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German Pages [348] Year 2021
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Peter Glasner
Narrheit und Ästhetik
Die Erzählkunst des Mittelalters hat ästhetisch so raffinierte wie gehaltvolle Textzeugnisse dafür hervorgebracht, dass etwa die Liebe derart aus dem Gleise zu bringen vermag, dass sie den Liebenden regelrecht zum Narren werden lässt. Die Narrenrolle – schicksalhaft verhängt oder temporär angenommen – dient den Protagonisten vor allem des Tristanstoffes in so pikanten wie intriganten Abenteuern als Betrügermaskerade. Dass aber Verkleidungsabenteuer mit närrischen Protagonisten ein immer bedrohliches Eigenleben entwickeln, macht das Lesevergnügen der Texte eines Eilhart von Oberg ebenso aus wie der Gottfried-Fortsetzer Ulrich von Türheim und Heinrich von Freiberg oder dasjenige diverser Schwankerzählungen. Die Studie konfrontiert ausgewählte mittelalterliche Erzähltexte mit Peter von Matts Intrigentheorie und arbeitet so deren je eigene Narrheitspoetik und Intrigenästhetik heraus.
Narrheit und Ästhetik Erzählen von intriganten Narren im Mittelalter
Peter Glasner
230
Trimmed: (230H × 333W) Untrimmed: (240H × 343W) mm
Kölner Germanistische Studien
978-3-412-52201-8_glasner.indd Alle Seiten
07.07.21 12:48
Kölner Germanistische Studien Herausgegeben von
Günter Blamberger, Rudolf Drux, Erich Kleinschmidt und Hans-Joachim Ziegeler Neue Folge Band 14
Peter Glasner
Narrheit und Ästhetik Erzählen von intriganten Narren im Mittelalter
BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Bibliothèque Nationale Paris, Ms. français 102, (‚Le Livre de Tristan et la reine Yseult de Cornouaille et le graal‘, Prosabearbeitung von Luce de Gast), fol. 162v: Tristan kehrt als Narr verkleidet an den Hof König Markes zurück. © 2021 Böhlau, Lindenstraße 14, D-50674 Köln, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Einbandgestaltung: Michael Haderer, Wien Satz: le-tex publishing services, Leipzig Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com 978-3-412-52203-2
„[…] nirgends rührte ich jenen dunklen Bodensatz des Lasters auf […], und absichtlich nahm ich eher das Lächerliche als das Häßliche vor. Wen auch das nicht beruhigt, der sage sich zumindest, es sei schön, von der Torheit Schelte zu kriegen; ließ ich die auftreten, so mußte sie eben sprechen, wie es zur Rolle paßt.“ Lob der Torheit, Erasmus von Rotterdam „Doch ist dies für unsere Geschichte kaum von Bedeutung; es genügt, wenn man beim Erzählen nicht ein Quentchen von der Wahrheit abweicht. [...] Kurz und gut, unser Edelmann vergrub sich solcherart in seine Bücher […], daß er schließlich den Verstand verlor. […] und dabei setzte er sich fest in den Sinn, daß jener Wust hochberühmter und hirnverbrannter Fabeleien, von denen er gelesen hatte, die reinste Wahrheit wäre […].“ Don Quijote de la Mancha, Miguel de Cervantes Saavedra „Mephistopheles (der Fausten auf die Schulter nimmt). Da habt ihr’s nun! mit Narren sich beladen, Das kommt zuletzt dem Teufel selbst zu Schaden. (Finsternis, Tumult.)“ Faust II, Goethe „Auguarir un pazzo, ce ne vuol uno e mezzo.“ Ueber die Narren überhaupt, Demokritos „Alles wirklich Wertvolle ist aus einer Spielerei hervorgegangen … Ja, man kann so weit gehen, zu sagen: Ein Mensch, der nicht weiß, dass er ein Narr ist, ist nicht nur kein Künstler, sondern versteht überhaupt nichts vom Leben.“ Kulturgeschichte, Egon Friedell
Vorwort
Die vorliegende Studie ist die aktualisierte Fassung meiner im Wintersemester 2014/15 an der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-WilhelmsUniversität zu Bonn angenommenen Habilitationsschrift. Mein Dank gilt an erster Stelle Frau Prof. Dr. Elke Brüggen für die fachliche Begleitung der Untersuchung von einer ersten Präsentation der Themenstellung an einem dies academicus bis zum gedruckten Buch. Frau Prof. Dr. Karina Kellermann danke ich besonders für ihre Beratung bei der Textauswahl sowie für ihre Forschungsimpulse. Während der beiden Vertretungsprofessuren am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin im Sommersemester 2012 und im Wintersemester 2015/16 habe ich zahllose interdisziplinäre Anregungen erfahren, für die ich vor allem Herrn Prof. Dr. Christian Kassung zu danken habe. Herrn Prof. Dr. Dietz Bering und Herrn Dr. Albert Kümmel-Schnur danke ich für ihre freundschaftliche Verbundenheit und offene Kritik. Die Studierenden meiner sprachgeschichtlichen und literaturwissenschaftlichen Seminare haben mich mit ihrer Diskussionsfreude beim Schreibprozess zusätzlich motiviert. Fabian Böker, Camilla Görgen und Charlotte Hartmann danke ich für Korrekturen und für die Überprüfung der mittelhochdeutschen Zitate. Mein ganz besonderer Dank gilt Mathis Bicker für seinen Blick auf die Gesamtheit des Textes in formaler Hinsicht und Lars Meier für das Korrekturlesen des Manuskriptes. Herrn Prof. Dr. Hans-Joachim Ziegeler danke ich für die Aufnahme des Buches in die Reihe Kölner Germanistische Studien und der Lektorin Dorothee Rheker-Wunsch und der Volontärin Laura Röthele des Verlages für die konstruktive Betreuung der Publikation. Bonn, im Oktober 2020 Peter Glasner
Inhalt
Vorwort ................................................................................................
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1. Perspektiven auf Zusammenhänge von Narrheit und Ästhetik ............ 1.1 Anomales und Anomalie............................................................. 1.2 Normativität und Ästhetik........................................................... 1.3 Ein Fallbeispiel für erzählte Narrheit und närrische Erzähler ............ 1.3.1 Erzählhandlung der Folie d’Oxford im Überblick .................... 1.3.2 Intrigenästhetik und Narrheitspoetik .................................... 1.3.3 Figuren und Perspektiven .................................................... 1.4 Textkorpus und Methodik............................................................
13 20 23 28 31 33 57 66
2. Simulierte Torheit ............................................................................ 2.1 Intrigante Anomalie und Ästhetik: Tristrant und Isalde Eilharts von Oberg ...................................................................... 2.1.1 Poetologisches in Prologperspektiven.................................... 2.1.2 Handlungsstrukturierung als Fokussierung des Narren-Abenteuers ............................................................. 2.1.3 Tristrant und Isalde im Handlungsüberblick ........................... 2.1.4 Der Minne-Tor als Intrigant und Intrigeninstrument .............. 2.1.5 Der Narr als das Selbst im ganz Anderen ............................... 2.1.6 Der Narr am Hof: eine Serie (un-)höfischer Begegnungen........ 2.2 ‚Trivialisierung‘ als Subversion: Der Tristan des Ulrich von Türheim .. 2.2.1 Tristan im Handlungsüberblick ............................................ 2.2.2 Vergleichbare Simulationen und variierende Intrigen .............. 2.2.3 Zorn, Rache und ein neuer Intrigenplan ................................ 2.2.4 Verzerrung ins Monströse.................................................... 2.3 Nuancen im Varianten: der Tristan-Narr Heinrichs von Freiberg ...... 2.3.1 Handlungslogische Verkehrungen: Tristans ‚natürliche‘ Anomalie .......................................................... 2.3.2 Künstliche Anomalie durch simuliertes Gebaren .................... 2.3.3 Die ‚Schläfer‘-Existenz des dissimulierten Liebhabers.............. 2.4 Narrheit und Ästhetik bei Eilhart, Ulrich und Heinrich ...................
71 78 83 88 90 103 125 137 155 161 163 164 182 196 199 204 213 224
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Inhalt
3. Betörende Simulationen................................................................... 3.1 Labile Normalität und normale Anomalien: Die halbe Birne Konrads von Würzburg................................................................ 3.1.1 Trügerisch vertraute Handlungsrahmung .............................. 3.1.2 Stereotype Repräsentation des Anomalen: Ästhetik labiler Normalität ............................................................... 3.1.3 Variation durch Perspektivität .............................................. 3.2 Weitere Entgrenzungen – oder: Epidemisierung der Narrheit ........... 3.2.1 Richtige Marginalisierung falscher Narrheit ........................... 3.2.2 Intrigenästhetischer Gattungsübergang ................................. 3.2.3 Narrensemantik im Erzählkontext ........................................ 3.3 Epidemie und Erosion: Grenzverschiebung und -diffusion ............... 3.3.1 Erzählen vom Erzählen in Richtung scheiternder Affektkontrolle ................................................................... 3.3.2 Auf der Schwelle zur heimlichkeit: Skatologie und Erotik ......... 3.3.3 Zanner-Verzückungen......................................................... 3.3.4 Phalluspersonifikation und weibliche Schaulust...................... 3.4 Noch mehr Illusionen: von Eigenem und Anderem ......................... 3.4.1 Entfremdend desavouierende leckerheit und sexuelle Nothelferin ........................................................................ 3.4.2 Wiederholung als Steigerung: Sadismus …............................. 3.4.3 … und ‚Sodomie‘................................................................ 3.5 Epidemisches Ausgreifen über den Textrand................................... 3.5.1 Rückblickende Destruktionen .............................................. 3.5.2 Grenzverluste und epiloghafte Verunsicherungen ................... 3.6 Narrheit und Ästhetik bei (Pseudo-)Konrad von Würzburg und Hans Folz ............................................................................
235 236 238 244 251 254 255 261 264 269 270 271 274 277 278 280 282 284 288 289 294 302
4. Fazit: Subversive Poetiken oder Die Narrheit der Anderen .................. 311 Literaturverzeichnis .............................................................................. 317 Abkürzungsverzeichnis ......................................................................... 337 Abbildungsverzeichnis........................................................................... 339 Sachregister ......................................................................................... 341
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Abb. 1 Passionsaltar, sog. Aachener Altar, linker Außenflügel, Köln um 1515/20, sog. Meister des Aachener Altars.
1.
Perspektiven auf Zusammenhänge von Narrheit und Ästhetik
Der abendländische Mensch hat seit dem frühen Mittelalter eine Beziehung zu etwas, das er vage benennt mit: Wahnsinn, Demenz, Unvernunft. Vielleicht verdankt die abendländische Vernunft einiges von ihrer Komplexität gerade dieser vagen Daseinsform, so wie die sophrosyne der sokratischen Redner einiges der drohenden hybris verdankt. […] schon lange vor Hieronymus Bosch hat dieses Verhältnis die abendländische Kultur begleitet und wird ihr auch über Nietzsche und Artaud hinaus noch folgen.1 M. Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft
„Die weisesten unter den Menschen, welche seit jeher mit ihrem Verstande unsern Planeten erleuchteten, haben einstimmig behauptet, daß die Welt voller Narren sei.“2 So beginnt Karl Friedrich Flögel eine der frühesten wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit Narrheit und Narren, die 1789 als Geschichte der Hofnarren erscheint.3 Lange also bevor Michel Foucault in seiner berühmt gewordenen
1 Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft. Aus dem Französischen von Ulrich Köppen. 12. Aufl. Frankfurt a. M. 1996 (= stw 39), S. 9. 2 Karl Friedrich Flögel: Geschichte der Hofnarren. Liegnitz und Leipzig 1789, S. 1. Vgl. dazu Michail Bachtin: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur. Übersetzt von Gabriele Leupold. Hrsg. und mit einem Vorwort versehen von Renate Lachmann. 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1998 (= stw 1187), S. 86f. 3 Spätestens mit der umfangreichen „Geschichte der Hofnarren“ von Karl Friedrich Flögel aus dem Jahre 1789 setzt eine (literatur-)wissenschaftliche Beschäftigung mit Narren und Narrheit ein, die über Etymologisches zu Typologischem vorzudringen sucht und in weitem Bogen seit der Antike historische wie literarische Hof- und Schalksnarren, Lustigmacher und Possenreißer, Volksnarren und Zwerge, nach Ländern geordnet, vorstellt. Ebenso zu erwähnen sind diese älteren Forschungsbeiträge: Friedrich Nick: Die Hofnarren, Lustigmacher, Possenreißer und Volksnarren älterer und neuerer Zeiten; ihre Späße, komischen Einfälle, lustigen Streiche und Schwänke. Stuttgart 1861; Enid Welsford: The Fool. His social and literary history. London 1968 (= Nachdruck der Ausgabe London 1935); Jacques Heers: Vom Mummenschanz zum Machttheater. Europäische Festkultur im Mittelalter. Aus dem Französischen von Grete Osterwald. Frankfurt a. M. 1986, S. 177–181. Von der
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Perspektiven auf Zusammenhänge von Narrheit und Ästhetik
Abhandlung Wahnsinn und Gesellschaft soziale Praktiken der Grenzziehung zwischen dem sog. Normalen und dem Anomalen im Zeitalter der Vernunft problematisiert und deren Ausgrenzungsgestik historisch rekonstruiert, konstatieren Philosophen und Zeitkritiker, Theologen und Satiriker unausgesetzt Topisches: den Irrsinn der Welt und die globale Verbreitung vielfältiger Arten von Wahnsinn, der – je nach Diskurs – als Torheit, Narrheit, Unvernunft oder Demenz erscheint. Unvermeidbar stellt sich dieses Andere überall dort ein, wo Wahrheit behauptet und verteidigt wird, denn wie sollten die Anders- oder Nichtgläubigen, die Wankelmütigen, aber auch die Aussteiger und sonstigen Außenseiter im Fokus der Mehrheit nicht als Narren gelten, wo der Primat des Normalen herrscht? In spätgotischer Tafelmalerei wie dem sog. „Aachener Altar“ (um 1510)4 werden derartige Zusammenhänge szenisch so ins Bild gesetzt: Der gegeißelte Christus, gequält zwischen Gott und Mensch, steht vor Pilatus, der im König der Juden bestenfalls einen Aufrührer gegen römischen Staat und Kult sehen kann, während sich unter das Volk möglicherweise Verteidiger des alten Glaubens ebenso mischen wie Anhänger des neuen Messias. Unversöhnlicher kann Perspektivität kaum realisiert werden, denn allenthalben herrschen Ausschließungsparadigmen, die den Gläubigen vom Ungläubigen, den Weisen vom Verblendeten trennen.
neueren Forschung seien hier genannt: Maurice Lever: Zepter und Narrenkappe. Geschichte des Hofnarren. München 1983; Klaus E. Müller: Der Krüppel. Ethnologia passionis humanae. München 1996, S. 69; Wolf Lepenies: Über den Hofnarren. In: Ders.: Melancholie und Gesellschaft. Das Ende der Utopie und die Wiederkehr der Melancholie. Mit einer neuen Einleitung. Frankfurt a. M. 1998 (= stw 967); Werner Mezger: Hofnarren im Mittelalter. Vom tieferen Sinn eines seltsamen Amts. Konstanz 1981; Heinz-Günter Schmitz: Das Hofnarrenwesen der frühen Neuzeit. Claus Narr von Torgau und seine Geschichten. Münster 2004 (= Dichtung – Wahrheit – Sprache. Analyse. Synthese. Dokumentation. Bd. 1); Hans Rudolf Velten: Der Körper des Narren zwischen Performanz und Textualität im Spätmittelalter am Beispiel der Figur des Gonnella bei Franco Sacchetti. In: Akten des X. Internationalen Germanistenkongresses Wien 2000. „Zeitenwende – Die Germanistik auf dem Weg vom 20. ins 21. Jahrhundert“. Hrsg. von Peter Wiesinger. Bd. 5 Mediävistik und Kulturwissenschaften. Bern/Berlin/Bruxelles u. a. 2002 (= Jahrbuch für Internationale Germanistik. Reihe A: Kongreßberichte 57), S. 341–346. 4 Der „Aachener Altar“ eines unbekannten Künstlers wird dem Umkreis der Kölner Malerschule zugeordnet. „Der Name kann insofern irreführen, als man die Entstehung des Gemäldes nach Aachen verlegen könnte, es kam aber erst im 19. Jahrhundert dort hin und erhielt seinen Notnamen von seinem jetzigen Aufenthaltsort“ (Egon Schmitz-Cliever: Die Darstellung der Syphilis auf dem sogenannten Aachener Altarbild der Kölner Malerschule (um 1510). In: Archiv für Dermatologie und Syphilis 192 (1951), S. 164–174, hier S. 164).
Perspektiven auf Zusammenhänge von Narrheit und Ästhetik
In der Darstellungsvariante des „Aachener Altars“5 findet dieses Erkenntnisphänomen reziproker Narrheitsvorwürfe ins Symbolische: Im Vordergrund lässt sich ein geistig behindertes Kind in Narrentracht, alle Welthändel ebenso wie Menschheitsentscheidendes ignorierend, von einem Affen das Haar kraulen. Man ist versucht, in diesem Kind die einzige Instanz zu sehen, die nicht richtet oder andere der Narrheit bezichtigt, und diese Figur von – wenn auch auf sich selbst beschränkter – heiterer Gelassenheit als eine ganz eigene Form von Weisheit zu betrachten. Denn auch dies begründet die Allgegenwart der Narrheit: Verglichen mit der Weisheit Gottes muss alles Menschlich-Irdische als Narrenwerk erscheinen. Das Beispiel des „Aachener Altars“ zeigt: Vor allem nichtplurale Gesellschaften prägen zu ihren identitätsspezifischen Ab- und Ausgrenzungsmechanismen auch entsprechend geartete Darstellungskulturen des Anderen aus. Die sich hierbei entwickelnde ikonographische Tradition hat für den Ungläubigen, den Ketzer und den Unbelehrbaren Stereotype entwickelt, die sich durch geschlitzte Kleidung und die Nähe zum Affig-Tierhaften im Bildvordergrund leicht identifizieren lassen. Allerdings ist die Darstellung der Narrheit im Passionsgeschehen noch vielschichtiger. Gestikulierendes Volk steht zu Füßen von Säulen, auf denen Götzenbilder thronen, während niemand den gemarterten Christus als Sohn Gottes zu erkennen scheint. Bezeichnend sind vor allem auch die Blickachsen der Figuren: Während Pilatus dem Volk zugewandt ist, dem er den verhöhnten König der Juden präsentiert, blickt Christus auf das spielende Narrenkind, das zeitgenössische „Realistik“6 als downsyndromgeschädigt ins Bild setzt.7 Über die Sphären des Religiösen und der darstellenden Kunst hinaus wird für die Narrheitsthematik somit zweierlei deutlich: zum einen ihre Affinität zu ausgrenzender Paradigmatik und zum anderen ein hiermit verbundenes Abgrenzungsproblem. Das mittelalterliche Christentum lässt Narren und Narrheit ferner allegorisch als törichte Jungfrauen an Kirchenportalen und Psalmnarren in Manuskriptillustratio-
5 Zur „Darstellung eines mongoloiden Kindes auf dem linken Flügel des um 1515/20 für die Kölner Karmeliterkirche geschaffenen Passionsaltars (heute im Aachener Münsterschatz)“ vgl. Franz Irsigler und Arnold Lassotta: Bettler und Gaukler, Dirnen und Henker. Außenseiter in einer mittelalterlichen Stadt. Köln 1300–1600. 6. Aufl. München 1995, S. 88f; Axel Heinrich Murken: Die Darstellung eines mongoloiden Kindes auf dem Aachener Passionsaltar. In: Wallraf-Richartz-Jahrbuch XXXIII (1971), S. 313–320. 6 Schmitz-Cliever 1951, S. 166. 7 Ders. weist darauf hin, dass der „Aachener Altar“ sowohl Stilmerkmale der Gotik („Anordnung der verschiedenen Einzelhandlungen der Leidensgeschichte auf einem Bilde“, „die grauenvolle und groteske Dämonenschau“) als auch Merkmale einer „Hinwendung zum naturwissenschaftlichen, rationalistischen Zeitalter“ aufweist (vgl. ebd.).
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Perspektiven auf Zusammenhänge von Narrheit und Ästhetik
nen,8 als Protagonisten der Schwankdichtung9 und Moralsatire oder als Masken und Larven in Scholaren-, Karnevals- und Fastnachtsbrauchtum auftreten.10 Zuweilen haben es – fiktiv wie historisch – berühmt gewordene Narren wie Kunz von der Rosen, Claus Narr oder Hans Gerl, der Hofnarr der Passauer Bischöfe, sogar zu porträthaften Darstellungen oder eigenen Denkmalen gebracht.11 Dem hier nur andeutbaren mittelalterlichen Repräsentationsreichtum von Narren und Narrheit entspricht eine kaum zu überblickende volkskundliche, literatur- und kulturwissenschaftliche Forschung, die zu der Frage führt: 8 Zu Psalmillustrationen als Beispielen für Narrendarstellungen in der mittelalterlichen Manuskriptkultur vgl. Mezger 1981, S. 15–18; Ders.: [Art.] ‚Narr‘. In: LMA, Bd. VI, Sp. 1023–1026, hier Sp. 1024f.; Angelika Gross: Das Bild des Narren: Von Psalm 52 zu Sebastian Brant. In: Bild und Abbild vom Menschen im Mittelalter. Akten der Akademie Friesach „Stadt und Kultur im Mittelalter“. Friesach (Kärnten), 9.–13. September 1998. Hrsg. von Elisabeth Vavra. Klagenfurt 1999, S. 273–291; Lutz S. Malke: Nachruf auf Narren. In: Ders. (Hg.): Narren. Porträts, Feste, Sinnbilder, Schwankbücher und Spielkarten aus dem 15. bis 17. Jahrhundert. Katalog der Ausstellung der Kunstbibliothek Staatliche Museen zu Berlin (17. August bis 21. Oktober 2001). Berlin 2001, S. 9–57, hier S. 25. Auch in der Handschriftensammlung von Renate König, die u. a. 34 mittelalterliche Andachtsbücher umfasst, finden sich Narrendarstellungen: so etwa in dem Noyon-Psalter um 1270 (52r: Initiale zu Ps. 51 mit einem Teufel und einem Narren im Disput), dem Lothringischen Stundenbuch aus dem ersten Viertel des 14. Jahrhunderts (198r: närrisches Mischwesen mit Wimpeln und Gugel mit Klöckchen) und dem Pariser Psalter aus den Jahren 1415–1420 (53v: Narr mit Marotte und Brotlaib im Gespräch mit drei Männerfiguren; Miniatur zu Ps 52). Vgl. Ars vivendi. Ars moriendi. Die Kunst zu leben. Die Kunst zu sterben. Die Handschriftensammlung Renate König. Hrsg. und bearbeitet von Joachim M. Plotzek, Katharina Winnekes, Stefan Kraus und Ulrike Surmann. München 2001 (= Katalog zur Ausstellung im Erzbischöflichen Diözesanmuseum Köln 15. Dezember 2001 bis 22. Mai 2002), S. 83, 99 und 146. 9 Zum Narren im Schwank vgl. Werner Röcke: Schwanksammlung und Schwankroman. In: Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte. Bd. 2: Von der Handschrift zum Buchdruck: Spätmittelalter, Reformation, Humanismus 1320–1572. Hrsg. von Ingrid Bennewitz und Ulrich Müller. Reinbek bei Hamburg 1991, S. 180–195; Malke 2001, S. 54–57. Zur Narrenliteratur vgl. Hans-Jürgen Bachorski/Werner Röcke: Narrendichtung. In: A.a.O., S. 203–213; Thomas Cramer: Geschichte der deutschen Literatur im späten Mittelalter. München 1995 (= Deutsche Literatur im Mittelalter 3), S. 265–276; Mezger 1999, Sp. 1027f. 10 Vgl. Heers 1986; Leander Petzold: Narrenfeste. Fastnacht, Fasching, Karneval in der Bürgerkultur der frühen Neuzeit. In: Das Fest. Eine Kulturgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart. Hrsg. von Uwe Schultz. München 1988, S. 140–152; Mezger 1999, Sp. 1025f.; Werner Röcke: Literarische Gegenwelten. Fastnachtsspiele und karnevaleske Festkultur. In: Die Literatur im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Hrsg. von Werner Röcke und Marina Münkler. München/Wien 2004, S. 420–445. 11 Kunz von der Rosen reitet dem Wagen der Schalksnarren im Triumphzug Maximilians I. nach Hans Burgmair (1517) voran und wurde auch von Hans Holbein dem Älteren portraitiert; vgl. Malke 2001, S. 11 und 15. Claus Narr wurde u. a. dargestellt von einem unbekannten Stecher (1574; Kupferstichkabinett Berlin) und nach einer Radierung von Jacob van der Heyden (um 1620 Staatsbibliothek zu Berlin). Vgl. ebd., S. 20. Die Grabplatte mit einer Darstellung von Hans Gerl befindet sich im Kreuzgang des Passauer Domes (vgl. ebd., S. 28).
Perspektiven auf Zusammenhänge von Narrheit und Ästhetik
Dürfen Unvernunft und Wahnsinn12 , Literatur- und Kunstnarren sowie soziale Randgruppen13 des Mittelalters inzwischen nicht in jeder Hinsicht als hinreichend erforscht gelten? Sind närrische Außenseiter,14 mittelalterliche Festkultur15 und Hofnarren, Fastnachtsbrauchtum16 , Narrenliteratur17 und
12 Werner Leibbrand/Annemarie wettley: Der Wahnsinn. Geschichte der abendländischen Psychopathologie. Ratingen 2005. 13 Zu den prominentesten Stimmen zum Thema ‚Außenseiter‘ – soziologisch wie literturgeschichtlich – zählt immer noch: Hans Mayer: Außenseiter. Frankfurt a. M. 1981 (= stb 7369). 14 Mit Fokus auf die mittelalterliche Stadtgesellschaft und hier insbesondere auf Köln haben sich Franz Irsigler und Arnold Lassotta auch mit Geisteskranken und Dementen befasst: vgl. Dies. 1995, S. 87–96; siehe auch Edgar Barwig und Ralf Schmitz: Narren, Geisteskranke und Hofleute. In: Randgruppen der spätmittelalterlichen Gesellschaft. Ein Hand- und Studienbuch. Hrsg. von BerndUlrich Hergemöller. Zweite, neubearbeitete Aufl. Warendorf 1994, S. 220–252. Als Gegenstand der Mentalitätsgeschichte und sozialer Marginalisierungspraktiken werden ‚Narren‘ auch im Zusammenhang mit mittelalterlichen Randgruppen behandelt bei Hans-Henning Kortüm: Menschen und Mentalitäten. Einführung in Vorstellungswelten des Mittelalters. Berlin 1996, S. 137f. 15 Zu Narren- und Winterfesten, Aufzügen und Karnevalsbräuchen vgl. Heers 1986, S. 123–334 und Petzoldt 1988, S. 140–152. 16 Von den zahlreichen Publikationen Werner Mezgers seien hier genannt: Bemerkungen zum mittelalterlichen Narrentum. In: Narrenfreiheit. Beiträge zu einer Fastnachtsforschung. Tübingen 1980, S. 43–87; Hofnarren im Mittelalter. Vom tieferen Sinn eines seltsamen Amts. Konstanz 1981; Narren, Schellen und Marotten. Grundzüge einer Ideengeschichte des Narrentums. In: Narren, Schellen und Marotten. Elf Beiträge zur Narrenidee. Hrsg. von dems. und Dietz-Rüdiger Moser. Remscheid 1984, S. 1–35; Ders.: Narrenidee und Fastnachtsbrauch. Studien zum Fortleben des Mittelalters in der europäischen Festkultur. Konstanz 1991. Für den Themenkomplex historischer und literarischer Hofnarren ist noch einschlägig: Welsford 1968. 17 Vgl. Barbara Könneker: Wesen und Wandlung der Narrenidee im Zeitalter des Humanismus. Brant, Murner, Erasmus. Wiesbaden 1966; Dies.: Der ‚verkehrte‘ Mensch. Narren, dörper, Schwankhelden in mittelalterlichen Texten. In: Mittelalterliche Menschenbilder. Hrsg. von Martina Neumeyer. Regensburg 2000 (= Eichstätter Kolloquium 8), S. 147–172. Von den jüngeren Publikationen sind vor allem diese Sammelbände zu nennen: Der Narr in der deutschen Literatur im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Kolloquium in Nancy (13.–14. März 2008). Hrsg. von Jean Schillinger. Bern/ Berlin/Bruxelles [u. a.] 2009 (= Jahrbuch für Internationale Germanistik. Reihe A: Kongressberichte 96); Behaving like Fools. Voice, Gesture, and Laughter in Texts, Manuscripts, and Early Books. Ed. by Lucy Perry and Alexander Schwarz. Turnhout 2010. Gattungstypologisch wurden Narren vielfach thematisiert, u. a. in Bachorski/Röcke 1991; Werner Röcke: Schälke – Schelme – Narren. Literaturgeschichte des Eigensinns und populäre Kultur in der frühen Neuzeit. In: Celebrating Comparativism. Papers offered for György M. Vayda and István Fried. Ed. by Katalin Kürtösi and Jozef Pàl. Szeged 1994, S. 427–446; Hans Rudolf Velten: Komische Körper: Zur Funktion der Hofnarren und zur Dramaturgie des Lachens im Spätmittelalter. In: ZfGerm N. F. 11 (2001) Heft 2, S. 292–317; Ders.: Der Körper des Narren zwischen Performanz und Textualität im Spätmittelalter am Beispiel der Figur des Gonnella bei Franco Sacchetti. In: Akten des X. Internationalen Germanistenkongresses Wien 2000. „Zeitenwende – Die Germanistik auf dem Weg vom 20. ins 21. Jahrhundert. Hrsg. von Peter Wiesinger. Bd. 5 Mediävistik und Kulturwissenschaften. Bern/Berlin/Bruxelles [u. a.] 2002 (= Jahrbuch für Internationale Germanistik. Reihe A: Kongressberichte 57), S. 341–346.
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Perspektiven auf Zusammenhänge von Narrheit und Ästhetik
-darstellungen18 , Volkskultur19 , ‚Wahnsinn und Gesellschaft‘20 nicht bereits erschöpfend betrachtet worden? Überblickt man die Forschung jedoch genauer, so sticht ein bislang immer noch kaum beachtetes Desiderat hervor: eine literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit Narren und Narrheit in der hochmittelalterlichen Epik. Eine derartige Forschungslücke zeichnet sich noch deutlicher ab, wenn man die literarische Darstellung des Normwidrigen am Beispiel von Narrenfiguren auf deren Poetik, auf Bedingungen der Möglichkeit des Erzählens vom Anderen und deren narratologische Konsequenzen, bezieht. Hierbei sind zwei Problembereiche der hochmittelalterlich-höfischen Erzählliteratur in ihrer wechselseitigen Beeinflussung von besonderem Interesse: Narr und Hof sowie Narrheit und Minne. Aus dem Dickicht der globalen Allgegenwart der Narrheit soll im Folgenden zunächst die Perspektive Flögels herausführen, um für das Mittelalter und die mittelalterliche Literatur eine neuerliche definitorische Annäherung an das Anomale wie auch an Zusammenhänge von Normativität und Ästhetik in mittelalterlichem Erzählen zu gewinnen. Flögels unsystematische Aufzählung von Gewährsleuten für die Allgegenwart der Narrheit reicht von Cicero über Demokrit und Heraklit zu Sebastian Brant und Erasmus von Rotterdam und umfasst Geiler von Keysersberg ebenso wie Seneca und Salomon. Seine Beweisführung gerät dabei unversehens ins vage Metaphorische der „Narrenprovinz“21 oder in Sprichwörtliches, wie z. B. „[d]aß jeder Mensch
18 Zur Narrendarstellung in mittelalterlichem Manuskript und frühem Buchdruck vgl. Angelika Gross: La Folie. Wahnsinn und Narrheit im spätmittelalterlichen Text und Bild. Heidelberg 1990; Dies. 1999; Dagmar Langenfeld und Irene Götz: Nos stulti nudi sumus – Wir Narren sind nackt. Die Entwicklung des Standard-Narrentypus und seiner Attribute nach Psalterillustrationen des 12. bis 15. Jahrhunderts. In: Narren, Schellen und Marotten. Elf Beiträge zur Narrenidee. Hrsg. von Werner Mezger und Dietz-Rüdiger Moser. Remscheid 1984, S. 37–96. Siehe ferner auch: Hadumoth Hanckel: Narrendarstellungen im Spätmittelalter. Freiburg im Breisgau 1952; Narren, Porträts, Feste, Sinnbilder, Schwankbücher und Spielkarten aus dem 15. bis 17. Jahrhundert (Ausstellung der Kunstbibliothek Staatliche Museen zu Berlin, Ausstellungsraum der Kunstbibliothek Kulturforum 17. August bis 21. Oktober 2001). Hrsg. von Lutz S. Malke. Berlin 2001. 19 Vgl. Peter Burke: Helden, Schurken und Narren. Europäische Volkskultur in der frühen Neuzeit. Stuttgart 1981. 20 Für unsere Fragestellungen ist im Folgenden auch immer noch relevant: Foucault 1996, insbesondere der erste Teil, S. 7–153. 21 Flögel 1789, S. 1.
Perspektiven auf Zusammenhänge von Narrheit und Ästhetik
seinen Gecken in sich trage“22 . Der unchronologische Reigen von Philosophen, Moraldidaktikern und biblischen Königen verweist bereits auf das Ausgangsproblem, was eigentlich unter ‚Narrheit‘ zu verstehen und inwiefern diese auch im Literarischen per se ästhetisch ist. Ein Abstraktum wie ‚Narrheit‘, sei es als Unvernunft, Sittenlosigkeit oder Sünde verstanden, hat sich am Beispiel des „Aachener Altars“ bereits als aisthetikos, d. h. als ein die Sinne, mithin die Wahrnehmung betreffender Gegenstand, betrachten lassen.23 Inwiefern die Darstellung von Narrheit in der erzählenden Literatur des Mittelalters ebenfalls ein ästhetischer Gegenstand ist, soll im Folgenden dargelegt werden. Hierbei wird sich auch zeigen, dass dieser literarische Gegenstand zugleich immer auch die Poetik der entsprechenden Texte tangiert. Zudem wird sich erweisen, dass Narrheit im Fiktiven und fiktive Narren nicht nur mit theologischen, moralischen oder vernunftkritischen Urteilen verbunden sind, sondern auch mit solchen, die sowohl Wert- als auch Geschmacksurteile betreffen. Durch die Zeichenhaftigkeit des Narren und die Semantik der Narrheit werden diese zudem in einem augustinischen Sinne ‚ästhetisch erlebbar‘: als Wahrnehmungsgegenstand und als Ausdruck „des Geistigen, das sich im sinnlich Gegebenen ausdrückt“24 . Im Folgenden werden zunächst Zusammenhänge von Narrheit und Ästhetik in der Erzählliteratur des Mittelalters entfaltet und dann an einer ersten Fallgeschichte, der Folie Tristan, konkretisiert. Im Anschluss daran werden Fragestellungen und Analysemethodik dargestellt, die auf Narren in den Erzählwelten des Tristan-Stoffes und des Schwankerzählens abzielen.
22 Ebd., S. 2. Die Allgegenwart des Narren kann vor allem für die Kultur des Mittelalters gelten, die seine Darstellungen als Plastik oder Buchmalerei, als Außenseiterstereotyp oder Figur des Karnevalsbrauchtums ebenso aufweist wie die erzählende oder didaktische Literatur. Vgl. Mezger 1999, Sp. 1024. 23 Zum Begriff Ästhetik vgl. Gero von Wilpert: Sachwörterbuch Literatur. Stuttgart 2001, S. 8f.; Werner Wolf: [Art.] ,Fokalisierung‘. In: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Hrsg. von Ansgar Nünning. Stuttgart/Weimar 1998, S. 158. 24 Werner Strube: [Art.] ‚Ästhetik‘. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. I. Berlin/ New York 2007, S. 15–19, hier S. 16. Gerade die mittelalterliche Narrenfigur erscheint besonders geeignet, Augustinus’ Vorstellung von Ästhetik (De vera religione 31, 57) zu exemplifizieren, da „das Kunstwerk auf ein Urbild Gottes verweist“ und hierdurch „anagogischen Charakter“ (ebd.) habe.
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Perspektiven auf Zusammenhänge von Narrheit und Ästhetik
1.1
Anomales und Anomalie Im Mittelalter und in der Renaissance war die Auseinandersetzung des Menschen mit der Demenz ein dramatisches Gespräch, das ihn den tauben Kräften der Welt gegenüberstellte, und die Erfahrung mit dem Wahnsinn verschleierte sich damals in Bildern, in denen es um die Frage des Sündenfalls, der Erfüllung, des Tiers, der Verwandlung und der ganzen wunderbaren Geheimnisse der Gelehrsamkeit ging.25 M. Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft
Wie kaum eine andere Epoche hat das Mittelalter menschliche Narrheit zu einem Figurenstereotyp verdichtet, das als Allegorie oder Symbol ganz unterschiedliche Facetten theologisch fundierter Anthropologie zu thematisieren vermag. Der Experte für Narrenliteratur und Karnevalsbrauchtum Werner Mezger fasst dementsprechend den Narrenbegriff so: Als N.en galten seit dem SpätMA sämtl. Personen, die durch abweichende Verhaltensformen, körperl. oder geistige Defekte, insbes. aber durch Ignoranz gegenüber der christl. Heilslehre dem herrschenden Ordogedanken nicht entsprachen.26
Der genuin theologische Kontext von physischen wie psychischen Anomalien scheint sich selbst im Wortgeschichtlichen widerzuspiegeln. Denn Mezger zufolge geht „[d]er um 1200 in Gebrauch gekommene dt. Begriff N., […] etymolog. wohl auf dieselbe Wortwurzel wie ‚Narbe‘ zurück […], meinte ursprgl. eine verwachsene Frucht ohne Kern bzw. eine mißratene menschl. Kreatur, der die Ebenbildhaftigkeit mit Gott nach Gen I,29 fehlte.“27 Theologisch betrachtet ist dem Mittelalter das Normwidrige unmittelbar signifikant, die Ästhetik des Anomalen mithin semiotisch bzw. semiotisiert: So stellt der ‚Narr‘ als Begriff und als Figur Normwidrigkeit vor, die gegen den Schöpfer selbst opponiert. Hierzu scheint zu passen, dass „der roman. Wortstamm ‚fol‘ (frz. fou, engl. fool) von lat. ‚follis‘, gleichbedeutend mit ‚leerer Sack‘ bzw. ‚Körperhülle ohne gottgefällige Seele‘“28 zu verstehen ist. „Das Konstituens jegl. N.heit“, so Mezger weiter, „war nach ma. Auffassung also die Verneinung Gottes. Aus diesem Grund ist der N. auch ein genuin ma. Typus, der
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Foucault 1996, S. 14. Mezger 1999, Sp. 1023f. Ebd., Sp. 1024. Ebd.
Anomales und Anomalie
sich keineswegs, wie in der älteren Forschung z. T. behauptet, direkt vom antiken Mimus herleiten läßt.“29 Komplementär zu theologischen hat der mittelalterliche Narr auch philosophische Facetten: Nach den von Flögel zitierten Philosophen wäre als Charakteristikum von Narrheit zunächst ein Mangel an „Selbsterkenntniß“30 zu nennen. Mit diesem Definitionskriterium ist allerdings ein abermaliges Abgrenzungsproblem, etwa gegenüber „hirnkranke[n] Schwärmer[n]“31 als ‚pathologischen Anomalen‘, verbunden. Außerdem begegnet Selbsterkenntniss, zumal mittelalterlich gedacht, sowohl in theologischen, philosophischen als auch in (im weitesten Sinne) psychologischen Diskursen. Und selbst wenn man sich wie Flögel auf den Hofnarren von der Antike bis zur Gegenwart konzentriert, bleibt die Eingangsfrage nach dem Wesen der Narrheit komplex. Hofnarren, so Flögel, sind „Lustigmacher“32 . Hierunter zu verstehen seien „alle wirkliche[n] oder eingebildete[n] Lustigmacher großer Herren und vornehmer Leute“33 . In der Verbindung von Narrheit und Unterhaltsamkeit scheint ein weiterer Zusammenhang zwischen Narrheit und Ästhetik auf, der im komischen Hofnarren als Anlass des Lachens fassbar wird. Es ist also zwischen dem Narren aus natürlichem Verstandesmangel, „dem das Stigma des Nichtnormalen ein Leben lang anhaftete“34 , und jenen, die einen solchen lediglich künstlich vortäuschen, zu unterscheiden.35 Praktiziert worden ist diese Trennung von ‚natürlichen‘ und ‚künstlichen‘ Narren auch bei einem Triumphzug Maximilians I., der sowohl einen Wagen obszöner wie gewalttätiger Narren als auch einen mit unterhaltsamen Schalksnarren aufwies.36 Als (Hof-)Narr ist der Imitator des Debilen oder Anomalen möglicherweise unterhaltsam, amüsant oder 29 Ebd. Im Gegensatz zu Mezger betont Evers die antiken Wurzeln des mittelalterlichen Narren: „Narren haben ihren Ursprung in der Antike. Der parasitus, der kahlgeschorene stupidus oder Grimassenschneider sanio, sowie der scurra der Römer, der zugleich Possenreißer, Schmeichler und Schmarotzer war, lebten im Abendland in den Gestalten dreist-komischer Diener, Lustigmacher und Clowns fort. […] Schon der Mimus der Antike war durch ein besonderes Kleidungsstück, den ‚centulus‘ (Lappenjacke), gekennzeichnet“ (Bernd Evers: Einführung. In: Narren. Porträts, Feste, Sinnbilder, Schwankbücher und Spielkarten aus dem 15. bis 17. Jahrhundert. Katalog der Ausstellung der Kunstbibliothek Staatliche Museen zu Berlin 17. August bis 21. Oktober 2001. Hrsg. von Lutz S. Malke. Leipzig 2001, S. 7). 30 Flögel 1789, S. 3. 31 Ebd. 32 Ebd. 33 Ebd. 34 Mezger 1999, Sp. 1024. 35 Zur Unterscheidung von künstlichen und natürlichen Narren vgl. ebd. und Malke 2001, S. 10–18. 36 Der Triumphzug Maximilians I. ist mehrfach dargestellt worden: so etwa als Holzschnitt von Hans Burgkmair (1517) oder als Manuskriptminiatur von Jörg Kölderer (um 1512). Vgl. hierzu Malke 2001, S. 10–13; Ruth von Bernuth: Wunder, Spott und Prophetie. Natürliche Narrheiten in den
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Perspektiven auf Zusammenhänge von Narrheit und Ästhetik
zumindest lächerlich. Die Erzähltradition des Mittelalters – vom Tristan-Stoff37 bis zu Boccaccios Decamerone38 – kennt falsche Narren oder simulierende Stumme aber auch als Trickbetrüger, die sich mit der Narrenlarve Zugang zur heimlich Geliebten oder zu ausschweifenden Lustbarkeiten zu verschaffen verstehen. Das Unterhaltsame von Narreteien differenziert Flögel in der ästhetischen Bandbreite von „groebsten Possen, Unflaetereien und Zoten“ bis zu denjenigen von „schlaue[n] Hofleuten von der feinsten Art“39 . Denn berühmte Narren wie ein Tomaso Garzoni „naehern sich in ihren Reden und Handlungen niemals der Grobheit, sie befleißigen sich der Hoeflichkeit und des Wohlstandes in allen Sachen, sie sind voll lustiger Reden, artiger Erzaehlungen, kurzweiliger Gespraeche, laecherlicher Spruechwoerter“40 . Zu den sich bisher abzeichnenden Zusammenhängen von ‚Narrheit und Ästhetik‘ zählen auf der einen Seite der Narr als Verkörperung diverser Arten von Normabweichung, auf der anderen Seite die Äußerungen des Normwidrigen in Wort- und Gebärdenspiel. Mit Blick auf die mittelalterliche Literatur wird der Zusammenhang von Narrheit und Poetik auch von Narrenfiguren als erzählenden Protagonisten und narrenhaften Erzählern repräsentiert, die als Exempla moraldidaktischer oder -satirischer Unterweisung sowie als polemisches Zerrbild der Traktatliteratur auftauchen.
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Historien von Claus Narren. Tübingen 2009 (= Frühe Neuzeit. Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext 133), S. 3–6. Der erste analytische Teil dieser Arbeit ist den Narrenepisoden der Tristan-Fassungen bei Eilhart von Oberg, Ulrich von Türheim und Heinrich von Freiberg gewidmet. Zur Stoffrezeption im späten 13. Jahrhundert vgl. Danielle Buschinger: Zur Rezeption des Tristan-Stoffes in der deutschen Literatur des Mittelalters nach 1250. In: Sammlung – Deutung – Wertung. Ergebnisse, Probleme, Tendenzen und Perspektiven philologischer Arbeit. FS Wolfgang Spiewok. Hrsg. von Danielle Buschinger. Stuttgart 1989, S. 39–50; Peter K. Stein: Tristan. In: Epische Stoffe des Mittelalters. Hrsg. von Volker Mertens und Ulrich Müller. Stuttgart 1984, S. 365–394. In der ersten Novelle des dritten Tages reüssiert in Giovanni Boccaccios Decamerone Masetto von Lamporecchio als falscher Stummer, der in einem Frauenkloster für erotische Kurzweil sorgt. Vgl. Giovanni Boccaccio: Der Decamerone. Bd. 1. Übersetzt von Gustav Diezel, revidiert von Paola Calvino. Zürich 2007, S. 298–309. Ins Deutsche übertragen findet sich der Decameron im 15. Jahrhundert bei Heinrich Steinhöwel. Die entsprechende Erzählung ist dort wie folgt überschrieben: Wie Masetto von Lamolechio sich zu einem stummen machet vnd in einem nunnenkloster zu einem gartner warde Dieselben nunnen mit sampt der ebtissin er beschlieffe alle mit im die süssikeit der welte versuchten. Heinrich Steinhöwel: Decameron. Hrsg. von Adelbert von Keller. Photomechanischer Nachdruck der Ausgabe 1860. Stuttgart 1968 (= Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart LI), S. 165. Flögel 1789, S. 4. Ebd.
Normativität und Ästhetik
1.2
Normativität und Ästhetik
Narrheit kann in einem weiteren Sinne ästhetisch betrachtet werden: als Kunst, die als Erzähltext oder als performatives Erzählen, als rezitierter Dialog, inszeniertes Kleindrama oder vorgebrachtes lustiges Sprichwort der Hofgesellschaft Kurzweil verschaffen soll. Darüber hinaus ist aber immer auch der Lachanlass mit seinem intellektuellen Gehalt einerseits und seiner sprachlichen Gestalt andererseits ästhetisch relevant: als implizierter Qualitätsmaßstab für die Beurteilung des Unterhaltungsniveaus und der Komik. Wie es auch Flögels Unterscheidung von Grobheit und Höflichkeit anzeigt, liegen Betrachtungen von Narrheit latente Vorstellungen von Normativität zugrunde. Erst das unwillkürliche oder vorgeblich unversehene Abweichen von Verhaltensusancen als Normverletzung (Grobheit) oder komische Brechung (lustige Reden) zeichnet die Narrheit aus. Hierdurch sind Ästhetik und Normativität jene Grundkategorien, die die unterschiedlichen Erscheinungs- und Inszenierungsformen der Narrheit überhaupt erst zu einem Phänomenkomplex verbinden. Lustig oder lächerlich wirke – so Flögel Hobbes zitierend – die „Vergleichung mit der Unvollkommenheit andrer Leute“41 : „Die Neigung zum Lachen ist nichts anders als eine schnelle Ehre, die aus einer unverhoften Wahrnehmung eines gewissen Vorzuges an uns selbst […] oder auch mit unsrer eignen vormaligen entsteht“42 . In Flögels Narrentypologie treten schließlich drei weitere „Classen“43 auf: „Tellerlecker, Schmarotzer und Schmeichler, die sich verspotten ließen, blos um ihren hungrigen Bauch zu fuettern“44 . Manche Hofgesellschaft habe aber auch „an einfaeltigen, bloedsinngien, melancholischen und wirklichen Dummkoepfen ihr Vergnuegen gefunden“45 , und schließlich fungierten auch „die haeßlichsten Zwerge, rachitische Ungeheuer, krumm und schief gewachsene Menschen als Hofnarren“46 . Mit Flögels zuletzt angeführter Narrenkategorie, den Kleinwüchsigen und körperlich Versehrten oder sog. Missgebildeten ist eine weitere ästhetische Dimension der Narrheit verbunden: das Äußere und die Körperlichkeit des Narren, insbesondere die Anomalie seines Körpers. Für Narren und Narrheit sind eben sowohl das Anomale des Gebarens und Sprechens als auch das Anomale des Körperbaus und des Ausdrucksvermögens konstitutiv.47
41 42 43 44 45 46 47
Ebd, S. 38. Ebd. Ebd., S. 3. Ebd., S. 5. Ebd. Ebd., S. 6. „‚Hofnarren‘ waren früher alles andere als eine Ausnahmeerscheinung. Lahmend oder auffällig verwachsen, vielfach durch einen unförmigen Buckel entstellt, dienten sie aztekischen wie byzantini-
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Perspektiven auf Zusammenhänge von Narrheit und Ästhetik
Gleich ob künstliche oder natürliche Narren, ob Simulanten oder Schwachsinnige: Derartige Figuren stehen zumeist in einem paradoxen Verhältnis zur Ordnung ihres Hofkontextes. Mit spaß- oder boshaften Normverstößen in Wort und Tat befindet sich der Narr zwar außerhalb der Rechtsordnung und muss für sein Treiben keine Strafen im Sinne des Gesetzbuches fürchten, aber er genießt mitnichten die sprichwörtliche, karnevaleske Narrenfreiheit, denn auch die Anderen sind frei, den Narren folgenlos zu traktieren, wie es dem Amusement der Hofgesellschaft zupass kommt. So regelt beispielsweise der Sachsenspiegel, Grundlage zahlreicher weiterer mittelalterlicher Rechtsbücher, in seinem Landrecht, geistig Behinderte nicht von Gerichten aburteilen zu lassen, sondern den jeweiligen Vormund in Schadensfällen haftbar zu machen: Von rechten toren unde sinnelosen luten. […] Ubir recht thoren unde sinnelosen man en sal man ouch nicht richten. Wenne se abir schaden thon, ir vormunde sal ez gelden.48 Noch in einem weiteren Sinne ist der Narr in die Ästhetikvorstellungen der Hofwelt fest eingefügt: Als der ganz Andere gilt er zumeist ebenso als hässlich wie der Dümmling als unschön, der Törichte als abstoßend. Das Normwidrige des Narrenkörpers ist darüber hinaus ästhetisch, also eine Sache der Veranschaulichung und Wahrnehmung: „Im realen Alltag“, so Mezger, „wurden die sog. ‚natürl. N.en‘, in der Regel geistig oder körperl. Behinderte, meist rigide aus der Gesellschaft ausgegrenzt.“49 Für Foucault gehören zu den gängigen Marginalisierungspraktiken Formen „der Trennung, des Ausschlusses und der Reinigung“50 . Vom Normwidrigen trennt auch das Lachen über das Andere. Es mag den Konformitätsdruck mildern, diesen vielleicht sogar für die Dauer des Gelächters pausieren lassen, aber einer grundsätzlichen Infragestellung der Ausgrenzung entspricht dies nicht. Kulturtheoretisch lassen sich mit Jacques Le Goff drei Arten des Lachens unterscheiden: 1. „Lachen aus Überlegenheit“, 2. ‚ungebührliches Lachen‘ über etwas, „das nicht in die normale natürliche oder gesellschaftliche Ordnung paßt“ und 3. Handlungsersparungen durch Lachen nach der relief theory Freuds, die Theorie der Entspannung oder des Sich-etwas-Ersparens, nach der sich der Lachende durch sein Lachen Verhaltensweisen erspart, die für ihn sowohl
schen Herrschern, zählten noch im letzten Jahrhundert auch zum Gefolge kurdischer Stammesoberhäupter und spielten zumal in der Geschichte Europas, belegt seit dem Hochmittelalter, auf Burgen, an Höfen und in Palais, in grellfarbige, pittoreske Clowns-Trachten gekleidet, bei Landesherren, Fürsten, Bischöfen, Königen und Kaisern nicht selten eine politisch einflußreiche Rolle“ (Müller 1996, S. 69). 48 Sachsenspiegel. Landrecht und Lehnrecht. Hrsg. von Friedrich Ebel. Stuttgart 2005 (= RUB 3355), S. 118. 49 Mezger 1999, Sp. 1025. 50 Foucault 1996, S. 25.
Normativität und Ästhetik
in der Form ihrer Äußerung als auch wegen ihrer Gründe und Motive relativ schwierig auszudrücken wären.51
Das Verlachen des Anomalen hat nach Hans Mayer auch die Funktion des Stigmas.52 Die markierte Normabweichung hat aber bereits im (Ver-)Lachen53 ihre Alternative zu ausgrenzender Konfliktbewältigung dadurch, daß eine Feudalwelt, die innerhalb einer festliegenden Hierarchie die Besonderheit kultiviert und dadurch fähig ist, alle Außenseiter als Spielarten der Ungleichheit zu begreifen und zu belachen: Narren wie Melancholiker, […], die Männerliebe wie erotische Promiskuität von hoher und niedriger Gesellschaftssphäre.54
Hierbei sind die Unterscheidungen von Norm und Differenz gesellschafts- und zeitspezifisch: „Man könnte“, so Foucault, die Geschichte der Grenzen schreiben – dieser obskuren Gesten, die, sobald sie ausgeführt, notwendigerweise schon vergessen sind –, mit denen eine Kultur etwas zurückweist, was für sie außerhalb liegt; und während ihrer ganzen Geschichte sagt diese geschaffene Leere, dieser freie Raum, durch den sie sich isoliert, ganz genau soviel über sie aus wie über ihre Werte; denn ihre Werte erhält und wahrt sie in der Kontinuität der Geschichte; aber in dem Gebiet, von dem wir reden wollen, trifft sie ihre entscheidende Wahl. Sie vollzieht darin die Abgrenzung, die ihr den Ausdruck ihrer Positivität verleiht. Da liegt die eigentliche Dichte, aus der sie sich formt.55
Ebenso identitätsbildend wie abgrenzend sind jene Bilder, die ein Zeitalter für das Andere, das Normwidrige oder das Anomale kultiviert und mit den ihm eigenen
51 Jacques le Goff: Das Lachen im Mittelalter. Mit einem Nachwort von Rolf Michael Schneider. Aus dem Französischen von Jochen Grube. Stuttgart 2004. Zum „Lachen im Mittelalter in allen Bereichen der offiziellen Ideologie und in den strengen Umgangsformen des offiziellen Lebens“ vgl. Bachtin 1998, S. 123–149. 52 „Es ist kein Zufall, dass die wissenschaftliche Kategorie marginal man, von der sich Marginalität und Randgruppe begrifflich herleitet, in den 1920er Jahren in die soziologische Einwanderungsforschung der USA von Robert E. Parks eingeführt wurde. Der Vater des sozialpsychologischen Konzepts Stigma, Erving Goffman, war ein amerikanischer Jude, der dort ebenfalls einschlägige Erfahrungen machen konnte. Ursprünglich (1963) beruhte Stigma für ihn auf zugeschriebenen Eigenschaften, etwa körperlichen Defekten, individuellen Charakterfehlern und ethnischen Merkmalen wie der Hautfarbe. Die bewusste Selbstabgrenzung unterschied er davon und bezeichnete sie als Devianz“ (Wolfgang Reinhard: Lebensformen Europas. Eine historische Kulturanthropologie. München 2004, S. 323). 53 Le Goff 2004, S. 28f. 54 Mayer 1981, S. 19f. 55 Foucault 1996, S. 9.
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Perspektiven auf Zusammenhänge von Narrheit und Ästhetik
imaginaires collectives auflädt.56 Diese finden ihren konventionellen Ausdruck in stigmatisierenden Praktiken äußerlicher Kenntlichmachung bzw. in der vestimentären Markierung des Außenseiterstatus. Für den geistig Behinderten, Dementen oder Debilen, den Unvernünftigen oder Ungläubigen als Narren findet dies auch in verschiedenen Aspekten seines Äußeren eine Entsprechung. Die Entwicklung der Narrenkleidung und -attribute hat Mezger anhand der Ikonographie der Illustrationen zu Psalm 52 (Dixit insipiens in corde suo: deus non est)57 nachvollzogen: Das älteste N.enkennzeichen ist demnach eine aufrecht in der Hand getragene Keule. Sie bildet das negative Gegenstück zum Szepter des weisen Kgs. David, mit dem der ‚insipiens‘ im Initial häufig konfrontiert wird. Ebenfalls noch während des 13. Jh. erscheint der N. vereinzelt nackt, ein erster Hinweis auf seine Sündhaftigkeit (Gen 3,7). An der Wende zum 14. Jh. verfeinert sich dann die Keule (auch ‚Kolben‘) zur menschenköpfigen ‚Marotte‘, die der N. wie eine Stabpuppe vor sich herträgt. In ihr erkennt er sein eigenes Abbild, wodurch seine egozentr. Selbstverliebtheit und Unfähigkeit zu christl. Nächstenliebe manifest werden. Aus der Marotte geht später der Spiegel hervor.58
Sozialgeschichtlich hat die mitgeführte Keule zunächst wohl eher die Funktion einer Verteidigungswaffe gegen latent drohende Gefahren an der äußersten Gesellschaftsperipherie.59 Angelika Gross sieht in der „Umdeutung des Knüppels oder Kolbens von einer Waffe zu einem Spielzeug“ eine „künstlerische Neuerung“60 . Deutlicher semiotisiert ist das Stigma der Haarschur: „Die Kahlrasur oder die
56 Im Umfeld der französischen Historikerschule Annales und seit längerem auch der deutschen Mentalitätsforschung ist der „Begriff des imaginaire von ‚Vorstellungswelten‘“ (Kortüm 1996, S. 13) grundlegend: „Spätestens seit den achtziger Jahren ist man, nicht zuletzt auch bedingt durch den großen Einfluss von Jacques Le Goff, ungleich zurückhaltender geworden im Gebrauch des Wortes Mentalität und bevorzugt häufiger den Begriff des imaginaire oder der représentation de l‘imagninaire. Bei diesem nur sehr schwer übersetzbaren Begriff (Weltbild, Leitbild, Wunschbild) liegt der Akzent auf der gesellschaftlichen Vermitteltheit dieser kollektiven Vorstellungswelten und Deutungsmuster. ‚Mentalität‘ erscheint nicht mehr unmittelbar für den Historiker greifbar, sondern allenfalls mittelbar über den Umweg von Vorstellungs- und Deutungsmustern“ (Kortüm 1996, S. 17). Eine ausführliche Bestimmung von Mentalität und deren Erforschung findet sich bei Peter Dinzelbacher: Zu Theorie und Praxis der Mentalitätsgeschichte. In: Europäische Mentalitätsgeschichte. Hauptthemen in Einzeldarstellungen. Hrsg. von Peter Dinzelbacher. Stuttgart 1993 (= Kröners Taschenausgabe, Bd. 469), S. XV–XXXVII. 57 Zur ikonographischen Entwicklung der Narrendarstellung im Zusammenhang mit Psalm 52 vgl. Gross 1999. 58 Mezger 1999, Sp. 1024. 59 Vgl. Malke 2001, S. 22f.; Gross 1999, S. 278. 60 Ebd., S. 279.
Normativität und Ästhetik
Haarschur in mehreren Kränzen ist eine groteske Verunstaltung, die offenbar mit der als Ausdruck der Demut geltenden Klerikertonsur kontrastiert.“61 Das ausdrucksstärkste Komplement zu derartiger Körpersemiotik stellt die sich entwickelnde Narrentracht dar, deren Ausstattungsdetails und Farbgebung in ihrer Zeichenhaftigkeit als Marginalisierung fungieren: Ab Mitte des 14. Jh. wird der N. nur noch selten barhäuptig dargestellt. Jetzt visualisiert die charakterist. N.enkappe (‚Gugel‘) mit den Eselsohren seine Torheit. Vom frühen 15. Jh. an gewinnen die Schellen (‚Rollen‘) Bedeutung. An den Zipfeln der Kappe und an den übrigen Gewandzaddeln hängend, verweisen sie im Sinne des Paulus-Wortes 1 Kor 13,1 erneut auf die mangelnde ‚caritas‘ des N.en. […] Als weiteres Sinnbild seiner sexuellen Begierde und gottlosen Triebhaftigkeit dient die Bekrönung der Gugel mit den Federn, dem Kamm oder dem Kopf eines Hahns. Selbst die Farbgebung des N.enkleides ist zeichenhaft: sie reicht vom eintönigen Eselsgrau bis zum grell kontrastierenden Mi-Parti, bei dem die Schandfarben gelb und rot am häufigsten sind.62
Und schließlich gewinnt die Ästhetik der Narrheit hierdurch weiter an Komplexität: Der intrigante falsche Narr kann sich die Koinzidenzvorstellung von Normwidrigkeit und deren Veräußerlichung zunutze machen und sich etwa als Hässlicher kaschieren. Zudem kommt ihm als Trickbetrüger entgegen, dass dem Narren im Spätmittelalter zunehmend stereotype Züge verliehen werden, wodurch sein Äußeres an kopierbarer Konventionalität zunimmt. Auf das Erzählen durch und über mittelalterliche Narrenfiguren bezogen, reüssieren diese, Narrheit simulierend, noch in einer weiteren ästhetischen Dimension: der Theorie der Intrige, wie sie Peter von Matt, ebenso ausgewiesen für literarischen Liebesverrat63 , an zahllosen Fallbeispielen antiker und moderner Literatur entwickelt hat.64 Intrigen, etymologisch aufgefasst, verweisen bereits auf originäre Zusammenhänge von Betrugshandlungen und Narren, denn das zugrundeliegende intricare (‚verwickeln‘) geht seinerseits auf tricae zurück, „das zwei Bedeutungsfelder aufweist: 1. Possen, Unsinn, 2. als übertragende Bedeutung Verdrießlichkeiten, Widerwärtigkeiten, Ränke“65 . Im folgenden Textbeispiel sind die Grenzziehungen zwischen Possen und Unsinn, Verdrießlichkeiten und Ränken vor allem dies: eine Frage der Perspektive und des Wissens, die beide von der Poetik der Intrige konstituiert werden.
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Mezger 1999, Sp. 1024. Ebd. Peter von Matt: Liebesverrat. Die Treulosen in der Literatur. München/Wien 1989. Ders.: Die Intrige. Theorie und Praxis der Hinterlist. München/Wien 2006. Vgl. Karl Ernst Georges: Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch. Unveränderter Nachdruck der achten, verbesserten und vermehrten Auflage von Heinrich Georges. 2 Bde. Darmstadt 1998, Bd. 2., Sp. 3212f.
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Perspektiven auf Zusammenhänge von Narrheit und Ästhetik
1.3
Ein Fallbeispiel für erzählte Narrheit und närrische Erzähler „Pur vostre amur sui afolez, Si sui venu, e nel savez. Ne sai cument parler od vus: Pur ço sui tant anguissus. Or voil espruver autre ren: Saver si ja me vendreit ben: Feindre mei fol e faire folie […].“ 66 Folie Tristan (Oxf. Hs.), 175–181.
Zur Konkretisierung der Zusammenhänge von Narrheit und Ästhetik, die in der Epik und in schwankhaftem Erzählen des Mittelalters untersucht werden sollen, erscheint ein kleiner altfranzösischer Erzähltext des Tristan-Stoffes besonders geeignet, zumal, wenn dieser im Lichte der von Peter von Matt entwickelten „Theorie der Intrige“ neu gelesen wird67 : La Folie Tristan.68 In dieser Kurzerzählung steht Tristans
66 „Die Liebe zu Euch bringt mich um den Verstand! / Ich bin gekommen, doch Ihr wißt dies nicht! / Ich weiß nicht, wie ich zu Euch gelangen kann, / und dies ist der Grund meiner Qual. / Doch ich will einen klugen Plan ersinnen, / der mir vielleicht zum Vorteil reicht: / Ich will mich als Narr verkleiden und Narrheit vortäuschen. […].“ – Die Versangaben von La Folie Tristan werden im Folgenden zitiert mit der Sigle FT-B/B/S nach der Ausgabe Folie d’Oxford. Les Folies Tristan. Altfranzösisch/ neuhochdeutsch von Anne Berthelot, Danielle Buschinger, Wolfgang Spiewok. Greifswald 1996, S. 45–113, hier V. 175–181. 67 Bereits Matthias Meyer hat das Intrigenmodell von Matts auf mittelalterliche Literatur, insbesondere auf Mai und Beaflor, Friedrich von Schwaben und Wilhelm von Österreich des Johann von Würzburg appliziert. Hierbei interessiert sich Meyer insbesondere für den „Hof als Ort der Intrige und die Auswirkungen der Intrige auf die Struktur der Romane“ (Matthias Meyer: Hintergangene und Hintergeher. Überlegungen zu einer Poetik der Intrige in Mai und Beaflor, Friedrich von Schwaben und Wilhelm von Österreich. In: Hybridität und Spiel. Der europäische Liebes- und Abenteuerroman von der Antike zur Frühen Neuzeit. Hrsg. von Martin Baisch und Jutta Eming. Berlin 2014, S. 116). Meyer macht geltend, von Matt unterscheide nicht hinreichend zwischen List und Intrige und bemüht sich selbst um eine entsprechende Präzisierung. Zur kritischen Auseinandersetzung mit von Matts Ansatz vgl. Meyer 2013, S. 117f. Zudem ist 2015 eine Dissertation erschienen, die von Matts Intrigentheorie außer auf Friedrich von Schwaben auch auf Nibelungenlied, Rolandslied, Karl, Herzog Ernst B, Tristan (Gottfrieds von Straßburg), Iwein, Diu Crône und Konrads von Würzburg Trojanerkrieg anwendet: Katharina Hanuschkin: Intrigen – Die Macht der Möglichkeiten in der mittelhochdeutschen Epik. Wiesbaden 2015 (= Trierer Beiträge zu den historischen Kulturwissenschaften 16). 68 Die Folie Tristan liegt in folgenden weiteren Ausgaben vor: Les deux poèmes de la Folie Tristan. Publiès par Joseph Bédier. Paris 1907 (= Société des anciens textes francais), S. 15–79; La Folie Tristan D’Oxford. Publiée avec commentaire par Ernest Hoepffner. Paris 1938 (= Publications de la faculté des lettres de l’université de Strasbourg. Textes d’étude 8); La Folie Tristan D’Oxford. Publiée avec commentaire par Ernest Hoepffner. Paris 1943 (= Publications de la faculté des lettres de l’université de Strasbourg. Textes d’étude 8); Les deux poémes de La Folie Tristan. Édités par Félix Lecoy. Pari
Ein Fallbeispiel für erzählte Narrheit und närrische Erzähler
Auftritt als Narr am Hof König Markes im Zentrum. Um sich so verkleidet seiner Geliebten Isolde unerkannt nähern zu können, muss die Narrheit überzeugend sein. Deshalb ist dieser Szenenkomplex für die Vorstellung der Analysemethodik dieser Arbeit ideal. Verkleidung und Verstellung thematisieren über vestimentäre Zeichen, die Semiotik des Körpers sowie Verhaltenscodes des ganz Anderen die Kleidung und den Körper des Narren. Als Intrigengeschichte eignet sich die Folie Tristan außerdem besonders für narratologische Fragestellungen, denn dieses Intrigenerzählen entfaltet sein ästhetisches Raffinement aus der Divergenz unterschiedlicher Figurenkonstellationen und -perspektiven. Zudem narrativieren Beratungs- oder Reflexionsszenen über die Verkehrung in einen Narren das Anomale im Fiktiven, wodurch das Andere als Narrenkleidung, -gebaren, -sprechen, -gestik und -mimik auch zur ‚geschriebenen Anomalie‘ wird. Hierdurch wird zugleich deutlich werden, dass mittelalterliche Zusammenhänge von Narrheit und Ästhetik per se literaturund kulturwissenschaftliche Perspektiven bündeln. Zwar wird die tragische Liebesgeschichte von Tristan und Isolde im Mittelalter andernorts ausführlicher erzählt, aber nicht überall tritt Tristan in der Narrenrolle auf. Zu den prominentesten Fassungen zählen die altfranzösischen TristanErzählungen von Béroul und Thomas von Britannien (nach 1170), der Tristan Gottfrieds von Straßburg („um 1210 abgebrochen“69 ) und Eilhart von Obergs Tristrant. Das Episodengedicht von Tristans Narrenauftritt, „das sich sowohl in Eilharts Tristrant (8892–9258) als auch in der Hs. 103 (Bibliothéque Nationale) des Prosa-Tristan befindet“70 , ist in zwei Fassungen überliefert, die „nach dem Aufbewahrungsort der beiden Handschriften […] die Folie de Berne und die Folie d’Oxford genannt werden. Beide Handschriften sind im 12. Jahrhundert entstanden; ihre Schreiber sind ebenso anonym wie der Verfasser des Episodengedichtes selbst.“71 Da im Vergleich zur Berner Fassung die Folie Tristan in der Oxforder Variante „ausführlicher [erzählt], […] nicht mit beschreibenden Details“ spart und „die vom ‚Narren‘ erzählten Episoden auch getreu der in der Thomas-Version und bei Béroul zu finden[den] Reihenfolge“72 präsentiert, steht im Folgenden die
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1994 (= Les classiques francais du moyen age), S. 51–101; La Folie Tristan. Poème anononyme du XIIe siècle du manuscrit d’Oxford traduit de l’anglo-normand dans son mètre original par Bruno Sermonne, Arles 1998; La Folie d’Oxford. In: Les Tristans en vers. Tristan de Béroul, Tristan de Thomas, Folie Tristan de Berne, Folie Tristan d’Oxford, Chèvrefeuille de Marie de France. Texte, traduction, introduction, bibliographie et notes par Jean-Charles Payen. Paris 2010, S. 265–297. Joachim Bumke: Geschichte der deutschen Literatur im hohen Mittelalter. München 1990 (= Geschichte der deutschen Literatur im Mittelalter 2), S. 187. Anne Berthelot/Danielle Buschinger/Wolfgang Spiewok: Einleitung. In: Folie d’Oxford. Les Folies Tristan. Altfranzösisch/neuhochdeutsch von Anne Berthelot, Danielle Buschinger, Wolfgang Spiewok. Greifswald 1996, S. VII–XII, hier S. VII. Ebd., S. VII. Ebd., S. VIII.
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Erzählfassung nach dem Manuskript der Bodleian Library in Oxford im Fokus der Betrachtung.73 Hierbei werden sich Vergleichsaspekte entwickeln lassen, die auch auf die Analysen des Erzählens von Tristan als Narr bei Eilhart von Oberg und den Fortsetzern Gottfrieds, Ulrich von Türheim und Heinrich von Freiberg, abzielen. Da es nicht sinnvoll ist, eine versgebundene Prosaübersetzung gegen eine Übersetzung in deutsche Blankverse auszuspielen, werden in dieser Einführung die ältere neuhochdeutsche Übersetzung der Folie Tristan von Anne Berthelot/Danielle Buschinger/Wolfgang Spiewok (FT-B/B/S) und die jüngere von Friedrich Kittler (FT-K) vergleichend herangezogen.74 In der je nach Ausgabe nur 998 (FT-B/B/S) bzw. 1093 (FT-K)75 Verse umfassenden Oxforder Folie tritt Tristan als falscher Narr, als Intrigant76 , der sich nur zu verstellen scheint, vor der Hofgesellschaft König Markes in England auf. Das diesem Abschnitt vorangestellte Zitat benennt bereits ein ästhetisch sehr interessantes Ausgangsproblem der Folie Tristan: Tristan erlebt seine Liebesqual als Ursache einer Art von Wahnsinn (vor liebe zu euch werd ich irre)77 und fasst den Plan, sich als närrischer Simulant (ich stell mich irre• Spiel den narren)78 in die Nähe der geliebten Isolde zurückzuwagen.79 Die stereotype Opposition von ‚natürlichen‘ und ‚künstlichen‘ Narren greift hier bereits zu kurz. Spätere Literaturnarren und Narren in der Literatur wie etwa Brants Büchernarr im Narrenschiff, Cervantes Don Quijote de la Mancha oder Grimmelshausens Simplicissimus verweisen wie jüngst 73 Zur handschriftlichen Überlieferung vgl. ebd., S. VII–IX. 74 Friedrich Kittler und Hans Ulrich Gumbrecht: Isolde als Sirene. Tristans Narrheit als Wahrheitsereignis. Mit einer Übersetzung der Folie Tristan aus dem Altfranzösischen von Friedrich Kittler. München 2012, S. 40–107 (Sigle FT-K). 75 Die Verszählung scheint bei Kittler irrig: Nach V. 469 springt die Zählung auf 670. Der entsprechende Vers ist dann auch bei FT-B/B/S angegeben mit V. 476. 76 Bei Knorr findet sich eine regelrechte Typologie der Intriganten, unterscheidet dieser doch vom „Charakter-Intriganten“ den rachsüchtigen, den missgünstigen, den ehrgeizigen, den pflichtversessenen und den ideologisch motivierten Intriganten. Vgl. Heinzt Knorr: Wesen und Funktion des Intriganten im deutschen Drama von Gryphius bis zum Sturm und Drang. Erlangen 1951, S. 19–21. Zum „(Figuren-)Repertoire der Intrige“ vgl. Hanuschkin 2015, S. 16–23. Lauer hat eine eigene Definition des Protagonisten von Intrigen vorgelegt: „[D]er Intrigant als einer, der die internen Spielregeln der Welt besser zu verstehen, zu durchschauen und auszuspielen weiß als irgendjemand sonst und der so zum ‚Spielregler’ und ‚Spielgeber’ wird, bedarf keiner Autorität, keiner Tradition und keines Gottes, um sein Handeln zu rechtfertigen.“ Claudia Lauer: Die Kunst der Intrige. Spielarten strategischer Täuschung in den Artusromanen Hartmanns von Aue. In: Aktuelle Tendenzen der Artusforschung. Berlin 2013 (= Schriften der Internationalen Artusgesellschaft 9), 17–38, hier S. 18. 77 Kittlers Übersetzung von Pur vostre amur sui afolez (FT-K 169). 78 Kittlers Übersetzung von Feindre mei fol, faire folie (FT-K 175). 79 Vor dem Hintergrund der komplexen Verschränkung von Minnenarrheit und Narrenrolle greift die ‚Interpretation‘ von Berthelot, Buschinger und Spiewok zu kurz: Tristan kommt „an den Hof Markes, wo er vor Marke und dessen Höflingen die Rolle eines wahnwitzigen Narren spielt, der sich in die Identität von Tristan begibt“ (Berthelot/Buschinger/Spiewok 1996, S. IX).
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auch Handkes Pilznarr80 ihrerseits auf eben diese Abgrenzungsproblematik. Ganz offenbar besteht bereits für die mittelalterliche Literatur ein Darstellungsreiz der Narrheit darin, die Grenzziehung zwischen Wahnsinn und Vernunft, Wahrheit und Lüge zu labilisieren; und dies dadurch, dass perspektivabhängig von nur bedingt zuverlässigen Erzählern oder aus künstlich hervorgerufener oder natürlicher Narrheit über und von Figuren erzählt wird. Was auf narratologischer Ebene Tristans Folie so interessant macht, ist ebenso ätiologisch prekär, lässt sich doch mit Blakeslee formulieren: „The question of Tristan’s free will is central to the Folies […].“81 Wie der kleine Erzähltext begründet, dass einem falschen Narren seine Anomalie ganz natürlich vorkommt, wird ebenso zu erläutern sein wie das Reüssieren eines Intriganten, der (möglicherweise) nicht Herr seiner Handlungen ist. Aus der komplexen Verbindung von Tristans Minne-Torheit und seiner Betrügerrolle als Narr resultiert schließlich ein „Wahrheitsereigns“82 , das die Ästhetik der erzählten Intrige, in der der Intrigant selbst als Erzähler auftritt, abermals verkompliziert. 1.3.1 Erzählhandlung der Folie d’Oxford im Überblick Vor dem Hintergrund eines knappen Handlungsüberblicks83 wird sich eine Intrigenstruktur herausarbeiten lassen, die für vergleichende Analysen von intriganten Narrenauftritten nicht nur im Tristan-Stoff geeignete Beobachtungsaspekte bereitstellt. Auf eine erste Szene, die den trauernden Tristan (FT-B/B/S 1–46; FT-K 1–46) vorstellt und in der er auch den Plan fasst, nach England zu reisen, folgt ein Erzäh-
80 Peter Handke: Versuch über den Pilznarren. Eine Geschichte für sich. Berlin 2013. 81 Merritt R. Blakeslee: Love’s Masks. Identity, Intertextuality and Meaning in the Old French Tristan Poems. Cambridge 1989 (= Arthurian Studies XV), S. 73. „To the extent that Tristan’s passion is portrayed as being within the control of his will, the role of court fool as witty entertainer and manipulative trickster is an appropriate metaphor. To the extent that this passion is considered to lie beyond the exercise of his will, making him incapable of choosing freely to love or not to love his lady, the role of madman is a suitable metaphor. Finally, to the extent that this passion is represented as a force of nature, the role of court fool as oracle is a fitting metaphor” (ebd., S. 72f.). 82 Vgl. den gleichnamigen Beitrag von Hans Ulrich Gumbrecht: Tristans Narrheit als Wahrheitsereignis. Über zwei späte Texte von Friedrich Kittler, die Seinsgeschichte freilegen wollen. In: Friedrich Kittler/Hans Ulrich Gumbrecht: Isolde als Sirene. Tristans Narrheit als Wahrheitsereignis. Mit einer Übersetzung der Folie Tristan aus dem Altfranzösischen von Friedrich Kittler. München 2012, S. 7–19. 83 Der dritte Einleitungsabschnitt „Zum Inhalt und zur Interpretation“ der Edition Les Folies Tristan von Berthelot, Buschinger und Spiewok bietet einen sehr knappen Handlungsüberblick. Vgl. Berthelot/ Buschinger/Spiewok 1996, S. IX-XI. Da dieser vor allem Unterschiede des Erzählten und die jeweilige Nähe zu den Versionen von Béroul und Thomas in der Berner und der Oxforder Fassung der Folie Tristan herausstellt, nicht aber eine Phasierung des Intrigenschemas fokussiert, wird hier eine eigene Handlungszusammenfassung gegeben.
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lerkommentar über die Erfolgsaussichten von Verstellungen (FT-B/B/S 47–56; FT-K 47–52). Daran schließt sich Tristans Überfahrt nach England (FT-B/B/S 57–92; FT-K 53–90) und seine Ankunft in Tintagel an (FT-B/B/S 93–142; FT-K 90–136). Nachdem er von den Seeleuten unerkannt nach England gebracht worden ist und von der Anwesenheit der fortwährend trauernden Isolde erfahren hat (FT-B/B/S 143–156; FT-K 137–150), denkt sich Tristan die List aus, als Narr an Markes Hof zu erscheinen (FT-B/B/S 152–188; FT-K 151–182). Mit diesem Ansinnen trifft er zunächst auf einen ärmlich gekleideten Fischer, mit dem er die Gewänder tauscht (FT-B/B/S 189–204; FT-K 183–198). Zu unhöfischer Kleidung kommt nun seine Verunstaltung als Narr und die Ausstattung mit einer Keule (Haarschur, Gesichtsfärbung, verstellte Stimme; FT-B/B/S 205–222; FT-K 199–217), die sich in der Begegnung mit Markes Pförtner als überzeugende Aufmachung eines Irren bewährt (FT-B/B/S 225–246; FT 219–240). So kommt Tristan als falscher Narr in den Thronsaal König Markes, entfesselt gleich einen Gewaltausbruch unter Knechten und Edelknappen (FT-B/B/S 247–258; FT-K 241–252) und bringt seine Liebesgeschichte vor, deren Abschnitte zunächst an den lachenden Marke (FT-B/B/S 259–318; FT-K 253–312), dann an Isolde (FT-B/B/S 319–382; FT-K 313–376) und schließlich an das Herrscherpaar (FT-B/B/S 383–545; FT-K 377–739) gerichtet sind. In einer Zwischenszene mit Isolde und ihrer Zofe Brangäne in der Kammer der Königin (FT-B/B/S 546– FT-K 740–796) tauschen sich die beiden Frauen über die Identität des Narren aus, der nach Isoldes Meinung so hartnäckig wie unglaubwürdig behauptet hat, ihr Geliebter Tristan zu sein. Brangäne hingegen vermutet unter der Narrenlarve den Liebhaber ihrer Herrin oder zumindest dessen Boten. In der Folgeszene (FT-B/B/S 603–668; FT-K 797–863) sucht sich Tristan Brangäne zu entdecken, indem er detailreich von der Einnahme des Minnetrankes erzählt. Ohne ihr Erkennen zu artikulieren, führt eine konspirativ lächelnde Brangäne den närrischen Fremden schließlich zu ihrer Herrin (FT-B/B/S 669–678; FT-K 864–873). Mit dieser Szene erreicht die Folie Tristan ihren Höhepunkt: Isolde und Tristan sind – abgesehen von Brangäne – allein (FT-B/B/S 679–998; FT-K 874–1193), und der falsche Narr sucht als Erzähler mit seinem Wissen über Versatzstücke des Tristan-Stoffes aus Verrat von Seneschall und Zwerg, der Mehlstaubepisode, dem Zauberhündchen Petitcriu, der Harfnerepisode, dem Minnegarten, dem Gottesurteil und der Minnegrotte die ungläubige Geliebte von seiner wahren Identität zu überzeugen (FT-B/B/S 895–938; FT-K 1090–1133). Als dies misslingt, sollen Indizien bewirken, dass Isolde Tristans Verkleidungslist durchschaut: Aber weder der Hund Hudent, der von Tristan in Isoldes Obhut gegeben worden ist und nun seinen Herrn erkennt, noch ihr Ring in Tristans Besitz können die Geliebte überzeugen. Erst als Tristan mit unverstellter Stimme zu Isolde spricht, fällt diese dem Geliebten mit dem noch immer schwarz gefärbten Gesicht um den Hals (FT-B/B/S 975–979; FT-K 1170–1173). Die Folie Tristan endet mit den in Aussicht gestellten Wonnen einer neuerlichen Liebesnacht und der zweifelhaften Gewissheit
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Tristans, in den Armen der Geliebten wohl geborgen zu sein (FT-B/B/S 992–998; FT-K 1187–1193). Denn auch diese Nacht wird enden, der Gatte seiner Geliebten von der Jagd wiederkehren und das Erzählen von Verrat, Flucht und drohender Liebeskatastrophe neu anheben. Aber hiervon wird andernorts erzählt. 1.3.2 Intrigenästhetik und Narrheitspoetik Indem hier ein konkretes hochmittelalterliches Textbeispiel mit der ‚Ästhetik der Intrige‘ nach Peter von Matt konfrontiert wird, sollen Zusammenhänge von ‚Narrheit und Ästhetik‘ entfaltet werden. Dies gründet unmittelbar in von Matts Theorieansatz selbst: Denn seine „Studie eine[r] Morphologie der literarischen Intrige“84 stellt ebenfalls vorab kein textfernes Strukturmodell mit der Kommentierung seiner Bestandteile vor, um diese anschließend an literarischen Exempla zu verifizieren. „Vielmehr“, so von Matt über seine Theoriefindung, „versteht sich das Unternehmen 84 Von Matt 2006, S. 42. Kontrastiv zu von Matts Vorgehen hat Katharina Hanuschkin ihren Analysen von Intrigenhandlungen in mittelhochdeutscher Epik ein kurzes Theoriekapitel zur ‚Intrige’ vorangestellt (Hanuschkin 2015, S. 13–24), wobei nicht nur diverse theoretische Ansätze zusammengetragen werden, sondern auch zuweilen unberechtigte Kritik an von Matt geübt wird. So wird dessen Begriffsverwendung von ‚Intrige’ als willkürlich bezeichnet, woraus resultiere, dass „seine Überlegungen hinter den Möglichkeiten einer literaturwissenschaftlichen Analyse zurück[blieben] und [...] nur oberflächlich an diesem literarischen Konzept [kratzten]“ (Hanuschkin 2015, S. 5). Zudem wird für die Problematik einer ‚reinen’ Theorie der (literarischen) Intrige keine Lösung gefunden: So geraten definitorische Annäherungen an den Phänomenkomplex ‚Intrigenhandlung’ sehr vage: „Eine Intrige ist eine durch planvolles Vorgehen durchgeführte Methode, sein Ziel auf dem indirekten Weg der Beeinflussung des Handelns anderer zu erreichen, möglichst ohne als Initiator des Geschehens erkannt zu werden“ (Hanuschkin 2015, S. 13). Ohne Bezug zu literarischen Texten kann jedoch nicht über (weitere) konstitutive Bestandteile erzählten Intrigengeschehens entschieden werden. Ob, wie bei von Matt, Schadentrachten, zur Intrigendefinition gehört („Intrige ist geplante, zielgerichtete und folgerichtig durchgeführte Verstellung zum Schaden eines anderen und zum eigenen Vorteil. Und man darf sagen, daß die Art und Weise der Verstellung das je Besondere einer Intrige ausmacht.“ Von Matt 2006, S. 54), wird nicht von theoretischen Definitionsversuchen, sondern einzig vom literarischen Text ‚entschieden’. (Der Schadensaspekt der Intrigendefinition wird bei Hanuschkin schließlich doch aufgenommen; vgl. Dies. 2015, S. 14.) Überdies erscheint eine positive Konnotierung von ‚Intrige’ auch dann heikel, wenn sie gute Absichten verfolgt, denn auch ‚positiv’ motivierten Intrigen haftet per se Betrugscharakter an. Schließlich kommt in Hanuschkins ‚Intrigentheorie’ die Veranlassung intriganten Handelns – bei von Matt die ‚Notlage’ des Intriganten (vgl. von Matt 2006, S. 118) – gar nicht vor. Demgegenüber knüpft Claudia Lauer bei ihrem Habilitationsprojekt „Die Kunst der Intrige. Spielarten eines Skandalons in der mittelhochdeutschen Epik des 12. Jahrhunderts“ an von Matts Intrigenmorphologie eben wegen „einer grundsätzlich offenen Konzeption“ und Ausbaufähigkeit an (vgl. Dies. 2013, S. 17–38). Allerdings fasst auch Lauer ‚Intrige’ „als ein moralisch zunächst wertungsfreie[n] Arbeits- und Leitbegriff “ (ebd. 2013, S. 20). Überdies führt Lauer anhand der Frauenfiguren Enite, der Dienerin der Gräfin von Narison und Lunete „eine spezifisch weibliche Kunst der Intrige und von Anfang an größere Lizenzen zu List, Lüge und Täuschung“ vor (ebd. 2013, S. 29–34).
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als ein […] Prozeß der fortlaufenden Erkundung und Entdeckung grundlegender Elemente des Modells. Das morphologische Muster soll sich in langsamer Summierung erst ergeben.“85 Zudem kann sich bislang kaum auf andere mediävistische Erprobungen der Intrigenästhetik gestützt werden.86 Denn auch wenn inzwischen weitere Forschungsbeispiele für deren Anwendungen auf die Poetik mittelalterlicher Texte vorliegen, enthalten diese weder eine eigens entwickelte Intrigenpoetik noch beziehen sie sich auf intrigante Narren in mittelalterlicher Literatur. Immerhin sind punktuelle Bezugnahmen auf Studien wie etwa diejenige von Matthias Meyer oder Katharina Hanuschkin weiterführend, die sich mit Begriffen und Katgeorien Peter von Matts kritisch auseinandersetzen.87 Dementsprechend wird auch hier der intriganten Fallgeschichte für Zusammenhänge von Narrheit und Ästhetik keine geschlossene Theorie vorangestellt. Vielmehr findet eine kritische Auseinandersetzung mit dem Theorieentwurf von Matts im Sukzessiven der exemplarischen Textanalyse statt, kann doch auch für die Poetik der Folie Tristan gelten: Das Intrigen-„Modell macht nur Sinn in seinem Bezug auf konkrete Texte. In seiner kahlen Abstraktheit ist es nahezu einfältig.“88 Darüber hinaus ist mit einer intrigenästhetischen Analyse von Narrenauftritten auch die Möglichkeit gegeben, das von Matt’sche Schema zu
85 Ebd. 86 In ihrem Kapitel zur Theorie der Intrige stützt sich Hanuschkin u. a. auf die Arbeiten von HeinzGünter Deiters: Die Kunst der Intrige. Hamburg 1966; Rainer Gruenter: Der Favorit. Das Motiv der höfischen Intrige in Gottfrieds Tristan und Isold. In: Ders.: Tristan-Studien. Hrsg. von Wolfgang Adam. Heidelberg 1993 (= Beihefte Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte 27), S. 141–158; Lauer 2013, S. 17–38; Gustav Adolf Pourroy: Das Prinzip der Intrige. Über die gesellschaftliche Funktion eines Übels. Zürich/Osnabrück 1986; Klaus Ridder: Minne, Intrige und Herrschaft. Konfliktverarbeitung in Minne- und Aventiureromanen des 14. Jahrhunderts. In: Spannungen und Konflikte menschlichen Zusammenlebens in der deutschen Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Kurt Gärtner [u. a.]. Tübingen 1996, S. 173–188; Johanne Villeneuve: Les sens de l’intrigue ou la narrativité, le jeu et l’invention du diable. Québec 2004. Zu den darüber hinaus zu nennenden frühen mediävistischen Beschäftigungen mit literarischen Intrigen zählt auch Walter Haug: Von aventiure und minne zu Intrige und Treue. Die Subjektivierung des hochhöfischen Aventüreromans im Reinfrid von Braunschweig. In: Liebe und Aventiure im Artusroman des Mittelalters. Beiträge der Triester Tagung 1988. Hrsg. von Paola Schulze-Belli und Michael Dallapiazza. Göppingen 1990, S. 7–22. 87 Meyer versucht, von Matts Begriffe der ‚Intrige‘ und ‚List‘ trennschärfer als komplexeres und schlichteres Betrugsgeschehen zu definieren. Vgl. Meyer 2013, S. 116f. Lauer hatte darauf hingewiesen, dass das Mittelalter für das Phänomen ‚Intrige’ keinen Begriff zur Verfügung gehabt habe: „Als sog. mechanema grundlegendes und in der Regegel v.a. positiv bewertetes Element der griechischen und römischen Dramatik und Epik, ist ‚Intrige’ aus frz. intriguer (‚Ränke schmieden, in Verlegenheit bringen’) analog zu ital. intrigare nach lat. intricare (im Sinne von ‚verwickeln, verwirren’) und tricae (in der Bedeutung von ‚Widerwärtigkeiten, Machenschaften’) erst ab dem 17. Jh. fassbar [...]“ (Lauer 2013, S. 18). Zur Etymologie von ‚Intrige’ vgl. Hanuschkin 2015, S. 13f. 88 Von Matt 2006, S. 42.
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ergänzen oder zu erweitern und dies um Perspektiven, die aus der Betrachtung mittelalterlicher Literatur resultieren. Gerade in seiner Universalität stellt von Matts Intrigenmodell basale Strukturelemente zur Verfügung, die sich insbesondere für vergleichende Perspektiven auf variierende Stoffkonkretisierungen eignen. So lassen sich erzählte Intrigen ebenso auf ihre jeweilige Gestaltung von Ausgangssituation und Planungsphase(n), ihre in Aussicht genommene Umsetzung und deren Erfolgsaussichten hin analysieren wie auf ihre Helfer und Hilfsmittel, Verstellungen und Verkleidungen, auf zu gewärtigende Widerstände, auf ihr potentielles Scheitern und auf möglicherweise sogar auftretende Gegenintrigen. Alle diese zunächst ‚abstrakten Bestandteile‘ einer Intrigenstruktur mögen für sich genommen „banal“89 sein. „Als konkretes literarisches Ereignis aber“ geben „sie in jedem Fall neuen Aufschluß“90 auch über die Poetik mittelalterlichen Erzählens von und über Narrenfiguren. Dass sich vor dem Reflexionshintergrund der Intrigenästhetik nach von Matt auch Erzähltexte des Mittelalters betrachten lassen91 , legen bereits die anthropologischen und philosophischen Dimensionen seiner Überlegungen nahe: Wir dürfen davon ausgehen, daß die Literatur aller Zeiten darüber nachdenkt und davon handelt, in welcher Weise der Mensch an dem ungeheuren Verstellungstreiben alles Lebens auf dem blauen Planeten partizipiert. Sie handelt davon, wie im Verstellungstreiben des Homo sapiens dessen Freiheit erscheint […], Freiheit zunächst als Entschluß zur zielgerichteten Verstellung überhaupt, Freiheit dann in der Wahl der Mittel, der je andern Mischung von Simulation und Dissimulation, Freiheit aber auch in der moralischen Reflexion auf das eigene Handeln und im Entschluß, geltende Normen, die verletzt wurden, durch Täuschung wieder in Kraft zu setzen.92
Ob sich die närrischen Verstellungen und Verkleidungen von höfischen Figuren in mittelalterlicher Literatur in diese universalistische Perspektive fügen, wird die Analyse der ausgewählten Texte zeigen. Andreas Kraß hat bereits darauf hingewiesen, dass „[d]as Repertoire der in der höfischen Epik begegnenden Verkleidungsrollen
89 Ebd. 90 Ebd. 91 Die folgenden Analysen insbesondere des schwankhaften Erzählens im Mittelalter dienen auch der Widerlegung von epochenbezogenen Vorurteilen, wie sie noch bei Deiters zu finden sind: „Wer [...] die Intrigenformen des Mittelalters untersucht, wird kaum Genugtuung empfinden. Er wird die plump angewandten Tricks und Ränke allenfalls als Gelenkigkeitsübungen verstehen können“ (Deiters 1966, S. 53). Zu Deiters problematischem Geschmacksurteil vgl. Hanuschkin 2015, S. 7. 92 Von Matt 2006, S. 43.
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[…] begrenzt“93 sei: „Wenn sich ein Ritter verkleidet, wahrt er die fixen Standesgrenzen zum Kleriker und zum Bauern.“94 Als „typische[…] Rollen der ritterlichen Maskerade“95 werden, so Kraß weiter, solche favorisiert, die „sich entweder durch soziale Mobilität oder durch soziale Marginalität“96 auszeichneten: Der Ritter kann sich nur als eine Person verkleiden, die entweder aufgrund eines sozialen Stigmas am Rande der Gesellschaft lebt oder aufgrund ihres Berufs oder ihrer Berufung eine Existenz als Reisender führt. Daher haben Kaufmänner, Spielmänner und Pilger einerseits und Aussätzige, Juden und Narren andererseits ihren festen Platz im Register der ritterlichen Verkleidungsrollen.97
Gerade hierdurch ist die mittelalterliche Narrenrolle in besonderer Weise für Verkleidungsintrigen prädestiniert: [Z]um einen, weil ihre gesellschaftliche Außenseiterposition an vorgeschriebenen vestimentären Kennmalen ablesbar ist, zum andern, weil der soziale Ausschluß in gewissen Hinsichten auch einen geschützten Handlungsspielraum eröffnen kann. Dies gilt insbesondere für den Narren, zumal diese Außenseiterrolle innerhalb der (höfischen) Gesellschaft spielbar ist.98
Das Fallbeispiel der Folie Tristan bietet bereits Anlässe dazu, die herausgestellten Freiheitsaspekte kritisch und, im Sinne Peter von Matts, nicht nur „universalistisch“, sondern auch ‚historisch‘ zu betrachten: Unter diesem Aspekt führt die Frage nach der Freiheit der Wahl, nach der Sittlichkeit des Entschlusses, sich zu verstellen, nach der Autonomie oder Determiniertheit des in der Intrige handelnden Subjekts zu Auskünften über die je besondere Anthropologie, das je besondere Menschenverständnis, den je besonderen Ethikbegriff der verschiedenen literarischen Zeitalter.99
Zunächst erscheint Freiheit im mittelalterlich Fiktiven der Folie Tristan bereits dadurch relativiert, dass intrigenschematisch dem ‚Verstellungstreiben‘ eine Not93 Andreas Kraß: Geschriebene Kleider. Höfische Identität als literarisches Spiel. Tübingen/Basel 2006 (= Bibliotheca Germanica 50), S. 237. 94 Ebd. 95 Ebd. 96 Ebd. 97 Ebd. 98 Ebd. 99 Von Matt 2006, S. 43f.
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situation vorausgeht, die zumindest dem Protagonisten als ausweglos erscheint. Zudem werden sich in den unterschiedlichen Erzählwelten des Tristan-Stoffes und des schwankhaften Erzählens aus der jeweiligen Notsituation resultierende Determinanten aufzeigen lassen, die auch die ‚Wahl der Mittel‘ etwa durch Plausibilität oder Erfolgsaussichten einschränken. Und überdies zeigt gerade die Folie Tristan eine ‚Mischung von Simulation und Dissimulation‘, wie sie einzig von der mittelalterlichen Narrenfigur sowohl als dissimulierter Minnenarr als auch als simulierter Schwachsinniger repräsentiert wird. Keine andere ‚Rolle‘ leistet beides.100 In der Folie Tristan wird ebenso wie auch bei Eilhart von Oberg, Ulrich von Türheim und Heinrich von Freiberg erzählt, dass sich ein höfischer Ritter (wie Tristan) in einen wahnsinnigen Narren verwandelt. Damit ist für vergleichende Analysen ein weiteres Moment der Intrigentheorie entnehmbar: das Kriterium der (Un-)Freiwilligkeit der Verkleidung des Protagonisten einerseits und das Bedeutungsspektrum der Verkleidungswahl im Hinblick auf die jeweilige Figur sowie die damit verbundene Charakterisierung der Betrugshandlung andererseits.101 Nicht minder Ungeheuerliches wird in der Halben Birne Konrads von Würzburg geboten, wenn ein rachsüchtiger Ritter (Arnold) dem herrschaftlichen Objekt seiner Begierde (der Prinzessin) als verstandloses Liebesspielzeug auflauert. Vom Standpunkt höfischer Kultur aus betrachtet, kann die Fallhöhe intriganter Figuren kaum spektakulärer ausfallen. Die Verstellung, die der eigenen Identität diametral entgegensetzt ist und die das Höfische wie das Heroische in identitätslose Narrheit verkehrt, ist schwerlich ohne Folgen für den Intriganten zu denken. Inwiefern sich dessen höfisch-heroische Identität durch den temporären Identitätswechsel zum Narren verändert, wird in den Folgekapiteln ebenfalls analysiert. Auf diesen Unterschied von Göttern, die sich lustvoll in Menschen wie in Tiere verwandeln, und höfischen Rittern, die als Verkleidung die Rolle des stigmatisierten Außenseiters annehmen, wird noch einzugehen sein.102 Den größten Anlass des Intrigengenusses der Rezipienten stellt sicherlich die Gestaltung des drohenden Umschlagspunkts der Handlung dar. In Anlehnung an Aristoteles bezeichnet von Matt diesen Augenblick der endgültigen Intrigendes-
100 Die besondere Eignung des Narren als Rolle kommt auch daher, dass der so getarnte Ritter „gegen seine Entlarvung doppelt abgesichert“ ist: „durch vestimentäre Verstellung und durch physische Entstellung“ (Kraß 2006, S. 238). 101 Da Intrigen- und Listhandeln zumeist auf Formen von Betrug basiert, ist es per se ausgeschlossen, dass ‚Intrige’ als „moralisch zunächst wertungsfreier Arbeits- und Leitbegriff verstanden“ (Lauer 2013, S. 20) werden könnte. Selbst positive Intrigenziele machen ihr Objekt immer bereits dadurch zum Intrigenopfer, dass ihm die Entscheidungsfreiheit auf gleicher Wissensbasis wie des Intriganten genommen wird. 102 Zur „für einen Ritter demütigend[en] Narrenverkleidung“ vgl. Berthelot/Buschinger/Spiewok 1996, S. X.
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avouierung als Anagnorisis103 : „Die Anagnorisis, das Wiedererkennen im wörtlichen Sinn, stellt in der Dramaturgie der Intrige jenen Augenblick dar, wo alles auskommt [sic], wo das ganze Verstellungsgefüge auffliegt.“104 Auch an der Folie Tristan wird sich zeigen lassen, dass „[ä]sthetisch, in literarisch-künstlerischer Hinsicht, wozu ja nicht zuletzt die Steuerung der Lesergefühle gehört, […] die Anagnorisis ein herausragendes, wenn nicht das Haupt- und Kronereignis des Intrigenprozesses“105 darstellt. Denn „[a]ller Spannungsaufbau geschieht über die erwartete, die erhoffte, die gefürchtete Anagnorisis. Sie ist das Phantasiebild am Horizont, das die Lektüre begleitet von dem Moment an, wo der Plan ausgedacht wird.“106 Und auch diesen Gestaltungsaspekt teilt die Folie Tristan mit anderen Intrigenerzählungen: Durchschauen und Wiedererkennen werden vielfach von einem „Erkennungszeichen“, dem „Gnorisma“107 , veranlasst. Auf diese Funktion von Tristans treuem Hund und Isoldes Ring wird noch einzugehen sein. Von Matts Strukturmodell von Intrigengeschichten regt über die Analyse der Folie Tristan hinaus vergleichende Betrachtungen an, etwa von mittelalterlichen Texten, die zu derselben Stofftradition gehören, wie die im ersten Hauptteil untersuchten Tristan-Erzählungen von Eilhart von Oberg oder den Fortsetzern des Tristan von Gottfried von Straßburg wie Ulrich von Türheim und Heinrich von Freiberg. Schließlich eignet sich eine so generelle Erzählstruktur wie von Matts Intrigenmuster auch dazu, dessen Realisierungen in unterschiedlichen Gattungskontexten wie der hochmittelalterlichen Epik der genannten Autoren einerseits und der Halben Birne (Pseudo-)Konrads von Würzburg als Fallbeispiel schwankhaften Erzählens andererseits zu betrachten. Für Intrigenhandlungen konstatiert von Matt folgende Grundstruktur: „Was das morphologische Modell als Ganzes betrifft, zeigen sich im zeitlichen Aufriß also drei Phasen: Planung, Durchführung und Anagnorisis.“108 Im Folgenden wird die Folie Tristan daraufhin betrachtet, wie sie dieses universelle Intrigenschema im Kontext des Tristan-Stoffes konkretisiert, variiert und ihrerseits mit Bedeutsamkeit für die Minnehandlung insgesamt auflädt. Der Handlung der Erzählung folgend, wird zunächst Tristans Intrigenplanung und anschließend deren Durch-
103 Zur Begrifflichkeit vgl. von Matt 2006, Kap. XV: Die Anagnorisis-Theorie bei Aristoteles, S. 133–138. 104 Ebd., S. 120. 105 Ebd., S. 121. 106 Ebd. 107 Ebd. 108 Ebd.
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führung analysiert. Hierauf folgen Abschnitte zu unbewussten und freiwilligen Intrigenhelfern109 und zur Anagnorisis, dem Umschlagspunkt der Intrige in seiner bedrohlichen Permanenz, die – in einem weiteren Abschnitt – über wirkungslose und fehlgedeutete Erkennungszeichen (Gnorismen) begründet wird. Tristans Intrigenplanung
Intrige, Lüge und Verstellung geht – im Leben wie in der Literatur – eine tatsächliche oder vermeintliche „Notsituation“110 voraus. Unausweichlich bedrängende Zwangslagen oder schier nicht anders zu erreichende Ziele lassen reale wie fiktive Personen zu mehr oder weniger komplexen Mitteln der Tatsachenmanipulation, zu Verstellung und Verkleidung greifen. In der Folie Tristan erliegt der Protagonist durch den Minnetrank ganz der „Zielphantasie“111 , der so schönen wie unereichbaren Isolde nahe sein zu müssen. Die Wirkung des Minnetrankes und der aus ihr zwanghaft resultierende Tabubruch, die Gattin des Königs Marke zu lieben, konstituieren im Tristan-Stoff allenthalben eine Notsituation, die im Falle der Folie Tristan mit der Motivik des Minnesiechtums, der Melancholie und Todessehnsucht als mythisch-reale und damit als existentielle Notlage dargestellt wird.112 Diese Lebensbedrohung gründet ferner auf dem Dilemma der Tristanminne: „Verliebte er sich neuerlich, dann verlöre er die Freude.“113 So will er lieber sterben, um, durch Minnequal todessehnsüchtig, nicht fortwährend zu leiden.114
109 Zu figürlichen Intrigenhelfern vgl. den gleichnamigen Abschnitt bei Hanuschkin 2015, S. 20–22. 110 Von Matt 2006, S. 118. Bei Lauer korrespondiert Matts ‚Notsituation’ mit „der Erfahrung einer Umzulänglichkeit“ des Protagonisten als potentiellem Intriganten (Lauer 2013, S. 21). 111 Ebd. 112 „Tristan the lover is an especially fitting subject for depiction as a melancholic madman, for he is the child of tristitia, the bearer of a heredity that insures his unhappiness in love“ (Blakeslee 1989, S. 76). Blakeslee hat mehrfach Zusammenhänge zwischen „madness and punishment” (ebd., S. 74) in mittelalterlichen Vorstellungen betont. „The representaion of Tristan as madman in the Folies incorporates three metaphoric conceits concerning madness. First, madness is seen as a punishment visited upon the hero for a sin committed against his beloved. Second, madness is portrayed as a consequence of the jealousy and sorrow arising from unhappy love. Finally, the conceit of Tristan’s madness, which turns on the accessory idea that the madman was sexually incontinent, is a metaphoric rendering of aimer par folie and its derivatives, terms referring to adulterous love. To the twelfth-century mind, madness was frequently viewed as a punishment visited by God upon a sinner of a transgression of divine law” (ebd., S. 73). 113 Ore est il dunc de la mort cert, / Quant il s’amur, sa joie pert – „wie seines todes ist er sicher: / verliebt er sich• flieht seine freude“ (FT-K 17f.). 114 E melz volt une faiz murir / Ke tuz tens en poine languir. – „sterben will er eher heute / als allezeit vor schmerz vergehn“ (FT-K 9f.).
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Dort, wo Magie und Schicksal im Diesseits jede Erlösung ausschließen,115 ist dem minnewunden Tristan nur eine Hoffnung vorstellbar: eingedenk von Isoldes Wissen für ihre Liebe zu sterben. Das würde (selbst) den Tod versüßen.116 Blakeslee hat diese Facette Tristans abermals darauf zurückgeführt, dass an dessen freiem Willen zu zweifeln sei: It is evident that the Fo [Folie d‘Oxford] poet, whose poem is based closely on that of Thomas, had in mind during its redaction the vivid picture of Tristan’s jealousy and disordered mental state presented by his model. In its opening lines, Tristan, who claims to see no iussue from his constant suffering save death, asks only that the ,faithless’ Iseut know of his end, in order to demonstrate to her his unswerving, tragic, and self-pitying love (Fo 20–22).117
Auch dieser Tristan hat mehr Heroisches als Altruistisches, denn sein Opfer verlangt nach Zeugenschaft und zudem nicht nach beliebiger, die seine Fama als Minneheros kolportieren könnte. Es soll eben das Gedächtnis der Geliebten selbst sein, das das größtmögliche Opfer als Intensitätsbeweis der Tristanminne bewahrte. Damit sind die entscheidenden Voraussetzungen für ein ebenso spektakuläres wie intrigantes Rückkehrabenteuer geschaffen: äußerster Wagemut und höchste Opferbereitschaft. Über diese Motivierung der Intrige hinaus entscheidet die Art der Notsituation auch über die Sympathien des Publikums für den Betrüger. So wie der Minnetrank das erzwungene Ehebruchsgeschehen von einem moralischen in ein ‚psychologisches‘ Drama wandelt, so wird der unverschuldet in Not Geratene auch zum sympathischen Intriganten. Das ist für den Intrigengenuss des Publikums entscheidend: Während des Intrigengeschehens bangt es so moralisch zweifelhaft wie ästhetisch begründet mit dem Betrüger. Die Raffinesse von Intrigenstoffen lässt sich folglich auch daran bemessen, wie sie die Sympathie für den Intriganten steuern und erhalten. Tristans Not könnte größer nicht sein, aber das Publikum bangt auch mit Strickers hinterlistigem Pfaffen Amis oder dem Pfarrer vom Kalenberg, amüsiert sich ferner auch über Ulenspiegels sprachwitzige und gewalttätige Streiche und genießt schließlich die Kette überraschend verschobener Anagnorisismomente, die
115 Für mittelalterliche Vorstellungswelten mag der Wahnsinn Tristans ‚natürlich‘ erklärbar sein: „Tristan’s madness was also understood by poems’ twelfth-century audience to be the product of the pain and travail of unhappy love. In twelfth-century secular literature, unhappy or unconsummated love was conventionally depicted as a wasting, mortal illness and as a cause of madness. Hyperbole frequently inflated each conceit, with death substituted for the second term, as in Fo 1–24” (Blakeslee 1989, S. 76). 116 Kar si Ysolt sa mort saveit, / Siveus plus suëf en murreit. – „denn wenn Isolde davon wüsste / käm ihn der tod viel süsser an“ (FT-K 23f.). 117 Blakeslee 1989, S. 78.
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die Verstellungskunst eines Mr. Ripley bewirkt. Für derart unterschiedliche Fälle ist die Ästhetik der jeweiligen Intrigenerzählung entscheidend. Prominenten mittelalterlichen Intrigenhandlungen wie im Nibelungenstoff, die nicht bei von Matt analysiert werden,118 gehen regelrechte „Planszenen“ voraus. So treten etwa vor Siegfrieds und Gunthers Brautwerbungen oder im Mordrat der Burgunden „Anstifter“ und „Lenker“ (wie Hagen von Tronje) auf.119 Der Folie Tristan fehlt im Gegensatz zu anderen Gestaltungen des Tristan-Stoffes eine solche Planszene, in der das „Intrigensubjekt“120 (Tristan) und sein „Helfer“ (ein Freund, der Neffe) Aussichten auf „Formen der Verstellung“121 entwerfen und deren Erfolgsaussichten abwägen. Dass eine solche Szene aber auch für die Folie Tristan zum Strukturschema des Intrigengeschehens gehört, macht deren Fehlen als markierte Leerstelle deutlich. Um die Erfolgsaussichten seines Betrugs nicht zu gefährden, flieht Tristan alle Welt und verbirgt sich vor allem vor dem Gefährten, der ihm in einer etwaigen Planungsszene das Intrigenvorhaben ausreden könnte.122 Hierin gibt dem Intriganten auch Sentenzhaftes des Erzählers recht, wodurch sich die ausgelassene Planszene potentieller Intriganten zu einer Beratungsszene mit dem Publikum wandelt, in der es um die Frage geht, wie man denn möglichst, so verkleidet wie verschwiegen, als Betrüger reüssieren könne: Tant par se cuevre en sun curage „K’a nul nel dit; si fait que sage: Suvent avent damage grant Par dire sun conseil avant: Ki si celast e nel deist, Ja mal, so crei, në en cursist; […].“
er hüllt sich ganz in seinen mut / und sagt es niemand• klug getan. / oft wird denen grosser schade / die ihren plan zu früh verraten. / wer schweigen weiss und kein wort sagen / verhindert• glaub ich• vieles unheil.
(FT-K 47–52)123
118 So wird etwa die Kriemhild-Figur aus dem Nibelungenstoff bei von Matt lediglich genannt (vgl. Ders. 2006, S. 61), ohne dass eine Analyse des intriganten Brautwerbungsbetruges von Siegfried und Gunther vorgenommen wird. Zu List- und Intrigenhandeln im Nibelungenlied vgl. Hanuschkin 2015, S. 25–57. 119 Ebd., S. 118. Dass Intrigen komplexe literarische Gefüge generieren, wird in der Folie Tristan aber auch daran deutlich, dass die Grenzen zwischen „Intrigensubjekt“, „Anstifter und Lenker“ und „Helfer“ verwischen. 120 Ebd., S. 118. 121 Ebd., S. 119. 122 Il s’en celet, c’en est la fin, / Vers sun compaingnun Kaherdin; / Car ço cremeit, si li cuntast / De sun purpens, k’il l’en ostat – „Er […] verbirgt sich gar am ende / vor dem gefährten Kaherdîn• / aus angst der brächt ihn wieder ab / wenn er ihm den plan enthüllte“ (FT-K 27–30). 123 „Er war so verschwiegen, / daß er niemandem etwas sagt. Also handelte er weise, / denn man handelt sich großen Ärger ein, / wenn man ein Geheimnis zu früh ausplaudert. / Wer zu schweigen
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Was zunächst als Komplexitätsreduktion des Intrigenschemas erscheinen mag, erweist sich in der Folie Tristan schließlich als eigenes ästhetisches Raffinement. Die dortige Intrige kombiniert von Matts Kategorien des Intrigensubjektes und des -instrumentes dadurch, dass Tristan selbst derjenige ist, der den Plan der Intrigantenrolle entwickelt, und sein eigener Rollenwechsel, mithin sein unkenntlich gemachter Körper, zum intriganten Täuschungsinstrument wird. Da das Publikum jedoch auf die folgende Intrigenhandlung vorbereitet werden muss, um den hiermit verbundenen Spannungsaufbau seinerseits mit „Intrigengenuß“124 goutieren zu können, wird es Zeuge des trübsinnig seine Intrigantenrolle ausspinnenden Protagonisten. Beide „Formen der Verstellung“125 literarischer Intriganten begegnen in der Folie Tristan: sowohl die „Verkleidung“ als auch die „Körperverstellung“126 . Zunächst reist Tristan, standeswidrig, nicht zu Pferd, sondern, um nicht erkannt zu werden, zu Fuß, und dies als armer Bote.127 Anstelle einer regelrechten Planszene sind in der Folie Tristan zwei Reflexionsphasen über Verstellung und Verkleidung zu finden: eine über die eigene Aussichtslosigkeit, aus der verzweiflungsbedingt Mut und Intrigenentschluss hervorgehen, und eine zweite über geeignete Verkleidungen, die eine Wiederkehr an den Markehof ermöglichen. Auf dem Schiff, das ihn (zufällig) nach England bringt, hat sich Tristan in die Anonymität eines standeslosen Fremden begeben. Erst als er in England angelangt ist, wird von ihm ein zweiter Rollenwechsel vorgenommen, der ästhetisch besonders dadurch interessant ist, dass diese zweite Intrigantenrolle einer Veräußerlichung seiner wahren Herzensidentität entspricht: Tristan ersinnt jetzt zwar Verkleidung und Verstellung, ist jedoch selbst schon aus unerfüllter Liebe irre geworden, und macht sich als vermeintlich ‚falscher Narr‘ auf den Weg zum Hof. In den Erzählwelten des Tristan-Stoffes und der Halben Birne ist die Narrenlarve nie nur Verkleidung, sondern immer auch Widerspiegelung von Wesensidentität. Und dies kann für die Minnenarren bei Eilhart von Oberg, Ulrich von Türheim und Heinrich von Freiberg ebenso gelten wie für den Narrenritter Arnold bei Konrad von Würzburg. Damit sind Verkleidungen auch daraufhin zu prüfen, was Ingrid Hahn (für den jungen Parzival) konstatiert: „[S]eine Verkleidung [ist] nie Maske, listenreiche Täuschung wie im Spielmannsroman, vielmehr deutet sie immer auch
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und sein Geheimnis zu wahren weiß, / erspart sich meiner Meinung nach alle Verdrießlichkeiten“ (FT-B/B/S 47–52). „Intrigengenuß“ ist bei von Matt ebenso eine der „charakteristischen seelischen Erfahrungen des Intriganten“ wie „die Intrigengeduld“ (vgl. Ders. 2006, S. 119). Als ästhetisches Vergnügen dürfen diese aber sicherlich auch auf den Rezipienten bezogen werden. Ebd., S. 119. Ebd. Vgl. FT-K 37–40.
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ein Stück seines Wesens, das doch nirgends mit ihr identisch ist.“128 Das Bedeutungsproblem von Verkleidungen wird noch komplexer, wenn Fragen nach ihrer Veranlassung und Freiwilligkeit einerseits und nach perspektivisch divergierender Wahrnehmung andererseits hinzutreten. Vor dem Hintergrund des Intrigenmodells nach Peter von Matt stellt sich rückblickend nun die Frage, ob Tristan bereits bei seinem Aufbruch nach England geplant hat, als Narr an Markes Hof aufzutreten, denn der Erzähler bleibt in der Planungsszene ohne helfenden Berater vage, spricht nur ohne Konkretisierung von Verkleidungsabsicht und gibt dem Publikum den Rat, gut daran zu tun, wie er und sein Protagonist, die beiden ‚Regisseure‘ der Tristan-Intrige, Betrugsabsichten nicht zu früh zu verraten.129 Hierdurch sind Erzähler und Rezipienten ihrerseits partiell in ein ästhetisches Intrigengeschehen eingebunden, da das Erzählen dem Publikum zunächst seinerseits hinterlistig vorenthält, wie der Betrug durchgeführt werden soll. In der verknappten Erzählweise der Folie Tristan fällt der eigentliche Spannungsaufbau, der aus den Phasen ‚Notsituation‘ und ‚Planungsreflexion(en)‘ entspringt, ökonomisch aus: Ein Melancholiker, ein lebensmüder Depressiver zumal, ist als Narr am Hof, gar als Hofnarr, die denkbar schlechteste Besetzung einer Unterhalterrolle, die als Lach- oder zumindest als Spottanlass für die Freude des Hofes mit verantwortlich ist. Denn „[v]om Hofe“, so Wolf Lepenies, „muß die Melancholie verbannt bleiben; Herrschaft kann Traurigkeit nicht dulden – gesteht sie allenfalls dem Herrscher als Privileg zu.“130 Lepenies begründet dieses am Hof geltende „Freudegebot“ mit Hartmanns von Aue „Verhaltensregel“: „swer ze hove wesen sol, dem zimet freude wol.“131 In diesem Sinne verhält sich die Tristan-Figur auch höfisch, wenn sie sicher ist, bei jeder anderen Frau als Isolde dieser Freude (joie) verlustig zu gehen und der Hof Markes wird von den fremden Seeleuten, die Tristan zufällig nach England bringen, als Freude auslösendes Reiseziel bzw. als Ort der Freude angesprochen. Gefragt nach dem Ziel ihrer Reise, antworten die Handelsreisenden prompt: „En Engleterre, funt cil, a joie!“ (FT-B/B/S 78).132
128 Ingrid Hahn: Parzivals Schönheit. Zum Problem des Erkennens und Verkennens im Parzival. In: Verbum et Signum. FS F. Ohly. Bd. 2: Beiträge zur mediävistischen Bedeutungsforschung. Studien zu Semantik und Sinntradtion im Mittelalter. Hrsg. von Hans Fromm, Wolfgang Harms und Uwe Ruberg. München 1975, S. 203–232; hier S. 217. Zur spielmännischen Literatur vgl. Hans Joachim Behr: [Art.] ‚Spielmannsdichtung‘. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Bd. III. Berlin/New York 2007, S. 474–476. 129 Vgl. FT-B/B/S 47–52. 130 Lepenies 1998, S. 90. 131 Ebd. 132 Bei Berthelot, Buschinger und Spiewok (FT-B/B/S, S. 78) und Kittler (FT-K, S. 74) variieren hier Versangaben und Übersetzungen. Bei Ersteren ist dies zu lesen: „Nach England!“ sagten jene. „und
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Hiermit zeichnen sich zwei intrigengefährdende Konfliktbereiche für den betrügerischen Auftritt Tristans als Narr bei König Marke ab: der Hof als Sphäre äußerster „Affektmodellierung“ einerseits und die Erwartung an einen Hofnarren als Melancholie vertreibenden „Entlastungsfunktionär“133 andererseits. Wenn der falsche Narr Tristan nicht als „Substitut“134 fungiert, weil er auf sich zu nehmen scheint, was Herrscher und Herrschaft einschränkt135 , ist aber bereits ein Paradox angedeutet, das den falschen Narren gerade deshalb in seiner angenommenen Rolle reüssieren lassen könnte, weil er gängigen Normen, auch denen seiner Narrenexistenz, gerade nicht entspricht. Tristan als Narr wird dies dadurch tun, dass er „seine Affektlage überhaupt zur Sprache“136 bringt. Dem ‚falschen‘ Narren, der über sich und seine Liebe spricht, wird (zunächst) niemand glauben. Die Unglaubhaftigkeit seines Erzählgutes wird wiederum die Wahrheitsillusion seiner ‚natürlichen‘ Narrheit bekräftigen. Folglich sind es zwei Narrative, die der Folie Tristan eingeschrieben sind: Tristans Rückkehrabenteuer als Verstellungsintrige einerseits und die bei ihrer Durchführung als vermeintliche Unglaubwürdigkeit wahrheitsgemäße Erzählung der eigentlichen Liebesgeschichte andererseits. Die Verschränkung dieser beiden Dimensionen des Intrigengeschehens, Tristans simulierter Irrsinn und seine dissimulierte Minne, führt zu einem weiteren ästhetischen Komplex, der aus der Personalunion von Narr und Geliebtem resultiert: Der wahrsagende Narr kann von Isolde nicht erkannt werden. Hierin ist bereits die ästhetische Pointe der Folie Tristan zu sehen. Durch die Perspektivität des Intrigengeschehens müssen dessen Phasen, Motive und Requisiten immer beides leisten: Sie sollen den König und die Hofgesellschaft in dem falschen Glauben bestärken und gleichzeitig Isolde (und Brangäne) von der wahren Identität des Narren überzeugen. Damit ist die Spannung der Geschichte doppelt motiviert: Durch fortwährend drohende wie verschobene Anagnorisis als mögliche Entlarvung des falschen Narren und als ebenso hinausgezögertes Erkennen des Geliebten. Verkleiden und vestimentäre Motivik
In einem weiteren Selbstgespräch finden nun die Hauptmotive von Tristans Minnewahn ihre Steigerung. Nachdem an das Tabu, Isolde auch nur zu sprechen, erinnert worden ist, erweckt das Dilemma, entweder seiner Minnequal zu erliegen oder
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dies fröhlichen Herzens.“ Demgegenüber übersetzt Kittler hier ambivalenter: „nach England• sagen die•· zur freude!“ Lepenies 1998, S. 91. Ebd. Vgl. ebd. Ebd., S. 95.
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von der Hand Markes erschlagen zu werden, bei Tristan neuen Heldenmut aus Fatalismus, Opferbereitschaft aus Liebe und schließlich Verstellungswillen mit dem zugehörigen Einfall, sich Isolde als Narr zu nähern: „Ore voil espruver autre ren, Saver si ja me vendreit ben: Feindre mei fol e faire folie: Dunc ne est ço sen e grant veisdie? Cuintise est: quant n’ai liu e tens, Je ne puis faire nul greniur sens. […].“
„‚Doch ich will einen klugen Plan ersinnen, / (180) der mir vielleicht zum Vorteil gereicht: / Ich will mich als Narr verkleiden und Narrheit vortäuschen. / Ist das nicht raffiniert? Ist dies nicht ein kluger Plan? / Es ist eine glänzende Idee! Bedrängt von den Umständen, / sehe ich keine bessere Lösung.‘“
(FT-B/B/S 179–184)137
„In der Literatur“, so von Matt, „gehört die Verkleidung zu den ältesten Formen der Verstellung.“138 Insbesondere der semiotische Verweischarakter macht die Kleidung im Mittelalter zum geeigneten Medium des Anderen. Denn „[d]ie Kleidung“, so Gabriele Raudszus, „in der sich ein Mensch seiner Umwelt präsentiert, informiert über Person und Persönlichkeit, Stand und Standard, Beruf und Berufung des Trägers.“139 Auch die von einem Ritter angenommene Narrenrolle ist „die optisch frappante Simulation einer andern sozialen Rolle und damit einer andern Identität“140 . Und sicherlich stellt der Narr als Intrigantenrolle eine Radikalisierung der Verstellung dar, die von der Verkleidung bewirkt wird.141 Denn sie wirkt auf andere Figuren gerade deshalb so manipulativ, weil mit dem Stereotyp des Narren und damit auch mit seiner Kleidung bestimmte abnorme Verhaltensweisen assoziiert werden.142
137 Kittler übersetzt die entsprechende Stelle seiner Textausgabe (FT-K 175–182) wie folgt: „ich stell mich irre• spiel den narren• / macht das nicht sinn und gute list? / schlau• wenn weder raum noch zeit sind / kann ich mehr sinn doch gar nicht machen / ich scheine ihnen irr geworden / und hab doch klarern sinn als sie• / als nichtsnutz komm ich leuten vor / die grössre narrn im hause halten.“ 138 Von Matt 2006, S. 54. 139 Gabriele Raudszus: Die Zeichensprache der Kleidung. Untersuchungen zur Symbolik des Gewandes in der deutschen Epik des Mittelalters. Hildesheim/Zürich/New York 1985 (= ORDO. Studien zur Literatur und Gesellschaft des Mittelalters und der frühen Neuzeit 1), S. 1. 140 Von Matt 2006, S. 46. 141 Zur Verkleidung als Radikalisierung der Verstellung vgl. ebd. 142 In diesem Sinne kann das Verkleiden als Narr auch als ein ‚mimetisches Spiel‘ im Sinne von Kraß betrachtet werden, bei dem „der Held Rollen spielt, die von einem bestimmten Gewand, das er am Leibe trägt, ‚erwartet‘ werden“ (Kraß 2006, S. 25).
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Tristans Verkleidung als Narr vollzieht sich während der Begegnung mit einem ebenso schlecht gekleideten wie habgierigen Fischer, den Tristan ohne Mühe zum Tausch seiner vornehmen Kleidung gegen dessen Rock aus grober Wolle ohne Rockschöße mit einer bebänderten Kapuze überreden kann.143 Die Folie Tristan kennt noch keine konventionelle Narrentracht; Tristan wird zum Narren, indem er sich mit Unhöfischem bekleidet.144 Verkleidungen in mittelalterlichen Erzähltexten sind nicht nur im Kontext von Intrigenhandlungen ein Gegenstand kultursemiotischer Analysen. Die Betrachtung von Narrenauftritten in der mittelalterlichen Epik kann deshalb auf kulturwissenschaftlich-volkskundliche, kunstgeschichtliche und symbolgeschichtliche Forschungen aufbauen, wie sie von Karl Friedrich Flögel, Werner Mezger, Angelika Gross,145 Joachim Bumke, Gabriele Raudszus, Elke Brüggen und Andreas Kraß vorgelegt worden sind.146 Die Arbeiten von Gross und Mezger ermöglichen es, die im Fiktiven beschriebenen Kleider mit stigmatisierenden Außenseitergewändern und konventionellen Ausstaffierungen von Narren abzugleichen. Hierdurch kann zwischen situativer Verkleidung als unhöfischer Außenseiter wie in der Folie Tristan und anzitierten Sozialpraktiken vestimentären Marginalisierens differenziert werden. Eine Voraussetzung hierzu sind die materialreichen und mit ausführlichen Glossaren versehenen Arbeiten von Raudszus und Brüggen „Zur Zeichensprache der
143 Un peschur vait ki vers lu vient; / Une gunele aveit vestue / De une esclavine ben velue. / La gunele fu senz gerun, / Mais desus out un caperun. – „Er erblickte einen Fischer, der auf ihn zukam. / Der trug einen Kapuzenrock, / aus grober Wolle gewebt. / Der Kapuzenrock hatte keine Röckschöße, / besaß aber oben eine bebänderte Kapuze“ (FT-B/B/S, S. 190–194). 144 Wie bei mittelalterlichen Hofnarren sind auch bei deren literarischen Repräsentanten die Übergänge zwischen Wahnsinnigen, Wildleuten und Narren diverser Spielarten fließend: „In contrast to the madness scene in O where Tristan wears a jester’s motley and carries a jester’s club and cheese, Tristan’s tattered garb in the Folies suggests rather the deranged madman than the professional entertainer“ (Blakeslee 1989, S. 80). 145 Flögel 1789, S. 51–74; Werner Mezger: Symbolik des Hofnarrentums. In: Ders.: 1981, S. 15–52; Ders. 1999, Sp. 1023–1026; Gross 1999, S. 273–291. 146 In diesem Zusammenhang sei verwiesen auf Raudszus 1985. Grundlegend für Zusammenhänge von historischen Kleiderordnungen und fiktiven Gewandschilderungen ist: Joachim Bumke: Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter. München 1994, S. 172–210. Ausgehend von historischen Kleiderordnungen werden dort ferner kostbare Stoffe und Kleiderprunk ebenso thematisiert wie Kleidung im Kontext höfischen Zeremonialhandelns sowie ferner modische Aspekte und genderspezifische Kleidung im Hochmittelalter. Auf der Basis kostümgeschichtlicher, germanistischer sowie kunsthistorischer Forschungen widmet sich Elke Brüggen der Kleidung in hochmittelalterlicher Epik. Vgl. Dies.: Kleidung und Mode in der höfischen Epik des 12. und 13. Jahrhunderts. Heidelberg 1989 (= Euphorion; Beih. 23). Unter Aspekten wie dem Spielen mit Identität in Verstellungs- und Betrugshandlungen widmet sich Andreas Kraß der Semiotik fiktiver Kleidung in mittelalterlicher Literatur (vgl. Ders. 2006).
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Kleidung“ (1985) und zu „Kleidung und Mode in der höfischen Epik des 12. und 13. Jahrhunderts“ (1989). Deren Darstellungen und Dokumentationen ermöglichen es, Symbolwerte und Repräsentationsfunktionen einzelner Kleidungsstücke – von der gugel bis zum Glöckchen – sowohl historisch als auch im Literarischen zu ermitteln. Über unterschiedliche standesspezifische Kleidungsstücke sowie deren Formen und Stoffe hinaus sind für Narrenkleider auch deren Farben in der Bandbreite von farblosem Grau bis zu den Schandfarben Gelb und Rot signifikant. Die Bedeutungsdimensionen von Farben finden sich ebenso in den Arbeiten von Raudszus und Brüggen wie auch in Beiträgen von Monika Schausten.147 In der Studie „Geschriebene Kleider. Höfische Identität als literarisches Spiel“ von Andreas Kraß (2006) wird die Kleidungsthematik in mittelalterlicher Epik zudem kultursemiotisch, symbolgeschichtlich und literaturtheoretisch betrachtet. Leitende Ausgangsüberlegungen sind hierbei Roland Barthes’ Begriff des ‚vestimentären Codes‘ für „geschriebene Kleidung als semiologisches System“148 sowie Cornelius Castoridis’ Vorstellung „von der Gesellschaft als ‚imaginäre[r] Institution“149 , die die Kleidung im Zusammenhang mit einer „symbolischen Einsetzung der ritterlichhöfischen Gesellschaft des Hochmittelalters“150 sieht. Schließlich bezieht Kraß auch Wolfgang Isers „Theorie der literarischen Fiktionalität“151 ein, um zu zeigen, „welche Rolle die Literatur bei der Produktion imaginärer gesellschaftlicher Bedeutungen einnimmt.“152 Für Zusammenhänge von Narrheit und Ästhetik ist die Studie von Kraß nicht nur wegen ihres theoretischen Horizontes einschlägig. Sie bietet auch punktuelle Bezugnahmen auf Tristan.153 Darüber hinaus wird Kleidung auch in rituellen Kontexten höfischer Identität wie der Schwertleite154 und als Instrument der Ausgrenzung sozialer Minoritäten thematisiert.155 Vor allem mit Blick auf die Verkleidungen in den altfranzösischen und mittelhochdeutschen Tristan-Erzählungen sollen die Perspektiven von Kraß hier in zweierlei Hinsicht erweitert werden. Zum einen mag die von Roland Barthes übernommene Unterscheidung, nach der „[d]ie reale Kleidung [...] praktischen Zwecken dienen (Schutz, Scham, Schmuck)“156 muss, 147 Monika Schausten: Vom Fall in die Farbe. Chromophilie in Wolframs von Eschenbach Parzival. In: PBB 130 (2008), S. 459–482. 148 Kraß 2006, S. 9. 149 Ebd. 150 Ebd. 151 Ebd. 152 Ebd. 153 Zu ‚Maskerade als Identität‘ bei Tristrant und Tristan vgl. ebd., S. 243–258. 154 Zu Tristans Schwertleite vgl. ebd., S. 365–373. 155 Zur Ausgrenzung sozialer Minoritäten vgl. ebd., S. 236–238. 156 Roland Barthes: Die Sprache der Mode. Aus dem Französischen von Horst Brühmann. Frankfurt a. M. 1985 (= Edition Suhrkamp 318), S. 18; vgl. Kraß 2006, S. 1.
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während „die geschriebene Kleidung“ demgegenüber „keinerlei praktische oder ästhetische Funktion mehr [erfülle]: sie ist vollkommen im Hinblick auf eine Bedeutung geschaffen“157 , für vestimentäre Codes in Modezeitschriften gelten; für die Verkleidung Tristans als Pilger und Narr ist sie jedoch nicht haltbar: Am Torenhabit in diversen Spielarten zeigt sich das Unhöfische über das Unrepräsentative hinaus gerade auch im Dysfunktionalen, im Ungeeignetsein für ritterlichen Kampf und Repräsentation. Zum anderen aber ist die von Kraß ausgeblendete ritterliche Ausstattungskultur von Rüstungen, Waffen, standesgemäßen Pferden und deren Zaumzeug usw. ebenso signifikant wie semiotisch aufgeladen. Die Zeichenhaftigkeit (bezeichenunge; DWG 10438)158 des gesamten Äußeren (daz man ûzerhalben siht), also nicht nur der Kleidung, gilt auch in der didaktischen Literatur des Hochmittelalters als signifikant (wan ez bezeichent; DWG 10439), heißt es doch im Welschen Gast von Thomasin von Zerklaere: ane wâfen und ane gewant / wirt daz herze dicke erkant (DWG 10441f.). Für den Themenkomplex von ritterlicher Rüstung, Waffen und Ausstattung sowie für Pferde und deren standesgemäßes Zaumzeug kann auf entsprechende Kapitel in Joachim Bumkes „Die höfische Kultur“ (1994) zurückgegriffen werden.159 Die semiotische Grundthese von Kraß ist auch für intrigante Narren und unhöfisch sozialisierte Toren relevant: „Die Austauschbarkeit und Widersprüchlichkeit der gesellschaftlichen Bedeutungen zeigt an, daß sie ihrem Substrat nicht von Natur aus anhaften, sondern imaginäre Besetzungen sind, die sich bestimmten rhetorischen und semiotischen Operationen verdanken.“160 Für intrigante Narren (Tristan) und künstlich herbeigeführte Torheit (Arnold) kommt dem Verkleiden auch die Funktion zu, „einen Natürlichkeitseffekt“ zu erzielen, um „seine Künstlichkeit zu verschleiern“161 . Das Faszinosum literarischen Sich-Verkleidens mag vor allem zwei Gründe haben: zum einen die heikle Inszenierung von Identität als „einer dramatisch verschärften Erfahrung“162 von fiktiven Figuren wie von realem Publikum, und zum anderen die magische Wirkung der Verkleidung, die weniger in ihrem Täuschungseffekt als vielmehr in einer Verkehrung der Machtverhältnisse zu sehen ist.
157 Barthes 1985, S. 18; vgl. Kraß 2006, S. 1. 158 Zitiert wird nach der Ausgabe Thomasin von Zerklaere: Der Welsche Gast. Ausgewählt, eingeleitet, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Eva Willms. Berlin New York 2004 (Sigle DWG). 159 Bumkes „Höfische Kultur“ weist eigene Abschnitte zu „Sachkultur und Gesellschaftsstil“ (Kap IIII: 1. Burgen und Zelte; 2. Kleider und Stoffe; 3. Waffen und Pferde; 4. Essen und Trinken) auf. Vgl. Bumke 1994, S. 137–275. 160 Kraß 2006, S. 8. 161 Ebd., S. 10. 162 Von Matt 2006, S. 63.
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Die überzeugende Verkleidung verschafft wie die Maske durch die falsche Identität neue Handlungsspielräume.163 Was Wolfgang Iser zur Funktion der Maske herausstellt, lässt eine Brücke schlagen zwischen von Matts Intrigentheorie, der Kleidungssemiotik von Kraß und Zusammenhängen von falscher Narrheit und Literaturtheorie: [S]ie fächert durch ihre Bildungsprägungen die Person zu einer Vielfalt von Facetten aus und läßt sie dadurch in ihre Möglichkeiten expandieren. Diese Funktion wiederum treibt nun auch eine Doppelsinnigkeit der Maske hervor und läßt gewärtigen, daß durch sie, genauso wie durch die von ihr ausgefächerte Person, eine Differenz hindurchrinnt. Sie ist Täuschung, sofern sie die Person verbirgt; sie ist Entschleierung, sofern sie durch die Bilder des Verbergens die Person als Mannigfaltigkeit ihrer Aspekte enthüllt. Sie ermöglicht den ek-statischen Zustand der Person: gleichzeitig bei sich und außer sich zu sein. Das macht sie dann auch zum Paradigma der Fiktionalität, die sich hier wie anderwärts als Täuschung entblößt, doch nur um zu bekunden, daß durch sie alles Täuschen gleichzeitig ein Entdecken ist.164
Dass in Isers Sinn auch die Falschheit von Narren in hohem Maße paradigmatisch für Fiktionalität ist, zeigt sich vor allem dann, wenn der Narr als Erzähler auftritt oder, wie bei Wolfram von Eschenbach, der Erzähler selbst Züge eines Narren trägt. Bei Kraß findet sich auch der Hinweis, dass „die Tristanromane Eilhards von Oberg und Gottfrieds von Straßburg […] das Motiv der Maskerade nicht nur auf die Identität der Liebenden, sondern auch auf das poetologische Problem der Fiktionalität des Textes“165 beziehen. Körperzeichen und Außenseiterattribute
Den Narren als Intriganten und Außenseiter kennzeichnen bei Eilhart von Oberg, Ulrich von Türheim, Heinrich von Freiberg und Konrad von Würzburg auch Versatzstücke konventioneller Narrendarstellung wie etwa einzelne Attribute oder
163 Für von Matt ist mit Blick auf die Verkleidung „die Tatsache des unbedingt freien Ichs“ entscheidend: „Hier liegt der magische Effekt. Nicht die andere Person, die man dabei spielt und für die andern darstellt, ist der entscheidende Punkt, sondern die Freiheit hinter dieser andern Person, der Wiedergewinn eines mythischen Zustands: nicht nackt zu sein und nicht gekleidet“ (Ders. 2006, S. 86). Nicht nur simulierte Narrheit, sondern erst recht eine Form von Minnewahn, die von Unvernunft kaum unterscheidbar ist, relativiert jedoch den Freiheitsaspekt des Verkleidens elementar. 164 Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie. Frankfurt a. M. 1993 (= stw 1101), S. 140; zu dieser Stelle vgl. Kraß 2006, S. 21. 165 Ebd., S. 31.
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Kennzeichen von stigmatisierender Marginalisierung. Der Tristan der Folie Tristan simuliert seinen vermeintlichen Narrenstatus mit signifikanter Haarschur, verstellter Stimme, gefärbtem Gesicht sowie einer mitgeführten Keule: Od les forces haut se tundi: Ben senlle fol u esturdi; Enapres se tundi en croiz. Tristran sout ben muer sa voiz; Od une herbete teinst sun vis, Ke il aporta de sun païs, Il oinst sun vis de la licur, Puis ennerci, si muad culur. N’aveit hume ki al munde fust Ki pur Tristran le cunust, Ne ki pur Tristran le enterçast, Tant nel veïst u escutast. Il ad de une haie un pel pris E en sun col le ad il mis;
Mit dieser Schere schnitt er sich die Haare kurz, / (210) so daß er danach wie ein Narr oder Tölpel aussah. / Dabei schnitt er sich eine kreuzförmige Tonsur. / Tristan verstand es auch, seine Stimme zu verstellen. / Mit Hilfe eines Krautes, das er aus seinem Land mitgebracht hatte, / färbte er sein Antlitz. / (215) Nachdem er sein Antlitz mit dieser Tinktur eingerieben hatte, / veränderte er seine Farben […]. / Niemand auf der ganzen Welt hätte in ihm nun / Tristan erkennen, / niemand ihn als Tristan identifizieren können, / (220) und mochte er ihn auch noch so aufmerksam mustern. / Von einer Hecke brach er einen Knüttel, / den er sich an den Hals hängte.
(FT-B/B/S 209–222)166
Optisch wie akustisch nimmt sich der höfische Tristan nun als der ganz Andere aus. Er ist in seiner Unkenntlichkeit hässlich und in seiner Hässlichkeit allem Höfischen entgegengesetzt. So verborgen, ist er nun ganz sowohl Instrument als
166 Kittler übersetzt: „mit den scheren schor er sich• / sah wie ein narr und leichtfuss aus / und schnitt sich noch ein kreuz ins haar. / die stimme übt‘ er auch verstellen• / er färbte sein gesicht mit kräutern / aus seiner heimat mitgebracht• / und wechselte geschwärzt die farbe• / nun gab es niemand auf der welt / der ihn noch für Tristan hielt / und als Tristan wiedererkannte / soviel er ihn auch sah und hörte. / eine keule von der hecke / schultert er auf seinen nacken“ (FT-K 203–216).
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auch Beobachter seiner Intrige. Die besondere Eignung des ‚Wahnsinnigen‘ als Intriganten gründet aber in der Ambivalenz des Wahnes selbst: Madness was considered, especially in the Celtic tradition that so profoundly marks the Tristan poems, to be related both to the gift of divine poetic inspiration and to that of clairvoyance, either in the form of the ability to prophesy the future and to reveal hidden truth or, more prosaically, in the ability to voice unpopular truth before a monarch.167
In der vergleichenden Analyse der Erzähltexte wird sich erweisen, welche Ausstattungsdetails des Narren dem Situativen des Erzählens entstammen und welche auf eine konventionelle Außenseiterstigmatisierung referieren. Allenthalben wird sich jedoch zeigen lassen, dass Körperzeichen und Attribute ebenso arbiträr wie konventionell sind. Forschungen etwa zur Haarschur des Narren von Gerhard Meißburger (1954) und Dirk Matejovski (1996)168 sowie zur Narrenkeule von Friedrich Nick (1861), William C. McDonald (1988) und abermals von Matejovski169 haben bereits auf diese semiotische Ambivalenz hingewiesen. So korreliert die Haarschur als Narrenstigma ebenso mit der Klerikertonsur wie die Keule des Narren sowohl Verteidigungswaffe des Ausgegrenzten als auch Instrument seiner Unterhaltungsspäße werden kann. Es gehört zu Reflexionsniveau und Komik der mittelalterlichen Texte, nicht nur ihre Narrenfiguren mit der Arbitrarität des Semiotischen auszustatten, sondern austauschbare Bedeutungen von Kleidern und Attributen, Formen und Farben dadurch vorzuführen, dass ihre Verhandelbarkeit zu einem genuinen Gegenstand des Handlungsgeschehens selbst gemacht wird. Habitus, Gebaren, Mimik und Erzählen
Für den intrigenreichen Tristan-Stoff ist es wichtig, dass die angenommene (Narren-)Identität andere überzeugt: „Denn mit der Wahl der falschen Kleider“, so Peter von Matt, „ist es noch lange nicht getan. Man muß in diesen Kleidern auch entsprechend leben können, reden können, sich benehmen können.“170 Und das gilt
167 Blakeslee 1989, S. 86. 168 Gerhard Meißburger: Tristan und Isold mit den weissen Händen. Die Auffassung der Minne, der Liebe und der Ehe bei Gottfried von Straßburg und Ulrich von Türheim. Basel 1954, S. 105; Dirk Matejovski: Das Motiv des Wahnsinns in der mittelalterlichen Dichtung. Frankfurt a. M. 1996 (= stw 1213), S. 205. 169 Nick 1861, S. 65ff.; William C. McDonald: The Fool-Stick: Concerning Tristans Club in the German Eilhart Tradition. In: Euphorion 82 (1988), S. 127–149. 170 Von Matt 2006, S. 46.
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ebenfalls für simulierende Narren: „Wer die soziale Rolle wechselt, muß die Codes beherrschen, die in der andern gesellschaftlichen Schicht den Umgang regeln.“171 Erzählungen von närrischer Verkleidung und Verstellung thematisieren auch die Codierungen von unhöfischem Habitus und Gebaren.172 Deren Bedeutung changiert zwischen der Vorstellung eines situationsbedingten Verhaltensmusters und der eines personenbezogenen, eher charakterologischen Schemas, das als erworbenes Muster eine Art ‚zweite Haut‘ Wahrnehmungs- und Handlungsweisen seines Trägers bestimmt.173
Bei antiken Rhetorikern wie Cicero und Quintilian ist der Habitus konzeptuell „innerhalb der actio-Lehre [verortet], wobei der Begriff in bezeichnender Mehrdeutigkeit sowohl Körperhaltung und Gebärdensprache des Redners als auch dessen geistige Haltung intendiert.“174 Im Zusammenhang mit intriganten Narren (Tristan), willkürlich herbeigeführter Torheit und künstlicher Narrheit (Halbe Birne) ist daran zu erinnern, dass der Habitus „auch strategisch (unter Einsatz von Simulation) zu verwenden“175 ist. Der soziologische Begriff ‚Habitus‘, den Pierre Bourdieu zur Beschreibung der französischen Oberschicht seiner Gegenwart entwickelt hat176 , ist von Kraß im Rahmen seiner kleidersemiotischen Analysen auch für mittelalterliche Erzähltexte fruchtbar gemacht worden: „Kleidung bildet nur ein Element des höfischen Habitus […].“177 Was Kraß wie „die Art des Essens, das Profil der Bildung, die Gestalt des Körpers, die Weise der Bewegung, das Bekenntnis des Glaubens etc.“178 zu den Beschreibungsaspekten des Habitus hinzuzählt, kann ebenso für das Unhöfische des Narren gelten. Die genannten Aspekte bezeichnen zugleich auch die Bereiche inszenierter Narrheit im Fiktiven als Normund Tabubruch an der Hoftafel, als bäurische Ungebildetheit, körperliche Ver- und Entstellung, Eigentümlichkeit des Blicks und des Gangs usw. Für die Analysen der Narrenszenen im Tristan-Stoff sowie im Schwankerzählen ist die jeweilige
171 Ebd. 172 Zum Begriff ‚Habitus‘ vgl. Jürgen Schlaeger: [Art.] ‚Habitus‘. In: Metzler Lexikon Literaturund Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Hrsg. von Ansgar Nünning. Stuttgart/ Weimar 1998, S. 200; Claus Michael Ort: [Art.] ‚Kulturtheorie‘. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft Bd. II. Berlin/New York 2007, S. 355. 173 Schlaeger 1998, S. 200. 174 Ebd. 175 Ebd. 176 Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt a. M. 1996. 177 Vgl. Kraß 2006, S. 22. 178 Ebd., S. 22f.
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Gestaltung des närrischen Habituellen auch für die Poetik des jeweiligen Textes charakteristisch. Dem ‚Gebaren‘ als nichtsprachliche Äußerung in mittelalterlicher Literatur hat Martin J. Schubert (1991) eine ganze Monographie gewidmet („Zur Theorie des Gebarens im Mittelalter“), die Rolandslied, Eneasroman und Tristan behandelt.179 Schuberts Studie ist für intrigante Narrendarstellungen vor allem deshalb bedeutsam, weil sie in einem ersten Teil in etymologischen Kapiteln das Analyseinstrumentarium zu den Begriffen ‚Geste‘, ‚Gebärde‘ und ‚Gebaren‘ entwickelt:180 „Das ahd. gibâron oder gibârida (auch bârida) ist der umfassende Ausdruck für Benehmen, Aussehen, Wesensart, Betragen. Wir finden es bei Notker als Übersetzung von lat. gestus, motus und bei Otfried adjektivisch im Sinne von ‚sich verhaltend, geartet‘.“181 Für die analysierten Narrenauftritte in den diversen Tristan-Erzählungen und Konrads Halber Birne ist besonders folgende Begriffsdefinition bedeutsam: „Ich verstehe […] unter Gebaren die Summe aller einzelnen Ausdrucksbewegungen und Ausdruckshaltungen eines Menschen sowie jede Form von Kommunikation, die nicht sprachlich vollzogen wird.“182 Von solchen sowohl ‚willkürlichen‘ als auch ‚unwillkürlichen‘ Äußerungen unterscheidet Schubert jenen „Bereich der Gebärde, der vom Gesicht vollzogen wird, […] die Mimik.“183 Die vorausgehend definierten Narrheitsaspekte des Habitus, des Gebarens und der Mimik werden in den Analysekapiteln auch mit Blick darauf betrachtet, ob sie auf außerliterarische Narrengestik und -mimik (wie Zannen und Blecken) oder apotropäisch auf codierte Gebärden (entblößter Geschlechtsteile usw.) referieren. Hierbei kann u. a. auf Studien von Katrin Kröll zur Gebärdenbedeutung „in mittelalterlicher Bildkunst, Literatur und darstellendem Spiel“184 aufgebaut werden. In der Folie Tristan ist der intrigante Narr vor allem Erzähler. Sein Auftreten provoziert zweierlei Reaktionsweisen: das Ausbrechen von Gewalt einerseits und kollektives Lachen andererseits. Tristan begegnen als Narr zunächst Nebenfiguren von Markes Hof. Die Durchführung seiner Intrige hat damit mehrere Phasen. Auf
179 Martin J. Schubert: Zur Theorie des Gebarens im Mittelalter. Analyse von nichtsprachlicher Äußerung in mittelhochdeutscher Epik. Rolandslied, Eneaslied, Tristan. Köln/Wien 1991 (= Kölner Germanistische Studien 31). 180 Vgl. ebd., S. 1–7. 181 Ebd., S. 2. 182 Ebd., S. 6. Schubert bezieht in seine Begriffsdefinition von ‚Gebaren‘ auch „Kleidung, Haartracht und Objektadaption mit ein“ (ebd., S. 6f.). 183 Ebd., S. 7. 184 Katrin Kröll: Der schalkhaft beredsame Leib als Medium verborgener Wahrheit. Zur Bedeutung von ‚Entblößungsgebärden‘ in mittelalterlicher Bildkunst, Literatur und darstellendem Spiel. In: Mein ganzer Körper ist Gesicht. Groteske Darstellungen in der europäischen Kunst und Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Katrin Kröll und Hugo Steger. Freiburg im Breisgau 1994 (= Rombach Wissenschaft: Reihe Litterae 26), S. 239–294.
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die Begegnungen mit Markes Pförtner und Höflingen folgen sich steigernde Dialogsequenzen Tristans mit Marke, Isolde und Brangäne. Eine erste Kollektivreaktion auf den falschen Narren beschreibt der Erzähler so: Chaskun ad pottr ki le veit. – „Angst packt alle, die ihn sehen“ (FT-K 218).185 Anders als die mittelhochdeutschen Texte setzt die Folie Tristan die Narrheit des Protagonisten nicht durch anomale Gebärden oder auffälliges Sprechen in Szene. In der Folie Tristan ist die inszenierte Narrheit selbst Erzählakt. Diese Darstellungsvariante des Anomalen zeigt sich bereits bei Tristans Begegnung mit dem Pförtner Markes, die für das Gelingen der Intrige Testcharakter hat. Als Narr vermag er zu überzeugen, weil er hier erstmals mit so unglaubhaftem wie tabuisiertem Erzählgut aufwartet. Er komme just von einer Hochzeit, und zwar derjenigen des Abts vom Michelsberg, der pikanterweise, in Anwesenheit des gesamten Klerus der Umgebung, eine Äbtissin geehelicht habe (FT-B/B/S 229–242; FT-K 223–236). Mit seiner Satire auf den unkeuschen Klerus bringt der falsche Narr nicht nur die Standessemiotik, mithin die Gewissheit über Zeichenbedeutungen, ins Oszillieren: Narren wie Kleriker – „alle tragen kreuz und keule“ (Kittler 232)186 . Vielmehr wird hier bereits dadurch in intriganter Weise Simulation mit Dissimulation verwoben, dass das Erzählgut des Narren tabuisierte Liebe und Narrheit miteinander verbindet, um die erzählende Figur glaubwürdig erscheinen zu lassen. Dass der falsche Narr mit seiner anrüchigen Klerussatire den Pförtner von seiner Narrheit überzeugt, öffnet ihm im wörtlichen Sinn das Tor zu Markes Hof, wo ihn zugleich eine neuerliche Bewährungsszene seiner Intrigenkompetenz erwartet. Auf Knechte und Edelknappen bezogen, bewirkt der Auftritt des Narren unmittelbar deren Vertierung, da sie ihn mit Wolfsgehäuel und Reisigschlägen begrüßen (FT-B/B/S 247–258; FT-K 241–253). Damit hat sich Tristan nicht nur abermals als Intrigant bewährt, sondern es hat sich auch ein bedrohlicher Effekt von Narrheitseinbrüchen bei Hofe eingestellt. Das Auftreten des Narren manipuliert unmittelbar niedere Hofchargen, deren scheiternde Affektkontrolle sich in tierhafter Gewaltbereitschaft äußert. Dass der Torwächter den bedrohlichen Keulenträger für einen Sohn des Riesen ‚Urgans mit der Eisenstange‘ hält, ist in zweifacher Hinsicht bemerkenswert. Zum einen wird hiermit auf die Ähnlichkeit un- oder außerhöfischer Aggressoren angespielt, denn wie die Keule den Narren, kennzeichnet die Stange ihren Träger etwa im König Rother oder in Gottfrieds Tristan als nichthöfische Figur.187 Der Riese
185 In FT-B/B/S 224 findet sich abweichend diese Lesart: Chaskun ad poür ki il vait. 186 In der Übersetzung FT-B/B/S S. 238 ist die Vergleichbarkeit von Klerikern und Narren durch ähnliche Attribute nicht so deutlich wie bei Kittler: „und sie alle trugen einen Stab oder einen Krummstab.“ 187 Vgl. Rüdiger Krohn: Gottfried von Straßburg: Tristan. Bd. 3: Kommentar, Nachwort und Register. Stuttgart 7 2005 (= RUB 4473), S. 225.
Ein Fallbeispiel für erzählte Narrheit und närrische Erzähler
Urgan gehört bekanntlich in den Tristan-Stoff, ist er doch einer der gefährlichsten Gegner Tristans und wird von diesem nach blutigen Kämpfen für den Preis besiegt, das Zauberhündchen Petitcrü zu erhalten, dessen Glöckchen von allen Leidensschmerzen zu befreien vermag.188 Die Feststellung des Pförtners, der hässliche Narr sei geradezu ein ‚Ebenbild‘ des behaarten Riesen, zeigt zum anderen aber auch, dass die Folie Tristan die Stoffkenntnis des Publikums voraussetzt.189 Die Natürlichkeit des falschen Narren wirkt dann besonders suggestiv, wenn sie Lachen provoziert. Arbeiten von Jacques Le Goff oder Jacques Heers haben die kulturhistorische Signifikanz individuellen wie kollektiven Lachens herausgestellt.190 Der deutsche Germanistenverband hat dem Verlachen im Mittelalter 2010 einen eigenen Band seiner Mitteilungen mit Beiträgen von Rüdiger Schnell, Sebastian Coxon, Hans Rudolf Velten u. a. gewidmet.191 Ergänzend hierzu kann auch der Sammelband „Behaving like Fools. Voice, Gesture, and Laughter in Texts, Manuscripts and Early Books“ 192 (2010) von Lucy Perry und Alexander Schwarz herangezogen werden. Als Narr provoziert Tristan den ersten Lachanlass für den König, wenn er Marke einen regelrechten Frauentausch vorschlägt: die schöne Schwester des Narren gegen die Gattin des Königs (FT-B/B/S 282–284; FT-K 276–279).193 Auf die Narrheitssimulation durch mythisches Erzählen folgt deren Verknüpfung mit dissimulierter Tristanminne durch das Aussprechen tabuisierter Wahrheit. In der Narrenlarve bekennt Tristan vor dem Herrscherpaar und der Hoföffentlichkeit seine Liebe zu Isolde. Der hiermit verbundene zweite Lachanlass Markes gründet auch in der Behauptung des Narren, der König selbst langweile sich mit seiner, mithin mit immer derselben Frau (FT-B/B/S 290–292; FT-K 285f.). Komisch wirkt hier nicht nur die dem Herrscher zur Vertreibung der Langeweile empfohlene Promiskuität, die der (Hof-)Narr von ‚Amtswegen‘ selbst bewirken sollte. Vielmehr scheint in dieser neuerlichen Ungeheuerlichkeit närrischer Rede abermals eine bedenkliche Wahrheit auf. Auch die Folie Tristan spielt darauf an, dass das sexuelle
188 Vgl. Tr-G 15915–16174. 189 Bereits Berthelot, Buschinger und Spiewok gehen davon aus, dass „[b]eide Fassungen des Episodengedichtes […] beim Publikum die Kenntnis der vollständigen Geschichte“ voraussetzen (Berthelot/Buschinger/Spiewok 1996, S. IX). 190 Le Goff 2004; Heers 1986. 191 Stefan Seeber/Sebastian Coxon (Hgg.): Spott und Verlachen im späten Mittelalter zwischen Spiel und Gewalt. Göttingen 2010 (= Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 57.1). 192 Behaving like Fools. Voice, Gesture, and Laughter in Texts, Manuscripts and Early Books. Ed. by Lucy Perry and Alexander Schwarz. Turnhout 2010 (= International medieval research 17). Mit Lachen in mittelalterlicher Literatur befassen sich vor allem folgende Beiträge: Peter Glasner: After the Laughter: Discipline Through Narration. The Fool’s Didactics in Wolfgang Büttner’s Jocular Prose Tales (Schwänke) Featuring Claus Narr (1572). A.a.O., S. 129–151; Stefan Bießenecker: A Small History of Laughter, or When Laughter Has to Be Reasonable. A.a.O., S. 193–221. 193 Zum offerierten Frauentausch vgl. Blakeslee 1989, S. 82.
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Begehren des Königs (möglicherweise) nicht mit personaler Liebe korreliert. Für die Ästhetik der Intrige ist in deren Fortgang nun charakteristisch, dass Simulation und Dissimulation durch immer unverhüllter vorgebrachte Wahrheit(en) fortwährend gesteigert werden. Da Tristan als Narr den König unterhält, verlangt dieser gleich nach weiteren närrischen Einlagen. Der königliche Gatte schlägt dem Lachen provozierenden Narren das Gedankenspiel vor, auf den angebotenen Frauentausch einzugehen (FTB/B/S 295–300; FT-K 289–294). Das Erzählen des Narren findet ein neues Register, so dass die Narrheit nun durch poetische Kompetenz scheinbar bestätigt wird. Befragt, wohin der Narr die Königin brächte, wenn er über sie verfügen könnte, entwirft Tristan das Phantasma eines himmlischen, von Sonnenlicht durchfluteten Glassaales mit einer Kammer aus Kristall und Täfeleien (FT-B/B/S 301–310; FT-K 295–304). Dieser mythische Ort trägt offenkundig Züge der Minnegrotte, die das lachende Hofpublikum jedoch ebenso wenig erkennt wie die schließlich diesem Idealort eingeschriebene Handlungsrealität. Was Hof und Herrscher neuerlich als bloße Narrenrede erscheint, ist, vom Ende der Folie Tristan her betrachtet, eine sich selbst erfüllende Prophetie: Li solail, quant main levrat, / Leenz mult grant clarté rendrat. (FT-K 303f. „die sonne wenn sie morgen aufgeht / wird uns grosse helle bringen.“ Übersetzung von Kittler.) Entsprechend der Verschmelzung von Simulation und Dissimulation finden sich in dieser Vorausdeutung auch Liebes- und Intrigenverlauf verknüpft. So, wie im Andeutungshaften mitschwingt, dass eine Liebesnacht von Tristan und Isolde stattfinden wird, kündigt das im selben Bild imaginierte Morgenrot mit seiner Tageshelle auch Katastrophisches an: das Entdecktwerden der Intrige einerseits und der Liebenden andererseits. Die poetische Kompetenz des Narren ist es auch, die im fortwährenden Hofgelächter erstmals eine Anagnorisis herbeizuführen droht. Denn der gesamte Hofstaat hält die Reden des Narren jetzt nicht mehr allein für irre, sondern auch für angemessen und schön (FT-B/B/S 313–315; FT-K 305–308). Innerhalb der Ästhetik der Intrige droht folglich Ästhetisches nun seinerseits zur Desavouierung des Intriganten beizutragen. Bei der Durchführung seiner Intrige kommen dem Narren Tristan andere – unbewusst und freiwillig – zu Hilfe. Wird von Matts Unterscheidung von „freiwilligen und […] unfreiwilligen Helfer[n]“194 zugrundegelegt, so erweisen sich nicht nur Letztere immer auch als „Intrigenopfer“195 , sondern diese zumeist auch als unfreiwillige Intrigenhelfer. Da für Verstellungs- und Verkleidungsintrigen elementar ist, dass die wahre Identität ihres Protagonisten verborgen bleibt, werden unversehens alle zu Intrigenhelfern, die Tristan nicht erkennen und so die Illusion
194 Von Matt 2006, S. 118. 195 Ebd.
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seiner natürlichen Narrheit bekräftigen. Das gilt unterschiedslos für Neben- und Hauptfiguren, also für Pförtner, Knechte und Edelknappen ebenso wie für König Marke, seine Gattin Isolde und deren Zofe Brangäne, solange sie den Narren nicht durchschauen und diesen ‚artgemäß‘ traktieren. Als pointenhaft darf zudem gelten, dass diese gegenintrigante Lektüre ebenso berechtigt wie irreführend ist, denn die Folie Tristan ‚endet‘, ohne uns ein Ende von Intrige und Tristanminne zu erzählen. Abermals gehört auch der Rezipient als Beobachter der Intrigenhandlung und Sympathisant der betrügenden Liebenden zu den ästhetisch Betrogenen. Die rezeptionsästhetische Dimension von betrügerischer Poetik in mittelalterlichem Erzählen wird mit Blick auf das schwankhafte Märe Vom ritter mit der halben birn noch von besonderem Interesse sein. Zudem wird sich die Poetik der Texte dadurch unterscheiden lassen, wie sie die Suggestion natürlicher Narrheit inszenieren. Hierbei werden die Motivkomplexe von Habitus und Gebaren, von verbalen und nonverbalen Äußerungen des Narren so facettenreich gestaltet, dass auch die Gattungsgrenzen von epischem und schwankhaftem Erzählen verschwimmen. 1.3.3 Figuren und Perspektiven Die Glaubwürdigkeit des Narren oder Toren hängt im Tristan-Stoff ebenso wie in (Pseudo-)Konrads Halber Birne vom gelingenden Zusammenspiel von Simulation und Dissimulation in der Wahrnehmung der Betrogenen ab. Die intriganten Narren simulieren Irrsinn, um Minne zu dissimulieren. In von Matts Intrigentheorie heißt dies: „Die Simulation spiegelt etwas vor, was nicht der Fall ist.“196 Die Narrheit Tristans ist hier bereits komplexer, ist es doch die Liebe, die ihn tatsächlich irre werden lässt, und zu diesem Wahnsinn passt die Narrenrolle nur zu gut. Da der Protagonist als Erzähler auftritt, tritt in der Folie Tristan folglich an die Stelle von Simulation als Vortäuschung und Dissimulation als Verheimlichung197 deren Verschmelzung zur Wahrheitsinszenierung. Fremdbestimmheit durch Minnewahn, intrigante Verstellung als ganz Anderer und Inszenierung des Handlungsgeschehens als rückblickender Erzählakt närrischen Wahrsagens machen die Frage, was eigentlich der Fall ist, auch zu einer Frage der Perspektive bzw. der Wahrnehmung einzelner Figuren. In Anlehnung an Gert Hübner, der seine narratologischen Überlegungen u. a. auch dem Tristrant von Eilhart von Oberg widmet und Wolframs von Eschen-
196 Ebd., S. 20. 197 Denn „[d]ie Dissimulation […] spielt nichts vor, sondern verbirgt und verheimlicht die wahre Beschaffenheit“ (ebd.).
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bach perpektivischem Erzählen diverse Fokalisierungstechniken zubilligt198 , lassen sich folgende Kategorien des Erzählens unterscheiden: a) Der Erzähler steht außerhalb seiner Geschichte. Diese „‚Erzählerperspektive‘ kann deshalb nur den – normativen – Standpunkt des Erzählers meinen, der in seinen Bewertungen von Figuren und Handlungen zum Ausdruck kommt.“199 Der Erzähler kann aber auch b) selbst „Element der erzählten Welt“ sein und damit in einer vergleichbaren „Relation zu ihr [wie] eine Figur“200 stehen. Schließlich wäre c) die „‚Erzählperspektive‘ im Sinn von erzählter Figurenperspektive“201 zu nennen. Dieses „perspektivierte Erzählen hat […] die Funktion, den – problematischen – Standpunkt einer Figur zu begründen. Der Erzähler tritt hier auch als Bewertungsinstanz hinter die Figur zurück.“202 Bezugnehmend auf Gérard Genette nennt Hübner diese Kategorie „fokalisiertes Erzählen im Sinn des Erzählens aus Figurenperspektive“203 , die Franz Stanzel als ‚personales Erzählen‘ gefasst hat.204 Für die analysierten Erzähltexte kann geltend gemacht werden, dass sich die angeführten Kategorien des Erzählens nicht gegenseitig ausschließen.205 Als literaturwissenschaftliche Kategorie (im Parzival) ist ‚Wahrnehmung‘ nach Joachim Bumke (2001)206 auch von Ingrid Kasten und von Elisabeth Schmid (2004) erörtert worden.207 Kasten stellt hierbei heraus, dass das Wahrnehmen von Figuren immer durch zweierlei determiniert sei: durch fokussierungsbedingtes Ausblenden einerseits und Beeinflussung der subjektiven Wahrnehmung durch ‚kulturelle Gewohnheiten‘ andererseits.208 Bei Hübner werden derartige Determinanten per-
198 Gert Hübner: Fokalisierung im höfischen Roman. In: Wolfram-Studien XVIII (2004), S. 127–149, hier S. 128f. und S. 146. 199 Ebd., S. 129. 200 Ebd. 201 Ebd. 202 Ebd. 203 Ebd. 204 Nach Hübner bezieht sich ‚personales Erzählen‘ als narratologischer Effekt auf Literatur und Reflexion aus dem späten 19. Jahrhundert. Vor diesem Hintergrund sind Hübners Überlegungen kontrastiv-komplementär auf mittelalterliche Erzähltexte gerichtet (vgl. ebd., S. 131f.). 205 „Es ist nämlich durchaus vorstellbar, daß die narrative Repräsentation des Geschehens der Perspektive einer Figur folgt und daß zugleich anhand von Erzählerkommentaren eine das Geschehen bewertende Erzählerstimme und damit ein Erzählerstandpunkt profiliert wird“ (ebd., S. 133). 206 Joachim Bumke: Die Blutstropfen im Schnee. Über Wahrnehmung und Erkenntnis im Parzival Wolframs von Eschenbach. Tübingen 2001 (= Hermaea; N. F. 94). 207 Vgl. Ingrid Kasten: Wahrnehmung als Kategorie der Kultur- und Literaturwissenschaft. In: Wahrnehmung im Parzival Wolframs von Eschenbach. Actas do Colóquio Internacional Porto 15 e 16 de Novembro de 2002. Ed. by John Greenfield. Porto 2004, S. 13–36; Elisabeth Schmid: weindiu ougn hânt süezen munt (272,12). Literarische Konstruktion von Wahrnehmung im Parzival. A.a.O., S. 229–242. 208 Kasten 2004, S. 15.
Ein Fallbeispiel für erzählte Narrheit und närrische Erzähler
sonalen Erzählens als „Fokalisierungstechniken […] in Gestalt von Bewusstseinsdarstellung und von Informationsfiltern“209 aufgefasst. Mit dem individualisierten Wahrnehmen geht abermals eine Labilisierung des vermeintlich Objektiven einher, so dass „im literarischen Medium polyfokales Sehen sowie eine Überlagerung von unterschiedlichen Blickpunkten möglich“210 wird. Nach Otto Neudeck ist „multiperspektivische Wahrnehmung“ als „Neben- und Ineinander der Perspektiven […] die Voraussetzung für eine Wahrnehmung zweiter Stufe: Darin wird diese Wahrnehmung selbst zum Gegenstand der Beobachtung.“211 Zudem kann mit Corinna Laude konstatiert werden, dass auch perspektivischem Erzählen im Mittelalter „Widersprüchlichkeit und Sinnoffenheit“212 in einem geradezu ‚modern‘ anmutenden Sinne eigen sind. Narrheit als Gegenstand mittelalterlichen Erzählens lässt die sogenannte vormoderne Literatur noch in einem weiteren Sinne als ‚modern‘ erscheinen, wenn aus „den Beobachtungen von Beobachtungen“ mit Niklas Luhmann geschlussfolgert wird: „alles wird kontingent, wenn das, was beobachtet wird, davon abhängt, wer beobachtet wird.“213 Hiermit erhält die Ästhetik der Narrheitsdarstellung in mittelalterlicher Erzählkunst auch ein dezidiert narratologisches Interesse, vor allem dann, wenn ‚perspektivisch‘ auch die Untersuchungsaspekte differenziert werden, wer spricht und wer sieht.214 In der Folie Tristan wird die gesamte Liebesgeschichte vor Tristans Rückkehrabenteuer zur „Ich-Erzählung“ eines ‚fabulierenden‘ Narren, die mit dem Effekt einhergeht, „die Erzählinstanz zu subjektivieren“215 . Tristans Notlage und sein Verkleidungsplan werden in einem inneren Monolog als „Repräsentation von Figurenbewußtsein in Figurenrede“216 geboten.
209 Hübner 2004, S. 135. Für derartige ‚Informationsfilter‘ führt Hübner drei Aspekete an: „Die Erzählung muß auf den Raum beschränkt werden, in dem sich die fokale Figur aufhält; sie muß auf das Zeit- und damit auf das Wissensniveau der fokalen Figur beschränkt werden; und sie kann nur die Innenwelt der fokalen Figur, nicht die Innenwelten anderer Figuren zugänglich machen“ (ebd., S. 138). 210 Otto Neudeck: Der verwehrte Blick auf die Oberfläche. Zum Konnex von Wahrnehmung und ritterlicher Rüstung in Wolframs Parzival. In: GRM 57 (2007), S. 275–286, hier S. 285. 211 Ebd. 212 Corinna Laude: Raumkonzepte und Poetik. Perspektiv(ist)isches Erzählen in Wolframs Parzival und Wittenwilers „Ring“. In: Ausmessen – Darstellen – Inszenieren. Raumkonzepte und die Wiedergabe von Räumen in Mittelalter und früher Neuzeit. Hrsg. von Ursula Kundert, Barbara Schmid und Regula Schmid. Zürich 2003, S. 73–88, hier S. 81. 213 Niklas Luhmann: Beobachtungen der Moderne. Opladen 1992, S. 100. 214 Zur Diskussion um die Begriffe ‚Perspektive‘ und ‚Fokalisierung‘ vgl. Laude 2007, S. 74f. 215 Hübner 2004, S. 132. 216 Ebd., S. 135.
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„[…] Ysolt, pur vus tant me doil! Ysolt, pur vus ben murir voil! Ysolt, se ci me savïez, […] Pur vostre amur sui afolez […].”
„[…] Isolde, um Euretwillen leide ich! Isolde, aus Liebe zu Euch nehme ich den Tod auf mich! Isolde, wenn Ihr wüßtet, daß ich hier bin, […] Die Liebe zu Euch bringt mich um den Verstand! […].“
(FT-B/B/S 171–175)217
Die zitierte „Psychonarration“ des minnesiechen Intriganten hat als „erzählte Wahrnehmung“ den „charakteristischen Fokalisierungseffekt“, „die erzählte Welt als Bewußtseinsinhalt der fokalen Figur erscheinen“218 zu lassen. Die Folie Tristan ist auch ein gutes Beispiel für ‚Erzählungen in der Erzählung‘, zumal der Tristan-Stoff in diesem Erzählakt intentional an unterschiedliche Figuren wie an Isolde, das Herrscherpaar und schließlich an die Mitwisserin des Minneschicksals Brangäne adressiert wird. Hierbei stellt faktischer wie simulierter Irrsinn einer Erzählerinstanz das ästhetisch Prekäre des Narrenthemas in besonderer Weise aus. Was als ‚Narrenfreiheit‘ für die Hofgesellschaft einzig unterhaltsamer Unsinn zu sein scheint, ist für den Protagonisten die reinste Wahrheit, die von der Hauptadressatin, der ebenso schicksalhaft liebenden Königin, als eigene Geschichte wiedererkannt wird. Allerdings identifiziert sie den Erzählernarren nicht als ihren Geliebten. Damit wird die ästhetische Kategorie der Perspektive nicht nur auf der Handlungsebene heikel. Vielmehr wirkt ein erzählter ‚Perspektivismus‘ hier bereits derart radikalisiert, dass die Grundannahme der „Möglichkeit einer subjektunabhängigen und allgemeingültigen Wahrheit“219 bedrohlich unterminiert zu sein scheint. Die agierenden Protagonisten ‚erschaffen sich ihre Wirklichkeit‘220
217 Die Interpunktion und die Übersetzung der Passage fällt bei Berthelot/Buschinger/Spiewok und Kittler unterschiedlich aus. In Kittlers Übersetzung heißt es nämlich: „Isold wenn ihr mich nur hier wüsstet• / weiss nicht ob ihr mich sprechen tätet. / vor liebe zu euch werd ich irre“ (FT-K 167–169). Es ist Tristan, der irre wird aus Liebe. Berthelot, Buschinger und Spiewok hingegen übersetzen eher abwegig: „Isolde wenn Ihr wüßtet, daß ich hier bin, / ich könnte nicht sagen, ob Ihr zu mir sprächet: / Die Liebe zu Euch bringt mich um den Verstand.“ Durch den Doppelpunkt nach V. 174 ist es möglicherweise (auch) Isolde, die aus Liebe irre würde. 218 Hübner 2004, S. 136f. 219 Carola Surkamp: [Art.] ,Perspektive‘. In: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Hrsg. von Ansgar Nünning. Stuttgart und Weimar 1998, S. 420f. 220 Zu den Grundannahmen des modernen Perspektivismus zählt die Verneinung der „Möglichkeit einer subjektunabhängigen und allg.gültigen Wahrheit […] zugunsten des wahrnehmenden Subjekts, das seine Wirklichkeit selbst erschafft“ (ebd.).
Ein Fallbeispiel für erzählte Narrheit und närrische Erzähler
zwar nicht selbst, aber in der Ästhetik der Intrige vollzieht sich eine folgenreiche Grenzverwischung von simulierter Narrheit und faktischer Minnetorheit. Dieses Wahrheitsproblem des Erzählens sowie der Perspektivität des Wahrnehmens der Figuren wird vom Ende der Folie Tristan noch forciert werden, denn kommt es nicht zur Anagnorisis der Intrige und dem Verratenwerden der Liebenden, bleibt das perpektivische Wahrheitsproblem bestehen. Im altfranzösischen Episodengedicht bemüht sich der närrische Erzähler dadurch um Isoldes Erkennen, dass er von eigener Todessehnsucht auf dem Meer, seinem Trostsuchen im Harfenspiel, seiner Heilung durch die Königin erzählt und erwähnt, dass er sich damals Tantris nannte. Die Illusionierung falscher Narrheit wirkt aber so fatal perfekt, dass Isolde den Geliebten nicht erkennt, weil sie diesen für einen natürlichen Narren hält (un fol naif ; FT 405)221 . Doch dies hat seinen tieferen Grund nicht nur in simuliertem Irrsinn, sondern vielmehr in gängigen Kalokagathievorstellungen222 : „Nun est […] kar cist est laiz, Hideus e molt conterfait, E Tristan est tant aliniez, Bels hom, ben fait, molt ensenez… Ne serroit truvez en nul pais Nul chevaler de greniur pris. […].“
„Niemals […] Denn dieser Mensch ist häßlich, / abstoßend, mißgestaltet. / Tristan aber ist wohlgestaltet / (580) von schönem Wuchs, vornehm und so intelligent, / daß man im ganzen Land / keinen ansehnlicheren Ritter finden könnte. […].“
(FT-B/B/S 577–582)223
221 „der eingeborne narr“ (FT-K, S. 405). Berthelot, Buschinger und Spiewok zufolge liegt dem Erkennen des Geliebten eine Weigerung Isoldes zugrunde, „in diesem mißgestalteten Wesen den Geliebten wiederzuerkennen“ (Berthelot/Buschinger/Spiewok 1996, S. IX). 222 Literarische Kalokagathievorstellungen und -muster realisieren ihrerseits (theologische) Harmoniegrundsätze, denn schon nach Augustinus (De civitate dei XXII 19. XIII 14 XXII 20) heißt es: „Die körperliche Schönheit beruht bekanntlich auf der Übereinstimmung der Teile, gepaart mit einer gewissen Anmut der Farben. Wo aber die Übereinstimmung der Teile fehlt, liegt es daran, daß etwas verletzt, weil es unregelmäßig gewachsen, entweder verkümmert oder übermäßig ist. Gott aber, der Urheber der Naturen und mitnichten der Gebrechen, hat den Menschen recht erschaffen. Doch der Mensch, durch eigene Schuld verdorben und gerechterweise verdammt, hat Verdorbene und Verdammte gezeugt“ (Augustinus, deutsch zitiert nach Müller 1996, S. 7). 223 „[…] mein Tristan hat so edle züge• / ein schöner mann• gewandt gebildet. / in allen ländern fändet ihr / nicht ritter von noch grösserm preis. / und darum werd ich auch nicht glauben / dass mein geliebter Tristan da sei. / doch diesen narrn soll gott verdammen!“ (FT-K 773–779).
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Der Geliebte kann nicht der Hässliche224 sein, denn auch für Isoldes tabuisierte Minne gilt, dass der Geliebte ein Hofmann ist und damit ritterlich und schön.225 In der Einbettung der Liebesgeschichte in die Intrigenästhetik verstellt nicht nur Ästhetisches (wie Kalokagathiehaftes) abermals das Erkennen, sondern auch die Figurenperspektive auf möglicherweise höhere Wahrheiten oder eigentliche Erzählanlässe. Die Verbindung von Narrheitssimulation und Liebesdissimulation, die der Annäherung von Tristan an Isolde dienen soll, wird nun zum Anlass, dass der falsche Narr den jeweiligen Handlungsträgern entsprechende Passagen der Liebeshandlung erzählt. Auch dieses Erzählungswissen ist prekär. Während es Marke die Narrheit des ‚Erzählers‘ bestätigen soll, wird von Brangäne und Isolde das Wiedererkennen Tristans unter der Narrenlarve intendiert. Für die Ästhetik der Intrige ist die Konsequenz hieraus das immer bedrohlicher werdende Herannahen jener Anagnorisis, die Intrige und Liebe, Liebende und Intriganten desavouierend in die Katastrophe stürzt. Solange Tristan mit verstellter Stimme spricht, hat es die Wahrheit schwer. Kein Sprechakt, kein Wissensdetail, kein Gnorisma überzeugt. Danielle Buschinger hält es für einen Willens-, einen Weigerungsakt Isoldes, Tristan im Narren nicht zu erkennen.226 Es scheint aber ebenso wie das ‚verweigerte Erkennen‘ Isoldes zweifelhaft zu sein, dass der erzählende Tristan-Narr „offenkundig ein prüfendes Spiel mit der Geliebten“ treibe, „indem er zu ermitteln sucht, welcher Anstöße es schließlich bedarf, in der Narrenverkleidung den Geliebten erkennen zu können.“227 Gegen Buschingers These eines ‚Prüfungsspieles‘228 mit der Geliebten sprechen abermals ästhetische Gründe: So soll die Dauer der Narrenillusionierung zum einen vielmehr zeigen, wie perfekt die Intrigantenverkleidung funktioniert, zum anderen geht Isoldes Verkennnen des Narren aus der Simulation des Wahnhaften durch Wahrsagen des tatsächlichen Minnenarren hervor und dient somit der Aufrechterhaltung der Spannung, wie sich die intentionale Entgegensetzung von intriganter Verstellung
224 Während Schönheit anzieht und Sympathie hervorruft, stößt das Hässliche ab: „In allen Kulturen löst Häßlichkeit Argwohn, zumindest ungute Empfindungen aus. […] Geht Häßlichkeit gar mit einem verwahrlosten, schmutzstarrenden Äußeren einher, diffundieren gleichsam die Dimensionen des Bösen: Verbreiteter Vorstellungen nach ziehen derartige Gestalten [wie der verschmutzt unkenntliche Tristan] Unheilsgeister […] an“ (Müller 1996, S. 27f.). 225 Zu „Schönheit im Sinne einer Kalokagathia als sinnliche[r] Ausdrucksform des Guten“ bzw. als Harmonieideal „nach dem Vorbild der antiken Idee der Kalokagathia […] zwischen Seele, Körper und Gewand“ in hochmittelalterlicher Epik vgl. Raudszus 1985, S. 77, 82, 84, 88, 163 und 200. 226 „Isolde will Tristan nicht erkennen, wenngleich er intimste Kenntnisse ihrer beider Vergangenheit offenbart“ (Berthelot/Buschinger/Spiewok 1996, S. X). 227 Ebd. 228 „Andererseits treibt Tristan offenkundig ein prüfendes Spiel mit der Geliebten, indem er zu ermitteln sucht, welcher Anstöße es schließlich bedarf, in der Narrenverkleidung den Geliebten zu erkennen“ (ebd., S. Xf.).
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und minnebezogener Entdeckung schließlich entlädt. Zudem unterstreicht Isoldes Festhalten an dem höfischen Bild ihres Geliebten die abgründige Selbsterniedrigung des Ritters zum Narren, die einer Königin, einer liebenden zumal, unvorstellbar erscheinen muss. Hierzu ist es dann allerdings kein Widerspruch, das erkenntnistheoretische ‚Drama‘ der Folie Tristan als Anschauungsraum zu betrachten, der „beide Figuren [Isolde und Tristan] nach der Innigkeit ihrer Liebesbeziehung befragt.“229 Denn schließlich wird das nicht mehr Steigerungsfähige dieser schicksalhaften Liebe dadurch gezeigt, dass sich einerseits der Geliebte sowohl in höchste Gefahr als auch in die denkbar erniedrigendste Rolle begibt, und andererseits die höfische Geliebte, wenn sie schließlich im Hässlichen den Geliebten erkennt, das Abstoßende zu überwinden vermag und in dem schwarzgefärbten ‚Narren‘ Tristan liebt.230 Es ist aber nicht die Desavouierung des Intriganten und die Aufdeckung seines Betruges, was der Liebe eine abermalige Chance gibt. Wenn intrigenlogisch alles versagt zu haben scheint und jedes Gnorisma seine Wirkung verfehlt hat, um Isoldes Erkennen zu bewirken, kommen wiederhergestellte Kalokagathiekonzepte den Liebenden ‚zu Hilfe‘. Erst durch Isoldes untröstliche Trauer, erst durch die Absolutheit dieses einzig auf Tristan gerichteten Gefühls, geschieht für das Intrigengeschehen wie für die Liebeshandlung Entscheidendes: Die trauernde Isolde erweckt Tristans Mitleid. Erst als dieser die Intensität ihrer Liebe neuerlich erfährt, erscheint sie ihm nicht nur erneut schön; erst jetzt ist der Intrigant auch bereit, sich endgültig dadurch zu erkennen zu geben,231 dass er seine „Intrigenstimme“232 aufgibt. Erst Tristans unverstellte Stimme lässt Isolde im Abstoßenden der erniedriegenden Narrenverkehrung Tristan erkennen. Damit findet ein Motivkomplex seinen Abschluss, der den gesamten Text durchzieht: Das Tabu, die Gattin Markes zu sprechen233 , das Intrigeninstrument der verstellten Stimme, der Intrigant als Erzähler und das ‚Gnorsima‘ der Liebesentdeckung, die wahre Stimme des Geliebten,
229 Ebd., S. XI. 230 Berthelot, Buschinger und Spiewok argumentieren abermals anders: „Tristan begibt sich in Lebensgefahr und nimmt zudem die für einen Hochadligen und Ritter beschämende, ja schändende Verkleidung eines wahnwitzigen Narren auf sich. Isolde bedarf einer Fülle von Beweisen intimster Kenntnis ihrer Liebesgeschichte, ja letzten Endes gar des (im Grunde für sie beschämenden) Erkennens von Tristans Hund und der Aufgabe von Tristans Verstellung der Stimme), um in dem mißgestalteten Narren endlich den Geliebten zuerkennen“ (ebd.). 231 „[…] Des ore ne m’en voil cuverir, / Cunuistre me frai e oïr.“ – „‚[…] Nun soll meine Verstellung ein Ende haben, / Ihr sollt mein wahres Antlitz sehen, meine wahre Stimme hören’” (FT-B/B/S. 973f.). 232 Von Matt 2006, S. 119. 233 Ben set ke il n’i purrat parler / Pur nul engin ke il pot truver. – „Er wußte wohl, daß offen er kein Mittel finden könne, / mit ihr zu sprechen“ (FT-B/B/S 159f.).
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gehören zusammen. Die Liebenden fallen sich erlöst in die Arme und der falsche Fremde wird reingewaschen, so dass nochmals innigeres Umarmen folgen kann.234 Am Ende der Folie Tristan tritt der Erzählernarr mit dem Aufgeben seiner Intrigantgenrolle auch seine Erzählerfunktion ab, da diese – ungeachtet des Wahrheitsgehaltes des Erzählgutes – zum intriganten Narrenauftritt gehört hat. Mitnichten wird aber auch die Minnenarrheit abgelegt. Isolde wird als fassungslos vor Liebesglück geschildert, und Tristan ist nur noch beherrscht von der Wunschvorstellung, bei Isolde zu liegen. Jetzt haben die Liebenden nicht nur sich, sondern mit der Wahrheit über sich auch ihre Liebesverblendung wieder gemeinsam. Auf der Ebene des Hofes und für die Figurenperspektive des betrogenen Ehemanns, König Marke, steht die Anagnorisis der Intrige und eine abermalige Entdeckung der Liebenden jedoch noch aus. Dass die latente Bedrohung des tödlichen Entdecktwerdens eine neuerliche Steigerung erfahren hat, gründet nicht nur in der fortgesetzten Liebeshandlung, sondern auch im selbstmörderischen Beharren des Minnenarren Tristan auf seiner Identität als Geliebter Isoldes: „[…] ab jetzt will ich nie mehr verhüllt sein• / geb mich zu hören und erkennen“ (FT-K 1168f. übersetzt von Kittler). Wird die Folie Tristan nicht als Episodengedicht abgetan, das vor der Folie etwa eines Thomas gelesen werden müsse, ist deren Ende von modern anmutender Offenheit, die Fragen provoziert: Die Narrenlarve ist abgelegt, aber hat Tristan damit auch seine Narrheit überwunden? Blakeslee fasst seine Einschätzung so: Finally, Tristan’s madness must be understood as a metaphor for foolish or ungoverned passion. Passionate love (or lust) was often conceived as a moral disorder […]. The metaphor of lust as a form of moral insanity, for which lunacy is a doubly appropriate punishment, is rendered in the Folies by the grossly suggestive speech and actions that Tristan’s role as madman allows him to perpetrate with impunity.235
Der enttarnte falsche Hofnarr bleibt nicht nur ein natürlicher Minnenarr. Da der Text da endet, wo von wonniglichem Minnewahn erzählt wird, erscheint er – entgegen anderen Deutungen – ebenso als ein Plädoyer für die Macht der Liebe wie für sympathische Intriganten. Tristan fungiert schließlich doch – ungeachtet, ob als ‚natürlicher‘ oder ‚künstlicher‘ – als regelrechter Hofnarr im ‚literarischen‘ Sinne eines solchen Amtes. Seine ‚Folie‘ war der kühne Intrigantenauftritt als närrischer Erzähler des Tristan-Stoffes.
234 Le teint de l’herbe e la licur, / Tut en lavat od la suur. / En sa propre furme revint. / Ysolt entre ses braz le tint: / Tele joi en ad de sun ami / Ke ele ad e tent dejuste li / Ke ele ne set cument contenir – „Er wusch die Farbe ab, die von der Kräutertinktur stammte, / und auch den Schweiß, / so daß er am Ende sein wahres Antlitz zeigte. / Isolde hielt ihn fest in den Armen. / Sie empfand eine solche Freude, / den Geliebten in den Armen zu haben, / daß sie alle Fassung verlor“ (FT-B/B/S 985–991). 235 Blakeslee 1989, S. 78f.
Ein Fallbeispiel für erzählte Narrheit und närrische Erzähler
Hierdurch unterscheidet sich sein Narrenauftritt von jenen bei Eilhart von Oberg, Ulrich von Türheim und Heinrich von Freiberg und erst recht bei (Pseudo-)Konrad von Würzburg: Die Ästhetik seines Erzählens ist frei von performativen Ausflügen in Skatologisches oder in Sphären des Vitalen. Der Minnenarr Tristan blieb trotz seiner Gewaltbereitschaft, mit der Keule zuzuschlagen, ganz höfischer Erzähler. Seine Narrheit kennt keine Sprachverballhornung, keine Verbalinjurien, keine tatsächlichen oder auch nur gestisch-symbolischen Verstöße gegen Vorstellungen höfischer Umgangsformen. Andere Texte inszenieren simulierte Unvernunft und dissimulierte Minnenarrheit (Eilhart, Ulrich, Heinrich) sowie lust- und rachebedingte Selbstentblößung über Darstellungen von sexualisierter Gewalt oder drastischen Verstößen gegen Normvorstellungen bei Hofe, zu Tisch und in der Kemenate (Konrad). Narren und Toren in Intrigengeschehen und Listhandeln zu betrachten, thematisiert das Grenzproblem von Norm und Differenz des ganz Anderen auch in diesem Sinne ‚ästhetisch‘ bzw. narratologisch: Weil Fokalisierungstechniken regelmäßig in Episoden begegnen, die ausdrücklich Bewertungsprobleme exponieren, läßt sich schwer übersehen, daß die höfischen Dichter sie eingesetzt haben, um Standpunkte (und damit Normhorizonte) gegeneinander auszudifferenzieren und dabei ihre Hierarchisierung zu unterlaufen oder einen Standpunkt gegenüber einem konkurrierenden zu privilegieren.236
Für die Bewertung anomalen Verhaltens in mittelalterlichen Erzählwelten ist dieser Fokalisierungseffekt zentral, da „[d]ie objektive Gültigkeit der Kriterien für ‚richtig‘ und ‚falsch‘ […] dabei unterlaufen“237 wird. Für die analysierten Texte des TristanStoffes sowie für das schwankhafte Märe Die Halbe Birne kann deren Subversivität somit narratologisch als ‚Modernität‘ gefasst werden, da ihr „fokalisierte[s] Erzählen verhindert, daß objektive Kriterien zufriedenstellend greifen.“238 Nach dem Bisherigen ist für die Analyse intriganter Narrenwerke die Ästhetik von Narrheit und Intrige immer sowohl narratologisch als auch kultursemiotisch relevant. Aus deren wechselseitiger Bezogenheit resultiert schließlich auch ein für den jeweiligen Erzähltext eigener Begriff von ‚Intrige’, wobei bereits die Verknüpfung von Narrheit und Minne eine schlichte Übertragung der Intrigendefinitionen etwa nach Gruenter239 ausschließt: Zwar werden sich im Folgenden sämtliche Narrenintrigen als in
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Hübner 2004, S. 241. Ebd., S. 142. Ebd. In Gruenters Analyse von Tristanminne und –figur findet sich diese Intrigendefinition: „Intrige ist also ein auf Schätzung und Berechnung beruhender Plan, ins Zentrum der Macht entweder
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der tabuisierten Liebesnot ebenso begründet wie planvoll und heimlich durchgeführt erweisen, allerdings eben um der Liebe und nicht etwa um der Macht willen (Gruenter). Und über dies wird sich zeigen, dass intrigante Liebende nicht primär den Schaden Dritter intendieren, mit ihrer Liebe aber immer andere als Betrogene (be-)schädigen. Somit werden sich Liebesintrigen, zumal mit Narren als Protagonisten, als besonders komplex erweisen, die sich mit ihrem dilemmatischen Kern von gängigen Intrigendefinitionen kaum charakterisieren lassen.240 Der erzählende Narr der Folie d’Oxford bestätigte zudem, was Lauer eigens als Definitionskriterium literarischer Intrigen im Mittelalter ausgewiesen hat: Indem sich die Intrige also immer wieder des konstruierenden Erzählens im Erzählen bedient, bietet sie einen Einblick in die wirkenden Triebkräfte des Erzählens, d. h. in die Möglichkeiten des Entwurfs von Erzählwelten und die Verhandlung von Kernthemen literarischer Produktion wie Fiktionalität und Kreativität.241
1.4
Textkorpus und Methodik
Vorausgehend haben sich mittelalterliche Zusammenhänge von Narrheit und Ästhetik als literatur- und kulturwissenschaftlicher Gegenstand aufzeigen lassen. Der zentrale Blickpunkt der vorliegenden Arbeit ist jedoch ein genuin literaturwissenschaftlicher, der folgende Erzähltexte in den Fokus seiner Analysen setzt: 1. 2. 3. 4. 5.
Eilhart von Oberg: Tristrant und Isalde Ulrich von Türheim: Tristan und Isolde Heinrich von Freiberg: Tristan und Isolde (Pseudo-)Konrad von Würzburg: Die halbe Birne Hans Folz: Die halbe Birne
Im Folgenden wird dargelegt, welche Auswahlkriterien für ein Textkorpus aus diversen Tristan-Fassungen sowie zwei Fassungen eines schwankhaften Märes (Halbe
einzudringen oder ihre Instanzen im gewünschten Sinne dirigieren zu können“ (Ders. 1993, S. 152). 240 Neben der bereits zitierten Definition nach von Matt, die in ihrem Abstraktionsgrad auch für die Intrigen etwa des Tristan-Stoffes anwendbar bleibt, kann auch die Charakterisierung nach Pourroy Geltung beanspruchen: „Die hauptsächlichen Listen der Intrigen sind dialektische Deformationen von Information und Manipulation des Verhaltens von Menschen und ihren Schwächen“ (Ders. 1986, S. 11). 241 Lauer 2013, S. 36.
Textkorpus und Methodik
Birne) ausschlaggebend gewesen sind. Hinweise auf die jeweilige Überlieferungssituation, zitierte Textausgaben und Handlungsüberblicke finden sich jeweils zu Beginn der entsprechenden Analysekapitel. Die Gattungsdivergenz des Textkorpus gibt bereits ein erstes Auswahlkriterium zu erkennen, zielt doch die Untersuchung von Zusammenhängen zwischen Narrheit und Ästhetik auch darauf ab, Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Narrendarstellung kontrastiv-komplementärer Erzählwelten zu beschreiben. Zudem wird sich zeigen lassen, dass der Labilisierungseffekt von dargestellter Narrheit auch Auswirkungen auf vermeintliche Gattungsgrenzen hat. Denn durch das Erzählen von Norm- und Tabubrüchen spielt dessen Ästhetik, unabhängig von der eigenen Gattung, vielfach bereits ins Schwankhafte. Darüber hinaus war für die Auswahl des Textkorpus konstitutiv, hoch- und spätmittelalterliches Erzählen sowie hoch- und späthöfische Normhorizonte miteinander vergleichen zu können. So wurde für die vollständige Romanfassung Eilharts, über den kaum historisch Gesichertes bekannt ist242 , vielfach kontrastiv vergleichend auf Gottfrieds Tristan zurückgegriffen. Bei Ulrich von Türheim setzt das Erzählen dort ein, „wo Gottfrieds Dichtung abbricht“243 . Bumke zufolge hat sich Ulrich „nicht an die französische Vorlage gehalten, nach der Gottfried gearbeitet hatte, sondern hat auf den ‚Tristrant‘ von Eilhart von Oberg zurückgegriffen.“244 Zwischen 1236 und 1244 wird in Augsburg urkundlich ein Ulrich von Türheim erwähnt, in dem man den Dichter vermutet.245 Gewidmet ist Ulrichs Tristan „dem Reichsschenken Konrad von Winterstetten († 1243). Da Ulrich im Rennewart über dessen Tod klagt, wird darauf geschlossen, dass „der Tristan […] vor 1243 entstanden“246 ist. In der fragmentarischen Tristan-Fassung Gottfrieds von Straßburg (zwischen 1200 und 1210 verfasst)247 kommt kein Wiederkehrabenteuer seines Titelhelden als Narr vor. Deshalb wurden die vollständige Erzählvariante von Eilhart von Oberg und die Fortsetzungen von Gottfrieds Erzählen durch Ulrich von Türheim und Heinrich von Freiberg (um 1280/90)248 ausgewählt. „Im Gang der Handlung stimmt Freibergs Fortsetzung mit der von Türheim überein, ist aber doppelt so umfangreich“249 . Beide führen Gottfrieds Liebesroman über eine Serie von Rück242 Eilharts Namen bezeugen lediglich die jüngeren Handschriften. Nach Bumke ist ein Eilhart von Oberg 1189–1209 bezeugt. Vgl. Bumke 1990, S. 71. Die auf E. Schröder zurückgehende Datierung ist zweifelhaft. Vgl. hierzu: Werner Schröder 2001. 243 Bumke 1990, S. 193. 244 Ebd. 245 Vgl. ebd. 246 Ebd., S. 194. 247 Vgl. ebd., S. 187. 248 „Die Tristan-Fortsetzung ist im Auftrag des böhmischen Adligen Reimund von Lichtenburg (urkundlich 1278–1329) gedichtet, wahrscheinlich um 1280/90“ (ebd., S. 195). 249 Ebd., S. 194.
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kehrabenteuern Tristans zu dem bekannten katastrophalen Ende des Liebestodes fort. Bereits bei Eilhart von Oberg kehrt ein intriganter Tristan in der Wolfeisenepisode und der Geschichte vom ‚kühnen Wasser‘ zu seiner Geliebten zurück. In diesem Wiederkehrabenteuer tarnt sich Tristan als Aussätziger. In den nächsten drei Rückkehrepisoden tritt Tristan in den Intrigantenrollen des Pilgers, Spielmanns und schließlich des Narren auf. Auch im seriellen bzw. episodischen Erzählen Ulrichs von Türheim und Heinrichs von Freiberg verbirgt sich Tristan jeweils im letzten Rückkehrabenteuer hinter der Narrenlarve. Bei Ulrich erscheint er zuvor ebenfalls als Aussätziger, dann aber als Knappe Plot. Heinrich von Freiberg gestaltet Tristans und Isoldes Wiederbegegnungen seinerseits in den Abenteuern von Tintajol, in der Dornbusch-Episode und schließlich in Tristans Narrenauftritt. Dass alle drei Tristanvarianten ihre intriganten Verkleidungsserien in der Narrenepisode gipfeln lassen, provoziert die Frage nach einem etwaigen ‚Telos‘ des jeweiligen seriellen Erzählens, das einen so ritterlich strahlenden Helden wie Tristan über Außenseiterund Randgruppenmasken zum ganz Anderen, zum Narren, werden lässt. Die Werke Eilharts, Ulrichs und Heinrichs sind bislang weder intrigentheoretisch noch mit Blick auf die jeweilige Gestaltung von Narrheit vergleichend betrachtet worden. Ein entsprechendes Forschungsdesiderat mag bereits darin begründet sein, dass mittelalterliche Tristan-Erzählungen vielfach vor dem Hintergrund des Werks Gottfrieds von Straßburg wahrgenommen werden. Hierdurch sind die Erzählfassungen Ulrichs von Türheim und Heinrichs von Freiberg mit dem ästhetischen Stigma behaftet worden, lediglich epigonale Fortsetzungen Gottfrieds zu sein. Die vorliegende Würdigung des Erzählens bei Eilhart, Ulrich und Heinrich, deren Liebeshandlungen Monika Schausten ihre Monographie „Erzählwelten der Tristangeschichte im hohen Mittelalter“ (1999)250 gewidmet hat, versteht sich auch als ein Beitrag zur Forschungsdebatte über den Status der sog. Gottfried-Fortsetzer. Deren Qualitäten eigenen (Weiter-)Erzählens werden sich zeigen lassen, wenn zu intrigenästhetischen Analysen von Verstellungs- und Verkleidungserzählungen theoretische Ansätze vestimentärer Motivik, der Körpersemiotik und narratologischer Perspektiven ebenso mit einbezogen werden wie die historische Semantik. Im Zusammenhang mit närrischen Norm- und Tabubrüchen erscheint es unverzichtbar, auch dezidiert didaktische Texte hinzuzuziehen. Bereits wegen seiner zeitlichen Nähe bot sich hierzu der 1215 verfasste Welsche Gast des Thomasin von Zerklaere an. Der Domherr von Aquileja aus dem Stadtadel von Cividale „stand […] sicherlich mit Wolfger von Erla in Verbindung, dem Gönner Walthers von der Vogelweide, der von 1204 bis 1218 Patriarch von Aquileja war.“251 250 Monika Schausten: Erzählwelten der Tristangeschichte im hohen Mittelalter. Untersuchungen zu den deutschsprachigen Tristanfassungen des 12. und 13. Jahrhunderts. München 1999 (= Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 24). 251 Bumke 1990, S. 330.
Textkorpus und Methodik
Da sich der letzte Teil der vorliegenden Analysen einem Erzähltext widmet, der die Autorschaft Konrads von Würzburg, gestorben 1287,252 behauptet, umfasst das betrachtete Textkorpus auch „einige typische Differenzen zwischen den literarischen Situationen der ‚hochhöfischen‘ und ‚späthöfischen‘ Phase“253 . Der derb schwankhafte Text Die halbe Birne nennt von Wirzburc maister Kuonrat (HB-K 513) als Verfasser. Der gleichnamige berühmte Autor von Lyrik, Kurzerzählungen, Legenden, Romanen u. a. „dürfte […] um oder bald nach 1230“254 geboren worden sein. Aufgrund der Drastik dargestellter Narrheit als kaum didaktisch lizensierbare Sexualkomik wurde die Autorschaft Konrads jedoch immer wieder angezweifelt. Aber auch dies gehört zu den avisierten Labilisierungen von Normvorstellungen im Kontext von ‚Narrheit und Ästhetik‘, dass Obszönität der Darstellung ästhetische Raffinesse des Erzählkontextes nicht ausschließt. Der letzte analytisch einbezogene Erzähltext geht auf einen der produktivsten Märendichter zurück: Hans Folz, geboren zwischen 1435 und 1440 in Worms, war zunächst gelernter Barbier und Wundarzt. Bezogen auf seinen weit reichenden Bildungshorizont gilt Folz, der 1459 „in Nürnberg das Bürgerecht“ erwarb und dort 1486 „urkundlich als Meister bezeugt ist“255 , als Autodidakt. Mit dem Märe Die halbe Birne greift Folz den Stoff (Pseudo-)Konrads von Würzburg variierend auf. Cramer zufolge wird aus „zotiger Komik“ eine „Erörterung der Problematik des Aufsteigers“, um die Identitätsproblematik eines Protagonisten aufzuzeigen, „bei dem sozialer Status und Verhaltensnormen nicht mehr übereinstimmen“256 . Die folgenden Textanalysen sind den zwei paradigmatisch unterscheidbaren Erzählwelten entsprechend in zwei Teile gegliedert: Das Kapitel „2. Simulierte Torheit“ widmet sich den Narrendarstellungen in den Tristrant-/Tristan-Erzählungen von Eilhart von Oberg, Ulrich von Türheim und Heinrich von Freiberg, die in einer Serie von Episoden den höfischen wie heroischen Protagonisten schließlich als Narren auftreten lassen. Schließlich folgt Kapitel „3. Betörende Simulationen“, das anhand der Fassungen des schwankhaften Märes Die halbe Birne die Entgrenzung der Narrheit sogar über den Textrand hinaus vorführt. Komplementär zu seriellem bzw. episodischem Erzählen mit den alternativen finalen Richtungen ‚vom Ritter zum Narren‘ (Tristrant/Tristan) tritt schließlich in der Halben Birne das Spiel mit
252 Zu Konrads Biographie und Werk vgl. Rüdiger Brandt: Konrad von Würzburg. Kleinere epische Werke. Berlin 2000 (= Klassiker-Lektüren 2), S. 15–32. 253 Kraß 2006, S. 26. 254 Horst Brunner: [Art.] ‚Konrad von Würzburg‘. In: Deutschsprachige Literatur des Mittelalters. Studienauswahl aus dem ‚Verfasserlexikon‘ (Band 1–10) besorgt von Burghart Wachinger. Berlin/ New York 2001, Sp. 400–433, hier Sp. 401. 255 Cramer 1995, S. 288. 256 Ebd., S. 291.
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der närrischen Desavouierung der Protagonisten, deren Kipppunkt im Rückblick der Lektüre immer weiter vorverlegt werden muss. Das zugrundegelegte Textkorpus ermöglicht es, Gemeinsamkeiten und Unterschiede des Erzählens von und über Narren hinsichtlich der Erzählinstanzen als Rolle, der jeweiligen Semantik des Anderen, der Perspektivität und des Wahrnehmens der Figuren, der Motivik des Vestimentären und des Gebarens, der impliziten Lizensierung von Vitalsphäre und Skatologischem, von Gewalt und Erotik ebenso herauszuarbeiten wie narratologische Strategien der Labilisierung von Grenzen zwischen Narrheit und Vernunft, Natur und Kunst, Bäurischem und Höfischem. Allenthalben wird sich ‚Unzeitgemäßes‘ der mittelalterlichen Literatur entdecken lassen, die normative Horizonte ebenso mehrdeutig wie spielerisch einsetzt. Hierdurch wird narrativ vor allem die soziale Konstruiertheit und damit die Verhandelbarkeit dessen entfaltet, was als Norm vermeintlich gottgegeben oder als selbstevident diskursiviert erscheint.
2.
Simulierte Torheit
Wer auf Toren als Simulanten, auf Narren als Liebe dissimulierende Betrüger und auf Intriganten in höfischen Erzählkontexten aus ist, kommt an den deutschsprachigen Versromanen des Tristan-Stoffes257 kaum vorbei. Bekanntlich ist der TristanRoman des Gottfried von Straßburg Fragment geblieben.258 Aber auch keine der zu Ende erzählten bzw. fortgesetzten Tristan-Fassungen hat für den dilemmatischen Konflikt von Minne und Ehe bzw. von Liebe und Gesellschaft im Fiktiven eine (lebbare) Lösung gefunden. Konsequenterweise führt dieses Dilemma die Liebenden allenthalben in Heimlichkeit und Intrige, in Täuschung und Verkleidung. Hiervon wird bei Eilhart von Oberg und den Gottfried-Fortsetzern Ulrich von Türheim und Heinrich von Freiberg in den sog. Rückkehr- oder Verkleidungsabenteuern erzählt, die den ehebrecherischen Protagonisten als Kaufmann, Aussätzigen, Pilger, Knappen, Spielmann und Narren getarnt an den Hof zurückkehren lassen.259
257 In der Tristan-Forschung wird von einem (allerdings nicht überlieferten) Ur-Tristan, der sog. Estoire, ausgegangen, der nach Buschinger „wahrscheinlich gegen 1158 am Hofe Alienors von Aquitanien und ihres Gatten, Heinrichs II., verfaßt worden“ ist (vgl. Buschinger 1993, S. VII). Von dieser Estoire gelten folgende Texte als abhängig: „drei französische Romane [zwei nur fragmentarisch überlieferte Versromane (Berol – um 1190 (?)–, Thomas d’Angleterre – um 1160–70 (?) –), und ein Prosaroman – 1225–1235]; […] ein Episodengedicht in französischer Sprache (die sogenannte Folie Tristan: Berner Fassung – Ende des 12. oder Anfang des 13. Jahrhunderts); […] der deutsche Versroman Tristrant und Isalde Eilharts von Oberg, die einzig vollständige epische Fassung des 12. Jahrhunderts und zudem der einzige Textzeuge, mit dessen Hilfe die verlorene altfranzösische versepische Urfassung zurückgewonnen werden kann […]“ (Danielle Buschinger/Wolfgang Spiewok: Einleitung. In: Eilhart von Oberg: Tristrant und Isalde. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch von Danielle Buschinger und Wolfgang Spiewok. Greifswald 1993, S. VII–XXIII, hier S. VII). Als Überblick über die Gestaltungen des Tristan-Stoffes nebst Abbildungen von der keltischen Dichtung über Eilhart, Béroul, Episodengedichte, Thomas, Gottfried, den frz. Prosaroman, deutsche Tristan-Romane und die isländische Tristanballade siehe: Friedrich Ranke (Hg.): Tristan und Isold. München 1925 (= Bücher des Mittelalters). Einen Überblick über die Forschung zum Tristan-Stoff (1969–1994) bietet René Wetzel: Der Tristanstoff in der Literatur des deutschen Mittelalters. Forschungsbericht 1969–1994. In: Forschungsberichte zur Germanistischen Mediävistik. Bd. 5.1. Hrsg. von Hans-Jochen Schiewer. Bern/Berlin/Frankfurt a. M. u. a. 1996 (= Jahrbuch für Internationale Germanistik. Reihe C. Abteilung 5), S. 190–254; zu Eilharts Tristrant vgl. ebd., S. 192–197. 258 Unter Verwendung der Sigle Tr-G wird Gottfried zitiert nach der Ausgabe Gottfried von Straßburg: Tristan. Nach dem Text von Friedrich Ranke neu herausgegeben, ins Neuhochdeutsche übersetzt, mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von Rüdiger Krohn. 2 Bde. Stuttgart 2005/2006 (= RUB 4471/4472). 259 Die Texte Eilharts (Sigle Tr-E), Heinrichs (Sigle Tr-H) und Ulrichs (Sigle Tr-U) werden nach folgenden Ausgaben zitiert: Eilhart von Oberg: Tristrant und Isalde (nach der Heidelberger Handschrift Cod. Pal. Germ. 346). Hrsg. von Danielle Buschinger. Berlin 2004 (= Berliner Sprachwissenschaft-
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Wie auch in den Folies Tristan wird die Episode von Tristan als Narr allenthalben strukturell hervorgehoben: Sie ist jeweils das letzte Verkleidungsabenteuer. Auf McDonalds Untersuchungen zu The Foolstick hinweisend260 , hat bereits Monika Schausten unterstrichen, „wie ergiebig es sein kann, die verschiedenen TristanFassungen in bezug auf ein Motiv zu befragen, und dadurch Hinweise auf ihre je spezifische Gestaltung zu erarbeiten.“261 Obwohl sich die Narrenepisode in den Texten von Eilhart, Ulrich und Heinrich für vergleichende Untersuchungen der Zusammenhänge von Poetik und Intrigenästhetik besonders eignet, ist sie bislang nicht eigens Gegenstand eingehenderer Forschungen gewesen. Am vorausgehend analysierten Fallbeispiel der Folie Tristan d’Oxford ließen sich hierzu erste Vergleichsaspekte entwickeln, um ausgehend von Eilharts von Oberg vollständiger Tristan-Erzählung die je unterschiedlich ausfallenden Fortsetzungsvarianten Ulrichs und Heinrichs im Lichte der Intrigentheorie Peter von Matts zu analysieren: die jeweilige Darstellung der intrigenmotivierenden Notsituation, der Szene der Intrigenplanung oder -findung mit oder ohne Beraterfiguren, der Arten der Verkleidung und Verstellung als vermeintlich natürlicher Narr, der Strategien von Simulation und Dissimulation sowie deren Verknüpfungen und schließlich des Auftritts der intriganten Narrenfigur als inszenierte Normwidrigkeit vor einer höfischen Öffentlichkeit. Die Betrachtung literarisch dargestellter Narrheit im Kontext des Tristan-Stoffes wirft zudem die Frage nach dem jeweiligen Verständnis von Normwidrigkeit sowohl in einem anthropologisch-moralischen als auch in einem poetologisch-ästhetischen Sinne auf. In der Folie Tristan reüssiert Tristan als Narr vor allem als Hofnarr, als närrischer Erzähler, der seinen Wahn durch das Wahrsagen und sein Erzählen von Tristan und Isolde ausstellt. Das Narrenhafte, mithin Normwidrige, gründet dort in dem poetischen Kniff, seine Liebespassion hinter der öffentlich erzählten Obsession zu verbergen. Das Normwidrige findet in der Folie Tristan somit in einem doppelten Tabubruch seinen Ausdruck: in der Liebe zur Königsgattin und in dem öffentlichen Erzählen des Liebenden. Den Einfall des Anomalen in die Welt des Höfischen gestaltet die Folie Tristan auch als Ansteckungsgeschichte, werden doch alle beteiligten Figuren in der
liche Studien 4); Heinrich von Freiberg: Tristan und Isalde. (Fortsetzung des Tristan-Romans Gottfrieds von Straßburg.) Originaltext (nach der Florenzer Handschrift ms. B. R. 226) von Danielle Buschinger. Versübersetzung von Wolfgang Spiewok. Greifswald 1993; Ulrich von Türheim: Tristan und Isolde (Fortsetzung des Tristan-Romans Gottfrieds von Straßburg). Originaltext (nach der Heidelberger Handschrift Pal. Germ. 360). Versübersetzung und Einleitung von Wolfgang Spiewok in Zusammenarbeit mit Danielle Buschinger. Université de Picaride 1992 (= Wodan. Recherches en littérature médiévale 11). 260 McDonald 1988. 261 Schausten 1999, S. 242, Anm. 161.
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Begegnung mit dem Narren unterschiedlichen Reaktionszwängen ausgesetzt: Edelknappen vertieren in ihrer Lust zu marginalisierendem Traktieren, eine Königin gerät im Kreuzungspunkt von dissimulierter Liebe und simuliertem Wahn außer sich, und ein König lässt sich neuerlich blenden und sucht im Hofnarren einen weiteren höfischen Gefährten. Mit einem Wort: Narrenauftritte veranschaulichen auch die Stabilität fiktiver Hofgesellschaften, wenn sie mit dem ihnen entgegengesetzten Anderen konfrontiert werden, denn in der Begegnung von Narr und Hof lassen sich sowohl Grenzziehungen des Normativen ausmachen als auch deren Beharrungsvermögen bwz. deren Labilität beobachten. Im Folgenden soll vergleichend auch verdeutlicht werden, wie „der Markehof bei Ulrich angesichts Tristans Treiben in eine Art Paralyse verfällt“262 , wohingegen „es bei Heinrich Bereitschaft zum Widerstand und Reste herrscherlicher Autorität“263 gibt. Zudem sind „Hof und Herrscher bei Heinrich […] wesentlich kompakter, aktiver und verteidigungsbereiter als bei dem ersten Fortsetzer.“264 Zu einem anders inszenierten Spannungspotential in der Auseinandersetzung von höfischer Normalität mit dem Einbruch des ganz Anderen kommt es im Vergleich der Fortsetzer ferner auch dadurch, dass „[a]nders als bei Ulrich […] die Standards höfischer Verhaltensreglementierung, die der Narr ignoriert, den Figuren noch präsent [sind], und die Normverstöße […] noch als solche empfunden“265 werden. Der Konfliktraum von Narr und Gesellschaft ist mitunter auch Anlass von „Gesellschaftskritik“266 , wenn über Labilitäten Strukturschwächen von Macht und Herrschaft sowie Charaktereigenschaften einzelner Protagonisten sichtbar gemacht werden. Wird nun der Narr, der künstliche wie der natürliche267 , in höfischen Erzählwelten als das ganz Andere ausgestellt, so können entsprechende Texte auch als Inszenierungen kultureller Grenzziehungen gelesen werden. Ganz im Sinne Greenblatts wird Normativität im Literarischen als Grenze ‚verhandelt‘, also sowohl konstituiert als auch problematisiert.268 So betrachtet fungiert nicht erst didaktische
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Matejovski 1996, S. 230. Ebd. Ebd., S. 229. Ebd., S. 230. Während Schausten untersucht hat, inwiefern die Liebe etwa das Gleichgewicht des Markehofes zu stören vermag, geht es hier um die Darstellung von Narrheit als Anomalie und deren Wirkung auf ihr jeweiliges gesellschaftliches Umfeld. 267 Zur Motivgeschichte „des verstellten Narren“, zurückverfolgt bis zu arabischen und mongolischen Märchen, vgl. Meißburger 1954, S. 100, Anm. 398; dort findet sich auch der Hinweis auf: Felix Liebrecht: ‚Der verstellte Narr.‘ In: Ders.: Zur Volkskunde. Alte und Neue Aufsätze. Heilbronn 1879, S. 141–153. 268 Im Sinne einer ‚Poetik der Kultur‘ gilt dieser paradoxe Zusammenhang von Literatur als Normsetzung und -verschiebung auch für das mittelalterliche Erzählen: „Wenn Kultur als eine Struktur von Beschränkungen fungiert, fungiert sie auch als Regulator und Garant von Bewegung. Ohne Bewe-
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oder moralsatirische, sondern immer auch schon mittelalterliche Erzählliteratur wie Texte aus dem Tristan-Stoffkreis als „Repräsentation und Produktion solcher kultureller Grenzen“269 . Als letztes Rückkehrabenteuer ist der Narrenauftritt zudem narratologisch besonders relevant, da dieser das bisher entfaltete Konfliktpotential der Ehebruchsgeschichte im Intrigenkontext als letzte Verkleidungsepisode einem finalen Handlungshöhepunkt zutreibt. Denn es muss äußerst fraglich erscheinen, ob es für einen desavouierten falschen Narren, der als Neffe des Königs der Geliebte der Königin ist, ein abermaliges Rückkehrabenteuer geben kann. Zudem bleiben Intriganten von der Wahl ihrer Verkleidungsrollen nicht unberührt, zumal ihre höfisch-ritterliche Identität närrischer (Selbst-)Erniedrigung diametral entgegensteht und zudem minnebedingt die Narrheit weniger rollenhafte Äußerlichkeit als wahrheitsgemäße Identitätsveräußerlichung zu sein scheint. Angesichts von Intrigengeschehen und Verkleidungsabenteuern in seriellem Erzählen stellt sich folglich auch die Frage nach der Identität der Betrüger: Kann die höfisch-heroische Identität von der Narrenrolle untangiert bleiben? Oder hat vielmehr die Folge angenommener Rollen, vor allem aber der Narrenlarve, für die Identität des Intriganten dekonstruierenden Charakter? Als Romanschluss haben die Narrenepisoden vor allem bei Ulrich und Heinrich narratologisch noch eine weitere Dimension: Sie prägen das Verhältnis zum fortgesetzten Text durch die Konkretisierung der eigenen Schlussvariante. Ulrichs und Heinrichs Erzähler betonen zwar die Nähe zu ihrem Vorbild Gottfried, um dann aber der ganzen Erzählwelt in Fortgang und Epilogperspektive eine eigene Nuance aufzuprägen.270 Hierzu leistet die jeweilige Narrenepisode einen ästhetisch wie gehaltlich entscheidenden Beitrag. Im Falle Heinrichs von Freiberg wird „subtile Kritik am Erzählen seines Vorgängers“ sogar dadurch deutlich, daß der Autor gerade über die Anknüpfung an Gottfried dessen Erzählinhalte verändert hat. So stellt Heinrich unter anderem über die erzählerische Inszenierung einer Nähe zum
gung sind die Beschränkungen praktisch bedeutungslos; nur durch Improvisation, Experiment und Austausch lassen sich kulturelle Grenzen errichten“ (Stephen Greenblatt: Kultur. In: New Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur. Hrsg. von Moritz Baßler. Tübingen/Basel 2001, S. 48–59, hier S. 53). 269 Schausten 1999, S. 288. 270 Heinrich von Freiberg ist dadurch ein besonders anschauliches Beispiel für in seinem Falle sogar „subtile Kritik am Erzählen seines Vorgängers“, „daß der Autor gerade über die Anknüpfung an Gottfried dessen Erzählinhalte verändert hat. So stellt Heinrich unter anderem über die erzählerische Inszenierung einer Nähe zum fortgesetzten Text eine Distanzierung zu diesem her, die ihm Raum schafft, die Geschichte von Tristan und Isolde anders zu erzählen, als Gottfried dies getan hat“ (ebd., S. 280).
Simulierte Torheit
fortgesetzten Text eine Distanzierung zu diesem her, die ihm Raum schafft, die Geschichte von Tristan und Isolde anders zu erzählen, als Gottfried dies getan hat.271
Dieses Paradox der Distanzierung durch Fortsetzung hat Schausten als eine „inhärente[] Verschleierungstechnik“ für ganz andere Aussagen überführt.272 Auch Ulrich von Türheim bezieht sich ebenso explizit auf Gottfried (sit meister Gotfried ist dot; Tr-U 4)273 wie seine Version „weitgehend auf den Tristrant Eilharts von Oberg aufbaut“274 . Die lange tradierte deklassierende Einschätzung, einzig fortzusetzen, und dies eben auf nachrangigem Niveau, gründet bereits in dem latent angelegten Maßstab der Erzählkunst Gottfrieds. Dieser schien bereits überlieferungsgeschichtlich gegeben, denn der Tristan Gottfrieds ist im Spätmittelalter lediglich ein einziges Mal „ohne eine Fortsetzung aufgezeichnet worden.“275 „Im Übrigen“ gelte – bezogen auch auf Eilhart – „das Werk als roh, zumal im zweiten Teil eine bloße Reihung unverbundener Episoden, allein am Geschehen interessiert, in der Deutung weit unter dem Niveau des Konfliktes“276 stehe. Bereits Jan-Dirk Müller hat aber darauf hingewiesen, dass derartige Einschätzungen fehlgingen und dies bereits deshalb, weil sie „den älteren ‚Tristan‘ vor dem Hintergrund der jüngeren Werke […] lesen, um Defizite festzustellen: in der psychologischen Durchdringung, in der Reflexion widerstreitender Normen, in den rhetorischen Mitteln.“277 Abschätziges, resultierend aus der „intertextuelle[n] Relation
271 Ebd., S. 280. 272 Vgl. ebd., S. 287f. 273 Zur These „der Benutzung von Eilhart als Nebenquelle“ Gottfrieds vgl. Eberhard Nellmann: Brangaene bei Thomas, Eilhart und Gottfried. Konsequenzen aus dem Neufund des Tristan-Fragments von Carlisle. In: ZfdPh. 120 (2001), S. 24–38., hier S. 36. Zu Beziehungen zwischen Wolframs von Eschenbach Parzival und Eilharts Tristrant vgl. Hans Eggers: Literarische Beziehungen des Parzival zum Tristrant Eilharts von Oberg. In: PBB 72 (1950), S. 39–51. 274 Thomas Kerth: Einleitung zu seiner Edition des Tristan Ulrichs von Türheim. Heidelberg 1979 (= ATB 89). 275 Peter Strohschneider: Alternatives Erzählen. Interpretationen zu Tristan- und WillehalmFortsetzungen als Untersuchungen zur Geschichte und Theorie des höfischen Romans. [Habil. masch.] München 1991, S. 76. 276 Jan-Dirk Müller: Die Destruktion des Heros oder wie erzählt Eilhart von passionierter Liebe? In: Il romanzo di Tristano nella letteratura del Mediovo. Der Tristan in der Literatur des Mittelalters. Atti del convegno – Beiträge der Triester Tagung 1989. Hrsg. von Paola Schulze-Belli und Michael Dallaiazza. Trieste 1990, S. 19–37, hier S. 20. 277 Ebd. In diesem Sinne hat auch Wetzel 1996 (S. 192) eine Grundtendenz der Eilhart-Forschung benannt, den Tristrant „fast ausschließlich als ein ‚Nicht mehr‘ in Bezug auf die nicht erhaltene Estoire bzw. als ein ‚Noch nicht‘ von Gottfrieds Tristan“ zu lesen. Vgl. hierzu Peter Strohschneider: Herrschaft und Liebe. Strukturprobleme des Tristan-Romans bei Eilhart von Oberg. In: ZfdA 122 (1993), S. 36–61, hier S. 39f.
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zum Fortgesetzten“278 , das die ‚Fortsetzer‘, wie es Strohschneider so pointiert formuliert hat, zu „Trittbrettfahrern der Dichtungsgeschichte“279 deklassiert, lässt sich auch auf Ulrich von Türheim bezogen etwa in einer Einschätzung Kerths finden: In Ulrichs Tristan-Fortsetzung […] weicht die hohe Begriffssphäre Gottfrieds dem anspruchslosen Niveau einer übertriebenen, in nahezu derb-spielmännischer Art dargestellten Sexualität. Schon aus diesem Grund widerfuhr dem Gedicht bereits in den frühen Jahrzehnten der modernen philologischen Forschung eine zum großen Teil berechtigte Geringschätzung.280
Dem vermeintlichen ‚literarhistorischen Faktum‘ einer ästhetischen Diskrepanz zwischen Gottfried, Eilhard und den Fortsetzern Ulrich und Heinrich hat Strohschneider nicht nur die zeitgenössische Wertschätzung der Werke entgegengehalten.281 Vielmehr gelte es, die Fortsetzungen eben aufgrund ihres jeweils eigenen Weges zum Erzählende, folglich im Hinblick auf die Intrigengestaltung und deren Verkleidungsabenteuer, wahrzunehmen: Denn „entgegen vielfach wiederholtem Vorurteil [geht] es nicht ums Zuendekommenwollen mit dem Stoff […], sondern ums Weitererzählenwollen. Nicht das Ende der Geschichte steht auf dem Programm, sondern dessen Verzögerung durch die Entfaltung eines neuen Erzählprozesses.“282 In ihren jeweils unterschiedlich nuancierten eigenen Poetologien, Charaktergestaltungen, Handlungsführungen und Handhabungen diverser Erzählebenen sind die genannten drei Texte als „Konkurrenz verschiedener Tristan-‚Zyklen‘“283 für Zusammenhänge von ‚Narrheit und Ästhetik‘ bzw. für Poetik und Intrigen278 279 280 281
Strohschneider 1991, S. 73. Ebd., S. 72. Kerth 1979, S. VII. „In den Epenfortsetzungen selbst steht neben dem Lob der ‚klassischen‘ Meister das Zeugnis selbstbewußten Dichterstolzes, in den Literaturkatalogen der Zeitgenossen residieren Maister Gotefrit und zum Beispiel der wise Tuo rhaimaere auf einem Niveau“ (Strohschneider 1991, S. 72). 282 Ebd., S. 77. Etwa bezogen auf den Text Ulrichs von Türheim fallen kritische Urteile besonders harsch aus: Dessen Struktur gilt zuweilen als „bedenkenloses Aneinanderreihem“ (Burghart Wachinger: Zur Rezeption Gottfrieds von Straßburg im 13. Jahrhundert. In: Deutsche Literatur des späten Mittelalters. Hamburger Colloquium 1973. Hrsg. von Wolfgang Harms und L. Peter Johnson. Berlin 1975, S. 56–82, hier S. 61) oder folge dem „Gesetz loser additiver Reihung, nicht mehr thematischer Verschränkung“ (Gerhard Schindele: Tristan. Metamorphose und Tradition. Stuttgart/Berlin/ Köln u. a. 1971 [= Studien zur Poetik und Geschichte der Literatur 12], S. 93). 283 Strohschneider 1991, S. 77. Strohschneider unterscheidet folgende Fortsetzungszyklen: „1 Gotfrits Tristan + die Fortsetzung Ulrichs von Türheim 2 Gotfrits Tristan + Tristan als Mönch + das letzte Viertel der Fortsetzung Ulrichs von Türheim 3 Gotfrits Tristan + die Fortsetzung Heinrichs von Freiberg 4 Schließlich der Fall eines Tristanfragments, das die Verfügbarkeit der Thomas’schen Version eines Tristanschlusses zumindest im niederfränkischen Bereich bezeugt“ (ebd., S. 75).
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ästhetik vor allem hierdurch miteinander verbunden bzw. in ihrer stoffbedingten Vergleichbarkeit relevant: Sie entfalten die Rückkehrabenteuer ihres Protagonisten als komplexes Intrigengeschehen, indem der beständig von der Aufdeckung seiner Minne bedrohte Held mitunter eben auch zum Verkleidungsauftritt als Tor oder Narr Zuflucht nimmt. Fallen jedoch die Stoffgestaltungen, „[d]er Skandal Tristan“284 , insgesamt so unterschiedlich aus wie bei Eilhart von Oberg, Ulrich von Türheim oder Heinrich von Freiberg, so ist zu erwarten, dass deren Erzählen ebenfalls unterschiedlichen ‚Normen‘ folgt.285 Diese poetologische wie narratologische Differenz wirft die Frage nach der dargestellten Torheit als Anomalie im höfischen Erzählkontext nochmals von einer anderen Seite her auf: Wo verläuft in den unterschiedlichen Erzählwelten die Grenze zwischen dem, was als Norm, als Ideal gar, gilt, und deren Abweichungen? In der Folie Tristan d’Oxford ist der Narr als Erzähler ganz in den Grenzen des Höfischen verblieben. Weder sein Erzählen noch sein Verhalten liefen jemals Gefahr, höfische Vorstellungen von Sitte und Moral zu überschreiten. Die TristanFassungen Eilharts, Ulrichs und Heinrichs werden sich andere Möglichkeiten inszenierter Narrheit zu eigen machen als allein das tabuhafte Wahrsagen des Narren in der Folie Tristan. Dort werden teils drastische Inszenierungen des Unhöfischen als Simulation der Narrheit geboten. Bereits diese ersten Vorüberlegungen rücken das reziproke Prägungsverhältnis von ‚Ästhetik und Narrheit‘ vor Augen und machen somit plausibel, dass ein analytisches Interesse an Normativität und Anomalie in mittelalterlicher Erzählkunst deren Poetik mit einbeziehen muss. So, wie Betrachtungen des Anomalen per se immer auch Beiträge zur Normativität sind, so verbindet jedes Erzählen insbesondere vom Normwidrigen dessen Darstellungsmodi mit den Normen sowohl von der jeweils erzählten Welt als auch des Erzählens selbst. Ästhetisierbarkeit des Anderen als Literarisierung des Anomalen impliziert bereits die Möglichkeit, Norm und Normabweichung im Ästhetischen als soziale Konstrukte zu denken, werden diese doch gerade im Betrugsgeschehen als täuschend echte Simulation zur prekären Alternative gegenüber vermeintlich ordoadäquater Gottgegebenheit. Denn auch für verkleidete Helden wie für falsche Narren gilt als Problematisierungen mindestens negativdidaktisch: „Der Heros ist nicht Individuum, sondern Repräsentant der Werte der Gemeinschaft.“286
284 Müller 1990, S. 21. 285 Bei Gottfried von Straßburg lasse sich „das letztlich unauflösliche Spannungsverhältnis zwischen einer bloß gesellschaftlichen und einer individuell verantworteten Ethik“ beobachten, wohingegen Ulrich von Türheim und Heinrich von Freiberg „einen irgendwie gearteten Kompromiß zwischen Liebe und christlicher Ehe“ gestalten. „Der Normkonflikt beschäftigt Eilhart wenig“ (ebd.). Derartige Deutungsvoraussetzungen sind deshalb elementar, weil die Rückkehrabenteuer, mithin die Narrenepisode, kontextbedingt variieren. 286 Ebd., S. 23.
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Muss aber die Fabulierlust an betrügerischem Geschehen, mithin die verstörendunterhaltsame Möglichkeit, ebenso einem Handlungsbetrug wie einem Kollektivphantasma aufzusitzen, nicht die vermeintliche Seinsgewissheit über die im Diskursiven wie im Praktischen so wohl gehütete Grenze zwischen dem Normalen und dem Anomalen untergraben? Hierdurch wird diese Anschlussfragestellung unausweichlich: Welche Folgerungen für eine höfische (Text-)Welt sind zu ziehen, wenn sich hinter den Narren die Normalen und hinter diesen letztlich die Narren verbergen? Auch für die epischen Varianten der Tristan-Liebe gilt: Deren Ästhetik des Erzählens von Intrigen, die divergente Perspektiven von Erzähler, Betrügern, Betrogenen und Publikum unterscheidet, zeigt, was für die soziale Realität des Mittelalters zunächst so schwer vorstellbar erscheint: das Anomale nicht als Gottgegebenes oder Naturverhängtes, sondern vielmehr – verführerisch modern gedacht – als Produkt sozialer Praxis und ästhetischer Arbeit gestaltet zu sehen.
2.1
Intrigante Anomalie und Ästhetik: Tristrant und Isalde Eilharts von Oberg
Auch in Eilharts von Oberg287 Roman Tristrant und Isalde wird von der Zwanghaftigkeit absoluter Minne, von Minnetrank und Drachenkampf, von Loyalitätskonflikten Tristrants gegenüber dem betrogenen königlichen Onkel Marke und Tristrants unauslöschlicher Liebe zu dessen Gattin, die ihn in eine Serie von Betrugsabenteuern zwingt, erzählt. In diesen Verkleidungsepisoden lässt Eilhart seinen Helden auch als Narren auftreten. Im Schatten von Gottfrieds Tristan ist dem Werk
287 Im Epiloghaften des Romanschlusses finden sich, je nach Handschrift, diverse Autornennungen: In der H-Fassung, die den beiden Editionen Buschingers (1993; 2004) zugrundeliegt, heißt es: von Baubemberg Segehart / haut diß buoch gedichtet / und unß wol berichtet, / wie Tristrand starb / und wie er geboren ward / […] Seghart mit guotten zügen daß betagt, / daß eß recht also ergieng (Tr-E 9644–9654). Abweichend hiervon lauten die Autornennungen in D von Hobergin her Eylhart und von Oberengen Enthartte (B) (vgl. Tr-E 9644, Anm. 5019). Der genannte Eilhart ist nur dem Namen nach bekannt. Buschinger geht jedoch davon aus, „daß er ein klerikal gebildeter Hofbeamter am Hofe Heinrichs des Löwen in Braunschweig war, durch dessen Frau Mathilde (Tochter Alienors von Aquitanien aus der Ehe mit dem englischen König Heinrich II.) Einflüsse der anglonormannischen Kultur möglich wurden, so daß der Hof der Welfen zu einem der literarischen Zentren Deutschlands im 12. Jahrhundert wurde“ (Buschinger/Spiewok 1993, S. VIII). Während A. Schröder davon ausgeht, dass der in der Dresdner Hs. genannte Verfasser „mit dem zwischen 1189 und 1209 mehrfach urkundlich bezeugten Eilhardus de Oberch identifiziert [werden könne], der einem in dem Dorfe Oberg westlich von Braunschweig ansässigen Ministerialengeschlecht angehörte“, halten Ludwig Wolff und Werner Schröder dies unter Hinweis auf ein Bekanntwerden des Dichters mit
Intrigante Anomalie und Ästhetik: Tristrant und Isalde Eilharts von Oberg
Eilharts288 weder in der Forschung noch im Kanon universitärer Lehre besondere Aufmerksamkeit gewidmet worden.289 Nach Wetzel lassen sich drei Grundtendenzen der Forschung zusammenfassen290 : a) Der Tristrant wird einerseits hauptsächlich verstanden als frühe adaption courtoise, zumindest aber als ein Zeugnis und Ausdruck der höfischen Lebenswelt und -ordnung.291
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der frz. Tristan-Dichtung in Sachsen und den eher geistlich orientierten Literaturinteressen Heinrichs des Löwen „zwar für möglich, aber nicht wahrscheinlich.“ Vgl. Ludwig Wolff und Werner Schröder: [Art.] ‚Eilhart von Oberg‘. In: Deutschsprachige Literatur des Mittelalters. Studienauswahl aus dem ‚Verfasserlexikon‘ (Band 1–10) besorgt von Burghart Wachinger. Berlin/New York 2001, Sp. 80–87, hier Sp. 80. Vgl. ferner Hadumod Bußmann: Einleitung. In: Eilhart von Oberg: Tristrant. Synoptischer Druck der ergänzten Fragmente mit der gesamten Parallelüberlieferung. Hrsg. von Hadumod Bußmann. Tübingen 1969 (= Altdeutsche Textbibliothek 70), S. VII–LXIV, hier S. Xff.; Joachim Bumke: Geschichte der deutschen Literatur im hohen Mittelalter. München 1990 (= Geschichte der deutschen Literatur im Mittelalter 2), S. 71; Strohschneider 1993, S. 37f. Hingegen hält Wetzel, die jüngere Forschung bis 1994 summierend, fest, dass der Tristrant „in den Umkreis des Welfenhofes Heinrichs des Löwen und desse Gattin Mathilde“ (Wetzel 1996, S. 193, Anm. 4) einzuordnen sei. „Volker Mertens […] sieht in Jordan, dem Truchseß des Königs und Dienstmann des ältesten Sohnes Heinrichs, welchem das Werk zugedacht war, den konkreten Auftraggeber“, wodurch nach Wetzel „die alte niederrheinische These weitgehend“ entkräftet sei (ebd., S. 193). Vgl. Volker Mertens: Eilhart, der Herzog und der Truchseß. In: Danielle Buschinger (Hg.): Tristan et Iseut, mythe européen et mondial. Actes du colloque 1986. Göppingen 1987 (= GAG 474), S. 262–281. Eilharts Text liegt in folgenden Editionen vor: Eilhart von Oberge. Hrsg. von Franz Lichtenstein. Straßburg/London 1877 (= Quellen und Forschungen zur Sprach- und Culturgeschichte der germanischen Völker 19); Eilhart von Oberg: Tristrant und Isalde. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch von Danielle Buschinger und Wolfgang Spiewok. Greifswald 1993; Zitiert wird nach der Ausgabe: Eilhart von Oberg: Tristrant und Isalde (nach der Heidelberger Handschrift Cod. Pal. Germ. 346). Hrsg. von Danielle Buschinger. Berlin 2004 (= Berliner Sprachwissenschaftliche Studien 4). Erwähnt sei hier noch die vorliegende Übersetzung Eilhart von Oberg: Tristrant und Isalde. Neuhochdeutsche Übersetzung von Danielle Buschinger und Wolfgang Spiewok, Göppingen 1986 (= GAG 436). Vergleichbares gilt auch für die Fortsetzungsfassung Ulrichs von Türheim. Spiewok hat das geringe Interesse der Forschung mit Blick auf Heinrich von Freiberg damit begründet, dass Ulrichs Tristan „der Fortsetzung des Heinrich von Freiberg hinsichtlich der ästhetischen Qualität unterlegen“ sei. Wolfgang Spiewok: Einleitung. In: Ulrich von Türheim: Tristan und Isolde. (Fortsetzung des TristanRomans Gottfrieds von Straßburg.) Originaltext (nach der Heidelberger Handschrift Pal. Germ. 360). Versübersetzung und Einleitung von Wolfgang Spiewok in Zusammenarbeit mit Danielle Buschinger. Université de Picaride 1992, S. 7–14, hier S. 7. Vgl. Armin Schulz: Die Spielverderber. Wie ‚schlecht‘ sind die Tristan-Fortsetzer? In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 51 (2004), S. 262–276. Wetzel 1996, S. 192. Ebd.
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b) Dagegen wird von anderer Seite die ältere Tradition, die sich aus der Mündlichkeit, den heroischen Sagen und Episodengedichten ableitet, als konstituierend hervorgehoben […].292 c) Der zentrale Konflikt von Minne und Gesellschaft bzw. von Minne und Ehe steht im Mittelpunkt einer dritten Gruppe von Arbeiten. Diese neigt dazu, in Eilhart einen Vertreter und Verteidiger der feudal-höfischen Gesellschaft und Normen zu sehen.293
Vor dem Hintergrund dieser Hauptendenzen der Forschung gewinnt eine eingehendere Betrachtung der Rückkehrabenteuer zusätzlich an Relevanz, wenn die Schlusspartie der Narrenepisode im Strukturzusammenhang seriellen Erzählens auf Motivwiederholungen, -variationen und -steigerungen hin analysiert wird. Fasst man Eilhart als „einen Vertreter und Verteidiger der feudal-höfischen Gesellschaft und Normen“294 auf, so wird auch nach der Funktion und Bedeutung der Narrendarstellung zu fragen sein: Ist Eilharts Tristrant-Narr als Minne-Tor aufzufassen, der primär negativdidaktische Funktionen hat? Der auch in dieser Hinsicht wieder zu entdeckende Versroman ist in drei Fragmenten des 12. und frühen 13. Jahrhunderts295 und in einem österreichischen Fragment (SP aus St. Paul in Kärnten) des späten 13. Jahrhunderts überliefert.296 Die beiden vollständigen Fassungen gehen auf Papierhandschriften des 15. Jahrhunderts zurück, die als Heidelberger Hs. (H) und als Dresdner Hs. (D) voneinander abweichen.297 Den dritten Teil enthält die sog. Berliner Hs.298 Mit Blick auf unseren
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Ebd. Ebd. Ebd. „1. Rd, Donaueschingen, Fürstlich Fürstenbergische Hofbibliothek, Hs. Nr. 69, 1 Folio; Rm, München, Bayerische Staatsbibliothek, Cod. Germ. 5249/31, 12 Fragment in Folio; Rr, Regenburg, Proske’sche Musikbibliothek beim Generalvikariat Regensburg, ohne Sigle. 2. St, Stargarder Fragment, ehemals Preußische Staatsbibliothek, Ms. Germ. Quart. 1418; nun in der Universitätsbibliothek Krakau (Polen). 3. M, Magedburger Fragment, ehemals Preußische Staatsbibliothek, Ms. Germ. Quart. 461; nun in der Universitätsbibliothek Krakau (Polen)“ (Danielle Buschinger: Einleitung. In: Eilhart von Oberg: Tristrant und Isalde [nach der Heidelberger Handschrift Cod. Pal. Germ. 346]. Hrsg. von Danielle Buschinger, Berlin 2004 [= Berliner Sprachwissenschaftliche Studien 4], S. IX–XXX, hier S. X). 296 Ebd. 297 „1. H, Heidelberger Handschrift, Heidelberger Universitätsbibliothek, Cod. Pal. Germ. 346 (3. Drittel des 15. Jahrhunderts). 2. D, Dresdner Handschrift, Sächsische Landesbibliothek M 42 (1433)“ (ebd.). 298 „Berliner Handschrift, Berlin, Staatsbibliothek, Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Ms. Germ. Fol. 640 (1461)“ (ebd. S. XI.). Zu den weiteren Übertragungen etwa ins Tschechische und zur Prosaauflösung des 15. Jahrhunderts vgl. ebd.
Intrigante Anomalie und Ästhetik: Tristrant und Isalde Eilharts von Oberg
Untersuchungsgegenstand bei Eilhart von Oberg299 erscheint die Wahl der zugrunde zu legenden Handschrift(en) vergleichsweise alternativlos. Einerseits kommen nur annähernd vollständige Textzeugen (also H und/oder D)300 infrage, andererseits lässt sich eine Favorisierung der Heidelberger Handschrift, in der Schlusspartie als „resignative Editionsform“301 (Bumke) ergänzt um die Berliner Handschrift, ihrerseits ebenso überlieferungsgeschichtlich wie interessenbezogen begründen.302 Buschinger erbringt Nachweise dafür, dass die H-Fassung gegenüber der sogar von der „Textqualität“303 her höher zu bewertenden D-Fassung bereits dadurch der Vorzug zu geben sei, dass diese einen weitaus größeren Akzent auf zeitgenössische Kontexte des 12. Jahrhunderts (Rittertum, -kampf und -spiele, soziale Probleme und Tugenden, Ehr-Begriff, höfische Liebe)304 lege. Diese stärkere höfisch-gesellschaftliche Kontextualisierung eignet sich auch für Untersuchungen von Zusammenhängen zwischen ‚Narrheit und Ästhetik‘. In der Heidelberger Handschrift hat die Episode ‚Tristrant als Narr‘ – inhaltlich wie ästhetisch – einen von den anderen Versionen gänzlich unterschiedenen Stellenwert.
299 Zu Eilhart von Oberg als Autor und zur Überlieferung des Tristrant vgl. Danielle Buschinger: Conjectures sur Eilhart von Oberg. In: Figures de l’ecrivain au moyen age. Actes du Colloque du Centre d’Etudes Médièvales de l’Université de Picardie Amiens 18–20 mars 1988. Publiés par les soins de Danielle Buschinger. Göppingen 1991 (= Göppinger Arbeiten zur Germanistik 510), S. 63–72, hier S. 66–72; Ludwig Wolff/Werner Schröder: [Art.] ‚Eilhart von Oberg‘. In: Deutschsprachige Literatur des Mittelalters. Studienauswahl aus dem ‚Verfasserlexikon‘ (Band 1–10) besorgt von Burghart Wachinger. Berlin/New York 2001, Sp. 80–87; Stein 2001b, S. 160–162; Mark Chinca: Tristan Narratives form the High to the Late Middle Ages. In: Arthurian Literatur in the Middle Age III. The Arthur of the Germans. The arthurian legend in the medieval german and dutch literature. Edited by W. H. Jackson and S. A. Ranawake. Cardiff 2000, p. 118–134. Zu den urkundlichen Erwähnungen und zur Datierung vgl. Edward Schröder: Eilhard von Oberg. In: ZfdA 22 (1898), S. 72–82; Buschinger 1991, S. 64–66. 300 Da die Editionen Buschingers Verwendung finden, bleiben, deren Editionsprinzipien entsprechend, immer beide Handschriften, H leitend und D zumindest im Apparat, im Blick. 301 Danielle Buschinger: [Kap.] 5 Erwägungen zur Interpretation der H-Fassung im Vergleich zur D-Fassung. In: Eilhart von Oberg: Tristrant und Isalde (nach der Heidelberger Handschrift Cod. Pal. Germ. 346). Hrsg. von Danielle Buschinger. Berlin 2004 (= Berliner Sprachwissenschaftliche Studien 4), S. XII–XXIII, hier S. XII. 302 Für ihr Editionsvorhaben (2004) begründet Buschinger die Bevorzugung der Heidelberger Handschrift über deren größere Entsprechung mit dem Eilhart’schen Original so: „H ist wohl die vollständigste Fassung, was von dem zuletzt aufgefundenen Fragment SP aus St. Paul (Österreich) bestätigt wird. In Bezug auf die Anzahl der Verse geht dieses Fragment SP immer mit H zusammen, denn wo H gegenüber D eine größere Anzahl an Versen aufweist, gibt es Übereinstimmung mit SP. Über weite Strecken gehen H und D (und für den letzten Teil auch B) parallel ohne schwerwiegende Abweichungen“ (Buschinger 2004, S. XII). 303 Vgl. Buschinger/Spiewok 1993, S. XXI. 304 Vgl. Buschinger 2004, S. XII–XIV; XIV–XVI.
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Während diese in der H-Fassung die Tristrant-Minne305 auf dem Gipfelpunkt einer Episodenserie ins Exemplarische steigert und sich hierzu Erzählerpartien und Figurendialoge ergänzend abwechseln, kommt etwa jener zentrale Dialog zwischen König Marke und Tristrant in B gar nicht und in D lediglich „stark gekürzt“306 vor. Buschinger bezeichnet die Dialogpartie der Narrenepisode als „eine große Fuge, eine einzige Variation über das Thema der Liebe, die Tristrant zu Isalde hegt, ein Bravourstück mit einer ständigen Steigerung der Gefühle“307 . Wir werden bei den Episodeninterpretationen, gestützt auf Buschingers Edition von 2004 (Tr-E), noch darauf zurückkommen, inwiefern dieser Dialog in besonderer Weise auch hierfür ein spezielles Exemplum ist: für die literarische Zusammengehörigkeit von Narrheit und Ästhetik, für Perspektivität und Fokalisierung sowie für die Grenzlabilisierung des Normativen in der Erzählkunst des Mittelalters. Hinsichtlich der Intensität der Darstellung konstatiert Buschinger, dass [s]owohl in der Minnetrankepisode, als auch im Waldleben, in der Wolfsfallen-Episode, in der Narren- und in der Liebestod-Szene […] Tristrants und Isaldens wechselseitige Liebe, ihre Liebesverbundenheit in der H-Redaktion viel intensiver und prägnanter dargestellt [wird] als in der D-Redaktion.308
Als Textgrundlage erscheint folglich die Heidelberger Handschrift am geeignetsten, da diese in weitaus höherem Maße eine Vergleichbarkeit mit anderen Texten über Narrheit und Ästhetik aufweist. Für ein narratologisches Interesse am Erzählen von und über Narrenfiguren ist es zunächst unverzichtbar, auf den Prolog und den Handlungsverlauf einzugehen. Die Prologpoetologie Eilharts nimmt bereits vorweg, was etwa das schwankhafte Märe Von dem ritter mit der halben birn (Konrads von Würzburg?) strukturanalog bieten wird: ein Verhältnis von Erzähler und Publikum, das strukturell intrikat ist, da die Argumentationslogik des Prologes sich als tendenziell manipulativ und potentiell ausgrenzend lesen lässt.
305 Zum konzeptuellen Vergleich der Minne bei Eilhart und bei Gottfried vgl. Dagmar Mikaschköthner: Zur Konzeption der Tristanminne bei Eilhart von Oberg und Gottfried von Straßburg. Stuttgart 1991 (= Helfant Studien 7). 306 Buschinger 2004, S. XX. 307 Ebd. 308 Buschinger 2004, S. XXIII.
Intrigante Anomalie und Ästhetik: Tristrant und Isalde Eilharts von Oberg
2.1.1 Poetologisches in Prologperspektiven Syd mir ze sagen geschicht lütten, die man hie sicht und bringent mich dar zuo, williglichen eß tuo, so ich aller beste kan. (Tr-E 1–5)
Mittelalterliche Erzähler von Betrugsgeschichten und von Betrügern haben zumeist zweierlei Probleme: die Wahrheit und die Utilitas des von ihnen Erzählten. Dass in diesem Zusammenhang Prologe und Schlussgestaltungen von Ehebruchsgeschichten ihrerseits immer argumentative wie rhetorische Herausforderungen sind, wird auch bei Eilhart, Ulrich von Türheim309 und Heinrich von Freiberg310 deutlich; 309 In der Textausgabe von Spiewok in Zusammenarbeit mit Buschinger (= Tr-U) geht dem Handlungseinstieg ein 39 Verse umfassender Prolog voraus, der sich aber als Hinführung zu einem Fortsetzungstext eines vorgängigen Werkes schwerlich mit den Prologen Eilharts oder gar Gottfrieds vergleichen lässt. Reflexionen über Poetologisches sind bei Ulrich ebenso wenig zu finden wie kunstvolle Versuche von Rezeptionssteuerungen, die mit der Publikumsadressierung sogleich auch das Verhältnis des Publikums zu Werk und Erzähler/Autor strukturell vorwegnähmen. Ulrichs Prolog ist ebenso knapp wie topisch: Die ersten 18 Verse gelten dem Preis des literarischen Vorbilds (vil kunstliche geschichte […] kein getihte an spruhhen ist so glanz, / daz ez von kunste ge der vur […]; Tr-U 9–12) und der Klage über den Verlust des Meisters Gottfried (owe der hercelicher clage; 15–17), dessen schier unüberbietbare Kunst unvollendet geblieben ist. In verhaltener Demut schickt sich nun das sprechende Ich an, das Kunstwerk des verstorbenen Gottfried selbst nach bestem Vermögen (als ich aller beste kan; 22) fortzusetzen. Hierauf folgt der Auftragstopos, der als Dienst zur Gunsterringung der Herzensdame (daz er mines dienstes werde vor / unde im genade von ir geschehe; 30f.) des Mäzens (Kunrat der schenke von Winterstetten; 26) geschildert wird. Der Prolog schließt mit dem Preis des Gönners und der Aussicht auf eine ‚selbstlobende‘ adaequatio von eigenem literarischem Vermögen, das der Einzigartigkeit der Gönnertugend (ez tut mit gute nieman bas; 38) entsprechen möge. 310 Heinrich von Freiberg hat seinem Fortsetzungswerk zwar einen umfangreicheren und ästhetisch anspruchsvolleren Prolog vorangestellt, als es Ulrich von Türheim getan hat, allerdings fehlt auch diesem die rhetorische Raffinesse Gottfrieds, da er ebenfalls weitestgehend im prologtypisch Topischen verharrt: Den Ausgang bildet eine stilistisch an Gottfried angelehnte anaphorische Zeitklage (wo […] wo […] wo […] wo […] wo; Tr-H 1–5) über den Verlust bildreicher Dichterworte (so blunde red; 12) und poetischer Sprache (schoner red; 13). Diese mündet früh (V. 6) in koketter Bescheidenheitstopik der Selbstnennung (daz ich zwivele dar an, / ob ich indert vinden kann / in mines sinnes gehue ge / red […]; 25–28) als Erbe und Fortsetzer Meister Gottfrieds, dem über textile Metaphorik (so richer rede cleit; 21) abermals Lob zuteil wird. Der Gottfried-Preis bzw. das Lob für seine Dichtkunst führt abermals zu thematisiertem (Selbst-)Zweifel (ich tummer kunstenloser man; 46) über die eigene dichterische Qualität. Hierauf folgt die Klage über den Tod des bekränzten Dichtervorbildes Gottfried. Da die Geschichte von Tristan und Isolde durch Gottfrieds Ableben Fragment geblieben sei, mache es sich Heinrich zur Aufgabe, sofern Gott ihm dazu Gelegenheit
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zumal dann, wenn vergleichend auch der Textanfang bei Gottfried von Straßburg mit einbezogen wird. Im Gegensatz zu Gottfrieds Prolog ist derjenige von Eilhart nicht von ästhetischer Raffinesse und rhetorischer Durchtriebenheit.311 Vielmehr weist dieser die gängigen Topoi auf, mit denen mittelalterliche Erzähler in tatsächlicher wie in literarischsimulierter Performanz312 oder immediacy of orality313 ihr Publikum mit Versuchen von Rezeptionssteuerungen willkommen heißen: „The prologue evokes recital to an audience of listeners: the narrator is to tell a story to the people he sees before him (vv. 1f.).“314 Diese Usancen implizieren aber bereits, inwiefern nicht nur Romanästhetik und Narrenepisode, sondern auch dargestellte Torheit mit ihren Aspekten des (V-) Erkennens respektive Ausgrenzens und das Romanganze aufeinander bezogen sind. Der Prologeinstieg (V. 1–5)315 ist ganz auf die Kontaktaufnahme mit dem imaginierten Publikum, die vermeintliche Auftragssituation des Erzählens und die Versicherung des Vortragenden ausgerichtet, bereitwillig und nach bestem Vermögen der Aufforderung zu erzählen genügen zu wollen. Die lau wirkende Motivation des Ich-Erzählers erfährt unmittelbar ihre Begründung, denn der unfreiwillige, aber pflichtbewusste Erzähler tritt mit der Urangst eines jeden Vortragskünstlers vor sein Publikum: zu missfallen. Die Inszenierung des furchtsamen Erzählers ist mit Blick auf die Erzählung ästhetisch produktiv. Die Vorwegnahme möglicher Störungen von Unwilligen im Publikum fungiert unmittelbar als Spannungsaufbau: Wieso sollte man die zu erzählende Geschichte nicht hören wollen? Inwiefern ist diese – deren Stoff oder Machart? – so geartet, dass sie polarisieren muss? Die sich dem Rezipienten unausweichlich stellenden Fragen zeitigen bereits einen doppelten Effekt. Die Erzählung der Geschichte hat noch nicht einmal begonnen, da befindet sich das Publikum bereits fest in der souveränen Hand eines Erzählers, der im Impliziten ästhetische Qualität zu suggerieren versteht, kann doch Erzähltes
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biete, dieses zu vollenden. Veranlasst habe diese Mühen die ausführlich gepriesene Tugendhaftigkeit (zucht, maze mit bescheidenheit; / sin ellenhaftes herce treit / manheit, truwe und milte; 69–71) seines Gönners Reinmund von Lichtenberg. Zum Prolog als Ausweis literarischer wie rhetorischer Kenntnisse Eilharts vgl. Chinca 2000, S. 118f. Gerade das disziplinierende Auftreten von Eilharts Erzähler unterstreicht Oralität: „The authorical presence in Eilhart’s text therefore combines literate compositional activity with a narrational role conditioned by oral recital“ (Chinca 2000, S. 119). Ebd. Ebd. Syd mir ze sagen geschicht / lütten, die man hie sicht / und bringent mich dar zuo, / williglichen eß tuo, / so ich aller beste kan (Tr-E 1–5).
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einzig potentiellen ‚Widerwillen‘ erregen, wenn ihm bereits die Wirkungsästhetik zugeschrieben wird, unmittelbar das Affektive der Zuhörerschaft treffen zu können. Ein Exklusivitätstopos, vergleichbar mit Gottfrieds edele[n] herzen316 , ist bei Eilhart nicht auf den Begriff gebracht, kommt aber ebenso unverhohlen vor. Gottfried verschafft sich bekanntlich nicht nur durch das Motiv jenes moralisch entlastenden Minnetrankes die Lizenz, eine prekäre Ehebruchsgeschichte auszubreiten, sondern auch dadurch, nur für den moralisch wie intellektuell Geeigneten vortragen zu wollen, der bei wechselseitiger Entsprechung von ästhetischer Kompetenz und ethischem Anspruch, seinerseits zwanghaft, die Erzählkunst Gottfrieds goutieren müsse.317 Potentielle Kritiker des Eilhart’schen Erzählers werden nun ihrerseits schier grundloser, lediglich wesensgemäßer Boshaftigkeit und Undankbarkeit bezichtigt.318 Ohne mögliche Einwände gegen Erzählgut und -weise auch nur anzudeuten, sichert sich die Erzählinstanz des Prologes martialisch gegen potentielle Kritiker ab: „[H]e warns troublemakers to desist (vv. 6–29) and pleads for silence (v. 31) before prefacing the narrative proper with an inventory of its themes (joy, sorrow, wordly wisdom, manly prowess, love) to which the audience are exhorted to listen (vv. 47–53).“319 Potentiell Unaufmerksame werden als ebenso unbelehrbar wie verstockt stigmatisiert, da ir hertz so kranckeß (Tr-E 15). Die hieraus folgende Konsequenz für den Umgang mit derart Schimpf- und Spottwürdigen liegt auf der Hand, folgt doch auf verbale Stigmatisierung exkludierende Marginalisierung: daß sÿ so undanckeß / miessent unß entwichen (Tr-E 16f.). Der eben noch bänglich Vortragende kom-
316 Mehrfach thematisiert Gottfried jene nobilitas cordis, die sowohl auf die Erzählerinstanz als auch auf seine Protagonisten und auch auf das von ihm adressierte Publikum Anwendung findet: Ich hân mir eine unmüezekeit / der werlt ze liebe vür geleit / und edelen herzen z’einer hage, / den herzen, den ich herze trage, / der werlde, in die mîn herze siht. […] diu samet in eime herzen treit / ir süeze sûr, ir liebez leit, / ir herzeliep, ir senede nôt, / ir liebez leben, ir leiden tôt, / ir lieben tôt, ir leidez leben (Tr-G 45–63). Das hier bereits anklingende Ethos, um der absoluten Minne willen auch Leid und Tod gutzuheißen, reflektiert implizit bereits die Unmöglichkeit einer ‚Problemlösung‘. Die wahre Minne ist nicht ohne bitteres Leid zu haben. 317 Gottfried von Straßburg verführt sein Publikum im Prolog durch Ineinssetzungen von Gutem und Schönem (Tr-G 1–24), ethischer Wertschätzung (daz guote; Tr-G 30) und Literaturkritik ([c]unst unde nâhe sehender sin; Tr-G 32), bannt en passent potentielle Kritiker durch unterstellten Kollegenneid (geherberget nît zuo z’in, / er leschet kunst unde sin. Tr-G 35f.) und verbindet die Zeitklage ([i]r ist sô vil, die des nu pflegent, / daz si daz guote z’übele wegent […]. Tr-G 29–32) mit dem Topos schwerer Erkennbarkeit sittlicher und künstlerischer Vollkommenheit ([h]ei tugent, wie smal sint dîne stege […]. Tr-G 37–40). Potentiellen Störern wird auch fernerhin böß syt (Tr-E 22) unterstellt. 318 boßhait mag man sy gelichen (Tr-E 18), die die Geschichte nicht hören oder dem Vortragenden kritisch, vielleicht sogar störend, gegenübertreten. 319 Chinca 2000, S. 119.
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pensiert jetzt Furcht mit Aggressivität und Wirkungsunsicherheit mit didaktischer Emphase: die selben warn ich hie mit, daß in der selb böß sÿt wern genntzlich entwassen und sin sich me mavssen und aller untugend, die böß sind […]. (Tr-E 21–25)
Dadurch, dass nun topisch-argumentativ mit einer Belehrungssentenz nachgelegt wird, zeichnet sich schließlich trennscharf ab, von welcher Art von Publikumsgruppen immer auszugehen sei: […] wann der ist an tugend blind, der solch red zerstört, die man gern hört und nutz ist, wirt sÿ vernomen. (Tr-E 26–29)
Es ist eben immer mit Weisen und mit Narren zu rechnen: mit Ästheten, die Sinn für literarisches Vergnügen und für die Nützlichkeit von Literatur haben, und mit störenden ‚Elementen‘, die für die Qualität des Erzählens zu sinnesstumpf sind. Was die Bedeutsamkeit der zu erzählenden Geschichte herausstreichen soll, würdigt zugleich auch deren Vortragenden. Und umgekehrt wird geltend gemacht: Wer diese Erzählung aus Missfallen stört, entblößt sich einzig seiner generellen untugend. Jetzt hat der Gestus des Prologes die Souveränität eines ‚ästhetischen Überzeugungstäters‘ gewonnen, der im Ethischen wie im Ästhetischen selbst über die einzig richtigen Maßstäbe verfügt und somit nur zu Recht Uneinsichtige abstraft und ausschließt, sofern sich diese nicht still verhalten und dessen harren, was ihre eigene Narrheit kurierte: die Wirkung der folgenden Erzählung. Denn sÿ mag mangen fromen / in innern und ussern sinnen (Tr-E 30f.). Hier postuliert der Erzähler selbstbewusst einen neuerlichen Zusammenhang von Narrheit und Ästhetik: die Wirkungsästhetik eigener Erzählkunst tangiert Herz und Verstand. Mit binären Alternativen und exkludierender Logik stimmt Eilharts Erzähler sein Publikum auf ein dichotomes Weltbild ein: Es liegt in der vermeintlichen Freiheit des Literaturinteressierten, Werk und Vortragsweise zu goutieren. Missfallen – Zweifel an der adaequatio der Darstellung oder an deren utilitas – wird aber geahndet: durch ‚Bekehrung‘ oder Ausschluss. Denn, wer keinen Sinn für diese Art von Literatur hat, ist ein Narr, und dies entweder seinem geistigen Vermögen und
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sittlichen Charakter nach oder temporär, so dass man diesen schweigend dulden kann, bis auch er die rechte[…] wavrhait (Tr-E 36) erkennt. Damit ist nun jene Art einer ‚Rezeptionsfalle‘ aufgestellt, wie wir sie auch in den Prologen des Stricker (Pfaffe Amis) oder Gottfrieds von Straßburg320 finden. Aus der Engführung von Ethos und Ästhetik resultiert bekanntlich auch dieser Umkehrschluss: Wer die vorgetragene Geschichte – und damit immer auch deren Erzählweise – nicht ebenso ‚schön‘ wie ‚nützlich‘ findet, ist nicht nur ein ungeeigneter ‚Literaturkritiker‘, sondern in Gänze, weil im moralischen Sinne, ein schlechter Mensch oder, eben noch übler, lediglich die Abart desselben: ein Narr, der das Wahre und Gute verkennt: „Denn derjenige, der beim Vortrag einer solchen Geschichte stört, die man mit Vergnügen hört und die einem jeden Hörer nur Nutzen bringt, ist blind für alles Gute und Wahre.“321 Eilhart stattet das Verhältnis seines Erzählers zum (imaginierten) Publikum mit einer latenten Aggressivität aus, dessen Grundstruktur das Verhältnis von normwahrender Gesellschaft und Normabweichungen widerspiegelt. Dies hat noch einen tieferliegenden, also narratologischen Grund, der sich aber erst aus der ‚Rückschau‘ nach der Gesamtlektüre erschließt. Auch bei Eilhart lebt das Poetologische des Textes wie das ‚Psychologische‘ der Figuren von divergierenden Wissenshorizonten und Perspektiven. So wie Figuren aufgrund von unterschiedlichen Kenntnissen die Zeichenhaftigkeit des Geschehens unterschiedlich deuten (müssen), so verstört
320 Die erste Prologstrophe Gottfrieds ist von hinreichender Vagheit, von welchen ‚guten Taten‘ und entsprechenden ‚Wohltätern‘ eigentlich die Rede ist. Verfänglich ist aber bereits deren nahegelegter Umkehrschluss: Wird jenen die Achtung versagt, die Gutes tun, so wird das Gute selbst missachtet (Tr-G 1–4). Die zweite Strophe legt vereindeutigend nach: Diejenigen werden als ‚Übeltäter‘ ausgewiesen, die gute Taten nicht zur Kenntnis nehmen wollen (Tr-G 5–8). In den beiden Folgestrophen ist dann – ebenfalls noch ohne konkreten Bezug auf Literatur im Allgemeinen oder gar auf das eigene Werk – vom angemessenen Goutieren dessen die Rede, wessen man doch tatsächlich bedürfe, das sich dann auch zu genießen wie zu loben anschicke (Tr-G 13–15). Erst die fünfte Strophe weist einen expliziten Literaturbezug auf. Der Ich-Erzähler lobt die angemessene Urteilskraft all‘ jener, die Autor und Werk richtig zu bewerten verstünden (Tr-G 16–20). Der argumentative Folgeschritt hat nun seinerseits jene logische Raffinesse, für die Gottfrieds Prolog berühmt ist: Jetzt werden Kunst/Literatur und Publikumsanerkennung in ein wechselseitiges Bedingungsverhältnis gesetzt und damit die Existenz der Kunst als von (angemessenem) Lob abhängig dargestellt (Tr-G 21–28). Es sind also Gönner und Publikum für die Existenz der Kunst mitverantwortlich. Über die Topik der Zeitklage, gegenwärtig herrsche im Publikum Verunsicherung über die Unterscheidung von guter und schlechter Kunst (Tr-G 29–32), findet der Prolog in der nächsten Strophe zu einem Seitenhieb gegen potentiell kritische Kollegen, deren Neid sowohl Kunst als auch Urteilskraft zerstöre (Tr-G 33–36), denn schließlich, so die finale Konsequenz, die genial gegen Negativurteile feit, seien die Wege (zu ästhetischer wie ethischer) Vollkommenheit schwer zugänglich (Tr-G 37–40). 321 Tr-H, S. 1.
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die Handlung doch zuweilen durch die Tragik des Verkennens und die changierenden Machtverhältnisse, Bedeutungen setzen zu können. Denn Wahrheit und Lüge, Schein und Sein, Arbitrarität und Konventionalität des Zeichenhaften zählen zu den Hauptthemen auch dieser intriganten Liebesgeschichten von Tristrant und Isalde, Isalde und Marke sowie Marke und Tristrant. Hierzu gehört schließlich auch das Ende der von Eilhart erzählten Liebeskatastrophe. Die zwanghafte Wirkung eines Zaubertrankes bindet die Liebenden Tristrant und Isalde ebenso aneinander wie dessen Magie die beiden im Trennungsfalle mit dem Tode bedroht, der allerdings immer auch von anderen Seiten bevorstehen kann, sollte das ehebrecherische Paar entdeckt werden. Bevor sich der Erzähler am Werkende abermals in Erinnerung ruft, um mit seinem ebenso phantastischen wie poetisch tröstlichen Bild sich umschlingender Rosen- und Weinstöcke über dem Grab des Liebespaares zu enden, hat die ihrerseits tragische Marke-Figur ein letztes Wort. Nach der Anrufung Gottes, der einzigen Instanz ohne beschränkten Wissenshorizont, bricht aus König Marke, dessen Herz wohlgemerkt seiner Frau wie seinem Neffen gehört, unbändige Verzweiflung hervor: Hätte er vom Minnetrank gewusst, dann wäre alles zu vermeiden und glückliches Zusammenleben aller drei möglich gewesen. Hier äußert sich bei Eilhart eine Figurenweltsicht, die die Liebeskatastrophe im Anthropologischen gründen lässt: ouch waß eß ain groß torhait, / daß sie mir eß nit sagten […] (Tr-E 9684f.). Im Leben wie in der Literatur findet Katastrophisches seinen unüberbietbaren Steigerungspunkt in der Feststellung, dass es so vermeidbar wie unnötig gewesen ist. Die Sinnlosigkeit der Katastrophe, die hätte verhindert werden können, ist die bitterste Tragik. Das Mittelhochdeutsche hat auch für schuldloses Verkennen der Wahrheit, mithin für die individuelle Begrenztheit des Erkenntnisvermögens, einen Begriff, dessen moralisch aufgeladene Bedeutungsvarianten ihrerseits Perspektivität ins Spiel bringen: torhait. 2.1.2 Handlungsstrukturierung als Fokussierung des Narren-Abenteuers Anders als in den Episodengedichten der Folies Tristan steht die Narrenpartie bei Eilhart in einem größeren strukturellen Zusammenhang. Da diese als letztes Verkleidungsabenteuer nach einer Serie von Wiederkehrintrigen erzählt wird, ist der vorausgehende Handlungsverlauf für eine eingehendere Analyse der Narrenepisode322 auch im Hinblick auf die alternativen Gestaltungen Ulrichs von Türheim und
322 Schon Lichtenstein hat auf die Verkleidungsabenteuer Tristrants hingewiesen als Spezifikum „in Spielmannskreisen“. Vgl. Franz Lichtenstein: [Kap.] Die französische Quelle. In: Eilhart von Oberg. Hrsg. von Franz Lichtenstein. Nachdruck der Ausgabe Straßburg und London 1877. Hildesheim/New York 1973 (= Quellen und Forschungen zur Sprach- und Culturgeschichte der germanischen Völker XIX), S. CXXX–CXXXII.
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Heinrichs von Freiberg323 unverzichbar. Auf der Basis eines solchen Handlungsüberblickes kann auch der Zusammenhang von Narren- und Minnedarstellung dargelegt werden. So wird auch zu diskutieren sein, inwiefern die Gesamtheit der Erzählsequenz von Tristrants Abstieg vom Ritter zum Narren als „Zeichen für Eilharts negative Einschätzung passionierter Liebe und für den unversöhnlichen Gegensatz von ‚love‘ und ‚honor‘“324 aufzufassen ist. Bereits Müller hat jedoch Einwände gegenüber dieser Sichtweise von Ferrante geltend gemacht, weil zwar „[d]ie Dissoziation von Liebe und Ehre […] nicht zu übersehen“ sei, „ihre Bewertung vom Standpunkt christlicher Ehemoral [aber] zweifelhaft“325 bleibe. Die Narrenepisode bildet zum einen den Abschluss einer Serie von Verkleidungsund Rollentauschszenen und zum anderen versieht sie diese zunächst beliebig fortsetzbar erscheinende Sequenz von Identitätswechseln des Intriganten, an deren „Abfolge [das] strukturierende Steigerungsprinzip“326 ablesbar wird, irreversibel mit dem End- bzw. Umschlagspunkt ins Katastrophische. Zur Herausstellung der Handlungsstruktur als Episodenabfolge bei Eilhart sind die Überschriften der Heidelberger Fassung, die in D und B durchweg fehlen327 , nur bedingt nützlich. Inhaltlich konstituiert sich der Handlungsaufbau aus dem Nacheinander von Elternliebe und Jugendgeschichte (Erziehung Tristrants), Tristrants Leben am Hofe Markes und seinen Diensten für den König (Moroldkampf und Werbungsfahrt nach Irland). Mit der Einnahme des Minnetrankes setzt ein zweiter zusammenhängender Handlungsabschnitt ein, der die Episoden um die Liebesverwirklichung und deren vergebliche Verheimlichung umfasst. Das außerhöfische ‚Liebesleben‘ von Tristrant und Isalde bildet eine nächste Erzähleinheit, an die sich schließlich die diversen Rückkehrabenteuer anfügen.
323 Auch bei Heinrich von Freiberg setzt die Handlung seiner Tristan-Fortsetzung Gottfrieds von Straßburg mit dem ablenkenden Zuwendungsversuch Tristans zur Schwester seines Freundes Kaedin (Isolde Weißhand) ein. 324 Müller 1990, S. 31; Joan M. Ferrante: The Conflict of Love and Honor. The Medieval Tristan Legends in France, Germany and Italy. Paris 1973, S. 144f. 325 Müller 1990, S. 31. 326 Marie-Sophie Masse: „so ward ich durch sie tore.“ Narrheit und Liebespassion im Tristrant Eilharts von Oberg. In: Der Narr in der deutschen Literatur im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Kolloquium in Nancey (13.–14. März 2008). Hrsg. von Jean Schillinger. Bern/Berlin/Bruxelles [u. a.] 2009 (= Jahrbuch für Internationale Germanistik. Reihe A: Kongressberichte 96), S. 13–28, hier S. 16. 327 Vgl. TR-E S. 4, Anm. 28. In der Edition von Buschinger (1993) erscheinen zudem sowohl Überschriften aus der Handschrift H als auch Kapitelbezeichnungen, die dann in der neuhochdeutschen Inhaltsübersicht nicht mehr zu unterscheiden sind. Zum Handlungsüberblick bei Eilhart von Oberg vgl. auch Heinz Stolte: Eilhart und Gottfried. Studie über Motivreim und Aufbaustil. Halle 1941 (= Sprache – Volkstum – Stil. Forschungen zur deutschen Literaturgeschichte und Volkskunde 1), S. 13; zum Handlungsverlauf bei Gottfried vgl. ebd., S. 14.
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2.1.3 Tristrant und Isalde im Handlungsüberblick Eilharts Roman lässt sich strukturell als Verzahnung affektmotivierter Intrigen und Gegenintrigen charakterisieren. Um die Phasierung der Intrigenhandlung(en) deutlich hervortreten zu lassen, kann man ihn in einem Überblick zusammenfassen: 1) Elternliebe und der junge Tristrant (Moroldkampf, Heilungs- und Werbungsfahrt) 2) Minnetrank und scheiternde Verheimlichung der Liebe (Brangene, Kampf um die Liebe) 3) Verurteilung, Flucht und Waldleben 4) Wiederkehrabenteuer: a) Wolfeisen-Episode328 b) Bracken-Episode Weitere Intrigantenszenen mit Tristrant als: c) Aussätziger329 d) Pilger330 e) Spielmann331 f) Tor332
Im Tristan-Stoff zieht der Minnetrank per se intrigantes Liebesleben nach sich. Zudem ersinnen Neider Überführungsintrigen, die von den Liebenden mit Gegenintrigen pariert werden. Dieser Motivationslogik entspricht jene, der zufolge Verrat zwangsläufig Leid und Zorn hervorbringt, so dass Liebeszwang (Tristan und Isolde) und enttäuschte Liebe (Marke) ihrerseits immer neue Verletzungen und somit Racheimpulse generieren. Mit Eilharts (vollständiger) Erzählfassung des Tristan-Stoffes liegt hingegen eine Handlungsvariante vor, bei der durch magisch begrenzte Minnetrankwirkung eigene Kausalitäten und Motivationen jenseits der immer bereits subversiven Natur der Liebe geschaffen werden.333
328 Zur sog. ‚Wolfeisen-Episode’ vgl. Anja Becker: Körper, Selbst, Schöpfung. Körper und Identität in den Rückkehrabenteuern der Tristan-Tradition. In: PBB 131 (2009), Heft 2, S. 277–307, hier S. 282–284. 329 Vgl. ebd., S. 284; Müller 1990, S. 31. 330 Vgl. Becker 2009, S. 284f.; Müller 1990, S. 32. 331 Vgl. Becker 2009, S. 285f.; Müller 1990, S. 32. 332 Vgl. Becker 2009, S. 286f.; Schausten 1999, S. 80–83; Müller 1990, S. 32–35. 333 „Zwei Liebende machen zusammen eine eigene Ordnung, eine neue Ordnung. Sie wird von ihnen erfahren wie eine neue Welt und ist doch eingelassen in die Welt der anderen. Insofern diese eigene
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Eine Motivationslogik, die ihre Fortsetzungsenergie aus der kausalen Verzahnung von magischer Wirksamkeit und natürlichem Affekt oder aus abenteuerbedingtem Verlust der Ehre und deren alternativloser Restituierung bezieht334 , ist als narratologische Struktur zunächst linear und dadurch auch uneingeschränkt fortsetzbar. Die Eilhart’sche Fassung erzählt nach Müller vor dem Horizont einer laikalen Kriegergesellschaft eine befremdliche Geschichte, in die die Liebe als das ‚ganz Andere‘ einbricht, zunächst als Droge jeder Frage entzogen, dann mit hergebrachten Verhaltensmustern (Ehre) erklärt, doch schließlich die verbindlichen Wertvorstellungen destruierend. Poetisches Mittel dazu ist der Schwank.335
Dass jedoch Eilharts schwankartiges Erzählen nicht auf Lächerlichkeit, Pointenzentrierung, Denunziation oder Banalisierung der „Liebespassion“336 abzielt, rückt nicht nur eine Ästhetik in den Blick, die sich mitnichten „als Relikt einer rohen, ‚spielmännischen‘ Erzählkunst“337 fassen ließe. Vielmehr veranschaulicht gerade die Narrenthematik, die sich besonders im Schwank als „verkehrte[r] Welt“338 realisieren lässt, das subversive Potential einer Fiktion, die in ihrer „Ästhetik der Negation“339 gerade das Gegenteil von normativer Repressivität als Negativdidaxe repräsentiert. Denn „die Entstellung zum Narren, die brutalen Späße, das ekelhafte Liebesmahl spiegeln in der Verkehrung die Größe des Opfers. Der Schwank inszeniert die Abweichung, doch ohne Sanktionen herauszufordern.“340 Damit wird im Ästhetischen – provokant – vorgeführt, dass vor dem Hintergrund nicht hinterfragbarer Normativität das Andere sein Existenzrecht als und in der Negation behaupten kann.
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Welt der zwei Liebenden eine neue ist und eine andere, ist sie also bereits auf Konflikt angelegt. Sie ist naturwüchsig subversiv“ (von Matt 1991, S. 61). Vgl. Schausten 1999, S. 77, Anm. 96. Zur Motivation von Tristrants Rückkehrabenteuern vor der Narrenepisode und mithin vor dem Nachlassen der Trankwirkung vgl. Müller 1990, S. 26–30. Ebd., S. 36. Müller verweist (1990, S. 36) auf Wolfgang Mohr: Tristan und Isolde. In: GRM 57 N. F. 26 (1976), S. 54–83, hier S. 69 und Daniel Rocher: Les trois mariages du roman de Tristan. In: CÉ Germ. 7 (1983), S. 93–119, hier S. 114, die diese spezielle Variante des Schwankhaften bei Eilhart bereits betont haben. Müller 1990, S. 36. Ebd. Ebd. Ebd.
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Minne-torhait(en) von Betrügern und Betrogenen
Vordergründig scheint die höfisch-hierarchische Gesellschaft Eilharts einem genuin dichotomen Weltbild zu entsprechen, das scheinbar unhinterfragte wie unhinterfragbare Leitparadigmen konstituiert: Ethos und Norm, Wahrheit und Lüge, Weisheit und Torheit. Allerdings hat Eilharts Prolog schon am Ende der Vorrede erste Verunsicherungen ästhetisch produktiv werden lassen. Auch in diesem Prolog scheint eine Spannung zwischen postulierter utilitas als Steigerung der intellektuellen Fähigkeiten sowie der moralischen Urteilskompetenz des Publikums und dem Tristan-Stoff als einer durch und durch intriganten Ehebruchsgeschichte mit schwankhaften Verkleidungsepisoden auf. Im Folgenden soll gezeigt werden, inwiefern Stoff und Poetik eine Ästhetik des Subversiven aufweisen, die aus der Darstellung des Intrigengeschehens und der Narrheit sämtlicher Figuren resultiert. Voraussetzungen hierzu sind deren Potentiale zu ambivalenten Handlungen, perspektivischem Wahrnehmen und spezifischer Kompetenz zum Betrügen und zum Betrogenwerden. Es wird sich zeigen lassen, dass die Ästhetik der Intrige auch die moralische Urteilskraft des Publikums unterminiert. Mesalliancen, uneheliche Verbindungen (Riwalin und Blancheflur), die zu tabuisierten Verhältnissen gesteigert werden (Eheund Loyalitätsbruch Tristrants und Isaldes), erzwingen aus sich heraus Heimlichkeit und diese ihrerseits Hinterlist.341 Als Voraussetzung sämtlichen Intrigengeschehens gilt somit für das Personalganze von Eilharts fiktiver Welt, dass seine Akteure, Protagonisten wie Nebenfiguren, allenthalben von Affekten und durch ihre Perspektiven mit divergenten Wissenshorizonten fremdbestimmt und in diesem Sinne Toren sind.342 Nur die getreuen Helfer Brangene und Kurneval wissen vor dem Handlungsende um den Minnetrank, alle anderen Figuren sind auf ihre Weise ‚minneblind‘ – ihnen fehlt die Erkenntnismöglichkeit der gänzlich amoralischen Schicksalhaftigkeit der Minne von Tristrant und Isalde, so dass sie allesamt Opfer ihrer per se zu kurz greifenden Schlussfolgerungen werden müssen. Da ein derart weiter Begriff von Narrheit bei Eilhart grundlegend ist, soll eine Analyse der Figurenkonstellation Isolde-Tristrant-Marke Eilharts Intrigenästhetik eingehender beleuchten. Mit dieser ist dann das Fundament gelegt, Eilharts Darstellungsweise der Verkleidungsabenteuer und der Narrenepisode zu betrachten.
341 Zur Ästhetik der Hinterlist vgl. von Matt 2006. 342 ‚Fremdbestimmtheit‘ wird hierbei als „abweichende Verhaltensformen, körperl. oder geistige Defekte“ manifest, die ihrerseits im juristischen Sinne etwa des Sachsenspiegels systemlogisch mit Straffreiheit korrelieren (vgl. Mezger 1999, Sp. 1023–1026).
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Der betrügende Betrogene
An der Figur von Eilharts König Marke lässt sich zeigen, dass sich Narrheit und Intrige wechselseitig bedingen: Markes Zuneigung zu seinem Neffen ist die auslösende Notlage eigenen intriganten Handelns. Sein heroischer Neffe, der unbedingt Ritter werden will, ist gegenüber dem ihm so zugewandten Onkel bereits Intrigant, bevor von Minnetrank und Minnehandlung erzählt wird. Höfische Szenen der Schwertleite und der Kampfausstattung werden zu Austragungsorten von anders gearteten Figurenintentionen wie deren Requisiten zu Intrigeninstrumenten dissimulierter Zuneigung mutieren. Was man über König Marke zu Beginn erfährt, ist zweierlei: seine Unfähigkeit, aus eigenen Kräften den militärischen Konflikt mit dem schottischen König auszufechten und seine höfische Exklusivität, die den vortrefflichen Riwalin zusätzlich motiviert343 , dem bedrängten König zu Hilfe zu eilen.344 Aus dessen Verbindung mit Markes Schwester Blancheflur geht bekanntlich der uneheliche Neffe des Königs hervor.345 Bei Eilhart gewinnt Markes Charakter diskret dosiert erst mehr an Kontur, als Tristrant seinem Onkel das erste Mal gegenübertritt: do er [Tristrant] fúr den kúng gieng, / der herr in empfieng / gar minneglichen (Tr-E 306–308).346 Die bloße Bitte Tristrants, am Hof verweilen zu dürfen, reicht schon, damit Marke die Favorisierung seines Neffen durch eine erste Privilegierung zu realisieren beginnt, wenn er seinem Marschall die absolute Bevorzugung des Neuankömmlings zur eigenen Aufgabe macht: er gebot dem marschalck daß, daß er sin pfläg baß dan der andern kain. (Tr-E 330–332)
Weitere Begünstigungen, entsprungen aus der Zuneigung des fürsorglichen Königs, werden folgen. So stattet Marke seinen geliebten Neffen reichlich und sogar mit sin selbß hande (Tr-E 801) vor dem Kampf gegen Morolt aus. Und der Erzähler liefert
343 Gottfried motiviert Riwalins Fahrt zum Markehof mit dessen vorbildlicher Fama: aldâ dâhte er belîben, / […] und von im werden tugenthaft / und lernen niuwan ritterschaft / und ebenen sîne site baz (Tr-G 455–459). 344 Vgl. Tr-E 77–88. 345 Vgl. ebd. 95–114. 346 In der handschriftlichen Überlieferung differiert hier die Wortwahl bedeutsam. Während in H Markes Willkommen Tristrants minneglich[] (Tr-E 308) ausfällt, ist in D lediglich der hêre in dô wol entvîng (Tr-E, S. 11, Anm. 123) zu lesen.
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die Begründung gleich mit: da waren frúntliche ding! / lieb ward dar an wol schin (803f.).347 Im Konflikt gegen Morolt kann selbst der ruhmsüchtigste junge Held nur dann antreten, wenn er als standesadäquater Gegner auftritt. In diesem Sinne ist der Moroltkampf einerseits Anlass zu Schwertleite und Ausrüstung Tristrants und andererseits durch dessen gestörte Genealogie Markes Gelegenheit, Kosten und Aufwand jenes höfischen Initiationsrituals zu übernehmen, das auch Gönner und Favorit miteinander verbindet. Der Motivkomplex des Moroltkonfliktes ist folglich auch ein ästhetisches Beispiel dafür, wie Eilhart unterschiedlichste Figurenintentionen dadurch miteinander verknüpft, dass Waffen und Rituale ebenso wie das Begehren der Figuren und deren intrigante Kompensationsstrategien in ihrer Mehrdeutigkeit gezeigt werden: So weiß Tristrant sich gegen den Willen seines Onkels zum Kämpfer gegen Morolt bestimmen zu lassen und ein liebender König seinen Günstling aus vorwandhaftem Ritualanlass zu beschenken. Bereits in der Figurenkonstellation Marke-Tristrant wird der Ehrkonflikt einer Liebe in intrigante Dissimulation überführt.348 Tristrants Kampfeseifer lässt ihn seinerseits gegen einen allzu fürsorglichen Onkel zur Intrige greifen. In einer regelrechten Beratungsszene mit seinem Getreuen Kurneval schlägt ihm dieser vor: „[…] ir súlt den kúng bitten, daß er úch nach sinem sitten zuo ritterschaft bring.“ (Tr-E 520–522)
Marke lehnt das Ansinnen seines Neffen, Ritter werden zu wollen, zunächst mit der Begründung, er sei dazu noch zu jung, ab.349 Zudem zeichnet sich Marke als König durch signifikante Passivität aus: Es ist Tristrant selbst, der um die Schwertleite bittet und diese gegen den Einwand des Königs durchsetzt,350 es ist eben dieser, der (sechzig) weitere Edelknappen bestimmt, die mit ihm gemeinsam zu Rittern
347 In D sogar noch deutlicher: da wart die große libe schin (vgl. Tr-E, S. 26, Anm. 344). 348 Zum Begriff des Favoriten für den jungen Tristan als ‚Freund‘ König Markes vgl. Gruenter 1993, S. 144–147. Marke „bietet Tristan mit Worten, die der Minnesprache entnommen zu sein scheinen, seine Freundschaft an. Er will ihn als Gleichberechtigten bei sich haben. Mit dieser öffentlichen Liebeserklärung erhob er den Diener zum Freund“ (ebd., S. 144). 349 [D]er kúng sprach: „eß ist noch zuo fruo! / du magst wol baitten noch ain javr“ (Tr-E 533f.). 350 Im Kontext dieser Auseinandersetzung erfahren wir ein weiteres Detail über die Schwertleite, das dem auch diskursiv nicht durchsetzungsfähigen König fluchhaft über die Lippen kommt: Während die D-Fassung den Vers „owe, daß du gelebtest disen tag!“ (Tr-E 701) bietet, lautet die gleiche Stelle der Heidelberger Handschrift so: owe daz ich dir y swert gegab! (Tr-E, S. 23, Anm. 293).
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geschlagen werden sollen, und es sind schließlich diese stoltzen wygant, die Tristrant in einem Akt spontaner Ehrbezeigung zum Vortrefflichsten ‚küren‘.351 Eilhart hat das Ritual der ‚Schwertleite‘ im Handlungsgang so dissoziiert, dass tatsächlich eigentlich erst die Ausrüstung zum Moroltkampf die Textpassage ist, die die Erwartungen an (literarische) Schwertleiten erfüllt. Der Grund hierfür liegt auf Figurenebene in Markes Dissimulation seiner Zuneigung zu Tristrant. Der Hof Markes ist demjenigen Morolts an die Küste entgegengekommen und macht Quartier. Als die Zelte aufgeschlagen sind, do hieß Marck dar tragen sinen guotten harnasch so, der im ser lieb waß jo, und gab den Trÿstrande. (Tr-E 797–800)
Marke gelingt hier durch seine Zurückhaltung als öffentlicher Ritualmeister seines Hofes Sublimes im Beiläufigen. Nicht rituelle Äußerlichkeit, sondern vielmehr veräußerlichte Innerlichkeit ist mit Blick auf den Favoriten seine Sache. Anstelle der feierlichen Ausstattung im Rahmen der Schwertleite kleidet Marke seinen Neffen vor dem Kampf exklusiv und höchst bedeutsam mit seinem eigenen Harnisch ein, der ihm lieb und teuer ist. Dieser ist gleich in mehrfacher Hinsicht repräsentativ: in der Wertschätzung des einstigen Besitzers, mehr aber noch als Gewandmetapher für Stellvertreterschaft, kämpft Tristrant doch so für Cornwall und damit für den König dieses Reiches, während er ein repräsentatives Ausstattungsteil von diesem trägt, das symbolisch vom Patriarchalisch-Fürsorglichen ins Amourös-Inzesthafte spielt. In der Literatur wie im Leben neigt das Lieben zuweilen dazu, Kult mit reliquienhaften Pfändern zu treiben. Tristrants Ausstattung mit von Marke Getragenem wird im weiteren Handlungsverlauf noch komplettiert werden. Nach dieser Ausrüstung vor dem Kampf gegen Morolt kann der König seinen Favoriten verabschiedend liebkosen und seinem Herzen Ausdruck verleihen, ohne das höfische Protokoll zu überschreiten: der kúng in do kust / und truckt in zuo siner brust […] (Tr-E 826f.). Und er kann schließlich unter den Trauernden wie diese tränenüberströmt stehen, wenn der Nache des siechen Tristrant ablegt, weil
351 Kein König legt hier etwa den Sporn an oder überreicht ein Schwert, und kein König schwört die Jungritter auf das Ethos ihres neuerlichen Standes ein. König Marke tritt bei dieser Schilderung einer höfischen Massenpromotion schlichtweg gar nicht in Erscheinung. Das damit ausgebliebene Moment einer neuerlichen, mithin symbolträchtig öffentlichen Bindungsintensivierung zwischen königlichem Onkel und ritterlichem Neffen scheint damit unterblieben zu sein. Aber die Stunde Markes kommt noch.
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der Held mit seiner übelst riechenden Wunde scheinbar nicht zu retten ist. Der Erzähler hebt hervor, dass dieser drohende Verlust des Geliebten (Neffen) der größte Schmerz des Königs sei: dem richen kúng Marcken nie so laid geschach, do er sin lieben nefen sach von dem stad fliessen allain. sin trúw waß nit clain. mit wainenden ougen – sölt ir mir gelouben – sach der kúng nach sinem frúnd […]. (Tr-E 1193–1200)
Tristrants Privilegierung wird zweifellos dort am deutlichsten, wo das Affektive zum gesellschaftlichen Politikum werden muss. Das Vorhaben Markes, zugunsten seines Neffen auf die Ehe verzichten zu wollen, fügte Tristrant an Sohnes statt in die Sukzession der Herrscherdynastie ein. der kúng waß im so hold, daß er durch sinen willen wolt nicht elichß wib pflegen. er daucht, daß er den tegen wolt zuo ainem sun hon und daß er im underton sin rich wölt machen. (Tr-E 1396–1402)
Der Versuch, seiner Zuneigung größtmöglichen Ausdruck zu geben, ohne jedoch moralische Tabugrenzen zu überschreiten, führt seinerseits in ein Dilemma: Die Königswürde des mittelalterlichen Protagonisten verunmöglicht die Minnespielart der Männerliebe, die dieser gleichwohl mit den Mitteln und Möglichkeiten eines liebenden Herrschers verdeckt zu realisieren sucht.352 Dieses Dilemma macht 352 Mit Blick auf die vergleichbare Gefühlsregung und ‚Staatsaktion‘ König Markes in Gottfrieds Tristan hält Gruenter fest: „Marke kann Tristan nicht genug an sich binden, ihn nicht beredt genug seines Wohlwollens und seiner freundschaftlichen Treue versichern. Er kann nicht ‚ohne ihn leben‘ […], und als er ihn nach Parmenien entlassen muß, in großer Furcht, Tristan könne nicht wieder zu ihm zurückkehren, verspricht er Tristan sein Land als Erbe. Das ist nicht nur das selbstloseste Geschenk eines Verwandten und Freundes, der sich hier dem unentbehrlichen Partner völlig zu
Intrigante Anomalie und Ästhetik: Tristrant und Isalde Eilharts von Oberg
den König mit listen (Tr-E 1487) selbst zum intriganten Trickbetrüger, der mit der Macht seines Amtes eine Verehelichung nicht ausschließen, wohl aber durch entsprechend ‚unrealisierbare‘ Brautwahl (Schwalbenepisode) verunmöglichende Heiratsbedingungen arrangieren kann. Was als Wahrung von Herrscheramt und -würde stoffgeschichtlich vorgegeben ist, muss diese paradoxerweise aushöhlen, denn ein König, ohne die potestas respektive die potentia zur Erhaltung der eigenen Dynastie ruft als Widerspruch in sich selbstredend ahndenden Widerstand jener hervor, die durch den politischen Liebesausdruck ihres Königs ins Unrecht gesetzt werden: semlich sinen maugen (Tr-E 1404). Dass der König einen Günstling hat, ist weder moralisch noch politisch prekär, solange sich dies nicht auf die Herrschaftspraxis auswirkt. Denn nicht die Wächter von Tugend und Ehre, von der königlichen Fama als weiterer Herrschaftslegitimation, treten nun auf den Plan, um Tristrant auszuschalten, sondern missgünstige Neider: deß ward avne schuld / Trÿstrand ser genidet (Tr-E 1411f.). Individuelles Begehren und Hofgesellschaft, Affektreizungen und neuerlich einsetzendes Intrigieren erfahren dadurch ihre initiierenden Impulse, dass sich nun im Handlungsgefüge die subtile Sukzessionskompensation eines zuneigungsgelenkten Herrschers, eigensinnige Ruhmsucht seines Favoriten und neidbedingte Verdrängungsintrigen verzahnen: eine Motivik sich wechselseitig bedingender Torheiten ist somit in Gang setzt. Der betrogene Betrüger als Intrigenhelfer
Ein weiteres Beispiel dafür, dass mehrdeutige Handlungen und symbolträchtige Gegenstände, die als Statusrepräsentation auch Intrigeninstrument werden können, die Erzählwelt Eilharts kennzeichnen, sei hier angeführt: die Waldlebenepisode. Das ästhetische Raffinement von Stoffgrundlage und der Fassung Eilharts zeigt sich abermals auch darin, wie die Intriganten Tristrant und Isalde über eigens ersonnene Zeichen und selbst gesetzte Bedeutungen verschlüsselt miteinander kommunizieren, etwa um sich zu verabreden (Blätter und Späne im Bach) oder um durch intrikate Verwendung konventioneller Symbolik Mehrdeutigkeiten zu insinuieren. Exemplarisch hierfür ist auch das Schwert, das Tristrant zwischen sich und Isalde in der Waldlebenepisode legt. Der Erzähler beteuert durch den Gegensatz des gesellschaftsfernen Lebens, der schier lebensbedrohlichen Kargheit der Ernährung und dem Mangel an Kleidung einerseits und der Liebesbeglückungen andererseits, was eben die Wonne der Liebe wundersamer Weise (daß ist ain wunder grovß; 4770) vermag: unterwerfen und ihn zugleich unlösbar zu verpflichten und an sich zu fesseln wünscht, sondern Marke vollzieht hier einen Staatsakt von weitreichender Bedeutung. […] Der König verzichtet Tristan zuliebe auf eigene Nachkommen und unterbricht damit die direkte Erbfolge. Er entsagt gern allen Gatten- und Familienfreuden“ (Gruenter 1993, S. 146).
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ouch waß daß ain kindß spil, sie hetten ouch frovden vil von der grovssen minn. (Tr-E 4740–4742)
Zwar geht Eilhart nicht so weit wie Gottfried, der die Macht der Minne in seiner Liebesgrotten-Episode allegorisch geradezu selbst zum ‚Lebensmittel‘ hypostasiert353 , die Wirkungstendenz der Liebe, gegen existenzbedrohende Entbehrungen zu feien, wird jedoch auch von Eilhart gestaltet. Während Gottfried die TristanMinne durch Allegorie respektive Allegorese in Reinheit steigert354 , findet bei Eilhart die Überhöhung der Liebe dadurch statt, dass diese als keusche Minne inszeniert wird: do waß herr Trÿstrantß sitt, deß volgt im die frow mit: wann sie sich gelegten und mit ain ander retten, daß eß geducht genuog so, sin swert er uß zoch jo und legt eß zwischen sich und sie. (Tr-E 4776–4782)355
353 Gottfried von Straßburg ‚verzichtet‘ in seiner Minnegrotten-Episode auf den Leidensaspekt kulinarischer Entbehrungen des Liebespaares. Die Idealität von Tristan-Minne und Minneort findet ihren Ausdruck auch im sog. ‚Speisewunder‘: si sâhen beide ein ander an, / dâ generten sî sich van (Tr-G 16815f.). Im wechselseitigen Anblick ernährt die Liebe (muot unde minne; Tr-G 16820) bei Gottfried nicht ‚nur‘ als Erfüllung, sondern darüber hinaus auch als Quelle eben jenes Ethos‘, das über die physische Notwendigkeit erhebt, sich in einem trivial körperlichen Sinne zu ernähren: diu reine triuwe (Tr-G 16830). 354 Als Ausdruck der Minne von Tristan und Isolde gilt bei Gottfried die Reinheit ihrer Treue (vgl. Tr-G 16830). In der allegorischen Sphäre der Minnegrotte wird dies bereits durch deren architektonischallegorische Bestandteile vorweggenommen. Expliziert wird dieser Bedeutungsgehalt schließlich in der angefügten Allegorese, deren Didaxe die Bildlichkeit der Grotte auf den Tugendkanon der Tristanminne zurückführt: so etwa auf einvalte an minnen (Tr-G 16932), der minnen kraft (16937), der hôhe muot (16939), der tugende gôz (16943), der durnehte reht (16964) und staete (16970). Ins Innere dieser Grotte kann man ebenfalls nur durch entsprechende Tugendhaftigkeit gelangen, sind doch entsprechende ‚Riegel‘ wie die wîsheit und die sinne (17024), die kiusche und die reine (17026) ‚vorgeschoben‘. Zudem soll die Minne von der ‚Strahlkraft‘ der Tugenden güte, diemüete und zuht beschienen sein (17063–17065). Zu Allegorischem und allegorischer Interpretation vgl. Hartmut Freytag: Die Theorie der allegorischen Schriftdeutung und die Allegorie in deutschen Texten besonders des 11. und 12. Jahrhunderts. Bern 1982. 355 Die Vorsichtsmaßnahme Tristans fällt im Vergleich hierzu so aus: si giengen an ir bette wider / und leiten sich dâ wider nider / von ein ander wol hin dan / reht alse man unde man, / niht alse man
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So findet sie Markes Jägermeister, der seinem König eben diesen Anblick der im Symbolischen der Selbstinszenierung keusch Liebenden verschafft. Das ebenso neue wie ausgestellte Keuschheitsethos von Tristrant und Isalde verfehlt seine Wirkung auf den liebenden Betrachter nicht.356 Der Erzähler hat sich hinter dem Erzählgut ganz zurückgenommen und auch keine Innenperspektive in Figurenwahrnehmung irritiert den Blick des Rezipienten, der nun quasi mit den Augen König Markes das Schwert zwischen den Liebenden liegen sieht. Marke vertauscht bekanntlich Tristrants Schwert, das selbst eine Geschichte hat357 , mit seinem eigenen, ohne den Liebenden ein Leid zuzufügen und platziert seinen Handschuh auf der schlafenden Isalde.358 Die Signifikanz dieser Geste ist freilich nicht nur „rechtssymbolisch bedeutsam genug.“359 Dementsprechend verwundert es kaum, dass hierauf bezogen divergierende Deutungsangebote koexis-
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unde wîp. / dâ lac lîp unde lîp / in vremeder gelegenheit. / ouch haete Tristan geleit / sîn swert bar entwischen sî. / hin dan lac er, her dan lac sî. / si lâgen sunder, ein und ein (Tr-G 17405–17415). Gottfried motiviert die Keuschheitssymbolik des Schwertes zwischen den Liebenden als neuerliche Vorsichtsmaßnahme, droht den beiden doch trotz der allegorischen Schutzmacht der Minnegrotte beständig, von umherschweifenden Jägern entdeckt zu werden (vgl. Tr-G 17398ff.). Von der Geschichte des Schwertes her interpretiert Strohschneider (1993, S. 54f.) die symbolische Bedeutung von Markes Schwerttausch: „Marke selbst hatte dieses Schwert Tristrant bei dessen Schwertleite gegeben (V. 512ff.); im Moroltkampf (V. 767ff., 893), dabei war es schartig geworden (V. 919ff., 965ff.), hatte der Held damit das cornische Reich von der irischen Bedrohung befreit; in Irland dann hatte er mit dieser Waffe den Drachen getötet (V. 1655, 1660ff.) und derart Ysalde für den König erworben; schließlich ist es eben jenes Schwert, mit welchem Tristrant bei der Flucht ins Waldleben die Königin aus der Gewalt der Aussätzigen befreit hatte (V. 4317ff.)“ (Strohschneider 1993, S. 55). Der Anblick des keuschen Beilagers in der Minnegrotte stürzt den hineinblickenden Marke in widerstreitende Gefühle: in Freude über die Unbegründetheit der Verdächtigungen und in Leid wegen seiner eigenen ‚Unterstellungen‘ (vgl. Tr-G 17508–17515). Der so Zweifelnde wird schließlich von Frau Minne heimgesucht und ‚aufgeklärt‘: Es ist deren gespenstikeite (17554) bzw. die Attraktivität der schlafenden Isolde (17557–17607), die Marke betört und täuscht. Die Eilhart’sche Motivik, dass Marke die Schwerter tauscht und seinen Handschuh ablegt, gibt es bei Gottfried nicht. Strohschneider 1993, S. 54. Hier (ebd., Anm. 50) finden sich auch einschlägige Literaturhinweise: Berent Schwineköper: Der Handschuh im Recht, Ämterwesen, Brauch und Volksglauben. Die Erforschung mittelalterlicher Symbole, Wege und Methoden. Unveränd. Nachdr. d. ersten Aufl. Berlin 1938. Mit einer Einführung von P. E. Schramm. Sigmaringen 2 1981, bes. S. 40ff., 54ff., 72ff.; Hans Friedrich Rosenfeld: Handschuh und Schleier. Zur Geschichte eines literarischen Symbols. In: Ders.: Ausgewählte Schriften zur deutschen Literaturgeschichte, germanischen Sprachund Kulturgeschichte und zur deutschen Wort-, Mundart- und Volkskunde. FS H.-F. Rosenfeld. Hrsg. von Hugo Kuhn, Hellmut Rosenfeld und Hans-Jürgen Schubert. Bd. 1. Göppingen 1974 (= GAG 124), S. 1–36, hier S. 9ff., 16ff., 22ff.; Klaus von See: Die Werbung um Brünhild. In: ZfdA 88 (1957/58), S. 1–20, hier S. 10f.; Walter Haug: Struktur und Geschichte. Ein literaturtheoretisches Experiment an mittelalterlichen Texten. In: Ders.: Strukturen als Schlüssel zur Welt. Kleine Schriften zur Erzählliteratur des Mittelalters. Tübingen 1989, S. 247f.
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tieren. Während Mohr in der Geste Markes sieht, dass „Tristrant in die Schranken seines Werbungsauftrages“360 zurückverwiesen werde, argumentiert Strohschneider in gegenteiliger Richtung: Denn nicht nur legt der König sein Schwert zwischen Gattin und Schwestersohn, sondern er nimmt zugleich auch diesem das Schwert weg und steckt es in seine eigene Scheide (V. 4630ff.). […] Der König nimmt also das Schwert seines Vasallen und Werbungshelfers, das diesen als solchen identifiziert (V. 1877ff.: Badeszene), an sich. Und das heißt kaum, daß er […] Tristrant in diese Gefolgschaftsrolle zurückweist […].361
Auch der mitunter entwickelten Deutung, in Markes Schwerttausch könne im Symbolischen eine Überschreibung von Keuschheitsbildlichkeit und Verzichtsausdruck gesehen werden362 , widerspricht Strohschneider363 : „[V]ielmehr bedeutet es, daß Marke Tristrant in sinnbildender Handlung dieser Gefolgschaftsrolle beraubt, daß er also auch konkret den Werbungsauftrag zurücknimmt und jenes Recht usurpiert, das der Werbungshelfer als Drachentöter an der irischen Prinzessin erworben hatte.“364 Für Strohschneider wird hier „Tristrants Rollenkonflikt zwischen Held und Helfer“ revidiert, weswegen „im Anschluß daran die Wirkung des Minnetrankes nachlassen“365 könne. Schwerlich hätte das Dreiecksverhältnis von Isalde, Tristrant und Marke einen trefflicheren ikonographischen Ausdruck finden können, der jetzt im Ikonischen sowohl Dilemmatisches als auch Paradoxes ausmalt. Der König und Gatte vertauscht Tristrants Statussymbol mit den Insignien eigener Standesqualität. Mithin gibt der König, Herrscheramt und -würde entsprechend, die Regularien der Interaktion dadurch vor, dass er es Tristrant gleich tut und es folglich sein Schwert ist, das Gattinnentreue und Favoritenloyalität sichert. Die Heimlichkeit von Markes Symbolhandeln hat zudem den Charakter eines stillschweigenden Zustimmungsgestus, der ebenso von der Larmoyanz des Verzichts wie von der Würde ihrer Freiwilligkeit initiiert ist. Im Dilemmatischen seiner eigenen ‚Tristrant-Minne‘ gibt es für den König einzig noch im Paradoxen, und das heißt für Marke in dieser Dreieckskonstellation: nur im freiwilligen Opfer, eine Restituierungsmöglichkeit von Herrscher- und mithin von Manneswürde.
360 Mohr 1976, S. 72. 361 Strohschneider 1993, S. 55. 362 Zur Bedeutung von Tristrants Schwert bzw. dem Schwerttausch durch Marke vgl. ebd. 1993, S. 54f.; zur These des Anspruchsverzichtes durch Marke vgl. Rosenfeld, S. 24 und Haug 1989, S. 247f., 251. 363 Vgl. Strohschneider 1993, S. 55. 364 Ebd. 365 Ebd.
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Dieser Gestus hat dadurch nun wiederum seinen Anteil am Paradoxen, dass er zwar auch für Sublimierung steht, aber diesen vermeintlichen Verzicht zugleich als Inversion inszeniert. Es genügt Marke nicht, mit eigenem Schwert und Handschuh ebenso symbolisch bei den Liebenden präsent wie regulativ wirksam zu sein. Vielmehr eignet er sich Tristrants Schwert an, dessen Einführung in die eigene Schwertscheide als Vereinigungssymbol schwerlich misszuverstehen ist. Damit aber sind Begehren und Handeln, Wünschen und Sollen der Marke-Figur bis ins Widersinnige entgegengesetzt. Einzig eine Überhöhung ins Symbolisch-Sittliche scheint diese Widersprüchlichkeit wieder in die Normativität konventionellen Ethos’ zurückführen zu können. Den ,keuschen Ehebrechern‘ entspricht damit das Begehren eines ‚verzichtenden Invertierten‘, der sein Verlangen einzig im Symbolhandeln, und dort als freigebige Herrschergeste der Keuschheitswahrung, praktiziert. Dass Marke hier eine Ausdrucksmöglichkeit und quasi eine Balance zwischen diesen beiden ‚Körpern des Königs‘, seinem Amt und seinen Affekten, findet, ruht auf einem bezeichnenden (Selbst-)Betrug, von dem wir erst später hören: do sagt der kúng sinen rautgeben, wie sie waren gelegen, do er sÿ in dem wald fand. do schwuor er, daß Tristrand sie zuo wib gewunne nie, wann daß er so hold waß ÿe und liebt sie so die rainen zart. (Tr-E 5070–5076)
Diese ‚bedeutungsüberschüssige‘ Semiose, Markes Interpretation der keuschen Minne-Inszenierung, ist zudem ihrerseits intrigant motiviert: Marke ‚verallgemeinert‘ das neuerliche Reinheitsethos der Liebenden auf die Gänze ihrer Liebe. Dass dies Betrug ist, wissen aber nicht nur Erzähler und Rezipienten. Bedeutsamer ist, dass diese Quasi-Segnung des Minnepaares durch den Betrogenen wirksamer Betrug ist, denn Marke verschafft sich so ohne königlichen Gesichtsverlust die Möglichkeit, seine Gemahlin an den Hof zurückkehren zu lassen. Mit anderen Worten: Durch den Schwerttausch mit seinem Favoriten und das Ablegen des Handschuhs auf seiner Gattin wird der Betrogene seinerseits zum betrügerischen Mitverschwörer des ehebrecherischen Paares. Die Motivation dazu, selbst dessen Intrigenhelfer zu werden, entstammt auch der Inversion einer Herrscherfigur, deren Machtlosigkeit in umgekehrtem Verhältnis zu ihrem Begehren steht. Dass der Schwerttausch Markes zudem als eine subtil symbolische Vorwegnahme einer liebend verzichtenden Einverständniserklärung gelesen werden kann, wird erst am Ende der Geschichte verständlich, wenn sich Motiv- und Strukturanalogien in ihrer Wiederholung steigern und König Marke im Symbolischen an die Stelle
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des heimlichen Schwertauschs die sich wechselseitig umschlingenden Wein- und Rosenstöcke über den Gräbern der Geliebten treten lässt. Am Schluss steigert der König und Favoritenliebhaber Marke seinen Gattinnenverzicht aus dem NonverbalBildlichen ins Explizite. So wie ihn die behauptete Keuschheit der Liebenden in der Waldhütte besänftigt hat, so wird er schließlich, als er vom Minnetrank erfährt, zum völligen Verzicht auf eigenes Begehren geführt, was zugleich einen Verzicht auf seine personale Identität bedeutet. „got waißt wol, ich hett lieblich die kúngin Ysalden ymmert gern gehalten und Tristrand minem neffen daur umb daß der tegen mit mir wär stättlich beliben. […] owe, guotte künginne und uss erwelter Tristrand, ich ließ üch lüt und land und all min küngrich ÿmmer aigenlich, daß ir wärend gesund!“ (Tr-E 9676–9695)
Und abermals findet Ohnmacht im Fiktiv-Realen zur Produktivität im Ästhetischen, dem dann am Ende – so unerwartet wie unerzwingbar – Tröstliches entsteigt. Zwar ist es der trauernde Witwer und Onkel, der Rosen- und Weinstock auf den Gräbern von Isalde und Tristrant pflanzt366 und dadurch das Naturmonument ewiger Liebe stiftet. Aber es ist einzig deren ‚Unnatur‘, ihrerseits in eine Bildlichkeit zu finden, die am Ende über alle Intrigen und irdischen Unbilden zu triumphieren vermag. Denn der Erzähler ruft schlussendlich abermals in Erinnerung, dass auch dies, wie alles, allein auf die magische Zauberkraft des Minnetrankes, eines literarischen Motivs zumal, zurückzuführen sei und damit auf eine Macht, gegen die – im wörtlichen Sinne – ,kein Kraut gewachsen‘ ist; auf eine unabweisbare Übermacht mithin, die darum all‘ jenen Absolution erteilt, die ihr nicht haben widerstehen können. Diese Einsicht, am Ende alles sich verkehren zu sehen, ist Markes größtes Leid: Schuld in Unschuld, Opferbereitschaft in Sinnlosigkeit, Leben in Tod. Aber dieser Höhe- und Schlusspunkt einer tragischen Liebesgeschichte ist seinerseits paradox: Er rührt und versöhnt, und dies dadurch, dass am Ende das Paradoxe über das Dilemmatische triumphiert. 366 Vgl. Tr-E 9710–9713.
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Auf das Ganze der Analyse des Eilhart’schen Textes lässt sich vorausblickend konstatieren: Wirkungsästhetisch wird der Zwanghaftigkeit des Minnetrankes vergleichbar eben genau das Gegenteil des lizensierenden Prologkonzeptes als Rezeptionseffekt eintreten. Am Ende hat das Erzählen eine tiefgreifende Unterminierung der moralischen Urteilskraft eben gerade des scharfsichtigen Publikums zur Folge, dessen Blick die Komplexität der Handlungskausalität und der Figurenperspektiven einfühlend nachvollziehen, nicht aber verurteilen lernt. Dies ist auch ein genereller Effekt der Intrigenästhetik: Auch hier kann der moralische Leser den Erfolg der Intrige nicht wollen, und der ästhetische kann um seines Vergnügens willen weder auf diese noch auf deren permanent verschobene Aufdeckung verzichten.367 Diese Ästhetik erzwingt ihrerseits einen Effekt, der, mittelalterlich gedacht, auch theologisch Narrheit ist: das Gute wider besseres Wissen nicht zu wollen. Und als literarischer Genuss wird dieses Dilemma auch gleich moralisch, wenn das Genießen der (literarischen) Unmoral gegenüber ‚angemessenem‘ Ethos bevorzugt wird. Dass sich dieses Problem verschärft, wenn, wie bei Eilhart, der Minnetrank seine Wirkung eingebüßt hat, die Handlung aber fortschreitet, versteht sich von selbst. Weniger selbstverständlich sind dann hingegen Motivation und Ästhetik der weiteren Rückkehrabenteuer, insbesondere der Narrenepisode, die „alles andere als fade Wiederholungen von Schwankmotiven“368 sind. 2.1.4 Der Minne-Tor als Intrigant und Intrigeninstrument Inwiefern sich nun die Narrenepisode geradezu als repräsentativer Kulminationspunkt für Eilharts Intrigenästhetik auffassen lässt, sollen zunächst die folgenden Abschnitte textnaher Szenenanalysen der Verkleidungsabenteuer zeigen, denen dann diejenigen Ulrichs und Heinrichs folgen. Nach dem Handlungsüberblick zu Eilharts Tristrant kann hier als These formuliert werden, dass Eilharts Abfolge der Verkleidungen respektive der Intrigantenrollen – Aussätziger, Pilger, Spielmann, Tor – schwerlich für lediglich seriell organisierte Zufälligkeit gehalten werden kann. In ihrer jeweiligen Eignung für die Intrigenfacetten der Dissimulation und der Simulation weisen sie unterschiedliche Eignungsgrade auf. Zudem versieht die Schlussposition des Narrenauftrittes nicht nur diesen mit einer eigenen Bedeutungstiefe, sondern die Figurengestaltung und Minnehandlung insgesamt. Tristrants Rückkehrabenteuer haben eine Forschungsdiskussion darüber angeregt, ob seine Rollenübernahmen seine Identität tangieren, temporär variieren oder gar sukzessive bis zum Identitätsverlust unterminieren. Strohschneider sieht
367 Zum Überblick über die Phasierung literarischen Intrigenhandelns sowie über die Ästhetik der Intrige vgl. von Matt 2006, S. 118–121. 368 Müller 1990, S. 26.
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auch in Tristrants Intrigantenauftritten dessen Identität als Held gewahrt.369 Auch Feistner erkennt in diesen keine Abweichung von dessen Identität, sondern fasst sie vielmehr als Realisierungen einer Verteidigungsstratgie derselben auf.370 Zuvor hatte Müller allerdings bereits die Reihe zwanghafter Rollenübernahmen als „Destruktion des Helden“371 interpretiert. Dem ist von Strohschneider widersprochen worden, sei doch der Held […] noch immer schon an den bloßen Spuren seiner Kriegskünste unzweideutig zu identifizieren (V. 9145ff.), und das heißt doch: als Held intakt. Nein, was hier allenfalls destruiert, genauer aber wohl: spezifisch konturiert wird, das ist die exzessive Realisation der Liebhaberrolle.372
Strohschneider führt vor dem Hintergrund der Strukturunterschiede des ersten und des zweiten Teiles in Eilharts Tristrant aus, dass die Verkleidungen die Liebe aus allen Herrschaftszusammenhängen heraus[rücken], sie zeigen überdeutlich, daß der Liebhaber Tristrant ein anderer als der Herrscher Tristrant ist, daß diese beiden Rollen zwar zu einer Figur aggregiert, doch darum doch keineswegs identisch sind.373
Da Kraß hinwiederum die Minne als das Substantielle der Tristrantidentität betrachtet, die in ihrer Wahrheit auch von keiner Täuschungsrolle tangiert wird, sieht er darin dessen Identität gewahrt.374 Angesichts der Bandbreite möglicher Begriffsdefinitionen von ‚Identität‘ hat Becker mit Blick auf deren Diskussion eine brauchbare Minimaldefinition vorgelegt: „Hier wird Identität als dasjenige verstanden, das garantiert, dass ein Ich sich in Handlungsverläufen und somit in der Zeit als ein Identisches erkennt.“375 Was hier als Selbstevidenz unterschätzt werden könnte, wird mit Blick auf den seriellen Verlauf schwankhafter Verkleidungsepisoden zum heuristischen Differenzierungsinstrument: In welchem Verhältnis zur Tristrantidentität stehen dessen Rollenübernahmen? Die Fokussierung personaler Identität als Kontinuität der Figur, deutlich abgegrenzt vom modernen Selbst als schier autonome, mithin selbst gestaltbare Indi-
369 Vgl. Strohschneider 1993, S. 58. 370 Vgl. Edith Feistner: Rollenspiel und Figurenidentität. Zum Motiv der Verkleidung in der mittelalterlichen Literatur. In: GRM 46 (1996), S. 257–269, hier S. 259. 371 Müller 1990, S. 30. 372 Strohschneider 1993, S. 58. 373 Ebd. 374 Vgl. Kraß 2006, S. 244–253. 375 Becker 2009, S. 280.
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vidualität, ist zudem kein Widerspruch zu weitgehend konsensualen Fassungen von ‚Identität‘ wie: „Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe (Stand, Gefolgschaft, Beruf)“, wobei „soziale und personale Identität […] weitgehend kongruent“376 gedacht werden. Dass diese Dimension der Tristrantfigur „prekär“377 ist und in einem ästhetischen Sinne gerade deren Identität ausmacht, liegt auf der Hand. Weniger evident hingegen erscheint die Frage, ob die schwankhafte Abfolge übernommener Wiederkehrrollen mit der Befindlichkeit ihres Trägers korreliert. Die folgenden Textanalysen suchen zu zeigen, dass die Deutungsalternativen ‚Bewahrung des Heldenstatus‘ (Strohschneider), ‚Destruktion des Helden‘ (Müller) oder ‚Identitätsfokussierung‘ (Feistner) weniger ‚unversöhnliche‘ Alternativen als vielmehr fokalisierungsabhängige Interpretationsansätze sind. Dies gilt umso mehr, wenn die einzelnen Verkleidungsauftritte im Lichte von Peter von Matts Intrigentheorie betrachtet werden. Der Aussätzige
Der Aussätzige378 personifiziert, ätiologisch fundiert379 , den outlaw par excellence380 , dessen ‚Gemeingefährlichkeit‘ aufgrund seiner ansteckenden Unheilbarkeit keinerlei moralische oder mentalitätsgeschichtliche Einwände aufkommen lässt:381 Diese Figuration des Anderen als des gefährdenden Kranken, der einzig durch Magie geheilt werden kann382 , ist nicht symbolisch zu stigmatisieren, sondern im konkretesten Wortsinne ‚auszugrenzen‘, wenn ihr Bedrohungspotential
376 Ebd. 377 Ebd. 378 Zu Aussatz und Aussätzigen im Mittelalter vgl. Michael Belgrader: [Art.] ‚Aussatz‘. In: Sachwörterbuch der Mediävistik. Hrsg. von Peter Dinzelbacher. Stuttgart 1992 (= Kröners Taschenausgabe, Bd. 477), S. 66; Gundolf Keil: [Art.] ‚Aussatz‘. In: LMA, Bd. I, Sp. 1249–1257. 379 Nach Keil trägt der Aussätzige „seine Krankheit aber auch als Folge der Sünde und als äußeres Zeichen eines unchristl. Lebenswandels. Seine schuldhafte Verstrickung wurde noch verstärkt durch eine Fehldeutung des Infektionsmechanismus, die den A. zwar als ansteckend gelten ließ, die genitale Übertragung aber in den Vordergrund stellte und dabei außerehel. Beischlaf anschuldigte“ (ebd., Sp. 1250). 380 Literarische Beispiele begegnen etwa in Der arme Heinrich von Hartmann von Aue oder in Engelhard von Konrad von Würzburg. 381 Aussätzige bzw. von Lepra Befallene werden seit der Antike abgesondert. Seit dem „8. Jh. [gibt es] ein Verbot, das das Zusammenleben von Gesunden mit Aussätzigen ausschloß. Obzwar abgeschieden, lebten sie mit gesichertem Lebensunterhalt […] in Leprosorien, Leprosenhäusern (euphemistisch Gutleutehäuser); die ‚guoten liute’ wurden teils als Märtyrer d. Kirche betrachtet, teils, bes. 1. H. 14. Jh. in Frkr., blutig verfolgt“ (Belgrader 1992, S. 66). Zu Absonderung und Versorgung Aussätziger vgl. ferner Keil 1999, Sp. 1251. 382 „Die Heilung des A.es glaubte man mit dem Blut von Jungfrauen oder unschuldigen Kindern erreichen zu können […]“ (Belgrader 1992, S. 66).
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wenigstens an der Gesellschaftsperipherie erfolgreich, also abschottend, gebannt werden soll.383 Zwar sind auch hier die Konnotationsspielräume von ‚Krankheit im Mittelalter‘384 in ihrer ganzen Spektrumsbreite anwendbar, aber nochmals anders gewendet: Die Aussätzigenklapper ist kein symbolisch-kulturelles Attribut für Anomalie, keine Narrenmarotte, sondern Alarmsignal für die Begegnung mit etwas Gesundheits- und Lebensbedrohlichem.385 Wer sich intrigant in diese Rolle begibt, hat wohl größte Chancen, als Unberührbarer so viel Distanz zu seinem Betrugsopfer zu wahren, dass er unerkannt bleibt. Sollen jedoch zu den Intriganten auch Nichteingeweihte gehören, birgt diese Verkleidung ein gehöriges Risiko: auch von denen verstoßen zu werden, die verschwörerisch hinter die Larve blicken können sollen. Mit Blick auf das Fiktive lässt sich festhalten: Diese Verkleidung kann mit ihrem partiellen Intrigenscheitern dazu beitragen, Spannung aufzubauen, ob und welche weiteren Rollenwechsel erfolgreich(er) sein werden. Ein aussätziger Liebhaber wird es besonders schwer haben, sich im höfischen Kontext der fernen Geliebten zu nähern. Zur Erinnerung: „Stärke, Schönheit, Rang, tugende, zuht: blitzartig ließ der Trank Ysalde all jene Vorzüge an Tristrant erkennen, deren Summe den Helden ausmachen (V. 2421).“386 Auch imitierter Aussatz ist zweifelsfrei ein randscharfer Kontrast zur originären Schönheit – als Summe sämtlicher Qualitäten – des Helden. Müller sieht hier bereits den Beginn einer Destruktionsfolge – „das anfangs entworfene Bild [wird] Zug um Zug zerstört“387 . Im Gegensatz zu dieser Position sei die eigene, hiervon abweichende Deutungsperspektive hier vorweggenommen: Tristrant ‚borgt‘ sich als Intrigant das Äußere eines Aussätzigen wie er sich Aussätzigenklapper und -umhang leiht. Sein Aussatz ist Intrigantenlarve, zudem Schwankrequisit und ‚Deckmantel‘ zur Rückkehr: Seine
383 Vgl. ebd; zur Aussätzigenklapper vgl. Keil 1999, Sp. 1252. 384 Zu Krankheit im Mittelalter, mentalitätsgeschichtlich betrachtet, vgl. Volker Zimmermann: [Art.] ‚Krankheit‘. In: Sachwörterbuch der Mediävistik. Hrsg. von Peter Dinzelbacher. Stuttgart 1992 (= Kröners Taschenausgabe, Bd. 477), S. 447; Christina Vanja: Krankheit/Mittelalter. In: Europäische Mentalitätsgeschichte. Hauptthemen in Einzeldarstellungen. Hrsg. von Peter Dinzelbacher. Stuttgart 1993 (= Kröners Taschenausgabe, Bd. 469), S. 195–200; Kortüm 1996, S. 244–268 und die dort jeweils angeführte Literatur. 385 Vgl. Belgrader 1992. 386 Müller 1990, S. 30. Die Versangabe erscheint jedoch irrig (in ainer kemnavtten; Tr-E 2421), ist doch an anderer Stelle von Isaldes Wahrnehmung von Tristrants Schönheit die Rede. Nach dem Minnetrank heißt es von ihr: die fro sich ser schemen begund, / do sú so liebt in kurtzer stund / den schönen Trÿstanden (Tr-E 2481–2483). Dass der Minnetrank Isaldes Wahrnehmung trübe (sie verlúren baid ir sinne; 2467), wird mit Blick auf Tristrants Schönheit nicht dargestellt, da der Erzähler dessen äußere Qualitäten als objektive Tatsache mitteilt. 387 Müller 1990, S. 30. Müller konstatiert jedoch relativierend, dass das Heldentum Tristrants uneingeschränkt bliebe, „bis er die tödliche Wunde empfängt“ (ebd.).
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Befindlichkeit ist nicht einmal in einem bemüht allegorischen Sinne mit dieser neuerlichen Rollenübernahme identisch.388 Die Intrigenrolle von Tristrant als Aussätzigem hat einen motivlichen ‚Vorgänger‘, der dieses Verkleidungsabenteuer des minnegesteuerten Protagonisten mit Spannungsmomenten und parallelen Bedeutungsaspekten auflädt. Die Verletzung des betrogenen Marke – sowohl diejenige seiner Herrscher- als auch diejenige seiner Manneswürde – lässt sich daran ‚ermessen‘, wie seine Rache an seiner treulosen Gattin dimensioniert sein soll, nachdem sich deren Buhle durch den Kapellensprung königlichem Urteilsspruch zu entziehen verstanden hat. Markes blindwütigem Zorn, nun ir minne / mit fraislichem sÿnne (Tr-E 4420f.) für immer zerstören zu wollen, kommt ein plötzlich herbeigerannter Herzog nur zu Recht. Dieser Aussätzige hat die grausamste wie schändlichste Tötung für Isalde vorzuschlagen: […] „ich will sie minen siechen bringen: die súllent sie all minnen, ainer nach dem andern. so mag sú nicht wol wandern. sú müst sterben schier. und weren ir ouch vier, wurden sie gestoussen under min hußgenoussen, sie müsten schier sterben tovd. da hat sú grovß novt und stirbt gar lasterlich.“ (Tr-E 4451–4462)
Dem Zorn389 des verletzten Herrschers erscheint der Vorschlag, die Königin Isalde zur Strafe ihrer Schändlichkeit den Vergewaltigungen einer ganzen Schar Aussätziger preiszugeben, aber erst vollends ‚angemessen‘, wenn zudem ihr anschließender Tod garantiert ist. Bezeichnenderweise gibt der aussätzige Herzog deshalb nicht nur das eigene, sondern auch das Leben seines Neffen als Bürgschaft in Markes Hand.390 Die vorgeschlagene Körperstrafe stellt das vorausgegangene Vergehen mit einer Drastik aus, die nicht ‚nur‘ tödlich ist: Der Ehebruch mit dem Einen findet seine 388 Vgl. Becker 2009, S. 280. 389 Zu Emotionen im Tristrant vgl. Lilia Birr-Tsurkan: Widerspiegelung der Emotionen im mittelalterlichen Ritterroman am Beispiel von „Tristrant“ Eilharts von Oberg. In: Linguistische Treffen in Wroclaw, Vol. 17, Nr. 1 (2020), S. 29–37. 390 Da sprach der kúng rich: / „du sagst mir die wavrhait: / wer git mir deß sicherhait, / ob ich dir die frowen gäb, / daß man ir näm daß leben?“ (Tr-E 4464–4467).
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Ahndung in der Massenvergewaltigung durch andere, die eigene Schändung durch den begangenen Ehebruch in den vielfachen Schändungen durch wahllose Unbekannte. Dass die ‚Vollstrecker‘ dieses Urteils nicht nur selbst Todgeweihte, sondern – sprichwörtlich wie fiktional-faktisch – Aussätzige sind, zahlt begangene Schuld mit der Potenzierung des eigenen Vergehens (grovß novt und stirbt gar lasterlich) heim. Dass Marke tatsächlich bevorzugt, Isalde nicht wie von seinem Neffen Antret vorgeschlagen, auf dem Scheiterhaufen, sondern vielfach geschändet an Aussatz sterben zu lassen, markiert den eigentlichen Verlust seiner königlichen Würde, der sich einmal mehr daraus erklärt, dass ein König, seiner amtsspezifischen Affektkontrolle verlustig, ‚aus der Rolle‘ fällt und ins Maßlose abdriftet. Die Ahndungen dieser Maßlosigkeit folgen dementsprechend unmittelbar: Eilharts Erzähler betitelt den aussätzigen Ratgeber als ungehúr (4469), das sich noch darüber freuen kann ([d]o ward der siech herr deß frow; 4476), wenn seine bestialischen Vorschläge realisiert würden. Und auch auf Figurenebene bleibt die Unrechtsmarkierung durch eigenes Bewerten nicht aus: do hett sich der kúng rich an ir so gerochen, daß im ward so gesprochen mänig laster in dem land, wan er het sin laster und schand. (Tr-E 4479–4483)
Ungebührlicher Zorn rächt sich als lästerliche Schande an denen, die ihn hegen, und die Maßlosigkeit dieser Strafe bringt weniger derjenigen Schande, die sie erleidet, sondern vor allem demjenigen, der sie verhängt. Drastischer kann die Ohnmacht eines Königs und betrogenen Ehemannes kaum ausgestellt werden, als dadurch, dass gerade seine Verfügungsgewalt über Leben und Ehre ihn selbst um diese bringen muss. Gegen derartig ‚himmelschreiendes‘ Unrecht muss spätestens die Kontingenz des Fiktiven einschreiten: der selben siechen weg so / zoch sich da hin do / recht fúr Trÿstranden (Tr-E 4484–4486), der dann sein Schwert auch im Sinne poetischer Gerechtigkeit und ästhetischer Notwendigkeit zu führen weiß: Um Isalde zu befreien, richtet er unter den Aussätzigen ein barbarisches Blutbad an, dem der für den nächsten Handlungsimpuls nötige einzige Überlebende entkommt und am Markehof berichtet. Handlungslogisch flüchten Tristrant und Isalde in den Wald. Wie Aussätzige jenseits alles Gesellschaftlichen und mithin alles Zivilisatorischen lebend, steht ihr Ethos, ihre Ehre in sinnfälligem ‚Widerspruch‘ zu ihren Lebensumständen: Tristrants Schwert zwischen den Liebenden dokumentiert die Reinheit ihrer Minne. In der Motivdoppelung des abermaligen Auftritts eines Aussätzigen wird die Umgangspraxis der höfischen Gesellschaft mit Außenseitern ihrerseits für weite-
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re Handlungsimpulse relevant. In einem weiteren Rückkehrabenteuer erscheint Tristrant in der Aussätzigenlarve, was bereits Verweischarakter auf die Narrenrolle hat: Die Verkleidung als Aussätziger ist nun nicht nur Mittel, seine Ehre wiederherzustellen, sondern auch äußeres Zeichen der mit dem Ehrverlust drohenden Selbstaufgabe. Gleichzeitig jedoch erlaubt sie Tristrant, seinen Einsatz für Ysalde bis an die Grenze zur Tollheit zu zeigen.391
Für das Intrigengeschehen, sich unerkannt der Geliebten zu nähern, ist die Aussätzigenrolle ein in mehrfacher Hinsicht Spannung generierender Einfall: Einerseits scheint diese für die Wahrung des ehebrecherischen Inkognitos geradezu prädestiniert, andererseits aber ist es doch höchst fraglich und somit eine weitere Herausforderung nicht nur für die Verstellungs-, sondern eben auch für die Intrigenkunst Tristrants, wie ein Aussätziger als schändlichste wie gefährlichste Alternative des Außenseiters in die Nähe der Königin gelangen zu können. Die Fiktionalität Eilharts setzt sich über derart ‚realistische‘ Bedenken hinweg und erzählt schlicht von der Begegnung von zorniger Königin und falschem Aussätzigen: zuo ainem ussetzel gan kam er on valschen wan. deß selben klaider nam er an und sin cläffer in sin hand. so gieng herr Trÿstrand fúr die kúnginne in jämerlichem dinge, alß ob er wär ain siecher man. (Tr-E 7252–7259)
Bevor dargelegt wird, warum Isalde den falschen Aussätzigen wider Erwarten, konform zu gängigen Marginalisierungspraktiken, ‚richtig‘ ausgrenzen lässt, halten wir mit Blick auf Eilharts Intrigenästhetik einen Moment inne: Diesem Rückkehrabenteuer geht zwar ebenfalls eine Besprechung mit bewährtem Intrigenhelfer (Kurneval) voraus, nicht aber eine initiierende Beratungsszene. Der Aussätzigen-Coup ist narrativ so ökonomisch, dass der Intrigant hier ganz ohne Rat und spannungsaufbauende Intrigenplanung auskommt. Und der Simulationsplot, der die wahre Identität des falschen Aussätzigen glücklich dissimuliert, ist ebenfalls auf dessen ‚scheiterndes Gelingen‘ verknappt: Nach kurzer Musterung erkennt die Königin
391 Müller 1990, S. 31.
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in dem Aussätzigen den Geliebten und veranlasst, diesen zu traktieren, wie es der Natürlichkeit seiner Rolle zukäme: „tribt hin weg den siechen!“ zwen knaben do lieffen und schluogen grovß sleg zwen und stiessen den tegen hin gar ungefügliche. daß sach dú frow riche und erlacht deß ser. (Tr-E 7265–7271)
Eilhart erzählt so knapp wie treffend, was geschieht, wenn die Illusionierung intriganter Außenseitersimulation ‚Erfolg‘ hat: Sie zieht Marginalisierungspraktiken tätlichen Ausgrenzens nach sich. Im ‚Aussätzigen‘ Tristrant wird das bedrohliche Andere mit Gewalt und Spottgelächter verbannt. Soweit koinzidieren soziale Praktiken und fiktives Geschehen, allerdings nachdem, wie intrigant intendiert, Isalde doch den Intriganten erkannt hat (do erkant sú in, do sú in sach an; 7260). Ihr inadäquat-konventionelles Reagieren auf den vermeintlichen Aussätzigen wird jedoch von der Handlungslogik begründet: zum einen durch ihren Zorn darüber, dass sich der Geliebte, vermeintlich ehrlos, nicht in ihrem Namen einem Kampf gestellt hat, zum anderen aber auch durch seinen Zorn über ihre Zurückweisung, der dazu führt, dass er sich im Folgenden der anderen Isalde zuwenden ‚kann‘.392 In dieser kurzen Rückkehrepisode ist eine weitere Intrigenvariante gestaltet, deren Gelingen nicht mehr allein von der Alternative erfolgreicher Simulation/ Dissimulation und deren Desavouierung abhängt, sondern eben auch davon, dass die Komplizen, vor allem aber die Komplizin, in intendierter Weise ihre Rolle spielen. In ihrer umschweifelosen Schlichtheit ist Eilharts Erzählung doch komplex: Diese Intrige scheitert nämlich nicht an ‚Entdeckung‘, sondern an ‚Enttäuschung‘, die der Raffinesse der Verstellung und dem Mut verdeckter Annäherung hier die unüberwindliche Macht eines Affektes entgegensetzt. Es ist Isaldes Zorn, der seinerseits Effekt einer ihr absichtslos eingegebenen Illusion ist, dass ihr Geliebter sie durch feige Flucht verraten habe. Tatsächlich grenzt Isalde im aussätzigen Tristrant
392 Isaldes Zorn beruht auf einem verleumdenden Missverständnis. Nach neuerlicher Trennung setzt Pleherin, ein Edelmann Markes, den Knappen Tristrants in dem Glauben hinterher, diesen selbst zu verfolgen. Pleherin sucht den vermeintlichen Tristrant zu einem Kampf herauszufordern: ker, held, ker / durch die grovß kienhait din! (Tr-E 7062f.). Da nicht einmal der Verweis auf Isaldes Ehre die Flüchtenden aufhält, muss Pleherin davon ausgehen, Tristrant sei ruchlos geflüchtet. Entsprechendes berichtet er seiner Königin, woraufhin diese (unberechtigterweise) gegenüber Tristrant in Zorn gerät (vgl. Tr-E 7079–7105).
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einen in ihrer Wahrnehmung Marginalisierten aus, jedoch nicht einen Leprosen, sondern einen vermeintlich Ehrlosen, der es nicht mehr wert sein kann, im Herzen der Königin zu wohnen. Becker fasst Tristrants Aussätzigenlarve so auf: „Die Maskerade setzt seine ‚Seelenlage‘ ins Bild: Von Isalde verstoßen, fühlt er sich als Aussätziger der Liebe.“393 In dieser Analyseperspektive realisierte gerade die Abkehr von der höfischen, mithin heroischen Identität des Helden neuerlich Kalokagathie als rollenadäquate Veräußerlichung (s)eines Gemütszustandes. Vergleichbar hat schon Müller argumentiert: „Die Verkleidung als Aussätziger ist nicht nur Mittel, seine Ehre wieder herzustellen, sondern äußeres Zeichen der mit dem Ehrverlust drohenden Selbstaufgabe.“394 Mit Blick auf weitere Rückkehr- und Verkleidungsabenteuer geht aus der Aussätzigenepisode zweierlei hervor: einerseits die Frage, wie das gegenseitige Entfremdungspotential reversiblen Zorns überwunden werden kann und andererseits, wie Eilhart die Ästhetik der Intrige im Folgenden als Komplexitätssteigerung so entfaltet, dass Tristrants Auftreten als Pilger und Spielmann sein schließliches Reüssieren als Narr vorbereitet. Der Pilger
Der Pilger 395 entspricht als (Rollen-)Klischee seinerseits auch dem ganz Anderen. Er zählt mitunter auch zu den deklassiert Fahrenden396 und ist in seiner frommen wie opferbereiten ‚Asozialität‘ als religiöse Idealisierung dem diesseitsverhafteten Durchschnittsmenschen entgegengesetzt. In seiner Stellvertreterfunktion und der Ausübung hochgeschätzter Frömmigkeitspraxis, die auf den Idealen der demütigen Entsagung und völligen Hinwendung zu Gott beruht, besitzt er seit Paulus (2 Kor 5,6)397 ein hochgradiges Allegorisierungspotential.398 Zur Gesellschaft steht er in einem ambivalenten Kommunikationsverhältnis: Man sieht zu ihm auf, beargwöhnt ihn zuweilen als umherziehenden Fremden, und ist letztlich froh, diesen alltagsuntauglichen Parasiten mit einer kleinen Gabe seiner Wege schicken zu können. Auf
393 Becker 2009, S. 284. 394 Müller 1990, S. 31. 395 Zu Pilgern im Mittelalter vgl. Peter Dinzelbacher: [Art.] ‚Pilger‘. In: Sachwörterbuch der Mediävistik. Hrsg. von Peter Dinzelbacher. Stuttgart 1992 (= Kröners Taschenausgabe, Bd. 477), S. 635–638; Ulrike Liebl: [Art.] ‚Pilger‘. In: LMA, Bd. VI, Sp. 2148–2151. 396 Vgl. Alan Deigthon: Die Quellen der Tristan-Fortsetzungen Ulrichs von Türheim und Heinrichs von Freiberg. In: ZfdA 126 (1997), S. 140–165, hier S. 148. 397 „Nach dem Apostel Paulus […] befindet sich der Christ zeitlebens auf einer P.fahrt“ (Liebl 1999, Sp. 2148). 398 In mittelalterlicher Literatur und darstellender Kunst erscheint „der Mensch oft allegorisch als P. dargestellt, der Lebensweg als P.fahrt zur wahren Heimat, dem himml. Jerusalem“ (Dinzelbacher 1992, S. 637).
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seiner Fahrt zu entlegenen Stätten des Heils399 ist dieser Wanderer immer Fremder und als solcher per se auch verdächtig, möglicherweise Trickbetrüger oder lediglich ein Halunke zu sein, so dass sich Argwohn und Achtung dem Pilger gegenüber stets mischen.400 Intriganten im Pilgerhabit401 müssen folglich als besonders perfide gelten, arbeiten doch Frömmigkeit und Leichtgläubigkeit ihnen willfährigst in die Hände. Auch wenn Pilger und Spielleute, Hofnarren und Fahrende im Mittelalter sozialgeschichtlich in dieselbe heterogene Randgruppe gehörten402 , ist bei Eilhart mit der Verkleidung als Pilger im Fiktiven eine Forcierung der Verkehrungsfolge des Protagonisten zu beobachten. An Tristrant als Pilger wird sich zeigen, dass eine zentrale Identitätsfacette als vermeintliche Natur des Protagonisten kaum zu kaschieren und schon gar nicht zu unterdrücken ist: sein Heldentum, wie es beim Turnier – im Wortsinne – durch den Verkleidungsstoff der Pilgerlarve in die Sichtbarkeit der Hoföffentlichkeit herausbrechen wird.403 Das nächste Verkleidungsabenteuer ist narratologisch vor allem aus einem Grunde von Interesse. Weil es die Komplexität der Episode ‚Tristrant als Narr‘ vorbereitet, verkompliziert Eilhart zunächst merklich das zugrundeliegende Intrigenschema, dessen differenzierteste Variante Tristrants Reüssieren als Narr mitbegründet. Die Pilger-Episode ist in zwei Erzählbögen eingeteilt: in die Wiederbegegnungsplanung und -durchführung (Tr-E 7671–7902) einerseits und den verräterischen Turniersieg des falschen Pilgers (7903–8061) andererseits. Die Ausgangsvoraussetzungen sind denkbar knapp erzählt. Die initiierende ‚Notlage‘ wird nochmals von einer Zwischenüberschrift aufgegriffen (Do Trÿstrand der frowen laid vernam, / haimlich so er zuo ir kam; Tr-E 7595f.)404 , und die Verkleidungsrolle ist abermals narratologisch unaufwendig: Aussätzige, Pilger, Spielleute und Narren bedürfen nämlich keiner expliziten Einführung, keiner Handlungslenkung an einen für sie spezifischen Ort, ist ihnen doch dahingehend selbst Kontingentes eigen, im ‚Bedarfsfalle‘ des Fiktiven als Fahrende ebenso ‚zufällig‘ wie ‚unmotiviert‘ vorbeizukommen. Insofern steht die Wahl dieser Intrigantenlarve ihrerseits sowohl für die Intrigenkompetenz dessen, der sie arrangiert (Erzähler) 399 Prominente Pilgerziele waren „die Lebens- u. Leidensstätten d. Erlösers“ sowie „die Märtyrergräber im Orient und dann die der Heiligen auch im Westen“ (ebd., S. 636). 400 Zu Verurteilten zu Strafpilgerfahrten oder Spionen als falschen Pilgern vgl. Liebl 1999, Sp. 2150. 401 Zum Pilger als Intrigantenrolle vgl. ebd. 402 Vgl. Bumke 1994, S. 691; Deigthon 1997, S. 148. 403 „Von nun an“, so Müller, „verschärft sich die Entfremdung von der angestammten Rolle: In der Verkleidung als Mönch [sic] ist der Held noch zu erkennen, sobald er am ritterlichen Wettkampf teilnimmt. Zeichenhaft dafür zerreißt am Ende die Kutte und läßt darunter das ‚richtige‘ Kleid des Kriegers erkennen (V. 7822)“ (Müller 1990, S. 32). 404 Nach dem Tristrant von Isaldes Buße durch das härene Hemd erfährt, macht er sich „nach Ablauf der einjährigen Abstinenz sogleich“ zu ihr auf (Becker 2009, S. 284).
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als auch dessen, der sich (Tristrant) unter ihr zu verbergen weiß. Und dies umso mehr, da Isaldes Büßen mit dem härenen Hemde motivliche Kongruenz schafft: „Das Thema der Sünde und Buße aufnehmend, verkleidet sich Tristrant bei seiner dritten Rückkehr als Pilger.“405 Dieses Wiederbegegnungsabenteuer kommt ohne eine vorausgehende Beratungsszene mit einem etwaigen Intrigenhelfer (Kurneval) aus; auch die basale Planszene hat – ästhetisch interessant – sowohl einen anderen Ort (Weg zur Königin) im Handlungsverlauf als auch andere Protagonisten (Tristrant und der Ritter). Der so aufgeschobenen Planungsszene geht jene des Verkleidens voraus: Trÿstrant graw claider nam an sich und främde schuoch, stab und täsch dar zuo, alß ob er wär ain bilgerin. (Tr-E 7672–7675)
Der getreue Kurneval ergreift als Tristrants Intrigenhelfer nicht die Initiative zu Planfassung und Beratung des Freundes, sondern schlüpft als solcher in die gleiche Verkleidung: ouch klaite sich der knabe sin / Kurnewal im wol geliche (Tr-E 7676f.). Auch das Arrangement der Wiederbegegnung mit der Geliebten Isalde ist insofern ‚verkompliziert‘, als dass sich die falschen Pilger trotz ihrer Bewegungsfreiheit nicht trauen, einfach am Hof König Markes zu erscheinen. Zum Intrigenplan gehört deshalb, nach einem weiteren Intrigenhelfer Ausschau zu halten, der die Rolle eines Boten übernehmen könnte, um Isalde überhaupt in die neuerliche Intrigenabsicht einzuweihen. Dass Tristrant deshalb unter Straßenpassanten – im wörtlichen Sinne – nach geeigneten Mitspielern Ausschau hält, wirkt komisch und hat zunächst auch keinen Erfolg, führt jedoch abermals bereits den Hauptort des Intrigengeschehens ein.406 Die verkleideten Intriganten verbergen sich neuerlich hinter dem Dornbusch, do er ouch dar vor / mit Keheniß inne hett sin gemach (Tr-E 7690f.). Die Mehrfachverwendung derselben Örtlichkeit ist hier weniger Zufall als vielmehr Rahmung der ganzen Pilger-Episode, kehrt doch Tristrant nach abermaliger Trennung von Isalde zu Kehenis zurück. Schließlich lenkt der Zufall doch einen Freund als potentiellen Mitverschwörer an jenem Dornbusch vorbei, der nicht nur das nötige Botenamt übernimmt, sondern seinerseits ein bereits vertrautes Spezifikum Eilhart’scher Ästhetik ver405 Ebd. Kraß hat bereits seinerseits auf ein Naheliegen der Pilgerrolle für Tristrant hingewiesen (vgl. Ders. 2006, S. 248f.). 406 [D]er jung held waß stätte, / er wolt die strauß gan besehen, / ob er ÿemant möcht erspehen, / der sin bot wär. […] doch ward er niemenß gewar, / an dem er trúw möcht schowen, / so daß er im zuo der frowen / wirb sin botschaft (Tr-E 7684–7697).
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körpert.407 Dieser befreundete Ritter schläft im Sattel und wird von Tristrant auch zunächst nicht geweckt, obgleich doch die bislang aufgeschobene Planungsszene noch aussteht. Der Grund hierfür ist abermals ein Paradoxon, das auf unvergleichliche Weise wieder Unvereinbares zusammenbringt: absolute Wohlerzogenheit und beiläufige Erotik. Der Erzähler nennt es ain grovß gezogenhait (Tr-E 7713) Tristrants, den so selig auf seinem Pferd Schlafenden nicht zu stören, weil er daucht, er ist gelegen / diß nacht bÿ siner ammÿen (Tr-E 7716f.). Die Rücksichtnahme auf den ‚liebesmüden‘ Freund tendiert ins Maßlose, will doch der liebeskranke Tristrant eher auf den Freund als Boten verzichten und damit die Möglichkeit einer Wiederbegegnung mit Isalde gefährden, e er im bräch sinen schlauff (Tr-E 7720). Eilhart bereichert nun das Intrigenschema um ein Doppelungsmotiv: Ein Tier als Verkörperung des Zufalls übernimmt es, der Intrigenhandlung den nötigen Impuls zu geben.408 Als Tristrant das Zaumzeug des Pferdes fasst, das den Freund trägt, scheut dieses und springt, so dass der von seiner Liebesnacht erschöpfte Reiter doch zu sich kommt und man mit ihm die geplante Intrige beraten kann.409 Der plötzlich erwachte wie ungeahnt begleitete herr ist gleich zu willen und bietet Tristrant seine Dienste an. In dem nun folgenden Planungsgespräch übergibt Tristrant ihm seinen Ring, so dass sich sein Helfer Isalde gegenüber unzweifelhaft als sein Vertrauter ausweisen kann. Der Botenauftrag besteht nun darin, Isalde mitzuteilen, Tristrant weile in der Nähe und wünsche, sie zu sehen. Voraussetzung hierfür sei jedoch, König Marke auf die Jagd zu schicken, während Tristrant seine Geliebte hinter dem Dornbusch erwarte.410 Nach der überbrachten Botschaft wird tatsächlich alles zu einer Jagd veranlasst, und die Königin und ihre Damen bleiben zunächst zurück. Es ist nun ausgerechnet Antret, der andere Königsneffe (der laid Antret; Tr-E 7795), den sich Isalde als Begleitung ihrer Damen auswählt. Dass nun gerade dasjenige, was zunächst wie eine Vereitelung des Intrigenplanes spannungsaufbauend wirken muss, sich – abermals zufallsbedingt – als Teil von deren Realisierungschance erweist, zeichnet Eilharts Intrigenästhetik ebenfalls aus. Als durch Antrets Anwesenheit keine Möglichkeit zu dem verabredeten Stelldichein mehr denkbar erscheint, schießt – man ist auf der Jagd – ein Hirsch vorüber, der Isaldes Pferd scheuend zu panischer Flucht veranlasst, so dass es auch für den lästigen Antret kein Halten mehr gibt. Er setzt dem Ross seiner Herrscherin nach. Abermals hat sich der Zufall – als Affektreaktion eines instinktgelenkten Tieres – als unverzichtbarer
407 Vgl. ebd. 7700–7720. 408 „Letztlich ist es dem Zufall – hier durch den Hirsch versinnbildlicht – anheimgestellt, ob solch eine Intrige erfolgreich ist oder nicht“ (Becker 2009, S. 285). 409 [Z]uo letst er im daß roß gefieng / bÿ dem zom und in nit wagkt, / biß daß roß do erschrack / und bralt uß dem wege. / do erwacht der tegen / und erkant Trÿstranden (Tr-E 7722–7727). 410 Vgl. ebd., 7730–7752.
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Intrigenhelfer erwiesen.411 Und auch dieses Zusammenspiel aus intriganter Intentionalität und zielführend kontingentem Geschehen macht die Intrigenhandlung bei Eilhart aus. Es kommt also zur Zwiesprachemöglichkeit der Liebenden, allerdings verlangen Verbot und Heimlichkeit danach, dass jener Dornbusch – als Dissimulation – trennend zwischen ihnen bleibt. Eilharts Ästhetik findet für diese Verhinderung von Unmittelbarkeit bei der Begegnung des Liebespaares ein ‚szenisch‘ passendes Stilmittel, das in der Direktheit seiner Dialogizität paradoxerweise als Barriere fungiert.412 Sein Erzähler stellt uns die Liebenden zwar endlich gegenüber, die, vom Minnetrank beherrscht, doch noch in gegenseitigem Zorn nach vorausgehenden Missverständnissen befangen sein müssen. Doch gerade jetzt, wo in der Publikumsimagination Zorn und Minne der Protagonisten im Widerstreit liegen und uns auf die Folter spannen, wie sich dieser Affektkonflikt entladen wird, schiebt Eilhart eine performativ-imaginäre Einlassung zwischen wispernde Protagonisten und neugieriges Publikum. Auf diesem Spannungshöhepunkt bricht es aus einem imaginierten Zuhörer, der sich nicht mehr passiv verhalten kann, heraus: „wie sú eß do an fieng, / wie sú sich besprech do?“ (Tr-E 7827f.). Der performative Einschub des Dialoges von Zuhörer und Erzähler, also eines naturgemäß ahnungslosen (Rezipient) und eines bloß simulierenden Narren (Erzähler), fungiert seinerseits als Paradoxon: Die drängenden Fragen über den Handlungsfortgang ergänzen sich mit den Antworten eines zaudernden Erzählers zu einem witzigen, aber eben retardierenden Intermezzo, aus dem schlussendlich immerhin hervorgeht: „jo ich, wärlich! sú bat in deß flÿßlich nach ir schier kommen dar und wÿst in recht wavr.“ (Tr-E 7840–7843)
Die Komik der Passage rührt hier zum einen aus der Imagination einer Publikumsinjektive her, die auf einen töricht-koketten Erzähler abzielt, der vorgibt, über seine Geschichte nicht recht Bescheid zu wissen413 ; zum anderen aber daher, im Retardieren ‚nichts‘ zu erzählen, die Heimlichkeit des Liebendengespräches im
411 Vgl. ebd., 7762–7820. 412 Die Verse 7827–7843 (a.a.O.) bestehen aus Rede und Gegenrede bzw. aus Fragen, die mit Gegenfragen pariert werden. Die nicht kenntlich gemachten Sprecher stellen sich durch ihre performativen Einlassungen als vermeintlich ahnungsloser und mithin zurückhaltend vorsichtiger ‚Erzähler‘ und als ein Publikumsrepräsentant heraus, dessen auf den Handlungsfortgang bezogenes Fragen seinerseits den Spannungsaufbau für das Erzählgut unterstreicht. 413 „west ich, ob sú inn so / hieß nach ir komen!“ (Ebd., 7829f.).
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Performativen zu dissimulieren und den Verlust der Vortragszeit mit seinerseits komisch wirkender Beschleunigung nun mit neuerlicher Plötzlichkeit des Zufalls auszugleichen: Abermals sprengt jener Hirsch zum Dornbusch heran.414 Nun scheint das Intrigenerzählen schier von mehrfach drohender Anagnorisis beschleunigt zu werden. Zunächst scheut aber das ‚gute‘ wilde Tier abermals und entweicht, ohne den im Dornbusch Verborgenen zu verraten, in entgegengesetzte Richtung. Eilhart hat hier ein Zufallsmotiv variiert: Der zufällige wie instinktivunintentionale Intrigenhelfer, der Hirsch, fungiert hier als Desavouierungsanlass lediglich möglicher Anagnorisis, die aber gleich deren nächste Gelegenheit mit sich bringt. Das auffällige Gebaren des panischen Tieres ist König Marke nicht entgangen, dessen Ergründungsinteresse nun seinerseits die Intriganten beiderseits des Dornbusches bedroht. Nun muss Isalde notgedrungen das rettende Wild instrumentalisieren und dessen Flucht schreiend forcieren, um hierdurch König, Jagdgesellschaft und Hundemeute von der ‚richtigen Spur‘ (Liebhaber im Dornbusch) auf die ‚falsche‘ Fährte (Hirsch) zu bringen. Und der Atemlosigkeiten nicht genug, lässt Eilhart ebenso plötzlich wie bedrohlich jenen Antret wieder erscheinen, der das Ross der Königin zurück zum Dornbusch führt.415 Die erste Partie dieses Wiederbegegnungsabenteuers endet abermals mit Heiterkeit, wird doch der hintergangene Begleiter zusätzlich von einem ambivalenten, für Tristrant und das Publikum jedoch völlig eindeutigen, Sprechakt Isaldes verspottet.416 Was Antret, seinerseits ebenfalls ein Intrigenopfer, als spöttische Bosheit seiner Königin erscheinen muss, ist indes ganz ernst gemeint: Isalde ist bar jeden Zorns und sehnt die Wiederbegegnung mit dem Geliebten herbei. Und während Eilharts kokett-verschlagener Erzähler den direkten Blick auf das Verabreden der Liebenden so kunstvoll vorenthalten hat, präsentiert er seinem Publikum nun ohne ästhetische ‚Hindernisse‘ ausgleichshalber das Versöhnungsglück der beiden: sú empfieng in gar miniglich, dú schön künigine. mit lieb und minne hailt sú im sin schleg zuo mavl, so daß er vergaß siner qual, alß ob er nie wurd geschlagen. och vergaß dú frow ir clagen, dar umb sú daß härin hempt truog.
414 Unmittelbar an das Performative der Passage schließt sich an: ain jäger da wÿder rieff / den hirß, daß er aber lieff / her wider zuo der wart (ebd., 7844–7846). 415 Vgl. ebd., 7849–7874. 416 Das Klagen Antrets, den Tag mit dem Einfangen des Pferdes zugebracht zu haben, repliziert Isalde so: „wölt got, söltest du an clagen / noch disen tag jagen! “ (ebd., 7882f.).
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sie hetten frovd genuog, do sú den held umb fieng. (Tr-E 7893–7902)
Was als Versöhnung der Protagonisten mit Andeutungen erotischer Deutlichkeiten erzählt wird, fungiert auch als Wiedergutmachung einem wissbegierigen Publikum gegenüber, das nun noch trefflicher auf seine Kosten kommt, als wenn ihm tatsächlich erzählt worden wäre, wie es zu jener neuerlichen Liebesnacht gekommen ist. Denn das ästhetische Vergnügen jener exstatischen Lusterfüllung, die Eilhart in vagen Konturen ausmalender Imagination seinem Publikum empfiehlt, liegt nur zu einem geringen Teil am Reiz fiktiver Erotik. Denn die Intrigenspannung, abermals gesteigert, bezieht sich nun auf dies: Werden Versöhnungswonne und Liebeslust, die alle Schläge als Aussätziger ebenso vergessen lassen wie das Leiden an Isaldens Büßerhemd, nicht schließlich doch von fataler Entdeckung zunichte gemacht? Eilhart weiß die Ästhetik der Intrige zur Aufrechterhaltung des Publikumsinteresses zu nutzen, bleibt doch die Überführung des ehebrecherischen Paares durch eine weitere Verschiebung der Anagnorisis abermals aus. Nach der Liebesnacht zieht Tristrant unbehelligt fort, kann aber seinen Intrigenhelfer Kurneval nicht finden. Bei der weiteren Suche stößt der falsche Pilger auf das königliche Lager, das gerade Austragungsort eines Turniers ist. Die Anwesenheit der königlichen Hofgesellschaft birgt abermals mannigfache Gefahren, entdeckt zu werden. Und tatsächlich wird Tristrant trotz Pilgerhabit von einem Ritter erkannt, der sich jedoch – wieder so Anagnorisis verschiebend wie späterhin ermöglichend – als sin guot fründ (Tr-E 7940) erweist. Zwar wahrt der befreundete Ritter Tristrants Inkognito, weiß diesen jedoch dazu zu verleiten, an den Kampfspielen des Turniers teilzunehmen. Wo Appelle an die ritterliche Ruhmsucht nicht verfangen, führt schließlich platte Erpressung zum Ziel.417 Der folgende Abschnitt ist als Partie einer Intrigenhandlung besonders prekär: Vom Mitwissen des vermeintlichen Freundes bedroht, ist der Vortrefflichste aller Ritter, der beim Turnier intrigenbedingt als Pilger auftritt, dazu gezwungen, weitspringend, speer- und steinwerfend zu siegen.418 Wie kann aber, wohlgemerkt vor den Augen der Hoföffentlichkeit, ein falscher Pilger in ritterlichen Disziplinen reüssieren, ohne Argwohn zu erwecken und schließlich entdeckt zu werden? Eilhart ist ein Meister darin, Szenen zu entfalten, die beständig das Entdecktwerden des Protagonisten nahelegen und zugleich die Publikumsphantasie dahingehend ‚überfordern‘, wie der Umschlagspunkt in die Katastrophe – tatsächlich – abermals 417 Der ritter sprach aber do: / „ich wil dich eß bitten also, / daß du eß ovn zwiffel tuon muost: / ich bit dich, daß du eß tuost / durch der künigin willen, / bÿ der du dick in stillen / lieblich bist gelegen” (ebd., 7984–7990). 418 Vgl. ebd., 7994–8022.
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verschoben werden kann: Der Pilger wirft verdächtigerweise den Speer soweit wie noch nie jemand zuvor, setzt ebenso über einen Graben hinweg, dass seine zerrissene graue Pilgerhose sein scharlachrotes Unterkleid sehen lässt und wirft schließlich einen Stein so weit wie niemand vor ihm, wodurch nun auch noch sein grauer Rock zerreißt, so dass es allenthalben scharlachrot durch die Pilgerverkleidung hindurch leuchtet. Auf Körper und Identität bei den Rollenwechseln Tristrants abhebend, hält Becker fest: „Beim Schießen, Springen und Werfen erweist sich Tristrants Heldenkörper als nicht zu bändigen. Seine exzeptionellen sportlichen Leistungen machen den ‚Pilger‘ verdächtig. Zudem vermag auch seine Maskerade der geballten Kraft des Körpers nicht standzuhalten […].“419 Hierdurch wird deutlich: Das Heroische als Identitätsaspekt trägt in seiner Unbeherrschbarkeit bereits die Möglichkeit zum Identitätsverlust und damit zur Narrheit in sich. Obwohl Textiles bei Eilhart nicht wie bei Gottfried allegorisch ist420 , sind Bildlichkeit und Farbigkeit von Tristrants ‚Turnierkleidung‘ gleichwohl sprechend. Sie dienen der Problematisierung von Kalokagathievorstellungen und sind Bestandteil von Eilharts Intrigenästhetik. Tristrants zunehmend Durchblicke gewährendes Intrigantengewand ist so unmetaphorisch-handlungseigen wie für seine Technik der Steigerung immer prekärerer Aufschubsmomente drohender Desavouierung repräsentativ. Mit jedem Riss im farblos-grauen Pilgerhabit sticht der Betrug zunehmend scharlachrot ins Auge. „Von nun an“, so Jan-Dirk Müller, „verschärft sich die Entfremdung von der angestammten Rolle: In der Verkleidung als Mönch [sic] ist der Held noch zu erkennen, sobald er am ritterlichen Turnier teilnimmt. Zeichenhaft dafür zerreißt am Ende die Kutte und läßt darunter das ‚richtige‘ Kleid des Kriegers erkennen.“421 Zwar bleibt das Entdecktwerden von Eilharts sympathischen 419 Becker 2009, S. 285. 420 Bekanntlich ist Tristans Schwertleite bei Gottfried nicht nur Anlass für den koketten Erzähler, topisch seine Unfähigkeit (daz ich des niht gereden kan; Tr-G 4842) zu behaupten, um dann selbstredend mit eigener Dichtung als Kunst formvollendeter descriptio (vgl. Tr-G 4929–5009) zu reüssieren. Vielmehr lässt dieser in seinen Selbstaussagen eben auch (wie Wolfram von Eschenbach) tendenziell unzuverlässige Erzähler innerhalb seines Textgewebes die textile Ausstattung für Tristans Schwertleite von Kassandra (vgl. Tr-G 4950–4964) „als Meisterin der Web- und Stickereikunst“ (Krohn 2005, S. 112) höchst selbst anfertigen. Darüber hinaus bezeichnet Gottfried auch die charakterliche Prädestination Tristans zur Schwertleite als Gewand, diu von des herzen kamere gât, / die sî dâ heizent edelen muot, / die den man wolgemuoten tuot / und werdet lîp unde leben (Tr-G 4994–4997). Auch hier konstruiert Gottfried Kalokagathie als Analogie von Kleiderpracht und ethischer Vortrefflichkeit, da Tristans Gewand bei seiner Schwertleite prächtig verziert ist von gebâre und von gelâze (Tr-G 5003). Eine weitere Beispielstelle für Kleiderallegorien bei Gottfried ist der Szenenkomplex, in dem die Beschreibungen der Gewänder von Isolde und Tristan abermals einen allegorischen Ausdruck für ihre wechselseitige Bestimmtheit finden (vgl. Tr-G 10900–10979; 11092–11145). 421 Müller 1990, S. 32.
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Ehebrechern durch unsympathische Tugendwächter bis an die Plausibilitätsgrenze seiner fiktiven Welt aufgeschoben. Allerdings gewinnt ein angesichts der Minnehandlung zunächst beiläufig scheinender Konflikt deutlichere Konturen, wodurch dieser schließlich auf jene überzugreifen droht: „Die soziale Identität, die Tristrant angenommen hatte, wird hier in dem Moment gesprengt, in dem sich seine wahre Natur Bahn bricht.“422 Eilharts Pilgerepisode ist ein Paradebeispiel für die Erzählkunst der Intrige, da diese die Überführung des Intriganten bis an die Grenze des logisch nicht mehr Aufschiebbaren zu verzögern versteht: Der Triumph des inkognito Siegenden, eines Pilgers zumal, der unter seinem Demutsgrau scharlachrote und golddurchwirkte Prunkgewänder trägt, verrät dem König zwar schließlich zweifelsfrei die Identität des Helden, aber eben erst im Nachhinein: Der Intrigant ist längst entschlüpft. Der Spielmann
Spielmann423 und Narr haben nicht nur in einer vermeintlich gemeinsamen Spielart Überschneidungsaspekte ihrer Klischees.424 Als Fahrende oder Umherziehende können beide zu den nicht sesshaften Unterhaltungskünstlern gezählt werden, singend und erzählend, Instrumente spielend und tanzend, zu Spaß und Spott simulierte Anomalien ausstellen und mit Komischem oder Törichtem amüsieren. Spielmann und Narr haben als Randständige zudem paradoxerweise inmitten der (höfischen) Gesellschaft ihren genuinen Platz: Sie gehören so wenig dazu, dass sie in deren Mitte – als exklusiver Selbstinszenierungs- und Beobachtungsnische – geduldet werden. Bei Bumke findet sich auch der Hinweis darauf, dass ein Kirchenlehrer wie Thomas von Chobham (gest. nach 1233) „die Spielleute in drei Klassen geteilt und […] bewertet hat“425 . Hier wird Thomas in Ausszügen aus seiner Summa confessorum in Bumkes Übersetzung zitiert, da sein Verdammungsurteil bestimmter iocuclatores auf Handlungen basiert, die sich auch im Erzählen Eilharts oder Ulrichs wiederfinden: Von unrettbarer Verdammnis sind demzufolge jene, „die ihre Körper in schandbaren Sprüngen oder schandbaren Gebärden verdrehen und verbiegen und die ihre Körper auf schandbare Weise entblößen“. Dasselbe gelte
422 Becker 2009, S. 285. 423 Deighton weist darauf hin, „daß man im 13. Jahrhundert […] unter dem Begriff des ‚varenden‘, des ‚vagus‘, eine äußerst heterogene Gruppe von Individuen verstand. Dazu gehörten nicht nur Spielleute jeglicher Art, sondern auch Studierte und Kleriker und auch Pilger“ (Deighton 1997, S. 148). „Über die Standesverhältnisse der Fahrenden ist nichts Genaues auszumachen. In der mittelalterlichen Gesellschaft bildeten die Rechtlosen eine Gruppe für sich, der jegliche Standesqualität fehlte“ (Bumke 1994, S. 691). 424 Zu Spielleuten und ioculatores vgl. ebd., S. 694–697. 425 Ebd.
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für Nichtsesshafte, die „zu den Höfen der Fürsten“426 ziehen und dort „Schimpf und Schande über Abwesende“427 bringen, denn „der Apostel verbietet nämlich, mit solchen Menschen zu speisen. Sie werden scurrae vagi (fahrende Possenreißer) genannt, weil sie zu nichts taugen als zum Prassen und Schmähen.“428 Schließlich gibt es eine dritte Gruppe von musizierenden Spielleuten, die sich abermals in rettbare Sänger von Helden- und Heiligenleben und eben jene Verworfenen, die „öffentliche Gelage und ausgelassene Geselligkeiten“429 aufsuchten, „um dort frohe Lieder zu singen und damit die Menschen zur Unkeuschheit anzustiften“430 , unterteilt. Der kirchlichen Verdammung korreliert die weltliche Rechtspraxis, insbesondere im Toren einen Rechtlosen zu sehen, den man nicht zur Verantwortung ziehen könne. Für fiktive Welten gilt: Den Toren wird man sogar noch argloser am Hof verweilen lassen, weil er ja letztlich, wenn er nicht gemeingefährlich ist, gar nicht ernst genommen werden kann. Folglich kann weder dasjenige, was er selbst tut, noch dasjenige, was er selbst beobachtet, anderen schaden. Diesen Rollenvorteil gegenüber dem Spielmann, dessen Zeugenschaft eben nicht per se irrelevant ist, machen sich Intriganten wie Tristrant zu nutze. Und wir sehen bereits an diesen Klischeeskizzen, dass es die Narrenlarve, eben diese zuletzt eingenommene Intrigantenrolle, sein muss, die den größtmöglichen Erfolg einer Intrige verspricht und so eben auch am nächsten zu deren Umschlagspunkt zu stehen hat. Es hat also seinen hiermit längst nicht ausgeloteten tieferen Sinn, dass Eilhart die Reihenfolge der Verkleidungsabenteuer genauso angelegt hat, dass die Narrenlarve als pikant-vielversprechendste Betrügerrolle die letzte des Liebes-Narren Tristrant ist. Eilhart bleibt zunächst seinem Strukturschema erzählten Intrigengeschehens treu. Auch die Spielmann-Episode basiert auf zwei Erzählbögen, die zunächst Verkleidung und Wiedersehen mit der Geliebten und dann die Verfolgung von Intrigant und Intrigenhelfer durch den erneut Betrogenen umfassen. Eine strukturelle Komplexitätssteigerung ist jedoch darin zu sehen, dass das Verkleidungsabenteuer von Tristrant und Kurneval als Fahrende durch die Ablenkungsepisode zweier Doppelgänger erweitert wird. Anders ist zudem: „Die Verkleidung als varend knaben (V. 8231) ist nicht degradierender als die vorigen, aber sie führt Tristrant und Kurnewal in eine gefährliche Lage, aus der sie sich nicht mehr mit eigener Kraft befreien können […].“431 Auch hierin kann eine Intensivierung des Erzählten gese-
426 427 428 429 430 431
Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Müller 1990, S. 32.
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hen werden, die äußerlich mit einem Abstieg des Protagonisten von Rolle zu Rolle korreliert.432 Neue Ereignisse im Fiktiven schaffen neuerlichen Handlungsbedarf für den Intriganten: Der Tod von Tristrants Vater führt zu einem Machtvakuum (groß werren und seren; Tr-E 8344) in dessen Herrschaftsbereich, so dass die Regentschaft unmittelbar neu geregelt werden muss. Als Ausdruck von Figurencharakter und -relation lässt Eilhart seinen Tristrant versuchen, seinen Getreuen Kurneval bereits zu Lebzeiten mit seinem Königreich zu beschenken, aber Tristrants angebotener Thronverzicht hat ebensowenig Erfolg wie der motivverwandte Verzicht Markes auf eigene Nachkommen.433 Die für Verkleidungs- wie Intrigengeschehen gängige Beratungs- bzw. Planszene hat Eilhart thematisch mit Tristrants Herrschaftsproblematik verknüpft. Anstatt selbst die Königswürde zu übernehmen, schlägt der ethisch vortreffliche und politisch kluge Kurneval Tristrant vor, ihn lediglich vorübergehend als Reichsverweser einzusetzen.434 Tristrant kann sich folglich der Notwendigkeit, selbst als Herrscher verantwortlich zu handeln, nicht entziehen, so dass die anstehende Trennung von seinem Getreuen die neuerliche Motivation für ein abermaliges Rückkehrabenteuer darstellt, denn ohne diesen als Intrigenhelfer glaubt Tristrant, seine Geliebte nie wieder sehen zu können: „wann ich gesich sie nÿmmer me, / wann ich din nit hab […]“ (Tr-E 8412f.). Der Einkleidung in ihre neue Intrigantenrolle als Fahrende geht wie schon vor dem Pilgerabenteuer keine eigene Planungsszene voraus. Der Erzähler fasst die Rollenverkleidung von Tristrant und Kurneval knapp so: do schuoffen die junglinge mit all irem gebärn und mit claidern, alß ob sye wern zwen varend knaben. zwo rott kurtz kappen truogen die garzöne. in wavren die schapperune gefüttert mit gelben friczale. (Tr-E 8428–8435)
432 Vgl. ebd., S. 31. 433 „nu hab ich ain küngrich: / daß wil ich dir ze lovn geben / und bin frov“, sprach der tegen, / „daß ich dir gelonen mag noch“ (Tr-E 8354–8357). 434 „herr, wolt ir mich lieben / und wolt mit varn, / so solt ir selber kommen dar / und geweltigen úwer rich / und richten küniglich, / waß dar inn ist geschenchen, / und lichent uwir lehn / selber mit úwer hand / und lichent ovch mir ain land, / do ich mich inn begee. / wölt ir dann wider über see / varn navch úwerm wibe, / ich da dann belibe, / und bittend dann úwer holden / daß sie an mich hopten wolten, / bÿß daß ir wider mögt kommen” (ebd., 8376–8391).
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Ideengeber und Initiator für die Ausstattung dieses Verkleidungsabenteuers bleiben ungenannt. Abermals entspricht gleiche Verkleidung der Verähnlichung von Intrigant und Intrigenhelfern und bereitet somit den Motivkomplex des Doppelgängers vor. Auch diese Episode weist einen zweiten Intrigenhelfer auf, der abermals die Botenfunktion übernimmt. Es ist wieder Tinas, der die Königin Isalde nun wissen lässt, Tristrant sei gekommen, um sie erneut im Baumgarten zu erwarten. Spannungsaufbauend fungiert hier der Erzählerhinweis, dass der Treffpunkt eben jener Garten sei, dar inn der kúng begund wartten / ob in uff der linden (Tr-E 8448f.). Die Wiederbegegnung steht inhaltlich im Zeichen unabweislichen Abschiedskummers (da lagen sy mit sorgen, / bÿß daß sy sich muosten schaiden; Tr-E 8458f.) und ist ästhetisch nicht weiter entfaltet. Strukturanalog zu dem vorausgehenden Abenteuer verhilft die Verkleidung zu einer Wiederbegegnung der Liebenden. Diese werden nicht unmittelbar entdeckt, sondern Tristrant ist abermals erst nach ihrem Treffen lebensbedrohlicher Verfolgung ausgesetzt. Jetzt ist es der Herzog Antret, dem sich Tristrant – kampflos und deshalb erbittert – durch Flucht entziehen muss: Da Waffen seine Verkleidung verraten hätten, ist er nun wehrlos. So kann er sein und des Gefährten Leben nur dadurch retten, dass er dem Verfolger mit einem Nachen entkommt.435 Auf den Verrat Antrets hin, das ehebrecherische Paar habe den König abermals betrogen, verschärft Marke martialisch die Verfolgung der Entflohenen und bedroht jeden potentiellen Intrigenhelfer Tristrants sogar mit dem Verlust des Augenlichts.436 Diese neue Dimension des königlichen Zorns ist als Spannungsmoment wichtig, da es nun für beide Seiten, für Tristrant und Kurneval wie für seinen Boten Tinas, mehr als riskant wird, sich wieder zu begegnen, was dann aber doch geschieht. Eilhart führt hier eine weitere Facette seiner Intrigenästhetik ein und lässt nun kurzzeitig das Publikum zum Intrigenopfer werden. der herr Tÿnaß in do vieng und bravcht inn sinem wib und gebott ir bÿ irem lib, in halten, daß in niemen säch […]. (Tr-E 8552–8555)
435 Vgl. ebd., 8470–8493. Die Flucht ist nichts weniger als spektakulär: Dem Nachen fehlen Ruder oder Staken. Einzig dadurch, dass jener Speer, den Antret auf Tristrant schleudert, am Schiff zerbricht und Tristrant jetzt dessen abgebrochenen Schaft zum Staken nutzen kann, gelingt die Flucht (vgl. ebd., 8501–8515). 436 Markes unbändiger Zorn wird nun an seiner Androhung ablesbar, dass seine Wächter nicht nur ihres Landes, sondern auch ihres Augenlichts beraubt würden, wenn sie jemanden passieren ließen, bevor Tristrant gefangen genommen worden sei (vgl. ebd., 8533–8541).
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Während man glauben soll, Tinas – von königlichem Zorn genötigt – opfere weder Land noch Augen, fürchtet man also wieder – wie Isalde – um Tristrants Leben, das nun doch auch keine Verkleidung mehr schützen kann. Aber Eilhart hat die Tinas-Figur mit einer anderen Aufgabe versehen, die diese auch weiterhin als treuen Intrigenhelfer agieren lässt. Vorübergehend erliegt das Publikum selbst dem Täuschungsgespinst des Handlungsgeflechts bis es gewärtigt: Tristrant befindet sich zwar auf Tinas’ Burg, dort aber quasi in lebensrettender ‚Schutzhaft‘, die ihn tatsächlich vor dem Zorn des Königs bewahrt.437 Mit der Verlegung des Handlungsortes in Isaldes Kemenate setzt der Erzählabschnitt jener Gegenintrige Isaldes ein, deren Protagonisten nun aber tatsächliche Fahrende (Plot und Haupt) sind, deren eigene Notlage, sÿe hetten verspielt ir gewand (Tr-E 8575), sie als willfährige wie talentierte Intrigenhelfer Isaldes agieren lässt: als Doppelgänger der Fahrenden Tristrant und Kurneval.438 In diesem Kontext wird eine regelrechte Planszene geboten, in der aber nicht beraten, sondern königlich gebeten wird: Gegen unermesslichen Reichtum bittet die Königin Plot und Haupt um Hilfe, um sinen [Tristrants] lib und min [Isaldes] er (Tr-E 8611) zu retten. Eine über das bisherige Geschehen erstaunlich wohl informierte Königin erweist sich beim Ersinnen des nun folgenden Rettungsmanövers abermals als exorbitant intrigenkompetent:439 Die beiden Habenichtse sollen sich, als Fahrende mit den Verfolgten zwingend verwechselbar, von Markes Leuten gefangen nehmen lassen. Selbst unter peinlicher Befragung sollen sie unbeirrbar behaupten, eben jene Verfolgte zu sein, denen auf ihrer Flucht ein Speer ins Boot nachgeworfen worden sei. Erzählökonomisch werden die jüngst angeworbenen Intrigenstatisten in unmittelbarem Anschluss an die Planszene des Komplotts auch prompt gefangen genommen. Eilhart lässt nun tatsächlich sämtliche Gefährdungen und Bedrohungen eintreten, die Isaldes Intrigenplan bereits vorweggenommen hat. Das Publikum ist also – auch darin liegt ein ästhetischer Sinn vorhergehender Plan- und Beratungsszenen von Intrigen – auf geeignete Handlungsmomente vorbereitet, deren Arrangement das Potential zur Realisierung permanent drohender Desavouierung der Intriganten hätte.
437 [E]r [Tristrant] möcht sust nit sin genesen, / wer er in die gefencknuß nit kommen. / […] daß im Tÿnaß nit den lib nam. / der küng waß im so gram, / hett er in gefangen, / eß wär im an daß leben gangen (ebd., 8560–8566). 438 „In diesem Rückkehrabenteuer schützt die Verkleidung den Helden nun auch nicht mehr vor dem Erkennen durch seine Feinde“ (Becker 2009, S. 286). Die Erweiterung der Gruppe der Intriganten zu zwei Paaren von (richtigen und falschen) Spielleuten ist ihrerseits die Bedingung der Möglichkeit, abermals das Überführtwerden und Festsetzen des Intriganten Tristrant aufzuschieben: „Indem die Spielleute als Double der beiden Ritter auftreten, können sie entkommen, obwohl es eigentlich keinen Ausweg mehr gibt“ (ebd.; vgl. hierzu Müller 1990, S. 32). 439 Woher Isalde die genauen Umstände von Tristrants Flucht und Not kennt, wird nicht erzählt.
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Auch in dieser Betrugs- und Täuschungsepisode wird die Anagnorisis mehrfach nahegelegt, um aufgeschoben zu werden. Isaldes Plan hält hierfür zwei strukturelle ‚Schwächen‘ bereit: die Plantreue und Standfestigkeit der beiden Doppelgänger Plot und Haupt sowohl bei der gemeinsamen Verhaftung als auch bei dem getrennten Verhör, bei dem kein Intrigant mehr wissen kann, wie sich der Komplize verhält, um Leben und Täuschungsillusion zu bewahren. Auch diese Dialogpartien sind Kabinettstücke Eilhart’scher Erzählkunst einer minimalistischen Ästhetik, die es auf engstem Raum versteht, Spannung aufrecht zu erhalten und im Semantischen dadurch intrigant zu sein, dass es gerade ‚maximale Vagheit‘ ist, die den lebensbedrohlich Bedrängten unmerklich aus der Falle schlüpfen lässt. Dass das Gelingen des Betruges jener ‚echten‘ Spielleute, die im Sinne der Verfolger Tristrants freilich die ‚falschen‘ sind, keineswegs trivial ist, bewirkt bereits der Argwohn des Herzogs Antret, der, wie planend antizipiert440 , die gefassten Fahrenden erst öffentlich vernimmt, dann aber seiner Zweifel wegen auch getrennt peinlich verhört.441 Selbst mit angedrohter Todesstrafe vermag der Herzog aber bereits den zuerst allein Verhörten nicht dazu zu verleiten, aus seiner Rolle zu fallen. Das ist deshalb in seiner Logik unterhaltsam komisch, weil der unbeirrte Lügner überzeugend vorgibt, aus Wahrheitsliebe nichts anderes aussagen zu können, so dass sich Antret dem zweiten Gefangenen seinerseits aufwendiger, also mit Hinterlist, zuwenden muss: Er sucht dessen Geständnis durch die Lüge zu erringen, dass eben der andere ‚Lügner‘ bereits gestanden habe. Dieser gefährlichste Moment des gesamten Geschehens der Intrigenepisode amüsiert durch zweierlei: zum einen durch die Spannung, ob ein weiterer Helfershelfer tatsächlich plantreu sein Leben riskiert. Zum anderen, weil Eilharts Sympathielenkung noch mehr verlangt, da sich sofort auch die Frage stellt, wie es gelingen kann, als so in die Enge getriebener Intrigant weiter zu lügen und zu überleben. Doch es gelingt. Auch der zweite Spielmann lügt standhaft weiter, wodurch er handlungslogisch – also aus der Perspektive des Verhörenden – dadurch bei der Wahrheit bleibt, den angeblich Geständigen als Lügner zu beschimpfen. Die argumentative Falle besteht nun darin, den inquisitorischen Herzog seinerseits darauf zu verpflichten, doch nichts als die Wahrheit, die er ja bereits kenne und der man selbst eben nicht widersprechen könne, ohne zu lügen, hören zu wollen. Tatsächlich müssen die beiden Doppelgänger auf Geheiß des Königs freigelassen werden, denn nun muss der Augenzeuge von Tristrants Flucht im Nachen (Herzog Antret) ‚fälschlich‘ gestehen, sich tatsächlich getäuscht
440 In der Planszene mit Plot und Haupt gibt Isalde diesen die Anweisung, sie sollten nach ihrer Gefangennahme ‚berichten‘ – wie Tristrant und Kurneval – mit einem Boot geflüchtet zu sein, wobei ein ihnen nachgeschleuderter Speer am Schiffsrumpf zerbrochen sei (vgl. Tr-E 8644–8656). 441 Zum öffentlichen Verhör der gefassten Doppelgänger durch Herzog Antret vgl. ebd., 8688–8698; Zu dem von Isalde bereits einkalkulierten Vernehmen der separierten Gefangenen vgl. ebd., 8699–8741.
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und nicht Tristrant, sondern anscheinend fremde Fahrende im Nachen verfolgt zu haben. Ein weiteres Verkleidungsabenteuer Tristrants endet. Strukturanalog zu den Anlässen ästhetischen Vergnügens aus ‚enttäuschten‘ Publikumserwartungen mit Blick auf eintretende Intrigenaufdeckung sind es gar nicht die Intrigenprotagonisten gewesen, um die wir gebangt haben, sondern, ihrerseits die Komplexität der Geschichte steigernd, deren Helfershelfer. 2.1.5 Der Narr als das Selbst im ganz Anderen442 Es folgt das letzte Wiederkehr- und Verkleidungsabenteuer von Tristrant als Narr.443 Seine Positionierung im gesamten Handlungsverlauf, also vor neuerlicher Verwundung des Protagonisten und dem doppelten Liebestod am Ende der Geschichte, prädestiniert dieses auch dazu, ein inhaltlicher wie ästhetischer Höhepunkt der Erzählleistung Eilharts zu sein. Die Narrenepisode enthält vor allem den Konflikt von (unhöfischer) Liebe und (höfischer) Gesellschaft als eine Zuspitzung […]; denn hier geht es nicht allein darum zu erzählen, wie geschickt Tristrant und Isalde durch zahlreiche Betrugsmanöver ihre Liebe vor der Gesellschaft verbergen, sondern zum ersten und einzigen Mal ist es ihnen aufgrund von Tristrants Verkleidung möglich, vor der versammelten Hofgesellschaft über diese Liebe zu sprechen, ohne sofort Verfolgung befürchten zu müssen.444
Die Kriterien einer solchen ‚neuen‘ ästhetischen Qualität lassen sich mithin leicht benennen und werden ebenso durch zunehmenden Facettenreichtum des Erzählens als auch durch dessen artifiziellere Verknüpfungen zu einem kompositorischen Erzählganzen deutlich. Auch Eilharts Ästhetik hat vornehmlich drei Register: das epische Erzählen, die Performanz des Erzählers und die Dialogizität von Figurenreden. Diese narrativen Grundmodi wechseln in diesem letzten Verkleidungsabenteuer
442 In Anlehnung an Walter Haug liest Müller die schwankhafte Ästhetik der Narrenepisiode im Sinne einer „Ästhetik der Negation […], einer Ästhetik, die im Häßlichen und Entstellten das ‚ganz Andere‘ sichtbar macht“ (Müller 1990, S. 36f.). Wir fassen hier das ‚ganz Andere’ nicht als völligen Identitätsverlust, sondern als paradoxe Widerspiegelung eines liebenden Selbst, das im Zwanghaften des Dilemmatischen zur Pardoxie des Selbst findet. 443 Zu Tristrants Wiederkehrabenteuer als Narr bei Eilhart von Oberg vgl. Heinz Stolte 1941, S. 91–93; Müller 1990, S. 32–34; Matejovski 1996, S. 201–216; Schausten 1999, S. 80–83; Gert Hübner: Erzählform im höfischen Roman. Studien zur Fokalisierung im ‚Eneas‘, im Iwein und im Tristan. Tübingen/Basel 2003 (= Bibliotheca Germanica 44), S. 290–292; Kraß 2006, S. 244–253; Masse 2008; Becker 2009, S. 286–288. 444 Schausten 1999, S. 80.
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häufiger und auf engerem Erzählraum. Zudem ist auch signifikant, welche weiteren Funktionen das jeweils realisierte Register für die jeweilige Erzählpartie hat. Das letzte Rückkehrabenteuer, in dem Tristrants Verkleidung als Narr im Zentrum steht, ist aber nicht nur von narratologischer, sondern auch von (körper-)semiotischer, sprach- und kommunikationstheoretischer Besonderheit. Eilhart schließt mit der Narrenepisode die serielle Sequenz von Betrugs- und Verkleidungsabenteuern mit Motivwiederholungen als Steigerungsvarianten ab und reichert somit die bisher herausgearbeiteten Strukturschemata seiner Intrigenhandlungen zusätzlich mit Komplexität an. In dieser Blickrichtung wird beispielsweise auf das erweiterte Personal an Intrigenhelfern und -mitwissern ebenso einzugehen sein wie auf eine neue Dimension der Intrigantenperfidie, die Simulationen und Dissimulationen noch wirkungsmächtiger erscheinen lässt. Im Zusammenhang mit der Verkleidung als Narr wird auch die semiotische Dimension dieser Rolle, ihrer Äußerungen und ihres Gebarens stärker als bei den vorherigen Betrugsgeschichten in den Vordergrund treten. Mithin fällt auch die Perspektivität der Figurengruppen – Betrüger und Betrogene – stärker ins Gewicht. Hierbei werden auch die Dimensionen des Dilemmatischen und des Paradoxen durch forcierte Ambiguisierungen der Sprechakte noch deutlicher hervorgehoben. Ästhetisch exponiert wird der literarische Einsatz von figuren- und rollenspezifischer Perspektivität, intrigengenuinen Täuschungen und deren drohende Entdeckung(en) auch dadurch, dass abermals überraschend hereinbrechende Anagnorisisdrohungen ebenso plausibel wie glückhaft zufällig verschoben werden. Abermals wissen die Rezipienten mehr als die Betrogenen: „Es ist“, so Hübner, „diese Teilhabe an den kognitiven Privilegien, die Eilharts Rezipienten zu Komplizen der Liebenden und ihrer Helfer macht.“445 Körpersemiotische Voraussetzungen natürlicher Torheit
Mit der Motivation neuerlicher Ortswechsel hat es sich Eilhart leicht gemacht. Wieder sind es Herrschertod und kriegerische Unruhen, die Tristrant als umtriebigen Helden nach Karahes, also zu seiner Frau Isalde und deren Bruder Kehenis, führen.446 Abermals nimmt der tapfere Recke blutige Rache an denen, die sich gegen die Seinen zu vergehen trauten. Und dieses Mal sogar noch mehr als das. Nachdem bereits Sieg und Sühne errungen sind, zieht Tristrant gleich gegen eine ganze Stadt, da von eß kam, / daß Keheniß den schaden nam (Tr-E 8809f.). Die Unterwerfung der Feinde seines Freundes Kehenis und die Wiederherstellung von dessen Herrschaftsund Machtverhältnissen reichen ihm nicht. Dem Ausgangspunkt des kriegerischen
445 Hübner 2003, S. 290. 446 Vgl. Tr-E 8789–8810.
Intrigante Anomalie und Ästhetik: Tristrant und Isalde Eilharts von Oberg
Übels, in diesem Falle einer ganzen Stadt, gilt dies: Tristrant gewan sÿe mit gewalt / und verbrant sÿe an dem tag (Tr-E 8812f.). Der Rachefuror des Heros schlägt jedoch auf diesen selbst zurück, denn Kapitulationsverweigerer behaupten sich noch in einem Turm, bei dessen Erstürmung der bislang unverletzte Tristrant den helm er nicht band. deß ward er geworffen ze hand mit ainem laststain, daß man den held rain, truog von dannen fúr tod. (Tr-E 8825–8829)
Von anonymer Hand kommt der exklusive Held fast zu Tode. Wohl gemerkt, nicht ein heroischer Gegner, nicht eine Übermacht bringt den Heros zu Fall, sondern dieser – durch tragische Unachtsamkeit – sich selbst.447 Eine Selbstgefährdung dieses Ausmaßes darf wohl hier bereits als Torheit bezeichnet werden. In der Kürze der Passage erzählt Eilhart en passant auch von einer Sinnkrise des Heroischen, denn Zufall – ein Stein von irgendwo herab geworfen – siegt hier über alle ritterlichen Kampftugenden. Ohne einen adäquaten Gegner wird aber auch keine Fama stimuliert. Die Krise, die hier droht, ist katastrophal, weil mit dem wahrscheinlich gewordenen Tod kein Ruhm einhergeht. Somit sind hier schon zwei Aspekte der Narrenepisode thematisiert: die Identitätsproblematik448 und eine Bedrohung – selbst für Helden –, die nicht von außen kommt: die eigene Torheit. Wie auch Tristrants todbringende Verwundung sei „schon seine Entstellung ohne jeden kausalen Zusammenhang mit seiner Liebe“ und nichts spreche dafür, „daß sie als Strafe gedeutet werden soll“449 . Man muss wohl nicht so weit gehen, in der identitätsbeschädigenden Verwundung Tristrants eine moraldidaktische Schicksalszeichnung zu sehen, etwa für die überdimensionierte rach (Tr-E 8811) an der gegen Kehenis kämpfenden Stadt. Aber Eilharts Erzähler präzisiert immerhin das innere Movens seines Protagonisten, sich in einem Kriegsgeschehen derart töricht zu verhalten, das seinerseits eines didaktischen Effektes nicht entbehrt. Es ist der zorn (Tr-E 8824) des Helden, der ihn im Kampf so überheblich unvorsichtig wie
447 Ohne anteiliges Selbstverschulden wird Tristrants Verletzung als ausschließlich „kontingente Einwirkung von außen“ (Becker 2009, S. 286) beschrieben: „Bei der Erstürmung einer Burg trifft ein Stein Tristrant am Kopf “ (ebd.). 448 Hierin sieht Schausten auch einen wesentlichen Unterschied zu Tristrants bisherigen Rückkehrals Verkleidungsabenteuern, „daß sich sein Äußeres, ein Teil seiner Identität, tatsächlich verändert hat“ (Schausten 1999, S. 81). 449 Müller 1990, S. 33.
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tödlich verwundbar macht.450 Somit korreliert dieser unversehene Lasterausbruch noch mit einer zweiten Untugend: dem Hochmut. Beide, zorn und übermuot, haben – moraldidaktisch gedacht – eine gemeinsame Wurzel im Gegenteil dessen, das gemeinhein als Mutter aller Tugenden firmiert: der mâze.451 Dass deren Missachtung in der Vorstellung des zeitgenössischen Tugenddiskurses – didaktischer wie erzählender Literatur – Tugendhaftigkeit insgesamt – als swester der unstaetekeit (DWG 12338)– kollabieren lässt, braucht an dieser Stelle lediglich in Erinnerung gerufen zu werden, denn im 13. Jahrhundert gilt weithin: Mvter aller tvgende Gezimet wol der Jvgende Mazze ist so genant.452 Als Affekt eines Kriegers mag der Zorn – richtungsgelenkt auf Feind und Sieg – als Heroentum gelten. Eilhart schildert jedoch Tristrants Zorn noch als ein Weiteres: als einen Akt der Unbedachtsamkeit infolge eines Kontrollverlustes über Affektives. Moraldidaktisch ist ein derartiger Zornesausbruch – wie es bei Thomasin von Zerklaere heißt – als [u]nmâze […] der nerrescheit / bote (DWG 9895f.): Unmâze ist der nerrescheit bote und der trunkenheit gespil unde der übermuot niftel, swer sîn war tuot. unmâze ist des zornes kraft, unmâze hât niht meisterschaft. (DWG 9895–9900)
Nach weit verbreiteten Kalokagathievorstellungen ist dieser sich abzeichnende moralische Makel des Protagonisten bereits auch eine erste Einbuße eben nicht nur von Tugend-, sondern auch von Körperschönheit.453 Hiermit geht eine durchgreifende Identitätsveränderung des Helden einher: „Schönheit und Heldentum sind nicht mehr aneinander gebunden.“454 Was als Verlust eigener Affektkontrolle, also aus übermuthaftem zorn (Tr-E 8824), schließlich in Lebensgefahr bringt, hat nicht nur den angedeuteten didaktischen Hintersinn, sondern in unserem Zusammenhang vor allem semiotische ‚Konsequenzen‘. Ein Steinschlag wandelt den schier Makellosen nicht zum bloß irgendwie Versehrten. Vielmehr ist Tristrants Kopfverletzung,
450 do sÿe deß turnß nit wolten geben, / in zorn suochten do der tegen (Tr-E 8823f.). 451 Vgl. Bumke 1994, S. 418f. 452 Die Maze. In: Mittelhochdeutsche Übungsstücke zusammengestellt von Heinrich Meyer-Benefey. Halle 1920, S. 24–30, hier S. 24. 453 Zur Verletzung als Schönheitsverlust vgl. Hübner 2003, S. 290. 454 Becker 2009, S. 287. Auch wenn wir den Begriff des Attributs anders fassen, gilt ferner: „Andere Attribute, seine Liebe zu Isalde und sein Heldentum, sind dagegen unablöslich mit dieser Figur verbunden, sie bilden das Zentrum ihrer Identität“ (ebd.).
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ihrerseits hervorgegangen aus der Willkür kontingenten Kriegsgeschehens, von prekärer, weil ambivalenter, mithin wissens- und perspektivabhängiger Signifikanz. Der Kriegswunde ist wieder einmal dem Tode nahe, Ärzte müssen zur Wundversorgung und zu Heilungstorturen herbei geholt werden und zudem kann dem Verwundeten nicht erspart werden: ab schar man im sin havr (Tr-E 8853). „Das abgeschorene Haar“, so Marie-Sophie Masse, kann als die sichtbarste Erscheinung der verlorenen ritterlichen Kraft gelten – und vielleicht sogar, im Sinne von Samsons Vorbild, als deren Ursache gedeutet werden –, und es ist auch die sichtbarste Erscheinung der verlorenen Schönheit. Da Schönheit und ritterliche Kraft ja eng miteinander verbunden und für Tristrants Identität konstitutiv sind […], wird der Identitätsverlust, als am Ende seiner Laufbahn nun beide Tugenden verloren gehen, mit Nachdruck herausgestellt.455
Tristrants Kopfverletzung bzw. die Haarschur wird schließlich in einem kultursemiotischen Sinne die Bedingung der Möglichkeit, die eigene Identität – in diesem Falle gefahrlos – zu dissimulieren, weil dieses ambivalente Körperzeichen in spezifischem Kulturkontext, wie einleitend gezeigt, für natürliche Torheit dadurch signifikant ist, dass es der Semiotik einer konventionellen Stigmatisierung entspricht: Toren werden die Haare geschoren. Damit ist dem weiterhin Intriganten ein erstes Moment für die perfekte Simulation eines natürlichen Narren als Verkleidungsrolle schlichtweg aus dem Handlungskontingenten zugekommen: Der Zufall wird erneut Intrigenhelfer.456 Deshalb aber gilt, dass sich Tristrant im Gegensatz zu vorherigen Rückkehrabenteuern nicht lediglich verkleidet: Er ist ein anderer geworden, denn anders als in den ‚Folies Tristan‘ hat er tatsächlich die Gestalt eines Narren: Er ist kahl und häßlich; er kann nicht wie der Held der ‚Folies‘ die Schminke einfach abwaschen, nachdem Ysalde ihn erkannt hat; seine Schönheit, Teil der Identität des feudalen Heros, ist zerstört.457
Dadurch, dass ein arbiträres Körperzeichen von Intrigenopfern wie Figuren oder Rezipienten semiotisch als Körperzeichnung aufgefasst werden kann, die konventionell Stigmatisierung bedeutet, ist bereits kultursemiotisch jene Verlässlichkeit dahin, vom Zeichen auf den Ge- bzw. Bezeichneten schließen zu können. Denn auch in diesem Detail der Erzählung, der Haarschur des Kriegers, die der Toren455 Masse 2009, S. 18. 456 Zugleich bleibt aber diese Kalokagathie gültig: Masse fasst „die körperliche Entstellung metonymisch“ und bezieht diese entsprechend auf den „psychischen Zustand“ (Masse 2009, S. 19) des Helden, dessen Minnesehnsucht ihn schließlich zum Minne-Narren erniedrigt. 457 Müller 1990, S. 32.
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tonsur „als Kennzeichen der Irren“458 gleicht, erweisen sich Signifikanten als das, was sie auch in mittelalterlicher Literatur sind: ästhetische und von Menschenhand, von Tieren gar oder von anonymer Schicksalsmacht manipulierbare Bedeutungszuweisungen. Zudem ist Tristrants Körperzeichen nicht zu trauen. Der versehrte Tristrant ist nicht schlechterdings zum stigmatisierten Wahnsinnigen geworden. Allerdings fungiert der Haar- bzw. Schönheitsverlust als Indikator für einen anderen drohenden Identitätsverlust: die höfische Qualität. Darauf kommt es bei ‚erfolgversprechendem‘ Simulieren an: Die Intrigenopfer sollen die Simulation für ganz natürlich halten. In diesem Sinne profitiert der kriegsversehrte Tristrant – ebenfalls unintendiert – davon, dass seine Kampfverletzungen ihn so entstellen, dass annähernd perfekte (Torheits-)Simulation ebenfalls schier undurchschaubare (Tristrant-)Dissimulation ermöglichen wird. er mocht nit ritten noch govn. er wz och anderß getavn er waß do bevor: sin schön hett er verlorn und hett ain sölich gestelnuß daß dz waß gewÿß, deß in wenig jeman kant. (Tr-E 8855–8861)
Abermals wird auf ein Identitätsphantasma angespielt: auf die Zusammengehörigkeit von ständischer Exklusivität und Körperschönheit. Der Verlust von Tristrants ritterlicher Identität und damit seiner individuellen Exklusivität als ideale Verkörperung höfischer Sitte und ritterlichen Kampfethos’ wird zunächst dadurch veranschaulicht, dass er nicht mehr reiten kann. Das Wiedererkennen eines Ritters wird bereits dadurch erschwert, dass dieser zu Fuß kommt. Dass aber annähernd jeder Rückschluss auf Tristrants wahre Identität unmöglich geworden ist, liegt vor allem an diesem Effekt seiner Entstellung: dem Verlust seiner Schönheit.459 Das semiotische Band fiktiver Kalokagathie lockert sich in der Dissoziation von ritterlichem Helden und dessen Äußerem weiter. Denn „[d]er höfische Ritter war nicht nur fromm und tugendhaft, er war auch schön […].“460
458 Matejovski 1996, S. 205. 459 Im Gespräch mit Morolt adressiert dieser Tristrant so: schöner júngling gemaid (Tr-E, 869). Wenn Isalde den verwundeten Helden eigenhändig wäscht, wird bei Eilhart erzählt, daß er wider zuo siner varb käm. / do ward er lustsam (ebd., 1952f.). 460 Bumke 1994, S. 419.
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Bumke hat für die höfische Dichtung herausgestellt, dass deren Autoren auch die „körperliche Schönheit“461 als Ausweis ständischer Exklusivität angesehen haben. Aber auch in der moralischen bzw. didaktischen Literatur werden Tugend- und Körperschönheit verbunden, beispielsweise bei Thomasin von Zerklaere: beidiu man unde wîp hânt vümf dinc in ir lîp und vümfiu ûzem lîp vür wâr; diu muoz diu sêle rihten gar, ode si bringent grôze untugent beidiu an alter und an jugent. diu vümf man imme lîbe treit: sterk, snelle, glust, schoene, behendekeit. ûzem lîbe hânt vümf kraft: adel, maht, rîchtuom, name, hêrschaft. (DWG 9731–9740)462
Zu dem Menschen, präziser: dem Adligen, eigenen äußeren Qualitäten gehört die Körperschönheit (schoene), für die er mit seinem Handeln Verantwortung trägt. Denn für Thomasin gilt auch jene harsche Konsequenz der Kalokagathie: swer diu zehen niht rihten kan / mit sinne, der sol niht heizen man (DWG 9741f.). Einem Menschen aber, der ‚selbstverschuldet‘ seine Standeszugehörigkeit verliert, wird bei Thomasin das Menschsein abgesprochen: Er hat Torenstatus. Bereits an dieser Stelle der Mutation des Helden Tristrant zum äußerlich natürlichen Narren lässt sich auch für das letzte Rückkehrabenteuer als These formulieren: Tristrants Narrenrolle ist eben nur partiell Verkleidung, also nur bedingt kontrollierte bzw. kontrollierbare Simulation; zu einem Großteil ist sie eben auch von suggestivster Natürlichkeit, wodurch sie sich grundlegend von den bisherigen Rollen unterscheidet. Und es wird eben an diesem Charakter liegen, dass Tristrants letzte Identitätsverschleierung den Intriganten am besten verbirgt und damit am zielsichersten agieren lässt. Es ist seine einzige Verkleidung, in der es gelingt, unmittelbar am Hof aufzutreten und Isalde in der höfischen Öffentlichkeit zu begegnen, mit dem König zu sprechen und darüber hinaus mit seiner Geliebten eine letzte Phase gemeinsamer Liebeserfüllung zu (er-)leben. Denn für Tristrants letzte Rolle gilt: „Diese Häßlichkeit, die ihn als Liebhaber disqualifizieren könnte, erlaubt ihm die Rückkehr im Inkognito.“463
461 Ebd. 462 Vgl. hierzu ebd., S. 420f. 463 Müller 1990, S. 32.
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Tristrants letzte Verkleidung ist vor allem deshalb erfolgreich: Sie entspricht dem, was sich die mittelalterliche Hofgesellschaft (in der Erzählwelt Eilharts) unter einem Narren vorstellt, welche Handlungsspielräume sie diesem einräumt, welche kollektiven Umgangspraktiken mit dieser Außenseiterfigur als usuell dargestellt werden. Denn die Erfolgsaussichten des intriganten Tristrant-Narren lassen sich auch daran ablesen, inwiefern es gelingen wird, sein Publikum, die Hofgesellschaft und die Rezipienten, bei seinem Auftritt mit Habitus und Gebaren davon zu überzeugen, dass er gar nicht Tristrant ist. Mit anderen Worten: Die von Tristrant neuerlich geforderte Intrigenkompetenz umfasst schließlich zutreffendes Antizipieren der Kollektivvorstellung(en) von natürlicher Narrheit und deren adäquate, d. h. überzeugende Performance. Auch in dieser Hinsicht ist der Szenenkomplex ‚Tristrant als Narr‘ ein Handlungshöhepunkt, muss der Simulant doch erstmals tatsächlich vor der Hoföffentlichkeit auftreten und dort rollenkonform agieren, wenn seine Täuschung gelingen soll.464 In dieser Hinsicht hängen Dilemma, Paradox und Torheit schließlich zusammen: Durch den Minnezwang wandelt sich Tristrant – im höfischen Sinne – zum ganz Anderen. Einzig als Narr kann er Isalde am Hof nahe sein, um Liebe als Lust gewähren und erfahren zu können. Und auch für Isalde gilt: Nur mit dem outlaw, dessen spektakuläre Auftritte ihn ‚übersehbar‘ machen, ist eine ebenso zwanghafte wie ehebrecherische Liebe möglich, die bei Eilhart aber immerhin als Glück erzählt wird. Die Bedingung dieses gerade nicht verurteilten Liebesglückes, das auch ein sexuelles ist, muss provokant erscheinen. Mit dem falschen Narren unter der Treppe, den man nach Belieben zu sich in die Kemenate kommen lassen kann, entsteht am Ende der Geschichte eine komische Liebesutopie. Tabu und erfüllte Zweisamkeit haben wider alle höfischen Konventionen in der Architekturmetapher Eilharts eine ‚Nische‘ gefunden, die eben hierin für die Liebe Paradiesisches hat: So utopischideal sie auch erscheinen mag, sie kann als solche eben nicht von Dauer sein. Der Reiz dieser ästhetischen Konstellation, das Dilemmatische vorübergehend utopisch im Paradoxen zu bergen, ist unabweislich. Selbst schwankhaftes Erzählen wie dasjenige Vom ritter mit der halben birn wird – parodistisch anverwandelt – hieraus die Raffinesse seiner Frivolität beziehen. Mit Blick auf Eilharts moraldidaktischen Epilog, vorerst auch inhaltlich ernst genommen, bekommt die serielle Sequenz von Tristrants Rückkehrabenteuern eben
464 In dieser Hinsicht ist der Figuration ‚Tristrant als falscher Narr‘ trotz täuschungsbegünstigender Körperzeichnung auch Spannung eingeschrieben, ob die eigene Affektkontrolle hinreichen wird, nicht aus der angenommenen Rolle zu fallen, die eben auch rollengemäßes Traktiertwerden – z. B. an den Ohren gezogen werden – impliziert. Wir greifen vor: „Tristrant kann sich kaum beherrschen, Antret dafür zu erschlagen, unter Mühen gelingt es ihm, seiner Rolle treu zu bleiben“ (Schausten 1999, S. 81).
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gerade dadurch ihren warnenden Charakter, dass die letzte Verkleidungsepisode mit Tristrant als Narren zweierlei bietet: zum einen die (temporäre wie ehrlose) Erfüllung eines fatalen Liebesverlangens; zum anderen aber auch das am stärksten konturierte Negativexemplum eines derartigen Identitätsverlustes, der Tristrant als Minne-Narren nicht nur aus der höfischen, sondern – wie bei Thomasin von Zerklaere – auch aus der menschlichen Gesellschaft ausstößt. Denn das verdeutlichen die vorausgehend zitierten Verse Thomasins ebenso unmissverständlich wie das Handlunsgeschehen bei Eilhart: Der Minne-Narr als Verkörperung einer ganzen Summe von Normverstößen und Tabubrüchen ist nicht nur seines einstigen Standes ledig, sondern auch seiner Gattungszugehörigkeit. Für derartigen Kulturwie Zivilisationsverlust hat das Mittelalter ein Abschreckungsstereotyp geschaffen: den Narren. Ungeahnter Intrigenhelfer und neuer Betrugsplan
Im Vorausgehenden hat sich bereits abgezeichnet, dass die Narrensimulation ein Paradoxon ist, da ihre betrügerischen Erfolgsaussichten immer mit besonderen Entdeckungsgefahren korrelieren. So wie sich aus dem verarzteten Verwundeten quasi von selbst ein natürlicher Tor entwickelt hat, so entstammen sowohl Sehnsuchtsschmerz, so entstellt die Geliebte wohl nie wieder sehen zu können465 , als auch ein neuer Betrugsplan diesem neuerlichen Potential zur Täuschung anderer. Das Scheitern der Rückkehrabenteuer als Pilger oder Spielmann hat im Rückblick des nun so zugerichteten ‚Simulanten‘ die latente Notlage ins schier Aussichtslose gesteigert. Alle bisherigen Verkleidungen wurden entdeckt, Entdeckungen schufen neue Notlagen, und nur immer neue Nothelfer konnten das Schlimmste vereiteln. Zu allem Überfluss muss Tristrant nun auch noch seinen getreuen Kurneval entbehren. Die Ästhetik des Seriellen, dessen Motive bei ihrer Wiederholung gesteigert werden, ist folglich so komplex, dass sie nicht endlos perpetuiert werden kann. Sich steigernde Wiederholung findet dort ihre Grenze, wo die Motivsteigerung an die Plausibilitätsgrenzen des Fiktiven stößt. Dem immerhin wieder zum Reiten genesenen Tristrant stellt Eilhart mit dem Sohn seiner Schwester schließlich einen neuen Intrigenhelfer zur Seite. Der Knabe genießt offenbar das uneingeschränkte Vertrauen seines liebeskranken Onkels, plaudert man gemeinsam doch offen über die unerreichbar gewordene geliebte Königin, die für Tristrants Neffen ja immerhin die Gattin seines königlichen Großonkels ist.466 Dass das ehebrecherische Liebesverhältnis in Figurendialogen so
465 „owe, lieb künginne, / sol ich dich nit me senchen? / wie sol mir dann geschechen? […].“ (Tr-E 8872–8874). 466 Vgl. ebd., 8862–8925.
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vielfach als offenes Geheimnis behandelt wird, hat zwei Effekte: Zum einen verliert das Nichtverheimlichte in dem Maße an Tabucharakter, wie sich das Publikum unweigerlich mehr und mehr mit seinem Protagonisten identifiziert. Auch das ist eine ästhetische Funktion von Wiederholung als Serialität erzählter Abenteuer: Die Erzählkunst muss schließlich über die (Un-)Moral des Erzählguts triumphieren, weil außer den Betrogenen inzwischen alle, Figuren wie Publikum, Mitwisser und -verwörer, durch dies eine offene Geheimnis verbunden sind. Zum anderen macht dieses Vertrauen daß kind (Tr-E 8875), den treuen Krankenbegleiter seines Onkels, nicht nur zum Zeugen der latenten Notlage Tristrants, die noch einmal ein neues Verkleidungsabenteuer erzwingt. Vielmehr prädestiniert das Bescheidwissen über das ‚unmoralische‘ Liebesleben des Onkels zugleich auch dazu, dessen neuer und zugleich dessen bester Intrigenhelfer zu werden. Der eigentlichen Plan- und Beratungsszene hat Eilhart abermals eine Dialogsequenz vorangestellt, deren Gesprächsverlauf schließlich in der Idee für ein neues Rückkehrabenteuer gipfelt. Wie für alle Dialogpartien Eilharts gilt auch für diese, dass die Dialoge Rede auf Gegenrede folgen lassen. Der von Stand und Alter her Unterlegene widerspricht zumeist und setzt sich dann auch durch.467 Was für die Gespräche Tristrants mit seinem Onkel Marke gilt, gilt auch, wenn dieser sich mit seinem Neffen unterhält, der seinem älteren Verwandten – ganz wie zuvor sein Onkel – angstfrei trotzig widerspricht.468 Erst in der Wiederholung dieser asymmetrischen Struktur scheint auch deren implizite Didaxe auf, die vom Publikum zu ihrem Verständnis abermals verlangt, Unkonventionelles zu goutieren: Gesellschaftliche Autorität unterliegt scheinbar törichter Jugendlichkeit, und die jüngere Generation weiß die jeweilige Situation besser einzuschätzen als die an Jahren Erfahreneren. Die ‚verkehrte Welt‘ dieser Dialoge hat hierin ihren Grund: Alter und Stand müssen ihre Autorität einbüßen, wenn jugendliche Bedachtsamkeit auf die Minnetorheit des Alten trifft. So betrachtet, sind solche Dialoge Eilharts – strukturverwandt mit Gesprächen törichter Könige und weiser Narren – ein indirektes Plädoyer für die Weisheit der ‚Toren‘. Dass dies freilich nur für die Handlungsebene gilt, versteht sich von selbst, denn moraldidaktisch betrachtet führt auf den Neffen zu hören für Tristrant ebenso zur Erfüllung seiner ehebrecherischen Liebe wie auf den Tiefpunkt seiner Existenz. Und auch in der Beratung Tristrants mit seinem Neffen ist der Liebesverzweiflung des Onkels nur mit Kindestrotz beizukommen, vor allem dann, wenn dieser eben ‚widersprechend‘ einen Intrigenplan, zumal einen perfekten, auszuspinnen weiß:
467 Vgl. ebd. 468 „neff, eß mag nit geschenchen.“ / „eß mag wol“ (Tr-E 8878f.). Und schließlich: Da wider sprach dz kindlin (ebd. 8903).
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„du magst sÿe navch dem willen din nicht baß gesenchen so nuo.“ […] „da bist du anderß getavn wann hie vor: dir ist dz havr ab geschorn. wer dich ee havt bekant, du werdest dann im genant, so waist er nicht, wer du bist. nuo soltest du mit diner list allain dar gavchen und ainen gugelrock an haben und hovn ain torlich geber: so wenten die hütter, du sÿest ain aff so gämelich.“ (Tr-E 8904–8917)
So wie der junge Tristrant anstehende Aktionen und Hofreaktionen besser als sein auf ihn fixierter Onkel einzuschätzen wusste, so ist es auch hier der Neffe, der den größeren ‚Weitblick‘ hat und in Tristrants Entstellungselend die ideale Voraussetzung für ein neues Verkleidungsabenteuer sieht. Durch die Haarschur bereits schicksalhaft gezeichnet, solle er sich, so unkenntlich gemacht, mit einem narrentypischen Kapuzenrock469 und rollengemäß unsinnigem Gebaren ganz allein an den Hof begeben. Der Erfolg sei ihm sicher: Alle Beobachter würden ihn für einen tollen Affen halten.470 469 „Seine Verkleidung zitiert unterschiedliche Traditionen aus dem Umfeld der Narrenbildlichkeit: den antiken mimus calvus, den Wilden Mann, den Psalmnarren“ (Matejovski 1996, S. 205). Am ehesten scheint Tristrants Narrenäußeres wohl dem in den Handschriftenillustrationen gut dokumentierten Psalmnarren zu entsprechen, wohingegen eine Assoziation mit Wildleuten eher abwegig erscheint. 470 In dieser Erzählfassung ist die Gleichsetzung von Narr und lächerlichem Affen besonders auffällig, da sie mehrfach auftritt: im Verkleidungsrat des Neffen (du sÿest ain aff so gämelich; Tr-E 8917), in der Erstbegegnung mit Markes Hofgesellschaft am Strand von Tintajol (er waß so äffentlich getavn; 8968), am Markehof (affenwÿß begieng er gnuog; 8994), in der Wahrnehmung Markes und seines Hofes (er ducht in sin ain affe; 9051) und in der Käseepisode mit der Königin Isalde (Tristrand der affeman; 9104). Hierbei handelt es sich auch um ein semantisches Spezifikum der Handschrift, denn in D ist an zwei Stellen synonym zu lesen: do waz he alzo thorecht getan (8968) bzw. der thorechte man (9104). Das Mittelhochdeutsche weist hierzu ein ganzes semantisches Feld auf: affaere (Äffer, Nachahmer), affe (Affe und übertragen Tor), affeclich (töricht), affeht (töricht), affehte (auf törichte Weise), affen (zum Narren werden, eraffen = zum Narren machen), affenbanc (Narrenbank), affenheit (Torheit, Albernheit), affenhut (Torenhut), affenkleid (Torenkleid), affenlich/effenlich ( töricht), affenrât (Torenrat), affensalbe (falsches Lob, Schmeichelei), affenseil
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Dass Affe und Narr Artverwandte und Synonyme sein können – das Einleitungskapitel handelte bereits von ‚Narr und Affe‘ im Passionsgeschehen – zeigt nicht nur ein Blick in die Tristrant-Handschriften. Auch das Mittelhochdeutsche kennt affaere als nachahmenden Simulanten wie auch affen und eraffen als Tätigkeiten, die zum narren werden bzw. zum narren machen meinen.471 Schon Ernst Robert Curtius hat festgehalten, dass „[d]er metaphorische Gebrauch von simia […] im 12. und 13. Jahrhundert häufig“472 ist. Curtius führt für den Affen als Metapher Beispiele von Johannes Salisbury bis Dante an und kommt zu dem Schluss: Simia ist also um 1200 ein Modewort der lateinischen Schulpoesie. Es scheint eingeführt zu sein durch Alanus, der im 13. Jahrhundert auch ‚für die landessprachliche europäische Poesie‘ Vorbild wurde. Simia können Personen, aber auch Abstrakta, aber auch Artefakte heißen, die etwas vortäuschen.473
Sein Reüssieren als Metapher verdanke der Affe (simia) seiner Nachahmungsfreude. Gleich der tierhaften Nachahmung gilt auch der simia als „ein verständnisloser Nachahmer“474 . Als Narrenmetapher bleibt der natürliche Verstandesmangel auch eine Möglichkeit intriganter Verstellung. Der (falsche) Tor Tristrand der affeman (Tr-E 9104) verspricht perfekte Dissimulation, da dessen Natur als tierhaft gilt, und tierhaft meint hier absolut unvernünftig, in der Bandbreite von spaßhaft-drollig bis wild-gefährlich. Tierhaft ist aber auch die Reduktion des Simulanten auf seine Affektnatur, wenn die Narrenrolle überzeugen soll, was diese somit immer auch erotisch auflädt: Mit dem Narren tritt reine Physis – Gewaltbereitschaft und Libido – am Hof auf, die für sich selbst keine Verantwortung übernehmen ‚kann‘. Und weitaus brisanter: der gegenüber auch niemand verantwortungsvoll im moralischen Sinne zu handeln braucht. Bei Eilhart und (Pseudo-)Konrad ist zu sehen, wie der Gesellschaftskontakt mit dem Anderen, dem Narren, zwar unterschiedliche Reaktionsmuster hervorruft, doch diese gleichen sich alle in einem Aspekt: ihrer ordnungslabilisierenden Kraft.475
471 472 473 474 475
(Narrenseil), affenspil (Possen, Gaukelspiel), affenspîse (Narrenspeise), affentanz (Narrentanz), affenvuore (Albernheit, Torheit), affenwort (Narrenwort), affenzagel (Torenschwanz) oder affenzît (Narrenzeit); vgl. Matthias Lexer: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. Zugleich als Supplement und alphabetischer Index zum Mittelhochdeutschen Wörterbuche von Benecke-Müller-Zarncke. 3. Bde. Stuttgart 1979 (= Reprografischer Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1872–1876). Bd. 1, Sp. 23f. Vgl. ebd. Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Bern/München 1984, S. 522. Ebd. Vgl. ebd. Zur (gewaltätigen) Verkehrung der höfischen Ordnung vgl. Müller 1990, S. 33.
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Bereits der Rat zur Narrenrolle hat einen unmittelbaren Effekt: do begund lachen inneglich / der vil kün Trÿstrand (Tr-E 8918f.). Und dieses Lachen ist als unwillkürliche Affektreaktion bereits die Vorwegnahme des Auftrittserfolges als Narr, der ambivalente Reaktionen heraufbeschwört. Auch dieses Lachen muss nach dem Gesprächsverlauf zunächst mehrdeutig wirken. Es bezieht sich entweder als Spottlachen auf den unzumutbaren Rat des Knaben, als Verzweiflungslachen auf die Undurchführbarkeit dieser Intrigenidee oder als Erlösungslachen darauf, dass endlich der richtige Weg zur Geliebten gewiesen ist. In diesem Sinne deutungsbestätigend, küsst der ideenarme, aber dankbare Onkel seinen Neffen herzlich.476 Auch hierin ist die Betonung dieser letzten Verkleidungspartie zu sehen: Dem Finden der Verkleidungsrolle und dem Beratungs- bzw. Planungsgespräch hat Eilhart den besonderen Aufwand eines widerstreitenden Dialoges gewidmet, dessen Figurenrede nochmals deutlich unterstreicht, inwiefern sich Tristrants Narrenrolle so besonders für ein Rückkehrabenteuer zu eignen scheint. Dass Tristrant selbst noch einmal Rückschau auf das bisherige Scheitern seiner anderen Rollen hält, baut unwillkürlich dadurch Spannung auf, dass sich der Held im Dilemma seiner paradoxen Intrigenfigur zu verstricken droht. Wird der Simulant Tristrant am Hof tatsächlich als natürlicher Narr reüssieren? Damit wäre das Problem verbunden, wie dann Isalde in diesem ganz Anderen ihren Geliebten wiedererkennen soll. Und daran schließt sich unmittelbar die Frage nach dem Ziel des Intrigenaufwandes an: Welche Chancen haben Narr und Königin für die Erfüllung heimlicher Liebe? 2.1.6 Der Narr am Hof: eine Serie (un-)höfischer Begegnungen Zur Vervollständigung seines Narrenaufzuges verschafft sich Tristrant schließlich noch ain kolb gar groß (Tr-E 8928) und begibt sich in den Hafen, um von einem Schiff nach Tintajol gebracht zu werden. Hier setzt nun eine ganze Serie von Begegnungen mit anderen ein, die diesem letzten Verkleidungsabenteuer eine Binnenstruktur als eine sich abermals steigernde Szenensequenz verschaffen: 1. Narr und Kaufmann 2. Narr und Schiffsmannschaft 3. Narr an Markes Hof mit: a. König Marke b. Herzog Antret c. Königin Isalde
476 daß kind kust er zuo hand / gar miniglich. / „gott von hÿmelrich / lovn dir, lieber neffe min! / ich sol dir ümer hold sin / durch ravt, den du mir havst getavn” (Tr-E 8920–8925).
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Unter den Kaufleuten am Hafen hat der Simulant seine Bewährungsprobe zu bestehen, ob er als ‚richtiger‘ Narr durchgeht und wie in dieser Rolle die Überfahrt nach Tintajol zu bewerkstelligen ist: torlich begund er gebavren: under in [den Kaufleuten] er so lang umb gieng, zuo letst in ain kouffman vieng, der von Tÿntaniol wz. der in do zuo im laß und wolt inn gern bringen siner frovwen der künginen und sinem herren dem künge. (Tr-E 8934–8941)
Täuschungsversuch und -erfolg stellen sich unmittelbar aufeinander folgend ein.477 Der Kaufmann erblickt in dem sich kurios Gebärdenden eine ‚geeignete‘ Gabe für sein Herrscherpaar und stammt, der Zufall will es so, direkt aus Tintajol. Offenbar weiß der Kaufmann – oder unterstellt diese zumindest treffend – um die Freude seiner Herrschaft am Kuriosen, das am Hof möglicherweise unterhält. Das Narrenwerk als Verkehrungsabenteuer hat bereits begonnen: Während der Kaufmann den Törichten zum Gabentausch missbrauchen will, wird er selbst unmerklich zum neuerlichen Intrigenhelfer, der so ahnungslos wie willfährig Narr und Königin zusammenbringt. Bei so viel Intrigenglück und Zufall wundert nicht: deß waß Trÿstrand gar frov (Tr-E 8943). Tristrant lässt sich als Narr einfangen und ‚verschiffen‘: Ein ‚Narr auf einem Schiff ‘ macht zwar noch kein Narrenschiff 478 , dennoch soll die ‚Narr und Meer‘ eingeschriebene Symbolik hier nicht übergangen werden. Diese wird aber nicht erst fasslich, wenn der Tristrant-Narr nach Tintajol segelt, sondern bereits dann, wenn der kriegsversehrte Tristrant mit seinem vertrauten Neffen so sehnend wie verzweifelt auf das Meer hinausschaut: „[…] sol ich dich nit me senchen? […]“ (Tr-E
477 Nach Hübner zeigt die Erzählung an jenen Figuren, die Tristrant vor seiner Ankunft am Hof begegnen, „die Überzeugungskraft seiner Verkleidung und seines Rollenspiels“ (Hübner 2003, S. 290). 478 Das von Sebastian Brant verfasste Narrenschiff gehört bekanntlich in das späte 15. Jahrhundert. Sebastian Brant: Das Narrenschiff. Nach der Erstausgabe (Basel 1494) mit den Zusätzen der Ausgaben von 1495 und 1499 sowie den Holzschnitten der deutschen Originalausgaben. Hrsg. von Manfred Lemmer. Tübingen 1986 (= Neudrucke deutscher Literaturwerke. N. F. 5). Zum symbolischen Bildgehalt der Narrenschifffahrt zwischen Metaphorik und sozialer Praxis vgl. Michel Foucault: Stultifera Navis. In: Ders. 1996, S. 138–141.
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8873).479 Masse zufolge steht „[d]as Meer, welches als geographisches Motiv den ganzen Text durchzieht“480 , für Tristrants „unendliche Schwermut als Symptom einer Liebeskrankheit, die im medizinischen Diskurs des Mittelalters, angefangen mit Constantinus Africanus, mit der Krankheit Melancholie in Verbindung gebracht wird.“481 In jener neuerlichen Kalokagathie von Tristrants „Narrenauftritt als der sichtbarsten Erscheinung seines inneren, mit seiner Liebespassion zusammenhängenden melancholischen Zustandes“482 wird semiotisch wie narratologisch ein neuerliches Paradox konstituiert: Als Verzweifelter, der gänzlich außer sich ist und als völliger outlaw auftritt, ist Tristrant, der einst schönste Ritter, nun auch ganz er selbst. Die wie die Begegnung mit dem Kaufmann nur knapp angedeutete Überfahrt ist in ihrer Kürze dadurch intrigenrelevant, dass sich nun erstmals die Eignung dieses falschen Toren zum regelrechten Hofnarren in ihrer suggestiven „Rollenauthentizität“483 zeigt, der […] dick gund lachen / mit siner torhait machen (Tr-E 8948–8950). Der identitätsverlustige Tristrant findet in der Wahrnehmung anderer nun eine neuerliche Exklusivität darin, dass man seine Narrheit sogar für einzigartig hält.484 Tor und Schiffsmannschaft antizipieren in ihrem Umgang miteinander auch sogleich den Beziehungskomplex ‚Hofnarr und höfische Gesellschaft‘, der seinerseits vom Gaben- und Warentausch bestimmt wird. Der genuin parasitäre Spaßmacher wird für seine Unterhaltsamkeit ausgehalten. Man vergilt das kollektive Lachen, das er zu provozieren weiß, mit Naturalien. An Bord des Kaufmannsschiffes wird dem unerkannten Tristrant jener Käse geschenkt, der später von mehrfacher dingsymbolischer Bedeutung sein wird. Liebend siner lieben frovwen (Tr-E 8955) eingedenk, verzehrt Tristrant nicht, was man ihm schenkt, sondern verbirgt den Käse in der Kapuze seiner Narrentracht.485 Zunächst scheint es ganz torengemäß zu sein, die eigene Lebensgrundlage aufbewahren zu wollen, um sie dem Verderben preiszugeben. Dieses Motiv verliert seinen Torheitscharakter erst, wenn man die Geschichte und damit ihre Motive quasi von hinten betrachtet.
479 Im Unterschied zu den vorausgehenden Rückkehrabenteuern, die vom Motivkomplex heroischer Ehre motiviert sind, ist das nun Anstehende von Tristrants Sehnsucht motiviert. Vgl. Müller 1990, S. 30. 480 Masse 2009, S. 19. 481 Ebd. Masse verweist darauf, sich hierbei „auf den Kommentar René Pérennecs in der Einleitung zu seiner französischen Übersetzung von Eilharts Text“ (In: Tristan et Yseut. Les premières versions européennes. Hrsg. von Christiane Marchello-Nizia. Paris 1995 [= Bibliothèque de la Pléiade], hier S. 1367) zu beziehen (ebd., S. 19, Anm. 24). 482 Ebd., S. 20f. 483 Matejovski 1996, S. 207. 484 [S]ÿe [die Schiffsmannschaft] jachen, sin gelich möchte nit leben (Tr-E 8951). 485 [D]en käß stagt er tougen / in sinen gugel hin / und bravcht in der küngin (Tr-E 8956–8958).
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Bevor die in ihrer Unterhaltsamkeit so suggestive Torheit am Königshof reüssiert, wo offenbar eine „Narrenfigur als Spielobjekt der Hofgesellschaft“486 fungieren kann, zeichnet sich ab: Eine Gesellschaft vergleichsweise (höfisch) ungebildeter Seeund Kaufleute tritt mit einem dahergelaufenen, blödsinnig Agierenden unmittelbar in ein völlig konfliktfreies Verhältnis gegenseitigen Nutzens. Ohne darauf durch entsprechende Usancen vorbereitet zu sein, räumt die Gesellschaft auf See dem Anomalen ohne jegliche Auseinandersetzung eine Existenznische ein, von der beide Seiten profitieren. Das Ethos des Kaufmannes ist ‚bezifferbar‘, da es die Unterhaltsamkeit des nicht einmal boshaft-spöttisch Verlachten mit Lebensmitteln aufwiegt. Vom parasitär-intriganten Nutznießer des Simulanten einmal abgesehen, ist hier das ideale Verhältnis von (Hof-)Narr und Gesellschaft gestaltet, das sich durch Freiheit des Agierens einerseits und Freude am Lachen anderseits auszeichnet. Die Voraussetzung dieses symbiotischen Tauschverhältnisses von Kaufmannsgesellschaft und Narr ist gleichfalls eine (kultur-)semiotische: einzig als Gabe oder Ware betrachtet, haftet dem Narren nichts moralisch Verwerfliches, nichts Dämonisches an. Seine Alterität ist in ihrer Affenhaftigkeit ‚unsignifikant‘. Unwillkürlich zeigt Fokalisierung hier folglich, dass Bedeutung – so schlicht wie folgenreich – wahrnehmungsabhängig, mithin also nicht festgeschrieben ist. Dass Tristrant sein Narrenabenteuer in der Gesellschaft von Kaufleuten und Schiffsbesatzung mit bloßem Spaßmachen beginnt, um als intriganter Minne-Tor zu enden, deutet abermals auf den Facettenreichtum eines Figurenstereotyps hin. Als Lachanlass hat das Anomale in (fiktiven) Gesellschaften sein unbestrittenes Existenzrecht, wenn diese ethisch und ökonomisch solide sind. Andernfalls kehrt die Konfrontation mit dem Anderen hinter der höfischen Fassade unausweichlich die eigene Alterität hervor. Für diese (literarische) Alternative des Verhältnisses von Narr und Gesellschaft wird nicht erst der Ritter Arnold am Königshof Paradebeispiel sein. Auch die Episode ‚Tristrant am Markehof ‘ wird zeigen: Die ästhetische Funktion der Narrenüberfahrt nach Tintajol dient als Kontrastvorbereitung auch dem Spannungsaufbau, was dem Anomalen in einer ‚ordentlichen‘ (Hof-)Gesellschaft widerfährt. Die Konfrontation des Hofes mit dem Narren, der seine Torheit nur simuliert, bringt schließlich an den Tag, was höfische Kultiviertheit bislang zu dissimulieren verstand. Auch dies ist ein Strukturprinzip, das Spielmannsepos, höfischen Roman und Schwankhaftes Gattungsgrenzen überschreitend verbindet.487 Die stets epidemisch wirkende – natürliche wie künstliche – Narrheit labilisiert auch das Verhältnis von Schein und Sein, um schließlich den ideologischen Gehalt des Höfischen wie des narrativ Ästhetischen als Kalokagathie kollabieren zu lassen.
486 Masse 2009, S. 21. 487 Vgl. Matejovski 1996, S. 203.
Intrigante Anomalie und Ästhetik: Tristrant und Isalde Eilharts von Oberg
Der Hofnarr, der König und Gefolge
Eilhart hat den Weg des Narren Tristrant zur Geliebten Isalde kleinschrittig phasiert: Auf die Überfahrt mit dem Kaufmann folgt als Nächstes die Anlandung zuo den gestaden / gen Tÿntaniol zuo dem land (Tr-E 8962f.). Dieser erste Kontakt von Narr und (Marke-)Hof ist unmittelbar charakterisierend, und dies zum einen mit Blick auf das gesellschaftliche Verhältnis zum Anomalen, zum anderen auf charakteristisches Reagieren des Einzelnen auf die Lachanlässe des falschen Toren. Der Narr wird König Marke, der gerade am Strand ausreitet, umstandslos übergeben, und sogleich scheint abermals Charakteristisches auf, denn der König tritt nun völlig passiv auf. Mit seinem totalen Gewährenlassen zeigt er uneingeschränkte Arglosigkeit, wodurch bestätigt wird, dass der falsche Narr abermals mit seiner simulierten Affigkeit (so äffenlich getavn; Tr-E 8968) zu überzeugen versteht: sÿe wonden, er wär / gewÿßlich ainer tovren (Tr-E 8970f.). Die Reaktionslosigkeit des Königs ist aber für den Simulanten Tristrant im weiteren Verlauf seines Verkleidungsabenteuers von herausragender Wichtigkeit, weil sie zeigt, dass die Dissimulation eigener Identität sogar gegenüber einem liebenden Verwandten gelingt.488 Die performative Intrigenkompetenz Tristrants wird nun aber mit einer neuerlichen Herausforderung konfrontiert. Simulierte Narrheit wird vom Gefolge des Königs nicht wie zuvor von der Schiffsmannsschaft des Kaufmannes lediglich als harmloser Lachanlass goutiert, dessen Tollheiten mit eigenen Spötteleien angestachelt würden. Das jetzt erzählte Kollektivvergnügen am Anomalen geht unmittelbar mit latenter Gewaltbereitschaft einher: sÿe zugen in bÿ den ovren und begunden manig spil: deß vertruog er in ovch vil. (Tr-E 8972–8974)
488 Auch Eilhart von Oberg lässt den jungen Neffen bei seiner Erstbegegnung mit dem König von Cornwall in einem Inkognito auftreten (do bat der herr Tristrand / die sinen all gelich / […] daß sagte ir kain / […] von welchen landen sie weren, / daß sie daß gar verberen / und sin geschlecht wölten helen. Tr-E 289–296), der – vom Erzähler unbegründet – den Ankömmling sogleich favorisiert und privilegiert (er gebot dem marschalck daß, / daß er sin pfläg baß / dan der andern kain. Tr-E 330–332). Gottfrieds von Straßburg Erzähler hingegen kommentiert das von Anfang an exklusive Männerverhältnis von Tristan und Marke damit: nu Tristan den künic sehen began, / er begunde im wol gevallen / vor den andern allen. / sîn herze in sunder ûs erlas, / wan er von sînem bluote was. / diu natiure zôch in dar (Tr-G 3240–3245). Krohn hat darauf hingewiesen, dass „[i]n mittelalterlicher Vorstellung […] Blutsverwandtschaft, selbst wenn sie den Betroffenen nicht bewußt ist, automatisch Herzensneigung“ (Krohn 2005, S. 72f.) hervorruft. Bei Eilhart ist Derartiges weder in der Szene der Erstbegegnung noch bei Tristrants letztem Rückkehrabenteuer gestaltet.
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Die vermeintliche Natürlichkeit des Narren provoziert umstandslos Gewalttätigkeiten als kollektive Praktiken ausgrenzenden Marginalisierens. Dass diese ihrerseits einer Ästhetik des Paradoxen affin sind, wird unmittelbar evident, wenn ausgrenzende Gewaltanwendung zur Verähnlichung von ‚Normalem‘ und ‚Anomalem‘, konkret formuliert: von Hof und Narr, führt. Die Gewaltanwendung, die mit dem Ohrenziehen des Narren ihren Anfang nimmt489 , ist zugleich eine inszenatorische Ausstellung des Anomalen im Kontext des Höfischen, aber im Modus fortschreitender Labilisierung eben jener Differenz, die als Grenze Normativität konstituieren soll.490 In diesem Sinne ist die Begegnung mit dem Narren als einem vermeintlich Rechtund damit Wehrlosen sogleich auch figurencharakterisierend: Es ist nämlich der Herzog Antret, jener übelste Verräter und Verfolger Tristrants, der es mit dem falschen Narren auf brutalste Weise treibt. Eilhart intensiviert für diese Motivsteigerung überraschenderweise nicht einfach das Geschehen, sondern nimmt einen Ebenenwechsel vom tätlich Konkreten ins andeutend Abstrakte vor. Ihrem Charakter treu steht die Figur des Antret im Umgang mit dem Narren nicht für eine schlichte Steigerung von Gewalttätigkeit, sondern quält Tristrant als Narren genauso, wie er es zuvor getan hat, und tavt im manig hertzlaid / mit lügen und mit wavrhait (Tr-E 8977f.). Hiermit wird auch der Motivkomplex der Verähnlichung von Narr und Hof, von Narrheit und höfischer Kultiviertheit, auf die Spitze getrieben, indem der kollektive Kontrollverlust durch Gewalt in seiner Steigerung als Grenzverwischung von Wahrheit und Lüge dargestellt wird. Hierdurch wird der intrigante Narr mit etwas Gegenintrigenhaftem konfrontiert. Dass die bloße Anwesenheit Tristrants als Narr derartige Reiz-Reaktionszwänge hervorbringt, zeigt bereits die Vermischung von sogenannter Vernunft und Narrheit, ist doch die ‚zweckfreie‘ Boshaftigkeit eines Antret, zumal als Vermischung von Wahrheit und Lüge, auch im Amoralischen schwerlich anders denn als Torheit zu fassen. Dieser Konflikt mit einem Narren hat seinerseits unmittelbar desavouierende Wirkung und kehrt die Unmoral eines exemplarischen Antagonisten nur noch deutlicher hervor. Dass Tristrant nun durch sein Leiden unter Antret als von diesem Verratener (als Tristrant) wie auch als von diesem neuerlich Geschmähter (als Narr) doppelt motiviert auf Rache sinnt, findet nicht nur die sympathisierende Zustimmung des
489 sÿe zugen in bÿ den ovren (Tr-E 8972). 490 Dass es hierbei die Ohren des Narren sind, denen der gewalttätige Zugriff der Höflinge gilt, ist bei Eilhart mitnichten ein Zufall, stehen diese doch in mittelalterlicher Physiologie für den Ausweis relativer Intelligenz, weshalb die spätmittelalterliche Torentracht die sog. Eselsohren zu ihrem sich verfestigenden Stigmatisierungsrepertorie zählt. Diese Tendenz wird noch deutlicher, wenn herausgehobene einzelne sich darauf einlassen, mit einem Narren boshaften ‚Schabernack‘ (Buschinger) zu treiben.
Intrigante Anomalie und Ästhetik: Tristrant und Isalde Eilharts von Oberg
Erzählers.491 Vielmehr bestätigt auch die Folgenlosigkeit von Tristrants gewalttätigen Übergriffen gegenüber dem Herzog, dass seine Narrenrolle in der kollektiven Wahrnehmung inzwischen derart Akzeptanz gefunden hat, dass diese gar nicht mehr als Tristrants Rache, sondern einzig noch als närrische und somit als belanglose Übeltaten aufgefasst werden. Offenbar hat sich Tristrants Etablierung als Hofnarr bereits vollzogen. Das ist im Sinne der Verkleidungsintrige zielführend und in einem semiotischen Sinne relevant: In der Perspektive der Betrogenen muss jetzt alles als Torheit erscheinen, was mit dem so erfolgreichen Simulanten zusammenhängt, und das eröffnet neue Handlungsspielräume. Jetzt beginnen analog zur Labilisierung der Grenze zwischen den normalen Höflingen und dem anomalen Toren erneut Seinsgewissheiten ins Wanken zu geraten, denn jetzt kann der Simulant auch die Wahrheit sagen, die man aufgrund des perfekt Dissimulierten schlichtweg für unglaubhaft, also für bloßes Narrenwerk, halten wird. Der Minne-Narr und die Königin
Nachdem die Tauglichkeit des Toren als unterhaltsamer Hofnarr erwiesen ist, wird dieser folgerichtig an den Hof gebracht. Durch die Torheit der Getäuschten muss der Zug des Königs, der den Narren eigens an seinen Hof geleitet, wie die Verkehrung eines Triumphzuges erscheinen. do rait der küng uff den hoff. der tovr lieff im navch. sin kolben er hovch truog. affenwÿß begieng er gnuog und manig torlich spil. der ritter volgten im vil. (Tr-E 8991–8996)
Der falsche Narr führt demonstrativ als sein prominentestes Intrigeninstrument, das gleichsam Betrugsrequisit, Rachewaffe und Phallussymbol ist, einen monströsen Kolben mit sich. Kolben oder Keule des Narren sind dementsprechend „als Symbol für die unzivilisierte Form der vom Narren verkörperten Gewalt“492 und
491 [E]r [Tristrant] wolt in hovn erschlagen: / wenig hort ich dz clagen, / ob er in ensprungen hett. / sin valschen rätt, / die er uff in dick tät, / die wären vergolten an der stat, / und sin bösen tück (Tr-E 8981–8987). 492 Masse 2009, S. 17. „Ohne Zweifel ist der Kolben ‚l’un des attributs indispensables du fou‘ [Buschinger], doch handelt es sich dabei noch deutlich um eine Art Waffe und nicht um das Narrenzepter, die Marotte“ (Matejovski 1996, S. 205). Zur Keule von Eilharts Narr vgl. McDonald 1988, S. 127–149.
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damit als Bedrohung der höfischen Ordnung angesehen worden.493 Spätestens die Zielgerichtetheit des Zuges lässt bedenklich fragwürdig erscheinen, wer hier wen führt, heißt es doch knapp: gerichtz er fúr die frowen gieng (Tr-E 8997).494 In dieser dritten Begegnung ist der Motivkomplex ‚Narr und Hofgesellschaft‘ fraglos an einem Höhepunkt angelangt. Sollen sich nun im Sinne der Geliebten Simulation und Dissimulation die Waage halten, muss das Gebaren des falschen Toren so geartet sein, dass es die Königin Isalde zur Mitwisserin der Verkleidungsintrige macht, ohne diese durch Aufdeckung zu gefährden. Derartige Herausforderungen im Szenischen führen, inzwischen als erwartbar zu goutieren, abermals in Paradoxes: Denn jetzt dissimuliert Wahres am sichersten die Wahrheit, weil in der Hoföffentlichkeit nicht der Fall ist, woran nicht geglaubt wird. Im Sinne der Minne kann nun keine Äußerung zugleich authentischer und unglaubhafter sein als die umschweiflose, schier unmissverständliche Herzenssprache des Intriganten, die rollenimmanent nur parodiertes Skandalon oder allenfalls kühnster Narrenstreich sein kann. Während die Königin Tristrant so empfängt, alß sú ain torn solt empfavchen (Tr-E 8999), pariert der Narr deren Begrüßung so: er wolt, daß sú inn kust (Tr-E 9001). Noch ist aber auch Isalde Betrogene des neuerlichen Rückkehrabenteuers Tristrants und bestätigt durch ihre Abneigung nur dessen Simulationserfolg. Hierdurch ist Tristrant nicht nur die Lizenz gegeben, die Rolle des Liebesnarren zu spielen und weiter auszubauen, sondern auch die Notwendigkeit, sich Isalde zu erkennen zu geben. Das kann aber – spannungssteigernd – nur heißen: Der Konflikt zwischen (unhöfischer) Liebe und (Hof-)Gesellschaft intensiviert sich unausweichlich, denn Narrenauftritte generieren mitnichten Kontexte karnevalesker Narrenfreiheit, sondern vielmehr wechselseitige Aggression, die sich dadurch erklärt, dass der Narr, per se zu Norm- und Tabubrüchen neigend, von der Gesellschaft – zumindest in der Öffentlichkeit – solange repressiv traktiert wird, wie es gilt, die labile Fassade des ‚Normalen‘ aufrechtzuerhalten. Dass auf Normbrüche Sanktionen, auf Pro-
493 Vgl. Müller 1990, S. 33. 494 Die Keule als symbolische Androhung von ordnungsverkehrender Macht ist von Matejovki noch in einem weiteren Sinne hervorgehoben worden: „Die Keule verweist nämlich auf die dem Mittelalter durchaus vertraute mythologische Gestalt des Herkules, der neben der spezifisch literarischen Rezeption auch als Figur benutzt wurde, um herrscherliche Legitimität zu demonstrieren. So findet sich bei Otto von Freising ein Friedrich Barbarossa zugeschriebenes Diktum, in dem dieser, Macrobius und ein Sprichwort zitierend, Rivalen um den rechtmäßigen Besitz der herrscherlichen Gewalt einlädt, dem Herkules die Keule zu entreißen“ (Matejovski 1996, S. 208). Bei der konkreten Textinterpretation bleibt das Deutungspotential derartiger ‚Vergleichsstellen‘ jedoch recht vage: „Tristans Keule ist Ausdruck seiner Bereitschaft zu anarchisch-vorzivilisatorischer Gewalt, und in ihrem Bezug zur Herkules-Ikonographie tritt der Aspekt von Herrschaft und Souveränität hinzu“ (ebd., S. 209).
Intrigante Anomalie und Ästhetik: Tristrant und Isalde Eilharts von Oberg
vokationen zumindest Einhalt gebietende Reaktionen erfolgen, zeigt bereits der Motivkomplex von Tristrants unstatthaftem Blick auf die Königin: ze lieblich er sÿ an sach, daß der künig do sprach: „wie nuo, tor, lauß sten! […].“ (Tr-E 9005-9007) Erzählernarr und Narrenerzähler
Das Publikum wünscht den Intriganten, dass Torensimulation und Liebhaberdissimulation im Folgenden so unterhaltsam riskant wie schließlich erfolgreich gelingen. Vor diesem Abschnitt des Verkleidungsabenteuers, dem ehrlos-erfüllten Liebesleben von Königin und Narr, präsentiert Eilhart eine längere Dialogpartie zwischen Marke und Tristrant, ein neuerlicher Höhepunkt der Ästhetik von Perspektivität, Ambivalenz und dem intrigengenuinen Drohpotential unversehens hereinbrechender Anagnorisis.495 So überzeugend wie Tristrant den Liebenden gibt, weckt der Narr schließlich jedoch selbst dann den Argwohn seines Königs, wenn dieser weder Simulation noch Dissimulation durchschauen kann. Denn auch einem Narren steht es nicht zu, eine Königin unvermittelt und dann auch noch liebevoll anzuschauen.496 So stellt Marke diesen zur Rede, und das Gepräch zwischen König und Narr497 , „welches sich in die ikonographische Tradition des Dialogs zwischen Psalmnarr und König einreiht, sie gleichzeitig aber im Sinne der Markolftradition variiert und Tristrant zum weisen Narren macht“498 , beginnt. Dieses neuerliche Streitgespräch zwischen weisem Narren und törichtem König inszeniert Wiederholungsstrukturen nicht nur im Modus der Steigerung von ihrerseits wiederum verkehrten Asymmetrien499 , sondern steigert die Rolle des Simulanten in seinen Selbstaussagen vom vermeintlich nur Törichten über den
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Vgl. Tr-E 9005–9044. Vgl. ebd. 9005. Zum Dialog zwischen Marke und Tristrant als Narr vgl. Schausten 1999, S. 81f. Masse 2009, S. 21. Der Disput von Tristrant mit König Marke gewinnt zusätzlich an Komik, wenn dessen Strukturparallelen mit jenem Gespräch der beiden verglichen wird, das diese führen, als Tristrant gegen den Willen Markes Morolt bekämpfen will. Auch in dieser Dialogpartie wird der Standesüberlegene und Ältere vom Jüngeren regelrecht übertölpelt, da Tristrant seinem Onkel bereits mit List die Zustimmung zum Kampf abtrotzt. Dem König wird das in seiner Vagheit verfängliche Versprechen abgenommen, jeder der Morolts Kampfbedingungen erfülle, dürfe auch als dessen Gegner antreten (vgl. Tr-E 648–650).
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unterhaltsamen Hofnarren zum geständigen Liebesnarren, der – in didaktisch heikler Weise – als einziger richtig Bescheid weiß und deshalb schließlich auch anstelle eines Narren-Erzählers sein Geständnis als Allegorese des Erzählten zu verstehen geben kann: „dz sú mir von recht sol hold gemüt zuo tragen.“ […] „ich bin ir lieb ovn pflicht.“ […] „eß kumpt licht dar zuo, daß ich sÿ schier minn.“ […] „ja kan ich nit geliegen.“ […] „ich bin ir doch lieb so ir lib.“ […] „ich bin ain ritter guot und hab vil durch sie getavn.“ […] „[…] sol ich dir der warhait jehen? so ward ich durch sie tore. […].“ (Tr-E 9010–9038)
Die zugrundeliegende Strategie von Tristrants Dialogpassagen ist hierbei ebenso schlicht wie wirkungsvoll: Während er allmählich immer deutlicher die Wahrheit darüber enthüllt, in welchem Verhältnis Narr und Königin zu einander stehen, müssen Marke und dem Hof Tristrants Repliken zunächst nur als Auswüchse närrischer Phantasie erscheinen.500 Dass die Königin diesen Narren liebt, muss das Vorstellungsvermögen des Gatten naturgemäß überfordern: „wie möcht so ein schön wib / an dich toren keren iren muot?“ (Tr-E 9029f.) Die von Marke formulierte ‚Unvorstellbarkeit‘ eines entsprechenden ‚Verhältnisses‘ resultiert hier aus dem als unvereinbar gedachten Gegensatz ‚weibliche Schönheit‘ vs. ‚männliche Torheit‘, der seine Kontrastschärfe daraus zieht, dass sowohl Isaldes Körperschönheit als auch ihre Standeshöhe mit der physischen Entstellung eines unvernünftigen outlaws nicht einmal zusammen ‚gedacht‘ werden können. Auch das macht Perspektivität bei Eilhart aus, dass beide Disputanten mit ihren unversöhnlichen Positionen jeder für sich Wahrheit beanspruchen können. So,
500 [E]r ducht in sin ain affe / und all, die in sahen (Tr-E 9051f.).
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wie es wahr ist, dass der hinter der Narrenlarve verborgene Intrigant der Geliebte der Königin ist, so wahr ist, dass dieser bedauernswert hässliche Narr mit seinem törichten Gebaren niemals der Geliebte der Königin gewesen ist. Kalokagathie ist vollends in die Steigerung ihres ästhetischen Gegenteils mutiert: in die Paradoxie eines ‚Sowohl-als-auch‘, das alle Normativität – als Bedingung der Möglichkeit weiteren ehebrecherischen Geschehens – aufhebt. Dieser Angriff auf die höfische Ordnung als Ästhetik, gar als Sein in ontologischem Sinne, ist so wirkungsvoll, weil diese nicht gewaltsam zerstört, sondern – ihrerseits ästhetisch – subversiv zersetzt wird. Und einer solchen Zersetzung kann nicht Einhalt geboten werden, solange das Wahrheitsparadox des Narren besteht: Der König scheint in völliger Passivität gebannt, kann selbst nur noch starren (er muost in stättlich an gaffen; Tr-E 9050) und hat damit nicht einmal am Zweifel jener Umstehenden teil, die im Narrenwort Wahrheit ahnen. Der Schlagabtausch innerhalb dieses Dialoges501 , in dem im Übrigen die Rollen perspektiv- und wissensbedingt so vertauscht sind, dass der betrogene König den Part des wirklichen Narren hat, weil der falsche ja tatsächlich die Wahrheit sagt, kommt mit dem Standesthema zu einem prekären Punkt, an dem die Möglichkeit, dass die Verkleidung Tristrants durch allzu wahre Äußerungen durchschaubar wird, bedrohlich näher rückt. Im Wesentlichen umfassen die Aussagen des künstlichen Narren drei Wahrheiten: 1. Königin und Narr sind ein Liebespaar. 2. Der Narr ist ein tapferer Ritter in ihren Diensten. 3. Nur um der Königin willen ist der Ritter zum Narren geworden. Dadurch, dass sich dieser Narr selbst als Minne-Tor präsentiert, bekommt seine Rolle auch den Charakter eines Erzähler-Narren („[…] sol ich dir der warhait jehen? […]“; Tr-E 9037), für den jedoch zunächst rollengemäß gilt: Nur im Status eines rechtlosen Außenseiters der Gesellschaft kann Tristrant dieser die Wahrheit über seine Liebe sagen, und auch nur von einem Narren ist die Gesellschaft in der Lage, sich solche Dinge erzählen zu lassen. Die Narrenrolle indiziert für die Zuhörenden die Möglichkeit, der Rede einer solchen Passage keinen Glauben schenken zu müssen; von einem außerhalb der Gesellschaft stehenden Rechtlosen erwartet man die Wahrheit nicht.502
501 „Das Gespräch folgt ersichtlich der ikonographisch vermittelten Konstellation Psalmnarr/König, kehrt dieses Schema um und stilisiert Tristan [sic] in der Markolftradition zum weisen Narren“ (Matejovski 1996, S. 209). 502 Schausten 1999, S. 83.
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Da Eilhart seinem falschen Toren sogar eine Allegorese der Liebeshandlung in den Mund legt, spricht dieser gleich in mehrfachem Sinne die Wahrheit: einmal auf der Figurenebene, da der bisherige Handlungsverlauf dazu geführt hat, dass Tristrants jüngstes Verkleidungsabenteuer ihn als Narren zu Isalde führt, und zum andern auf einer allegorischen Ebene, auf der schließlich alle zu Toren werden müssen, die der unabweislichen Wirkungsmagie der Minne so erlegen sind, als wirke der magische Zaubertrank noch fort: „[…] so ward ich durch sie tore. man züht mir min oren: daß lÿd ich durch iren willen über lut und stillen. sü liebt mir in rechter lieb geschicht. wie sü eß wil gelouben nicht, ich gan ovch niemen guotteß bass.“ (Tr-E 9038–9044)
Die Strategie, als Narrensimulant strikt bei der unglaubhaften Wahrheit zu bleiben, hat im Fortgang der Handlung auch den Effekt, das höfische Publikum zu polarisieren. Es spaltet sich fortan in jene, die wie der betört betroffene König und Gatte weiterhin von der Unglaubwürdigkeit der Narrenweisheit überzeugt sind und glauben, dieser sin ain affe (Tr-E 9051), und in die wÿsen, die, bayd ritter und frowen, zu einander sagen: „er spricht untorlich. / dÿß merckt gemaine!“ (Tr-E 9053–9058).503 Abermals nimmt die Bedrohung einer möglichen Desillusionierung der Betrogenen und einer entsprechenden Überführung des Betrügers zu. Doch es kommt anders: Der wahrheitsliebende Narr findet in die unbezweifelte Torenrolle zurück, wenn er als clainot (Tr-E 9079) für die Königin den Käse aus seiner Kapuze hervorholt. Dieser neuerliche, scheinbar ‚objektive Unsinn‘ bekräftigt schließlich die Simulationswirkung und ‚bestätigt‘ selbst einen vorübergehend durch Scharfblick ‚irritierten‘ Hof darin, dass man doch eben nichts anderes als einen blödsinnigen Narren vor sich habe: do begunden sie all lachen, durch die selben sachen sprachen sie, eß wär ain tovr gewisslich. […] do begund er sie dann wenden,
503 Vgl. Matejovski 1996, S. 210; Hübner 2003, S. 291.
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daß sie all wöl schwuoren also, daß sie nie tummer toren jo gesahen in kainem rÿch so recht gämmelich. (Tr-E 9080–9089)
Dass der falsche Narr abermals als Lachanlass zu reüssieren vermag, hat für die Verkleidungsintrige noch weiter reichende Folgen: Endgültig so allgemein wie arglos als Hofnarr akzeptiert, darf er bleiben, und der König verlässt den Saal. Hiermit ist endlich die Gelegenheit gegeben, sich – allerdings zunächst noch vermittelt – der Köngin zu entdecken. Was sieben Tage und Nächte in einer Narrenkapuze aufbewahrt worden ist, taugt – so ins optisch wie olfaktorisch Ekelerregende gebracht – schwerlich als Königinnenspeise. Dennoch nötigt Tristrand der affemann (Tr-E 9104) eine verständlich widerständige Königin dazu, diesen mit im essen (9100). Es verwundert nicht, dass es gerade dieses Szenendetail ist, dass in der Forschung diverse Deutungen provoziert hat, ist doch der Umgang mit Speisen von Evas Tagen an zumindest bis zu Konrad von Würzburg nicht nur für Stand, Kultiviertheit und Charakter ‚repräsentativ‘, sondern auch für die ‚Moralität‘ der handelnden Figuren, für die allenthalben gelten mag: Man sol sich zem tische vast bewarn, / der nâch rehte wil gebârn […] (DWG 471f.). Der widerwärtige Käse504 wird nun das Medium einer ersten Annäherung von hässlichem Narr und schöner Königin, der deß käß do ain wenig nam. / der frowen er in zuo dem mund stach […] (Tr-E 9105 f.).505 In der Faktizität wie in der schillernden Symbolik dieser ‚anstößigen‘ Gabe des Narren scheinen drei Deutungshorizionte auf, die sich als Alternativen nicht ausschließen, sondern einander provokationssteigernd vielmehr wechselseitig begründen.506 Ekelmotivik und Verbwahl legen bereits nahe, dass hier eine höchst
504 Wie Gugel und Keule gehört der Käse vielfach „zu den sprichwörtlichen Attributen des Narren“ (Matejovski 1996, S. 211). Zudem erscheinen Verzehrwarnungen in dietätischen Vorschriften des Mittelalters vor dem Hintergrund humoralpathologischer Annahmen (Galen), denen insbesondere auch „alter Käse“ als Begünstigung von Melancholie gilt (vgl. ebd., S. 44). 505 In Anlehnung an Fritz geht Masse verharmlosend davon aus, dass „der Narr der Königin ein Stück Käse in den Mund steckt“ (Masse 2009, S. 24), was „im Sinne einer Parodie des Minnedienstes als Ersatz für einen Kuß gedeutet werden“ (ebd.) könne. Vgl. Jean-Marie Fritz: Le discours du fou au Moyen Age. XIIe- XIIIe siècles. Etudes comparée des discours litteraire, médical, juridique et théologique de la folie. Paris 1992 (= Perspectives litteraires), S. 54. 506 Mit dem Motivkomplex der Nötigung zum Käseverzehr verbinden sich, wie in der Szeneninterpretation zu lesen, andere Deutungshorizonte als bei Matejovski, dessen Interpretation sich so ausnimmt: „Die Narrenszene aktualisiert drei Bedeutungsebenen […]. Der Ziegenkäse ist im Mittelalter als unreine Speise den Epileptikern, die zwar nicht als Besessene, so doch als Geisteskranke galten, verboten. In der antiken Tradition (Soranus) kannte man den Käse als empfängnisfördern-
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normwidrige, weil gängige Tischsitten negierende Mahlparodie oder gar die Verkehrung eines „Liebesmahl[es]“507 vorliegt, die unter den Vorzeichen vorgeblicher Narrheit inszeniert wird.508 Dass andernorts das Verhalten an der königlichen Tafel ebenso normativ repräsentativ ist wie der Umgang mit Speisen (von Königinnen und anderen höfischen Figuren), ist sowohl in der erzählenden als auch in der didaktischen Literatur vielfach ausgebreitet worden. Bei Eilhart wird im metaphorischen Spielbereich von Essen und Erotik tabuisierte Minne als kulinarische Vergewaltigung erzählt. Der verdorbene Käse, in den Königinnenmund ‚gestochen‘, nimmt die tabuisierte Vereinigung der Ehebrecher im Symbolischen ebenso retrospektiv auf wie er diese vorwegnimmt. Darüberhinaus ist die als clainot (Tr-E 9079) für die närrisch Geliebte über das Meer mitgebrachte Gabe auch intrigenästhetisch ein falsches Gnorisma, schließlich erkennt Eilharts Isalde den Geliebten im Narren eben noch nicht an diesem verballhornten Gabentausch. Als identitätsaufdeckendes Indiz wirkt, nach heimlichem Zwiegespräch mit entsprechendem Austausch über ‚Tristrant‘, erst der Ring, den Tristrant zuvor von Isalde erhalten hat.509 Dieser faktische wie symbolische Tabubruch, Isalde zum Käseverzehr zu zwingen, ist zudem so geartet, dass er in seiner „verborgenen Semantik zum Stimulus
des Mittel, und im Volksbrauch spielt der Käse eine wichtige Rolle bei Verlobung, Hochzeit und Taufe“ (Matejovski 1996, S. 211. Vgl. Friedrich Eckstein: [Art.] ‚Käse‘. In: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Hrsg. von Hanns Bächtold-Stäubli. Bd. IV. Berlin/Leipzig 1931/32, Sp. 1061–1065f.). Vor diesem Hintergrund bietet Matejovski als Szeneninterpretation an: „Der Käse bezieht sich einerseits auf seine [Tristrants] Situation als Narr, andererseits stellt sich über die Hochzeits- und Empfängnisebene ein Bezug zu Isolde her. Durch die parodistische Einfügung in den Kontext des Minnedienstes werden diese Anspielungen akzentuiert, gleichzeitig auch verrätselt“ (Matejovski 1996, S. 211). 507 Schindele 1971, S. 97. Matejovski lehnt die Deutung der ‚Käseattacke‘ als ‚parodiertes Liebesmahl’ ab, da in Tristrants distanzlosem wie nötigendem Verhalten ein „eklatanter Regelverstoß“ zu sehen sei (Matejovski 1996, S. 212). Der Beobachtung einer ins Tabuhafte spielenden Normwidrigkeit tut es jedoch keinen Abbruch, gerade in der Verschiebung ins Gewalttätige das übersteigerndparodistische Moment zu sehen. 508 In diesem Zusammenhang spricht Müller sogar davon, dass der „höfische[…] Austausch kostbarer Geschenke ebenso wie ein christliches Liebesmahl“ parodiert würden (Müller 1990, S. 33). Dass das Handlungsmoment des gemeinsamen Käseverzehrs auf einer generellen Verdammung von all‘ jenen beruht, die sich mit ihnen bei Hofe und zu Tisch abgegeben, sei hier erinnert. So verdammt der Kirchenlehrer Thomas von Chobham jene Spielleute, die „zu den Höfen der Fürsten“ ziehen, um „Schimpf und Schande zu verbreiten. Es sei apostolisch verboten mit scurrae vagi zu speisen, weil sie zu nichts taugen als zum Prassen und Schmähen“ (Bumke 1994, S. 694). Vor dem Hintergrund derartiger Kirchenstandpunkte macht sich auch die Königin, die einen Narren in ihrer Nähe duldet, schuldig. 509 Vgl. Tr-E 9117–9126.
Intrigante Anomalie und Ästhetik: Tristrant und Isalde Eilharts von Oberg
weiterer Grenzüberschreitungen werden kann, ja diese geradezu hervortreibt.“510 Denn dieser Übergriff wird von Isalde ebenfalls gewaltsam pariert: daß macht ir ain sölich ungemach, / daß sü in schluog an daß ovr (Tr-E 9107f.). Damit sind die parodistischen Momente närrischen Symbolhandelns deutlich: Beim Austausch unter den verbotenen wie verheimlichten Liebenden sind die hochgeschätzten Minnepfänder und ersehnten Zärtlichkeiten in Wertlosigkeit und Gewaltsamkeit negiert. Schon Matejovski hat dies als Gleichzeitigkeit von anspielungsreicher Akzentuierung und Verrätselung zu beschreiben versucht511 , was für Masse bezogen auf „Tristrants Geständnis Narrheit und Liebeskrankheit auf symbolischer Ebene miteinander“512 verbindet. Vor dem Hintergrund der letzten Verkleidungsepisode eines heillos minneverfallenen Intriganten scheint hier ein abermaliges, fokalisierungsbedingtes Paradox vorzuliegen, das die Ästhetik des gesamten Narrenauftrittes charakterisiert: Die dissimulierende Motivverkehrung von Essen und Erotik, von Körperkontakt und Gewalt513 entspricht der (Liebes-) Wahrheit ebenso wie der Problematik „einer Liebespassion, die wegen ihrer subversiven Kraft wohl nur über eine von der Norm abweichende Figur zu vermitteln ist.“514 Hierdurch sind Anlass und Gelegenheit gegeben, Isalde durch die Direktheit unverfänglicher Narrenwahrheit über die Verkleidungsintrige mehr und mehr ins Licht zu setzen: „[…] ist üch Trÿstrand lieb icht, / so söltend ir mich nit so ser schlachen“ (Tr-E 9113f.). Durch das neuerliche Zutrauen gegenüber dem närrischen Aggressor lässt die Königin trotz vorhergehenden Tabubruches schließlich doch jene Nähe zu, die List und Heimlichkeit dahingehend ermöglicht, dass sich Tristrant ihr gegenüber endlich durch Teilhabe an gemeinsamem Erinnern und durch den vorgezeigten Ring zu erkennen geben kann: „ich bin eß selb Tristrand“ (Tr-E 9124). Auch bei Eilhart ist die höfische Fassade einer Königin labil, da deren Urteilsstrenge gegen Normverstöße und Tabubrüche mehr als fragwürdig erscheinen muss, solange ihr die wahre Identität des falschen Narren nicht entdeckt worden ist. Die glückselige Königin veranlasst daraufhin so prompt wie ihrerseits raffiniert, jene Voraussetzungen zu schaffen, die im Folgenden die Erfüllung ihrer Liebe ermöglichen:
510 511 512 513
Matejovski 1996, S. 211. Vgl. ebd. Masse 2009, S. 25. Matejovski bringt die Motivik von Sexualität, Gewalt und Essen mit einer „Karnevalisierung des Marke-Hofes“ in Zusammenhang, ruft aber selbst ebenso die Kontroverse Gurjewitsch vs. Bachtin wie auch die Tatsache in Erinnerung, dass „Tristans [sic] Entfesselung keineswegs lustvoll ausgemalt“ werde (Matejovski 1996, S. 213). Zur Karnevalisierung vgl. Bachtin 1969, S. 47–59; Aaron J. Gurjewitsch: Mittelalterliche Volkskultur. München 1987. 514 Masse 2009, S. 25.
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Simulierte Torheit
deß tovren hiess dü frow do gar flÿßklich pflegen und hieß im an iren wegen stettencklichen betten under die treppen in ir selbß kemmenauten: do ward er wol berauten. (Tr-E 9127–9133)
Im Schwankhaften erscheint hier heiter ausgestellt, was die Didaxe als heikles Skandalon vorführt: Die erotische Usance von drÿ wochen (Tr-E 9146) Dauer, während der Tristrant und Isalde ein Doppelleben als Narr und Liebhaber bzw. als Königin und Geliebte führen können. Denn tagsüber entspricht Tristrant den Anforderungen an seine Narrenrolle, wohingegen er nachts sinen willen / verholn und gar stille / mocht mit der frowen havn (Tr-E 9142–9144). In der für tabuisierte Minne ebenso ‚erfolgreichen‘ wie langwierigen Liebeserfüllung zeigt sich die besondere Eignung der Narrenrolle für derartige Intrigen und Verkleidungsabenteuer. Hiermit ist bereits deren literaturgeschichtlicher Erfolg begründet, denn auch bei (Pseudo-)Konrad von Würzburg wie bei Boccaccio suchen Liebhaber unter der Larve falscher Narrheit Zuflucht. Allenthalben wird von einer grotesken Minneutopie erzählt, die selbst verbotene Liebe zu erlauben scheint, wenn ihre Protagonisten nur über angemessene Intrigenkompetenz (list) verfügen, um mit gelingender Rollensimulation die Dissimulation der wahren – also quasi der unter der königlichen Kemenatentreppe befindlichen – Verhältnisse weiterhin aufrecht erhalten zu können. Aber zum verkehrten Paradies auch dieses Liebesglückes im Verborgenen zählt, ganz wie zur Liebe selbst: Sie kann in diesem Leben nicht von Dauer sein. So raffiniert Eilhart von Intrigengeschehen zu erzählen weiß, so kunstlos ist deren schließliche Desavouierung: da wurden sin zuo hand gewar zwen kemerere, daß der trugnere minnet die frowen. (Tr-E 9147–9150)
Die tatsächliche Überführung durch die verräterischen Augenzeugen ist dann aber wiederum als komplexe Gegenintrige gestaltet, die ihrerseits nicht schwankhafter Züge entbehrt. Die Verschwörer lauern dem falschen Narren auf – in Bettnähe (vor dem bett stavn; Tr-E 9158), hinter und vor der Kemenatentür (in die kemmenaut hinder die tür, / und […] dar für; 9160f.). Man vermag Tristrant, der kraft
Intrigante Anomalie und Ästhetik: Tristrant und Isalde Eilharts von Oberg
seiner Liebe zu Isalde mit seiner Keule allen Gefahren zu trotzen bereit ist, aus Furcht nicht zu fassen, aber das groteske Liebesidyll ist für immer dahin, die Liebenden sind entdeckt und müssen sich abermals, ein letztes Mal, trennen. Die Serie der Wiederbegegnungs- und Verkleidungsabenteuer wird zunächst aber als vermeintlich fortsetzbar erzählt: „[…] dar umb erhör min gebett und biß gen mir stätt, also wil ich ouch ÿmmer sin. wann dir der bott min daß fingerlin bring, so tuo gar häling weß ich dich dann wil bitten laussen. […].“ (Tr-E 9186–9192)
Die Abschiedsvereinbarung schafft scheinbar die Voraussetzungen für neuerliche Begegnungen des Paares, wenn Tristrants Ring abermals als Intrigeninstrument fungiert. Auch hier wird die Ästhetik der Intrige mit Torheit verbunden, einer Torheit jedoch, von der das Publikum noch nichts weiß, weil sie sich auf dieses selbst bezieht, solange es für die tabuisierte Liebe Hoffnungen hegt. Bereits Episodenstruktur und Wiederholungsmotivik ‚sprechen‘ – aus ästhetischen Gründen – gegen sich endlos steigernde Forsetzung. Zudem hat der Held bereits nicht mehr Steigerungsfähiges für seine Liebe wie für die Moraldidaxe geleistet, ist nicht mehr er selbst, ist nicht mehr ritterlicher Held, ist Narr geworden.515 Schließlich: Der aus der Hand gegebene Ring kann schon nicht mehr den wiederkehrenden Geliebten, sondern einzig dessen Boten identifizieren. Das verunmöglicht per se noch keine Rückkehrpläne. Im Rückblick des gesamten Geschehens weist der Ring jedoch bereits auf das Ende voraus, das kein glückliches sein kann. Und wer bis hierhin identifikatorisch dem Schicksal der Liebenden gefolgt ist, wurde seinerseits ein letztes Mal betört, wenn er geglaubt hat, es gäbe noch ein Wiedersehen. Dass Ambivalenz und Perspektivität auf diese Weise Torheit begründen, ist auch bei Eilhart ein ästhetisches Prinzip, das in der Wiederholung seine Steigerung findet, die die Figurenrede Markes schließ-
515 Mit der Narrenepisode kommt Eilharts Erzählen in zweifacher Hinsicht zu seinem seinerseits paradoxen Höhepunkt: zum einen im Hinblick auf die „zunehmende[…] Gefährdung der Außenwelt“ durch den dissimulierten Tristrant, zum anderen bezogen auf den „Abstieg des Protagonisten“ (ebd., S. 17): „Der heldenhafte Ritter, der wiederholt zu degradierenden Rollen gezwungen wird, wird zunehmend zu einem Außenseiter, entfremdet sich somit immer mehr seinem sozialen Umfeld und seiner sozialen Rolle, aber auch sich selbst“ (ebd.; vgl. Müller 1990, S. 33).
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lich, aber tragischerweise eben erst im Nachhinein, auf die Gesamtinterpretation der Geschichte übertragbar macht: ouch waß es ain groß torhait … Im Vorausgehenden wurde zu zeigen versucht, dass Narrheit und Ästhetik bei Eilhart eine unterhaltsam-heikle Synthese eingehen, die vor allem eine Intrigenkunst konstituiert, die im Sinne der Betrüger besonders erfolgreich ist. Dass es sich hierbei lediglich um künstliche, also simulierte Torheit handelt, die eine völlige „Negation aller höfischen Kulturformen“516 inszeniert, wirft mit Blick auf weitere Textanalysen auch die Frage auf, welche Interaktionsräume sich für anomales Agieren im Sinne verboten liebender Intriganten, für natürliche wie künstliche Narren, besonders eignen. Werkschlüsse und -anfänge sind hypersignifikant. Auch wenn der vom Epischen zu unterscheidene Textstatus nicht mehr damit begründet werden kann, dass in derart Exkurshaftem wie Diskursivem der historische Autor deutlicher vernehmbar sei als im Narrativen517 , positionieren sie das Erzählte in übergreifenden Kontexten etwa der Stoff- und Gattungstradition und offerieren darüber hinaus zumeist Deutungshorizonte, deren Topik daraufhin zu beleuchten ist, inwiefern diese über die rhetorische Lizensierung des Erzählens, den Ausweis von Gelehrsamkeit und stilistischem Geschick oder die memoriaartige Fürbitte hinausgehen. Denn was nach Lugowski für einzelne Romanmotive gilt, ist daraufhin zu betrachten, ob es nicht rückblickend eine „Motivation von hinten“518 schafft, wenn sich Erzähler abschließend der geneigten Publikumserinnerung empfehlen. Die drei untersuchten Fassungen von Eilhart von Oberg, Ulrich von Türheim und Heinrich von Freiberg unterscheiden sich auch darin, dass ihre Werkschlüsse die ohnehin divergenten Erzählwelten ebenso alternativ gestalten. Eilharts Prologpassage benennt keine konkrete Utilitas, weder von Erzählgut noch -leistung.519 Im Vordergrund stehen vornehmlich Einlassungen, die die Aufmerksamkeit der Zuhörerschaft in einem disziplinierend-didaktischen wie in einem intellektuell-pragmatischen Sinne (merckent recht den sin; Tr-E 48) performativ einklagen. Auch der Werkschluss Eilharts ist, passend zu seinem Erzählanfang, lediglich in Ansätzen epiloghaft, mischen sich dort doch nicht nur letzte Details der Handlungsdarstellung mit letztmaliger Performanz, sondern genuin (epilog-)typische Topoi und Figuren bleiben auch hier im Andeutungshaften. Folgend auf die
516 Matejovski 1996, S. 215. 517 Auf die Problematik einer „Gleichsetzung von Erzähler- und Autorkommentar“ ist bereits Schausten eingegangen (vgl. Schausten 1999, S. 245, Anm. 171). 518 Clemens Lugowski: Die Form der Individualität im Roman. Studien zur inneren Struktur der frühen deutschen Prosaerzählung. Berlin 1932 (= Neue Forschung, Arbeiten zur Geistesgeschichte der germanischen und romanischen Völker 14) (= Nachdruck Hildesheim/New York 1970), S. 73. 519 […] wand der ist an tugend blind, / der solch red zerstört, / die man gern hört / und nútz ist, wirt sÿ vernomen. / sÿ mag mangen fromen / in innern und ussern sinnen (Tr-E 26–31).
‚Trivialisierung‘ als Subversion: Der Tristan des Ulrich von Türheim
erwartbare, in den Handschriften divergierende Autornennung520 , figuriert hier gängige Bescheidenheitstopik als Hinweis auf die Bandbreite der Stoffüberlieferung und damit auf Alternativen zum Erzählen, um die eigene Wahrheitsbeteuerung, gestützt auf ungenannte Quellen, anzuschließen: nu spräch licht ain ander man, eß sÿ anderß umb in komen: daß wir all wol hand vernommen, daß man eß unglich von im sagt. Seghart mit guotten zügen daß betagt, daß eß recht also ergieng. (Tr-E 9650–9655)
Eilharts Schlusspassage ist auch frei von präzisierten Nützlichkeitsbehauptungen oder gar einer abstrahierenden Didaxe: ich waiß nit sagen me […] (Tr-E 9702). Das Ende des Textes ist bei Eilhart auch der Schluss der Erzählung, die mit dem Hinweis auf deren bekanntes wie symbolträchtiges Ende, auf Rosen- und Weinstock über dem Grab von Isalde und Tristrant, schließt.521 Der Macht des Minnetrankes gilt bei Eilhart bedeutsamerweise die letzte Aufmerksamkeit: daß macht deß tranckß krafft so (Tr-E 9719).522 Dass diese als Schlusspunkt auch zum markantesten Deutungsimpuls des Erzählganzen wird, wird auch nicht dadurch relativiert, dass Eilharts Erzähler ‚seiner‘ Rahmungspflicht des Werkganzen noch Genüge tut.
2.2
‚Trivialisierung‘ als Subversion: Der Tristan des Ulrich von Türheim
Nach den Analysen zu Narrheit und Ästhetik im Zusammenhang mit den Verkleidungsabenteuern und vor allem der Narrenepisode bei Eilhart von Oberg sollen nun zwei alternative Erzählungen des Tristan-Stoffes bzw. deren intrigante Narrenabenteuer eingehender betrachtet werden: die Tristan-Fortsetzungen Ulrichs von Türheim und Heinrichs von Freiberg. 520 [V]on Bauemberg Segehart / haut diß buoch gedichtet bzw. Seghart mit guotten zügen daß betagt (Tr-E 9644f.; 9654) gegenüber von Hobergin her Eylhart; von Oberengen Enthartte B und Eylhart deß guten geczug hat, / daß ez alzo zcu ging D; Ebhart guotten gezüg hat, / daß eß recht alsuß ergat B (vgl. Tr-E, S. 312, Anm. 5019, 5029). 521 Zum Erzählungsende bei Eilhart vgl. Hanno Rüther: Grundzüge einer Poetologie des Textendes der deutschen Literatur des Mittelalters. Heidelberg 2018 (= Studien zur historischen Poetik; Bd. 19), S. 174–199. 522 Ergänzend sei hier angemerkt, dass Heinrich „die Wirkung des Trankes ursächlich in einen Zusammenhang bringt mit einem verdunkelten Stern, der den Genuß des Zaubergetränkes durch Tristan und Isolde begünstigt hat“ (Schausten 1999, S. 270).
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Deren Weitererzählungen von Gottfrieds Tristan gelten gemeinhin als „eher zweitrangige Erzählwerke des 13. Jahrhunderts“523 , und dies vornehmlich aus zwei Gründen: Erstens gilt es bereits als deklassierend ‚epigonal‘524 , nicht ausschließlich eigenständig zu erzählen, sondern anderer Werke abzuschließen. Hieraus resultiert dann zweitens, vor allem an der Erzählkunst Gottfrieds als ästhetischem Maßstab gemessen zu werden. Monika Schausten weist allerdings darauf hin, dass „sich hinter der Applikation der Bezeichnung ‚Fortsetzung‘ auf Texte der hier vorliegenden Art ein moderner Anspruch“525 verberge: „Der Begriff impliziert nämlich die Forderung nach einer Logik in der Handlungsführung, danach, an das vom Vorgänger Vorgegebene so anzuknüpfen, daß dessen ‚Intention‘ möglichst beibehalten wird.“526 Im Folgenden werden zunächst einige Einschätzungen von Ulrichs Tristan angeführt, um sich mit deren Beurteilungen kritisch auseinanderzusetzen. Hierbei soll es nicht darum gehen, abermals zu diskutieren, an welchen Vorlagen und Stoffvarianten über Gottfried hinaus sich Ulrich orientiert haben mag.527 Vielmehr wird das
523 Klaus Grubmüller: Probleme einer Fortsetzung. Anmerkungen zu Ulrichs von Türheim TristanSchluß. In: ZfdA 144 (1985), S. 338–348, hier S. 338. 524 Zum Begriff des Epigonalen in der Tristan-Rezeption als Fortsetzungswerk vgl. Helmut de Boor: Die höfische Literatur. Vorbereitung, Blüte, Ausklang 1170–1250. Mit einem bibliographischen Anhang von Dr. Dieter Haacke. München 1953 (= Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart 2), S. 191; Grubmüller 1985, S. 338; Schausten 1999, S. 211. 525 Ebd., S. 206. 526 Ebd. 527 Auch wenn über Ulrichs Quelle nur Mutmaßungen angestellt werden können, geht Grubmüller in Anlehnung an Busse davon aus, „Eilhart sei Ulrichs Ausgangspunkt“ (Grubmüller 1985, S. 342). Demgegenüber haben Wachinger und Heinzle „eine verloren gegangene französische Fassung in Erwägung gezogen“ (ebd.). Vgl. die dort angegebene Literatur: Eberhard Kurt Busse: Ulrich von Türheim. Berlin 1913 (= Palaestra CXXI), S. 43; Burghart Wachinger: Zur Rezeption Gottfrieds von Straßburg im 13. Jahrhundert. In: Deutsche Literatur des späten Mittelalters. Hamburger Kolloquium 1973. Hrsg. von Wolfgang Harms und Leslie Peter Johnson. Berlin 1975, S. 56–82, hier S. 61; Joachim Heinzle: Vom hohen zum späten Mittelalter. T 2: Wandlungen und Neuansätze im 13. Jahrhundert (1220/30–1280/90). Königstein/Ts. 1984 (= Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit 2.2), S. 45. Angesichts undurchschaubarer Motivvariationen bei Eilhart und Ulrich sowie einer anzunehmenden deutschen Tristan-Version als Vorlage der Tristan-Teppiche, aufgrund derer „die Möglichkeit einer mündlichen und daher möglicherweise deutschen Quelle“ (Deighton 1997, S. 152) nicht ausgeschlossen werden dürfe, fasst Deighton seine vergleichenden Fassungsanalysen so zusammen: „Angesichts dieser Hinweise scheint die ausschließliche Anerkennung von Eilharts Tristan als Quelle der Fortsetzung Ulrichs von Türheim und die Zuschreibung aller Abweichungen gegenüber Eilhart an eine für das 13. Jahrhundert fast außergewöhnliche dichterische Phantasie zumindest sehr zweifelhaft“ (ebd.). Vielmehr deuteten Vergleichsstudien daraufhin, „daß Ulrich eine andere unbekannte Quelle benutzt hat, die, teilweise der Eilhartschen Tristan-Fassung nahestehend, mündliche Tradition zur Voraussetzung hatte oder von Ulrich selbst durch Elemente mündlicher Überlieferung ergänzt wurde“ (ebd.).
‚Trivialisierung‘ als Subversion: Der Tristan des Ulrich von Türheim
Ziel verfolgt, durch die Analyse von Ulrichs intrigantem Narrenabenteuer einen eigenen Beitrag zur Dikussion um den literarischen Stellenwert seiner Erzählweise zu leisten. Die Fassung des „aus dem Augsburgischen stammenden Adligen“ Ulrich von Türheim wurde „im Auftrage des einflußreichen Konrad von Winterstetten“528 geschrieben. Sie „entstand zwischen 1230 und 1235“529 und ist in sieben Handschriften überliefert.530 Dass es zwischen Gottfrieds Fragment und Ulrichs Fortsetzung sowohl eine konzeptuelle Spannung als auch ästhetische Divergenzen gebe, wurde in der älteren Forschung vielfach betont.531 So wurde Ulrich etwa von Meißburger unterstellt, weder die Gottfried‘sche Minnekonzeption wirklich verstanden zu haben noch in der Lage gewesen zu sein, sich mit dem Fortzusetzenden konsequent kritisch und kreativ auseinanderzusetzen.532 Auch in den vorliegenden Textausgaben533 von Ulrichs Tristan finden sich sowohl bei Thomas Kerth als auch bei Wolfgang Spiewok und Danielle Buschinger Hinweise auf den zweifelhaften ästhetischen Wert dieses Werkes.534 Abermals vor
528 Spiewok 1992, S. 7. 529 Ebd., S. 7; zur historischen Autorpersönlichkeit Ulrichs von Türheim vgl. de Boor 1953, S. 188; Gerhard Eis: [Art.] ‚Ulrich von Türheim‘. In: VL. Bd. 4. 1953, Sp. 603–608; Peter Strohschneider: [Art.] ‚Ulrich von Türheim‘. In: VL. Bd. 10. 1996, Sp. 28–39; Heinzle 1984, S. 34ff.; Bumke 1990, S. 194; Schausten 1999, S. 201. 530 Handschrift M: Bayerische Staatsbibliothek München, Cod. germ. mon. 51, Pergament 40 , illuminiert, 2. Viertel des 13. Jahrhunderts, alemannisch (elsässisch), fol. 99rb –109ra ; Handschrift H: Universitätsbibliothek Heidelberg, Cod. pal. germ. 360, Pergament 40 , Ende des 13. Jahrhunderts, alemannisch (elsässisch), fol. 128va –152vb ; Handschrift B: Historisches Archiv der Stadt Köln, Nr. +88 (W.kl.f.o. 88+ Blankenheim) 80, illuminiert, 14. Jahrhundert (1323), mittelfränkisch, fol. 117va –132rb ; Handschrift N: Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz Berlin, Ms. germ. quart. 284, Pergament 40 , Mitte des 14. Jahrhunderts, mittelfränkisch, fol. 189va –198ra ; Handschrift R: Bibliothèque Royale de Belgique Brüssel, M. S. 14697, Papier, kl. 20, illuminiert, 15. Jahrhundert, alemannisch (elsässisch), fol. 578v –597v . (In dieser Handschrift folgen auf das Tristan-Fragment des Gottfried von Straßburg Tristan als Mönch und die Fortsetzung des Ulrich von Türheim, allerding erst ab der sog. Kaedin-Episode und damit erst nach dem Rückkehrabenteuer Tristans als Narr [bzw. ohne dieses] einsetzend. Vgl. Birgit Zacke: Wie Tristan sich einmal in eine Wildnis verirrte. Bild-Text-Beziehungen im Brüsseler Tristan. Berlin 2016 [= Philologische Studien und Quellen 254], S. 22.) Handschrift P: Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz Berlin, ms. germ. fol. 640, Papier 20, 15. Jahrhundert (1461), schwäbisch, fol. 139rb (V. 1–14); Handschrift S: Hamburg, Staats- und Universitätsbibliothek. Cod. ms. germ. 12.1722., Papier, 1722 entstandene Abschrift einer verlorenen Straßburger Handschrift von 1498 (+S) (seit der Auslagerung im 2. Weltkrieg verschollen). Zu den Handschriftenangaben vgl. Spiewok 1992, S. 8. 531 Zum Forschungsüberblick zu Ulrich von Türheim bis 1994 vgl. Wetzel 1996, S. 228f. 532 Vgl. Meißburger 1954, S. 82, 143f. 533 Zu den bis zu Kerths kritischer Edition von 1979 vorliegenden Textausgaben vgl. Kerth 1979, S. VIIf. 534 Zur Problematik und Beurteilbarkeit von Fortsetzungsdichtungen vgl. Grubmüller 1985, S. 338.
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dem Hintergrund des literarischen Niveaus bei Gottfried von Straßburg ist etwa von dem vergleichsweise „nicht allzutiefen geistigen Gehalt der Ulrichschen Fortsetzung“535 und ihrem „anspruchslosen Niveau einer übertriebenen, in nahezu derb-spielmännischer Art dargestellte[n] Sexualität“536 die Rede. Solche Einschätzungen sind nicht unwidersprochen geblieben. So merkt Spiewok selbst mit Blick auf die zwar „formgestalterisch gefälligere, reifere“537 Erzählkunst Heinrichs von Freiberg an, Ulrichs Stil werde zu Unrecht herabgesetzt, da dieser durch „schlichteren, schnörkeloseren, doch handfest zupackenden und farbig erzählenden“538 Charakter geprägt sei. Zudem hat Deighton für die Einschätzung von Ulrichs Tristan andere Vergleichsmaßstäbe als den Gottfried‘schen Tristan zugrundegelegt: „Ulrichs Erzählstil“539 und dessen vermeintliche Mängel wie „unzureichende oder fehlende Motivierung, […] Betonung der konventionellen äußeren Vorgänge […], Vernachlässigung der Darstellung von differenzierten seelischen Regungen“540 seien als „typische Stilzüge einer primitiven, der Mündlichkeit nahestehenden Erzählkunst“541 einzuschätzen. Auch die Zurückhaltung der „modernen philologischen Forschung“ gegenüber Ulrichs Werk wird mit dessen zweifelhafter Qualität begründet, die Kerth auf eine „zum großen Teil berechtigte Geringschätzung“542 zurückführt. Dementsprechend galt der Text noch bis zu den Herausgebern „Ulrichs von Türheim nach der Heidelberger Handschrift in orginalnahem diplomatischem Abdruck“543 , nach dem im Folgenden zitiert wird (Tr-U), als „gegenwärtig literaturhistorisch noch unzureichend erschlossen“544 .
535 536 537 538 539 540 541 542 543 544
Kerth 1979, S. VII. Ebd. Spiewok 1993, S. XXII. Ebd. Deighton 1997, S. 151. Ebd. Ebd.; vgl. Wachinger 1975, S. 61. Kerth 1979, S. VII. Spiewok 1992, S. 9. Ebd., S. 7. Zu den Literaturhinweisen bezogen auf die Stofftradition vgl. Tr-U, S. 7, Anm. 1–7: Kerth 1979, S. VII; Burkhardt Wachinger: Zur Rezeption Gottfrieds von Straßburg im 13. Jahrhundert. In: Deutsche Literatur des späten Mittelalters. Hamburger Colloquium 1973. Berlin 1973, S. 56–82; Thomas Kerth: Ulrich von Türheim’s Tristan. A Critical Edition. Yale University 1977; Ders.: The Denouement of the Tristan-Minne: Türheim’s Dilemma. In: Neophilologus 65 (1981), S. 79–93; Alan R. Deighton: Studies in the Reception of the Works of Gottfried von Strassburg in Germany during the Middle Ages. (Masch.) Diss. Oxford 1979; Hugo Kuhn: Bemerkungen zur Rezeption des Tristan im deutschen Mittelalter. Ein Beitrag zur Rezeptionsdiskussion. In: Wissen aus Erfahrung. Werkbegriff und Interpretation. FS Hermann Meyer. Hrsg. von Alexander v. Bornmann. Tübingen 1976, S. 53–63; Grubmüller 1985.
‚Trivialisierung‘ als Subversion: Der Tristan des Ulrich von Türheim
Mitunter ist Ulrichs Erzählen außer epigonalem Vollenden zumindest in Ansätzen auch literarische Eigenständigkeit zuerkannt worden. Selbst wenn der Tristrant Eilharts von Oberg als Quelle angesehen wird, so gilt seine erzählerische Gestaltung, einsetzend „mit den Ereignissen in Karke“545 , doch als „relativ selbständig“546 : Die der Josephs-Ehe zwischen Tristan und Isolde Weißhand folgende Szene vom ‚kühnen Wasser‘ wird noch in engem Anschluß an die Fassung Eilharts erzählt. Neu eingearbeitet wird ein Märchenmotiv: Ein schwarz-weiß geflecktes Wunderreh überbringt Tristan im Beisein von Kaedin eine Botschaft der irischen Isolde. Die anschließenden Wiederkehrabenteuer werden jedoch zu einer einzigen Irlandfahrt zusammengefaßt, in der Ulrich die stofflichen Elemente der einzelnen Wiederkehrabenteuer miteinander verquickt. Dabei erfährt der erste Besuch (mit Kaedin) eine Erweiterung durch eine auf die Aussätzigenverkleidung folgende Wiederkehr in Knappenverkleidung, die zur Versöhnung mit Isolde führt.547
Zudem hat Spiewok auf Ulrichs moraldidaktische Intention geschlussfolgert: „Mit seiner Fortsetzung“548 habe dieser also nicht allein den Versuch einer Fortsetzung […] unternommen, sondern zugleich auch den einer Revision der von Gottfried von Straßburg vertretenen renaissancistischen Grundintention, und dies vom Standpunkt einer in christlicher Moralethik wurzelnden Überzeugung, die letzten Endes am warnenden Beispiel einer verbrecherischen, selbst große und bewundernswerte Menschen in die Irre führenden Leidenschaft sein Publikum zu gottgefälligen und gesellschaftskonformen Überzeugungen und Haltungen führen will.549
In der Bandbreite der Forschungsurteile lassen sich zwei Extreme ausmachen: einerseits Einschätzungen, die aus der Spannung zwischen dem Fragment Gottfrieds und dem Weitererzählen Ulrichs ästhetische Defizite der ‚Fortsetzung‘550 ableiten, andererseits Beurteilungen, die aus konzeptuellen wie ästhetischen Divergenzen von Vorlagen- und Abschlusstext letzterem mit Blick auf die Minnehandlung und deren Didaxe eigene Intentionen zubilligen.
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Spiewok 1992, S. 11. Ebd. Ebd. Ebd., S. 12. Ebd. Zu grundsätzlichen narratologischen Überlegungen des Fortsetzens vgl. Schausten 1999, S. 203–211; Zu Ulrichs Fortsetzung von Gottfrieds Tristan vgl. Grubmüller 1985, S. 338–348; Deighton 1997, S. 141–152; zu Strategien der Fortsetzungslegitimation vgl. Schausten 1999, S. 212–215; zu Fortsetzung als Intertextualität von Fragment und Fortführung vgl. ebd., S. 215–217.
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Vor dem Hintergrund kontroverser Qualitätseinschätzungen des Tristan von Ulrich von Türheim zielt das eigene Untersuchungsinteresse auf zweierlei: zum einen auf die Herausarbeitung einer gegenüber Eilharts von Oberg Variante deutlich nuancierteren Ästhetik der Narren-Darstellung; zum anderen auf eine markant eigenständige Deutung der Szenen von Tristan als Narr. Hierbei wird sich eine sowohl durch den Stoff als auch durch die eigene narrative Ästhetik nahegelegte These bestätigen: Mit dem Auftreten von Narrenfiguren, natürlichen wie künstlichen, Simulanten wie Intriganten, geht nicht nur eine gewalttätige Ansteckung der jeweiligen höfischen Umwelt durch um sich greifende Narrheit, sondern, mit Blick auf den gesamten Text, auch ein noch deutlicheres Überschreiten der Gattungsgrenzen einher. Führen Epsiodenreihung und Motivik der Rückkehr- und Verkleidungsabenteuer bereits strukturell ins Schwankromanartige, so weist auch die Motiverweiterung um Minnesangparodistisches über die eigene Gattungsgrenze hinaus. Derartige Erosionen der Gattungstypologie sind in der Konfrontation von Narrheit und Ästhetik, aber auch von Normvorstellung und -abweichung einer weitgehenden Labilisierung dessen geschuldet, was den dargestellten Fiktionswelten als verlässlich, erwartbar, mithin als ‚normal‘ gilt. Pointierter formuliert: Je weiter sich Gattungskontexte schwankhaftem Geschehen und ebensolchen Figuren annähern, desto markanter fällt auch der Kontrast zwischen höfischen Standards und ihren Verkehrungen aus. Und bei diesen – wie bei Narren überhaupt – ist schließlich auch zu fragen, ob sie als Negativexemplum einer entsprechenden Moraldidaktik fungieren (sollen) oder ob sie – subversiverweise – noch einen anderen Status, etwa als Alternative zum Normativen, besitzen. Gegenüber einer finalen moraldidaktischen Überformung der Tristanminne durch Ulrich von Türheim ist auch deshalb Skepsis geboten, da die Drastik schwankhaften Erzählens sich bekanntlich nur bedingt didaktisch lizensieren lässt. Obszönes wie Erotisches, Gewaltmomente oder Motive der Vitalsphäre legen eine alternative, Didaktisches jedoch nicht ausschließende Intention nahe: die Lust am (Weiter-)Erzählen. Da Urteile, ästhetische zumal, von ihren Vergleichsgrundlagen abhängen, werden die Erzählweisen Ulrichs und Heinrichs im Folgenden nicht nur zu derjenigen Gottfrieds, sondern vor allem auch zu derjenigen Eilharts in Beziehung gesetzt. Eine vergleichende Analyse des Intrigenerzählens der jeweiligen Schlusspartien und von deren Narrheitsgestaltungen kann so auch einen Beitrag zu der Diskussion über den ästhetischen Status dieser sogenannten Fortsetzungen leisten. Den Ausgangspunkt bildet ein Handlungsüberblick über Ulrichs Tristan, auf den die Analysen seines Intrigenerzählens folgen. Alternativ zu Eilhart und zu Heinrich interessiert hierbei vor allem, welche darstellerischen Mittel Ulrichs Inszenierung von Narrheit zugrundeliegen und welche Bedeutung dessen Narrenfigur zukommt bzw. wie dieser die Narrheit Tristans zwischen natürlichem Minnewahn und in-
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triganter Verstellung verortet. Diese Blickrichtung ermöglicht zudem, danach zu fragen, ob auch die Ästhetik von Ulrichs Erzählen tendenziell Vorstellungen von Normalität subversiv unterminiert. 2.2.1 Tristan im Handlungsüberblick Als Fortsetzungswerk von Gottfrieds Tristan beginnt die Erzählhandlung bei Ulrich mit der Ehe seines Protagonisten mit Isolde Weißhand (Tr-U 40–373). Hieran schließt sich der Abschnitt über die Entdeckung der Josefsehe (‚Das kühne Wasser‘) an (Tr-U 374–473), aus der der Entschluss zu einer ersten Rückkehr zur blonden Isolde resultiert, bei der Tristan von Isolde Weißhands Bruder Kaedin begleitet wird. Diesem gemeinsamen Abenteuer liegt die Verabredung zugrunde, dass nur die Schönheit der blonden Isolde ‚erkläre‘, warum Tristan die Ehe mit Isolde Weißhand nicht vollzogen habe (Tr-U 474–545). Im Folgenden lässt Ulrich wundersamer Weise ein weinendes Reh als Liebesboten auftreten, das Tristan einen brief, ein vingerlin (Tr-U 567) überbringt. Es folgt eine Reihe von Wiederbegegnungen bzw. Wiederkehrabenteuern: die sog. ‚Dornbusch-Episode‘ (Tr-U 848–1359), in der Tristan und sein Begleiter, von Inkognito und Dornbusch geschützt, Isolde verabredungsgemäß in einem Hofaufzug beobachten, während sie ein Hündchen zärtlicher liebkost als Isolde Weißhand Tristan behandelt habe. Von der Entdeckung durch den verschlagenen Antret bedroht, reüssiert die intrigenkompetente Isolde durch ambivalentes Sprechen, das Simulation und Dissimulation gekonnt verbindet, indem sie behauptet, niemanden so zu lieben wie jenen, den sie unlängst leidenschaftlichst geküsst habe (Tr-U 1320–1328). Das Folgeabenteuer ‚Das Zauberkissen‘ fokussiert die Liebesschmach von Tristans Freund Kaedin, dem Isolde als uneingeschränkt über die Ihren Gebietende eine unfreiwillige Gespielin zuweist. Die durch ein einschläfernd wirkendes Zauberkissen jedoch vereitelte Liebesnacht von Kaedin und der unglücklichen Kamele kontrastiert das sexuelle Liebesglück von Tristan und Isolde. Inzwischen hat Pleherin, einer der hinterlistigen Gegenspieler, Tristans treue Helfer in die Flucht geschlagen, so dass Kurneval den Verlust eines Pferdes zu beklagen hat. Überdies verleumdet Pleherin Tristan dahingehend, dass dieser einem Kampf ausgewichen sei. In diesem Erzählabschnitt gerät Isolde darüber in Zorn, dass Tristan möglicherweise ein ehrloser Feigling sei (Tr-U 1891–2228). Sie sinnt in ihrem Zorn, ihrer Ehre durch Tristans vermeintliche Verzagtheit verlustig gegangen zu sein, auf Rache: Der ihr getreue Paranis soll Tristan aufsuchen, um diesem Vorhaltungen zu machen. Tristan beteuert seinen Kampfesmut und weist die Verleumdung Pleherins zurück, muss aber von Zorn und Hass Isoldes erfahren. Der so ins Unrecht gesetzte Tristan will aber seine Isolde unbedingt wiedersehen und sie von seiner Unschuld überzeugen.
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Hierdurch wird ein erstes Verkleidungsabenteuer motiviert: Tristan erscheint als Aussätziger inkognito vor Isolde. Diese erkennt ihn jedoch an seinem Ring und lässt den vermeintlichen Aussätzigen vertreiben (Tr-U 2229–2254). So benötigt Tristan eine neue Verkleidung, um Isolde wiederzusehen, aber auch um sich seinerseits an ihr zu rächen. Gemeinsam mit Kurvenal tritt Tristan nun in rotem Rock als Knappe auf (Tr-U 2286–2470). Bei einer erneuten Wiederbegegnung erkennt Isolde Tristan abermals. Auf gegenseitige Liebesbeteuerungen hin rät ihm Isolde, sich für seine Schmach in Narrenkleidung zu rächen (Tr-U 2415–2419). Tristan nimmt mit einem derartigen Freudensprung Abschied, dass diese Körperkraft sogleich neuen Argwohn weckt. Marke verweist jedoch alle Verleumder in die Schranken und erbittet Gottes Schutz für das Kind der eigenen Schwester. Bei der folgenden Wiederbegegnung reüssiert Tristan in der Narrenlarve unerkannt am Markehof (Tr-U 2471–2842). Rollengemäß provoziert er Tumult und gewalttätige Auseinandersetzungen. Seine Verkleidung verhilft zu neuerlichem Liebesvollzug mit Isolde, der jedoch vom boshaften Antret entdeckt und verraten wird, so dass Tristan erneut flüchten muss. Auf seiner Flucht tötet er den ihm nachsetzenden Pleherin mit dem Narrenkolben (Tr-U 2779–2783), weicht einem Zweikampf mit Marke jedoch aus. Zornentbrannt befiehlt dieser, sowohl Tristan als auch Isolde auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen (Tr-U 2788–2792). Tristan nachsetzend, stürzt der König schließlich schwankhaft in den Fluss, so dass er Tristan nicht zu stellen vermag. Sein Hofrat mildert seinen Zorn und gibt zu bedenken, dass dieser möglicherweise allein auf Verleumdung (Antret) gründe. Die Tötung der Königin brächte zudem Schande. Daraufhin sieht Marke davon ab, Isolde töten zu lassen. Es folgt eine größere zusammenhängende Erzählpartie, die von der hinterlistigen Liebe Kaedins und Kassies handelt (Tr-U 2843–3303). Auch diese Episode ist eine trickreiche Ehebruchsgeschichte (mit Wachsabdrücken lassen Tristan und Kaedin die Schlüssel zur Burg von Nampotenis nachmachen), bei der schließlich Liebhaber (Kaedin) und betrogener Ehemann (Nampotenis) den Tod und der Intrigenhelfer (Tristan) eine tödliche Verwundung davontragen. Den Abschluss der Erzählhandlung bildet die Schilderung von Tristans Warten auf die heilkundige blonde Isolde (Tr-U 3304–3495), die auf einem Schiff mit rettungskündendem weißen Segel heraneilt. Isolde bricht sofort auf, kann aber ihre inzwischen aus purem Gram über den Kummer ihrer Herrin verstorbene Getreue Brangäne nicht mitnehmen. Isolde Weißhand bringt nun den Hoffnungslosen zu Tode, indem sie fälschlich behauptet, das angekommende Schiff habe ein kohlschwarzes Segel. An der Bahre des Toten kommt es zur finalen Auseinandersetzung der beiden Frauen. Die blonde Isolde wirft sich schließlich selbst auf die Bahre und stirbt prompt (Tr-U 3424–3427). Marke erhält noch während seiner Überfahrt nicht nur die Nachricht vom Tod der beiden Liebenden, sondern erfährt nun auch vom Minnetrank (Tr-U 3450). Er ergeht sich daraufhin in unbändiger Trauer über Verlust, Schuld und Reue. Schließlich bringt er die Toten zurück nach Cornewall (Tr-U 3496–3730), wo er
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über deren Gräbern selbst einen Rosen- (Tristan) und einen Rebstock (Isolde) pflanzt (Tr-U 3548–3552). In einer weitschweifigen Erzählerklage folgen Tristan-Preis (Tr-U 35556–3580), Verfluchung des Minnetrankes (3581ff.) und Theodizeefrage (war umbe tut unser herre daz; Tr-U 3594). In einer Schlusspassage, die Epiloghaftes mit finalen Handlungspartien zu mischen versteht, endet Ulrichs Romanfortsetzung mit seiner Allegorese von verflochtenem Reb- und Rosenstock als Bild ewiger Liebe (Tr-U 3601–3613). Hierauf folgen diverse Wahrheitsbeteuerungen und die Adressierung an Liebende als geeignetes Publikum (Tr-U 3614–3630). Bevor wir erfahren, dass Marke als Stifter eines Klosters und eines Münsters Buße und Heil sucht (Tr-U 3671–3695), verheißt eine Erzählerpassage den tragisch Liebenden für ihre irdische Treue himmlischen Lohn (Tr-U 3631–3657). Ulrich schließt mit der Bitte um Gottes Himmelreich für sich und sein Publikum (Tr-U 3720–3731). 2.2.2 Vergleichbare Simulationen und variierende Intrigen er tet, des ich niht tete: der mich der dinge bete, di mir vugeten unreht lebn, dez vriuntschaft woldich mich begebn. (Tr-U 2501–2505)
Ulrich von Türheim schafft sich bereits durch anders geartete Charaktere und unterschiedliche Handlungsmotivationen der Rückkehrabenteuer eigene Nuancen der Intrigenästhetik. Liebes- und Verratshandlungen sind bei ihm so sinnfällig miteinander verwoben, dass Tristans Verkleidungsabenteuer als Narr nicht ausschließlich der Rückkehr zu Isolde dient. Vielmehr agiert Ulrichs Narr auch als Rächer gegenüber allen, die sich vorher seiner Liebe zu Isolde verräterisch entgegengestellt haben. Intrigentheoretisch fungiert simulierte Narrheit nun als dissimulierte Identität, deren Inkognito den Liebenden als Rächer verbirgt. Im Vergleich mit der Erzählweise Eilharts wird sich bei Ulrich dadurch der Torheitskomplex, die Narrenfigur, ihre Ausstattung und ihr Gebaren als aspekt- und detailreicher erweisen, was auch aus deren Radikalisierung resultiert. Das betrifft etwa die Darstellung von Gewalttätigkeit und von Gewalt als figurencharakterisierenden Lachanlässen, die an Drastik deutlich über das von Eilhart Erzählte hinausgehen. Ebenso werden sich die Protagonisten bei Diskursivierung und Realisierung ihres Minnekonzeptes als ‚freizügiger‘ erweisen. Mit der Gewaltaffinität von Ulrichs Komik korreliert auch die Sexualisierung der Minnedarstellung.551 Ob diese Ästhetik des
551 Allerdings kann der Erzählvariante (der Narrenepisode) bei Ulrich im Ästhetischen insgesamt kaum der Komplexitätsgrad Eilharts zugestanden werden, außer vielleicht dort, wo er die Hand-
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Schwankhaft-Drastischen schlussendlich von einer überzeugenden (Negativ-)Didaxe gerechtfertigt wird, werden die Analysen zeigen. 2.2.3 Zorn, Rache und ein neuer Intrigenplan Der Betrachtung von Ulrichs Narrenszenen muss vorausgeschickt werden, dass diese auf die Rückkehrabenteuer als Aussätziger552 und als Knappe folgen.553 Die Ausgangsnotlage zu einer neuerlichen Verkleidungsepisode entsteht so nicht nur aus dem fortgesetzt Dilemmatischen ebenso tabuisierter wie zwanghafter Minne, sondern auch aus der Veranlassung von Zorn und Racheimpuls aus dem vorausgehenden Simulationserfolg und neuerlichem Intrigenscheitern. Da Ulrich die Serie der Verkleidungsabenteuer motivierend miteinander verzahnt554 , sei ein kurzer ‚Rückblick‘ auf den unmittelbar vorausgehenden Handlungsabschnitt geworfen: Tristan war vor der Königin Isolde nach seinem Aussätzigenauftritt als Knappe erschienen555 , und zwar, so will uns die märchenhaft anmutende Fiktionalität Ulrichs glaubhaft machen, zu völliger Unkenntlichkeit verstellt. Man mag ebenso wie im Wunderreh als Briefboten556 auch in jener Wundersalbe, die das Aussehen völlig verändert, eine Strapazierung des Fiktionalitätskontraktes bei Ulrich sehen. Von dieser heißt es, dass durch sie im sin liehte varwe entweich, / er wart vil ungeschaffen (Tr-U 2236f.). Aber diese Salbe vermag noch mehr. Bei der
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lungskausalität im vorausgehenden Abenteuer so begründet, dass sie als affektive Ursächlichkeit die Folgehandlung vorantreibt. Wir werden das bei den Szeneninterpretationen im Einzelnen sehen. Zur Rolle des Aussätzigen als Auftakt einer Serie von Erniedrigungen aus Minneverfallenheit vgl. Meißburger 1954, S. 85–88. Die Kapiteleinteilung bzw. die Überschriftenwahl bei Spiewok/Buschinger ist insofern irritierend, als dass sie den jeweiligen Verkleidungsrat nicht zu dem jeweiligen Rückkehrabenteuer hinzuzählen. Vor dem Hintergrund von von Matts Schema der literarischen Intrige wird Tristans Verkleidungsepisode als falscher Aussätziger inklusive Beratungsszene in den Versen Tr-U 2106–2260 erzählt. Das Abenteuer in der Doppelrolle als Knappen bestehen Tristan und Kurvenal bis zu Tristans Erkanntwerden von Isolde in den Versen Tr-U 2261–2372. „Ulrich hat sein Werk so strukturiert, daß sämtliche Besuche Tristans bei Isolde im Rahmen einer einzigen Fahrt nach Cornwall (mit Zwischenaufenthalt vor der Narrenepisode in Litan) stattfinden“ (Deighton 1997, S. 147). Zur Figurencharakterisierung einer schadenfrohen Isolde durch ihr Verlachen und Bestrafen des erkannten Aussätzigen vgl. Meißburger 1954, S. 87f. In der Erniedrigung zum Aussätzigen und der negativen Charakterzeichnung der Minnedame sieht Meißburger eine Niveauanalogie mit moraldidaktischer Implikation: Ulrich habe zeigen wollen, „wohin eine unreine, sündhaft verworfene Liebesbeziehung einen Menschen führen“ könne, nämlich zur „Erniedrigung des größten und bewundertsten aller Ritter zum stinkenden, von jedermann gemiedenen Aussätzigen“ und einer „in allem vollendeten Dame zu dem in allem häßlichen Weib“ (ebd., S. 88). Das Wundereh, das sonst nicht vorkommt, scheint der „außergwöhnliche[n] Färbung der Phantasie Ulrichs entsprungen“ (Deighton 1997, S. 150) zu sein (vgl. Meißburger 1954, S. 57).
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Knappenverkleidung557 verhilft sie nicht zu Entstellung, sondern zu völliger Verstellung, daz beide, Tristan und Kurvenal, bekande sines liebes niht (Tr-U 2323f.). Es obliegt dann einmal mehr Ulrichs Erzähler selbst, drohende Zweifel an der Plausibilität dadurch auszuräumen, dass er sie selbst thematisiert.558 Während sich die schöne Isolde gerade damit vergnügt, ritteren unde kinden (Tr-U 2332) bei Turnierspielen zuzusehen, stellen sich der Königin zwei fremde Knappen vor.559 Die Desavouierung ihrer Intrigantenrolle(n) durch Isoldes Erkennen ist mit Blick auf das letzte ausstehende Verkleidungsabenteuer von gänzlich anderer Qualität. Nicht Verrat oder Gegenintrige führen zur Aufdeckung der Maskerade, sondern, für den weiteren Spannungsaufbau gravierender, unbeherrschbare Affekte des Intriganten. Tristan kann zwar einen Knappen simulieren, nicht aber das Unbewusste seiner Körpersprache dissimulieren. Wenn Isolde den Fremden auf sein Herkunftsland und auf dessen prominenteste Bewohnerin, die andere Isolde, anspricht, geschieht – für Betrüger höchst misslich – Unkontrollierbares: Tristan sich der vrage erschamet, / er wart beleich unde rot (Tr-U 2354f.). Das bekennende Erröten, das für Tristans dilemmatische Liebe zu den beiden ‚Isolden‘ steht, gibt seine wahre Identität auch da zu erkennen, wo Verkleidungen und Wundersalbe absolutes Inkognito verbürgen.560 Hier fungiert der Verlust von Affektkontrolle als – unmanipulierbares – Wahrheitsindiz, weil sich die Körpersprachlichkeit gegen die Lügnerrolle des Simulanten wendet. Auch bei Eilharts Narren-Tristrant hat die Zeichenhaftigkeit des versehrten
557 Zur Knappenrolle vgl. ebd., S. 95–100. 558 ez waz ein wunderlich geschiht […] (Tr-U 2324). 559 Diesem Knappenauftritt gehen Plan- und Beratungsszene (Tr-U 2263–2326) eines liebestoll kühnen Tristan und eines bänglichen Kurvenal voraus. Gerade war Tristans Auftritt als Aussätziger kläglich gescheitert, wohlgemerkt aber nicht an mangelnder ‚Rollenkompetenz‘, sondern an dem unbeirrbaren Zorn seiner Geliebten. Isolde, der Verleumdung aufsitzend, nicht einmal ihre Ehre habe Tristan vor der Flucht vor einem Zweikampf abhalten können, behandelt den falschen Aussätzigen in ihrem unbändigen Zorn eben so, wie es ‚richtigen‘ Aussätzigen im Mittelalter zukommt unde hiez in balde uz schaben. / si slugen in uf in mit ir staben (Tr-U 2253f.). In dem anschließenden Gespräch sucht Tristan nicht nur die Bedenken seines Begleiters auszuräumen, sondern befiehlt diesem auch die Art der nun zu beschaffenden Verkleidung und bleibt ihm – genauso wenig wie dem Publikum – seine Absichtserklärung schuldig: „[…] ich wil besehen obe helfe daz, / daz si von mir verkere ir haz“ (Tr-U 2289f.). Die Komplizen Tristan und Kurvenal verschaffen sich Knappengewänder (zwene rote rokke unde schaprun; Tr-U 2287). Mit einer wundersamen Salbe gelingt es Tristan, die beiden Intriganten völlig unkenntlich zu machen: Tristan machte sa zehant / an antlitze unde haren, / daz si den vremede waren, / den si doch waren wol bekant […] Tristan nam ein buchse her; / er tet, daz beide […] bekande sines liebes niht: / ez waz ein wunderlich geschiht, / daz er sich den entseite, / die er ze gesinde heite (Tr-U 2316–2326). 560 Für Meißburgers generell moralisierende Deutung zeigt sich zudem Intentionales: „In dem Erröten verbirgt sich wieder die für Ulrich charakteristische Absicht, Tristan und alle seine Handlungen zu werten. Tristan schämt sich vor seiner Geliebten wegen seiner Gattin“ (Meißburger 1954, S. 97).
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Körpers Wahrheitswert, eine Wahrheit allerdings, die auf konventionelle Zuschreibung usueller Marginalisierungspraktiken beruht. Eilharts Körper-Wahrheit bleibt Fremdzuweisung, von außen kommend, die im Perspektivischen solange Gültigkeit behält, solange sie sich mit der simulierten Narrenrolle in Deckung befindet. Ulrich hingegen führt mit der unbeherrschbaren Körpersemiotik seines errötenden Betrügernarrens ebenfalls eine fremdbestimmte Wahrheitsfacette ein, allerdings eine aus dem Inneren des unkontrolliert Affektiven. Und die Wahrheit der Affektwillkür, über die der Narr keine Macht hat, droht diesen zu entlarven. Mit Blick auf die Narrenbildlichkeit schafft Ulrich damit ein seinerseits eigentümliches Paradoxon: Überführt die wahre Natur den Narren seiner bloß angenommen Narrheit, so wird Kontrollverlust, das im moralischen wie vormodern psychischen Sinne genuine Merkmal des Wahns, zum Ausweis dafür, eben kein Narr zu sein. Bei Eilhart von Oberg findet sich der Topos des Minne-Narren, der um seiner Herrin willen zu einem solchen geworden ist, in einer ‚selbsterklärenden‘ Dialogpassage Tristrants, die in aller Hoföffentlichkeit an König Marke gerichtet ist. „ich hab bestavn dorch sie manig arbait und mir ist lieb und laÿd durch sie gar dick geschehen. sol ich dir der warhait jehen? so ward ich durch sie tore. man züht mir min oren: daß lÿd ich durch iren willen […].“ (Tr-E 9033–9040)
Ulrich von Türheim dagegen gestaltet die Episodenübergänge durch kausale Verzahnung der Vorgeschehnisse mit den Folgeereignissen und der Verbindung von Affekt und Intrige. Durch das serielle Erzählen der Verkleidungsabenteuer gewinnt dessen Intrigenästhetik an Komplexität, da die vorausgehende Verkleidungsepisode eine Motivation für das folgende Rückkehrabenteuer darstellt. Zum fortwährenden Intrigenanlass, Isolde nah sein zu wollen, tritt die affektive Gebundenheit des Intriganten an die vorausgehende Intrige. Zur dadurch verschärften Notlage tritt die zunehmende Unfreiheit des Intriganten. Auch Ulrichs Tristan gibt an, durch die Macht seiner Herrin seine Identität verloren zu haben. Signifikanterweise sei es aber nicht die Machtwirkung der Minne, die ihn unkenntlich gemacht habe, sondern Isoldes Affekt des Zorns. Und hierdurch wird abermals relevant, wer zu wem spricht, denn Tristans ‚Knappenseufzer‘ ist ebenso nur wahrheitsgemäß wie Tristrants Narrenbekenntnis auch intrigant ist. Nachdem Ulrichs Königin mit entwaffnender Direktheit dem erkannten Knappen auf den Kopf zugesagt hat, wer er sei und dass sie ihn liebe („[…] du bist geheizen
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Tristan, / min vil herzelieber man.“ Tr-U 2377f.), erwidert ein banger Tristan, wegen ihr sein Selbst verloren und dadurch auch bereits Torheit im Sinne von verlorener Identität angenommen zu haben: „genade, vrouwe, ich heize also. iuwer zorn unde iuwer dro hant gemachet minen sin, daz ich niht weiz, wer ich bin.“ (Tr-U 2379–2382)
Während bei Eilhart scheinbar sinnloses Reden die Simulation des Narren ausmacht, ist es bei Ulrich irre Gewalttätigkeit.561 Im Zwiegespräch sich erkennender Liebender verfliegt deren Zorn angesichts der waghalsigen Minne des anderen. Zudem stellt sich ebenso prompt wieder ein neues gemeinsames Intrigenvorhaben ein. Und hier wartet Ulrich mit einer weiteren Nuance auf: Bei ihm ist es Isolde, die nun, nachdem sie sich durch Tristans Knappenauftritt von dessen Verstellungskunst („[…] wer hat geleret dich den list, / daz tu bist suz enbildet? […]“ Tr-U 2384f.) überzeugen konnte, mit herrscherlicher Souveränität, der nur ein „daz tun ich, vrouwe“ (Tr-U 2420) entsprechen kann, den Intrigenplan zur Narrenepisode vorgibt562 : „[…] vil wol ich dich ergetzen sol, lebestu in ungemache. zeime toren, vriunt, du dic mache unde rich dich, swer dir habe getan.“ (Tr-U 2416–2419)
Die Beratungsszene des Intrigenmodells, in der Folie Tristan d’Oxford noch im Melancholikermonolog ersonnen, ist bei Ulrich die Verstellungsdirektive der Geliebten. Die Anweisung, die den Rat ersetzt, erhält auch ihre eigene Begründung und Motivation: einerseits in Aussicht gestellte sexuelle Genüsse (vil wol ich dich ergetzen sol) – bei Ulrich ist die Minne eben physisch konkret – und andererseits Gelegenheit zur Rache an den Gegenintriganten und Verrätern (rich dich, swer dir habe getan). Damit ist mit Blick auf Ulrichs Intrigenästhetik zweierlei bewirkt: der Kunstgriff beiläufig erscheinender Engführung von Verkleidungsplan und -auftrag aus Initia-
561 Die Narrheitssimulation kennzeichnet auch figurenspezifische Perspektivität: „Erkannten die Hofleute Eilharts Tristans [sic] Torheit noch an seiner scheinbar sinnlosen Rede, so ist der Tristan Ulrichs primär aufgrund seiner Tobsucht als Irrer einzuordnen“ (Matejovski 1996, S. 219). 562 Zum Verkleidungsrat, als Narr wiederzukehren, vgl. Meißburger 1954, S. 99.
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tive der Geliebten. Somit kann für Ulrichs Tristan ebenso wie für Eilharts Tristrant gelten, dass die Minne quasi ‚selbst‘ die Verwandlung in einen Toren erzwungen habe. Was aber bei Eilhart, zumal aus dem Munde eines Narren, in der Mehrdeutigkeit der Äußerung so ward ich durch sie tore (Tr-E 9038) auch allegorisch zu verstehen ist, charakterisiert bei Ulrich ebenfalls die Intrigenästhetik. Zum Narren zu werden ist für Ulrichs Tristan zwar primär eine Motivation auf der Handlungsebene, die im Text – zumindest für ein anspruchsvolleres Publikum – eher ‚unmotiviert‘ aufkommt.563 Werden jedoch die Verkleidungsrollen in ihrer Motivationslogik miteinander verknüpft betrachtet, so kommt über den Wandel vom garzun (Tr-U 2288) zum toren (2479) die Phasierung einer ‚Destruktion des Heros‘ (Müller)564 als fortgesetzte Erniedrigung des Helden in den Blick. Dass die Narrenlarve bei Ulrich auf die Verkleidung des servilen Befehlsempfängers folgt565 , bereitet eben jene Rollenübernahme als Narr im Sinne eines devoten Minne-Sklavens schon vor.566 Vor dem eigentlichen Narrenabenteuer weist Ulrichs minnebewegter Tristan folglich bereits Torheitsfacetten auf: identitätslöschende Selbstenfremdung, völlige Hörigkeit gegenüber seiner Minne-Herrin Isolde und eine ebenfalls töricht anmutende Unbekümmertheit, die selbst einen noch so unkenntlich gemachten Helden verraten muss. Isoldes überwundener Zorn sowie die erneute Aussicht Tristans auf eine Wiederbegegnung hat wiederum unmittelbar affektive Effekte: vor vrouden sprancger einen sprunc (Tr-U 2423), und dies so spektakulär weit, dass dieser sogleich allgemeinen Argwohn über seine Identität weckt.567
563 Zu einer mangelnden Motiviertheit von Handlungen bei Ulrich von Türheim vgl. Deighton 1997, S. 151. 564 Müller 1990. 565 Dass Tristan Isoldes Verkleidungsrat prompt Folge leistet, zeigt für Meißburger bereits die wertende Perspektive Ulrichs: „Tristan aber ist deshalb verworfen, weil er mehr auf die Stimme der Verführerin hörte als auf jene seines Gewissens und daher ohne Bedenken sofort zum Narren wurde“ (Meißburger 1954, S. 104). 566 Vgl. Grubmüller 1985, S. 344. Demgegenüber hat Matejovki den „Topos vom Minnesklaven“ (Matejovski 1996, S. 224) zurückgewiesen: „Es geht nicht mehr darum, zu zeigen, wie sehr sich jemand für eine zu Unrecht geliebte Frau zum Narren machen kann, sondern was geschieht, wenn jemand außerhalb jedes normativen Bezugsrahmens steht und die Grundlagen des höfischen Lebens- und Kulturentwurfs konsequent negiert“ (ebd.). Wir versuchen mit unserer Analyse der Narrenepisode bei Ulrich zu zeigen, wie sich im Narrativen eine Folgewirkung aus tabuisierter Minne entwickelt, die vor keiner Selbsterniedrigung zurückschreckt und dann rollenimmanent wie -konsequent ihren höfischen Kontext angreift. 567 Die Unvergleichlichkeit von Tristans Sprung als Knappe ist so spektakulär, dass die umstehenden Ritter in Erstaunen geraten, sodass dieses Ereignis gleich König Marke vorgetragen wird (vgl. Tr-U 2429–2435). Es sind abermals die beiden Verräterfiguren Antret und Melot die König Marke berichten, dass die beiden so vortrefflichen Knappen – si varnt von Tristande – sicherlich von Tristan geschickt worden seien (vgl. Tr-U 2440–2443; hierzu knapp auch Matejovski 1996, S. 216).
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Die Motivverwandtschaft mit Eilharts Tristrant, der sich im Pilgerhabit durch einen spektakulären Turnierauftritt verrät, ist offensichtlich.568 Auch Tristans Sprung wird dem König hinterbracht, Antret und Melot treten auf den Plan und schon liegt es nahe, die fremden Knappen zumindest für Boten des ehebrecherischen Neffen zu halten. Aber Ulrichs Marke hat ein nuanciert anderes Charakterbild als Eilharts betrogener König. Zumindest von Melot und Antret will sich dieser Marke nicht mehr gegen seiner swester kint (Tristan) und gegen diu reine Ysolt (Tr-U 2455; 2464) ‚betrügerisch‘ vereinnahmen lassen. Mit Markes Figurenrede am Episodenende findet Ulrichs Ästhetik ihrerseits auch zumindest zur Problematisierung von Perspektivität: „[…] ich weiz die warheit sunder wan, daz er ist miner swester kint. velschet in ieman, der ist blint, ez si wip oder man!“ (Tr-U 2454–2457)
Den ehebrecherischen Neffen schließlich dem Schutz Gottes anzuempfehlen, ist weniger fromme Naivität der Marke-Figur als vielmehr nicht mehr steigerungsfähige Drohgebärde. Der Zorn Markes gerät derart ins Maßlose, dass – in Fluchrhetorik – nur noch der Sohn Gottes selbst Tristan schützen könne: „[…] ouwe lieber Tristan, swa du sist, da phlege din der, den Longinus mit dem sper in sine reine siten stach. […].“ (Tr-U 2458–2461)
König Markes ‚Fürbitte‘ ist so paradox wie seine Gefühlswelt, aber in ihrer Drohgebärde scheint der Rachedurst die vorherige Zuneigung zu überwiegen oder vielmehr auch von der einstigen Liebe zum Favoriten dimensioniert zu sein. In dieser Perspektive ist Christus Tristans einzig denkbarer Retter. In Markes Ausruf ist es aber nicht der auferstandene, nicht der Weltenrichter Christus, sondern Jesus auf dem Tiefpunkt seiner göttlichen Sohnschaft als Mensch, dem vor der Erlösung ein so
568 Vgl. Tr-E 7994–8024.
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qualvolles Sterben abverlangt wird, dass auch ihm nicht erspart bleibt, an Gottes Wort zweifeln zu müssen. So bringt Ulrich in nur vier Versen ein Höchstmaß an Verzweiflung und rachedurstigem Zorn unter, indem er einen Figurenfluch formuliert, der im Willen des betrogenen Ehemanns, Onkels und Freundes das Romanende, das Schicksal der Liebenden, vorwegzunehmen scheint: Rettung bleibt in diesem Erdenleben ebenso versagt wie eine himmlisch-mythische Rettung unausweichlich ist. Intrigante Helfershelfer und neuerlicher Verkleidungsauftrag
Ulrich hat in der Verkleidungsepisode ‚Tristan als Narr‘ vor allem die Isolde-Figur zur eigentlichen Intrigantin ausgebaut, denn es ist die Königin, die ersinnt, wie Tristan ein neuerliches Wiedersehen ermöglichen soll. Anstelle einer regelrechten Beratungsszene mit einem Komplizen lässt Ulrich die Königin schlicht Peliot einen Botenauftrag erteilen, wie sich Tristan in einen Toren zu verwandeln habe. In der vorausgehenden indirekten Erzählerwiedergabe dieses Gesprächs werden über eine Motivwiederholung Sinn und Zweck der Maskerade und zudem Tristans zu stimulierende Motivation noch deutlicher als sexuelle Versüßung seines bitteren Daseins (mit minne gelte buzen, / sin surez lebn wol suzen; Tr-U 2477f.) herausgestellt. Damit ist in Ulrichs Eigenheit des Erzählens zweierlei erreicht: zum einen eine weitere Figurencharakterisierung Isoldes, deren Intrigenkompetenz deutlich auch auf sexuelle Erfüllung aus ist und damit zum anderen auch die Grundlegung einer Motivik, die bereits auf Ulrichs Zielpunkt (vermeintlich) didaktischen Erzählens vorausweist: die Konturierung des Minne-Narren in der Stereotyptradition des Minne-Sklaven:569 Nicht auf die Personen also und ihre Individualisierung unter der Macht richtet sich der erzählerische Impetus und auch nicht auf die Psychologie von Verhaltens-Stereotypen in dieser Ausnahmesituation, wie sie bei Eilhart deutlich sichtbar wird […], sondern auf den abstrahierten Wirkungsmechanismus von Minne und auch hier nur auf einen Grundzug: sie macht den Mann zu ihrem Sklaven und so zum Toren.570
Denn Isoldes oktroyierende Initiative571 , die eine Beratungsszene im Intrigenschema ersetzt, impliziert bereits eine neuerliche Narrheitsnuance: „Selbstachtung und eigener Wille sind außer Kraft gesetzt, Vernunft ist nur noch als Instrument zu 569 Vgl. Grubmüller 1985, S. 344; ähnlich bereits Meißburger 1954, S. 104. 570 Grubmüller 1985, S. 344. 571 „Anders als bei Eilhart ist es hier Isolde selbst, die Tristan nicht nur zur Narrenverkleidung, sondern damit verbunden auch zur Rache an den Intriganten rät, die sie an Tristan zeifeln ließ“ (Schausten 1999, S. 242).
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listigen Arrangements gültig, zur Prüfung der Bedingungen des eigenen Handelns ist sie nicht mehr verfügbar.“572 In der direkten (Königinnen-)Rede573 , deren Wiedergabe sich wegen der Vergleichsmöglichkeit mit Eilharts Torenbild lohnt, ist die neue Simulantenrolle Tristans so detailliert entworfen, dass sie deren gesamtes Erscheinungsbild samt statusstereotypen Attributen574 und standesgemäßem Gebaren vorgibt: „heiz in comen in toren wiz, zehanden tragen ein colben ris. er sol habn toren wat, einen rok, der eine kugelen hat, gesnitenz har ob oren. ez zimet wol werden toren horgez antlitze, witer munt, ungevuge habn ze aller stunt. einen kese in daz kabitz legn. er sol mit stozen unde mit slegen sich lazen alunen vaste den heinlichen mit dem gaste.“ (Tr-U 2479–2490)
Auffälligerweise wird das Narrenattribut des Kolbens bereits an zweiter Stelle genannt.575 Ulrichs äußerlich künstlicher Tor führt ein colben ris mit sich.576 „William McDonald“, so Schausten, habe bereits „überzeugend dargelegt, wie sehr Ulrich das
572 Grubmüller 1985, S. 343. 573 Matejovski hat darauf hingewiesen, dass Ulrichs Erzähler nicht erkläre, „warum Isolde Tristan bestimmte Vorbereitungen treffen läßt, noch schenkt er der Frage nach der möglichen Enttarnung des Narren besonderes Interesse“ (Matejovski 1999, S. 218). Wolle man dies, so Matejovski weiter, nicht „als Indizien für die erzählerische Inkompetenz Ulrichs […] werten“, bestehe „die Notwendigkeit, die Logik des Textes zu rekonstruieren“ (ebd.). Dies soll im Folgenden unternommen werden, nicht ohne dabei jedoch zu von Matejovskis Analysen abweichenden Befunden zu kommen. Auf die Motivationsverknappung bei Ulrich von Türheim wurde bereits hingewiesen. Die Initiative seiner Isolde, Tristan die Narrenlarve schlicht zu oktroyieren, fügt sich jedoch schließlich in einen Figurenentwurf, zu dem die Zweiseitigkeit höfischer Vortrefflichkeit ebenso gehört wie Schadenfreude. 574 Zu den Attributen von Ulrichs Narren vgl. Meißburger 1954, S. 105. 575 Für Meißburger zählt der Narrenkolben „[z]u den alten Abzeichen der Narren […], der zur Neckerei und Verteidigung diente“ (Meißburger 1954, S. 105; dort auch der Hinweis auf Nick 1861, S. 65ff.). 576 kolben-rîs bezeichnet im Mittelhochdeutschen einen baumknüttel als narrenkolben (vgl. Lexer 1979, Bd. 1, Sp. 1664).
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Motiv des Stockes in seiner Fassung gegenüber Eilhart noch erweitert“577 habe. „Aus dem Instrument der Einschüchterung der Gegner in der Eilhartschen Version ist in Ulrichs Text eine tatsächliche, eine gefährliche Waffe geworden.“578 Dieses Narrenattribut ist auch bei Ulrich also noch längst nicht zur Marotte kultiviert, sondern vielmehr aus einem Baumknüttel gefertigt, wodurch dieses gängige Attribut, der Natur entstammend und Gewaltbereitschaft symbolisierend,579 weniger der Kunstsphäre des Hofnarren als vielmehr derjenigen simuliert-natürlicher Narrheit zugehört. Wo der Bedeutungsgehalt des Kolbens in der Bandbreite von ‚(Verteidigungs-) Waffe‘ bis ‚Phallussymbol‘ folgerichtig auszumachen ist, kann hier unentschieden bleiben. Denn bei Ulrich von Türheim hat, wie vorausgehend zitiert, der Narrenauftritt die Doppelfunktion der Rache an den Verrätern und des Liebesvollzuges.580 Vereindeutigend hingegen muss erscheinen, dass Isoldes Verkleidungsbefehl zwei weitere körpersemiotische Details von vorausweisender Signifikanz vorsieht: „er sol habn […] gesnitenz har ob oren. ez zimet wol werden toren horgez antlitze, witer munt […].“ (Tr-U 2481–2585)
Was auf den ersten Blick lediglich im Dienst gelingender Torheitssimulation zu stehen scheint, spielt so intendiert wie unversehens, weil zur Narrenstereotypie gehörend, ins Obszöne: die durch Haarschur betonten Narrenohren581 und der breite wie weite Mund des Zanners582 , der sein Maul ebenso apotropäisch wie sexuell stimulierend aufreißt. Im Verkleidungsrat bei Eilhart spielt die anzunehmende Narrenrolle nach Affenart (Tr-E 8917) als Vertierung des Simulanten eher vage in sexuell konnotierte Assoziationsräume. Ulrich dagegen zeichnet die Narrheitsaspekte ‚Gewalt‘ und ‚Sexualität‘ dadurch wesentlich deutlicher, dass er auf den 577 Schausten 1999, S. 242. 578 Ebd., S. 242; McDonald 1988, S. 130. 579 Für McDonald steht der Narrenkolben bei Ulrich für „die Funktion, Markes Hof als einen offen zu attackierenden zu entschleiern“ (Schausten 1999, S. 243, Anm. 163). 580 Vgl. Schausten 1999, S. 242. „Mit Hilfe des Narrenattributes erlaubt Ulrich den Liebenden somit, Rache zu nehmen an einer Gesellschaft, die versucht hatte, diese Liebe zu zerstören“ (ebd.). Die Analyse von Ulrichs Narrenepisode wird auch zeigen, wie machtlos die Hofgesellschaft angesichts der Gewalttätigkeit eines Narren ist, der seinen Gegner blutig schlägt (Antret), Hofgesinde schlägt, einem Zwerg das Auge nimmt und sogar tötet (Pleherîn). 581 „Charakteristisch […] für den Narren war seit je der geschorene Kopf: Narren und Mönche tragen dieselbe Tonsur“ (Meißburger 1954, S. 105). 582 Zum maulaufreißenden Zannen als konventioneller Narrengeste in kunst- und kulturgeschichtlicher Sicht vgl. Kröll 1994.
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Zanner oder Blecker anspielt, der sowohl als sexueller Provokateur als auch als Entblößer auftritt.583 Bei Ulrich ist es zudem eben die Adressatin nicht simulierter Narren-Erotik selbst, die darauf insistiert, dass derartige Narrheitsvortäuschung einen doppelten Effekt erziele: glückende Narrheitsimulation und sexuell erfüllende Liebesdissimulation. Wir halten vorausblickend fest: Die einleitend zitierten Ablehnungen, die Ulrichs Fortsetzung des Tristan-Romans Gottfrieds von Straßburg erfahren hat, sind auch darin begründet, dass Ulrichs Motivik so deutlich ins Derb-Sexuelle spielt. Damit weist Ulrichs Isolde bereits deutliche Züge einer Prinzessin auf, die im schwankhaften Erzählen eines (Pseudo-)Konrads von Würzburg von ihrer eigenen leckerheit betört wird, und dies lange bevor etwa Hermann Botes Ulenspiegel, der vielleicht berühmteste Zanner und Blecker der Literaturgeschichte, sich durch eben solche provokant-pikanten Entblößungsgebärden als boshafter Schalk empfiehlt.584 Was unter konventioneller Torentracht zu verstehen ist, wird mit Blick auf eine glückende Rollensimulation und den weiteren Handlungsverlauf gleich mit vorgegeben: Es bedürfe eines Rockes mit Kapuze und oberhalb der Ohren abgeschnittener Haare. Tracht und Tonsur sollen bei Ulrich als stereotyp stigmatisierende Marginalisierungspraktiken den künstlichen Narren in seiner Konventionalität ‚natürlich‘ erscheinen lassen. Zwar sind diese Ausstattungsmomente als detailrealistische Außenseitergestaltung sowohl bei Eilhart als auch bei Ulrich zu finden. Deren Einfügung in das Handlungs- bzw. Intrigengeschehen macht aber auch im Literarischen deren ästhetische Qualitätsunterschiede sichtbar. Eilhart führt die Haarschur Tristrants als medizinische Folge jener Kopfverletzung seines Helden ein, die dieser sich im Befreiungskampf für die Herrschaft seines Freundes Kehenis zuzieht. Seine Unkenntlichkeit als Tor resultiert aus eben jener verlorenen Körper- und Tugendschönheit, die er bezeichnenderweise durch Unbedachtsamkeit in treu-maßlosem Freundschaftsdienst verliert.585 Semiotisch gewendet geht Ambivalenz bzw. divergente Signifkanz daher mit Tristrants ‚natürlicher‘ Entstellung einher, die – je nach Kenntnisstand der Figur – auch als Ausweis natürlicher Torheit ‚gelesen‘ werden kann. Bei Ulrich wird dieses Detail der Narrenrolle schlicht vom Intrigenplan Isoldes oktroyiert. Hiervon wird, exemplarisch für die Qualität des Rezeptionsvergnügens,
583 Vgl. ebd., S. 239; 256–266. 584 Für Ulenspiegel allein gilt, was Eilharts und Ulrichs falsche Narren jeweils nur getrennt aufweisen: sowohl affenartiges Gebaren ([w]ie ein Aff domlet er sich; Ein kurzweilig Lesen von Dil Ulenspiegel. Nach dem Druck von 1515. Mit 87 Holzschnitten. Hrsg. von Wolfgang Lindow. Stuttgart 1997 [= RUB 1687], S. 12; zitiert mit der Sigl Us) als auch die Gewohnheit, seine Umwelt durch Blecken und Zannen zu verstören, denn er ließ die Lüt je in den Arß sehen und spert das Mul uff und zannet (Us, S. 13). 585 Vgl. Tr-E 8808–8861.
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ein entscheidender Aspekt der fiktiven Welt tangiert: die Plausibilität dessen, was geschieht, wird bei Eilhart motiviert, situativ entwickelt, während sie bei Ulrich lediglich gesetzt wird. Da diese Setzung aber nicht auf den Erzähler, sondern auf die Ehebruchs- und Intrigenkomplizin Isolde zurückgeht, wird durch traditionell Misogynes bereits die semiotische Mutation zum Minne-Toren grundgelegt, der wesengemäß fremdbestimmt und identitätslos seiner Minne-Herrin, mithin Frau Minne selbst, ausgeliefert ist. Vergleichbares gilt auch für den Käse in der Kapuze.586 Während sich zeigen ließ, dass dieser bei Eilhart vom Tauschobjekt (Nahrung gegen Unterhaltsamkeit) zum Dingsymbol (für sexuelle Obsession) wurde, kommt man bei Ulrich doch ins Stutzen, wieso zu Isoldes Verkleidungsplan unbedingt ein Käse in der Rockkapuze gehört, es sei denn, dieser wird wie Keule und betonte Ohren zur Außenseiterstereotypie des Narren im Mittelalter gerechnet.587 Im Gegensatz dazu rekurrieren die Angaben darüber, was zimet wol werden toren (TR-U 2484), bereits sprachlich auf Aspekte der sozialen Realität mittelalterlicher Narren: das verschmutzte Angesicht des Randständigen (horges antlitze)588 und das etwa zum narrentypischen Blecken aufgerissene Maul (witer munt) sind wiederum Details589 , die sich in der Darstellung der Torenstereotypie sowohl der Buchmalerei, des Architekturdekors als auch der darstellenden Kunst vielfach finden.590 Zudem verfestigt sich hier ein symbolisches Motiv, das nicht wie die Zaubersalbe nur für Unkenntlichkeit sorgen soll. Die Dissimulation des Helden durch Verschmutzung tilgt hier zum einen die Identität des Schönlings, assoziiert zum anderen aber auch dessen Narrheit mit Unkultiviertheit, gar zivilisationslos Tierhaftem. In der Logik des Narren als outlaw hat sich dieser Motivkomplex im schwankhaften Erzählen zu Phantasmen sexueller Verfügbarkeit und Lusterfüllung entwickelt. Der partielle ‚Realismus‘ von Ulrichs Narrenstereotypie findet zudem Ergänzungen durch das, was zwar von Isolde nicht expliziert, wohl aber vom Erzähler über die Narrentracht noch ‚nachgeliefert‘ wird: er wart ze eime toren wol bereit: ein grawer rok, der was sin cleit. im was der lip erschullet. (Tr-U 2507–2509)
586 Zum Motivkomplex des Narrenumgangs mit dem Käse vgl. Matejovski 1996, S. 217; 218. Matejovski macht geltend, dass „[d]er scheinbar ungezügelten Aggressivität des scheinbar Wahnsinnigen […] auch sein unbedenliches Zugreifen beim Essen“ entspricht (ebd., S. 218). 587 Ebd., S. 211. 588 Meißburger 1954, S. 105. 589 Zum ‚Maulaufreißen‘ des Narren vgl. ebd., S. 104. 590 Zu außerliterarischen Narrendarstellungen vgl. Kröll 1994; Mezger 1981, S. 15–23 und 45–51.
‚Trivialisierung‘ als Subversion: Der Tristan des Ulrich von Türheim
Das graufarbene Narrengewand591 , auch dies ein realhistorisches Detail, ist überall mit lärmenden Schellen besetzt. Bei den folgenden Textanalysen wird auch auf den Einsatz historisch belegter Stigmatisierungspraktiken noch zurückzukommen sein. Dort, wo Eilhart von Oberg kunstvolle Motive einführt und weiterentwickelt, stellt Ulrich von Türheim diese seinen Figuren schlicht situativ zur Verfügung, bezieht sich dabei jedoch deutlicher auf die außerliterarische Realität von Narren als Eilhart. Ebenfalls ist allen bereits betrachteten und im Folgenden eingehender zu analysierenden Narrendarstellungen gemeinsam, dass die sozialen Umgangspraktiken der Gesellschaft mit dem für sie Anomalen als unmittelbare Ausbrüche von Gewalt geschildert werden. Zudem ist allen bis hierher geschilderten falschen Narren eigen, in der Gemeinsamkeit ihrer stigmatisierend stereotypen Züge wenig davon aufzuweisen, was etwa durch stärker konventionalisierte Narrentracht und -attribute ihre spätmittelalterlichen Nachfahren auszeichnet.592 Triviale Torheit? Minnenarrheit als eigennützige Didaxe Der tore in die stat gie baide dort unde hie, zugen im die lute zu, was welt ir, das der tore tu? er erhub vil maslichen schimph: etslich schimph hete ungelimph, etslich schimph mit vuge was. (Tr-U 2689–2695)
was welt ir, das der tore tu? (Tr-U 2692) Im Performativen von Ulrichs Erzähler scheint die Ästhetik des Anomalen zunächst disponibel. Im Sinne der Minnehandlung müsste diese Frage dahingehend präzisiert werden: Wie kann (Euch) falsche Narrheit überzeugen? Im Folgenden soll dargelegt werden, inwiefern das Erzählen vom Anderen bei Ulrich einerseits in die Intrigenhandlung eingebunden ist, andererseits über diesen narratologischen Zweck hinausgeht und der Minnehandlung eine eigene Deutung verleiht.593 Bei Eilhart scheinen im Motivkomplex ‚Narr, Königin und Käse‘ Essen und Erotik, Narrheit und Liebe in einem gemeinsamen Assoziationsraum auf. Bei Ulrich hingegen wirkt das Paradoxe im Ästhetischen depotenziert: Die Steigerung von 591 Vgl. Meißburger 1954, S. 105. 592 Vgl. Malke 2001, S. 9–18; Matejovski 1996, S. 205; Mezger 1981, S. 24–34; Flögel 1789, S. 51–74. 593 Zur Narrenepisiode bei Ulrich vgl. Meißburger 1954, S. 100–113; Grubmüller 1985, S. 343–348; Matejovski 1996, S. 216–226; Schausten 1999, S. 242; Becker 2009, S. 293.
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Aggressivität und Brutalität führt mitunter zu einer Trivialisierung der Motivik (Käse), so dass eine subversiv erotische Lesart eingeschränkt, wenn nicht verunmöglicht erscheint. Über diese Motivik hinaus soll als weiteres Vergleichsmoment die Wirkung des ‚falschen‘ Narren auf den Markehof betrachtet werden. Dieser Blickpunkt ergibt für Matejovski einen weiteren Vergleichsaspekt, denn „im Gegensatz zu Eilhart, der auf Stabilität des Hofes insistiert und bei aller Tendenz zur Karnevalisierung Tristans Simulation eher als bloßen Kunstgriff präsentiert, löst sich die Wahnsinnsmotivik [bei Ulrich] aus dem ursprünglichen Kontext und lagert sich an einen neuen an.“594 Auch darin ist bei Ulrich von Türheim ein Steigerungsmoment gesehen worden: Tristans Rolle als Wahnsinniger impliziert nicht nur einen partiellen Ordnungsverstoß, vielmehr negiert er deutlicher als Eilharts Held das höfische Regelsystem in toto: Schon äußerlich als Zerrbild höfischen Schönheitsideals ausgelegt, drängt er den Prozeß der Zivilisation partiell zurück, indem er sich Affektdämpfung und Selbstdisziplinierung programmatisch versagt.595
Man würde allerdings der Erzählleistung Ulrichs nicht gerecht, bezöge man nicht auch mit ein, dass er über die Motivik bei Eilhart hinaus weitere Narrheitsmotive einsetzt, nämlich Gattungsparodistisches und Sprachkomisches.596 Und noch ein weiteres Unterscheidungsmoment wird in Ulrichs Narrenepisode greifbar: Werden die dort erzählten Lachanlässe – etwa der Geliebten Isolde – eingehender betrachtet597 , so realisiert sich bei Ulrich das delectare fiktiver utilitas bereits über das, was Werner Röcke mit Blick auf den Schwankroman die „Freude am Bösen“598 genannt hat. Damit zeichnen sich für die Erzählwelt Ulrichs sowohl als Fortsetzer Gottfrieds als auch als Nachfolger Eilharts repräsentative Kennzeichen einer eigenen Ästhetik ab, die den Tristan Gottfrieds mit den Stilmitteln des Schwankromans weiter- und zu Ende erzählt. Vorausgehend konnte nachvollzogen werden, wie Eilhart von Oberg nicht nur die Rückkehrabenteuer als Aussätziger, Pilger, Spielmann und Tor als motivliche und strukturelle Steigerungssequenz gestaltet. Auch die Verkleidungsepisode von Tristrant als Tor erwies sich als eine sich steigernde Serie von Begegnungen mit Figuren des Markehofes. Durch variierende Konstellationen, Wechsel von Öffent594 Matejovski 1996, S. 225. 595 Ebd., S. 223. 596 Auf die Motivgewichtung bei Tristans Narrenauftritt wird im Einzelnen einzugehen sein. Dass Ulrich dessen Aspekte um „groteske Details“ erweitert und die „Rolle des Käses […] nur noch in Abbreviatur“ vorkommt, hat bereits Matejovski betont (vgl. Matejovski 1996, S. 218). 597 Zum Lachen der Frauenfiguren, insbesondere Isoldes, vgl. Meißburger 1954, S. 87f. und 98. 598 Werner Röcke: Die Freude am Bösen. Studien zu einer Poetik des deutschen Schwankromans im Spätmittelalter. München 1987 (= Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 6).
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lichkeit und Heimlichkeit, gewinnt das Intrigengeschehen bei Eilhart auch durch Perspektivität und Ambivalenz an Vielschichtigkeit. Bei Ulrich entstammt die Rollen- und Betrugsidee nicht mehr einem Beratungsgespräch mit einem getreuen Intrigenhelfer, sondern vergleichsweise schlicht der selbstbewussten Intrigenkompetenz einer souveränen Königin, die die Intrige zum Zwecke ihrer Lusterfüllung selbst ersinnt und prompt das Nötige zu deren Umsetzung befiehlt. Als Publikum so an Ulrichs Ästhetik gewöhnt, erfährt dieses auch von der Umsetzung der befohlenen Intrigenplanung. Sein falscher Narr599 zieht einfach los und findet in der Raum- und Ortlosigkeit der fiktiven Welt Ulrichs direkt vor die Königin. Was bei Eilhart dem Spannungsaufbau dient, nämlich die Frage, ob der simulierende Narr in allen Begegnungen unerkannt reüssieren kann, so dass die Dauerbedrohung durch mögliche Entdeckung ein besonderer ästhetischer Reiz des Intrigengeschehens ist, fehlt bei Ulrich völlig. Zwar erfahren wir auch hier, dass dieser Narr durch seine monströs-gefährliche Keule (swanner swancte mit dem slage; Tr-U 2520) und diverse Albernheiten (unvuoc; 2514) ‚überzeugt‘. Intrigenästhetisch betrachtet kann jedoch von einem Spannungseffekt im Sinne von naheliegenden Anagnorisismomenten und deren überraschenden Verschiebungen nicht gesprochen werden. Auch die unterschiedlichen Erzählregister wie dramatische Dialogizität und episches Erzählen werden zwar verwendet, ohne allerdings deren spezifische Möglichkeiten, je unterschiedlich Bedeutsamkeit zu konstituieren, zu nutzen. Motivlich kommt auch bei Ulrich alles vor, was wir von Eilhart kennen: das öffentliche Liebesgeständis des Narren, das Käseverzehren und die Lizenz, als Narr am Hof zu bleiben. Dass Ulrichs Erzählen immerhin dadurch von ganz eigener Komik ist, dass das jeweilige Erzählgut vergleichsweise kontextfrei wie unbegründet geboten wird, lässt sich leicht nachvollziehen. ‚Intrigenplanung‘, Botendienst und Verkleidungsauftritt sind so kurzgeschlossen, dass der falsche Narr, plötzlich vor der Königin stehend, so zu sprechen beginnt: „sit irz, diu kuneginne? mit hercen ich iuh minne. vrouwe, ir dorftes iuch niht schamen. ich were durh iuh in toren namen. iuwer herze daz wol weiz.“ (Tr-U 2523–2527)
599 Trotz des Alters und der Verbreitung der Motivik des verstellten Narren (vgl. Meißburger 1954, S. 100–103) gestalte Ulrich seine Figuren „nach einem ganz anderen Traditionsbereich […] der Bibel“ (ebd., S. 101). Meißburger führt schließlich Narren- und Sündenmotivik zusammen: „Tristan ist ein Ehebrecher und wird deshalb wegen Isolde zum Narren; denn wer mit einem Weibe die Ehe bricht, der ist ein Narr; der bringt sein Leben in das Verderben“ (ebd., S. 101–103; vgl. Sprüche 6,32).
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Damit ist in fünf Verse gefasst, was die Motivik des Künstlich-Anomalen der Narrenepisode im Tristan-Stoff ausmacht. Die Komik dieser verknappten Narrenperformance liegt nun darin, zeitgleich Kontradiktorisches zu behaupten. Nicht zu wissen, mit wem man überhaupt spricht (sit irz […]?) und der Unbekannten dann in aller Öffentlichkeit prompt zu gestehen, eben dieser Fremden mit ganzem Herzen verfallen zu sein (mit hercen ich iuh minne). Man mag hier den Torheitsesprit Eilharts vermissen, aber auf seine Art zum Schmunzeln ist es dann doch, wenn Ulrich seinen Narren – grob paraphrasiert – sagen lässt: „Wer bist du eigentlich? […] Ich liebe dich!“ Dieser Einstieg verschafft dem gesamten Narrenauftritt für die Rezeption sowohl durch die Figuren als auch durch das Publikum ein folgenreiches Vorzeichen. Die Narrheit verharmlost sich selbst. Denn ein Liebhaber der Königin, der diese gar nicht kennt, ist kaum ernst zu nehmen, ein Spaßmacher bestenfalls, dessen Äußerungen Unsinn sind. Und dies auch in dem Sinne, dass hier nicht Unlogisches, sondern vielmehr ein antizipierter Tabubruch, als Narr Geliebter der Königin sein zu wollen, ausgesprochen wird. Das schier Unmögliche wird hier Gegenstand der Situationskomik. Auch bei Ulrich kann einzig ein Narr öffentlich die volle Wahrheit aussprechen, die zugleich eine lebensbedrohliche ist. Auch Ulrichs Narr behauptet zur Königin gewandt: „[…] ich were durh iuh in toren namen. […]“ (Tr-U 2526). Die entsprechende Selbstaussage bei Eilhart eröffnet pikanterweise drei Rezeptionsebenen: die der authentischen Minnehandlung ebenso wie diejenige einer situativ ausgesprochenen Wahrheit und mithin ein allegorisches Interpretationsangebot für die Gesamthandlung. In gewissem Sinne mag dies auch für Ulrichs Tristan gelten, allerdings in einem Aspekt besonders nuanciert: Seine Isolde ist in dem Maße intrigenkompetent, dass sie Tristan die Narrenrolle befohlen hat. Sie agiert quasi als Frau Minne, die den Mann nicht nur betört, sondern auch am Narrenseil führt.600 Auf ähnliche Weise wie närrische Sprechakte fungieren bei Ulrich auch unmotiviert sinnfreie Gewaltakte und ‚zweckfreie’ Handlungen, die weder Grund noch Ziel haben, zur Narrheitssimulation. Ein gutes Beispiel hierfür ist das Sammeln von Steinen auf der Straße, die Tristan in seiner Narrenrolle vor die Königin schleppt.601 Der Handlungschronologie ist hiermit vorgegriffen, denn die so wert- wie nutzlosen Steine werden Isolde erst zum Geschenk gemacht, wenn ein abwesender Gatte die verbotene Liebeserfüllung ermöglicht. Diese sinnlos erscheinende Gabe ist aber nicht effektlos, heißt es doch von dieser Torheitssimulation unmittelbar: daz duhte si [die Königin] gemeliche genuoc (Tr-U 2699). Die künstliche Narrheit
600 Für Grubmüller wird Isolde bei Ulrich „im Gewähren oder Verweigern zur Arrangeurin der Situationen, in denen Tristan sich der Minne auszusetzen hat“ (Grubmüller 1985, S. 344). 601 ander straze er steine laz / unde truc si uber den rugge sin / vur Ysote die kunegin (Tr-U 2696–2698).
‚Trivialisierung‘ als Subversion: Der Tristan des Ulrich von Türheim
bei Ulrich überzeugt andere gerade dadurch, dass scheiternde Affektkonrolle – bei Gewaltregulation wie bei Tisch – oder Aktionen vorgeführt werden, deren Handlungsaufwand keinem -ziel entspricht. Im Folgenden wird auch zu unterscheiden sein, ob etwa die Gewaltausbrüche dieses falschen Narren auf der Figurenebene dadurch töricht erscheinen, dass sie in ‚Wahrheit‘ aus dissimulierter Rachemotivation hervorgehen oder ob es sich hierbei schlicht auch um Motivationsdefizite im ästhetischen Sinne handelt. Für das Steinesammeln von Ulrichs Narren etwa gilt beides, wird hier doch gleichermaßen Komik und Defizienz des Textes fasslich. Diese Episode erscheint sogar in mehrfacher Hinsicht, intrigenästhetisch und narratologisch, defizitär zu sein. Das Sammeln, Schleppen und Verschenken von Steinen an die Königin ist im Sinne simulierten Wahnsinns sinnlos. Die Königin Isolde soll als Intrigenkomplizin ja gar nicht an Tristans Irrsinn glauben, vielmehr hat sie ja diese Verkleidungsrolle selbst erdacht. Sinnlos ist die ‚Geschichte mit den Steinen‘ aber auch noch in anderer Hinsicht: Bei Ulrich ereignet sich dieser schimph des Toren in einer Stadt, wo das Faszinosum des Anomalen stets die Aufmerksamkeit einer Volksmenge erregt. Als Adressatin des närrischen Geschenkes ist die Königin auf der Figurenebene jedoch ohne zuschauende Beobachter. Kein argwöhnischer Gatte, kein potentieller Verräter, keine anonyme Hoföffentlichkeit kann bei dieser Gelegenheit im Illusorischen von der Narrheit des Simulanten bestärkt werden. Das (Lese-)Publikum ist aber doch eingeweiht und hegt folglich keine Illusionen über den Intriganten. Einen Sinn, allerdings einen seinerseits ins Törichte verkehrten, hat diese Narrenaktion einzig im Ästhetischen. Allerdings geht dieser nicht allein wegen des en-passentErzählens leicht unter, sondern vielmehr wegen der in dieser Hinsicht defizitären Erzählkunst Ulrichs. Das folgende Zitat wird zeigen, wie sich Ulrichs Erzähler an hintersinniger Komik versucht, deren Literarizität sich aber kaum für eine Potentialität des Mehrdeutigen eignet: ander straze er steine laz unde truc si uber den rugge sin vur Ysote die kunegin. daz duhte si gemeliche genuoc. in dem herzen si in truc, ouch truc er ze herzen sie. (Tr-U 2696–2701)
Durch Wiederholung truc […] truc […] truc wird hier stilistisch zweierlei enggeführt: das Steinetragen des Narren für die Geliebte und das wechselseitige Tragen des anderen im eigenen Herzen. Beides ist hier von jeweils eigener Sinnfreiheit: die Steine vor die Königin zu schleppen und das Publikum wissen zu lassen, dass das Liebespaar sich liebt. Außerdem stellt sich die Frage, welche Sinnebene oder
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gar Bedeutung beides verbindet, die törichte Handlung, die kaum Potenz zum Allegorischen des Anomalen hat, und die konventionelle Liebesmetaphorik, den anderen im Herzen zu tragen. Angesichts von derart Vagem darf spekuliert werden und gewollte Sinnunterstellung könnte hier insinuierte Sinnlosigkeit der schicksalsschweren und wahnhaften Minne sein. Wie auch bei dem öffentlichen Liebesgeständnis des Narren gegenüber einer angeblichen Fremden beraubt sich ‚Ulrichs‘ unvuoc als bloße Blödelei zumindest jenes Motivationsgrundes, dem bei Eilhart über Mehrdeutigkeit und Hintersinn hinaus weiterführende Handlungsimpulse entstammen. Das betrifft dann nicht nur die Motivation von Ulrichs Figuren, sondern unmittelbar auch die Ästhetik der Intrige. Sein liebesgeständiger Narr vermag Gatteneifersucht kaum so auf sich ziehen, dass die Täuschungshandlung Gefahr liefe, entdeckt zu werden. Von der Theorie der Intrige her betrachtet602 ist Tristans simulierte Narrheit zwar ästhetisch weniger reizvoll, dafür aber effektiver als die Tristrants. Kaum ein ambivalentes Sprechen bürgt die Gefahr der Desavouierung. Ulrichs Narr hat seine Betrügerqualität nicht zuletzt darin, glauben zu machen, ihm fehle das Format zum Intriganten. Vergleichbares gilt auch für das weitere Agieren von Ulrichs Narren. Exemplarisch sei hier die Episode mit dem Käse bei Eilhart und Ulrich verglichen. Während der Käse bei Eilhart subtil vom reinen Fressobjekt ins Symbolisch-Sexuelle oszelliert, kommt dieser bei Ulrich anders zum Einsatz. Kaum hat der falsche Narr seine ersten Äußerungen getan, da folgt in unmittelbarem Anschluss dies: in den kese er vaste beiz: er warf Ysoten einen biz. er sprach: „liebe vrouwe, iz: ez ist gut toren spise.“ (Tr-U 2528–2531)
Dem Narrenkäse ‚fehlt‘ bei Ulrich nicht nur die Herkunft (als Entlohnung für Narrenspäße) wie auch die Betonung des Ekelhaften durch eine Königin, die dessen Verzehr deshalb verweigert, weil er in der Narrenkapuze verstaut gewesen ist, sondern vor allem die symbolische Potenz. Ohne den Eilhart-Vergleich wäre hier kaum an die Motivik parodierter Minnegabe oder gar an ein pervertiertes Liebesmahl zu denken. Ulrichs Intensivierung des Motivs löscht dessen Symbolpotential fast aus. Denn bei ihm wird der Käse zum Wurfgeschoss und hierdurch das Mahl an der königlichen Tafel zum bloßen Gewaltakt. Die Projektionsfläche höfischer Kultiviertheit, das Mahl bei Hofe, wird (bereits) zum Terrain schlechter Sitten. Und der Käse wird zudem lediglich nach der Königin geworfen, ihr aber nicht
602 Vgl. von Matt 2006, S. 118–121.
‚Trivialisierung‘ als Subversion: Der Tristan des Ulrich von Türheim
– wie bei Eilhart – zwangsweise einverleibt. Die Königin zu bewerfen ist weniger obszön als gewalttätig und eröffnet dadurch – mit einem schwach konturierten Eifersuchtsmotiv des Königs603 – eine ganze Folge rüder Gewalthandlungen der Hofgesellschaft. Der König selbst reißt den Narren an den Ohren und befiehlt allen anderen dessen Misshandlung, was aber nicht vereiteln kann, dass der Narr an der Seite der Königin Platz nimmt.604 Diese neuerliche Ungehörigkeit setzt nur dem ersten Anscheine nach einzig die Gewalttätigkeiten fort. Erst muss sich Antret bei dem Versuch, den Narren zu vertreiben, niederschlagen lassen, dann flüchten schließlich der König und die gesamte Hofgesellschaft.605 Es darf nicht vergessen werden, dass Ulrich diesem Rückkehrabenteuer Tristans eine doppelte Funktion zugewiesen hat. Gleichberechtigt neben der Absicht, die Geliebte wiederzusehen, treibt Tristan vor allem die Rache an Antret und Melot an. Der erste geglückte Racheakt, man muss den blutüberströmten Antret forttragen606 , hat so plötzlich im Heimlichen einer entseelten Öffentlichkeit Raum für die Intimität eines ehebrecherischen Liebespaares geschaffen. Durch Ulrichs Komik der Verknappung gewinnt das Erzählen aber derart an Beschleunigung, dass enttäuschte Rezipientenerwartungen immerhin durch groteske Effekte ‚entschädigt‘ werden. Denn was nun folgt, ist weder rührend noch erotisch, sondern selbst für fiktive Vitalsphären schlicht: der tore ezzende saz (Tr-U 2555). Zum Gewaltmotiv der
603 Beim Käseverzehr klagt Ulrichs Narr über sinen kumber (Tr-U 2533), was König Marke auf den Plan ruft. 604 Vgl. Tr-U 2534–2540. Nach Schausten stelle Ulrich „Markes Irritation über das Benehmen des Narren Tristan bei Hofe dar, indem er den König dem Toren die Ohren langziehen läßt“ (Schausten 1999, S. 249). Das Ohrenziehen ist weniger eine individuelle bzw. situative Figurenreaktion als vielmehr Teil konventioneller Marginalisierungspraktiken gegenüber dem Außenseiterstereotyp des Narren, wie die Texte Eilharts, Ulrichs und Heinrichs zeigen (vgl. Tr-E 8972, 9108; Tr-U 2534–2536; Tr-H 5203f.). 605 nu quam der kunec Marke dar / unde begunde den toren / ziehen bi den oren (Tr-U 2534–36). Wenn hier die Handlungslogik bei Ulrich keine Überinterpretation erfährt, dann bleibt das Handeln des Königs Marke bedenklich folgenlos, nimmt der Narr doch im Anschluss an die gegen ihn gerichteten Gewaltmaßnahmen schlicht an der königlichen Tafel Platz, und dies direkt neben der Königin Isolde: der tore mit unwitzen / gie zu Ysoten sitzen (Tr-U 2539f.). Mit den Spielleuten oder Narren an der höfischen Tafel wird auch auf ein kirchliches Verbot angespielt, sich mit Spielleuten gemein zu machen, die als Hofnarren umherzögen einzig „zum Prassen und Schmähen“ (Bumke 1994a, S. 694). Thomas von Chobham verurteilt das gemeinsame Speisen mit sog. scurrae vagi: Tales etiam damnabiles sunt, quia prohibet Apostolus cum talibus cibum sumere. Et dicuntur tales scurre vagi, quia ad nihil aliud utiles sunt nisi ad devorandum et maledicendum (Thomas von Chobham: Summa confessorum. Ed. by F. Broomfield. Louvain/Paris 1968 [= Analecta Mediaevalia Namurcensia 25], S. 612). Zu Thomas von Chobham und der inhomogenen Gruppe der Spielleute vgl. Bumke 1994, S. 694f. 606 Antret quam dar gegan / unde wolte in dan gezogen han. / dem sluger einen slac, / daz er unversunnen lac (Tr-U 2547–2550).
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Narrendarstellung tritt das Klischee des gierigen Fressers, das auch bei Wolframs von Eschenbach Torheitsdarstellung eine wichtige Rolle spielt607 : man gap dem kunege ze ezzene san. der tore saz uber sinen tizch, er nam daz hun, er nam daz fisch. swa erz nemen wolde, dez gunde im wol Isolde. (Tr-U 2584–2588)
Bevor die Erzählpartie der erfüllten Narrenminne bei Ulrich einsetzt, kann nach dem Vorausgehenden konstatiert werden: In seiner Doppelfunktion als heimlicher Liebhaber und Rächer der verräterischen Gegenintriganten hat Ulrichs Narr, so plump er zunächst durch „die Perversion von Vernunft zu List“608 wirken mag, doch auch eine Art von Raffinesse: Er kommt als Intrigant und Rächer auf seine Weise an sein Ziel. 2.2.4 Verzerrung ins Monströse Auch Ulrich arbeitet mit der Ästhetik von Motivwiederholungen, die der Steigerung dienen. Doppelungen und Intensivierungen prägen, insbesondere mit Blick auf die dargestellte Gewaltätigkeit, die Narrheitsrepräsentation. Im Episodenverlauf führt zweierlei zu sich steigernden Gewalteskalationen: erstens die sadistische Gewalttätigkeit des Markehofes, die im Gegenzug die latente Gewaltbereitschaft des Narren motiviert; zweitens die intrigante Verknüpfung von Narrheitssimulation als Dissimulation von Racheabsichten. Aus der Konfrontation dieser beiden Gewaltpotentiale erklärt sich auch, dass die Racheakte des gewalttätigen Narren im Handlungsverlauf dieser Verkleidungsepisode sogar bis ins Sinnfreie gesteigert werden. Damit wird ein doppelter Effekt erzielt: Der Narr erweist sich dort als besonders ‚überzeugend‘, wo seinen Gewaltausbrüchen sowohl der Anlass als auch das Maß fehlt. Überdies rückt die Gewalttätigkeit des Hofes diesen selbst bedrohlich in die Nähe der Narrheit, denn die einmal entfesselte Gewalt bedroht auch die höfische Gesellschaftsordnung. Wie Ulrichs so nuancierte Intrigenästhetik Narrheit und Gewalt motivierend verzahnt, um das Liebespaar letztlich von bedrohlichen Beobachtern und Gegenintriganten zu befreien, wird im Folgenden nachvollzogen. 607 In der Begegnung mit der schutzlosen Herzogin Jeschûte lässt Parzival nur von der irrigen Umsetzung der Minnelehre seiner Mutter ab, weil ihm sein Opfer höfische Speise anzubieten vermag. Parzival verschlingt daraufhin gierig das Offerierte: der knappe klagete’n hunger sân. […] einen guoten kropf er az, / dar nâch er swaere trünke tranc (Pz 131, 22–132, 3). 608 Grubmüller 1985, S. 343.
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Minne-Tor, Rache-Monster und Minne-‚Sänger‘
Bereits bei Tristans erstem Erscheinen vor der Königin ist die mitgeschleppte Keule ein wirkungsvolles Symbol für Gewaltbereitschaft: viel kinde nach dem toren zoch; eteslich kuner man der vloch, als er were gar ein zage, swanner swancte mit dem slage. (Tr-U 2517–2520)
Dass ein monströs bewaffneter Narr der Königin seine Liebe öffentlich kund tut und sie überdies mit einem Käsestück bewirft, führt zwangsläufig zum regelrechten Gewaltausbruch, und zwar auf seiten des Hofes. Es ist der König selbst, der mit seinem Ziehen an den Narrenohren die wechselseitigen Gewalttätigkeiten eröffnet und deren Fortsetzung befiehlt: er hiez in slahen vaste / den vriunt mit dem gaste (Tr-U 2537f.). Da sich der Narr als renitent erweist, versucht Anret diesen von der Seite der Königin zu zerren und büßt sowohl dies als auch den zuvor begangenen Verrat damit, dass man ihn halb tot davontragen muss. Während der gewalttätige Tristan als ebenso geeigneter Narrensimulant wie als heimlicher Rächer reüssiert, wird der erfolglose Antret selbst wie ein Tor traktiert und hete des schimphes genuoc (Tr-U 2562). Die Gewalteskalation erreicht eine neue Stufe, wenn Melot als Nächster gegen Tristan antritt, es ihm dabei aber noch weitaus schlechter als Antret ergeht: da er vur den tore gie, bi einem beine er in vie unde trugez uber den hof hin. (Tr-U 2569–2571)
Die Narrengewalt hat sich gegenüber dem heimtückischen Zwerg derart ins Monströse gesteigert, dass sich nun nicht nur die hierarchische Ordnung, sondern sogar die Geschlechterrollen verkehren. Selbst die simulierte Narrheit wirkt auf diejenigen, die die gesellschaftliche und damit auch die ethische Ordnung dieser fiktiven Welt verkörpern, epidemisch: Ein machtloser König schreit um Hilfe („helfent alle losen in!“ Tr-U 2572) und attestiert diesem Narren nie dagewesene Narrheit: „ingesach nie tore mere / so gar ane sinne! […]“ (2574f.). Der sich in der gewalttätigen Auseinandersetzung mit dem Narren abzeichnende Ordnungsverlust weist bereits auf die Ohnmacht des Hofes im Hinblick auf die Macht der Liebe von Isolde und Tristan hin. „[D]aß die Hofgesellschaft ihre
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Handlungsnormen nicht in die Praxis umsetzen kann, sondern daß sie vielmehr gezwungen ist, die Liebe Tristans zu Isolde ein Stück weit zu akzeptiern“609 , hat Schausten bereits an der Isolde Weißhand-Episode plausibel gemacht. „Die erzählerische Gestaltung der Narrenepisode“, so Schausten weiter, „geht in diesem Punkt sogar noch darüber hinaus. Die Liebenden suchen hier bewußt die Konfrontation mit der Gesellschaft […] und letztlich bleiben sie an diesem Punkt Sieger.“610 Auch hinsichtlich der Perspektivität des Intrigengeschehens führt Ulrich die Narrenpartie zu einer eigenen Pointe: Diese Narrheit scheint ausgerechnet ein ‚Fall‘ für die Gattin eines hilflosen Königs zu sein, die dieser in seiner Verzweiflung kommen lässt, um dem Narrenfuror („[…] ob si in erneren mege.“ Tr-U 2577) Einhalt zu gebieten. Der Narrentumult richtet sich inzwischen völlig wahllos, d. h. im Sinne von Tristans Racheabsicht ziellos, gegen alle, die seine Gewalt erreichen kann: hin ze dem er schulde nie gewan (2580): „Der redende Narr ist zum rasenden Narren geworden […].“611 Die Gewalteskalation ist auf ihrem Höhepunkt angelangt und hat ihren ursprünglichen Grund (Rachemotiv) verloren, richtet sich die tobende Torheit doch nun blindwütend gegen jedermann. Die Verkehrung der Ordnung wird schließlich hierdurch noch komplettiert, dass es – dissimulierender Simulation zufolge – einzig der Königin ‚gelingt‘, die Gewalteskapaden vorläufig zu beenden: der tore liez getwergelin / wol zerbluwen von im gan (Tr-U 2582f.).612 Dass einzig diese Frau den Frieden wieder herzustellen vermag, hat im Rückblick des Erzählten noch eine andere Pointe: Als die Rache Tristans den Zwerg Melot sogar um ein Auge bringt, erweist sich die Gattin des darüber klagenden Königs als sadistische Zeugin von Tristans Brutalität: Ysot daz vil gerne sach (Tr-U 2654). Diese Negativkonnotierung von Ulrichs Isolde fügt sich so in Interpretationsansätze, die diese als personifizierte „Warnung vor der Macht der Minne“613 betrachten und folglich Ulrichs Narrenepisode bereits in die Nähe zu schwankhaftem Märenerzählen rücken.614 Solche Einschätzungen werden zusätzlich bestärkt, wenn mit einbezogen wird, wie sich die Isolde-Figur wandelt bzw. welche beiden kontrastiven Charakterfacetten Ulrich gestaltet: Isolde als weibliches Exemplum „höfischer Vollkommenheit“615 , die in der Szene mit ihrem Geliebten als schänd-
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Schausten 1999, S. 243. Ebd. Matejovski 1996, S. 219. Dass die Racheakte Tristans nur ein vorläufiges Ende haben, zeigt sich, wenn er Melot, vor Isoldes Kemenatentür singend und tobend, ein Auge ausschlägt: er liez im da ze phande / ein ouge er im zu brach (Tr-U 2652f.). 613 Grubmüller 1985, S. 346. 614 Vgl. ebd., S. 347. 615 Matejovski 1996, S. 224.
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lich traktiertem Aussätzigen bereits Ansätze schadenfroher Boshaftigkeit gezeigt hat, gibt nunmehr vollends sadistische Züge zu erkennen.616 Dass ein vermeintliches Idealbild höfischer Gesinnung im Umgang mit einem Narren eine gänzlich andere Charakterseite preisgibt, nimmt bereits eine Ästhetik des Desavouierens vorweg, wie sie im schwankhaften Märe Von dem ritter mit der halben birn ebenso überraschend wie drastisch entfaltet wird. Bevor Ulrich seine Variante einer parodierten Minneutopie – der Liebeserfüllung von Königin und Narr – erzählt, verleiht er der simulierten Torheit durch eine weitere Ausdrucksweise auch intrigenperspektivische Ambivalenz. Der vor Isoldes Kemenatentür übernachtende Narr, der sich durch seine vorherigen Gewalttaten die Handlungsfreiheit verschafft hat, unbehelligt zu bleiben, tet, als toren tunt: er begunde lute singen, sin stimme unsuze clingen. nieman wiste, was er sanc. in unsinne er uf spranc. (Tr-U 2641–2644)
Perspektivisch bedingt wird der ‚Narrengesang‘617 divergent rezipiert: Während er dem Publikum als geräuschhafter Lärm erscheinen muss, schlägt er den königlichen Gatten sogar in die Flucht.618 Abermals wird hier bei Ulrich ein Motiv fasslich,
616 Isolde in diesem Zusammenhang als „sadistische Domina“ (Matejovski 1996, S. 224) zu charakterisieren, verfehlt als Anachronismus nicht bloß den dargestellten Charakterzug einer fiktiven Figur der hochmittelalterlichen Erzählwelt, sondern geht auch in anderer Hinsicht fehl: Isoldes Sadismus ist überhaupt nicht auf sexuelle Praktiken oder Obsessionen bezogen, zumal sie nicht selbst aktiv Leid verursacht, sondern sich über Brutalität – etwa von Tristan gegenüber Antret – freuen kann. Vielmehr ist zu diskutieren, ob sich nicht gerade in diesem Aspekt der Sadismus von Ulrichs Isolde und der Prinzessin in der Halben Birne unterscheiden. Mit Blick auf den Zusammenhang von Ästhetik und Didaxe beider Texte wird hierauf noch zurückzukommen sein. 617 Matejovski sieht im Narrengesang die Komplettierung des „Erscheinungsbild[es] des tobsüchtigen und triebgesteuerten Irren […] durch seinen sinnlosen, unverständlichen Gesang“ (Matejovski 1996, S. 219). Zu Narrengesang bei Ulrich vgl. Meißburger 1954, S. 106. 618 Außer dem Effekt, als Lärm einen Fluchtimpuls auf König Marke auszulösen, erzählt Ulrich jedoch nichts davon, „daß selbst er […] sich der Fazinationskraft des Irren nicht entziehen“ (Matejovski 1996, S. 224) könne. Dementsprechend erscheint irrig, dise toren wise (Tr-U 2633), die als „parodierter Minnesang“ (Matjovski 1996, S. 219) fungiert, ebenso als „realistische Beschreibung des Verhaltens Geistesgestörter“ und zudem als „Sirenengesang und zugleich“ als „Requiem des Hofes“ (ebd, S. 224) aufzufassen. Matejovski schreibt ferner dem rabiaten Narren bei Ulrich „eine untergründige Faszination“ (ebd.) zu, „die in Zustimmung, Aufmerksamkeit oder Assimilation an die Handlungsmuster des Irren“ (ebd., S. 224f.) hervortrete. Zwar suchen wir ebenfalls eine ‚kontaminierende‘ Wirkung der Narrheit nachzuzeichnen, fassen diese aber weniger auf ihren vermeintlichen Charakter als Faszinosum denn als Gewalteffekt auf.
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das Narrheit nicht nur als epidemisch wirkende Verkehrung (höfischer) Ordnung ausstellt, sondern ihr auch die Möglichkeit einräumt, ein durch sie entstehendes Machtvakuum als Voraussetzung einer neuen Liebesepisode auszufüllen.619 Die noch ausstehende Vertreibung von König Marke erreicht der Narr bemerkenswerterweise durch eine subtilere Form der Gewalt, deren Wirkung, Marke zu einer regelrechten Flucht zu bewegen, ebenfalls charakteristisch ist. Tristans Narrengesang hat schließlich den Effekt, ihm als Nebenbuhler das Feld frei zu machen, weil der in dieser Hinsicht feinsinnige Gatte unmusikalischen Minnesang nicht zu ertragen vermag. Somit ist König Marke auch bei Ulrich ‚Ästhet‘ und in gewisser Weise auch ‚Moralist‘. Marke meidet den ästhetisch beleidigenden ‚Minnesang‘ des Narren, als beherzigte er die verdammende Warnung von Thomas von Chobham (gest. 1233) vor musizierenden und singenden Spielleuten und Hofnarren: Est etiam tertium genus histrionum qui habent instrumenta musica ad delectandum homines, sed talium duo sunt genera. Quidam enim frequentant publicas potationes et lascivas congregationes ut cantent ibi lascivas cantilenas, ut moveant homines ad lasciviam, et tales sunt damnabiles sicut et alii.620
Hier konvergieren die Perspektivität von Intrige und Minne. Anders als der königliche Gatte goutiert die liebende Königin dise toren wise (Tr-U 2633) angeblich als nie vortrefflicher vernommenen Minnesang, der eine ‚Belohnung‘ des Sängers vonnöten mache. Motivlich ist hiermit die Entschädigung Tristans für seine letzte Selbsterniedrigung vorweggenommen, und jene senede clage, die nun als kakophonische Narrenweise ertönt, kann von der Minneherrin Isolde mit minne gelte
619 Zwar hält auch Matejovski Markes dreimalige Flucht vor dem falschen Narren für eine „kaum kaschierte Form der temporären Abdankung“ (Matejovski 1996, S. 220), dass mit dieser jedoch ein „Machtvakuum“ (ebd.) einhergehe, bestreitet Matejovski aber deswegen, weil sich „die Macht […] nicht mehr in Markes Händen befand. In Allianz mit Isolde hatte sich seit dem ersten Auftreten des Narren am Hof eine terroristische Usurpation der Macht vollzogen, ohne daß irgendjemand diesem Prozeß Einhalt geboten hätte. Tristan installiert für eine kurze Frist eine verkehrte Welt, indem er die Besitz- und Gewaltverhältnisse umbesetzt. Der König räumt dem Wahnsinnigen das Feld und überläßt Hof und Frau dem Zugriff des Eindringlings“ (ebd., S. 220). Abermals (vgl. Ulrichs Isolde als „sadistische Domina“, ebd., S. 224) verfehlen anachronistische Vergleiche den Handlungskern. Der Unterschied zwischen ‚Terrorismus‘ und ‚Minnewahn‘ liegt doch schlicht darin: Terrorismus kennzeichnet ideologische Intentionalität und Handlungsfinalität, wohingegen Tristan als Minnenarr, zwar in einem vergröbernden umgangssprachlichen Sinne ‚terrorisieren‘ mag, damit aber eben nicht auf die Macht aus ist. Er hat nicht im Sinn, das System zu zerstören, um Macht zu übernehmen oder Besitzverhältnisse umzukehren, sondern legt es darauf an, eben durch (simulierte) Irrationalität als reiner Gewalt der höfisch tabuisierten Liebe einen Raum zu verschaffen. 620 Thomas von Chobham 1968, S. 292.
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buzen (Tr-U 2476f.). Das scheinbar sinnfreie Narrenlärmen erzielt schließlich zweierlei: den lärmempfindlichen König zu vertreiben und dadurch mit der Geliebten sprechen zu können. Narrenminne und Minneapotheose
Gänzlich ohne jeden Intrigenaufwand lässt Ulrich seinen König Marke plötzlich dez morgens (Tr-U 2656) zur Jagd621 , einer vierzehntägigen zumal, aufbrechen. Einfacher kann sich die Gelegenheit zum Liebesglück kaum einstellen, wenn dessen Hindernis einzig in – für Ulrich wie für Tristan – prioritärer Rachehandlung liegt.622 So auffällig aufwandslos die sexuelle Seligkeit des Paares in die Handlung eingefügt erscheint, so aufwändig ist diese im Stilistischen. Zunächst stimuliert ein epischer Erzähler die Publikumsimagination durch anspielungsreiche Vagheitssuperlative: ez enwart nie toren schoner lebn / von keinem wibe me gegebn (Tr-U 2663f.). Hier gewinnt die Torheit jene pikante Doppeldeutigkeit, sich sowohl auf die Simulantenrolle Tristans als auch auf dessen Minnewahn beziehen zu können. Der Grund für derartige Euphorie ist abermals anspielungsreiche Verkehrung, ist doch diese Minneerzählung ebenso ‚unliterarisch‘ (minnesanguntypisch) wie lebensweltlich ausgeschlossen: ein Lieben ohne Abschied, ein biwesen niht ein scheiden (Tr-U 2666). Daraufhin weist das Erzählen einen plötzlichen Registerwechsel auf. Das unvermittelt Performative ist geradezu lyrisch an das Publikum gerichtet. Ähnlich gebaute Interjektionen – a! minneclichiu minne (Tr-U 2671); minne, nu hilf (2675); minne, nu hilf (2681); minne, dez twinget (2687) – geben dem Erzählerpassus sogar eine quasi strophische Struktur, wodurch die Tristanminne als Narrenminne dann doch noch zum ‚Minnesang‘ findet, um sexuelle Ekstase auszudrücken. Hiermit hat sich Ulrich eines gängigen Pardoxons bedient, die Sprachlosigkeit der Liebeserfüllung als höchste sprachliche Geformheit zu präsentieren. Paradox und zudem wahnhaft kann auch das Verhältnis von Form und Gehalt genannt werden, ist doch den drei ‚Strophen‘ – ein Vierzeiler wird gefolgt von zwei Sechszeilern – lediglich 621 Im Jagdausritt sieht Matejovski bereits eine „kaum kaschierte Form der temporären Abdankung“ (Ders. 1996, S. 220) Markes. 622 Dementsprechend ist auch eine Gesamtcharakterisierung der Marke-Figur ausgefallen: „Marke ist ein gutmütiger, aber kraftloser, alter Herr, der sich alles gefallen läßt und sich höchstens lächerlich macht, setzt er sich einmal ernsthaft zur Wehr, der sich im Zweikampf mit einem waffenlosen Narren durch Flucht rettet und wenigstens sein armseliges, von Menschen, Schicksal und Gott betrogenes Leben rettet: Marke also ist schon nur ein Spielball irgend welcher Kräfte, gegen die er nicht aufkommt, weil er sie nicht erkennt“ (Meißburger 1954, S. 108). Es lohnt sich nicht, dieses Charakterbild im einzelnen zu revidieren, wichtiger erscheint aber, dass Ulrich auch an Marke vorführt, dass fiktive Figuren wie reale Menschen ihr Leben nicht selbst in der Hand haben, weil es eben im Wesentlichen von überlegenen Mächten bestimmt ist.
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höchst Redundantes, also Liebesaffines, zu entnehmen, das sich semantisch auf die Wehrlosigkeit Isoldes und Tristans angesichts einer allegorischen Übermacht reduziert.623 Dieser Minnepreis enthält zudem seine eigene Minneklage, denn die Vereinigungswonnen (ir beider herze ist ein ja; Tr-U 2677), die hier geschildert werden, sind metaphorisch Diebesgut (du machetest si ze diebn; 2684), moralisch ein Tabu. Der Modus des Sprechens ist hier der des flehenden Bittstellers, wodurch die Textpassage zum profan-blasphemischen Stoßgebet (minne, nu hilf […] minne nu hilf ; 2675; 2681) eines empathischen Erzählers wird, der mit seinen fremdbestimmten Figuren leidet. Die Intention dieses stilistischen Aufwandes ist durch Wiederholungen nur ‚schlecht‘ hinter Preis und Klage kaschiert, denn die Allegorisierung – a! minneclichiu minne (2671) – schafft dem Erzähler ein Gegenüber, das zur Verantwortung gezogen werden kann. Am Ende ist es nicht ein Zaubertrank, kein magisches Motiv, sondern die Minne selbst, die an allem Schuld hat, an Ehebruch und Verrat, sexueller Tollheit und Verblendung.624 Die Analyse von Ulrichs gewaltaffiner Narrheitsdarstellung im Kontext des Intrigengeschehens, seine Verbindung von Narrheitssimulation und Liebes- sowie Rachedissimulation, wirft schließlich die Frage nach einer Gesamtdeutung dieser ‚Fortsetzung‘ des Gottfried’schen Tristan auf. Dienen hier Intrigenästhetik und schwankhafte Motivik letztlich einer abschreckenden Liebesdarstellung, der eine Negativdidaxe entspräche? Im Folgenden werden hierzu Forschungsmeinungen dargelegt, deren Argumente schließlich neuerlich mit der Schlusspartie von Ulrichs Tristan konfrontiert werden. Hierbei wird sich zeigen, dass die Schlusspartie in Ansätzen selbst intrigant ist: Die Simulation eines ebenso überlieferungs- wie gönnertreuen Erzählers dissimuliert, mehr oder minder geschickt, mit der Bitte um Erbarmen für Tristan und Isolde die Selbstempfehlung gegenüber Gönner und Publikum. Nach Buschinger verkehrt Ulrich den Sinn der Tristan-Romane Eilharts von Oberg und Gottfrieds von Straßburg völlig […] Die Liebe zwischen Tristan und Isolde ist für Ulrich ehrenrührig, ja gottlos. […] Nach Ulrichs Auffassung führt diese gegen die menschliche Moral-Ordnung und gegen das Gebot Gottes gerichtete Liebe die beiden Liebenden in die Klauen des Teufels.625
623 wie du ir beider sinne / uf di minne twingest (Tr-U 2672f.). in dime gebot si ligent da […] (2678). minne, dez twinget si din craft (2687). 624 Zum Minnetrank bei Ulrich von Türheim vgl. Meißburger 1954, S. 90. 625 Danielle Buschinger: Die Marke-Figur in den Tristan-Fortsetzungen Ulrichs von Türheim und Heinrichs von Freiberg. In: Literarische Leben. Rollenentwürfe in der Literatur des Hoch- und Spätmittelalters. FS für Volker Mertens zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Matthias Meyer und HansJochen Schiewer. Tübingen 2002, S. 67–77, hier S. 68.
‚Trivialisierung‘ als Subversion: Der Tristan des Ulrich von Türheim
Weitere Ansätze zu einer, zudem misogynen, negativen didaktischen Deutung hat Grubmüller auch darin gesehen, dass Isolde als ‚Minne-Herrin‘ den Mann zum ‚Minnesklaven‘ mache.626 In ähnlicher Richtung argumentiert Strohschneider, wenn er die ehebrecherische Kaedinhandlung didaktisch auf das Gesamte von Ulrichs Erzählung bezieht: So gesehen ist die Kaedinerzählung nicht nur einfach ein Kommentar zum Tristanroman, sondern zugleich eine definitive Rezeptionsanweisung. Indem sie die letalen Folgen eines an dem Ehebrecher orientierten imitatorischen Verhaltens vorführt, setzt sie die Warnung vor einer identifikatorischen Rezeption der Tristangeschichte episch um und holt sie in diese selbst herein.627
Hierin sei, so Strohschneider, jene moraldidaktische Widerspiegelung zu sehen, die sinnfällig mache, dass „die ehebrecherische Liebe […] in den Tod von der Hand des die gebrochene Ordnung repräsentierenden Betrogenen“628 führe. Für Strohschneider hat Ulrich „gleichsam an der Logik der Tristanhandlung vorbei und abseits der Kommentare Gotfrits eine eigenständige Deutung des Erzählten“629 vorgelegt. Dass Ulrichs sogenannte Fortsetzung nicht nur eine eigene Ästhetik entfaltet, scheint unstrittig zu sein. Dass seine Erzählfassung dabei jedoch kaum einem vereindeutigendem „Kompromiß zwischen Liebe und Gesellschaft“630 gleichkomme, hat Schausten bereits dargelegt. Zudem relativiert sie auch die Auffassung, „die literarische Konstruktion der Erzählerrolle […] zeige eine klare Tendenz zur Glättung der Ambivalenzen, die die Tristangeschichte berge.“631 Denn schlussendlich wird die Spannung zwischen der Erniedrigung Tristans zum ‚Minne-Sklaven‘ und dem Tristan-Preis des Erzählers am Ende von Ulrichs Erzählung nicht aufgelöst. Bereits Tristans Ende führt vergleichbare Widersprüche vor bzw. zeigt abermals die Folgen der Verknüpfungen von Minne und Heroik. Zwar entstammt seine tödliche Wunde einer Ehebruchsepisode632 , er stirbt allerdings aufgrund der Lüge der anderen Isolde über das angeblich schwarze Segel des nahenden Schiffes.633
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Vgl. Grubmüller 1985, S. 344. Strohschneider 1991, S. 83. Ebd., S. 82. Ebd., S. 81f. Schausten 1999, S. 243. Ebd. „Mit dem Tod des Ehebrechers von der Hand des Betrogenen rächt sich die Gesellschaft an dem, der ihre verbindliche Ordnung ignoriet hatte. Dies scheint in Ulrichs Roman als der gültige Regelfall“ (Strohschneider 1991, S. 82f.). 633 Vgl. Schausten 1999, S. 247.
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In Ulrichs Rückkehrabenteuern sieht Grubmüller lediglich eine „Exempelreihe für die verderblichen Wirkungen der Minne“634 . Hieraus zieht Grubmüller die ästhetische Konsequenz, dass Ulrichs Tristan gattungstypologisch „zum exemplarischen Maere“635 geworden sei. Für Spiewok ist Ulrich sogar das Beispiel eines kontraproduktiven Fortsetzers (im Sinne Gottfrieds), der weniger vorgabenorientiert vollende, als sich vielmehr inhaltlich wie ästhetisch als moraldidaktischer ‚Revisor‘ der Erzählwelt Gottfrieds zu erweisen.636 Ulrichs gesamte Schlusspartie (3496–3730) erscheint zunächst widersprüchlich. Markes verzweifelte Fürbitte an Gott bringt vor allem abermals das Liebenswürdige der Verstorbenen in Erinnerung. Der Tristanpreis des Erzählers hebt zudem die ritterlich-heroische Exklusivität des Protagonisten – schone, edele zuht, ganze tugent, triuwe, milte – stereotyp unüberbietbar hervor: ine gehorte nie bi minen tagen, weder gelesen noch gesagen von so wolgelobetem man, als was der werde Tristan. (Tr-U 3577–3580)
Nicht einmal fiktiver Ruhm vermag Tristans Fama vortrefflicher Tugendhaftigkeit zu überbieten. Ulrich wartet hier neuerlich mit Unüberbietbarkeitstopik auf, einerseits, um die Tragik des Verlusts auszustellen und andererseits, um die Wirkungsmacht des Minnetrankes zu betonen. Denn heite in das tranc der minne / niht braht uf unsinne! (Tr-U 3581f.)637 Der magische Minnetrank, unabweisliches Verhängnis und Schicksal, ist der Grund aller Verirrung, die hier bezeichnender-
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Grubmüller 1985, S. 344. Ebd., S. 348. Vgl. Spiewok 1992, S. 12. Dass dies von Meißburger, der Tristans Verkleidungsabenteuer als eine Serie von moralisch bedingten Erniedrigungen liest, diametral anders gesehen wird, ist evident. Weniger schlüssig ist hingegen, wie er mit Ulrichs Schluss verfährt. Zwar konstatiert auch Meißburger, Ulrich habe seine Protagonisten mit der Minnetrankmotivik ‚entschuldigt‘. Im Unterschied zu Gottfried sei damit aber „die Schuldlosigkeit der Liebenden“ mit Magie „und nicht, wie [bei] Gottfried, mit dem Wesen ihrer Liebe“ (Meißburger 1954, S. 143) begründet. So sei es schlussendlich „Verständnislosigkeit […], wenn Ulrich es schließlich doch für nötig hält, Gott zu bitten, er möge sich der Liebenden erbarmen, sie aus der Hölle befreien und sie in sein Reich aufzunehmen“ (ebd., S. 143). Und noch pointierter, ein Pauluswort paraphrasierend: „Auch wenn Ulrich zum Schlusse noch mit Engelzungen redet, bleibt er eben doch nur ein tönend Erz oder eine klingende Schelle, weil ihm für seinen Stoff das Wichtigste, die Liebe, fehlt“ (ebd., S. 144).
‚Trivialisierung‘ als Subversion: Der Tristan des Ulrich von Türheim
weise als Torheit oder Wahnsinn638 deklariert wird, denn Minne macht Ritter zu Toren.639 Markes Fürbitte findet in der Erzählerrede nun als abermalige Steigerung ihre motivliche Wiederholung. Nachdem der trauernde Marke die Toten Gottes Gnade und dem Schutz des Heiligen Michael für ein ewiges Leben empfohlen hat, versteigt sich der Erzähler zu Zweifeln an der Sinnhaftigkeit der göttlichen Weltordnung. Bei den folgenden letzten sieben expliziten Nennungen der minne640 tritt diese immer, ins Zweideutige spielend, ohne Hinweis auf das Übernatürliche sowohl ihres Ursprungs als auch ihrer Wirkmacht auf. In dieser Variante, und folglich vom Publikum sowohl auf nichtfiktive als auch auf natürlich-menschliche Liebe beziehbar, gewinnen Ulrichs finale Minneverse einen anderen Sentenzcharakter, als sie im Epischen, aber auch im Minnesang, vor allem jedoch auch bei Gottfried haben: die minne kan wol leren / vroude unde herzenot (Tr-U 3584f.).641 Ulrich zeigt nicht die gesellschaftsbedrohende Trankwirkung. Wie Schausten betont, wird „am Schluß der Dichtung umgekehrt darauf aufmerksam gemacht, wie verheerend sich das Verhalten von Mitgliedern der Gesellschaft auf die Liebe Tristans zu Isolde auswirken kann.“642 Alle Tugend, alle Ritterlichkeit und Bildung selbst eines Tristan, vermag gegen die ebenso verhängte wie ehrabträgliche Minne nichts auszurichten. Was folgt aber daraus für Gesamtinterpretationsansätze und die etwaige Didaxe, wenn das literarische Motiv, vom Magischen getrennt, für die Liebe selbst steht?643 Die genuin mittelalterliche Frage nach dem Nutzen von fiktiver Literatur wird am Beispiel Ulrichs abermals heikel. Wenn nicht erst magische Wunderkraft, sondern ganz natürliches Verlangen jeden gleich chancenlos der Ratio ebenso wie der Moralität
638 unsinne weist Lexer aus als torheit, verrücktheit, wahnsinn oder besessenheit aus; vgl. Lexer 1979, Bd. 2, Sp. 1937. Zur Erzählerhaltung gegenüber dem Minnetrankmotiv vgl. Ludwig Wolff: Die mythologischen Motive in der Liebesdarstellung des höfischen Romans. In: ZfdA Jg. 84 (1952/53), S. 47–70, hier S. 56; Kerth 1981, S. 79; Jan-Dirk Müller: Tristans Rückkehr. Zu den Fortsetzern Gottfrieds von Straßburg. In: Festschrift Walter Haug und Burghart Wachinger. Hrsg. von Johannes Janota. Tübingen 1992, Bd. 2, S. 529–548, hier S. 535; Schausten 1999, S. 243f. 639 Vgl. Spiewok 1992, S. 12. 640 Vgl. Tr-U 3584, 3609, 3628, 3629, 3631 und 3633. 641 Auf den Herzensantagonimus macht Gottfried bereits in seinem Prolog auch durch stilistischen Aufwand aufmerksam: ir süeze sûr, ir liebez leit, / ir herzeliep, ir senede nôt, / ir liebez leben, ir leiden tôt, / ir lieben tôt, ir leidez leben (Tr-G 60–63). 642 Schausten 1999, S. 246. 643 Schausten zufolge zeigen „die Gestaltung von Erzählerrolle und Schluß […] die Erzählstrategie im Text, die virtuelle Sprengkraft der Tristangeschichte zumindest nicht einseitig dadurch zu entschärfen, die Liebenden vom Boden einer gesellschaftlichen Ordnung aus zu verurteilen“ (ebd., S. 245).
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berauben kann, wenn in dieser Psychomachievariante von ‚(ritterliches) Ethos vs. (natürliche) Minne‘ nichts Irdisch-Geistiges eine Siegesaussicht haben kann, wie soll dann das Erzählen davon anderen didaktischen Nutzen haben, als auf Demut zu verweisen, nur bitten zu können, dass einem selbst ein vergleichbares Minneschicksal erspart bleibt? Zur Entlastung seiner Protagonisten wartet Ulrichs Erzähler mit einer weiteren Motivvariation auf: wolte got, solte er noch lebn, dem man so hohes lop muz gebn. ich bin dem tode gar gehas. war umbe tut unser herre daz, daz er die vromen hin nimet unde in der bosen niht gezimet? (Tr-U 3591–3596)
Bei Ulrich werden aus den unglücklich Liebenden die glücklos Frommen. Aufgrund des folglich schuldlosen Ehrverlustes und des dadurch moralisch unbegründeten Todes des Tugendhelden wendet sich der Erzähler schließlich sogar gegen Gott. So betrachtet, lässt sich der Schluss von Ulrichs Tristan-Fortsetzung kaum mehr als apodiktische Verurteilung und die Minne-Handlung folglich auch nicht ausschließlich im Licht einer strikten Negativdidaxe lesen.644 Im Gegensatz hierzu steht die Auffassung Spiewoks, derzufolge Ulrich „die Liebe zu Gott hoch über die irdische Liebe stelle[…]“645 . Damit sei Ulrich kaum mehr nur Fortsetzer, sondern moraldidaktischer Revisor der Gottfried‘schen Textanlage.646 Dass aber Narrheit im Moralischen nicht gleichbedeutend mit Torheit im Ästhetischen sein muss, zeigt uns später dieselbe Erzählinstanz. Der theodizeehaften Anmaßung nicht genug, verbindet Ulrich seine Autornennung mit einem utopischen Gegenprogramm, das in seinem ‚unrealistischen‘ Charakter einzig ein abermaliges Wertungsangebot des Tristan-Stoffes abgeben kann: zware, daz ist wunderlich! ich, von Tureheim Uolrich liese tusent bose sterben, e einen vrumen verderben! (Tr-U 3597–3600)
644 Zum Erzählungsende bei Ulrich vgl. Rüther 2018, S. 207–220. 645 Spiewok 1992, S. 12. 646 Die entsprechende Passage Spiewoks wurde am Eingang des Ulrich-Kapitels bereits zitiert (vgl. ebd.).
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Schließlich bietet uns Ulrichs Erzähler als Deutungsangebot der gesamten Handlung eine neuerliche Sentenz: diu minne erzeigete an disn zwein, / daz zwei gelieben sint in ein (Tr-U 3633f.). Und diese Einheit der Liebenden, von ihnen selbst so ersehnt wie begehrt, von der höfischen Gesellschaft dagegen systemevident verachtet, verfolgt und sanktioniert, triumphiert – und dies närrisch-hybriderweise – über menschliches Urteil wie scheinbar auch über göttlichen Einfluss: Durch Isoldes Treuetod sind die beiden Liebenden, so will es auch Ulrichs poetische Gerechtigkeit, nicht nur im Allegorischen von Reb- und Weinstock, sondern auch in der Realität des paradiesischen Jenseits so innig wie auf ewig vereinigt.647 Und ‚schlecht‘ kaschiertes Eigenlob648 , bei dem der Quellenpreis der Buchwahrheit unversehens auf das eigene Erzählen abstrahlt, schlägt dann auch ein impilizit adressiertes Elitepublikum, angelehnt an die Rezeptionsfalle der edelen herzen bei Gottfried von Straßburg, in seinen Bann, wodurch sich auch unglaubwürdiges Erzählgut eben in der stofflichen wie ästhetischen Wertschätzung des einzig geeigneten Publikums (rehte minnere, Tr-U 3629) seinerseits bewahrheitet.649 Und schließlich, eingeleitet durch die vom Erzähler selbst gestellte, vermeintlich rhetorische Frage nach der Faktizität ewiger Vereinigung wahrhaft Liebender (sint si? Tr-U 3635), antwortet ein hintersinnig subversiver Erzähler: ja, ez ist min wan (Tr-U 3635).650 Ulrichs Erzähler setzt seine poetische Gerechtigkeit gegen die Ungerechtigkeit des Allmächtigen. Und damit es nicht bei der Ohnmacht des Erzählens bleibt, werden die Sphären des Fiktiven und des Faktischen, des Gelesenen und des Geglaubten subtil verschränkt, um, alle Moraldidaktik aushöhlend, einem strafenden Gott als verzeihender Erzähler schließlich doch noch Erbarmen abzuringen: wo wart ie triuwe also groz? aller triuwen uber genoz was der werde Tristan. des sol man in geniesen lan, ob er noch ist zehelle,
647 Gleich zweimal, sich motivlich wie auch in narrativer Intensität steigernd, wird in Ulrichs Schlusspartie von den wundersamen Liebesumschlingungen der Rebe und des Weinstockes sowohl als Bild als auch als Symptom für das Fortbestehen der Liebe erzählt (vgl. Tr-U 3608–3613, 3696–3703). 648 Grammatisch ist zwar die rhetorische Frage wa wart ie grozer minnen craft, / danne an ir geselleschaft? (Tr-U 3631f.) auf diu aventure (3625) bzw. diz buch (3628) als Quellenberufungen zurückzubeziehen. Jedoch kann dieser Qualitätsausweis, der im Folgenden von dem selbst gestalteten Stoff bestätigt wird, eben auch auf die eigene Erzählkunst bezogen verstanden werden. 649 diz buch daz ist der minnen zil: / rehte minnere / die minnen diz mere (Tr-U 3628–3630). 650 Das stm. wân steht im Mhd. für „ungewisse, nicht völlig begründete ansicht od. meinung, das blosse vermuten, glauben, erwarten, hoffen, überh. gedanken, absicht“ (vgl. Lexer 1979, Bd. 3, Sp. 668).
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daz in got dannan zelle unde in neme insin riche – dez wunschent vlizecliche – […]. (Tr-U 3705–3712)
Das Publikum ist nun aufgefordert, bei Gott durch seine Fürbitte die Rettung von Ulrichs fiktivem Tristan zu erwirken. Ist eine so der Publikumsverantwortung wie der religiösen Praxis anvertraute Figur im Erzählersinne noch geeignet, einzig warnendes Negativexemplum zu sein? Ulrichs Erzähler gleicht seinem intriganten, auch als Narr auftretenden Protagonisten in diesem Punkt: Seine (Un-)Wahrheit ist nicht gelogen. Sie ist vielmehr Literatur, für die Autor und Erzähler, als Weitererzählender im Sinne vorgenommener Fortsetzungsarbeit, die bekanntlich auf so ‚profunden‘ Quellen fußt, nur bedingt Verantwortung übernehmen können: diz buch daz ist der minnen zil: rehte minnere die minnen diz mere. (Tr-U 3628–3630)
Soll man diese Verse, adressiert an rehte minnere, für eine explizite ‚Revision‘ des Gottfried‘schen Diktums der edele senedaere / der minnet senediu maere (Tr-G 121f.) halten? Und dem literarischen Vorbild ähnlich, hält auch Ulrich sein Werk für nicht weniger als einzigartig: wa wart ie grozer minnen craft, / danne an ir geselleschaft? (Tr-U 3631f.). Denn auch der Fortsetzungsvers, mit seinem Verweis sowohl auf wahnhafte Fixierung als auch auf ewige Vereinigung, lässt die schuldigen Liebenden in ihrer Ambivalenz über schlichte Tugend-Lohn- und Sünde-StrafeLogik triumphieren: […] daz zwei gelieben sint in ein (Tr-U 3634). Damit ist eine subversive Argumentationslogik angedeutet, die sich bei Ulrich von Türheim am Ende, mithin im Epiloghaften seines Werkes noch im Hinblick auf zwei weitere, nicht weniger gewichtige Themen- und Motivkomplexe findet: die Freigebigkeit gegenüber dem Künstler und der hiermit verbundene Preis des ungenannten Gönners, der zugleich selbst als paradoxes Negativexemplum instrumentalisiert erscheint. Denn bezeichnenderweise wird im unmittelbaren Versanschluss nach sentenzhaft Suggestivem über triuwe-Lohn und Gottes Gnade das ideale Verhältnis von (weiblichem Lese-)Publikum und Erzähler/Autor thematisiert: swelhe vrouwen an disn buoche lesen, die suln mir wunschen heiles
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unde danken mir mins teiles, des ich dar an gesprochen han. (Tr-U 3658–3661)
Spätere Autoren wie (Pseudo-)Konrad von Würzburg haben vor moraldidaktischem Hintergrund ebenfalls ihre Epilogmaximen geschlechtsspezifisch und damit immer auch gehörig misogyn perspektiviert. Im Toposkontext von Narrheit als Minnesklaventum läge eine eigene Frauenlehre auch bei Ulrich nahe. Abermals führt uns sein Erzähler in die Irre, der stattdessen übergangslos auf seinen anonymen Gönner zu sprechen kommt651 , dessen ganzes Ansinnen einzig darauf gerichtet sei, wie er wol getu / unde sich geliebe der werlte (Tr-U 3666f.). Ungeachtet, ob nun folgend in sin lebn an ir gnaden stat (3670) die Welt oder – wie Spiewok übersetzt – eine (Minne-) Dame gemeint ist: Der vermeintliche Gönner wurde im Minnedienst bei einer Dame um weltlichen Ruhm zum Mäzen, mithin zum Förderer der Literatur. Ulrich wechselt abermals das Register und kommt zum Weitererzählen zurück. Zwar bleibt er thematisch bei Freigebigkeit und ‚vorbildlich‘ guten Werken, wenn er im Folgenden die Stiftung und Klostergründung König Markes sowie dessen vorbildliche Vanitaspraxis als „enthusiastischer Verwalter des Vermächtnisses der Liebenden“652 anführt.653 Angesichts dieser beiden Exempla – dem anonymen Gönner, der einzig ‚Frau Welt‘ zu diensten ist, und dem fiktiven König, der in vorbildlicher Weise die Memoria des toten Liebespaares pflegt – handelt sich Ulrich ein Dilemma ein, das Gönnerlob und Moraldidaxe in eine unauflösliche Spannung bringt. Der einzig denkbare Ausweg ist hierbei ein abermaliger Zirkelschluss, aus dem eine ebenso implizite wie enorme Aufwertung fiktiven Erzählens hervorginge. Auch das Seelenheil des nur weltzugewandten Gönners ist – in der Argumentationslogik Ulrichs – einzig zu retten, wenn dessen freigebige Weltzugewandtheit eben solche Literatur fördert, die von derart moraldidaktischem Wert ist, dass sie die profane Weltfixierung des Mäzens kompensiert. Das Verlangen nach weltlichem Ruhm fördert das Entstehen fiktiver Literatur, die dann durch geeigneten Stoff, Vorbildlichkeit von Figuren und Negativdidaxe alle erfreut und erbaut: die ‚Dame‘, die Literaturförderung als Minnedienst versteht, den ‚Herrn‘, der sich ihr durch seine Minnegabe empfiehlt, und den Dichter, dessen Kunst dann schließlich das Publikum mit den Segnungen guter Literatur beschenkt.
651 ich hanes durh einen man getan […] (Tr-U 3662). 652 Grubmüller 1985, S. 344. 653 Vgl. Tr-U 3671–3695.
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Und überdies: Warum betreibt ein Erzähler so großen Aufwand, die schulde (TrU 3675) des so ‚verderbten‘ Liebespaares durch Markes Totengedenken654 , durch Publikumsfürsprache wie durch eigenes Flehen zu tilgen? Mit diesem finalen Paradoxon seiner geliebten Sünder ist Ulrich dann doch näher an der Gottfried’schen Ästhetik dilemmatischer Minne, der er zwar nicht ästhetisch, schlussendlich aber doch konzeptuell zu entsprechen sucht. So würde daraus dann auch im Dieseits wie im Jenseits ‚Profit‘ für den Erzähler und für sein Publikum, wenn, wir wiederholen, rehte minnere die Liebesgeschichte in der Fortsetzung Ulrichs als Rezipienten goutierten. Dass Ulrich die Mehrstimmigkeit von Performanz, Erzählen und Kommentieren nicht widerspruchsfrei synchronisiert, mag man ‚epigonal‘ nennen. Allerdings ist deutlich geworden, dass durch Ulrich schließlich zumindest diese ‚beiden‘ ein versöhnliches Ende finden: die Lust am Weitererzählen und das Anschließen an den Werktorso Gottfrieds, zu dem Lob und Distanznahme kein Widerspruch sein müssen.655
2.3
Nuancen im Varianten: der Tristan-Narr Heinrichs von Freiberg „ey, verirreter Tristan“, gedacht er selbe wider sich, „wer bin ich oder waz vuret mich? wo bin ich oder wo sol ich hin [...]?“ (Tr-H 188–191)
Heynrich von Vriberc / vol tichte disen Tristan (Tr-H 82f.).656 So lautet die Selbstnennung des Verfassers in der zweiten Tristan-Fortsetzung aus den siebziger Jahren des 13. Jahrhunderts657 , die „dem Text Ulrichs im Spätmittelalter durchaus Konkurrenz
654 Vgl. ebd., 3510–3527, 3548–3555 und 3671–3695. 655 Vgl. Schausten 1999, S. 248. 656 In Spiewoks Einleitung wird abweichend zur Textwiedergabe nach Buschinger angegeben: Heinrîch von Vrîberg voltichte disen Tristan. (Wolfgang Spiewok: Einleitung. In: Heinrich von Freiberg: Tristan und Isalde. [Fortsetzung des Tristan-Romans Gottfrieds von Straßburg.] Originaltext [nach der Florenzer Handschrift ms. B. R. 226] von Danielle Buschinger. Greifswald 1993, S. VII–XXVI, hier, S. VII.) Wir zitieren nach der zuvor genannten Ausgabe mit der Sigle Tr-H. Zum Autor Heinrich von Freiberg vgl. Schausten 1999, S. 252. 657 Spiewok bezieht sich bei der Datierung von Heinrichs Tristan auf die umfassenden Forschungen von Alois Bernt, der Heinrichs Gönner Reimund von Lichtenberg (laut Spiewok 1278 bis 1329) aufgrund von Urkunden als Adligen und Günstling der böhmischen Könige aus der Gegend von Deutschbrod ausgemacht hat (vgl. Spiewok 1993, S. VII–IX; Heinrich von Freiberg. Dichtungen. Mit Einleitungen über Stil, Sprache, Metrik, Quellen und die Persönlichkeit des Dichters. Hrsg. von Alois Bernt. Halle 1906. Nachdruck Hildesheim/New York 1978; Schausten 1999, S. 251).
Nuancen im Varianten: der Tristan-Narr Heinrichs von Freiberg
gemacht hat.“658 Die Identifikation der Autorpersönlichkeit ist auch in diesem Falle auf innerliterarische Anhaltspunkte wie die zum Lobpreis ausgestaltete Erwähnung des böhmischen Gönners659 Reymunt von Luchtenburc (Tr-H 77; 75) angewiesen.660 Und noch immer gilt Spiewoks Hinweis auf die relativ geringere Aufmerksamkeit, die Heinrichs Tristan, der in „drei (relativ) vollständige[n] [Fassungen] und zwei Fragmente[n]“661 überliefert ist, bislang in der Forschung widerfahren ist.662 Heinrichs Werk erscheint als Gattungshybrid, das auch Züge des „Aventiure-Roman[s] des Artus-Stoffkreises“663 zeigt. Bezugnahmen auf Gottfried von Straßburg, Wolfram von Eschenbach oder Wirnt von Gravenberg dokumentieren, dass „Heinrich von Freiberg […] ohne Zweifel ein belesener und begabter Autor“664 war. Wie Ulrich von Türheim habe auch Heinrich den Tristan-Stoff dahingehend ‚ideel umgedeutet‘ (Spiewok), dass die Minne-Handlung als verbrecherische Sünde
658 Ebd. 659 Vgl. Tr-H 53–84. 660 Zum Geschlecht der Lichtenburger vgl. Margarete Sedlmeyer: Heinrichs von Freiberg Tristanfortsetzung im Vergleich zu anderen Dichtungen. Bern/Frankfurt a. M. 1976, S. 242; Joachim Bumke: Mäzene im Mittelalter. Die Gönner und Auftraggeber der höfischen Literatur in Deutschland 1150–1300. München 1979, S. 277; Schausten 1999, S. 253. 661 Spiewok 1993, S. IXf. Die ebd., S. Xf. genannten Handschriften sind: Handschrift F: „Biblioteca Nazionale Centrale Florenz. ms. B. R. 226 (früher Cod. magliabechianus germ. cl. VII.33). Pergament 4o. Mitteldeutsch mit oberdeutsch-bairischen Spuren. Fol. 2ra –102vb : Gottfrieds Tristan (V. 1–102 fehlen); 103ra –139vb : Fortsetzung des Heinrich von Freiberg; 142ra –192vb Hartmanns von Aue Iwein (Hs. D).“ Handschrift E: „Biblioteca Estense Modena, Ms. Est. 57 (früher: a. R. 8. 16). Papier, 2o; 15. Jahrhundert, alemannisch (elsässisch). Fol. 1ra –122vb : Gottfrieds Tristan; 123ra –168ra Fortsetzung Heinrichs von Freiberg; 168rb –170rb : Register.“ Handschrift O: „Historisches Archiv der Stadt Köln, Nr. +87 (Oberlinsche Handschrift). Papier 20 . Ende des 15. Jahrhunderts, mitteldeutsch (rheinfränkisch). Fol. 1vb –114vb : Gottfrieds Tristan (Verse 1–522 fehlen); 114vb –151ra Fortsetzung Heinrichs von Freiberg (bis Vers 6709; es fehlen außerdem die Verse 1–84).“ Handschrift w: „Wolfenbüttel, Herzögliche Bibliothek, Cod. Guelf. 404.9.(3), Novi 14. Jahrhundert. Das Fragment enthält Rest der Fortsetzung Heinrichs von Freiberg zwischen den Versen 5427 und 5562.“ Handschrift p: „St. Pölten, Stadtarchiv, 14. Jahrhundert (das Fragment ist verschollen).“ 662 „Wie bereits die Fortsetzung des Ulrich von Türheim, so ist auch die Fortsetzung Heinrichs von Freiberg nicht allzuoft monographisch behandelt worden“ (Spiewok 1993, S. IX). Zur Forschung zu Heinrichs Tristan-Fortsetzung vgl. Sedlmeyer 1976; Danielle Buschinger: A propos du Tristan de Heinrich von Freiberg. In: Etudes Germaniques 33 (1978), S. 53–64; Dies.: Zur Sammlung des Tristan-Stoffes in der deutschen Literatur des Mittelalters nach 1250. In: Sammlung – Deutung – Wertung. Mélanges de littérature médiévale et de linguistique allemande offerts à Wolfgang Spiewok. Hrsg. von Danielle Buschinger. Amiens 1988, S. 39–50; Silke Grothues: Der arthurische Tristanroman. Werkabschluß zu Gottfrieds Tristan und Gattungswechsel in Heinrichs von Freiberg Tristanfortsetzung. Frankfurt a. M./Bern/New York 1991; Hans-Hugo Steinhoff: Heinrich von Freiberg. In: VL. Bd. III. Berlin/New York 21 983, S. 724–730. Einen Forschungsüberblick bis 1994 bietet Wetzel 1996, S. 230–232. 663 Spiewok 1993, S. XXII. 664 Ebd.
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der Funktionalisierung als Negativexemplum bedürfe, um das Erzählen nach Maßgabe „christliche[r] Moraltheologie“665 auf einer Oberflächenebene zu lizensieren: „Der Tristan-Stoff sei nachgerade ein Exempel für die Sündhaftigkeit der Welt und die Vergänglichkeit ihrer Freuden. Er sei eigentlich so recht dazu geeignet, den unvergänglichen Wert der Gottesliebe erkennen zu lehren.“666 In diese Richtung weist die Epilogrhetorik mit konventioneller Didaxe, aus der Spiewok geschlussfolgert hat, Heinrich suche „letzten Endes die subversive, gesellschaftsfeindliche Tendenz des Tristan-Stoffes abzubauen, doch beseitigt er zugleich dessen ästhetisch revolutionierende Potenzen, die Gottfried von Straßburg zu seinem Meisterwerk zu nutzen wußte.“667 Dass jedoch gerade dies den ästhetischen Reiz von Heinrichs Weitererzählen ausmacht, dass er das stilistische Niveau Gottfrieds anstrebt und sich gleichzeitig von dessen Standpunkt abzugrenzen versucht, hat Schausten mehrfach gezeigt.668 Auch bei Heinrich von Freiberg ist die Narrenepisode als letztes Verkleidungsabenteuer Höhe- und Wendepunkt der gesamten Minnehandlung.669 Seine erzählerische Erweiterung um nur bei ihm vorfindliche Details und die Eigenheit seiner Darstellungsaspekte machen eine vergleichende Analyse lohnenswert.670 Hierbei wird sich zeigen, dass auch Heinrichs Ausbau der Intrigenästhetik unmittelbare Folgewirkungen nach sich zieht: eine anders geartete Suggestivität des Simulierten, eine eigene Logik bzw. Situationsbezogenheit der Rache sowie andere Labilisierungsmotive höfischer Ordnung. „Tristans Assimilation an das Andere der Vernunft“, so Matejovski, werde „bei Heinrich zum Wechselverhältnis von Normverstoß und Disziplinierung, von Entfesselung und Ratio, Usurpation und Abwehr, Realismus und Symbolismus.“671 Wenn dem so ist, stellt sich auch die Frage nach Heinrichs Narrendarstellung und Intrigengestaltung sowie nach dem Zusammenspiel von Torheitssimulation und Minnedissimulation, die auch bei Heinrich als Rächerdissimulation fungiert. Die Analysen der Folie Tristan d’Oxford, der Tristan-Fassung Eilharts und der Gottfried-‚Fortsetzung‘ Ulrichs haben bereits ästhetische Alternativen der Narr-
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Ebd., S. XXIV. Ebd. Ebd. Vgl. Schausten 1999, S. 276, 287 und 293. Zu einem Handlungsüberblick bis zum Rückkehrabenteuer Tristans als Narr vgl. Spiewok 1993, S. XVII–XX, Matejovski 1996, S. 226f. und Schausten 1999, S. 254f. 670 Zur grundsätzlichen Auffächerung ästhetischer Gestaltungsmöglichkeiten der Narrenepisode Heinrichs vgl. Matejovski 1996, S. 227. 671 Ebd., S. 228. Wir gehen auch bei Heinrichs Schilderungen von Körperlichkeit und Sprechakten nicht vom Anachronismus des ‚Realismus‘, wohl aber von einer deutlich detailreicheren Ästhetik aus.
Nuancen im Varianten: der Tristan-Narr Heinrichs von Freiberg
heitsinszenierung vorgeführt: Stets existentiell bedrohte Minnenarrheit sucht ihre Dissimuliation in tollkühnem Wahrheitsagen, perpektivabhängig unsinniger Logik der Sprechakte, scheinbar sinnlosem Tun, Gewalttätigkeit oder drastischen Verstößen gegen den höfischen Code des Verhaltens und Gebarens. Im Folgenden steht Heinrichs eigene Nuance der Minnenarrheit im Fokus, die vor allem im Vergleich mit dem Weitererzählen Ulrichs weniger als konkurriende denn als alternative Ästhetik zu beschreiben ist. 2.3.1 Handlungslogische Verkehrungen: Tristans ‚natürliche‘ Anomalie Heinrich von Freiberg hat Tristans Narrenrolle funktional wie semiotisch anders als Ulrich von Türheim gestaltet. Sein Tristan-Narr findet zu seiner letzten Verkleidungsrolle nicht allein durch den schlichten Rat eines Intrigenhelfers oder gar – noch knapper motiviert – auf Befehl der königlichen wie intrigenkompetenten Geliebten.672 Heinrich lässt seinen Helden abermals an Siechtum leiden, nun aber derart, dass Selbstentfremdung und Selbststigmatisierung eben jenen Verkleidungsrat bereits nahelegen, der Wiederbegegnung und Zusammensein mit Isolde wie keine andere Simulationsintrige verspricht. Bereits die Art von Tristans Krankheit bringt Torheit mit sich, raubt ihm doch das neuerliche Leiden derart die Lebensfreude, dass der Sieche schon ins Depressive zu versinken droht: da wart der edele Tristant alda siech sazuhant. er siechte und sochte so lange, daz im tochte zu vrouden wenic sin leben. (Tr-H 5025–5029)
Im Mittelalter muss der liebeskranke ‚Melancholiker‘673 , der ‚Depressive‘, medizinisch wie theologisch als Narr gelten, der sein Dasein selbst nicht mehr für
672 Zu Isoldes Oktroyierung der Narrenrolle Tristans bei Ulrich von Türheim vgl. Tr-U 2471–2494. 673 Einmal mehr bilden auch bei Heinrich Trennung und Meer, Isoldes Überfahrt uber daz wazzer hin / zu dem kunege Marken (Tr-H 5016f.), einen Motivkomplex der Traurigkeit, der Tristan hier ins lebensverneinend Melancholische versinken zu lassen droht. Hiermit wird vor Tristans NarrWerdung ein anderes Stereotyp angedeutet, das Mayer von den „existentiellen Außenseiter[n] als […] intentionelle[…] Sonderlinge aus Melancholie oder Misanthropie“ (Mayer 1981, S. 22f.) unterschieden hat. Dass die mittelalterliche Medizin, Humoralpathologisches mit Moralischem mischend, auch den extremen Liebeskummer als Krankheit auffasst, hat Matejovski (1996, S. 48–52) gezeigt. Zur Melancholie medizin- bzw. begriffsgeschichtlich vgl. ebd., S. 42–47. Zu Narrentum und Melancholie vgl. Lepenies 1998, S. 90–96.
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erträglich und deshalb nicht für ‚lebenswert‘ hält.674 Zwar können hier medizingeschichtliche Einlassungen zum Humoralpathologischen außer Acht gelassen werden, zählt antiken wie mittelalterlichen Theoretikern doch bereits „[u]nerfüllte Liebe als Krankheitsfaktor“675 . Wenn Andreas Capellanus den rustici quasi die ‚Möglichkeit‘ zur Amor hereos,676 der Melancholie als Liebeskrankheit, abspricht, dann ist umgekehrt ein Held wie Tristan durch „die Feinheiten der höfischen Liebeskultur“677 von dieser bedroht wie für diese prädestiniert. Abermals zeigt sich hier sogar an einem nicht weiter entfalteten Motiv Heinrichs, dass die Grenze zwischen Normalität und Abweichung, Gesundheit und Krankheit insbesondere dann Ausdruck diskursiver Kräfteverhältnisse ist, wenn deren Bemessungsgrundlage Physisches, Psychisches und Moralisches mischt. Denn festzuhalten bleibt, dass die Liebesmelancholie Tristans solange ‚echt‘ ist, solange er keine Narrheit simuliert, denn seiner Debilitätsperformance bei der Ankunft auf der Markeburg liegt eine rollenadäquate Reflexion zugrunde, wie Matejovski gezeigt hat: der wise tore nicht vergaz, / als in Tantrisel lerte (Tr-H 5164f.).678 Folglich müssen seine Akte von Kontrollverlusten des Affektiven als Kalkül und nicht als Ausdruck minnekranker Selbstvergessenheit gelesen werden. Hatte die künstliche Narrheit bei Ulrich die Doppelfunktion, den Liebhaber und den Rächer gleichermaßen zu dissimulieren, so fungiert bei Heinrich bereits das Siechtum Tristans nicht nur als narrheitsbegünstigender Identitätsverlust, sondern dient – im Sinne der Strukturmotivik von Wiederholungsvariation als Steigerung – auch der Vorwegnahme des Liebestodes von Tristan und Isolde, denn eine bloße Nachricht vom in der Ferne leidenden Geliebten reicht für Heinrich bereits aus, um seine Isolde an der gleichen Krankheit leiden zu lassen: die kuneginne weste alle sin suche wol. […] die krancheit sie von herzen twanc und truc der suche smerzen mit im an dem herzen. (Tr-H 5034–5044)
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Vgl. Matejovski 1996, S. 226. Ebd., S. 48. Vgl. ebd., S. 52. Ebd. Vgl. ebd., S. 227. Matejovski knüpft hieran die Differenzierung der Betrachtungsebenen bzw. perspektiven und spricht im Zusammenhang mit der Vernunft des falschen Toren Tristan von „Autorenperspektive“. Gemeint sein kann jedoch nur die Erzählersicht im Gegensatz zu den Perspektiven von Figuren und Publikum.
Nuancen im Varianten: der Tristan-Narr Heinrichs von Freiberg
Ulrich von Türheim hat Narrheit und Minne auch dadurch engzuführen versucht, dass er z. B. das Steinetragen seines Tristan-Narren und das gegenseitige Sich-imHerzen-Tragen der Liebenden miteinander assoziierbar macht.679 In Heinrichs Erzählfassung ist die Einheit der Liebenden von phantastischer Empathie, so dass sich deren Gemütszustände unmittelbar ähnlich werden, wenn der eine vom Leiden des anderen auch nur hört. Analog zur literarisch gängigen Fernminne lässt Heinrich das Liebespaar auch bei getrennten Leiden für- und aneinander als so wundersame wie unauflösliche Einheit erscheinen. Hierbei ist Isoldes ‚MinneSiechtum‘ auch gleich allegorisches Potential eingeschrieben, ist es doch eben ihr Herz, das während der Trennung bis zur Lebensmüdigkeit von Tristans Leiden ergriffen wird. Plausibilität verschafft Heinrich diesem ‚gemeinsamen‘ Leiden während der Trennung dadurch, dass distanzüberbrückende Botendienste jeweils dem einen die Not des anderen hinterbingen.680 Ebenso wie die Leidensnachrichten von Isolde gelangt auch deren heilende Wundersalbe durch ihre Boten Paranisel und Tantrisel zum schließlich genesenden Tristan. Die Vereinigung der Liebenden im neuerlichen Siechtum bringt allerdings ein logisches Problem mit sich, denn in der Angleichung ihrer Leidenseinheit unterscheiden sich die so existentiell aufeinander bezogenen Liebenden doch grundlegend. Während es Tristan mehr und mehr an Lebensmut mangelt, betreibt die gleichfalls sieche Isolde die wundersame Pflege des Geliebten, erteilt Botenaufträge und sendet rettende Arznei. Die Rettung dessen, der sich selbst schon aufgegeben hat, ist ebenfalls wundersam nicht nur auf das magische Motiv von ertznie (Tr-H 5047), sondern auf die Fernwirkung der Minne selbst bezogen: Tristan erholt sich, wan von dem zarten wibe / sin wart von verrens wol gepflegen (Tr-H 5058f.). Eilhart von Oberg hat die Verwundung seines Tristrant durch den Steinschlag semiotisch anders gestaltet, als es Heinrich von Freiberg mit Tristans Liebeskrankheit tut. Bei Eilhart setzt die Verwandlung seines Protagonisten als Folge von kontingentem Kriegsgeschehen (Steinschlag) und entsprechender Traktierung (Haarschur) ein.681 Im Gegensatz dazu ist es bei Heinrichs Tristan völlig unerfindlich, wie dieser auf seine Genesung ‚reagiert‘: da wol genesen waz der degen und kumen von der such gar, sin reides har er abe schar. (Tr-H 5060–5062)
679 Vgl. Tr-U 2696–2701. 680 dicke und ofte sie [Isolde] im [Tristan] enpot, / daz sie den selben smerzen / mit an dem herzen / dolte, den er truge (Tr-H 5050–5053). 681 Vgl. Tr-E 8837–8853.
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So unmotiviert von der geschorenen Lockenpracht Tristans erzählt wird, so nimmt diese quasi als unbewusste Selbststigmatisierung die Natürlichkeit seiner Narrenrolle vorweg. Weniger plausibel als diese Selbstverstümmelung muss jetzt der Erzählerhinweis erscheinen, Tristan wol genesen waz (Tr-H 5060), denn die Haarschur bis zu schierer Unkenntlichkeit ist für Tristan zunächst gerade Ausdruck fortbestehenden Leidens daran, die Geliebte niemals wieder sehen zu können und fern von ihr in der Fremde sterben zu müssen.682 Was sich hier zunächst als defizitäre Motivationslage beschreiben lässt, die grundlose Selbstentstellung Tristans, findet dann ihrerseits als Figur des Paradoxen zur (vorläufigen) Lösung des Liebesproblems. Während Tristan glauben muss, seine Selbstentäußerung durch Verlust seiner Schönheit dokumentiere die Unmöglichkeit, die Geliebte jemals wieder zu sehen, ist es gerade dieses Moment, für andere augenscheinlich ein Anderer sein zu können, das eine neue Chance für ein (letztes) Rückkehrabenteuer bietet. Was seinerseits motivlich schwach begründet sein mag, inspiriert immerhin den Verkleidungsrat des Neffen, der – situativ passend – plötzlich als vertrauter Intrigenhelfer zur Hand ist. Durch die Selbstentstellung des Onkels hat der Neffe nämlich die rettende Assoziation „ohem, du bist gestalt / glich einem rechten toren / an houbt, an glantze, an oren“ (Tr-H 5100–5102). Ähnlich wie bei Eilhart wird hier auf die Signifikanz der Ohren, betont durch entsprechende Haarschur, angespielt. Dieser Unterschied ist doch mit Blick auf die Lizensierung ehebrecherischer Minne erheblich: Bei Eilhart ‚prädestiniert‘ die schicksalhafte Kontingenz des Kriegsgeschehens den zufällig Verwundeten zum (Minne-)Toren und gewährt in der neuerlich halb natürlichen, halb künstlichen Rolle ein weiteres Wiedersehen mit der illegitimen Geliebten. Heinrich hingegen verlegt die Torenmutation in die Hand seines Protagonisten, die erst in und durch die Wahrnehmung des Neffen als geeignete Betrügerlarve erscheint. Folglich gehört die Verwandlung zum Narren bei Eilhart in den Spielbereich des Schicksalhaften, das jeden – fiktive Figuren wie reale Rezipienten – ereilen kann. Heinrich aber verlegt die entstellende Körperverwandlung als Rollenannahme in die Verantwortung seiner handelnden Figur. Da das Publikum aber von einer selbst zugefügten körpersemiotischen Eignung Tristans zum Intrigen-Narren noch nichts ‚wissen‘ kann, ist ein weiterer Logikbruch bei Heinrich von Freiberg zu konstatieren. Als abermaliger Selbstwiderspruch zeichnet sich in der nun folgenden Fokalisierung noch drastischer ab, dass es mit Tristans
682 Entsprechend äußert sich Tristan gegenüber seinem Neffen Tantrisel: „leider mir tut suftzens not, / daz ich die minnencliche Ysot, / die kuneginne, min vrowen, / sol nymer me beschowen / und muz in disen leiden / sus von dem lande scheiden” (Tr-H 5075–5080).
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‚völliger Genesung‘ nicht weit her sein kann. Stellvertretend für das Publikum mustert der Neffe Tantrisel seinen – eben immer noch markant – krankheitsentstellten Onkel: „[…] daz vleisch ist dir entwichen, die varbe ist dir verblichen, din ougen sint dir in gesmogen, die nase ist dir uz gebogen, din stirne und dine wange, mit runtzelen sint befangen, din lip ist durre und mager, din antlitz bleich und hager, din hals ist cleine und lanc. […].“ (Tr-H 5103–5111)
Mag auch die Krankheitswirkung als überwunden geschildert werden, so bleiben ihre Folgen dem eben doch nicht völlig Rekonvaleszenten – buchstäblich – auf den Leib geschrieben. Dort ist nämlich alles in sein Gegenteil verkehrt, was vordem die Schönheit des Protagonisten ausgemacht hat. Außer den abstehend wirkenden (Narren-)Ohren prägen nun auch völlige Blässe, Ausmergelung und Abmagerung das Erscheinungsbild der einstigen höfischen Schönheit, deren eingefallene Wangen eine gebogene Nase hervortreten lassen. Dieser Kontrast zum ehemals höfischen Körper prädestiniert einen derart Hässlichen dann doch auch in einem intrigentauglich-natürlichen Sinne zum Auftritt als idealtypischem Anomalen: „[…] du bist gestalt / glich einem rechten toren […].“ Mit den Augen des Neffen Tantrisel ‚gesehen‘ bietet sich Tristans entstellender Identitätsverlust für eine Simulation natürlicher Narrheit besonders dadurch an, dass seine körperliche Versehrung ‚echt‘ ist und damit die perfekte Dissimulation des Liebhabers verspricht. Und es ist gerade diese perspektivabhängige Suggestionswirkung einer Naturhaftigkeit des Narrendaseins, die letztlich die gesellschaftliche Konstruiertheit des Anomalen eben als semiotische Bedeutungszuweisung ausstellt: Die Koinzidenz von Narrheit und Hässlichkeit, ja letztlich sogar die fragwürdige Bedeutsamkeit von Kategorien wie Schönheit und Hässlichkeit selbst, ist mitnichten naturgegeben. Sie ist – und dies eben auch – in fiktiven Welten des Mittelalters Ausdruck kultureller Zuweisung, für die in der Handlungslogik der zur Narrenrolle ratende Intrigenhelfer steht. Die Perspektivabhängigkeit dieses Zuweisungsaktes kommt in der Dialogsequenz der Figuren auch dadurch zum Ausdruck, dass sie sich gegenseitig mit Narren vergleichen. So hält Tristan die Zuversicht Tantrisels, dass sein Onkel seine Geliebte doch wieder sehen werde, zunächst für derart ausgeschlossen, dass er am Verstand seines Neffen zweifelt: „du redest als ein kint, / wan du bist noch an witzen blint“ (Tr-H 5087f.).
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2.3.2 Künstliche Anomalie durch simuliertes Gebaren In der Narrenepisode Heinrichs von Freiberg ist die Plan- und Beratungsszene der Intriganten besonders ausführlich ausgestaltet. Nach dem Entdecken der semiotischen Eignung eines entstellten höfischen Körpers für eine Decodierung als Narrenfigur durch Tantrisel folgt dessen detailierter Rat, wie die Suggestionswirkung simulierter Anomalie zur undurchschaubaren Täuschung perfektioniert werden könne. Dieser Teil des Planungsgespräches ist ebenso wie in den anderen Tristan-Fassungen insbesondere auch in der Hinsicht aufschlussreich, welche Stereotype des Anomalen im Kollektiv-Imaginären nicht nur bei den zu betrügenden Figuren, sondern auch bei den zu amüsierenden Rezipienten aufgerufen werden. Der eben ganz und gar nicht kindisch-törichte (noch an witzen blint) Neffe fährt mit seinem Rat so fort: „[…] mache nu torisch dinen ganc und lege narren cleider an, so sprechen wip und man, du sist ein gief, wer dich gesicht. du ensolt wislich gebaren nicht. du habe torische site und rede nerrische hie mite, so wirt den luten unbekant, daz duz bist, her Tristant. so macht du vor den kunic gen und vor die kuneginne sten, so wenen sie in alle wis, daz duz ein rechter tore sis.“ (Tr-H 5112–5124)
An dieser Simulationsempfehlung für Tristans Reüssieren als falscher Narr fällt vor allem zweierlei auf: zum einen die ‚Konkretheit‘ der Rollenbeschreibung, die in ihrer maximalen Vagheit (‚törichter‘ Gang, ‚anomales‘ Gebaren, ‚törichtes‘ Verhalten) ebenso auf eine Konventionalität des Anomalen anspielt wie die noch unbeschriebenen narren cleider; und zum anderen das hier auf relativ engem Textraum begegnende semantische Spektrum von Ausdrücken für Verkörperungen des Anomalen. Bevor beschrieben wird, wie die vermeintliche Unbestimmtheit dieser ‚Rollenbeschreibung‘ in ihrer Realisierung im Rückkehrabenteuer konkretisiert wird, soll kurz darauf eingegangen werden, welche Aspekte von Anomalie bereits in dieser Ratpassage aufscheinen. Wenn im Verkleidungsrat einer Täuschungsintrige Narrheit als das konventionelle Andere, als das Unhöfische, nicht präzisiert zu werden braucht, rekurriert die
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bloße Markierung als Normabweichung bei Figuren – stellvertretend für das Publikum – auf existierende, relativ feste Vorstellungen davon, welches Gebaren, welche Kleidung, welches Sprechen im höfischen Kontext dieser fiktiven Welt als nicht ‚normal‘ gilt. Normabweichung ist in dieser Vagheit zunächst gleichbedeutend mit Grenzüberschreitung in jeglicher Hinsicht, denn als ‚töricht‘ muss derjenige gelten, der etwa die höfischen Verhaltenscodes nicht kennt oder nicht beachtet.683 Die Unbestimmtheit der zu erwartenden Normverstöße eines Narren, der durch seine körperliche Entstellung und das entsprechende Kulturwissen über das Anomale ideale Simulationsvoraussetzungen besitzt, fungiert hier auch als Spannungsaufbau, so dass sich fragen lässt, welche Konkretisierung von Narrheit Tristans Simulationserfolg begründet. Und hiermit ist verbunden, wie labil sich höfische Ordnung und Kultur gegenüber entsprechenden Norm- und Tabubrüchen ausnehmen. In diesem Zusammenhang stimuliert auch die bereits erwähnte semantische Differenzierung von tor, narre und gief die Publikumserwartung.684 Da keiner dieser Begriffe etwa als Reimwort am Versende auftritt, ist auszuschließen, dass diese, ihrer Nuancen ungeachtet, lediglich als unterschiedlich klingende Synonyme im Text vorkommen. Die größten denotativen wie konnotativen Überschneidungen haben tôr[e] und narre als Irrsinnige. Das mhd. Verb tôren meint sowohl ein tôre sein oder werden, toll sein, rasen als auch zu einem tôren machen, betören, betrügen, hintergehen, äffen.685 In diesen Begriffen hat das Anomale bereits folgende Bedeutungsdimensionen: a) die Relativität von Vernunft und Unvernunft, b) die prekäre Übergangsmöglichkeit vom Normalen zum Anomalen, c) dessen Ausdruck als defizitäre Affektkontrolle eines irgendwie unkontrollierten Gebarens oder unbegründeter, mithin kulturell nicht geduldeter Gewalttätigkeit, d) und schließlich bereits die Problematik der Unterscheidbarkeit von natürlicher und künstlicher Anomalie. Auch gief umgreift die skizzierte Semantik von tôre und narre. Das Verb giefen wiederum präzisiert die im Mittelhochdeutschen mitgemeinte Vorstellung vom Unnormalen als törichtes betragen, schreien, lärmen.686 Da wir schon in der Erzähl-
683 Dem entspricht auch die Opposition von angemessen, ‚normal‘ (‚höfisch‘) und ‚töricht‘ in der didaktischen Literatur, für die exemplarisch Der Welsche Gast von Thomasin von Zerklaere herangezogen werden kann: Dort finden sich entsprechende Oppositionen wie edeliu kint (DWG 336) vs. toerschiu kint (354), rehte einvalt (100023) vs. nerrescheit (100022, 100024). 684 [M]ache nu torisch dinen ganc / und lege narren cleider an, / […] du sist ein gief (Tr-H 5112–5115). 685 Vgl. Lexer 1979, Bd. 2, Sp. 1465. Zu narre swm. vgl. ebd., Sp. 35f. 686 Lexer 1979, Bd. 1, Sp. 1010.
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variante Ulrichs von Türheim gesehen haben, dass zu Tristans simulierter Torheit und seiner dissimulierten Liebe zu Isolde so passenderweise „parodierter Minnesang“687 gehört, darf nach der Ratempfehlung, sich wie ein gief zu geben, auch in der Fassung Heinrichs von Freiberg mit Sprechakten gerechnet werden, die einerseits zur Vortäuschung von Narrheit dienen, andererseits aber – für Nicht-Betörte – auch Botschaftscharakter haben. Hierin ist eine weitere bei Heinrich von Freiberg zu findende Facette der Narrheitsrepräsentation zu sehen: in einer Sprachverwendung, deren Verrätselung einerseits die Torheit des Sprechers zu beweisen scheint, aber andererseits dem Eingeweihten – wie der Geliebten und dem Publikum – zur Intrigenabsprache dienen kann. Stigmatisierung als Kunst des Anomalen
Die Beratungsszene zum Täuschungsabenteuer endet bei Heinrich von Freiberg damit, dass Tristan den Torheitsvorwurf gegenüber seinem Neffen als so klugem wie hinterlistigem Ratgeber zurücknimmt („[…] du bist nicht an witzen blint. […]“; Tr-H 5128). Anschließend bereitet er sich auf eine entsprechende Simulantenrolle vor. Was im Verkleidungsrat lediglich als konventionelle narren cleider einer damit implizit als usuell gedachten Marginalisierungspraxis gegenüber Anomalen angeklungen ist, findet jetzt bei der Umsetzung des Rats, mithin der Konkretisierung der Intrigenrequisiten, seine Präzisierung. Das toren kleit (Tr-H 5130), mit dem Heinrich von Freiberg seinen falschen Narren zur Wiederbegegnung mit seiner Geliebten ausstattet, hat weder in den Fassungen Eilharts von Oberg noch Ulrichs von Türheim seinesgleichen. Gemeinsam ist diesen nur der Stigmatisierungsaspekt einer Außenseitertracht, die ihren Träger durch graues Tuch (uz snodem tuche, daz waz gra; Tr-H 5135), Kapuze (eine gugel dar an; 5134) und grotesken Zuschnitt (seltzen getan; 5133) als Ausgegrenzten kenntlich macht. Singulär ist bei Heinrich von Freiberg allerdings, eine Narrentracht zu beschreiben, die das vermeintliche Wesen des natürlichen Narren kunstvoll im Wortsinne illustriert: dar uf gesniten hie und da narren bilde uz roter wat, daz nieman gesehen hat so torisch einen rok gestalt. (Tr-H 5136–5139)
687 So bezeichnet Matejovski bereits das Gesangslärmen des Narren bei Ulrich von Türheim (vgl. Matejovski 1996, S. 224).
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Bei Heinrich von Freiberg findet die Narrheitsrepräsentation im Vergleich mit den anderen Erzählern der Narrenepisode folglich sowohl über mehrere als auch über komplexere Darstellungsweisen statt. Die Markierung des Anomalen bietet bei ihm Alternativen zum Harmonisch-Schönen oder dem Symmetrisch-Repräsentativen: eine armutsadäquate Stoffqualität (uz snodem tuche), die Ungewöhnlichkeit des Zuschnitts (von wunderlichen sachen; Tr-H 5132), die quasi selbstreferentielle Bebilderung in roter Signalfarbe auf dem Narrengewand (narren bilde uz roter wat; 5137) und schließlich singuläre Originalität (daz nieman gesehen hat; 5138). ‚Heinrichs‘ toren cleider repräsentieren ihrerseits ein eigenes Paradoxon. Das Anomale wird dadurch konventionell stigmatisiert, dass es in seiner Normabweichung als einzigartig erscheint. Dass sich zudem diese ‚sprechende‘ Gewandung durch ihren Bildschmuck (narren bilde) selbst kommentiert, ist nicht nur eine Referenz auf kulturgeschichtliche Praktiken, sondern auch auf semiotisierte Textilien und Ausstattungsgegenstände in der Literatur wie den berühmten Sattel von Enites Pferd bei Hartmann von Aue, der u. a. mit der Trojasage bebildert ist.688 Ausgestattet mit einer derartigen Hypersignifikanz seiner Narrenkleidung und den Intrigenrequisiten Kolben und Käse689 ist Heinrichs Tristan für sein letztes Rückkehrabenteuer bestens vorbereitet, verspricht doch seine Verkleidung nicht nur das Gelingen des intrigeneigenen Zusammenspiels von simulierter Torheit und dissimulierter Liebesobsession, sondern als optischer Lachanlass auch einen ‚dauerhaften‘ Aufenthalt am Königshof. Intrigante Narrenpossen und hinterlistige Sprachspiele
Bereits der erste Kontakt von falschem Narr und der Gesellschaft der ‚Normalen‘ im urbanen Umfeld von Tintajol weist eine weitere, intrigenbegünstigende Paradoxie des Anomalen auf: Die Attraktivität des Narren stimuliert die curiositas von man und vrowen, junc und alt (Tr-H 5156), die zunächst jeden zum blöden Gaffer werden lässt690 , bevor der Schrecken, den der Kolben verbreitet, alle und jeden in die
688 Die Beschreibung von Enites Pferd ist bei Hartmann von Aue höchst unterhaltsam eingebettet in einen Dialog des Erzählers mit dem imaginierten Publikum, dessen Vertreter durch Nachfragen und Zweifel an Erzählgut und -weise sowohl die Profilierung der Erzählerfigur als auch deren Schilderung jenes Prachtsattels stimuliert (vgl. Erec 7462–7766). 689 Als Standesattribut führt auch Heinrichs falscher Narr eine Keule mit sich. (Vgl. Tr-U 5142f.) Ebenso hat dieser auch einen Käse in der Kapuze seiner Tracht (vgl. Tr-U 5144ff.). 690 […] man und vrowen, junc und alt, / die liefen alle gein im san / und kaften disen narren an […] (Tr-H 5156–5158).
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Flucht schlägt. Diese dynamische Attraktivitätsmotivik, anzuziehen und schließlich abzustoßen, bildet die Rahmung der ersten Narrenszene am Markehof.691 Heinrich von Freiberg schließt Tristans Auftreten vor König und Königin unmittelbar an. Hierbei reüssiert der heimliche Liebhaber Isoldes als ebenso intriganter wie talentierter Verstellungskünstler, der alle Register eines Narrenauftrittes zu ziehen versteht: die Lachen verursachende Komik des Gebarens692 , des Artikulierens, der verstellten Stimmlage, der Ambivalenz des Sprechens, absurder Logik sowie der Erotisierung symbolischer Handlungen. Keine Erzählfassung des Rückkehrabenteuers von Tristan als Narr ist in der Simulationsperformance so ausführlich erzählt wie die Heinrichs von Freiberg, dem dadurch eine neue Qualität im Ästhetischen gelingt. Den Erstkontakt von Narr und Königin hat Heinrich folgenreich variiert, lässt er seinen Irrsinnssimulanten die Gattin Markes doch direkt ansprechen, und zwar auf eine Weise, die ihr Lachen erzwingt: „go, go, go, go, go, go, got gruze uch, vrowe, sunder spot. sit irs die kuneginne, so gebet mir uwere minne.“ (Tr-H 5175–5178)
Glaubwürdiger Lachanlass ist hier das sinnfrei wirkende Sprechen eines simulierenden Stotterers, dessen vermeintliche Debilität die Lizenz abgibt693 , unverhohlen die Wahrheit zu sagen. Für Nichteingeweihte in die Betrügerrolle Tristans muss sowohl die unhöfische Anrede der Königin als auch die Logik des Sprechaktes als Narrheit erscheinen. Falls es sich um die Königin handle, so verlange der Narr nach deren Minne.694 Das intrigante Sprechen simuliert hier durch die Ungeheuerlichkeit der Wahrheit und deren gestotterte Hervorbringung suggestiv Narrheit.
691 Vgl. Tr-H 5153–5160. Damit kommt bei Heinrich von Freiberg dem Narren respektive dem Narrenauftritt jene Faszinationswirkung zu, von der Matejovski irrigerweise schon in Bezug auf Ulrichs Tristan-Narren spricht (vgl. Matejovski 1996, S. 224). 692 Zur Narrheitssimulation des Gebarens gehören die groteske Gangart, das Kopfwackeln und das Schlenkern von Armen und Beinen: sinen ganc er ouch verkerte, / sin houbet begonde er vaste wegen / und begonde mit vuzen schregen. / sus gienc er gygengarren / glich einem rechten narren: / gar torisch waren sine trite / und nerrisch alle sin site (Tr-H 5166–5172). 693 „Tristans erste sprachliche Äußerungen am Markehof sind zunächst Teil seiner virtuosen, Elemente einer grotesk deformierten Körpersprache einschließenden Verstellungstaktik“ (Matejovski 1996, S. 231). 694 Eilhart von Oberg hat die Motivik des vor der Königin Isolde liebesgeständigen Narren erzählerisch in die nonverbale unhöfisch-haptische, (do gund er fúr die frovwen stavn: / er wolt, daß sú inn kust. Tr-E 9000f.), dann visuelle Kontaktaufnahme (ze lieblich er sÿ an sach […]. Tr-E 9005) gedehnt,
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Denn tatsächlich ist es ja – von Tristan – ernst gemeint, in der Königin Isolde zu lieben, was für einen Narren eine völlige Unmöglichkeit darstellen muss. In den Sog des perspektivisch Ambivalenten gerät sogleich auch die Antwort der Königin, die nicht etwa verneint, die ‚Richtige‘ zu sein oder gar das Liebesansinnen des Narren ablehnt. Stattdessen weist Isolde den falschen Narren lediglich auf die Anwesenheit des Königs hin695 , was beides heißen kann: ‚Die verheiratete Königin ist per se für Minne tabu‘ oder ‚Es ist für Minne noch nicht die richtige Gelegenheit‘. Hier wird so dezidiert auf derartige Ambiguisierungen durch Perspektivität eingegangen, da das Verhalten der Königin dem Narren gegenüber in der Erzählfassung Heinrichs von Freiberg von besonderer Pikanterie ist. Tristans Narrheitssimulation ist hier so täuschend, dass auch Isolde ihn zunächst nicht erkennt. Erst nach der noch zu interpretierenden Episodenfassung ‚Narr und Käse‘ und dem anschließenden Gewaltausbruch wird Isolde von Tristans Intrigenhelfer Tantrisel eröffnet, wer sich hinter der Narrenlarve verbirgt.696 Dass auch Isolde selbst zunächst zu den Intrigenopfern zählt, macht ihren Umgang mit dem unbekannten Narren aber derart heikel, dass sich Heinrichs Variante dieser Verkleidungsepisode auch hierdurch in bemerkenswerte Nähe zur schwankhaften Welt des unmoralischen Geschehens bei (Pseudo-)Konrad von Würzburg befindet. Bereits die erste Dialogpassage von Narr und Herrscherpaar ist ein intriganter Lachanlass. Auch jene Narrheit, über die König und Königin gemeinsam in volltönendes Gelächter ausbrechen, ist – perspektivabhängig – völliger Unsinn und reine Wahrheit: „piu piu! sol der eine kunic sin? er were kum ein kunegelin bi mir, als ich ein kunic bin!“ (Tr-H 5183–5185)
Töricht wirkt, wenn ein Narr im Gatten der Königin nicht den König erkennen will, und als anmassender Blödsinn muss schließlich erscheinen, wenn dieser in der Verniedlichung kunegelin dem Landesherrscher die Potenz abspricht, ein mit dem eigenen vergleichbares Königreich zu regieren. Als permanent hintergangener und just wieder ‚genaseweister’ Ehemann allerdings vermag Marke im Vergleich
bevor dann ein vom König zur Rede gestellter Tor seine Liebe zu Isolde bekennt („ich bin ir lieb ovn pflicht.“ Tr-E 9013). Der bei Ulrich vor die Königin getretene Narr hebt gleich so an: „sit irz, diu kuneginne? / mit hercen ich iuh minne. / vrouwe, ir dorftes iuch niht schamen. / ich were durh iuh in toren namen. / iuwer herze daz wol weiz” (Tr-U 2523–2527). 695 allachende sprach sie: / „gut man, der kunic sitzet alhie“ (Tr-H 5179f.). 696 daz kindel Tantrisel quam. / die kungin von im vernam, / daz diser torische man / waz ir amis her Tristan (Tr-H 5253–5256).
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mit seinem Neffen im Reich der Minne tatsächlich nichts. Auch die Königin lacht hierüber, und dieses Lachen mit dem unberechtigt souveränen Herrschergatten ist seinerseits vergnüglichst uneindeutig, weil das Publikum weiß, dass Isolde Tristan nicht erkennt. So bleibt der Lachanlass gedoppelt. Es wird ebenso über die höchst abwegige Hierarchieverkehrung von ahnungslosem König und respektlosem Narren gelacht wie darüber geschmunzelt werden kann, dass hier die Aussichtslosigkeit von Markes Gattenminne – von Tristan, vielleicht sogar auch von Isolde – verspottet wird. Das Gelächter des Herrscherpaares ruft die Hofgesellschaft auf den Plan und stellt damit für die folgenden Narrenpossen eine bezeugende Öffentlichkeit her, eine anonyme Hoföffentlichkeit zumal, die als allesamt Betrogene auch ‚geeignete‘ Adressaten für die Gewaltausbrüche eines falschen Narren in ihren Reihen hat, der sich zugleich für an ihm begangenen Verrat rächen kann. Bevor auch Heinrich von Freiberg diesen ersten Narrenauftritt in eine Eskalation von Gewaltakten münden lässt, erzählt er seine Variante davon, wie der Narr seinen mitgebrachten Käse traktiert:697 da greif er in die gugelen san und nam den kese in sine hant. der wille tore Tristant greif so grimmeclich dar in, daz im durch die vinger sin ran daz kese wazzer. sin toren rok wart nazzer vor dem herzen hin und her. (Tr-H 5190–5197)
Im Vergleich mit Ulrichs Variante sticht die Intensivierung der Motivik unmittelbar ins Auge: Der Käse wird in der Hand so martialisch zerquetscht, dass dessen Flüssigkeit – die Vitalsphäre der törichten Nahrungsvergeudung in die Minnemotivik verschiebend – den toren rok über Tristans Herz benetzt. Was als Torheitssimualtion
697 Bei Eilhart von Oberg ist der Käse des Narren bereits eine Art von Hofnarrenlohn für dessen Unterhaltsamkeit bei der Überfahrt nach Tintajol. Anstatt diesen aber an Bord des Schiffes zu verzehren, verwahrt Tristrant ihn sieben Tage und Nächte in seiner gugel (Tr-E 8980) als Geschenk für Isolde. Als diese die Ekelspeise verweigert, steckt der Narr ihr den Käse einfach in den Mund (vgl. Tr-E 9094–9108). Bei Ulrich von Türheim gehört der Käse bereits als Narrenattribut zum Verkleidungsrat Isoldes (ez zimet wol werden toren / […] einen kese in daz kabitz legn. Tr-U 2484–2487). Der Käse wird dann von Ulrichs Narr nach dem Liebesgeständnis und eigenem Verzehr unmotiviert als gut toren spise (Tr-U 2531) nach der Königin geworfen (Tr-U 2529–2531).
Nuancen im Varianten: der Tristan-Narr Heinrichs von Freiberg
gleichfalls die Tristanminne dissimuliert, oszilliert sogleich ins Erotische, wenn es im Fortgang der Textpassage vom Toren als Stereotyp des gierigen Fressers heißt: in den kese da beiz er in torischem sinne und warf der kuneginne einen bizzen gein dem munde. (Tr-H 5198–5201)
Die symbolische Mehrdeutigkeit dieser angemaßten Berührung der Lippen der Königin begründet in der Folge auch den nun unausweichlichen Gewaltausbruch von Seiten der Hofgesellschaft, die von einem König angeführt wird, der sich ohrenziehend als Erster an dem Narren rächt. Wieder ist die Mehrdeutigkeit bei Heinrich von Freiberg der ästhetische Grund für das Vergnügen an seinem Erzählen. Es wird uns ja nicht erzählt, worüber der König nun nicht mehr lachen kann: Ob er über die abermalige, nun aber deutlich gesteigerte Respektlosigkeit eines Narren gegenüber einer Königin in Zorn gerät oder über den Eifersuchtsanlass einer Tabuüberschreitung, den Mund der Königin mit etwas (Käse) berührt zu haben, das zuvor von der eigenen Hand völlig erweicht worden ist. Selbst die so motivierte Abstrafung und Separierung des Narren ‚missrät‘ zur Groteske, vermag doch der König durch das Ziehen an den Ohren nichts gegen einen Narren auszurichten, der nicht davor zurückschreckt, ihn mit seiner monströsen Keule niederzuschlagen.698 Das Ärgste verhütend, springt Antret nun für seinen König in die Bresche, wobei er von der Narrenkeule so unglücklich getroffen wird, dass er regelrecht betäubt zu Boden geht.699 So findet komischerweise Vergeltung im völlig Zufälligen statt, waz er [Antret] im [Tristan] […] hette leides ie getan, / daz mochte er nu gerochen han (Tr-H 5216–5218). Das Ganze gipfelt in völligem Chaos und haltloser Flucht der Hofgesellschaft vor einem Narrenmonster, das nun wahllos um sich zu schlagen droht. Auch hier zeigt sich: Es bedarf einzig eines solchen Narrenauftrittes, um die Labilität des Normalen auch an diesem Markehof sichtbar werden zu lassen. Die Gewalttätigkeit des Anomalen löscht eine Normalität aus, die durch ihre hierarchische Ordnung strukturiert war, nun aber in beängstigender Gleichheit nur noch
698 „Heinrich verschärft“, so Matejovski, „das in der Szene angelegte Konfliktpotential […], indem Marke direkt im Binnenraum des Hofes angegriffen wird. Gleichzeitig aber schafft er Gegengewichte und betont so das Beharrungsvermögen jener diskursiven Ordnung, die der rasende Narr zum Einsturz bringen will“ (Matejovski 1996, S. 230). So zustimmungswürdig diese Szeneneinschätzung erscheint, so unklar ist hier die Verlagerung des Beobachtungsblickpunkts auf die Diskursebene. 699 den [Antret] sluc er, daz er da belac, / unversunne und betoubet (Tr-H 5212f.).
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feige Fliehende kennt, die über einander stürzen.700 Damit hat sich schließlich das Narrenwort, Marke sei nicht einmal ein kunegelin, bewahrheitet, lässt er sich doch nicht nur am eigenen Hofe in die Flucht schlagen. Denn dass nun der falsche Narr regiert, kommt auch dadurch zum Ausdruck, dass dieser jetzt – ebenso plötzlich wie souverän – den Frieden diktiert: „nu sie vride!“ (Tr-H 5236). Ein Narr hat am Hof abermals die Macht übernommen und setzt den Gewalttätigkeiten ein Ende. Hiermit inszeniert Heinrich eine neuerliche Facette des Angriffes auf die höfische Ordnung, denn Tristan „übernimmt […] wieder einmal die Funktion Markes“701 – dieses Mal sogar in der Herrscherfunktion der Friedenswahrung.702 Hiermit wird die Verkehrung einer Verkehrung sichtbar, füllt doch simulierte Narrheit ein neuerliches Machtvakuum am Hofe eben nicht durch anarchy703 , sondern durch neuerlich gestiftete ‚Ordnung‘ aus. Hier zeigt sich in Marke als Herrscher eine fatale, weil durch Amtsgewalt institutionalisierte Schwachstelle höfischen Beharrungsvermögens gegenüber Einbrüchen des Anomalen. Damit wird an König Marke auch die Labilität des Hofes und damit die Eignung von „Narrenepisoden […], das Verhalten des Herrschers kritisch zu kommentieren,“704 veranschaulicht. Abermals reüssiert der simulationstalentierte Intrigant mit ambivalenter Gestik und mehrdeutigem Sprechakt, die für das Publikum umso deutlicher ins Obszöne spielen. Mit aufgerecktem Zeigefinger spricht der Narr zur Königin: „vruntel machen, vruntel machen!“ (Tr-H 5239). Die sich anschließende Abmilderung in die Sprachkomik des Infantilen („nymmer tun, nymmer tun!“ 5241) nimmt aber die sexuelle Anspielung nicht zurück, und der Erzähler verstrickt sich nun seinerseits mit einer an seine Figur gerichteten Interjektion ins Paradoxe. Sein ‚Lob der Torheit‘ Tristans stellt tadelnd dessen auch obszönes Talent nur noch deutlicher heraus: ey, suzer Rywalines sun, wie gar ir nu ein narre sit! ir habet doch alle uwer zit me starker lanzen verswant wan toren kolben in der hant getragen nach der narren site! (Tr-H 5242–5247) 700 sie vluhen alle von im da: / der kunic und die kunegin, / eines her, daz ander hin; / ritter und juncherren, / die minren und die meren, / vrowen und juncvrowen, / die mochte man da schowen / uber ein ander vallen (Tr-H 5220–5227). 701 Matejovski 1996, S. 228. 702 Vgl. ebd., S. 229; dort auch der Hinweis auf die Amtsfunktionen mittelalterlicher Kaiser und Könige. 703 McDonalds Deutung („The fool induces anarchy, showing himself to be the true sovereign.” Ders. 1988, S. 132) kann in diesem Szenenkontext nur eingeschränkte Gültigkeit beanspruchen. 704 Schausten 1999, S. 266. Zu weiteren Aspekten der Labilität Markes vgl. ebd., S. 266f.
Nuancen im Varianten: der Tristan-Narr Heinrichs von Freiberg
2.3.3 Die ‚Schläfer‘-Existenz des dissimulierten Liebhabers Ein zweiter Episodenabschnitt setzt ein, als Isolde von der Mitbetrogenen zur Mitwisserin von Tristans Verkleidungsauftritt geworden ist und sich das Verhältnis von neuerlich friedfertigem Narren und Hofgesellschaft dadurch verstetigt, dass diese ihn als regelrechten Hofnarren in ihrer Mitte ‚duldet‘. Während eine erste Erzählpartie der Etablierung des falschen Narren am Hof galt705 , steht die Verkleidungsintrige im Folgenden ganz im Dienst des Affektiven: der Rache etwa gegenüber Verräterfiguren wie dem Zwergen Melot und der heimlichen Liebe zu Isolde.706 Narrenrache
Im Folgenden wirft die Szenenanalyse nicht nur einen vergleichenden Blick auf die Erzählfassungen Eilharts von Oberg oder Ulrichs von Türheim, sondern auch darauf, dass bereits bei Heinrich von Freiberg durch Figurenkonstellation, Motivik und Handlungsfolge die Ästhetik der Erzählwelt etwa des schwankhaften Märes Von dem ritter mit der halben birn vorweggenommen wird. Ein erster Vergleichspunkt nicht nur mit dem Schwankhaften etwa bei (Pseudo-)Konrad von Würzburg ist in der Fokussierung von Speise- und Tafelkultur als repräsentativem Terrain von Normativität zu sehen.707 Das Torenstereotyp des gierigen Fressers, das auch bei Konrad gestaltet wird, ist bereits in der anspielungsreichen Szene mit dem Käse vorgekommen. Heinrich lässt den doch ebenso groben wie gewaltbereiten falschen Narren an der Hoftafel neben der Königin Platz nehmen.708 Die Duldung durch das Herrscherpaar und die Hofgesellschaft macht den neuen Status des anomalen Eindringlings deutlich, der fortan als Hofnarr seinen Platz in der Gesellschaftsmitte inne hat. Der Erzähler weist insbesondere die Duldsamkeit des Königs so figurencharakterisierend wie preiswürdig als sin gute (Tr-H 5274) aus.709 Insbesondere aber das Gewährenlassen des Narren an der königlichen Tafel, der ganz im Sinne der Rache Tristans agiert, setzt den König aber auch ins Zwielicht, dessen Toleranz gegenüber dem Anomalen andere Höflinge nachhaltig gefährdet.
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Vgl. Tr-H 5015–5262. Vgl. ebd., 5263–5306. Vgl. Pz 131,22–30. Der tore mit dem kolben sin / sich satzte zu der kunegin (Tr-U 5267f.). Die königliche Toleranz gegenüber dem vermeintlichen Narren hat bei Heinrich von Freiberg ebensowenig wie schon bei Ulrich von Türheim mit der vielbeschworenen Narrenfreiheit zu tun, „denn in der historischen Realität war diese Narrenfreiheit eng begrenzt, wo Herrschaftsinteressen berührt waren oder substantielle Ordnungsstörungen vorlagen“ (Matejovski 1996, S. 223).
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Dass sich der neuerliche Angriff auf die Normativität der Hofkultur bei Heinrich auch durch eine „Infiltration des höfischen Lebens mit Gewalt und Zügellosigkeit“, die sich „auch auf den Bereich des Essens“710 erstreckt, trifft, so von Matejovski pauschalisiert, nicht den Kern des bei Heinrich Erzählten. Als ‚infiltriert‘ kann immerhin die Sitzordnung gelten, ist doch neuerlich die Königin von Narr und König, und damit von Geliebtem und Gatten, als Tischherren flankiert.711 Als Ausdruck sich abzeichnender Unordnung, zu der auch andere als der Narr beitragen, kann ebenso angesehen werden, dass die Königin wider höfische Tischsitten dem Narren sogar das Brot vorschneidet.712 Das Einverleibungsmotiv geteilter Nahrung ist hier deutlich variiert. Aus dem kokett-aggressiven Narrenangebot, den geworfenen Käse zu verzehren, ist eine freiwillige Mahlgemeinschaft als Vorwegnahme erotischer Zweisamkeit geworden. In nun friedlichem Miteinander verschafft die Königin dem Narren königliche Tafelfreuden und dem Geliebten kulinarische Genüsse. Interpretationsstützend kann für die Speisemotivik als Vereinigungsvorwegnahme geltend gemacht werden, dass Heinrich zuvor Ordnungsverkehrung und Intrigenhandlung im motivlichen Kreuzungspunkt der Hoftafel enggeführt hat. Kaum sitzen die gekrönten Häupter zu Tisch, entdeckt Tantrisel Isolde die wahre Identität des simulierenden Narren. Dem gemeinsamen Mahl geht voraus, dass die suze kuneginne kluc / begonde in minneclichen an sehen […] (Tr-H 5258f.). Dass dies alles die Duldung des Königs findet, hat darin seinen Grund, dass dieser als Intrigenopfer im öffentlichen Nahrungstausch der ehebrecherischen Geliebten einzig unhöfische Fressgier als glaubhafte Narrheit erkennt: […] die suze Ysot, / […] leget im vor manch gut mursiel, / die stiez er torischen in den triel (Tr-H 5277–5280). Abermals stiftet Perspektivität Prekär-Pikantes, denn der unbeherrschte Fresser zelebriert an der Tafel eben auch eine fehlende Affektkontrolle bei der Einverleibung von Speisen, die zwar zur Rollensimulation gehört, gleichermaßen aber auch bereits auf die untugendhafte Minneerfüllung der Intriganten verweist. Der Motivkomplex aus Essen und Erotik wird aber jäh von anders gerichtetem Kontrollverlust über Affektives überlagert, als Tristan den verhassten Zwerg Melot vor sich sieht. Die Nahrungsmotivik als Normbruch von Tischsitten und Umgangsformen gegenüber der Königin geht nun in die Rache- und Gewaltmotivik über. Wie der zerquetschte
710 Ebd., S. 229. 711 der kunic […] saz / mit der kunegin und az. / der tore […] sich satzte zu der kunegin (Tr-H 5265–5268). 712 und sie, die blunde kunegin, / sins herzen trut, die suze Ysot, / die sneit im underwilen brot / und leget im vor manch gut mursiel (Tr-U 5276–5279). Auch hier gründet der Reiz der Szene im Perspektivischen: Während ein ahnungsloser König immerhin das Treiben des Narren duldet, wendet sich die Königin dem falschen Narren als Tischnachbarn zu, in dem sie längst ihren Geliebten erkannt hat. Vgl. Tr-U 5258–5262: die suze kuneginne kluc / begonde in minnenclichen an sehen / und mit ir spielenden ougen brehen / tet sie kunt Tristande, / daz sie in wol erkande.
Nuancen im Varianten: der Tristan-Narr Heinrichs von Freiberg
und schließlich auf die Königin geworfene Käse wird nun eine Pfeffersoße zum Intrigeninstrument, allerdings nicht zur Dissimulation der Minne, die die Berührung der Geliebten als Gewaltausbruch kaschiert, sondern als Waffe eines als närrische Tollheit verhüllten Racheaktes, der auf Meloth pitit von Aquitan, / daz vervluhte gethwerc (Tr-H 5282) abzielt. Beim bloßen Anblick dieser Verräterfigur sinnt Tristan einzig darauf, wie er gevugete im smerzen (Tr-H 5286). Die Drastik der folgenden Szene überbietet auch das von Ulrich von Türheim Erzählte.713 An der königlichen Tafel wird Wildbret mit eben jener heißen Pfeffersoße gereicht, die der falsche Narr ohne Intrigenkunst („weninges mennel, suf ouch du!“ Tr-H 5294) dem Gehassten so ins Gesicht schüttet, dass sin ougen im verbrunnen, / daz si uz dem kopfe im runnen (Tr-H 5297f.). Der Rachesadismus hat über die Verstümmelung des Gegners hinaus die erwünschten Folgen: die Genugtuung des Rächers und die Verstärkung der Narrheitsillusion insbesondere einem König gegenüber, der selbst einen Narren gewähren lässt, dessen ungevuc (Tr-H 5305) andere das Augenlicht kostet. Die Labilisierung der Hofnormalität gewinnt, um einen Hofnarren ‚bereichert‘, an Drastik. Was als Charakternaivität oder Herrscherqualität gelten soll, wird durch einen eigenen Erzählerkommentar zusätzlich betont.714 Gegenintriganten wie Melot und Antret treffen als „potentielle Störer des verbotenen Liebesglücks“715 passende Körperstrafen (Blindheit und Taubheit), die abermaligen Verrat verunmöglichen. Die Verschränkung von Narrheitssimulation und Rächerdissimulation macht auch diese Erzähleräußerung fragwürdig: Identifiziert sich hier der Erzähler mit der ‚angemessenen‘ Duldung eines nicht rechtsfähigen Narren und mit der groben, aber ‚gerechten‘ Misshandlung einer Unperson oder ironisiert er hier vielmehr einen doppelten Mangel an potentia, wenn sich König und Gatte vornehmlich durch die Passivität des Duldens auszeichnen? Minne-Narr(en)
Den Übergang zur Minnepartie dieses Verkleidungsabenteuers gestaltet Heinrich von Freiberg ohne Motivationsaufwand. Nach dem Speisen verlangt es den König schlicht danach, zur Jagd auszureiten.716 Auch hier lassen hochadeliges Recht und
713 Bei Ulrich von Türheim gerät die rachemotivierte Gewalt ins Groteske: Melot man kume ernerte: / da er vur den tore gie, / bi einem beine er in vie / unde trugez uber den hof hin (Tr-U 2568–2571). 714 dem kunege ich daz prise, / daz er disen ungevuc / im durch sine torheit vertruc (Tr-H 5304–5306). 715 Vgl. Matejovski 1996, S. 230f. 716 Nachdem Ulrichs Tristan-Narr Melot ein Auge ausgeschlagen hat, womit er der Königin Freude, dem König Verdruss bereitet, ist es umso erstaunlicher, dass Marke – so ‚unmotiviert‘ – zur Jagd aufbricht (Tr-U 2650–2659). Die Abwesenheit des Königs soll nach dessen eigenem Willen vierzehn
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gleichsam standesgemäßes Vergnügen den zurückweichenden Gatten717 dadurch zum unbewussten Intrigenhelfer werden, dass sich der prominenteste Hinderungsgrund des Ehebruches nicht nur selbst aus dem Weg schafft, sondern seiner Gattin über den Hof hinaus auch den Narren in Obhut gibt.718 Dass herrscherliche Hoffürsorge und unbeabsichtigtes Zuarbeiten als Intrigenhelfer bei König Marke derselben Handlung entspringen, gründet hier abermals in der Perspektivität des Geschehens. So ‚sinnvoll‘ es nämlich für einen abwesenden König erscheinen mag, die schier unberechenbare Torheit des Hofnarren der Königin anzuempfehlen, um weiteren Schaden an Hof und Höflingen zu verhüten, so ‚widersinnig‘ ist es für einen betrogenen Ehemann, der betrügerischen Gattin Dank in Aussicht zu stellen, wenn sie sich um den heimlichen Liebhaber kümmere. Auch dieses Szenendetail rückt vor Augen, wie eng Vernunft und Wahnsinn beieinander liegen und zeigt das unhintergehbare Dilemma perspektivbeschränkter Figuren, deren Handlungen innerhalb der geschlossenen Horizonte ihres Wissens Sinnvolles, außerhalb derselben aber genau Gegenteiliges bewirken. Das Motiv, dass der betrogene Ehemann seiner Frau den Geliebten selbst zuführt, begegnet bereits im Romantorso Gottfrieds von Straßburg.719 In dem noch eingehender auf seine labile Normalität hin zu analysierenden Märe Von dem ritter mit der halben birn findet sich eine weitere Parallele zum Text Heinrichs von Freiberg. Die in der Abwesenheit des Königs vollführten Narreteien sind für den Erzähler
Tage dauern, worin Matejovski eine „Form der temporären Abdankung“ sieht (Matejovski 1996, S. 220). 717 Schausten hat das Verhalten Markes, „[w]ann immer es möglich ist, […] die direkte Konfrontation mit den Liebenden“ (Schausten 1999, S. 266) zu vermeiden, und die „durchaus ambivalente Inszenierung König Markes“ (ebd., S. 267) aufgefasst als „eine Erzählstrategie im Text, deren Funktion darin besteht, den in der Tristangeschichte angelegten Konflikt zwischen Liebenden und Gesellschaft einzudämmen“ (ebd.). 718 Nach dem Speisen erklärt der König gegenüber der Königin, sich auf die Jagd begeben zu wollen und nicht vor Ablauf von acht Tagen zurückzukehren. Für die Zeit seiner Abwesenheit gibt er ihr folgende – ungeahnt brisante – Anweisung: „[…] werbet hie heime unsern vrumen / und pfleget mir des toren wol, / daz ich ymmer dienen sol” (Tr-H 5312–5314). 719 Bei Gottfried von Straßburg kann Isolde Marke nach etlichen Aufwallungen seines Argwohns schließlich erneut von ihrer und Tristans Unschuld überzeugen. Die Versöhnung des Ehepaares, mithin das neue Vertrauen des Gatten, findet eben darin seinen Ausdruck, nach Tristan zu schicken und diesem die Königsgattin in Obhut zu geben: hie mite wart Tristan besant / unde der arcwân zehant / gar hin geleit ze guote / mit lûterlîchem muote. / Îsôt wart aber Tristande / von hande ze hande / bevolhen wider in sîne pflege (Tr-G 15029–15035). Auch Gottfried hält diese königlich sanktionierte Zuwendung des Neffen zur eigenen Gattin zunächst im Mehrdeutigen: der pflag ir aber alle wege / mit huote und mit râte (Tr-G 15036f.). Dass auch hier der Betrogene (Marke) missbräuchlich zum Intrigenhelfer geworden ist, verdeutlicht dann aber das Folgende unverhohlen: Tristan und sîn vrouwe Îsôt / diu lebeten aber liebe unde wol. / ir beider wunne diu was vol. / sus was in aber ein wunschleben / nâch ir ungemüete geben (Tr-G 15040–15045).
Nuancen im Varianten: der Tristan-Narr Heinrichs von Freiberg
mit rede und mit geberden (Tr-H 5317) so ausufernd, dass einzig die Topik des Unvermögens dies anzudeuten vermag.720 Ebenfalls topisch, nun aber die Verführbarkeit der Frau thematisierend, ist es sowohl hier als auch im Schwankhaften eben die Hofdame, die für die Unterhaltsamkeit des Narren besonders empfänglich ist. Es ist allenthalben die Empfänglichkeit (den minnenclichen wiben; Tr-H 5320) für das Erzählen (mit nerrischem munde; 5322), die Verführung durch das Fiktive, von der hier wie dort heiter erzählt wird.721 Allerdings bedroht der misogyne Topos weiblicher curiositas neuerlich das Simulationsgelingen des falschen Narren. Von Hofdamen bedrängt, doch seine Identität, seinen Namen, preiszugeben, ersinnt Tristan abermals ein Sprachspiel, als „anagrammatische[] Täuschung[] und […] Rätsel-Motivik“722 wieder auf Gottfrieds Tristan verweisend, das wiederum Simulation und Dissimulation gleichermaßen dient: „[…] ich heize Peilnetosy / und bin Ysoten liep da bi“ (Tr-H 5327f.). Während der von hinten zu lesende Eigenname für törichte Hofdamen keinen Sinn ergibt („der name dir wol mezic ist […]“; Tr-H 5330), birgt das Namenrätsel die Wahrheit, der Liebste der klugen Königin zu sein. Da das Namenspiel aber der Geliebten gefällt, kann auch der Narrenname intrigant fungieren: als scheinbar sinnlose Lautfolge zur Bezeichnung eines Irrsinnigen und gleichzeitig als scherzhafter Kosename für den Geliebten.723 Der tiefere Sinn dieses von seinem Dissimulationsaufwand her unsinnig wirkenden Namenrätsels enthüllt sich dann, wenn die Nacht gekommen ist, der Narr vor der königlichen Kemenate auf seinem Stroh lagert und Heinrichs Variante parodierten Minnesangs zu Gehör bringt.724 Auch dieser tönende Minne-Narr singt laut und brüllt wie in der Fassung Ulrichs von Türheim.725 Heinrich von Freiberg 720 […] daz enmochte uf der erden / nyman vollen schriben (Tr-H 5318f.). 721 In (Pseudo-)Konrads Märe Die halbe Birne geht der geschilderten Sexualobsession der bigotten Prinzessin eine Erzählsituation voraus, die die Hemmschwelle eigenen Kontrollverlustes über das Affektive vorbereitend absenkt. Der falsche Narr treibt seine unterhaltsamen Tollheiten bis zum Abend des Liebesvollzuges: diz treib er unz ûf eine naht, / dâ diu maget vil geslaht / bî ir juncfrouwen saz / und ir swære gar vergaz / bî einem schœnen fiure / mit maniger âventiure (HB-K 221–226). 722 Matejovski 1996, S. 232. 723 der kuneginne lobesam / begonde liben der nam, / mit schympfe waz sie dem toren bi / und nante in ot Peilnetosi (Tr-H 5337–5340). 724 Zur Motivik des singenden Narren bei Ulrich vgl. Tr-U 2640–2649. 725 Bei Ulrich von Türheim wird die figurenspezifische Rezeption des närrischen Minnesangs von Tristan ihrerseits zu einem Kulminationspunkt von Perspektivität, die als Fokalisierung Unvereinbares mit demselben Wahrnehmungsgegenstand (‚Narrengesang‘) verbindet: Tristan lac unde sanc / einen torlichen clanc (Tr-U 2629f.). Während der Erzähler Tristans wise als ästhetischen Unfug kenntlich macht, ist diese in den Ohren der Geliebten Isolde als – ironischer – Ausdruck von Tristans Liebe und als Ausblick auf den Vollzug derselben in den ‚richtigen‘ Ohren betörend wohlklingend: die kuneginne stunt ob im: / „harte gerne ich vernim / diese toren wise. […] ich wene, tore gesanc nie baz“ (Tr-U 2631–2636). Was für Isolde süßester Gesang ist, muss für Marke
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hat dieser Abart des Minnesangs eines Narren, der statt eines Musikinstruments sinen kolben (Tr-H 5351) zärtlich traktiert, dadurch eine weitere Komikfacette zukommen lassen, dass er die torische[] wise (Tr-H 5356) als wörtliche Figurenrede wiedergibt: „Tosy, Tosy, Tosy, Tosy!“ (Tr-H 5360). Für dieses Namenrätsel ist das Entschlüsseln eines scheinbar abermaligen kakophonischen Unsinns sowohl auf Figuren- (Isolde) als auch auf Rezipientenebene bereits eingeübt.726 Erneut schafft der Perspektivenwechsel (Un-)Sinn, denn von Isolde sogleich rückwärts gelesen, nimmt sich das vermeintlich sinnfreie Narrengebrüll als Ruf nach der Geliebten aus. „Diese hermeneutischen Fähigkeiten bilden die Grundlage“, so Matejovski, „für die geheime Kommunikation der beiden Liebenden, wie sie modellhaft in der Gesangsszene vor der Kemenate entfaltet wird.“727 Es ist aber nicht wischeit (Tr-H 5369) in einem ausschließlich intellektuellen Sinne, durch die Isolde die Sprachspiele zu enträtseln vermag, heißt es doch in irme herzen sie daz mas, / waz bediute diz wort (Tr-H 5364f.). Mit dieser Hermeneutik des Herzens erschließt sich dann nicht nur der Literalsinn der Lautfolge (‚Ysot‘), sondern auch die Illokution des närrischen Sprechaktes als Lockruf des Geliebten, den eine ebenso herzenskluge wie pragmatische Geliebte unmittelbar umzusetzen weiß: „wol uf, wir sulen slafen gan!“ (Tr-H 5372). Das Gottfried-Motiv „des verstellten Namens“728 ist nun seinerseits sowohl intrigenästhetisch als auch hinsichtlich der Labilität des Markehofes aufschlussreich: „Indem alle Regelverstöße und Entmachtungstaktiken des simulierenden Tristan um eine semantische Verkehrung erweitert werden, setzt sich Tristan dem Instrumentarium einer deutenden Vernunft aus.“729 Hiermit wird die Desavouierung von Simulation und Dissimulation nicht nur zu einer Frage normativer Stabilität, sondern auch des Intellektes derjenigen, die höfische Kultiviertheit verkörpern.730
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unerträgliches Narrengebrüll sein: der tore tet, als toren tunt: / er begunde lute singen. / sin stimme unsuze clingen. / nieman wiste, was er sanc (Tr-U 2640–2644). Zudem finden sich derartige Sprachspielereien nicht nur bei Gottfried, sondern sind auch in Heinrichs Text selbst zuvor bereits gängige Motive. So ist „die Zweideutigkeit des Namens ‚Isolde‘“ (Schausten 1996, S. 258) bereits vertraute Amiguisierungspraxis Tristans. Sprachliche Intrigenkompetenz zeigt sich „im bewußt manipulativen Umgang mit Sprache […] aber besonders in denjenigen Episoden, in denen Isolde ihren Ehemann Marke hintergeht“ (ebd.). Matejovski 1996, S. 232. Ebd. Ebd., S. 233. In diesem Zusammenhang spricht Matejovski auch davon, durch ein derartiges Vernunftsmotiv würden „[d]ie Alterität und damit die eigentliche Bedrohlichkeit des gespielten Wahnsinns […] tendenziell neutralisiert, indem dem ursurpatorischen Potential des Narren das Beharrungsvermögen der Institution Hof, der anarchischen Entfesselung des Körpers und der Gewalt das logische Kalkül des Pragmatismus und der kommunikativen Isolation des Irren die Ordnungssysteme von Emotion und Intellekt entgegengestellt“ (Matejovski 1996, S. 233) würden. Von Neutralisation kann schlichtweg nicht die Rede sein, wird doch lediglich ein zusätzliches Spannungsmoment
Nuancen im Varianten: der Tristan-Narr Heinrichs von Freiberg
Die in ihrer Verkürzung komische Replik einer Minnedame auf ebenso grotesken Minnesang hat nun in der Vagheit, an wen sie eigentlich adressiert ist, eine derb-schwankhafte und eine intrigenstrategische Lesart. Dass Letztere die ‚richtige‘ ist, erfährt das Publikum, weil Isoldes Befehl zur Nachtruhe ihr noch nicht den Geliebten, wohl aber in Brangane eine willfährige Intrigenhelferin verschafft. Hiermit hat Heinrich von Freiberg ein ästhetisches Analogon zur Anagnorisisdrohung des Intrigengeschehens geschaffen: Der literarische Genuss besteht auch hier – wie in der Liebe – in dem unerwarteten Aufschieben dessen, was erwartet wird. Hier wird nicht die Desavouierung der Intriganten, wohl aber die mit Spannung erwartete Schilderung ihrer Liebeserfüllung ‚aufgeschoben‘. Da der Gatte abwesend und der Narr bereits vor der Kemenatentür ist, hat das Intermezzo von Isolde und Brangane auf der Handlungsebene der Intrige keine Funktion, mit Blick auf ein voyeurhaftes Publikum wohl aber die beschriebene ästhetische. Und in seiner Vorgängigkeit beziehungslos zu späterem Schwankerzählen stellt sich so eine abermalige Vergleichbarkeit ein: Auch bei Heinrich von Freiberg muss einer noch uneingeweihten Zofe das Ansinnen ihrer Herrin, „er muz min bette geselle sin“ (Tr-H 5390), als eine Ungeheuerlichkeit („pfuch!“ 5391) erscheinen, die abermals dem Perspektivischen entstammt und daran hängt, ob der Königin von der Zofe der Narr oder der Geliebte („[…] Tristant […] nennet sich Peilnetosy“; 5400–5402) zugeführt wird. Für den ästhetischen Reiz, den Minnevollzug zunächst nochmals ‚vorenthalten‘ bekommen zu haben, ‚entschädigt‘ Heinrich von Freiberg mit einer ebenso anrührenden wie konkreten Liebesschilderung, die so weder bei Eilhart von Oberg noch bei Ulrich von Türheim vorkommt.731 Der Austausch von Zärtlichkeiten setzt bereits ein, als Brangane noch zugegen ist und hyperbolische Vagheit des Erzählers den Blick auf das Liebespaar nicht verstellt, ohne nochmals an die Intrigenperspektivität seines Verkleidungsabenteuers zu erinnern:
eingeführt, das die Intrigenästhetik durch Komplexitätssteigerung erweitert und mehr Möglichkeiten sowohl für Anagnorisismomente als auch für deren Verschiebungen schafft. Zudem weist ja Matejovski zurecht (selbst) darauf hin (1996, S. 232), dass Tristans Verrätselungsmotivik in Isolde eine ‚hermeneutische Kompetenz‘ korreliere, die die Kommunikation der Intriganten eben ermögliche und Tristan aus seiner angeblichen ‚kommunikativen Isolation‘ herauslöse. 731 Die Schilderung des Täuschungsbetruges, tagsüber als Hofnarr zu agieren und nachts das Liebesglück mit der Königin zu genießen, ist bei Eilhart von Oberg völlig der Imagination des Publikums überlassen. Sein Schildern erschöpft sich in eben jenem Hinweis auf die intrigant-pikante Doppelrolle des Protagonisten: Nun waß dem toren gar wol: / den tag waß er torhait vol, / deß nachtß er zuo der frowen kam. / also ward im do getavn / bayden spaut und fruo. / guot fuog hett er dar zuo, / so daß eß niemen west. / er schuoff do mit siner list, / daß er sinen willen / verholn und gar stille / mocht mit der frowen havn. / do so wauren vergavn / drÿ wochen […] / da wurden sin zuo hand gewar / zwen kemerere (Tr-E 9134–9149). Im Gegensatz hierzu lässt Ulrich von Türheim seinen Erzähler die Liebeserfüllung des Protagonistenpaares ausführen. Hierauf wird noch detailierter Bezug genommen (vgl. Tr-U 2661–2688).
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ouch mak ich wol sprechen, daz nie wiser man noch tore baz von liebe wart enphangen. (Tr-H 5413–5415)
Heinrichs Erzähler belässt es aber nicht wie Eilhart von Oberg bei bloßer Stimulation einer Publikumsimagination, sondern bietet Liebeserfüllung vielmehr als ein beobachtbares episches Geschehen. Zudem wird geschilderte Sexualität auch bei Ulrich von Türheim nicht in einem Erzählermonolog als Minneallegorie dämonisiert.732 Heinrichs Liebesszene von Tristan und Isolde als Narr und Königin kommt ohne metaphorisches Dekor aus und gleitet in ihrer schieren Schmucklosigkeit nie ins Obszöne ab: ir rosen varben wangen die dructe sie an die sinen und iren munt den phinen, glantz, viwer var und rot, zn tusent malen sie im bot, die suze blunde kunigin, und vurte in an daz bete hin. (Tr-H 5416–5422)
Nach einer topischen Wahrheitsbeteuerung (ouch mak ich wol sprechen; Tr-H 5413) ist Heinrichs Erzähler bereits völlig hinter sein Erzählgut zurückgetreten. Es ist
732 Vgl. Tr-U 2671–2688. Die dargestellten Liebeswonnen (die minne tet in beiden wol; Tr-U 2670) bleiben ein Agglomerat des Paradoxen, bleiben Widerstreit der Gefühle: der Hochgenuss einer fluchhaft alternativlosen Ohnmacht, die neuerliches Schuldigwerden erzwingt. Die performative Einlassung von Erzähler und Frau Minne zeitigt bei Ulrich vor allem eine weitere Ohnmacht, die ihrerseits eine unterhaltsame Absolution mit sich bringt: Als ohnmächtig erweist sich hier doch gerade eine Erzählerfigur, deren stoßgebethafte Fürbitte bei der Minneallegorie auch die Lizensierung dafür schafft, erstens eine ehebrecherische Liebe als sexuelle Erfüllung zu schildern und zweitens als Erzählinstanz für das Problem des Fortbestehens dieses ‚gestohlenen‘ Liebesglückes keine ästhetische Lösung anbieten zu können. Die ‚performative‘ Präsenz von Ulrichs Erzähler hält dem Publikum folglich zeitgleich die bannende Erlösungsmacht der Minne und das damit unausweichlich verbundene Verhängnis der Liebenden vor Augen: in dime gebot si ligent da, / da in mac misselingen, / dune wellest in helfe bringen (Tr-U 2678–2680). Dass hier die Verantwortung des Geschehens wie des Erzählens an die Macht der Minne abgegeben wird, ist ebenfalls paradox, weil gleichsam komisch und bitter. Denn wie könnte die vom Erzähler so eindringlich erflehte Erlösung der Liebenden durch die Minne aussehen? Auch deren Allmachtsinstanz muss sich hier aber als Ohnmacht erweisen, da sie den verbotenerweise Liebenden – Liebe gewährend wie vereitelnd – letztlich einzig Unglück zu gewähren vermag.
Nuancen im Varianten: der Tristan-Narr Heinrichs von Freiberg
nun das Publikum selbst, das die epische Realität einer Liebesnacht unvermittelt beobachten kann, um die unabweisbare Liebesmacht anhand der sinnlichen Vorzüglichkeiten von Isolde vorgeführt zu bekommen. Das Publikum darf sich durch die Raffinesse der Fokalisierung jedoch in einem nicht täuschen lassen: Die Liebesnacht von Narr und Königin ist als eine Verführungsszene komponiert, in der Isolde – auch ein markanter Unterschied zur Liebesnacht bei Ulrich von Türheim – völlig die Initiative und die Führung übernimmt. Während bei Ulrich die erotischen Wirkungsabstrakta immer auf beide Liebenden bezogen sind, schildert Heinrich zunächst, wie Isolde Brangane auffordert, den Narren in ihre Kemenate zu führen, und ihrem Hoffräulein dann seine wahre Identität entdeckt, bevor sie noch in deren Gegenwart Tristans Hand nimmt, um ihn selbst ins Schlafgemach zu geleiten. Dann tritt Isolde auf den Geliebten zu, umarmt ihn liebevoll, schmiegt ihre Wangen an die seinen, bietet ihren Mund abertausendmal zum Kusse dar und führt ihn schließlich zur Bettstatt. Erst wenn Brangane endlich den Raum verlassen muss und Heinrichs Erzähler den Darstellungsmodus aus dem Konkreten in Imaginationsimpulse für die Publikumsphantasie (nu pflegen, wes sie wellen, / der libe Tristan und die libe Ysot. Tr-H 5430f.) überführt, werden Liebesaktivität und Liebeswonnen quasi hinter dem Schleier des andeutenden Nicht-Erzählens endlich wechselseitig. Überdies sind hier zwei Strukturanalogien anzuführen. Was so verführter Narr und Publikumsblick vor dem Liebestod nicht wahrnehmen können, ist vor dessen Schilderung die punktgenaue Verkehrung jener Folge von Liebkosungen (Umfangen, Wangenschmiegen, Küssen), mit denen sich Isolde dem toten Geliebten zuwendet: […] und viel uf in und aber san dructe sie an der selben stunt iren munt an sinen munt, ire wangen an die wangen sin, und ir blanken arme fin den toten umbe vingen. (Tr-H 6562–6567)
Die zunächst völlige Passivität des Liebes-Narren Tristan, die er mit seiner Tölpelrolle erst ablegt, wenn die Liebesnacht keine Zeugin (Brangane) mehr hat, weist bereits die Potentialität zur Verkehrungsparodie von Männlichkeits- und Weiblichkeitsklischees, von Aktivität und Passivität, auf, wie sie dann in der Schwankdichtung der Halben Birne zu homophober Drastik gesteigert werden wird. Heinrich von Freiberg gelingt eine Liebesschilderung, die, mit keiner anderen Tristan-Fassung vergleichbar, die Übermacht der Minne dadurch vorführt und
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nachvollziehbar macht, dass ihr gegenüber alles andere in den Hintergrund tritt: der Erzähler sowie andere Zeugen auf der Figurenebene und damit auch jede verschleiernde Ästhetik, didaktische Kommentare oder Sentenzen über eine unmoralische Liebe. Und selbst wenn sich Heinrichs Erzähler schließlich wieder in Erinnerung ruft, tritt er nicht wie bei Ulrich von Türheim als flehender Bedenkenträger, sondern als vermeintlicher Glücksgarant auf, der an die so barbarisch wie wirkungsvoll unschädlich gemachten einstigen verräterischen Zeugen Antret und Melot erinnert.733 Lediglich im Indirekten, in der expliziten Unschädlichkeit derer, die den Liebenden verräterisch nach Schaden trachten, liegt über dem Liebesvollzug bei Heinrich der ferne Schatten des Bedrohlichen. Dadurch, dass der Konflikt zwischen Minne und Ehe und damit zwischen Liebe und Gesellschaft bei Heinrich situativ völlig von der Minneästhetik überblendet erscheint, wird abermals insgesamt das Reibungspotential seiner Fortsetzungsfassung fasslich, das er schließlich, umso nachhaltiger, von seiner Epilogrhetorik einzuholen versucht. Das Ende der Tristan-Fassung Heinrichs von Freiberg734 ist auch deshalb von besonderer Deutungsrelevanz, da er „die Gestaltung der Erzählerfigur und des Schlusses seiner Tristangeschichte dazu genutzt hat, der gesamten Erzählung eine übergreifende Ebene hinzuzufügen, die es ermöglicht, abschließend eine völlig andere Perspektive auf das geschilderte Geschehen zu werfen.“735 Auch bei Heinrich ist König Marke der Garant idealen Totengedenkens, lässt er die toten Liebenden doch auch in Särgen von edelem mermel steine (Tr-H 6787) bestatten, stiftet als Bestattungsort das Kloster zu sente Merien stern (6808) und begibt sich überdies selbst, aller Herrscherwürden und -bürden ledig736 , in eben dieses Kloster.737 Damit hat Heinrich in didaktisch positivem Sinne schließlich ein Exemplum narrativiert, denn die „Weltabsage des Königs wird dann abschließend vom Erzähler im Epilog ausdrücklich als die einzig richtige Reaktion auf das Gehörte wie Gelesene ausgewiesen.“738 Über den Gräbern von Tristan und Isolde lässt auch Heinrich Rosen- und Rebstock wachsen.739 Noch in den Toten wirkt der Minnetrank fort. Denn Rosen- und Rebstock wurzeln nicht nur in den Herzen der Toten, sondern umschlingen sich
733 der eine ist toup, der andere ist blint. / Tristan und Ysot nu sint / ane vorchte und ane var, / nyman ir tougen nimet nu war (Tr-H 5435–5438). 734 Zum Erzählungsende bei Heinrich vgl. Rüther 2018, S. 223–230. 735 Schausten 1999, S. 269. 736 kunic Marke sich selbe dar in / begab, und Curnevale / gap er da Curnewale / daz kunicriche und Engenlant, / die beide Cirvenales hant / dinten untz an sinen tot (Tr-H 6812–6817). 737 Zur „Weltabsage des Königs“ vgl. Schausten 1999, S. 273f. 738 Ebd., S. 274. 739 uf Tristan den werden / liez der kunic zu erkorn / pelzen einen rosen dorn, / Marke, der sich da het begeben. / und einen grunen winreben / liez er uf Ysoten / pelzen (Tr-H 6822–6828).
Nuancen im Varianten: der Tristan-Narr Heinrichs von Freiberg
auch über den Gräbern.740 Zwar folgt nun auch bei Heinrich eine Quellenberufung, die aber nicht wie bei Ulrich distanzierend, sondern eher topisch-identifizierend ausfällt. Was Spiewok bereits in Ulrichs Schlussversen gelesen hat, ist bei Heinrich als plakative Didaxe expliziert: Nu dar, ir werlde minner, sehet alle in disen spigel her, und schowet, wie in aller vrist hin slichende und genclich ist die werltiche minne! (Tr-H 6847–6851)
Im Spiegel derartiger Negativdidaxe bleibt wenig interpretatorischer Spielraum741 , zumal wenn es imperativisch heißt: wir cristen sulen minnen Crist (Tr-H 6860). Bei Ulrich werden Rosenstock und Rebe als Indizien für irdische Liebe über den Tod hinaus gedeutet.742 Damit geht das Erzählgut, das in christlicher Heilshoffnung eine Art von Minneutopie andeutet, selbst in Allegorese auf. Heinrich wartet mit noch stärker christlich akzentuierter Blickrichtung auf. Von Christus höchst selbst stamme die Deutung dieser Blüte des Rosenstockes. Die blühenden Rosendornen stehen nun für die Wundmale Christi (der di rosen roten truc; Tr-H 6866), der Weinstock, der nach dem Wort Christi („Ich bin der Weinstock, ihr die Rebzweige.“ Joh 15,1) aus ihm selbst sprießt, für die Gläubigen. Aus der Einheit mit Christus erwächst dem Menschen die Frucht von sin und vernunft (Tr-H 6876). In Heinrichs Allegorese kulminiert schließlich das Bild der verschlungenen Rosen und Reben zu einer neuerlichen Einheit, denn es soll Gott selbst sein, der sich in das Verschlungensein von Christus und Christenheit vlechten (Tr-H 6878) lässt. So betrachtet stehen Rosen- und Weinstock über den Gräbern von Isolde und Tristan bei Heinrich weder für weltlich-vergängliche noch für himmlischewige Liebe, sondern sind christlich-kategorischer Imperativ. Der Konflikt von Individuum und Gesellschaft soll dadurch ausgesöhnt werden, dass sie als ein Leib mit vielen Gliedern nicht in der Liebe, sondern im Herrn eins werden. Werden
740 […] den zwein toten / geliben edele und hochgeborn / der winrebe und der rosen dorn / wurtzelten schone an der stunt / iglichem in sins herzen grunt, / da noch der glunde minne tranc / in den toten herzen ranc / und sin art erzeigete (Tr-H 6828–6835). 741 Vgl. Schausten 1999, S. 274; ferner Peter Strohschneider: Gotfrit-Fortsetzungen. Tristans Ende im 13. Jahrhundert und die Möglichkeiten nachklassischer Epik. In: DVjs 65 (1990), S. 70–98, hier S. 92; Peter K. Stein: Tristan. In: Epische Stoffe des Mittelalters. Hrsg. von Volker Mertens und Ulrich Müller. Stuttgart 1984, S. 365–394, hier S. 375; Deighton 1979, S. 291. 742 Ysot unde Tristan / dannoch minne phlegen, / da si in der erde legen. / nu vernement, in welher aht: / die rose unde die rebe sich vlaht / zesamen inder erden (Tr-U 3608–3613).
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weitere Christus-Worte zur Weinstockbildlichkeit herangezogen, kommt gegenüber dem Anomalen, dem Normwidrigen oder Irregulären auch Pragmatisches in den Blick. „Eine jede Rebe an mir, die keine Frucht bringt, wird er wegnehmen. Wer nicht in mir bleibt, der wird weggeworfen wie eine Rebe und verdorrt, und man sammelt sie und wirft sie ins Feuer“ (Joh 15,2–6). Vor diesem Deutungshorizont schließt Heinrichs Fortsetzung weniger mit Versöhnlichem als mit einer Drohung, die allen Zweiflern eingebrannt bleibe: nu sprechet amen, amen, amen! (Tr-H 6890). Vor allem bei Heinrich von Freiberg wird deutlich, dass den Fortsetzungen in den Werkschlüssen „der Versuch anzumerken ist, literarische Komplexität mit ihrer Weise des Weitererzählens einzugrenzen.“743 Andererseits bestätigen im Sinne Strohschneiders und Schaustens gerade auch die unterschiedlich nuancierten Narrenepisoden das jeweilige Allegorisierungspotential der Narrheit. Die Divergenz der Werkschlussfolgerungen im Epiloghaften zeigt an, dass das Anliegen der sogenannten Fortsetzer über ein bloßes Abschließenwollen des Gottfried‘schen Torsos weit hinausgeht.744
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Narrheit und Ästhetik bei Eilhart, Ulrich und Heinrich
Allenthalben ist auch Trist(r)an(t)s Wiederkehr als Narr an den Hof Markes und somit zur fatal geliebten Königsgattin eine Verkleidungs- und Verstellungsgeschichte, deren Gestaltungswiederholungen, -nuancen und –eigenheiten sich bei Eilhart von Oberg, Ulrich von Türheim und Heinrich von Freiberg vor dem Hintergrund der Intrigentheorie Peter von Matts als jeweils individuelles Erzählen beschreiben ließ. Somit ist bereits ein Forschungsertrag vorliegender Textanalysen darin zu sehen, sich aufgrund der Gestaltung der Narrenepisoden auch innerhalb der Kontroverse um den poetischen bzw. poetologischen Status der sogenannten Fortsetzungen des Gottfried’schen Romantorsos zu positionieren. Das Weitererzählen von Ulrich und Heinrich ist vielfach unter gattungstypologischen Gesichtspunkten bebzw. verurteilt worden. Den ästhetischen Wertschätzungen der Gattungen ‚Roman‘, ‚Spielmannsepos‘ oder ‚Schwankerzählung‘ usw. entsprechend galt ihre Erzählweise entweder schlichtweg als ‚epigonal‘ (Strohschneider)745 , wenn nicht gar als ‚roh‘ (Jan-Dirk Müller)746 und ‚niveaulich anspruchslos‘ (Kerth)747 oder zumindest als
743 Schausten 1999, S. 275. 744 Vgl. Strohschneider 1990, S. 93f.; Schausten 1999, S. 279. 745 Strohschneider spricht, wie bereits zitiert, in diesem Zusammenhang über die Fortsetzer Gottfrieds als „Trittbrettfahrer[…] der Dichtungsgeschichte“ (vgl. Ders. 1991, S. 72). 746 Vgl. Müller 1990, S. 20. 747 Vgl. Kerth 1979, S. VII.
Narrheit und Ästhetik bei Eilhart, Ulrich und Heinrich
eine auf Gottfried bezogene ‚Distanzierung durch Fortsetzung‘ (Schausten)748 . Intrigenästhetische Betrachtungen im Zusammenhang mit der Narrendarstellung bei Eilhart, Ulrich und Heinrich setzen aber ihrerseits die Verkettung episodischer Abenteuer als kausale Motivierung von Handlung und Affekten wie Zorn und Rache ins Licht. Hierdurch erscheinen auch die analysierten Handlungsstränge strukturell komplexer als bislang eingeschätzt. Auch ihre Motivik lässt sich weit weniger geringschätzen, wenn implizite Maßstäbe normativer Poetik ‚hohen‘ vs. ‚niederen‘ Erzählstiles überwunden werden, denn nicht erst das Beispiel Parzival von Wolfram von Eschenbach zeigt, dass vermeintlich Obszönes der (Narren-)Motivik kein Widerspruch zu komplexer Ästhetik sein muss. Da die genannten Erzähltexte bislang nicht im Lichte intrigentheoretischer Blickpunkte betrachtet worden sind, macht die vorausgehend erwiesene Tragfähigkeit dieser Vergleichsaspekte diese selbst zu einem weiteren Ertrag zur Analyse für Zusammenhänge von literarischer Narrheit und deren Ästhetik einerseits bzw. von mittelalterlichen Narrenfiguren und epischer Poetik andererseits. Die bei Eilhart, Ulrich und Heinrich variierenden Gestaltungen der Ausgangssituation oder Notlage749 sowie der Zielphantasie750 der Protagonisten, die zur Intrige Zuflucht nehmen, die Findung diverser Intrigantenrollen und Verkleidungen751 als Plan- und Beratungsszene752 oder Protagonistenreflexion, das Vorkommen regelrechter Anstifter 753 , Berater- und Helferfiguren sowie die Unterscheidung zwischen freiwilligen und unfreiwilligen Helfern754 , die Verknüpfung von (Liebes-)Dissimulation und (Narrheits-)Simulation755 , verwendete Requisiten und Gnorismen (Erkennungszeichen)756 sowie ferner das Erkennen-können und -wollen durch die ihrerseits affektive Geliebte als Intrigenkomplizin und schließlich die latent drohende wie kunstvoll verschobene Anagnorisis757 als wahrheitsenthüllendes Ereignis waren erhellende Analyseaspekte, um innerhalb eines literarischen Stoffes individuelles Erzählen je eigener Ästhetik herausarbeiten zu können.758 Dies kann umso mehr gelten, als dass von Matts Intrigenästhetik in dem hier Zusammengefassten wie in den sich anschließenden Analysekapiteln sukzessive um eine Poetik der 748 749 750 751 752 753 754 755 756 757 758
Vgl. Schausten 1999, S. 287f. Zur ‚Notsituation‘ im Kontext der Intrigenmorphologie vgl. von Matt 2006, S. 38ff. Vgl. ebd., S. 118. Zur Bedeutung intriganten Verkleidens vgl. ebd., S. 46ff. Vgl. ebd., S. 56f. Vgl. ebd., S. 118. Vgl. ebd. Zu den Intrigenaspekten der ‚Simulation‘ und ‚Dissimulation‘ vgl. ebd., S. 20, 29f. Vgl. ebd., S. 120. Zur Anagnorisis als „Ereignis der dramatischen Lüftung eines Geheimnisses“ vgl. ebd., S. 133. Von Matt bietet selbst eine zusammenfassende „Übersicht über die Elemente des Intrigenmodells“ (vgl. ebd., S. 118–121).
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Narrendarstellung in mittelalterlichem Erzählen erweitert wird: Wie bei Eilhart von Oberg, Ulrich von Türheim, Heinrich von Freiberg wird sich auch bei Konrad von Würzburg bzw. Hans Folz zeigen lassen, dass das Wechselspiel von Intrigenhandlungen bzw. Listhandeln einerseits und Narrheits- bzw. Torheitsdarstellungen andererseits die Poetik der jeweiligen Erzählwelten (mit-)konstituiert. Insbesondere die literarische Gestaltung der Narrenfigur, die den liebenden Wiederkehrer nicht nur unkenntlich machen, sondern ihm neuerliche Handlungsspielräume für seine alternativlose Passion verschaffen soll, erwies sich bei den herangezogenen Textbeispielen als je eigenes ästhetisches Faszinosum. Die jeweilige Repräsentation von natürlicher und künstlicher Narrheit759 bietet zur Intrigenmorphologie komplementäre Analysegesichtspunkte: die Semiotik des anderen Körpers, des intriganten Versehrten oder Gezeichneten, die vestimentäre Codierung der Kleidung des Außenseiters und seiner Attribute, die Normwidrigkeit seines Gebarens,760 seiner Handlungen und Sprechakte, die jeweils Paradigmen wie Plausibilität, Logik und Sinnhaftigkeit sowie Normhorizonte des Höfischen thematisieren. Als nicht minder relevant für eine Charakterisierung literarischer Ästhetik mittelalterlicher Erzähltexte erwies sich im Vorausgehenden auch die Frage, inwiefern der Narr als der ganz Andere am Hof als Lachanlass reüssiert oder Gewaltreaktionen provoziert. Was für die Beobachtung des Intrigengeschehens galt, gilt auch für die untersuchte Narrheitsrepräsentation: Die einleitend entwickelte Analysemethodik, die historisch-literaturwissenschaftliche (Bumke)761 , kulturanthropologische (Müller, Reinhard)762 und -semiotische (Matejovski, Meißburger, Schlaeger)763 mit kultur- bzw. symbolgeschichtlichen (Brüggen, Flögel, Groß, Kraß, Mezger, Raudszus u. a.)764 Forschungsaspekten enggeführt hat, erwies sich ebenfalls als geeignet, die unterschiedlichen Narrendarstellungen fasslich zu machen. Dass Intrigenmorphologie und Narrheitsrepräsentation per se auch narratologische Gegenstände sind, resultiert nicht zuletzt aus deren literarischen Verknüpfung, ist doch die Unterscheidbarkeit von Wahrheit und Lüge, Betrügern und Betrogenen, natürlicher und künstlicher Narrheit immer auch eine Frage der Perspektive bzw. des Wissenshorizontes des Betrachters. Bereits der Liebeskranke, der Möglichkeiten der Wiederbegegnung nachsinnt, begegnet ebenso als fokalisierte Figur
759 Zur Unterscheidung ‚natürlicher‘ vs. ‚künstlicher‘ Narrheit vgl. Mezger 1999, Sp. 1024, Malke 2001, S. 10–18. 760 Zur Theorie des Gebarens vgl. Schubert 1991; zu Narrengestik und -mimik vgl. Kröll 1994. 761 Bumke 1994. 762 Müller 1996; Reinhard 2004. 763 Matejovski 1996; Meissburger 1954; Schlaeger 1998. 764 Flögel 1789; Mezger 1981, 1984, 1999; Raudszus 1985; Brüggen 1989; Kraß 2006.
Narrheit und Ästhetik bei Eilhart, Ulrich und Heinrich
(Hübner)765 wie auch erzählende Liebesnarren und närrische Erzähler die narratologisch brisante Frage danach aufwerfen, aus wessen Sicht gesehen respektive erzählt wird. Intrigantes Potential Bei Eilhart von Oberg erwiesen sich bereits die Figuren Marke und Tristrant schon vor bzw. außerhalb der eigentlichen Liebesintrige als intrigant betrügerisch. Man mag die Zuneigung eines königlichen Onkels zu seinem schönen Neffen für eine mittelalterliche Notlage eigener Art halten. Eilhart nimmt diese zum Anlass eines Intrigengeschehens, in dem der König seine Neigung dadurch dissimuliert, dass er seinem Favoriten die Schwertleite ausrichtet und ihn mit dem eigenen Brustpanzer ausstattet. So betrachtet übernehmen Gegenstände von Schwertleite und Kampfausrüstung die Funktion von Intrigenrequisiten: Die mit ihnen vollführten demonstrativen Schaugesten verbergen die Intention der Figur. Im Rahmen von ritterlichen Initiationsriten und höfischer Kommunikation kann so ein liebender König seinen Neffen küssen. Tristrant seinerseits weiß den Onkel zu hintergehen, um im Kampf Ruhm zu erlangen. Die Ambiguisierung konventioneller Zeichen (beim Grüßen und Küssen) und Symbole (Rüstungen und Waffen) sowie rituellen Symbolhandelns (Schwertleite, öffentliche Trauer) ließ sich bei Eilhart als Strategie intriganten Handelns herausarbeiten. Der Austausch von Tristrants und Markes Schwert in Eilharts Waldlebenepisode ist hierfür ein prominentes Beispiel, das zudem zeigt, dass Intrigengeschehen von der Perspektivität der Beteiligten, den unterschiedlichen Sichtweisen und Wissenshorizonten von Betrügern und Betrogenen, abhängt. Vergleichbar mit der so vagen wie labilen Grenze zwischen dem Normalen und dem Anomalen führt die Intrigenästhetik bei Eilhart auch dadurch zu einer Grenzverwischung zwischen Betrügern und Betrogenen, dass die Betrogenen (Marke) nicht nur zu unfreiwilligen Intrigenhelfern werden, sondern selbst betrügerisches Potential aufweisen. Findung der Intrigantenrolle(n) Eilhart hat die Rückkehrabenteuer Tristrants als Serie der Betrügerrollen Aussätziger, Pilger, Spielmann und Tor angelegt. Derartige Rollenübernahmen zeigen nicht nur die Bandbreite figurenspezifischer Intrigenkompetenz, eine närrischheroische Opferbereitschaft sowie rollengenuine Kleider- und Körpersemiotik, sondern auch narratologisch bedeutsame Motivverknüpfungen von Betrügerrollen
765 Zu fokalisiertem Erzählen, insbesondere bei Eilhart, vgl. Hübner 2004a.
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und Minnecharakter. Aussatz und Narrheit machen dies besonders deutlich, zumal bei Eilhart auf den Aussätzigenauftritt auch die Strafverhängung folgt, Isalde von wirklichen Aussätzigen vergewaltigen und anschließend an Aussatz zugrunde gehen zu lassen. Eine ästhetische Verkomplizierung der Intrigenhandlung entsteht bei Eilhart zudem dadurch, dass Isalde gar nicht immer als Intrigenkomplizin agiert, sondern auch Affekten wie Zorn und Rache folgt, womit sie das Reüssieren Tristrants in der Rolle des falschen Aussätzigen ihrerseits vereitelt. Derartige Verknüpfungen der Intrigenhandlung mit vorgängigem Geschehen generieren ihrerseits Handlungsimpulse für weitere intrigante Rückkehrabenteuer etwa als Pilger. Simulationen und Dissimulationen Die Identität des Intriganten Tristrant ist bei Eilhart ihrerseits Begründung einer narratologischen Verkomplizierung des Intrigengeschehens. So wie in der Aussätzigenepisode nicht die Entdeckung des Betrügers, sondern die Enttäuschung seiner Komplizin über dessen vermeintliche Ehrlosigkeit zum neuerlichen Verlassen des Hofes führt, so droht dem falschen Pilger die Anagnorisis seines neuerlichen Rückkehrabenteuers nicht von außen, sondern aus seinem eigenen heroischen Charakter heraus. Auch einem perfekt von der Intrigantenlarve verborgenen Tristrant ist es unmöglich, nicht an einem Turnier teilzunehmen und nicht zu siegen, auch auf die Gefahr hin, dass seine heroische Körperlichkeit Intrigenrequisten wie seine Pilgerkleidung verräterisch zerstören könnte. In der Spielmannsepisode ist das Intrigenschema um zwei besondere Intrigenhelfer, die Doppelgänger Plot und Haupt, erweitert. Die Vermehrung intriganter Akteure hat vor allem zwei ästhetische Effekte: In der Figurenkommunikation können Wahrheit, Mehr- und Doppeldeutigkeit im Sinne der Intrige instrumentalisiert werden, da die wahren Spielleute (Plot und Haupt) nicht die richtigen, d. h. die gesuchten (Tristrant und Kurneval) sind. Hierdurch erlangen die Verfolgten neuerliche Handlungsspielräume und schließlich die Fluchtmöglichkeit. Der Spannungsaufbau der Spielmannsepisode, drohende wie verschobene Anagnorisis, ist damit verbunden, wie standhaft die wahren Spielleute als zu unrecht Gefangene auch dann noch bei ihrer Lüge bleiben, wenn sie gegenintrigant getrennt verhört werden. Das letzte Rückkehrabenteuer Tristrants als Narr ist auch intrigenästhetisch hervorgehoben. Als letztes Wiederkehrabenteuer narratologisch akzentuiert, ist die Narrenepisode sowohl aufgrund ihrer Intrigantenrolle körper- und kleidungssemiotisch als auch sprach- und kommunikationstheoretisch besonders interessant. Diese letzte Verkleidungsintrige Tristrants unterscheidet sich bereits dadurch grundsätzlich von den vorausgehenden, dass Rolle und Verkleidung nur noch bedingt solche sind. Eilhart verwischt abermals die Grenzen zwischen Natur und Kunst, zwischen angenommener Rolle und der Identität des Protagonisten. Denn dieser Intrige geht
Narrheit und Ästhetik bei Eilhart, Ulrich und Heinrich
eine entscheidende Veränderung des Helden voraus. Im Krieg zieht er sich sowohl aus Zorn als auch aus Unbedachtsamkeit eine Kopfverletzung zu, deren Folgen bereits seiner Narrwerdung Vorschub leisten: Tristrant verliert seine Haare und seine höfische Schönheit. Er wird aber nicht nur hässlich, sondern wegen seiner Verletzung am Kopf geschoren wie ein Irrer. Als schwermütiger Liebesnarr hat Tristrant neuerlich ein ‚adäquates‘ Äußeres gefunden. In der semiotischen Ununterscheidbarkeit von medizinischer Maßnahme und sozialer Stigmatisierung erkennt Tristrants Neffe neuerliches Simulations- und Dissimulationspotential für seinen liebeskranken Onkel, wenn zur äußerlichen Ambivalenz intrigant vereindeutigend nur noch entsprechendes Gebaren und Narrenhabit hinzukommen. Die Narrenintrige ist durch Begegnungen mit anderen Figuren wie dem Kaufmann, der Schiffsmannschaft, dem Markehof und schließlich König Marke selbst, dem Herzog Antret und der Königin Isalde strukturiert. Dass der falsche ‚natürliche‘ Narr mit seinem Gebaren als Lachanlass überzeugt, zeigt bereits die Absicht des Kaufmanns, diese närrische Gestalt dem König zum Geschenk machen und ihn mit auf sein Schiff nehmen zu wollen. In der Wahrnehmung der Schiffsmannschaft nimmt der affig agierende Narr, den Schwermut und Kontingenz des Krieges als Minnenarren auszeichneten, Züge eines anderen Narrenstereotyps an: des natürlichen Narren als unterhaltsamer Hofnarr, dessen Späße mit einem Käse belohnt werden. Diese Mehrdeutigkeit der Narrenfigur prädestiniert zu einer abermaligen Rückkehr an den Markehof. Die Hofgesellschaft reagiert auf das Auftreten dieses Narren mit brutaler Gewalttätigkeit, bei der sich insbesondere Herzog Antret hervortut: Für die Intrigendynamik ist fortan die wechselseitige Motivation von Gewaltakten, von Verrat und Rache, charakteristisch. Als Hofnarr etabliert, kann sich der wahrhaft Minnewunde als Minneaffe geben und unter den Vorzeichen seines Amtes vor der Hoföffentlichkeit die Wahrheit seines Herzens aussprechen. Als Hofnarr ist der Intrigant ästhetisch besonders erfolgreich: Die Dissimulation seiner Liebes- und Racheabsichten gelingt temporär dadurch, dass seine Rollensimulation vor aller Augen stattfindet. Die offen in Gebaren, Blicken und Worten geäußerte Wahrheit, die Königin zu lieben, wird als unterhaltsame Einlage eines vermeintlich natürlichen Narren zunächst für unglaubhaft gehalten. Dieser Unglaubhaftigkeit liegt eben auch die soziale wie ästhetische Asymmetrie eines hässlichen Narren und einer schönen Königin zugrunde. Abermals ist eine intrigentheoretische Analyse auch für die Figurencharakterisierung fruchtbar, und dies eben auch mit Blick auf die Intrigenopfer. Spannungsaufbauend, weil Anagnorisis nahelegend, lässt Eilhart Zeugen im anonymen Hofpublikum die Narrenrede für untorlich halten. Der Käse des Narren Tristrant, der Königin rüde in den Mund gestoßen, ist auch ein mehrdeutiges Intrigenrequisit. Er ist Narrenattribut und zugleich pervertierte Liebesgabe. Der öffentliche Tabubruch, sich der Königin derart nötigend zu nähern, zeigt abermals die enge Verzahnung von Simulation und Dissimulation dieses
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Intrigenabenteuers. Als Narrenspeise scheint sie Natur und Status der Intrigantenrolle zu bestätigen, während gerade Unglaubhaftigkeit und Ungeheuerlichkeit von Äußerungen und Aktionen dem falschen Narren die Annäherung an die Geliebte erlauben. Auch in dieser Intrige fungiert ein Ring zwischen den Liebenden als Gnorisma. Nachdem Isalde Tristrant aufgrund dieses Erkennungszeichens identifiziert hat, übernimmt sie das Arrangement des Intrigenzieles: die neuerliche Liebeserfüllung. Mit Isolde als Komplizin gelingt nun dadurch eine spektakuläre Verstetigung von Simulation und Dissimulation unter dem Schatten drohender Anagnorisis, dass es den beiden glückt, am Hof ein Doppelleben als Narr und Königin sowie als Liebende zu führen. Dieses ‚Liebesglück‘ hat nicht nur einen moralischen Makel, sondern enthält auch eine existentielle Bedrohung: die Intrige als Lebensform, der per se auch gegenintrigante Verräter zugehören. Alternative Narrheit bei Ulrich von Türheim und Heinrich von Freiberg An den jeweiligen Gestaltungen von Tristans letztem Rückkehrabenteuer als Narr ließ sich Ulrichs und Heinrichs eigene Nuance der Narrenrepräsentation auch im Hinblick auf Deutungshorizonte ihrer Schlussfassungen hin untersuchen. Ulrich variiert die Serie der Verkleidungen bereits, indem er Tristan als Aussätzigen, als Knappen und schließlich als Narren auftreten lässt. Zudem dynamisiert Ulrich den Zusammenhang von Intrigengeschehen und Minnehandlung dadurch, dass er den simulierenden Narren zugleich als dissimulierten Rächer agieren lässt. Für die drohende Desavouierung des Intriganten bzw. die Anagnorisis der Intrige schafft er zu Gegenintrige und Verrat die Alternative scheiternder Affektkontrolle des Intriganten. Auch die Beratungsszene des Intrigenmodells ist bei ihm variiert: Es ist die Komplizin Isolde, die anstelle zu raten schlichtweg dekretiert, dass der Geliebte unter der Narrenlarve Zuflucht nehmen solle. Dass bei Ulrich eine Beratung fehlt, zeigt abermals die analytische Blickschärfung durch die Intrigentheorie: Über eine Figurencharakterisierung der Minneherrin Isolde hinaus wird auch die Narrheit des Minnedieners als willfährigem Intriganten eingehender bestimmbar, wenn sie von der Minnedame ebenso veranlasst wie befohlen wird. Das Narrenbild von Ulrichs Isolde gleicht zunächst demjenigen Eilharts, insofern zu diesem auch der Kolben sowie die Torenkleidung mit Kapuzenrock und freigeschnittene Ohren gehören. Das simulierende Gebaren ist in Isoldes Verkehrungsauftrag jedoch präzisiert und weist mit dem aufzureißenden Mund bereits auf konventionelle Narrengesten wie das Blecken und Zannen hin. Mit dieser Anspielung auf eine auch in der darstellenden Kunst auftretende Narrengestik ist die Semiotik des falschen Narren bei Ulrich bereits deutlich sexualisiert. Auch bei ihm verbindet der intrigante Sprechakt des falschen Narren die Simulation seiner Identität und die Dissimulation seiner Absicht mit dem Unglaubhaften seiner Äuße-
Narrheit und Ästhetik bei Eilhart, Ulrich und Heinrich
rungen, die zudem ins Absurde tendieren: Ein Narr, der vorgibt, die Königin nicht zu kennen, stellt sich als deren Liebhaber vor. Absurdes oder Sinnfreies kennzeichnet darüber hinaus auch das simulierende Handeln von Ulrichs Narren, wenn er Steine sammelt, um sie der Königin zu schenken. Intrigentheoretisch interessanter ist bei Ulrich, dass die vorgegebene Narrheit gerade dadurch überzeugt, dass der Intrigant nicht Herr seines wichtigsten Intrigeninstrumentes, nämlich seiner selbst und seiner Affekte, ist. Sowohl nicht kontrollierbare Racheimpulse als auch ebenso ungesteuerte Körperreaktionen wie verräterisches Erröten bestätigen die Narrheit des Simulanten in der Wahrnehmung der Intrigenopfer. Auch das Intrigeninstrument des Narrenkäses kommt bei Ulrich in eigener Nuancierung zum Einsatz. Aus dem erotisierten Verzehrzwang bei Eilhart ist bei Ulrich lediglich eine schlichte Gewaltaktion geworden, denn der Käse wird ‚lediglich‘ auf Isolde geworfen. Das nur Unhöfische büßt zwar seine symbolische Potenz ein, fungiert jedoch wie auch die Motivik des Narren als gieriger Fresser uneingeschränkt als Wahnsinnssimulation. Dementsprechend setzt die Intrigenhandlung bei Ulrich eine Kette von wechselseitigen Gewalthandlungen von Narr und Hof in Gang. Dem Narren wird an den Ohren gerissen, und dieser schlägt die Hofgesellschaft in die Flucht. Auch dies resultiert bei Ulrich aus seiner Ästhetik des Intrigengeschehens: Narrheitssimulation wird auch über die Entkoppelung von Gewaltanlass und -ausbruch sowie von Veranlassung und Maß erreicht. Denn auch unbändige Gewalttätigkeit dient nicht nur sowohl der Simulation von Narrheit als auch der Dissimulation von Racheabsichten, sondern vor allem der Separierung der Liebenden von der höfischen Öffentlichkeit. Neben der Gewalttätigkeit als Narrheitsindiz hat Ulrich auch die Äußerungen seines Narren eigens intrikat gestaltet. So lässt er Tristan vor der Kemenatentür Isoldes übernachten und dabei lärmend Unsinniges singen. Auch dieser verstörende Minnesang ist Intrigenhandlung, zeigt er doch einen vermeintlich Irren und vertreibt den belästigten König und Ehemann, während die Geliebte aus der Pervertierung des Minnesangs bereits die Ankündigung sexueller Erfüllung heraushört. Auch Ulrichs Marke ist folglich unbewusster Intrigenhelfer, der den heimlich Liebenden auch dadurch das Feld überlässt, dass er seiner Jagdlust nachgeht. Die Erzählfassung der Narrendarstellung bei Heinrich von Freiberg wird als eigenständiges Erzählen fasslich, wenn sie unter intrigentheoretischen Analyseaspekten gelesen wird. Heinrich hat Tristans Intrigantenrolle des Narren ein Minnesiechtum vorangehen lassen, das dessen narrenhaften Identitätsverlust bereits einleitet. Abermals verschwimmen die Grenzen zwischen natürlicher und künstlicher Narrheit des Intriganten. Durch Isoldes Heilkunst und die zugesandte Wundersalbe genesen, schert sich dieser Tristan zunächst unerfindlicher Weise selbst bis zur Unkenntlichkeit das Haar. Auch diese Selbstentstellung zeigt einen absolut Verzweifelten, der nicht glauben kann, die Geliebte einmal wiederzusehen. Darüber hinaus
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ist die schiere Unkenntlichkeit nach dieser Selbststigmatisierung der entscheidende Impuls, der das Gespräch mit dem Neffen Tantrisel zur Beratungsszene werden und einen letzten Betrugsplan finden lässt. Deutlicher als Ulrich arbeitet Heinrich die Hässlichkeit seines Protagonisten dadurch heraus, dass er dessen Neffen seine Wahrnehmung von eingefallenem Fleisch, Blässe, hervorstehenden Augen, gebogener Nase, Runzeln auf Stirn und Wangen usw. schildern lässt. Es ist auch der Neffe selbst, der aus dem natürlichen Äußeren seines Onkels die intrigenrelevante Schlussfolgerung zieht: du bist gestalt / glich einem rechten toren (Tr-H 5100). Bei Heinrich fällt die Beratungsszene ebenso besonders umfangreich aus wie sich der Verkleidungsrat besonders präzise auf Gebaren und Sprechen als Identitätsdissimulation bezieht. Zudem ist Heinrichs Narrensemantik differenzierter, da er zwischen tor, narr und gief unterscheidet. Die semantische Differenzierung der Narrenfacetten fungiert auch als Spannungsaufbau, werden doch damit unterschiedlichste Facetten der Narrheit von Rasen und Betrügen bis zu Schreien und Lärmen als Simulationsmodi unterschieden. Die vestimentäre Codierung von Heinrichs Narrenkleid ist durch graues Tuch, Kapuze, grotesken Zuschnitt, die Signalfarbe Rot und vor allem durch eine Bebilderung mit Narrenmotiven ihrerseits besonders signifikant. Zwar ist auch Heinrichs Intrigantendissimulation Gewalttätigkeit; die Narrheitssimulation ist aber nur bei ihm auch sprachliche Mimesis: Die Sprechakte seines Narren sind nicht nur vorgeblich unlogisch und provokant, sondern darüber hinaus Äußerungen eines Stotterers, dessen Silben- und Wortwiederholungskaskaden durch obszöne Gestik verstärkt werden. Die vergleichenden Textanalysen machten deutlich, dass keine Erzählvariante die Narrheitssimulation so facettenreich darbietet wie die Variante Heinrichs. Auch Heinrichs Narr verkehrt mit seiner vorgeblichen Ignoranz und Respektlosigkeit die höfische Ordnung, und auch hier wird die Motivik des Essens (der Narrenkäse) ins Erotische gewendet. Nicht nur, dass Tristan als Narr sein Intrigeninstrument martialisch zerquetscht; er schleudert es auch nicht einfach auf die Königin wie bei Ulrich. Vielmehr zielt und trifft der von Tristan angebissene Käse den Mund von Königin und Geliebter. Auch dieses Intrigeninstrument, ein angebissener Käsebrocken, hat in seiner Ambivalenz eine bedeutsame Funktion: Als ekelerregender Tabubruch bei Hofe bestärkt er die Illusionierung der Narrheit; distanzüberbrückend, angefeuchtet zudem, bringt dieser die Lippen der Liebenden in Kontakt. Heinrich erzählt seinerseits das letzte Intrigenabenteuer Tristans mit der Eskalationsdynamik aus Intrige und Gegenintrige sowie aus Zorn und Rache als Gewaltorgie, die darin gipfelt, dass der falsche Narr der tatsächliche Herr der Verhältnisse ist und schließlich den Frieden diktiert. Die Gewaltakte dissimulierter Racheabsichten des Intriganten übertreffen an Drastik noch das bei Ulrich Erzählte, wird doch den Gegenintriganten heiße Soße ins Gesicht geschüttet und
Narrheit und Ästhetik bei Eilhart, Ulrich und Heinrich
das Augenlicht genommen. Abermals ist ein betrogener König, der die Ordnung seines Hofes nicht aufrecht halten kann, auch durch seine Jagdleidenschaft unfreiwilliger Intrigenhelfer. Und auch dieser Marke lässt sich von falschem Minnesang vertreiben, den der Narr, unterstützt von seinem Intrigeninstrument, dem Kolben, anstimmt. Zudem ist dieser närrische Minnesänger auch sprachspielerisch ,begabt‘ und verrätselt den Namen der Angebeteten. Aus der Zusammenfassung der Analyseergebnisse des ersten Teiles zu ‚Tristan als Narr‘ geht auch forschungskontrovers hervor, dass die drei unterschiedlichen Erzählwelten jeweils eben keine eindeutig fassliche „Nahtstelle zwischen Vernunft und Wahnsinn, Affektkontrolle und Zügellosigkeit, Ordnung und Anarchie, sozialer Tektonik und Verkehrung“766 ausstellen, sondern diese vielmehr mit den Mitteln ihrer Poetik problematisieren. Ferner ließ sich zeigen, dass die im Protagonisten zusammenfallenden Figurenfacetten (Minne-)Narr und intriganter Wiederkehrer die Vergleichbarkeit der Narrheitsrepräsentation mit sich bringen: Verstellung verkehrt höfische Schönheit in die Hässlichkeit des Irren, der seinerseits aber nicht lediglich als ein unhöfisch Anderer, sondern mit Haarschur und Keule als konventionell-stereotyper Außenseiter erscheint. Was aber gängige Marginalisierungspraxis abzubilden scheint, stellt in der Poetik bei Eilhart wie auch bei Ulrich und Heinrich ebenso die Arbitrarität, mithin die Zuweisungswillkür, kultursemiotischer Zeichenhaftigkeit aus: Hierfür ist die Narrenkeule exemplarisch, die gleichzeitig prominentestes Intrigenrequisit, Rachewaffe und Phallussymbol sein kann. Ebenso können Narrentracht und -habit, -gebärde und -gebaren nicht nur ‚echt‘ oder ‚betrügerisch‘ angenommen sein. Sie stellen im Intrigengeschehen vielmehr bereits die als trügerisch erwiesene Verlässlichkeit ihrer Signifikanz aus, mit der die Grenzverwischung von Wahrheit und Lüge des erzählenden Narren am Hof korreliert, dessen rollenhafte Verstellung die Wahrheit seiner Passion zur erzählbaren Unglaubhaftigkeit macht. Auch damit ist der Narrenauftritt die erfolgreichste Intrigantenrolle, einzig als der ganz Andere der Geliebten am Hof nahe sein zu können. In einem poetologischen Sinne dürfen Eilharts, Ulrichs und Heinrichs Ästhetiken ‚subversiv‘ genannt werden, denn mit der jeweils problematisierten Grenzverwischung von natürlicher und künstlicher Narrheit geht auch eine ebensolche zwischen Betrügern und Betrogenen einher, die nicht nur Figuren mit anderen Wissenshorizonten oder ihrerseits affektive Intrigenkomplizen, sondern letztlich auch das Publikum betrifft. Die heroische Opferbereitschaft eines höfischen Ritters, um seiner Liebe willen als Narr aufzutreten, wirkt aber mitnichten didaktisch abschreckend, denn die Publikumssympathie bleibt Liebe und (Liebes-)Narr jeweils ‚prekär‘ erhalten. Damit sind aber alle Narren vergleichbar, die in dieses
766 Matejovski 1996, S. 231.
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Simulierte Torheit
ästhetische Spiel mit manipulierbaren Zeichen involviert sind: Fremdbestimmte wie nur die halbe Wahrheit kennende Figuren ebenso wie die Rezipienten, die wider bessere moralische Grundsätze das Scheitern der intriganten Liebenden nicht wollen können. Zudem ist es das Heroische (etwa eines Tristrant als Pilger) selbst, dessen Unbeherrschbarkeit seine Überführung ins Narrenhafte aus sich selbst heraus bedingt. Schließlich gerät allenthalben die Gewissheit darüber ins Wanken, dass gesellschaftliche Praktiken der Kontingenzbewältigung gegenüber schicksalhaften Mächten wie Minne und Narrheit Wirksames entgegenzusetzen hätten. Denn angesichts der Konfrontation von Narr und Hof wird allenthalben „das labile Gleichgewicht der Gesellschaft“767 vorgeführt. Damit tut sich aber ein folgenschwerer Widerspruch auf, der mittelalterliches Erzählen als normstabilisierende Akte fasste. Vielmehr scheint dessen Ästhetik abermals ein Paradoxon zu entsprechen, in Anlehnung an Greenblatt, „kulturelle Grenzen zu errichten, zu zementieren bzw. zu verschieben“768 . So betrachtet eröffnet das Fiktive auch im Mittelalter weniger komplementäre als alternative Möglichkeitssphären des Seins und des Liebens, die auch von etwaiger Epilogdidaxe kaum als „eindeutige Deutungsperspektive“769 zurückgenommen werden kann.
767 Schausten 1999, S. 293. 768 Ebd., S. 288. 769 Ebd., S. 293.
3.
Betörende Simulationen
„Wenn du deiner Seele ihr Gierverlangen erfüllest, wird sie dich zum Triumph deiner Feinde machen.“ Jesus Sirach 18,31
Im Vorausgehenden konnte gezeigt werden, dass Erzählen von Narrheit im Fiktiven der Tristan-Erzählungen allenthalben ästhetische Konsequenzen zeitigt. Denn das Auftreten von Narrenfiguren thematisiert Narrheit gegenüber dem Höfischen als das Andere. Dies darzustellen, führt den Erzähltext selbst zu Fauxpas, Norm- oder gar Tabubruch. Die simulierte Narrheit Tristans inszeniert in ritualisierter Kommunikation, in höfischen Mahl- und Tischszenen sowie innerhalb des dissimulierten Minnegeschehens eben gerade situatives ‚Scheitern‘. Insbesondere in Szenen von Konfliktregulierung fand Narrheit als (höfische) Anomalie in (vermeintlich) scheiternder Affektkontrolle, gipfelnd in Gewalttätigkeit und Gefräßigkeit, lautstarken Äußerungen und ausgestellter Handlungsunvernunft, ihren Ausdruck. Und gleich, ob falsche Narren wie Tristan als Minneparodisten auftreten, verdorbene Lebensmittel als Liebesgaben für angebetete Königinnen verwenden, im sexualisierten Kulinarischen gewalttätigen Unfug treiben oder brüllend Minnesänger imitieren, scheinen hinter derartigen Narrheitssimulationen klassische Kardinaltugenden in zuweilen drastischer Verkehrung auf. Wo Affektkontrolle scheitert, fehlt es ebenso an mâze wie Distanzlosigkeit die courtoisie vermissen lässt, so dass im extremen Negieren höfischer Normen auch mit stæte kaum zu rechnen ist. Zu dieser Labiliät gehören das Ansteckungspotential von Narrheit im Fiktiven ebenso wie literarische Techniken labilisierender Poetik: tabuisierte Minne wird sympathisch, Erotik im Ästhetischen schön, Voyeurismus Vergnügen und missachtete Tischzucht verzeihlich. Tore und Narren, durchtriebene Intriganten wie unverschuldete Ahnungslose als Protagonisten des Anomalen labilisieren auch in einem gattungsästhetischen Sinne: Das höfische Epos spielt ins Spielmännische, der arturische Roman ins Schwankhafte, wo Gattungsgrenzen durch erzählte Normbrüche hybridisiert werden. Und dort, wo die Konfrontation mit dem Anomalen zu Diffusion, Erosion oder Subversion führt, steht nicht nur die explizierte Didaxe, sondern viemehr das Fiktionale selbst auf dem Prüfstand. Die berechtigte Zweifelhaftigkeit eines didaktischen Nutzens erzählter Narretei, zumal im Unmoralischen, konkret im Sexuellen, führt unweigerlich zu Paradoxem, das letztlich das Erzählen als Fiktion selbst aufwertet. Sei es die Lust am Weitererzählen mit zweifelhaftem Telos bei Ulrich von Türheim oder Heinrich von Freiberg: Die Zweifelhaftigkeit, mit Erzählen von Normwidrigkeiten
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Betörende Simulationen
nützlich, weil bessernd zu wirken, stellt das Anomale ja überhaupt erst dar und aus. Hierdurch wird aber schließlich das Fiktive seinerseits (zumindest tendenziell) seiner Beweislast moralischer utilitas entledigt. Mittelalterliche Erzählkunst bei Eilhart von Oberg, Ulrich von Türheim und Heinrich von Freiberg zeitigt allenthalben bereits das Potential zu einer Autonomie mittelalterlicher (Erzähl-)Kunst.
3.1
Labile Normalität und normale Anomalien: Die halbe Birne Konrads von Würzburg
Im dritten und letzten Kapitel über Wesen und Wirken des Anomalen in mittelalterlichen Erzählwelten wird ein fiktiver Hybrid eigener Art betrachtet, der aufgrund seiner Struktur und Motivik vielfach mit der Etikettierung ‚schwankhaftes Märe‘ versehen worden ist: Vom ritter mit der halben birn ist eine spätmittelalterliche Verserzählung, die sich auf Konrad von Würzburg770 als Verfasser beruft. Der didaktischen Instrumentalisierung des Erzählens von Normwidrigem als Negativexemplum kann schon angesichts seiner Drastik des Obszönen und Sexuellen
770 Zur Verfasserfrage vgl. Karl Lachmann: Auswahl aus den Hochdeutschen Dichtern des dreizehnten Jahrhunderts. Berlin 1820, S. IXf., Anm. 4; Stephen L. Wailes: Konrad von Würzburg and Pseudo-Konrad. Varieties of humor in the ‚Märe‘. In: Modern Language Review 69 (1974), S. 98–111; Horst Brunner: [Art.] ‚Konrad von Würzburg’. In: 2V L. Bd. 5 (1985), Sp. 272–304, hier Sp. 299; Klaus Grubmüller 1996, S. 1085; Feistner 2000, S. 304; Satu Heiland fasst die alternativen Positionen zur Verfasserfrage so zusammen: „Seitdem Karl Lachmann im Jahre 1820 diese Autorzuschreibung als Fälschung bezeichnete, wurde die Verfasserschaft Konrads lange Zeit angezweifelt, wobei nicht zuletzt die ‚Obszönität’ des Textes dafür verantwortlich war. Doch bereits der Herausgeber der Halben Birne, Georg Arnold Wolff, hatte auf die sprachliche sowie stilistische Nähe des Textes zum Werk Konrads von Würzburg aufmerksam gemacht. Später formulierte Horst Brunner, die Autorschaft Konrads bedürfe ‚neuer Klärung’. Und schließlich stellt Klaus Grubmüller in überzeugender Weise die Aussagefähigkeit der vor allem Vokabular und Reimbindung betreffenden Argumente gegen die Autorzuschreibung infrage [...]“ (Satu Heiland: Visualisierung und Rhetorisierung von Geschlecht. Strategien zur Inszenierung weiblicher Sexualität im Märe. Berlin/Boston 2015 [= Literatur/Theorie/Geschichte. Beiträge zur einer kulturwissenschaftliche Mediävistik 11], S. 195). Friedrich Michael Dimpel, Katharina Zeppezauer-Wachauer und Daniel Schlager haben Die halbe Birne mit Burrows‘ Delta einem Autorschafts-Attributionstest unterzogen und kommen so hinsichtlich der Verfasserfrage zu folgendem Schluss: „Vorbehaltlich einer weiteren Kontrollpeilung ist eine Zuordnung der ‚Halben Birne‘ zu Konrad von Würzburg relativ plausibel. Die Athetese Lachmanns und seiner Nachfolger*innen lässt sich mit objektiven digitalen Methoden nicht nachvollziehen“ (Friedrich Michael Dimpel, Katharina Zeppezauer-Wachuaer und Daniel Schlager: Der Streit um die Birne. Autorschafts-Attributionstest mit Burrows‘ Delta und dessen Optimierung für Kurztexte am Beispiel der ‚Halben Birne‘ des Konrad von Würzburg. In: Das Mittelalter, Bd. 24, H. 1 [2019], S. 71–90, hier S. 90).
Labile Normalität und normale Anomalien: Die halbe Birne Konrads von Würzburg
kaum vertraut werden:771 „Was folgt, ist die Schilderung sexueller Handlungen, die selbst innerhalb der Märenliteratur ihresgleichen sucht.“772 Dieses Märe eignet sich als letzte literarische ‚Fallstudie‘ ganz besonders, da das in ihm entfaltete Intrigengeschehen die Perspektivität von Intrigant und Intrigenopfer ausstellt.773 Zudem verwischt der intrigenspezifische Rollenwechsel vom geschmähten Ritter zum Narren die Narrheitssphären ‚Natur‘ und ‚Kunst‘. Beides zusammengenommen – Perspektivität und Konstruktivität künstlicher Narrheit – entfalten ihr subversives Potential als Erosion: falscher Narr und unhöfische Prinzessin stehen weniger für stereotype Weltverkehrungen als für die narrative Problematisierung eines Grenzverlustes. Die Verkörperung des Anomalen bleibt nicht in der ihr zugeschriebenen Sphäre des Anderen, sondern indiziert vielmehr die Normwidrigkeit derer, die marginalisieren, stigmatisieren und ausgrenzen. Somit wird das Normative seines objektiven Gegebenseins entledigt und als menschengemacht und situationsabhängig darstellbar. Wer den Blick von den Erzählwelten Tristans ab- und der Verserzählung der Halben Birne zuwendet, wird weniger eine ästhetische Komplexitätsreduktion als vielmehr eine Erweiterung und Steigerung von ‚ästhetischen Konsequenzen erzählter Narrheit‘ ausmachen können. Was nach dem Handlungsverlauf wie eine Epidemisierung des Normwidrigen erscheinen mag, erweist sich vom Erzählende her betrachtet als bereits von Anfang an in den Protagonisten angelegt und
771 Zitiert wird nach der Ausgabe Konrad von Würzburg: Von dem ritter mit der halben birn. In: Novellistik des Mittelalters. Märendichtung. Hrsg., übersetzt und kommentiert von Klaus Grubmüller. Frankfurt a. M. 1996 (= Bibliothek deutscher Klassiker 138), S. 178–207 (Sigle HB-K). Zur handschriftlichen Überlieferung siehe Klaus Grubmüller: Kommentar. In: Novellistik des Mittelalters. Märendichtung. Hrsg., übersetzt und kommentiert von Klaus Grubmüller. Frankfurt a. M. 1996 (= Bibliothek deutscher Klassiker 138), S. 1083. 772 Heiland 2015, S. 200. 773 Das analysierte Märe liegt zudem vor in einer Fassung von Hans Folz: Die halbe Birne. In: Deutsche Dichtung des Mittelalters. Bd. III Spätmittelalter. Hrsg. von Michael Curschmann und Ingeborg Glier. Frankfurt a. M. 1987, S. 258–265 (Sigle HB-F). Bereits der divergierende Umfang – die vermeintliche Konrad‘sche Fassung besteht aus 515, die Folz‘sche lediglich aus 230 Versen – zeigt an, dass die spätere Variante stark von Komplexitätsreduktionen geprägt ist. Fritz Langensiepen hat Folz’ Neubearbeitung der Halben Birne nach den „Prinzipien der brevitas“ zusammengefasst: Zurückdrängung des epischen Elements, Reduktion obszöner Komik und Verstärkung lehrhafter Passagen. (Vgl. Fritz Langensiepen: Tradition und Vermittlung. Literaturgeschichtliche und didaktische Untersuchungen zu Hans Folz. Berlin 1980 [= Philologische Studien und Quellen; Heft 102], S. 96.) Nun kommt es im Folgenden nicht darauf an, die beiden Erzählfassungen ‚synoptisch‘ gegenüberzustellen, um den hochmittelalterlichen Text in seiner narratologischen wie sprachlichen Subtilität zu beleuchten. Allerdings lohnt sich mitunter ein vergleichender Blick, wenn der Folz’sche Text als ein Rezeptionszeugnis aufgefasst wird, das in seiner Verknappung Analyseaspekte stützt. Zur handschriftlichen Überlieferung von Folz’ Erzählvariante vgl. Langensiepen 1980, S. 92, Anm. 1.
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nicht allein der Sphärentrennung von Öffentlichkeit und Heimlichkeit, Tag und Nacht geschuldet.774 Nach der moralischen Desavouierung der Protagonistin lässt der Text Signale für deren ureigene Normwidrigkeit aufscheinen, die die Unterminierung der Grenzlinie zwischen höfischer Norm und dem ganz Anderen im Rückblick immer weiter vorverlagern. Das macht die subversive Grundtendenz dieses Textes aus, eine – vergnüglich verstörende – Leseerfahrung zu bereiten, deren Reiz in Verunsicherung besteht. Im Nachgang der Lektüre erweisen sich die Normhorizonte des Textes als heimtückische Leerstellen, die der Leser wegen seiner vermeintlichen Vertrautheit mit ihnen nur allzu willig auffüllt. Nach dem Lesen aber offenbart sich, dass das didaktische Suggestionspotential der Erzählung textlich nicht gedeckt ist: Der Rezipient erweist sich selbst als Intrigenopfer, das ebenfalls von der Epidemisierung des Normverlustes erfasst wird. 3.1.1 Trügerisch vertraute Handlungsrahmung Bereits die Handlung des Märes ist mehr als ein bloßes Gerüst für eine letzte Versuchsanordnung von Normdestabilisierung, und ihre folgende knappe Wiedergabe damit bereits Ausgangsmaterial avisierter Perspektiven. Wie die Artusepik weist auch diese Kurzerzählung einen zweibogigen Handlungsverlauf auf, der im Folgenden auch mit Blick darauf skizziert wird, dass Erzählschemata per se signifikant sind: Sie enthalten Hypothesen über den ‚Lauf der Welt‘ über ‚richtige‘ oder ‚falsche‘ Ordnung. In ihnen sind fundamentale Orientierungen einer Gesellschaft niedergelegt, die tiefer gelagert sind als die expliziten Wertungen und Moralisationen, indem sie nämlich als selbstverständlich vorgegeben erscheinen und den Akteuren nicht hintergehbar sind. Sie setzen einen Rahmen von Alternativen, in dem allererst ‚richtiges‘, ‚erfolgversprechendes‘, ‚typisches‘ Handeln möglich ist.775
Im ersten Teil schreibt ein König seine selbstredend wunderschöne Tochter als Turnierpreis aus. Aus dem ritterlichen Ausleseverfahren geht, wenig überraschend, ein ebenso ruhmreicher wie unbekannter Ritter hervor. Schließlich wird dieser Turniersieger an die königliche Tafel geladen, wo er schmählich an den von ihm
774 Unter diesem Blickpunkt unterscheiden sich beide Erzählfassungen besonders deutlich: Zwar hat auch die Variante von Folz eine quasi zweibögige Handlungsstruktur. Allerdings bleibt das Geschehen auf das für den Plot Nötigste reduziert. Eine in sich hierarchisch gestufte Hoföffentlichkeit bleibt bei Folz ebenso ausgespart wie weitere Nebenfiguren im Umfeld der Königstochter. Hierdurch werden Handlungsmotivationen und -effekte gleichermaßen verknappt. 775 Müller 1985/86, S. 287.
Labile Normalität und normale Anomalien: Die halbe Birne Konrads von Würzburg
nicht beherrschten Tischsitten scheitert.776 Eine ihm und seiner Tischdame vorgelegte Birne wird beim Schälen, Zerteilen und Vorlegen nicht Demonstrationsobjekt höfischer Kultiviertheit und Affektbeherrschung, sondern von deren Gegenteil. Wie von Fressgier übermannt, verschlingt der Ritter die eine Birnenhälfte bäuerlich und legt die andere dann erst der entsetzten Prinzessin vor. Das symbolisch bedeutungsüberwucherte Birnenessen777 , das einen möglicherweise grundsätzlich an Affektbeherrschung Scheiternden ausweist, wird von der Königstochter in moralisch bereits zweifelhafter Weise geahndet.778 Erst in der Öffentlichkeit des Turnierplatzes echauffiert sich die Schöne und damit vermeintlich ebenso Tugendhafte über den Verstoß gegen die Tischzucht so:
776 Hans Folz führt seinen Protagonisten als einen so vage verdienstvollen wie immerhin kampferfahrenen Ritter ein (Eynr, dem man riters namen gab / Neur um die fart zum heiligen grab; HB-F 15f.), dem an Kampfkraft und Tuniererfolg niemand gleich kommen könne (Des sterck enhort kein man nie gleich; HB-F 17). Dessen Versagen an der königlichen Tafel wird aber nicht als überraschendes Moment geschildert, das die sonstigen Rittertugenden kontrastierte. Denn bei Folz heißt es: Der ritter gund erseüffzen tiff / Der hoffzucht halb, die im was swer (HB-F 28f.). Folz bevorzugte es offenbar, im Sinne einer vereindeutigenden Erzählfassung seine Interpretationslinie merklich früh grundzulegen. So ist der Fauxpas bei Tisch nicht nur in der Erzählerrede ‚vorbereitet‘, denn Folz lässt den Turniersieger nicht erst an der titelgebenden Birne scheitern. Der nicht hinreichend mit der hoffzucht Vertraute, das wird für die Gesamtinterpretation noch bedeutsam werden, weist außer in Bezug auf Tischsitten auch noch andere Defizite auf: Auf höfischem Terrain, in der normierten Kontingenz höfischer Umgangskonventionen und fernab männlicher Gewaltreglementierung des Turniers versagt der so aussichtsreiche Heiratskandidat und potentielle Regent des halben Königreiches in der Sphäre höfischer Konversation. Während seine Tischnachbarin mit ihm munter zu parlieren scheint (Die selb gancz freuntlich mit im swaczt, HB-F 34), bleiben dem bewährten Haudegen die Konversationseinfälle aus: Und worn ir red so wol gemessen, / Das er nit west zu begegen (HB-F 36f.). Dem Fauxpas des sittenwidrigen Birnenteilens geht der Fauxpas mangelnder Eloquenz voraus. Anders formuliert: Bei Folz ist der Mangel an Hofzucht als Charaktermerkmal des Ritters keine Überraschung, dafür aber ein dreifacher: eine Dame nicht höfisch zu unterhalten oder ihr vorzulegen und mit Nachspeisen nicht höfisch umgehen zu können. Mit Folz’ verknappter und variierter Erzählweise ist eine eigene Pointe verbunden. Selbst von Kreuzzugsteilnahme ist nicht (mehr) auf andere ritterliche Tugenden zu schließen. Zudem ist der Ritter bei Folz nicht erst bei der Racheplanung von seinem Knappen abhängig, sondern bereits in Angelegenheiten höfischen Benehmens. Der sich seiner mangelnden Hofzucht Bewusste lässt sich vor dem Besuch der Hoftafel eigens instruieren (Doch gab sein knecht im weis und ler; HB-F 30). Rückblickend – also vom Scheitern bei Tisch – her betrachtet, bleibt bei Folz offen, wie sich die Schuldanteile hieran zwischen Ratsuchendem und Ratgebendem verteilen, denn der knecht [r]iet ym das pest, das er dan kund (HB-F 31). 777 Auf die Signifikanz von Normverstößen im Umgang sowohl mit wertvollen als auch mit alltäglichen Speisen wird am Ende des Kapitels dezidiert eingegangen. 778 Heiland weist zurecht daraufhin, dass „der falsche Umgang mit der Birnenhälfte“ bereits auf Figurenebene „keineswegs als einmaliger Fauxpas gewertet“ wird. Vielmehr demonstriert „[d]as Verhalten des Ritters [...] eine grundlegende Unzulänglichkeit eigener Körperkontrolle“ (Heiland 2015, S. 198).
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„ei schafaliers, werder helt, der die biren unbeschelt halben in den munt warf, waz er zühte noch bedarf! […].“ (HB-K 103–106)779
Mit dem öffentlich schmähenden Verspotten setzt sich die Prinzessin selbst beobachtender Normbemessung aus, ist doch bei jedwedem Spötter fraglich, woher er die Lizenz derartiger Selbsterhebung nimmt.780 Dementsprechend gilt hier bereits als Spannungsmoment: „Jeder Spötter muss von vornherein in Kauf nehmen, ebenfalls zum Verlachten und Verhöhnten zu werden, wenn er sich im Akt des Spottens über die geltenden Regeln und Codes erhebt.“781 Der so blamierte Ritter sinnt zornig auf Rache. Sein Knappe Heinrich, ein stereotyper Intrigenhelfer, weiß den entsprechenden Rat. Der Ritter soll sich in einen taubstummen Narren verwandeln, um die Königstochter aus nächster Nähe unbehelligt beobachten zu können. Im zweiten Handlungsbogen kehrt Ritter Arnold als falscher Narr an den Hof zurück, treibt mit der Hofgesellschaft sein rollenimmanentes Unwesen und legt sich vor die Türe jenes Prachtsaales, in dem die Prinzessin zu nächtigen pflegt. Im Übergangsbereich von höfischer Öffentlichkeit und nächtlicher Heimlichkeit, von repräsentierter courtoisie und individueller Obsession, sucht der falsche Narr etwas zu gewärtigen, womit er seinerseits den Ruf der jungen Frau vernichten könnte. Wie ein halbnackter insipiens der Psalterillustrationen begegnet Arnold dem Edelfräulein in nächtlicher Heimlichkeit. Diese erkennt im falschen Narren sogleich eine Verkörperung menschlicher Vertierung. Soweit bestätigt die Wahrnehmung der Prinzessin die ikonographiegeschichtlichen Schlaglichter auf die mittelalterliche Narrenfigur. Von derber Komik ist nun aber, sich deren zeitgenössischen Bedeutungszuweisungen völlig zu entziehen. Die Anomalie des Narren ist für die
779 Bei Folz ist der Schmähruf so variiert: „Her fert der gancz unkünend hellt, / Der dan die pirn so ungeschellt / Pald halber warff in seynen munt. / Wie gar ist ym kein hoffzucht kunt!“ (HB-F, 63–66). 780 Zur tückischen Spottlust der Prinzessin als Ausweis von „Scheinheiligheit bzw. Scheinkultiviertheit“ vgl. Heiland 2015, S. 209; Schnyder 2000, S. 275. Sarina Tschachtli sieht im Gespött der Königstochter nicht nur die Desavouierung ihrerselbst: „Man könnte also der Königstochter den Sinn zugestehen, dass sie nicht (nur) aus Lust an der Bloßstellung agiert, sondern zur Bloßstellung der Lüsternheit des Ritters. Damit verweist auch ihr Verhalten nicht auf bloß konventionell richtiges Benehmen, sondern enthält einen ethischen Anspruch“ (Sarina Tschachtli: Sexuelle Ethik und narrative Kontrolle. Zur Grenzüberschreitung in der Halben Birne A. In: Mären als Grenzphänomen. Hrsg. von Silvan Wagner. Berlin 2018 (= Bayreuther Beiträge zur Literaturwissenschaft; Bd. 37), S. 163). 781 Seraina Plotke: Neidhart als Spötter – Spott bei Neidhart. In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 57 (2010), Heft 1, S. 23–34, hier S. 34.
Labile Normalität und normale Anomalien: Die halbe Birne Konrads von Würzburg
junge Sittenwächterin keine warnende Erinnerung an die Sündhaftigkeit des Menschengeschlechts. Sie nimmt den Halbnackten vielmehr sogleich als Gegenstand sadistisch-erotischer Kurzweil in Aussicht und entlässt sofort ihre Hofdamen, von denen nur die alte Kammerjungfer Irmengart, das Pendant zu Arnolds Knappen, zurückbleibt. Aus reicher Erfahrung mit ihrer Herrin weiß Irmengart Rat und führt den vermeintlich dumm-tauben Narrenritter an das Bett ihrer liebestollen Herrin. Seinerseits sadistisch, verhält sich das närrische Objekt weiblicher Begierde aber völlig passiv, so dass die Kammerjungfer hilfeflehend angerufen werden muss. Diese übernimmt sogleich die sexuelle Choreographie und legt den Unbeweglichen auf den Bauch ihrer Herrin. Als dieser schließlich den Beischlaf nicht zu Ende bringen will, hilft die alterskluge Irmengart auf abermalige Anweisung ihrer Herrin mit gezielten Gertenstößen nach. „stüpfa, maget Irmengart durch dîne wîpliche art, diu von geburt an erbet dich, sô reget aber der tôre sich!“ (HB-K 385–388)782
Nach neuerlicher Gewaltanwendung und erfolgter Lusterfüllung wird das Missbrauchsopfer prompt aus der Burg geworfen. Der Plan des Knappen Heinrich ist in der gesteigerten Wiederholung von scheiternder Affektkontrolle bezogen auf Kulinarisches im Sexuellen aufgegangen: Die schöne Prinzessin der Hoföffentlichkeit ist in der Heimlichkeit ihrer Kemenate eigener Lasterhaftigkeit überführt. Als Ritter wieder zum Turnier zurückgekehrt, parriert Arnold den Schmähruf der Prinzessin öffentlich so: stüpfa, frouwe Irmengart (HB-K 446). Die Kammerjungfer wird nun warnend und deutend zum moraldidaktischen Sprachrohr, identifiziert Narr und Ritter und erklärt, so ergehe es eben dem Boshaften, schließlich selbst zum Gespött zu werden. Ihr weiterer Rat hat in eben diesem Sinne moraldidaktischen Pointencharakter: Ihre Herrin solle sich nicht nur um die Gewogenheit des Mitwissers bemühen, sondern diesen heiraten. Das Märe schließt mit dieser Didaxe des Epiloges: Den sittsamen Frauen zum Negativexemplum, sollten sich diese vor der Maßlosigkeit ihrer Lüsternheit hüten; Männer mögen hingegen beachten, wie man,
782 „O stupff flux, libe Yrmeltraüt! / Stupff ymer zu an unterloß, / Sunst hat der narr kein zil noch moß“ (HB-F 178–180). Am Beispiel der Halben Birne weist Grubmüller darauf hin, dass Arnolds „Zitat“ der „erotischen Anfeuerungsrufe“ der Prinzessin eine Revanche für deren Spottrede sei und damit exemplarisch dafür stehe, wie im „Schwankschema“ allgemein, „Provokation und Replik“ verbunden seien, um „durch Schaden auch wechselseitige Einsicht vermitteln“ zu können (Klaus Grubüller: Die Ordnung, der Witz und das Chaos. Eine Geschichte der europäischen Novellistik im Mittelalter: Fabliau – Märe – Novelle. Tübingen 2006, S. 115).
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ohne zu scheitern, der Minne dient und nicht durch eine vermeintliche Lappalie wie falsches Birnenessen seiner Ehre verlustig gehe. Der Handlungsverlauf wurde soweit nachgezeichnet, dass seine ‚vertraute‘ Struktur als „gewissermaßen verkürzter und degradierter ‚Doppelweg‘“783 , stereotype Figureneinführungen, traditionelle Ausgangssituation und Problemstellungen aufscheinen. Literarisches Abarbeiten an narrativen Mustern und Schemata indiziert bereits, dass sich eine Sinnschicht der Textbedeutung „in einem Spiel mit literarischen Konventionen“784 manifestieren wird. In dieser Perspektive lässt sich die Ausgangsthese reformulieren: Auch die Narrendarstellung sowohl als Intrigant als auch als Intrigeninstrument gründet ihren Wirkungserfolg – Epidemisierung des Wahnsinns, Desavouierung fassadenhafter Tugendhaftigkeit und bigotter Rezipientenhaltung – auf der tückisch-trügerischen Konventionalität ihrer Repräsentation. Außer der strittigen Verfasserfrage haben die Forschung bislang narratologische, kulturgeschichtliche, genderspezifische, psychoanalytische, queere oder zivilisationstheoretische Blickpunkte beschäftigt.785 Unabhängig vom jeweiligen Ana-
783 Müller 1985/86, S. 288. Müller spricht von ‚verkürztem Doppelweg, da im Gegensatz zum klassischen Artusroman „im Schwank nicht der Prozeß der Identitätsbestimmung erzählt werden“ könne. Dennoch blieben „einige Parallelen bzw. Negationen des Artusmodells umso signifikanter, als der Verfasser […] ja höfische Muster zitiert“ (ebd.). (Vgl. Max Schiendorfer: ‚Frouwen hulde – gotes hulde‘. Zu Erzählstruktur und -strategie in Die halbe Birne A und Die Heidin A. In: Homo medietas. Aufsätze zu Religiosität, Literatur und Denkformen des Menschen vom Mittelalter bis in die Neuzeit. FS für Alois Maria Haas zur 65. Geburtstag. Hrsg. von Claudia Brinker-von der Heyde und Niklaus Largier. Bern/Berlin/Frankfurt a. M. u. a. 1999, S. 471–485, hier S. 475f.; Mireille Schnyder: Die Entdeckung des Begehrens. Das Märe von der halben Birne. In: PBB 122 (2000) Heft 2, S. 263–278, hier S. 267f.; Matejovski 1996, S. 237. 784 Müller 1985/86, S. 288. 785 Hans Laudan: Die ‚halbe bir‘ nicht von Konrad von Würzburg. In: ZfdA 50 (1908), S. 158–166; Wailes 1974, S. 98–114; Kurt Ranke: ‚Birne: Die halbe B.‘ In: Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Hrsg. von Kurt Ranke. Berlin/ New York 1979, Sp. 421–425; Anne Gouws: Aufbauprinzipien der Versnovellen Konrads von Würzburg. In: Acta Germaniac 14 (1981), S. 23–38; Jan-Dirk Müller: Die hovezuht und ihr Preis. Zum Problem höfischer Verhaltensregulierung in Ps.-Konrads ‚Halber Birne‘. In: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein Gesellschaft 3 (1984/85), S. 281–311; Klaus Grubmüller: Wider die Resignation: Mären kritisch ediert. Einige Überlegungen am Beispiel der ‚Halben Birne‘. In: Methoden und Probleme der Edition mittelalterlicher Texte. Bamberger Fachtagung 26.–29. Juni 1991. Plenumsreferate. Hrsg. von Rolf Bergmann und Kurt Gärtner. Tübingen 1993, S. 92–106; Dirk Matejovski: [Kap. V. 2] Simulierter Irrsinn und die Dissoziation des höfischen Wertesystems: Die halbe Birne (A). In: Ders. 1996, S. 235–253; Schiendorfer 1999, S. 471–485; Edith Feistner: Kulinarische Begegnungen: Konrad von Würzburg und die Halbe Birne. In: Vom Mittelalter zur Neuzeit. FS für Horst Brunner. Hrsg. von Dorothea Klein u. a. Wiesbaden 2000, S. 291–304; Schnyder 2000; Irmgard Gephart: Halbe Birnen und sonstige Lustbarkeiten. Zur mittelalterlichen Schwankerzählung von der Halben Birne des Konrad von Würzburg. In: Witz und Psychoanalyse. Internationale Sichtweisen – Sigmund Freud revisited. Hrsg. von Karl Fallend. Innsbruck/Wien/Bozen 2006 (=
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lyseaspekt steht hierbei vielfach das fragliche Verhältnis der beiden so plakativ ausgefalteten Normverstöße im Zentrum. Nicht zuletzt die Doppelstruktur der Erzählanlage786 , die parodistisch die Makrostruktur der Artusepik zu imitieren scheint oder die strittige Symmetrie von Verschmähung und Rache haben immer wieder dazu veranlasst, nach dem Bedeutungsgehalt sowie der Verfehlungsdimension von Arnolds fehlenden Tischsitten zu fragen.787 Dieser Interpretationskomplex wird hier zunächst zurückgestellt, um ein bisheriges Forschungsdesiderat zu kompensieren: Welche Funktion und Bedeutung hat die Narrenfigur im Kontext eines solchen moraldidaktisierten Intrigengeschehens? Welche Zusammenhänge von
Psychoanalyse und Qualitative Sozialforschung 5), S. 87–84; Andrea Schallenberg: Spiel mit Grenzen. Zur Geschlechterdifferenz in mittelhochdeutschen Verserzählungen. Berlin 2012 (= Deutsche Literatur. Studien und Quellen 7), S. 34, 39, 72f., 87, 95, 104, 107, 113, 124, 148, 163, 175, 260, 286, 348, 401; Satu Heiland: [Teil III, Kap. 1.2] Die halbe Birne. In: Dies.: Visualisierung und Rhetorisierung von Geschlecht. Strategien zur Inszenierung weiblicher Sexualität. Berlin/Boston 2015 (= Literatur/Theorie/Geschichte. Beiträge zu einer kulturwissenschaftlichen Mediävistik; Bd. 11), S. 194–210; Patrizia Barton: „Stüpfa, maget Imrengart!“ – Die Entdeckung des anderen Begehrens in der Halben Birne A. In: Mären als Grenzphänomen. Hrsg. von Silvan Wagner. Berlin 2018 (= Bayreuther Beiträge zur Literaturwissenschaft; Bd. 37), S. 141–157; Sarina Tschachtli: Sexuelle Ethik und narrative Kontrolle. Zur Grenzüberschreitung in der Halben Birne A. In: Mären als Grenzphänomen. Hrsg. von Silvan Wagner. Berlin 2018 (= Bayreuther Beiträge zur Literaturwissenschaft; Bd. 37), S. 159–172; Harald Haferland: Erzählen des Unwahrscheinlichen und wahrscheinliches Erzählen im mittelhochdeutschen Märe. In: Prägnantes Erzählen. Hrsg. von Friedrich Michael Dimpel und Silvan Wagner. Oldenburg 2019 (= Brevitas 1 – BmE Sonderheft), S. 431–467 [online]; Christian Kiening: Ästhetik der Struktur. Experimentalanordnungen mittelalterlicher Kurzerzählungen (Fleischpfand, Halbe Birne). In: Ästhetische Reflexionsfiguren in der Vormoderne. Hrsg. von Annette Gerok–Reiter, Anja Wolkenhauer, Jörg Robert und Stefanie Gropper. Heidelberg 2019 (= GRM-Beiheft 88), S. 303–328. 786 Zur Erzählstruktur der Halben Birn A vgl. Kiening 2019, S. 316–322. 787 Für Müller, Feistner und Gephart ist der Konnotationsraum der Nachtischprobe metaphorisch eindeutig ausgewiesen: „Allerdings ist das Objekt des Streits nicht beliebig, die saftige Frucht hat im Mittelalter eine eindeutige Konnotation zum weiblichen Geschlecht und mehr noch: das Birnenessen steht auch für den Geschlechtsverkehr selbst“ (Gephart 2006, S. 90; vgl. Müller 1985/86, S. 303; Feistner 2000, S. 295ff.). Die Allegorese des sexuell konnotierten Birnenessens bleibt aber ebenfalls im metaphorisch Assoziativen. Auch Schnyder spricht von einer „engen Verknüpfung von Essen und Geschlechtsakt“ (Schnyder 2000, S. 275, Anm. 23). Hieran knüpft Heiland an: „Die enge Verbindung zwischen den beiden Bereichen [Essen und Sexualität] zeigt sich auch in ihrer metaphorischen Verknüpfung: So dürfte das Schneiden und Verspeisen der erotisch konnotierten Birne vor dem Hintergrund einer reich belegten Sexualmetaphorik beim mittelalterlichen Publikum sicherlich die Assoziation des Geschlechtsakts hervorgerufen haben“ (Heiland 2015, S. 205). Auch Tschachtli sieht in dem unhöfischen Birnenessen ein „Zeichen […] fehlende[r] Zurückhaltung“. Dass aber die Passivität des Narren beim Sexualakt die „neue Selbstkontrolle“ des Protagonisten zeige, „weil der Ritter die Lektion der fehlenden Zurückhaltung gelernt“ habe, kann nicht überzeugen, da hierbei die Rachemotivik völlig ausgebelendet bleibt (Tschachtli 2018, S. 169).
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Narrheit und Ästhetik sind für das Erzählen in der Halben Birne konstitutiv? Unter diesen Gesichtspunkten lässt sich vor allem das ästhetische Raffinement des Textes als Spiel mit trügerischen Mustern und der Doppelbödigkeit von Protagonisten und Hofkultur nachvollziehen. 3.1.2 Stereotype Repräsentation des Anomalen: Ästhetik labiler Normalität Gemessen am gesamten Textumfang fällt auf, wie viel Aufmerksamkeit der Intrigantenrolle des Ritters als vermeintlich natürlichem Narren gewidmet wird. In der Handlungsfolge lassen sich drei Phasen788 unterscheiden, die die Simulation natürlicher Torheit entfalten: a) Heinrichs Rat zur Narrenrolle (HB-K 142–174) b) Ratumsetzung und Auftreten in der höfischen Öffentlichkeit (175–206) c) Der Narr in der Heimlichkeit von Nacht und Kemenate (207–397). Dieser per se unter Redundanzverdacht stehenden Genauigkeit der Schilderungen von Rat, -umsetzung und -erfolg, deren Alternative erzählerisch raffende Setzung gewesen wäre, hat einen bislang unbeachtet gebliebenen ästhetischen Mehrwert, dessen narrative Funktion detailgenauen Nachvollzug rechtfertigt: Simulation und Dissimulation von Täuschungs- und Betrugsgeschehen zeigen den Intrigenverlauf in experimenthafter Beobachtbarkeit.789 Die Pointe des Textes liegt allerdings weniger in der überraschenden Unmoral seiner bigotten Hofwelt als vielmehr in der erst nachträglich merklichen Involvierung des Rezipienten.790 Die Genauigkeit, mit der die Narrenfigur vorgeführt wird, macht den Leser – raffinierterweise gleichermaßen – zum Intrigenkomplizen
788 Eine derartige Phasierung des Intrigengeschehens bzw. des Rollenwechsels und der Verkleidung fehlt bei Folz. Der Rat, Narrenhabit und -rolle anzunehmen, ist bei Folz hierzu verkürzt: „[…] Und tut eich cleiden alls ein thorn. / Ewr haupt werd als eim narn beschorn, / Ewr munt beschlossen alls eim stumen. / Darauß kein red nümer lat kumen. / In sülcher art zicht wider dar / Und hallt euch zu der kungin schar. / Wer euch dan schellt, werff oder schlag, / Und was euch leytz begegen mag / Vom folk mit mancher hand unzucht, / So hapt alweg zu ir dy flucht. / Schlofft all nacht vor yrem kamyn; / Do lat nimant euch zihen hin […]“ (HB-F 85–95). 789 Bei der Strukturbeschreibung des Intrigengeschehens beziehen wir uns terminologisch auf von Matt 2006, hier insbesondere auf Kap. XIII: „Übersicht über die Elemente des Intrigenmodells“ (a.a.O., S. 118–121). 790 Mit Blick auf den neuzeitlichen Leser konstatiert Gephard: „Neuzeitliche Leser können diese sehr konkrete Geschichte nur mehr portionsweise ‚verdauen‘, zum einen, weil sie auf eigene Tabuzonen stoßen. Endlich am Punkte der Erkenntnis angekommen, mag es ihnen dann so gehen wie vielen Zuhörern karnevalistischer Büttenreden. Sie wissen nicht recht, ob sie über so viel Anstößigkeit noch lachen dürfen“ (Gephart 2006, S. 94).
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wie zum Intrigenopfer. Im Lektürerückblick muss er sich eingestehen, sich lasterhaft über seine eigene ‚Freude am Bösen‘ (Röcke) wie am Obszönen amüsiert und Signale des Doppelbödigen überlesen zu haben, als längst Ansätze dafür fasslich geworden sind, dass der Fassadenhaftigkeit der Figurenklischees nicht vertraut werden darf. Diesen drei Erzählphasen wird nun im Einzelnen nachgegangen, um die Täuschungen des Rezipienten, der letztlich zum Narren wird, nachzuvollziehen. Mit Blick auf die Inspiration durch den Intrigenhelfer wird die Beratungsszene, in der die Narrenrolle791 von Arnolds Intrigenhelfer Heinrich entworfen wird, als Ausgangspunkt genommen: […] verkêret iuch, daz ist mîn rât, und werdet zuo eime tôren. lât iu ob den ôren daz hâr abe nemen. diu kleit, diu tœrlich zemen, diu heizet iu gewinnen. nach tobelichen sinnen lâzet iu vermüseln mit râme und mit üseln antlitz und varwe, daz iuwer lîp vil garwe swarz als ein erde sî. einen kolben swære als ein blî, den nemet zuo eime leitestabe. als ein tœrehter knabe loufet für des küneges tisch, ez sî reiger oder visch, daz slâhet alles darnider! redet ieman dar wider, dem slâhet ein gebiusche und machet ein geriusche vor der küniginne, als ir niht habet sinne! frâget iuch ieman iht, dem antwürtet niht, reht als ir sît ein stumbe!
791 Für die Rolle des falschen Narren ist über die geschilderte Kostümierung hinaus seine partielle Nacktheit in doppeltem Sinne konstitutiv: zum einen für die Plausibilisierung seiner angenommenen Rolle und zum anderen für seinen anvisierten Racheplan (vgl. Schallenberg 2012, S. 112f.).
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varet umb und umbe! swâ diu küneginne sî, dâ wônet stæteclîche bî! swaz âventiure iu geschiht, des verswîget mir niht, swenne ir herwider kumet, wan iu mîn rât wol frumet.“ (HB-K 142–174)792
Der Racheplan Heinrichs besteht aus drei Täuschungsebenen simulierten Wahnsinns: a) der äußerlichen Verwandlung in einen Narren (HB-K 142–155), b) der Annahme närrischen Habitus’ (156–164) und schließlich c) der völligen Verkehrung in einen Stummen als idealem Beobachter (165–174). Heinrich rät zur Verkehrung zuo eime tôren (143): „Er ist aus der höfischen Gesellschaft ausgeschlossen: die Rolle des tôren ist der angemessene Ausdruck dafür.“793 Der angeratene Rollenwechsel vom Ritter zum tôren verwundert in einem spätmittelalterlichen Text wenig, gehen doch die ,Toren‘ den ‚Narren‘ weniger sprach- als literaturgeschichtlich voraus.794 Vor allem die beiden Verkehrungsdimensionen ‚Habit‘ und ‚Habitus‘ zeigen jedoch deutlich, dass in dieser Textpassage ‚Tor‘ als Synonym zu ‚Narr‘ zu verstehen ist: Heinrichs Torenbild ist, das Folgende wird das erweisen, ja weniger originelle Wahnsinnsrepräsentation als vielmehr eine Kombination gängiger mittelalterlicher Narrenstereotype795 , wie sie einleitend vorgestellt worden sind. Das Mittelhochdeutsche kennt tôren auch als Verb mit den Bedeutungen „ein tôre sein oder werden, toll sein, rasen“ und „zu einem tôren machen, betören, betrügen, hintergehen“796 . Im Sinne harmlosen Täuschungsgeschehens oder auch boshafter Bloßstellung ist ‚jemanden zum Narren halten‘ bis heute geläufig. Wissensdivergenz und Perspektivität labilisieren also per se die Grenze zwischen Klugen und
792 Abermals setzt Folz in seiner Erzählvariante auch bei dem Rat zur Intrigantenrolle des Narren eigene Akzente. Erwähnt werden lediglich Narrenkleidungkmi (tut euch cleiden alls ein thorn; HB-F 85), Haarschur und Stummheit (Ewr haupt wird als eim narn beschorn, / Ewr munt beschlossen alls ein stumen; HB-F 86f.). Bei Folz kommt jedoch noch der zunächst sinnfrei erscheinende Ratschlag hinzu, stets vor dem Kamin der Königstochter zu nächtigen (Schlofft all nacht vor yrem kamyn; HB-F 95). 793 Müller 1985/86, S. 288. 794 Kluge führt ‚Narr‘ auf das 8., ‚Tor‘ auf das 13. Jahrhundert zurück. In der mittelhochdeutschen Erzählliteratur findet aber überwiegend der Wortgebrauch des semantischen Feldes von nhd. ‚Tor‘ Verwendung. Vgl. Friedrich Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 23., erweiterte Aufl. bearbeitet von Elmar Seebold. Berlin/New York 1995, S. 582a, 828b. 795 Mhd. tôre, tôr swm. tor, narr, irrsinniger […] morio, stultus; Lexer 1979, Bd. 2, Sp. 1464. 796 Vgl. ebd. Sp. 1465.
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Toren. Was philosophisch, religiös und vernunftspraktisch einleuchtet, arbeitet aber auch der ‚konstruktivistischen‘ Blickrichtung vorliegender Analysen zu: Auch das Mittelalter amüsiert sich über subversive Erzählwelten, deren Unterhaltungsund Belehrungscharakter eben in beidem gründet: der Ausstellung unterminierter Abgrenzung vom Anomalen als gesellschaftlich bedingter Trennlinie. Hier wurde dezidierter begriffsgeschichtlich verfahren, ist ein solcher Begriff wie mhd. tôr doch auch für die Narratologie der Kurzerzählung ‚repräsentativ‘, die den Leser vor allem durch zwei literarische Verfahren ‚betört‘: Einerseits erfahren Leerstellen von stereotyp Vertrautem durch gezielte Rezeptionssteuerung irrige Auffüllungen, andererseits wird begriffliche Mehrdeutigkeit erst im Rückblick vereindeutigt. So ist bei mittelalterlichen ‚Toren‘ bereits semantisch mit beidem zu rechnen: Beobachter vorgeführter Torheit können selbst zu Toren werden und Torheit kann außer Tollheit und Rasen auch Taubheit797 umfassen – beides sprachgeschichtlich implizite Hinweise auf Erzählperspektive und Figurengestaltung der Halben Birne. Arnolds ‚Verkehrung‘ zielt darauf ab, als unkenntlicher Beobachter Zeuge einer moralischen Zweifelhaftigkeit, besser noch Verfehlung, der Prinzessin zu werden. Die Intrigantenrolle des natürlichen Narren soll äußerlich mit gängigem stigmatisierendem wie marginalisierendem Narrenhabit des Mittelalters ausstaffiert werden. Oberhalb der Ohren soll sich Arnold das Haar abnehmen lassen; ein Hinweis auf die Narrentonsur798 und zugleich eine Betonung der Ohren, deren Größe in mittelalterlichem Volksglauben wie im vormodern Vorwissenschaftlichen Ausweis eingeschränkter mentaler Potenz sein sollen. Mezger zufolge ist „[d]ie Kahlrasur oder die Haarschur in mehreren Kränzen […] eine groteske Verunstaltung, die offenbar mit der als Ausdruck der Demut geltenden Klerikertonsur kontrastiert. Ab Mitte des 14. Jh. wird der N. nur noch selten barhäuptig dargestellt. Jetzt visualisiert die charakterist. N.kappe (‚Gugel‘) mit den Eselsohren seine Torheit“799 . Einen weiteren Hinweis auf die Konventionalität der Außenseitermarkierung bietet die mittelhochdeutsche Wendung diu kleit, diu tœrlich zemen, / diu heizet iu gewinnen (HB-K 146f.) oder gekleidet als ein tôr (179). Mit „Kleider, wie sie Narren tragen“ übersetzt Grubmüller diese Stelle. Die Formulierung hat den Charakter des Paradoxen: Die Kleidungsbeschreibung erfolgt hier einzig durch Hinweis auf den Usus, wie törichte Außenseiter gekleidet würden, und es liegt am zeitgenössischen wie am modernen Rezipienten, sich von dieser Narrenkleidung ‚ein Bild zu machen‘. Dennoch ist diu tœrlich zemen ebenso wie das Narrenattribut des bleischweren Kolbens Ausweis für „[d]ie schrittweise äußerl. Standardisierung des N.en zu einem unverwechselbaren Typus mit festen Merkmalen und Attributen“, wie sie „aus der 797 Etymologisch berühren sich ‚Taubheit‘ und ‚Torheit‘, mhd. toub, mndd. dof als ‚gehörlos‘ und ‚umnebelt, verwirrt‘; vgl. Kluge 1995, S. 817. 798 Bei Folz wird einzig die Haarschur betont (vgl. HB-F 86). 799 Mezger 1999, Sp. 1024.
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ikonograph. Entwicklung der Illustration des Ps 52 zw. 1200 und 1500 detailliert“800 abgelesen werden kann. Die Bezeichnungen ‚Tor‘/,Narr‘ mögen den heutigen Leser des Schwankmäres dazu verleiten, sich unter der angesprochenen Außenseitertracht eselsohrige Schellenkappe und Zackenwams vorstellen, wie sie auf dem Höhepunkt ihrer Standardisierung seit dem 15. Jahrhundert vorkommen. Literarische Ästhetik und Datierung des Textes legen aber eine genauere Unterscheidung von textlich gedeckter und lediglich suggerierter Bildlichkeit nahe. Im Sinne einer solchen kulturgeschichtlichen Kontextualisierung lohnt sich eine abermalige Einbeziehung der Ikonographiegeschichte mittelalterlicher Narrendarstellungen. Für die Psalterillustrationen des 13. Jahrhunderts, die einen Narren im Gespräch mit König David in einer D-Initiale einschließen, hat Mezger vor allem die Antithetik von Gestaltungsdetails betont, die auch für den Narren der Halben Birne relevant sind: „Im D-Initial des 52. Psalms erscheinen David und der Insipiens beide mit erhobener rechter Hand, ein ungleiches Streitgespräch über die Existenz Gottes führend. […] David ist prunkvoll gekleidet, der Insipiens dagegen tritt halb nackt auf.“801 Da die Bandbreite der Narrentracht zwischen derartigen Extremen oszilliert, ist auch ein adäquat dimensioniertes Bedeutungsspektrum der so gekleideten Figur anzusetzen. Als Hofnarr gehören körperlich wie geistig Anomale an den mittelalterlichen Hof weltlicher und geistlicher Fürsten, der nicht völlig bekleidete Narr verkörpert zudem extreme Sündhaftigkeit (Gottesleugnung) und Unmoral. Wenn also im Schwankmäre der Halben Birne ein derart indifferenter Narr erscheint, bleibt zunächst völlig offen, welche Stoßrichtung die Ordnungsstörung seines Auftretens als Verkörperung des noch diffus Anomalen haben wird. Ein weiter Aspekt der Ästhetik dieses so vielfältig mit der Rezipientenerwartung spielenden Textes sei hier vorweggenommen: Selbst wenn sich der Leser Deutungsalternativen zurechtlegt, muss immer auch mit dem ganz Anderen gerechnet werden: Der rachsüchtige falsche Narr der Halben Birne findet seine Begrenzung nicht im Figurenstereotyp des kurzweilverbreitenden Spaßmachers und erst recht nicht in jenem des warnenden Mahners zu Tugendhaftigkeit. Der verkleidete Arnold wird sich als personifiziertes Intrigeninstrument herausstellen, dessen Drohpotential gerade darin gründet, dass der Konventionalität seiner Anomalie nicht getraut werden darf. Mit welchen weiteren Details stattet der Knappe Heinrich den falschen Narren aus? Von einem kolben swære als ein blî (HB-K 154) ist in dessen Verkleidungsrat zu hören. Nach Mezger ist „[d]as älteste N.enkennzeichen […] demnach eine aufrecht in der Hand getragene Keule. Sie bildet das negative Gegenstück zum
800 Ebd. 801 Mezger 1981, S. 15.
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Szepter des weisen Kg.s David, mit dem der ‚insipiens‘ im Initial häufig konfrontiert wird“802 . Insbesondere die Narrendarstellungen zwischen dem 13. und dem späten 16. Jahrhundert zeigen jedoch, dass Attribute wie die Keule in ikonographiegeschichtlichem Rückblick nicht allein symbolisch aufzufassen sind. Vielmehr deuten bereits französische Psalterillustrationen ebenso wie die Narrenporträts im Gebetbuch des Matthäus Schwarz (1521) darauf hin, dass derartige Attribute zudem auch Ansätze sozialgeschichtlichen Realismus’ widerspiegeln. Der Narr ist in seiner paradoxen Integriertheit am Hof doch auch immer Außenseiter, der einer Keule bedarf, um sich im Peripheren der Gesellschaft gegen Bedrohungen von Mensch und Tier zur Wehr setzen zu können. Auf Unkenntlichkeit wie auf simulierte Verrücktheit (nach tobelichen sinnen; HB-K 148) zielt der Ratschlag ab, Gesicht und Körper so mit Ruß und Asche zu beschmieren, dass Arnold schwarz wie die Erde werde ([…] lâzet iu vermüseln / mit râme und mit üseln / antlitz und varwe, / daz iuwer lîp vil garwe / swarz als ein erde sî; HB-K 149–153).803 Der schon im Alten Testament begründete Brauch, sich bei Totentrauer Asche auf das Haupt zu streuen, begegnet in der neutestamentarischen Liturgie auch sinnbildlich für die Bußtrauer, da Asche wegen ihrer reinigenden Wirkung im Mittelalter auch als Grundstoff der Seifengewinnung genutzt wurde.804 Im schwankhaften Märe markiert das christliche Demutszeichen aber vielmehr eine Verrücktheit, die mit der Sphäre des Niedersten, der Affinität zum erniedrigend Erniedrigten, zur unreinen Vertierung korreliert, kennt doch das Christentum Asche auch als „Sinnbild der Vergänglichkeit u. Nichtigkeit“805 . Der Unkenntliche ist der Entindividualisierte, eine Person ohne Stand und Status, eine soziale Unperson, die im höfischen Kontext keine Existenzmöglichkeit außer als Figuration des Anderen im Eigenen kennt. Dass die Nähe zum Niedrigsten und Vergänglichsten, zum unrein Tierhaften zur wichtigsten Bedeutungskorrelation von Narr und Asche gehört, erweist sich wiederum erst im Lektürerückblick. Erst die spätere Motivdoppelung gibt vereindeutigenden Aufschluss, wenn die wollüstige Prinzessin angesichts des nackten Narren befehlen wird:
802 Mezger 1999, Sp. 1024. 803 Zu üsele/üsel, usele/usel in den Bedeutungen ‚Asche‘, ‚Funkenasche‘, ‚Aschenstäubchen‘ vgl. Lexer 1979, Bd. 2, Sp. 2017. Folz hat auf das Motiv der Schwarzfärbung seines Narren verzichtet. 804 Vgl. Inge-Maren Peters: [Art.] ‚Asche‘ (lat. cinis). In: LMA, Bd. I, Sp. 1102. In Bezug auf das Motiv der Asche zieht Heiland noch zwei weitere Deutungsmöglichkeiten in Erwägung: Unter literaturgeschichtlich allerdings heikler Anlehnung an die Märchenmotivik gilt ihr „Ruß und Asche [...] als unverkennbares Zeichen von Dummheit“ (Dies. 2015, S. 198 Anm. 858). Zudem zählt Heiland Asche zu jenen ‚Markern’, die den „sexuellen Charakter der Szene“ einläuteten, denn [e]benso wie die dazugehörige Asche birgt das Feuer erotische Konnotation“ (ebd., S. 200). 805 Ludwig Eisenhofer: [Art.] ‚Asche‘. In: LThK. Bd. 1. Freiburg i. Breisgau 1930, Sp. 713.
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„bringet uns den narren, er muoz hie tâlanc scharren vor mir in der aschen!“ (HB-K 241–243)
Spricht man dem Obsessiven, den ureigenen Lustphantasien, charakterisierende Aussagekraft zu, kann die Figurenzeichnung im Negativen kaum drastischer ausfallen. Ausgerechnet jenes Hoffräulein, das sich selbst als Preis elitären Ausleseprozesses ausschreiben und dazu hinreißen lässt, scheiternde Affektkontrolle bei Tisch erst zu kritisieren, wenn sich diese als existenzbedrohende Deklassierung hinausposaunen lässt, erweist sich in der trügerischen Heimlichkeit von Nacht und Kemenate als ganz und gar nicht tugendhaft passive Frau. Aus der Diskrepanz von öffentlicher Selbstinszenierung als pedantische (Tisch-)Sittenwächterin und heimlicher wie gewohnheitsroutinierter ‚Triebtäterin‘ im Sexuellen speist sich auch der misogyne Grundton des Märenepiloges. Die Aschenfärbung des Narren Arnold selbst hat offenbar nicht nur eine doppelte Funktion (Dissimulation der Identität und Simulation der Verrücktheit), sondern darüber hinaus auch abermals ambivalenten Zeichencharakter, der den Narren zur Projektionsfläche perspektivisch divergierender Deutungen werden lässt. Während der Symbolgehalt der Asche den Narren der Sphäre des Unreinen und Unzivilisierten zuordnet, signalisiert dieser damit auch seine Verfügbarkeit für die Lustphantasien einer Prinzessin, deren Triebsteuerung einzig auf egoistische Befriedigung abzuzielen scheint. Dass das Niedrigste für die Prinzessin höchst erregend ist, zeigt sich, wenn das Aschemotiv zum dritten Male wiederkehrt. Wird der Torheitssimulant in das Schlafgemach gebracht, verlangt man auch schon von ihm, sich ans Feuer zu setzen.806 So kann bereits seine Passivität die verführend verführbare Königin erregen: sîn vil lanc geschirre / daz hienc im in die aschen (HB-K 262f.).807 Hatten bereits Attribute und Kleidung den Narren kenntlich machen sollen, so steht vor allem auch der anempfohlene Habitus ganz im Dienst der Vortäuschung tatsächlichen Verrücktseins. Denn auch die Anomalie an den Tag gelegten Verhaltens wird vom Knappen Heinrich als Extrem und folglich als anvisierte Verunmöglichung des buchstäblichen Entlarvtwerdens nahegelegt. Als tœrehter knabe (HB-K 156) oder als Sinnverwirrter (als ir niht habet sinne; HB-K 164) kann
806 Zu ‚Feuer’ als ‚Marker’ erotischer Szenerie vgl. Heiland 2015, S. 200. Platziert am Feuer, zeigt sich der Prinzessin auch der entblößte Unterleib des falschen Narren. Vgl. Schallenberg 2012, S. 124 Anm. 262. 807 Auch Folz platziert seinen falschen Narren am Feuer, wo die Königstochter [d]er manheit worlichs instrument (HB-F 118) an ihm erblickt. Folz’ Schilderung ist hierbei ins Diskrete verknappt: Das hie gar wol pleipt ungenent (HB-F 120).
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mit einiger Berechtigung derjenige gelten, dessen Gewaltbereitschaft weder Anlass noch Ziel kennt. Bei seinem Narrenauftritt bei Hofe soll Arnold die Tafel des Königs in Stücke hauen (slâhet alles darnider! HB-K 159) und unterschiedslos Speisen wie Höflinge mit Schlägen traktieren, sollte jemand gegen seinen Irrsinnsfuror aufzubegehren wagen. Die das empfohlene Narrenbild zusammenfassende Aufforderung zur inszenierten Tobsucht – varet umb und umbe! (HB-K 168) – nimmt eine finale Vereindeutigung der darzustellenden Außenseiterfigur vor. Es ist mitnichten der harmlose Hofnarr, dessen törichte Verstellung unterhält, sondern der sog. ‚natürliche‘ Narr, wie ihn bereits die zeitgenössische terminologische Kategorisierung von den Figurenvarianten komplementärer Künstlichkeit differenziert: die natürleichen tôren, die ze latein muriones haizent (MGB 488, 23).808 Intrigenstrategisch als Bedingung für eine ideale Beobachterfigur wie auch als weiteres Indiz vermeintlich natürlicher Torheit ist schließlich der Ratschlag aufzufassen, sich als Stummer (reht als ir sît ein stumbe! HB-K 167) zu geben. Der stumme Narr steht folgenlos für alles zur Verfügung und ist desgleichen scheinbar gefahrloser Augenzeuge jeglichen Tabubruches. Das wird zur Perspektive der Prinzessin, deren Charakteranlage sie zum wehrlosen Opfer eines ebenso genialen wie heimtückischen Intrigeninstrumentes werden lassen muss. 3.1.3 Variation durch Perspektivität Die ‚zweite Narrenpartie‘, Arnolds Auftreten in Narrenlarve am Hof, steht ganz unter diesem Vorzeichen: Perspektivwechsel. Die Blickrichtungen von Intrigant und Intrigenhelfer sowie deren antizipierter Betrugsverlauf werden nun von der präzisierenden Perspektive der – und hier ist zunächst der Plural angemessen – Intrigenopfer abgelöst: daz hâr wart im abe gesniten nach tœrlîchen siten, und gekleidet als ein tôr. er wart geswerzet als ein môr. daz kleit im an dem knie erwant. einen kolben nam er in die hant, dâ mite huop er sich von dan. (HB-K 177–183)
808 Zur lateinischen Wortbedeutung vgl. Georges 1998, Bd. 2; Edwin Habel/Friedrich Gröbel (Hgg.): Mittelallteinisches Glossar. Mit einer neuen Einführung versehener, im Wörterbestand unveränderter Nachdruck der 2. Auflage 1959. Paderborn/München/Wien/Zürich 1989 (= UTB 1551), Sp. 247.
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Um zu versichern, dass der Rat auch befolgt wird, stellt der Text heraus, dass Arnolds Haare tatsächlich entsprechend dem stigmatisierenden Usus bei Toren abgeschnitten worden seien und er seine Ritterrüstung mit einem Narrengewand vertauscht habe. Das entstellende, entfremdende Einfärben mit Asche wird so zur Perfektion getrieben, dass der falsche Narr mit einem ‚Mohren‘, dem Außenseiterstereotyp des exotisch Fremden schlechthin, verglichen werden kann. Im Mittelhochdeutschen meint môr, môre einerseits ‚Maure‘, ‚Schwarzer‘ oder gar ‚Teufel‘ und andererseits – abgeleitet von môr – ‚schwarze Sau‘.809 Die Asche verwandelt den einstigen Ritter in den ganz Anderen, in den kulturell Entgegengesetzten und darüber hinaus ins tierhaft Obszöne oder gar dämonisch Teuflische. Mit Blick auf den weiteren Handlungsverlauf hat die Unkenntlichkeit verbürgende De-Humanisierung des einstigen Ritters geradezu geniale Züge, ermöglicht sie doch uneingeschränkte Beobachtung und vermeintlich folgenlose Verfügbarkeit. Was man sich nun unter gekleidet als ein tôr (HB-K 179) genauer vorzustellen habe, wird nun präzisiert: daz kleit im an dem knie erwant (HB-K 181). Damit wird auch literarisch widergespiegelt noch genauer fasslich, wo sich die Narrenfigur des Schwankmäres im Prozess ihrer ikonographischen Entwicklung befindet. Lediglich in diesem Aspekt, der knielangen Bekleidung, stimmt die einzige Handschriftenillustration der Textüberlieferung mit dem Geschilderten überein. Die Tiroler Handschrift aus dem Jahre 1456, abhängig von der Innsbrucker Handschrift von 1373810 , zeigt auf Bl. 18r den Narren Arnold in knielangem Gewand. Das Verhältnis von Text und Bild ist zudem offenkundig recht vage, hat der Illustrator doch auf Schwarzfärbung, Narrentonsur und Kolben verzichtet.811
809 Vgl. Lexer 1979, Bd. 1, Sp. 2196; 2198. Zur Schwarzfärbung von Teufel und Narr vgl. Schallenberg 2012, S. 148. 810 Zur Textüberlieferung vgl. Grubmüller 1996, S. 1083. 811 Reproduktionen der Illustration finden sich in: Innsbrucker Handschrift. In: Sammlung kleinerer deutscher Gedichte. Vollständige Faksimile-Ausgabe des Codex FB 32001 des Tiroler Landesmuseums Ferdinandeum. Einführung Norbert Richard Wolf. Graz 1972, Bl. 18r; Die schönsten Schwankerzählungen des deutschen Mittelalters. Ausgewählt und übersetzt von Hans Fischer. München 1968, S. 32.
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Abb. 2 Randminiatur zur ‚Halben Birne‘ des Codex FB 32001 des Tiroler Landesmuseums Ferdinandeum, Bl. 18r.
Die Narrendarstellung spielt hier eher ins ikonographisch Symbolische. Während in der mittelalterlichen Manuskriptkultur Narren einen Kolben oder dessen Verfeinerung zur Marotte812 mit sich führen, hält der Unglücksritter Arnold die titelgebende 812 „An der Wende zum 15. Jahrhundert verfeinert sich dann die Keule (auch ‚Kolben‘) zur menschenköpfigen ‚Marotte‘, die der N. wie eine Stabpuppe vor sich herträgt. In ihr erkennt er sein eigenes
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Birnenhälfte auf Augenhöhe in seiner rechten Hand. Deutlich als Narr kennzeichnet ihn lediglich ein Schellenkranz, den er um den Hals trägt. Was zunächst als durchaus übliche Textferne einer Handschriftenillustration erscheinen mag, illustriert die Randminiatur doch mitnichten die literarische Narrendarstellung, koinzidiert auf höherem Abstraktionsniveau mit einer Repräsentationstechnik des Schwankerzählens. Mit bereits erwähnten mhd. Wendungen wie diu kleit, diu tœrlich zemen (HB-K 146) erhält der Textrezipient ja weniger ein konkretes literarisches Bildangebot etwa des Torenhabits als vielmehr einen Imaginationsimpuls, sich eben ein entsprechendes Narrenkleid selbst vorzustellen. Eine vergleichbare Leerstelle repräsentiert die Tiroler Randminiatur zur Halben Birne, visualisiert sie tatsächliche und vermeintliche Narrheit, objektiviert in Birnenhälfte und närrischem Schellenkranz, doch lediglich als vages Imaginationsangebot, da sie eine Kombination des tischsittenunkundigen Narrenritters und des vermeintlich natürlichen Intrigantentoren vorstellt. Der Zeigegestus, mit dem die Birnenhälfte vor das Gesicht gehalten wird, ist mit den von anderen Narren mitgeführten Attributen Kolben und Marotte vergleichbar. Die genannten Attribute symbolisieren ebenso wie das kulinarische Indiz skandalös unhöfischer Tischsitten sündige Unbeherrschtheit und Selbstbezogenheit.
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Mit dem zweiten Handlungsbogen wird das Strukturschema des klassischen Artusromans parodiert. Arnold kehrt als Narr an den Hof zurück. Diese Wiederkehr ist mitnichten sozialer Aufstieg, wohl aber in einem bitter satirischen Sinne Bewährung, gelangt der falsche Narr doch dadurch an sein Ziel, dass „die anfangs gesetzten Bedingungen erfolgreicher Werbung“ komisch unterlaufen werden, „indem sie sie auf bloße Körperfunktionen zurückführen. Unter dieser Voraussetzung kommt der Ritter zum Ziel: Frau und Land“813 . Der Begegnung von falschem Narren und falscher Sittenwächterin ist eine Szene vorgeschaltet, in der sich Narr und Hofgesellschaft begegnen.814 Die Rückkehr Arnolds an den Hof zeigt zweierlei: zum einen wird der Hof als „einzige relevante Sphäre des Handelns und sozialer Geltung“815 ausgewiesen. Zum anderen dient
Abbild, wodurch seine egozentr. Selbstverliebtheit und Unfähigkeit zu christl. Nächstenliebe manifest werden. Aus der Marotte geht später das bedeutungsgleiche Attribut des Spiegels hervor“ (Mezger 1999, Sp. 1024). 813 Müller 1985/86, S. 289. 814 Eine vergleichbare Szene, in der sich die Intrigenrolle bereits bewährt, fehlt bei Folz. Ratgemäss hält sich sein falscher Narr unmittelbar und unausgesetzt an die Königstochter. 815 Ebd.
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sie dem Spannungsaufbau durch die sich bei Intrigenhandlungen unvermeidlich stellende Frage, ob das Täuschungsvorhaben glückt und wann sich der Wendepunkt ins offenbarend Desavouierende als Anagnorisis ereignen wird. Kann Arnold als Simulant natürlicher Narrheit überzeugen? Zwar räumt Müller ein, „[d]er Narr ist nicht beliebige Maske, sondern Zerrbild dessen, was Arnold bis dahin war: statt ritterlicher Waffen trägt er den Kolben swære als ein blî (V. 154)“816 . Im Gegensatz zur Reglementierung des ritterlichen Turniers erscheint Müller Arnolds närrisches Gebaren als Ausdruck von Willkür und Regellosigkeit.817 Mit Blick auf den Kontrast von höfischer Ordnung (Turnier und Mahl) mag das gewalttätige Auftreten des Narren so wirken. Im Folgenden soll jedoch gezeigt werden, dass der fundamentale Angriff auf die (Schein-)Ordnung höfischer Kultiviertheit gelingt, weil der falsche Narr in der Wahrnehmung seiner Intrigenopfer den Anforderungen an das stereotype Normwidrige entspricht. Das Auftreten des Narren am Königshof hat somit sowohl für die Wahrnehmung der fiktiven Figuren, der Prinzessin und der Hofgesellschaft, als auch für diejenige des Rezipienten Versuchscharakter. Auch in dieser Blickrichtung zeigt sich die literarische Qualität dieser Kurzerzählung, da die betrügerische Perspektivität mit einem außergewöhnlich reich nuancierten semantischen Spektrum der Narrenrepräsentation aufwartet. Es werden folglich die Entgrenzungen auf der Handlungsebene mit dem Aspekt der ‚Epidemisierung der Narrheit‘ gleichzeitig mit dem Wortschatzreichtum der Außenseiterdarstellung in den Blick genommen, um eines zu zeigen: Während die perspektivisch variierte Wahrnehmung der Intrigenopfer im Text gerade durch fein ziseliertes Vokabular realisiert wird, zeigt sich in der semantischen Ausdifferenzierung der Alteritätsbegriffe auch die epidemische Wirksamkeit der Narrheit. 3.2.1 Richtige Marginalisierung falscher Narrheit Der Erstkontakt von verkleidetem Intriganten und den anonymen höfischen Intrigenopfern zeigt sogleich, dass der falsche Verrückte ‚richtig‘ gedeutet wird: beide wîp unde man ersâhen in für einen gief. dô er in der bürge lief, dô wart ein grôz gehiuze: „daz vil heilige criuze beschirme uns noch hiute!“,
816 Ebd., S. 291. 817 „Gewalt ist nicht im regelgeleiteten Spiel gebändigt, sondern bricht rücksichtslos mitten in der höfischen familia aus“ (Müller 1985/86, S. 291).
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riefen al die liute, „wer brâhte den tôren in daz hûs?“ si mahten alle ûz im irn grûs und triben mit im iren schimpf. dâ wider kund er den gelimpf, der tôren was gemæze. (HB-K 184–195)
In der Übersetzung Grubmüllers heißt es: „Alle, Frauen wie Männer, / hielten ihn für einen Narren“ (HB-K 184f.). Der Übersetzungstext gibt mhd. tôr meistens mit ‚Narr‘ wieder. Nhd. ‚Narr‘ erscheint auch dort, wo der mhd. Text mit anderen Begrifflichkeiten aus dem Außenseiterspektrum aufwartet. So heißt etwa die mittelhochdeutsche Passage vorausgehend zitierter Übersetzung: beide wîp unde man / ersâhen in für einen gief (HB-K 184f.). Nun soll hier keineswegs Grubmüllers Übersetzung kritisiert werden, findet sich doch in einschlägigen Lexika gief auch mit tôr, narr gleichgesetzt.818 Doch mit Blick auf die Ausgangsthese, dass sich die Betörungsabsicht des Textes nicht nur auf die Figurenebene, sondern auch auf den Rezipienten richtet, verdient die Tatsache Aufmerksamkeit, dass die Halbe Birne auf relativ engem Textraum eine große Bandbreite an Alternativen für den Narrenbegriff bietet.819 Im Folgenden werden entsprechende Textstellen angeführt, die zeigen, dass die jeweilige Wortwahl nicht etwa Zwängen von Reim und Metrum geschuldet ist, sondern dass sie bislang unbeachtete semantische Bedeutsamkeit birgt. Das zitierte Beispiel weist bereits in eine solche Richtung. Während mhd. tôr oder narr jedwede und somit keine spezifische Anomalieverkörperung bezeichnen, ist der gief am giefen zu erkennen: Sein „törichtes betragen“ tritt (auch) als „schreien, lärmen“820 in Erscheinung.821 Die Plastizität des Narrenbildes in der Halben Birne gründet auch in vermeintlich redundanten Nuancierungen. Auf das im Intrigenrat entworfene Narrenbild und dessen Realisierung in der Erzählerschilderung folgt quasi eine dritte Fokussierung: die Narrenwirkung bei Hofe. Dass Arnolds Narrensimulation als perfekt perfide Täuschung funktioniert, zeigt der Text dadurch, dass er weniger das Verhalten des Anomalen als vielmehr das Reagieren der ‚Normalen‘ in Szene setzt. Es ist also im Nachgang gar nicht ‚frappierend‘, dass die Konventiona-
818 Vgl. Lexer 1979, Bd. 1, Sp. 1010. Bei der Übersetzung von HB-K 210 wird freier verfahren und gief mit ‚Schlingel‘ wiedergegeben. 819 Auch semantisch wirkt die Kurzerzählung bei Hans Folz eher karg: Gerade einmal vier Begriffsvarianten lassen sich bei ihm finden: thor (HB-F 85; 106; 147; 171), nar(r) (86; 100; 104; 128; 136; 151; 158; 180), stum (87; 100; 110; 112; 161; 183) und stocknar[r] (216). 820 Lexer 1979, Bd. 1, Sp. 1010. 821 Es lässt sich folglich kaum behaupten, Arnold entfessele „im höfischen Binnenraum keine Stürme der Gewalttätigkeit, er verhält sich vielmehr eher lauernd und passiv“ (Matejovski 1996, S. 239).
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lität der Narrendarstellung den kollektiven Blick des Hofes ‚betört‘.822 Sofort, wenn Arnold mit Narrentonsur und -habit, ins Unkenntliche geschwärzt und mit einem Kolben bestückt in die Burg gerannt kommt, ersâhen in [wîp unde man] für einen gief (HB-K 185). Raffinierterweise erzählt der Text zunächst nichts von Arnolds Verhalten als künstlicher gief. Die Anschauung des narrenstereotypen Äußeren, das ungeahnt plötzlich in der Hofwelt erscheint, reicht bereits hin, um von der höfischen Gesellschaft die vermeintlich adäquate Zuschreibung ‚gief ‘ zu erhalten. Noch bevor Arnold im rollenhaft Anderen eben das Vorurteil des Hofes bestätigen kann, wird das Reagieren der Hofgesellschaft geschildert. Im Re-Agieren des Hofes auf den Narren wird zum einen deutlich, dass die epidemische Wirksamkeit des Wahnsinns und zum anderen eben auch dessen soziale Konstruiertheit, auf abermaligen Grenzziehungen beruht, die paradoxerweise aus unhöfisch scheiternder Affektkontrolle als Verähnlichung von Narr und Höfling resultieren.823 Einzig aus der kollektiven Zuschreibung, dass es sich bei dem ungebetenen Gast um einen gief handele, wird das nicht explizit erzählte Rasen und Lärmen als giefen greifbar. Der Erzähler hatte nur darauf hingewiesen, dass Arnold dem Rat Heinrichs, varet umb und umbe! (HB-K 168), ohne jedes Zögern gefolgt sei. Wenn in der Wahrnehmung des Hofes der falsche Narr Arnold in sich steigernder Folge wegen seines Rasens, Lärmens und ,Unmenschseins‘ als tôr, gief und môr angerufen wird, erklärt sich auch das Epidemische der Wahnsinnswirkung als echohaftes Reagieren des Hofes, wo alles durcheinander schreit. Das bedrohliche Auftreten einer lärmenden und gewalttätigen Bestie (‚schwarze Sau‘) oder gar eines Teufels provoziert schließlich sogar die hilfesuchende Anrufung des Kreuzes Christi.824 Zum epidemisch Echoartigen tritt ein Drittes, die hierarchisch strukturierte Hofgesellschaft hinzu, die beim ersten Kontakt mit dem Anomalen bereits auf die Geschlechterdifferenz reduziert ist. Sie steigert schließlich ihre Strukturauflösung ins Meutehafte eines ebenso anonymisierten wie kollektivierten Entsetztseins: dô wart ein grôz gehiuze (HB-K 187). En passent wird in der Begegnungsszene von Narr und Hof ein grassierender Ordnungsverlust miterzählt, der aus der bedrohlich angedeuteten Verähnlichung aller mit dem Anomalen resultiert. 822 Müller zeigt sich verwundert über die geschilderte Reaktion des Hofes auf den Narrenauftritt: „Das Frappierende ist: die Hofgesellschaft macht mit. Sie ist vom Grausen vor dem Narren fasziniert und von seiner komischen Untermenschlichkeit angezogen“ (Müller 1985/86, S. 292). 823 Bezugnehmend auf Norbert Elias erscheine „[d]er Narr, der von der höfischen Gesellschaft ,hofiert‘ werde, […] als Spiegelung der unzivilisierten höfischen Kehrseite“ (Gephart 2006, S. 91). Im Folgenden wollen wir die Wirkungsweisen des Narrenauftrittes gegenüber dem Hofkollektiv und gegenüber der Prinzessin als Epidemisierung des Wahnsinns einerseits und als Desavouierung „prekärer Scheinzivilisiertheit“ (Feistner 2000, S. 289) andererseits differenzierter zu fassen versuchen. 824 „daz vil heilige criuze / beschirme uns noch hiute!“, / riefen al die liute, / „wer brâhte den tôren in daz hûs?“ (HB-K 188–191).
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Vor dem Fortgang der Analyse wird die Linie des Interpretationshorizontes abermals deutlicher gezogen. Narratologisch lässt sich die Strukturanlage des Textes in ihrer Zweibögigkeit als parodistische Referenz auf den Artusroman lesen. So betrachtet, befindet sich das Handlungsgeschehen auf dem Scheitelpunkt zwischen den beiden Erzähleinheiten ‚Arnolds Tischsittenverfehlung‘ und ‚sexuelle Entgleisung der Prinzessin‘ oder zwischen ‚Arnolds Schmähung‘ und ‚Rache‘, die gattungstypologisch als Übergang von (Artus-)Romanhaftem ins Schwankmärenartige beschreibbar wären. Dem Textraffinement sind aber noch zwei weitere intrigentheoretische Aspekte eigen, die auf seine narratologische Struktur abzielen: einerseits Anagnorisis als Umschlagspunkt im Intrigengeschehen und Wandlung von Simulation in Dissimulation andererseits. Die hochstehende Literarizität der Halben Birne setzt jedoch die Wirkung der Narrheit nicht erzählerisch, sondern entfaltet diese und macht sie im Subversiven plausibel. Im Lektürerückblick scheinen im Text bereits vor dem plakativen Scheitelpunkt der beiden Handlungsbögen Signale für die Affinität und Affizierbarkeit, wenn nicht sogar für wesenseigene Affiziertheit des Hofes mit dem Anomalen als Normwidrigem auf. Zur Verdeutlichung abermals thesenhaft formuliert: Entkultivierung und Entindividualisierung der Hofgesellschaft als Effekte epidemisch wirkenden Wahnsinns weisen bereits auf die entsprechende Anfälligkeit des Individuums, genauer: der Intrigenopfer, präzise: der Prinzessin, voraus. Darüber hinaus wird sich zeigen lassen, dass sogar der Rezipient zum Intrigenopfer dieser schwankhaften Subversivität wird. Der Aufruhr verursachende gief wird folglich als alles andere als ein unterhaltsamer Spaßmacher aufgefasst, dem seiner Harmlosigkeit entsprechende Freiheiten gewährt würden. Der Text zeigt in einem anthropologisch-psychologischen Sinne ‚realistisch‘, wie Normgemeinschaften auf überraschende Einbrüche des Fremden reagieren. Was Arnold am Hof hervorruft, sind Geschrei (grôz gehiuze) und Entsetzen (grûs); das so inszenierte Andere kann nur als Schrecken und Bedrohung wahrgenommen werden. Grubmüller vermerkt zu dem Vers si mahten alle ûz im irn grûs („Sie erschraken alle über ihn.“ HB-K 192) in seinem Kommentar, dass dieser zwar bereits für „die Schreiber schwer verständlich“825 gewesen sei. Als „einzige Parallelstelle“ kann nach Grubmüller nämlich folgender Vers aus Konrads von Würzburg Schwanritter angeführt werden: „die liute machten einen grûz (= ‚erschraken‘) / von disem wunder wilde.“826 Wie die Monströsität des mythischen Schwanes, der als Ritterbegleitung die Kontingenz übermenschlicher Kräfte in Aussicht stellt827 , veranlasst Arnolds glaubhaftes ‚Giefen‘ die unmittelbare Anrufung höchster Schutz- und Ordnungsmacht. Ohne göttliches Eingreifen muss das 825 Grubmüller 1996, S. 1100. 826 Ebd., S. 1101. 827 Vgl. Konrad von Würzburg: Der Schwanritter. Hrsg. von Edward Schröder. Berlin 1925 (= Kleinere Dichtungen Konrads von Würzburg 2).
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ätiologisch wie gesellschaftlich nicht integrierbare Andere gebannt, die Grenze zwischen dem Eigenen und dem Anderen neuerlich markiert werden, wenn es nicht gar apotropäisch ferngehalten werden oder aber als Dämonenaustreibung mit dem Kreuz Christi die Ordnung wiederherstellen soll. Diese Hofreaktion reflektiert religiöse Praxis und theologische Konnotation, heißt es von Christus im Matthäusevangelium doch: Als sie aber hinausgingen, da brachten sie einen Stummen zu ihm, der besessen war. Und sobald der Dämon ausgetrieben war, sprach der Stumme. Da gerieten die Volksscharen in Staunen und sagten: „Noch nie ist so etwas in Israel vorgekommen.“ Die Pharisäer aber sagten: „Durch den obersten der Dämonen treibt er die Dämonen aus.“ (Mt 9,32-34)
Abweichend Anderes mit bedrohlicher Veränderungspotenz kann vielfach einzig als fremdbestimmt Unmenschliches in menschliche Gesellschaftsbilder re-integriert werden. Auch in den ‚christlichen‘ Kollektivreaktionen auf den Narren in der Halben Birne, die das Andere als solches im Eigenen festhalten sollen, wird ein Verlust an Kultiviertheit als Folge der Narrheitsepedemie sichtbar. Zwar stellt Kultur für das Unfassliche (Bewältigungs-)Rituale zur Verfügung. Die Anrufung des Kreuzes Christi bleibt aber hysterisches Angstgeschrei und wird nicht zum Selbstvergewisserung schaffenden Chor, der im Ritualhandeln Hilfe gegen Bedrohung sucht oder zumindest kollektive Identität befestigte. Dementsprechend gehört zu den Spontanreaktionen des Hofes auch die Marginalisierung des lärmenden, tollen Narren Arnold: si […] triben mit im iren schimpf (HB-K 192f.). Auch in diesem Detail ist der Text gruppenpsychologisch ‚realistisch‘: Das Entsetzen, das Grausen vor der Alteritätserfahrung ruft das kompensierende Verlachen und Verspotten hervor, das eine Ordnungsstörung als Lachanlass wieder ‚einzuordnen‘ versucht. Der schimpf der Hofgesellschaft inszeniert die Ausgrenzung des eindringenden Anomalen und restituiert somit die hierarchische Ordnungswelt der Hofgesellschaft als Gruppe der normsetzenden ‚Normalen‘. Der Wiederherstellungsversuch der Ordnung hat aber seinen Preis. Hatte das echohafte Lärmen der Hofgesellschaft, das auf das tosende Rasen des Narren reagierte, bereits Signalcharakter für die Infizierung der Normalen mit dem Anomalen, so trägt ihr schimpf als Verlachen zu weiterer Verähnlichung von (Sünder-)Narr und unhöfischem Hofe bei. Während der mhd. schimphaere, -er als Scherz- und Spaßmacher (jocator) auftritt, ist mhd. schimph, schimpf (stm.)828 noch stärker ambivalent. Außer auf harmlos scherzhafte Kurzweil bezieht es sich auch auf „spott, verhöhnung,
828 Zu „Wortgeschichte und Begriffsgeschichte“ vgl. das gleichnamige Kapitel in Schnell 2010, S. 44–46.
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schmach“829 . Die Abgrenzungsabsicht vom symbolisch Sündhaften korreliert mit der eigenen Verähnlichung mit dem sündigen Verbotenen. Die Angleichung von Narr und Hofgesellschaft ist an deren Peripherie am deutlichsten, stehen die Randständigen den Außenseitern doch am nächsten. So sind es auch die Knappen, die dâ liefen / und ime tôre riefen („die herumrannten / und ihn Narr schimpften“; HB-K 201f.), deren Verhöhnung bereits aus dem Grenzbereich der Neckerei in sündiges Verspotten übergegangen ist. War der schimpf der gesamten Hofgesellschaft wie auch mhd. spott noch doppeldeutig („Hohn und Spaß“830 ), so ist der Umgang der Knappen mit Arnold ins Sündhafte vereindeutigt. Hierdurch gewinnt der Umgang des Hofes mit dem Anderen dilemmatischen Charakter. Die Konfrontation mit Alterität tritt als überraschende Störung auf, die neuerliche sozialkommunikative Grenzziehungen erzwingt. Abgrenzung erfolgt im Kollektiven aber als Angleichung an das, worauf die kollektive Marginalisierung abzielte. Die kurze betrachtete Szene ist in zweierlei Hinsicht ‚konstruktiv‘: Während der gief als tôr (an-)erkannt wird, wird im Reizreaktionsverhältnis von Narr und Hof neuerlich eben jene Grenze zwischen dem Eigenen und dem Anomalen gezogen. Es darf aber nicht vergessen werden: In Arnolds Intrige ist der natürliche gief ein künstlicher Narr, der sich erfolgreich als natürlicher ausgibt. Die bittere Pointe dieses erfolgreichen Täuschungsexperimentes muss dementsprechend lauten: Wer auf falsche Toren ‚richtig‘ reagiert, wird nur ‚betört‘ – ein weiterer Hinweis auf eine folgenreiche Grundtendenz dieser faszinierenden Kurzerzählung, dass die Narren immer (auch) die Anderen sind. Im weiteren Szenenverlauf hält sich Arnold ganz rollenimmanent (gelimpf, / der tôren was gemæze; HB-K 194f.) an die Ratschläge seines Knappen, tollt und tobt „völlig verrückt“831 und gewalttätig. Den Knappen, die ihn als tôr verspotten, zahlt er es durch Keulenschläge heim, die große Beulen verursachen. Weniger im Sinne klischeehafter ‚Narrenfreiheit‘ als vielmehr aus mittelalterlichem Rechtsverständnis heraus, dass ‚Unsinnige‘ nicht als strafmündig angesehen wurden, bleibt jedoch der Amoklauf des unerkannten Arnold ungeahndet: doch muosten siz verguot haben von dem tœrehten knaben, wan der mit tôren schimpfen wil, der muoz verdulden narrenspil. (HB-K 203–206)
829 Lexer 1979, Bd. 2, Sp. 744. 830 Schnell 2010, S. 45. 831 Grubmüller 1996, S. 189.
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Auf die Frage, wer mit diesem Sprichwort adressiert wird, wird noch genauer eingegangen. Im Szenenrückblick verlegt die Sprichwortgewissheit die Verantwortung für den vom Narren verursachten Schaden – Schrecken und Körperverletzungen – interessanterweise in den Zuständigkeitsbereich der sogenannten Normalen. Diese sei eben als Preis dafür hinzunehmen, wenn man sich nicht nur mit einem Narren einließe, sondern sich diesem durch schimpf angliche. Obgleich nun die Richtung des weiteren Handlungsverlaufes offenkundig auf Desavouierung abzielt, befindet sich ein Spannungsbogen der Erzählung auf seinem Höhepunkt: Der falsche Narr wurde am Hof nicht nur als natürlicher Tor wahrgenommen und traktiert. Vielmehr hat das Auftreten seiner verstörenden Anomalie mit Blick auf die Reaktion des Hofes seine Wirkung nicht verfehlt. Mit dem Einbruch des Anomalen in die Hofkultur wird noch deutlicher sichtbar, wie labil die Fassade höfischer Kultiviertheit in Wirklichkeit ist. Seine geniale Rolle prädestiniert den Narren nun zum idealen Beobachter auch des Abgründigsten und Niedrigsten. Der Leser darf trotz derartiger Beobachtungen nicht nur gespannt bleiben, wie die Erzählung die Anagnorisis ihres Betrugsgeschehens ausgestaltet. Denn sein eigenes Einbezogensein ins epidemische Betörtwerden zeichnet sich bereits dort ab, wo sein Voyeurismus nach dem bisherigen Handlungsverlauf in der Beobachtbarkeit des Desavouierens mit derb Misogynem rechnet. Die gesamte Hofgesellschaft hat sich in närrisch simuliertem Handstreich bereits der maroden Fassade ihrer Kultiviertheit berauben lassen. Was aber hätte eine Einzelne, wie eine ‚schöne‘ Prinzessin, den Anfechtungen vertierter Triebnatur einer Narrenfigur entgegenzusetzen? 3.2.2 Intrigenästhetischer Gattungsübergang Das sentenzhafte Reimpaar wan der mit tôren schimpfen wil, / der muoz verdulden narrenspil (HB-K 205f.) ist bereits vorausgehend zitiert worden. Diese neuralgische Textstelle wird auch im Folgenden nicht erschöpfend analysiert. Es wird jedoch auf diese abermals vorläufig als markante Schanierstelle zwischen den Paradigmenwechseln von höfischer Öffentlichkeit des Tages hin zur Heimlichkeit von Nacht und Prinzessinnenschlafgemach hingewiesen. Der Schwellencharakter der Textpassage wird zusätzlich dadurch unterstrichen, dass die Erzählerrede aufmerksamkeitsheischend ins Performative wechselt (nu hœret, wes er flîzic was! HB-K 207). Der zum idealen Beobachter aus dem erfolgreichen ersten Intrigengeschehen seines Rollentausches hervorgegangene künstliche Narr positioniert sich nun entsprechend an einem für die avisierte moralische Desavouierung idealen Ort: eben vor der Heimlichkeit (ir heimlîche; HB-K 214) des Schlafgemaches der jungen Prinzessin. Abermals nennt der Text den vermeintlich natürlichen Narren einen gief, hier jedoch nicht im Sinne eines lärmend Rasenden, sondern in synonymer Bedeutung zu tôr und narr (vgl. HB-K 210), den man wegen angeblicher Harmlosigkeit und seiner genuinen Strafunmündigkeit gewähren lässt.
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Der Erzähltext überschreitet nur wenige Verse später die deutlich ausgewiesene Gattungsgrenze zum schwankhaften Märe. Die Grenzüberschreitung 832 ist zwar plastisch durch etwa der Artusepik gattungsferne respektive dem Schwankmäre -genuine Motivsphären des Skatologischen wie des Erotischen ausgewiesen833 , worauf noch dezidierter einzugehen sein wird. Nichtsdestotrotz ist der Gattungswechsel aber alles andere als abrupt oder im Fiktiven unplausibel, sondern vielmehr bedrohlich als subversiv gradueller Übergang gestaltet. Der in der Hoföffentlichkeit noch als Vertierung oder gar als Teufelsgestalt wahrgenommene falsche Narr lauert der Prinzessin vor dem Schlafgemach als harmlos wirkender snürrinc (HB-K 216) auf, meint doch mhd. snürrinc oder snurraere den ,Toren‘ oder ,Narren‘ in der Figuration eines ,Possenreißers‘.834 Hier wird einerseits das dämonisch Bedrohliche der Narrenfigur ins Unterhaltsam-Gesellige mittelalterlicher Hofkultur abgeschwächt und andererseits die im Heimlichen der Nacht geborgene Sphäre von Prinzessin und Hofdamen als Frauenreich beschritten, selbstredend mit dem Ziel, Bedingungen der Möglichkeit beobachtbaren Verlustes weiblicher Affektkontrolle zu schaffen. Denn auch der Narrenbegriff snürrinc ist mit Weiblichkeit – wortwitzig wortgleich mit weiblichem Kopfputz835 – konnotiert, wie sich im Weiteren aus der Kurzweil der Hofdamen mit dem verfügungsservilen Possenreißer herausstellen wird. Hierauf wird zurückzukommen sein, wenn sich der so harmlose snürrinc zur Augenweide der gar nicht so höfisch tugendsamen Hofdamen als ikonographiegeschichtlich einschlägiger Zanner geriert.836 Während also im Semantischen das Drohpotential der Narrenfigur schier gefahrlos in unterhaltsam Verfügbares abgeschwächt erscheint, werden Frauenbezeichnungen wie maget, juncfrouwe oder frouwe der die Prinzessin umgebenden Hoffräulein durchweg terminologisch der höfischen Welt, ihrem ständisch ethischen Norm- und Wertehorizont zugehörig, beibehalten.837 Durch die semantische ‚Verharmlosung‘ des Narrendämons wird zudem der Rezipient des Textes in die Perspektive der Hofdamen mit einbezogen: ein weiteres vergnüglich subversiv heimtückisches Indiz für die Berechtigung der These, dass der Rezipient semantisch, perspektivisch wie strukturell in die Gruppe der Intrigenopfer einbezogen wird.
832 Wir unterscheiden terminologisch trennschärfer ,Grenzziehung‘ von räumlich phasierter ‚Grenzüberschreitung‘. 833 Vgl. HB-K 227–233. 834 Vgl. Lexer 1979, Bd. 2, Sp. 1047f. 835 Vgl. ebd., Sp. 1048. 836 Dementsprechend heißt es: als tumber snürrinc / zart er ûf sînen giel (HB-K 268f.). 837 Vgl. HB-K 222–223, 235, 247.
Weitere Entgrenzungen – oder: Epidemisierung der Narrheit
Mit der Zweibögigkeit der Erzählstruktur der Halben Birne korreliert auch ein Gattungswechsel aus dem arturisch Romanhaften in das schwankhafte Märe. Vorausgesetzt, diesem Befund wird auf der Handlungsebene mit ihren zwei Fällen scheiternder Affektkontrolle (‚Birnenessen‘, ‚Narrenmissbrauch‘), oder intrigentheoretisch gewendet, den beiden Phasen ‚Ausgangsproblem öffentlichen Geschmähtwordenseins‘ (waz er zühte noch bedarf! HB-K 106) und (‚Gegen‘-) ‚Intrige mit Rollenwechsel, Desavouierung und Dissimilation‘ gefolgt, bleibt die narratologisch interessante Frage, wo sich im Text Gattungsgrenze oder -übergang verorten lässt. Im Zusammenhang mit diesem narratologischen Interesse geht eine weitere Thesenstellung einher: Im Folgenden wird zu zeigen versucht, dass zwar klar zu bestimmen ist, wo man sich im Textraum ‚Schwankmäre‘ befindet, nicht aber, wo sich präzise der Übergang als deutlich gezogene Gattungsgrenze lokalisieren ließe. Narratologisch sticht die Kurzerzählung der Halben Birne heraus, weil sie den Gattungsübergang fein nuanciert phasiert und darüber hinaus im Lektürerückblick Gattungssignale aufscheinen lässt, die dem Textfluss und Erzählgang entgegen eine fortwährende Grenzverschiebung nahelegen. Es wird sich überdies zeigen lassen, dass das Spiel mit Gattungscharakteristika und -motiven zweierlei Funktionen hat. Zum einen lässt sich hieran eine abermalige Involvierungsebene des Rezipienten festmachen, und zum anderen gründet im Gattungstypologischen und in dessen Grenzverwischung die zentrale ästhetische Qualität dieses knappen Textes, der so auch narratologisch die Konstruiertheit der (fiktiven) Welt subtil ausstellt, um seiner Grenzverwischung zwischen Normalen und Anomalen einen adäquaten Bezugsrahmen zu schaffen. Hieraus ergeben sich für die Ästhetik des Erzähltextes zwei entscheidende Konsequenzen; die eine, narratologisch geartet, zielt auf einen neuen Vorschlag zu Gattungsdiskussion und Binnenstrukturierung der Halben Birne; die andere nimmt in der Verbindung von Form und Gehalt in den Blick, was nicht weniger als einen Modernitätsaspekt hier analysierten mittelalterlichen Erzählens darstellte. In der Literarizität des Textes, also im komplexen Verwobensein von Semantik, Figurenzeichnung, Perspektivität, Narratologischem und Gattungstypologischem wird repräsentiert, was die Figuren auf der Handlungsebene ausagieren: Kategorien des Eigenen und des Anderen, der Zugehörigkeit und Fremdheit, der Identität und des Abgrenzenden sind Produkte gesellschaftlicher Prozesse, also weder gottgegeben noch natürlich, sondern ästhetische Arbeit. Zur Erosionsthese gehört bereits, den Umfang der sogenannten schwankhaften Erzählpartie nicht genau umreißen zu können. Am ehesten ist rückblickend noch konsensfähig, dass die derb erotische Szene mit dem Hinauswurf des närrischen Missbrauchsopfers aus der Burg endet (HB-K 397): Handlungseinschnitt nach vollzogenem Sexualakt, Figuren- und Raumwechsel können hier als Indikatoren für Gattungsspezifisches gelten. Wo beginnt aber nun die Märenpartie des Schwankhaften?
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3.2.3 Narrensemantik im Erzählkontext Eine Situierung im Schwankhaften indiziert zudem die variationsreiche Semantik838 , mutiert doch der zum snürrinc verharmloste Narr nach dem Übergang von Außen- und Innenraum zum beste[n] bzw. tumbe[n] gouch (HB-K 326; 353). Zwar gehört auch der ,Gauch‘, von Grubmüller abermals lediglich mit ‚Tor‘ und ‚Narr‘ übersetzt839 , synonym zu den artverwandten Narrenbegriffen:840 Gauch m. arch. ‚Kuckuck, Narr‘ (< 8. Jh.). Mhd. gouch, ahd. gouh, as. gok aus g. *gauka- m. ‚Kukuck‘, auch in anord. gaukr., ae geac. Das alte Wort für den Kuckuck beruht sicher auf dessen Ruf (guck-guck), hat aber eine auffällige Hochstufe. Vielleicht eine Art VriddhiBildung mit Zugehörigkeitsfunktion (‚der, der guk schreit‘). Später durch das stärker lautmalende Kuckuck ersetzt (seit dem 13. Jh.). Der Kuckuck gilt als töricht (wohl wegen seines eintönigen Geschreis), deshalb die Nebenbedeutung ‚Narr‘ (schon ahd. gouh).841
Kluge spekuliert etymologisch zudem auf eine Verbindung von mhd. gouch und goukeln, von ‚Gauch‘ und ‚gaukeln‘842 , wodurch eben auch die Gäuche denen zuzurechnen wären, die „Narrenpossen treiben“843 . Sprachgeschichtlich lassen sich diese aber nicht nur mit Blick auf den Handlungsverlauf der Halben Birne signifikant spezifizieren. Umfasst das Bedeutungsspektrum von mhd. goukeln neben amoralischem ‚Scherzen‘ (iocolari) doch auch ‚schäkern‘. Zudem ist mit mhd. gouchelîn (kleiner bastard, kleiner tor) das etwa noch in der Chronik der Grafen von Zimmern (1554–1566) klangverwandt vorkommende geuchle belegt, das – bereits
838 Auch hinsichtlich des ausdifferenzierten Narrenvokabulars unterscheidet sich die Fassung von Hans Folz von ihren möglichen Vorlagen: „Den verbalen Variationsreichtum von A versucht er erst gar nicht nachzuahmen“ (Langensiepen 1980, S. 95). 839 Vgl. HB-K 326, 353. Im Sinne von Grubmüllers Übersetzung kennt die Bildtradition der Narrendarstellung den Gauch als Träger von eselsohriger Kappe mit Hahnenkamm. Bei Malke 2001, S. 36 findet sich eine Abbildung von Erhard Schöns Holzschnitt „Vogelstellerinnen im Versteck fangen herbeifliegende Gäuche“ (um 1534. Kunstsammlungen der Veste Coburg. Abbildung 40. Katalog 49). 840 gouch stm. […] kukuk […]; tor, narr, gauch. Lexer 1979, Bd. 1, Sp. 1057. Vgl. Wilhelm Müller: Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Mit Benutzung des Nachlasses von Georg Benecke. Bd. 1. Hildesheim 1963 (= Reprografischer Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1854), Sp. 558; Findebuch zum mittelhochdeutschen Wortschatz. Mit einem rückläufigen Index. Hrsg. von Kurt Gärtner, Christoph Gerhardt, Jürgen Jaehrling, Ralf Plate, Walter Roll und Erika Timm. Datenverarbeitung: Gerhard Hanrieder. Stuttgart 1992, S. 150. 841 Kluge 1995, S. 301. 842 Vgl. ebd., S. 302. 843 Ebd.
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eindeutig für der Vitalsphäre Zugehöriges, für penis steht. Zudem sind in der ikonographischen Tradition der Darstellung von Gäuchen Malke zufolge „die verliebten Männer, die Liebesnarren, gemeint“844 . Ganz analog hierzu lässt Sebastian Brant in seinem Narrenschiff genau in jenem Kapitel, das mit Von buolschafft überschrieben ist, vil narren / affen / esel [und eben] geüch auftreten.845 Das Buhlen der Gäuche wurde offenbar als die verbreitetste Form der Narrheit angesehen, so daß die beiden Begriffe Gauch und Narr schon bald deckungsgleich benutzt werden konnten. Das belegen die außerordentlich zahlreichen Bilddokumente, die hier zur Erklärung dafür herangezogen werden, daß bei einem Großteil der aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts bekannten Narrendarstellungen nicht Narren, sondern Gäuche gemeint sind. Bei ihnen handelt es sich um Liebessünder, die nur zwecks Verdeutlichung ihrer Narretei ein Narrengewand tragen. In spätmittelalterlichen Darstellungen, z. B. in den Liebesgärten des Meisters E. S. […], war dies noch nicht der Fall. In ihnen erscheint der Narr als Lustigmacher und Musikant, wobei ihm neben der Teilnahme an den Tafelfreuden auch das Liebesglück lacht.846
Der semantische Zugriff auf einen Erzähltext mag gerechtfertigt erscheinen, wenn zudem einbezogen wird, auf welcher Textebene bzw. in wessen Perspektive der falsche Narr Arnold als Gauch auftritt. Dies gleich vorweg: In beiden Kontexten seines Reüssierens geht es nicht im hochhöfischen, sondern schlicht im konkret sexuellen Sinne um Minne. In einem Fall ist es die Figurenrede der in den sexuellen Obsessionen ihrer Herrin erfahrenen Kammerjungfer Irmengart, die den Narrheitssimulanten als angeblich betörten gief und falschen gouch bezeichnet: „[…] mîn rât der wirt iu nütze. ir werdet urdrütze der minne gelustes. […] waz ob ich disen giegen mit listen kan betriegen, daz er sich zuo iu smucket und iu die nôt enzucket, diu von der strengen minne kumet! swaz iuwerm lîp von im gefrumet,
844 Malke 2001, S. 35. 845 Vgl. Ns: Kap. [13.] Von buolschafft, S. 33. 846 Malke 2001, S. 35.
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des sît ir unvermeldet ouch. er ist der aller beste gouch […].“ (HB-K 313–326)
Die hiermit übereinstimmende Textstelle steigert den Gauch als Liebesnarren zum Toren, der vom Liebesvollzug nichts zu verstehen vorgibt: dâ lac von minnen unde bran diu minneclîche künigîn und leit vil seneclîchen pîn, daz der tumbe gouch lac und der minnen niht enphlac, diu guoten wîben sanfte tuot. (HB-K 350–355)
Die etymologischen Befunde spiegeln hier die Grundtendenz des Subtextes der Halben Birne punktgenau wider. Als Simulant erscheint der Narr Arnold als Gauch, der artspezifisch vorgibt, den eigenen Obsessionen zu erliegen. Der Szenenverlauf veranschaulicht zudem die neuerliche epidemische Wirkung eben auch von mhd. gouchen in der Bedeutung von „zu einem gouche machen”847 . Es ist nämlich die sich „in Liebesglut“848 verzehrende Prinzessin, deren Minneobsession – wie bereits erwähnt – so weit geht, nicht vor sadistischen Praktiken zurückzuschrecken. Hierdurch erscheint gerechtfertigt, auch gegen die literaturgeschichtliche Chronologie die Halbe Birne mit Brants Narrenschiff zu kommentieren: Frow Venus mit dem stroewen ars Byn nit die mynnst jm narren fars Ich züch zuo mir der narren vil Und mach ein gouch uß wem ich wil. (Ns 13,1–4)
Der letzte Gedankengang lässt sich so zusammenfassen: Sowohl in den semantischen Nuancen der Narrenbegrifflichkeiten als auch in der sich zur Desavouierung steigernden Figurenzeichnung wird die Veräußerlichung Arnolds als simulierter Gauch und die Entäußerung der Prinzessin als tatsächlicher Geuchin greifbar. Die Fassadenhaftigkeit höfischer Moral der vorgeführten nächtlichen Hofdamenwelt
847 Lexer 1979, Bd. 2, Sp. 1058; zu ergouche als a) ‚töricht werden‘ und b) als ‚zum Toren machen‘ vgl. Müller 1963, S. 558. 848 Übersetzung von HB-K 351.
Weitere Entgrenzungen – oder: Epidemisierung der Narrheit
gibt hierbei die Beibehaltung höfisch-ständischen Vokabulars (minneclîche künigîn, diu guoten wîben; HB-K 351, 355) wieder. In der Perspektive vor allem der Prinzessin und deren Kammerjungfer verdeutlichen die semantischen Vereindeutigungen der Narrenfigur die auf diese projizierten Sexualphantasmen. Dieser Befund wurde hier vornehmlich am Begriffsbeispiel ‚Gauch‘ vorgeführt, um eine weitere Literarizitätsfacette der Kurzerzählung aufzuzeigen. Das mhd. Sondervokabular von Narrheit und Wahnsinn korrespondiert offenbar mit der sich steigernden schwankhaften Drastik des Handlungsverlaufes.849 Dieser Beobachtung entspricht, dass die Narrenbegriffe, die im schwankhaften Kontext zwischen Arnolds Aufnahme in den Schlafsaal der Prinzessin und seinem Hinauswurf aus der Burg vorkommen, von den vil tumben viez (HB-K 254) über tumber snürrinc (268), an dem gebûre (273), dem tumben wihte (288), disen giegen (319), der aller beste gouch (326), er ist ein rehter stumbe (329), der tumbe (330), den tôren (336), der ungefüege stampf (341), der tumbe gouch (353), den ungefüegen slûch (365) zu der arge ribalt (378) reichen. Werden diese Nuancierungen von Torheit und Sündhaftigkeit weitestgehend synonym mit ‚törichter Kerl‘, ‚blöder Tölpel‘, ‚Bauer‘, ‚törichter Bursche‘, ‚Narr‘, ‚Tor‘, ‚Stummer‘, ‚ungehobelter Klotz‘, ‚verrückter Narr‘, ‚grober Klotz‘ und ‚schlimmer Schurke‘ übersetzt, ist zwar ein weitgefächertes Synonymspektrum mittelalterlicher wie handlungsbezogener Narrenbegriffe realisiert. Die den mhd. Pendants zugrundeliegende Situationsadäquatheit und damit deren zunehmend verbalisierte schwankhafte Drastik ist aber gleichwohl in nhd. Synonymik eingeebnet. Wird aber außer deren semantischem Überschneidungsgehalt entsprechendes Differenzierungspotential in den Blick genommen, ist zweierlei gewonnen: Zum einen beschreibt das Bedeutungsspektrum der Narrenbegriffe analog zum Handlungsverlauf in der Kemenate der Prinzessin die Begegnung mit dämonischer Missbrauchspotentialität (viez 850 = ‚Teufelskerl‘) eines Narren, der sich sowohl erotisierend, zannend als Possenreißer (snürrinc851 ) als auch als Kontrastverkörperung
849 Die Funktion semantischer Vielfalt der Narrenbegriffe sieht Müller einzig hierin: „Die Inflation der Bezeichnungen deutet an, wie radikal die anfangs aufgebaute Sphäre ritterlich-höfischer Vorbildlichkeit widerrufen werden soll“ (Müller 1985/86, S. 293, Anm. 22). Derartig Inflationäres gewinnt dann jedoch an ästhetischer Funktionalität, wenn „die verschiedenen Schimpfworte für den Außenseiter“ (ebd.) einerseits sexuell konnotiert und andererseits hierdurch die Desavouierung der Prinzessin, die doch hochgradig affin für das Niedrige ist, verschärfen. Hierdurch erfährt auch das Paradox stärkere Konturierung, dass die Kemenatenszene „als Durchgangsstation zur Wiederherstellung ritterlicher Ehre“ (ebd., S. 294) fungiert. 850 Zu mhd. viez als „held, schlauer feind, teufelskerl, teufel“ vgl. Lexer 1979, Bd. 3, Sp. 345; Findebuch 1992, S. 429. 851 In Lexer 1979, Bd. 2, Sp. 1048 findet sich zu mhd. snürrinc („ein teil des weibl. kopfputzes“) der Hinweis auf die Bedeutung „possenreisser, tor, narr“ (vgl. Findebuch 1992, S. 321).
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höfischer Minne (gebûre852 ) sowie als (vermeintlich) Betörter (giege853 ), Liebesnarr (gouch854 ) und Stummer (stumber 855 ) zum perfekten Missbrauchsopfer stilisieren lässt, das – ganz analog egozentrischer Verführer(innen)perspektive – dieses als pars pro toto zum reinen Lustobjekt auf derb-drastisch Metaphorisches wie ‚Mörserkeule‘ (stampf 856 ), ‚Schlauch‘ (slûch857 ) oder ‚vorgeschobene Belagerungsmaschine‘ (ribalt 858 ) reduziert. Da derartige Zuschreibungen direkt wie indirekt als Lustprojektionen der küniginne leckerheit (HB-K 345) geschildert werden, sich aber entweder lediglich auf Simulation oder reine Körpernatur beziehen, stützen die semantisch-etymologischen Befunde auch die Hauptthese: Als literarisierter Ausweis weiblich-lüsterner Perspektive (Figur) und damit als genuin misogynes Männerphantasma (Autor/Leser?) erweist sich die Alterität des Narren als äußerst agiler Projektionsprozess derer, die in der mutmaßlich folgenlosen Verfügbarkeit des Anderen ihre eigene Normabweichung auszuleben trachten. Somit gipfelt das Abgrenzungsproblem vom Anomalen – in moraldidaktischer Fabulierlust – über Grenzverschiebungen und der Ausstellung derselben als situations- wie machtabhängig in völliger Entgrenzung als Rollentausch. Das Andere wirkt auch als Simulation epidemisch und kehrt in Damen höchsten Standes den Geuchincharakter hervor, so dass zur Ausgangsfrage dieses Teilkapitels nach der literarischen Gestaltung dieses Desavourierungsprozesses zurückgekehrt wird und die Antwort hier thesenhaft vorweggenommen werden kann: Gerade den semantisch so luzide nuancierten Präzisierungen ist abzulesen, dass die Dissimulation der obsessiven Prinzessin im Lektürerückblick mit spannungssteigernden Signalen einhergeht. 852 Zu mhd. gebûre („miteinwohner, mitbürger, […] bauer“) „mit dem nebenbegriffe des rohen, gemeinen, ungebildeten“ vgl. Lexer 1979, Bd. 1, Sp. 764. Siehe hierzu auch Findebuch 1992, S. 111. 853 Im Mittelhochdeutschen steht giege für „narr, betörter“. Vgl. Lexer 1979, Bd. 1, Sp. 1010; Findebuch 1992, S. 145. 854 Das semantische Spektrum von mhd. gouch umfasst Bedeutungen wie „kukuk“, „bastard“, „tor, narr, gauch“; vgl. Lexer 1979, Bd. 1, Sp. 1057; Findebuch 1992, S. 150. 855 Zu mhd. stumbe vgl. Lexer 1979, Bd., 2, Sp. 1265. 856 Müller/Zarncke führen stampfe swv als „stampfe, zerstosse“ auf. (Vgl. Wilhelm Müller/Friedrich Zarncke: Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Mit Benutzung des Nachlasses von Georg Friedrich Benecke. Bd. II.2. Abteilung bearbeitet von Wilhelm Müller. Hildesheim 1963 [= Reprografischer Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1866], S. 567.) Lexer weist zu mhd. stampf die Bedeutungen „werkzeug zum stampfen, stampfmaschine, mörserkeule“ auf (vgl. Ders. 1979, Bd. 2, Sp. 1134; Findebuch 1992, S. 327). 857 Zu mhd. slûch vgl. Müller/Zarncke 1963, Bd. II.2, S. 415f.; als „schlauch“, „schlund, kehle“ wird mhd. slûch in Lexer 1979, Bd. 2, Sp. 989 wiedergegeben. 858 Müller/Zarncke weisen mhd. ribalt zwei Grundbedeutungen zu: a) „verwegener bursche, raufbold, taugenichts“ und b) „vorgeschobene belagerungsmaschine“ (Müller/Zarncke 1963, Bd. II.1, S. 678f.; vgl. Lexer 1979, Bd. 2, Sp. 414; Findebuch 1992, S. 285).
Epidemie und Erosion: Grenzverschiebung und -diffusion
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Epidemie und Erosion: Grenzverschiebung und -diffusion
Ließ sich im Kapitel zur Narrensemantik bereits nachweisen, dass die jeweils auftretenden Begriffe die Perspektivität der Gegenfiguren indizieren, so wird sich im Folgenden zeigen lassen, dass diese ferner auch Symptomcharakter für die jeweiligen Anomalien bzw. Normabweichungen anderer Figuren haben. Vorausgreifend sei hier bereits eine These für den zweiten Teil der Kurzerzählung formuliert: Während sich die Wirkung des Anomalen auf die höfische Gesellschaft als epidemisches Ausbreiten des Wahnsinns fassen lässt, wird diese Wirkung auf die Hofdamen und vor allem auf die Prinzessin weniger treffend mit dem Bild der Ansteckung zu beschreiben sein. Vielmehr führt die Interaktion mit dem Anderen im Eigenen von Nacht und Kemenate zwar ebenso zu grassierender Unkultiviertheit, Unvernunft und Unmoral, jedoch nicht als Einbruch des Fremden, sondern als Hervorkehrung des schlecht kaschiert Wesenhaften aus dem Verborgenen ins Sichtbare.859 Zur Überprüfung dieser narratologischen Figuration einer sich steigernden Wiederholung wird im Folgenden die Übergangsphase bis zur Desavouierung der Prinzessin nachvollzogen. Und dies nicht ohne einen weiteren Vorausgriff: Der so selbstsichere Rezipient des Textes, mag er nun den Racheimpuls des glücklos verschmähten Ritters Arnold nachvollziehen oder die hochmütige und bigotte Tugendwärterin einer ‚Lektion‘ für würdig erachten, wird letztlich selbst zum Adressaten literarischen Betörens respektive Betörtwerdens. Der heimtückisch intrigante Beobachter begibt sich nächtens mit seinem narrenspil vor das Schlafgemach der Prinzessin. Und abermals erweist sich der Text im Detail als ebenso präzise wie ‚hinterhältig‘: Der Ort erhofften unmoralischen Geschehens wird nicht als kemenâte bezeichnet, sondern als palas, obgleich es sich eben doch auch, die Ausstattungsschilderungen werden das erweisen, um ein Frauenschlafgemach mit einer Feuerstätte handelt. In Grubmüllers Übersetzung schläft die Prinzessin in einem „prächtigen Saal“ (HB-K 208). Im semantischen Umfeld von wünne/wunne gewinnt jedoch ein wunneclîchez palas (ebd.) zumindest Doppeldeutigkeit, steht doch wünne/wunne außer für „herrlichkeit, das schönste u. beste“ auch für „augen- u. seelenweide, freude, lust, wonne“860 . Während Komposita wie wunneboum oder wunnegarten dezidiert in Minnekontexte hineingehören, so impliziert das textlich verbürgte wunneclîch nicht nur die Behaglichkeit des Damengemachs, sondern auch dessen Aura als „erregende[r]“861 Ort. Der Erzählerrede
859 „Allerdings“, so fragt Gephart, „lässt sich aus der Erzählung nicht auch der archaische Triumph des Unzivilisierten über das Zivilisierte herauslesen? So gesehen, gäbe die groteske Kemenatenszene die ganze Hofetikette in einer spiegelnden Dramaturgie der Lächerlichkeit preis“ (Gephart 2006, S. 91). 860 Lexer 1979, Bd. 3, Sp. 994. 861 Ebd., Sp. 995.
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ist an dieser Stelle nicht zu entnehmen, wessen Sichtweise diese so schillernde Örtlichkeitsbezeichnung zugehört. Auch dies kann als ein Aspekt der literarischen Qualität des Textes gelten, fallen doch so Erwartungshaltung und Beobachterperspektive von Narr und Rezipient zusammen und dienen einerseits abermaligem Spannungsaufbau und andererseits folgenreicher Involvierung des Rezipienten. Welche Art von Verfehlung wird denn in ir heimlîche (HB-K 214) zu gewärtigen sein? Die Bezeichnung des Schlafgemachs und der Hinweis auf die Sphäre des Verborgenen lenken die Erwartungen einzig in eine Richtung: Die ‚Angelegenheit‘ (dinc; HB-K 215), derer die Prinzessin nachts, heimlich, in ihrem ‚Wonnegemach‘ überführt werden soll, kann einzig eine sexuelle Verfehlung sein. 3.3.1 Erzählen vom Erzählen in Richtung scheiternder Affektkontrolle Für semantische Nuancen und richtungsweisende Schilderungsdetails sensibilisiert, muss auch die Kurzweil, die die Damen bî einem schœnen fiure (HB-K 225) treiben, müssen also auch die ausgetauschten âventiuren ‚verdächtig‘ erscheinen. Nun, erzählt wird in jeglichen Gattungskontexten des Mittelalters. Man denke nur etwa an den Romaneinstieg des Iwein von Hartmann von Aue862 , wo es nach Prolog und Pfingstfesteinführung heißt: daz sehste was Kâlogrenant. der begunde in sagen ein mære, von grôzer sîner swære und von deheiner sîner vrümekeit. (Iw 92–95)
Auch in Konrads von Würzburg Der Welt Lohn863 , wo Wîrent dâ von Grâvenberg der zunächst unerkannten Frau Welt begegnet, geht ein Lektüreerlebnis voraus: […] und haete ein buoch in sîner hant, / dar ane er âventiure vant / von der minne geschriben (DWL 55–57). Auf der Figurenebene können Erzählsituationen allenthalben als Handlungsimpulse gelten, die – mitunter erst von hinten motiviert – Gattungsspezisches repräsentieren oder für den Handlungsverlauf bereits Signalcharakter gewinnen.
862 Hartmann von Aue: Iwein. Aus dem Mittelhochdeutschen übertragen, mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen von Max Wehrli. Zweisprachige Ausg. Zürich 1988 (= Manesse Bibliothek der Weltliteratur); (Sigle Iw). 863 Konrad von Würzburg: Der Welt Lohn. In: Ders.: Heinrich von Kempten. Der Welt Lohn. Das Herzmaere. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Mittelhochdeutscher Text nach der Ausgabe von Edward Schröder. Übersetzt, mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen von Heinz Rölleke. Stuttgart 2004 (= RUB 2855), S. 50–65; (Sigle DWL).
Epidemie und Erosion: Grenzverschiebung und -diffusion
Ähnliches gilt für die Halbe Birne, in der Erzählgut eben auch für die Handlung impulsgebend wird.864 Denn der erste Schritt hin zu exzessiv scheiternder Affektkontrolle einer eben überraschend nur körper- und nicht tugendschönen Prinzessin als individuellem, nicht-epidemischem Verähnlichungsprozess mit dem Sündernarren, ist auch eine en passent ironisch kritisierte Folgewirkung allabendlicher Kurzweil im Damenkreis: Die topisch sorgenlösende Funktion des Fiktiven – sei es mündlich aus dem Gedächtnis vorgetragen oder vorgelesen – also die Beschäftigung mit maniger âventiure (HB-K 226) – bewirkt als ersten Schritt in Richtung Kontrollverlust ihrerseits fatale Unbekümmertheit, so dass die Prinzessin ir swære gar vergaz (HB-K 224). Als implizite ‚Literaturschelte‘, die den alten Grundverdacht des Mittelalters gegenüber dem fiktiven Erzählen aufruft, mag diese als begünstigende Erklärung für die im Folgenden drastisch auserzählte Verführungswilligkeit der Frau gelten. Dass im Damenkreis erzählte Geschichten so stimulieren, dass, wie gleich zu zeigen sein wird, im Höfischen dem Skatologischen und Erotischen – im Wortsinne – ,Tür und Tor‘ geöffnet werden, mag man wiederum nicht nur gegenteilig Misogynem zurechnen. Vielmehr scheint hier bereits eine weitere, noch darzulegende Betörungsdimension dieses Textes auf, der auch als Selbstironie eine bedrohliche Aushöhlung seiner moraldidaktischen Lizensierung lustvollen Erzählgutes mit sich bringt. Dies ist ein erster Hinweis darauf, dass auch der Didaxe des Epiloges nach Epidemisierung der Narrheit und ins Erosionsartige spielenden Grenzverlusten nicht ohne Weiteres vertraut werden darf. 3.3.2 Auf der Schwelle zur heimlichkeit: Skatologie und Erotik Wie leicht Unbekümmertheit zu Unbedachtsamkeit werden kann, rücken die nächsten Absenkungen von Hemmschwellen vor Augen. Stimuliert durch den Kollektivgenuss fiktiven Erzählens tritt ein juncfrouwe fîn („ein anmutiges Fräulein“; HB-K 227) vor das Saaltor. Was motivlich als Signal für einen Sphärenwechsel865 aufgefasst werden kann, hat bislang, überlieferungsgeschichtlich gestützt866 , als „nebensächliche Motivationspartikel[]“ und „gleichgültige[r] Umstand, daß eine 864 Bei Folz wird der falsche Narr ohne Umschweife am Feuer der Königin platziert. Was die Hofdamen dort treiben, bleibt unerwähnt. 865 Zur ästhetischen Tendenz seiner Erzählvariante passt auch, dass Folz nicht nur auf derartige Motivik der Vitalsphäre verzichtet. Vielmehr erscheinen seine ‚Signale einsetzenden Sphärenwechsels’ fast überlesbar subtil: Beiden Sittenverstößen gehen jeweils – ein tatsächlicher und ein erinnerter – Seufzer der Protagonisten voraus: Der ritter gund erseüffzen tiff / Der hoffzucht halb, die im was swer (HB-F 28f.). Die bereits erotisch affizierte Königstochter erinnert sich [a]n diffes seüffczen, angst und ach (HB-F 117). 866 Unter Verweis auf die Wiener Handschrift sieht Müller die „Entbehrlichkeit im Handlungsverlauf wie ihre paradigmatische Bedeutung zur Bezeichnung der Gegenwelt belegt“ (Müller 1985/86, Anm. 22, S. 293). Im Gegensatz hierzu erkennt Schnyder dem wasserlassenden Jungfräulein zu,
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Hofdame den Narren entdeckt, wenn sie vor dem palas Wasser lassen geht“867 , allenfalls Geringschätzung erfahren. Dieses nun ebenso höfische wie kokette Edelfräulein verkörpert seinerseits das Überschreiten von Gattungs- und Raumgrenzen; von Grenzen, die eben nicht randscharf gezogen sind, sondern deren graduelle Übergänge lediglich ein Überschreiten bzw. Überschrittenhaben konstatieren lassen. Aus dem Kreise ständisch wie ethisch hochstehender Damen – allesamt mit Termini für höfische Koinzidenz von Tugend und Schönheit eingeführt – verlässt spannungssteigernd ausgerechnet ein juncfrouwe fîn (HB-K 227), also eine besonders reizende Vertreterin ihrer Spezies, den Schutzraum höfischer Weiblichkeit. Das Überschreiten von Raumgrenzen, hier der Wechsel von Innen- und Außenraum, hat bereits Signalcharakter, und der Zusammenfall der Grenzlinie zweier Gattungsräume könnte im Kontrast kaum schärfer, in der bedeutungssubversiven Nahstellung kaum trefflicher gestaltet werden: dô kam ein juncfrouwe fîn sam ein turteltiubelîn für daz palastor und wolde sich dâ vor des wazzers erlâzen. (HB-K 227–231)
Der Erzähler steigert die Fallhöhe noch, wenn er die juncfrouwe zudem als turteltiubelîn auftreten lässt. Die zusätzliche bildliche Effeminisierung spielt hier ins Paradoxe, gewinnt das Edelfräulein so doch kaum mehr steigerungsfähige (höfisch anmutende) Lieblichkeit, die aber bedenklich unverhohlen in der Vitalsphäre agiert.868 Wer sich durch die Thematisierung von Erzählgut (âventiure) im Zusammenhang mit turteltiubelîn fälschlich in Gattungskontexten wie Wolframs Parzival wähnt, der turteltiubelîn als „Wahrzeichen des Grals“869 verwendet, wird von der Drastik
„Signal im Text in bezug auf das Kommende [zu sein]: Durch den Hinweis auf den Fäkalbereich wird die Sphäre der Sexualität eingeleitet“ (Schnyder 2000, S. 269, Anm. 15). 867 Müller 1985/86, S. 293. 868 „Dass der Fokus der folgenden Szene auf Körperlichkeit und speziell der Befriedigung körperlicher Bedürfnisse liegt, zeigt sich“, so Heiland, „an dem Umstand, dass eine der juncvrouwen den Toren vor der palas-Tür findet, als sie dort Wasser lassen will (277–233). In seinem körperlich-animalischen Drang erscheint das junge Fräulein als ‚tureltiubelîn’ (228) und später, ganz ähnlich, die Zofe als ‚kamerbelle’ (311) – als Hündin. Die Sphäre der Natur herrscht vor und verlangt ihren Tribut“ (Heiland 2015, S. 204). 869 Vgl. Pz 778, 22f.
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des Geschehens unmittelbar wieder in den Schwankkontext zurückgeholt. Das so liebreizende Edelfräulein hat eine ins skatologisch Derbe spielende Brückenfunktion zum Erotischen hin. Vor das Saaltor hat es diese einzig getrieben, um dort Wasser zu lassen, und es ist eben genau diese Verrichtung, bei der sie den nackten falschen Narren entdeckt. Die kleine Szene des wasserlassenden Turteltäubchens firmiert im Desavouierungsgeschehen ouvertürehaft und steigert dadurch abermals Spannung und Erwartung. Wenn sich aus der Fassadenhaftigkeit eines so bezaubernd anmutigen Edelfräuleins die Vitalsphäre so ungeschönt Bahn bricht, dann sind nach den Strukturprinzipien von Wiederholung und Steigerung bei einer Prinzessin Praktiken noch gänzlich anderer (Un-)Art zu erwarten. Bevor der entblößte Narr in die Sphäre weiblichen Innenraumes hineingeleitet wird, ist abermals Stimulierendes von Hören und Sagen Gegenstand des Erzählens: balde lief si wider în und seite ir frouwen mære, daz der tôre wære vor der kemenâten. (HB-K 234–237)
Der Effekt ist eine sattsam sadistische Sexualphantasie der Prinzessin, die sich nun wünscht, dieses vermeintlich folgenlos verfügbare Begierdeobjekt solle sich vor ihr „in der Asche wälzen!“ (HB-K 243). Der falsche Tor wird von zwei weiteren Edeldamen ohne Zögern in das Schlafgemach geleitet. Der Raumwechsel von außen nach innen erweist sich abermals als parodistisches Moment der Strukturanlage: „Diese Gegenwelt ist anders als im Artusroman nicht bedrohliches Außen, sondern nicht minder bedrohliches Innen.“870 Der Erzähler weist neuerlich den vil tumben viez (HB-K 254) als einen törichten Teufelskerl aus, dem es zugunsten weiblicher Schaulust sowohl an Schuhwerk als auch an Unterkleidung mangelt. Der Narr pariert die Obsession der Prinzessin damit, „[s]ein üppiges Gemächt / […] in die Asche“ (HB-K 262f.) zu hängen. Was er im Folgenden an närrischem Zeug unternimmt, ist alles andere als ‚törichte Originaltität‘. Es wird sich vielmehr zeigen lassen, dass es gerade Gesten und Gebärden konventioneller Narrendarstellung sind, die ihre unabweislich stimulierende Wirkung auf die Prinzessin nicht verfehlen.
870 Müller 1985/86, S. 291.
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3.3.3 Zanner-Verzückungen Gerade die vermeintlich „einfältigen Scherze“871 , „[s]eine Performance törichten, unhöfischen und irren Gebarens“872 des falschen Narren repräsentieren im Gestischen die Perfidie der Wahnsinnssimulation als konventionelle Narrengebärden. Müller konstatiert zwar, der ‚Ritter-Narr‘ Arnold habe eine Klammerfunktion für „die beiden entgegengesetzten Sphären innerhalb des Hofes“, deren Wechsel „abrupt“873 erfolge. Wohl ist der Gegensatz von Königstochter und Idiotennarr „nicht in den theologischen Interpretationen der Narrenrolle auf[zu]lösen, ob sie nun auf die tiefere Weisheit des Toren vor Gott oder auf die Verbindung von Narrheit und Sünde abheben, um dem Anstößigen oder Verkehrten seinen Platz in der Ordnung der Welt zuzuweisen.“874 Mit der Fokussierung der Narrenfigur wird jedoch versucht, zweierlei zu zeigen: der Sphärenwechsel von Öffentlichkeit und Heimlichkeit, Tag und Nacht, innen und außen erfolgt über eine minutiöse motivliche Phasierung.875 Sinn- wie bedeutungslos erscheinendes Gebaren wie Maulaufreißen und Zungezeigen erweist sich nämlich als zielführendes Intrigeninstrument zur Desavouierung der Lasterhaftigkeit der Prinzessin876 : an tœrlîche sinne leit er allen sînen gerinc. als ein tumber snürrinc zart er ûf sînen giel. den frouwen allen wol geviel, swaz er des nahtes anevienc. (HB-K 266–271)
Inwiefern vermag aber nun tonloses Maulaufreißen eines ‚Narren‘ die höfische Damenwelt derart zu unterhalten, dass diese sich verzückt in eine Steigerungsspirale sexueller Provokationen manövrieren lässt?877 Es ist nicht anzunehmen, dass 871 872 873 874 875
Ebd., S. 286. Schnyder 2000, S. 270. Müller 1985/86, S. 292. Ebd. Müllers Urteil könnte eher auf die Erzählfassung von Hans Folz zutreffen, in der sich der Narr bereits am Feuer der Königin niederlässt, nachdem er in der Hofgesellschaft stets Zuflucht bei ihr gesucht hat. 876 Vgl. Kröll 1994, S. 239–294. 877 Bei Folz fehlen derartig erotisch konnotierte Narrenprovokationen. Die Lust der Königstochter ist bei ihm die unmittelbare Reaktion auf die von einem wortzeichen bemäntelte prunst des Narren: Wan sie an ym erplickt und sach / Der manheit worlichs instrument (HB-F 118f.).
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die misogyne Grundtendenz der Erzählung allein leicht amüsierbare wie ebenso leicht verführbare Frauen auszustellen sucht. Vielmehr gewinnt die Gebärde des Maulaufreißens an Signifikanz, wenn sie als konventionalisierte Narrengeste gelesen wird, die noch bei Dil Ulenspiegels ‚Kinderstreich‘ wieder begegnet: In der zweiten Historie, in der Ulenspiegel von den Nachbarn als Bub und Lecker (Us, S. 12) beschimpft wird, reitet dieser mit seinem Vater durchs Dorf, was Ulenspiegel zweierlei Provokationsgelegenheiten bietet. Zunächst hinter seinem Vater und somit von diesem unbeobachtbar auf dem Pferde sitzend, lupfft Ulenspiegel sich hinden uff mit dem Loch und ließ die Lüt je in den Arß sehen (Us, S. 13). Nun von den zuschauenden Nachbarn als ,Schalck‘ beschimpft und vom Vater „schützend vor sich aufs Pferd“878 gesetzt, legt Ulenspiegel mit einer weiteren Narrenprovokation nach: Er reißt das Mull uff und zannet die Bauern an und reckt die Zungen uß (Us, S. 13). Katrin Kröll hat belegreich nachgewiesen, dass „Eulenspiegels wortloses Sprechen mit den unteren und oberen Körperöffnungen […] durchaus kein origineller Einfall Hermann Botes“879 war. Vielmehr identifiziert Kröll die Entblößungsgesten des jungen Ulenspiegels880 als „konventionell“: „Die Gebärden des Zannens und Bleckens waren somit im Mittelalter sehr häufig verwendete Mittel groteskkomischer Körpersprache.“881 Anhand ihrer materialreichen Studien kann Kröll den Nachweis führen, dass Zannen „nicht als harmloses Grimassenziehen, sondern als eine mit der ‚Feige‘ vergleichbare, grob obszöne Gebärde“882 aufzufassen ist: „Die Bedeutung des Zannens offenbart sich somit als Euphemismus einer Entblößung der weiblichen Genitalien.“883 So betrachtet, ließe es sich auch „als oral-weibliche Entblößungsgebärde, bei der eine sexuelle Komponente bildlich wie assoziativ hineinspielt“884 , deuten. Vor diesem Hintergrund mutiert auch der falsche Narr in der Halben Birne gar zum ‚verkehrten Geschlecht‘885 , dessen Repräsentation die leckerheit der Prinzession bildhaft vorwegnimmt.
878 Kröll 1994, S. 239. 879 Ebd. 880 Zur Geste des Zannens vgl. Leopold Schmidt: Die volkstümlichen Grundlagen der Gebärdensprache. In: Beiträge zur sprachlichen Volksüberlieferung. Berlin 1952 (= Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin: Veröffentlichungen der Kommission für Volkskunde 2), S. 239ff.; Oskar Moser: Zur Geschichte und Kenntnis der volkstümlichen Gebärden. In: Mitteilungen des Geschichtsvereines für Kärnten. Jg. 144 (1954), S. 762ff.; Martin Scharfe: Neidköpfe im Remstal. In: Württembergisches Jahrbuch für Volkskunde (1957/58), S. 156f.; Lutz Röhrich: Gebärde – Metapher – Parodie. Düsseldorf 1967, S. 26ff. 881 Kröll 1994, S. 241. 882 Ebd., S. 260. 883 Ebd. 884 Ebd. 885 Vgl. ebd., S. 268.
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Kröll basiert ihre Deutungsperspektiven außer auf literarischen Fallbeispielen und kunsthistorischem Anschauungsmaterial auf bibelexegetischen Interpretationshorizonten. Im christlichen Traditionskontext haben Entblößungsgebärden und -rituale strafenden Charakter oder aber mahnende Abwehrfunktion, begegnen Zanner doch auch als apotropäische Figuren. Ein weiterer Übereinstimmungspunkt zwischen Zanner und Märennarr findet sich abermals im nuanciert Semantischen der Halben Birne, begegnete der simulierende Narr doch kaum 14 Verse vor seiner Stimulierungs- wie Abwehrgeste als tumbe[r] viez (HB-K 254) – törichte Teufelsgestalt.886 Kröll deutet die beiden Figurentypen mit Entblößungsgebärden schließlich so: Die Bestimmung des Bildtypus der Zanner und Blecker aus exegetischen Texten bestätigt so die in der Einführung zu diesem Band […] gewonnene generelle Definition des drôlastischen Bildtypus. Im allegorisch-typologischen Sinne repräsentieren die Zanner und Blecker das ‚abtrünnige‘ Gottesvolk, das die religiösen Gebote mißachtet und der göttlichen Gnade buchstäblich den Hintern zukehrt.887
Die Typusverwandtschaft mit dem Narren, insbesondere dem gottleugnenden Insipiens, wie er in Initialminiaturen zu Psalm 53 (52) auftritt, liegt nach den einleitenden Überlegungen auf der Hand, und hierzu passt auch, dass Zanner und Blecker ihrerseits ebenso mit Eselsohren und Narrentracht auftreten.888 So gedeutet, lässt sich auf den zannenden Narren in der Halben Birne ebenfalls applizieren, was Kröll den Zannern und Bleckern im Allgemeinen zuschreibt: Sie „[e]nthüllen […] gestisch eine insgeheim betriebene Unzucht“889 . Verdeckung, gestisch konventionalisierte Verbildlichung und Desavouierung finden hier in den beiden Erzählpartien des Schwankmäres ihr symmetrisches Pendant. So, wie das Birnenessen scheiternde Affektkontrolle auch im Sexuellen indizieren mag, so sind auch die Narrengesten des Zannens und Bleckens sexuell konnotiert. Mit Blick auf die erotisierende närrische Kurzweil kann festgehalten werden: Dem Herabsinken zum gebûre und anschließender Phalluspersonifikation (an sînem ebenalten; HB-K 277) geht ebenfalls stimulierend die obszön-eindeutige wie konventionelle Zannergeste voraus.890
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viez, vieze „held, schlauer feind, teufelskerl, teufel“; vgl. Lexer 1979, Bd. 3, Sp. 345. Kröll 1994, S. 272. Vgl. ebd. Ebd., S. 277. Es wurde bereits mehrfach darauf hingewiesen, dass in der Fassung von Hans Folz das männliche Geschlecht einzig verschleiernd genannt (Der manheit worlichs instrument; HB-F 119) wird. Zudem wird die eigene Ästhetik in Bezug auf das Geschlechtsteil normativ formuliert: Das hie gar wol pleipt ungenent (HB-F 120).
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3.3.4 Phalluspersonifikation und weibliche Schaulust Die Verse HB-K 271ff., die so unverhohlen, wie in mittelhochdeutscher Literatur nur denkbar, von einer Erektion erzählen, erinnern mit ihrer Bildsprache des Minnekrieges lediglich im Metaphorischen an höfisch literarische Kontexte, zumal den frouwen allen wol geviel, / swaz er des nahtes anevienc (HB-K 270f.).891 In der Schaulust der höfischen Damengesellschaft mutiert der Tor (tœrlîche sinne; HB-K 266) semantisch zum gebûre (HB-K 273), wodurch eine abermalige Grenzüberschreitung, hier als grassierender Kultiviertheits- und gar Zivilisationsverlust, plastisch markiert wird. Bezeichnenderweise lässt die Metaphorik der Passage den falschen Narren wieder in ritterlichem Kampfe erscheinen: der hate sich ûf einen sturm bereit mit aller sîner ger. er stuont mit ûfgerihtem sper. (HB-K 280–282)
Schnyder hat die Fokussierung des männlichen Geschlechts dahingehend interpretiert, dass sich hier eine „metonymische[] Verschmelzung zum Ritter“ erkennen lasse: „Im verkleideten, zum Toren verkêrten (HB-K 142) Ritter, treibt die natûre den Ritter wieder heraus, offenbart sie hinter der Maske die eigentliche Identität und Qualitas. So ergibt sich im Innern der Kemenate eine Parallelszene zu dem öffentlichen Turnier am Anfang (HB-K 42–63).“892 Die bildliche Parallelität zur Turnierszene hat hier jedoch kontrastierenden Charakter. Die semantische Blickführung durch den Erzähler findet ihre ihrerseits charakterisierende Engführung auf Figurenebene, heißt es doch in den folgenden Versen von der Königstochter: si enbran als ein zunder von der angesihte, daz dem tumben wihte der eilfte vinger was ersworn. si sach den selben minnedorn und leit vil seneclîche nôt. (HB-K 286–291)
891 daz muoste sich erzöugen / an sînem ebenalten, / der vor lac gevalten / und sich krampf als ein wurm. / der hate sich ûf einen sturm / bereit mit aller sîner ger. / er stuont mit ûfgerihtem spêr (HB-K 276–283). 892 Schnyder 2000, S. 270.
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Perspektivwechsel korreliert hier mit Bedeutungswandel vom ‚aufgerichteten Speer‘ über den ‚elften Finger‘ zum ‚Liebesstachel‘.893 In diesen Metaphernwechseln zeichnet sich lustbestimmte Fokussierung ab. Im Blick der Königstochter (si sach den selben minnedorn)894 wird die mannhaft-ritterliche Turnierwaffe auf rein Geschlechtliches, auf Befriedigung Verschaffendes reduziert.895 Die erotische Stimulierung der Prinzessin erfolgt aber nicht einzig durch anschaubar Obszönes, sondern ist ihrerseits durch eine sich steigernde Folge erotisierender Impulse gestaltet.896 Die kleine besprochene Textpassage kann für die Erzähltechnik der Halben Birne und somit für deren fulminante Literarizität mit Fug und Recht als repräsentativ gelten: Der Umbruch aus dem höfisch Affektkontrollierten ins schwankhaft Erotische wirkt drastisch, ist aber – vielleicht ebenfalls erst im Lektürerückblick deutlich erkennbar – minutiös vorbereitet. Da diese Textstelle äußerst signifikant ist, wird die Phasierung des Übergangs aus dem Höfischen ins schwankhaft Derbe hier weiter nachvollzogen.
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Noch mehr Illusionen: von Eigenem und Anderem
Die selbsternannte Tugendwächterin, die ohne Besserungsabsicht, ohne jegliches menschliches Interesse am Anderen, den in seinen Umgangsformen höfisch nicht gesellschaftsfähigen Ritter Arnold öffentlich bloßgestellt hat, macht sich bereits
893 Die Vielfalt der Geschlechtssemantik mit „‚uneigentlichen’ Bezeichnungen und Vergleichen für das männliche Glied“ – so Heiland – „frappiert“: „Teilweise in Abhängigkeit des Erregungszustands reicht die Metaphorik von ‚igel’ (342) und ‚wurm’ (279) über ‚geschirre’ (262), ‚der eilfte vinger’ (289) und ‚ebenalter’ (277) bis zum erhobenen ‚sper’ (282) und dem ‚minnedorn’ (290)“ (Heiland 2015, S. 200). 894 Für Heiland stellt das Märe „die exzessive Triebhaftigkeit der Frau“ aus, „[d]abei reduiziert sie [die Prinzessin] den Mann gar auf seinen Körper, genauer gesagt, auf sein Glied“ (Heiland 2015, S. 202). 895 Die Szenenparallelität im Bildlichen scheint mitnichten dazu zu führen, dass der „Tor […] in seinem Sexualtrieb wieder zum Ritter“ werde (Vgl. Schnyder 2000, S. 271). Vielmehr führen rachebedingte Narrenrolle und weibliche Begierde zu einer abermaligen Grenzverschiebung, die die Rolle des vermeintlich natürlichen Toren zum Exempel eben auch eines Normverstoßes gegen tabuisierte Sexualpraktiken vorstellt. Für Grubmüller ist Arnolds Reduktion auf sein Geschlechtsteil ‚programmatisch’, da „vom Ritter hier nur der Körper“ bleibe. Und gemeinsam mit der Königstochter habe dieser, durch „nicht integrierte Körperlichkeit [...] in Schande“ gestürzt zu werden (Grubmüller 2006, S. 203). 896 Die Szenenparallelität scheint uns vielmehr darin gegeben, dass Arnold sowohl als Turnierritter wie als verkehrter Minneritter eben nicht Herr seiner Affekte und Körperreaktionen ist. Nicht Kraft und Ethos leiten diesen, sondern seine triebhafte Natur. Dessen ungeachtet wird die bigotte Königstochter gleichwohl „zur Törin“ (ebd.).
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vor der Enthüllung ihrer Sexualobsessionen weiterer sündhafter Verfehlungen schuldig.897 Nicht nur, dass die noch als minneclîche (!) (HB-K 240) apostrophierte Prinzessin befiehlt, den narren in das Gemach zu geleiten, so dass er sich vor ihr nackt in der Asche wälzen solle.898 Vielmehr verhallt auch die Warnung ihrer kamerrûze (HB-K 245) vor der abstoßenden Ungewaschenheit des narren folgenlos. In dem kurzen Dialog von Prinzessin und Kammerfräulein wird die Grenzziehung zwischen höfischer Kultur und unmenschlicher Unzivilisiertheit diskursiviert. Diese Dialogsequenz erweist sich aber in doppeltem Sinne als unverhüllter Machtdiskurs, in dem das unkultivierte Ansinnen der hierarchisch Höherstehenden (Prinzessin) über die Kultiviertheit der ständisch Niedrigeren (Kammerjungfer) triumphiert. In dieser chiastischen Verkehrungsfigur sind Stand und Ethos, Macht und Normativität bereits bedrohlich entkoppelt. Das kurze Gespräch hat zudem auch deshalb Diskurscharakter899 , da die Prinzessin zwar als Herrin der Gesellschaftsstruktur auch Unmoralisches zu befehlen vermag, sie selbst aber alles andere als ‚Souverän‘ der Lage ist. Bereits hier ist sie Opfer eines beginnenden Verlustes ihrer Affektkontrolle. Denn durch die von der Kammerjungfer überbrachte Nachricht vom Narren vor dem Schlafgemach lässt sie sich von ihrer curiositas beherrschen. Ungeachtet seines Schmutzes solle man den Narren hereinführen: „mir ist sô vil von im gesaget, er sî sô rehte spæhe, daz ich in gerne sæhe.“ (HB-K 248–250)
Die Schaulust der Befehlsgewaltigen fungiert hier – bereits desavouierend – als Handlungsbeschleunigung (dô wart langer niht gebiten; HB-K 251), zu der auch gehört, diese letzte, widersätzliche Instanz höfischer Schicklichkeit mit dem anonymen Kollektiv der Damengesellschaft – im Wortsinne – des Saales zu verweisen.900
897 Bei Folz wird eine anders variierte Desavouierungsgeschichte erzählt: Zunächst erscheint die Königstochter dem Narren gegenüber in einer regelrechten Beschützerrolle: „den narn will ich mir, / Und wer gern meinen willen thu, / Der laß mir disen thorn mit ru“ (HB-F 105–106). Dessen Erregtheit reicht dann aber für sie hin, ihrerseits in Minneverlangen entflammt zu sein. 898 Vgl. HB-K 240–243. 899 Zum Diskursbegriff als Machtausübung durch Grenzziehung und Verwerfung vgl. Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses. Aus dem Französischen von Walther Seitter. Mit einem Essay von Ralf Konersmann. Frankfurt a. M. 1993, S. 10ff. 900 Vgl. HB-K 292f.
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3.4.1 Entfremdend desavouierende leckerheit und sexuelle Nothelferin Die bereits geschilderte Stimulierungsmotivik aus in die Asche hängendem Geschlecht, Zannen und vorgeführter Erektion (HB-K 262–289) kulminiert im Topos der Fremdbestimmtheit durch Venus und Amor.901 Der Rekurs auf die antike Liebesmythologie hat hier abermals Signalcharakter, kontrastiert Frau Venus – mit oder ohne Ovidreminiszenz – traditionellerweise die höfische Minne, so wie z. B. Gottfried von Straßburg seinen Tristan die Ovidianische Liebeslehre als – wenig überraschenderweise – wirkungsloses Hilfsmittel ergreifen lässt, um den das ganze Romanwerk durchwirkenden liebe-leit-Topos abermals herauszustreichen. In Sebastian Brants Narrenschiff wird Frow Venus im Kapitel Von buolschaft als Wirkungsmacht vorgeführt, die, begleitet von gestikulierendem Tod und Amor mit verbundenen Augen, alle Welt am Narrenseil führt: Ich züch zuo mir der narren vil / Und mach ein gouch uß wem ich wil (Ns [13.] 3f.). Das Begehren der Prinzessin ist somit zwiefach als schändlich unstatthaft markiert: voyeuristisch-pornographisch wie intertextuell. Die Desavouierung der Prinzessin durch die Intrige des falschen Narren Arnold bringt die obsessive, eben reine Fleischeslust der Prinzessin ans Licht. Ihre Minne ist ausschließliche Triebbefriedigung und völlig frei von (Liebes-)Kunst oder Kultur. Hier beginnen sich falscher, zannender Narr und allein aus Begierde handelnde Prinzessin als komplementär verkehrtes Paar zu erweisen. Während die Zannergebärde des Narren als Mimesis weiblichen Geschlechtsteiles die Affektreduktion der Prinzessin auf das Geschlechtliche vorweggenommen hat, mutet die unverhohlene Direktheit der weiblichen Triebbefriedigung als erotische Figuration des genuin Männlichen an. Auch diese Verkehrungsfigur findet in ihrer nicht mehr steigerungsfähigen Wiederholung rückblickende Bestätigung. Ihr Anblick des närrischen minnedorn[s] (HB-K 290) versetzt die längst nicht mehr handlungssouveräne Prinzessin in existentielle Not, so dass ihr „Leben und Ehre“ (308) von ihrer Lusterfüllung abhängig erscheinen. Die Beschreibung ihrer ‚Zwangslage‘ ist ihrerseits amüsierend doppelsinnig. Einerseits bringt sie die völlige Abhängigkeit der Prinzessin von ihrer Triebbefriedigung zum Ausdruck, die über keinerlei Handlungsalternative durch Selbstbeherrschung mehr verfügt; andererseits entscheidet dieser Kontrollverlust, diese Reduktion auf animalisch Sexuelles im Handlungsverlauf tatsächlich über Leben und Ehre der Prinzessin, wie es das Ende der Erzählung und der Epilog zeigen. Zusätzlicher Ausdruck völligen Souveränitätsverlustes ist die nun sich abermals verkehrende Figurenkonstellation zwischen der Prinzessin und einer weiteren, diesmal jedoch „alte[n] Kammerjungfer“ (HB-K 297). Die lustgesteuerte Prinzessin
901 Vgl. ebd., 284f.
Noch mehr Illusionen: von Eigenem und Anderem
befindet sich nämlich zu alledem in einem weiteren Abhängigkeitsverhältnis. Gierentbrannt und handlungs- wie orientierungsunfähig bedarf sie bei ihrer Lusterfüllung noch einer sachkundigen Spezialistin. Die auch durch einen Eigennamen von den anderen Kammerjungfern abgehobene frouwe Irmengart (370) ist gerade durch ihr Erfahrungswissen (durchriben was der selben lîp; 298) ebenso handlungskompetent wie ihrerseits desavouierend. Sie wird in ,erotischer Notlage‘ als ‚Nothelferin‘ angerufen, da sie, so die Prinzessin, ihr schon „oft / in vertraulichen Angelegenheiten beigestanden“ (302f.) habe. Das Kompetenzargument der Ratsuchenden spiegelt unmittelbar die Sündenroutine der Prinzessin als Wiederholungstäterin wider.902 Tatsächlich stellt die Sündenkomplizin Irmengart nicht nur Lusterfüllung, sondern ihrerseits sogar nicht mehr Steigerungsfähiges in Aussicht. Als Stummer sei der giege (HB-K 319) schließlich der aller beste gouch (326), mit dem nicht nur das so bedrängende Verlangen der Königstochter gestillt werden könne, sondern der darüber hinaus urdrütze / der minne gelustes (314f.) in Aussicht stelle. Lediglich zwei Bedingungen seien der Ermöglichung derartiger Lustekstase vorgelagert: Ratbefolgung der Prinzessin und Betörungserfolg der Kammerjungfer (waz ob ich disen giegen / mit listen kan betriegen; 319f.) gegenüber einem nicht bezeugungsfähigen Lustobjekt (er ist ein rehter stumbe; 329). Der vermeintlich willfährige giege (HB-K 319) solle listig ‚übertölpelt‘ werden. Er verspreche als ideales Missbrauchsopfer903 unbekannte, gar ungeahnte Lusterfüllung(en): „[…] er ist der aller beste gouch, der ie wart getœret, er ensprichet noch enhœret: er ist ein rehter stumbe.“ (H-KB 326–329) 902 Hans Folz hat der Königstochter eine noch versiertere alte Kammerjungfer zur seite gestellt: Folz’ Irmeltraut bedarf gar nicht erst des Hilferufs ihrer Herrin. Irmeltraut hat vielmehr die rechte Kompetenz, die Szene selbst einzuschätzen. Während bei (Pseudo-)Konrad die Königstochter ihre Zofe ‚aufklärt’ (von des tôren schulde / brinne ich alsô sêre; HB-K 306f.), ist die vergleichbare Äußerung bei Folz die Rede der Zofe: Eür hercz sich nach dem narren sent (HB-F 128). Beiden Erzählvarianten gemeinsam ist, dass die jeweilige Kammerjungfer im Folgenden diejenige ist, die das erotische Setting inspiriert und arrangiert. 903 Auch Heiland zufolge „wird dem vermeintlichen Toren nicht wie einem Menschen, sondern wie einem Objekt begegnet, das der eigenen Lusterfüllung dienen soll. Zunächst am Feuer, anschließend im Bett wird der Mann wie ein Spielzeug benutzt bzw. gewaltsam ‚missbraucht’ – wie ein Objekt, das Vergnügen bereitet, keinen Schmerz empfindet und das man wegwerfen kann, sobald es ausgedient hat“ (Heiland 2015, S. 204). Vergleichbar argumentiert auch Patrizia Barton: Der Narr „ist nun nicht länger das Subjekt der List, sondern das Objekt des weiblichen Liebesspiels. Er ist bloß noch die Verlängerung von Irmgards Stab, das Spielzueg der beiden Frauen“ (Barton 2018, S. 150).
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Während Grubmüller den zweiten Vers des vorausgehenden Zitates mit „der je unter die Narren kam“ übersetzt, ließe sich mhd. toeren auch als aktiven Akt des ‚zum Narren Machens‘, Betörens, Betrügens, Hintergehens oder Äffens verstehen.904 In dieser Lesart würde der Tor Arnold von der Kammerjungfer Irmengart im Dienste der Prinzessin ‚betört‘ und somit ein abermaliges Beispiel für die soziale Konstruktivität von Narrheit und Wahnsinn. So verstanden konfligieren in den wenigen Folgeversen Intrige und Gegenintrige, da der eben nicht wahrnehmungsbeschränkte falsche Narr seine angenommene Rolle nur zu gut zu spielen versteht. Als perfekte Verkörperung ‚betörter Torheit‘ simuliert dieser völlige Passivität. An die Stelle konventioneller Gebärden unsinnigen Gebarens tritt völlige Apathie und Untätigkeit als fatal suggestiver Ausweis sowohl völliger Narrheit als auch absoluter Verfügbarkeit. Die Niedrigkeit der sexuellen Obsessionen einer tugendlosen Schönheit (Prinzessin) findet in der völligen Herabwürdigung des Narren zum Sexualobjekt ohne Gehör und Stimme sein Pendant. Als Intrigant jedoch bewahrt Arnold gerade in seiner Passivität einen Aspekt (stereotyper) Männlichkeit: die Kontrolle über eigene Affekte und damit über seinen Racheplan und über dessen Opfer. Zu verteufelnde weibliche Lust ist kaum abschätziger darstellbar als in der perfiden Kombination aus Bigotterie und Egoismus. Derartig Abgründiges der Figurenzeichnung gründet abermals nicht einzig in Misogynem, sondern hat auch eine narratologische Funktion, zielt doch an dieser Stelle der Spannungsaufbau gleich in zweierlei Richtungen: Da dem Rezipienten ja durchgehend gegenwärtig bleibt, dass es sich um einen Narrensimulanten mit intriganter Absicht handelt, ist seine Erwartungshaltung sowohl darauf gerichtet, wann sich im weiteren Geschehen der Umschlagspunkt der Anagnorisis ereignen und wie eine angemessene Strafe für derartig entfesselte weibliche Lustphantasien aussehen könne. 3.4.2 Wiederholung als Steigerung: Sadismus … Inzwischen ist vielfach deutlich geworden, dass die raffinierte Kurzerzählung sehr stark von Motivdopplungen und Parallelstrukturen geprägt ist. In diesen Kontext gehört auch die Beobachtung der – fatalen – Komplementarität der Hauptfiguren, die nicht nur durch Normverstöße – Birnenessen und Narrenmissbrauch – und deren motivanaloge Verbalisierungen in der Hoföffentlichkeit aufeinander bezogen sind. Auch in der Kemenatenszene korrespondieren Motivanalogien. Der simulierten sexuellen Unbedarftheit als völliger Passivität des falschen Narren steht die erlösungsbedürftige Minneparalysiertheit der Prinzessin gegenüber. In dieser
904 Vgl. Lexer 1979, Bd. 2, Sp. 1465.
Noch mehr Illusionen: von Eigenem und Anderem
Konstellation bedürfen eben beide Figuren des helfenden Eingreifens der Kammerjungfer Irmengart. Ihr fällt somit eine Doppelfunktion zu. Sie ist im Folgenden als Choreographin der grotesk-gewalttätigen Beischlafszene servile Dienerin bei der Lusterfüllung ihrer Herrin und zugleich des Narren Arnolds unfreiwillige Intrigenhelferin. Hierdurch wird aber die Prinzessin, von ihrer eigenen Lüsternheit betört, zur Närrin und verkehrt sich vollends von der höfischen Dame in eine missbrauchsbereite Sklavin eigener Triebhaftigkeit. Auch in dieser Szene wartet der Autor der Halben Birne mit fein nuancierter Semantik der Narrendarstellung auf, die perspektivisch der Wahrnehmung der weiblichen Antagonistinnen wie der des Rezipienten zu entsprechen scheint. Durch die Narrenlarve entpersonalisiert und durch weiblichen Machtmissbrauch auch enthumanisiert, erscheint der so betrachtete Narr als signifikantes pars pro toto schließlich einzig noch als der ungefüege stampf (HB-K 341) oder auch als der ungefüege[] slûch (365). In beiden Fällen, von Grubmüllers Übersetzung jeweils unrealisiert, kann aber „der ungehobelte[] Klotz“ (341) oder auch der „grobe Klotz“ (365) als das aufgefasst werden, wofür der vermeintlich taubstumme Gauch (Liebesnarr) im Blickpunkt der Prinzessin steht: das männliche Genital. Während Grubmüllers Übersetzung stampf und slûch ununterschieden metaphorisch auffasst, vereindeutigen die mhd. Denotate den sexistischen Blick auf den Narren, ist doch mit stampf eben ein ‚Werkzeug zum Stampfen‘905 , eine ‚Mörserkeule‘ gemeint und bei slûch an entsprechend Schlauchartiges906 zu denken. Hierin kann ein weiteres Beispiel für Motivdopplung und Parallelstruktur gesehen werden, liegen doch im Narren als Phallusverkörperung und der Prinzessin in ihrer Befriedigungsfixiertheit komplementäre Reduktionen vor, die sich aber im Intentionalen markant unterscheiden: Komplementarität ist hier perspektivisch generiert, so dass die Möglichkeit der Simulation gar nicht in den Blick kommt. Auch im Zustand der Erregung bewahrt sich der Narr seine Affektkontrolle, soweit es das Menschenmögliche im Umgang mit der eigenen physischen Natur erlaubt. Die Königin hingegen ist in völlige Abhängigkeit und Fremdbestimmung ihrer Lüste, ihrer Helferin und fatalerweise auch ihres Gegenspielers geraten. Das perspektivische Geschehen von Intrige und Gegenintrige forciert sich gegenseitig. Die semantische Nuancierung der Narrendarstellung rückt mit ihrer derben Komik unmittelbar vor Augen, wovon die noch zu schildernde Beischlafszene erzählt. In der Totalität von weiblichem Kontrollverlust und Verfügbarkeitsphantasma einerseits und männlich passiver Selbstbeherrschung andererseits wird ein folgenreicher Rollenwechsel vollzogen. Die Grenzen des geschlechtlich Stereotypen verschwimmen und die ‚betörungswillige‘ Königstochter wird intrigengemäß zur
905 Vgl. Lexer 1979, Bd. 2, Sp. 1131. 906 Vgl. ebd., Sp. 989.
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Betörten, die sich, bar jedweder Affektkontrolle zur reinen Sexualgier geworden, als der eigentliche ‚Narr‘ dieser Szene erweist. Auch die Passivität des Lusterfüllung versprechenden Narrenkörpers ist in der Halben Birne handlungsbezogen motiviert und phasiert. Sie pariert die Sexualphantasien der Machthaberin (Asche) ihrerseits mit seinem Enthaltungssadismus, der ersehnte Befriedigung boshaft (vil gerne bekander / der küniginne leckerheit; HB-K 344f.) verweigert: der tumbe gouch (353) muss erst von der Kammerjungfer in akttaugliche Stellung gebracht werden. Was hier als Pleonasmus oder Tautologie daherkommt, spiegelt abermals den Blick der Frauen wider: Der Gauch, der nicht hält, was sein Wesensklischee verspricht, erscheint noch für die Erfüllung ureigener Natur als zu töricht. Die närrische Rachehandlung findet in der Motivwiederholung ihre Steigerung, wenn der nun richtig Positionierte jede Bewegung verweigert und sich schließlich als der arge ribalt (HB-K 378) auch unter den Gertenstößen Irmengarts finaler Lusterfüllung zunächst verweigert. Derartige Schurkenhaftigkeit (Grubmüller übersetzt mit „der schlimme Schurke“) ist lexikographisch gedeckt.907 Ein Blick auf das Bedeutungsspektrum auch dieses Begriffes (ribalt) verdeutlicht abermals das sprachliche Raffinement dieser Erzählung. Verdankt der mlat. ribaldus (‚Landstreicher‘, ‚Strolch‘, ‚Raufbold‘) seine moralische Deklassierung entsprechender ‚Lasterhaftigkeit‘ und ‚Gemeinheit‘ (ribaldaria),908 so umgreift der Bedeutungsumfang von mhd. ribalt auch ‚vorgeschobene Belagerungsmaschine‘.909 Die schurkenhafte Gemeinheit törichten Lustobjektes besteht nun eben darin, das (Minne-)Kriegsgerät nicht artgerecht zu gebrauchen. Entsprechend den vorausgehend nachgezeichneten Aktionsphasen ist auch das Gewaltmotiv („stüpfa, maget Irmengart […]!“) gedoppelt, bevor im Handlungsverlauf die Missbrauchslogik in doppeltem Sinne eingelöst wird. Nachdem sich das Dienerinnenversprechen, ungeahnte Lusterfahrung zu bereiten, erfüllt hat, wird sich des funktionslos gewordenen Lustobjektes barsch entledigt: dô wart der tœrehte man / gestôzen für den palast (HB-K 396f.). 3.4.3 … und ‚Sodomie‘ Zielend auf den „Sinnüberschuss des obszönen Kerns der Erzählung“910 interpretiert Gephart die sexuellen Verkehrungen von Narrenritter und Erotomanin als Ausweise bisexueller Begierde: „Wie aber, wenn wir auf den Spuren libidinöser Triebe den Protagonisten ihr verdecktes ‚gelücke‘ zubilligten, wenn sich unter der
907 908 909 910
Vgl. Lexer 1979, Bd. 2, Sp. 414. Vgl. Habel/Gröbel 1989, Sp. 343. Vgl. Lexer 1979, Bd. 2, Sp. 414. Gephart 2006, S. 92.
Noch mehr Illusionen: von Eigenem und Anderem
Narretei und der Abspaltung weibliche Aggressions- und männliche Unterwerfungslust ausleben dürften […]“?911 Derartige Interpretationsperspektiven behalten im Spekulativen ihre Berechtigung, auch wenn in einem Erzähltext des Mittelalters derartig Tabuisiertes einzig verdeckt verhandelt werden könnte. Eine solche Interpretationsrichtung bleibt allerdings davon abhängig, den Nachweis führen zu können, dass es bei der Prinzessin um ein „groteskes Verlangen der Frau“912 und im Falle des Narren tatsächlich weniger um racheplanmäßigen Sadismus als vielmehr um die „Lust passiver Unterwerfung“913 gehe. Es gibt aber keine textliche Evidenz für das Lustempfinden des Narren, da lediglich die Motivation seiner sexuellen Passivität ausgestellt wird: Es ist rächende Boshaftigkeit, die ihn antreibt (vgl. HB-K 344–347; 378–383).914 Dass sich der Sexualakt in der Kemenatenszene auch ohne Lustgewinn des Protagonisten „gefährlich nah an einem homoerotischen Setting bewegt“915 , bleibt hiervon unbenommen, auch wenn in der sexuellen Passivität des Mannes nicht allein Homosexualität erkannt werden muss.916 Hierdurch erhalten Rollenverkehrung und Tabubruch, Moraldidaxe und Tabuisierung eine eben gerade nicht mehr steigerungsfähige Verschärfung: Das im Mittelalter schier unbeschreibliche Tabu homoerotischer Praxis wird über seine moralische Verwerflichkeit hinaus mit Lustlosigkeit stigmatisiert: Seinem Protagonisten wird somit jedwede plausibilisierende Triebhaftigkeit entzogen. Ein Verführtwordensein vom eigenen homoerotischen Begehren wird nicht erzählt: Was wir heute Homosexualität nennen, gehörte zu einer Gruppe von Sünden, zu denen Thomas von Aquin auch die Selbstbefriedigung und, als schwerstes, den Verkehr mit Tieren zählte. Mehr noch als der nicht auf Fortpflanzung gerichtete Beischlaf wurde der Verkehr eines Mannes mit einem Mann oder einer Frau mit einer Frau als Verstoß gegen das göttliche Gesetz gesehen.917
911 912 913 914
Ebd., S. 92f. Ebd., S. 94. Ebd., S. 93. Heiland kommentiert die Interpetation Gepharts so: „Eine männliche Lust an sadomasochistischer Unterwerfung kann ich hier nicht im Entferntesten erkennen“ (Heiland 2015, S. 206, Anm. 893). 915 Gephart, S. 93; vgl. Schnyder 2000, S. 273 und Barton 2018. 916 Bei Folz sind Motiviken des Körperlichen, der Vitalsphäre und des Erotischen vergleichsweise zurückgenommen. Hierzu passt auch, dass der Sexualakt von Königstochter, Narr und Kammerjungfer seine eigene Nuance aufweist: Während bei (Pseudo-)Konrad der nachhelfenden Zofe eine Gerte zum Stupfen dient, ist es bei Folz [e]in nadel (HB-F 150), deren Stiche die Regungen des ‚passiven’ Liebhabers bewirken. Auch wenn Folz hierfür ebenfalls das Verb stupffen (HB-F 151, 156, 178) verwendet, erscheint assoziierbare Homoerotik hierdurch ihrerseits zurückgenommen. 917 Michael Camille: Die Kunst der Liebe im Mittelalter. Köln 2000, S. 139.
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Auch Schnyder weist lediglich den Frauenfiguren Lustempfinden zu: „Und von da an agieren die zwei Frauen in seltsamer Einmütigkeit und gemeinsamem Vergnügen mit diesem scheinbar willenlosen und bewegungslosen Spielzeug.“918 Derartige Einmütigkeit mag weniger überraschend erscheinen, wenn die Erfahrenheit der alten Kammerjungfer sowohl im Menschlichen (wie im Sexuellen) allgemein (durchriben was der selben lîp; HB-K 298) als auch mit Blick auf die eigene Herrin (diu bekande ir vrouwen baz; 296) ins Kalkül gezogen wird. Während Gephart im Kemenatensex „bisexuelle Lust“919 zu erkennen glaubt, weitet Schnyder die situative Lusterfüllung auf beide beteiligten Frauen aus: „Die ganze Szene ist so beschrieben, daß das Subjekt der Lust sich immer sowohl auf die Königstochter wie auf die Magd Irmingard beziehen kann.“920 Hierbei bezieht sich Schnyder auf die Doppeldeutigkeit der Relativpronomina ir in den Versen 373 und 377. Kontextuell erscheint eine derartige Ambiguisierung jedoch als ebenso unnötig wie nicht zweifelsfrei, geht es doch in erstem Falle um die ‚sadistische Notlinderung‘ der stupfenden Irmengart für die Prinzessin, die unter dem regungslosen Lustspielzeug auf ihrem Bauche leidet; im zweiten Beispiel ist aber doch der Effekt gewalttätiger Liebesstimulation gemeint, der zunächst einzig der Königstochter Lusterfahrung verschafft. Auch Schnyders dritte ‚Belegstelle‘ für den Liebesgenuss beider Frauen (HB-K 391–395) vermag nicht als ausschließlich erotisch zu überzeugen, heißt es im Mhd. dort doch: diu maget dô gewerte die frouwen des si gerte. si menete und gupfete si stach unde schupfete, biz in der frouwen minnen art beiden alsô tiure wart, daz in diu süezekeit zerran. (HB-K 389–395)
Die darzustellenden Interpretationsvarianten scheinen bereits in den abweichenden Stellenübersetzungen von Schnyder und Grubmüller auf: „Irmingart stachelte […]
918 Schnyder 2000, S. 272. 919 Gephart 2006, S. 94. 920 Schnyder 2000, S. 272. Barton interpretiert die Vergewaltigung des regungslosen Narren durch die beiden Frauen als eine Szene „weiblicher Homoerotik“: „Nicht nur bringt die Minnedienerin Irmgard ihre Herrin mit Hilfe des slûches zum Höhepunkt; Da Irmgard die Bewegungen ausführt, ist es syntaktisch und semantisch eigentlich zwingend, dass sich die Verse 393–395 („bis ihnen die Art und Weise der weiblichen Liebe so viel/lieb wurde, dass ihnen die Süße zerrann“) auf die beiden Frauen bezieht (Barton 2018, S. 151).
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bis ihnen die weibliche Liebesgier / beiden ausging, / daß sie befriedigt waren.“921 Grubmüller übersetzt: „Sie trieb ihn an und stupfte […] bis die Unersättlichkeit weiblicher Liebe / für sie beide zuviel wurde / und das süße Gefühl ein Ende nahm“ (HB-K 391–395). Wir schließen uns Grubmüllers Lesart an und halten es für ebenso wenig ausgeschlossen, dass die Körpermühen der erotischen Züchtigung durch Irmengart einerseits und der so erzwungene Beischlaf mit dem reglosen Narren andererseits schließlich zur Erschöpfung beider Frauen, nicht aber zu jeweiliger Lusterfüllung, führt.922 Zusammenfassend lässt sich konstatieren: Die Rachsucht des verkehrten Narrenritters Arnold und die leckerheit der Prinzessin haben in einem abermaligen Grenzverlust ihr(e) Maß(losigkeit). In der Entkoppelung von männlich-aktiv und weiblich-passiv gipfeln intrigante Unterwerfung und die Macht von Gewalt und Begierde in der Perversion des (mittelalterlich betrachtet) Perversen923 : der Homoerotisierung924 des devoten Narrenkörpers gegenüber einem männlich penetranten Akteurinnenduo. Gephart fasst dieses Setting so zusammen: Die Rache als aggressiver Affekt, der auf Genugtuung für eine erlittene Schmach zielt, ist mehr oder minder legitim. Der Unterwerfungsimpuls hingegen, der eine verbale, quasi-sadistische Abstrafung mit masochistischer Selbstzurücknahme und der Lust nach
921 Ebd. 922 Vgl. Schnyder 2000, S. 273. Auch Heiland geht davon aus, dass beide Frauenfiguren nicht nur physisch, sondern jeweils sexuell am Narremissbrauch partizipierten: „Mit allen Mitteln sind Prinzessin und Zofe – angetrieben von sexueller Begierde – bestrebt, auf ihre Kosten zu kommen“ (Heiland 2015, S. 201). Von einer sexuellen Motivation der Kammerzofe steht jedoch nichts im Text. Heiland präzisiert – ebenfalls ohne Textbeleg – das sexuelle Erlebnis der Kammerjungfer dahingehend, „dass der nachfolgende Orgasmus nicht von den ‚beiden’ Beischläfern, Tor und Prinzessin, sondern von den ‚beiden’ Spießgesellinnen erfahren wird“ (ebd., S. 204). Aus ihrer Lesart dann konsequent leitet sich der Schluss ab, dass „[d]ie eigentliche sexuelle Aktivität [...] also von der Zofe“ ausgehe (ebd., S. 203). Der Text schildert jedoch die Befriedigung der Prinzessin durch das Geschlecht des Narren, der sich erst durch die Gewalttätigkeit der Zofe aktgemäss bewegt. 923 Zur Übernahme des männlich-aktiven gegenüber dem weiblich-passiven Part durch die Prinzessin vgl. Heiland 2015, S. 203. 924 Der so passive wie ‚gestupfte’ Narr hat Züge einer Homosexuellengroteske. Diesen aber mit der wollüstigen Prinzessin und der gewalttätigen Zofe als „klassische sexuelle Dreierbeziehung“ (Heiland 2015, S. 203) aufzufassen, geht dann doch an der geschilderten Szenerie im Schlafgemach der Königstochter – auch ‚sinnbildlich’ – vorbei: „Denn innerhalb der homoerotischen Konstellation zwischen Zofe und Toren, die kaum zu übersehen ist, übernimmt die Frau den aktiven, männlichen Part. Mithilfe einer Rute, die zweifellos als Phallussymbol zu verstehen ist, penetriert sie – auf sinnbildlicher Ebene – den Mann anal“ (Heiland 2015, S. 203). Von einem Lustempfinden des so traktierten Narren wird eben auch nichts erzählt.
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Vereinigung mit dem bzw. der Stärkeren beantwortet, ist tabuisiert, zumal im Rahmen eines mittelalterlichen Männlichkeitsideals.925
Was zunächst wie entfesselte Fabulierlust erotischen Schwankerzählens anmuten mag, fügt sich umstandslos in mittelalterliche Alteritätsvorstellungen ein. In der theologischen Tradition, die sich immer wieder auf Paulus’ Brief an die Römer 1,22–27 bezieht und in Thomas von Aquin ihren prominentesten Exegeten hat, gelten sodomitische Praktiken (vitium sodomiticum oder concubitus ad non debitum sexum)926 und insbesondere Homosexualität als heidnische Laster und damit als sündhafter Ausweis des ganz Anderen: „Ebenso gaben auch die Männer den natürlichen Verkehr mit der Frau auf und entbrannten in ihrer Begierde gegeneinander: Männer trieben mit Männern Unzucht und empfingen so den gebührenden Lohn für ihre Verwirrung.“927 Wie begründet aber Paulus das Versinken der Heiden in derartiger ‚Unreinheit‘? Sie „sind zu Toren geworden.“928 Sind aber die Abkehr von Gott und scheiternde Affektkontrolle nicht Entscheidungen eines jeweils willensfreien Menschen? Schließt man sich diesem theologisch fundierten Menschenbild an, ist eine weitere, entgrenzende Schlussfolgerung unausweichlich. Sexuelle Praktiken verlieren ihren Ausweischarakter für sexuelle Identitäten. Sie werden zu Spielen von Intrige und Macht, und noch das völlig tabuisierte Andere kann nicht mehr als göttlich verhängt erscheinen; vielmehr muss auch diese Grenzziehung, diejenige zwischen dem sogenannten Heterosexuellen und Homosexuellen – im Fiktiven mittelalterlicher Erzählkunst – als von Menschen gezogen anerkannt werden.
3.5
Epidemisches Ausgreifen über den Textrand
Arnolds Narrenauftritt am Hof gipfelte in bereits zitierter Sentenz, wie es nach Jan-Dirk Müller „auch der deutsche ‚Cato‘ kennt“929 : […] wan der mit tôren schimpfen wil, der muoz verdulden narrenspil. (HB-K 205f.)
925 926 927 928 929
Gephart 2006, S. 94. Vgl. Hergemöller 1999, Sp. 113. Röm 1,27–28. Röm 1,22. daz er ze spote gerne wirt / swer boeses schimpfes niht verbirt (463f.). Friedrich Zarncke: Der deutsche Cato. Geschichte der deutschen Übersetzungen der im Mittelalter unter dem Namen Cato bekannten Distichen. Osnabrück 1966 (= Neudruck der Ausgabe 1852), S. 131, V. 108–110. Vgl. Müller 1985/86, S. 286, Anm. 8.
Epidemisches Ausgreifen über den Textrand
Nach den bisherigen Beobachtungen lässt sich Müller nur beipflichten, dass in einer „Handlungsfolge“ wie derjenigen der Halben Birne „ein Mehr an Bedeutung“ eingeschrieben ist, „das diskursiv nicht formuliert wird“930 . Ließ sich die Subtilität dieses Textes, die in reizvoller Spannung zur Drastik seines Inhaltes steht, auch im Semantischen zeigen, so hat der bereits thematisierte Stilwechsel ins Sentenzhafte zudem Signalcharakter. Wer ist Adressat dieses Sprichwortes? Nach dem Bisherigen kann diese Frage einzig eine rhetorische sein. Selbstredend bezieht sie sich über die handelnden Figuren (die Knappen) hinaus auch auf weitere. Wiederum im Nachgang der Lektüre ist diese Lebensweisheit auch auf die Prinzessin gemünzt, die glaubt, einen Narren missbrauchen zu können, ohne an der desavouierenden Gewalt des Wahnsinns Schaden zu nehmen. Vielleicht überrascht dies nun ebenfalls nicht mehr: Im Sprichwörtlichen blitzt auch die Textebene des Epiloges vorausgreifend auf, adressiert den Leser, der den Textsinn töricht verfehlte, wollte er ihn lediglich als einen auf die Figurenebene gerichteten Erzählerkommentar auffassen. Diese Erzählung ist subtil genug, auch diese Lesart zuzulassen: Wer sich auf die Lektüre dieses schwankhaften Märes einlässt, muss damit rechnen, selbst Opfer seiner betörenden Ästhetik zu werden. Das gründet ebenso in deren Subtilität wie in der Sache selbst, die sie darstellt: Verlachende Spötter (die Prinzessin, die Hofgesellschaft, der Leser) haben per se ein Lizenzproblem ihres moralischen Status, zumal es wenig Rezeptionssteuerung braucht, um selbstattestierte Tugendhaftigkeit im Lichte des seinerseits unsympathisch Lächerlichen als Überheblichkeit erscheinen zu lassen. 3.5.1 Rückblickende Destruktionen Am Beginn dieses Abschnittes sei an thesenhaft bereits mehrfach Angedeutetes erinnert: Der literarische Wert der Halben Birne liegt mitnichten in einer postulierten Didaxe; vielmehr scheint es ihren ästhetischen Reiz auszumachen, dass die beiden Grundwirkungen von Wahnsinn und Narrheit, Epidemisierung und Desavouierung, nicht nur narrativ, also auf Handlungs- und Figurenebene vorgeführt werden, sondern dass das antagonistische Verhältnis der intrigant-bigotten Protagonisten auch auf die Verhältnisstruktur von Erzähltext und Rezipient ausgeweitet wird. Zwei Blickpunkte erscheinen zur Verifizierung dieser These geeignet: einerseits der bereits erbrachte Nachweis, dass der schwer abweisliche Lesegenuss gerade darin besteht, sich unter gleichfalls bigotter Lektürelizenz sowohl Kuriosem und Schadenfreude als auch Misogynem und Erotischem hingeben zu dürfen. Andererseits scheint die ästhetische Pointe des Anzitierens von Gattungsspezifischem, insbesondere aus der Welt des arturischen Romans, gerade darin zu liegen, dass den jeweils dargebotenen Mustern des literarisch Vertrauten nicht vertraut wer930 Ebd., S. 286.
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den darf. Anders formuliert: Der Erzähltext stellt zwar spektakuläre Desavouierungsmomente und anagnorisishafte Szenen aus. Deren Wirkung erschöpft sich allerdings nicht im Impulshaften für den weiteren Handlungsverlauf, sondern lässt im Rückblick, quasi von hinten neuerlich motivierend931 , Figuren-, Ausstattungsund Handlungsdetails in einem anderen Lichte erscheinen. Mit dem Wissen des Handlungsverlaufes muss sich der selbstkritische Leser eingestehen, bereits vor jenen ausgestellten Umschlagspunkten subversive Signale überlesen zu haben, die sein Vertrauen ins musterhaft Gültige längst hätten erschüttern müssen. Sollte dem beigepflichtet werden können, so müsste, subsumierte man die Halbe Birne unter schwankhaftem Erzählen, ein Gattungs(vor)urteil ebenfalls revidiert oder das Textbeispiel zumindest hiervon ausgenommen werden. Gattungstypologisch gelten innerhalb der Intensitätsskala von der Tragödie zum Schwank eben diese als Extreme der Motivationsgestaltung: Das Maß der M.[otivation] schwankt allerdings für die versch.[iedenen] Gattungen: genaueste M. erfordern die Tragödie – damit die Tragik als zwingend erkannt wird und die trag. Wirkung sich einstellt – und der gute Kriminal- oder Detektivroman, während heitere Formen wie Schwank, Schelmenroman oder Komödie sich oft mit schwächerer M. begnügen können.932
Der Leser der Halben Birne findet sich folglich herausgefordert, nicht allein zwischen vorbereitender Motivation und blinden Motiven zu unterscheiden, sondern bezogen auf die ‚kompositorische Motivierung‘ („die funktionale Stellung einzelner Motive“933 ) zwischen kontextfremden bzw. entkontextualisierten Gattungscharakteristika zu differenzieren. So leuchten etwa im Muster traditioneller descriptiones, wie folgend am Text nachvollzogen wird, zunächst unbedenkliche, erst im Rückblick ‚störende‘ Elemente auf. Es liegt also seinerseits an der Aufmerksamkeit des Lesers, ob dieser das (moralische) Wesen der Protagonisten erst nach überdeutlich desavouierenden Speise- und Sexualpraktiken und deren Deklassierungen durch Figuren- oder Erzählerrede erkennt. 931 Lugowski hat bereits zwischen vorbereitender Motivierung als (psychologischem) Gattungskriterium romanhaften Erzählens und „Motivation von hinten“ unterschieden: „Im Falle der ‚Motivation von hinten‘ gibt es streng genommen nur ein Motivierendes, das Ergebnis, und der Selbstwert liegt nicht in der Fülle des Einzelnen ausgebreitet, sondern diese Fülle des Konkreten ist nichts als das Transparent, durch das hindurch der Selbstwert scheint“ (Clemens Lugowski: Die Form der Individualität im Roman. Studien zur inneren Struktur der frühen deutschen Prosaerzählung. Berlin 1932 [= Neue Forschung, Arbeiten zur Geistesgeschichte der germanischen und romanischen Völker 14] [= Nachdruck. Hildesheim/New York 1970], S. 83). 932 Von Wilpert 2001, S. 534b. 933 Matias Martinez/Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. München 2009 (= C. H. Beck Studium), S. 644a.
Epidemisches Ausgreifen über den Textrand
Moralisch deklassierend sind mit Blick auf den Ritter Arnold nicht erst das signifikante Birnenverschlingen934 und seine Rachegier935 nach der öffentlichen Bloßstellung durch die Prinzessin. Bereits Arnolds Personeneinführung sind bedenkliche Musterabweichungen eingeflochten, die so amüsant wie perfide sind, da sie sich so ‚bruchlos‘ in den Kontext musterhafter Heldendescriptio einzufügen scheinen.936 Nu was gesezzen dâ bî ein ritter an gebürte vrî, der was geheizen Arnolt. der hete durch der minne solt gevohten alsô manigen wîc. er bluote als ein berndez zwîc an êren und an tugent; er hete in sîner jugent prîses alsô vil bejaget. der kam ouch durch die schœne maget zuo dem turneie. der ûzerwelte leie, als er ze velde komen was, ein samît grüene alsam ein gras was sîn covertiure. ouch fuorte der gehiure des selben einen wâpenroc. vil ritterlîch was sîn gezoc, den er ze velde fuorte. swen er dô beruorte, der muoste im sicherheite jehen. (HB-K 33–53)
934 Vgl. HB-K 84–93. 935 [H]arte tobelîch er swuor / bî allen gotes bilden, / er wolte sich verwilden / an êren und an guote, / biz er die gemuote, / diu in geschendet hæte (HB-K 122–127). 936 Matejovski weist darauf hin, dass „[s]chon die einleitenden Personenbeschreibungen […] sich an der vorbildlichen Idealität der Helden des höfischen Romans“ orientierten (Matejovski 1996, S. 237). Zu den ästhetischen Eigenheiten der Fassung von Hans Folz zählt auch, seine Figuren weniger durch längere Beschreibungen als durch ihrerseits mehrdeutige Attribuierungen einzuführen. So gibt der Erzähler vor dem Einsetzen der Handlung nur diese beiden Aspekte des namenlosen Ritters preis: a) Eynr, dem man riters namen gab / Neur um die fart zum heilgen grab (HB-F 15f.); b) hoffzucht [...], die im was swer (HB-F 29). Eine einführende Beschreibung der Königstochter fehlt bei Folz. Zur „völlig veränderte[n] Zeichnung des Ritters“ bei Folz vgl. Langensiepen 1980, S. 93f.
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Was im vorausgehend Zitierten die musterhafte Schilderung ritterlicher Vorbildlichkeit zu sein scheint, wirft im Lektürerückblick doch einige Fragen auf: Arnolds Standesqualität wird einzig durch indifferentes an gebürte vrî (HB-K 34) angegeben, was immerhin so viel heißen mag wie freigeborn, adellich.937 Ob damit aber mit Blick auf die zu erringende Königstochter bereits Standesadäquatheit ausgedrückt ist, bleibt offen. Die Diffusität ritterlicher Standeshöhe erfährt trügerische Vereindeutigung ins Stereotype, wird doch als nächstes geschildert, Arnold sei ein erfahrungs- wie ruhmreicher Minneritter (HB-K 36–43). Zwar stellt der Erzähler im Topischen aus938 , dieser umtriebige Minneritter sei ein berndez zwîc / an êren und an tugent (HB-K 38f.), der, noch jugendlich, bereits etliche Siege errungen habe. Fraglich bleibt jedoch, wieso in keinem Falle dieser Minnesiege dem Ruhm auch eine Gattin korrelierte. Hierauf entsprechend mittelalterlicher Gattungskonventionen – etwa des Minnesangs – zu antworten, Dienst für Hohe Minne ließe die Minnedame unerreichbar, weist ja gerade ins irrig Illusorische: Dieser Minneritter, wir wissen es inzwischen, führt(e) seine Tugendhaftigkeit einzig fassadenhaft ,im Schilde‘. Noch deutlicher ins Fragwürdige oszilliert die in diesem Zusammenhang scheinbar unmotivierte Apostrophierung als leie (HB-K 44). Grubmüller weist in seinem Kommentar darauf hin, dass nicht nur bei Konrad von Würzburg der leie einzig als „Nichtgeistlicher“ – hier, so Grubmüller, „aber ohne Pointierung“939 , auftrete. Immerhin steht die Opposition ‚Laie‘ vs. ‚Kleriker‘ für (nicht nur in theologischem Sinne) ‚ungebildet‘ vs. ‚gebildet‘. Nun, man wird von einem hochmittelalterlichen Ritter keine lateinische Bildung verlangen wollen. Was aber, wenn sich der so gerühmte Minneritter als ein (ethischer) Laie seines ureigenen Metiers erwiese? Grubmüller hält diesen Vers der Rittercharakterisierung für eine „ebenfalls nur vorausdeutend erkennbare Zweideutigkeit“940 , heißt es von dem erfolgreichen Turnierteilnehmer doch, er sei durch sînen manlîchen muot (HB-K 68) an die Hoftafel eingeladen worden. Auffällig deutlich taucht der Erzähler sowohl Waffenrock als auch Satteldecke des Ritters in kräftiges Grasgrün (HB-K 46–49). Abgesehen davon, dass im Mhd. der Schrecken grüne Gesichtsfarbe verleihen kann941 , ist gegen die Farbe Grün auch als Ausweis von zu kräften kommen, dem anfang der liebe oder als farbe der heiterkeit und freude scheinbar nichts ‚einzuwenden‘.942 Erst der Umweg über das
937 Vgl. Lexer 1979, Bd. 3, Sp. 507. 938 Grubmüller charakterisiert dies als „Beschreibung des bewährten Kavaliers und musterhaften Minneritters“ (Ders. 1993, S. 97). 939 Ebd., S. 98. 940 Ebd., S. 97. 941 Vgl. Lexer 1979, Bd. 1, Sp. 1098. 942 Vgl. ebd.
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(Mittel-)Lateinische führt dann doch in die Vitalsphäre, steht das mlat. viror doch ebenso für ‚Grün‘ wie für ‚Lebenskraft‘943 . Die gegenseitigen Bloßstellungen „ei schafaliers, werder helt […] waz er zühte noch bedarf!“ (HB-K 440–443) und „[…] stüpfa, frouwe Irmengart […]“ (HB-K 446) prallen, Verbalbuhurt des Geschlechterkampfes werdend, aufeinander.944 Hierzu findet die unmoralische Verähnlichung von sittenlosem Ritter und lasterhafter Prinzessin ebenfalls ihr Analogon. Passend zum Grün von Waffenrock und Satteldecke des Ritters spielt die Gesichtsfarbe der Prinzessin im Schrecken drohender Anagnorisis ebenfalls in die gleiche Farbe: si wart noch grüener dan ein gras […] (HB-K 453). Was man als tendenziöse Spekulationen über vermeindlich unzuverlässige Personenschilderungen abtun könnte, erhält schließlich eine schwer abzuweisende Pointe, die verunsichert. Manche der bisherigen Attribuierungen und ‚Ehrerbietungen‘ werden nun dadurch fragwürdig, dass sie als Wahrnehmung eines individuellen Blickes, der mitnichten derjenige eines objektiven Erzählers ist, ausgewiesen werden: daz kunde hart wol gespehen diu junge küniginne und gedâhte in irme sinne vil dicke, wer er möhte sîn. (HB-K 54–57)
Die ideal anmutende Ritterdescriptio ist die Interpretation eben jener Prinzessin, gegenüber deren fassadenhafter Wohlerzogenheit, wie jetzt zu zeigen sein wird, von Anfang an Skepsis angebracht gewesen wäre. […] und eine tohter, der ir lîp stuont ze wunsche garwe, daz man sich in ir varwe volleclîche mohte ersehen. die schœne an wîben kunden spehen, die jâhen ir des besten, daz man si möhte gesten für ein minneclîche maget. swaz mannen an wîben wol behaget,
943 Habel/Gröbel 1989, Sp. 427. 944 Die öffentliche Schmähung des glücklosen Ritters durch die Königstochter interpretiert Schnyder so: „Ihre Zunge verrät ihre Lust an der Entdeckung der Lust des andern, wie sie ihr dann auch zum Schluß zum Mittel der Lustbefriedigung wird. Deshalb braucht der Ritter nichts anderes, als ihre Worte zu zitieren, um seinerseits ihr Begehren zu entlarven“ (Schnyder 2000, S. 275).
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dâ was si vollekomen an. swie manigen bitel si gewan, den wart si verzigen allen. (HB-K 4–15)
Die Körperschönheit besagter Königstochter ist so überragend, dass selbst kühnstes Wünschen diese nicht herrlicher auszumalen imstande wäre. Ja, so schön sei sie, dass ihre Betrachtung der Begegnung mit einer Sirene gleichkäme. Was hier als Topos harmlosen, aber nicht steigerungsfähigen Schönheitspreises daherkommt, hat zugleich dämonische Qualitäten. Zudem wird hier am Erzählungsanfang für die Beschreibungen der Protagonisten eingeführt, wovon eben bereits die Rede war. Das geschilderte (Körper-)Schöne, das der Belesene nur allzu schnell mit dem (Tugend-)Schönen gleichzusetzen bereit ist, erhält durch die Koppelung von Wahrnehmungsobjekt (Prinzessin) und Perspektivität die Vorzeichen des Fragwürdigen. Abermals ist es nicht die Erzählinstanz, die uns Kunde von der überragenden Schönheit einer Königstochter gibt, der nach mittelalterlich fiktiven Kohärenzerwartungen Tugendschönheit korrelierte. Vielmehr sind es ‚Experten‘ des Weiblichen, die die rühmenswerte Schönheit verbürgen (HB-K 8–11). Dass (männliche) Expertenblicke die Koinzidenz von Körper und Charakter, von Schönheit und Ethos noch nicht per se ausschließen, sei hier – als Illusionsstärkung – eingeräumt. Das Prinzessinnenlob anonymer Verehrer kippt jedoch schließlich ins unzweifelhaft Zweifelhafte: swaz mannen an wîben wol behaget, / dâ was si vollekomen an (HB-K 12f.). Perspektivabhängiger kann derartige Ambiguität kaum formuliert werden, als dass die Werthaftigkeit des Wahrnehmungsobjektes vom impliziten Ethos des Wahrnehmenden abhängig gemacht wird. Die Tugendhaftigkeit einer solchen Schönen hängt dann einzig davon ab, ob sie von einem Reinmar dem Alten oder einem Oswald von Wolkenstein sehend ‚gelobt‘ wird. 3.5.2 Grenzverluste und epiloghafte Verunsicherungen Dieser kleine, so boshaft raffinierte Text wartet mit weiteren Entgrenzungen auf: Die Genauigkeit, mit der die Narrenfigur vorgeführt wird, macht den Leser – raffinierterweise gleichermaßen – zum Intrigenkomplizen wie zum Intrigenopfer. Müssen wir als Leser uns jetzt nicht eingestehen, höchst neugierig, also der mittelalterlichen Sünde der curiositas verfallen gewesen zu sein, weil wir wissen, vor unserem geistigen Auge plastisch sehen wollten, welcher moralischen Entgleisung der künstliche Narr die unsympathisch bigotte Prinzessin überführen wird? War nicht der Leser selbst ins epidemische Betörtwerden dieser Kurzerzählung einbezogen? Deren Strukturprinzip von Wiederholung als Variante der Steigerung stimulierte doch vor dem Hintergrund mittelalterlicher Misogynie treffsicher die
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Rezipientenerwartung. Denn der Leser hatte gattungsspezifisch berechtigte Hoffnung auf ästhetisch vermittelten Genuss von Schadenfreude und Pikantem. Zu den Entgrenzungsleistungen der Kurzerzählung gehört auch, sich eine moraldidaktische Lizenz geschaffen zu haben, und zwar folgendermaßen: Der Leser ist vor eigener moralischer Überheblichkeit bereits dadurch gewarnt, sich doch so vortrefflich lasterhaft amüsiert zu haben. Aufgrund der misogynen Grundtendenz des Erzählgutes überrascht eines dann kaum: Die vermeintliche Restituierung moralischer und mithin höfischer Ordnung geht schließlich mit einem Schuldspruch der Frau und dem vermeintlichen Verständnis für die Männerfigur einher.945 Die bisherigen Analyseperspektiven haben uns jedoch gegenüber Gattungstypologischem wie Textsortengenuinem mit Skepsis gewappnet: Wer spricht die Verurteilung der Prinzessin aus? Zunächst ihre doch selbst immerhin durch Gewalttätigkeit beteiligte Kammerjungfer Irmengart.946 Die einstige Intrigenhelferin wird plötzlich zum Sprachrohr von Anagnorisishaftem, ‚entlarvt‘ den seinerseits intriganten Narren und urteilt ihrerseits überraschend moralisch: „[…] der tôre, der uns hât betrogen, daz was der ritter wolgezogen, den ir dô hant gescholten. nu hât er iu vergolten
945 Hans Folz fokussiert seinerseits in der Epilogdidaxe die weibliche Protagonistenfigur und mithin diese als Negativexemplum. Bereits die Eingangssentenz seines Epiloges bringt diese Funktionalisierung des Erzählgutes zum Ausdruck: Hiepey ein yeder mensch verste, / Was schanden pringt, die leüt verachten (HB-F 192f.). Die hier ins Allgemeingültige abstrahierte Folgelogik von Vergehen und Strafe greift die Spottlust der Königstochter auf. Anders als bei (Pseudo-)Konrad kommt bei Folz der Ritter als seinerseits in Sachen Tugendhaftigkeit defizitäre Figur kaum noch in den Blick. Dieser sei vielmehr im Vergleich mit allen anderen doch der konkurrenzlos herausragendste Turniersieger, der deshalb nur zurecht an der Königstafel platz gefunden habe. Bei Folz ist die Epilogmoral einzig auf die hochmütig-herablassende Frau gerichtet, um „sich zum wiederholten Mal des ernsten Themas hoffart anzunehmen“ (Langensiepen 1980, S. 97). Zudem stimmt deren äußerer Anschein nicht mit ihrer eigentlichen Veranlagung überein. ‚Frau’ solle sich vor allem der spotred [...] schamen (HB-F 224). Für die Fassungsvariante von Hans Folz konnte gezeigt werden, dass motivliche Drastik von Gewalt und Sexualität weitestgehend zurückgedrängt erscheint. Seine Epilogrhetorik hingegen ist nicht frei von (überflüssiger) verbaler Drastik, (Langensiepen nennt das Folz’ „kraftvolle Redensarten“; vgl. Ders. 1980, S. 96) etwa wenn es von der Königstochter heißt, [d]as sie vor engi kaum kan prunczen (HB-F 98) oder der Vorwurf ihrer sexueller Ausschweife so formuliert wird: Und liß sich ein stocknarn beramen (HB-F 216). Offenkundig war Folz weniger am Erzählen als am Belehren interessiert. Während er die epische Fassung seiner Vorlage stark kürzte, finden sich bei ihm „lehrhafte Passagen verstärkt“ (Langensiepen 1980, S. 96). 946 Gephart fasst den Sex im Schlafgemach der Prinzessin als „Triole bisexueller Lust“ zusammen (Gephart 2006, S. 94).
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den unverdienten itewîz […].” (HB-K 458–462)
Die Wohlerzogenheit des Ritters mag man als etikettenhafte Attribuierung hingehen lassen. Neuerlich bedenklicherweise ist dieser triviale Teil epiloghafter Lehre die Figurenrede einer Beteiligten an der Handlung, die zu alledem rät, den fragwürdigen Ritter zu ehelichen, um die Schande für immer zu bemänteln.947 Die Basis derartiger Moral ist abermals nur scheinbar Banal-Sprichwörtliches: „[…] ez was ouch ie der werlde flîz, daz er ze spotte dicke wirt, swer bœsez schimpfes niht verbirt […].” (HB-K 463–465)
Abermals scheint hier Strukturanaloges auf. So, wie das unsittliche Birnenverschlingen des Ritters nicht schlichtweg für den Sexualakt selbst stehen kann, wohl aber als Symptom generell scheiternder Affektkontrolle fungieren mag, so wird im Sprichwörtlichen dem Verhalten der Königstochter ebenfalls – rückwirkend – Signalcharakter zuerkannt: „Auch der Spott der Königstochter […] ist letztlich nichts anderes als Ausdruck ihrer begehrenden wîplichen art“,948 denn im misogyn Stereotypen sind „Geschwätzigkeit“, „Neugier und Klatscherei“949 weibliche (Un-)Art. So bereitet die Figurenperspektive Irmengarts der unverhohlenen Misogynie des Epiloges den Weg. Wenig überraschend findet didaktische Nützlichkeit entsprechende Behauptung und fundiert hierdurch rückwirkend die Lizenz des Erzählens nicht von einer minnebetörten, sondern obsessiven, zu sexuellem Missbrauch neigenden Königstochter.950 Verharmlosung ist hier programmatisch, würde doch die Drastik des tatsächlich Erzählten sowie dessen interpretatorischer Gehalt in doppeltem Sinne schwerlich lizensierbar sein. Dieses narratologische Dilemma spielt auch ins Rezeptionsästhetische: Verweigern wir uns dieser Lesart der Halben Birne, drohen wir der doch so kitzelig anzüglichen Vergnüglichkeit derartiger Lektüren verlustig zu gehen.
947 Bevelhet sînen henden / beide lîp unde guot / und nemet den ritter hochgemuot / ze einem êlîchen man (HB-K 470–472). 948 Schnyder 2000, S. 275. 949 Aarin J. Gurjewitsch: Himmlisches und irdisches Leben. Bildwelten des schriftlosen Menschen im 13. Jahrhundert. Die Exempel. Aus dem Russischen von Erhard Glier. Amsterdam/Dresden 1997, S. 347. 950 Vgl. Dar umbe wil ich râten / allen guoten wîben, / daz si die zühte trîben, / die reinen wîben wol gezemen, / und ein sælic bilde nemen an der küniginne, / wie sie betrouc diu minne […] (HB-K 487–493).
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Schließlich insistiert der Erzähler auf die Asymmetrie von Birnenessen und Narrenmissbrauch, denn die männlichen Rezipienten seiner Geschichte mögen sich hüten, nicht auch von einer kleinen missetat (HB-K 509) ins Unglück gestürzt zu werden. Mehrfach konnte bereits gesehen werden: Motivationen und Strukturen dieser kleinen, wohl durchkomponierten Erzählung stützen sich erhellend mitunter erst ‚von hinten‘. Bei der Zweibögigkeit der Handlungsfolge ist abermals nach dem Verhältnis von ritterlichem Versagen an der höfischen Tafel und der sexuellen Entgleisung der Prinzessin zu fragen. Während der Epilog des Erzähltextes vordergründig die sexuelle Zügellosigkeit im zweiten Handlungsbogen als Steigerungsmoment gegenüber dem vermeintlichen Fauxpas affektiven Kontrollverlustes beim Essen auszuweisen sucht, wird hierdurch im Misogynen zumindest stereotyp wieder (Geschlechter-)Ordnung951 restituiert. Nun bedarf es kaum des interpretatorischen Ausgreifens auf etwaige sexuelle Konnotationen von Früchteverzehr oder prekärem Umgang mit Äpfeln und Birnen in schwankhaften Erzählwelten, wenn abschließend zweierlei in Rechnung gestellt wird: erstens die Strukturanalogie der Störungspotentialität beider Regelverstöße und zweitens die Bedeutungszuweisung, die etwa mittelalterliche Tischzuchten einer kleinen missetat beigemessen haben. Müller fasst das Birnenverschlingen des Ritters Arnold so auf: […] der unterlassene Dienst verletzt die Achtung vor dem Höhergestellten, noch dazu einer Dame. Dabei muß nicht einmal wie bei Konrad geselleschaft in einer offenen, ungesicherten Situation erst hergestellt werden; sie ist im gemeinsamen Mahl vorausgesetzt und wäre nur angemessen auszufüllen. Indem das mißlingt, zerstört der Held das komplizierte Wechselverhältnis von Ehre und Zurücknehmen des eigenen Selbst, von gestisch angedeuteter Dienstfertigkeit und zelebrierter Gleichheit, mehr noch: die auf friedlichen Umgang gerichtete höfische Ordnung […].952
Es ist deutlich geworden, dass scheiternde Affektkontrolle sowohl bei der Nahrungsaufnahme als auch im Sexuellen unterschiedslos einen Frontalangriff auf die höfische Ordnung darstellt, die existentiell ebenso von ihrer symbolischen Repräsentation wie von ihrer ethischen Aufgeladenheit abhängt. Jenseits möglicher, aber gleichwohl interpretatorisch nicht nötiger Sexualkonnotationen hat „Arnolds unzuht“ eine bereits hinreichend bedeutsame „Zeichenfunktion als Symptom einer
951 Nach Grubmüller haben Mann und Frau „aus dieser peinlichen Affäre“ zu lernen: „Der Mann möge darum bemüht sein, sich gesittet zu benehmen; die Frau möge darauf achten, ihrem Manne nicht ihre Maßlosigkeit zu offenbaren“ (Grubmüller 2006, S. 116). 952 Müller 1985/86, S. 301.
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tieferliegenden Insuffizienz des Helden“953 . Abermals Müller zitierend, kann nun mit dem Märenautor deutlich konstatiert werden: [Er] macht darauf aufmerksam, daß zivilisiertes Benehmen nicht formalistisch auf bestimmte Sektoren, also z. B. auf Speisesitten, einzugrenzen ist, sondern sich als Formung des Lebens jederzeit zu bewähren und gegen die triebhafte Natur durchzusetzen hat. Geschieht das nicht, kann sich die höfische Gesellschaft auch nicht mehr auf ihre Kulturleistung berufen: sie verliert ihre Ehre.954
Wird nun im Zusammenhang mit Normativ-Fiktivem daran erinnert, welche Signifikanz etwa mittelalterliche Tischzuchten Normverstößen im Umgang sowohl mit wertvollen als auch mit alltäglichen Speisen zuerkannt haben955 , kippt die Epilogdidaxe ins betrügerisch Haltlose. Man ziehe nur etwa eine Hof- und Tischzucht wie die des Tannhäusers heran, so erweist sich der Erzählerkommentar von einer kleinen missetat als tückische Bagatellisierung: Er dunckt mich ain zühtig man, der all zucht erkennen kan, der chain vnzucht nie gwan vnd im der zücht nie zeran. […] Ez duncht auch grozz missetat, an wem ich die vnzucht sich, der daz ezzen in dem mund hat vnd die weil trincht als ain vihe. (TH, 1–4, 79–82)956 953 Schiendorfer 1999, S. 473. Schiendorfer selbst hält allerdings daran fest, das fatale Birnenverschlingen Arnolds als „eindeutig-zweideutige Sexualmetapher“ zu vereindeutigen: „Das ,Birnenteilen‘ dürfte beim Primärpublikum unfehlbar die Konnotation des Sexualaktes evoziert haben“ (ebd., S. 474). 954 Müller 1996, S. 1096f. 955 Wailes hält an der Asymmetrie fehlender Tischzucht und fehlender Sexualmoral fest und schlussfolgert aus deren ‚Unvergleichlichkeit‘, dass dem Birnenteilen parodistischer Charakter eigne, der „eine Art Kritik an übertriebener Künstelei in Fragen der Etikette“ sei (Matejovski 1999, S. 241). Wir glauben das mit Blick auf zeitgenössische Tischzuchten nicht (vgl. Wailes 1974, S. 114). Auch Heiland deutet die scheiternde Affektkontrolle an der Hoftafel ebenfalls als weitaus mehr als einen situativen Fauxpas (vgl. Dies. 2015, S. 197f.). 956 Tannhäusers Hofzucht. In: Andreas Winkler: Selbständige deutsche Tischzuchten des Mittelalters. Texte und Studie. Marburg 1982 (= Univ. Diss. 1982), S. 64–72, hier S. 64 und 66. Zur zitierten Passage vgl. Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Erster Band: Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes. Frankfurt a. M. 1997 (= stw 158), S. 202–204.
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Die Zubilligung, ‚züchtig‘ zu sein, wird in der Eingangsstrophe zu Tannhäusers Hof- und Tischzucht an eine umfassende Verinnerlichung von zuht geknüpft. Es ist eben einzig derjenige wolgezogen, artig, höflich, von feinem anstande, gesittet 957 , der alle Bedeutungsfacetten von Wohlerzogenheit beherrscht und repräsentiert.958 Auf diesem absoluten Denkanspruch basiert auch der wechselseitige Verweischarakter sämtlicher ,Moralitäten‘, so dass Tischsitten keine banalen Verhaltensnormen sein können, die einzig friedlich geordnete Speiseaufnahme und zudem sichern, dass ein jeder zu dem ihm zustehenden Anteil komme. So betrachtet, scheint Verlass darauf zu sein, dass der Umgang mit spîsen und mâzgenôzen die Affektbeherrschung auch aller anderen Bereiche gesellschaftlicher Verhaltensreglementierung widerspieglt.959 Auf die Halbe Birne appliziert, muss das aber heißen: Aus diesem Einheitsdenken speisen sich auch die Sukzession ihrer Handlungsfolge und der ethische Zusammenhang von Essen und Sexualität. Auf die Protagonisten angewendet, folgt hieraus: Der tischsittenunkundige Turniersieger muss in umfassendem Sinne als unhöfisch gelten, ist doch die Schlussfolgerung zwingend, dass es ihm grundsätzlich an Affektbeherrschung mangelt. Die Konsequenz auf der Handlungsebene bestätigt dies. Es genügt, nicht normgerecht mit einer Birne zu verfahren, um Stand und Status und mithin alle Zukunftsaussichten auf den Erwerb von Dame, Land und Leuten verwirkt zu haben. In dieser Hinsicht ist die narratologische Verknappung der Erzählfassung von Hans Folz vereindeutigend konsequent. Hat Folz immerhin den Fauxpas bei Tisch durch deiktischen Erzählerkommentar und die vorausgehende Brüskierung der Tischdame durch konversationelle Inkompetenz vorbereitet, so spricht die Schmährede der Königstochter dem Versager bei Tisch und im Gespräch gleich jegliche Hofzucht ab: „Her fert der gancz unkündend hellt, Der dan die pirn so ungeschellt Pald halber warff in seynen munt. Wie gar ist ym kein hoffzucht kunt!“ (HB-F 63–66) 957 Lexer 1979, Bd. 3, Sp. 1171. 958 Die analysierten Beispiele literarischen Normierens (Tischzucht, schwankhaftes Märe) thematisieren zwar höfischeit/courtoisie als Kultiviertheit, die einen randscharfen Gradunterschied zur Zivilisationsstufe des dörpers beschreibt. Sie kennen jedoch nicht Wohlerzogenheit als rollenhafte Standesfacette oder Anstand als Verstellung. 959 Insofern wird auch die Debatte obsolet, inwiefern Birnen respektive Birnenteilen bereits – in welchem assoziativ-metaphorischen Sinne auch immer – für weibliche Geschlechtsteile oder Geschlechtsverkehr stünden. Der Bildgehalt ‚Vorsicht! Scheiternde Affektkontrolle!‘ erscheint hier stimmiger. Zur abermaligen Analogisierung von Birnen und Sexualität vgl. Matejovski 1996, S. 242.
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Bei Folz scheitert der Turniersieger am Umgang mit der Dame. Ihm fehlen Sitten und Worte, sich einer Tischnachbarin gegenüber adäquat zu benehmen. Und dieses defizitäre Verhalten einer Dame gegenüber hat in Folz’ Erzähllogik für das Fehlen jeglicher Hofzucht Indikatorcharakter. Und die Prinzessin? Spottlust und curiositas werfen auf das weibliche Pendant zum tugendlosen Ritter ein ähnliches (Zwie-)Licht. Wer sich Verbalentgleisungen durchgehen lässt, gilt ebenfalls als gänzlich unhöfisch. Diese Perspektive mag die reizvolle Widersprüchlichkeit der Epilogdidaxe oberflächlich als eine abermalige Pervertierung von Arturisch-Musterhaftem glätten: So wie im Epischen der Stärkste die Schönste gewinnt, weil beide nach läuternder Bewährung auch für ethische Exklusivität stehen, so findet im Schwankmäre die sich als Synonymie herausstellende tiefreichende Unsittlichkeit des Ritters zu bigotter Verruchtheit der Prinzessin, weil das Betragen nach geburischen siten – die (Verfehlungs-)Alternative sowohl in Tannhäusers Tischzucht als auch in der Kurzerzählung – dementsprechend groz missetat (Tannhäuser) und nicht eine kleine missetat (Halbe Birne) ist.960 In Tannhäusers Hof- und Tischzucht scheint der Einheitsgedanke der Sittlichkeit konsequent zu Ende gedacht, wird dort doch demjenigen nichts Geringeres als der Verlust des Seelenheils angedroht, der sich an der Tischzucht vergeht.961 Abermals droht die Interpretation durch erkannte Strukturanalogie und Mustervertrautheit mit dem Artusroman den Textsinn zu verfehlen, müssen doch mit Blick auf dessen Ästhetik zentrale Unterschiede in Erinnerung gerufen werden.962 Als „entscheidende Änderungen des topischen Handlungsverlaufs“963 benennt Schnyder u. a. das fehlende Schuldbewusstsein des Ritters, die Richtung erneuter âventiure-Fahrt und das Ziel ritterlicher Bewährung. In der Tat führt die öffentliche Brüskierung des tischsittenlosen Ritters einzig zum Racheimpuls, intrigantem Knappenrat zu folgen. Anstelle einer neuerlichen âventiure-Fahrt in die Unwägbarkeiten außerhalb des (Artus-)Hofes bricht der zum Narren verkehrte Ritter nicht in die Wildnis auf, wo er – alternativ zum Schwankgeschehen – „in Schuldverzweiflung den Verstand“964 verlieren könnte, sondern in das Intimste der Hofgesellschaft ein. Und schließlich: Anders als im Artusroman geht es nicht um Wiederherstellung der öffentlichen Ehre über die Wiedererlangung der Gunst der Frau, sondern um Rache an der Frau für die Verspottung und dadurch Wiedererlangung des öffentlichen Ansehens. Die Frau ist nicht mehr Ziel, sondern Mittel.965 960 961 962 963 964 965
nu hœrent wie diu frische / bire dô geteilet wart / nâch gebiureschlîcher art […] (HB-K 84–86). Vgl. Müller 1985/86, S. 297, Anm. 33. Vgl. Schnyder 2000, S. 267f. Ebd., S. 267. Schnyder 2000, S. 268. Ebd., S. 267.
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Handlungslogik und Didaxe widersprechen sich zudem in einer weiteren Hinsicht: Der erpresserische Erfolg der intriganten Narrenlarve Arnolds hat einen Preis: Die Destruktion der Einheit von individueller Bewährung und gesellschaftlicher Ordnung, die mit dem Erzählschema gesetzt war. Die normativen Instanzen werden nicht durch den Weg des Helden – auf welche prekäre Weise auch immer – nachholend bestätigt, sondern desavouiert.966
Überdies sei an weitere, gleichwohl ebenfalls ‚undidaktische‘ Verstörungen erinnert. Der angebliche Fauxpas bei Tisch erfährt wider das Didaktisieren des Erzählers in seiner Negativbedeutung dadurch eine Aufwertung, dass der so ungehobelte Ritter zwar schließlich Dame, Land und Leute gewinnt, aber glücklos bleibt, denn seine Desavouierungsleistung wird mit der Begründung lebenslänglichen Argwohns gegenüber seiner Gattin geahndet (doch was er arcwænic / der frouwen bœse tücke; HB-K 481f.). Und mehr noch: Die rächend Errungene wird zum Gegenteil ihres Preissieges, das (literarische) Minneideal der Tugend-Schönen wird dem zuchtlosen Ritter zur ewig hassenswerten Ehefrau (er was ir iemer mê gehaz; HB-K 498). Das ist mitnichten (artusromanhaftes) „Wiederherstellen einer aus dem Lot geratenen Ordnung“967 , wie es Schnyder aufgefasst hat, und ebenso wenig stehen am Märenende „(parodierte) Bewährung und letztendlicher Erfolg“968 , wie es Matejovski beschreibt. Der ‚Erfolg‘ des intriganten Racheritters besteht ja allenfalls darin, eine Frau errungen zu haben, die besser gar nicht erst ins Visier genommen worden wäre, prägt doch Bibelweisheit (Jesus Sirach 25, 16) ein: „Lieber zusammenhausen mit Löwen und Drachen / als zusammenwohnen mit einem bösen Weibe.“ Die biblische Spruchweisheit warnt insbesondere vor der Unzüchtigkeit der Frau, die ohne Besserungshoffnung sei: Die Zuchtlosigkeit einer Frau wird an ihrem Augenaufschlag / und an ihren Wimpern erkannt. […] Gegen eine Frau mit lüsternem Blick sei auf der Hut, / und wundere dich nicht, wenn sie dich zum Bösen verführt. Wie ein durstiger Wanderer den Mund auftut / so trinkt sie von allen Wassern, die sie findet. So läßt sie vor jedem Pfahl sich nieder / und öffnet den Köcher vor dem Pfeil. (Jesus Sirach 26, 9–12)
966 Müller 1985/86, S. 302. 967 Schnyder 2000, S. 268. 968 Matejovski 1996, S. 237.
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Was das biblische Frauenideal konturiert, nimmt sich schlichtweg als das Gegenteil der Königstochter im Schwankmäre aus: Eine Gabe des Herrn ist eine verschwiegene Frau, / und keinen Kaufpreis gibt es für eine, die wohlerzogen ist. // Gnade über Gnade ist eine schamhafte Frau, / und keinen Gegenwert gibt es für jemand, der züchtig ist. // Der Sonne, aufstrahlend in den Höhen des Herrn, / gleicht die Schönheit der guten Frau als Zier ihres Hauses. (Jesus Sirach 26,14–16)
Griff die Ordnungszerstörung des Erzählganzen nun so weit aus, sogar jeglichen didaktischen Gehalt zu vernichten? Nach allem Vorausgehenden ist das unwahrscheinlich. Gerade im Subversiven bewahrt die Lektüre der Halben Birne didaktisch Belehrendes. Die Narrenfigurationen fokussierend, wurde zwischen Desavouierungspotenz von fassadenhafter höfischeit und schlecht kaschierter Triebhaftigkeit unterschieden. Dass es im Fiktiven wie im Leben beides gibt, mag für eine unoriginelle Einsicht gehalten werden; aber nicht nur in literarischen Kunstwelten mit beidem rechnen zu müssen, ohne diese letztlich unterscheiden zu können und gleichsam sich selbst in der heimlichkeit der stillen Lektüre in dem einen oder anderen wiederzufinden, kann als eine lohnende ästhetische, mithin didaktische Verstörung gelten. Gleichwohl, zwingend moralisch bessern werden derlei (Selbst-) Erfahrungen nicht, denn auch in diesem „maere [wird] nicht mehr die Norm exekutiert, sondern die Normwidrigkeit genossen.“969
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Narrheit und Ästhetik bei (Pseudo-)Konrad von Würzburg und Hans Folz
Wer eine Verserzählung wie Die halbe Birne (A) zu den Texten des Tristan-Stoffes ins Verhältnis setzt, droht auf den ersten Blick, ‚Äpfel mit Birnen‘ vergleichen zu wollen: Die Romanhaftigkeit der großen Verserzählungen vor allem Eilharts scheint zunächst wenig Ansatzpunkte für vergleichende Analysen mit einem schwankhaften Märe wie der Halben Birne zu haben. Über poetologische (Vor-)Urteile höherer vs. niederer Textgattungen hinaus, haben Erzählformen und Motivik des derb Schwankhaften auch immer wieder der Argumentation gedient, eine so unverhohlen obszöne Geschichte könne erst gar nicht von einem Autor wie Konrad von Würzburg stammen. Wird auch diese Verserzählung intrigenmorphologisch
969 Müller 1985/86, S. 301.
Narrheit und Ästhetik bei (Pseudo-)Konrad von Würzburg und Hans Folz
analysiert,970 erweist sich jedoch zweierlei: erstens die hochgradige Vergleichbarkeit mit den Erzählkomplexen betrügerischer wie ihrerseits betrogener Narren und zweitens eine durchaus ‚konkurrenzfähige‘ Ästhetik einer Kurzerzählung, deren narratologisches Raffinement und semantische Vielfalt sowie deren Komplexität von Deutungsangeboten der Versepik Eilharts, Ulrichs und Heinrichs nicht nachgeordnet zu werden braucht. Die zweibögige Handlung der Halben Birne (A) ist dem episodischen Erzählen Eilharts, Ulrichs und Heinrichs bereits dadurch artverwandt, dass die zweite Handlungspartie bei Konrad ebenfalls ein Rückkehrabenteuer erzählt. Auch dessen Wiederkehrer, der Ritter Arnold, ist ein Intrigant in Narrenlarve, dem eine abermalige Annäherung an seine Dame nur in dieser Verkleidungsrolle gelingt. In der Zweibögigkeit der Erzählanlage kann ein „verkürzter und degradierter ‚Doppelweg‘“971 gesehen werden. Zudem weisen Handlungs-, Motivik- und Figurenstereotype auf einen parodistischen Charakter der Kurzerzählung hin. Die Ausgangslage erscheint als ebenso konventionell, weil sie an die erste Aventiure von Artusromanen erinnert. Es mangelt an einem Gatten für die Prinzessin und einem potentiellen Herrscher. Auch die Motivik entsprechender Berwerberauslese spielt ebenso wie die descriptiones der Protagonisten ins Stereotype. Der Rückkehr des zunächst vortrefflich erscheinenden Ritters Arnold an den Hof als Narr gehen in der ersten Erzählpartie Szenen beim Turnier und an der Hoftafel voraus. Wie im Tristan-Stoff gilt die ritterliche Bewährung ebenso wie die Beherrschung der Hof- und Tischzucht auch als Ausweis ethischer Exklusivität. Anzitierte Erzählmuster etwa aus der Artusepik rufen nach Müller auch deren ästhetische und ethische Vorstellungswelt, Paradigmatisches wie richtiges vs. falsches Verhalten respektive Folgemuster wie Lohn und Strafe für Tugend und Laster auf.972 Abermals sind vestimentäre Motivik und Ausstattung, Körperbeschaffenheit und Gebaren, kulturelles Wissen und Ritualkompetenz sowie entsprechende Sprechakte die gängige Ausgangsbasis für ebenso gängig nahegelegte Rückschlüsse auf die höfisch-ethische Kultiviertheit der Figuren. In den Tristan-Erzählungen waren derartige Kalokagathiekonzepte stets Anlass für die Verstörung von Figuren und Publikum. Und im Intrigengeschehen der Rückkehrabenteuer als Narr wirkten falsche Narren fatal glaubhaft (sogar auf ihre Intrigenkomplizin).
970 Die Fassungsvariante von Hans Folz erwies sich als weniger ergiebig für eine intrigenmorphologische Betrachtung. Das liegt u. a. daran, dass er versäumt, „seinen Hörern und Lesern zu erklären, warum der abgeblitzte Ritter das umständliche Spiel mit seiner Narrenverkleidung in Szene setzt“ (Langensiepen 1980, S. 95). 971 Müller 1985/86, S. 288. 972 Vgl. ebd., S. 287.
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In der Halben Birne (A) hingegen erweist sich das stereotype Erscheinen von ritterlicher Vortrefflichkeit und hochadeliger Frauenschönheit seinerseits als unzuverlässig.973 Die vielfach übliche Ausgangslage, die Musterhaftigkeit der descriptio sowie höfisches Vokabular bei der Figureneinführung sind bei (Pseudo-)Konrad von Würzburg allerdings nicht stereotyp im Sinne epigonaler Trivalisierung. Konrads ‚Arbeit am Muster‘ ist – anders als bei Folz – vielmehr bereits intrigant und betrügerisch auf das Publikum ausgerichtet.974 Ganz gezielt wird mit Rezeptionsweisen und Erwartungshaltungen gespielt, die dann weniger enttäuscht als darauf bezogen überrascht werden, was nach dem Umschlagspunkt der Erzählung, dem Übergang von höfischer Öffentlichkeit in nächtliche Heimlichkeit der Prinzessinnenkemenate tatsächlich geschieht.975 Und dies erscheint für eine neuerliche Einschätzung der Halben Birne (A) – anders als bei Folz – als zentral: Die motivlich stark erotische Verserzählung ist vor allem ein ästhetisches „Spiel mit literarischen Konventionen“976 , ein Spiel mit der nur vermeintlichen Verlässlichkeit von vestimentärer Codierung, Figuren-descriptio, Handlungsalternativen und deren Folgewirkungen. Damit ist das so charakterisierbare Lesevergnügen für das Publikum, nicht wie bei Folz souveränes Lachen über defizitäre Figuren, sondern ein unterhaltsames Irritationserlebnis. Denn die im Musterhaften hinterlegten Ordnungsvorstellungen werden in ihrer Oberflächlichkeit bzw. Fassadenhaftigkeit an Figuren vorgeführt und für den seinerseits getäuschten Leser erfahrbar gemacht. Der Einbezug des Lesers in das ästhetische Betrugsgeschehen wird narratologisch dadurch bewirkt, dass Informationen vorenthalten oder erst nachträglich erzählt werden. Die halbe Birne (A) hat über den einen spektakulären Kipppunkt hinaus,
973 Hübner hat darauf hingewiesen, dass zu den wichtigsten Bearbeitungstendenzen bei Folz zähle, „seinen Rezipienten von Anfang an einen überlegenen Wissensstand“ zu ermöglichen. Das „den traditionellen Erzählprinzipien des Schwanks“ zuzurechende Moment „eines kognitiven Privilegs von Erzähler und Rezipient gegenüber den Figuren“ ist zudem einer der Hauptunterschiede zur Halben Birne (A), die den Rezipienten betrügerisch um dieses Privileg bringt. Gerd Hübner: Hans Folz als Märenerzähler. Überlegungen zum narrativen Konzept. In: GRM. N.F. Bd. 54 (2004), S. 265–281, hier S. 273. 974 Hübner zufolge bietet Folz dem Rezipienten eine geradezu gegenteilige ‚ästhetische Erfahrung’ durch seine Wissensüberlegenheit gegenüber den Figuren: „Diese in der Form des Erzählverfahrens konstruierte Überlegenheit scheint mir das eigentliche Angebot an ästhetischer Erfahrung zu sein, das Hans Folz als Märenerzähler zu verkaufen hat. Es ist nicht auf Rezipienten berechnet, die mit dem Gedanken auch nur spielen wollten, die unausweichlich närrische Welt könnte sie in den Wahnsinn oder in den Wald treiben“ (Hübner 2004, S. 279). 975 „Das Verhältnis zwischen dem öffentlichen und dem heimlichen Verhalten des Ritters und der Königstochter (die Überlegenheit des Ritters, dessen Eßkultur in der Öffentlichkeit Mängel hat, gründet auf seiner Fähigkeit zur Beherrschung des Begehrens in einer heimlichen Situation) hat Folz offensichtlich nicht mehr interessiert“ (Hübner 2004, S. 277, Anm. 42). 976 Ebd., S. 288.
Narrheit und Ästhetik bei (Pseudo-)Konrad von Würzburg und Hans Folz
den Beischlaf mit dem Narren, der die höfische Fassadenhaftigkeit der Figuren vollends entlarvt, eine grundsätzlich subversive Tendenz. Im Nachgang der Lektüre lassen sich vertraute Erzählmuster wie Figureneinführung und Handlungsmotivation ebenso auf ihre Mehrdeutigkeit hin lesen wie die vestimentäre Codierung von Prinzessin und Turnierritter. So betrachtet erweist sich auch die Narrheit der Figuren nicht als eine unhöfische Bedrohung von außen, sondern als ein latent drohender Ausbruch innerer Ordnungsgefährdung, der narratologisch in der Anagnorisis der Intrige seine Entsprechung hat. Die halbe Birne ist auch motivlich eine sorgsam durchstrukturierte Erzählung, die vielfach mit Doppelung von Motiven bzw. der Steigerung von deren Wiederholungen arbeitet. Das betrifft nicht nur die Handlungsfolge von ‚Ritterpartie‘ und ‚Narrenabenteuer‘, sondern auch die Doppelung höfischer Verfehlungen, intriganterpresserischer Sprechakte sowie der Korrespondenz von Erzählhandlung und Epilog. So folgt auch auf das Turnier eine zweite Bewährungsaufgabe: das höfische Verhalten an der königlichen Tafel. Für die Erzählung namengebend, scheitert der Turniersieger Arnold an seinen bäuerischen Tischmanieren, die ihn – bereits narrenhaft – mehr als gierigen Fresser, denn als adäquates Pendant einer Hofdame bei Tisch erscheinen lassen. Die Signifikanz des Essens bzw. des (un-)kultivierten Umgangs mit Speisen ist in allen analysierten Texten besonders fokussiert worden. Sei es durch die Betrügernarren im Tristan-Stoff, die mitgebrachten Käse so traktieren, dass die Mahlszene insgesamt zur Parodie gerät. Die Deutungsherausforderung dieser Nahrungsmotivik hat, vergleichbar nur noch mit der Beischlafszene, eine Forschungskontroverse provoziert. So haben etwa Gephart, Müller und Feistner die unhöfisch verzehrte Birne konnotativ auf das weibliche Geschlecht bezogen.977 Nach den vergleichenden Analysen im Kontext zeitgenössischer Hof- und Tischzuchten erwies es sich aber als eher abwegig, das Birnenverschlingen Arnolds (metaphorisch) bereits als Sexgier deuten zu wollen. Schließlich lässt mangelnde Tischzucht, so der Argumentationsgang der Didaxe bei Thomasin von Zerklaere oder dem Tannhäuser, ganz unmetaphorisch auf problematische Affektkontrolle schließen. Der Verstoß gegen mittelalterliche Hof- und Tischzucht, das kulturlose Birnenverschlingen, wird verbal geahndet durch die öffentliche Schmähung durch die Prinzessin. Hiermit ist das Leben Arnolds am Hof verwirkt, die Aussicht auf Heirat und Landesherrschaft vertan und damit in ‚existentiellem‘ Sinne eine Notlage als Ausgangspunkt des Intrigengeschehens gegeben. Auch dieser Bestandteil des Intrigenmodells hat parodistische Züge: Die Wiederkehr an den Hof ist nicht wie im Tristan-Stoff durch Minne(-trank) unabweislich zwingend. Dass Erzählerlob
977 Vgl. Gephart 2006, S. 90; Müller 1985/86, S. 303; Feistner 2000, S. 295ff.
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in der descriptio Arnolds, als erfahrener Turnier- und Minneritter, ausgewiesen durch die Materialität seiner Ausstattung, gerät somit ins Ambivalente und lässt die Rückkehr an diesen einen Hof nicht als zwingend erscheinen. Zudem sucht der Erzähler die mangelnde Tischzucht des Ritters (im Epilog) als lediglich kleine Missetat darzustellen. Hierdurch wird vor allem ein weiterer Charakterisierungsaspekt der Protagonisten fasslich: Während sich die so tugendsame Sittenwächterin bereits mit ihrem Spott als moralisch Fragwürdige ausstellt, liefert sie dem öffentlich Geschmähten einen weiteren, vielleicht den eigentlichen Grund intriganter Wiederkehr. Wie in den Tristan-Erzählungen hat auch Konrads (falscher) Narr vor allem in der Rache für das Erlittene seine Intrigenveranlassung. Damit sind auch die närrischen Gewalttätigkeiten eines Tristan und eines Narren Arnold vergleichbar, deren Racheanlass und -intensität in der Verschränkung von Simulation und Dissimulation gründen. So forcieren scheinbar unsinnige Gewaltakte einerseits die Suggestion vermeintlichen Irrsinns falscher Narren wie sie auch andererseits den rächenden Wiederkehrer verbergen sollen. Wie in keinem anderen analysierten Text wird in der Halben Birne (A) die Aufmerksamkeit auf die Intrigantenrolle als Narr gelenkt. In einer ausführlichen Beratungsszene mit dem Knappen Heinrich (HB-K 142–174) wird ebenso detailliert ein Narrenbild fasslich wie in den Erzählpartien der Ratumsetzung und des Auftretens am Hof (175–206) und schließlich in der Kemenate der Prinzessin (207–397). Abermals thematisiert werden durch Haarschur betonte Ohren (lât iu ob den ôren / daz hâr abe nemen; HB-K 144f.) und das Narrenkleid (diu kleit, diu toerlich zemen; 146). Das nach Mezger „älteste Narrenkennzeichen“978 , der Narrenkolben (einen kolben swaere als ein blî; 154), fehlt auch hier nicht.979 Schon das Narrenbild von Arnolds Intrigenhelfer Heinrich beinhaltet darüber hinaus schier unsinnige Gewalttätigkeit (slahet alles darnider! 159), Unkenntlichkeit durch Schwarzfärbung (lâzet iu vermüseln / mit râme und mit üseln / antlitz und varwe; 149–151) und als besondere Eigentümlichkeit: die Stummheit des Narren (antwürtet niht, / reht als ir sît ein stumbe! 166f.). Denn Arnolds rachsüchtiger Zielphantasie entsprechend, ist die intrigante Verstellung, unfähig zur Zeugenschaft zu sein, als Beobachter einer sittlichen Entgleisung der Prinzessin ideal. Wie in den Narrenpartien im Tristan-Stoff bestätigen Begegnungen mit Randfiguren die Tauglichkeit des Narren als intrigante Verkleidungsrolle. Allenthalben zeigen diese Konfrontationen von ‚Narr und Hof ‘ die Labilität der Hofgesellschaft mit der Bereitschaft zur Angleichung seiner Figuren an den Narren. Anders aber
978 Mezger 1999, Sp. 1024. 979 Geradezu sympolisch steht bei Hans Folz das Fehlen des Narrenkolbens sowohl für ein weniger starkes Interesse an Narrenfigur und Intrige als auch an Gewaltmotivik (vgl. Langensiepen 1980, S. 94).
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als etwa in der Folie Tristan oder den Narrenszenen bei Eilhart, Ulrich und Heinrich wird in der Halben Birne (A) vor allem das nächtliche Treiben des Narren fokussiert. Bei (Pseudo-)Konrad von Würzburg reüssiert der Betrüger-Narr nicht als erzählender Hofnarr, nicht als Gewalttäter, der vorübergehend die höfische Ordnung okkupiert, oder als minnesangparodierende Lärmbelästigung. In der dem Insipienstypus verwandten Narrenvariante des halbnackten Irren postiert sich Konrads (falscher) Narr vor der Zimmertür der Prinzessin, da sich der Hauptteil von Intrige und Rache in der Heimlichkeit des Prinzessinnengemachs abspielt. Was den Betrüger unkenntlich und dem Närrisch-Tierhaften zugehörig machen soll, wirkt auf die Sittenwächterin höfischer Tischzucht als unmittelbar sexuell erregend. Mit konventionellen Narrengebärden des Zannens und entblößtem Geschlecht geht ein grassierender Kontrollverlust der liebesgierigen Prinzessin einher.980 Und die Art ihres Minnebegehrens charakterisiert sie als das unmittelbare Gegenteil ihres höfischen Anscheins. Zudem hat sich in der Verschränkung von närrischer Simulation und unhöfischer Desavouierung eine Macht- und Geschlechterverkehrung eingestellt. Mit der Zannergestik, die auf weibliche Genitalien anspielt, gewinnt ein vermeintlich verfügbares närrisches Lustobjekt seinerseits Macht über die Prinzessin als willfährigem Objekt ihrer eigenen leckerheit. Abermals geht das Höfische in der Konfrontation mit Narrheit in deren Epidemisierung auf. Und es ist seinerseits Rache des Narren, sich im Liebesakt samt seinem wichtigsten Intrigeninstrument (der eilfte vinger was ersworn; HB-K 289) regungslos zu verhalten, wodurch die Liebesglut der Prinzessin zu grotesker Perversion gerät. Die intrigenmorphologische Perspektive führt auch zu einer eigenen Position in der Forschungskontroverse um die Liebesnacht von Narr und Prinzessin. Schnyder sieht im Verhalten des falschen Narren „eine Parallelszene zu dem öffentlichen Turnier am Anfang“981 . Mannhafter Turniersieg durch Waffenhandhabung und völlige Regungslosigkeit beim Beischlaf geben ihre Vergleichbarkeit aber ebenso wenig zu erkennen, wie die gewalttätige Liebesszene von „weibliche[r] Aggressionsund männlicher Unterwerfungslust“982 (Gephart) erzählt. Die boshafte Liebesverweigerung des Narren führt nicht nur Intrigen- und Racheabsicht eng, um die sexuelle Erfüllung misogyn ins Weibliche allein zu verlagern. Durch den jeweiligen radikalen Egoismus (Lusterfüllung der Prinzessin, Rache des Narren) entsteht eine neuerliche Entsprechung der Protagonisten, die den Erzählausgang,
980 Bei Folz ist der Sexualakt von Narr und Prinzessin ‚ökonomischer’ motiviert: Die nicht auserzählte, sondern der Leserimagination überlassene Attraktivität des männlichen Geschlechts erregt eine Prinzessin ohne vorherige erotische Provokationen des Narren. 981 Schnyder 2000, S. 70. 982 Gephart 2006, S. 92f.
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die Verehelichung der beiden, vorbereitet. Die Zofe der Prinzessin, Irmengard, muss mit der Gerte für die entsprechende Regsamkeit dieses so stummen wie regungslosen ‚Liebesnarren‘ sorgen. Auch diese Randfigur wird eine unfreiwillige Intrigenhelferin, ist es doch ihre Assistenz, die dem unhöfischen Birnenverschlingen im sadomasochistischen Liebesakt ein Pendant schafft. Zu den gedoppelten Motiven wie dem abermaligen Affektkontrollverlust gehört auch der zu dem Schmähruf der Prinzessin („ritter mit der halben bir!“; HB-K 423) komplementäre Sprechakt des als Ritter wiedergekehrten Arnold: „[…] stüpfa, frouwe Irmengart […]“ (425). Diese allein für Handlungszeugen decodierbare Botschaft fungiert als bedrohliches Gnorisma und drohende Anagnorisis zugleich. Sie gibt die Identität des intriganten Narren nur dem primären Intrigenopfer, der Prinzessin, nicht aber der Hoföffentlichkeit, preis. Hierdurch kann Arnold, neuerlich wieder als Ritter am Hof, als erpresserischer Mitwisser agieren. Die vergleichenden Textanalysen brachten auch zutage, dass die Kurzerzählung der Halben Birne (A) hinsichtlich ihres semantischen Spektrums an Narrenbezeichnungen als einzigartig gelten kann. In keinem der untersuchten Erzähltexte wird handlungsbezogen und figurenperspektivisch so nuanciert differenziert nicht nur zwischen tor und narr, sondern auch zwischen gief (HB-K 185), giege (319), gouch (326), snürrinc (268), rehter stumbe (329), tumber viez (254) u. a. Da auch die Übersetzung Grubmüllers die semantische Vielfalt weitestgehend zu Synonymen vereindeutigt, da es sich letztlich immer irgendwie um ‚Narren‘ handelt, wurde der Textanalyse eigens ein Kapitel über die Situationsbezogenheit der Begriffsverwendung gewidmet. Zweierlei rückt das Interesse an historischer Semantik vor Augen: zum einen differenzierende Begriffswahl als ‚Ausdruck‘ für figurenspezifische Wahrnehmung und zum anderen den Facettenreichtum einer Intrigantenrolle, deren vermeintlicher Irrsinn den Unvernünftigen (tor, narr) oder Possenreißer (snürrinc) ebenso umfasst wie den Liebesbetörten (giege) und -besessenen (gouch) oder gar den Teufel selbst (viez). Die narratologische wie gattungsparodistische Anlage der schwankhaften Erzählung, die das Publikum mit doppelbödiger Musterhaftigkeit betört, und zudem semantisch ausdifferenzierte Figurenperspektiven zeigt, ist per se schwerlich mit der vereindeutigenden Epilogdidaxe – weder bei (Pseudo-) Konrad noch bei Folz – in Deckung zu bringen.983 Auch dieser Textteil ist intrigenmorphologisch interessant,
983 Auch wenn Folz’ Epimythion nicht intrikat zu nennen ist, muss doch dem „Verhältnis zwischen dem impliziten Sinnangebot der Erzählung[...] und der expliziten Moralisierung“ ein „Bedeutungsüberschuß“ zuerkannt werden: Auch Folz’ Fassung „läßt sich in der Tat als Exemplifikation der ausdrücklich abgeleiteten Moral verstehen, ohne daß ihr Sinn in der abgeleiteten Moral vollständig aufginge. Diese Relation als solche ist eher gattungs- als autortypisch; autortypisch scheint mir das implizite Sinnangebot der Erzählungen zu sein, das Folz mit seiner Erzählweise konstruiert“ (Hübner 2004, Anm. 39, S. 279).
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weil er vorgeblich den Handlungskonflikt ebenso löst wie er eine alternativfreie Lehre anzubieten scheint. Dass aber das intrigante Verkleidungsabenteuer als Narr einen glücklosen Ritter ans Ziel, mithin zu Gattin und Herrschaft, bringt, ist didaktisch umso zweifelhafter, da beide Figuren weniger durch Minne als durch gegenseitigen Argwohn verbunden sind.984 So bleibt schließlich auch die Erzählinstanz intrigant und das Publikum wohlig betrogen: Die Didaxe lizensiert nur oberflächlich das Erzählen, das lustvoll auf diese verzichten kann.
984 Nach Hübner folgen Folz’ Erzählungen wie die Halbe Birne dem Muster, dass „die Torheit den Betrug ermöglicht und deshalb von Betrügern ausgenutzt wird“ (Hübner 2004, S. 271). Zwar kann Hübner zugestimmt werden, dass „[i]n der Halben Birne (B) [...] die Figurenerkenntnis das von der Erzählung repräsentierte Wissensniveau am Ende“ einholt, „ohne daß die Figuren über sich lachen“ (ebd., S. 276). In der Halben Birne (B) fällt aber nicht nur das finale Figurenlachen, sondern auch die sonstige „Gnade des Folz-Happy-Ends“ (ebd., S. 281) aus: Im Epimythion der Halben Birne (B) straft der Erzähler zweifelsfrei (ir ist gancz recht gescheen; HB-F 222) schlussendlich die hochmütige wie spottlustige Königstochter mit lebenslänglichem Argwohn ihres Ehemannes: Wer weiß dan, wie geryt yr e, / Ob er yr trawet nümer me (HB-F 219f.). Ein Ehe-Happy-End sieht anders aus.
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„Da habt ihr’s nun! mit Narren sich beladen, Das kommt zuletzt dem Teufel selbst zu Schaden.“ Mephisto in Goethes Faust II, V. 6564f.
Grundlegend für die vorausgehenden Textanalysen war das Interesse am Erzählen von Narren und Narrheit im Mittelalter. Der Narr kann ein harmloser Spaßmacher und kurzweiliger Unterhalter, aber auch schlicht nicht Herr seiner selbst sein. In der heiklen Unterscheidbarkeit von amüsierender Verstellung und tatsächlichem Verstandesmangel gründen Faszinosum und Bedrohlichkeit dieser Figur, der gegenüber ein grundsätzliches Misstrauen geboten ist. Das Uneindeutige aber muss durch Praktiken des Marginalisierens gebannt werden, damit die stigmatisierende Markierung der Normabweichung dadurch vor sich selbst warnt, dass sie ‚in’s Auge springt‘: durch Hässlichkeit, spezifische Tracht und Attribute. Aber Haarschur und vermeintlich große Ohren etwa bewahren wie die mitgeführte Narrenkeule nicht vor einem kultursemiotischen wie zeichentheoretischen Dilemma: Narrenhabit und -habitus können auch betrügerisch geborgt und angenommen sein. So erscheint der Narr durch seine eigene (Un-)Natur wie durch die gesellschaftliche Reaktion auf ihn prädestiniert für Verstellungs- und Betrugsgeschichten. Um so mehr provoziert seine Anomalie ebenso unabweislich, wie die Wahrnehmung der Anderen charakteristisch ist: Reagieren sie auf den Narren mit Lachen oder Necken, Verlachen oder Verspotten, spaßhafter oder böswilliger Gewalttätigkeit, um ihre Normalität zu behaupten? In Begegnungen mit Narren steht folglich immer auch die Stabilität der Anderen, der Hofgesellschaft etwa, auf dem Prüfstand. Für die Auswahl der analysierten Texte war mitbestimmend, inwiefern sie an ihren Protagonisten die Unterscheidung von ‚natürlicher‘ und ‚künstlicher‘ Narrheit ihrerseits als heikel ausstellen, um einer grundlegenden These nachzugehen: der gesellschaftlichen Konstruiertheit des Anderen (auch) im Mittelalter. Von diesem Forschungsinteresse ausgehend, war es naheliegend, sich Erzählwelten zuzuwenden, in denen Intriganten und Betrüger als vermeintlich natürliche Narren reüssieren. In einem ersten Teil wurden die Tristrant-Erzählung von Eilhart von Oberg und die Gottfried-Fortsetzungen von Ulrich von Türheim und Heinrich von Freiberg insbesondere auf ihre Gestaltung des Narrenabenteuers hin analysiert, das jeweils den End- und Höhepunkt ihres episodischen Erzählens darstellt. In einem zweiten Kapitel wurde schließlich das schwankhafte Märe Von dem ritter mit der halben birn in den Fassungen von (Pseudo-)Konrad von Würzburg und Hans Folz auf Zu-
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sammenhänge von Narrheit und Ästhetik hin analysiert. Die Zweibögigkeit seiner Erzählanlage und Ritter Arnolds Wiederkehr als falscher Narr im zweiten Handlungsteil bot die Analysemöglichkeit einer weiteren narratologischen Alternative zu den Tristan-Erzählungen. Angesichts dieser betrügerischen oder ihrerseits betrogenen Narren und Toren war es naheliegend, die genannten Erzähltexte vor dem Hintergrund von Peter von Matts Intrigenmodell bzw. seiner Theorie der Hinterlist zu lesen. Intrigenmorphologisch zu analysieren bedeutet methodisch, sich für die jeweilige Gestaltung der Intrigenmomente Notlage, Beratungsszene, Planfassung und Zielphantasie, freiwillige und unfreiwillige Intrigenhelfer, Intrigendurchführung, -requsiten und -instrumente ebenso zu interessieren wie für die drohende, verschobene und schließlich hereinbrechende Anagnorisis. Für Intrigen- und Listhandlungen ist das Faszinosum der Verkleidung und deren vestimentäre Motivik ebenso zentral wie das verstellende Sprechen und Gebaren, die Narrheit simulierenden Norm- und Tabubrüche sowie die jeweils zu dissimulierenden Absichten der Wiederkehr, der Liebe und der Rache. Obgleich von Matt keine geschlossene Theorie der Intrige oder des Listhandelns vorlegt, erwiesen sich die von ihm bereitgestellten Aspekte der Intrigenphasen und -bestandteile als geeignetes Instrumentarium, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede des Erzählens von Betrugsgeschichten herauszuarbeiten. Der Tristan-Stoff hat per se eine Affinität für das Intrigante, müssen sich die heimlich Liebenden doch permanent verstellen und mit Intrigenkompetenz ihre Liebe und ihr Überleben schützen. Bereits die Reihung der Wiederkehrabenteuer erwies sich bei Eilhart von Oberg, Ulrich von Türheim und Heinrich von Freiberg als je eigen gestaltet. Eilhart lässt Tristrant als Kaufmann, Aussätzigen, Pilger, Spielmann und als Narr an den Hof zurückkehren. Bei Ulrich ist die Serie der Verkleidungsrollen verkürzt auf Tristans Auftritte als Aussätziger, Knappe Plot und als Narr. Und Heinrich schließlich schildert lediglich die dritte Wiederkehr als Verkleidungsabenteuer und setzt seinerseits auch Tristans letzte Rückkehr als Narrenabenteuer in Szene. Die Mehrfachgestaltung der Intrigenhandlung zum einen und die jeweilige Verzahnung von Liebe und Rache zum anderen zeigt ihrerseits „die besondere Anziehungskraft der Geschichte, des narrativen Materials selbst“ und „die Möglichkeit konkurrierender Entwürfe“985 mittelalterlichen Erzählens. Dies gilt insbesondere auch für die jeweilige Narrenfigur, wie sie in Beratungsszenen entworfen wird und vor der Hofgesellschaft auftritt. Bei deren Gestaltung wird mit der semiotischen Ambivalenz der Außenseitermarkierung auf unterschiedliche Weise gespielt. Bei Eilhart wird der höfisch-heroische Protagonist durch einen Steinwurf und ärztliche Haarschur entstellt. Medizinische Tortur und Narrenstigmatisierung lassen sich aber nicht unterscheiden. Diese semiotische Ambivalenz
985 Schausten 1999, S. 287.
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gibt Tristrants Neffen die Idee zur Verkleidungsrolle ein, die mit gugelrock (Tr-E 8914) und affenartiger geber (8915) als närrischer Lachanlass überzeugt. Ulrich von Türheim führt die Funktionen der Intrigenkomplizin und -helferin dadurch eng, dass er die Beratungsszene figurencharakterisierend auf einen Auftrag Isoldes zuspitzt, der die Verkehrung des Geliebten durch toren wat, / einen rok, der eine kugelen hat, / gesnitenz har ob oren (Tr-U 2481–2484) vorsieht. Ebenso ‚diktiert‘ werden die Ausstattung mit Kolben und Käse sowie die ikonographisch bekannte Narrengestik des Maulaufreißens. Die Grenzverwischung zwischen Natur und Kunst der Narrheitssemiotik ist bei Heinrich besonders perfide, lässt er doch seinen siechen Tristan kahlgeschoren ausmergeln und völlig die Farbe verlieren, die Augen zurück- und die Nase hervortreten usw. Die völlige Entstellung, der Verlust höfischer Körperschönheit, gibt seinem Intrigenhelfer die Verkleidungsidee ein. In den untersuchten Planszenen zeigte sich das Reflexionsvermögen der Figuren über „die Möglichkeit des Gelingens und des Scheiterns“986 der Betrügerrolle nicht nur als Spannungsaufbau.987 Vielmehr geben antizipierte Intrigenaussichten das Figurenbewusstsein sowohl für kollektive Einstellungen gegenüber dem Anderen als auch für die Austauschbarkeit kultursemiotischer Codierungen zu erkennen. Zudem vereinnahmen auch die Intrigen des Tristan-Stoffes ihr Publikum dadurch als stillschweigenden Intrigenhelfer, dass diesem die Sympathiesteuerung abverlangt, wider besseres moralisches Wissen auf das Gelingen des Betruges zu hoffen. Was so ästhetisches Vergnügen bereitet, kommt moraldidaktisch Narrheit gleich. Aus den Textanalysen geht noch ein weiteres Dilemma hervor: Die Tristan-Handlung mit der Narrenepisode enden zu lassen, lässt sich zwar als Negativdidaxe lesen. Ihr bleibt aber eingeschrieben, dass die Narrheit wie die Liebe zum Menschsein dazugehört. Und dies bereits schon aus der generellen Beschränktheit der eigenen Perspektive heraus, klagt doch etwa Eilharts Marke am Ende: ouch waß eß ain groß torhait, / daß sie mir eß nit sagten […] (Tr-E 9684f.). Durch tragische Welttorheit finden Tristan und Isolde den Tod und das Erzählen eine weitere Grenzverschiebung bzw. -überschreitung vom Allegorischen ins Transzendente. Vorgeblich stoffgebunden entledigt sich die Erzählinstanz allegorisierend ihrer Verantwortung, wenn über den Gräbern der ehebrecherisch Liebenden Weinund Rosenstock wachsen. Die Analysen der Epilogpartien förderten abermals Paradoxes zutage. Aus dem Allegorischen ins Transzendent-Utopische spielend, leben Tristan und Isolde weiter. So will Ulrich die christliche Ordnung wiederherstellen und in der Totenklage die Vortrefflichkeit Tristans ausstellen, während Heinrich sogar mit finaler Allegorese das Publikum in den Weinstock des Herrn (Christus) zu inkorporieren sucht. Aus dem Dilemma, etwa wie Heinrich dem weltverfallenen
986 Von Matt 2006, S. 56. 987 Vgl. ebd.
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Publikum (ir werlde minner; Tr-H 6847) den Narrenspiegel mit dieser Geschichte vorhalten zu wollen, führt einzig der Hinweis auf den Minnetrank und damit auf die magische Motivik einer Erzählkunst, die sich ihrerseits, ganz irdisch, als Lust am Weitererzählen beschreiben ließ. Was gemessen an ‚modernen‘ Anforderungen an fiktive Welten wie defizitäre Kohärenz mittelalterlichen Erzählens missverständlich sein könnte, hat seinerseits für den Rezipienten didaktischen Impulscharakter. Man kann sich nicht mit einmal gefassten Urteilen zufrieden geben, die ihrerseits lediglich aufgrund des Ausschnittcharakters der jeweiligen Fokalisierung zustandegekommen sind. Die Urteile der Rezipienten, moralische wie ästhetische, müssen mit jedem neuen Wissenssplitter über Figuren und deren Motivationen einer revidierenden Reflexion unterzogen werden. Zudem wird diese fiktive Welt im Wahrnehmungsprisma des Partialen, zumal des vielfach erst nachträglich Motivierten, für den Protagonisten wie für das Publikum als ‚vormoderner Kontingenzraum‘ erfahrbar. Und schließlich, exemplarisch für die Kunst schwankhaften Märes, konnte angesichts stofflich so pikanten wie ästhetisch komplexen Erzählens vom ritter mit der halben birn konstatiert werden: Was als vermeintlich niedere Textgattung vornehmlich in moraldidaktische Kontexte hineinzugehören scheint, behauptet narratologisch durch weitere normative Verstörungen seinen ästhetischen Status. Die Präsentation von vertraut Musterhaftem wie der descriptio der Protagonisten, der höfische Kontext des Erzählganzen, dessen doppelbögige Strukturanlage als Gattungsparodie des Artusromans und schließlich vorgebliche Ordnungsrestituierungen des Epiloges haben sich zusammengenommen als Strategie subversiven Erzählens beschreiben lassen. Bekannt-Vertrautes erwies sich als Unzuverlässiges, Höfisches als bloß Fassadenhaftes und – im Nachhinein entlarvter – schlecht bemäntelter Affektkontrollverlust. An diesem Märe ließ sich auch zeigen, dass das Mittelhochdeutsche für figurenspezifische Wahrnehmung des Anderen über ein besonders ausdifferenziertes Wortfeld von Narrenbegriffen verfügt, das semantisch nicht nur zwischen tor und narr, sondern auch zwischen gief (dem Lärmenden und Schreienden), giege (dem Betörten), gouch (dem Liebesnarren), snürrinc (dem Possenreißer), rehter stumbe (dem Stummen) oder tumber viez (dem Teufelskerl) u. a. unterscheidet. Da gouch und viez nicht als Narrensynonyme aufgefasst worden sind, ließen sich auch Affektreaktionen auf den Narren zeigen, die als Begehren oder Angst selbst Torheit entsprechen. Die Analysen bezogen sich auch darauf, dass die strategische Raffinesse des Erzählganzen die fiktiv ausgebreitete Narrheit seiner Figuren sogar über den Textrand hinaus wirken lässt und das Publikum dadurch voyeuristisch mit einbezieht, dass es Zeuge drastischer Sexualakte wird, die alles verkehren, was in höfischer Kultur zwischen Mann und Frau denkbar erscheint. Das Erzählen von derart Pornographischem ist schließlich von keiner Epilogtopik mehr glaubhaft einer didaktischen
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utilitas zuzuordnen. Hier findet mittelalterliche Ästhetik in, man mag das für bedenklich halten, anachronistische Zweckfreiheit oder in vormoderne Autonomie der Kunst, denn das Trügerische des Anderen unterhält: als Betrug an den Figuren ebenso wie als Täuschung des Publikums. Die Untersuchungen der Werke von Eilhart von Oberg, Ulrich von Türheim und Heinrich von Freiberg ebenso wie von (Pseudo-)Konrad von Würzburg und Hans Folz zeigen die Vielfalt mittelalterlicher Zusammenhänge von ‚Narrheit und Ästhetik‘ in intrigenmorphologischer, narratologischer, kultursemiotischer und historisch-semantischer Hinsicht. Im Spielen mit natürlicher und künstlicher Torheit, der Austauschbarkeit von Zeichen und Bedeutungen sowie mit mehrfachen und widersprüchlichen Perspektiven wird zudem das Andere als Produkt ästhetischer und damit gesellschaftlicher Arbeit erkennbar. Damit gestaltet und beansprucht mittelalterliche Erzählkunst für sich alternativ zu zeitgenössischen Diskursen und Praktiken des Normativen eigene Freiräume des Erprobens von Grenzen. Ihre Poetiken des Labilisierens oder des Subversiven lassen ebenso wie ihre Epilogdidaxe unter Spielverdacht ein Moment von Humanität aufscheinen. Denn die Narren sind (immer) die Anderen: Mein Herr selbst sagte Jch halte ihn vor einen Narrn weil er jedem die Wahrheit so ungescheut sagt hingegen seynd seine Discursen so beschaffen daß solche keinem Narrn zustehen. […] Er fragte mich ob ich studirt haette als ich noch ein Mensch gewesen? Jch wueste nicht was studiren seye war meine Antwort […] (Grimmelshausen: Simplicissimus Teutsch, II. Buch, XIII. Cap., S. 162)
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Abkürzungsverzeichnis
ATB dtv DVjs FS GAG GRM JEGP LMA LThK MLR MS MSB PBB RAC RUB stb stw VL WW ZfdA ZfdPh ZfGerm
Altdeutsche Textbibliothek Deutscher Taschenbuchverlag Deutsche Vierteljahrsschrift Festschrift Göppinger Arbeiten zur Germanistik Germanisch-romanische Monatsschrift Journal of English and Germanic Philology Lexikon des Mittelalters Lexikon für Theologie und Kirche The Modern Language Review Monumenti storici Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (Phil.-hist. Klasse) Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur Reallexikon für Antike und Christentum Reclams Universalbibliothek Suhrkamp Taschenbuch Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft Verfasserlexikon Wirkendes Wort. Deutsche Sprache und Literatur in Forschung und Lehre Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur Zeitschrift für deutsche Philologie Zeitschrift für Germanistik
Abbildungsverzeichnis
Abb. 1 Passionsaltar, sog. Aachener Altar, linker Außenflügel, Köln um 1515/20, sog. Meister des Aachener Altares Abb. 2 Randminiatur zur ‚Halben Birne‘ des Codex FB 32001 des Tiroler Landesmuseums Ferdinandeum, Bl. 18r
Sachregister
A Affekt 85, 91, 92, 101, 110, 128, 165, 166, 225, 228, 231, 278, 282, 287 – -beherrschung 239, 299 – -dämpfung 176 – -konflikt 115 – -kontrolle 54, 108, 128, 165, 179, 205, 214, 230, 233, 235, 241, 250, 257, 262, 263, 270, 271, 276, 279, 283, 284, 288, 296, 297, 305 – -kontrollverlust 308, 314 – -lage 44 – -modellierung 44 – -natur 136 – -reaktion 114, 137, 314 – -reduktion 280 – -reizung 97 – -willkür 166 Affektive, das 96, 200, 213, 214 Allegorese 98, 146, 148, 163, 223, 243, 313 Allegorie 20, 98 Ambiguisierung 126, 209, 227, 286 Anagnorisis 38–40, 44, 56, 61, 62, 64, 116, 117, 124, 126, 145, 177, 219, 225, 228–230, 255, 258, 261, 282, 293, 295, 305, 308, 312 Anomalie 20, 23, 29, 31, 73, 77, 78, 106, 199, 204, 205, 235, 240, 248, 250, 256, 261, 311 Anomalien 20, 119, 236, 269 Artusroman 254, 258, 273, 300, 303, 314 Ästhetik 92, 103, 111, 113, 115, 117, 124, 125, 133, 142, 145, 147, 151, 153–155, 160, 161, 163, 169, 175–177, 180, 182, 185, 189, 196, 199, 213, 222, 224–226,
231, 233, 234, 244, 248, 263, 289, 300, 302, 303, 312, 315 Aussätziger 68, 90, 103, 105–107, 109, 111, 117, 162, 164, 165, 176, 227, 312 Außenseiter 14, 17, 25, 37, 46, 49, 68, 108, 109, 147, 226, 233, 247, 249, 260 – -attribute 49 – -darstellung 255 – -figur 132, 251 – -gestaltung 173 – -gewänder 46 – -markierung 247, 312 – -position 36 – -rolle 36 – -simulation 110 – -spektrum 256 – -status 26 – -stereotyp 252 – -stereotypie 174 – -stigmatisierung 51 – -tracht 206, 248 B Beraterfigur 72 Beratungsszene 29, 41, 94, 109, 113, 123, 134, 164, 165, 167, 170, 204, 206, 225, 230, 232, 245, 306, 312, 313 Betrug 37, 41, 43, 63, 101, 118, 124, 126, 313, 315 Betrugsabenteuer 78 Betrugsabsichten 43 Betrugscharakter 33 Betrugsgeschehen 34, 77, 244, 261, 304 Betrugsgeschichten 83, 126, 312 Betrugsidee 177 Betrugsmanöver 125
342
Sachregister
Betrugsopfer 106 Betrugsplan 133, 232 Betrugsrequisit 143 Betrugsverlauf 251 Birnenessen 239, 242, 243, 263, 276, 282, 297 bisexuell 284, 286, 295 Blecken 53, 173, 174, 230, 276 Blecker 173, 276 D Desavouierung 280, 289, 307 Desavouierungsleistung 301 Desavouierungsmomente 290 Desavouierungspotenz 302 descriptio 118, 290, 291, 293, 303, 304, 306 Destruktion 104, 105, 168, 289 Destruktionsfolge 106 Didaxe 198, 223, 235, 241, 271, 289, 301, 305, 309 Dilemma 39, 44, 71, 96, 100, 102, 103, 125, 126, 132, 137, 164, 195, 216, 296, 311, 313 dilemmatisch 66, 71, 165, 196, 260 Dissimulation 35, 37, 54, 56, 57, 62, 72, 94, 95, 103, 110, 115, 126, 130, 136, 141, 144, 145, 152, 161, 173, 174, 182, 188, 203, 215, 217, 218, 225, 228–232, 244, 250, 258, 268, 306 Doppelweg 242, 303 E Entgrenzung 69, 254, 255, 268, 294 Entgrenzungsleistungen 295 Epidemisierung 237, 238, 242, 254, 255, 257, 271, 289, 307 Epilog 78, 132, 222, 241, 250, 271, 280, 289, 295–297, 305, 306, 314 – -didaxe 234, 295, 298, 300, 308, 315 – -maxime 195
– -moral 295 – -partie 313 – -perspektive 74 – -rhetorik 198, 222, 295 – -topik 314 Epimythion 308, 309 Episodengedicht 29, 61, 64, 71, 80, 88 Erkennungszeichen 38, 39, 225, 230 Erosion 160, 235, 237, 263, 269, 271 Erotik 70, 114, 117, 150, 151, 173, 175, 214, 235, 271 Erzählen 235, 236, 244, 263, 270, 271, 273, 290, 296, 303, 309, 311–314 Erzählende 237 Erzählwelt 19, 37, 42, 65–69, 73, 74, 77, 97, 132, 154, 176, 185, 190, 213, 226, 233, 236, 237, 247, 297, 311 Essen 52, 150, 151, 174, 175, 214, 232, 243, 297, 299, 305 Ethos 85, 87, 92, 95, 98, 101, 103, 108, 140, 192, 278, 279, 294
F Fauxpas 235, 239, 297–299, 301 Figur 14, 15, 19, 20, 37, 41, 43, 54, 58–60, 65, 88, 93, 101, 104, 123, 128, 142, 144, 151, 169, 170, 173, 175, 176, 178, 184, 185, 187, 188, 194, 202, 212, 226, 227, 248, 268, 276, 295, 311 Figuren 15, 24, 30, 31, 35, 37, 45, 48, 57–61, 63, 70, 72, 73, 87, 92, 94, 129, 134, 138, 149, 150, 154, 160, 177, 180, 187, 195, 200, 202–205, 216, 218, 227, 229, 233, 234, 255, 263, 269, 276, 283, 289–291, 303–306, 309, 313–315 – -bewusstsein 59, 313 – -charakter 121 – -charakterisierung 164, 170, 229, 230 – -dialoge 82
Sachregister
– -ebene 95, 108, 148, 179, 222, 239, 256, 270, 277, 289 – -einführung 242, 304, 305 – -entwurf 171 – -erkenntnis 309 – -facetten 233 – -fluch 170 – -gestaltung 103, 247 – -gruppen 126 – -intention 93, 94 – -klischee 245 – -kommunikation 228 – -konstellation 29, 92, 94, 213, 280 – -lachen 309 – -perspektive 58, 62, 64, 103, 296, 308 – -perspektiven 29 – -reaktion 181 – -rede 59, 125, 137, 153, 169, 218, 265, 296 – -stereotyp 20, 140, 248, 303 – -varianten 251 – -wahrnehmung 99 – -weltsicht 88 – -zeichnung 250, 263, 266, 282 Fokalisierung 19, 59, 82, 140, 202, 217, 221, 314 Fokalisierungseffekt 60, 65 Fokalisierungstechniken 58, 59, 65 Fortsetzer 30, 38, 68, 71, 73, 76, 83, 176, 190–192, 224 Fortsetzung 67, 68, 72, 75, 76, 89, 155–161, 163, 173, 183, 188, 189, 192, 194, 196, 198, 222, 224, 225, 311 Fremdheit 263 G Gauch 264–267, 283, 284 Gebaren 23, 29, 51–53, 57, 70, 116, 126, 132, 135, 144, 147, 163, 171, 173, 199, 204, 205, 208, 226, 229, 230, 232, 233, 255, 274, 282, 303, 312
Geschlecht 243, 275–278, 280, 287, 305, 307 Geschlechter – -differenz 257 – -kampf 293 – -ordnung 297 – -rollen 183 – -verkehrung 307 Geschlechtsakt 243 Geschlechtsteil 53, 276, 278, 280, 299 Geschlechtsverkehr 243, 299 Gnorisma 38, 62, 63, 150, 230, 308 Grenzverschiebung 263, 268, 269, 278, 313 H Haarschur 26, 27, 32, 50, 51, 129, 135, 172, 173, 201, 202, 233, 246, 247, 306, 311, 312 Habitus 51–53, 57, 132, 246, 250, 311 Heimlichkeit 71, 92, 100, 115, 151, 177, 238, 240, 241, 244, 250, 261, 271, 274, 302, 304, 307 Hinterlist 92, 124, 312 hinterlistig 40, 43, 161, 162, 206, 207 Hofnarr 13, 16, 17, 21, 23, 43, 44, 46, 64, 72, 73, 112, 139, 141, 143, 146, 149, 172, 181, 186, 210, 213, 215, 216, 219, 229, 248, 251, 307 Homoerotik 285, 286 Homosexualität 285, 288 I Indiz 32, 150, 165, 171, 223, 231, 251, 254, 262 Insipiens 26, 240, 248, 249, 276, 307 Intrigen – -ästhetik 33–35, 62, 72, 77, 92, 103, 109, 114, 118, 122, 163, 166–168, 182, 188, 198, 219, 225, 227 – -erzählen 29, 116, 160 – -genuss 37, 40
343
344
Sachregister
– -geschichte 29, 38 – -handlung 33, 38, 41, 42, 46, 57, 90, 114, 115, 117, 126, 175, 214, 226, 228, 231, 255, 312 – -helfer 39, 56, 97, 101, 109, 113, 115–117, 120–123, 126, 129, 133, 134, 138, 162, 177, 199, 202, 203, 209, 216, 227, 228, 231, 233, 240, 245, 251, 306, 312, 313 – -helferin 219, 283, 295, 308 – -instrument 63, 93, 97, 103, 143, 153, 215, 231–233, 242, 248, 251, 274, 307 – -kompetenz 54, 112, 132, 141, 152, 170, 177, 218, 227, 312 – -morphologie 33, 225, 226 – -opfer 37, 56, 116, 122, 129, 130, 209, 214, 229, 231, 237, 238, 245, 251, 255, 258, 262, 294, 308 – -plan 113, 114, 123, 134, 164, 167, 173 – -planung 38, 39, 72, 109, 177 – -rat 256 – -requisit 206, 207, 227, 229, 233 – -struktur 31, 35 – -theorie 28, 33, 37, 49, 57, 72, 105, 224, 230 K Kalokagathie 61–63, 111, 118, 128–131, 139, 140, 147, 303 Knappe 68, 71, 110, 162, 164–169, 230, 239–241, 248, 250, 260, 289, 306, 312 Knappen – -auftritt 165 – -gewänder 165 – -rat 300 – -rolle 165 – -verkleidung 159, 165 Kontrollverlust 128, 142, 166, 200, 214, 217, 271, 280, 283, 297, 307 Konvention 132, 239, 242, 304
Konventionalität 27, 88, 173, 204, 242, 247, 248, 257 konventionell 26, 46, 49, 51, 97, 101, 110, 129, 158, 166, 172, 173, 180, 181, 198, 204, 206, 207, 227, 230, 233, 240, 273–276, 282, 303, 307 Körper – -semiotik 27, 68, 166, 227 – -zeichen 49, 51, 129, 130 Krankheit 105, 106, 139, 199, 200 L Labilisierung 59, 67, 69, 70, 82, 142, 143, 160, 198, 215 Lachanlass 23, 55, 140, 141, 149, 207–210, 226, 229, 259, 313 Lachen 21, 23, 24, 53, 55, 56, 137, 139, 140, 176, 208, 210, 304, 311 Larve 16 Liebeskrankheit 139, 151, 200, 201 List 28, 32–34, 66, 145, 151, 182, 281 – -handeln 37, 65, 226, 312 M Marotte 16, 26, 143, 172, 253, 254, 329 Maskerade 36, 47, 49, 111, 118, 165, 170 Mimik 29, 51, 53 Minne 18, 44, 57, 62, 65, 71, 77, 78, 80, 82, 85, 92, 98–100, 104, 108, 115, 144, 148, 150, 152, 164, 166–168, 170, 178, 180, 184, 186, 188–192, 201, 202, 208, 209, 215, 220–222, 234, 235, 242, 265, 268, 280, 292, 309 – -affe 229 – -allegorie 220 – -apotheose 187 – -ästhetik 222 – -begehren 307 – -charakter 228 – -dame 164, 195, 219, 230, 292 – -darstellung 89, 163
Sachregister
– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –
-diener 230 -dienerin 286 -dienst 149, 150, 195 -dissimulation 198 -erfüllung 214 -erzählung 187 -gabe 180, 195 -garten 32 -geschehen 235 -grotte 32, 56, 98, 99 -handlung 38, 93, 103, 119, 159, 175, 178, 192, 197, 198, 230 -heros 40 -herrin 168, 174, 186, 189, 230 -ideal 301 -inszenierung 101 -klage 188 -kontext 269 -konzept 163 -konzeption 157 -krieg 277 -kriegsgerät 284 -lehre 182 -motivik 210 -narr 37, 42, 62, 64, 65, 133, 143, 166, 170, 186, 215, 217, 229, 233 -narren 129 -narrheit 30, 64, 65, 175 -obsession 266 -paar 101 -paralysiertheit 282 -parodist 235 -partie 215 -pfand 151 -qual 39, 44 -ritter 278, 292, 306 -roman 34 -sang 160, 185–187, 191, 206, 217, 218, 231, 233, 292 -sänger 183, 233, 235 -schicksal 60, 192
– – – – – – – – – –
-sehnsucht 129 -siechtum 39, 201, 231 -sieg 292 -sklave 168, 170, 189 -sklaven 168 -spielart 96 -sprache 94 -tor 80, 103, 140, 147, 174, 183, 202 -torheit 31, 61, 92, 134 -trank 32, 39, 40, 78, 85, 88–90, 92, 93, 100, 102, 103, 106, 115, 155, 162, 188, 190, 191, 222, 305, 314 – -trankepisode 82 – -trankmotivik 190 – -trankwirkung 90 – -utopie 152, 185, 223 – -verfallenheit 164 – -verlangen 279 – -vers 191 – -vollzug 219 – -wahn 44, 49, 57, 64, 160, 186, 187 – -wunde 229 – -zwang 132 Moraldidaktik 19, 160, 193 Moraldidaxe 195, 285 Motivwiederholung 170, 182, 284
N Nacktheit 245 Narren 13–16, 18, 19, 21–27, 29–32, 34, 36, 37, 44–46, 48, 49, 51, 52, 54–57, 59, 61–63, 65, 66, 68–71, 73, 74, 77, 78, 86, 89, 91, 112, 115, 129, 131–133, 135, 171–173, 181 – -episode 22, 68, 72, 74, 77, 80, 82, 84, 88, 89, 91, 92, 103, 125–127, 153, 155, 163, 164, 167, 168, 172, 176, 178, 184, 198, 204, 207, 212, 224, 228, 313 – -figur 18, 22, 27, 35, 37, 51, 72, 82, 140, 160, 163, 204, 225, 226, 229, 235,
345
346
Sachregister
240, 243, 244, 252, 261, 262, 267, 274, 294, 306, 312 – -freiheit 24, 60, 144, 213, 260 – -gestik 53, 226, 230, 313 – -keule 51, 211, 233, 311 – -kleidung 26, 29, 162, 207, 246, 247 – -kolben 162, 171, 172, 306 – -larve 22, 32, 42, 55, 62, 64, 68, 74, 120, 147, 162, 168, 171, 209, 230, 251, 283, 301, 303 – -marotte 106 – -minne 182, 187 – -posse 207, 210, 264 – -semantik 232, 264, 269 – -simulation 256 – -tonsur 247, 252, 257 – -tracht 15, 46, 139, 174, 175, 206, 233, 248, 276 Narrentracht 27 Narrheitssimulation 55, 62, 167, 178, 182, 188, 208, 209, 215, 231, 232, 235 Negativdidaxe 195, 223, 313 Normativität 18, 23, 73, 77, 91, 101, 142, 147, 213, 214, 279 Not – -helfer 133 – -helferin 280, 281 – -lage 33, 39, 59, 93, 112, 123, 133, 134, 164, 166, 225, 227, 281, 305, 312 – -situation 37, 39, 40, 43, 72, 225
O Obszönität 69, 236
P Phallus – -personifikation 276, 277 – -symbol 143, 172, 233, 287 – -verkörperung 283
Pilger 36, 48, 71, 90, 103, 111–113, 117–119, 133, 176, 227, 228, 234, 312, 324, 330 Possenreißer 13, 21, 120, 262, 267, 308, 314 Prolog 82–85, 87, 92, 191 Psalmnarr 15, 135, 145, 147 R Rache 107, 126, 127, 142, 143, 161, 164, 167, 169, 170, 172, 179, 181–184, 187, 188, 198, 213–215, 225, 228, 229, 231–233, 239, 240, 243, 245, 246, 258, 269, 282, 284, 287, 291, 300, 301, 306, 307, 312 rache 213 Randfigur 308 S Sadismus 185, 215, 282, 284, 285 Schalk 173 Schalksnarren 13, 16, 21 Scham 47, 302 Schelle 27, 175, 190 Schellen – -kappe 248 – -kranz 254 Schwankerzählen 254, 288 Simulant 24, 30, 71, 132, 133, 136–138, 140, 141, 143, 145, 160, 165, 172, 179, 208, 231, 255, 266 Simulantenrolle 171, 187, 206 Simulation 35, 37, 45, 52, 54, 56, 57, 62, 69, 72, 77, 103, 109, 110, 126, 129–131, 133, 144, 145, 148, 152, 161, 163, 164, 167, 172, 173, 176, 184, 188, 199, 203–205, 208, 214, 217, 218, 225, 228–232, 235, 244, 250, 258, 268, 283, 306, 307 Skatologie 271 Sodomie 284
Sachregister
Stigma 311 Stigmatisierung 85, 129, 142, 199, 202, 206, 229, 232, 312 Stigmatisierungspraktiken 175 Stummheit 246, 306 Subversion 155, 235 T Tabu 44, 63, 132, 188, 285 – -bruch 39, 52, 67, 68, 72, 133, 144, 150, 151, 178, 205, 229, 232, 235, 251, 285, 312 – -charakter 134 – -grenze 96 – -überschreitung 211 – -zone 244 Tischzucht 235, 239, 297–300, 303, 305–307 Torheitssimulation 172, 178, 198 V Verkleiden 28, 36, 44, 45, 48, 49, 113, 225 Verkleidungsintrige 36, 56, 143, 144, 149, 151, 213, 228 Verlachen 25, 55, 164, 259, 289, 311 vestimentäre Codierung 226, 232, 305 Vitalsphäre 70, 160, 181, 210, 265, 271–273, 285, 293 W Wahnsinn 13, 14, 17, 18, 20, 30, 31, 40, 51, 57, 130, 176, 179, 191, 216, 218, 231, 233,
242, 246, 257, 258, 267, 269, 274, 282, 289, 304 Weitererzählen 76, 159, 194–196, 198, 199, 224, 235, 314 Wiederholung 80, 101, 103, 126, 133, 134, 153, 179, 188, 191, 224, 232, 241, 269, 273, 280, 282, 294, 305 Wiederholungsmotivik 153 Wiederholungsstrukturen 145 Wiederholungstäterin 281 Wiederholungsvariation 200 Wiederkehrabenteuer 67, 68, 90, 125, 159, 161, 228, 312 Z Zackenwams 248 Zannen 53, 172, 173, 230, 275, 276, 280, 307 Zanner 172, 173, 262, 274, 276 – -gebärde 280 – -geste 276 – -gestik 307 Zeichen 29, 54, 89, 97, 105, 109, 111, 112, 122, 129, 227, 234, 243, 249, 315 Zeichenhaftigkeit 19, 27, 48, 87, 165, 233 Zorn 90, 107–111, 115, 116, 122, 123, 128, 161, 162, 164–170, 211, 225, 228, 229, 232, 240
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