frauenweihe. Dass mit »Dominus Iesus« auch eine ökumenische Abgrenzung vorgenommen werden sollte, wird zwar dementiert, aber m. E. nicht glaubwürdig (s. u.). Zwei laut gewordene Umgangsweisen mit »Dominus Iesus« scheinen mir im Übrigen in falsche Richtungen zu gehen. Die eine, die diese Ekklesiologie personifiziert und nur in der Theologie Ratzingers verankert sieht. Sie wird genährt von der falschen Hoffnung, er allein wäre ihr Vertreter und man müsse nur warten, bis sich das Blatt bei einem Nachfolger wendet. Bis dahin könne man so weitermachen wie bisher. Auf der anderen Seite muss es nicht so sein, dass römisch-katholische Ekklesiologie nicht anders kann als so. Natürlich liegt, wie gezeigt, alles auf der Linie des Zweiten Vatikanums, und es ist nach wie vor richtig, die »Rückkehr-Ökumene« als die immer noch gültige Richtung zu sehen. Aber es ist doch kaum zu übersehen, dass »Dominus Iesus« nicht der römisch-katholischen Universitätstheologie entspricht, und dass eine Hoffnung auf ekklesiologische Veränderung besteht. Auf weitere ekklesiologische Veränderung, denn das Konzil spricht gegenüber nichtkatholischen Christinnen und Christen eine andere Sprache als das Tridentinum und das Erste Vatikanum, und die innerkirchliche Überzeugungskraft der exklusiven Ekklesiologie hat doch wenigstens in unseren Breiten stark abgenommen. Das war bei einer regelrechten Verteufelung alles Nichtkatholischen vor einigen Generationen noch anders! Doch noch einmal zu der Frage nach der ekklesiologischen Position von »Dominus Iesus« und den anderen erwähnten Ereignissen: – Augsburg und die GER: Die GER enthält eine berüchtigte Fußnote 9, in der klargestellt wird, dass mit der Verwendung des Begriffes »Kirchen« in dem Dokument keineswegs eine Anerkennung verbunden ist. Der LWB ist hierauf leider eingegangen und hat nicht energisch genug dagegen protestiert. Nebenbei gesagt ist für die römisch-katholische Kirche als Ganze das von Vielen so genannte »Jahrhundertereignis« ziemlich unbedeutend. Die GER ist bislang nicht in offiziellen Abdrucken erschienen (also im »l’Osservatore Romano« oder in den Acta Apostolici Sedis), noch hat man in Rom in besonderer Weise darüber berichtet. Ökumene mit Lutheranern ist eine regionale Randerscheinung, die zudem ekklesiologisch einen mit der katholisch-orthodoxen Ökumene nicht zu vergleichenden ekklesiologischen Stellenwert hat. – Das konnte man – freilich nur bei genauem Hinsehen – auch in dem ökumenischen Gottesdienst in San Paolo ausmachen. In der ekklesiologisch klar strukturierten Grußliste kam der Vertreter des LWB, Bischof Krause, an 23. Stelle von 26, eben selbstverständlich nach den »richtigen« Kirchen, Orthodoxen und Altkatholiken, aber immerhin noch vor dem letzten. Das war der Vertreter des Ökumenischen Rates der Kirchen, denn der hat eigentlich gar keine ekklesiologische Qualität. – Und schließlich die Vergebungsbitte. Der ehemalige Bischof von Lübeck Ulrich Wilckens hat euphemistisch gemeint, hier habe Johannes Paul II. nun gezeigt, wie er für die ganze Christenheit sprechen könne und wie ein Petrusdienst aussehen könne,

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dem wir uns nicht versagen sollten (Una Sancta 2/2000). Ich möchte dem widersprechen. Denn erstens möchte ich über die Züge der Kirchengeschichte, die gegen das Christentum sprechen (auch gegen unseres), nicht wie von »Ausrutschern« sprechen: im Hinblick auf Zwangskatholisierung von »Verletzung der geschwisterlichen Liebe«, mit Blick auf brutale Missionsstrategien, Ketzer- und Hexenverfolgungen vom »Zurückgreifen auf Methoden, die dem Evangelium widersprechen«. Man stelle sich den berechtigten Aufschrei vor, würde im politisch-gesellschaftlichen Bereich so gesprochen. Zweitens bin ich als Glied der evangelischen Kirche doch von der Vergebungsbitte angesprochen. »Im Gedächtnis des Protestantismus stecken hinter diesen Sätzen der tausendfache Mord an unseren Glaubensgenossinnen und -genossen, der von zahlreichen Päpsten und katholischen Obrigkeiten gebilligte und unternommene Versuch, unsere Kirche auch physisch auszurotten, die Verfolgung von Hugenotten und anderen evangelischen Minderheiten ...« (Haustein MdKI 2/2000) All das hat eben auch mit Ekklesiologie zu tun. Was nutzt denn ökumenisch gesehen eine Bitte um Vergebung, wenn die theologische Grundlage für ebendiese gerade bereuten Taten erneut festgeklopft wird? Es ging bei dem Akt nicht um »healing of bitter memories« bei den Opfern, sondern eher bei den Tätern. Das Zusatzdokument »Erinnern und Versöhnen« der Internationalen Theologenkommission stellt im Kapitel »6.2 Ekklesiale Implikationen« fest: »Deshalb kann als Konsequenz der Vergebungsbitte des Papstes und vieler Bischöfe keinesfalls die Rücknahme oder Relativierung früherer lehramtlicher Aussagen verlangt werden«. Und weiter: »Es muss klargestellt werden, dass die Übernahme einer Verantwortung für die Sünden aus der Vergangenheit eine Art von Teilnahme am Mysterium des gekreuzigten und auferstandenen Christus ist, der sich die Schuld aller auf seine Schultern hat legen lassen« (Erinnern und Versöhnen, 100–102). Der ökumenische Ärger über »Dominus Iesus« kommt aber auch und wird vergrößert durch den Eindruck, als wollten maßgebliche Kreise in Rom gar keine tiefergehenden ökumenischen Beziehungen. Hier ist auch die »Note über den Gebrauch des Wortes Schwesterkirchen« zu erwähnen, die eher im sprachlich-atmosphärischen als im eigentlich ekklesiologischen Bereich positioniert ist. Es sei »zu beachten, dass der Ausdruck Schwesterkirchen im richtigen Sinn gemäß der gemeinsamen Tradition von Abendland und Orient ausschließlich auf jene kirchlichen Gemeinschaften angewandt werden kann, die den gültigen Episkopat und die gültige Eucharistie bewahrt haben« (Nota 12). Es soll damit ein Terminus desavouiert werden, der im Verkehr der Kirchen, der Gemeinden vor Ort, der ökumenischen Gruppen und Begegnungen längst zur Normalität geworden ist. Das römische Lehramt hat Angst vor der Sprache und ihrer Macht, gut reformatorisch gesprochen: Angst vor dem Wort. Daher mein Appell: Das Wort »Schwesterkirchen« sie sollen lassen stahn und keinen Dank dazu haben. Als ich dann das Interview von Joseph Ratzinger in der FAZ gelesen habe, musste ich spontan an die Emser Depesche denken. Wie in »Dominus Iesus« und in der Nota werden hier Formulierungen gebraucht, die das Gegenüber zum beleidigten Abschied vom Dialog scheinen provozieren zu wollen. Wie groß muss dann die Angst des römischen Lehramtsfundamentalismus vor einem wirklichen Dialog auf Augenhöhe sein. Vielleicht zu Recht, denn in dem Maß, in dem eine Kirche ihre vermeintliche Einzigartigkeit be-

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tont und hypostasiert, muss umso mehr jede Relativierung dieser Einzigartigkeit als existentielle Bedrohung angesehen werden. Die Ekklesiologie ist die theologische Mitte der römisch-katholischen Kirche und die Kirchenzugehörigkeit ist das letzte Stück des Glaubens, das ein katholischer Christ aufgibt. Gleichwohl kann das in der evangelisch-katholischen Ökumene nicht einfach hingenommen werden. Der Sprachgebrauch mahnt, dass es in der Ekklesiologie um Prinzipielles geht. Und hier ist ebenso prinzipiell zu antworten: »Die evangelischen Kirchen sind der Zufälligkeit entwachsen«, meinte der Präfekt der Glaubenskongregation. Nun ja, der Kirchenhistoriker darf nicht verschweigen, dass es in der Reformationsgeschichte auch Zufälle gab. Aber die evangelischen Kirchen sind am Pfingsttag entstanden, und da sollte man als Theologe doch lieber nicht den Zufall bemühen. Wenn aber die Entstehung der Konfessionskirchen im 16. Jahrhundert gemeint ist, dann muss in die Reihe der Zufälligkeiten die römisch-katholische Kirche mit eingeschlossen werden, damit das Bild stimmt. Denn auch die Kirche von Trient ist »eine aus der Reformation hervorgegangene kirchliche Gemeinschaft«, vielleicht ein wenig älter als die reformierte Kirche, aber jünger als die lutherische und die anglikanische. Die Zustandsbeschreibung ökumenischer Gegenwart ist aus aktuellem Anlass einseitig und textbezogen gewesen. Jedermann weiß, dass im ökumenischen Alltag oft vieles besser läuft. Aber manches auch nicht so gut. Es ist nicht meine Absicht, die vielen guten Aktionen, Strukturen, Gemeinsamkeiten und konstruktiven Auseinandersetzungen gering zu achten. Aber ich glaube in zehn Jahren ökumenischer und konfessionskundlicher Arbeit gelernt zu haben, dass ein Ökumeniker grundsätzlich mit der ökumenischen Situation unzufrieden sein sollte. Selbstzufriedene Jubelökumene, die nirgendwo mehr Probleme sieht oder die nicht mehr die Gretchenfrage im Blick hat, ob evangelische und katholische Kirche eher ein Grundkonsens eint oder ein Grunddissens trennt, solche Ökumenesicht dient einer evangelischen Synode und ihrer Kirche nicht. Aber ich hab auch gelernt (auch deswegen habe ich den Protest gegen die GER nicht unterschrieben), dass man als Ökumeniker auch Hoffnung auf bessere Zeiten haben sollte und immer auch Möglichkeiten für die Zukunft suchen und ausprobieren muss, selbst wenn sie dann doch stecken bleiben. Die GER hat in anderen Ländern der Welt zu bedeutenden Verbesserungen der Lage der evangelischen Kirchen geführt. Mancherorts traten evangelische und katholische Bischöfe erstmals gemeinsam auf, eine lange erhoffte Wertschätzung. Es ist auch ökumenisch, einem theologisch nicht so ganz überzeugenden Experiment zuzustimmen, wenn damit Glaubensschwestern und -brüdern anderswo entscheidend geholfen werden kann. 3. Ökumenische Perspektiven Wie geht es mit der Ökumene weiter? Die Frage setzt bereits voraus, dass Ökumene weitergeht. Beziehungen, Kontakte, Austausch, auch Gemeinsames wird es zwischen den Kirchen immer geben, wie es das auch immer gegeben hat. Freilich auf sehr verschiedene Weisen, für die einen so, und für die anderen so. Die ökumenischen Bemühungen und Ziele werden sich also auf verschiedene Weise ändern, je nachdem, wie sie sich bisher

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gestaltet haben, je nachdem von welchen theologischen (ekklesiologischen) Grundentscheidungen sie bisher geleitet wurden. Auch hier in erster Linie der Blick auf die evangelisch-katholische Ökumene. Was ist durch Dominus Iesus anders geworden? Nichts ist anders geworden für den, der schon bisher die evangelisch-katholische Ökumene als Irrläufer ansah. Nichts Neues aus Rom, gut so. Ein falscher Weg. Wenig ändert sich auch für jene, die weiterhin davon träumen, dass für die praktizierte Ökumene überhaupt keine Rolle spielt, was das Lehramt der römisch-katholischen Kirche festschreibt. Nichts Neues aus Rom, macht nichts. Es gilt ja nicht. Und hier vor Ort klappt alles prima. Schwieriger ist es für eine differenzierte ökumenische Linie. Sie muss immer wieder Text und Kontext ernst nehmen, um gegebenenfalls zu reagieren. Mit der vorgetragenen Einschätzung sollte angedeutet werden: »Dominus Iesus« verändert nicht die theologische Grundlage der ökumenischen Situation. Aber »Dominus Iesus« verändert die atmosphärische Situation. Der Text sollte ein Hinweis sein, einmal generell über das eigene Ökumene- und Kirchenverständnis Rechenschaft abzulegen. In diesem Zusammenhang sollte eine Kirche ihre Gemeinden, ihre Glieder fragen: Wer ist/sind unser/e ökumenischer/en Partner? Was wollen wir eigentlich mit Ökumene? Was ist unser »ökumenisches Ziel« oder wo wäre der Moment, zu dem wir sagen könnten »verweile doch, du bist so schön«? Was können wir an eigenen Traditionen bis hin zu »Konfessionen« aufgeben? Was davon auf keinen Fall? Ich möchte in mehr oder weniger begründeten Thesen einige Antworten auf diese Fragen versuchen: These 1: Ökumene beginnt erst da, wo Kirchen sich als Kirchen anerkannt haben. Alles andere gehört zu den Prolegomena der Ökumene. Unterthese: Eine Kirche, die nicht bereit ist, auf gleicher ekklesiologischer Ebene mit anderen Kirchen zu kommunizieren, befindet sich noch in einem vorökumenischen Stadium. Natürlich kommt hier der Gedanke schnell auf die römisch-katholische Kirche. Man muss aber auch bedenken: Eine solche These stimmt natürlich nicht mit dem Selbstverständnis der römisch-katholischen Kirche überein. Nach dem Selbstverständnis der römisch-katholischen Kirche gibt es keine ökumenischere Kirche als sie selbst. Eben auch, weil sie Weltkirche ist. Doch aus evangelischer Sicht muss gesagt werden – und zwar aus den oben angedeuteten kirchenhistorischen Gründen: Die römisch-katholische Kirche besitzt ebenso wenig die Fülle der Wahrheit wie irgendeine andere Kirche. Kirchen sind Kirchen, wenn sie einer Verheißung glauben, nicht wenn sie einen Besitz behaupten.

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Von zunehmender Bedeutung für unsere ökumenische Situation wird sein, dass auch orthodoxe Kirchen natürlich weit davon entfernt sind, uns als Kirchen anzuerkennen. Die hinzutretende kulturelle Verschiedenheit vergrößert zuweilen den Graben, die Eigenständigkeit der orthodoxen Auslandsdiözesen und die Minderheitensituation hingegen könnten aber vielleicht einmal hilfreich sein. Positiv bestätigt wird die These indes von der ökumenischen Potenz der Kirchen, die in Prozessen wie Leuenberg (lutherisch-reformiert) oder auch Porvoo (lutherisch-anglikanisch) von vornherein auf ganz anderer Grundlage miteinander umgehen und in angemessener Zeit auch greifbare Ergebnisse vorliegen oder wenigstens Perspektiven sinnvoller Weiterarbeit. These 2: Konfessionelle Identität ist sinnvoll und zu bewahren, wenn eine Gleichsetzung von Konfession und Kirche unterbleibt. Hierzu gehört dreierlei: 1. das Eingeständnis der eigenen Konfessionalität; 2. die Annahme der eigenen Konfessionalität; 3. die Betonung der eigenen Konfessionalität. Es gibt zurzeit verschiedene Überlegungen zum Thema »konfessionelle Identität«. Sie sei ein alter Zopf und nicht mehr erwünscht, sagen die einen. Zu ihnen gehören so erfahrene Theologen wie Jörg Zink, dem man ja nun nicht nachsagen kann, er könne dem Volk nicht aufs Maul schauen. Auf der anderen Seite – und hierzu möchte ich mich auch rechnen – stehen Befürworter der konfessionellen Identität. Warum mir die Bewahrung und im öffentlichen und ökumenischen Leben auch die Betonung der konfessionellen Identität für unsere Kirche, aber auch für die Christinnen und Christen besser und realistischer scheint als ihre Aufgabe, das wird hoffentlich aus den folgenden Überlegungen klar. Sie beruhen auf der Überzeugung, dass sich die christliche Religion in sehr vielen Bereichen nicht auf eine einzige Aussage reduzieren lässt und dass die Pluralität ihrer Erscheinungsformen daher nicht aufgegeben werden darf, die übrigens für das Christentum in seiner Geschichte konstitutiv ist (warum gibt es denn wohl vier Evangelien?). Kirchen werden in der Gesellschaft daran gemessen, wie sie Profil zeigen. Auch unterschiedliches! Das »gemeinsame Wort der Kirchen« darf nicht das ausschließliche Wort einer Kirche sein. Wir sind eine Kirche, in der Frauen jedes Amt offensteht, und wir brauchen nicht zu begründen, wie wichtig die Frauen sind und man ihnen dennoch die wichtigsten Funktionen versagt. Wenn evangelische Kirche über Demokratie spricht, muss sie nicht begründen, warum einer Gemeinde das Recht vorenthalten wird, über ihren Pfarrer oder ihre Pfarrerin zu entscheiden. Sie kann sagen, dass die obersten Repräsentanten einer Kirche von einer Synode dieser Kirche gewählt werden. Das heißt ja nicht, dass andere Modelle nicht auch theologisch begründbar sein können. Es geht nicht darum, dass man besser ist als andere, sondern es geht darum, dass man anders ist, weil man das für richtiger hält. Evangelische Kirche muss aber einiges tun, dass das in einer

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pluralen Gesellschaft wahrgenommen und gewürdigt wird. Wenn Glieder unserer Kirchen aus der Kirche austreten, weil der römisch-katholische Papst ihnen nicht gefällt, dann stimmt mit unserer Profilierung etwas nicht. Vor hundert Jahren trat man in unsere Kirche ein, weil einem der Papst nicht gefallen hat! Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch die Sprache: Mehr und mehr kommt evangelische Kirche nicht mehr als Kirche vor. »Kirche bittet um Vergebung« »Kirche steigt aus der Schwangerenberatung aus« heißt es, aber nicht »Kirche wählt ihre dritte Bischöfin«. Dass es neben der Deutschen Bischofskonferenz noch eine lutherische Bischofskonferenz gibt, wer weiß das schon. Dass bei »Einheitsübersetzung« an eine Einheitlichkeit für die deutschsprachigen römischen Katholiken gedacht ist und keinesfalls an evangelischrömisch-katholische Einheit, ist kaum zu vermitteln. Konfessionelle Identität darf aber nicht zur Identifikation von Konfession und Kirche führen. Das war im konfessionellen Zeitalter so und endete im Dreißigjährigen Krieg, das ist überall da der Fall, wo Konfessionalismus an die Stelle konfessioneller Identität tritt. Droht konfessionelle Identität bei einer Überbewertung und Übersteigerung hier in das eine Extrem zu fallen, so bei Unterbewertung und Vernachlässigung allerdings in das Extrem des Indifferentismus. Der Indifferentismus ist zugegebenermaßen historisch bislang nicht so gefährlich gewesen wie Konfessionalismus. Wünschenswert ist er m. E. allerdings auch nicht. Um einem weiteren Missverständnis vorzubeugen: Das Eingeständnis, die Annahme und die Betonung der eigenen Konfessionalität bedeutet keineswegs den Verzicht auf überkonfessionelle (ökumenische) Zusammenarbeit, etwa im Bereich der Schule. Religionsunterricht muss nicht immer »konfessionell« sein. Aber er muss auch konfessionelle Unterschiede zum Lehrinhalt haben. These 3: Ökumenische Höflichkeit und Zurückhaltung hat ihre Grenzen. Natürlich stolpert man hier über das Wort »Grenze«. Daher zunächst einmal: Ökumenische Höflichkeit ist notwendig, wie Höflichkeit auch sonst notwendig ist. Gemeint ist damit nicht allein gegenseitige Rücksichtnahme, sondern auch in einem gewissen Maß die Zurücknahme eigener Bedürfnisse zugunsten des anderen. Ohne eine solche Höflichkeit wäre Ökumene in den letzten fünfzig Jahren schwer gewesen. Immerhin erinnern sich noch manche an das übliche Jauchefahren am Buß- und Bettag bzw. an Fronleichnam. Und dieses war ja immerhin schon »nur noch« Unhöflichkeit und nicht mehr offene Feindschaft wie ein bis zwei Generationen zuvor: Noch um die Jahrhundertwende etwa mussten in der Nähe von Mannheim Katholiken mit Waffengewalt gezwungen werden, beim Löschen eines brennenden »evangelischen« Bauernhauses zu helfen. Die katholische Kirche sah das als eine brutale polizeistaatliche Unterdrückung der katholischen Religion an. Dem Freund sieht man immer mehr nach als dem Gegner. Das ist ein Teil unserer ökumenischen Wirklichkeit geworden. Doch es darf nicht mit zweierlei Maß gemessen werden: Den religiösen Weltgeltungsanspruch des Islam können wir schnell kritisieren. Wenn aber die Welt oder die Jugend oder ein Land der Jungfrau Maria geweiht wird, sehen wir großzügig darüber hinweg.

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Daher: Wer irrt, dem muss die Kirche sagen, dass er irrt. Egal, ob es sich um eine kleine Sekte handelt oder eine große Religion, um eine Minikirche oder um eine Weltkirche. Würden die Zeugen Jehovas behaupten, ihr Oberhaupt sei unfehlbar und der Stellvertreter Christi auf Erden, wir würden es als besonders typisch für eine Sekte ansehen. Daher ist stets die Größe des Irrtums zu bedenken, nicht aber die Menge der Irrenden. Einige Konkretionen: – Im Falle der Ekklesiologie von Dominus Iesus sagt die Evangelische Kirche in Deutschland der römisch-katholischen Kirche in Deutschland: »Du irrst!«. Selten war ein Text so knapp und direkt, ohne Umschweife: »Wer mehr will ›als CA VII‹, der will zuviel. Und wer zuviel will, beschädigt den ökumenischen Prozess, der in unseren Kirchen bereits vielfache Frucht trägt«. – Im Falle der Schwangerenkonfliktberatung hat die EKD zu Recht in der Öffentlichkeit klargestellt, dass sie wie bisher weiterberät. Bei allem darf man aber eine wichtige Maxime Augustins nicht vergessen: »odi errorem, amo errantes« – »ich hasse den Irrtum, ich liebe die Irrenden«. These 4: Die Annäherung der Kirchen in Richtung Ökumene wird nicht durch einen wie immer gearteten »Petrusdienst« vorangebracht. Nicht Globalisierung, sondern Regionalisierung ist gefragt. In einem Leitartikel des Materialdienstes haben Martin Schuck und ich vor zwei Jahren behauptet, dass es einen latenten Febronianismus gibt. Den Katholizismus jenes Trierer Weihbischofs des 18. Jahrhunderts, der dem Papst einen Ehrenprimat zugestehen wollte, ohne rechtliche Kompetenz in Kirchen und Kulturen, von denen er nichts versteht. Der eine katholische Kirche in Deutschland wollte, die ihre Angelegenheiten synodal und autark regelt. Unsere natürlich provokante Behauptung basierte auf der Erfahrung – und bitte, jeder mag sie mit den seinen vergleichen –, dass Katholiken, die es sich leisten können, gerne sagen: »Rom ist weit weg!« Rom ist interessant, wenn es um Masse geht, um Repräsentanz, um mediale Präsenz. Rom ist weit weg, wenn es um theologische Entscheidung geht, um moralische Richtlinien. Es gibt einen Patchwork-Katholizismus, der sich heraussucht, was genehm ist. Das ist aber doch kein ökumenisches Angebot. Alle Erwägungen zu einem Petrusdienst, wie sie auch in dem Diskussionspapier »Communio Sanctorum« vorgebracht werden, scheitern doch an der Realität des römischen Papsttums. Wie soll denn ein Papsttum für evangelische Kirchen akzeptabel sein, das in der römischkatholischen Kirche zwar befürwortet wird, aber eben nicht so, wie es selber sein möchte. Nun gibt es aber wohl eine Faszination des Zentralismus und die auch in nichtkatholischen Kirchenbünden vorkommende Überzeugung, es müsse »einer für alle« sprechen können. Warum eigentlich? Und warum nicht »eine«? Und warum dann ausgerechnet der Bischof von Rom? Das Diskussionspapier »Communio Sanctorum« konstatiert: »Die Bindung eines ... universalen Petrusdienstes an den Bischof von Rom legt sich für die abendländische Christenheit trotz aller Belastungen aus historischen Gründen nahe« (Communio Sanctorum 191). Warum heißt es nicht im Gegenteil, dass gerade wegen der Geschichte die Bindung dieses Dienstes an Rom auf keinen Fall erfolgen darf?

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Natürlich darf man die Frage nach dem Papstamt im ökumenischen Dialog nicht ausklammern. Im Gegenteil. Aber die evangelische Position sollte hier sein: Das Papstamt ist ein Strukturelement von Kirche, das unsere Kirche vor 470 Jahren als nicht sinnvoll aufgegeben hat. Sie ist damit – wie zahlreiche andere Kirchen auch – gut gefahren und sieht keinen Grund, es wieder aufzunehmen. Das Papstamt ist ein internes römischkatholisches Thema. Im Unterschied hierzu ist dem ökumenischen Modell Vorzug zu geben, was auf eine Gemeinschaft (communio) von Kirchen zuläuft, die wie in der alten Kirche auf der Basis von Eigenständigkeit auch einen inneren Austausch pflegen. Innerer Austausch bedeutet: theologischer Diskurs, auch Mahnung und Warnung, aber eben keine jurisdiktionelle Über- oder Unterordnung. Die EKD etwa wäre ein Beispiel für eine solche Communio oder die Leuenberger Kirchengemeinschaft. These 5: Die Mitte kirchlicher Gemeinschaft ist der gemeinsame Gottesdienst, d. h. die gemeinsame Wortverkündigung, die gemeinsame Taufe, die gemeinsame Abendmahlsfeier. Im Rückblick auf Augsburg und im Vorblick auf den gemeinsamen Kirchentag 2003 in Berlin ist auf das Thema »gemeinsames Abendmahl« einzugehen. Es hat in und nach der Unterzeichnung der GER in auffälliger Weise Äußerungen katholischer Bischöfe gegeben, die nur eines vermeiden wollten: dass nun das Abendmahl auf die Tagesordnung komme. Es ist gut, dass evangelischerseits bis heute nicht nachgelassen wurde. Es wird 2003 nicht zu einer »offiziellen« gemeinsamen Abendmahlsfeier kommen. Aber es gibt natürlich trotzdem Abendmahlsgemeinschaft, nämlich in den evangelischen Gottesdiensten, in denen entsprechend der eigenen Überzeugung auch Glieder anderer Kirchen eingeladen werden können. Für die katholische Deutsche Bischofskonferenz ist der evangelische Druck ein großes Problem. Es wäre hier im obigen Sinn auch ökumenische Zurückhaltung nicht angemessen. Denn der Druck kommt ja auch massiv aus den katholischen Gemeinden. Und die Begründung der Verweigerung wird immer schwerer, will man nicht dann doch wieder den so ökumenisch undiplomatischen »defectus ordinis« ins Feld führen. Nur ein Beispiel: In einem Vortrag vor der Bischofskonferenz im Februar 1999 meinte die Mainzer Kanonistin Riedel-Spangenberger: »Ein gängiger Topos in der ökumenischen Diskussion ist die apodiktische Feststellung, dass Jesus Christus selbst der Herr des eucharistischen Mahles sei, der die Getauften dazu einlädt ... Hier handelt es sich ... um eine massive Einlassung evangelischerseits, die grundsätzlich der Kirche das Recht abspricht, an diesem Geschehen konstitutiv beteiligt zu sein und in diesen Fragen irgendwelche Rechtsnormen zu erlassen«. Eben nicht, natürlich hat auch unsere Kirche Rechtsnormen für die Durchführung und Zulassung zum Abendmahl. Aber sie bindet etwa die Zulassung an den gemeinsamen Glauben (das Credo) und nicht an weitere einschränkende konfessionelle Zusatzlehren, sie versucht so, dem Willen Christi möglichst nahe zu kommen und ihn nicht sekundären Rechtsnormen unterzuordnen. Das gemeinsame Abendmahl sollte zur Selbstverständlichkeit werden. Wir könnten dazu beitragen, indem wir unsere eucharistische Gastfreundschaft publik machen wie unsere Gottesdienste. Ein gelungenes Beispiel fand ich im Eingang der Kathedrale von Uppsala:

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»Sonntag 10 Uhr: Heilige Messe mit Feier der Heiligen Eucharistie. Es zelebriert der Erzbischof von Uppsala. Dies ist eine lutherische Kirche. Jeder getaufte Christ ist zur Teilnahme an der Heiligen Eucharistie eingeladen.« These 6: Es gibt verschiedene ökumenische »Methoden«, die zum ökumenischen Handwerkszeug gehören und genutzt werden sollten. Die Beziehungen zwischen den Kirchen können sich verschiedener Methoden bedienen. Sie sind nicht einfach richtig oder falsch, sondern sie haben wie alles »ihre Zeit«. Im ökumenischen Dialog der Kommissionen war der sogenannte »differenzierte Konsens« lange Zeit die vorherrschende Methode. Heute zeigen sich seine Grenzen. Was in der Rechtfertigungslehre schon schwierig war, wird in der Amtsfrage noch schwerer, in der Papstfrage unmöglich. Denn die Aussagen zur Unfehlbarkeit und zum Jurisdiktionsprimat widersprechen den lutherischen Bekenntnisschriften direkt und umgekehrt. Das heißt nicht, dass auf anderen Gebieten ein differenzierter Konsens möglich wäre. In der Frage nach der Gegenwart Christi im Abendmahl sind sich Katholiken, Lutheraner und Reformierte bereits entsprechend nahegekommen. Auch den Kompromiss sollte man nicht unterschätzen. Er dient einer Ökumene in kleinen Schritten. Die ökumenische »Groupe des Dombes« in Frankreich hat etwa auch zum Thema Abendmahl einen interessanten Vorschlag, was die schwierige Frage nach der Verwendung der Abendmahlselemente nach der Feier angeht: Die Reformierten schmeißen das Brot nicht mehr weg, die Katholiken schließen es nicht mehr in ein Tabernakel und tragen es nicht mehr herum. Sie merken bei diesem Beispiel allerdings die Grenzen des Kompromisses. Das »Heilige Jahr« mit seinen Konkretionen hat gezeigt, dass auch die Verweigerung oder Abstinenz ein ökumenisches Mittel sein kann. Der reformierte Weltbund hat wegen des Ablasses gemeinsame Veranstaltungen (wie etwa den Gottesdienst in San Paolo) abgesagt. Das Ergebnis dieser Absage ist ein Symposium über die Ablassfrage, an dem Reformierter und Lutherischer Weltbund und Vatikan teilnehmen werden. Die Queen hatte sich während ihres Rombesuches wegen »Dominus Iesus« geweigert, öffentlich mit dem Papst zu beten. Solche ökumenische Zurückhaltung gerade von Repräsentanten evangelischer Kirchen ist schwer, aber vielleicht doch öfter ins Kalkül zu ziehen. Weniger ist manchmal mehr. Und protestantisch sein heißt auch, manche Dinge nicht zu tun. Ein besonders heikler Punkt ist die Frage: Wer ist denn mein ökumenischer Partner? Evangelische Kirche sollte hierbei mehr die Gemeinde im Blick haben. Was den Kontakt zu evangelischen Freikirchen angeht, ist das selbstverständlich. Im Blick auf die römischkatholische Kirche gibt es viele Ansprechpartner. Die Bischöfe scheinen hierbei nicht immer die richtigen zu sein. Vielleicht sollten wir mehr zeigen, dass wir auch in der Lage sind, andere Größen als »den« ökumenischen Partner zu sehen, etwa das Zentralkomitee der deutschen Katholiken und andere Vertreter der katholischen Kirche, die weniger von oben diktierte Distanz und Zurückhaltung üben zu müssen glauben. Wenn der Staat mit der Unterstützung von »Donum vitae« zeigt, wo er seinen katholischen Partner sieht, so scheint mir das ein richtiges Zeichen zu sein.

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Schließlich ist ökumenisch-konfessionskundliches Wissen Grundlage aller ökumenischen Praxis. Es kommt in der Ausbildung der Theologinnen und Theologen zu kurz. Die Kirchen sollten ihre Examensanforderungen überdenken und die Universitäten daraufhin ihr Lehrangebot. Das 50-jährige Jubiläum des Konfessionskundlichen Instituts in Bensheim stand unter dem Motto »Den Nächsten kennen wie sich selbst«. Ich halte das immer noch für eine schöne ökumenische Maxime. Ausblick War dies alles nicht ein wenig zu triumphalistisch oder doch gar konfessionalistisch gewesen? Ist es nicht »Dominus Iesus« auf evangelisch, wenn wir uns selbst eine ökumenische und damit ekklesiologische Wesensart zuschreiben, die wir etwa der römisch-katholischen Schwesterkirche absprechen? Nein, wenn wir die ökumenische und ekklesiologische Offenheit dieser ökumenischen und ekklesiologischen Selbsteinschätzung nicht aus dem Blick verlieren: Denn unser Selbstverständnis als Kirche lebt nicht davon, andere als Nichtkirchen bezeichnen zu müssen. Unser Selbstverständnis von Kirche, unsere Ekklesiologie, ist auch nicht davon gekennzeichnet, dass wir etwa gegenüber anderen Kirchen einmal von Kirche reden und dann wieder nicht. Ekklesiologie muss im Interesse der Ökumene eindeutig sein. In der Reformationszeit hat man versucht, dem theologischen Problem Rechnung zu tragen, dass es mehrere »Kirchentümer« gab, doch nur eine Kirche des Credos. Die Unterscheidung zwischen sichtbarer und unsichtbarer Kirche war damals Gegenstand der Kritik und des Spottes: »Die Kirche ist so sichtbar wie die Republik Venedig«, meinte Kardinal Bellarmin, um seine von den anderen Kirchen zu unterscheiden. Damals gab es allerdings noch ein ekklesiologisches »Alles oder Nichts« bei Lutheranern und Reformierten. Heute hat die Differenzierung doch wohl einiges an theologischer Plausibilität gewonnen. Das Bewusstsein, dass es außerhalb der Grenzen unserer eigenen Kirche noch andere Kirchen gibt, ist ja in einem damals kaum vorstellbaren Maß gewachsen. Der Bauer in Kursachsen durfte, ja musste über Katholiken und Calvinisten genauso denken wie Katholiken über ihn als Ketzer (im Niederdeutschen gibt es noch immer die Worte »katholisch« und »kalvinisch« für Leute, die nicht dicht sind). Heute sind wir in der Lage, mit dieser differenzierten Ekklesiologie Ökumene zu gestalten. In unserer eigenen kirchlichen Wirklichkeit können wir die reine Predigt des Evangeliums und den rechten Umgang mit den Sakramenten hören und sehen, hinter unserer eigenen kirchlichen Wirklichkeit können wir noch eine Kirche Christi glauben, die von allen Vorläufigkeiten und Defiziten befreit ist. Wir können übrigens auch an Bellarmin die Frage stellen, wie sichtbar heute die Republik Venedig ist.

V.4 Landessynode 2004

V.4.1 Auszug aus dem Bericht über die für die Kirche bedeutsamen Ereignisse∗ Präses Nikolaus Schneider II.4 Evangelisch-katholische Ökumene Ein Rückblick in die Zeit vor 50 Jahren verdeutlicht, welche enorme Entwicklung das Verhältnis zwischen römisch-katholischen Diözesen und evangelischen Landeskirchen im Sinne eines besseren Verständnisses und Miteinanders und gemeinsamen Redens und Handelns genommen hat. Die gemeinsame Verantwortung für die »Woche für das Leben« ist neben vielen anderen Projekten in Kirchengemeinden, Kirchenkreisen und der Landeskirche ein schönes Beispiel ökumenischer Verbundenheit. Auf diesem Hintergrund ist die Wahrnehmung des Erfreulichen, aber auch des Irritierenden einzuordnen. II.4.1 Ökumenischer Kirchentag in Berlin Ein besonders bewegendes Ereignis war für viele Menschen in unserem Land der Ökumenische Kirchentag in Berlin. Die Zahlen sprechen für sich: fast 200.000 Dauerteilnehmende, 40.000 Mitwirkende, 5.400 Gäste aus 90 Ländern, 2.300 Veranstaltungen, 140.000 Menschen beim zentralen Eröffnungsgottesdienst, 400.000 beim Abend der Begegnung und 200.000 beim Schlussgottesdienst. 2/3 der Teilnehmenden waren Protestanten, 1/3 Katholiken. Die Konzentration und Begeisterung, mit denen gesungen, gebetet und theologische Debatten verfolgt wurden, waren beeindruckend. Dieser Ökumenische Kirchentag war ein Erfolg. Darüber hinaus war die Beobachtung zu machen, wie stark gerade auch die römischkatholischen Teilnehmerinnen und Teilnehmer nach dem gemeinsamen Abendmahl fragen. Bei den vielen Diskussionsforen war es für römisch-katholische Podiumsvertreterinnen und -vertreter nicht leicht, mit den Lehrvorgaben des Vatikan diese Wünsche abzuwehren. Selbst ökumenische Institute hatten im Vorfeld des Kirchentages erklärt, eine gastweise gegenseitige Einladung zum Abendmahl sei theologisch möglich. Irritierend sind deshalb Disziplinarmaßnahmen gegen Menschen, die öffentlich vollzogen werden, was an vielen Orten und in vielen Gemeinden in Deutschland sonntäglich ge∗

Protokoll der Landessynode 2004, S. 54–57.

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schieht und dem Bedürfnis vieler Christinnen und Christen beider großen Konfessionen entspricht. Im Bereich unserer Landeskirche ist der emeritierte Theologieprofessor Hasenhüttl von Maßregelungen betroffen. Auch wenn wir die Einzelheiten der innerkatholischen Auseinandersetzungen nicht zu bewerten haben, ist es für unsere Kirche eine schwierige Erfahrung, dass gerade der Vollzug kirchlicher Gemeinschaft zur Bestrafung führt und mancher ökumenische Standard im Miteinander der Gemeinden jenseits des offiziell erlaubten von römisch-katholischer Seite verboten wird. Allerdings berichte ich auch gerne, dass der Trierer Bischof Dr. Reinhard Marx mich in fairer und brüderlicher Weise vor dem öffentlichen Bekanntwerden über sein Vorgehen informierte und gleichzeitig betonte, dass dies von ihm nicht als ein Akt gegen die Ökumene verstanden wird. Von, wenn auch prominenten, so doch einigen wenigen römisch-katholischen Stimmen wurde massive Kritik am Ökumenischen Kirchentag geübt. Ich verstehe dies als Ausdruck des Bedürfnisses nach Abgrenzung zur Festigung der eigenen Kirche. Diese Haltung erleichtert das ökumenische Miteinander nicht. Die Verantwortlichen des Evangelischen Kirchentages und des Katholikentages werden nun festlegen müssen, ob und wann es einen nächsten ökumenischen Kirchentag geben wird. Ich begrüße die Fortführung ökumenischer Kirchentage, mache aber darauf aufmerksam, dass nur eine begrenzte Zahl kirchlicher Großereignisse in unserem Raum zu verkraften ist: 2005 römisch-katholisches Weltjugendtreffen mit dem Papst in Köln (und Evangelischer Kirchentag in Hannover), 2006 Katholikentag in Saarbrücken, 2007 Evangelischer Kirchentag in Köln. Die Planungen für einen weiteren ökumenischen Kirchentag müssen diese Konstellation berücksichtigen. Wir als rheinische Kirche freuen uns jedenfalls darüber, dass wir für den 31. Deutschen Evangelischen Kirchentag nach Köln im Jahre 2007 einladen dürfen. Wir sind aber auch für ein Gespräch darüber offen, schon im Jahre 2007 den nächsten ökumenischen Kirchentag zu veranstalten. II.4.2

Comunità di Sant'Egidio

In diesem Jahr wurde ich zum ersten Mal auf die Comunità di Sant'Egidio aufmerksam. Hinter diesem Namen verbirgt sich eine Gemeinschaft innerhalb der römischkatholischen Kirche mit Sitz in Rom, zu der weltweit ca. 40.000 Menschen gehören. Die Mitgliedschaft evangelischer Christinnen und Christen ist möglich. Die Mitglieder der Gemeinschaft treffen sich zu täglicher Bibellese und -auslegung. Sie wissen sich dem Frieden, der Freundschaft mit den Armen und der Pflege des Märtyrergedenkens verpflichtet. Der Gemeinschaft ist es gelungen, den Frieden in Mosambique durch Verhandlungen zwischen den Konfliktparteien in Rom zu vermitteln. Ein besonderes Erlebnis ökumenischer Geschwisterlichkeit wurde mir durch diese Gemeinschaft vermittelt. Am 1. Februar 2003 fand in der Basilika St. Bartholomäus auf einer Tiberinsel in Rom eine eindrucksvoll gestaltete ökumenische Gedächtnisfeier zum Gedenken an den im KZ Buchenwald ermordeten Pfarrer Paul Schneider statt. Neben mir und meiner Frau waren Teilnehmer Kardinal Walter Kaspar, Dr. Ishmael Noko, der Generalsekretär des Lutherischen Weltbundes, Familienangehörige Paul Schneiders und zahlreiche ökumenische Vertreter römischer Pfarreien.

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Von der o. g. Gemeinschaft wurde im September dieses Jahres das Weltfriedensgebet in Aachen veranstaltet. Die Gesprächs- und Diskussionsforen waren vom Geist des Friedens und der Versöhnung bestimmt. Gerne bin ich der Einladung zur Teilnahme gefolgt und habe einen Beitrag zum Verständnis der Märtyrerinnen und Märtyrer auf einem der Foren geleistet. Befremdlich war für mich in diesem Rahmen das Votum, welches Metropolit Kyrill als Vorsitzender des Außenamtes der Russisch-Orthodoxen Kirche bei der Eröffnung abgegeben hat. Er sprach am 7. September von zwei Systemen, die sich nach seiner Einschätzung bedrohen: »Das säkularisierte, humanistische System und das traditionelle religiöse System«. Das letztere werde durch die orthodoxe Welt des Ostens sowie durch einen wertgebundenen Islam repräsentiert, während das erstere dem individualistischen, liberalistischen Gesellschaftskonzept Westeuropas und Nordamerikas entspräche. Nach Metropolit Kyrills’ Votum hebe gerade dieses System den »Vorrang des irdischen Lebens über das ewige, den Vorrang der persönlichen Freiheiten und Rechte über die moralischen Anforderungen des Glaubens und der Werte einer religiösen Lebensart« hervor. Diese Entwicklung sei eine unmittelbare Folge protestantischen Gedankenguts. Nach seiner Einschätzung sei »der Protestantismus als solcher aus einem Versuch entstanden …, eine liberale Interpretation der christlichen Botschaft zu geben«. Diese Einschätzung ist historisch falsch. Denn das Verdienst von Martin Luther, Johannes Calvin und ihren Mitstreitern lag doch vor allem darin, dass einer erstarrten und in politischen Interessen verfilzten und verweltlichten Großkirche der Weg in die Wahrheit und Freiheit des Evangeliums gewiesen wurde. Diese Wahrheit und Freiheit sind keine dogmatischen Formeln, sondern werden in jeweiligen, sozialen, historischen und politischen Kontexten spirituell erlebt und gelebt. Dagegen halte ich, dass die evangelischen Kirchen ein Profil haben, welches die Entwicklung in Europa durch die Verbindung von Reformation und Aufklärung, Freiheit des Denkens und Forschens und persönlicher Verantwortung des Einzelnen entscheidend geprägt und zur Entwicklung einer humanen Gesellschaft beigetragen hat. II.5 Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen Die Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen bietet eine zuverlässige Basis gemeinsamer Arbeit. Sie war im Jahre 2003 der zentrale Veranstalter des Jahres der Bibel. 15.000 Kirchengemeinden haben diese Aktion mit Leben erfüllt durch z. B. Bibelwochen, Bibelkurse, Ausstellungen, Gottesdienste und andere kreative Aktionen. An der Eröffnung der Bibelbox in Köln war ich beteiligt. Ca. 150.000 Veranstaltungen hatten zur Konsequenz, dass nach einer Emnid-Umfrage für 39 % der Bundesbürger das Jahr der Bibel ein Begriff war. Unter der Überschrift »Bibel im kulturellen Gedächtnis« war die Bibel auch Schwerpunktthema der Trierer Tagung der EKD-Synode 2003. Die lesenswerten Vorträge und Reden nebst Synodalkundgebung sind Ihnen ausgehändigt worden. Ich freue mich über den Erfolg des »Jahres der Bibel« und hoffe, dass die Bibel nicht nur zum kulturellen Gedächtnis unserer Gesellschaft gehört, sondern auch das aktuelle Denken gründet und bereichert. Die nordrhein-westfälische ACK hat mich zweimal zu Begegnungen eingeladen. Der Austausch mit Geschwistern aus den Freikirchen, der alt-katholischen Kirche, der römisch-katholischen Kirche und der orthodoxen Kirche unterstrich die Notwendigkeit, um der Überzeugungskraft des Glaubenszeugnisses willen und nach der Aufforderung

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Jesu (Joh 17,21: damit sie alle eins seien) sich unablässig um weitere Gemeinsamkeit zu bemühen. Diese Begegnungen verdeutlichten auch, dass Ablehnungen und Kontroversen der Vergangenheit dem vertrauensvollen Gespräch und wechselseitigen Respekt gewichen sind. Unter diesen Voraussetzungen kann auch die Frage angesprochen werden, dass nach unserem Verständnis der vollen Beteiligung von Frauen an allen geistlichen Diensten und Ämtern biblische Gründe nicht im Wege stehen. Abschließend sei darauf hingewiesen, dass uns mit der methodistischen Kirche in Deutschland Abendmahlsgemeinschaft verbindet und mit der alt-katholischen Kirche eine Vereinbarung über »Eucharistische Gastfreundschaft«. Ich habe den Eindruck, dass dieses Faktum im Leben unserer Gemeinden kaum bewusst ist und wenig Konkretionen findet. Die Qualität ökumenischer Gemeinschaft muss aber im Leben der Christinnen und Christen in den Gemeinden erfahren werden, so dass die Pflege dieser Gemeinschaft neuer Aufmerksamkeit bedarf.

V.4.2 Ordination, Dienste und Ämter nach evangelischem Verständnis Beschluss 10 I. Die Ausarbeitung »Ordination und Amt nach evangelischem Verständnis« des Ständigen Theologischen Ausschusses wird zustimmend zur Kenntnis genommen. II. Die Kirchenleitung wird beauftragt, das in der Ausarbeitung »Ordination, Dienst und Ämter nach evangelischem Verständnis« dargelegte Amtsverständnis – in der Pfarrbilddiskussion, – bei der Ausbildung von Pfarrerinnen und Pfarrern, – bei dienstrechtlichen Beurteilungen, – in der ökumenischen Diskussion zur Geltung zu bringen. Die Kirchenleitung wird beauftragt die Ausarbeitung in geeigneter Weise zu veröffentlichen. III. Die Kirchenleitung wird beauftragt gesetzgeberische Maßnahmen zu prüfen und ggf. anzuregen. Insbesondere bei: – Pfarrdienstgesetz, – Diakonengesetz und Diakonenverordnung, – Ordinationsgesetz, – Überarbeitung der Ordinationsagende, – Predigthelferinnen und -helfergesetz und -verordnung, – Abschaffung der Beauftragung gemäß Art. 91,2 KO (neu Art. 63 Abs. 2), – Eröffnung eines Zugangs zur Ordination für hauptamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, – Änderung der Begrifflichkeit des Grundartikels Abschnitt III Abs. 2 (»Zum Dienst der öffentlichen Wortverkündigung und der Sakramentsverwaltung in einer Gemein-

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de kann nur berufen werden, wer den Bekenntnisstand der Gemeinde anerkennt. Auch bei gelegentlichem Dienst ist der Bekenntnisstand zu achten.«), – Änderung des Art. 70 KO (neu Art. 51 Abs. 1), um die Freiheit des ordinierten Dienstes gegenüber »Gesamtkonzeptionen gemeindlicher Aufgaben« zum Ausdruck zu bringen, – Ergänzung des Art. 24 Abs. 3 KO (neu Art. 74 Abs. 3) mit dem Ziel, die Verantwortlichkeit des ordinierten Dienstes für den Fall der Leitung eines Abendmahlsgottesdienstes durch Nicht-Ordinierte zum Ausdruck zu bringen. »Ordination und Amt nach evangelischem Verständnis« 1 Einleitung: Aufträge und thematische Kontexte 1.1 Aufträge Die vorliegende Ausarbeitung wurde aufgrund folgender Aufträge vom Ständigen Theologischen Ausschuss erarbeitet (in chronologischer Reihenfolge): 1) Gemäß Beschluss Nr. 46 der Kirchenleitung vom 2./3.12.1999 wurde der Ständige Theologische Ausschuss beauftragt, … das Zwischenergebnis des federführenden Innerkirchlichen Ausschusses betreffend die Ordinationsfrage (= ZOP, siehe unten) bei der Beratung über die Ordinationsfrage mit einzubeziehen. 2) Beschluss der Landessynode Nr. 16, Punkt 3, vom 12. Januar 2000: Die Kirchenleitung wird beauftragt, eine theologische Stellungnahme zur Frage der Ämter, insbesondere der apostolischen Tradition und Sukzession sowie des Bischofsamtes, zu erarbeiten. Der Landessynode 2001 ist darüber zu berichten. 3) Beschluss der Kirchenleitung Nr. 52 vom 1.12.2000: Der Ständige Theologische Ausschuss wird beauftragt, eine theologische Stellungnahme zur Frage der Ämter, insbesondere der apostolischen Tradition und Sukzession sowie des Bischofsamtes zu erarbeiten. Mit der Vorarbeit zur Erledigung dieses Auftrages wird der Ausschuss für Innereuropäische Ökumene und Catholica beauftragt. 4) Beschluss der Landessynode Nr. 39 vom 11. Januar 2001 Punkt 5: ... Der Ständige Theologische Ausschuss wird beauftragt, am reformatorischen Verständnis der Ämter im Sinne dieses Antrages (d. h. des Antrages der Kreissynode Koblenz vom 6.11.1999 bezüglich »Ausführungen zum Berufsbild der Gemeindepfarrerinnen und Gemeindepfarrer«) weiter zu arbeiten. ... 5) Antrag der Kreissynode Leverkusen vom 9.6.2001: »Die Landessynode wird gebeten, – dass das Ordinationsprinzip pro loco überprüft werden soll …« Von der Landessynode überwiesen an den Ständigen Theologischen Ausschuss – federführend –, den Ständigen Kirchenordnungsausschuss und den Ständigen Innerkirchlichen Ausschuss.

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1.2 Thematische Kontexte Die Ausführungen der vorliegenden Ausarbeitung sind im Kontext verschiedener Diskussionsprozesse zu verstehen, in denen besonders folgende Themen von Interesse sind: – der Zeitpunkt der Ordination – die inhaltliche Bestimmung der Ordination – das Verhältnis von Ordination und Einführung (Installation, Investitur) – das Pfarrbild im Zusammenhang des Gemeindekonzeptionsprozesses in der EKiR – das Verhältnis von Ordination und Beauftragung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern – das Verhältnis von Ordination und Vokation von Religionslehrerinnen und Religionslehrern – das Verhältnis von Ordination und Einführung (Einsegnung) in den Diakonat – das »geteilte Amt« in der EKiR – die Funktion des Bischofsamtes und die Bedeutung der apostolischen Tradition und Sukzession – die verwirrende Begrifflichkeit in der Diskussion um Ordination, Ämter und Dienste – die Revision der Kirchenordnung der EKiR. 1.3 Bereits vorliegende Ausarbeitungen Innerhalb der Diskussionsprozesse zu den genannten thematischen Kontexten sind in den letzten Jahren im Bereich der EKiR bereits Papiere und Ausarbeitungen entstanden, an die die vorliegende Ausarbeitung anknüpft. Dies sind im Einzelnen (in chronologischer Reihenfolge): – Ausführungen zum Berufsbild der Gemeindepfarrerinnen und Gemeindepfarrer, Ergebnisse der Beratungen der Landessynode der EKiR, Januar 1999 (Pfarrbild) – Stellungnahme des von der Kirchenleitung eingesetzten Arbeitskreises Ordination vom 6.9.1999: Zur Zukunft der Ordinationspraxis (ZOP) – Visionen erden, Anregungen und Materialien zur Erarbeitung von Gesamtkonzeptionen gemeindlicher Aufgaben, hg. von der Kirchenleitung der EKiR, Düsseldorf 2001 – Apostolische Tradition und Ordination. Zur Frage der Ämter in der Evangelischen Kirche. Ein Beitrag des Ausschusses für Innereuropäische Ökumene und Catholica vom 22. November 2001. Aus dem Bereich der EKD sind folgende Texte von Interesse: – Der evangelische Diakonat als geordnetes Amt der Kirche. Ein Beitrag der Kammer für Theologie der EKD (1996) – Pfarrerinnen und Pfarrer in der Gemeinde. Leitbild mit Erläuterungen und Konsequenzen, Verband der Vereine evangelischer Pfarrerinnen und Pfarrer in Deutschland e.V., o. J. – Projektausschuss »Diakonat« des Diakonischen Werkes der EKD: Entwurf der Richtlinie für die Einführung des Evangelischen Diakonats als geordnetem Amt der Kirche, Stand 24. Oktober 2001 (Richtlinie Diakonat). 1.4 Aufträge und Kontexte: Zusammenfassende Schlussfolgerungen Ungewöhnlich viele Fragestellungen zum Thema »Ordination, Ämter und Dienste« werden gegenwärtig diskutiert. Einige Teilantworten liegen bereits vor. Dieser Umstand

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macht deutlich, wie dringlich es ist, die theologischen Grundfragen zu klären, von denen aus das komplexe Themenfeld bearbeitet werden kann. Der Ständige Theologische Ausschuss hat in der Klärung dieser Grundfragen seine Aufgabe gesehen, getragen von der Überzeugung, dass gerade in einer als Umbruchzeit wahrgenommenen Situation die theologische Besinnung notwendig ist. Einige Grundentscheidungen wurden dabei von den bereits vorliegenden Papieren und Ausarbeitungen übernommen: a) Von der Stellungnahme ZOP werden vier Erkenntnisse aufgenommen: – die Unterscheidung von Ordination und Beauftragung (vgl. ZOP 13.) – die Betonung der Tatsache, dass es nur eine Form der Ordination geben kann, und dass somit eine Ordination pro loco et tempore abzulehnen ist (vgl. ZOP 1.3.3; 13.6; 14.5), unbeschadet der Frage, ob und wie es eine räumlich und zeitlich begrenzte Beauftragung zur Leitung von Gottesdiensten (auch mit Abendmahlsfeiern) geben soll (vgl. ZOP 13.6) – die Unterscheidung von Ordination und Installation (bzw. Investitur) (vgl. ZOP 8.) – die Unterscheidung von Visitation und Dienstaufsicht (vgl. ZOP 2.3.5; 9; 15.4.2). b) Mit der Stellungnahme des Ausschusses für Innereuropäische Ökumene und Catholica wird betont, dass die Fragen nach Amt und Ordination heute nur im ökumenischen Dialog beantwortet werden können, gerade dann, wenn Wert auf ein eigenständiges Profil gelegt wird. c) Das Anliegen der Richtlinie Diakonat, ein eigenständiges theologisches Profil des Diakonates zu gewinnen, soll aufgenommen werden. d) Die Papiere zur Pfarrbilddiskussion werden als ein wichtiger Beitrag zur Klärung des komplexen Berufsfeldes begrüßt. Allerdings wird die Notwendigkeit gesehen, die entstehenden »Pfarrbilder« stärker mit der theologischen Frage nach einem angemessenen Amtsverständnis zu verbinden und von dort aus kritisch zu reflektieren sowie die Fragestellungen des »Pfarrbildes« stärker im Kontext der anderen Dienste und Ämter der Gemeinde zu verorten. e) Mit Visionen erden wird die Überzeugung geteilt, dass Gesamtkonzeptionen gemeindlicher Aufgaben dazu beitragen können, die Aufgaben von Pfarrerinnen und Pfarrern deutlicher im Kontext des gesamten Gefüges der haupt- und ehrenamtlich Mitarbeitenden zu sehen. Allerdings muss das spezifische theologische Profil des ordinierten Dienstes als Teil der Gemeinde und gleichzeitig als kritisches Gegenüber zur Gemeinde deutlicher herausgearbeitet werden. 2. Der Fragehorizont Im Folgenden soll der skizzierte Fragehorizont näher beschrieben werden. Dabei lassen sich die Fragestellungen in drei Ebenen einordnen: der rheinische Kontext, der ökumenische Kontext und die Ebene rechtlicher Ordnungen. 2.1 Fragestellungen im Kontext der EKiR 2.1.1 Die Frage nach dem Amtsverständnis im Horizont der Pfarrbilddiskussion Die Landessynode 1999 der EKiR hat ein »Pfarrbild« beschlossen, das bei einem sich wandelnden Selbst- und Fremdverständnis von Pfarrerinnen und Pfarrern Orientierung bieten möchte. Eignungsvoraussetzungen und Qualifikationen werden aufgelistet. Dabei

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fehlt allerdings noch jegliche theologische Reflexion des Amtsverständnisses. Demgegenüber versucht das »Leitbild für Pfarrerinnen und Pfarrer in der Gemeinde« des Verbandes der Vereine evangelischer Pfarrerinnen und Pfarrer in Deutschland, die Thematik des Amtsverständnisses mit in die Leitbildentwicklung einzubeziehen: »Ein Konsens über das Amtsverständnis und die Lebens- und Arbeitsbedingungen von Pfarrerinnen und Pfarrern wird angestrebt.« Die vorliegende Ausarbeitung geht davon aus, dass nur ein theologisches Profil eine persönliche Entwicklung und Schwerpunktbildung innerhalb der Vielfalt möglicher pfarramtlicher Funktionen ermöglicht. Leitfrage 1: Wie können in einer sich wandelnden Situation Leitlinien zur Gewinnung eines theologischen Profils des »Pfarrbildes« formuliert werden? 2.1.2 Der pfarramtliche Dienst im Kontext des Gefüges der Mitarbeitenden Wer nach dem Amtsverständnis fragt, muss das Verhältnis zwischen dem ordinierten Dienst und dem Priestertum aller bedenken. Darüber hinaus muss das Verhältnis der unterschiedlichen haupt-, neben- und ehrenamtlichen ordinierten und nicht-ordinierten Dienste der Kirche inklusive des Dienstes der Funktionspfarrerinnen und Funktionspfarrer (Schul-, Krankenhaus-, Gefängnis-, Militär- oder Citykirchenpfarrerinnen und -pfarrer, der Dienst Ordinierter in besonderen Funktionen ...) reflektiert werden. In der EKiR gewinnt diese Thematik durch den landeskirchenweit in Gang gesetzten Konzeptionsprozess, der die Gemeinden verpflichtet, »Gesamtkonzeptionen gemeindlicher Aufgaben« zu erstellen, eine aktuelle Zuspitzung. Das Amts- und Berufsverständnis der Pfarrerinnen und Pfarrer wird sich in Zukunft deutlicher als bisher mit den von den Gemeinden entwickelten Anforderungsprofilen für Pfarrerinnen und Pfarrer auseinander zu setzen haben. Dabei entstehen spannende, zum Teil neue Fragestellungen. Leitfrage 2: Wie kann das Spezifische des ordinierten Dienstes bestimmt werden, ohne die Gleichwertigkeit der Ämter im Gefüge aller Mitarbeitenden zu beeinträchtigen? 2.1.3 Diakonat Wenn das Gefüge der Mitarbeitenden bedacht wird, so ist ein besonderes Augenmerk auf den Diakonat zu richten. Wie soll sich die EKiR dazu verhalten, dass der Projektausschuss »Diakonat« des Diakonischen Werkes der EKD in seinem »Entwurf der Richtlinie für die Einführung des Evangelischen Diakonats als geordnetem Amt der Kirche« eine deutlichere Profilierung des Diakonates als besondere Gestalt des kirchlichen Zeugnisses fordert? Welcher der angebotenen Begriffe (»Beauftragung«, »Einsegnung«, »Ordination«) soll in Zukunft für die Einführung von Diakoninnen und Diakonen gelten? Leitfrage 3: Wie kann das theologische Profil des Diakonates bestimmt werden? 2.1.4 Religionslehrerinnen und Religionslehrer Weil es neben dem ordinierten Dienst auch die besondere Beauftragung der Religionslehrerinnen und -lehrer gibt, die in der Vokation zum Ausdruck gebracht wird, stellt sich die Frage nach dem Verhältnis zwischen Ordination und Vokation.

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Leitfrage 4: Wie kann das Verhältnis zwischen Ordination und Vokation beschrieben werden? 2.2 Ökumenische Anfragen an das evangelische Amtsverständnis und die evangelische Ordinationspraxis Die noch nicht erreichte Verständigung über die gegenseitige Anerkennung der Ämter ist das derzeit größte Hindernis auf dem Weg zur Kirchengemeinschaft zwischen evangelischen, anglikanischen, katholischen und orthodoxen Kirchen. Eine der Einheit der Kirche Jesu Christi verpflichtete evangelische Besinnung über das Amtsverständnis und die Zukunft der eigenen Ordinationspraxis wird daher einerseits sorgfältig auf die Anfragen anderer Kirchen hören und andererseits darauf bedacht sein, zu Lösungen zu kommen, die auch im Gespräch mit anderen Kirchen aufgrund des evangelischen Glaubens verantwortet werden können. Leitfrage 5: Wie kann das evangelische Amts- und Ordinationsverständnis in Treue zu den reformatorischen Grundlagen ökumenisch gesprächsfähig formuliert werden? 2.2.1 Amt und apostolische Tradition Die für die EKiR verbindliche Barmer Theologische Erklärung von 1934 bezieht sich ausdrücklich auf das gemeinsame altkirchliche »Bekenntnis zu dem einen Herrn der einen, heiligen, allgemeinen und apostolischen Kirche« (Präambel). Die Aussagen von Barmen über Kirche und Ämter, besonders in These III und IV, wollen daher im Licht der altkirchlichen Bekenntnisse verstanden werden. Im Blick auf die Apostolizität, die das Ökumenische Glaubensbekenntnis von 381 als viertes Kennzeichen der Kirche benennt, stellt sich die Frage, wie das reformatorische Amt der Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung deutlicher an die inhaltlichen Dimensionen der apostolischen Tradition zurückgebunden werden kann: «Bezeugung des apostolischen Glaubens, Verkündigung und neue Interpretation des Evangeliums ..., Weitergabe der Amtsverantwortung, Gemeinschaft in Gebet, Liebe, Freude und Leiden, Dienst an den Kranken und Bedürftigen, Einheit unter den Ortskirchen ...« (Lima, Amt, Z. 34). Leitfrage 6: In welchem Verhältnis steht das reformatorische Amtsverständnis zur apostolischen Tradition? 2.2.2 Das Amt als Gegenüber zur Gemeinde Das grundlegende reformatorische Augsburger Bekenntnis von 1530 bringt das Predigtamt (ministerium ecclesiasticum) im Zusammenhang des Dritten Glaubensartikels als Instrument des Heiligen Geistes zur Sprache. Es ist von Gott eingesetzt (Art. 5: institutum est), also göttlichen Ursprungs, und daher von der kirchlichen Einrichtung öffentlicher Amtsübertragungen (vgl. Art. 14: rite vocatus) zu unterscheiden, aber nicht zu trennen. Es kann jedoch die Frage gestellt werden – die auch von römisch-katholischer Seite erhoben wird –, ob im praktischen Vollzug das Gegenüber des von Gott eingesetzten Amtes zur Gemeinde deutlich genug zum Ausdruck kommt.

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Leitfrage 7: Wie kommt der ordinierte Dienst als Dienst der Gemeinde und gleichzeitig als Gegenüber zur Gemeinde angemessen zum Ausdruck? 2.2.3 Das Amt als Dienst an der Einheit Nach CA 7 gehört zum Predigtamt die »einmütige« Verkündigung des Evangeliums als Quelle der »wahren Einheit der christlichen Kirche«. Das Predigtamt wird also im Dienst der Einheit der Kirche gesehen. Es ist zu fragen, ob die hier angesprochenen ekklesialen Dimensionen in der Ordinationspraxis ausreichend zur Geltung kommen. Insbesondere ist zu fragen, wie die Reduktion der Ordination auf die gemeindliche Perspektive ergänzt werden kann zugunsten der gesamtkirchlichen Dimension. Und wie kann die gesamtkirchliche Bedeutung in der Gestaltung der Ordinationsfeier sichtbar werden? Leitfrage 8: Wie kann der ordinierte Dienst als Dienst an der Einheit in seiner gesamtkirchlichen Verantwortung zum Ausdruck gebracht werden? 2.2.4 Amt und Abendmahl Im Blick auf die Praxis der Ökumene wird keine Frage häufiger gestellt als die nach einer gemeinsamen Abendmahlsfeier von evangelischen und römisch-katholischen Christinnen und Christen. Bevor es dazu kommen kann, müssen die Kirchen sich öffentlich gegenseitig anerkennen, und die Gemeindeglieder beider Konfessionen müssen in der Abendmahlsfeier der jeweils anderen Kirche das Mahl Jesu Christi wiedererkennen können. Dabei geht es nicht nur um Fragen der Gestaltung (Häufigkeit der Abendmahlsfeier, Gestaltung der Liturgie, Umgang mit den Elementen, Ausrichtung auch auf Angehörige anderer Kirchen), sondern vor allem um grundsätzliche Fragen nach dem Zusammenhang von Amt und Abendmahl. Nach anglikanischem, katholischem und orthodoxem Verständnis ist die Leitung von Sakramentsgottesdiensten durch Nichtordinierte nicht möglich. Und auch nach Art. 14 des Augsburger Bekenntnisses sollen öffentliche Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung durch »ordnungsgemäß Berufen(e)« geschehen. Ist es zu rechtfertigen, wenn auch nichtordinierte Personen Abendmahlsgottesdienste leiten? Leitfrage 9: Welcher innere Zusammenhang besteht zwischen ordiniertem Dienst und Abendmahlsfeier nach evangelischem Verständnis? 2.2.5 Ordination von Frauen Heute ist aus biblisch-theologischen Gründen für viele evangelische, altkatholische und teilweise anglikanische Kirchen der ordinierte Dienst von Frauen unverzichtbar. Allerdings sind angesichts einer jahrhundertelangen Tradition, die nur Männer zur Ordination zuließ, nicht allen Kirchen die theologischen Gründe für die Ordination von Frauen einsichtig.

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Leitfrage 10: Wie kann die Ordination von Frauen theologisch so vertreten werden, dass sie von Kirchen ohne Frauenordination als Anfrage verstanden wird? 2.2.6 Diakonat Der Diakonat hat als dritte Säule des dreigliedrigen einen Amtes von Bischof, Priester und Diakon in der römisch-katholischen Kirche einen geistlichen (Diakonatsweihe) und kirchenrechtlich (CIC Can. 236,266,276 u. a.) gefestigten Platz. Eine entsprechende Bedeutung hat der Diakonat in der anglikanischen, der altkatholischen und in den orthodoxen Kirchen. Bei der Frage nach der Bedeutung des Diakonates ist also neben der innerprotestantisch relevanten Thematik (s. o. 2.1.3) auch und besonders die ökumenische Dimension zu bedenken. Leitfrage 11: Wie kann die geistliche, theologische und kirchenrechtliche Stellung des Diakonates in der EKiR bestimmt werden? 2.2.7 Lehrverantwortung Im Blick auf die Tragweite der Lehre und die Bedeutung der akademischen Lehrer muss ihre kirchliche Verantwortung sowie ihre synodale Einbindung neu bedacht werden. Leitfrage 12: Welchen Ort haben theologische Lehre und theologische Lehrerinnen und Lehrer im Konzert evangelischer Ämter? 2.2.8 Bischofsamt und apostolische Sukzession Nach anglikanischer Auffassung ist ein Amt pastoraler Aufsicht erforderlich für die Einheit und Apostolizität der Kirche (Meissen 1988, Z. 15,9). Im Quadrilateral von 1888 gehört neben Schrift, Bekenntnissen und Sakramenten auch das historische Bischofsamt zum unveräußerlichen Wesen der Kirche. Daher richtet die anglikanische Kirche die Frage an uns, »welches Gewicht wir der apostolischen Tradition und Sukzession sowie dem Bischofsamt (Episkope) beimessen« (Erklärung der LS der EKiR vom 12.1.2000, Z. 17). So ergibt sich z. B. die Frage, welche inhaltlichen Elemente des Bischofsamtes bereits jetzt im evangelischen Amtsverständnis enthalten sind und ob sich weitere Elemente integrieren lassen? In ähnliche Richtung weist die Amtserklärung von Lima mit ihrer Frage an Kirchen ohne Bischofsamt, ob es ihnen nicht möglich ist, »die bischöfliche Sukzession als ein Zeichen, jedoch nicht als eine Garantie der Kontinuität und Einheit der Kirche« wertzuschätzen (Z. 38). In seiner Schrift »Ermutigung zur Ökumene« hat das Zentralkomitee der deutschen Katholiken ähnliche »katholische Anfragen an die evangelische Seite« gerichtet. «Es geht dabei vor allem um Fragen nach dem Verständnis von Kirche und von der Vollmacht des ordinierten Amtes in bischöflicher Sukzession in ihrer inneren Beziehung zur Eucharistie« (Ermutigung zur Ökumene, 6. Auflage, März 2002, S. 20).

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Leitfrage 13: Kann die bischöfliche Sukzession als ein Zeichen der Einheit der Kirche anerkannt werden? 2.3 Rechtliche Fragen 2.3.1 Probleme der Begriffsverwendung in den Rechtsgrundlagen der EKiR In der KO der EKiR wird für die Beschreibung des Dienstes der Ordinierten durchgängig der Begriff »Dienst« verwendet, während in anderen Kirchen für die gleiche Sache der Begriff »Amt« benutzt wird. Demgegenüber bezeichnet der Begriff »Amt« in der KO der EKiR durchgängig eine institutionalisierte Leitungsfunktion (Pfarr-»Amt«, Presbyter»Amt«, »Amts«-Zeit in kirchenleitenden Gremien …). Das Verwirrungspotenzial durch diese unterschiedliche Begrifflichkeit sollte nicht unterschätzt werden. Wenn in der ökumenischen Diskussion von »Amtsverständnis« die Rede ist, dann sind damit (z. B. im Lima-Papier) sowohl die Leitungsfunktion der Institution Kirche, als auch die geistlichen Dienste gemeint. »Amtsverständnis« im Sinne der KO bezieht sich aber streng genommen nur auf den Dienst der Leitung, der ausdifferenziert wird in das Presbyteramt, das Kirchmeisteramt, die Leitungsfunktion der Pfarrerinnen und Pfarrer, die Leitungsfunktionen auf Kirchenkreis- und Landeskirchen-Ebene. Die Beauftragungen zu Verkündigung, Sakramentsverwaltung, Seelsorge, Unterricht und Diakonie werden in der KO mit dem »Dienst«-Begriff zum Ausdruck gebracht. 2.3.2 Ordination und Einführung (Installation/Investitur) Bei der Verhältnisbestimmung von »Ordination« und »Installation« ist zu bedenken, dass in die EKU-Agende zwei reformatorische Traditionen eingeflossen sind: In der einen Linie wird die Ordination eng mit einer Installation zu einem bestimmten Dienst verbunden. Jede neue Installation bedeutet in dieser Tradition ursprünglich auch eine neue Ordination. In der anderen (dominierenden) Traditionslinie wird die Ordination als unwiederholbarer Akt verstanden, der von der Installation zu einzelnen Diensten zu unterscheiden ist. Wenn es theologisch als sachgerecht zu gelten hat, dass die Ordination von der Einführung (Installation / Investitur) zu unterscheiden ist, dann stellt sich die Frage, ob nicht einerseits die Einheitlichkeit des Ordinationsverständnisses bei Pfarrerinnen und Pfarrern, Predigthelferinnen und Predigthelfern und andererseits der Unterschied zwischen Ordination und Amtseinführung deutlicher profiliert werden muss. Zu fragen ist dann auch, welchen Sinn z. B. die Bestimmung des PfDG §4 hat, derzufolge eine Ordination »in der Regel nur vollzogen werden (soll), wenn die Begründung eines Pfarrdienstverhältnisses beabsichtigt ist«? Warum können Theologinnen und Theologen nicht zum ehrenamtlichen Dienst ordiniert werden, wenn sie keine Pfarrstelle übernehmen wollen bzw. können? 2.3.3 Ordinationszeitpunkt Im Zusammenhang der synodalen Klärung des theologischen Ordinationsverständnisses muss die zurzeit geltende Regelung des Ordinationszeitpunktes kritisch überprüft werden. 2.3.4 Dienstaufsicht und Visitation Wenn zwischen Ordination und Einführung in eine Pfarrstelle (Installation) deutlicher zu unterscheiden ist, dann muss auch bei Pfarrerinnen und Pfarrern deutlicher unterschieden werden zwischen den Pfarramtspflichten, die mit der Einführung übertragen werden

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und die der Dienstaufsicht unterstehen, und den Pflichten der Ordination, die nicht in gleicher Weise zu beurteilen sind, sondern einer Visitation (im Sinne einer kollegialen geschwisterlicher Beratung; vgl. ZOP Kapitel 9) bedürfen. Werden diese Dimensionen vermischt, so besteht die Gefahr, dass eine verbindliche Dienstaufsicht durch unsachgemäße Berufung auf die Unabhängigkeit des ordinierten Dienstes verhindert wird oder aber – umgekehrt –, dass die Unabhängigkeit des ordinierten Dienstes in unangemessener Weise mit dienstrechtlichen Mitteln eingeschränkt wird. 2.3.5 Beibehaltung der Ordinationsrechte Warum gibt es bei Beurlaubung einerseits und Ausscheiden aus dem Dienst andererseits unterschiedliche Nachweispflichten zur Beibehaltung der Ordinationsrechte? 2.3.6 Berufung und/oder Bevollmächtigung? In der EKiR werden nicht nur Pfarrerinnen und Pfarrer, sondern auch Predigthelferinnen und Predigthelfer ordiniert, während in den übrigen EKU-Kirchen hierfür der Begriff »Berufung« oder »Bevollmächtigung« verwendet wird. Ungeklärt bleibt, ob in der EKiR mit dem Begriff »Ordination« jeweils auch sachlich dasselbe gemeint ist: Gilt die Ordination der Predigthelferinnen und Predigthelfer ebenso zeitlich, inhaltlich und räumlich unbeschränkt wie die der Pfarrerinnen und Pfarrer, und ist demgegenüber nur die »Beauftragung« von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern als pro loco et tempore abzusetzen? In der Agende der EKU (Teil II. Einführungen und Ordination), 1986, werden die Begriffe »ordinieren«, »ermächtigen«, »berufen« und »bevollmächtigen« ohne erkennbare Differenzierung wechselweise für die Einführung von Pfarrerinnen und Pfarrern gebraucht. Nur in der EKiR wird der Begriff »ordinieren« auch für die Einführung von Predigthelferinnen und Predigthelfern benutzt. Für die Einführung von Presbyterinnen und Presbytern sowie anderen kirchlichen Diensten einschließlich Leitungsdiensten werden in der Agende der EKU lediglich die Begriffe »einführen«, »senden«, »berufen« verwendet. 3. Theologische Grundlagen 3.1 Zur Begrifflichkeit Im Sprachgebrauch innerhalb und außerhalb der Kirche werden die Begriffe »Amt« und »Dienst« in engem Zusammenhang, mitunter auch als Synonyme gebraucht. Sie überschneiden sich in ihrer Bedeutung, werden aber auch immer wieder einander entgegengesetzt. Verschiedene Konnotationen werden deutlich insbesondere dann, wenn der eine Begriff pointiert singularisch, der andere aber demgegenüber eher pluralisch verwandt wird und wenn sich mit dieser Gegenüberstellung die Unterscheidung zwischen einem primär theologischen und einem allgemein soziologischen Begriff verbindet. So kann das eine Amt, dessen Einzigartigkeit in einer besonderen theologischen Qualifikation begründet wird, einer Mehrzahl von Diensten auf der Ebene des sozialen Beziehungsgefüges gegenübergestellt werden. Es kann aber auch umgekehrt der eine Dienst hervorgehoben werden, der sich dann in einer Mehrzahl von Ämtern ausprägt, wobei deren Gestalt und Zahl dem gesellschaftlichen Wandel unterliegt. Den folgenden Ausführungen liegt eine Unterscheidung und Zuordnung zugrunde, wie sie insbesondere auch in der Barmer Theologischen Erklärung, These IV, Ausdruck ge-

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funden hat, nämlich die Unterscheidung von dem »einen Dienst« und den »verschiedenen Ämtern«: »Die verschiedenen Ämter in der Kirche begründen keine Herrschaft der einen über die anderen, sondern die Ausübung des der ganzen Gemeinde anvertrauten und befohlenen Dienstes.« (Barmen IV) Demnach gibt es verschiedene Ämter in der Kirche, wobei nicht nur an die vier Calvinschen Ämter (Hirten, Lehrer, Älteste, Diakone) zu denken ist, sondern an die Vielfalt hauptberuflich, nebenamtlich und ehrenamtlich ausgeübter Tätigkeiten: Kirchenmusikerinnen und Kirchenmusiker, Angestellte in der Kirchenverwaltung, Erzieherinnen und Erzieher, Kindergottesdiensthelferinnen und -helfer, Küsterinnen und Küster, Friedhofsgärtnerinnen und -gärtner, Mitarbeitende im ärztlichen und pflegerischen Dienst … Der eine Dienst, zu dem alle Christen von ihrem Herrn berufen sind, findet seinen Ausdruck in verschiedenen Ämtern, die als kirchliche Ämter alle in einem Dienst miteinander verbunden sind. Jeder Christ lebt also im «Dienst«, sofern er aus dem Glauben heraus für die Gemeinde und über sie hinaus für seinen Nächsten tätig ist. Eben hierzu wird er in der Taufe berufen und Zeit seines Lebens im immer wieder neuen Hören auf Gottes Wort bestärkt. Unter Berufung auf diesen allgemeinen Dienstauftrag und diese Dienstbevollmächtigung werden Menschen durch die Kirche in besondere Ämter eingesetzt. Der Begriff »Amt« bezeichnet dabei innerhalb der Institution Kirche eine Funktion mit definierten Zuständigkeiten. Welche Ämter die Kirche einrichtet, bestimmt sich von ihrem Dienstauftrag her, der wiederum zurückweist auf Grund und Wesen der Kirche im Wirken Gottes. Die in verschiedenen Kirchen geglaubte eine Kirche Das Bekenntnis zur »einen, heiligen, allgemeinen (katholischen) und apostolischen Kirche« (Ökumenisches Glaubensbekenntnis von 381) verbindet die reformatorischen Kirchen sowohl mit der römisch-katholischen als auch mit den orthodoxen Kirchen. Keine der Kirchen, die sich im Laufe der Geschichte ausgebildet haben, ist mit der Kirche, die in der Kraft des Heiligen Geistes wirklich und wahr ist und als solche geglaubt wird, identisch. Alle stehen vor der Aufgabe, ihre geschichtlich gewachsenen Formen, ihre je besondere Ordnung kritisch an ihrem Grund zu messen und auf das kommende Reich Gottes auszurichten, so dass deutlich wird, wovon die Kirche lebt und wofür sie eintritt. Um die in der Evangelischen Kirche im Rheinland anstehenden Fragen (siehe Teil I) einer Klärung zuzuführen, reicht daher eine pragmatische Vorgehensweise, die lediglich das zurzeit Machbare im Auge hat, ebenso wenig aus wie eine auf den Horizont einer partikularen Kirche beschränkte Sicht, die vom ökumenischen Zusammenhang absieht. Der Weg unserer Kirche ist vielmehr so zu verantworten, dass in allen Einzelfragen die theologischen Grundfragen bedacht werden: Was macht Kirche zur Kirche? Wodurch unterscheidet sich die wahre Kirche von der falschen? Worin ist sie wirklich Kirche, wo nur zum Schein? Indem die evangelische Theologie das Wort Gottes und den Vollzug der Sakramente von Taufe und Abendmahl als die konstitutiven Vollzüge und wesentlichen Kennzeichen der Kirche benennt (CA VII, BTE III und VI), geht es ihr nicht darum, die im Bekenntnis von 381 aufgeführten vier Attribute zu ersetzen oder zu reduzieren. Auf dem Boden des altkirchlichen Bekenntnisses stehend und seine Verbindlichkeit bekräftigend, will sie diese im Licht des Evangeliums interpretieren: Das Wirken des Heiligen Geistes, dem

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sich die Kirche verdankt, geschieht durch das Wort Gottes, wie es in der Heiligen Schrift gegeben und durch menschlichen Dienst in Wort und Tat immer wieder neu zu bezeugen ist. Darin liegt nach Luthers Erkenntnis das »hohe Hauptheiligtum«, das alles übrige allererst heilig macht. Wahre Einheit, Heiligkeit, Universalität und Apostolizität findet die Kirche mithin nur, wenn sie sich von diesem Grundgeschehen her versteht. Kirche ist communio sanctorum, sofern sie Geschöpf des Wortes Gottes ist und sich in dessen Dienst rufen lässt. Und sie ist die Gemeinschaft der gerechtfertigten Sünder, die das Heil nur haben, indem sie es sich von außen zusprechen, zukommen lassen. Die Taufe und der eine Dienst der ganzen christlichen Gemeinde Die Erkenntnis, dass die Kirche creatura verbi ist, begründet sowohl die Lehre vom allgemeinen Priestertum aller Gläubigen als auch die spezifisch reformatorische Auffassung vom Dienst und von den Ämtern in der Kirche. Es handelt sich bei diesen Lehren nicht um alternative Orientierungen, zwischen denen man wählen müsste; vielmehr sind sie gerade dort, wo sie ein unaufhebbares Gegenüber markieren, aufeinander bezogen und aufeinander angewiesen. Mit der besonderen Stellung des Amtes der öffentlichen Wortverkündigung wird herausgestellt, wovon die Gemeinde insgesamt lebt. Was den ordinierten ›Geistlichen‹ aufgetragen ist, ist im Wesentlichen nichts anderes als das, wozu jeder getaufte Christ kraft des im Glauben anzunehmenden Wortes Gottes beauftragt und bevollmächtigt ist: zu bezeugen und weiterzugeben, wodurch er sein Leben im Glauben empfängt. Die besonderen ›Amtsträger‹ und die Gemeinde als das »königliche Priestertum« (1Petr 2,9) sind mithin durch ein Mandat (Gabe und Aufgabe), durch ein ministerium ecclesiasticum (CA V) miteinander verbunden. »Der Auftrag der Kirche, in welchem ihre Freiheit gründet, besteht darin, an Christi statt und also im Dienst seines eigenen Wortes und Werkes durch Predigt und Sakrament die Botschaft von der freien Gnade Gottes auszurichten an alles Volk« (Barmer Theologische Erklärung, These VI). Die Ordination vermittelt mithin keine höhere »Weihe« gegenüber der Taufe. Sie ist der Taufe nicht nur nachgeordnet, sondern bleibend untergeordnet. Die prinzipielle Gleichheit aller Getauften schließt die Gemeinsamkeit des priesterlichen Dienstes ebenso wie die Gemeinsamkeit des diakonischen Dienstes ein. Zum einen: Alle Christen treten füreinander vor Gott ein und bezeugen voreinander, was sie von Gott im Glauben empfangen. In diesem Sinne sind alle Priester, berufen zum Dienst am »Heiligtum« des Wortes Gottes. Zum anderen: Alle Christen dienen einander mit der Gabe, die sie empfangen haben (1Petr 4,10). In diesem Sinne sind alle Diakone. Was auch immer sie aufgrund ihrer besonderen Gaben in besonderen Berufen ausüben, will als Dienst am Nächsten, der dieses Dienstes bedarf, verstanden und gestaltet werden. Dabei umgreift und durchdringt der »allgemeine Orden der christlichen Liebe, darin man einem jeglichen Bedürftigen mit allerlei Wohltat dient« (Luther, Bekenntnis, 1528) alle besonderen »Stände« und erlaubt zugleich eine Differenzierung in verschiedene Berufe. Dabei wird vom reformatorischen Berufsgedanken her die Differenz zwischen kirchlichen und weltlichen Berufen grundsätzlich relativiert. Mit dem Priestertum aller Gläubigen und dem »allgemeinen Orden der christlichen Liebe« sind die beiden Grundzüge genannt, in denen sich nach Luther die Freiheit eines Christenmenschen ausprägt. »Ein Christenmensch lebt nicht in sich selbst, sondern in Christus und in seinem Nächsten; in Christus durch den Glauben, im Nächsten durch die Liebe« (Von der Freiheit eines Christenmenschen, Abs. 30). Kirche ist der Raum

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dieser Freiheit, die im Glauben gewonnen und in der Liebe gelebt wird. Das gelebte Christentum, der Glaube, der durch die Liebe tätig ist (Gal 5,6), fördert eine Fülle von Begabungen, entfaltet sich in einer Vielzahl von Tätigkeiten, deren Wirksamkeit keineswegs auf den Binnenraum der sichtbaren Kirche zu beschränken ist. Im Glauben ist die Gleichheit und Zusammengehörigkeit der verschiedenen Funktionen begründet, in der Liebe sind sie wechselseitig aufeinander verwiesen. Jeder setzt seine Gaben so ein, dass andere gleichfalls ihre je besonderen Gaben einbringen können. In diesem Sinne gilt: »Die verschiedenen Ämter in der Kirche begründen keine Herrschaft der einen über die anderen, sondern die Ausübung des der ganzen Gemeinde anvertrauten und befohlenen Dienstes.« (Barmer Theologische Erklärung, These IV) Sofern dieser vielfältige Dienst »an Christi statt und also im Dienst seines eigenen Wortes und Werkes« geschieht, liegt seine innere Voraussetzung in der Anerkennung des Wortes Gottes als des »Amtes über alle Ämter« (Luther, Kirchenpostille zu Röm 12,6–16). Was als innerer Grund konstitutiv ist für den »Organismus« der Kirche, muss dort, wo sie in der Welt sichtbare Gestalt annimmt, auch zum Ausdruck gebracht werden. Damit Kirche wird, was sie als Leib Christi wesentlich ist, bedarf es der Organisation, einer Struktur von Ämtern, durch die sich vermittelt und verdeutlicht, sichtbar und verbindlich darstellt, was das Wesen der Kirche, ihre Identität und ihre Sendung ausmacht. In dieser Hinsicht sind Grundfunktionen, mit deren Vollzug die Kirche steht und fällt, von anderen, weniger wichtigen, im Zweifelsfall vielleicht auch entbehrlichen Funktionen zu unterscheiden. Die Aufgabe des durch Ordination übertragenen Dienstes Die besondere Ordnung bzw. Institution, die mit der Ordination einzelner dazu besonders befähigter Gemeindeglieder hergestellt wird, steht im Dienst des allgemeinen, in der Taufe begründeten Mandats der Kirche (CA XIV ist von CA V her zu interpretieren); diese Ordnung ist ausgerichtet auf »die Ausübung des der ganzen Gemeinde anvertrauten und befohlenen Dienstes« (Barmer Theologische Erklärung, These IV). Sie ist um dieses Dienstes willen notwendig, mit ihm zugleich im Willen Gottes begründet, von Gott eingesetzt. Die Besonderheit des Dienstes, zu dem ordiniert wird, liegt lediglich darin, dass in ihm der allen aufgetragene Dienst am Wort in öffentlicher Verantwortung geschieht. Dabei ist der Begriff der Öffentlichkeit (CA XIV: »in der Kirchen öffentlich lehren oder predigen oder Sakrament reichen«; lat.: »in ecclesia publice docere aut sacramenta administrare«) theologisch zu fassen. Gemeint ist der Kommunikationsraum, in dem das Wort Gottes in doppelter Hinsicht verantwortet wird: vor der im Gottesdienst versammelten Gemeinde und gemeinsam mit ihr vor dem Wort der Heiligen Schrift. Um diese Verantwortung übernehmen zu können, ist eine theologische Qualifikation erforderlich, deren notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung das Studium der Heiligen Schrift ist. »[...] aus allerlei Personen, Geschlecht und Ständen, mögen sonderlich zum Predigtamt berufen werden, so die Gnade und Verstand der Schrift haben, andere zu lehren« (Luther, Predigt zur Einweihung der Schlosskirche zu Torgau, 1544). Die Verantwortung vor der Gemeinde schließt die Bereitschaft in sich, auf deren Urteil zu achten. Wenn Luther zugespitzt behauptet, dass »das Urteil den Schafen gehört und nicht den Predigern«, so ist freilich vorausgesetzt, dass die »Schafe« die Stimme ihres Hirten hören und dadurch zu »heiligen Gläubigen« werden (vgl. BSLK 459,21f.). Die

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empirisch gegebene Gemeinde weist über sich hinaus auf die wahre Kirche, die in ihr gegenwärtig ist, ohne doch mit ihr identisch zu sein. Indem die ordinierten Predigerinnen und Prediger ihren Dienst in einer besonderen kirchlichen Gemeinschaft tun, sind sie der einen Kirche Jesu Christi verpflichtet. Ihnen wird durch die Ordination eine Gesamtverantwortung übertragen, in der sie dafür einzustehen haben, dass die vorfindliche kirchliche Gemeinschaft Kirche Jesu Christi, der eine, ungetrennte Leib Christi (1Kor 12,12; Eph 4,4; Kol 3,15), bleibt bzw. stets aufs Neue wird. Im konkreten Lebenszusammenhang der Kirche vor Ort sind sie verantwortlich für die »eine, heilige, allgemeine (katholische) und apostolische Kirche«. Mit den vier Wesensmerkmalen der Kirche sind Voraussetzungen und Zielbestimmungen genannt, die den Verantwortungshorizont des durch Ordination übertragenen Dienstes bestimmen. Einerseits deuten sie hin auf die aller menschlichen Aktivität vorgegebene geistliche Wirklichkeit der Kirche, mithin auf das, was Kirche als Leib Christi kraft des in ihr wirksamen Heiligen Geistes ist. Andererseits ist mit ihnen gesagt, wozu die Gemeinschaft der Glaubenden noch unterwegs ist, um Kirche in der Kraft des Heiligen Geistes zu werden. Auf diesem Weg ist ein besonderer Dienst notwendig, dessen Aufgabe darin besteht, die Identität der Kirche als eine im Wirken des Heiligen Geistes begründete zu wahren, mithin heilig zu halten, was die Kirche zur »communio sanctorum« macht (was keineswegs bedeutet, dass die Ordinierten dieses «Machen« zu leisten hätten, geschweige denn, dass sie es allein machen könnten), die Dimensionen der geglaubten Kirche wahrzunehmen und ihre Verwirklichung durch die Bezeugung des ihr zugrunde liegenden Wortes Gottes zu fördern. Während die drei erstgenannten Attribute: Einheit, Heiligkeit, Katholizität, den Raum der Kirche bezeichnen, innerhalb dessen die Ordinierten ihren Dienst ausüben und für den sie Verantwortung tragen, geht es bei dem vierten Attribut, dessen Auslegung im ökumenischen Gespräch vor allem strittig ist, in erster Linie um den Ursprung der Kirche, sofern diese »auf dem Grund der Apostel und Propheten erbaut ist« (Eph 2,20). Im Rückbezug auf das von den Aposteln bezeugte und in der Heiligen Schrift maßgebend überlieferte Wort Gottes, das Quellgrund der Kirche ist, liegt das Kriterium und zugleich das Forum, vor dem die Ordinierten sich letztlich zu verantworten haben. Nach evangelischem Verständnis wird der Einheit, Heiligkeit und Katholizität der Kirche entscheidend dadurch gedient, dass alles kirchliche Leben auf seinen Quellgrund im Wort Gottes zurückbezogen und von ihm her entfaltet wird. Dadurch werden Identität und Kontinuität der Kirche im Wandel der Zeiten gewahrt. Der durch die Ordination qualifizierte Dienst im Verhältnis zu den Ämtern der Kirche Die Ordination steht zwischen der allgemeinen Berufung zum Dienst und der je besonderen Beauftragung, die im Blick auf konkrete Arbeitsfelder in der Kirche und für die Gesellschaft erfolgt. Die Ordination impliziert noch nicht die Einsetzung in ein bestimmtes Amt (z. B. in Gestalt des Pfarramtes), sie ist aber vorausgesetzt, wenn Menschen in bestimmte Ämter eingesetzt werden. Es empfiehlt sich daher, im Blick auf die Ordination primär nicht den Amtsbegriff, sondern den Dienstbegriff zu verwenden. Durch die Ordination werden Menschen in ein Dienstverhältnis berufen, das theologisch in dem Herrschaftsanspruch Jesu Christi als des Herrn der Kirche begründet und geistlich qualifiziert ist. Bindet die Ordination an diesen Herrn, der allen übrigen Mächten

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und Gewalten übergeordnet ist, so verbindet sie zugleich mit allen Christen, die schon durch die Taufe dazu berufen sind, ihr Leben unter Gottes Wort zu führen. Rückt die Ordination in dieser Hinsicht aufs Engste mit der Taufe zusammen (wodurch sie ihren geistlichen Charakter erhält), so unterscheidet sie sich von der allgemeinen Berufung zum Dienst dadurch, dass die ordinierten Diener und Dienerinnen ausdrücklich und verantwortlich ihren Dienst zurückbeziehen auf den Grund der Kirche im Wort Gottes. Sie werden beauftragt und bevollmächtigt, diesen Grund in der Dienstgemeinschaft der Kirche zur Geltung zu bringen. Durch die Ordination wird der allgemeine Dienst insofern geordnet, als die Kirche einzelnen Mitgliedern die im allgemeinen Interesse liegende Aufgabe zuweist, – die für die Kirche konstitutiven Handlungen verantwortlich zu vollziehen und durch sie öffentlich (für alle erkennbar) herauszustellen, was Kirche zur Kirche macht (konstitutive Aufgabe), – die empirisch gegebene Kirche, die als corpus permixtum, als Gemeinschaft der gerechtfertigten Sünder, immer auch »Kirche im Widerspruch« ist, kritisch an ihrem Grund zu messen und auf ihr Ziel auszurichten (kritische Aufgabe) und – die Gemeinde als communio sanctorum in der »einen, heiligen, allgemeinen (katholischen) und apostolischen Kirche« zu bewahren und ihre Teilhabe an den »Gütern« und Gaben, die das Heil vermitteln, zu fördern (kommunikative Aufgabe). Die Wahrnehmung der so bestimmten Aufgabe ist notwendig, damit die Kirche sich von ihrem Ursprung her immer wieder neu konstituiert und im Wandel der Geschichte ihre Identität bewahrt. Indem die Kirche ordiniert, macht sie sich zur Empfängerin des ihr vorgegebenen und anvertrauten Heils und lässt sie sich als Ganze in Dienst nehmen. Von dem so verstandenen Dienst sind die Ämter zu unterscheiden, aber nicht zu trennen. Dass er in einer besonderen Verbindung zum Pfarramt steht, ist deutlich, bedeutet jedoch nicht eine Gleichsetzung beider. Insofern das Amt des Pfarrers/der Pfarrerin die Ordination voraussetzt, kann von einem ordinationsgebundenen Amt gesprochen werden. Dabei sollte jedoch zum einen nicht übersehen werden, dass nicht alle Funktionen, die sich mit dem Pfarramt verbinden, Ausprägungen des durch die Ordination übertragenen Dienstes sind. Der Besinnung auf die Bedeutung der Ordination kommt insofern auch eine kritische Bedeutung im Blick auf die »Pfarrbild«-Diskussion zu. Und die Überlegungen zum »geteilten Amt« können sinnvoll aufgenommen und weitergeführt werden. Zum anderen schließt die Rede von dem ordinationsgebundenen Amt nicht die Möglichkeit aus, dass der ordinierte Dienst auch in anderen Ämtern, z. B. auch in Verbindung mit einem weltlichen Beruf im Ehrenamt ausgeübt werden kann. Dabei ist im Einzelnen zu prüfen, für welche Ämter die Ordination notwendige Voraussetzung ist. Der Diakonat als Dienst der Kirche Besteht das Grundgeschehen der Kirche darin, dass der Glaube in der Liebe wirksam wird, so legt es sich nahe, diese innere Dynamik innerhalb des Dienstes durch eine Zweiheit von Funktionen zum Ausdruck zu bringen, von denen die eine (gemäß CA V) auf das Wort Gottes als Quelle des Glaubens verweist, die andere den daraus erwachsenden Dienst der Nächstenliebe ausübt und gemäß CA VI als Frucht des Glaubens bezeugt. Dabei gilt für beide Funktionen, dass der Bezug auf die andere auch das eigene Dienstverständnis und die eigene Praxis zuinnerst prägt. Mit anderen Worten: Der Dienst des Wortes ist in der Ausrichtung auf die Liebe auch als ein diakonischer Dienst auszulegen;

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und der diakonische Dienst ist in der Bezeugung des Glaubens auch als ein geistlicher Dienst zu verstehen. Zur Verhältnisbestimmung der beiden Grundfunktionen ist daher zunächst die Besonderheit des diakonischen Auftrags im Gegenüber zur öffentlichen Wortverkündigung zu betonen. Diakone und Diakoninnen leisten in der Zuwendung zum Nächsten – innerhalb und außerhalb der Gemeinschaft der Glaubenden – einen Dienst, der aus dem innersten Grund der Kirche, aus dem Sein Jesu Christi hervorgeht, ihm entspricht und unter den Gaben des Heiligen Geistes die größte wahrnimmt (1Kor 13,13). Ohne diesen Dienst droht die Verkündigung des Wortes Gottes zum «tönenden Erz« oder zur »klingenden Schelle« zu verkommen. Freilich ist der diakonische Dienst ebenso wie der »priesterliche« Dienst am Wort allen Christinnen und Christen aufgetragen. Überträgt man innerhalb des »allgemeinen Ordens christlicher Liebe« einzelnen Christen den besonderen Dienst des Diakonats, so wird ihnen damit eine repräsentative, vorbildliche Bedeutung zuerkannt, jedoch nicht in exklusiver Weise eine Aufgabe zugewiesen, die nur sie zu leisten hätten. Ihre Herausstellung, wie sie in einem besonderen gottesdienstlichen Akt der Einsegnung geschieht, ist nur unter demselben Gesichtspunkt begründet, der auch für die Ordination zum Dienst der öffentlichen Wortverkündigung entscheidend ist: Die Voraussetzung hierzu liegt in der Bereitschaft und in der Befähigung, den Dienst als Dienst der Kirche im Sinne des Bekenntnisses und in der Teilnahme an der Gesamtverantwortung wahrzunehmen. Sofern diese Voraussetzung gegeben ist, sind die einen für den Diakonat ebenso öffentlich einzusegnen, wie die anderen für den Dienst der öffentlichen Wortverkündigung zu ordinieren sind. Ordination und Bischofsamt Die mit den vier Attributen des Ökumenischen Glaubensbekenntnisses bezeichneten Dimensionen der Kirche, deren Wahrnehmung den Ordinierten anvertraut und befohlen ist, sind als bestimmende Momente schon im Akt der Ordination zur Geltung zu bringen. Wer auch immer die Ordination vollzieht, handelt stellvertretend für die »eine, heilige, allgemeine (katholische) und apostolische Kirche«, in deren Dienst der/die zu Ordinierende berufen wird: an einem bestimmten Ort, aber doch nicht beschränkt auf dessen partikulare Eigentümlichkeit. Die Ordination als eine Berufung durch die Kirche für die Kirche ist strikt von einer Beauftragung durch die Ortsgemeinde (pro loco et tempore) zu unterscheiden. Das schließt nicht aus, dass auch Repräsentanten der Ortsgemeinde oder einer partikularen kirchlichen Gemeinschaft ordinieren. Es muss jedoch deutlich sein, dass sie im Akt der Ordination eine bischöfliche Funktion übernehmen, die als solche verantwortet werden muss. Wie diese Verantwortung kirchenrechtlich zu organisieren ist, ist damit noch nicht entschieden. Der römisch-katholischen Auffassung, die eine hierarchisch organisierte Struktur für konstitutiv hält, ist aus evangelischer Sicht ein synodales und kollegiales Verständnis der Leitung und Aufsicht gegenüberzustellen, dessen theologische Begründung nicht an der Sukzession des Amtes, sondern an der Tradition des apostolischen Zeugnisses als des identitätsstiftenden Grundes der Kirche orientiert ist. Für die Frage nach der Bedeutung des Bischofsamtes für eine evangelische Lehre von der Kirche folgt daraus: Die Vollmacht des Bischofsamtes ist keine andere als die des ordinierten Dienstes, die wiederum im Wesen mit der durch die Taufe erfolgenden Berufung

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übereinstimmt, wobei es entscheidend darum geht, die Macht des Wortes Gottes zur Geltung zu bringen. Das »bischöfliche Amt« besteht »nach göttlichen Rechten« darin, »das Evangelium predigen, Sünde vergeben, Lehre urteilen, und die Lehre, so dem Evangelium entgegen, verwerfen und die Gottlosen, deren gottloses Wesen offenbar ist, aus der christlichen Gemeinde ausschließen, ohne menschliche Gewalt, sondern allein durch Gottes Wort« (sine vi humana, sed verbo; BSLK 123,22–124,5 [CA XXVIII]). Als »Wortamt« handelt es sich um eine besondere Ausprägung des einen Dienstes, zu dem alle Christen berufen sind, wobei die Besonderheit nochmals in der Verantwortlichkeit liegt, wie sie durch die Ordination hervorgehoben wird. Insofern könnte man von einer besonderen Ausprägung des einen ordinierten Dienstes reden. So wie die Ordination ein die »eine, heilige, allgemeine (katholische) und apostolische Kirche« repräsentierendes Handeln voraussetzt, so werden durch sie auch Repräsentanten der Kirche eingesetzt, bevollmächtigt und verpflichtet. Dieser Sachzusammenhang kommt insbesondere auch darin zum Ausdruck, dass mit der Ordination auch die Visitation begründet wird. 4. Konsequenzen 4.1 Theologische Leitlinien für das »Pfarrbild« Leitfrage 1: Wie können in einer sich wandelnden Situation Leitlinien zur Gewinnung eines theologischen Profils des »Pfarrbildes« formuliert werden? Bei der Formulierung eines »Pfarrbildes« muss stärker als bisher beachtet werden, dass das Spezifische des ordinierten Dienstes eine spezifische theologische Verantwortlichkeit erfordert, die nicht einfach mit der Auflistung von Eignungsvoraussetzungen, Qualifikationen und funktionalen Kompetenzen erfasst werden kann. – Theologische Kompetenz ist nicht nur Fachwissen, sondern die Fähigkeit, alle Lebensäußerungen der Gemeinde zu ihrem Grund kritisch in Beziehung zu setzen. – Öffentliche Verantwortung bedeutet nicht, dass die Ordinierten eine »Übereinstimmung des Lebens und Handelns mit der beruflich zu vertretenden christlichen Botschaft und mit den daraus abgeleiteten Regeln« (vgl. Pfarrbild S. 4) zu leisten hätten oder mehr als die übrigen Gemeindeglieder mit der ganzen Existenz das Evangelium zu bezeugen hätten (»Vorbild« sein). Allerdings bedeutet es, die Fähigkeit zu entwickeln, die befreiende und rechtfertigende Botschaft auf das eigene (der Rechtfertigung bedürftige) Leben beziehen zu können und öffentlich diesen Bezug verdeutlichen zu können, d. h. ein begrenztes, exemplarisches und unvollständiges »Modell« zu bieten. – Die Frage nach den »Eignungsvoraussetzungen« darf nicht mit der bloßen Addition von Kompetenzen beantwortet werden (vgl. Pfarrbild S. 4), da es theologisch um das Phänomen der Berufung geht. Neben der nicht messbaren vocatio interna geht es dabei wesentlich um die Frage der Berufung durch die Gemeinde. Die Frage nach der Berufungsfähigkeit kann nur in einem Prozess mit unterschiedlichen »Hürden« geklärt werden, die sowohl die Selbstprüfung als auch die Prüfung durch die Gemeinde ermöglicht. Strikt abzulehnen sind deshalb z. B. sog. Assessmentcenter oder ähnliche Instrumentarien, die abseits gemeindlicher Wirklichkeit nur ein punktuelles Abfragen von bestimmten Fähigkeiten bieten können. – Die im Pfarramt tätigen Ordinierten müssen sich darauf verlassen können, dass Erwerb und Entwicklung der Qualifikationen (Pfarrbild S. 4f.) von der Gemeinde un-

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terstützt und gefördert werden, so dass es möglich wird, ein eigenes Profil theologischer Existenz zu entwickeln. Dazu gehört das Angebot persönlicher Supervision. – Bei Beurteilungen des Dienstes von Pfarrerinnen und Pfarrern (vgl. Pfarrbild S. 5) muss streng zwischen einer dienstrechtlichen Beurteilung, die sich auf die Amtsführung bezieht (im Sinne der Wahrnehmung von Funktionen innerhalb der Institution Kirche), und der Visitation unterschieden werden, die sich auf die Wahrnehmung des ordinierten Dienstes bezieht. Visitation bedarf des geschwisterlichen Gespräches unter Beteiligung der Gemeinde. Dringend zu überdenken ist die problematische Doppelrolle des Superintendentenamtes (Dienstvorgesetzte/r und Seelsorger/in). 4.2 Das Spezifische des ordinierten Dienstes im Kontext aller Mitarbeitenden Leitfrage 2: Wie kann das Spezifische des ordinierten Dienstes bestimmt werden, ohne die Gleichwertigkeit der Ämter im Gefüge aller Mitarbeitenden zu beeinträchtigen? Das Spezifische des ordinierten Dienstes ist die öffentliche Wahrnehmung der konstitutiven, kritischen und kommunikativen Aufgabe, die Kirche in all ihren Lebensäußerungen beständig mit ihrem Ursprung in Beziehung zu setzen (vgl. oben 3.5). Die spezifische Qualifikation, die notwendig ist, um diesen Dienst wahrzunehmen, ist die »theologische Kompetenz«. Der ordinierte Dienst ist die »Ausübung einer auch leitenden Tätigkeit« (Henning Schröer). Damit ist aber nicht notwendig institutionelle Macht oder die Ausübung eines Pfarramtes verbunden. Um seine Aufgabe erfüllen zu können, muss der ordinierte Dienst Anerkennung und Wertschätzung seiner theologischen Kompetenz innerhalb der Gemeinde erwarten können. Er muss aber seinerseits zwischen der Autorität des Dienstes der Wortverkündigung und institutioneller Autorität unterscheiden können, um glaubwürdig zu sein. Diese Unterscheidungsfähigkeit gehört wesentlich zur »theologischen Kompetenz«. In den Gemeindekonzeptionsprozessen ist es die spezifische Aufgabe des ordinierten Dienstes, die Frage nach dem biblischen Auftrag (= die Frage nach der theologischen »Vision« i. S. von »Visionen erden«) zur Geltung zu bringen. Die Freiheit, vom Wort Gottes ausgehend Gemeindekonzeptionen zu kritisieren und in Frage zu stellen, muss dem ordinierten Dienst gewährt werden, auch gegenüber bestehenden Konzeptionen. Deren Autorität ist relativ. 4.3 Leitlinien zur Ordnung des diakonischen Dienstes Leitfrage 3: Wie kann das theologische Profil des Diakonates bestimmt werden? Leitfrage 11: Wie kann die geistliche, theologische und kirchenrechtliche Stellung des Diakonates in der EKiR bestimmt werden? Der diakonische Dienst ist mit dem Dienst des Wortes zusammen »Wesens- und Lebensäußerung der Kirche« (Grundordnung der EKD, Art. 15.1 in der Fassung vom 13.7.1948). Jesus Christus ist der lebendige Herr der Kirche in seinem Wort und in der Gestalt des Dienenden. Wort und Dienst sind in ihm und in der Bindung an ihn auch in der Kirche, dem »Leib Christi«, untrennbar miteinander verbunden. So wie die Kirche

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als Ganze in der Gesamtheit ihrer getauften Glieder creatura verbi ist, so ist sie auch als Ganze in den Dienst der Nächstenliebe gerufen. Dieser Dienst kann und soll sich in allen Tätigkeitsfeldern von Christen innerhalb und außerhalb der Kirche ausprägen, auch ohne dass es dazu einer besonderen, zur Taufe hinzukommenden Bevollmächtigung bedürfte. Gerade weil es sich um eine ebenso grundlegende wie allgemeine Dimension des kirchlichen Lebens handelt, ist es freilich auch sinnvoll und geboten, einen besonderen Diakonat auszubilden, durch den sich die wesentliche Bestimmung der Kirche verdeutlicht. Der Diakonat, der die Nächstenliebe im Sinne von CA VI als Frucht des Glaubens bezeugt, ist aufs Engste mit dem Dienst der öffentlichen Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung verbunden: Er gehört als leiblicher Vollzug des Wortes Gottes in der Zuwendung zum Nächsten zu den konstitutiven Handlungen der Kirche, bleibt freilich insofern dem zu verkündigenden Wort Gottes untergeordnet, als das Tun der Liebe im Glauben an die Botschaft von der Rechtfertigung gründet. Auch durch den diakonischen Dienst vollzieht sich die kritische Überprüfung der Kirche, wobei die Kritik nicht zuletzt ein verengtes Verständnis des Wortes betrifft. Der diakonische Dienst trägt wesentlich dazu bei, dass »Gottes Güter von einem zum andern fließen und gemeinsames Eigentum werden« (Luther, Von der Freiheit eines Christenmenschen, Abschnitt 29), und ist insofern eine kommunikative, auf die Einheit der Kirche gerichtete Aufgabe. Weil der Diakonat den genannten drei Kriterien entsprechend wie der Dienst der öffentlichen Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung ein auf den Existenzgrund der Kirche bezogener öffentlich wahrzunehmender Dienst ist, bedarf er in gleicher Weise einer besonderen Übertragung (Einsegnung). Das bedeutet freilich nicht, dass alle im Bereich der Diakonie ausgeübten Tätigkeiten die Einsegnung voraussetzen. Der Diakonat als von der Kirche übertragener Dienst erhält sein besonderes Profil gegenüber dem allgemeinen diakonischen Dienst durch die Teilhabe an der spezifisch theologischen Verantwortung, gegenüber dem ordinierten Dienst am Wort durch die spezifische Ausrichtung auf die Praxis der Nächstenliebe. Einsegnung und Ordination bedürfen einer je eigenen rechtlichen Ausgestaltung. 4.4 Das Verhältnis von Ordination und Vokation Leitfrage 4: Wie kann das Verhältnis zwischen Ordination und Vokation beschrieben werden? Lehre gehört zu den grundlegenden Aufgaben des Dienstes am Wort Gottes. Im Sprachgebrauch der Bibel und einer langen kirchlichen Tradition gibt es einen fließenden Übergang zwischen Verkündigung und Lehre (vgl. Mt 28,20 sowie das mit »predigen« übersetzte docere in CA V, VII und XIV). Ebenso deutlich ist, dass Lehre nicht ohne theologische Verantwortung betrieben werden kann. Zwischen den Aufgaben des Lehrers/der Lehrerin und denen des Pfarrers/der Pfarrerin ist daher nicht scharf zu trennen. Innerhalb der gemeinsamen theologischen Verantwortung sind aber durchaus Differenzierungen sinnvoll. Religionslehrer und Religionslehrerinnen, die an einer Schule tätig sind, unterrichten »in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften« (Art. 7, Abs. 3 GG), denen sie angehören und deren Lehre sie bekenntnisorientiert vertreten sollen. Ihre Bindung an die Kirche kommt sachgemäß in der Vokation zum

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Ausdruck. Sie bedeutet nicht die Übertragung aller mit der Ordination begründeten Rechte und Pflichten. Bei einer völligen Gleichsetzung von Vokation und Ordination droht nicht zuletzt auch die für das Selbstverständnis von Religionslehrern und Religionslehrerinnen wichtige Differenz zwischen dem säkularen Kontext der Schule mit den ihm entsprechenden Formen der Lehre und dem spezifisch kirchlichen Ort der Verkündigung mit dem Gottesdienst als Zentrum verwischt zu werden. Das Amt eines Religionslehrers/einer Religionslehrerin an Schulen ist kein ordinationsgebundenes Amt, was keineswegs ausschließt, dass es auch von Ordinierten (Schulpfarrern/Schulpfarrerinnen) übernommen werden kann. 4.5 Evangelisches Amtsverständnis – an die apostolische Tradition gebunden und ökumenisch gesprächsfähig Leitfrage 5: Kann das evangelische Amts- und Ordinationsverständnis in Treue zu den reformatorischen Grundlagen ökumenisch gesprächsfähig formuliert werden? Leitfrage 6: In welchem Verhältnis steht das reformatorische Amtsverständnis zur apostolischen Tradition? Durch das Bekenntnis zur einen, heiligen, allgemeinen (katholischen) und apostolischen Kirche im Sinne des Ökumenischen Glaubensbekenntnisses von 381 kommt die Bindung des ordinierten Dienstes an die apostolische Tradition zum Ausdruck. Für das evangelische Verständnis von Apostolizität ist dabei die Unterscheidung von apostolischer Tradition und apostolischer Sukzession (vgl. Lima, Amt, Art. 34, Komm.) wesentlich. Nach reformatorischem Verständnis kommt die Apostolizität des ordinierten Dienstes durch seine Ursprungsbezogenheit und seinen Sendungsauftrag zum Ausdruck und findet ihr Kriterium im »hohen Hauptheiligtum« des Wortes Gottes. Dadurch werden weder die vier Prädikate des Bekenntnisses von 381 ersetzt noch wird die Vielfalt der inhaltlichen Dimensionen apostolischer Tradition eingeengt: »Bezeugung des apostolischen Glaubens, Verkündigung und neue Interpretation des Evangeliums ..., Weitergabe der Amtsverantwortung, Gemeinschaft in Gebet, Liebe, Freude und Leiden, Dienst an den Kranken und Bedürftigen, Einheit unter den Ortskirchen ...« (vgl. Lima, Amt, Z. 34) Es geht vielmehr darum, die Prädikate des altkirchlichen Bekenntnisses vom Evangelium her zu interpretieren (vgl. oben 3.2). Ein in dieser Weise und in diesem reformatorischen Verständnis an die apostolische Tradition gebundener ordinierter Dienst ist auf der gemeinsamen Basis des Bekenntnisses von 381 ökumenisch dialogfähig und dialogbereit. 4.6 Der ordinierte Dienst als Dienst der Gemeinde und Dienst an der Gemeinde Leitfrage 7: Wie kommt das Amt als Dienst der Gemeinde und gleichzeitig als Gegenüber zur Gemeinde angemessen zum Ausdruck? Der ordinierte Dienst als Dienst der Gemeinde wird deutlich durch die Art des Zuganges zum ordinierten Dienst (Berufung durch die Gemeinde), durch die Beteiligung der Gemeinde im Ordinationsgeschehen, durch die Tatsache, dass der ordinierte Dienst in unterschiedlichen gemeindlichen Funktionen ausgeübt werden kann, durch den ordinierten Dienst ehrenamtlicher Predigthelferinnen und Predigthelfer, durch die Möglichkeit zeitlich und örtlich begrenzter Beauftragungen und durch die Praxis der Visitation.

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Der ordinierte Dienst als Gegenüber zur Gemeinde ist darin begründet, dass die Kirche zwischen sich selbst und ihrem Grund unterscheidet und gerade deshalb einen Dienst einrichtet, der die konstitutive, kritische und kommunikative Aufgabe hat, sie mit diesem Ursprung in Beziehung zu setzen (vgl. oben 3.5) und sie auf ihr Ziel auszurichten. Sie gewährt diesem Dienst eine Freiheit, die auch institutionell gesichert ist (siehe auch Art. 70 der KO). 4.7 Der ordinierte Dienst als Dienst an der Einheit Leitfrage 8: Wie kann der ordinierte Dienst als Dienst an der Einheit in seiner gesamtkirchlichen Verantwortung zum Ausdruck gebracht werden? Der ordinierte Dienst dient der Einheit der Kirche Jesu Christi, indem er gegenüber der Gemeinde eine doppelte Funktion ausübt: – Nach innen sorgt er dafür, dass die Fülle der Charismen erkannt und gepflegt wird, die Gaben und Aufgaben der Gemeinde in kreative Beziehung zueinander gestellt werden, damit der Aufbau des Leibes Christi gefördert wird. – Nach außen sorgt er dafür, dass die Gemeinde Beziehungen zu anderen Gemeinden sucht und pflegt, um die Gemeinschaft innerhalb der communio sanctorum zu stärken und zu festigen. Die einheitsstiftende Funktion des ordinierten Dienstes ist darin begründet, dass er nicht der Dienst einer Kirche allein ist, sondern dass er durch die Ordination von dem einen Herrn zum Dienst an der einen Kirche berufen ist (CA 7). Das ordinierende Handeln einer Kirche geschieht stellvertretend für die eine Kirche Jesu Christi. So ist der ordinierte Dienst begründet in dem einheitsstiftenden Wort Gottes, bezogen auf die geglaubte Kirche und nimmt seinen Dienst an der Einheit wahr, indem er alle Lebensäußerungen der Kirche auf Gott als ihren einheitsstiftenden Grund bezieht. 4.8 Der ordinierte Dienst und das Abendmahl Leitfrage 9: Welcher innere Zusammenhang besteht zwischen ordiniertem Dienst und Abendmahlsfeier nach evangelischem Verständnis? Weil die Kirche dem ordinierten Dienst die Aufgabe überträgt, für die konstitutiven Handlungen verantwortlich zu sein, gehört die Leitung der Abendmahlsfeier in den Verantwortungsbereich der Ordinierten. Das Abendmahl gehört zu den zentralen konstitutiven Handlungen der Kirche; deshalb nimmt der ordinierte Dienst gerade beim Abendmahl seine kritische Aufgabe besonders aufmerksam wahr, die Kirche von ihrem Ursprung her zu prüfen. Weil dem ordinierten Dienst die kommunikative Aufgabe übertragen ist, die Gemeinde in der communio sanctorum zu bewahren, muss er gerade beim Abendmahl darauf achten, dass die Feier ökumenisch verantwortlich gestaltet und geleitet wird. Dabei ist es einerseits wichtig, die evangelische Überzeugung derer zu stärken, die zur öffentlichen Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung von der evangelischen Kirche »rite« ordiniert oder beauftragt sind. Andererseits bedarf die evangelische Kirche einer sorgfältigen Regelung für die Ausnahmefälle, in denen das Abendmahl durch nicht ordinierte Haupt- und Ehrenamtliche geleitet wird. Die verantwortliche Beauftragung «pro loco et pro tempore«, durch die Mitarbeitende (z. B. in Kindergärten und Jugend-

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arbeit) in Stand gesetzt werden, Gottesdienste mit Feier des Abendmahls zu leiten, sowie die Beauftragung der Vikarinnen und Vikare nach ausreichender Vorbereitung und Einübung, gehören zum Selbstverständnis evangelischer Gemeinden im Sinne des allgemeinen Priestertums. Allerdings muss dabei deutlich werden, dass es sich dabei erstens um eine verantwortlich gestaltete Ausnahme von dem grundsätzlich mit der Ordination verliehenen Auftrag zur Sakramentsverwaltung handelt und dass diese Ausnahme zweitens immer innerhalb des Verantwortungsbereiches einer oder eines Ordinierten geschieht. Neben diesen verantwortlich gestalteten Ausnahmen ist eine »Beauftragung« von hauptamtlich Mitarbeitenden im Sinne von Art. 91,2 KO nicht notwendig (»… hauptberufliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Verkündigung, Seelsorge, Diakonie und Bildungsarbeit im Rahmen und für die Dauer ihres Dienstes mit der Verkündigung des Wortes Gottes und der Verwaltung der Sakramente beauftragt …«; vgl. auch Kirchengesetz Nr. 924 und ZOP 13.6). 4.9 Die Ordination von Frauen Leitfrage 10: Wie kann die Ordination von Frauen theologisch so vertreten werden, dass sie von Kirchen ohne Frauenordination als Anfrage verstanden wird? »Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus.« (Gal 3,28) Im Leib Christi ist in geistlicher Hinsicht die schöpfungsmäßige Differenz zwischen Mann und Frau insofern bedeutungslos, als das eine Geschlecht dem anderen gegenüber weder bevorzugt noch benachteiligt werden darf. In der Kirche, als der Gemeinschaft der Getauften, gilt die geistliche Wirklichkeit der Taufe vor aller schöpfungsgemäßen Differenzierung. Deshalb muss unterschieden werden zwischen der Grundgestalt der Kirche als Leib Jesu Christi und einer traditionell patriarchalischen Ausgestaltung kirchlicher Ordnungen. Gerade in einer Zeit, in der die lebenshinderlichen Auswirkungen dieser Ausgestaltung deutlich erkennbar geworden sind, muss für die Gestaltungsfragen kirchlicher Ordnung die Grundgestalt der Kirche klar zum Ausdruck gebracht werden. Die Ordination von Frauen ist ein unverzichtbares Element des einen Dienstes der Gemeinde, mit dem sie die Wirklichkeit Jesu Christi bezeugt. Kirchen, die die Ordination von Frauen praktizieren, folgen diesen biblisch-theologischen Erkenntnissen. Sie machen damit positive Erfahrungen und erkennen darin im Vollzug des kirchlichen Lebens ein Geschenk des Heiligen Geistes. »Offenheit füreinander trägt die Möglichkeit in sich, dass der Geist sehr wohl zu einer Kirche durch die Einsichten einer anderen sprechen kann« (Lima, 54). 4.10 Das Amt der Lehre als Amt der Kirche Leitfrage 12: Welchen Ort haben theologische Lehre und theologische Lehrerinnen und Lehrer im Konzert evangelischer Ämter? Hinsichtlich der theologischen Lehre an Hochschulen und Universitäten gilt grundsätzlich das Gleiche, was oben im Blick auf den Religionsunterricht an Schulen ausgeführt wurde. Kirchliche Bindung bedeutet nicht, dass Lehrerinnen und Lehrer der Theologie an Universitäten ein ordinationsgebundenes Amt hätten. Von dieser Frage zu unterscheiden ist die andere, welche institutionellen Formen die Kirche in eigener Trägerschaft

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entwickeln und unterhalten sollte, um ihren Bedarf an Lehre zu befriedigen. Die Arbeit an verbindlicher, »gesunder Lehre« im biblischen und reformatorischen Sinn ist unverzichtbar, sie ist in jeder der drei oben genannten Hinsichten lebenswichtig, damit Kirche lebendig mit ihrem Ursprung verbunden bleibt. Insofern sollten theologische Lehrer und Lehrerinnen im Dienst der Kirche ordiniert werden und kirchliche Hochschulen als die institutionelle Basis ihrer Lehre erhalten und möglicherweise in ihrem spezifischen Profil verdeutlicht werden. Zudem ist bei der Revision der Kirchenordnung darauf zu achten, wie das Gewicht der theologischen Lehre in synodalen Prozessen und die Gemeinsamkeit theologischer Verantwortung gestärkt werden kann. 4.11 Bischofsamt Leitfrage 13: Kann die bischöfliche Sukzession als ein Zeichen der Einheit der Kirche anerkannt werden? Die für das evangelische Verständnis des ordinierten Dienstes wesentliche Unterscheidung zwischen apostolischer Tradition und Sukzession (vgl. oben 4.5) ist auch maßgeblich für das Verständnis des Bischofsamtes. Die apostolische Sukzession kann sowohl Ausdruck der Treue zu den Müttern und Vätern im Glauben sein, als auch die Solidarität innerhalb der Gemeinschaft der einen, heiligen, allgemeinen (katholischen) und apostolischen Kirche verdeutlichen. Deshalb ist es auch aus reformatorischer Perspektive möglich, sie als ein sichtbares Zeichen der Einheit anzuerkennen, sofern sie als ein der Einheit dienendes, aber nicht als ein für die Einheit der Kirche konstitutives Zeichen verstanden wird. Nach reformatorischem Verständnis übernimmt der ordinierte Dienst in seiner öffentlichen Verantwortung für die konstitutiven Handlungen der Kirche und in seiner öffentlichen Wahrnehmung des kritischen und kommunikativen Auftrages (vgl. oben 3.5) kirchenleitende und repräsentative d. h. bischöfliche Funktionen. Vom Ansatz des einen Dienstes der Gemeinde und der einen Ordination muss aber das Verständnis jeder Art von Hierarchisierung abgelehnt werden. Ebenso wenig akzeptabel ist die Vorstellung einer theologischen oder historischen Ununterbrochenheit bischöflicher Sukzession. Im ökumenischen Dialog ist es notwendig, diejenigen Ämter selbstbewusster zur Geltung zu bringen, die innerhalb der Ordnungen evangelischer Kirchen bischöfliche Funktionen übernehmen. In der EKiR ist dabei besonders an das Präses- und SuperintendentInnenamt zu denken. Diese Ämter nehmen in Gemeinschaft mit den synodalen Gremien auch kirchenleitende und repräsentative, also bischöfliche Funktionen wahr, in besonderer Weise durch das ordinierende und visitierende Handeln. Im Blick auf die ökumenischen Partnerkirchen ist zu fragen, wie der geistliche Charakter dieser Ämter deutlicher herausgestellt werden kann. 4.12

Rechtliche Grundlagen und Regelungen

4.12.1 Revision der Kirchenordnung Bei der Revision der KO sollte auf eine klarere Begrifflichkeit geachtet werden: Dienst ist der eine, der ganzen Gemeinde anvertraute und durch die Taufe eingesetzte Dienst, nämlich Jesus Christus mit der gesamten Existenz zu bezeugen. Verschiedene Dienste sind spezifische Aufgabenstellungen, die dadurch ihr Profil gewinnen, dass der eine

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Dienst für besondere Situationen und Kontexte konkretisiert wird. Mit dem Begriff Dienst der Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung wird der ordinierte Dienst bezeichnet, durch den der eine Dienst der Gemeinde in besonderer Weise öffentlich institutionalisiert wird. Ämter sind Funktionen innerhalb der Institution Kirche. Vermieden werden sollte der Begriff »das Amt« für den ordinierten Dienst, da er die Gefahr enthält, geistlichen Auftrag und institutionelle Autorität zu identifizieren. Wenn vom »Pfarramt« die Rede ist, wird damit zum Ausdruck gebracht, dass es sich um eine institutionalisierte Funktion handelt. »Pfarrdienst« drückt demgegenüber die Ausübung des pastoralen Dienstes aus. »Dienst« im dienstrechtlichen Sinne (Dienstanweisung; Dienstzeit …) sollte erkennbar unterschieden vom Dienstbegriff im geistlichen Sinne benutzt werden. Die Kirchenordnung muss klare Aussagen dazu machen, dass die öffentliche Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung denjenigen anvertraut ist, die ordiniert sind. Wegen der problematischen Rollenkonstellation im Superintendentenamt muss Art. 163 überdacht werden. In diesem Zusammenhang muss die den Superintendentinnen und Superintendenten neu zugewachsene Aufgabe, Personalgespräche vor Ablauf der Fristen bei befristeten Pfarrstellenbesetzungen zu führen, bedacht werden. Das derzeitig in der EKiR gültige Pfarrbild reicht nicht aus, um Kriterien zu entwickeln, mit denen der Dienst der Ordinierten im Pfarramt in angemessener Weise beurteilt werden kann. Bei der Revision von Art. 70 KO muss die Freiheit des ordinierten Dienstes gegenüber »Gesamtkonzeptionen gemeindlicher Aufgaben« zum Ausdruck gebracht werden, unbeschadet der Verbindlichkeit, die diese Konzeptionen für die Führung des Pfarramtes festlegen können. Die rechtlichen Bestimmungen zum Diakonat müssen grundsätzlich überarbeitet werden, um die geistliche Bedeutung dieses Dienstes und seine sachgemäße Institutionalisierung innerhalb des Gefüges der Mitarbeitenden in der EKiR angemessen zu gestalten. 4.12.2 Ordinationsgesetz Wegen der besonderen Bedeutung der Ordination und wegen der notwendigen Unterscheidung zwischen Ordination und Pfarramt muss die Ordination unabhängig vom Pfarrdienstgesetz in einem eigenen Gesetz geordnet werden. Dazu gehören Regelungen bezüglich der Voraussetzungen zur Ordination (Zeitpunkt der Ordination, falls dieser überhaupt festzulegen ist), bei der Ordination handelnde Personen und Gremien bzw. Funktion der Gemeinde, Inhalte des Ordinationsversprechens, Ordinationsrechte und -pflichten, Ruhenlassen und Verlust der Ordinationsrechte. Bei der Gestaltung der Ordination muss die gesamtkirchliche Bedeutung klar erkennbar gemacht werden. Dazu dienen Ordinationsrüsten auf landeskirchlicher Ebene, bei denen ausgebildete Theologinnen und Theologen mit denjenigen, die für den ehrenamtlichen Dienst (Predigthelferinnen und Predigthelfer) ausgebildet wurden, gemeinsam auf die Ordination vorbereitet werden. Der gesamtkirchlichen Bedeutung der Ordination ist es dienlich, wenn sie unter Beteiligung von Vertreterinnen und Vertretern der weltweiten Ökumene vollzogen wird. Die gegenseitige Anerkennung der Ordinationen verschiedener Kirchen und Landeskirchen ist anzustreben.

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Klarer festgelegt werden muss, welche Ämter in der Kirche die Ordination voraussetzen und welche Aufgabenfelder auch von ausgebildeten Theologinnen und Theologen ohne Ordination ausgeübt werden können (z. B. Religionslehrer in berufsbildenden Schulen, Medien- und Öffentlichkeitsarbeit, Erwachsenenbildung …). Im Rahmen der Formulierung eines Ordinationsgesetzes sollte die Praxis der Beauftragung hauptamtlich Mitarbeitender gemäß Art. 91,2 (Kirchengesetz 924) kritisch überdacht werden. Dabei ist die Öffnung eines Zugangs zur Ordination für Hauptamtliche zu prüfen (vgl. ZOP 13.5). Für den ehrenamtlich wahrgenommenen Dienst der Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung sollte eine neue Bezeichnung gefunden werden, die weniger missverständlich ist als der Begriff »Predigthelfer/in«. Vorschlag: »Prädikant/in«. 4.12.3 Agende Die Agende muss dahingehend überarbeitet werden, dass die Ordination von Hauptund Ehrenamtlichen angeglichen und ihre gesamtkirchliche Bedeutung erkennbar wird. Dabei ist u. a. zu überprüfen, welche Funktion die Frage nach dem Bekenntnisstand hat. In der Ordinationsagende muss deutlich die Verpflichtung der Kirche hervorgehoben werden, die Ordinierten unabhängig von einem Dienstverhältnis zu begleiten und zu beraten. Um dies zum Ausdruck zu bringen, sollten Vertreterinnen und Vertreter aus dem Tätigkeitsbereich der zu Ordinierenden mit den zur Ordination Beauftragten in der Ordinationshandlung zusammenwirken. Die liturgische Gestaltung könnte z. B. die Frage nach der Würdigkeit oder Befragung von Kirchenvolk und Verantwortlichen aufnehmen. Aus den Formularen der Agende muss deutlich hervorgehen, wer die im Auftrag der Kirche Handelnden sind und welche Funktion die (versammelte) Gemeinde hat. Die Agende muss deutlich zwischen Ordination und Amtseinführung unterscheiden, zumal jede Amtseinführung mit einem konkreten Auftrag räumlich und zeitlich begrenzt ist. Die Agende braucht unterschiedliche Formulare für Ordination und Einsegnung einerseits und für andere Beauftragungen andererseits. (Vom Ständigen Theologischen Ausschuss einstimmig verabschiedet am 17. März 2003. Aufgrund der Beratungsergebnisse des Ausschusses für Innereuropäische Ökumene und Catholica leicht überarbeitet und am 17.11.2003 einstimmig verabschiedet.)

V.4.3 »Darf die Kirche vom Mahl des Herrn ausschließen?« Beschluss 34: Die Landessynode macht sich die Stellungnahme »Darf die Kirche vom Mahl des Herrn ausschließen?« mit den vorgenommenen Änderungen zu eigen. 1. Sie bekräftigt ihren Beschluss von 1996, Artikel 26–30 KO a.F. ersatzlos zu streichen und damit innerhalb der Evangelischen Kirche im Rheinland der Möglichkeit, Menschen durch Beschluss eines Presbyteriums vom Abendmahl auszuschließen, die Rechtsgrundlage zu nehmen. Sie bekräftigt ihren Beschluss von 2003, mit Artikel 13 Abs. 4 KO n.F. die

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Möglichkeit zu schaffen, »im Einzelfall Mitgliedschaftsrechte ganz oder teilweise ruhen« zu lassen. Ein entsprechendes Kirchengesetz sollte möglichst bald beschlossen werden. 2. Sie bittet die Kirchenleitung, dafür Sorge zu tragen, a) dass über die angesprochenen theologischen Probleme Lehrgespräche mit anderen Kirchen geführt werden, b) dass weitere einschlägige Rechtsregelungen überprüft und gegebenenfalls notwendige Änderungen vorbereitet werden, c) dass in der gemeindlichen Praxis diesen theologischen Einsichten Rechnung getragen wird, d) dass die Eucharistische Gastfreundschaft bekräftigt wird, e) dass die Stellungnahme in geeigneter Form veröffentlicht wird. 3. Damit ist der Antrag der Kreissynode Koblenz vom 5./6.11.1993 (LS 1994, Drucksache 12, Nr. 39) erledigt. Die Stellungnahme »Darf die Kirche vom Mahl des Herrn ausschließen?« lautet wie folgt: »Darf die Kirche vom Mahl des Herrn ausschließen?« I Anlass und Zusammenhang der Frage Die Landessynode hat 1996 mit dem »Kirchengesetz zur Änderung und Ergänzung der Art. 14–66 KO« die Artikel der Kirchenordnung über die »Kirchenzucht« (Art. 26–30 a.F.) und damit die Möglichkeit, vom Mahl des Herrn auszuschließen, »aufgehoben«, also ersatzlos gestrichen. Schon in der dieser Entscheidung vorangehenden Debatte wurde auf die rechtliche und theologische Komplexität des Sachverhaltes und die Tragweite eines solchen Beschlusses hingewiesen. In Konsequenz ihrer Entscheidung hat die Landessynode folglich dieser Tragweite Rechnung zu tragen, indem sie auch die damit im Zusammenhang stehenden Probleme einer Klärung zuführt und gegebenenfalls weitere Entscheidungen trifft. Die Klärung folgender Probleme steht an: 1. Welche Aufgabe hatte das kirchenleitende Instrument der »Kirchenzucht« in der Vergangenheit, und wie kann diese Aufgabe, wenn sie uns immer noch gestellt ist, erfüllt werden, obwohl sie so wie bisher nicht mehr praktikabel ist. 2. Da die Landessynode mit der Abschaffung des Instrumentes der Kirchenzucht bestimmten Aussagen in Geltung stehender reformatorischer Bekenntnisschriften nicht mehr voll entspricht (Heidelberger Katechismus Frage 82–85, Augsburgisches Bekenntnis Art. 28 und Schmalkaldische Artikel 29), muss sie auf Gründe der Heiligen Schrift hinweisen, die sie nötigen, an dieser Stelle den Aussagen der Bekenntnisschriften nicht mehr zu folgen. Sind die biblischen Argumente der Väter stichhaltig? Oder gibt es biblische Einsichten, die es der Kirche sogar verbieten, vom Mahl des Herrn auszuschließen? 3. Unbeschadet dessen, wie die Frage beantwortet wird, ob die Kirche vom Mahl des Herrn ausschließen darf, ist die Ermöglichung des zeitweiligen Entzugs von Mitgliedschaftsrechten durch die Gemeindeleitung nötig und darum die Wiedereinführung von

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rechtlichen Instrumentarien dazu geboten. Denn Regelungen über den Erwerb von Mitgliedschaftsrechten, wie z. B. die Wahl zum Presbyterium, schließen Regelungen über den Ausschluss von Mitgliedschaftsrechten denknotwendig mit ein. Die von der Landessynode 2003 beschlossene Neufassung der Kirchenordnung sieht dazu mit Art. 13,4 KO n.F. entsprechende rechtliche Regelungen vor – unabhängig von der Möglichkeit eines Ausschlusses vom Mahl des Herrn. Ein Entwurf für ein entsprechendes Kirchengesetz sollte möglichst bald zur Beschlussfassung vorgelegt werden. 4. Schließlich ist die Grundsatzfrage zu klären »Darf die Kirche vom Mahl des Herrn ausschließen?«. Und wenn diese Frage verneint wird, ist die Fragestellung zu radikalisieren: »Darf die Kirche zum Mahl des Herrn zulassen oder die Zulassung verweigern? Oder hat die Kirche in diesem Zusammenhang kein anderes Recht, als dazu einzuladen?« 5. Der unerledigte Antrag der Kreissynode Koblenz vom 5./6.11.1993 (LS 1994, Drucksache 12, Nr. 39) der darauf zielt, Formulierungen wie »die zum Abendmahl zugelassenen Gemeindeglieder« in Kirchenordnung, Presbyterwahlgesetz und anderen Kirchengesetzen aufzuheben, ist in diesem Zusammenhang mitzuberaten. Zur Klärung der angesprochenen theologischen Probleme legt der Theologische Ausschuss der Landessynode die folgende Stellungnahme vor. II Sündenvergebung im Mahl Jesus Christus gibt sich in seinem Mahl selbst. Er ist Geber und Gabe des Mahles und damit der Herr seines Mahles. In dieser Einsicht gibt es trotz vieler konfessionell bedingter Unterschiede in der Lehre vom Mahl des Herrn einen breiten ökumenischen Konsens. Die im Mahl gewährte Gemeinschaft mit dem Herrn bedeutet: Vergebung der Sünden, Stärkung von Glauben und Gemeinschaft, Vorfreude auf das Himmelreich. Sündenvergebung wird zwar ausdrücklich nur in der Überlieferung des Matthäus (26,28) erwähnt, der Sache nach gehört sie aber zu allen vier Überlieferungen der Einsetzungsworte. In der Überlieferung des Markus (14,24) und des Matthäus (26,28) wird mit der Formulierung »Blut des Bundes« auf 2. Mose 24,8 und das dort geschilderte Bundesmahl (V.11) angespielt. So wird der Tod Jesu als Bekräftigung des Sinaibundes und als Erweiterung für »die vielen« (Völker) verstanden. Damals wurde das Volk mit dem Bundesblut besprengt. Mose und die siebzig Ältesten durften daraufhin Gott schauen, ohne zu vergehen, und am Mahl mit Gott selbst teilnehmen. Diese Berechtigung spricht Jesus denen zu, die sich an seinem Tisch bewirten lassen. In der Überlieferung des Lukas (22,20) und des Paulus (1Kor 11,25) steht in diesem Zusammenhang die Formulierung »neuer Bund«. Mit dieser Anspielung auf Jer 31,31– 34 wird den Gästen am Mahl des Herrn die Verheißung des Neuen Bundes als gegenwärtige Wirklichkeit zugesprochen, zu der ausdrücklich auch die Vergebung der Sünden gehört: »Denn ich will ihnen ihre Missetat vergeben und ihrer Sünde nimmermehr gedenken« (Jer 31,34). In allen vier Überlieferungen wird mithin zum Ausdruck gebracht, dass im Mahl des Herrn die Vergebung der Sünden empfangen wird. »Und wo Vergebung der Sünden ist, da ist Leben und Seligkeit« (Martin Luther). Im Mahl des Herrn wird kein anderes Evangelium verkündigt als in der Predigt, wohl aber auf andere Weise. Was in der Predigt nur mit den Ohren zu hören ist, das empfan-

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gen die Menschen im Mahl mit allen fünf Sinnen. In der Leibhaftigkeit also liegt der Unterschied zwischen Mahl und Predigt. So sehr sich das Mahl von der Predigt dadurch unterscheidet, so wenig kann es für die Teilnahme am Mahl andere Bedingungen geben als für den Empfang der Vergebung der Sünden im Hören der Predigt. Gibt es Bedingungen für die Vergebung der Sünden in der Predigt wie im Mahl? III Bedingungslos, aber nicht folgenlos Die Sündenvergebung durch Christus ist bedingungslos, aber nicht folgenlos. Das erweist die Verwurzelung des Mahles des Herrn in den Sündermahlen des irdischen Jesus ebenso wie in den Mahlgemeinschaften mit dem Auferstandenen. 1 Jesu Tischgemeinschaft »mit Zöllnern und Sündern« ist provokativ (Mt 9,11; 11,19; Lk 15,1–2; 19,7). Er nimmt die Menschen an, wie sie sind, aber er lässt sie nicht, wie sie sind. Die Buße, die Umkehr ist nicht Bedingung der Sündenvergebung, sondern ihre »Frucht« und fröhliche Folge. Die Gäste haben nichts mitzubringen. Sie dürfen kommen, wie sie sind. Der Zuspruch der Vergebung verwandelt sie und ermöglicht ihnen die Umkehr. Das zeigen z. B. die Erzählungen von der Berufung des Levi/Matthäus (Mk 2,13–17 par.) oder des Zachäus (Lk 19,1–10). Zachäus entschließt sich erst durch die Tischgemeinschaft mit Jesus (V. 5–6) zu einem neuen Lebenswandel (V. 8). Freilich kommt die Vergebung auch erst mit der daraus folgenden Umkehr zu ihrem Ziel, so dass Jesus erst danach feststellt: »Heute ist diesem Haus Heil widerfahren« (V. 9). Und in der Erzählung von der Ehebrecherin (Joh 8,2–11) erfolgt die Aufforderung: »Gehe hin und sündige hinfort nicht mehr!« nach dem bedingungslosen Zuspruch: »So verdamme ich dich auch nicht«. Anscheinend dazu im Widerspruch steht ein Text aus der Bergpredigt, der mit dem Stichwort »Altar« gerne in den Zusammenhang mit dem Mahl des Herrn gebracht wird, als ob es zur Feier des Mahles des Herrn zur damaligen Zeit eines Altars bedurft hätte. Wenn du deine Gabe auf dem Altar opferst und dort kommt dir in den Sinn, dass dein Bruder etwas gegen dich hat, so lass dort vor dem Altar deine Gabe und geh zuerst hin und versöhne dich mit deinem Bruder und dann komm und opfere deine Gabe. (Mt 5,23–24) Die Aussage steht im Zusammenhang mit der Auslegung des Gebotes »Du sollst nicht töten!« (Mt 5,21–26), das Jesus positiv als gebotene Versöhnung mit dem Nächsten auslegt. Die Aussage setzt den Opferkult im Jerusalemer Tempel voraus. Die Parallelstelle in Markus 11,25, die Vergebungsbitte im Vaterunser (Mt 6,12) und das Gleichnis vom Schalksknecht (Mt 18,21–35) sagen das Gleiche ohne Bezug zum Tempelkult aus. An allen Stellen wird die unauflösliche Verbindung eingeschärft, die zwischen der empfangenen Vergebung durch Gott und der zu gewährenden Vergebung mit dem Nächsten besteht. Der Zusammenhang aller vier Stellen lässt aber keinen Zweifel daran, dass die unauflösliche Verbindung zwischen beidem nicht in dem Sinne ausgelegt werden darf, als sei die vorher zu leistende Versöhnung mit dem Nächsten die Bedingung für den Empfang der Versöhnung durch Gott. Und darum darf auch das »zuerst« in Matthäus 5,24 nicht als Bedingung der Vergebung gedeutet werden.

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Übereinstimmend wird vielmehr an allen vier Stellen zu einer kritischen Selbstprüfung im Zusammenhang mit der empfangenen Vergebung angeleitet, aus der gegebenenfalls ein selbstverantworteter Verzicht auf die Teilnahme am Mahl des Herrn folgen kann. Jedenfalls darf die erwartete Folge der Vergebung nicht zu ihrer Bedingung gemacht werden. Darum ist für diesen theologischen Sachverhalt der Satz Jesu in Johannes 6,37, auch wenn er in einem anderen Zusammenhang steht, eine sachgemäße Zusammenfassung: »Wer zu mir kommt, den werde ich nicht hinausstoßen«. 2 Vergebung der Sünden wird auch durch die Mahlgemeinschaften des Auferstandenen, dem Abendessen in Emmaus mit den Beiden (Lk 24,30) und dem Frühstück am See Tiberias mit den Sieben (Joh 21,13) gewährt. An den Tisch geladen werden gerade die, die Jesus in seiner Leidensgeschichte im Stich gelassen und verleugnet haben. Auch der Glaube ist hier nicht Bedingung für die Teilnahme am Mahl – jedenfalls nicht in dem Sinne, dass die Gäste den Glauben vorher aufzubringen oder zu bekennen und dann mitzubringen haben. Der Glaube entsteht vielmehr durch die gewährte Tischgemeinschaft: Die Teilnehmenden empfangen darin den Zuspruch der Gnade und Liebe Gottes. Der Auferstandene selbst öffnet ihnen die Augen für die ihnen gewährte neue Gemeinschaft mit Gott. Auch hier ist die Einladung zum Mahl bedingungslos, aber nicht folgenlos. Der Glaube ist nicht Bedingung für die Einladung, sondern deren Wirkung. 3 Die Bedingungslosigkeit kommt auch in der Universalität des in der Mahlgemeinschaft durch Jesus geschenkten Heils zum Ausdruck. Diese Universalität wird im Blick auf Israel durch die Zwölfzahl ausgedrückt. Dass Jesus die Zwölf als Repräsentanten des Gottesvolkes auswählt und mit ihnen zusammen das letzte Mahl feiert, bringt die Hoffnung auf die Wiederherstellung des Zwölf-Stämme-Volkes, also das Heil für ganz Israel zum Ausdruck. Und mit dem »für viele« (Mk 14,24) in den sog. Deuteworten zum Mahl des Herrn wird die Universalität im Blick auf die Völker ausgedrückt. Das Stichwort ist aus Jes 53 aufgenommen. Hier wie da ist es nicht exklusiv (viele, aber nicht alle), sondern inklusiv gemeint (die vielen, nicht nur die zum Gottesvolk Gehörenden) und muss darum sachgemäß mit »für alle« übersetzt werden, wie es 1Tim 2,6 richtig tut (vgl. Röm 8,32), und als universale Fülle der Völker verstanden werden. 4 Dass Jesus den Verräter Judas nicht vom Mahl ausschließt, ist nicht nur daran zu erkennen, dass betont erzählt wird, Jesus habe mit den Zwölf, also unter Einschluss des Judas, das letzte Mahl gefeiert (Mk 14,20 par.). Die Ansage des Verrats wird vielmehr demonstrativ mit der Tischgemeinschaft verbunden: »der mit mir isst, wird mich verraten« (Mk 14,18 par.), oder noch pointierter: »der mit mir seinen Bissen in die Schüssel taucht« (V. 20 par.). Der Umstand, dass die Teilnahme des Judas an dieser Mahlgemeinschaft ihn nicht zur Umkehr und zum Abweichen von seiner Verratsabsicht bewegt, führt dazu, dass Jesus über ihm ausruft: »Weh dem Menschen, durch den der Menschensohn verraten wird! Es

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wäre für diesen Menschen besser, wenn er nie geboren wäre« (V. 21). So sehr aber die verweigerte Umkehr vor den himmlischen Richter führt, so wenig führt sie zum Ausschluss von der Mahlgemeinschaft. Was für die Person des Judas angesichts seiner aktiven Mitwirkung am Tod Jesu besonders drastisch erscheint, gilt natürlich auch für die übrigen Elf. Auch wer Jesus verleugnet, ihn im Stich lässt und flieht, wird an ihm schuldig. Obwohl der Gastgeber darum weiß, lädt er gerade diese Menschen, die so unmittelbar in die Schuld an seinem Tod verstrickt sind, an seinen Tisch. Provokativer kann die Bedingungslosigkeit der Einladung zum Mahl des Herrn kaum ausgedrückt werden. IV Die Leitung der Mahlfeier Anders als bei den Sündermahlen, bei Jesu Abschiedsmahl und bei den Mahlzeiten mit dem Auferstandenen ist bei der Feier des Mahles des Herrn durch die Gemeinde der Platz des Gastgebers unbesetzt. Das heißt nicht, dass der Gastgeber abwesend ist. Aber seine Präsenz hat eine andere Gestalt bekommen. Ein Gast hat jetzt die Feier des Mahles des Herrn zu leiten. Das ist eine in zweifacher Hinsicht neue Situation, deren theologische Tragweite oft unterschätzt wird. 1 Neu ist die Situation zum einen im Blick auf die Teilnahme. War bei den Mahlzeiten des irdischen Jesus wie des Auferstandenen von selber klar, wer hier wozu einlädt und worauf sich die einlassen, die der Einladung folgen, so bedarf es bei der Feier des Mahles des Herrn durch die Gemeinde einer besonderen Vermittlung. Das Mahl redet nicht unmittelbar von selbst – im Unterschied zu den Mahlfeiern, bei denen der auferstandene Jesus selber das Brot gebrochen hat. Das also ist neu: Für die Teilnahme an diesen Mahlfeiern gibt es eine Voraussetzung (wenn auch keine Bedingung). Dass ein Mensch, »der von diesem Brot isst und aus diesem Kelch trinkt«, »den Tod des Herrn verkündigt, bis dass er kommt«, dass ihm die Sünden vergeben werden, dass er teilhat am »Neuen Bund« und an der »Gemeinschaft des Leibes Christi« ... – das alles versteht sich nicht von selbst. Das alles nehmen nur die wahr, die bereits auf dem Weg der Christusnachfolge mindestens erste Schritte getan haben. Die Voraussetzung für die Teilnahme ist die den je eigenen Möglichkeiten entsprechende Fähigkeit, wahrzunehmen und zu empfangen, was uns geschenkt wird, wenn in diesem Mahl Jesus Christus sich selbst gibt. Das meint nicht ein kognitiv abzurufendes Elementarwissen über den Glauben. Denn selbstverständlich können auch sterbende oder altersverwirrte Menschen oder solche mit schweren geistigen Behinderungen auf ihre je eigene Weise wahrnehmen, was uns Christus in seinem Mahl schenkt. Das Mahl des Herrn ist also unabdingbar bezogen auf die Verkündigung – in Predigt, Unterricht und Seelsorge und setzt voraus, dass die, die eingeladen werden, erwarten, dass sie darin dem lebendigen Christus begegnen, also (im elementaren Sinne) glauben. Wahrscheinlich wurde diese Voraussetzung für die Teilnahme am Mahl des Herrn, schon in der Urkirche daran festgemacht, dass die am Mahl des Herrn Teilnehmenden getauft waren. Das ist im Neuen Testament an keiner Stelle ausdrücklich so formuliert. Den-

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noch kann davon ausgegangen werden, dass von Anfang an die Taufe die grundlegende Voraussetzung für die Teilnahme am Mahl des Herrn gewesen ist, weil es sich von selbst verstand. Der Wunsch, getauft zu werden, ist die erste Reaktion auf die Verkündigung des Evangeliums (Apg 2,4; 8,36), während das Mahl des Herrn in der durch die Taufe konstituierten Gemeinde gefeiert wird (2,42). Während wir einmal am Anfang in den Leib Christi hineingetauft werden (1Kor 12,13), kommunizieren wir mit ihm lebenslang im Mahl (10,16–17). Die Taufe markiert Gottes unwiderrufliche Entscheidung, also den Anfang des Weges, auf dem Menschen Christus nachfolgen, und ist darum unwiederholbar. Das Mahl markiert Gottes kontinuierliche Zuwendung auf dem durch unsere Brechungen gekennzeichneten Weg unserer Nachfolge und ist darum so etwas wie eine Wegzehrung, deren wir immer neu bedürfen. Von diesen biblischen Einsichten her ist eine evangelische Ordnung zu gestalten, mit der die Einladung zum Mahl des Herrn geregelt wird. Freilich dürfen diese damals selbstverständlichen Voraussetzungen nicht zu Zulassungsbedingungen pervertiert werden, die gesetzlich gehandhabt werden und damit alles verderben. 2 Neu ist die Situation zum anderen im Blick auf die Leitung der Mahlfeier. Dass es dafür eines besonderen Amtes bedurft hätte, lässt das Neue Testament an keiner Stelle erkennen – im Unterschied zu anderen Aufgaben, für die es schon in ältester Zeit Ämter gegeben hat (z.B. Apostel, Propheten. Lehrer, Heiler usw., 1Kor 12,28 u.ö.). Ein Amt zur Leitung der Mahlfeier wie überhaupt des Gottesdienstes hat es in neutestamentlicher Zeit offensichtlich nicht gegeben. Vielleicht kommt schon darin ein Gespür dafür zum Ausdruck, dass die Leitung der Mahlfeier dadurch gefährdet ist, dass der Gast, der die Mahlfeier leitet, sich die Rolle des Gastgebers anmaßen könnte oder sein Leitungshandeln beim Mahl mindestens in diese Richtung hin missdeutet oder missverstanden werden kann. Wenn Geber und Gabe des Mahles der Herr ist, dann haben die Gäste, die die Mahlfeier leiten, vor allem darauf zu achten, dass sie dem Gastgeber den Platz freihalten. Wenn sie stellvertretend handeln, ersetzen sie den Gastgeber nicht. Sie haben auf eine für alle Gäste unmissverständliche Weise dem Herrn und seinem Tun Raum zu geben, damit alle Gäste unbeeinträchtigt durch diejenigen, die eine Mahlfeier leiten, mit dem Gastgeber, dem Herrn des Mahles, direkt »kommunizieren« können. Verantwortliche und angemessene Leitung des Mahles ist darauf bedacht, dass mit der Leitungsfunktion nicht die Rolle des Gastgebers usurpiert wird und so in die Souveränität des Herrn des Mahles eingegriffen wird. Wenn aber schon der Gastgeber bei seinen Mahlfeiern nach dem Grundsatz verfährt »Wer zu mir kommt, den werde ich nicht hinausstoßen« (Joh 6,37), um wie viel mehr ist es dann den Gästen, die die Mahlfeier leiten, verboten, andere Gäste vom Mahl des Herrn auszuschließen! So dient die Leitung der Mahlfeier der Konstituierung der Gemeinschaft mit dem Gastgeber und der Gäste untereinander (koinonia).

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V Selbstprüfung »Gemeinschaft des Leibes Christi« – das ist die doppeldeutige Formulierung, mit der Paulus diese Unmittelbarkeit zwischen dem Gastgeber und seinen Gästen zum Ausdruck bringt. Wer mit dem Gastgeber Christus, der sich selbst mit seinem Leib gibt, kommuniziert, ist selber Teil des Leibes Christi. Das Brot, das wir brechen, ist das nicht die Gemeinschaft des Leibes Christi? Denn ein Brot ist’s: So sind wir viele ein Leib, weil wir alle an einem Brot teilhaben (1Kor 10,16–17). Der Apostel schärft ein, dass die Gemeinschaft der Gäste unabdingbar zum Mahl des Herrn gehört. Beides nennt er »Leib Christi«. Das Mahl des Herrn stiftet die Gemeinschaft mit dem Leib Christi. Und das heißt zugespitzt: die Gemeinschaft mit dem Gastgeber und zugleich die Gemeinschaft der Gäste untereinander, das eine nicht ohne das andere. 1 Was zu tun ist, wenn es zu Störungen der »Gemeinschaft des Leibes Christi« kommt, zeigen die Aussagen des Paulus in 1. Korintherbrief 11,27–34: Wer nun unwürdig (besser: unangemessen) von dem Brot isst oder aus dem Kelch des Herrn trinkt, der wird schuldig sein am Leib und Blut des Herrn. Der Mensch prüfe aber sich selbst, und so esse er von diesem Brot und trinke aus diesem Kelch. Denn wer so isst und trinkt, dass er den Leib des Herrn nicht achtet, der isst und trinkt sich selber zum Gericht. Darum sind auch viele Schwache und Kranke unter euch, und nicht wenige sind entschlafen. Wenn wir uns selber richteten, so würden wir nicht gerichtet. Wenn wir aber von dem Herrn gerichtet werden, so werden wir gezüchtigt, damit wir nicht samt der Welt verdammt werden. Darum, meine lieben Brüder, wenn ihr zusammenkommt, um zu essen, so wartet auf- (besser: bewirtet) einander. Hat jemand Hunger, so esse er daheim, damit ihr nicht zum Gericht zusammenkommt. Paulus rät der Gemeinde in Korinth, dass jede und jeder sich selbst prüfe, ob die Teilnahme am Mahl des Herrn etwa »unangemessen« sei, weil er oder sie »den Leib nicht achte« (1Kor 11,27–29), also meine, der »Leib Christi« könne empfangen werden ohne Rücksicht auf die anderen, die zum »Leib Christi« gehören. Damit geht Paulus auf aktuelle Missstände in der Gemeinde von Korinth ein, die wir aus dem Brief des Paulus erschließen können. Vorausgesetzt ist, dass die Feier des Mahles des Herrn mit einer Sättigungsmahlzeit verbunden ist, zu der alle, mindestens die Wohlhabenden, etwas mitbringen, das dann miteinander geteilt wird. Die Gäste am Tisch des Herrn haben auch »einander zu bewirten« (V. 33), also Verantwortung dafür, dass alle satt werden. In Korinth hatte das dazu geführt, dass die einen schlemmten und sich betranken, während die anderen hungerten (V. 21). Statt das »Mahl des Herrn« (V. 20) zu feiern, hielten einige ihr »privates Mahl« (V. 21). Das aber führte zur Spaltung am Tisch des Herrn (V. 18–19). Die Starken und Reichen schlossen die Schwachen und Armen faktisch aus. 2 Nun werden auch die, die andere ausgrenzen und damit »die Gemeinschaft des Leibes Christi« stören, keineswegs mit Ausschluss vom Mahl bedroht. Sie werden vielmehr vor den Herrn des Mahles gestellt, d. h. ihnen wird eingeschärft, dass der Gastgeber, der

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ihnen seine Gemeinschaft gewährt und dadurch die Sünden vergibt, zugleich ihr Richter ist, vor dem sie Rechenschaft abzulegen haben. Weil der himmlische Richter der einzige ist, dem ein definitives Urteil über Menschen zusteht, ist Menschen jedes definitive Urteil über Menschen verwehrt. Wohl ist Erziehung (Luther: »Züchtigung«, »Zucht«) nötig, die gegenseitige Ermutigung wie Kritik bedeutet. Sie geschieht dann richtig, wenn sie dem Urteil Christi, des souveränen Herrn, Raum gibt. Die »Zucht« ist dann missbraucht, wenn sie dem Urteil Christi, des souveränen Herrn, vorgreift. Wenn denn die, »die von diesem Brot essen und aus diesem Kelch trinken, den Tod des Herrn verkündigen, bis dass er kommt« (V. 26), dann werden sie mit dem Empfang der durch seinen Tod erwirkten Vergebung der Sünden zugleich vor den Richterstuhl dessen gestellt, der kommt, und damit seinem Urteil unterstellt (»... der isst und trinkt sich selber zum Gericht«, V. 29). So wenig es im Mahl des Herrn eine Gnade gibt, die zuvor durch religiöse oder moralische Leistungen verdient werden muss, so wenig gibt es hier unwirksame, folgenlose, »billige Gnade«. 3 Was getan werden muss, ist, diesen theologischen Sachverhalt so deutlich wie möglich werden zu lassen, damit es zu einer verantwortlichen Selbstprüfung und gegebenenfalls zu einem selbstgefassten Entschluss zum zeitweiligen Verzicht auf die Teilnahme am Mahl des Herrn kommen kann. Diesen Doppelaspekt der Verkündigung des Evangeliums – weder moralisierend-gesetzlich noch verkürzt auf »billige Gnade« – zur Geltung zu bringen, ist aber keine Aufgabe der kirchlichen Gesetzgebung, sondern der kirchlichen Verkündigung, die in Predigt, Liturgie, Unterricht und Seelsorge geschieht. So wird dem biblisch-reformatorischen Grundsatz »Ohne Gewalt, nur durchs Wort« (sine vi sed verbo) Rechnung getragen. Die Verkündigung zielt auf eine angemessene Selbstprüfung, deren Ergebnis ein selbstverantworteter Entschluss zum zeitweiligen Verzicht sein kann, aber nicht muss. Verzicht auf die Teilnahme am Mahl des Herrn kann ja auch Ausdruck menschlichen Hochmutes sein, der sich den Zuspruch des Evangeliums nicht gefallen lässt, sondern in selbstbezogenem Trotz verharrt nach dem Motto »Ich bin’s nicht wert«. Die Reformatoren sahen darin das Selbstverständnis des »in sich verkrümmten Menschen« (homo in se incurvatus) beschrieben, dessen Aufrichtung nur durch eine externe Zuwendung (verbum externum) und nicht durch einen Selbstentschluss möglich ist. Selbstprüfung also bleibt auf den Zuspruch von außen angewiesen. Bei Paulus ist die Selbstprüfung an die Gemeinschaft derer gebunden, die das Mahl des Herrn miteinander feiern. Folglich heißt die Leitfrage bei ihm nicht: »Bin ich würdig?«, sondern: »Feiern wir das Mahl des Herrn würdig, nämlich dementsprechend, dass wir miteinander der Leib des Herrn sind?« VI Abgrenzung und Ausschluss anderer Das gleiche theologische Anliegen wie im Blick auf die Selbstprüfung findet sich auch in Texten, in denen es um Abgrenzung und Ausschluss anderer geht, auch wenn ein Zusammenhang mit dem Mahl des Herrn nur in einigen Texten erkennbar ist. Dabei folgt Paulus dem, was er grundsätzlich über das »Richten« schreibt:

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Der Herr ist's aber, der mich richtet. Darum richtet nicht vor der Zeit, bis der Herr kommt, der auch ans Licht bringen wird, was im Finstern verborgen ist, und wird das Trachten der Herzen offenbar machen. Dann wird einem jeden von Gott sein Lob zuteil werden. (1Kor 4,4–5) 1 Das gilt selbst für das harte Urteil des Paulus über den Mann, der mit einer Frau in unerlaubter Beziehung zusammenlebt (1Kor 5). In wörtlicher Aufnahme des alttestamentlichen Gebotes, die zu töten, die das Volk Gottes zum Götzendienst verführen, sagt Paulus: »Ihr sollt den Bösen aus eurer Mitte verstoßen!« (V. 2.13) und »Dieser Mensch soll dem Satan übergeben werden zum Verderben des Fleisches« (V. 5). Seine Aufforderung zielt aber letztlich darauf, dass »der Geist gerettet werde am Tag des Herrn« (V. 5). Das gilt auch für die aus diesem Einzelfall entwickelte allgemeine Aufforderung: »Ihr sollt nichts mit einem zu schaffen haben, der sich Bruder nennen lässt und ist ein Unzüchtiger oder ein Habgieriger oder ein Götzendiener oder ein Lästerer oder ein Trunkenbold oder ein Räuber; mit so einem sollt ihr auch nicht essen!« (V. 11). Paulus fürchtet, dass solches Verhalten Schule machen und um sich greifen könnte – wie Sauerteig im Mehl – und damit das Evangelium verdunkelt wird, das nicht nur Zuspruch, sondern auch Anspruch bedeutet. In aller Schärfe wird der Anspruch des Evangeliums aufgerichtet, ohne dass der Zuspruch des Evangeliums damit an die Bedingung geknüpft würde, seinen Anspruch zu erfüllen. Der Zuspruch des Evangeliums bleibt bedingungslos. Der Ernst des Anspruchs des Evangeliums wird auch durch die am Ende des Briefes zitierte »Fluchformel« unterstrichen: »Wenn jemand den Herrn nicht lieb hat, der sei verflucht!« (16,22). Die wahrscheinlich zur Feier des Herrenmahls gehörende Formel ist keine Aufforderung zur Exkommunikation, sondern Anleitung zur Selbstprüfung. Sie stellt die am Tisch des Herrn Versammelten vor den kommenden Richter, der nicht zufällig unmittelbar danach geradezu herbeigerufen wird: »Maranatha, unser Herr, komm!« In gleicher Weise argumentiert Paulus im Blick auf diejenigen in Korinth, die bedenkenund rücksichtslos das Fleisch essen, das im Götzentempel geschlachtet wurde (10,14–22). Die Aussage »Ihr könnt nicht zugleich am Tisch des Herrn teilhaben und am Tisch der bösen Geister« (V. 21) ist – anders als ihre jahrhundertlange Auslegung – gerade keine Aufforderung zur Exkommunikation, sondern eine Einladung, sich der Kraft auszusetzen, die am Tisch des Herrn zu empfangen ist. Es ist die Kraft der Umkehr, die zur Trennung von »den bösen Geistern« (in welcher Gestalt auch immer) befähigt. Die Frage, auf die die Argumentation zuläuft (»Sind wir stärker als er?«), ist natürlich eine rhetorische, die zu der Einsicht führen soll: Der Herr, der mir in seinem Mahl begegnet, ist allemal stärker als ich in meinen Bindungen. »Durch ihn widerfährt uns frohe Befreiung aus den gottlosen Bindungen dieser Welt zu freiem, dankbarem Dienst an seinen Geschöpfen.« (Barmen II). Gerade Paulus rechnet mit der verändernden Kraft des im Mahl zu empfangenden Evangeliums. Abgrenzungen und Trennungen sind von Anfang an innerhalb der christlichen Gemeinde unvermeidlich, Kritik ist nötig. Zu fragen aber bleibt, ob bei aller scharfen Kritik von Menschen an Menschen dem Urteil des kommenden Richters Jesus Christus vorgegriffen oder Raum gegeben wird.

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Nur wer die Texte aus dem 1. Korintherbrief ohne den Zusammenhang mit den Sätzen in 4,4–5 liest, wird daraus folgern können, die Kirche habe das Recht, Menschen in eigener Verantwortung zu exkommunizieren. 2 Relativierung des eigenen Urteils ist leitend auch für die sog. Gemeindeordnung, mit der Konfliktfälle zwischen einzelnen in der Gemeinde geregelt werden sollen: Sündigt aber dein Bruder an dir, so geh hin und weise ihn zurecht zwischen dir und ihm allein. Hört er auf dich, so hast du deinen Bruder gewonnen. Hört er nicht auf dich, so nimm noch einen oder zwei zu dir, damit jede Sache durch den Mund von zwei oder drei Zeugen bestätigt werde. Hört er auf die nicht, so sage es der Gemeinde. Hört er auch auf die Gemeinde nicht, so sei er für dich wie ein Heide und Zöllner (Mt 18,14–16). Für das Problem der Kirchenzucht trägt dieser Text schon deshalb nichts aus, weil es in ihm gar nicht um allgemeine Fehlhaltungen oder Vergehen geht, sondern um Regelungen in Konfliktfällen zwischen einzelnen, wie gleich der erste Satz zeigt: »Sündigt aber dein Bruder an dir«. In solchen bilateralen Konflikten soll das eigene Urteil zunächst durch das von zwei oder drei anderen und schließlich durch das der Vollversammlung der Gemeinde relativiert werden. Ziel solchen Tuns ist es, »den Bruder zu gewinnen«. Misslingt der Verständigungsversuch, so steht am Ende nicht der Ausschluss aus der Gemeinde. Vielmehr wird der einzelne, wenn er das alles getan hat, von den Verpflichtungen der Geschwisterschaft entbunden, Verständigung mit dem Bruder zu suchen. Am Ende darf er den anderen »wie einen Heiden oder Zöllner« ansehen. Das aber gerade sind die Bezeichnungen für die Adressaten der Gnade und Güte Gottes. Ein definitives Urteil also wird nicht über den gefällt, der sich den Entscheidungen der Gemeinde entzieht. Was Paulus mit dem doppelten Vorbehalt (»Ist’s möglich, soviel an euch liegt«) gegenüber seiner Mahnung »Habt mit allen Menschen Frieden« (Röm 12,18) ausspricht, wird hier konkretisiert: Tut, was ihr könnt! Aber was ihr könnt, hat Grenzen. Eure Aufgabe ist nicht unendlich, und darum überfordert euch nicht! Dass dieser Text vor allem in der reformierten Tradition biblizistisch wie ein Leitfaden für die »Kirchenzucht« gelesen wurde, wird dem Text also schwerlich gerecht. 3 Die Erweiterung des Gleichnisses vom großen Gastmahl im Matthäusevangelium um die Szene, in der erzählt wird, wie der Gastgeber einen Gast wegen dessen Kleidung, die dem Fest nicht angemessen ist, vom Mahl ausschließt (22,11–14), lieferte der Kirche immer wieder Argumente dafür, Menschen wegen ihres unangemessenen Verhaltens vom Mahl des Herrn auszuschließen. Aber auch dieser Text folgt der gleichen Argumentationsstruktur, die bei Paulus zu erkennen ist. Dass das Urteil des Gastgebers den Gast überrascht, erweist die Souveränität des himmlischen Gastgebers, die alles menschliche Richten, auch die Selbstbeurteilung relativiert. Das Festmahl ist in diesem Gleichnis Metapher für das endzeitliche himmlische Freudenmahl, die erwartete innige Gottesgemeinschaft. Die Einladung dazu ergeht bedingungs-, aber nicht folgenlos. Sie stellt diejenigen, die ihr folgen, vor den himmli-

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schen Richter und sein souveränes Urteil. Ob die Eingeladenen sich der Einladung gegenüber angemessen oder unangemessen verhalten, entscheidet allein der Herr, der Gastgeber. 4 Mit diesem Kriterium sind die zahlreichen sog. Ketzerpolemiken im Neuen Testament (vgl. z. B. 2Thess 2,1–12) kritisch zu lesen. Zu fragen bleibt bei jedem einzelnen Text, ob bei aller scharfen Kritik von Menschen an Menschen dem Urteil des kommenden Richters Jesus Christus vorgegriffen oder Raum gegeben wird. Innerbiblische Sachkritik, die sich an diesem Kriterium orientiert, ist in diesem Zusammenhang unumgänglich. Hier wird deutlich, dass solche Texte nicht nur den zeitweiligen Ausschluss einzelner aus der Gemeinde im Blick haben, sondern Trennungen zwischen verschiedenen mehr oder weniger großen Gruppen. Die Herausbildung von Kirchen verschiedener Traditionen beginnt bereits im Neuen Testament. Dass mit solchen Trennungen auch getrennte Feiern des Mahles des Herrn verbunden waren, versteht sich von selbst. Das ist die bis heute dauernde Realität getrennter Kirchen. Wenn Menschen mit ihren Abgrenzungen und Trennungen dem Urteil des kommenden Richters Raum geben, dann sind sie sich des Risikos bewusst, dass mit der Abgrenzung gegenüber anderen auch der Selbstausschluss von der Gemeinschaft mit dem Herrn der Kirche verbunden sein könnte. Wer Ketzer ist, wird sich erst am Ende herausstellen. Schon deshalb müssen Abgrenzungen und Trennungen innerhalb der christlichen Gemeinde unter dem Vorbehalt der Vorläufigkeit stehen. Von ihrem Wesen her drängen Trennungen auf Überwindung. Wenn Menschen sie gegenwärtig nicht überwinden können, leiden sie an solchen Trennungen mit Recht. Jedenfalls dürfen sie sich damit nicht einfach abfinden. VII Die Verknüpfung mit der Kirchendisziplin Erst nach der Entstehung des Neuen Testaments ist das Mahl des Herrn mit der Kirchendisziplin verknüpft worden. Damit wurde aus der universalen Einladung des Herrn an seinen Tisch die eingeschränkte und reglementierte Zulassung zum Tisch des Herrn durch die Kirche. Und mit der Ordnung für eine geregelte Zulassung war dann natürlich auch die Möglichkeit sowohl der Verweigerung der Zulassung zum Mahl wie die des Ausschlusses vom Mahl gegeben. 1 Begründet wurde diese Praxis mit dem »Amt der Schlüssel«, das sich auf drei miteinander verwandte Bibelstellen bezieht und an dem verständlicherweise besonders der Römische Episkopat interessiert war: »Ich will dir (Petrus) die Schlüssel des Himmelreiches geben: alles, was du auf Erden binden wirst, soll auch im Himmel gebunden sein, und alles, was du auf Erden lösen wirst, soll auch im Himmel gelöst sein.« (Mt 16,19) »Was ihr (Jünger/Jüngerinnen Jesu) auf Erden binden werdet, soll auch im Himmel gebunden sein, und was ihr auf Erden lösen werdet, soll auch im Himmel gelöst sein.« (Mt 18,18) »Nehmt hin den Heiligen Geist! Welchen ihr die Sünden erlasst, denen sind sie erlassen; und welchen ihr sie behaltet, denen sind sie behalten.« (Joh 20,22–23)

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Diese dreifache Zusage Jesu an seine Nachfolger und Nachfolgerinnen ermächtigt sie zur Verkündigung des Evangeliums. Dabei ist der Doppelaspekt des Evangeliums betont. Ja und Nein, Stärkung und Mahnung. Ausgelegt aber wurden diese Texte als Ermächtigung von Papst und Bischöfen zu kirchlicher Jurisdiktion. Damit aber bestand die Gefahr, die Zusage Jesu losgelöst von ihm, dem Autor solcher Ermächtigung, zu verstehen und dementsprechend zu missbrauchen. Die Ermächtigung zu funktionaler Stellvertretung wurde zu einer eigenmächtigen personalen Stellvertretung. So wurde die kirchliche Bußpraxis zum Machtinstrument von Kirchenleitungen, mit dem sie, statt dem Urteil Christi Raum zu geben, ihm vorgegriffen haben. 2 Das aber ist durchaus auch eine protestantische und gegenwärtige Gefährdung. Die – in den Ostkirchen unbekannte – Verknüpfung von Kirchendisziplin und Mahl des Herrn in der katholischen Kirche des Mittelalters haben die reformatorischen Kirchen zunächst dahingehend reformiert, dass sie von rein weltlichen Aspekten befreit wurde. Sofern in den Bekenntnisschriften das »Amt der Schlüssel« mit dem Mahl des Herrn verknüpft blieb (Heidelberger Katechismus, Frage 82, Schmalkaldische Artikel 29), bestand die Gefahr, die im Mahl zu empfangende Sündenvergebung an vorher zu erbringende religiöse und moralische Leistungen zu binden. Die Gemeindeleitung bekommt das Recht, darüber zu urteilen, ob diese Leistungen erbracht oder verweigert werden, um aufgrund dessen über Zulassung oder Ausschluss vom Mahl des Herrn zu entscheiden. Damit bestand die Gefahr einer Verrechtlichung der Verkündigung des Evangeliums. Statt der Kraft des Wortes Gottes zu trauen, wurde auf menschliche Jurisdiktion gesetzt. Demgegenüber haben die Reformatoren mit Berufung auf die Heilige Schrift im Grundsatz festgehalten: »Gewalt der Schlüssel ... übt und treibet man allein mit der Lehre und Predigt Gottes Worts und mit Handreichung der Sakramente ...« (Augsburgisches Bekenntnis XXVIII). »Wenn aber von den ›Schlüsseln‹ die Rede ist, so müssen wir uns immerzu in Acht nehmen, nur gar nicht zu träumen, dass sei eine von der Verkündigung des Evangeliums getrennte Gewalt ... seine (des Amtes der Schlüssel) ganze Kraft beruht darauf, dass die Gnade des Evangeliums durch die Menschen, die der Herr dazu verordnet hat, in den Herzen der Gläubigen öffentlich und in Sonderheit versiegelt wird – und das kann ausschließlich durch die Predigt geschehen« (Calvin, Institutio IV, 4, 14). Die Moralisierung des Mahls des Herrn und des darin sichtbar werdenden Evangeliums wurde durch lutherische und reformierte Kirchenordnungen gefördert. Die Zulassung zum Abendmahl als Mittel religiöser und sozialer Disziplinierung war lange selbstverständlich. Sie muss heute aber als missbräuchlich und theologisch wie seelsorglich falsch angesehen werden. 3 Die reformatorischen Bekenntnisschriften sind als »norma normata« durch die Gemeinde an der Heiligen Schrift als »norma normans« stets neu zu prüfen. Daher entsteht in dieser Frage für die Landessynode Handlungsbedarf. Die Einsicht der Heiligen Schrift, dass die »guten Werke« nicht die Voraussetzung der Sündenvergebung, sondern ihre »Frucht«

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und fröhliche Folge sind, ist gegen eine jahrhundertelange Praxis der eingeschränkten und reglementierten Zulassung der Kirche zum Tisch des Herrn zur Geltung zu bringen. Die in den Bekenntnisschriften vorgenommene Verknüpfung von Kirchenzucht und Abendmahlszulassung kann zudem gelöst werden, ohne die substanziellen Aussagen über die Teilnahme am Abendmahl zu gefährden. Zu der der Kirche aufgetragenen »rechten Verwaltung der Sakramente« (»recte administrantur«, Confessio Augustana VII) gehört primär die deutliche Verkündigung des Herrn, der sich uns im Mahl schenkt und zugleich vor sein Angesicht stellt. Statt Bedingungen aufzustellen für die Zulassung zum Mahl des Herrn, ist das Mahl des Herrn liturgisch so zu gestalten und in Predigt, Unterricht und Seelsorge dafür Sorge zu tragen, dass wieder beide Aspekte der Teilnahme am Mahl des Herrn kräftig und unmissverständlich deutlich werden: Jesus Christus, der Herr, lädt alle zu seinem Mahl, wie sie sind, aber er lässt sie nicht, wie sie sind. Die verändernde Kraft der uneingeschränkten Einladung soll ebenso wie ihre befreiende Kraft zum Zuge kommen. 4 Entgegen manchen Missverständnissen ist festzuhalten, dass prinzipiell und schon immer die »Kirchenzucht« sich als eine pädagogisch-seelsorgliche Maßnahme verstanden hat, die auf Umkehr und Erneuerung, nicht auf den Ausschluss von Gemeindegliedern zielte. Nur wenn im Laufe des Verfahrens Umkehr und Erneuerung nicht eintraten, konnte es als letzter Maßnahme zum Ausschluss vom Mahl des Herrn kommen. Auch diese »letzte Maßnahme« war immer eine pädagogisch-seelsorgliche und hatte darum einen vorläufigen Charakter. Der Ausschluss vom Mahl des Herrn war zwar mit dem zeitweiligen Entzug der Mitgliedschaftsrechte verbunden, er war aber nicht ein Ausschluss aus der Kirche. Die Leitung der Gemeinde hatte vielmehr eine besondere Verantwortung für die Gemeindeglieder, die vom Mahl des Herrn ausgeschlossen worden waren. Grundsätzlich ist zu fragen, ob das Anliegen des Instrumentes der Kirchenzucht überhaupt durch rechtliche Regelungen aufgenommen werden kann. Gehört es nicht generell in den Bereich seelsorglicher Begleitung, – einer Seelsorge, die nicht nur Ja sagt, sondern auch Nein, die Menschen nicht nur bestärkt, sondern auch ermahnt? Am Thema »Kirchenzucht« ist weiter zu arbeiten. Nachbemerkung Unbeschadet der hier vorgelegten grundsätzlichen theologischen Überlegungen kann es gelegentlich in besonderen Situationen durchaus zum Ausschluss von einer einzelnen Mahlfeier der Gemeinde kommen. Denkbar sind z. B. provokative Störungen oder Versuche, die Mahlfeier (z. B. für kirchenpolitische oder allgemeinpolitische Zwecke) zu instrumentalisieren. Dabei handelt es sich aber immer um ungewöhnliche Ausnahmesituationen. Auch sind Situationen vorstellbar, in denen es überhaupt unmöglich wird, das Mahl des Herrn zu feiern. Gelegentlich kann die Absage oder der Abbruch der Mahlfeier die angemessenere Weise sein, auf eine problematische Situation zu reagieren, weil auch hier nach dem Grundsatz »Ohne Gewalt, nur durchs Wort« zu verfahren ist.

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Ein solches situatives Verhalten des Presbyteriums oder derer, die die Mahlfeier leiten, steht nicht im Widerspruch zur theologisch überlegten und begründeten Absage an jeglichen Ausschluss vom Mahl des Herrn. VIII Aufgaben 1. Lehrgespräche mit anderen Kirchen führen Nachdem die Kirchenordnung der Evangelischen Kirche im Rheinland diesen Einsichten Rechnung getragen hat und 1996 entsprechend verändert worden ist, sind Gespräche mit anderen uns verbundenen Kirchen zu führen – mit dem Ziel, zu einer theologischen Verständigung zu kommen und entsprechende Schlüsse daraus zu ziehen. Die Landessynode beauftragt die Kirchenleitung damit. 2. Einschlägige rechtliche Regelungen überprüfen a) Taufe als »grundlegende Voraussetzung für die Teilnahme am Abendmahl«? Die Kirchenordnung der Evangelischen Kirche im Rheinland formuliert zu Recht in Artikel 25,1 a.F. (74,1 n.F.): »Grundlegende Voraussetzung für die Teilnahme am Abendmahl ist die Taufe.« Unbeschadet dieses nicht in Frage zu stellenden Grundsatzes sollten die Empfehlungen der Vollversammlung der Leuenberger Kirchengemeinschaft aufgenommen und bekräftigt werden: Bei der Einladung zum Mahl des Herrn einen Hinweis zu geben »auf die Voraussetzung der Taufe und Kirchenmitgliedschaft, der dann den Gang zum Abendmahl in die Verantwortung des einzelnen stellt«. »In besonderen Fällen und Situationen ist eine Entscheidung in pastoraler Verantwortung zu treffen«. Bedarf es dazu rechtlicher Regelungen? b) »Zulassung zum Abendmahl«? Wenn in unserer Kirche wieder die universale Einladung des Herrn an seinen Tisch Geltung finden soll statt einer eingeschränkten und reglementierten Zulassung der Kirche zum Tisch des Herrn, dann müssen Ordnung und Agende der Konfirmation geändert werden. Dabei ist das Gespräch mit anderen Kirchen, insbesondere mit den in der Union Evangelischer Kirchen, der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Leuenberger Kirchengemeinschaft mit uns verbundenen Kirchen darüber zu suchen. An die Stelle der »Zulassung zum Abendmahl« hat die »Verleihung der uneingeschränkten Mitgliedschaftsrechte zu treten. Das gilt neben der Konfirmation auch für die Taufe von Religionsmündigen, Wiedereintritt und Übertritt. Dementsprechend sind die Kirchenordnung, das Presbyterwahlgesetz so wie andere Kirchengesetze daraufhin zu prüfen, ob – diesen Erkenntnissen entsprechend und in Konsequenz der Entscheidung der Landessynode von 1996 – Formulierungen geändert werden müssen (z. B. »die zum Abendmahl zugelassenen Gemeindeglieder«). Damit wird den o. g. Anträgen der Kreissynoden Koblenz und Jülich Rechnung getragen. Im Blick auf die Teilnahme von Kindern am Mahl des Herrn sind auf der Grundlage des Kirchengesetzes über die Teilnahme nichtkonfirmierter Kinder am heiligen Abendmahl vom 10.1.1986 weitergehende Beratungen nötig.

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3. In der gemeindlichen Praxis den theologischen Einsichten entsprechen Wie wird das Mahl des Herrn heilig gehalten? Das war die berechtigte Sorge der Väter und Mütter, die »Kirchenzucht« ein- und durchgeführt haben. Wenn das Heilige den Heiligen zukommt, muss es zu deren Heiligung führen. Das war ihre richtige Überzeugung. Darin stimmen wir mit ihnen überein, wenn wir als Fazit unserer biblischen Erkenntnisse formulieren: Jesus Christus, der Herr, lädt alle zu seinem Mahl, wie sie sind, aber er lässt sie nicht, wie sie sind. Die verändernde Kraft der uneingeschränkten Einladung soll ebenso wie ihre befreiende Kraft zum Zuge kommen. Ohne den Gefahren einer gesetzlichen Moralisierung zu verfallen, sind die Kosten der Nachfolge Jesu vor Augen zu führen, ist deutlich zu machen, dass mit dem Zuspruch der Vergebung aller unserer Sünden Gottes kräftiger Anspruch auf unser ganzes Leben verbunden ist, dass mit der am Tisch des Herrn zu erfahrenen Entlastung zugleich eine Beauftragung und Verpflichtung gegeben ist, dass der Gastgeber auch der Richter ist, vor dem wir uns zu verantworten haben. Das Mahl des Herrn ist liturgisch so zu gestalten, dass wieder diese beiden Aspekte kräftig und unmissverständlich deutlich werden. In den letzten Jahrzehnten waren die Bemühungen um eine liturgische Neugestaltung vor allem auf den Aspekt der befreienden Kraft der uneingeschränkten Einladung gerichtet. Diese sind fortzusetzen und weiterzuentwickeln. Heute und in Zukunft ist wieder stärker der Aspekt der verändernden Kraft der uneingeschränkten Einladung zu betonen. Die Anrufung des Heiligen Geistes (Epiklese), der Austausch des Friedensgrußes sowie eschatologische Maranatha-Gesänge sind Versuche, diesen Gesichtspunkten in der liturgischen Gestaltung der Mahlfeier Rechnung zu tragen. Darüber hinaus ergeben sich für Verkündigung, Unterricht und Seelsorge folgende Perspektiven und Fragestellungen: Die Verkündigung (besonders in Abendmahlsgottesdiensten) sollte den Zusammenhang von Zuspruch und Anspruch stärker thematisieren. Das gilt auch für Unterrichtsentwürfe zur Einführung in das Mahl des Herrn und zu seinem besseren Verständnis. Auch für die Feier des Mahles des Herrn mit Kindern sind weitere Arbeitshilfen zu erstellen, die den beiden Aspekten Rechnung tragen. Auch Kinder sollen sowohl die befreiende als auch die verändernde Kraft des Mahles des Herrn, die Freude wie den Ernst erfahren. Schließlich ist zu fragen: Wie kann unter diesen Gesichtspunkten eine verantwortliche »Selbstprüfung« aussehen – jenseits von Moralismus und billiger Gnade? Wie ist diese Selbstprüfung angemessen seelsorglich zu begleiten? Wie geschieht seelsorgliche Begleitung von Menschen, deren Mitgliedschaftsrechte auf Beschluss des Presbyteriums nach Art. 13.4 KO n.F. ruhen? Die Kirchenleitung wird gebeten, diese Gesichtspunkte in einem Begleitschreiben an die Gemeinden, Ämter, Werke und Einrichtungen der Evangelischen Kirche im Rheinland hervorzuheben und dazu einzuladen, sich mit der Stellungnahme des Theologischen Ausschusses auseinanderzusetzen.

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4. Eucharistische Gastfreundschaft bekräftigen Auf der Grundlage eines gemeinsamen Verständnisses von Evangelium, Taufe und Abendmahl stellen die reformatorischen Signatarkirchen in der Leuenberger Konkordie von 1973 fest: »Sie gewähren einander Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft. Das schließt die gegenseitige Anerkennung der Ordination und die Ermöglichung der Interzelebration ein« (Z. 33). In den folgenden Jahrzehnten ist es aufgrund vergleichbarer Verständigungsprozesse zu Vereinbarungen über Abendmahlsgemeinschaft mit der Evangelisch-methodistischen Kirche (1987), der Arbeitsgemeinschaft Mennonitischer Gemeinden in Deutschland (1996) und den Vereinigten Kirchen in den USA und Kanada (1997) gekommen. Mit anderen Kirchen, mit denen das theologische Gespräch (noch) nicht zur Aufnahme von Kirchengemeinschaft geführt hat, sind dennoch Vereinbarungen über eine grundsätzliche gegenseitige Einladung zur Teilnahme an der Eucharistie getroffen worden. Das ist zwischen der EKD und dem Katholischen Bistum der Altkatholiken in Deutschland 1985 geschehen und 1988 in der Meissener Erklärung zwischen dem Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR, der EKD und der Kirche von England. Im Blick auf die römisch-katholische Kirche hat die Landessynode der Evangelischen Kirche im Rheinland bereits vor 30 Jahren in einem Beschluss vom 11. Januar 1973 der Universalität der Einladung zum Herrenmahl Rechnung getragen und erklärt: »Solange noch keine Einigung erzielt ist, soll in der Evangelischen Kirche im Rheinland niemand vom Abendmahl zurückgewiesen werden, der in seiner Kirche im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes getauft und zum Abendmahl zugelassen ist, sofern er sich nicht durch Ordnungen seiner Kirche daran gehindert weiß.« Diese offene Haltung ist inzwischen in der Kirchenordnung der Evangelischen Kirche im Rheinland verankert: »Mitglieder von Kirchen, mit denen Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft besteht, (sind) ebenfalls zur Teilnahme am Abendmahl berechtigt, Mitglieder anderer christlicher Kirchen zum Abendmahl eingeladen.« (Art. 74 Abs. 3 n.F.) 1996 hat die Evangelischen Kirche im Rheinland mit dem Erzbistum Köln und vier weiteren Bistümern eine »Vereinbarung ... zur gegenseitigen Anerkennung der Taufe« geschlossen, in der es heißt: »Als Anfang und Ausgangspunkt des Christseins ist sie hingeordnet auf das einmütige Bekenntnis des Glaubens und auf die eucharistische Gemeinschaft im Herrenmahl«. Ähnlich hat sich die VELKD bereits 1975 »in besonderen Fällen« für eine wechselseitige Teilnahme am Abendmahl zwischen evangelischen und römisch-katholischen Christen ausgesprochen. Diese Auffassung ist kürzlich von der »Kundgebung« der EKD-Synode »Eins in Christus. Kirchen unterwegs zu mehr Gemeinschaft« am 9.11.2000 bekräftigt worden: »Das bisher Erreichte ermöglicht es nach unserer Überzeugung schon jetzt, dass die evangelischen Kirchen und die römisch-katholische Kirche einander zur Teilnahme am Heiligen Abendmahl einladen. Die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland bekräftigt diese Einladung und hofft, dass beim Ökumenischen Kirchentag in Berlin 2003 in diesem Sinne ökumenische Zeichen gesetzt werden können.« Ende Mai hat in Berlin der erste bundesweite ökumenische Kirchentag stattgefunden, der nach Jahrhunderten des Streits erstmals offiziell und öffentlich mehrere hundert Tausend Glieder von evangelischen, katholischen, orthodoxen und anderen Kirchen zusammengeführt hat. Wir schließen uns der Resolution an, die dort am 30. Mai von mehreren Tausend Menschen so gut wie einstimmig verabschiedet worden ist:

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»Resolution: Die Zeit ist reif für eucharistische Gastfreundschaft. Wir Teilnehmende am Gesprächsforum »Ein Glaube – eine Taufe – getrennt beim Abendmahl?« sind der Überzeugung: Eucharistische Gastfreundschaft ist theologisch möglich und sollte deshalb als Zeichen schon bestehender Kirchengemeinschaft in ökumenischen Zusammenhängen auch jetzt schon praktiziert werden. Deshalb bitten wir die evangelischen Kirchen und besonders ihre Leitungen, häufiger und regelmäßig das Abendmahl zu feiern mit einer trinitarisch gestalteten Liturgie und einem sorgfältigen Umgang mit den Elementen Brot und Wein. Wir bitten die römisch-katholische Kirche und besonders ihre Bischöfe und Priester, im Sinne der »geistlichen Bedürfnisse« (vgl. Enzyklika über die Eucharistie, Z. 45) eucharistische Gastfreundschaft Angehörigen konfessionsverbindender Familien zu gewähren und anderen getauften Christen in besonderen ökumenischen Zusammenhängen – wie z. B. langjährigen ökumenischen Gruppen, lokalen ökumenischen Ereignissen und ökumenischen Kirchentagen. Wir bitten alle in der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen (ACK) verbundenen Kirchen und besonders ihre Leitungen, ihre Gottesdienste für Angehörige anderer Kirchen zu öffnen, soweit wie möglich Gelegenheiten zur gemeinsamen Feier der Eucharistie – wie z. B. nach der Lima-Liturgie – zu schaffen und konkrete Vorschläge für ermutigende Zwischenschritte auf dem Weg zur vollen Abendmahls-/Eucharistiegemeinschaft zu unterbreiten.«∗



In: H.-G. Link, Berlin 2003. Streiflichter vom ersten ökumenischen Kirchentag, Köln 2003.

V.5 Landessynode 2005

Auszug aus dem Bericht über die für die Kirche bedeutsamen Ereignisse∗ Präses Nikolaus Schneider 2.5 Gemeinschaft mit Schwestern und Brüdern der anderen christlichen Konfessionen Im schriftlichen Teil seines Berichtes vor der Synode der EKD in Magdeburg Anfang November hat der Ratsvorsitzende, Bischof Huber, die Beziehungen zur römischkatholischen Kirche, wie ich finde, zutreffend bewertet, indem er betonte, es ließen sich weder Verunsicherung noch Neuorientierung auf beiden Seiten völlig leugnen, um dann fortzufahren: »Die ökumenische ›Sturm- und Drangzeit‹, in der viel erreicht wurde, ist vorbei. Substantielle Unterschiede treten deutlicher hervor. ... Beide Kirchen stehen vor der Aufgabe, sich der jeweils anderen zu öffnen und die eigene Identität zu formulieren. So lässt sich die derzeitige ökumenische Gesprächssituation weniger als ›Abkühlung‹, sondern eher als eine Phase der Klarheit charakterisieren.« Zur Klarheit gehören auch Ent-Täuschungen im direkten Sinn des Wortes. Zu nennen ist die enttäuschende Ablehnung des Pfingstmontags als »Tag der Einheit« durch die Vollversammlung der deutschen Bischofskonferenz auf ihrer Frühjahrstagung Anfang März 2004 in Bergisch-Gladbach. Im Jahre 2001 war dieser Vorschlag gerade vom Zentralkomitee der Deutschen Katholiken im Laufe der Vorbereitungen auf den Ökumenischen Kirchentag in Berlin 2003 in seinem von sehr vielen evangelischen und katholischen Christen begrüßten Text »Ermutigung zur Ökumene« gemacht worden. Ferner beobachten wir seit Jahren eine sich ausweitende Marienfrömmigkeit und Mariologie. Deutlich wurde das nicht zuletzt bei dem feierlichen Gedenken an die Verkündigung des Dogmas von der unbefleckten Empfängnis Mariens vor 150 Jahren durch Papst Pius IX. Mit ihr begann 1854 das sogenannte marianische Jahrhundert. Die neuen Mariendogmen des 19. und 20. Jahrhunderts sind nach wie vor für evangelische Christen fremd und befremdlich. Von evangelischer Seite hat die EKD-Schrift zum Verständnis des Abendmahles Unterschiede zum römisch-katholischen Eucharistieverständnis so deutlich herausgearbeitet, dass auch diese Veröffentlichung zu Enttäuschungen führte. Zu nennen ist sicher auch der letztjährige Beschluss unserer Synode zum Abendmahl als Mittel der Kirchenzucht. ∗

Protokoll der Landessynode 2005, S. 112f.

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Freuen möchte ich mich aber vor allem über die vielen Bereiche, in denen die ökumenische Zusammenarbeit mit der römisch-katholischen Kirche reibungslos verläuft und durch gemeinsames Auftreten auch sehr effektiv ist. Dabei denke ich an das gemeinsame Eintreten für eine kinderfreundliche Familienpolitik in unserem Land. Gemeinsam war es möglich, in den Bundesländern für unsere Belange in Sachen Kindertagesstätten, Schulen, Jugendarbeit, Beratungsstellen und Arbeit für und mit Migrantinnen und Migranten einzutreten. Schließlich danke ich allen Kirchengemeinden, engagierten ökumenischen Gruppen und Kreisen, die das Bemühen um Verständigung und Einheit im Leibe Christi zu ihrer Sache gemacht haben. Mit Herzblut bemühen sie sich um eine Klarheit, die dem Partner gegenüber Respekt und Offenheit zum Ausdruck bringt und vor dem Herrn der Kirche bestehen kann. Dazu gehört auch, dass der Abschluss von Partnerschaftsverträgen zwischen evangelischen und römisch-katholischen Kirchengemeinden nach wie vor zu vermelden ist. Dankbar bin ich für die auf allen Ebenen langjährige und verlässliche Gemeinschaft mit der griechisch-orthodoxen Kirche, mit der eine unkomplizierte Zusammenarbeit möglich ist. Wir freuen uns über das geschwisterliche Miteinander mit den Landeskirchlichen Gemeinschaften und den Freikirchen. Die dort ablaufenden Klärungsprozesse führen hoffentlich zu einem weiteren, verlässlichen und vertrauensvollen gemeinsamen Dienst. Es ist Ausdruck eines vertrauten und vertrauensvollen Miteinanders, dass die Altkatholische Gemeinde in Bonn – ebenso wie die freie Gemeinde – ganz selbstverständlich und kostenfrei ihre Räumlichkeiten zur Durchführung unseres Bonner Presbytertages zur Verfügung stellt. Sorge bereitet hingegen die Zukunft der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen, nachdem die EKD weitere Kürzungen des Etats vollzogen hat, so dass die Arbeitsfähigkeit dieser von Orthodoxie, Freikirchen, Deutscher Bischofskonferenz (DBK) und EKD getragenen Einrichtung gefährdet erscheint. Diese Gemeinschaft und Arbeitsbasis für gemeinsames Zeugnis und gemeinsamen Dienst ist eine wichtige ökumenische Realität in unserem Land, die zu erhalten uns wichtig bleiben muss.

V.6 Landessynode 2006

Auszug aus dem Bericht über die für die Kirche bedeutsamen Ereignisse∗ Präses Nikolaus Schneider 1.3 Theologische Überlegungen zu den Leitbildern für das ökumenische Gespräch zwischen evangelischer Kirche und römisch-katholischer Kirche Im August des vergangenen Jahres fand in Köln der XX. Weltjugendtag statt, ein beeindruckendes Gemeinschaftserlebnis römisch-katholischer Jugendlicher aus aller Welt, an dessen Veranstaltungen auch zahlreiche evangelische Jugendliche teilgenommen haben. Viele evangelische Gemeinden haben dabei ihre Gastfreundschaft erwiesen. Beim Papstbesuch in Köln kam es auch zu einer Begegnung mit Vertretern anderer christlicher Kirchen. Sie war im Rahmen der ihr vorgegebenen Grenzen inhaltlich gehaltvoll und von wechselseitiger Offenheit geprägt. Der Ratsvorsitzende Bischof Huber sprach sich in seiner Begrüßungsrede für eine »Ökumene der Profile« aus, welche die »Wahrnehmung der erreichten Nähe und der bleibenden Unterschiedlichkeit« gleichermaßen zu bedenken habe. Er benannte dann drei gemeinsame Zukunftsaufgaben, die auch ich für wesentlich halte: – die Verpflichtung zur Weitergabe des Evangeliums an die nächste Generation, – die kirchliche Beheimatung der Menschen in konfessionsverbindenden Ehen, – die gemeinsame Zuwendung zur Botschaft der Bibel. Papst Benedikt XVI. betonte in seiner Antwort, für ihn habe die Wiedererlangung der vollen sichtbaren Einheit der Christen »Priorität«. Einheit der Kirche meine nicht Rückkehrökumene, sondern Einheit in der Vielfalt und Vielfalt in der Einheit. Diese Begegnung am 19. August war noch kein ökumenischer Durchbruch, vor allem nicht in Bezug auf das gemeinsame Abendmahl in konfessionsverbindenden Ehen und in ökumenischen Gottesdiensten. Wohl aber war diese Begegnung eine Vergewisserung auf dem gewundenen und steinigen Weg der Ökumene, zu dem es nach dem Willen des Herrn der Kirche keine Alternative gibt. Identität und Differenz, Differenz und Verständigung, Verständigung und Gemeinschaft – das sind die Leitworte einer »Ökumene der Profile«, die wir gegenwärtig anstreben und mit Leben zu füllen versuchen. Bischof Huber und Kardinal Lehmann sind nach Düsseldorf eingeladen, um weitere Klärungen in diesen Fragen zu erreichen.



Protokoll der Landessynode 2006, S. 48–50.

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Wie steinig dieser Weg immer noch ist, zeigte sich wenig später bei der geplanten Revision der »Einheitsübersetzung«. Die Einheitsübersetzung der Bibel ist ursprünglich eine rein katholische Übersetzung der Bibel für die Bistümer des gesamten deutschen Sprachraums – daher auch der Name. Für die Psalmen und das Neue Testament beteiligte sich auf Bitten der Deutschen Bischofskonferenz auch der Rat der EKD an dem Werk. Nun stand eine Revision an und die Bischofskonferenz hat den Rat der EKD eingeladen, sich auch daran zu beteiligen. Er war auch durchaus dazu bereit. Es stellte sich aber im Laufe der Gespräche heraus, dass die römisch-katholische Seite sich an die Vorgaben der 2001 in Rom herausgegebenen Instruktion »Liturgiam authenticam« gebunden sah. Sie bestimmt, nach welchen Kriterien die biblischen Bücher zu übersetzen sind. In einigen wesentlichen Abschnitten stehen sie im Widerspruch zu evangelischen Grundüberzeugungen. So wird z. B. gefordert, dass die Übersetzung »mit der gesunden Lehre der Kirche« übereinstimmen müsse. Auch darf kein »Wortschatz oder ein Stil« übernommen werden, »den das katholische Volk mit dem Sprachgebrauch nichtkatholischer kirchlicher Gemeinschaften oder anderer Religionen verwechseln könnte, damit dadurch nicht Verwirrung und Ärgernis entsteht.« Und schließlich sollen nicht die hebräischen, aramäischen und griechischen Grundtexte der Bibel, wie sie die Wissenschaft bis heute erarbeitet hat, bestimmend sein, sondern die lateinische Übersetzung der Vulgata, die für die römisch-katholische Kirche bei allen Streitfragen das letzte Wort hat. Hatte bisher bei der Einheitsübersetzung noch das Konsensprinzip gegolten, d. h. keine Seite konnte die andere in strittigen Fragen überstimmen, so sollte es bei der Revision nur mehr das Bemühen um Konsens geben, was bedeuten würde, dass römisch-katholische Mehrheitsentscheidungen auf der Grundlage der römischen Instruktion nicht auszuschließen sind und die evangelische Seite binden würden. Dies machte eine evangelische Mitarbeit an dem neuen Übersetzungswerk unmöglich, was der Rat der EKD ausdrücklich bedauert. Im engeren Bereich unserer Landeskirche gibt es erfreuliche Entwicklungen. Die Zahl der von der Landessynode 2001 empfohlenen Partnerschaftsvereinbarungen zwischen evangelischen Kirchengemeinden und römisch-katholischen Pfarrgemeinden tendiert mittlerweile gegen 40, und es sind weitere im Gespräch. Am 26. November haben Kardinal Meisner und ich in St. Aposteln in Köln mit einer ökumenischen Adventsvesper den Beginn des neuen Kirchenjahres gefeiert. Es ist beabsichtigt, mit der ökumenischen Vesper eine Tradition zu begründen und künftig jährlich am Vorabend zum 1. Advent und zum 1. Fastensonntag einen solchen Gottesdienst abzuhalten. Am 26. März 1996 wurde in Düsseldorf die »Vereinbarung zwischen der Evangelischen Kirche im Rheinland und dem Erzbistum Köln sowie den Bistümern Aachen, Essen, Münster und Trier zur gegenseitigen Anerkennung der Taufe« unterzeichnet. Absicht dieser Übereinkunft war und ist es, die in Christus gegebene Einheit in der Taufe deutlicher zum Ausdruck zu bringen und Unstimmigkeiten über den gültigen Vollzug der Taufe möglichst auszuschließen. Diese Absicht hat sich im Laufe der vergangenen zehn Jahre erfüllt. Die Vereinbarung hat darüber hinaus dazu geführt, dass sich zwischen unseren Kirchen eine geistliche Verbundenheit entwickelt hat, die auch bei bleibenden Unterschieden und Irritationen eine vertrauensvolle Zusammenarbeit ermöglicht. Dies ist ein Anlass zu Dankbarkeit und Freude.

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Deshalb wollen Kardinal Meisner und ich am 4. März im Altenberger Dom mit einem festlichen Taufgedächtnisgottesdienst an die Unterzeichnung erinnern. Dem Gottesdienst wird ein Symposium zu dem Thema »Ihr sollt meine Zeugen sein – die Taufe als Tor zu einem gemeinsamen Leben in Christus« vorangehen. Ebenfalls vor zehn Jahren fand im Bistum Trier die Wallfahrt zum Heiligen Rock statt. Sie stand unter dem Leitwort »Mit Jesus Christus auf dem Weg«. Damals unterzeichneten Bischof Spital und Präses Beier einen Brief an die Gemeinden, in dem sie ihre gemeinsame Überzeugung so formulierten: »Christus selbst ist mit uns auf dem Weg und deshalb verbindet uns heute schon mehr, als uns trennt. Dies schließt ein, dass beide Kirchen sich ihrem Glaubenserbe verpflichtet fühlen. Daher sind die weiteren Schritte auf dem Weg zur Kirchengemeinschaft stets im Lichte der jeweiligen Glaubenstradition mit zu bedenken, an die wir gebunden bleiben, bis die Einigung gereift ist.« Nichts anderes meine ich, wenn ich von einer »Ökumene der Profile« rede. Den Verantwortlichen der Ökumene-Abteilung danke ich für ihre nachhaltige Arbeit an diesen Fragen.

V.7 Landessynode 2007

Auszug aus dem Bericht über die für die Kirche bedeutsamen Ereignisse∗ Präses Nikolaus Schneider II. Ökumene »Die auf den Herren harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden.« (Jes 40,31) Das Wort Gottes ist kräftig und gibt uns neue Kraft. Jesus vergleicht das Reich Gottes mit einem Senfkorn, dem kleinsten unter allen Samenkörnern, das aber dann zu einem großen und mächtigen Baum heranwächst, der allen Vögeln unter dem Himmel Wohnung bietet (Mt 13,31–33). Leider finden wir unsere ökumenischen Bemühungen und Beziehungen häufig nicht in diesem Bild wieder. Wir machen nur zu oft die deprimierende Erfahrung, dass aus erfolgversprechenden Ansätzen nur mickrige Pflänzchen erwachsen. Wie oft mussten und müssen wir unsere Träume, Hoffnungen und Erwartungen zurückschrauben und beschneiden. Wie oft möchten wir resignieren und uns auf unsere engen Grenzen, unsere Heimatgemeinden und Heimatkirchen zurückziehen. Gottes Wort aber verheißt uns neue Kraft, verleiht Flügel, lässt uns neues Wachstum erkennen. Das gilt auch für die oft festgefahren erscheinenden Gespräche und Strukturen der Ökumene. 1. Überlegungen zum Leitbegriff »Ökumene der Profile« Dieser Begriff war vom Ratsvorsitzenden der EKD beim Treffen mit Papst Benedikt XVI. anlässlich des katholischen Weltjugendtages in Köln in die ökumenische Debatte eingeführt worden. Zur Klärung des damit Gemeinten lud unsere Kirche am 29. Mai des vergangenen Jahres Bischof Professor Dr. Wolfgang Huber und Bischof Professor Dr. Dr. Karl Kardinal Lehmann zu einem Symposium nach Düsseldorf ein. Die von Bischof Huber geprägte Formel »Ökumene der Profile« zielt darauf ab, ein an den Grunderkenntnissen der Reformation geschärftes Bild von Kirche sowohl für die Selbstverständigung innerhalb der evangelischen Kirchen der EKD zu beschreiben als auch der Öffentlichkeit zu präsentieren.



Protokoll der Landessynode 2007, S. 53–59.

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Ich halte dieses Anliegen für wichtig und notwendig, nach einer langen Zeit römisch-katholischer lehramtlicher und öffentlicher Eigenprofilierung von »Dominus Iesus« bis zu den Papstbesuchen in Deutschland und einer Zeitperiode, die auch von protestantischer Selbstsäkularisierung geprägt war. Es geht Bischof Huber dabei nicht allein um intellektuelle Klärung, sondern auch um eine veränderte Haltung: In unseren Kirchen soll die Formel eine Bewegung auslösen weg von einer Einstellung, die vor allem die eigene Identität in Frage stellte und als erstes Veränderungsbereitschaft signalisierte, hin zu einem »Evangelisch aus gutem Grund«! Vor allem signalisiert die Formel, dass Unterschiede zwischen den großen christlichen Kirchen bestehen bleiben werden. Deshalb ist eine Form der ökumenischen Einheit anzustreben, die die Unterschiede nicht einebnet und gegenseitigen Respekt, Anerkennung auf Augenhöhe und damit eine Einheit in versöhnter Verschiedenheit ermöglicht. Kardinal Lehmann tritt offensichtlich für eine andere Ausrichtung des ökumenischen Gesprächs ein als das von Bischof Huber mit dem Begriff »Ökumene der Profile« Angestrebte. Er wirbt geradezu um weitere ökumenische Mobilität und fürchtet ein Verharren in eigenen Positionen. Vor allem von den Kirchenleitungen erwartet er in Anknüpfung an das mit der Erklärung zur Rechtfertigungslehre Erreichte eine Weiterarbeit an den schwierigen ökumenischen Themen, um bestehende Unterschiede weiter zu überwinden. Die Frage, ob Unterschiede bestehen bleiben werden, stellt sich ihm nicht. Die von beiden Rednern als realistisch eingeschätzten Ziele der ökumenischen Bemühungen unterscheiden sich nach meinem Eindruck an einem Punkt grundsätzlich: Bischof Huber geht von bleibenden Unterschieden aus und strebt eine sichtbare, eher symbolische Einheit an. Kardinal Lehrmann geht von der Überwindbarkeit der Unterschiede aus und strebt eine sichtbare, eher rechtliche Einheit an. Nach den Abgrenzungserfahrungen mit »Dominus Iesus«, »Ecclesia de Eucharistia« und der Verweigerung eucharistischer Gastfreundschaft selbst bei konfessionsverbindenden Ehen schätze ich – ähnlich wie Bischof Huber – die Möglichkeiten zur Überwindung der wesentlichen, kirchentrennenden Unterschiede zwischen unseren Kirchen zurzeit nicht sehr hoch ein. Um unsere ökumenische Gesprächsfähigkeit auf Augenhöhe zu stärken, scheint es mir deshalb notwendig zu sein, neu Klarheit und Vergewisserung als Kirchen der Reformation zu gewinnen. Auch der vom Rat der EKD mit dem Impulspapier »Kirche der Freiheit« angestoßene Diskussionsprozess geht in diese Richtung. Der Kongress dazu in Wittenberg am Ende dieses Monats soll immerhin eine Reformdekade einleiten, die auf die 500-Jahr-Feier der Reformation im Jahre 2017 zielt. Angesichts der oben geschilderten Problematik ist ein Wort zu Taizé zu sagen. Vor einem Jahr hatte ich in meinem Bericht im Rückblick auf den am 23. August 2005 abgehaltenen Trauergottesdienst für Frère Roger Schutz, den Gründer der Gemeinschaft von Taizé, dessen ökumenische Unausgewogenheit bedauert. Im Laufe des vergangenen Jahres habe ich gelernt, dass die Brüder der Gemeinschaft schon seit vielen Jahren in der Regel die römisch-katholische Eucharistie und kaum mehr einen evangelischen Abendmahlsgottesdienst feiern, da es für Taizé eine Sondererlaubnis gibt, nach der auch die nichtkatholischen Brüder an der Eucharistiefeier teilnehmen können. Umgekehrt bleibt den katholischen Brüdern aber eine Teilnahme am evangelischen Abendmahl verwehrt.

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Und schon 1969 verabschiedete der Bruderrat von Taizé eine Erklärung, in der es hieß, dass »auch die aus den reformatorischen Kirchen stammenden Brüder ihre Loyalität dem Papst gegenüber zum Ausdruck bringen.« Bei Frère Roger war dies Ausdruck der Überzeugung, dass die reformatorischen Kirchen ein Provisorium seien und sich fragen müssten, ob ihre Selbständigkeit angesichts der Wandlungen der römisch-katholischen Kirche noch zu Recht bestehe. Gleichzeitig hielt er an der Überzeugung fest, dass er in Gemeinschaft mit dem Papst leben wolle, ohne sich den damit verbundenen kanonischen Rechtsansprüchen zu beugen und seine eigene Identität als reformierter Pfarrer aufzugeben. Loyalität bedeutete also nicht Unterwerfung unter den Primat des Papstes. Wenn wir die ökumenische Realität von Taizé zur Kenntnis nehmen, wird damit umso deutlicher bewusst, welch theologisch schwierige ökumenische Gratwanderung dort geübt wird. Trotz dieser Schwierigkeiten sollten wir von unserer Seite alles tun, um Taizé als ökumenische Vorhut zu erhalten, zu stärken und weiterzuentwickeln. Denn die Anziehungskraft von Taizé vor allem auf junge Menschen hat nicht nachgelassen und alle Kirchen erfreuen sich bis in die Gesangbücher hinein der Impulse, die von diesem Ort in Burgund ausgehen. 2. Überlegungen zur Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) »Aus dem theologischen Konsens und der Kanzel- und Abendmahlgemeinschaft (auf der Basis der Leuenberger Konkordie) ist eine wirkliche Gemeinschaft in Zeugnis und Dienst von über 100 Kirchen in ganz Europa gewachsen. Doch lässt die hermeneutische Offenheit, die durch das Konzept von ›Gemeinschaft‹ entsteht, unterschiedliche Auffassungen zu, von einem minimalistischen Verständnis (die Konkordie als Friedensvertrag) über ein instrumentales (die Konkordie als Rahmen gemeinsamen Handelns oder als Schutz der Minderheitskirchen) oder ein konfessionalistisches (die Konkordie als Bund evangelischer Kirchen) bis hin zum maximalistischen Verständnis der Gemeinschaft als ›einer Kirche‹.« So die bisherige Präsidentin der GEKE, Professorin Elisabeth Parmentier, zu Beginn ihres Berichts auf der 6. Vollversammlung der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa – Leuenberger Kirchengemeinschaft, vom 12. bis 18. September 2006 in Budapest. Der Schlussbericht der Vollversammlung dokumentiert, dass die von Präses Beier 1992 in Budapest vorgetragene Vision einer synodalen Gemeinschaft, die nach dem Maße ihrer theologischen Übereinstimmung auch in ihrer Ordnung immer verbindlichere Gestalt annimmt, der Wirklichkeit ein gutes Stück nähergekommen ist. Aus der Mitte des gemeinsamen gottesdienstlichen Lebens und vertieft durch die Lehrgespräche über »Gestalt und Gestaltung protestantischer Kirchen in einem sich verändernden Europa« ist es zu einer Verbindlichkeit gekommen, die dem Präsidium und dem Rat der GEKE ermöglicht, die protestantische Stimme in Europa und darüber hinaus autoritativer als zuvor zu Gehör zu bringen. Die Regionalgruppen, darunter auch die von der Evangelischen Kirche im Rheinland koordinierte Nordwest-Gruppe, sind aufgerufen, diese verbindliche Gemeinschaft im Alltag zu erden. Dazu kann die von der Vollversammlung verabschiedete Projektstudie »Evangelisch evangelisieren« beitragen, ebenso aber auch die weiteren theologischen Lehrgespräche

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über »Amt, Ordination und Episkopé nach evangelischem Verständnis« und über »Schrift – Bekenntnis – Kirche«. Die in Auftrag gegebenen Lehrgespräche zeigen, dass wir noch einen weiten Weg gehen müssen, um uns nicht nur in der Ökumene ekklesiologisch deutlich zu positionieren, sondern uns vor allem erst einmal inner-protestantisch über die Bedeutung konfessioneller Identität und des damit einhergehenden Verständnisses von Amt und Kirchenleitung zu einigen. Nach wie vor herrscht in dieser Hinsicht eine tiefe Kluft zwischen den lutherischen Kirchen, insbesondere Skandinaviens, und den uniert und reformiert geprägten Kirchen West-, Süd- und Südost-Europas, deren Position in der GEKE vor allem von der Protestantse Kerk in Nederland und unserer Kirche artikuliert wird. Eine engere Kooperation wird auch mit baptistischen Gemeinden empfohlen, nachdem die Gespräche mit der Europäischen Baptistischen Föderation über »Den Anfang des christlichen Lebens und das Wesen der Kirche« Annäherungen im Taufverständnis eröffnet haben, die die reformatorischen Lehrverurteilungen gegenstandslos machen könnten. Dieses Dokument hat es nämlich vermieden, sich auf die Frage nach der Priorität von Taufe oder Glaubensentscheidung zu fokussieren, sondern versucht, »die verschiedenen Formen der Taufe an verschiedenen Punkten innerhalb eines gemeinsam verstandenen Prozesses der christlichen Initiation einzuordnen.« (S. 50, Ziffer 10) Und es fügt hinzu: »Auch wenn die meisten Baptisten die Säuglingstaufe sicherlich als unangemessen betrachten, könnten sie ihre Gültigkeit nicht ausdrücklich in Frage stellen und in diesen Fällen für die Aufnahme in die baptistische Gemeinde nur ein Bekenntnis des Glaubens verlangen, das den Weg der christlichen Initiation vollständig macht.« (S. 51, Ziffer 11) Also: nicht anerkennen im strengen Sinn, aber gelten lassen! Diese Erklärung scheint mir eine tragfähige Basis für weitergehende Gespräche auch unserer Kirche mit unseren baptistischen Partnerinnen zu sein. 3. Überlegungen zum Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK) Die 9. Vollversammlung des ÖRK in Porto Alegre ist in den Medien nur wenig wahrgenommen worden. Ihre geräuschlose Abwicklung und ihre konfliktfreie Arbeit unter dem Gebets-Motto »Gott, in deiner Gnade verwandle die Welt« führten zu dem Eindruck einer »Ökumene der leisen Töne«. Nach den Auseinandersetzungen um die Mitarbeit der orthodoxen Kirchen bei der 8. Vollversammlung in Harare 1998 ging es nun darum, die in einer Sonderkommission erarbeiteten Vereinbarungen über deren Mitarbeit praktisch umzusetzen. Die Verständigung auf entweder konfessionelle oder interkonfessionelle Andachten stellte die Beteiligung der orthodoxen Kirchen sicher und machte diese zugleich sichtbar. Die Entscheidungsfindung mittels Konsensverfahren trug dazu bei, Meinungsbildung sowohl im Blick auf verhandelte Themen wie auch zum inhaltlichen Ablauf einer Sitzung deutlich zu machen, Minderheiten-Positionen auszudrücken oder auch abweichende Meinungen zu Protokoll zu geben. Die Zeit, in der man um theologische Positionen gerungen hat, scheint vorbei zu sein. Der frühere Generalsekretär Konrad Raiser beschreibt die heutige ökumenische Bewegung als »eine Zeit der Pilgerreise des ganzen Volkes Gottes«, also als einen im Wesentlichen geistlichen Vorgang. Man kann den Eindruck einer Ökumene der unterschiedlichen Geschwindigkeiten in verschiedenen konfessionellen Zügen gewinnen, so dass die Bedeutung der konfessionellen Weltbünde zunimmt – was ich ausdrücklich bedauere!

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Leider sind die Fragen von Taufe, Abendmahl und Amt nicht weitergekommen, die Vorschläge des Generalsekretärs Sam Kobia, sich auf ein gemeinsames Osterdatum aller Kirchen zu einigen und die Taufe gegenseitig offiziell anzuerkennen, wurden nicht aufgegriffen. Im Bereich des gemeinsamen Dienstes in der Welt wurden wesentliche Beschlüsse gefasst: zur Schutzpflicht, zu Terrorismus, Terrorismusbekämpfung und Menschenrechten, zur Reform der Vereinten Nationen, zur Abschaffung der Atomwaffen, zur wirtschaftlichen Gerechtigkeit. Hinsichtlich der wirtschaftlichen Globalisierung wird ein Paradigmenwechsel von ihrer Gestaltung im Interesse der starken Wirtschaftsnationen hin zu einer »alternativen Globalisierung im Dienst von Menschen und Erde« gefordert. Für den ÖRK stellt sich die zusätzliche Aufgabe, die Kirchen des Südens mit ihren Erfahrungen von Unterdrückung und Ausbeutung und die Kirchen des Nordens, die zumindest indirekt von der Globalisierung profitieren, beieinander zu halten. Aus Porto Alegre wurde die Frage zurückgebracht, ob oder wie der ÖRK weiterhin das privilegierte Instrument der ökumenischen Begegnung sein wird. Daher muss für die nächsten Jahre neu beraten werden, wie die Kirchen und Kirchenfamilien sich auf dem Weg zu sichtbarer Einheit angemessen organisieren und den ÖRK als gemeinsame Struktur, als zentrale Institution und als ihr Instrument nutzen. Ich trete nachdrücklich für eine Stärkung des ÖRK und die Überwindung der konfessionellen Verfestigungen zwischen den Kirchen der Reformation ein. 4. Überlegungen zur Situation unserer Partnerkirche United Church of Christ (UCC) in den USA Richard Bliese, Missionstheologe aus den USA, stellt fest, dass sein Land – in die Fänge des Säkularismus und einer großen Bandbreite von Spiritualitäten geraten – sich von »einem Licht der Völker« wieder zu einem Missionsfeld gewandelt habe. Dies hören wir auch aus unserer Partnerkirche United Church of Christ. Während sie und andere große protestantische Kirchen um Millionen Mitglieder geschrumpft sind, konnten neue religiöse Bewegungen, pfingstlerische und evangelikale Kirchen erstarken. Mit Sorge wird in der UCC ein politisches, von Konsum und Patriotismus geprägtes Klima in den USA beobachtet. Ein messianischer Imperialismus habe sich gesteigert, und die Bedrohung durch den Terrorismus werde benutzt als »andauernder Vorwand für globale militärische Hegemonie und vorbeugende Aktionen – und so für ein Reich, das sich in das messianische Weiß einer christamerikanischen Gerechtigkeit kleidet« (C. Keller, God and Power, Minneapolis 2004, S. 37.105). Nach fundamentalistischer Sicht lebt die heutige Welt im siebten und letzten Abschnitt ihrer Geschichte, in der es nach Off 16,16 zur letzten Schlacht – Armageddon – und Christi Sieg über den Satan, über das Böse kommt. Es ist auch diese endzeitliche Auffassung, welche der Rede von einer »Achse des Bösen« einen vermeintlichen Sinn und dem »Kampf gegen den Terror« einen religiösen Grund gibt. Auf der Basis dieser Ziele hat der amerikanische Präsident die protestantische Mehrheit hinter sich: Rund 90 Prozent der Evangelikalen, Wiedergeborenen (born again Christians) und Pfingstler haben ihn 2004 wiedergewählt. Bei den Zwischenwahlen des Jahres 2006 ist Präsident Bush für seine Misserfolge im Irak abgestraft worden. Nun wird sich zeigen, ob sich die Grundfärbung der amerikanischen

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Außenpolitik verändern und die Bestimmungen internationaler Konventionen wieder zu ihrem Recht kommen. Ich werde nicht müde zu fordern, die Inhaftierung von politischen Gefangenen in Guantanamo Bay und ihre Verschleppungen in Geheimgefängnisse zu beenden. Ich fordere die Anerkennung der Genfer Konvention und der entsprechenden UN-Konvention gegen die Rechtfertigung und Anwendung von Folter. Die Erosion geltenden nationalen und internationalen Rechts schafft ein Klima, das die Demokratie gefährdet und multilaterale Zusammenarbeit erschwert. Dies ist eines der ständigen Themen bei Begegnungen im Rahmen der Kirchengemeinschaft zwischen UCC und UEK. Gemeinsam sind wir auf dem Weg als Kirchen, die Gerechtigkeit wollen, damit Frieden entsteht. Wir sind dankbar, die Stimme der UCC unter für sie äußerst schwierigen Bedingungen in ihrer Gesellschaft weiterhin hören zu können – sie ist unverzichtbar für uns! 5. Überlegungen zur Situation unserer Partnerkirchen im südlichen Afrika Der Bischof unserer Partnerkirche, der Evangelisch-Lutherischen Kirche in der Republik Namibia (ELCRN), Dr. Zephania Kameeta, ermutigt alle Gemeinden seiner Kirche, sich im Kampf gegen HIV/Aids entschieden zu engagieren. Dazu gehört die Einrichtung von Test- und Beratungszentren, die Organisation von Prävention durch Aufnahme der Thematik in den Schulunterricht und in das Programm von Jugendklubs und die Aufforderung an die Kirchengemeinden, sich der Erkrankten und ihrer Familien durch häusliche Pflege und seelsorgerliche Begleitung anzunehmen. Als einzige protestantische Kirche in Namibia schließt die ELCRN – wie dort auch die römisch-katholische Kirche – den Gebrauch von Kondomen zur Vorbeugung gegen HIV/Aids nicht aus. Vorbeugung hat für Bischof Kameeta aber auch eine gesellschaftlich-strukturelle Seite: »Wir können nicht gegen HIV/Aids kämpfen, wenn wir nicht gleichzeitig auch gegen die strukturelle Armut der Menschen angehen«. Deshalb treibt er zusammen mit zahlreichen Nicht-Regierungsorganisationen in Namibia und mit großer Unterstützung der Vereinten Evangelischen Mission die BIG-Initiative voran. BIG steht für Basic Income Grant und hat zum Ziel, dass jeder Mensch in Namibia garantierte 100 Namibia Dollar (etwa zehn bis elf Euro) monatlich erhalten soll, um so wenigstens für das Lebensnotwendigste sorgen zu können. Denn noch immer haben viele Menschen in Namibia, ganz besonders Kinder, oft tagelang nichts zu essen. Und wer ständig in Sorge um fehlende Grundnahrungsmittel und Trinkwasser lebt, ist nicht in der Lage, sich wirksam gegen HIV und Aids zu schützen. Ungezählte Mädchen und Frauen werden auf den Strich geschickt, um wenigstens auf diese Weise die Finanzierung des Lebensnotwendigsten für ihre Familien sicherzustellen. Um die Arbeit im Kampf gegen HIV/Aids in Namibia und Südafrika zu unterstützen, hat die Evangelische Kirche im Rheinland vor drei Jahren zusammen mit den beiden anderen evangelischen Landeskirchen in Nordrhein-Westfalen das Projekt »Kirche und Wirtschaft gemeinsam gegen HIV & Aids« auf den Weg gebracht. Zum Ziel haben unsere Kirchen dabei, den Menschen in der am stärksten von Aids betroffenen Region der Welt nachhaltig zu helfen. Eine Pilotphase wurde in einigen deutschen Produktionsfirmen in Südafrika sowie in Gästefarmen und Lodges in Namibia gestartet. Das differenzierte Vorgehen von geschulten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern hat zu einer außergewöhnlich guten Resonanz

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geführt: Bis zu 100 Prozent der Beschäftigten lassen sich beraten, zwischen 80 und 95 Prozent machen sofort einen Aidstest und erfahren noch am selben Tag das Ergebnis. Der Kampf gegen Aids wird auch in den nächsten Jahren noch eine der größten Herausforderungen unserer Partnerkirchen bleiben. Unsere Kirche wird sich weiterhin dafür einsetzen, die Arbeit unserer Partner zu unterstützen und eigene Initiativen zu stärken und auszuweiten. Helfen Sie bitte mit, Kontakte zu weiteren Firmen in unserem Land zu knüpfen, die im südlichen Afrika engagiert sind, damit wir gemeinsam mit der heimischen Wirtschaft, die im südlichen Afrika tätig ist, das uns selber Mögliche auch tun!

V.8 Landessynode 2008

Auszug aus dem Bericht über die für die Kirche bedeutsamen Ereignisse∗ Präses Nikolaus Schneider Ökumene Am 29. April 2007 kam es zu einem besonderen Ereignis im Magdeburger Dom, der den ältesten Taufstein der Christenheit nördlich der Alpen beherbergt. Eine Erklärung zur gegenseitigen Anerkennung der Taufe wurde von vielen Kirchen evangelischer, katholischer und orthodoxer Prägung unterzeichnet. Von – der Äthiopisch-Orthodoxen Kirche in Deutschland, – der Arbeitsgemeinschaft Anglikanisch-Episkopaler Gemeinden in Deutschland, – der Armenisch-Apostolischen Kirche in Deutschland, – der Evangelisch-altreformierten Kirche in Niedersachsen, – der Evangelischen Brüder-Unität-Herrnhuter Brüdergemeine, – der Evangelischen Kirche in Deutschland, – der Evangelisch-methodistischen Kirche, – dem Katholischen Bistum der Altkatholiken in Deutschland, – der Kommission der Orthodoxen Kirchen in Deutschland, – der römisch-katholischen Kirche im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz und – der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche. Die Kirchen täuferischer Tradition wie auch einige altorientalische Kirchen (Kopten, Syrer) konnten sich nicht entscheiden, der gegenseitigen Taufanerkennung beizutreten. Leider distanzierte sich das Russisch-Orthodoxe Moskauer Patriarchat nach dem Magdeburger Festgottesdienst öffentlich von der Unterschrift und stellte fest, dass die Unterzeichnung dieses Dokuments durch Erzbischof Longin von Klin nicht im Namen der Russisch-Orthodoxen Kirche oder ihrer Diözese in Deutschland erfolgte. Es handele sich um eine persönliche Zustimmung zum Inhalt dieses Dokuments und seine eigene theologische Meinung. Zwar ist diese Reaktion aus Moskau auch durch den Vereinigungsprozess der russischorthodoxen Auslandskirche mit dem Moskauer Patriarchat bedingt. Gleichwohl können wir nur bedauern, dass die Taufe als »Band der Einheit« uns mit den o. g. Kirchen nicht in der expliziten Weise verbindet, wie es für eine ökumenische Gemeinschaft angemessen ist. ∗

Protokoll der Landessynode 2008, S. 51–55.

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Die theologische Bedeutung dieses ökumenischen Ereignisses besteht nach meiner Erkenntnis darin, dass dem Taufbefehl Jesu hier deutlich der Vorrang vor der Amtsfrage zuerkannt wurde. Die Weise, in der einzelne Kirchen die das Sakrament vollziehenden Amtsträgerinnen und Amtsträger legitimieren, war nachrangig gegenüber dem verpflichtenden und darin verbindenden Auftrag Jesu. Ich verbinde dieses Magdeburger Ereignis mit der Hoffnung, dass eine Betrachtung, die dem Auftrag und der Einladung Jesu den Vorrang vor den unterschiedlichen Amtsverständnissen einräumt, auch den Zugang zu einer ökumenischen Abendmahlsgemeinschaft erleichtern wird. »Antworten auf Fragen zu einigen Aspekten bezüglich der Lehre über die Kirche«, so hieß eine Veröffentlichung der päpstlichen Kongregation für die Glaubenslehre vom 10. Juni 2007. Das päpstliche Lehrschreiben verweigert den Kirchen der Reformation unter ausdrücklichem Hinweis auf die Erklärung »Dominus Iesus« von 2000 die Anerkennung als »Kirchen im eigentlichen Sinn« mit dem Satz: »Die kirchlichen Gemeinschaften ..., die den gültigen Episkopat und die ursprüngliche und vollständige Wirklichkeit des eucharistischen Mysteriums nicht bewahrt haben, sind nicht Kirchen im eigentlichen Sinne.« Die ökumenisch brüskierende Wirkung des Lehrschreibens der Glaubenskongregation ist vor allem dadurch bedingt, dass ihr ein tieferer Sinn für die Relativität des eigenen Standpunktes abgeht. Ziel ökumenischer Verständigung ist für diese »Antworten«, dass die in der römischen Kirche bereits vorhandene »Fülle der katholischen Kirche ... zunehmen muss in den Brüdern und Schwestern, die nicht in voller Gemeinschaft mit ihr stehen.« Wenn diese Formulierung auf eine wie immer zu organisierende »Rückkehr-Ökumene« zielt, dann ist sie nicht akzeptabel. Gleichzeitig mit der Bekanntgabe der »Antworten« veröffentlichte die Deutsche Bischofskonferenz durch ihren Vorsitzenden eine ausführliche Erläuterung zu diesem Text. Sie war von dem Bemühen geprägt, diese Erklärung in das ökumenische Gespräch zwischen der EKD und der Deutschen Bischofskonferenz einzuzeichnen. Deshalb betonte Kardinal Lehmann, dass auch diese Erklärung des Vatikans Raum dafür biete, die Kirchen der Reformation auch im theologischen Sinne als Kirchen zu verstehen. Ferner führte er aus: Der Text »… der Glaubenskongregation mag besonders in seiner Knappheit und Dichte hart erscheinen, lässt aber genügend Raum, die anderen Kirchen nicht nur moralisch, sondern theologisch als Kirchen zu achten. Der eigene Standpunkt darf nicht zu irgendeiner Überheblichkeit führen, denn durch die Spaltungen ist auch die Fülle der katholischen Kirche eingeschränkt.« Wie die Äußerung von Kardinal Lehmann eröffnet auch eine Formulierung von Kardinal Kasper Perspektiven für die weitere Arbeit: »Wenn ich nach der Erklärung ›Dominus Iesus formulierte, die protestantischen Kirchen seien Kirchen anderen Typs, so war dies nicht … ein Gegensatz zu der Formulierung der Glaubenskongregation, sondern der Versuch einer sachgemäßen Interpretation, an der ich festhalte. ›Man müsse‹ … sagen, die evangelischen Kirchen haben einfach ein anderes Kirchenverständnis und ein anderes

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Amtsverständnis. Es kann nicht gegen den Dialog sein, das zu artikulieren und dann darüber zu sprechen.« Als Reaktion evangelischer Christenmenschen auf die Veröffentlichung der »Antworten« der päpstlichen Glaubenskongregation wünsche ich mir neben der Formulierung evangelischer Betroffenheit eine stärkere Darstellung des evangelischen Kirchenverständnisses. Die Kirchen der Reformation haben zum Beispiel mit der presbyterial-synodalen Ordnung, mit der Frauenordination, mit der Fähigkeit zur Korrektur kirchlicher Traditionen und Lehrentscheidungen und mit dem Verständnis von Gemeinde als der grundlegenden Form von Kirche Unverzichtbares für die konkrete Gestalt der »einen, heiligen, allgemeinen Kirche Jesu Christi« in das ökumenische Gespräch einzubringen. Ich selber habe das evangelische Verständnis von Kirche so zum Ausdruck gebracht: »Als ›wahre Kirche‹ erweist sich eine christliche Gemeinschaft dadurch, dass sie der Gegenwart des lebendigen Herrn Jesus Christus Raum gibt, also dass Jesus Christus durch Wort und Sakrament gegenwärtig ist. Unsere Gewissheit, wahre und im Wortsinn ›katholische Kirche‹ Jesu Christi zu sein, gründet sich auf Christi Zusage, unter denen zu sein, die sich in seinem Namen versammeln. Mit Bonhoeffer gesprochen: Kirche ist ›Christus, als Gemeinde existierend‹. Und weder nach dem allgemeinen Zeugnis der Heiligen Schrift noch nach den Worten des uns in den Evangelien begegnendem Herrn Jesus Christus sind Lebendigkeit und Wahrheit der Kirche an das Weihepriestertum und die Unterordnung unter den Bischof von Rom gebunden – ›Gott sei Dank!‹« Die Dritte Europäische Ökumenische Versammlung im September 2007 in Sibiu bot die nächste Gelegenheit, über die Fragen des unterschiedlichen Kirchenverständnisses im Gespräch zu bleiben und das Bemühen um Gemeinsamkeiten in ökumenischer Verbundenheit durch Gottesdienst, Andacht und Gebet, durch gemeinsames Nachdenken und Arbeiten zum Ausdruck zu bringen. Die ökumenische Versammlung in Sibiu schloss mit konkreten Empfehlungen, von denen ich auf einige wenige besonders verweise: Es wurde angeregt, – die Zeit vom 1.9. bis zum 4.10. jeden Jahres in ökumenischer Gemeinschaft als eine Zeit des Gebetes für die Schöpfung und die Förderung eines nachhaltigen Lebensstils, möglicherweise in Verbindung mit dem Erntedankgottesdienst, zu gestalten; – die Charta Oecumenica als ökumenische Plattform für die Zusammenarbeit der Kirchen vor Ort verstärkt zur Kenntnis zu nehmen, zu studieren und zu fördern und – einen konsultativen Prozess zu Fragen der wirtschaftlichen Gerechtigkeit zwischen den Kirchen zu etablieren. Diese Hinweise nehmen die Überlegung auf, dass ökumenische Gemeinschaft nicht allein durch Lehrgespräche weitergebracht wird, sondern durch die Erfahrung geistlicher Gemeinschaft und die Übernahme z. B. von Gebeten und Gesängen anderer Tradition in den eigenen Gebrauch. Die United Church of Christ (UCC) feierte im vergangenen Jahr ihr 50-jähriges Jubiläum.

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Unsere Kirche hat viele Impulse durch die theologische Arbeit der UCC erhalten. Ich erinnere an die »Erklärung zum gerechten Frieden«, die Äußerungen zu einem globalen, gerechten Wirtschaften oder die im letzten Jahr verabschiedete Stellungnahme zur Armut. Das Nachdenken – über Besuche bei den reformierten Kirchen Ungarns und der Slowakei, – über die Wanderung auf dem Hugenottenweg von Courcelles nach Ludweiler, – über die Mitarbeit in der »Konferenz der Kirchen am Rhein« und der NordwestGruppe der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa sowie – über die grenzüberschreitende Arbeit unserer Kirche im Aachener und Saarbrücker Raum haben mir aufgrund der theologischen Prägung und geografischen Lage zwei besondere Herausforderungen unserer rheinischen Kirche erneut deutlich werden lassen: 1) die Verbindung zu den westlichen Partnerkirchen zu pflegen und dabei die evangelische Prägung des zusammenwachsenden Europas zu stärken; 2) bei der Partnerschaftsarbeit mit den kleinen evangelischen Kirchen im Osten und Süden Europas eine stärkere Gemeinsamkeit mit den Reformierten Ungarns und Frankreichs anzustreben. Dadurch würde auch die vorwiegend lutherisch ausgerichtete Partnerschafts- und Ökumenearbeit der EKD ergänzt. Vom 4. bis 7. Oktober 2007 fand unter großer Beteiligung von Gemeinden und Einrichtungen in Okahandja das Jubiläum zum 50-jährigen Bestehen der Evangelisch-Lutherischen Kirche in der Republik von Namibia (ELCRN) statt. Dabei wurde insbesondere das mutige und vorbildliche Wirken von Bischof Dr. Kameeta hervorgehoben. Er hatte verschiedentlich Machtanmaßung, Pflichtvergessenheit im sozialen Bereich und Korruption kritisiert und AIDS als ein wesentliches Arbeitsfeld der ganzen Kirche bezeichnet. Unsere Kirche war an allen vier Tagen mit eigenen Programmpunkten vertreten, u. a. mit der Vorstellung des Buches »… nicht durch Heer oder Kraft, sondern durch meinen Geist …« (Sach 4,6). Das Buch ist eine Zusammenstellung von wesentlichen Texten der Kirchen aus der Zeit der Apartheid von 1967 bis 1968 zu gesellschaftspolitischen Fragen, die von Pfarrer Gockel und Oberkirchenrat Neusel vorgenommen wurde. Die Verbundenheit mit der ELCRN wird von bleibender Bedeutung für das ökumenische Profil unserer Kirche sein. Neben der Gemeinschaft im Rahmen der VEM pflegen Landeskirche und viele Gemeinden und Kirchenkreise enge Beziehungen mit dieser Kirche, die unser eigenes Glaubenszeugnis bereichern. Die Kirchenleitung der EKiR wird in Vorbereitung der Generalversammlung der VEM zu weitreichenden Beschlüssen des Rates der VEM vom September 2007 Stellung nehmen. Sie betreffen das Leitbild und die beabsichtigte Veränderung von Satzung und Arbeitsstruktur. Das Leitbild betont die Verankerung des missionarischen Auftrages in der »missio dei« und den ganzheitlichen Charakter der Mission, also die Verbindung von Evangelisation, Diakonie, öffentlicher Parteinahme, kirchlichem Entwicklungsdienst und Partnerschaftsarbeit. Dass die Missionierenden im Prozess ihres Handelns nicht nur voneinander lernen, sondern auch durch Begegnungen mit den Menschen, denen ihr Zeugnis gilt, verändert werden, ist ein Hinweis, der auch für unsere interreligiösen Gespräche von Bedeutung ist.

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VI.1 Landessynode 2010

Auszug aus dem Bericht über die für die Kirche bedeutsamen Ereignisse∗ Präses Nikolaus Schneider 3 Weggemeinschaft in der Ökumene Durch die EKD sind wir eingebunden in die Arbeit des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) und der Konferenz Europäischer Kirchen (KEK). Weggenossen räumen einander nicht nur Steine aus dem Weg, sondern werden manchmal auch zu Stolpersteinen füreinander. Das erfahren wir gerade mit der russisch-orthodoxen Kirche. Den von ihren Vertretern vorgebrachten theologischen Argumenten gegen Frauen im Bischofsamt treten wir mit unseren aus der Heiligen Schrift gewonnenen theologischen Erkenntnissen entgegen: Gott gießt seinen Geist auch über Frauen aus, wie es der Prophet Joel und die Apostelgeschichte bezeugen (vergleiche: Joel 3,1 und Apg 2,14ff.). In Christus werden die Unterschiede zwischen Männern und Frauen nachrangig (Vergleiche: Gal 3,28). Das gilt auch für die Berufung und die Befähigung von Frauen für Leitungsämter in seiner Kirche. Auch die Entwicklungen beim ÖRK verfolgen wir mit Sorge. Nach allen Veränderungen, insbesondere den veränderten Verfahrensweisen auf Initiative der orthodoxen Kirchenfamilie, kam es zu einer handfesten Krise bei der Wahl des Generalsekretärs. Mit der Wahl des Norwegers Dr. Olav Fykse Tveit scheint nun die Voraussetzung dafür gegeben zu sein, dass der ÖRK seine Arbeit in größerer Ruhe fortführen und insbesondere die Dekade zur Überwindung der Gewalt im Jahre 2011 erfolgreich abschließen kann. Trotz aller Kritik bleibt der ÖRK unverzichtbarer Ausdruck kirchlicher Weggemeinschaft. Er kann auf die Unterstützung der rheinischen Kirche zählen. Zwei unserer bilateralen ökumenischen Beziehungen haben unseren Glauben »Gott ist in der Welt!« im letzten Jahr neu gestärkt: Mitglieder unserer Kirchenleitung haben unsere Partner-Conferences der United Church of Christ (UCC), die PennCentral und die Southern Conference sowie die Zentrale der Kirche in Cleveland besucht.



Protokoll der Landessynode 2010, S. 54–56.

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Unsere Partner haben eindrucksvolle Öffentlichkeitskampagnen – wie z. B. »Unser Glaube ist 2000 Jahre alt, unser Denken nicht« – unter der Gesamtüberschrift entwickelt: »Setze keinen Punkt, wo Gott ein Komma setzt: Gott spricht auch heute.« Gerade ihr konkretes Bekenntnis des Glaubens, dass Gott mitten in der Welt erfahrbar ist, also ihr gesellschaftliches und politisches Engagement, führt unsere Partnerkirche in Zerreißproben. Die Polarisierung Amerikas entlang der Linien Militarismus, Liberalität und Gerechtigkeit, Schutz der Umwelt und Aufbau eines funktionierenden Sozialsystems spiegelt sich in den Gemeinden wider. Die UCC verliert mehr Gemeinden, als sie neue hinzugewinnt. Deshalb wurden Initiativen zur Stabilisierung, Revitalisierung alter Traditionsgemeinden und zum Aufbau neuer Gemeinden entwickelt. Von diesen Initiativen können wir lernen, denn auch uns geht es darum, Menschen für den Glauben und für die Mitgliedschaft in den Gemeinden zu gewinnen: Missionarisch wollen wir Volkskirche sein. Nach ausführlichen Gesprächen und kurzen Verhandlungen konnte ein Partnerschaftsvertrag mit der Reformierten Kirche Ungarns unterzeichnet werden. Es wird nun darauf ankommen, den Vertragstext über die Begegnung der zuständigen »Offiziellen« unserer Kirchen hinaus mit Leben zu erfüllen, und zwar auf allen Ebenen unserer Kirche. Die Unterzeichnung des Vertrages geschah während einer Tagung der ungarischen Synode im Zusammenhang mit der Information der Synodalen über die Barmer Theologische Erklärung und dem gemeinsamen Lesen ihres Textes. Unsere Partnerkirche hat eine Kommission der Synode eingesetzt, um die Aufnahme der Erklärung in die Liste der für die Kirche geltenden Bekenntnisse vorzubereiten. Bei der Bewertung der damit angesprochenen theologischen Fragen sind wir einander sehr nahe. Dankbar habe ich wahrgenommen, dass schon einzelne rheinische Gemeinden partnerschaftliche Beziehungen zu ungarischen Gemeinden pflegen. Eine Ausweitung des Kreises solcher Gemeinden und die Bildung eines koordinierenden Arbeitskreises auf landeskirchlicher Ebene scheinen mir nun notwendig zu sein. Weggemeinschaft mit unserer römisch-katholischen Schwesterkirche pflegen wir am intensivsten zwischen den Kirchengemeinden. Wir erleben dabei nicht nur die Überwindung trennender Gräben oder gegenseitige Ermutigung und Stärkung. Wir leiden manchmal auch an einer einseitigen Profilierung auf Kosten und zu Lasten der jeweils anderen. Und manche Kirchengemeinden klagen zu Recht darüber, dass gewachsene ökumenische Traditionen wieder zurückgeschnitten werden. Eine wichtige neue Wegetappe mit unseren römisch-katholischen Glaubensgeschwistern begann im November des letzten Jahres mit der Gründung des »Ökumenischen Instituts für interreligiösen Dialog« an der Universität Trier. Hierbei handelt es sich um den seltenen Fall einer echten ökumenischen Trägerschaft. Die Anwesenheit muslimischer Vertreter und die bestehenden Kontakte zur jüdischen Gemeinde Trier lassen erwarten, dass von der Arbeit dieses Instituts kräftige Impulse zum besseren Verstehen und zu einem friedlichen Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Religionen ausgehen werden.

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Wichtig für diese Weggenossenschaft ist, dass Professor Dr. Andreas Mühling als Studierendenpfarrer Seelsorge, Lehre und Ökumene verbinden kann. Ihm und seinem Team danke ich sehr herzlich für sein erfolgreiches Wirken. Mein Dank gilt aber auch dem Bistum Trier und der Universität Trier dafür, dass sie die Gründung dieses Instituts ermöglicht haben. Dem guten ökumenischen Geist ist es auch zu verdanken, dass Bischof Ackermann und ich die gemeinsame Erklärung »Hilfe für die Schwächsten am Arbeitsmarkt« herausgeben konnten. Auf die Folgen der Wirtschafts- und Finanzkrise haben wir hingewiesen und dabei besonders das Schicksal der Zeit- und Leiharbeiter ins Auge gefasst, die als erste gekündigt werden. Es ist ein Verstoß gegen die Menschenwürde, wenn dieser Personenkreis wie eine Verfügungsmasse behandelt wird. Dass wir nicht die Hoffnung aufgeben, dass die Krise im Geist der sozialen Marktwirtschaft überwunden wird, haben wir genauso erwähnt wie das Programm »JobPerspektive«, das besonders auf Langzeitarbeitslose zugeschnitten ist. Zu den wichtigen Ereignissen für unsere Kirche zählen auch die Erfahrungen vertrauensvoller Weggemeinschaft mit Freikirchen, mit den orthodoxen Kirchen und vor allem mit den Altkatholiken. Wir sind dankbar für den partnerschaftlichen, verlässlichen und geschwisterlichen Umgang miteinander auf unserem gemeinsamen Weg der Nachfolge Jesu Christi. Auf eine uns sehr vertraute und in langer Freundschaft verbundene »Stimme« werden wir in Zukunft verzichten müssen: Der altkatholische Bischof Joachim Vobbe, dessen Grußworte unsere Synode bereicherten, hat seinen Rücktritt erklärt und wird sein Amt in diesem Frühjahr an seinen Nachfolger übergeben. Ein solcher Wechsel gehört zum ökumenischen Leben hinzu. Wir danken für sein Weggeleit in den vergangenen Jahren und werden ihn mit unserer Fürbitte und persönlichen Anteilnahme begleiten.

VI.2 Landessynode 2011

VI.2.1 Auszug aus dem Bericht über die für die Kirche bedeutsamen Ereignisse∗ Präses Nikolaus Schneider Ökumenischer Kirchentag in München Mit den Worten Jesu bitten wir auch für unsere christlichen Kirchen um Heilung und Ganzsein in aller Verschiedenheit: »dass sie alle eins seien, so wie du, Vater, in mir bist und ich in dir, damit auch sie in uns eins seien, und so die Welt glaubt, dass du mich gesandt hast.« (Joh 17,20f.) Es war gut, dass bei diesem Kirchentag alle ACK-Kirchen eingebunden waren. Und es war gut, dass Protestanten, Anglikaner und Altkatholiken in Jesu Namen in ihren Gottesdiensten andere Christinnen und Christen als Gäste zum Abendmahl einluden. Es war gut, dass auch auf diesem Kirchentag Bischöfe, Theologinnen und Theologen, Männer und Frauen aus den Gemeinden über Taufe, Amt und Abendmahl diskutierten. Und es war mehr als beeindruckend, dass sich mehr als zehntausend Kirchentagsbesucherinnen und -besucher aller Konfessionen zur Artoklasie auf dem Odeonsplatz versammelten. Wir teilten an tausend Tischen gesegnetes Brot miteinander, würzten es mit Öl, verzehrten es mit Äpfeln und löschten mit Wasser unseren Durst. Wir sangen und beteten miteinander. Das war gutes Zeichen gelebter Gemeinschaft, ein Vorgeschmack von Ganzsein. Aber, um es noch einmal im Bild zu sagen: Das war nur die Vorspeise. Das Hauptgericht steht noch aus. Danach sehnen sich vor allem Menschen, die ihren Glauben in verschiedenen Konfessionen und gleichzeitig in einer Familie leben. Ich bitte die Deutsche Bischofskonferenz, für konfessionsverbindende Ehepaare eucharistische Gemeinschaft zu ermöglichen. Ich bin davon überzeugt, dass unsere Kirchen dadurch lediglich das nachvollziehen, was in der Kirche Jesu Christi für diese Familien schon Realität ist und was deshalb zu Recht auch in vielen Gemeinden gelebt wird. Alle Partnerkirchen der EKiR waren in München vertreten. Mit ihnen gemeinsam konnten wir wichtige soziale und politische Themen auf die Tagesordnung bringen: Die weltweiten Ungerechtigkeiten, die Zerstörung unserer Schöpfung, die militärische Expansionspolitik und die Ausbeutung von Menschen sowie die Degradierung ihrer Arbeitskraft zur bloßen Ware. Auch die Themen des Konziliaren Prozesses für «Gerechtig∗

Protokoll der Landessynode 2011, S. 58f.

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keit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung« haben sich als kirchenverbindende Handlungsfelder erwiesen. Auf dem »Forum« – so hieß der »Markt der Möglichkeiten« auf dem ÖKT – spielten die Konfessionen keine Rolle, wenn gemeindliche oder andere Initiativen diese Themen präsentiert haben. Bei alledem hat sich für mich gezeigt: Ökumene können Kirchenleitungen nicht »machen«. Der Heilige Geist kennt keine Konfessionsgrenzen. Er schafft schon heute konfessionsübergreifende Gemeinschaft, in der wir Christinnen und Christen unseren Glauben leben. Die Taufe ist das alle Kirchen einende Band, das der Herr der Kirche selbst gestiftet hat. In dieser Gewissheit bleiben wir beharrlich auf dem gemeinsamen Weg und suchen mit großer Sehnsucht Fortschritte. Dass konfessionelle Unterschiede nicht kirchentrennend sein müssen, zeigt der Protestantismus selbst. Unsere Erfahrung ist: Lebendige Vielfalt in dem einen Glauben muss nicht trennen, sondern führt gemeinsam an den Tisch des einen Herrn. Viele Kirchen in der Ökumene haben damit gute Erfahrungen gemacht, und wir laden herzlich und beharrlich alle ein, diese Erfahrung zu teilen. Eindrucksvoll haben wir das im vergangenen Jahr in Grand Rapids erlebt. Dort haben sich der Reformierte Weltbund und der Reformierte Ökumenische Rat im Juni 2010 zur Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen zusammengeschlossen. Aber wir kennen auch das Gegenteil, das ich nicht verschweigen will. Die 5. Vollversammlung der VEM in Tansania hat gezeigt, dass die Pluralität auch Probleme mit sich bringt: So hat die gastgebende Kirche ELCT (Evangelisch-Lutherische Kirche in Tansania) in den letzten Monaten heftige Diskussionen ausgelöst, weil sie ein sehr harsches Dokument gegen homosexuelle Partnerschaften veröffentlicht hatte. Die VEM-Versammlung hat den Rat beauftragt, einen strukturierten Diskussionsprozess zu dem umstrittenen Thema einzuleiten. Ähnliche Diskussionen hat es auch im lutherischen Weltbund gegeben. Es wird in den nächsten Jahren darauf ankommen, diese Auseinandersetzungen in Verantwortung vor Gott und füreinander zu führen. Gott schenke uns die Bereitschaft und die Fähigkeit, unsere jeweils fragmentarischen Erkenntnisse und Entscheidungen nicht gegeneinander auszuspielen, sondern füreinander fruchtbar zu machen.

VI.2.2 Die Heilig-Rock-Wallfahrt 2012 – eine ökumenische Herausforderung∗ Barbara Rudolph Einleitung »Es bilde sich doch niemand ein, wir könnten auf getrennten Wegen das neue Jahrtausend in Europa bestehen.« So formulierte es Peter Beier, der Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland, in seiner Predigt im April des Jahres 1996, auf dem Höhepunkt der letzten Wallfahrt in Trier. Und er fügte hinzu, »unter dem inneren Druck der Säku∗

Vortrag vor der Kreissynode Koblenz am 29.10.2011.

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larität in Kirche und Gesellschaft und unter dem Druck der Herausforderungen sozialpolitischer und ökologischer Drohungen« ist der gemeinsame Weg der Kirchen alternativlos. Ja, Präses Beier und Bischof Spital hatten in einem gemeinsamen Brief an die Gemeinden vom 30. April 1996 daran gedacht, sich »zur Jahrtausendwende wiederzutreffen in einer weiteren ökumenischen Versammlung im Rheinland, um uns gegenseitig und unserem Herrn Jesus Christus Rechenschaft zu geben über unsere Bemühungen«. Beier nannte das »eine erste rheinisch-ökumenische Synode«. Wenn man heute, 15 Jahre später, die Dokumente liest, die für die Wallfahrt in Trier im Jahr 1996 entstanden sind, dann spürt man die Wucht der nahenden Milleniumswende, die Erwartung, dass nach 2000 Jahren christlichen Weges die Weggemeinschaft neu ins Bewusstsein gehoben werden muss und die Hindernisse des herannahenden neuen Jahrtausends zu groß seien, als sie allein zu bewältigen. Man spürt aber auch die Ernsthaftigkeit, mit der der gemeinsame Weg der Kirchen nicht nur gewollt, sondern als unbedingt notwendig angesehen worden ist, nicht nur um der Herausforderungen dieser Welt willen, sondern auch – im wahrsten Sinne des Wortes – um Gottes Willen. Ob gerade eine katholische Wallfahrt der Ort und das Mittel für dieses ökumenische Anliegen sein kann und soll, wurde vor 15 Jahren heftig diskutiert. (Ich weiß nicht, wie das hier in Koblenz war, ich jedenfalls erinnere mich als Gemeindepfarrerin damals in Moers noch gut an das Für und Wider und manche heftige Auseinandersetzung.) Daran hat sich auch im Vorfeld der nun wieder neu ausgerufenen Wallfahrt für das Jahr 2012 nichts geändert. Auch jetzt gibt es sehr unterschiedliche Haltungen zur Wallfahrt in Trier, und zwar sowohl auf evangelischer als auch katholischer Seite. Nicht von ungefähr ist mir das drastische Zitat Martin Luthers – von der »Bescheißerei des Heiligen Rockes« zu Trier – zum ersten Mal von einem katholischen Kollegen zu Gehör gekommen. Martin Luther hat ihn also gekannt, den Rock und die Wallfahrt zu ihm. Im Jahre 1512 wurde der Rock öffentlich in Trier gezeigt und ein regelrechter »Run« (»Geläuff« sagt Luther) begann zum Heiligen Rock nach Trier, wir würden es heute als einen »MegaEvent« bezeichnen, was damals geschah. Es war der Höhepunkt des Reliquienglaubens bzw. Aberglaubens, nur fünf Jahre später begann mit den Thesen Martin Luthers zum Ablass die Reformation. Die beiden Ereignisse stehen in einem unmittelbaren Zusammenhang, so wie auch heute die Vorbereitung auf die 500-jährige Wiederkehr beider Ereignisse in einem Zusammenhang steht. Die Wallfahrt findet für evangelische Gemeinden in der Reformationsdekade statt, im kommenden Jahr zum Thema »Kirchenmusik«. So spüren wir zwar nicht die Wucht des Milleniumswechsels wie Präses Beier vor 15 Jahren, aber die Wucht der Kirchengeschichte und der theologischen Grundentscheidungen, die in der Reformationszeit, gerade auch in der Ablehnung der Wallfahrten durch die Reformatoren, ihren Ausdruck fand. 1. Die Wallfahrt – eine römisch-katholische Veranstaltung Warum also beteiligt sich die evangelische Kirche an der Wallfahrt oder, genauer gesagt, an Veranstaltungen vor und während der Wallfahrt? Denn eines ist klar und muss doch vielleicht in aller Deutlichkeit noch einmal vorweg gesagt werden: Die Heilig-Rock-

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Wallfahrt ist eine römisch-katholische Veranstaltung, Träger ist das Bistum Trier. Anders als z. B. beim Ökumenischen Kirchentag, der gemeinsam von den Kirchen verantwortet wurde, ist hier eine Kirche Gastgeber, die andere Kirche bzw. die anderen Kirchen sind Gäste. Mitglieder aus evangelischen, freikirchlichen und orthodoxen Kirchen sind an der Vorbereitung beteiligt und, vor allem in den ökumenischen Veranstaltungen, intensiv involviert. Aber Alleinveranstalter ist und bleibt das Bistum Trier. Das ist auch gut so. So eine Wallfahrt hat ja ihr Eigenleben. Nicht jede Initiative wird von der ökumenischen Grundstimmung erfasst sein, die wir z. B. bei Bischof Stephan Ackermann, beim Ökumenebeauftragten Dr. Siegfried Schmitt oder beim Wallfahrtsleiter Dr. Bätzing finden. Und es kann durchaus sein, dass in manchen katholischen Pfarrgemeinden die Wallfahrt weniger als Chance für die Ökumene denn als römisch-katholische Selbstvergewisserung wahrgenommen wird. Eine Wallfahrt ist eben ein ur-katholisches Fest und in der römischkatholischen Volksfrömmigkeit tief verwurzelt. Wir würden vielleicht nicht so raubeinig wie Asterix und Obelix formulieren: Die spinnen, die Römer. Aber es gibt doch eine sich angenehm anfühlende Distanz zum Auftrieb an katholischen Wallfahrtsorten. In einer Mischung aus Neugierde und evangelischer Nüchternheit, in der vielleicht auch eine Spur von Überheblichkeit zu finden ist, können Protestanten und Protestantinnen sich Auslagen in Devotionalienläden anschauen. Es gibt nicht wenige katholische Geschwister, die diese Distanz ebenso empfinden, nicht nur zum frommen Kitsch, sondern auch zu der Reliquie selbst und zur Wallfahrt. Ja, es gibt katholische Mitchristinnen und -christen, die regelrecht enttäuscht sind, dass die Evangelische Kirche bei diesem – und jetzt zitiere ich – »mittelalterlich anmutenden und leider noch fortbestehenden ›Geläuff‹, wie Martin Luther es ausgedrückt hat, mitmacht.« Es ist darum sicher eine gute protestantische Haltung, dass man aus theologischen Gründen oder ebenso aus Gründen der Fremdheit nicht an den Veranstaltungen der Wallfahrt teilnimmt. Das hervorzuheben, ist mir wichtig, gerade weil ich in diesem Vortrag über die Beteiligung der Evangelischen Kirche im Rheinland an der Wallfahrt und die Chancen, die darin liegen, sprechen werde. Dass ich das, nun auch in guter evangelischer Tradition, tun kann, liegt daran, dass sich die katholischen Geschwister mit der Kritik der Reformatoren gründlich auseinandergesetzt haben und – ohne dass sie dabei die evangelische Konfession einfach übernehmen – einen reflektierten durchaus kritischen Zugang zur Wallfahrtstradition haben. 2. Die Kritik der Reformatoren an der Wallfahrt Lassen Sie uns darum gemeinsam genauer hinsehen, warum Martin Luther, und mit ihm in großer Einmütigkeit die anderen Reformatoren, Wallfahrten ablehnten. Beispielhaft für manch anderes Zitat gebe ich wieder, was in Luthers Schrift »An den christlichen Adel deutscher Nation« (1520) geschrieben steht: Zum zwanzigsten sollten die Kapellen im Freien und die Feldkirchen bis auf den Grund zerstört werden, zum Beispiel die, wo die neuen Wallfahrten hingehen: Wilsnack, Sternberg, Trier, das Grimmental und jetzt Regensburg und viel mehr an Zahl. O wie schwere, elende Rechenschaft werden die Bischöfe geben müssen, die solchen Teufelsspuk zulassen und Nutzen davon empfangen! Sie sollten die ersten sein, die diesem wehrten; aber so meinen sie, es sei ein

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göttliches, heiliges Ding, und sehen nicht, dass der Teufel solches treibt, um die Gier zu stärken, falschen, erdichteten Glauben aufzurichten, Pfarrkirchen zu schwächen, Tavernen und Hurerei zu mehren, wodurch sie unnütz Geld und Mühe verlieren, und nur das arme Volk an der Nase herumzuführen. Luthers Kritik hat im Übrigen viele Vorläufer und Begleiter – auch bei den Altgläubigen, wie die römisch-katholischen Christinnen und Christen in der Reformationszeit genannt wurden. Luther ergänzt in derselben Schrift: »Das sage ich nicht deshalb, weil Wallfahrten etwas Schlechtes wären, sondern weil sie zu dieser Zeit übel geraten.« Das ist wichtig, genau zu hören: weil sie zu dieser Zeit (!) übel (!) geraten. Was heißt das, wenn sie zu anderer Zeit nicht übel geraten? Luther und seine Zeitgenossen wissen jedenfalls genau aufzuzählen, was übel geraten ist: die übersteigerte Erwartung vom Wunder und Heilswirken der Reliquien, die Erfüllung von Gelübden aus Angst oder Not, der Ablassglaube und die Werkgerechtigkeit, der unheilige Rummel am Wallfahrtsort (Luther war 1510 in Rom ...), aber auch die Vernachlässigung der häuslichen Pflichten und die durch Wallfahrten entstehende Bettelei. Und in den Schmalkaldischen Artikeln führt er den Hauptgrund seiner Kritik an, indem er dagegen angeht, dass »die Leute ja häufig von Christus weg auf ihre eigenen Werke verfallen und abgöttisch« werden. Von Christus weg! Das ist sein Hauptkritikpunkt. Was Christum treibet, das ist sein reformatorischer Grundsatz. Es ist nicht von ungefähr, dass die Wallfahrt vor 15 Jahren das Leitwort erhielt: Mit Christus unterwegs. Salopp gesagt: Darunter war und ist eine evangelische Beteiligung an einer Wallfahrt nicht zu bekommen. »Christuswallfahrt« ist deshalb auch der ökumenische Einladungsflyer übertitelt. Darum ist es eben nicht der Marienwallfahrtsort Kevelaer, der uns vereint, sondern ein Ort, an dem des ungeteilten Gewandes Jesu am Kreuz und damit auch des ungeteilten Christus gedacht wird. Aber zurück zu den Reformatoren: Auch die reformierten Theologen lehnten Wallfahrten ab, Zwingli wegen der Werkgerechtigkeit (Auslegung der Thesen 1523), Calvin wegen des magischen Verständnisses der Reliquien, das er als Götzendienst abtat (1543). Bullinger sprach davon, dass »sehr viel Abgeschmacktes, Unnützes und völlig Unerträgliches« zu finden sei (Confessio Helvetica Posterior, 15. Kap., 1566). Wenn jedoch, so Bullinger weiter, Wallfahrten auf Christus hinweisen und zugleich ihres kämpferischen Bekenntnisaktes entledigt würden, dann könnten sie durchaus zu den nicht heilsnotwendigen »Mitteldingen« zählen. Auch hier findet sich, wie bei Luther, nicht eine generelle Kritik an den Wallfahrten, sondern eine zielgenaue Auseinandersetzung mit der Fehlentwicklung spätmittelalterlicher Frömmigkeit. Professor Dr. Mühling, Trier, fasst darum auch die Kritik der Reformatoren folgerichtig zusammen: »Die evangelischen Theologen, nicht nur der Reformationszeit, lehnen daher ein Wallfahrtsverständnis ab, – welches ein magisches Denken impliziert, – im Glauben an Ablässe die sogenannte Werkgerechtigkeit forciert,

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– Christus aus dem Leben der Gläubigen verdrängt – und kirchenpolitisch als Ausdrucksform eines kämpferischen Katholizismus verstanden wird. Diese kritischen Einwände haben bis heute ihre bleibende Bedeutung.« 3. Die Wallfahrts-Einladung verändert Gastgeber und Gäste Diese vier einfachen, aber überzeugenden Kriterien haben mir zur Klärung verholfen, einen theologisch geschärften Blick auf die Wallfahrt zum heiligen Rock nach Trier zu nehmen und eine theologisch und evangelisch-ekklesiologisch reflektierte Antwort auf die Einladung zur Beteiligung an der Wallfahrt zu geben. Soviel sei gesagt: Wenn es nicht diese überaus freundliche und zugewandte Einladung zur Beteiligung an der Wallfahrt von Seiten des Bistums gegeben hätte, die Evangelische Kirche im Rheinland (und ich persönlich) wären – von sich aus – nicht auf die Idee gekommen, eine Wallfahrt mitzugestalten. Aber es gibt diese Einladung, und es gibt eine Geschichte zu dieser Einladung, die 15 Jahre zurückliegt und die wiederum eine Vorgeschichte und – vor allem auch – eine Nachgeschichte hat. Nach Jahrhunderten der Abgrenzung, nach langer Zeit der römisch-katholischen Selbstdarstellung, die mit der Wallfahrt im Jahr 1844 ihren Höhepunkt fand, gab es 1996 die herzliche und dringliche Einladung von Bischof Spital an Präses Beier, sich gemeinsam auf den Weg zu machen, nicht gegeneinander, sondern miteinander. Die Einladung war mehr als eine Freundschaftsgeste zweier Weggefährten im geistlichen Amt. Es war die Einladung an die ärgsten Kritiker der Wallfahrt, diese alte kirchliche Tradition nun in einer Weise neu auszulegen, dass sie ökumenisch offen und für evangelische (und katholische) Gemeindeglieder ein gemeinsames Glaubenszeugnis werden konnte. Das muss man sich erst einmal zumuten, auf beiden Seiten. Und dieser Wille war da. Es musste zunächst manches aus dem Weg geräumt werden, was sich in den Jahrhunderten angesammelt hatte. Dazu gehörte, dass die Echtheit des »Heiligen Rockes« entmythologisiert wurde. Der Ärger Luthers über den Heiligen Rock geht u. a. auf eine päpstliche Bulle zurück, die die Echtheit der Tunika bestätigte und sich direkt auf das ungeteilte Gewand Jesu Christi, das im Johannesevangelium Kapitel 19 erwähnt wird, bezog. Der neue Flyer der Wallfahrt von 2012 spricht von einem Symbol. Wissenschaftlich ist es unumstritten, dass das in Trier aufbewahrte Tuch nicht Jesu Bekleidungsstück ist. Wichtiger war aber in der Vorbereitung der Wallfahrt das Ausräumen anderer tieferer Hindernisse. Im Jahr 1996 beschloss die Evangelische Kirche im Rheinland mit den fünf Bistümern auf ihrem Gebiet eine wechselseitige Taufanerkennung und bahnte damit einen ökumenischen Weg der Gemeinsamkeit, der sich im Jahr 2007 in der Magdeburger Taufanerkennung von insgesamt elf Kirchen niederschlug. In einem Symposion wurde der Weg der Kirchen in das nächste Jahrhundert diskutiert, und damals war schon unübersehbar, was wir zunehmend merken: Die Gesellschaft unterscheidet nicht mehr zwischen verschiedenen christlichen Konfessionen. Und damals war ebenso deutlich, dass die Aufgabe der Christenheit sich nicht in innerkirchliche Auseinandersetzungen (ich will nicht sagen Zwistigkeiten) verlieren darf, sondern dass es gilt, einen gemeinsamen Streit zu führen für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung.

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Exkurs: Evangelisch und katholisch: ein anderer und nicht ein sich ausschließender Weg Natürlich sind nicht alle evangelischen Anfragen an die römisch-katholische Kirche mit der Einladung zur Wallfahrt erledigt, es bleiben viele unerledigte Fragen, die ich vielleicht jetzt nicht alle im Einzelnen nennen will: die Beteiligung der Laien und Frauen an der Leitung der Kirche, die Frage von Abendmahl und Amt, die Sexual- und Bioethik u. a. Das wird nicht einfach unter den Tisch fallen, wenn wir uns gemeinsam auf den Weg machen. Wie übrigens auch umgekehrt die katholische Kirche Anfragen an die evangelische Kirche hat. Aber, dass nicht alle Fragen gelöst und entschieden sind in der Ökumene, soll nicht heißen, dass nicht schon jetzt das, was gemeinsam getan werden kann, auch gemeinsam getan werden soll. Es gilt hier, was beide Kirchen aus unterschiedlicher Perspektive sagen: Wir haben mehr gemeinsam, als uns trennt. Oder, fast mathematisch: 1500 Jahren gemeinsamer Weg stehen 500 Jahre getrennter Wege gegenüber. In manchen Briefen an den Präses und die Landeskirche zur Wallfahrt mischen sich Töne, als sprächen wir von zwei verschiedenen Religionen, als seien beide Varianten christlichen Glaubens sich ausschließende Größen (Glaube und Aberglaube, Orthodoxie und Häresie) und darum unvereinbar. Das ist nicht evangelische Theologie. 4. Ökumenische Spuren in der Region Es ist nicht bei den ökumenischen Impulsen während der Wallfahrt 1996 geblieben. In den nächsten Jahren entwickelte sich ein ökumenisches Leben in Trier, das weit über die Grenzen der Stadt und des Bistums und der Landeskirche hinaus seine Wirkung zeigte. Jedes Jahr gab es während der Heilig-Rock-Tage einen Ökumene-Tag, an dem der Kreis der beteiligten Kirchen immer größer wurde, Orthodoxe und altorientalische Kirchen beteiligten sich und haben inzwischen mit der Athanasius-Kapelle einen eigenen Gebetsraum; Freikirchen und auch Kirchen aus dem Nachbarlande Luxemburg kamen hinzu. Wenn im kommenden Jahr am 5. Mai der Ökumene-Tag während der Wallfahrt gefeiert wird, dann sind alle Kirchen der Arbeitsgemeinschaft aus der Region beteiligt. Und wieder ist Trier ein ökumenischer Impulsgeber: Gemeinsam werden die Kirchen eine Ökumenische Taufgedächtnisfeier begehen, keine Selbstverständlichkeit für die täuferischen Freikirchen. Das Jahr der Taufe, das die evangelischen Kirchen in diesem Jahr anlässlich der Reformationsdekade begehen, wirkt nach und stellt die Kirchen miteinander vor die Aufgabe, das Urdatum jeder christlichen Biographie, die Taufe als Beginn des christlichen Lebens, als Hineinnahme in den einen Leib Christi zu feiern. Der Mut, den die Evangelische Kirche im Rheinland aufwies, als sie 1996 die Einladung zur Wallfahrt annahm, hat in den Jahren ein ökumenisches Leben in Trier hervorgerufen, das niemand gewagt hätte vorauszusagen. So stellt die Website »Unheiliger Rock«, die es neben der Website »Heiliger Rock« im Internet gibt, fest, dass die Ausstellung des Heiligen Rockes im Jahre 1996 kaum noch Aufsehen erregte. Während im Jahr 1844 noch Spottlieder gedichtet wurden, wie das Lied von der Freifrau von Droste Vischering, fehlte ein solch kämpferischer Geist 150 Jahre später. Stattdessen dichtet ein evangelischer Präses ein Pilgerlied auf dem Weg nach Trier, das in das Gesangbuch des Bistums Trier aufgenommen wurde und ein Gebet ist, das evangelische und katholische Christinnen und Christen gemeinsam singen und beten

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können. Dass sich ein Ereignis, das zu Verwerfungen in der Reformationszeit geführt hat, zu großem Streit und Spott in den Zeiten des Kulturkampfes im 19. Jahrhundert, zu einem ökumenischen Fest der Geschwisterschaft geworden ist, ist ein besonderes Geschenk. Das schlägt sich im Übrigen nieder in dem Leitwort der Wallfahrt, das auf ein Gebet aus der Wallfahrt von 1959 zurückgeht: »... führe zusammen, was getrennt ist«. Bischof Ackermann, mit dem ich während der Heilig-Rock-Tage 2010 kurz vor der Bekanntgabe des Leitwortes sprach, freute sich und kündigte an: Sie werden sehen, das Thema noch ökumenischer sein. Das gilt es zu würdigen. Wallfahrt 2012 – Woran sich die Evangelische Kirche im Rheinland beteiligt Die evangelische Kirche hat die Einladung zur Beteiligung an der Wallfahrt vom 13. April bis 13. Mai 2012 gern angenommen. Sie sieht darin eine Chance, die Ökumene in dieser Region zu stärken und voranzutreiben. Das gilt für die Stadt Trier schon jetzt, das zeichnet sich aber auch auf der Fläche des großen Bistums im südlichen Bereich unserer Landeskirche ab. Die Evangelische Kirche im Rheinland ist wie folgt an der Wallfahrt beteiligt:

– – – –

Sie wirkt an dem Ökumenischen Forum im Januar (30. Januar bis 3. Februar) mit. Sie wirkt an den täglichen Mittagsgebeten während der Wallfahrt mit. Sie hat für die Wochen Impulse ausgewählt. Sie ist am Tag der Ökumene am 5. Mai beteiligt.

Das ökumenische Forum im Januar wird unter dem Motto der Wallfahrt stattfinden: »... und führe zusammen, was getrennt ist«. Es orientiert sich an der Symbolik des Gewandes und hat vier sehr griffige Themenbereiche, die sich wie ein roter Faden durch die Wallfahrt hindurchziehen. Sie beschreiben Herausforderungen in der heutigen Gesellschaft:

– Kreuz und quer verwoben – Christsein in der Gesellschaft heute und der Dialog der Religionen

– Nahtlos zerrissen? – Ökumenische Herausforderungen und Perspektiven – Gut angezogen? – Nachfolge in Tradition und Wandel – Eine Nummer zu groß? – Aus der Hoffnung leben, mit Vorläufigkeiten umgehen lernen. Das erste Thema »Kreuz und quer verwoben« beschreibt die gesellschaftliche Verantwortung der Christinnen und Christen. In erstaunlich offener Weise werden auch die anderen Religionen in den Blick genommen. In der Erläuterung zu den Themen heißt es: Die Religionen sind ein Gewebe aus verschiedenen Traditionen, verwoben in die Gesellschaft. Glaube ist Teil der Gesellschaft und zugleich Stachel. Als solcher trägt er bei für ein friedliches, gerechtes und der Bewahrung der Schöpfung verpflichtetem Zusammenleben auf dieser Erde. Diese Aufgabe lässt sich nur mit den anderen Religionen zusammen lösen. Das zweite Thema ist paradox formuliert: »Nahtlos zerrissen.« Es beschreibt die Ökumene in den geteilten Kirchen und zugleich die Kirche als den einen Leib Jesu Christi.

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Ökumene soll dazu dienen, die Unterschiede nicht als Hindernisse wahrzunehmen, sondern als Herausforderung, den eigenen Horizont zu erweitern und eine tragfähige und glaubwürdige Sprache zu finden, die ansprechend ist und gehört wird. Das dritte Thema »Gut angezogen« ist das persönlichste der vier Themen. Ausgehend vom Taufkleid fragt dieser Themenkomplex nach dem Glaubensgewand des Einzelnen. Was ist einem im Glauben wichtig, wie gehen die Menschen heute mit Tradition und Wandel um? Wie anziehend ist das christliche Erbe heute – für mich – für andere? Welches Gewand trägt mein Glaube? Das vierte Thema »Eine Nummer zu groß?« lässt uns zurücktreten. Wie vorläufig, endlich sind die kirchlichen Traditionen, in denen wir stehen? Am Ende aller Tage werden wir alles, die Zwistigkeiten genauso wie alle Guttaten, zurücklegen in die Hand Gottes und bekennen: Gott, der das gute Werk in euch begonnen hat, der wird es auch vollenden bis zum Tag Jesu Christi (Phil 1,6). Zu diesen vier Themenbereichen gibt es jede Woche, jeweils montags, einen Vortrag in der evangelischen Basilika mit Prof. Robbers, Bischof Weber, Professorin Rahner und Prof. Mühling. Jeden Mittag um 12.15 Uhr wird es eine Mittagsandacht, ebenfalls in der Basilika geben, an der sich alle Kirchen der ACK Südwest und Luxemburgs beteiligen. Auch sie richten sich nach den vier Themenbereichen, jede Woche steht ein anderer im Mittelpunkt. In diesen vier Arbeitsbereichen der Wallfahrt sind also evangelische Christinnen und Christen, aber ebenso auch freikirchliche und orthodoxe Geschwister beteiligt. Dabei zeigt sich auch der Spagat, den das Bistum an dieser Stelle vollzieht: auf der einen Seite die nüchternen Protestanten, auf der anderen Seite die Orthodoxen, für die in voraufklärerischer Weise Reliquienverehrung selbstverständlich ist. Neben den Veranstaltungen in Trier hoffe ich auf viele ökumenische Kontakte und Initiativen in der Region. Es ist das Jahr der Kirchenmusik in der Reformationsdekade, und es wäre zu wünschen, wenn an möglichst vielen Orten Chöre miteinander musizierten zur Ehre Gottes und der Freude der Menschen. Ausblick und wie es weitergeht Zurzeit sucht das Bistum nach Möglichkeiten, auch diese Wallfahrt zu einer nachhaltigen und nachwirkenden Veranstaltung zu machen, die eine Strahlkraft über das Bistum und über das Jahr 2012 hinaus hat. Die Glaubwürdigkeit der Kirchen wächst mit ihrer Gemeinsamkeit. Eine Torte kann man getrost in Stücke teilen, einen Leib nicht, es sei denn, man amputiert seine Teile. Was bedeutet es für ein Bistum, dass es die Tür so weit aufgestoßen hat? Was bedeutet es für die evangelische Kirche, diese Schwelle zu überschreiten? Was heißt das auf dem Weg zum Reformationsjubiläum im Jahre 2017? Wie können die Reformimpulse, die das 2. Vatikanische Konzil, dessen 50-jähriges Jubiläum wir 2015 feiern, wirksam werden in dieser Region hier? Was heißt das, dass wir gegenseitig die Taufe anerkennen, für die Ökumene vor Ort? Wie bewährt sich die ökumenische Gemeinschaft gerade dann, wenn nicht so sehr die Theologie, sondern die Zahlenverhältnisse die Ökumene prägen, d. h.

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wird die Wallfahrt gerade die evangelischen Gemeinden in der Diaspora erreichen und stärken in ihrem Miteinander mit den Pfarrgemeinden am Ort? Wie gehen evangelische Kirchen eigentlich mit der Tradition um? Unsere Kirchengeschichte beginnt nicht im Jahre 1517. Was heißt das? Das Gute an dieser Wallfahrt ist, dass sie ökumenische Fragen aufwirft und Impulse gibt. In dem Konzept »Ökumenische Akzente der Trierer Heilig-Rock-Wallfahrt 2012«, das ganz zu Beginn der Vorbereitung niedergeschrieben wurde, heißt es: In der frühchristlichen Tradition wird das ungeteilte Gewand unseres Herrn und Erlösers Jesus Christus, das im Johannesevangelium (19,23–24) bezeugt ist, als Zeichen der Einheit aller Christen gedeutet. Das Gebet um die kirchliche Einheit aller, die durch Glaube und Taufe zu Jesus Christus gehören, zählt zum Kernbestand der Trierer Heilig-Rock-Tradition. Das Bemühen um diese Einheit wird die Heilig-Rock-Wallfahrt des Jahres 2012 prägen. Ich ende mit einem Zitat aus dieser Ökumene-Konzeption: »Wir betrachten das gelungene ökumenische Miteinander während der Christuswallfahrt von 1996 und bei den jährlichen Heilig-Rock-Tagen seit 1999 als großes Geschenk.« Mir bleibt zu hoffen, dass die Beratungen hier auf der Synode dazu beitragen, dass wir auch im Rückblick auf das Jahr 2012 davon sprechen: Das war ein großes ökumenisches Geschenk! Und mit dem Pilgerlied von Peter Beier bitte ich: Der Zwietracht deiner Christenheit setz deine Lieb entgegen, Herr Christ, und wehr dem schlimmen Streit, zieh an dein Herz, was sich entzweit, so stehen wir im Segen.

VI.3 Landessynode 2012

Auszug aus dem Bericht über die für die Kirche bedeutsamen Ereignisse∗ Präses Dr. h.c. Nikolaus Schneider … für die Ökumene mit der römisch-katholischen Kirche Nach dem Papstbesuch Über den Papstbesuch wurde in den letzten Monaten viel reflektiert, viel geredet und viel geschrieben – auch von mir. Mir ist es aber wichtig, nicht nur auf die Ereignisse zurückzublicken, sondern von dort auch nach vorne zu schauen: Der Papst hat mit seinem Besuch in Deutschland keine neuen Fenster für konkrete ökumenische Schritte und Vereinbarungen geöffnet. Aber er hat auch keine geöffneten Fenster geschlossen. Wir werden deshalb die in den letzten Jahren gewachsenen vertrauensvollen ökumenischen Beziehungen weiter pflegen. Wir werden gemeinsam mit katholischen Schwestern und Brüdern nach konkreten Antworten auf Gottes Wort für diese Welt suchen und auch weiterhin beharrlich um konkrete Zeichen unserer Gemeinschaft in Christus ringen – etwa um unsere Gemeinschaft am Tisch des Herrn. Deshalb möchte ich auch an dieser Stelle die römisch-katholischen Geschwister herzlich einladen, das Reformationsjubiläum 2017 mit uns zu feiern. Das Reformationsjubiläum ist im Kern ein Christusjubiläum, die Umkehr zu Christus als Grund allen Glaubens war das zentrale Anliegen der Reformation. In der Umkehr zu Christus wird unser ökumenischer Weg neue – und vielleicht auch manche uns überraschende – Impulse erhalten. Heilig-Rock-Wallfahrt Darum freue ich mich besonders, dass im südlichen Teil unserer Landeskirche zurzeit eine ökumenische Aufbruchstimmung zu spüren ist, deren Initiative vom Bistum Trier ausgeht und die weit über seine Grenzen hinaus strahlt. Unter dem bewusst ökumenisch ausgerichteten Leitwort »und führe zusammen, was getrennt ist« bereitet sich das Bistum auf die Wallfahrt zum »Heiligen Rock« vor, die vom 13. April bis 13. Mai stattfinden wird. Bischof Ackermann hat die Evangelische Kirche im Rheinland und die anderen Kirchen – wie Bischof Spital schon im Jahr 1996 – eingeladen, daran mitzuwirken. Die zeichenhafte Bedeutung des ungeteilten Gewandes Jesu für die eine ungeteilte Kirche ist seit der Alten Kirche übermittelt und begründet erneut diese ökumenische Initiative. ∗

Protokoll der Landessynode 2012, S. 46f.

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Anlass der Wallfahrt im nächsten Jahr ist der 500. Jahrestag der Zeigung des Heiligen Rockes unter Kaiser Maximilian I. im Jahre 1512. Nur fünf Jahre später begann mit den Thesen Martin Luthers zu Ablass und Buße die Reformation. Mehrmals hat sich Luther scharf und entschieden gegen Wallfahrten gewendet und wäre vermutlich irritiert, wenn nicht entsetzt, dass mit dem »Lutherweg« durch Thüringen und Sachsen-Anhalt nun gerade ein Pilgerweg nach seinem Namen benannt worden ist. Daran zeigt sich, dass sich im evangelischen Raum das Verhältnis zum Pilgern verändert hat. Was Martin Luther verächtlich als »Geläuff« abgetan hat, hat den modernen und von Hektik angetriebenen Menschen das »Beten mit den Füßen« wieder neu gelehrt. Hatte Luther in den Schmalkaldischen Artikeln kritisiert, dass »die Leute ja häufig von Christus weg auf ihre eigenen Werke verfallen und abgöttisch« werden, so lädt nun das Bistum zu einer Wallfahrt als einem Weg zu Christus ein. Die Reliquie, deren Verehrung die evangelische Tradition ablehnt, ist zwar noch Anlass der Trierer Wallfahrt, hat aber nach katholischer Lehre keine eigenständige Heilsbedeutung. Schon 1959 hatte der damalige Bischof den Glauben an die Echtheit der Tunika den Gläubigen seines Bistums nicht mehr auferlegt. Die Bulle von Papst Leo X. aus dem Jahre 1515, die die Echtheit des Gewandes behauptete, hatte Luther seinerzeit dazu verleitet, etwas ungehobelt über die »Bescheißerei zu Trier« zu schimpfen. Der Wallfahrtsleiter spricht heute stattdessen von einem »Symbol«, in Anlehnung an die orthodoxe Tradition von einer »Ikone« und mit Bezug auf die Barmer Theologische Erklärung von einer »These« – alles Hinweise auf Jesus Christus. In all dem zeigt sich eine neue theologische Durchdringung, ja eine regelrechte Uminterpretation einer Tradition: War der Heilige Rock in der Reformationszeit ein Heilsmittel zum ewigen Leben, in den Jahrhunderten darauf eine katholische anti-protestantische Demonstration, so bietet er heute eine Chance, den einen Herrn der Kirche, Jesus Christus, als die gemeinsame Mitte neu zu feiern. Nicht von ungefähr wird am Tag der Ökumene der Weg im Dom beginnen und dann weg von der Reliquie hinaus über mehrere Stationen, davon eine die Evangelische Basilika »Zum Erlöser«, zu einem gemeinsamen Taufgedächtnisgottesdienst führen. Sehr bedacht ist der Weg so gewählt, dass die Gemeinde der Reliquie den Rücken kehrt und der Taufe in den einen Christus gedenkt. Nach evangelischem Denken war und bleibt ein Wallfahrtsverständnis abzulehnen, welches – ein magisches Denken und im Glauben an Ablässe eine »Werkgerechtigkeit« impliziert, – Christus aus dem Leben der Gläubigen verdrängt – und kirchenpolitisch als Ausdrucksform eines kämpferischen Katholizismus verstanden wird. Meiner Einschätzung nach werden bei dieser ökumenischen Initiative diese reformatorischen Kriterien zur Beurteilung einer Wallfahrt weder aufgeweicht noch außer Kraft gesetzt. Ich möchte deshalb evangelische Christenmenschen dazu ermutigen, an dieser Wallfahrt teilzunehmen und die Wallfahrt mit ihrer Fürbitte zu begleiten.

VI.4 Landessynode 2013

VI.4.1 Auszug aus dem Bericht über die für die Kirche bedeutsamen Ereignisse∗ Präses Dr. h.c. Nikolaus Schneider Getrennte Verschiedenheit wird zu einer Ökumene der Gaben. Das Bistum Trier hatte im vergangenen Jahr alle Kirchen der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen eingeladen, sich an der »Heilig-Rock-Wallfahrt« zu beteiligen. In der Evangelischen Kirche im Rheinland hat meine ausdrückliche Ermutigung während der letzten Landessynode, sich an dieser Wallfahrt zu beteiligen, heftige Debatten ausgelöst. Im Rückblick ist mir wichtig, zwei Dinge festzuhalten: 1.

Die Evangelische Kirche im Rheinland hat mit dieser Einladung und mit ihrer Teilnahme keine reformatorischen Erkenntnisse aufgegeben. Kritik an Wallfahrten im Zusammenhang mit Reliquienverehrung übt die evangelische Kirche nach wie vor. Bischof Ackermann ging es mit der Wallfahrt in Trier aber um eine theologische Einsicht, die uns mit unseren römisch-katholischen Geschwistern verbindet: Wenn bei einem Jubiläum, Festakt oder auch bei einer Wallfahrt Jesus Christus in der Mitte steht, dann können wir in ökumenischer Gemeinschaft auch für unsere jeweilige Konfession ungewohnte Wege gehen.

2.

Die christlichen Kirchen verbindet mehr, als sie trennt. Trotz aller tief greifenden Unterschiede der Konfessionen reicht die Trennung nicht bis in die Wurzel und erst recht nicht bis in die zukünftige Stadt Gottes hinein. Gerade die Erfahrungen in der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa haben uns gezeigt, wie jahrhundertelange Trennungen zwischen Kirchen der Reformation überwunden werden und zu neuer Kirchengemeinschaft in einer Ökumene der Gaben führen können.

Viele Menschen aus unseren rheinischen Gemeinden haben die Wallfahrt nach Trier genutzt, die ökumenischen Bande zu vertiefen. Auf meinem Weg durch die Innenstadt von Trier am »Tag der Ökumene« habe ich vertraute Gesichter gesehen. Ihre Anwesenheit in Trier war Ausdruck lebendiger Ökumene vor Ort, denn Gruppen aus unseren Gemeinden haben sich gemeinsam mit römisch-katholischen Geschwistern aus deren Gemeinden auf den Weg nach Trier gemacht. ∗

Protokoll der Landessynode 2013, S. 79f.

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Mit den römisch-katholischen Geschwistern, mit unserer altkatholischen Schwesterkirche, aber auch mit den orthodoxen Kirchen und den Freikirchen gilt es jetzt, die ökumenischen Impulse der Wallfahrt aufzugreifen und für die Feiervorbereitungen für das Reformationsjahr 2017 fruchtbar zu machen. Dabei stellen sich als verbindende Elemente zunehmend heraus, was auch die Wallfahrt in Trier in ihren Mittelpunkt gestellt hat: Christus, der Herr der Kirche, und das Christuszeugnis in der heutigen Zeit. Jede kirchliche Tradition braucht für das Christuszeugnis immer wieder neue Stärkung und neue Impulse. Hier können uns unsere Geschwister im Glauben über alle Konfessionsgrenzen hinweg zu Kraftquellen und Weggefährten werden. Am 13. Oktober des vergangenen Jahres erinnerte die römisch-katholische Kirche an den Beginn des 2. Vatikanischen Konzils vor 50 Jahren. Auch die evangelische Kirche hält dieses Konzil für ein Jahrhundertereignis und erinnert mit großem Respekt an den ökumenischen Aufbruch, der in verschiedenen Texten des Konzils zum Ausdruck kommt. Mit der Wahrnehmung und Anerkennung des Wirkens Gottes auch außerhalb der eigenen Kirche wurde eine Öffnung zur Ökumene möglich, die vor allem in Deutschland und auch in unserer rheinischen Kirche vielfältige Auswirkungen zeitigte. Etwa das Entstehen ökumenischer Gemeindezentren, Gottesdienste und Bibelkreise, aber auch die großen ökumenischen Veranstaltungen, wie der Ökumenische Aschermittwoch in Essen, der Ökumenische Buß- und Bettag in Trier oder die gemeinsamen Vesper-Gottesdienste vor dem ersten Advents- und Passionssonntag mit dem Erzbistum Köln sind ohne die ökumenische Öffnung durch das Konzil nicht denkbar. Sicher bleiben Fragen offen, die wir in den ökumenischen Dialogprozess mit der römischkatholischen Schwesterkirche einbringen. So ringen wir weiter um Gemeinschaft am Tisch des Herrn und um ein Amtsverständnis, das Laien und Frauen nicht von kirchenleitenden Ämtern ausschließt. Für viele Christinnen und Christen hat ihre konfessionelle Bindung an Bedeutung verloren. Ausdruck dafür war im vergangenen Jahr die Wortmeldung einiger prominenter Menschen aus den beiden großen Kirchen »Ökumene jetzt – ein Gott, ein Glaube, eine Kirche«. Sie sind der Ansicht, dass die konfessionellen Unterschiede eine Aufrechterhaltung der Kirchentrennung nicht mehr rechtfertige, und fordern eine neue sichtbare Einheit in aller Vielfalt. Den Autoren und Autorinnen bin ich für ihr Engagement sehr dankbar. Es bleibt aber die schmerzvolle Einsicht: Das Papier vermittelt leider zur Lösung vieler konkreter Fragen, Probleme und Unvereinbarkeiten unseres gegenwärtigen ökumenischen Prozesses keine konkreten Anstöße. Deshalb ist seine Wirkung begrenzt. Es verbindet alle christlichen Kirchen, dass sie Jesus Christus als das Haupt der Kirche bekennen. Und der ökumenische Dialog macht uns deutlich, dass alle christlichen Kirchen danach streben, auch durch ihre Ordnungen und Strukturen ein Zeugnis zu geben von ihrer Suche nach der zukünftigen Stadt Gottes. Die verschiedenen Kirchen orientieren sich dabei allerdings an unterschiedlichen Textstellen der Bibel und kommen bei vielen Textstellen zu unterschiedlichen Deutungen. Deshalb müssen wir – auch selbstkritisch – einräumen: Eine sichtbare strukturelle Gestalt für die geglaubte geistliche Einheit der christlichen Kirchen wird in absehbarer Zeit nicht herstellbar sein. Weil wir aber gewiss sind, dass in Jesus Christus die Einheit der einen, heiligen, allgemeinen und apos-

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tolischen Kirche immer schon gegeben ist, können wir gelassen und geschwisterlich mit der Vielfalt kirchlicher Strukturen und Gestalten umgehen. Wir dürfen aber unsere je eigenen Gotteserkenntnisse nicht verabsolutieren und uns nicht gegeneinander profilieren. Wir können auch in je eigener Gestalt miteinander eine Ökumene der Gaben auf Augenhöhe leben.

VI.4.2 Rückblick auf die Beteiligung der Evangelischen Kirche im Rheinland an der Wallfahrt in Trier »... und führe zusammen, was getrennt ist ...« Heilig-Rock-Wallfahrt Trier, 13. April bis 13. Mai 2012 Oberkirchenrätin Barbara Rudolph Die evangelische Beteiligung an der Wallfahrt hat ein großes innerkirchliches und allgemein öffentliches Interesse gefunden. Im Vergleich zu anderen binnenkirchlichen Ereignissen war es erstaunlich hoch. Mit der Pressekonferenz zu Beginn des neuen Kirchenjahres Ende November 2011 begann das Medienecho. Es fand seinen Höhepunkt während und nach der Landessynode durch die Reaktionen auf den Bericht des Präses vor der Synode. Auch weitere Veröffentlichungen, wie das Interview mit Präses Schneider und Bischof Ackermann in der Januar-Ausgabe von Chrismon, fanden ihren Widerhall in der öffentlichen Diskussion. Die letzte große mediale Aufmerksamkeit fand die Ökumene während der Wallfahrt anlässlich des Ökumenetages in Trier, am 5. Mai. 1. Ökumenische Dimension der Wallfahrt Das Bistum hat vom Zentrum der Wallfahrt her, vom ungeteilten Gewand Jesu Christi, die Wallfahrt als ökumenisches Ereignis gedeutet, und zwar in doppelter Weise: Zum einen war Jesus Christus im Fokus, der Christinnen und Christen aus allen Traditionen in die Nachfolge ruft. Zum andern war im Fokus das ungeteilte Gewand als altkirchliches und damit gemeinsames Zeichen der einen ungeteilten Kirche. Beide ökumenischen Anliegen wurden in dem Leitwort zusammengebunden, das ein Christusgebet ist: Führe zusammen, was getrennt ist. Lange Zeit waren die evangelischen Mitwirkenden skeptisch, ob dieser steile ökumenische Ansatz durchzuhalten ist oder ob die Ökumene eher eine Randerscheinung der Wallfahrt bleiben würde. Die Frage kam vor allem auf, als das Logo der Wallfahrt bekannt wurde, das einen stilisierten roten Rock mit der Aufschrift »Heilig Rock Wallfahrt Trier 2012« trägt. 1996, bei der ersten Beteiligung, war bewusst ein Christus-Zeichen (P und X) gewählt worden und von der Christus-Wallfahrt gesprochen worden. Jetzt stand wieder der Heilige Rock im Mittelpunkt. Dieser Vorgang zeigt, dass es nicht immer leicht und einfach ist, die konfessionell geprägte Tradition und die ökumenische Weite miteinander zu verbinden, dass diese Spannung aber auch befruchtend war. Das »Katholische« des Festes war deutlich, die ökumenische Dimension hat sich aber als eine durchgehend prägende und die Tiefe des Festes bestimmende Größe gezeigt. Die Reliquie wurde in den Formulierungen des Bistums als Verweis auf Christus beschrieben, sie hatte keine eigenständige Bedeutung. Die theologische Durchdringung der

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Frage, wie die Reliquie zu verstehen sei, hat neben der ökumenischen auch eine innerkatholische Dimension. Die Zurückhaltung gegenüber magischem Denken und historisch unhaltbaren Behauptungen findet sich auch in der katholischen Bevölkerung des Bistums. Das Interesse an einer Wallfahrt zum »Heiligen Rock« kann nicht einfach vorausgesetzt werden. Auch darum sind, ansatzweise bei der Wallfahrt 1959, ganz deutlich aber bei der Wallfahrt 1996, neue theologische Akzente gesetzt worden. Die Zeit nach der Wallfahrt 1996 hat darüber hinaus zu einer ökumenischen Profilierung des Bistums geführt, das jedes Jahr während der 10-tägigen Heilig-Rock-Tage immer einen Tag der Ökumene gefeiert hat. Die Beteiligung der Ökumene, insbesondere der evangelischen Kirche, hat bei kritischen katholischen Gemeindegliedern durchaus zu Irritationen geführt. Sie empfanden es als einen »Dolchstoß«, dass Protestanten an der Wallfahrt teilnahmen, die sie als überkommen ablehnten. Deutlich ist hervorzuheben, dass die evangelische Teilnahme nur aufgrund der stringenten ökumenischen Ausrichtung möglich war. Es kann auch – zu einem anderen Zeitpunkt und mit einer anderen Konzeption – nicht sinnvoll sein, an der Wallfahrt teilzunehmen. Vor allem ist aus der Teilnahme an der Heilig-Rock-Wallfahrt 2012 nicht zu schließen, dass sich die EKiR nun auch selbstverständlich an anderen Wallfahrten beteiligt. 2. Vorbereitung 2.1 Einladung Die Evangelische Kirche im Rheinland war sehr rechtzeitig, mit Schreiben von Bischof Ackermann vom 28. Mai 2010, über die Wallfahrt informiert und zur Beteiligung an der Wallfahrt gebeten worden. 2.2 Mitwirkung von Mitgliedern der EKiR Superintendent Pistorius war sehr frühzeitig in den Beirat der Wallfahrt, Oberkirchenrätin Barbara Rudolph in die Vorbereitungsgruppe »Ökumene-Konzeption« berufen worden (Einladung zur Mitwirkung erfolgte am 23. Juni 2009). In dieser Arbeitsgruppe unter Leitung von Weihbischof Robert Brahm wurde die ökumenische Grundausrichtung der Wallfahrt formuliert. Das geschah noch, bevor offiziell die Wallfahrt ausgerufen wurde. Die Ökumenekonzeption wurde ein Teil der Grundlagentexte für die gesamte Wallfahrt (Anlage). Außerdem wirkten andere Mitglieder der EKiR, aber auch der orthodoxen Kirche und der Freikirchen an der Vorbereitung mit. In den Vorbereitungsgruppen Tag der Ökumene, Ökumenisches Forum, Wochenimpulse und Ökumenische Mittagsandachten war jeweils ökumenische Beteiligung erbeten. Die Einbeziehung in die Vorbereitung war so stark, dass sich ab 2010 (insgesamt dreimal) die Mitglieder der EKiR trafen, die sich an der Vorbereitung beteiligten, um ein gemeinsames Vorgehen abzusprechen. Einberufer der Mitwirkenden war Superintendent Christoph Pistorius. An dem Kreis nahmen teil: Oberkirchenrätin Barbara Rudolph, Düsseldorf Pfarrer Thomas Luxa, Trier Pfarrerin Dr. Barbara Schwahn, Düsseldorf (Vorbereitung Ökumenisches Internationales Forum)

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Pfarrerin Dr. Wibke Janssen, Koblenz (Vorbereitung Ökumenisches Internationales Forum) Pfarrer Arndt Fastenrath, KK Obere Nahe Realschulkonrektor i.R. Rüdiger Lancelle, KK Koblenz Pfarrer Christian Tobisch, KK Saar-West Prof. Dr. Andreas Mühling, Trier Hauptanliegen war eine gemeinsame Absprache über Intention und Ziel der Beteiligung der EKiR an der Wallfahrt. Aus diesem Kreis erwuchs die Idee, das Anliegen der Beteiligung durch protestantische Profilierung auch in die Öffentlichkeit zu kommunizieren und sich selbst und der evangelischen Kirche Rechenschaft darüber abzugeben, warum und unter welchen Bedingungen die evangelische Mitarbeit geschieht. Eine große Sorge der Beteiligten war, eine nicht gewollte und vielleicht unreflektierte Vereinnahmung der evangelischen Mitwirkenden. Durch die Erarbeitung der Orientierungshilfe »Du setzt das Maß für Schritt und Tritt« wurden die Überlegungen zur Beteiligung und die Formen der Mitwirkung in der rheinischen Kirche bekannt gemacht. Die Orientierungshilfe fand viel Zustimmung, die Kritik bezog sich eher formal auf die aufwendige Form (die aber im Vergleich zu anderen Publikationen der EKiR keinen Bestand hat). Darüber hinaus entwickelte sich in Kooperation mit chrismon plus rheinland ein neues Format der Veröffentlichung, das für die Zukunft auf seine Praktikabilität geprüft werden sollte. Sowohl der Medienverband als auch die EKiR haben diese Kooperation begrüßt. 2.3 Internationales Ökumenisches Forum Zu der Vorbereitung der Wallfahrt gehörte vor allem das für Ende Januar (also ein Vierteljahr vor Beginn der Wallfahrt) gelegte Internationale Ökumenische Forum, das sowohl in der Planung als auch Durchführung eine multilaterale Ausrichtung hatte und mit der Themenentfaltung die gesamte Wallfahrt prägte. Sowohl der Gedanke des Webens als auch die vier thematischen Erschließungen haben die weitere Wallfahrt geprägt: – Kreuz und quer verwoben – Christsein in der Gesellschaft heute und der Dialog der Religionen – Nahtlos zerrissen? – Ökumenische Herausforderungen und Perspektiven – Gut angezogen? – Nachfolge in Tradition und Wandel – Eine Nummer zu groß? – Aus der Hoffnung leben, mit Vorläufigkeiten umgehen lernen. Die mit weit über 100 Personen besuchte Tagung hatte ein hohes theologisches und didaktisches Niveau und zeichnete sich durch eine überaus großzügige Gastfreundschaft des Bistums aus. Höhepunkt der Tagung war der Mittwoch des Symposions, an dem der Generalsekretär des Ökumenischen Rates der Kirchen Olaf Fykse Tveit, Kurt Kardinal Koch, Präses und Ratsvorsitzender Nikolaus Schneider, Bischöfin Wenner und Erzpriester Constantin Miron (in Vertretung von Metropolit Augoustinos) miteinander diskutierten. Es zeigte bei allen Unterschieden, dass das Bistum Trier ein Boden ist, auf dem ökumenische Begegnung auf hohem Niveau möglich ist. Die Tagung war das Vorzeichen für die Wallfahrt, ihr ökumenischer Akzent war gesetzt. Die Präsenz von Domkapitel im Eröffnungsgottesdienst und die fast durchgehende Präsenz des Bischofs und der Weihbischöfe machte darüber hinaus deutlich, dass die ökumenische Akzentsetzung im Vorfeld der Wallfahrt vom Bistum getragen und gefördert wurde. An dem Symposion beteiligte sich die EKiR auch finanziell, eine Endabrechnung liegt zurzeit noch nicht vor.

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2.4 Ökumenische Gottesdienste am Pfingstmontag (Amtsblatt des Bistums Trier) In diesen Zusammenhang gehört auch, dass im Amtsblatt des Bistums ökumenische Gottesdienste für den Pfingstmontag ohne besondere Genehmigung freigegeben wurden. Die Bedingungen knüpfen sich an Tradition und örtliche Ökumene, aber nicht mehr an den Ausschluss zu besonderen Gottesdienstzeiten. Durchführung der Wallfahrt Die Ökumene war zur Eröffnung der Wallfahrt eingeladen, jeden Mittag zur Andacht gestalteten Mitgliedskirchen der ACK die Ökumenische Mittagsandacht in der Basilika, jeden Montag fand ein ökumenisch ausgerichteter Vortrag statt, jeden Freitag gestaltete ein ökumenischer Gast das Abendlob um 21 Uhr. Insgesamt gab es über 50 Veranstaltungen, die ökumenisch ausgerichtet waren. Dazu kamen einige konfessionell gemischt zusammengesetzte Pilgergruppen. Die orthodoxe Ökumene nahm an der Wallfahrt ebenfalls Anteil, vor allem altorientalische Pilgergruppen überraschten, auch die katholischen Gläubigen, durch ihre Reliquienfrömmigkeit. Besonderer Höhepunkt war der Tag der Ökumene am 5. Mai, einem Samstag, an dem über 2000 Menschen teilnahmen. Geistliche Leitende aus allen Kirchen der ACK, u. a. auch Präses Schneider, gestalteten einen Stationsgottesdienst vom Dom über das Priesterseminar bis zur Basilika. (Die letzte Station wurde wegen eines Unwetters ebenfalls in der Basilika abgehalten.) Dieser Pilgerweg zeigte sichtbar die Präsenz aller Kirchen in Trier und war mit einem ökumenischen Taufgedächtnisgottesdienst auch ein Zeichen des ökumenischen Fortschritts, da die täuferischen Kirchen ebenfalls beteiligt waren. An diesem Tag nahmen viele Gemeinden aus der EKiR teil, aber auch die Evangelische Kirche der Pfalz war beteiligt, Kirchenpräsident Christian Schad predigte im Abschlussgottesdienst. Im acht-minütigen zusammenfassenden Trailer zur Wallfahrt auf der Homepage der Heilig-Rock-Wallfahrt bezeichnet Bischof Stephan Ackermann rückblickend auf die gesamte Wallfahrt den Tag der Ökumene als den für ihn wichtigsten Höhepunkt. Die evangelische Kirchengemeinde Trier war während der gesamten Wallfahrt in das Wallfahrtsgeschehen involviert, sie stellte die Basilika zur Verfügung, das Kirchencafé war geöffnet, Küsterin und Kirchenmusiker, Presbyterium und Gemeindeglieder waren vielfältig beteiligt. Reaktionen innerhalb der EKiR Die Reaktion innerhalb der Evangelischen Kirche war zunächst verhalten und eher zögerlich. Die Beteiligung an der Vorbereitung wurde wenig beachtet. Erst durch die Pressekonferenz der EKiR Ende November und die Berichterstattung auf der Landessynode wurde die Beteiligung an der Wallfahrt als gesamtkirchliches Ereignis wahrgenommen. Zusammen mit der Veröffentlichung der Orientierungshilfe wurde deutlich, dass sich die Beteiligung nicht auf ein süd-rheinisches Ereignis reduzieren ließ. Die daraufhin entstehende Diskussion, die sehr grundsätzlich die Beteiligung an der Wallfahrt in den Mittelpunkt stellte, war überraschend nach der vergleichsweise geringen Reaktion im Jahr 1996. Sehr verspätet wurde die theologische Debatte jetzt geführt, anscheinend war die erste Beteiligung noch als singulär und auf die Initiative des damaligen Präses Beier zu reduzieren. Vermutlich hat auch die ökumenische Aufbruchsstimmung im Vorfeld der

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Milleniumswende eher gelassene bis positive Reaktionen hervorgerufen als die auch durch Enttäuschungen und Ernüchterung geprägte Stimmung in der Ökumene Innerhalb der Kirchenkreise, die auf dem Boden des Bistums liegen, gab es sehr unterschiedliche Einschätzungen, die Superintendenten haben die Wallfahrt zum größten Teil begrüßt und unterstützt. Es gab aber auch sehr ablehnende Stimmen. Die größte Anzahl war, nüchtern betrachtet, einfach uninteressiert an der Wallfahrt. In der EKiR gab es zur Wallfahrt Vorträge in drei Kirchenkreisen durch Oberkirchenrätin Barbara Rudolph: Kirchenkreis Trier (Kreissynode), Kirchenkreis Koblenz (Kreissynode) und Kirchenkreis Wuppertal (Pfarrkonvent). Im Vorfeld der Wallfahrt gab es Stellungnahmen der Superintendenten aus Trier und den beiden saarländischen Kirchenkreisen, die die Wallfahrt positiv begrüßten. Der Kirchenkreis Wuppertal veröffentlichte eine Stellungnahme gegen die Beteiligung an der Wallfahrt. Außerdem wurde das Thema auf zwei Superintendentenkonferenzen diskutiert, einmal war Monsignore Dr. Bätzing, der Wallfahrtsleiter, als Referent Gast der Superintendentenkonferenz. Besonders herausragend war die Bibelarbeit von Bischof Ackermann auf der Landessynode im Januar. Auch im Arbeitskreis zur rheinischen Kirchengeschichte gab es eine Diskussion über die Wallfahrt, verbunden mit einer Auseinandersetzung über den ökumenischen Weg der Evangelischen Kirche. Vor allem apl. Prof. Dr. Thomas Schneider war entschieden gegen eine Teilnahme an der Wallfahrt, Prof. Dr. Mühling war ein Verfechter der Beteiligung. Präses Dr. h.c. Nikolaus Schneider, als auch Superintendent Christoph Pistorius (KK Trier) und Oberkirchenrätin Barbara Rudolph waren Repräsentanten der evangelischen Kirche in der Öffentlichkeit, die für die Beteiligung an der Wallfahrt standen. Eigenartig in den Schatten der Aufmerksamkeit gerieten andere Kirchen, wie z. B. die Evangelische Kirche der Pfalz und die Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen Südwest, die lange über die Beteiligung beraten hatte und für den Tag der Ökumene eine Botschaft »Wort auf den Weg« (Anlage) veröffentlicht hatte. Nachwirkung Lange wurde im Bistum Trier nach einer ökumenischen Botschaft gesucht, die von diesem Ereignis ausgehen könnte. Eigens für diese Frage gab es ein Gespräch der ökumenisch Verantwortlichen mit dem Bistum. In der ökumenischen Gesamtlage ist ein nächster klar erkennbarer ökumenischer Schritt nicht einfach, da einige zentrale Fragen im zwischenkirchlichen Bereich zurzeit blockiert sind und von einem Bistum allein nicht gelöst werden können. Die Ermöglichung der ökumenischen Gottesdienste am Pfingstmontag ist ein Schritt, im Rahmen des Bistums weitere ökumenische Schritte zu erschließen. Die von der ACK-Südwest erarbeitete Botschaft für den Tag der Ökumene »Wort auf den Weg« ist darum auch vergleichsweise schwach, sie hat aber mit dem Verweis auf das

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Jahr 2017 einen interessanten Fokus, der für die nächsten fünf Jahre zu einer ökumenischen Zusammenarbeit einlädt, deren Ergebnis spannend werden kann. Die Bereitschaft des Bistums, gemeinsam auszuloten, wie das Jahr 2017 ökumenisch begangen werden kann, ist groß. Das Bistum wartet nun auf eine »Gegeneinladung«. Präses Schneider hat unter dem Aspekt des »Christusfestes« einen Bogen gespannt von der Wallfahrt zum Reformationsjubiläum, den das Bistum gern mitgehen will. Damit steht die Frage im Raum, ob und unter welchen Bedingungen sich die EKiR auf eine Vorbereitung des Reformationsjubiläums einlässt, die im südlichen Rheinland stattfinden kann und ökumenisch genauso gastfrei in Vorbereitung, Durchführung und Nacharbeit sein will wie das Bistum bei der Wallfahrt. Auswertung – Die unterschiedliche Einschätzung, wie die reformatorischen Grunderkenntnisse nach 500 Jahren im Verhältnis zur römisch-katholischen Kirche zu verstehen sind, ist an der Auseinandersetzung um die Beteiligung an der Wallfahrt sichtbar geworden. Dieser innerevangelische Diskurs, wie er in den Beiträgen von Oberkirchenrätin Barbara Rudolph und apl. Professor Dr. Thomas Schneider, von Pfarrer Jochen Denker und Superintendent Christoph Pistorius deutlich erkennbar wird, muss fortgeführt werden. Vorschlag: Akademietagung mit dem Haus der Begegnung und dem Konfessionskundlichen Institut Bensheim – In den schriftlichen und mündlichen Reaktionen, die auf die Wallfahrt kritisch reagierten, wurde ein sich häufig wiederholender Kanon von Aufgaben genannt, die die römischkatholische Kirche abzuarbeiten hat: Anerkennung der reformatorischen Kirchen als Kirchen, Öffnung der Eucharistie für Nicht-Katholiken, ökumenische Gottesdienste am Sonntagmorgen, Zulassung von geschiedenen Wiederverheirateten zur Eucharistie, Frauenordination. Eine Bewegung auf Seiten der evangelischen Kirchen ist nicht notwendig. Provokant gefragt: Ist das die evangelische Variante der Rückkehr-Ökumene? Vorschlag: Akademietagung mit dem Haus der Begegnung und dem Konfessionskundlichen Institut Bensheim (siehe oben) – Es gibt einen klar erkennbaren Strang in der EKiR, der dem Katholizismus ein sehr tiefgehendes Misstrauen entgegenbringt und fast eine grundsätzliche Unterschiedenheit zum evangelischen Glauben beschreibt. Das entspricht weder evangelischem noch römisch-katholischem Selbstverständnis: »Uns verbindet mehr, als uns trennt«, ist eine von beiden Seiten gleichermaßen betonte ökumenische Grunderkenntnis. Kann es sein, dass diese Haltung u. a. dadurch gefördert wird, dass die Evangelische Kirche ihre Identität vornehmlich aus den letzten 500 Jahren herleitet und die ersten 1500 Jahre vornehmlich der römisch-katholischen Kirche überlässt? Vorschlag: Theologischer Ausschuss und Ausschuss für Innereuropäische Ökumene und Catholica: Eine Auseinandersetzung mit der Kontinuität evangelischen Glaubens auf der einen Seite und den Brüchen in der römisch-katholischen Kirche auf der anderen Seite könnte das Bild korrigieren. Das Reformationsjubiläum und das Jubiläum des Tridentinum im Jahr 2015 (Beginn: 13. Dezember 1545) und des Vaticanum II (1962–1965) bieten dazu Gelegenheit.

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– Für viele evangelische und römisch-katholische Gemeindeglieder war die theologische Aufarbeitung beider Kirchen zu der Reliquienverehrung und der Wallfahrt nicht, oder zu wenig, bekannt. Zwar ist die Kritik der Reformatoren an Wallfahrten und der Reliquienverehrung in der evangelischen Kirche bekannt, aber die inhaltliche Auseinandersetzung und Begründung im Detail ist nur wenigen vertraut. Es war darum hilfreich, dass Prof. Dr. Andreas Mühling die Argumentation der Reformatoren genau analysierte und eine Grundlage für eine differenzierte Argumentation gab. Viele kritische Stimmen sahen die Beteiligung an der Wallfahrt als einen Verrat an reformatorischen Grunderkenntnissen. Damit bekam die Wallfahrt einen Stellenwert, den sie bei den Reformatoren selbst nicht eingenommen hat. Vorschlag: In Zukunft genauer herauszuarbeiten, warum und unter welchen theologischen Bedingungen sich die EKiR auf ökumenische neue Wege begibt. (Allerdings ist die breite mediale Veröffentlichung nicht immer einer differenzierten Darstellung gegenüber offen.) – Die hohe emotionale Reaktion vieler Zuschriften macht deutlich, dass eine Tiefendimension der evangelischen Identität angesprochen worden ist, die auf der rein intellektuellen Ebene nicht erfassbar ist. Das katholische Milieu, das eine Wallfahrt transportiert, ist für evangelische Christinnen und Christen nicht nur fremd, sondern verursacht tiefe Ablehnung. Es gibt – auf beiden Seiten – eine Enttäuschungs- und Verletzungsgeschichte, die nicht nur durch theologische Arbeit aufgearbeitet werden kann. Diese nichttheologischen Faktoren waren auf dem 1. ÖKT im Jahr 2003 unter der Veranstaltungsreihe »Weihrauch und Posaunenklang« in den Blick genommen worden und brauchen in Zukunft verstärkte Aufmerksamkeit. – Die ökumenische Öffnung der Wallfahrt war in der Vorbereitung, Durchführung und Nachwirkung ein Grund(!)anliegen der Wallfahrt. Für die Vorbereitung auf die Reformationsfeierlichkeiten wird es ausschlaggebend sein, ob die ökumenische Dimension (nur) ein Aspekt oder ein Grundanliegen der EKiR sein wird. Vorschlag: Erarbeitung einer Ökumenekonzeption zum Reformationsjubiläum mit Vertreter(innen) aus anderen Kirchen. – Die Erwartungshaltung beim Bistum Trier als auch bei den Kirchenkreisen der Region ist, dass das nächste ökumenische Großereignis nicht in einem katholisch geprägten Milieu stattfindet, sondern in einem evangelischen Umfeld. Zunehmend wird die Hoffnung auf ein ökumenisch gestaltetes Reformationsfest 2017 geäußert, vielleicht im Raum Koblenz. Vorschlag: Der Beirat zur Reformationsdekade prüft die Möglichkeit, einen oder sogar den Schwerpunkt der rheinischen Feierlichkeiten im Jahr 2017 in Koblenz zu legen.

VI.5 Vorbereitungen auf das Reformationsjahr 2017

VI.5.1 Einladung zum Reformationsjubiläum und auf einen gemeinsamen Weg zum Jahr 2017 Brief der Präsides der Lippischen Landeskirche, der Evangelischen Kirche im Rheinland und der Evangelischen Kirche von Westfalen an die (Erz-)Bistümer von Nordrhein-Westfalen und Bistum Trier vom 22. Januar 2014∗ Sehr geehrter Herr Kardinal, lieber Bruder Meisner, sehr geehrter Erzbischof, lieber Bruder Becker, sehr geehrter Bischof, lieber Bruder Mussinghoff, sehr geehrter Bischof, lieber Bruder Overbeck, sehr geehrter Bischof, lieber Bruder Genn, sehr geehrter Bischof, lieber Bruder Ackermann, mit großer Dankbarkeit blicken wir auf die gute gemeinsame ökumenische Zusammenarbeit in unserer Region. Sowohl die Ortsgemeinden als auch die Begegnungen der Kirchenleitungen sind durch Gottesdienst und Gebet, offenen Austausch und gemeinsame Anliegen geprägt. Wenn sich jetzt die evangelischen Landeskirchen auf das Reformationsfest im Jahr 2017 vorbereiten, soll auch das von ökumenischem Geist geprägt sein. Von Anfang an hat diese Vorbereitung deshalb auch eine ökumenische Dimension gehabt, die die Landeskirchen in Nordrhein-Westfalen gern intensivieren wollen. Deshalb laden wir die (Erz-)Bistümer und die Christinnen und Christen in den Pfarrgemeinden ein, sich im Jahr 2017 an Gottesdiensten und Veranstaltungen zu beteiligen und an dem Vorbereitungsweg mitzuwirken. Wir nehmen die Bereitschaft wahr, eigene Akzente in das ökumenische Gespräch einzubringen, und freuen uns darüber, dass wir im Jahr 2014 eingeladen sind, des Ökumenismusdekrets »Unitatis redintegratio« zu gedenken. Wir nehmen ebenfalls wahr, dass das Jahr 2017 auch als eine Erinnerung an die schmerzliche Trennung und die gegenseitigen Verletzungen gesehen wird und eine »Heilung der Erinnerungen« uns auf dem Weg begleiten wird. In: M. Kappes / B. Rudolph (Hg.), Christusfest – Ökumenisches Zugehen auf das Reformationsfest 2017, Berlin/Paderborn 2016, S. 287f. ∗

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Die Evangelischen Kirchen freuen sich auf ein Fest, an dem die frohe Botschaft, das Evangelium, gefeiert wird. Auf ihrer Synode in Timmendorf im Jahr 2012 hat die Evangelische Kirche in Deutschland »Theologische Impulse auf dem Weg zum Reformationsjubiläum 2017« formuliert, die unsere Landeskirchen in der Vorbereitung begleiten: die befreiende Botschaft des Evangeliums für den einzelnen, der Gottesdienst der Gemeinde und ihr Dienst im Alltag der Welt, das Ringen um Wahrheit in der Liebe und eine Kirche, die in ihrer Ordnung und ihrer Botschaft Jesus Christus bezeugt. Gerade das gemeinsame Zeugnis verbindet uns über alle konfessionellen Grenzen hinweg und ruft uns in die Nachfolge Jesu Christi. Im Zentrum unserer ökumenischen Überlegungen zur Gestaltung des Reformationsjubiläums steht darum Jesus Christus, der Herr der Kirche. Mit unseren ökumenischen Geschwistern wollen wir darum im Jahr 2017 ein Christusfest feiern. Mit beiliegenden Überlegungen zur ökumenischen Ausrichtung des Reformationsfestes 2017 unter dem Titel »Christusfest 2017. Ökumene der Profile – Ökumene der Gaben – Ökumene der Umkehr« und den weiteren Überlegungen zu »Praktischen Schritten« laden wir die (Erz-)Bistümer und die anderen Kirchen der ACK ein, sich mit den evangelischen Landeskirchen gemeinsam auf einen Weg zu begeben. Wir sind davon überzeugt, dass unsere Gemeinden, aber auch unsere Gesellschaft, auf das gemeinsame Zeugnis der Christenheit in Deutschland angewiesen sind: die zentrale Botschaft der Reformation, dass der Mensch aus der Gnade Jesu Christi lebt und in verständlicher Sprache angesprochen wird, ist auch 500 Jahre nach der Reformation eine große Herausforderung. Darum laden wir Sie ein, mit uns gemeinsame Schritte zu gehen in der Vorbereitung der Reformationsfeierlichkeiten. Die Einladung ist von der Überzeugung getragen, dass wir immer mehr zur sichtbaren Einheit zusammengeführt werden, je mehr wir uns gemeinsam Jesus Christus zuwenden, um das Kommen des Heiligen Geistes bitten und auf die Zuwendung des Vaters vertrauen. Wir ermutigen, gemeinsame Schritte zu suchen und zu gehen, damit das Reformationsjubiläum auch ökumenisch gefeiert werden kann und vor allem gemeinsam Zeugnis in Wort und Tat in eine Gesellschaft zu geben, die auf diese Gemeinsamkeit wartet. Es würde uns freuen, wenn Sie diese Einladung annehmen und in geeigneter Form in Ihrem Bistum bekanntmachen. Für die weiteren Schritte wären wir über eine kurze Rückmeldung bis Mitte Februar 2014 dankbar. Mit herzlichen ökumenischen Grüßen Manfred Rekowski Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland

Annette Kurschus Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen

Michael Stadermann Präses der Synode der Lippischen Landeskirche

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VI.5.2 Christusfest Ökumene der Profile – Ökumene der Gaben – Ökumene der Umkehr Überlegungen zur ökumenischen Dimension des Reformationsjubiläums 2017∗ Das Reformationsjubiläum ist ein evangelisches Fest. Es berührt auch die anderen Kirchen. Einige Kirchen führen ihre eigene Identität auf die Reformation zurück, wie die evangelischen Landes- und Freikirchen, andere haben sich durch die Reformation verändert, wie die römisch-katholische Kirche, andere begegnen den verschiedenen Konfessionen, wie die Orthodoxie, aber auch die Gemeinden anderer Sprache und Herkunft. Ökumenebeauftragte der Evangelischen Kirche von Westfalen, der Evangelischen Kirche im Rheinland und der Lippischen Landeskirche haben in Zusammenarbeit mit Ökumenebeauftragten anderer (vor allem katholischer) Kirchen die nachfolgenden Überlegungen zur ökumenischen Ausrichtung des Reformationsjubiläums als Grundlage für die Einladung der drei Landeskirchen an ihre ökumenischen Partner erstellt. Sie sollen dazu dienen, ökumenische und theologische Aspekte in den Blick zu nehmen, die für die ökumenischen Begegnungen im Jahr 2017 hilfreich sein können. 1. Reformationsfest: Evangelische Gastgeberschaft Das Reformationsjubiläum im Jahr 2017 wird von den evangelischen Kirchen vorbereitet. Von der Struktur her gibt es einen Gastgeber und Gäste. Dabei gilt es, die Vielfalt der reformatorischen Erfahrungen (z. B. Freikirchen, europäische Reformationsgeschichten) und die verschiedenen Dimensionen der Reformation, wie sie in der Reformationsdekade und im Jubiläumsjahr selbst angesprochen werden, zu beachten. Dieses evangelische Gedenken kann und soll mit den anderen Kirchen gefeiert werden. Nicht jede Feier und Veranstaltung ist ökumenisch. Das Gedenken insgesamt aber hat eine ökumenische Dimension. So soll bei ausschließlich evangelischen Feiern auch bedacht sein, dass sie in der Gemeinschaft der Kirchen stattfinden. Und so soll bei ökumenischen Feiern bedacht werden, dass die Reformation für die evangelische Kirche identitätsstiftend ist und weitere theologische Dimensionen über die hier dargestellten Überlegungen hinaus hat. In der Regel werden die Feierlichkeiten zum Reformationsjubiläum in evangelischer Hand sein, zu denen die anderen Kirchen eingeladen werden. Es kann auch gemeinsam verantwortete Veranstaltungen geben, insbesondere Gottesdienste und Studientage. Das Konzept, wie es von Seiten des Bistums Trier während der Wallfahrt zum »Heiligen Rock« im Jahr 2012 entwickelt worden ist, kann dazu als Vorbild dienen. 2. Christusfest: Jesus Christus – gemeinsamer Grund und Mitte des Glaubens Christus fragt seine Jünger: Wer sagt denn Ihr, dass ich sei? (Mt 16,13–16). Die zentrale Frage des Evangeliums, der Reformation und der Feiern zum Reformationsjubiläum zielt auf Jesus Christus. Die Identität der Kirche ist eine geschenkte Identität, die Christus∗ In: M. Kappes / B. Rudolph (Hg.), Christusfest – Ökumenisches Zugehen auf das Reformationsfest 2017, Berlin/Paderborn 2016, S. 15–40; nur Thesen, erarbeitet von den Ökumenereferenten der evangelischen und katholischen Kirchen im Rheinland, 2013.

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Identität, wie sie uns in der Taufe zugesagt ist. Diese Erkenntnis verbindet die Kirchen: »Allein durch Christus werden wir gerechtfertigt, in dem wir im Glauben dieses Heil empfangen.« (Gemeinsame Erklärung Nr. 16). Das Reformationsfest ist in erster Linie nicht ein konfessionelles Fest, sondern vor allem ein Christusfest. Im Zentrum der Feiern im Jahr 2017 steht darum Jesus Christus, den Martin Luther und die Reformatoren als »Heiland« der Welt und des einzelnen ins Zentrum gestellt haben: »Gemeinsam bekennen wir: Allein aus Gnade im Glauben an die Heilstat Christi, nicht aufgrund unseres Verdienstes, werden wir von Gott angenommen und empfangen den Heiligen Geist, der unsere Herzen erneuert und befähigt und aufruft zu guten Werken.« (Gemeinsame Erklärung Nr. 15). Mit diesen Worten wird die Gemeinsamkeit in der Mitte unseres Glaubens unterstrichen. 3. Reformationsfest – Christusfest Die Feierlichkeiten des Reformationsfestes stellen das Verständnis von Reformation als Umkehr zu Jesus Christus und der Erneuerung durch sein Evangelium in den Mittelpunkt. Darum wird das »Christusfest 2017« nicht gegen die anderen Kirchen, sondern mit ihnen vorbereitet und durchgeführt. Für die Kirchen der Reformation ist eine Haltung des Triumphalismus, für die anderen Kirchen ist eine Haltung der Ablehnung nicht möglich. Für alle ist es eine Einladung, sich mit den in der Reformation aufgeworfenen Fragen (und Antworten) auseinanderzusetzen. Im Kern geht es um die gute Botschaft, das Evangelium, die Hinwendung Gottes zum Menschen, des Menschen zu Gott, zum Nächsten und zur Welt. 4. Die Heilige Schrift – gemeinsame Grundlage der Kirchen Die Bibel als Grundlage des christlichen Glaubens, das Evangelium von der Rechtfertigung allein aus Gnaden, ist tragender Grund des gemeinsamen Glaubens. Insofern können sich alle Kirchen evangelisch, d. h. evangeliumsgemäß, alle Kirchen katholisch, d. h. allgemein, und alle Kirchen orthodox, d. h. in der rechten Lehre stehend, nennen. 5. Die Taufe – sakramentales Band der Einheit Die Taufe ist Zeichen der Einheit. Sie verbindet über die Konfessionsgrenzen hinweg mit Jesus Christus und zugleich untereinander. Dies wurde eindrücklich durch die Magdeburger Tauferklärung, die von elf Mitgliedskirchen der ACK in Deutschland am 29. April 2007 unterschrieben wurde, öffentlich zum Ausdruck gebracht: »Gleichzeitig bekennen wir mit dem Dokument von Lima: Unsere eine Taufe in Christus ist ›ein Ruf an die Kirchen, ihre Trennungen zu überwinden und ihre Gemeinschaft sichtbar zu manifestieren‹. Lima, Taufe (6)«. 6. Uns verbindet mehr, als uns trennt Übereinstimmend sagen die Kirchen: »Das, was uns miteinander verbindet, ist viel stärker als das, was uns trennt« (Ökumene-Enzyklika Ut Unum Sint, Nr. 20). Die Kirchen bekennen deshalb, dass die Spaltungen nicht bis in die Wurzel reichen und erst recht nicht bis in den Himmel; darum steht im Mittelpunkt auch nicht die Trennung der Kirche, sondern der Grund der Kirche. Es gibt daher auch – trotz Trennung und Spal-

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tung – zum Reformationsfest etwas, besser, jemanden zu feiern: Jesus Christus, Herr der Kirche und Grundstein, auf den die Kirche gebaut ist. Zugleich bekennen die Kirchen: »Unsere Zerrissenheit und Spaltung widerspricht dem Willen Christi, dass seine Jünger eins sein sollen, und behindert den Auftrag der Kirche. Deshalb ist die Wiederherstellung der Einheit unter den Christinnen und Christen in der Leitung des Heiligen Geistes eine so dringliche Aufgabe« (ÖRK, Busan 2013, Vision 68). 7. Heilung der Erinnerungen Das Reformationsjubiläum ist sowohl ein Fest der Freude als auch eine Gelegenheit, daran zu erinnern, wo die Konfessionen aneinander schuldig geworden sind. Nach fünf Jahrhunderten teilen die Kirchen die Freude an Christusglauben, Bibel und Rechtfertigung, aber es gibt auch Schmerz und Erinnerungen, die auf Heilung warten (Healing of Memories). Für beides soll im Jahr 2017 Zeit und Raum sein. Bereits jetzt gibt es Initiativen von Seiten der Evangelischen Kirche in Deutschland als auch der Landeskirchen, sich diesen Erinnerungen mit der katholischen Kirchen und den Freikirchen gemeinsam in Forschung, Studien und Gottesdiensten zu stellen. 8. Ökumene der Profile – Ökumene der Gaben – Ökumene der Umkehr Die in der ökumenischen Diskussion im Hinblick auf das Jahr 2017 oft genannte Alternative »Jubiläum oder Bußakt« ist wenig weiterführend. Es geht um den Dreiklang einer »Ökumene der Profile« – »Ökumene der Gaben« – »Ökumene der Umkehr«: d. h. die Freude an der konfessionellen Farbigkeit, die Dankbarkeit für die Stärken der anderen Kirchen und die Bereitschaft aller Kirchen zur Umkehr, da wo sie hinter den Zusagen Gottes, in der Nachfolge Jesu Christi und den Möglichkeiten des Heiligen Geistes zurückbleiben. 9. Ökumene der Profile Die Kirche lebt vom klaren Glaubenszeugnis ihrer Glieder, verwurzelt in der eigenen Tradition, in der sie stehen. Die Ökumene ebnet diese gewachsenen und geformten Traditionen nicht ein, sondern setzt sie voraus und setzt sie ins Licht. Ohne Kenntnis der eigenen Tradition kann es zu keinem echten Dialog und Austausch mit den konfessionellen Traditionen der Partner kommen. Glaube ist stets profiliert, stellt sich gegebenen Herausforderungen, befragt die eigene Tradition und wagt neue Schritte. Dabei geht es zunächst und vornehmlich nicht um Abgrenzung gegenüber anderen, sondern um den Versuch einer Glaubensantwort im konkreten Bekenntnis. Die Verschiedenheit der Kirchen wird nicht eingeebnet und ignoriert. In einer so verstandenen »Ökumene der Profile« werden die Besonderheiten der konfessionellen Traditionen besonders deutlich. Neben den sich gegenseitig bereichernden konfessionellen Unterschieden nehmen wir auch sich gegenseitig ausschließende Gegensätze wahr, die der weiteren theologischen Bearbeitung bedürfen. 10. Ökumene der Gaben Für alle Kirchen ist es gut, in den anderen Kirchen eine Bereicherung, Mahnung und Einladung zu sehen, wie der christliche Glaube, auch jenseits der eigenen Tradition,

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gelebt wird. Eine »Ökumene der Gaben« ermöglicht es, die Stärken der anderen Traditionen wahrzunehmen, in ihnen dankbar eine Bereicherung zu sehen, aber sich durch sie auch kritisch herausfordern und gegebenenfalls korrigieren zu lassen. »In unserem Streben nach Einheit öffnen wir uns, um die Gaben der jeweils anderen Tradition zu empfangen und ihnen unsere Gaben anzubieten« (ÖRK, Busan, Einheit 16). Es geht konkret darum, die Auslegung der Schrift, das christliche Leben in der Gegenwart und die Verantwortung für die Welt gemeinsam wahrzunehmen, notfalls auch darum zu ringen und zu streiten. 11. Ökumene der Umkehr Es ist hilfreich, in den anderen Kirchen eine Einladung zur Hinwendung zu Christus zu erkennen, zur Umkehr zur Buße, zur Erneuerung. Die Frage nach der rechten Buße, in die Christus ruft (Mt 4,17), war ein zentraler Ausgangspunkt der Reformation. Auch heute sind die Kirchen aufgefordert, Buße zu tun in dem Sinne, dass sie sich immer neu zu Gott kehren, sich bekehren und umkehren. Die Gaben der anderen Kirchen zeigen mitunter, wo in den eigenen Traditionen Inhalte zurückgetreten sind und Christus erneut einlädt, die ganze Fülle seiner Offenbarung wahrzunehmen. Die Kirchen müssen damit rechnen, dass das Wort Gottes und der Heilige Geist sie ändert, wandelt und erneuert. Während Umkehr in der Regel auf einzelne Gläubige zielt, greifen wir den Impuls der ökumenischen Arbeitsgruppe Groupe des Dombes auf und sprechen von der »Ökumene der Umkehr«, von dem »Bemühen, durch das eine christliche Konfession ihr eigenes Erbe reinigt und bereichert mit dem Ziel, die volle Kirchengemeinschaft mit den anderen Konfessionen wiederzufinden« (Groupe des Dombes, Für die Umkehr der Kirchen, Nr. 55). 12. Durchbrechen von Bildern und Rollen Im jahrhundertelangen Mit- und vor allem Gegeneinander haben die Kirchen sich gegenseitig Rollen zugewiesen bzw. eingenommen, die zum Teil einseitig, engführend und wenig hilfreich sind. Diese Engführungen aufzubrechen und zu weiten, ist für das ökumenische Miteinander notwendig und das Reformationsjubiläum ein guter Anlass. Für die Kirchen der reformatorischen Tradition gilt es insbesondere, dass sie die Zeit vor der Reformation vertieft als die eigene Kirchengeschichte wieder entdecken und die Kontinuität als ein Merkmal ihrer eigenen Kirche stärker in den Blick nehmen. Für die orthodoxe und römisch-katholische Kirche gilt es, die Veränderungen in der eigenen Kirche (»ecclesia semper reformanda«) vertieft aufzunehmen und als Teil der eigenen Kirchengeschichte zu beschreiben. 13. Reformationsjubiläen in den vergangenen Jahrhunderten Das Reformationsfest ist eine evangelische Feier, die jeweils in ihrer Zeit eine Auslegung und Interpretation der reformatorischen Ereignisse und Erkenntnisse wahrnimmt. Dabei haben die Feiern, in denen eines runden (Jahrhundert-)Jubiläums gedacht wird, eine in ihrer Zeit begründete Auslegung erfahren. Sie waren neben theologischen Akzenten auch durch politische und kirchenpolitische Interessen beeinflusst, die die heutige Generation durchaus auch kritisch sieht: 1617 ein Jahr vor Beginn des 30-jährigen Krieges, 1717 in der Zeit des protestantischen Preußentums und der Gegenreformation, 1817 mit der preußischen Union der reformatorischen Kirchen, 1917 mitten im Ersten Weltkrieg. In

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den letzten hundert Jahren hat die ökumenische Bewegung eine Bedeutung erlangt, die für das kommende Reformationsjubiläum prägend ist. 14. Reformationsjubiläum 2017 Das Reformationsgedenken 2017 ist gekennzeichnet von einer großen Umbruchssituation in Deutschland und in allen Kirchen Europas, die mit dem Verlust an Einfluss, Finanzen und Mitgliedern einhergeht und geprägt ist von der Säkularisierung auf der einen Seite und fundamentalistischen Strömungen andererseits. In diesem Zusammenhang ist eine missionarische Ökumene gefragt, die versucht, die uns gemeinsamen zentralen Inhalte der christlichen Botschaft wieder so zur Sprache zu bringen und praktisch zu bezeugen, dass sie für Menschen von heute als für ihr Leben existenziell bedeutsam erfahren werden. Gemeinsam stehen die Kirchen vor der Herausforderung, neu sprach- und auskunftsfähig zu werden und den Glauben an die nächste Generation weiterzugeben. 15. Dimensionen der Reformation In ihrem Kern ist die Reformation religiös bestimmt. Darüber hinaus ist sie aber auch von anderen Faktoren geprägt. Die Reformation vor 500 Jahren ist nicht monokausal zu erklären, sie ist eingebettet in eine Vor- und Nachgeschichte, die einhergeht mit wirtschaftlichen, sozialen, politischen, philosophischen, naturwissenschaftlichen, medialen, weltanschaulichen Umbrüchen, die neben der religiösen Seite mit bedacht werden müssen. Das mindert nicht die theologische Erkenntnis der Reformation, ordnet sie aber ein in ihre Zeit. Eine direkte Übertragung auf die heutige Zeit ist unhistorisch. Das wird vor allem im Hinblick auf die Kirchen, die sich aus der Reformation entwickelt haben, einschließlich der heutigen Gestalt der evangelischen Kirchen und der römisch-katholischen Kirche, wichtig. 16. Der größere Horizont des Reformationsjubiläums Auch heute stehen die Kirchen vor Herausforderungen, die weit über den binnenkirchlichen Bereich hinaus auf die Welt als Ganze zielen. Seit den 1980er Jahren steht dafür in der ökumenischen Bewegung der konziliare Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung. Heute werden diese Herausforderungen mit dem Begriff »Globalisierung« oder »Transformation« beschrieben. Der Glaube an die Rechtfertigung des Menschen allein durch Christi Gnade verlangt nach dem Eintreten der Kirchen für Gerechtigkeit. Die von Gott geschenkte Gnade befreit Christinnen und Christen dazu, sich in ökumenischer Gemeinschaft für Menschenrechte, nachhaltige Entwicklung und eine lebensdienliche Wirtschaftsordnung einzusetzen. Reformation zielt auf Erneuerung im umfassenden Sinn, im Blick auf die Einzelnen wie auf Kirche und Gesellschaft weltweit. 17. Wege der Vorbereitung Um Feiern im Jahr 2017 so auszurichten, dass ökumenische Gäste gern mitfeiern, ist es notwendig, den Weg auf das Jahr 2017 gemeinsam zu verantworten. Einladungen sind so zu gestalten, dass die Freiheit des jeweils eigenen konfessionellen Standpunktes und bestehende Unterschiede im Glauben respektiert werden. Darum muss auch der Weg zum Fest gemeinsam vorbereitet werden.

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18. Gemeinsame Schritte Die gemeinsamen Schritte in der Vorbereitung der Reformationsfeierlichkeiten bringen Herausforderungen mit sich, die auch neue und ungewöhnliche Erfahrungen eröffnen und die theologisch erarbeitet und reflektiert werden müssen. Sie sind von der Überzeugung getragen, dass wir immer mehr zur sichtbaren Einheit zusammengeführt werden, je mehr wir uns gemeinsam Jesus Christus zuwenden, um das Kommen des Heiligen Geistes bitten und auf die Zuwendung des Vaters vertrauen. Wir ermutigen, gemeinsame Schritte zu suchen und zu gehen, damit das Reformationsjubiläum auch ökumenisch gefeiert werden kann und vor allem gemeinsam Zeugnis in Wort und Tat in eine Gesellschaft zu geben, die auf diese Gemeinsamkeit wartet.

VI.6 Bericht der Ökumenischen Visite in der Evangelischen Kirche im Rheinland vom 11. bis 21. Juni 2015∗ Einleitung »Wie können wir eine relevante Kirche sein?« Diese Frage bewegt Kirchen aus verschiedenen Ländern, Sprachen, Konfessionen. Die Leitbegriffe sind verschieden. Manche unterstreichen die Bedeutung der Diakonie, andere die Verbreitung des Evangeliums, wieder andere die sozial-politische Arbeit. Die Evangelische Kirche im Rheinland (EKiR) hat uns durch ihre Kirchenleitung zu einer Visite in der Zeit vom 11.–21. Juni 2015 eingeladen. Wir, das sind 17 Vertreter1 überseeischer, europäischer und deutscher Partnerkirchen der EKiR2. Wir wurden gebeten, den »finanziellen und theologischen Umbruch« der rheinischen Kirche aus unseren kulturell und kirchlich unterschiedlichen Kontexten »kritisch-solidarisch« in den Blick zu nehmen.3 Wir haben diesen Auftrag in unterschiedlichen Arbeitsgängen wahrgenommen. Vom 11.– 13. Juni wurden wir in Düsseldorf von den Mitarbeitern der Abteilung III des Landeskirchenamtes in die Situation der EKiR eingeführt. Vom 14.–18. Juni durften wir die Mitarbeitenden des Gemeindedienstes für Mission und Ökumene (GMÖ) in thematisch ausgerichteten Kleingruppen in deren Regionen begleiten, wo wir durch Besuche und Gespräche umfangreiche Erfahrungen gemacht haben. In einer Schlussphase vom 18.–

Sonderdruck der Evangelischen Kirche im Rheinland, 2016. Zur besseren Lesbarkeit haben wir uns – nach intensiver Diskussion – in den allgemeinen Teilen für die männliche Bezeichnung entschieden. Wir denken selbstverständlich bei »den Pfarrern« auch die Pfarrerinnen mit, ebenso bei »den Mitarbeitern« die Mitarbeiterinnen usw. Wo es uns passend erschien, haben wir die Partizipialform gewählt. Dies ließ sich aber nicht durchhalten. 2 Wir sind Rev. Welman Tampubolon und Rev. Sahala Girsang aus Indonesien, Bischof Ernst //Gamxamub aus Namibia, Pfarrer Kambale Mangolopa aus dem Kongo, Rev. Dr. Dietmar Plajer und Dr. Kimberly Redding aus den USA, Bischof Jerzy Samiec aus Polen, Dr. Stefan Cosoroaba aus Rumänien, Pfarrer Roman Mazur aus Tschechien, Pfarrerin Eszter Dani aus Ungarn, Pfarrer Robin Sautter und Mme. Evelyne Will-Muller aus Frankreich, Pfarrer Jelle Brouwer aus Belgien sowie Frau Natalia Vasilevic, Lic. Theol. Volker Meißner, Dr. Wolfgang Thielmann und Pastor Mike Lee aus Deutschland. 3 Zitate aus dem Einladungsbrief des Präses Manfred Rekowski vom 29.9.2014. ∗ 1

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21. Juni in Wuppertal erzählten, analysierten und formulierten wir gemeinsam unsere Schlussfolgerungen, die wir in diesem Bericht festhalten und mit unserem Gebet begleiten. Bei aller Dichte unserer Erlebnisse und der Fülle der uns zugänglichen Informationen sind wir uns bewusst, dass wir nur Stückwerk erfahren und festgehalten haben. Deswegen bitten wir um Verständnis. Auch ist uns klar, dass unsere Wahrnehmung aus der Perspektive unserer spezifischen, verschiedenen ekklesiologischen und kulturellen Hintergründe geschieht, die sich nur bedingt mit Leben, Denken und Glauben in der EKiR vergleichen lassen. Trotz all dieser Einschränkungen bitten wir die Kirchenleitung und auch die einzelnen Christen geschwisterlich, unsere Empfehlungen in ihrem Herzen zu bewegen. In den zehn Tagen, in denen wir die EKiR und ihre Regionen besucht haben, sind wir begeisterten ehrenamtlichen und hauptamtlichen Mitarbeitern begegnet. Wir haben viel gute Arbeit und lebendige Gemeinden gesehen. Das hat uns überrascht! Vorher hatten wir gehört, dass viele Gemeinden um ihre Zukunft und Existenz ringen. Wir wurden überall mit Freude und Gastfreundlichkeit aufgenommen. Auf allen Ebenen der EKiR und der Diakonie wurden unsere Fragen gehört, unsere Perspektiven gewürdigt und Kommentare ernst genommen. Als Visitengruppe ist uns deutlich geworden, dass die EKiR historisch eine Volkskirche in einer sich schnell verändernden Gesellschaft ist. Wir freuen uns sehr über den Mut der Kirchenleitung, sich in dieser Situation auf den Weg der Visite begeben zu haben und eine Vision für die Zukunft entwickeln zu wollen. Es wird heute viel vom Sparen geredet. Wir wollen dazu beitragen, die Niedergeschlagenheit zu überwinden, die aus der Konzentration auf das »so viel weniger als früher« resultiert. Wir wollen ermutigen, sich auf die Zukunft hin leiten zu lassen. Die Welt ist groß. Die Probleme sind vielfältig. Gott ist aber größer, spricht viele Sprachen und ist reich an Rat. Darum können wir mehr vertrauen und müssen weniger planen. 1. Was für eine Kirche haben wir erlebt? Die EKiR ist eine Kirche, die öfter starke Spannungen aushalten muss. Diese haben wir wahrgenommen zwischen Liberalen und Pietisten, Stadt und Land, politisch Konservativen und politisch Linken, Pfarrern in Gemeinden und Pfarrern, die außerhalb von Gemeinden arbeiten; Gemeinde, Kirchenkreis und Landeskirche; Gemeinde und institutionalisierter Diakonie. Die EKiR ist eine Kirche, die über Ressourcen (Räume, Offenheit und Mittel) verfügt, so dass sich die Glieder der Kirche um Arme und Fremde kümmern können. Wir nehmen aber die Sorge wahr, in Zukunft mit weniger Personal auskommen zu müssen, ohne dass die Arbeit weniger würde. Wir stellen fest, dass ihr das Schrumpfen Sorge macht und dass auch das theologische Verständnis und die konfessionelle Identität nur selten zur Sprache kommen. Jenseits dieser Sorgen hat uns die ökumenische Zusammenarbeit mit Nachbargemeinden in Deutschland und international positiv beeindruckt. Die EKiR ist eine Kirche, in der es viele Pfarrer, Mitarbeiter und Ehrenamtliche gibt, die voller Engagement und Zuversicht aus Glauben sind; viele sind aber auch erschöpft. Die Geistlichen haben Angst vor der zunehmenden Belastung in ihrem Dienst und vor dro-

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hendem Burnout. Das Pfarramt wirkt stabil, ist es aber nicht! Die Identität des Pfarrers als Geistlichem in der Mitarbeiterschaft ist auch angesichts der Ordination von Prädikanten nicht ganz geklärt. Die presbyterial-synodale Ordnung ist Ausdruck der theologischen Grundausrichtung am Priestertum aller Gläubigen. Allerdings zeigt sich, dass die Verantwortung der Basis in diesem System in den Gemeinden wenig bewusst ist. Die EKiR ist eine Kirche, die wahrnimmt, dass die Gesellschaft altert. Im Gegensatz dazu stellen wir fest, dass der Arbeit mit jungen Menschen eine große Bedeutung zukommt. Uns ist aber nicht deutlich, wie die Angebote der Jugendarbeit mit dem Gemeindeleben verbunden sind. Wir stellen fest, dass die Kinder und Jugendlichen nicht an die Kirche gebunden werden. Die EKiR ist eine Kirche, die sehr gut organisiert und professionell-spezialisiert arbeitet, auch jenseits der Grenzen der klassischen Gemeinde. Es gibt viele etablierte Strukturen, die einmal sehr hilfreich waren, heute aber nicht mehr mit den Herausforderungen mithalten. Manchmal wirkt die Arbeit sogar überprofessionell. Die Kirche hat ein sehr positives Verhältnis zum deutschen Staat und Sozialsystem. Sie engagiert sich darin. Die Kirche gestaltet sich aktiv als »Kulturkirche«. Manchmal scheint es so zu sein, dass der Glaube von der Kunst überlagert wird. Die EKiR ist eine Kirche, die sich als Mitgestalterin des Reiches Gottes versteht. Sie nimmt ihre Verantwortung für die Welt ernst. Die theologische Begründung wird allerdings oft nicht überzeugend deutlich artikuliert. Viele Einrichtungen und Aktionen vermitteln den Eindruck, eher humanistisch4 orientiert als evangelisch profiliert zu sein. Die Kirche stellt sich wichtige Fragen hinsichtlich ihrer gegenwärtigen und zukünftigen Arbeit, aber sie diskutiert manchmal nur zögernd gesellschaftliche Tabus. Die EKiR ist eine Kirche, die den Mut hat, sich den Spiegel vorhalten zu lassen. Um das Bild in diesem Spiegel aber richtig zu verstehen, sei darauf hingewiesen, dass der vorliegende Bericht zwar von allen Visitierenden mitgetragen wird, aber einige Aussagen wurden unterschiedlich gesehen und auch Begriffe haben manchmal einen jeweils anderen Sitz im Leben. Das gilt vor allem für die sechs thematischen Berichte der Kleingruppen, wo sowohl die Aussagen als auch die Begrifflichkeit und der Stil bewusst nicht harmonisiert wurden. Das geschieht, weil wir nicht ein Papier mit glatter Formulierung vorlegen wollten, sondern ein Stück erlebte und verarbeitete Wirklichkeit. Möge dieser Bericht mit dem Segen Gottes einhergehen. 2. Berichte 2.1 Pfarrdienst und Mitarbeitende 2.1.1 Identität des Pfarrers Macht der Pfarrberuf Freude? Ja! Vielfach haben wir begeisterte, kreative und engagierte Pfarrerinnen und Pfarrer erlebt. Es gibt aber auch Müdigkeit und ein Jammern über weniger Geld, weniger Gemeindeglieder und höhere Belastung. 4

Unter »humanistisch« verstehen wir eine das allgemein Menschliche wertschätzende Haltung und keine atheistische Einstellung.

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Wir haben die Frage nach dem Profil des Pfarramts so wahrgenommen, dass sie zentral ist für die EKiR. Dies ist vielfach jedoch nicht bewusst und wird selten offen diskutiert. Das Pfarramt wirkt auf den ersten Blick stabil. Im Hintergrund aber gibt es viele Veränderungen, Unklarheiten und Fragen (fehlender Nachwuchs, Ausweitung der Ordination auch auf Prädikanten, zunehmende Verwaltungsarbeiten usw.). Die Pfarrerinnen und Pfarrer nehmen ihre Ordinationspflichten verantwortungsvoll wahr. Wir haben die Stärke des Pfarramts in der klassischen Seelsorge erlebt – sowohl in der Gemeinde als auch in der Schule und im Krankenhaus. In all diesen Feldern begegnet Pfarrerinnen und Pfarrern eine hohe Anerkennung aufgrund ihrer theologischen, seelsorgerlichen und rituellen Kompetenz und ihrer Fähigkeit, Menschen in Krisensituationen zu begleiten. Außerhalb der Gemeinde jedoch, z. B. im Berufskolleg, wird die seelsorgliche Praxis nicht mit dem Begriff »Seelsorge« verbunden. Als Schwäche haben wir die weit verbreitete Unklarheit im Pfarrbild wahrgenommen. Die Aussage, dass jede Pfarrerin und jeder Pfarrer ein eigenes Pfarrbild5 hat, wirkt zunächst sympathisch im Blick auf eine Freiheit in der Amtsausübung. Es wird aber schwierig, wenn darin kein gemeinsamer Nenner mehr erkennbar ist. Damit werden auch die besondere Stellung und die Zuordnung zu anderen Berufsgruppen in der Gemeinde schwierig. Wir fragen, ob das Pfarrbild nicht eher aus biblischen Vorstellungen heraus entwickelt werden müsste als aus gesellschaftlichen Begriffen und strukturtechnischen Notwendigkeiten. Geht es um Hirten oder um Schnittstellenkommunikatoren6 (auch Verwaltungsleitende sind Schnittstellenkommunikatoren)? Wir haben festgestellt, dass sich der Dienst der Pfarrerinnen und Pfarrer in der Gemeinde deutlich unterscheidet von dem Dienst im Krankenhaus, in der Schule, in der Diakonie oder in einer Citykirche. 2.1.2 Zusammenarbeit von Pfarrern, Ehrenamtlichen und Hauptamtlichen Pfarrerinnen und Pfarrer gewinnen, binden und fördern Mitarbeitende. Ehrenamt braucht allerdings pfarramtliches Hauptamt. Zum Teil wird die Motivation von Presbytern zum Engagement durch Strukturveränderungen und zunehmende Verwaltungsarbeit beeinträchtigt. Das Profil der Pfarrerin und des Pfarrers in der Zusammenarbeit mit Ehrenamtlichen und Hauptamtlichen ist undeutlich geworden, unter anderem durch die Öffnung der Ordination für Prädikanten und beruflich Mitarbeitende, nicht zuletzt auch im geteilten pastoralen Amt. Was bedeutet es, wenn auch Nicht-Theologen ordiniert werden? Wird damit nicht die Stellung der Theologen aufgeweicht? Ist es nicht so, dass man damit zwar versucht, das Predigtamt im Horizont des Priestertums aller Gläubigen einzuordnen, dabei aber doch einen »Weihestand« jenseits des rein funktional begründeten Pfarramts einführt?

5 Zeit fürs Wesentliche. Perspektiven auf den Pfarrberuf in der Evangelischen Kirche im Rheinland. Handreichung. Hg. von der Evangelischen Kirche im Rheinland, Düsseldorf 2014, S. 16. 6 Ebd., S. 24f.

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Das presbyterial-synodale Leitungsmodell überzeugt, sofern gewährleistet wird, dass ein grundsätzliches Vertrauen gegenüber dem Pfarramt aufgrund der theologischen und pastoralen Kompetenzen gegeben ist. Verstünde man die Pfarrerschaft eher nach dem biblischen Leitbild als Propheten, wie könnte deren Stimme in einem auf die Herstellung von Einmütigkeit ausgerichteten Presbyterium zur Geltung kommen? Faktisch werden Pfarrerinnen und Pfarrer innerhalb wie außerhalb der Gemeinde als Repräsentanten der Gemeinde wahrgenommen. 2.1.3 Pfarrer zwischen traditioneller Struktur und neuen Aufbrüchen Eine Stärke im traditionellen Gemeindedienst sehen wir darin, dass die Pfarrerinnen und Pfarrer kontinuierlich und verlässlich als personales Angebot zum Kontakt mit der Kirche zur Verfügung stehen. Gleichzeitig kann eine lange Amtszeit der Pfarrerinnen und Pfarrer in einer Gemeinde Neuaufbrüche und Veränderungen erschweren. Hätte eine Begrenzung der Dienstzeit der Pfarrerin und des Pfarrers in der Gemeinde hier einen positiven Effekt? Wo ist im Pfarralltag der Blick auf Neues und Zeit dafür? Die EKiR versucht, mit viel Aufwand eine überkommene Gemeindestruktur aufrechtzuerhalten. Wenn aber die Struktur den Zweck nicht erfüllt, müsste sie dann nicht geändert werden (gemeint ist mehr als eine bloße Anpassung an sinkende Zahlen)? Auch der weit verbreitete Strukturkonservativismus in den Gemeinden erschwert Veränderungen und Neuaufbrüche. Wo wird neben dem Anpassen innerhalb der bestehenden Strukturen an deren Veränderung, an zukunftsweisenden Aufbrüchen und an neuen Formen von Kirche-Sein und Evangeliumsverkündigung gearbeitet? Wo werden Projekte wie »im Aufbruch«7 konkret? Wo und wie nimmt die Kirche heutige Aufbrüche außerhalb der Kirche wahr? 2.1.4 Spiritualität von Pfarrerinnen und Pfarrern Die Pfarrerinnen und Pfarrer machen einen geistlich authentischen Eindruck. Wir haben wahrgenommen, dass Spiritualität ein selbstverständlicher Bestandteil des Lebens als Pfarrerin bzw. Pfarrer ist. Dennoch haben wir eine Anfrage an die Pflege der persönlichen Spiritualität im Pfarramt. Viele Pfarrerinnen und Pfarrer bekennen, dass diese im Arbeitsalltag oft zu kurz kommt. Auf übergeordneter Ebene (Kirchenkreis, Landeskirche) müsste dies stärker in den Blick genommen werden. Es sollten Angebote bereitgestellt werden, die die Spiritualität der Pfarrerschaft fördern. 2.2 Diakonie Wir haben als Schwerpunkte der Diakonie festgestellt: 1. Diakonie ist professionell und ehrenamtlich organisiert Gottes Liebe zu den Menschen ist in der professionellen Arbeit des ambulanten Pflegedienstes genauso sichtbar wie in dem ehrenamtlichen Engagement in der Kleiderkammer.

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Projekt »im Aufbruch« – nähere Informationen unter www.kirche-im-aufbruch.ekd.de.

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2. Diakonie ist vielfältig und komplex Die Strukturen und Trägerschaften der diakonischen Arbeit sind unübersichtlich. Diese Strukturen sind geschichtlich gewachsen, doch historische Entwicklungen sollten nicht der Maßstab für zukünftige Entscheidungen sein. 3. Diakonie ist Arbeit und Dienst Dem offiziellen Selbstbild der Diakonie nach handelt es sich bei der diakonischen Tätigkeit um einen Dienst im Auftrag der Kirche. Dazu in Spannung steht der vorrangige Anspruch vieler Mitarbeitender, in erster Linie eine professionell hochwertige Arbeit zu verrichten, wodurch der evangelische Charakter und der Aspekt eines kirchlichen Dienstes in den Hintergrund treten. 4. Diakonie vollzieht sich in Wort und Tat Die Frage nach dem christlichen Profil von Diakonie haben wir mehrmals gehört und auch selbst gestellt. Diakonische Arbeit wird von außen nicht immer als kirchliches Handeln wahrgenommen. Diakonie versteht sich als Verkündigung durch die Tat. Doch ohne das deutende Wort ist sie unvollständig. Diakonisches Handeln, das nicht durch Wortverkündigung begleitet wird, wird in Frage gestellt. Umgekehrt nicht. Zur Identität der Kirche gehören beide: Wort und Tat. 5. Diakonie MIT den Menschen Die einfachste Sprache, mit der die Kirche zu den Menschen spricht, ist die Tat. Diese Sprache wird von den Menschen, denen sich die diakonische Arbeit zuwendet, verstanden. In den Angeboten der Jugendarbeit haben wir erlebt, dass die diakonische Arbeit für junge Menschen sehr relevant ist. Sie ist relevant, weil sie auf ihre Bedürfnisse nach Hilfe und Unterstützung in ihren Lebensbereichen eingeht. In der Kleiderkammer oder dem Stadtteilhelferservice haben wir erlebt, dass Menschen, denen geholfen wird, selbst zu Helfern werden. So wird die Hilfe multipliziert. In der diakonischen Arbeit wird das christliche Menschenbild sichtbar, indem die Menschen nicht als Empfangende von Hilfe, sondern als Partner gesehen werden. Diese Stärken und Schwächen haben wir festgestellt: Professionalität ist eine Stärke und in vielen Bereichen notwendig. Doch die Professionalität kann nicht die persönliche Motivation ersetzen. Die Vielfalt der Dienste ist eine Stärke. Das bedeutet aber nicht, dass Diakonie unübersichtlich sein muss. Die Komplexität macht es schwer, Erfahrungen aus der einen Organisation auf eine andere zu übertragen. Das sind unsere Anfragen: Wir haben gesehen, dass die Bereiche der Diakonie in unterschiedlicher Weise durch Mittel der Kirche, Spenden und staatliche Mittel finanziert werden. Wie wird sich das Verhältnis von Kirche und Sozialstaat zukünftig weiterentwickeln? Die Position der Diakonie scheint noch aus der Zeit zu stammen, als Kirche unangefochten eine Volkskirche war.

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Wir regen zum Weiterdenken an: Wir haben beobachtet, dass die Diakonie weiter wächst, auch wenn die Gemeindearbeit schrumpft. Eine institutionelle Diakonie kann aber dauerhaft nur funktionieren, wenn Menschen sich von der christlichen Botschaft ansprechen lassen und persönlich motiviert sind. Anders gesagt: Das Fundament der Diakonie als kirchliches Werk ist bedroht, wenn diese sich völlig von der Gemeindearbeit abkoppelt. Bei allen Herausforderungen, vor denen die Kirche steht, muss sie festhalten am Glauben. Gottes Liebe zeigt sich auch im diakonischen Handeln. Wir empfehlen: Die institutionelle Diakonie und die Gemeindearbeit sollten mehr miteinander vernetzt werden. Beide Bereiche sollten partnerschaftlich zusammenarbeiten, denn dies ist für beide Seiten ein Gewinn. 2.3 Mission und Evangelisation Unter den Begriffen »Mission« und »Evangelisation« verstehen wir in diesem Bericht die Einladung zum praktisch gelebten Glauben und zum aktiven Leben in der Kirche. Wahrnehmung Deutschland ist Missionsland geworden – darüber sind sich alle einig. Die Begriffe »Mission« und »Evangelisation« werden wenig benutzt, aber beides geschieht – jenseits der Bezeichnung – oft. Ob es »Mission«, »Evangelisation«, »Einladende Gemeinde«, »Missionarisch geöffnete Gemeinde« oder »Glauben miteinander teilen« heißt, ist nicht so wichtig. Es gibt eine Vielfalt theologischer Richtungen und Konzepte. Jede Gemeinde gestaltet ihr Missionsangebot anders. Ehrenamtliche arbeiten an vielen Stellen mit. Es gibt eine gute Zusammenarbeit zwischen Geistlichen und Laien. Viele Gebäude werden missionsfreundlicher umgestaltet (Kirchencafé usw.). Die Christen sind bei der Verkündigung ihres Glaubens sehr höflich und zurückhaltend. In einigen Gemeinden ist zudem der Übergang zwischen Mission und Diakonie fließend, denn Diakonie ist missionarisch und Mission diakonisch. Missionarisch stark engagierte Menschen meinen, es gebe zu wenig solcher spezifischer Aktivitäten in der Kirche; wir aber nehmen wahr, dass es vielfältig einladende, zu Kirche und Glauben führende Angebote gibt. Stärken Das Thema wird nach unserer Beobachtung ernst genommen und auf allen Ebenen der Kirche bearbeitet. Viele Gemeinden sehen es als ihre Hauptaufgabe an, den Glauben weiterzugeben. Mit großer Kreativität werden neue Formen von Mission gesucht und gestaltet: zum Beispiel neue Gottesdienstformen, Glaubenskurse, niedrigschwellige Angebote, moderne Musik verschiedenen Stils. Es gibt eine Fülle von Material zu Mission und Evangelisation und genug Geld für den kreativen Umbau der Gebäude.

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Schwächen Viele Gemeinden, auch viele Pfarrerinnen und Pfarrer, haben große Zurückhaltung, mit Menschen, die den christlichen Glauben nicht praktisch leben, klar zu sprechen.8 Eine zu stark pfarrerzentrierte Arbeit hindert außerdem oft Mission und Evangelisation; einladende und missionarische Gemeinde kann nur mit einem Team verantwortet und gestaltet werden. Anfragen Wir nehmen wahr, dass die Kirche zwar offiziell klare Aussagen über Glauben, Mission und Evangelisation macht, aber die Frage ist, ob und wie dies in den Gemeinden und im persönlichen Leben der Gläubigen in die Tat umgesetzt wird. Bei aller Höflichkeit und allem Respekt: Bedeutet die Verkündigung des Evangeliums manchmal nicht auch, in die Konfrontation einzutreten und ein Ärgernis zu bereiten? Warum bleiben so viele Kinder, die die EKiR durch Kindergarten, Religionsunterricht und Konfirmandenunterricht gut begleitet hat, hinterher fern? Bedeutet dies, dass in der EKiR etwas falsch gemacht wird oder dass ihr System nicht mehr für diese Zeit passend ist? Anregungen zum Weiterdenken Wenn es um quantitatives Wachstum geht, sollte es nicht nur um die Zahl der Kirchensteuerzahler gehen, sondern auch um die der Gottesdienstbesucher und aktiven Gemeindeglieder, denn das spiegelt die Situation der Kirche besser wider. Die theologische Rede der Kirche sollte stärker trinitarisch sein, d. h., sie sollte auch wieder klarer und deutlicher von Jesus Christus und dem Wirken des Heiligen Geistes sprechen. Die Kirche sollte mehr darüber nachdenken, wie sie strukturellen Ballast abwerfen und mit »leichtem Gepäck« weitergehen kann. Ob das Verhältnis zu den Muslimen über den guten Dialog hinaus auch missionarisch geführt werden soll, ist eine theologische und missionarische Grundsatzfrage, die die EKiR für sich zu entscheiden hat. Wir Visitierenden kommen aus weltweiten Kirchen, die unterschiedliche Antworten darauf haben. Handlungsempfehlungen Wie bereits gesagt, kann eine zu stark pfarrerzentrierte Arbeit die weit gefächerten missionarischen Aufgaben nicht bewältigen. Daher müssen mehr Ehrenamtliche dafür gewonnen und durch Mitarbeiterkurse gestärkt werden. Pfarrer sollten stärker befähigt werden, Ehrenamtliche zu gewinnen und zu begleiten. Um die Begleitung von Eltern und Paten zu verbessern, sollten Kurse vor der Taufe verpflichtend sein und auch Kurse nach der Taufe angeboten werden. Die Investition in Gebäude sollte dahingehend zielen, dass die Räumlichkeiten und ihre Nutzung zur missionarischen Offenheit beitragen. 2.4 Bildung und Inklusion Kirchliche Bildungsarbeit geschieht vielfältig und differenziert. Klare Konzepte und Leitlinien sind grundlegend. Professionelles Handeln ist sichtbar und erfahrbar. 8

Wir denken dabei sowohl an Nicht-Christen als auch an Christen, deren Kirchenmitgliedschaft nur auf dem Papier besteht.

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Bildungseinrichtungen haben qualitativ hochwertige Gebäude, Ausstattungen und Arbeitsmittel. Meistens sind sich die Leiter und Mitarbeiter dessen nicht bewusst. Hervorragende Jugendarbeit kann z. B. auch mit bescheidener Ausstattung und geringen Mitteln geleistet werden. Wir erlebten eine Spannung. Einerseits haben wir Pfarrer und Mitarbeiter erlebt, die engagiert, kreativ und begeistert »mit Herz und Seele« wirken und ihre Arbeit als Ausdruck ihres Glaubens verstehen. Andererseits haben wir Mitarbeiter getroffen, die eher klagen, deprimiert und unflexibel sind. Sie sehnen sich nach den guten alten Zeiten zurück, als alles viel besser war und mehr Geld zur Verfügung stand. Diese Haltung ist von dem ängstlichen Blick auf weniger werdendes Geld mitbestimmt. Sie wurde von einem Mitarbeiter als »Starrheit im Geist« beschrieben. Anstelle des Handelns aus Glaubensfreude stehen nach unserer Beobachtung immer wieder auch Status-, Macht- und Prestigedenken im Vordergrund. Biblisch zusammengefasst: Einige sehnen sich zurück nach den »Fleischtöpfen Ägyptens«, anstatt sich von Gottes Ruf und dem Blick auf das verheißene Land zukunftsbezogen leiten zu lassen. Hebräer 13,14 erinnert uns: »Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.« Immer wieder haben wir die Frage gestellt: »Was ist das spezifisch Evangelische an der konkreten Bildungsarbeit?« Die Antwort war oft nicht klar. Viele Bildungsangebote können rein humanistisch begründet werden. »Evangelisch« muss aber mehr als eine Bezeichnung sein. Deshalb empfehlen wir den Einrichtungen und den Mitarbeitenden, sich mit der Frage »Was ist das Wesen und das Wesentliche der Kirche?« zu beschäftigen. Es soll klar und deutlich werden, was das »Evangelische« an der Bildungsarbeit und den Einrichtungen ist. Die Auseinandersetzung mit der Frage »Warum tun wir diese Arbeit?« ist ebenfalls notwendig. Inklusion ist praktisch möglich. Wir haben beobachtet, wie sie funktioniert. Aber Inklusion erfordert kleine Gruppen9 und zusätzliche Hilfskräfte. Das heißt: Inklusion kann keine Sparmaßnahme sein, sondern sie kostet Geld. Wir empfehlen, die Herausforderung von geringer werdenden Geldmitteln anzunehmen und mit Glaubensfreude kreativ neue Wege zu finden nach dem Motto »Vertraut den neuen Wegen, auf die der Herr uns weist.«10 Konkret könnte das heißen, dass die Verantwortlichen auf den verschiedenen Ebenen sich als Handelnde verstehen, die in Zusammenarbeit mit den Entscheidungsträgern nach neuen Lösungen suchen, anstatt sich als Opfer zu sehen. Lebendig und frisch gelebter Glaube hinterfragt im Vertrauen auf Gottes Fürsorge diejenigen, die deprimiert klagen und sich übermäßig sorgen. Wir vertrauen darauf, dass der Herr der Kirche neue Wege ermöglicht, wenn wir aufmerksam sind und uns dafür öffnen. Wir weisen auf die Gefahr hin, dass die Kirche sich nur noch auf die Reduzierung der Finanzmittel konzentriert.

9 10

Acht bis zehn Schüler pro Klasse. Evangelisches Gesangbuch Nr. 395, Strophe 1.

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Lasst uns Kraft schöpfen und Hoffnung finden bei dem, der sagt: »Wen da dürstet, der komme zu mir und trinke.« Wir haben die Verheißung: »Wer an mich glaubt, wie die Schrift sagt, von dessen Leib werden Ströme lebendigen Wassers fließen.«11 2.5 Kirche – Staat – Öffentlichkeit Wir sind davon ausgegangen, dass die EKiR im öffentlichen Raum relevant sein will. Dabei verstehen wir sowohl den Staat als auch die Kirche als große Akteure, die neben Zivilgesellschaft und Wirtschaft feste Bestandteile des öffentlichen Raums sind. Aus dem Wesen der Kommunikation heraus hat alles, was Kirche tut, sei es in liturgischer, pastoraler, sozialer, politischer und kultureller Hinsicht, eine kommunikative Dimension, in den öffentlichen Raum hinein. Darum geht es uns nicht nur um institutionalisierte Kontakte mit Staat und Öffentlichkeit, sondern um vieles mehr. Wir haben gelernt, dass die Gesellschaft in Deutschland eine individualistische Gesellschaft geworden ist, die das gemeinschaftliche Prinzip der Kirche erschwert. Ebenfalls ist es eine Gesellschaft, die sich im demografischen Wandel befindet. Die Evangelische Kirche in Deutschland ist stark von ihrer Geschichte geprägt, sei es durch das Staatskirchentum im landesherrlichen Kirchenregiment, sei es durch die Erfahrungen im Nationalsozialismus. Die EKiR ist im Hinblick auf den Staat unterschiedlich aufgestellt, da ihr Gebiet auf vier Bundesländer aufgeteilt ist. Im Hinblick auf die gesellschaftliche Öffentlichkeit haben wir gelernt, dass es ein Gefälle Nord – Süd und Stadt – Land gibt, was zu Missverständnissen untereinander führt. Wir haben uns bemüht, den Gesprächspartnern aufmerksam zuzuhören, allerdings nie nur der einen Seite, sondern wir wollten den Grundsatz audiatur et altera pars12 berücksichtigen, um ein Gesamtbild zu bekommen. Wir haben kennengelernt, wie vielfältig die Situation ist. Wir sind Personen, Situationen und Institutionen aus Politik, Staat, Schule, Kirchengemeinde, Kirchenstruktur, Zivilgesellschaft, Presse und Rundfunk begegnet, die oft mit Begeisterung für ihre Aufgabe und mit Liebe für ihre Kirche gesprochen haben. Wir haben festgestellt, dass eine durchgehend positive Haltung innerhalb der Kirche gegenüber dem Staat existiert. Er wurde nirgends in Frage gestellt, sondern nur ergänzt (Kirchenasyl). Die staatlichen Stellen wiederum sehen die Kirche als privilegierte Partnerin, allerdings mehr in der Funktion als Sozialakteurin, Wertegemeinschaft und Kulturträgerin und weniger als Prophetin im öffentlichen Raum. Wir haben zur Kenntnis genommen, dass die Mitarbeiter in Presse und Rundfunk und ihre Kunden sich eine offensivere Kirche mit profilierten Persönlichkeiten wünschen. Wir haben mit Vertretern der Zivilgesellschaft gesprochen, die die Kirche nur als eine Akteurin unter vielen wahrnehmen. Sie erwarten das Engagement der Kirchengemeinden auf Augenhöhe und freuen sich, die umfassende Organisation Kirche auf ihrer Seite zu haben. Wir haben festgestellt, dass im Sinne des evangelischen Bildungsauftrages Schulen in kirchlicher Trägerschaft existieren, wo sowohl die Schüler als auch die Lehrer als auch die Öffent11 12

Johannes 7,37–38. Es ist auch die andere Seite anzuhören.

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lichkeit die Arbeit sehr schätzen. Allerdings kann diese Arbeit immer nur exemplarisch sein. Wir haben Kirchengemeinden kennengelernt, die es sich nicht leicht machen, Gemeinderealität und öffentliche Themen zu verbinden, sowie Pfarrer, die vom sozialen und gesellschaftlichen Engagement – manchmal in entgegengesetzter Richtung – beflügelt sind bis dahin, dass sie sich an die Spitze von Demonstrationen stellen. Wir sind einer Kirche begegnet, die sich stark professionalisiert hat und mit vielen Funktionspfarrämtern versucht, gesellschaftlich relevant Aufgaben wahrzunehmen. Wir fragen uns, ob die EKiR insgesamt und auch lokale Kirchengemeinden immer die richtigen Signale in die Gesellschaft senden. Ihre Selbstanfragen und zu vorsichtige evangelische Profilierung haben wir als Mangel empfunden. Die starke sozial-gesellschaftliche Prägung geht auf Kosten von Bekenntnis und der mystischen Dimension der Kirche. Das kulturelle Engagement der EKiR lässt oft nicht mehr erkennen, dass es um die Arbeit einer Glaubensgemeinschaft geht, denn eine allgemeine humanistische Grundhaltung ist vorherrschend. Die Auslagerung von Bereichen in Funktionspfarrämter dient zwar einer Professionalisierung, allerdings entsteht dadurch die Gefahr, dass das Bewusstsein der Aufgabe auf Gemeindeebene verschwindet. Das gilt für Diakonie, Bildung, Öffentlichkeitsarbeit und Kooperation mit der Zivilgesellschaft gleichermaßen. Durch das Kirchensteuersystem, die Subsidiarität und die Finanzierung des Religionsunterrichtes ist die Kirchenarbeit zwar abgesichert, jedoch macht dieses auch bequem. Wir fragen uns schließlich, ob die eingeforderte Relevanz der Kirche im öffentlichen Raum doch nicht an der eingeforderten Technik und Ausbildung scheitert, sondern an der fehlenden kommunikativen Haltung der Verantwortungsträger und dem fehlenden Bewusstsein, tatsächlich etwas zu sagen zu haben. Wir empfehlen, dass die Kirchengemeinden der EKiR und ihre Amtsträger mehr Mut haben, sich im öffentlichen Raum evangelisch zu profilieren, selbst auf die Gefahr hin, Gemeindeglieder zu verlieren. Sie dürfen getrost auch die ihnen vom Staat zugewiesene Rolle und gewachsene Tabus in Frage stellen. Diese Profilierung und das gesellschaftliche Engagement darf aber nicht die seelsorgliche Komponente und lebensgeschichtliche Begleitung des Einzelnen übergehen. Pfarrer sind an ihre Gemeinden gewiesen – nicht um Kirchenstrukturen zu erhalten, sondern um für Menschen da zu sein. Wir empfehlen das Lernen von dem flexiblen und innovativen Denken der Zivilgesellschaft sowie den kreativen Einsatz von Ehrenamtlichen und deren Berufung, auch außerhalb der Kerngemeinden. 2.6 Verantwortung in der globalen Welt Was wir gesehen haben: Wir lernten interreligiöse Zusammenarbeit kennen, in der über Lebensfragen wie Tod und Leid und ihre religiöse Bewältigung gesprochen wurde. So wird eine Basis geschaffen, auf der sich die Religionen gemeinsam in der Gesellschaft äußern können. Wir erlebten, wie eine Region durch den Braunkohletagebau, dessen ökologischen Langzeitschaden und das Verschwinden von Heimat tief getroffen wurde. Zugleich erlebten wir, wie langanhaltender Protest, das Eintreten für die Schöpfung und lebendiges Enga-

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gement politisch erfolgreich waren. Außerdem fanden wir auch besondere Beispiele für eine ökologische, energiesparende Gebäudesanierung. Wir halten dies alles für zukunftsweisend. Wir erlebten Gemeinden, die sich seit Jahrzehnten ganz bewusst und zum Teil mit großen Opfern für die Schwachen, Flüchtlinge und sozial bedürftigen Menschen in ihrem Ort einsetzen. Wir haben ein Presbyterium erlebt, das die Fähigkeit hatte, eine Vision gemeinsam zu entwickeln und diese langfristig und verantwortlich umzusetzen. Mittlerweile sind deswegen ehemalige Hilfeempfänger selber zu Helfern geworden. Finanziell ist die Gemeinde arm, aber sie ist reich an engagierten Mitgliedern und wächst an Mitgliederzahl, obwohl der Ort keinen Zuzug verzeichnet. Globale Verantwortung konnten wir auch im Religionsunterricht erleben. Dort, wo der Lehrer/der unterrichtende Pfarrer sich den Themen der globalen Verantwortung stellt, wirkt seine Botschaft authentisch und reißt die Schülerinnen und Schüler mit. Wir haben Gremien erlebt, die die Kirchengemeinden mit Überzeugung, großer Treue und Einfallsreichtum für ökologische und entwicklungspolitische Verantwortung und für Gemeindepartnerschaften gewinnen. In anderen Gruppen haben wir aber auch erlebt, wie die Professionalisierung eines Themenbereichs, wie etwa der Flüchtlingshilfe, zur Distanzierung davon führte (»das machen die schon, das betrifft mich nicht«). Wir halten aber Gleichgültigkeit für nicht vereinbar mit der am Evangelium ausgerichteten Verantwortung eines Christen. Die Arbeit in den Bereichen der globalen Verantwortung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung ist kein Extra, sondern diese gehört zum Wesen der Kirche. Wo sie aber lediglich als Zusatzarbeit empfunden wird, führt das zu raschem Erlahmen. Arbeitskreise machten sich eingehend Gedanken, wie sie Vorbehalte gegen eine öko-faire Beschaffung überwinden und Gemeinden dafür gewinnen können. Bei dem GMÖ entdeckten wir ein Zentrum mit beeindruckend vielen Materialien für Schule und Gemeinde, die die globale Verantwortung erlebbar und begreifbar machen. Wir empfehlen: Die Gemeinden brauchen eine klare missionstheologische Begründung dafür, dass der Einsatz für Teilhabe, für Flüchtlinge, für Menschen ohne Arbeit sowie für die Schöpfung zu ihrem missionarischen Auftrag gehört. Wir empfehlen der EKiR, die Gemeinden zu befähigen, nicht nur diese sinnvolle Arbeit zu tun, sondern auch den Grund und das Ziel vor Augen zu haben. Die Kirche muss ihre Orientierung an der Bibel zurückgewinnen, pflegen und vermitteln. In der Kirche allgemein wird das Wissen schwächer, dass sie ihre Orientierung aus der Bibel gewinnt. Die Kirche sollte um diese Orientierung kämpfen. Wo sie sieht, dass der Zeitgeist der Wahrheit der Bibel widerspricht, sollte sie ihre prophetische Stimme erheben und den Konflikt in Kauf nehmen. Das bezieht sich auch auf entwicklungspolitische

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Themen. Die Propheten des Alten Testaments bemängelten soziale Ungerechtigkeit, Hunger, Unterdrückung der Schwachen, »den falschen Gottesdienst«. Wir empfehlen der EKiR, darüber nachzudenken, ob es im Bereich ihrer Kirchengemeinden genügend Angebote gibt, die befähigen, aus der Bibel Maßstäbe für eine entsprechende Lebensweise zu gewinnen. Die Kirche sollte deutlich machen, aus welchen Beweggründen sie sich für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung engagiert. Begründet die EKiR ihr politisches Engagement genügend theologisch? Vermittelt sie, warum u. a. Umweltengagement, Flüchtlingsarbeit und ethisches Wirtschaften zu ihrem Auftrag gehören? Wir haben gute Erfahrungen dort gemacht, wo die Begründung dafür deutlich und klar formuliert und damit erlebbar wurde. Die Kirche sollte aus guten Beispielen, die in ihr vorhanden sind, Visionen entwickeln. Wir empfehlen der EKiR, die best practice-Beispiele, die es in ihrem Bereich gibt, und die sicher mehr sind als die von uns angetroffenen, als Impuls anzunehmen, um daraus übergreifende Visionen zu entwickeln. Wir ermutigen die Kirche, im Rückgang von Mitgliedern und Mitteln auch Möglichkeiten wahrzunehmen. Wie kann die EKiR auch Chancen darin sehen, dass sie kleiner wird, dass Menschen aus ihr austreten und dass sie an gesellschaftlicher Bedeutung verliert? Kann es ihr helfen, sich neu ihres Auftrags bewusst zu werden, zu dem die Verkündigung und ebenso das Zeugnis durch Verantwortungswahrnehmung für die Welt gehören? 3 Allgemeine Empfehlungen Die Ökumenische Visite hat es den Teilnehmenden ermöglicht, die bunte Vielfalt der EKiR zu erleben. Wir verstehen sie als großen Reichtum dieser Kirche. An vielen Beispielen haben wir gesehen, wie unterschiedlich und kreativ auf den verschiedenen Ebenen Kirche gestaltet und erlebt wird. Ermutigt, gestärkt und voller Hoffnung sind wir von den Besuchen in den sechs GMÖ-Regionen zurückgekehrt. Die Vielfalt in der EKiR lässt sich nicht reduzieren auf ein einziges Modell. Auch wenn die Mitgliederzahlen zurückgehen, nehmen wir wahr, dass die neu entstandene Situation auch in sich Chancen enthält. Es gibt neue, gute Erfahrungen, aus denen sich Modelle und Visionen entwickeln lassen können. Vor dem Hintergrund der kritisch-solidarischen Beobachtungen, die im Rahmen der Visite gemacht wurden, hat sich die Frage noch klarer herausgestellt, wie die Kirche für heute und morgen relevant sein kann. Die folgenden Empfehlungen fassen die Resultate aus den dargestellten Erfahrungen und Beobachtungen aller Gruppen zusammen. 3.1 Theologisches Fundament und christliche Grundhaltung A) Wir fragen uns, wie diese Kirche unter den Herausforderungen der Zeit eine »prophetische Kirche« sein kann, die ihre Position als eine von Gott berufene Institution in der

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heutigen Gesellschaft klar vertritt. Auf der einen Seite haben wir eine hohe Professionalität wahrgenommen, auf der anderen Seite hat uns des Öfteren das spezifisch Evangelische an der Kirche gefehlt. Das Fehlen einer solchen theologischen Begründung wird zum Beispiel im Bereich des diakonischen Handelns sichtbar. Deswegen schlagen wir vor, eine klarere theologische Begründung des Handelns der EKiR vorzunehmen. In diesem Sinne gilt unseres Erachtens die Orientierung an der Bibel als richtungsweisender Maßstab für alle Bereiche des kirchlichen Lebens. Diese sollte zurückgewonnen, gepflegt und vermittelt werden. B) Obwohl eine grundsätzliche theologische Orientierung erkennbar ist, scheint es an einer praktizierten Vertrauenshaltung gegenüber Gott zu mangeln. Wir wollen daran erinnern, dass Gott uns in unseren Schwächen und Fehlern treu begleitet. Deshalb: »Vertraut den neuen Wegen, auf die uns Gott gesandt« (EG 395, Strophe 3). Wir verstehen dieses Vertrauen als Ausdruck unseres Glaubens, das sich aus verschiedenen Erfahrungen speist. Daher ist unsere Empfehlung, weniger intensiv zu planen und umso mehr Gott zu vertrauen. Dieses Vertrauen fördert die christliche Haltung, sich für das Wirken des Heiligen Geistes zu öffnen und Raum für eigene Spontaneität zuzulassen. Im Hinblick darauf empfehlen wir der EKiR, aus dem Reichtum der gelebten Ökumene zu schöpfen. Als zwei Beispiele nennen wir die Übernahme von vielfältigen Gottesdienstformen und die Einführung von Haus-, Gebets- und Bibelkreisen, die den Zugang in die Gemeinde erleichtern können. 3.2 Zur Struktur und Finanzierung der Kirche A) Da sich die EKiR von unten nach oben aufbaut, erfordert es viel Transparenz, alle Ebenen an Entscheidungsprozessen zu beteiligen. Wir haben festgestellt, dass das presbyterial-synodale System in seiner Umsetzung auf Widerstände stößt. Aus diesem Grund fragen wir, ob es über die gegebenen Strukturen hinaus andere, weitere Möglichkeiten gibt, um Menschen als Akteure in Entscheidungsprozesse mit einzubeziehen. Während unserer Visiten sind wir Menschen begegnet, die den Eindruck vermittelt haben, dass das Prozedere der Entscheidungsfindung nicht immer klar nachvollzogen werden konnte. Daher ist unsere Empfehlung, die Organisation des presbyterial-synodalen Systems im Hinblick auf ihre praktische Durchführung zu überprüfen und nötige Maßnahmen vorzunehmen. B) Darüber hinaus ist die Frage der Finanzen grundsätzlich eine Frage geistlicher Natur. Darauf basierend lässt sich die gegenwärtig dominierende Frage der Finanzierung erst beantworten. Denn oft haben wir erlebt, dass dieser finanzielle Aspekt in den Vordergrund gerückt ist. Unsere Empfehlung ist, Vertrauen auf Gott konkret in finanziellen Fragen zu praktizieren. Dies bedeutet, dass gelegentlich eine Risikobereitschaft im Vertrauen auf Gott anstatt von Planungssicherheit angebracht wäre.

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3.3 Das Pfarrbild A) Uns ist aufgefallen, dass Pfarrer einerseits eine Schlüsselfunktion in der Gemeinde haben, andererseits aber die Gefahr einer pfarrerzentrierten Ausrichtung der Gemeinde gegeben ist. Diese kann zu einer Überlastung führen bis hin zum Burnout und andere Mitarbeitende entmutigen. Wenn er Verantwortung delegieren kann, wird es eher möglich sein, pastorale Aufgaben in umfassendem Maße wahrzunehmen. So empfehlen wir eine Klärung des Pfarrbildes bereits im Rahmen der Ausbildung. Der Pfarrer soll befähigt werden, kreativ Ehrenamtliche zu motivieren, zu fördern und zu begleiten. B) Wir haben bemerkt, dass das Zusammenspiel zwischen Pfarrer und Presbyterium auf Vertrauen gegründet sein muss. Ist es vertretbar, dass Pfarrer im Rahmen einer Presbyteriumssitzung in theologischen Fragen überstimmt werden? Wir empfehlen, dass Pfarrern aufgrund ihrer Ausbildung größeres Vertrauen bezüglich Fragen theologischer und geistlicher Natur entgegengebracht werden sollte. C) Im Rahmen unserer Visite haben wir festgestellt, dass es sehr viele Funktionspfarrstellen im Vergleich zu Gemeindepfarrstellen gibt. Wir empfehlen, dieses Verhältnis zu überprüfen, da durch Professionalisierung mögliche Gaben aus der Gemeinde in den Hintergrund treten. 3.4 Christliche Bildung von Kindern und Jugendlichen Kinder und Jugendliche sind Teil der Kirche von heute und potenzielle Leiter der Kirche von morgen. Für Kinder und Jugendliche wird in Gemeinden und Einrichtungen sehr viel getan. Besonders in den evangelischen Kindertagesstätten wurde deutlich, dass die Arbeit aus einem christlichen Auftragsbewusstsein geschieht. Wir sehen hierin Chancen auch im Hinblick auf den demografischen Wandel. Wir empfehlen daher, die Gemeinden in ihrer Verantwortung zu stärken, christlicher Begleiter und Ratgeber für die nachfolgende Generation zu sein, wie sie es in ihrem Versprechen bei Taufen und Konfirmationen bekunden. Es gilt, weiterhin die Zusammenarbeit zwischen Gemeinden und Einrichtungen zu intensivieren, um generationsübergreifende Beziehungen zu fördern. 3.5 Vernetzung der Kirchen in der heutigen Gesellschaft A) Es kam oft zur Sprache, dass durch die Individualisierung Menschen in der heutigen Gesellschaft sich nicht mehr so selbstverständlich in Gemeinschaftsstrukturen einbinden lassen. Die Bibel aber stellt uns ein Bild des Miteinanderlebens vor Augen. Daher stellt die Kirche ein Gegenwicht zur gängigen Lebenspraxis dar. Aufgrund dessen empfehlen wir die Ausweitung von Partnerschaften und Vernetzungen nicht nur mit der Ökumene, sondern auch innerhalb der EKiR. Wir stellen uns eine Vernetzung nicht nur in der Leitung, sondern auch auf Kirchenkreis- und Gemeindeebene vor. So können Brücken zwischen Stadt und Land bzw. Norden und Süden der EKiR gebaut werden. Auch ist eine stärkere Vernetzung der Gemeinden mit Akteuren der lokalen Zivilgesellschaft zu

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empfehlen. Dieses hätte auch als Lerneffekt die Übernahme einer flexibleren Denkweise im Allgemeinen zur Folge. B) In der heutigen Gesellschaft tätig zu sein heißt, auch das Denken einzubeziehen, das durch digitale bzw. mobile Techniken verändert wird. Die EKiR nutzt zwar die sozialen Medien wie Facebook und Webseiten auf einer allgemeinen Ebene, unterschätzt aber ihre Wirksamkeit. Wir empfehlen den Ausbau der sozialen Medien in der Kommunikation zwischen Kirche und Öffentlichkeit. Wir empfehlen die angemessene Integration von digitalen Medien in verschiedenen Formen des Gottesdienstes. 3.6 Verantwortung in der globalen Welt Bei unseren Besuchen haben wir festgestellt, dass die EKiR Verantwortung für die Welt als Teil ihres Auftrags wahrnimmt. Dies erkannten wir daran, dass sie sich u. a. für Flüchtlinge oder Menschen ohne Erwerbsarbeit und die Bewahrung der Schöpfung einsetzt. Der Konziliare Prozess ist nicht bloß eine mögliche Option, sondern eine notwendige Aufgabe der Kirche. Wir empfehlen allen Gemeinden und Kirchenkreisen, den Konziliaren Prozess als kontinuierliche Verantwortung wahrzunehmen und umzusetzen. Dank und Ermutigung Am Ende dieses Berichts unterstreichen und bewerten wir das mutige Unternehmen der Landeskirche, die uns Vertrauen geschenkt hat, sehr positiv. Wir sind uns des Vertrauens bewusst, dankbar und bescheiden. Wir haben vieles gelernt, was wir mit nach Hause nehmen. Ihnen in der Evangelischen Kirche im Rheinland danken wir sehr herzlich. Kritisch und solidarisch haben wir Ihre Gemeinden und Strukturen in den Blick genommen. Wir verstehen unsere Arbeit als Hilfe für Entscheidungen, die Sie zu treffen haben. Sie stehen nicht nur vor administrativen, sondern vor geistlichen Herausforderungen. Auch wenn die Situationen in den Partnerkirchen unterschiedlich sind, sind wir alle aufgerufen, für Gottes Reich zu arbeiten. Die Zuversicht, dass Gott uns begleitet, trägt uns. Dem aber, der überschwänglich tun kann über alles hinaus, was wir bitten oder verstehen, nach der Kraft, die in uns wirkt, dem sei Ehre in der Gemeinde und in Christus Jesus zu aller Zeit, von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen. (Eph 3,20f.) Wuppertal, den 20. Juni 2015

Nachwort Barbara Rudolph

Die in diesem Band zusammengetragenen Dokumente aus der jüngeren rheinischen Kirchengeschichte zeigen die enge Verwobenheit der Evangelischen Kirche mit ihren ökumenischen Partnern in der Region. Vielleicht ist das im »katholischen Rheinland« auch gar nicht anders möglich, als in Kommunikation und im Austausch mit den anderen Kirchen zu sein, insbesondere mit den katholischen Bistümern. Die Evangelische Kirche im Rheinland ist zwar die zweitgrößte Landeskirche unter den Gliedkirchen der EKD mit nur wenig geringeren Mitgliedszahlen als die Evangelisch-lutherische Landeskirche Hannovers. Aber anders als in Norddeutschland waren die evangelischen Kirchen im Westen zum größten Teil Minderheitskirchen, und auch heute befinden sich in Eifel, Saar und Hunsrück große Diasporaregionen, in denen sich die evangelische Minderheit in großflächigen Gemeinden wiederfindet. Aber auch die Städte haben zum Teil eine lange katholische Prägung, die sich erst durch die Umwälzungen aufgrund von Industrialisierung und Weltkrieg allmählich verändert hat. In der Situation der Minderheiten ist das Gespräch mit der Mehrheit dringend notwendig. Die Beiträge in diesem Band machen allerdings deutlich, dass es nicht eine erzwungene Notwendigkeit zu Kooperation, Dialog und ökumenischen Begegnungen war, die die Evangelische Kirche im Rheinland antrieb, sondern zutiefst theologische Grunderkenntnisse, wie sie bei Präses Beckmann in der Aufnahme des 2. Vatikanischen Konzils zu erkennen sind bis hin zu der ökumenischen Ausrichtung der Reformationsfeierlichkeiten im Jahr 2017. In anderen Regionen des Rheinlandes, vor allem im Ruhrgebiet, an der Rheinschiene, in den Bergbau- und Industriegebieten, aber auch rund um die nach dem 2. Weltkrieg neu entstehende Hauptstadt Bonn wuchsen ganze Stadtteile, die von Anfang an eine konfessionsgemischte Bevölkerung hatten. Die Menschen, die dort hinzogen, waren aufgrund der gleichen Lebenssituation von vornherein offen für ihre Nachbarn und nahmen rege auch am kirchlichen Leben der anderen Konfession teil. Wie selbstverständlich hat sich in vielen Stadtteilen eine gelebte und gelungene Ökumene entwickelt, die gerade auch in Zeiten Stabilität erwies, als die ökumenische Großwetterlage wenn nicht Sturm so doch aber Donnergrollen anzeigte. War der Blick zunächst auf das evangelisch-katholische Zusammenleben ausgerichtet, gab es doch auch schon früh die Öffnung für andere konfessionelle Gruppen. Stellvertretend sei Neuwied genannt, wo Mennoniten und Herrnhuter Brüdergemeine schon früh die Freiheit bekamen, ihren Glauben zu leben. Die Industriezone an Ruhr und Rhein hat dazu geführt, dass sich im Rheinland eine große Dichte an zugezogenen Christinnen und Christen aus anderen Kulturräumen findet, allen voran aus den orthodoxen Kirchen Griechenlands, Russlands, des früheren

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Jugoslawiens und Rumäniens. Im Rheinland gibt es den deutschen Hauptsitz der Griechisch-Orthodoxen-Kirche, die Metropolie in Bonn-Beuel, den Sitz des Erzbischofs der Armenisch-Apostolischen-Orthodoxen Kirche und der Äthiopisch-Orthodoxen Kirche in Deutschland. Letztere weist auf den Zuzug der neuesten Welle von Christinnen und Christen hin: die Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen und neben dem Ziel, ihr Leben hier neu aufzubauen, auch Gemeinden gründen, in denen sie den Glauben leben, wie sie ihn in ihrer Heimat kennen gelernt haben. Die Gemeinden anderer Sprache und Herkunft sind heute ein wichtiger Bestandteil kirchlichen Lebens im Rheinland. Sie sind, wie die traditionellen Freikirchen, häufig aus der reformatorischen Tradition erwachsen, haben aber durchaus eine von der Landeskirche unterschiedene Versammlungs- und Frömmigkeitskultur. Alle Freikirchen der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen sind auch im Rheinland vertreten und pflegen gegenseitig den Kontakt. Der Rhein als ein Gewässer, das schon immer Menschen in die Region gebracht und eine gewisse Welt- und Weitläufigkeit ermöglicht hat, hat die Ökumene ebenso geprägt wie die ländlichen Regionen im Oberbergischen Land oder im Hunsrück, in denen sich eine tiefe Frömmigkeit ausprägen konnte. Nicht von ungefähr hat von Wuppertal im Bergischen die Rheinische Missionsgesellschaft Menschen in alle Welt entsandt und so der ökumenischen Begegnung heute eine besondere internationale Seite hinzugefügt. Leider mussten wir uns in diesem Band beschränken auf die innerdeutsche, mitunter auch europäische Ökumene – wohlwissend, dass die Evangelische Kirche im Rheinland sich substanziell auch mit Fragen der weltweiten Ökumene, des Ökumenischen Rates der Kirchen und den Themen von Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung intensiv auseinandergesetzt hat. Die entsprechenden Verlautbarungen verdienten eine Veröffentlichung in einem weiteren Band. Angesichts des anstehenden 500. Reformationsjubiläums und des 50. Jubiläums des Vaticanums II lag Herausgeber und Herausgeberin aber zunächst daran, das erstaunliche Interesse und die aufmerksame theologische Begleitung des 2. Vatikanischen Konzils durch die evangelische Kirche noch einmal in den Blick zu nehmen und die ökumenischen Linien bis heute fortzuführen. Viele Verlautbarungen sind einer bestimmten Zeit und besonderen Umständen geschuldet. Und trotzdem haben wir viele Formulierungen gefunden, die bis heute tragfähig sind und die ökumenische Tradition der rheinischen Kirche auch weiterhin prägen können. Dabei ist die Evangelische Kirche im Rheinland durchaus auch unbequeme Wege gegangen, als sie z. B. die Einladung des Bistums Trier zur »Heilig-Rock-Wallfahrt« im Jahr 1996 annahm. Die theologische Arbeit, die die Kirchen gemeinsam in Angriff nahmen, darf nicht unterschätzt werden. Erst als eine »Christus-Wallfahrt« die Reliquienverehrung in eine auch für evangelische Christinnen und Christen theologisch verantwortbare Weise einordnete, war es überhaupt möglich, der Einladung zu folgen. Was in der Aufbruchsstimmung der Ökumene vor der Jahrtausendwende noch nahe lag, erhielt im Jahr 2012, als das Bistum Trier erneut zur Wallfahrt einlud, noch einmal eine Bewährungsprobe. Das sich ankündigende Reformationsjahr 2017 ließ die evangelischen Gemeinden verstärkt nach dem reformatorischen Profil fragen. Eine Ökumene, in der die eigene Position und Wahrheitserkenntnis verschwiegen oder zurückgedrängt wird, ist nicht tragfähig. Umgekehrt hat sich aber gezeigt, dass eine theologische gemeinsame Arbeit, die

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es auch wagt, traditionelle Standpunkte noch einmal genau anzusehen, neue wichtige Impulse setzen kann. Von der Christuswallfahrt angeregt planen die Kirchen im Jahr des Reformationsjubiläums ein Christusfest. Diese Bezeichnung für ökumenische Feiern zur Reformation hat inzwischen in ganz Deutschland eine große Resonanz gefunden. Die festgefahrene Diskussion über den Titel der Feierlichkeiten (auf evangelischer Seite: Jubiläum – auf katholischer Seite: Gedenken) haben sich damit erübrigt. Was sich nicht erübrigt hat, sind die reformatorischen Fragen, die alle Kirchen gemeinsam bewegen. In keiner Weise ist die Situation vor 500 Jahren einfach mit der heutigen Situation schlicht zu parallelisieren. Und doch erleben die Menschen heute, wie vor einem halben Jahrtausend, die Welt im Umbruch. Die »Globalisierung«, die mit der Umsegelung der Welt zur Zeit der Reformation begann, hat in unserer Zeit eine neue Zuspitzung bekommen und ist zu einem Schlagwort geworden, das ein neues Lebensgefühl und zugleich neue Herausforderungen beschreibt. Vor diesen Herausforderungen stehen die Christinnen und Christen unterschiedlicher Traditionen gemeinsam. Das Engagement für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung verbindet alle Kirchen, wie auch das christliche Zeugnis in der modernen Welt die Kirchen gleichermaßen herausfordert: in der Situation der Säkularisierung in Europa, einer religiösen Radikalisierung in anderen Teilen der Welt und einer großen Nachfrage nach sinnstiftenden Lebensorientierungen in allen Gesellschaften. Die Evangelische Kirche im Rheinland, aber auch ihre ökumenischen Partner aus den anderen Kirchen in Deutschland nehmen wahr, dass die sich rapide verändernde Gesellschaft auch die Kirchen vor Veränderungsprozesse stellt, die es zu gestalten gilt. Dabei ist auffällig, wie ähnlich die Fragen sind, die die Kirchen bewegen und wie sehr sie ähnliche Überlegungen anstellen. Während die Evangelische Kirche im Rheinland eine Ökumenische Visite im Jahr 2015 organisierte, in der die ökumenischen Partnerkirchen der EKiR einen solidaririsch-kritischen Spiegel vorhielten, bereitete das Bistum Essen »Pfarreiprozesse« vor und legte den Gemeinden eine Struktur vor, wie sie ein Konzept erarbeiten könnten. Zur selben Zeit trafen sich im Bistum Trier Synodale, um über die Zukunft ihres Bistums zu beraten. Die Ergebnisse wurden in einem Abschlussdokument unter dem Titel »Herausgerufen – Schritte in die Zukunft wagen« veröffentlicht, ein Titel, der symptomatisch ist für die heutigen Kirchen. Dass zur selben Zeit auch die konkreten Planungen für das Panorthodoxe Konzil auf Kreta (Juni 2016) begannen, ist nur ein kleiner Einblick, wie die Kirchen insgesamt die besonderen Herausforderungen wahrnehmen und sich ihnen stellen. Noch erlauben sie sich zu oft, diese Fragen allein beantworten zu wollen. Dabei sind die Fragen und die ersten tastenden Antworten sehr ähnlich und inspirieren sich gegenseitig. Die Aufgabe der Ökumene wird in der Zukunft sein, in kooperativer, arbeitsteiliger und stellvertretender Zusammenarbeit neue Wege des kirchlichen Miteinanders zu bahnen. Diesen Impuls geben die Kirchen für das Jubiläumsjahr der Reformation an die Gemeinden, wohl wissend, dass die geprägte institutionelle Zusammenarbeit in der eigenen Konfession den Blick über den eigenen Kirchturm hinaus sehr erschwert. In der Charta Oecumenica haben sich die Kirchen verpflichtet, »Selbstgenügsamkeit zu überwinden«, ein hartes selbstkritisches Wort. Die Verpflichtung ist für viele Gemeinden eine schwere, aber notwendige, eine bereichernde und wegweisende Herausforderung. Denn in allen Kirchen steht an, dass nicht der Blick auf den Erhalt der Organisation, sondern die Sendung in die Welt leitend ist. »Von wem will sich unsere Kirche missionieren lassen?«, hat

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das Bistum Trier auf seiner Synode gefragt und damit einen Perspektivwechsel vorgenommen. »Mission von den Rändern her« hat der Ökumenische Rat der Kirchen auf seiner Vollversammlung in Busan 2013 gefordert und damit ebenfalls einen Perspektivwechsel vorgenommen, und das Bistum Essen fordert seine Gemeinden auf, einen »Blick nach außen« vorzunehmen. Angesichts der strukturellen Umbrüche nehmen die Kirchen verstärkt in den Blick, was ihr Auftrag jenseits von institutionalisierten und strukturellen Sicherheiten ist. Die »anderen«, die »am Rande«, die »außen« sind, kommen in den Blick als Träger des Evangeliums. Einen radikalen Perspektivwechsel hat es das Bistum Trier genannt, einen Perspektivwechsel, der in der Nachfolge Jesu begründet ist. Diese Herausforderung hat die Kirche zu allen Zeiten gehabt und sie doch in jeder Zeit erneut als eine neue, besondere Aufgabe wahrgenommen. »Ecclesia Semper Reformanda« ist keine einfache Aufgabe, sondern immer eine kritische, in die Krise führende Aufgabe. »Wer sein Leben gewinnen will, der wird es verlieren.« Das, was Jesus seinen Jüngern sagt, das ist nach den Überlegungen der Groupe des Dombes auch ein Ruf zur Umkehr an die Kirche. In den Texten der Rheinischen Kirche finden sich viele dieser gemeinsamen Herausforderungen, Aufgaben und Perspektiven. Es gibt Ansätze in der rheinischen Kirche und in anderen Kirchen, neue ungewohnte und ungeebnete Wege zu den Menschen zu gehen. In der Ökumenischen Visite haben die Partner auf die säkularen Einflüsse hingewiesen, die viele Kirchen gemeinsam herausfordern. Säkularisierung ist nicht nur ein Thema außerhalb der Kirchen, sondern sie ist Teil der Kirche. In der Bibel zuhause zu sein, Choräle als Trost und Halt in schwierigen Zeiten zu erleben, Gottesdienste zu feiern, zumindest zu Kasualien oder zu Weihnachten, ist nicht mehr selbstverständlich vorauszusetzen. Einer der Visitatoren stellte fest: Die Menschen in Deutschland sind so schüchtern und reden nicht gern über ihren Glauben, »zurückhaltend« beschreibt der Bericht der Visite die Haltung der Gemeindeglieder und Pfarrer, wenn es darum geht, Zeugnis abzulegen. Das aber ist in einer Situation, in der die Bedeutung der Kirchen in der Gesellschaft geringer wird und von einigen auch angezweifelt wird, dringend notwendig. Die Herausforderung, im Gespräch mit Mitgliedern anderer Religionsgemeinschaften und mit Menschen, die nicht religiös gebunden sind, einfache theologische Grundkenntnisse auszusprechen oder aus den Erfahrungen des eigenen Glaubens zu berichten, trauen sich viele Gemeindeglieder nicht zu. Auf der anderen Seite gibt es eine Sehnsucht vieler Menschen nach einer authentischen religiösen Orientierung. Ein gemeinsames christliches Zeugnis der Kirchen in Wort und Tat, wie es z. B. nach Katastrophen geschieht, aber auch bei Stadtfesten, in der Seelsorge oder den Schulen, gibt auch Menschen einen Werterahmen, die nicht christlich geprägt sind. Darin liegt eine wichtige gemeinsame Aufgabe der Kirchen in der Zukunft, die noch zu oft an institutionellen Engführungen leidet. In Zukunft wird es in der Ökumene einen Paradigmenwechsel geben müssen. Wurde Ökumene häufig als eine Zusatzaufgabe neben dem Kerngeschäft der Gemeinde angesehen, das bei stärkerer Belastung von Gemeindegliedern, kirchlichen Mitarbeitenden, Pfarrern und Pfarrerinnen eingeschränkt wurde, wird sie mehr und mehr in die Mitte der Gemeinde zielen, auf die gegenseitige Entlastung, Ergänzung und Stärkung. »Ökumenische Gemeindepartnerschaften« finden darum großes Interesse und werden von den Kirchenleitungen unterstützt. Viel wird davon abhängen, wie die Kirchen und Gemeinden sich gegenseitig öffnen und Veränderungsprozesse aufeinander abstimmen. Die in der Charta Oecumenica eingegangene Selbstverpflichtung, »auf allen

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Ebenen des kirchlichen Lebens gemeinsam zu handeln, wo die Voraussetzungen dafür gegeben sind und nicht Gründe des Glaubens oder größere Zweckmäßigkeiten dem entgegenstehen«, kann konkret werden, wenn Kirchen und Gemeindehäuser geteilt werden, die Kirchen sich gegenseitig über Reformprozesse, weitreichende Entscheidungen, aber auch Verlautbarungen informieren. Die Frage stellt sich zunehmend, wie die Kirchen auf die institutionellen Umbrüche reagieren werden. Inzwischen gibt es eine ganze Reihe von Kirchengebäuden, die evangelische und katholische Gemeinden an andere Kirchen und Gemeinschaften weitergegeben oder verkauft haben. Es gibt aber auch die ersten Kirchen, die gemeinsam genutzt werden. Und anders als ein erzwungenes Simultaneum in nachreformatorischer Zeit, sind die heutigen Kooperationen auf freiwilliger Basis entstanden und zeichnen sich durch gegenseitige hohe Wertschätzung und Freude aneinander aus. Schon gibt es erste Absprachen, dass sich die Kirchen gegenseitig informieren und verabreden, wenn sie in einem Stadtteil ein Gebäude schließen, damit nicht unabgesprochen ein ganzes Quartier ohne kirchliche Gebäude und Versammlungsmöglichkeit bleibt. Das gelingt aber nur da, wo gegenseitiges Vertrauen, eine gute Kenntnis des Gegenübers und ein Wille zur Kooperation vorhanden sind. Und damit kehren wir wieder zu Präses Beckmann und den Anfängen dieses Bandes zurück. Zu seiner Zeit war es ein bedeutsamer und mutiger Schritt, sich theologisch mit den Verlautbarungen des 2. Vatikanischen Konzils auseinanderzusetzen. Wie man dieser Dokumentation entnehmen kann, hat sich eine breite Spur der Ökumene durch die Landessynode und die Evangelische Kirche im Rheinland gezogen. Auf diesen ökumenischen Erfahrungen kann die Kirche aufbauen und sich für eine engere Kooperation einsetzen. »Nehmt einander an«, der Titel dieses Buches verdeutlicht, dass es schon jetzt eine Gemeinschaft der Glaubenden gibt, die bewahrt werden muss. Die Aufforderung zeigt darüber hinaus aber auch, welche Aufgabe noch vor den Kirchen liegt.