Wunder, Spott und Prophetie: Natürliche Narrheit in den »Historien von Claus Narren« 9783484366336, 9783484971196

This study is devoted to the hitherto largely disregarded natural fools, who form part of the broad spectrum of fools in

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German Pages 304 Year 2009

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Inhalt
Vorbemerkung
1. Einleitung
2. Natürliche Narrheit
3. Die ›Historien von Claus Narren‹
4. Aus der Wunderkammer in die Irrenanstalt
Backmatter
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Wunder, Spott und Prophetie: Natürliche Narrheit in den »Historien von Claus Narren«
 9783484366336, 9783484971196

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Frhe Neuzeit Band 133 Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europischen Kontext Herausgegeben von Achim Aurnhammer, Wilhelm Khlmann, Jan-Dirk Mller, Martin Mulsow und Friedrich Vollhardt

Ruth von Bernuth

Wunder, Spott und Prophetie Natrliche Narrheit in den ›Historien von Claus Narren‹

Max Niemeyer Verlag Tbingen 2009

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet ber http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-484-36633-6

ISSN 0934-5531

= Max Niemeyer Verlag, Tbingen 2009 Ein Imprint der Walter de Gruyter GmbH & Co. KG http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschtzt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulssig und strafbar. Das gilt insbesondere fr Vervielfltigungen, Dbersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbestndigem Papier. Druck und Einband: Hubert & Co., Gçttingen

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Inhalt Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 2. Natürliche Narrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Wunderbare Narrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Natürliche Narren als ›wunder men_chen‹ im ›Buch der Natur‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Paracelsus’ ›De generatione stultorum‹. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.3 Narren in Wunderkammern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Natürliche Narrheit als Liminalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Asexualität und natürliche Narrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Torenkisten und Narrentürme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Närrische Scherzbeziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Natürliche Narrheit im 16. Jahrhundert: Claus Narr . . . . . . . . . . . . . 2.4.1 Der verlachte Claus Narr. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.2 Claus Narr als protestantisches Exempel, Wunder und Wunderzeichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

24 31 32 40 48 50 53 57 59 66 67 74

3. Die ›Historien von Claus Narren‹. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 3.1 Der protestantische Pfarrer Wolfgang Büttner als Autor der ›Historien von Claus Narren‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 3.2 ›Sechs hundert/ sieben vnd zwantzig Historien/ Von Claus Narren‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 3.2.1 Ordnungen in Büttners ›Dialectica Deutsch‹ (1574) und ›Epitome Historiarum‹ (1576) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 3.2.2 Die Ordnung der 16 ›Theile‹ in den ›Historien von Claus Narren‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 3.2.3 Historienabfolge innerhalb der ›Theile‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 3.2.4 Der Aufbau der Historien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 3.3 Die thematisch geordneten ›Theile‹ der ›Historien von Claus Narren‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 3.3.1 I. ›Theil‹: ›Von Clausen Vrsprung‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 3.3.2 III. ›Theil‹: Claus Narr im Jahreslauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 3.3.3 IV. und VI. ›Theil‹: Claus Narr am Hof . . . . . . . . . . . . . . . . . 158

VI 3.3.4 3.3.5 3.3.6 3.3.7

V. ›Theil‹: ›Von Jungfrawen vnd Frawen‹ . . . . . . . . . . . . . . . VII. ›Theil‹: ›Von Handwercksleuten‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . VIII. ›Theil‹: ›Von V=glein vnd von Thieren‹ . . . . . . . . . . . . IX. ›Theil‹: ›Von kurtzweiligen vnnd vnargerlichen Wercken/ vnd Worten bey Collationen‹ . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.8 X. ›Theil‹: Claus Narr und die Artes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.9 XVI. ›Theil‹: ›Von sterben vnnd krancken‹ . . . . . . . . . . . . . . 3.4 ›Der lehrende Claus‹: Konzeptionen der natürlichen Narrheit in den ›Historien von Claus Narren‹. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1 Claus Narr als Wunder und Wunderzeichen. . . . . . . . . . . . . . 3.4.2 Claus Narr als Exempel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.3 Claus Narr als Kyniker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.4 Claus als Narr in Christo. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 ›Vnd deit den Treck, daß man m=cht weinen‹: Rezeption der ›Historien von Claus Narren‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4. Aus der Wunderkammer in die Irrenanstalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 4.1 Natürliche Narrheit bei einer Leichenpredigt für Hans Miesko, in Garzonis ›Narrenspital‹ und in Grimmelhausens ›Simplicius Teutsch‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 4.2 Das Ende der natürlichen Narrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 5. Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 Personen- und Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295

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Vorbemerkung Das vorliegende Buch ist die überarbeitete Fassung meiner im Jahr 2005 an der Humboldt-Universität zu Berlin verteidigten Dissertation. Ohne die Hilfe derjenigen, die mit mir den Text und einzelne Aspekte diskutierten, die Hinweise gaben und die sich immer wieder für Claus Narr interessierten, hätte diese Arbeit nicht geschrieben werden können. Zu ihnen zu zählen sind Teilnehmer der Oberseminare am Lehrstuhl für die Literatur des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit an der Humboldt-Universität zu Berlin und am Lehrstuhl für germanistische Mediävistik und Frühneuzeitforschung an der Technischen Universität in Dresden. Den Dresdnern danke ich sehr für ihre Gastfreundschaft und ganz besonders Peter Strohschneider für sein aufmerksames Zuhören und seine Hinweise in einem frühen Stadium meiner Arbeit. Ohne Daniel Gehrt, der bisher unbekannte Visitationsprotokolle und andere Quellen zu Wolfgang Büttner im Thüringischen Hauptstaatsarchiv und in der Forschungsbibliothek Gotha fand und mir zur Verfügung stellte, hätten wichtige Informationen zum Leben und Werk Büttners gefehlt. Bei der theoretischen Fundierung dieser Arbeit, die entscheidende Anregungen aus den disability studies erhalten hat, waren die Gespräche mit Anja Tervooren und Anne Waldschmidt wichtig. Für ein immer offenes Ohr bei Fragen zur mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Literatur und für das Lesen meiner ersten Fassung danke ich Ludger Lieb. Kontroverse und anregende Diskussionen über die russischen jurodivye und vieles andere mehr habe ich mit Katja Gvozdeva führen können. Über das Korrekturlesen hinaus bin ich Rosmarie Kähler verbunden. Horst Wenzel danke ich für die Übernahme des Zweitgutachtens. Meinem Doktorvater Werner Röcke, der mir nicht nur die Historien von Claus Narren als Text vorgeschlagen, sondern mich auch immer wieder in den verschiedenen Phasen der Bearbeitung unterstützt hat, bin ich ganz besonders dankbar. Seine kritischen Fragen und Anregungen, die weit über die Narrenliteratur hinausgingen, haben mich in hohem Maß gefördert. Ermöglicht wurde diese Arbeit durch ein Stipendium des Evangelischen Studienwerks Villigst, das seine Aufgabe über die Bereitstellung der finanziellen Mittel hinaus wahrnimmt. Für die Aufnahme dieser Arbeit in die Reihe „Frühe Neuzeit“ danke ich Jan-Dirk Müller, für die Hilfe bei der Drucklegung Brigitte Zeller und für den Druckkostenzuschuss dem University Research Council der University of North Carolina at Chapel Hill. Last, but not least bin ich Horst, Kira, Esther, Amelie und Jesko für ihre Geduld dankbar. Berlin im Mai 2008

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Einleitung

Verschiedenste Formen fürstlicher Selbstrepräsentation in Mittelalter und früher Neuzeit geben über ihre prunkvolle Inszenierung hinaus Auskunft über die Vorstellungen der Zeit, die sich in Auswahl und Anordnung der repräsentativen Darstellungen widerspiegeln. Als ein herausragendes Beispiel gilt der Triumphzug Maximilians I., der zu lob vnnd Ewiger gedächtnüs seiner Erlichen frewdten, kaiserlichem gemüet, vnnd streytparer vberwyndungen1 entstand. Seine Konzeption, so vermerkt Maximilians Sekretär Treitzsaurwein, beruht auf persönlichen Angaben des Kaisers.2 Der Triumph übernimmt Formen der antiken Herrscherinszenierung, füllt sie aber mit einem Inhalt aus, der »als zeitgenössische Wirklichkeit identifizierbar«3 bleibt. Der Triumphzug beginnt mit verschiedenen Jagdszenen und setzt sich mit den die Hofämter repräsentierenden Personen wie Schenk, Schneider, Schuster und Balbierer fort. Auf diese folgen Musiker sowie einige Darstellungen von höfischen Vergnügungen, zu denen Mumerey, Vechterey, Tornier, Gestech und Rennen4 gehören. Auch Szenen aus dem Leben des Kaisers sind im Triumphzug enthalten, die auf die Heirat mit Maria von Burgund und die von Maximilian geführten Kriege hinweisen. Weltliche und religiöse Schätze des Herrscherhauses, der geprauchschatz5 und der andachtschatz,6 befinden sich in unmittelbarer Nähe von Maximilian. Sein Wagen bildet den Mittelpunkt des Triumphzugs, dem Fürsten, Grafen, Ritter und Knechte folgen. Eine wichtige Rolle bei der fürstlichen Selbstrepräsentation im Triumphzug übernehmen die am Hof Kaiser Maximilians lebenden Narren. Gleich zwei Wagen sind mit ihnen besetzt. Auffällig an dem Aufzug der Narren ist ihre Unterteilung in zwei Gruppen. Die hier getroffene Unterscheidung, die je einen Wagen für die Schalcks Narren7 und einen für die natürlichen Narren8 hinter den Musikern vorsieht, ist ungewöhnlich. Die Unterschiede zwischen beiden Narrengruppen sind

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Franz Schestag: Kaiser Maximilian I. Triumph. In: Jahrbuch der kunsthistorischen Sammlungen des allerhöchsten Kaiserhauses 1 (1883), S. 154–181, hier S. 155. Vgl. Schestag: Kaiser Maximilian I. Triumph, S. 155. Jan-Dirk Müller: Gedechtnus. Literatur und Hofgesellschaft um Maximilian I. München 1982, S. 151. Schestag: Kaiser Maximilian I. Triumph, S. 160. Schestag: Kaiser Maximilian I. Triumph, S. 168. Schestag: Kaiser Maximilian I. Triumph, S. 168. Schestag: Kaiser Maximilian I. Triumph, S. 160. Schestag: Kaiser Maximilian I. Triumph, S. 160.

4 auch an den verschiedenen bildlichen Konzeptionen des Triumphzugs ablesbar. Zwei verschiedene Versionen des Triumphs sind überliefert. Eine Fassung stellt der Miniaturen-Triumph von Jörg Kölderer aus dem Jahr 1512 dar, während sich an der zweiten Version, die als Holzschnittfolge erstmals 1526 gedruckt wurde, unter anderem Hans Burgkmair beteiligte. In der letztgenannten Holzschnittfolge sind die zwei Wagen mit den Narren sehr verschiedenartig gestaltet. Während der erste Wagen der Schalcks Narren9 (Abb. 1) mit kunstvoll herausgearbeiteten närrischen Symbolen wie Affen und Schellen übersät ist und ein großes Eselsohr als Baldachin besitzt, besteht der Wagen der natürlich Narren10 (Abb. 2) lediglich aus einem einfachen Holzgefährt, das mit Gesträuch geschmückt ist. Auch die Zugtiere sind verschieden: werden die Schalksnarren von Pferden gezogen, sind vor dem Wagen mit den natürlichen Narren zwei Esel gespannt. Die Insassen der beiden Gefährte gleichen sich ebenfalls nicht. So schauen sich die Schalksnarren mit einem weit aufgerissenen Mund an und weisen mit dem Symbol des Hörnchenmachens und anderen theatralischen Gesten aufeinander. Sogar der den Narrenwagen voranreitende bekannte Hofnarr von Maximilian I., Kunz von der Rosen, ist daran beteiligt, indem er sich zu den Schalksnarren umdreht. Die natürlichen Narren bewegen sich dagegen weniger ausufernd und beziehen sich auch in ihren Aktionen kaum aufeinander. Ihre Kleidung ist ebenfalls einfacher als die der Schalksnarren. Zusätzlich sind sie mit besonderen Merkmalen versehen, die als Zeichen ihrer Narrheit gedeutet werden können.11 So ist die Kopfbedeckung des hintersten Narren mit vielen Eselsohren übersät, während gewöhnlich nur zwei an einer Narrenkappe zu finden sind. Bei zwei anderen Narren dienen übergroße Grillen am Kopf als Symbol der Narrheit. Im Gegensatz zu den Lorbeerkränzen, die einige Schalksnarren tragen, sind die Kränze der natürlichen Narren sehr viel buschiger, wilder und darüber hinaus – wie in anderen Darstellungen von natürlichen Narren –12 mit Federn geschmückt. Die Namen der Narren, die für die beigefügten Spruchbänder vorgesehen waren, stimmen mit denen der am Hof von Maximilian I. lebenden Narren überein. Als Insassen des Wagens mit den Schalksnarren werden genannt: Lenntz vnnd Caspar, die paurn, Meterschy vnnd Dyweynndl.13 Für den Wagen der natürlichen Narren wurden folgende Festlegungen getroffen: Item darnach solle aber ain klain Wägenle gemacht werden, darauf sollen dise Natürlich Narren sein: Gylyme, Pock, Gülchisch, Caspar, Hanns Wynnter, Guggeryllis.14

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Schestag: Kaiser Maximilian I. Triumph, S. 160. Schestag: Kaiser Maximilian I. Triumph, S. 160. Vgl. Lutz S. Malke: Nachruf auf Narren. In: Narren. Porträts, Feste, Sinnbilder, Schwankbücher und Spielkarten aus dem 15. bis 17. Jahrhundert. Hg. von Lutz S. Malke. Leipzig 2001, S. 9–57, hier S. 14. Vgl. dazu bspw. die Psalmenillustration zu Psalm 52 von Hans Holbein dem Jüngern. In: Historiarum veteris instrumenti testamenti icones ad vivum expressæ. Lyon 1538, Bl. Kr. Schestag: Kaiser Maximilian I. Triumph, S. 160. Schestag: Kaiser Maximilian I. Triumph, S. 160.

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Abb. 1: Hans Burgkmair: Triumphzug Maximilian I. Wagen der Schalksnarren

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Abb. 2: Hans Burgkmair: Triumphzug Maximilian I. Wagen der natürlichen Narren

7 Doch trotz der Namen und der eindeutigen Zuordnung zu den natürlichen Narren ist heute nicht fassbar, wie es zu dieser Einteilung kam und was genau sich hinter der Bezeichnung ›natürlicher Narr‹ verbarg. Seit dem Spätmittelalter werden die Begriffe natürlicher tôr oder natürlicher narr als Termini technici verwendet, um die natürlichen Narren von den künstlichen, d. h. den Schalksnarren, abzugrenzen. Der Begriff der natürlichen Narrheit wird im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit häufig verwendet und zeigt damit an, dass mit dieser Bezeichnung bestimmte Vorstellungen verknüpft waren. Dennoch ist nicht eindeutig nachvollziehbar, was genau unter einem natürlichen Narren verstanden wurde, wie er in das spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Narrenspektrum einzuordnen ist und welche Funktionen ihm zugeschrieben wurden. Die fehlende Definition und Abgrenzung des Begriffs der natürlichen Narrheit gegenüber anderen Formen von Narrheit wirkt sich auch auf die Forschungsliteratur aus, die bisher nur mit einer diffusen Begriffsbestimmung von natürlicher Narrheit operiert. Diese Unklarheiten fallen besonders beim Lesen der 1572 erstmalig erschienenen Schwanksammlung Sechs hundert/ sieben vnd zwantzig Historien/ von Claus Narren15 ins Auge, denn im Mittelpunkt dieses Werks steht ein natürlicher Narr. Claus Narr gilt als einer der bekanntesten Narren und wird meist auf einen historisch nachweisbaren sächsisch-ernestinischen Hofnarren gleichen Namens zurückgeführt. Er erscheint nicht nur in Schwanksammlungen und Meisterliedern, sondern mit ihm werden ebenso Sprichworte begründet und er wird selbst in Emblemsammlungen dargestellt.16 Dieses häufig gedruckte Werk ist jedoch nicht

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Wolfgang Büttner: Sechs hundert/ sieben vnd zwantzig Historien/ Von Claus Narren. Feine schimpffliche wort vnd Reden/ die Erbare Ehrenleut Clausen abgemerckt/ vnd nachgesagt haben/ Zur BFrgerlichen vnd Christlichen Lere/ wie andere Apologen/ dienstlich vnd f=rderlich. Mit lustigen Reimen gedeutet vnd erkleret. Eisleben 1572. Im weiteren zitiere ich aus der bei Melchior Hartmann gedruckten Ausgabe von 1602, die im Besitz der Universitätsbibliothek der Humboldt-Universität zu Berlin ist: Wolfgang Büttner: Von Claus Narren. Sechs hundert/ sieben vnd zwantzig Historien. Feine schimpffliche Wort vnd Reden/ die Erbare Ehrenleuth Clausen abgemerckt/ vnd nachgesagt haben/ Zur BFrgerlichen vnd Christlichen Lehr/ wie andere Apologen/ dienstlich vnd f=rderlich. Mit lustigen Reimen gedeutet vnd erklaret. Frankfurt 1602. Vgl. dazu Heinz-Günter Schmitz: Wolfgang Büttners Volksbuch von Claus Narr. Mit einem Beitrag zur Sprache der Eisleber Erstausgabe von 1572. Hildesheim, Zürich, New York 1990, S. 171: Der Autor klassifiziert die Ausgabe von 1602 als Druck G und stellt dazu fest: Die ersten sieben Drucke, d. h. der Eislebener Erstdruck von 1572 (A), der Frankfurter Druck von Kilian Han 1573 (B) und die fünf Frankfurter Drucke von 1573 (C), 1579 (D), 1587 (E), 1592 (F) und 1602 (G), die bei Basse und seinen Erben erschienen, »stehen sich [...] im Text noch außerordentlich nahe, jedenfalls im Wortlaut, der verhältnismäßig selten und dann meist auch nur geringfügig verändert ist.« Nach Abschluss des Manuskripts ist eine Faksimileausgabe erschienen: Sechs hundert/ sieben vnd zwantzig Historien/ Von Claus Narren. Nachdruck der Erstausgabe 1572. Hg. von Heinz-Günter Schmitz. Hildesheim, Zürich, New York 2006. Vgl. dazu Schmitz: Wolfgang Büttners Volksbuch von Claus Narr, S. 16–20. Das Emblem, das in seinem Bildteil den Namenszug Claus Narr trägt, ist unter der Nummer 67 nachweisbar bei Gabriel Rollenhagen: Selectorum emblematum centuria secunda von 1613. Vgl. dazu

8 ohne ein grundlegendes Verständnis darüber, was sich hinter dem Phänomen der natürlichen Narrheit verbirgt, lesbar. Für eine Untersuchung der natürlichen Narrheit eignen sich die Historien von Claus Narren nicht nur wegen der bekannten Narrengestalt, sondern auch weil der Druck zu den wenigen Werken gehört, das ausschließlich einem natürlichen Narren gewidmet ist und darüber hinaus über mehrere Jahrhunderte stark rezipiert wurde. Der Text ist nicht als historische Quelle zu Claus Narr zu verstehen. Vielmehr lassen sich anhand dieses Werks frühneuzeitliche Konzeptionen von natürlicher Narrheit und Vorstellungen, die mit dieser Form von Narrheit verbunden waren, erarbeiten. In der Forschungsgeschichte der Historien von Claus Narren spiegeln sich die Schwierigkeiten wider, die mit den unklaren Definitionen und Abgrenzungen des Begriffs der natürlichen Narrheit einhergehen. Daher wird hier zunächst der Forschungsstand zu der Schwanksammlung dargelegt, bevor in einem zweiten Schritt noch einmal genauer auf mittelalterliche und frühneuzeitliche Vorstellungen von natürlicher Narrheit eingegangen werden wird. Verfasst wurden die Historien von Claus Narren von dem protestantischen Pfarrer Wolfgang Büttner, der sich hinter einem Akrostichon und einem Kryptonym in dem Werk verbarg.17 In 16 Kapiteln werden 626 Historien erzählt, die sich fast alle auf Claus Narr beziehen und die jeweils mit einer gereimten Lehre versehen sind wie in folgendem Beispiel: Der Todt im Kruge. Clauß kame vber einen Krug mit wein/ den tranck er geitzig auß/ vnd als jn hernach der Wein im Kopff jrrete/ rieff er: O wehe mir armen gesellen/ der Todt war im Kruge/ den hab ich eingesoffen/ ich werde seiner nimmermehr loß werden/ er wirdt mich ers(uffen oder ersticken. Was lehret dich das. Viel sauffen schnellen Todt dir bringt/ Darzu Vernunfft vnd Sinn hinnimpt/ Macht dich zum Thoren vnd zum Schwein/ Vnd must zuletzt ein Bettler seyn. Wer auch deß sauffens ist gewohnt/ Derselb seins guts noch Lebens schont/ Kans jm nicht leicht gewehnen ab/ Also der Todt im KrFglein stack/ Kriegt b=ß Natur/ auch habitum, So bleibt der Mensch fFrwar nit from.18

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Arthur Henkel, Albrecht Schöne (Hg.): Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts Stuttgart, Weimar 1996, Sp. 1130. Vgl. Georg Gottfried Gervinus: Geschichte der Deutschen Dichtung. Bd. II. 4., gänzlich umgearbeitete Aufl. Leipzig 1853, S. 303; Johann Martin Lappenberg (Hg.): Dr. Thomas Murners Ulenspiegel. Fotomech. Neudr. der Originalausgabe 1854. Leipzig 1975, S. 382. Büttner: Historien von Claus Narren, I, 7, S. 6f.

9 Die hier gewählte Historie kann durchaus exemplarisch für den Großteil der 626 Historien stehen. Sie wirkt mehrfach irritierend: Die Szene, in der der Narr agiert, ist recht kurz. Die Historie selbst und die dazugehörige Auslegung bergen keinerlei Hinweise darauf, wie die Äußerung des Narren aufgefasst werden könnte. Ist sie komisch gemeint? Fungiert der Narr als ein Negativexempel, das in der Lehre erläutert wird? Oder dient das Trinken des Narren nur als ein Anknüpfungspunkt, um vor diesem Laster zu warnen? Fragen wirft auch der Aufbau des Werkes insgesamt auf, denn »mit Ausnahme eines lockeren biographischen Rahmens [...] und gelegentlichen Gruppierungen einiger Schwänke unter thematischen Gesichtspunkten ist ein irgendwie gearteter Zusammenhang der Schwänke nicht zu erkennen.«19 Jedoch verändern sich weder die Anordnung der Teile noch die der Schwänke in späteren Auflagen wesentlich. Unklar ist ebenso, was die natürliche Narrheit in diesem Werk überhaupt ausmacht oder ob hier, wie oft in der Sekundärliteratur beschrieben, nur ein Narr auftritt, der »gegenüber dem Eulenspiegel [...] zahm und sauertöpfig«20 ist. Doch wenn Claus Narr als ein zweiter und langweiligerer Ulenspiegel zu verstehen ist, dann ist nicht nachvollziehbar, weshalb die Historien von Claus Narren allein 27 deutsche Auflagen erlebten und »noch im 17. und 18. Jahrhundert eines der meistgedruckten und meistgelesenen Volksbücher«21 waren. Claus Narr ist nicht nur in dem Büttnerschen Werk, sondern auch in anderen Sammlungen wie der Apophthegmensammlung von Julius Wilhelm Zincgref bis in das 18. Jahrhundert hinein lebendig. Doch im Gegensatz zu anderen vergleichbaren frühneuzeitlichen Werken wie dem Dil Ulenspiegel ist der Büttnersche Text im 19. Jahrhundert und später nicht wieder aufgelegt worden. Obwohl Joseph Görres das Buch unter die ›Volksbücher‹ zählte, und es in zahlreichen Literaturgeschichten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zumindest erwähnt wird, hat es auch in der Forschung kaum Beachtung gefunden.22 Die Historien von Claus Narren stellen damit ein Werk dar, dessen Narrenkonzeption, Struktur und Rezeption aus heutiger Sicht unverständlich erscheint. Diese Befunde spiegelt auch die vorhandene Forschungsliteratur wider.

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Werner Röcke: Die Freude am Bösen. Studien zu einer Poetik des deutschen Schwankromans im Spätmittelalter. München 1987, S. 255. Erich Strassner: Schwank. Stuttgart 1978, S. 79. Schmitz: Wolfgang Büttners Volksbuch von Claus Narr, S. 3. Zum umstrittenen Begriff ›Volksbuch‹ vgl. Hans Joachim Kreutzer: Der Mythos vom Volksbuch. Studien zur Wirkungsgeschichte des frühen deutschen Romans seit der Romantik. Stuttgart 1977; Albrecht Classen: Das deutsche ›Volksbuch‹ als Irritationsobjekt der Germanistik. Forschungsgeschichte einer literarischen Gattung als Anlaß zur Nabelschau. In: Wirkendes Wort 46 (1996), S. 1–20; Jan-Dirk Müller: Volksbuch/ Prosaroman im 15./16. Jahrhundert – Perspektiven der Forschung. In: IASL 1 (Sonderheft) (1985), S. 1–128. Zu den Literaturgeschichten vgl. die Nachweise bei Schmitz: Wolfgang Büttners Volksbuch von Claus Narr, S. 3.

10 Bereits in dem erstmalig 1789 erschienenen Standardwerk zur Geschichte der Hofnarren von Karl Friedrich Flögel wird Claus Narr erwähnt: der Charakter der Hofnarren ist seit jeher gar sehr verschieden gewesen; einige waren von grober Art als Clausnarr, welche alles herausredeten, was ihnen einfiel, keinen Unterschied unter den Personen und Zeiten machten, sich der gr=bsten Possen, Unfl(tereien und Zoten bedienten, und wenn manchmal ein witziger Einfall mit vorkam, so wurde er doch von hundert einf(ltigen und dummen Einf(llen verdrungen. Andre im Gegentheil waren witzige, sinnreiche K=pfe ...23

Als Beispiel für den ›groben Narren‹ – den natürlichen Narren – nennt Flögel Claus Narr und beruft sich in seinen weiteren Ausführungen vor allem auf die Historien von Claus Narren. Nur wenige weitere Arbeiten widmeten sich den Historien. Zu ihnen gehört der bis heute grundlegende Aufsatz von Franz Schnorr von Carolsfeld aus dem Jahr 1877, in dem nicht nur eine inzwischen verloren gegangene frühneuzeitliche Quelle von Petrus Ackermann über den Narren ediert ist, sondern ebenso andere Werke Büttners für biographische Angaben und weitere Hinweise auf den Narren ausgewertet sind.24 In den vergangenen Jahrzehnten haben Arbeiten von Werner Röcke diese Befunde ergänzt und weiter ausgebaut.25 In seiner Studie Die Freude am Bösen untersucht er die Zugehörigkeit der Historien von Claus Narren zu den Schwankromanen, deren Bezeichnung auf Hanns Fischers Aufsatz Zur Gattungsform des ›Pfaffen Amis‹ beruht.26 Schwankromane zeichnen sich für Röcke durch ihre spezifische Figurengestaltung, durch die Beschreibung einer alltäglichen Welt, d. h. »die Inanspruchnahme und Poetisierung des vormals nicht Darstellungswürdigen in der Kunst«,27 durch Linearität und Isolierung in der strukturellen Abfolge der Schwänke und eine im Sinne Bachtins verstandene dialogische Struktur der Texte aus. Doch gerade letzteres Kriterium verflacht nach Röcke, und so beenden die Historien von Claus Narren zusammen mit Bartholomäus Krügers Hans Clawerts Werckliche Historien die Gattungsgeschichte des Schwankromans, da sie »Mittel zum Zweck moralischer Konditionierung und politischer Anpassung an die Bedingungen der Landesherrschaft«28 werden.29 23

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Karl Friedrich Flögel: Geschichte der Hofnarren. Hildesheim, New York 1977 (Nachdruck der Ausgabe Liegnitz und Leipzig 1789), S. 4. Vgl. zu Flögels Narrenvorstellungen: Ruth von Bernuth: Über Zwerge, rachitische Ungeheuer und blödsinnige Leute lacht man nicht. Zu Karl Friedrich Flögels ›Geschichte der Hofnarren‹ von 1789. In: traverse 13 (2006), S. 61–72. Franz Schnorr von Carolsfeld: Ueber Klaus Narr. In: Archiv für Litteraturgeschichte 6 (1877), S. 277–328. Vgl. Werner Röcke: ›Der XXXVII PSALM/ IN GÖTTLICHE VND CHRISTLICHE FRAGEN GEBRACHT/ SEHR TROESTLICH/ DEN ARMEN FROMEN CHRISTEN/ DIE IN DER WELT VIEL MUESSEN LEIDEN‹. Eine unbekannte Auslegung des 37. Psalms von Wolff Büttner. In: Daphnis 15 (1986), S. 31–52; Röcke: Die Freude am Bösen, S. 252–259. Hanns Fischer: Zur Gattungsform des ›Pfaffen Amis‹. In: ZfdA 88 (1957/58), S. 291–299. Röcke: Die Freude am Bösen, S. 281. Röcke: Die Freude am Bösen, S. 265. Bartholomäus Krüger: Hans Clawerts Werckliche Historien. Abdruck der ersten Ausgabe 1587. Hg. von Theodor Raehse. Halle 1882.

11 Mit der Vorrede zu den Historien von Claus Narren befasst sich Bärbel Schwitzgebel in ihrer Untersuchung zu Vorreden im 16. Jahrhundert.30 Sie greift bei den Schwankromanen auf die Studie von Werner Röcke zurück und bestätigt anhand der Vorreden die zunehmende Didaktisierung der Werke, die bei Wolfgang Büttner und Bartholomäus Krüger so weit führt, dass sie bei dem jeweiligen Schwankhelden »nicht nur seine negativen Eigenschaften verleugnen, sondern ihn sogar zu einem positiven Helden machen, der die Funktion einer Exempelfigur erhalten kann.«31 Schwitzgebel geht davon aus, dass die Vorreden »für das Werkverständnis ›verzichtbar‹«32 seien, da sie unabhängig vom Text stünden, »nichts Zusätzliches zur Interpretation des Werke«33 beitrügen und vielmehr nur der Legitimation als Unterhaltungsliteratur dienten. Inwieweit nicht doch die Narrenkonzeption in Vorrede und Text in Büttners Werk kongruent ist, wird in der folgenden Untersuchung diskutiert werden. Die einzige Monographie zu den Historien von Claus Narren aus dem Jahr 1990 von Heinz-Günter Schmitz legt ihren Schwerpunkt auf die Analyse der Graphemstruktur und die Druckgeschichte der Historien von Claus Narren.34 Schmitz kann nachweisen, dass der Text erst ab der zehnten Auflage 1645 stark verändert wurde, indem vor allem Lehren und einige Historien gekürzt wurden. Der Befund von Schmitz, dass sich das Textkorpus von Claus Narr im Zeitraum von 45 Jahren, in denen neun Auflagen erschienen, nicht wesentlich geändert hat, ist bemerkenswert. Sind doch in anderen volkssprachlichen Texten dieser Zeit oft bereits in der zweiten Auflage Veränderungen eingefügt worden. Daneben erbringt Schmitz ausführliche Quellennachweise für einen Teil der 626 Historien. Eine inhaltliche Interpretation der Historien liefert auch diese Arbeit nicht, und so bleibt die Frage von Rupert Kalkofen, »warum man sich mit diesem Text aber weiterhin beschäftigen soll«,35 nach wie vor unbeantwortet. Die Eigenart des Textes liegt meines Erachtens in der Figur des Narren begründet, der in der Forschungsliteratur sehr widersprüchlich beschrieben wird. So versteht Schmitz Claus Narr als einen melancholischen Narren, »der an bestimmten Wahnvorstellungen leidet, die die Medizin der Zeit auf die Schwarzgalligkeit

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Bärbel Schwitzgebel: Noch nicht genug der Vorrede. Zur Vorrede volkssprachiger Sammlungen von Exempeln, Fabeln, Sprichwörtern und Schwänken des 16. Jahrhunderts. Tübingen 1996, S. 163–167. Schwitzgebel: Noch nicht genug der Vorrede, S. 171. Schwitzgebel: Noch nicht genug der Vorrede, S. 172. Schwitzgebel: Noch nicht genug der Vorrede, S. 172. Schmitz: Wolfgang Büttners Volksbuch von Claus Narr. Ergänzungen vor allem zur Rezeptionsgeschichte finden sich in der neueren Untersuchung des Autors: Heinz-Günter Schmitz: Das Hofnarrenwesen der frühen Neuzeit. Claus Narr von Torgau und seine Geschichten. Münster 2004. Rupert Kalkofen: Rez. zu Heinz Günter Schmitz: Wolfgang Büttners Volksbuch von Claus Narr. Hildesheim, Zürich, New York 1990. In: Eulenspiegel-Jahrbuch 32 (1992), S. 150–151, hier S. 151.

12 des Blutes zurückführt«36 und verbindet mit ihm weitere Narrenkonfigurationen, denn er sieht ihn in den gewöhnlichen Rollen des natürlichen, bzw. künstlichen Narren: als ein mehr oder weniger Schwachsinniger, gelegentlich auch als Wahnsinniger (Psychotiker), als naiv-bäurischer Dümmling oder Tölpel, als Possenreißer, als Weiser im Narrenkleid. Durch geistige Beschränktheit (Debilität, Imbezillität), durch gelegentliche Wahnideen, durch völlige Unkenntnis oder Nichtachtung der Naturgesetze oder menschlicher (auch höfischer) Verhaltensnormen, durch alberne, lustige, witzige, gekränkt-boshafte, anzügliche, derbe und grobianische Reden, Späße und Streiche erregt er Heiterkeit und Lachen beim Fürsten, bei der Hofgesellschaft und bei anderen und erfüllt damit seine wichtige diätische Funktion. In nicht wenigen Geschichten tritt Claus dann aber auch in den verschiedenen Rollen des weisen Narren auf [...]; er spricht – als Weiser, Wissender oder naiv Erleuchteter – tiefsinnig-hintergründige Wahrheiten und Lebensweisheiten aus, und schließlich besitzt er weissagerische, hellseherische Fähigkeiten ...37

Ähnlich beurteilt Enid Welsford die Historien von Claus Narren in ihrer grundlegenden Arbeit über die Narren, auch wenn sie mehr dazu tendiert, Claus Narr nur zu den naturals zu rechnen: Many of the anecdotes are of the conventional kind, giving the usual not very amusing examples of the fool’s stupidity. Very occasionally, however, the stories are told with a touch of imagination. The fool’s absurd comments on Christ and the Saints or on natural phenomena are recorded with an almost Wordsworthian delight in simplicity and innocence undarkened by the reason.38

Eine vergleichbare Sicht auf den Narren nahm schon Görres in seiner Untersuchung zu den deutschen Volksbüchern 1807 ein: Der Charakter dieses Narren ist angenommene Einfalt, häufig nicht eben ungeschickte kindische Naivität, freimüthige oft plumpe und unverschämte Wahrhaftigkeit, mitunter Tücke und einige äffische Bosheit, besonders wenn er gereizt war; sonst im Ganzen gutmüthiges Hinschlendern in der Narrenkappe durch die Welt.39

Dagegen streicht Mezger in seiner Arbeit über die Hofnarren noch stärker den pathologischen Charakter von Claus Narr heraus: Die meisten Anekdoten schildern ihn nämlich als ganz klar geistig defekten, eigenbrötlerischen Typ, der offensichtlich häufig in einer wirren Welt voller Wahnvorstellungen und Phantasmen vor sich hin dämmerte ...40

So ergibt sich aus der Forschungsliteratur ein inkongruentes Bild von Claus Narr, das ihn als psychisch Kranken, geistig Behinderten oder auch als einen

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Schmitz: Das Hofnarrenwesen, S. 76. Schmitz: Wolfgang Büttners Volksbuch von Claus Narr, S. 77f. Siehe auch Schmitz: Das Hofnarrenwesen, S. 76. Enid Welsford: The fool. His social and literary history. London 1935, S. 144. Joseph Görres: Die teutschen Volksbücher. Nähere Würdigung der schönen Historien=, Wetter= und Arzneybüchlein, welche theils innerer Werth, theils Zufall, Jahrhunderte hindurch bis auf unsere Zeit erhalten hat. Heidelberg 1807, S. 187. Werner Mezger: Hofnarren im Mittelalter. Vom tieferen Sinn eines seltsamen Amts. Konstanz 1981, S. 82.

13 weisen Menschen sieht. Die Diversität des närrischen Verhaltens – Schmitz spricht von »sich teilweise ausschließende[n] Rollen«41 – wurde erst seit dem Ende des 18. Jahrhundert als eine solche gesehen. Denn weder in zeitgenössischen Kommentaren, die durchaus kritisch mit den Historien von Claus Narren umgingen, noch in der Rezeptionsgeschichte des 16. und 17. Jahrhunderts finden sich Anhaltspunkte dafür, dass die Heterogenität der närrischen Schwänke bemängelt wurde. Der Grund für die Differenz zwischen der frühneuzeitlichen und modernen Rezeption ist meines Erachtens in den mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Vorstellungen von natürlicher Narrheit zu suchen. Was wurde überhaupt im Mittelalter und früher Neuzeit unter natürlicher Narrheit verstanden? Ein erster Hinweis bietet der eingangs erwähnte Triumphzug von Maximilian I. Er gehört zu den wenigen Darstellungen, die Schalksnarren und natürliche Narren gemeinsam abbilden. Beide Gruppen vereint, dass sie dem gleichen Zweck dienen, wie es in den begleitenden Versen dazu heißt. Mit närrischen Inszenierungen bescherten, so der Text, die Schalksnarren dem Kaiser vil kurtzweil,42 ähnlich wie es auch über die natürlichen Narren berichtet wird: Ein ander Gesindt hernahet bey kumbt auch gefahren an den Rey, Nattürlich Narren ist es genant, ans Kaisers hof gar wol bekandt, Sy haben maniche kurtzweil gemacht so artlich das man Ir hat gelacht.43

Doch trotz der gleichen Funktion von Schalksnarren und natürlichen Narren, Lachen zu erregen, werden beide Narrentypen voneinander getrennt. Einen möglichen Erklärungsansatz bietet der Versuch, die Herkunft der Narren zu bestimmen. Hier findet sich oft der Hinweis, dass die natürlichen Hofnarren einen älteren Narrentypus vorstellten, während sich die künstlichen Narren später entwickelt hätten.44 Es deutet einiges darauf hin, dass die ursprüngliche Bedeutung der

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Schmitz: Wolfgang Büttners Volksbuch von Claus Narr, S. 78. Schestag: Kaiser Maximilian I. Triumph, S. 160. Der Vers zu den Schalksnarren lautet vollständig folgendermaßen: »Ich hab mit guetem Vleis gedicht, Schalcks Narren auch dahin gericht, aufs allerschimpflichist so Ich west, darin gethan für war das besst die Kaiserliche Mayestat vil kurtzweil dauon genommen hat« Schestag: Kaiser Maximilian I. Triumph, S. 160. Vgl. dazu Maurice Lever: Zepter und Schellenkappe. Zur Geschichte des Hofnarren. Frankfurt 1992, S. 87: »Während anfangs die Mehrheit der Narren aus echten Verrückten bestand, nahm nach und nach die Zahl der Schauspieler unter ihnen zu, die den Wahnsinn nur simulierten. Seit der Renaissance gehörten fast alle Narren zur zweiten Kategorie.« Siehe auch Edgar Barwig, Ralf Schmitz: Narren – Geisteskranke und Hofleute. In: Randgruppen der spätmittelalterlichen Gesellschaft. Ein Hand- und Studienbuch. Hg. von Bernd-Ulrich

14 Worte narre und tôr zunächst mit den natürlichen Narren assoziiert wurde. Doch inwieweit die natürlichen Narren tatsächlich früher als die Schalksnarren existierten, lässt sich kaum nachweisen, nennen doch die frühesten Quellen lediglich die Namen der Narren. Es ist anzunehmen, dass sich künstliche und natürliche Narren aus unterschiedlichen Traditionen entwickelten. Die Schalksnarren weisen engere Verbindungen zu den Gruppen der »Gaukler und Jongleure (iocolatores), Tänzer/ Akrobaten (scurrae, themilici) und Schauspieler (mimi, histriones)«45 auf. Ihre Hauptfunktion war es, Lachen zu erzeugen. Künstliche Narren benutzten dabei ihren Körper, der »vor allem durch obszöne Inszenierungen, Verwandlungen und die närrische Kontamination anderer Körper gekennzeichnet ist.«46 Eine ebenso wichtige Rolle bei den Inszenierungen nimmt die närrische Rhetorik ein, die aus Sprachspielen und -witzen, aus Gedichten und Rätseln besteht.47 Auf die im Zusammenhang mit den natürlichen Narren stehende Bedeutung von narre und tôr verweist Jost Trier.48 So umfasst der Begriff tôr in der Literatur des 13. Jahrhunderts eine »angeborene Unbegabtheit, die sich selbst wieder in verschiedenen Richtungen auswirkt, z. B. als Einfalt [...] als geringe Urteilsfähigkeit, Unüberlegtheit oder Unbesonnenheit«.49 Narr kann ebenfalls in diesem Sinn erscheinen, wenn auch das Wort insgesamt seltener verwendet wird.50 Erst durch den großen Erfolg des 1494 erstmalig erschienen Narrenschiffs, in dem der Autor Sebastian Brant dem Narrenbegriff den Vorzug gab, setzte sich narr gegenüber tôr durch und beeinflusste damit wesentlich die weitere Sprachentwicklung, nicht zuletzt auch die Bibelübersetzung von Martin Luther.51 Die Verbindung

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Hergemöller. Warendorf 1994, S. 220–252, hier S. 235; Hans Rudolf Velten: ›Hofnarren‹. In: Höfe und Residenzen im spätmittelalterlichen Reich. Bilder und Begriffe. Hg. von Werner Paravicini, bearb. von Jan Hirschbiegel, Jörg Wettlaufer. Bd. 1: Begriffe. Ostfildern 2005, S. 65–69. Hans Rudolf Velten: Komische Körper. Hofnarren und die Dramaturgie des Lachens im späten Mittelalter. In: Zeitschrift für Germanistik N. F. XI (2001), S. 292–317, hier S. 300. Velten: Komische Körper, S. 316. Katja Gvozdeva: Doubles sots/ sauts/ sons/ sens de Rhétorique. Rhetorik und Rebus-Spiel in den Narrenperformances im spätmittelalterlichen Frankreich. In: Zeitschrift für Germanistik N. F. XI (2001), S. 361–381. Jost Trier: Der deutsche Wortschatz im Sinnbezirk des Verstandes. Die Geschichte eines sprachlichen Feldes. Bd. I: Von den Anfängen bis zum Beginn des 13. Jahrhunderts. Heidelberg 1931. Trier: Wortschatz, S. 340: Die Herkunft von tôr leitet sich aus einer Verbalwurzel mit der Bedeutung von »verwirrt sein, umnebelt sein« her, auf die ebenfalls das Wort taub zurückgeht. Bis zum 12. Jahrhundert kann tôr noch taub bedeuten. Vgl. auch Friedrich Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Berlin, New York 1999, S. 828. Barbara Könneker: Wesen und Wandlung der Narrenidee im Zeitalter des Humanismus. Brant – Murner – Erasmus. Wiesbaden 1966, S. 20: In Glossensammlungen aus dem 8. bis 11. Jahrhundert werden stultus und murio mit narro übersetzt. Zum Einfluss des Brantschen Narrenbegriffs auf Luther vgl. Könneker: Wesen und Wandlung der Narrenidee, S. 10f.; Dieter Kartschoke: Narrenrede bei Brant, Luther und Sachs. In: Der fremdgewordene Text. Hg. von Silvia Bovenschen, Winfried Frey, Stephan Fuchs, Walter Raitz. Berlin, New York 1997, S. 105–123. Die Etymologie des Wortes narr ist nicht ganz

15 von Narrheit und physischer Differenz ist oft mit einer weiteren Bedeutung des Wortes Narr in Verbindung gebracht worden, die das Grimmsche Wörterbuch als »eine misratene feld- oder baumfrucht«52 angibt.53 Der mittelalterliche Enzyklopädist Konrad von Megenberg verwendet in seinem Mitte des 14. Jahrhunderts entstandenen Buch der Natur als einer der ersten explizit den Begriff der natürlichen Narrheit. Er nennt als Hauptcharakteristikum der naturleichn torn,54 dass sie ir cell der _el chreft niht recht ge_chicht in dem haubt55 haben. Demnach zeichnen sich, um es weitgefasst zu beschreiben, natürliche Narren durch eine mentale Differenz aus.56 Konrad trennt die natürliche Narrheit explizit von den psychischen Krankheiten, die bei ihm innerhalb der anatomischen Beschreibung des Menschen angesiedelt sind.57 Diese Sicht, die

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zu klären und es lassen sich nur Verbindungen mit dem mittellateinischen nario, also einem Nasenrümpfer oder Spötter, bzw. mit narbe als »etwas eingeschrumpftes, verkrüppeltes« vermuten. Vgl. dazu DWb 7, Sp. 354. DWb 7, Sp. 364. Vgl. dazu auch Heinz Wyss: Der Narr im schweizerischen Drama des 16. Jahrhunderts. Bern 1959, S. 29f. Konrad von Megenberg: Das ›Buch der Natur‹. Bd. II: Kritischer Text nach den Handschriften. Hg. von Robert Luff, Georg Steer. Tübingen 2003, S. 524, Z. 21. Konrad von Megenberg: Das ›Buch der Natur‹, S. 524, Z. 22f. Ich beziehe mich hier auf die in den ›disability studies‹ (Studien zu Behinderung) verwendete Terminologie, die unter physischer/ körperlicher Differenz, in die die mentale Differenz eingeschlossen ist, folgende Definition gibt: David T. Mitchell, Sharon L. Snyder: Introduction. Disability studies and the double bind of representation. In: The body and physical difference. Discourses of disability. Hg. von David T. Mitchell, Sharon L. Snyder. Ann Arbor 1997, S. 1–31, hier S. 13: »We use the terms physical and bodily here to designate any discernible characteristic designated by a culture as definitively abnormal and tending towards the pathological. Thus, the ideology of the physical trades upon perceptions of functional disabilities such as missing or ›stunted‹ appendages, mobility impairments, blindness, and deafness, as well as cosmetic distortions [...]. Yet, physical or bodily differences also include ›nonmaterial‹ traits that mark one as disabled, such as the sound of a voice filtered through an electronic vocal cord stimulator or the cognitive impairments associated with the speech and thought patterns of people with traumatic head injuries or the ›mentally defective‹.« Zu den disability studies vgl.: Anja Tervooren: Der ›verletzliche Körper‹ als Grundlage einer pädagogischen Anthropologie. In: Lesarten des Geschlechts. Zur De-Konstruktionsdebatte in der erziehungswissenschaftlichen Geschlechterforschung. Hg. von Doris Lemmermöhle, Dietlind Fischer, Dorle Klika, Anne Schlüter. Opladen 2000, S. 245–255, hier S. 249: »Ziel der Studien zu Behinderung muß es sein, Behinderung innerhalb der kulturellen Imagination und somit nicht als medizinische Kategorie, sondern als kulturelles Repräsentationssystem zu konzeptionalisieren.« Weiterhin grundlegend zu den disability studies: David T. Mitchell, Sharon L. Snyder: Narrative prosthesis. Disability and the dependencies of discourse. Ann Arbor 2000; Rosemarie Garland Thomson: Extraordinary bodies. Figuring physical disability in American culture and literature. New York 1997; Anja Tervooren: Phantasmen der (Un-) Verletzlichkeit. Körper und Behinderung. In: Der [im-]perfekte Mensch. Metamorphosen von Normalität und Abweichung. Hg. von Petra Lutz, Thomas Macho, Gisela Staupe, Heike Zirden. Köln 2003, S. 280–293; Anne Waldschmidt (Hg.): Kulturwissenschaftliche Perspektiven der Disability Studies. Tagungsdokumentation. Kassel 2004. Vgl. Konrad von Megenberg: Das ›Buch der Natur‹. Dazu gehört z. B. die »melancolia«, (S. 54, Z. 8.) die aus einem Überschuß der »melancoli«, (S. 54, Z. 8) also der schwarzen

16 die natürliche Narrheit nicht als Krankheit fasst, beklagt noch Paracelsus in seiner Schrift De generatione stultorum zu Beginn des 16. Jahrhunderts: dester schwerer ist es, das narren geboren werden und kein krankheit ist, sind unheilbar, haben kein gestein noch kreuter, dormit sie möchten wizig werden. darzu auch, so hat Christus vil kranken, besessne und aussezigen auch allerlei ellend gewent, aber von narren wider zu bringen, do ist nichts erfunden worden. der natur ist es nit möglich. es muß auch ein groß arcanum sein, das die ding, so die narren an in haben, wenden möcht, aber nichts ist do. drumb so muß es ein groß mysterium han, das verborgen ist in der natur ...58

Natürliche Narrheit wird im Mittelalter und in der frühen Neuzeit als ein anomaler Zustand des menschlichen Seins wahrgenommen, d. h. als ein ›Wunder‹. Sie wird aber nicht im Bereich des Pathologischen verortet. In Konrads von Megenberg Buch der Natur gehören die natürlichen Narren zu den wunder men_chen.59 Auch Paracelsus unterscheidet noch zwischen den krankheiten, die der vernunft berauben60 und den Narren. Mittelalterliche und frühneuzeitliche Quellen trennen zwischen natürlichen Toren und sinnelosen, also mental permanent und mental temporär differenten Menschen. Wurde letzteres auch schon im Mittelalter und früher Neuzeit als Krankheit aufgefasst, entspricht der anomale Zustand eines natürlichen Narren eher dem Konzept einer Behinderung in der Neuzeit. Die allgemeine Trennung von natürlicher Narrheit und Unsinnigkeit bedeutet jedoch nicht, dass nicht auch Gemeinsamkeiten dieser Formen von Anomalie gesehen worden wären. Für die vorliegende Untersuchung ist jedoch entscheidend, dass überhaupt zwei verschiedene Konzepte von psychischer Differenz existierten, wie sie die zwei markanten zeitgenössischen Positionsbestimmungen im Buch der Natur des Megenbergers und in der Schrift De generatione stultorum von Paracelsus aufweisen. Die Konzeption des Narrenwagens im Triumphzug von Kaiser Maximilian ist damit keine singuläre Erscheinung, sondern greift auf

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Galle, entsteht und »_ich zivch zv dem haupt« (S. 54, Z. 9). Dort vermag sie dann auf die psychische Disposition des Menschen einzuwirken, denn ist sie in den Kopf aufgestiegen, »_o chFmpt dem men_chen _weigen vnd betrahten vnd _warichait, wainen vnd trachait, vorht vnd _org vnd clainmFtichait. Vnder den vint man etleich, die wanent, _ie _ein tod, vnd ander, die wanent, _ie _ein gle_ein« (S. 54, Z. 9–12). Paracelsus: De generatione stultorum. In: Paracelsus (Theophrast von Hohenheim, gen. Paracelsus): Sämtliche Werke. Hg. von Karl Sudhoff. 1. Abteilung: Medizinische, naturwissenschaftliche und philosophische Schriften. 14. Bd.: Das Volumen primum der Philosophia magna. Spuria: Unechte, von Johannes Huser größtenteils für echt gehaltene Schriften unter Hohenheims Namen. München, Berlin 1933, S. 73–94, hier S. 73f. Konrad von Megenberg: Das ›Buch der Natur‹, S. 522, Z. 20. Paracelsus: Von den krankheiten, die der vernunft berauben. In: Paracelsus (Theophrast von Hohenheim, gen. Paracelsus): Sämtliche Werke. Hg. von Karl Sudhoff. 1. Abteilung: Medizinische naturwissenschaftliche und philosophische Schriften. 2. Bd.: Frühe Schriften zur Heilmittellehre (Arzneistoffe und Heilquellen) zur Begründung der tartarischen Lehre in der Pathologie, samt dem 6., 7., und 9. Buch in der Arznei, über tertarische, psychische Krankheiten und Kontrakturen. München, Berlin 1930, S. 393–455.

17 bestimmte Vorstellungen von natürlicher Narrheit des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit zurück, die weiter zu untersuchen sind. Bei den natürlichen Narren im Wagen des Triumphs stellt Mezger fest, dass »die Physiognomie der Insassen [...] zumindest bei vier der fünf Dargestellten auf einen krankhaften Geisteszustand schließen [lässt], der die Einordnung unter die natürlichen Narren rechtfertigt.«61 Diese Auffassung verweist auf die seit dem 19. Jahrhundert bestehende Sicht, die die natürliche Narrheit unter diverse, meist psychiatrische, Krankheitsbilder subsumiert. Die mentale Differenz, verstanden als Krankheit, fand so Eingang bis in die Wörterbücher. Daher rechnet das Grimmsche Wörterbuch zu den Narren »eine verrückte, irrsinnige, und überhaupt geisteskranke, an einer fixen idee leidende person«.62 Wyss stellt im Bezug auf die natürlichen Narren fest, dass hier »die Narrheit eine den Menschen auf unerklärliche Weise befallende Krankheit ist, die ihn ›wie ein zweites, fremdes Ich‹ beherrscht und in ihm haust«.63 Auch noch in der neueren Forschung wird diese Position vertreten. So fassen Barwig und Schmitz unter Narren »die geistig Behinderten oder nervlich Erkrankten«64 und begründen ihre Auswahl damit, dass »auf allzu große Differenzierungen oder moderne Begrifflichkeiten [...] bei der Untersuchung des mittelalterlichen Selbstverständnisses verzichtet werden [kann].«65 Ähnlich wie Barwig und Schmitz argumentiert auch Dirk Matejovski in seiner Untersuchung über Das Motiv des Wahnsinns in der mittelalterlichen Dichtung.66 Zu den natürlichen Narren rechnet er »den Geisteskranken, den Debilen«67 und auch er versteht mentale Differenz ausschließlich als Krankheit: Die Medizin des Mittelalters betrachtet also psychische Devianz aus einer ganzheitlichen Perspektive, und sie sieht solche Störungen, das soll hier hervorgehoben werden, als Erkrankungen.68

Bei den Modellen, in denen die natürliche Narrheit als Krankheit angesehen wird, wird die Ursache der Narrheit meist in der Humoralpathologie gesucht, bei der »somatische Verschiebungen und wechselseitige Beeinträchtigungen der Körpersäfte für geistige Defekte verantwortlich waren«.69 Natürliche Narrheit

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Mezger: Hofnarren im Mittelalter, S. 61. DWb, Sp. 354. Wyss: Der Narr im schweizerischen Drama des 16. Jahrhunderts, S. 30. Barwig, Schmitz: Narren – Geisteskranke und Hofleute, S. 220. Barwig, Schmitz: Narren – Geisteskranke und Hofleute, S. 220. Dirk Matejovski: Das Motiv des Wahnsinns in der mittelalterlichen Dichtung. Frankfurt 1996. Dirk Matejovski: Das Motiv des Wahnsinns, S. 31. Dirk Matejovski: Das Motiv des Wahnsinns, S. 61. Die sich in den von Matejovski besprochenen Texten zeigenden Brüche erklärt er damit, »daß die mittelalterliche Literatur [...] sich den juristischen, religiösen und medizinischen Deutungen des Wahnsinns nur soweit öffnet, als jene sich in das eigene poetische System integrieren lassen.« (S. 282f.) Barwig, Schmitz: Narren – Geisteskranke und Hofleute, S. 226. Auch zwei neuere französische Untersuchungen zur Narrheit im 12. und 13. Jahrhundert verorten den Narren in dem

18 wird damit in den Bereich des Pathologischen verwiesen, indem die mentale Differenz einer psychischen Krankheit gleichgesetzt wird. Die medizinische Interpretation stellt einen bis heute dominanten Versuch der Deutung dar, der jedoch nicht dem mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Verständnis von natürlicher Narrheit gerecht wird, sondern eher die seit dem 19. Jahrhundert vorherrschenden Konzepte von mentaler Differenz widerspiegeln.70 Im Prozess der Reduktion von natürlicher Narrheit auf verschiedene psychische und physische Krankheitsbilder werden die im Mittelalter und in der frühen Neuzeit an die natürliche Narrheit gebundenen Vorstellungen weggelassen und übersehen. Neuere Forschungen, die die natürliche Narrheit als Form einer psychischen Krankheit sehen, beziehen sich dabei vor allem auf Michel Foucaults Histoire de la folie, das deutsch unter dem Titel Wahnsinn und Gesellschaft erschien.71 Es gibt verschiedene Gründe, weshalb Foucaults grundlegendes Werk für die Argumentation gebraucht wird, natürliche Narren seien als Kranke betrachtet worden. So ist an erster Stelle auf die Semantik des französischen Begriffs folie zu verweisen, die mit Wahnsinn nicht gleichzusetzen ist. Ingrid Kasten zeigt, dass im Gegensatz zum in der deutschen Bedeutung relativ eingeengten Begriff des Wahnsinns folie im Französischen ebenso »eine allgemein menschliche Schwäche, auch Verblendung und Wahn«72 bezeichnen kann. Als zusätzliches Problem erweist sich, dass Foucault für folie selbst keine eindeutige Definition gibt. So gebraucht Foucault folie bei der Besprechung von Zeugnissen aus dem 15. und 16. Jahrhundert im medizinischen Sinne, also in der Bedeutung ›Geisteskrankheit‹, ›Irresein‹, ›Verrücktsein‹, ›Wahnsinn‹, aber auch in einem ganz gemeinen, eher umgangssprachlichen Sinne, zur Bezeichnung von Verhaltensweisen, die von geltenden sozialen Normen abweichen. Außerdem hat das Wort folie bei Foucault eine gleichsam mystische Bedeutungskomponente und kann mit der Vorstellung von Unschuld und Reinheit, dem Besitz geheimen Wissens verbunden oder auch als ›eine Bewegung ..., um zu Gott zu gelangen‹ qualifiziert werden.73

Als wenig erhellend erweist sich zudem der Umstand, dass Foucault den Begriff ›Wahnsinn‹ sehr weit fasste und auch frühneuzeitliche Krankheitskonzepte wie Demenz, Manie, Melancholie, Hysterie und Hypochondrie einbezog und dar-

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›alphabet humoral‹. Vgl. Jean-Marie Fritz: Le discours du fou au moyen âge. XIIe-XIIIe siècles. Étude comparée des discours littéraire, médical, juridique et théologique de la folie. Paris 1992, S. 115–152; Muriel Laharie: La folie au moyen âge. XIe-XIIIe siècles. Paris 1991, S. 115–144. Vgl. Theodor Kirchhoff: Grundriss einer Geschichte der deutschen Irrenpflege. Berlin 1890. Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft. Frankfurt 1993. Ingrid Kasten: ›Narrheit‹ und ›Wahnsinn‹. Michel Foucaults Rezeption von Sebastian Brants ›Narrenschiff‹. In: Festschrift Walter Haug und Burghart Wachinger. Hg. von Johannes Janota. Tübingen 1992, S. 233–254, hier S. 236. Kasten: ›Narrheit‹ und ›Wahnsinn‹, S. 235.

19 über hinaus diesen eher diffusen Begriff von folie mit dem Narrenbegriff des 15. Jahrhunderts und dabei insbesondere mit dem Narrenschiff Sebastian Brants und anderen literarischen Schiffsallegorien verband, die er zudem materialiter, nicht aber als literarische Bilder verstand: Aber von all diesen fabulösen und satirischen Schiffen hat nur das ›Narrenschiff‹ wirklich existiert, denn diese Schiffe, die ihre geisteskranke Fracht von einer Stadt zur anderen brachten, gab es wirklich.74

Dementsprechend ist Michel Foucaults Interpretation von Brants Narrenschiff wiederholt als historischer Beleg genommen worden, wie mit den ›Irren‹, die den Narren gleichgesetzt werden, im Spätmittelalter umgegangen wurde.75 Foucault hat sich dabei, so die Ergebnisse neuerer Untersuchungen, wohl von einigen vagen Angaben aus der Narrenschiffedition von Zarncke anregen lassen, dass es tatsächlich Narrenschiffe gegeben habe.76 Doch Narrenschiffe zur Beförderung von Narren oder anderen Menschen, die zu einer Randgruppe gehörten, können für das gesamte Mittelalter nicht nachgewiesen werden.77 Foucault verortet den Narren jedoch nicht ausschließlich im frühneuzeitlichen Krankheitsdiskurs: Man neigt dazu zu glauben, daß er [der Irre, RvB] sein persönliches Merkmal nur von einem bestimmten medizinischen Humanismus erhalten hat, als sei die Gestalt seiner Individualität stets nur etwas Pathologisches gewesen. Tatsächlich hat der Irre, lange bevor er den medizinischen Status erwarb, den ihm der Positivismus gegeben hat, bereits im Mittelalter eine Art persönlicher Kompaktheit erhalten. Dies war wahrscheinlich mehr eine Individualität der Rolle als des Kranken. Der Wahnsinnige, den Tristan simuliert und der ›dervé‹, der im Jeux de la feuillée erscheint, haben bereits ziemlich besondere Werte, um Rollen zu konstituieren und in den vertrautesten Landschaften Platz zu nehmen.78

Die hier von Foucault kritisierte Vorstellung, folie sei eine psychische Krankheit, ist jedoch erst seit dem 19. Jahrhundert vertreten worden. Am Ende von Foucaults Studie wird die Geburt des ›Asyls‹ an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert beschrieben. Die Einrichtung von psychiatrischen Institutionen besiegelt den Prozess der Trennung von Unvernunft und Vernunft, in diesem

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Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft, S. 25. Dieter Mattner: Die Erfindung der Normalität. In: Der im-perfekte Mensch. Vom Recht auf Unvollkommenheit. Begleitbuch zur Ausstellung im Deutschen Hygiene-Museum vom 20. Dezember 2000 bis 12. August 2001. Hg. von der Stiftung Deutsches Hygiene-Museum und Deutsche Behindertenhilfe – Aktion Mensch e.V. Ostfildern-Ruit 2001, S. 12–32, hier S. 16; Carl L. Paul Trüb: Heilige und Krankheit. Stuttgart 1978, S. 72. Vgl. Friedrich Zarncke: Einleitung. In: Sebastian Brants Narrenschiff. Hg. von Friedrich Zarncke. Leipzig 1854, S. LX. Winifred Barbara Maher, Brendan Maher: The ship of fools. Stultifera Navis or Ignis Fatuus? In: American Psychologist 37 (1982), S. 756–761. Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft, S. 109. Im Gegensatz dazu finden sich in Foucaults »Gestalten des Wahnsinns« (S. 255–307) nur auf die Humoralpathologie aufbauende Krankheitsbilder wieder.

20 Fall also die Ausschließung von mentaler Devianz in allen Formen verbunden mit ihrer Klassifizierung als zu behandelnde Krankheit.79 Mit Beginn der Internierung im 19. Jahrhundert lösten sich, und das ist für die vorliegende Arbeit entscheidend, die Grenzen zwischen mental zeitlich variabel und mental zeitlich permanent veränderten Menschen auf. Beide Gruppen wurden im neuen homogenen psychiatrischen Normalfeld ausgeschlossen und als krank gekennzeichnet. Gleichzeitig bildeten sich psychiatrische Institutionen, die diese als psychisch krank Klassifizierten aufnahmen. Ein Verdienst von Foucaults Studie ist es, auf diesen doppelten Prozess der Vereinheitlichung und Ausschließung hingewiesen zu haben. Die erst seit Beginn des 19. Jahrhunderts bestehende Sichtweise, mental kranke und mental behinderte Menschen gleichzusetzen, dominiert bis heute auch die Untersuchungen über die natürlichen Narren. Aussagen aus den Texten zu den zeitweise mental veränderten Menschen werden auf die permanent mental differenten Menschen angewandt und vice versa, so dass zunächst der Eindruck entsteht, dass permanente und temporäre mentale Devianz tatsächlich nicht voneinander getrennt wurden. Darüber hinaus wurden in der Forschungsliteratur den natürlichen Narren auch noch physische Defekte bzw. eine dämonische Besessenheit zugeschrieben. Man sah in dem Narren »den Verkrüppelten«80 und allgemein »alle diejenigen, deren Nicht-Normalsein ein krankhafter Dauerzustand war, die also irreparable körperliche oder geistige Defekte hatten«.81 Jedoch ebenso wie das »Primat theologisch-dämonologischer Konzepte im Zusammenhang mit dem Problem des Wahnsinns als historische Verkennung anzusehen«82 ist, konstituiert physisch sichtbare Differenz ebenso keine natürliche Narrheit. Die Historien von Claus Narren sind ebenfalls in dem Sinne verstanden worden, dass in ihnen Claus Narr als ein psychisch Kranker interpretiert und seine närrischen Handlungen mit Hilfe von neuzeitlichen psychiatrischen Krankheitsmodellen beschrieben wurden. Das stellt jedoch keinen befriedigenden Zugang zu dem Büttnerschen Werk dar. Sinnvoller erscheint es mir dagegen, die Historien als einen Text über einen natürlichen Narren zu lesen. Eine rein textimmanente Analyse der Narrenfigur bietet sich hier nicht an, da die Historien von Claus Narren einen Narrenbegriff voraussetzen, der auf etablierten Vorstellungen von natürlicher Narrheit fußt. Der Narr wird in Büttners Vorwort nur kurz charakterisiert. Claus Narr sei nicht allein von Natur in seinen sinnlichen kr(fften/ der vernunfft vnd verstandes/ ein zerrFtter/ schlechter/ einf(ltiger/ kindischer Narr

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Ein anderer, damit zusammenhängender Ausschließungsmechanismus etabliert sich am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts in der ›Geburt des Gefängnisses‹. Vgl. Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt 1998. Matejovski: Das Motiv des Wahnsinns, S. 31. Mezger: Hofnarren im Mittelalter, S. 60. Matejovski: Das Motiv des Wahnsinns, S. 38.

21 [...] gewesen/ sondern anders woher/ seiner einfalt vnd kindischen thorheit/ Vrsach entsprungen/ vnd geflossen ist.83 Um die natürliche Narrheit hier besser fassen zu können, ist es notwendig, den natürlichen Narren im Narrenspektrum des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit einzuordnen. Die Figur des Narren ist im Spätmittelalter und der frühen Neuzeit omnipräsent.84 Narrengesellschaften, Karnevalsaufzüge und bildliche wie literarische Darstellungen bezeugen eine ganze Narrenkultur, die sowohl aus Aufführungen besteht wie auch Teil eines literarischen Diskurses ist. Narren werden an Höfen als Spaßmacher gehalten, sie erscheinen – wie Ulenspiegel oder Gonnella – in Schwank- und Facetiensammlungen, vor der Narrheit warnt Sebastian Brant in seinem Narrenschiff und ebenso beruft sich Erasmus in seinem Lob der Torheit auf sie. Narren treten als Ruhestörer der Ordnung auf, als weise Ratgeber oder gar als Bewohner eines utopischen Ortes wie im Lalebuch. Narrheit kann sich vorübergehend als Tabubruch bei den Fastnachtsnarren manifestieren, ebenso aber auch zeitlich überdauernd im Amt des Hofnarren institutionalisiert sein. Narrheiten und Torheiten beschreiben allgemein moralische, religiöse und mentale Abweichungen. Ihnen wird ein »Eigensinn«85 zugeschrieben, der »die überkommenen Orientierungspunkte und -schemata«86 hinterfragt, ohne jedoch einen Gegenentwurf bereitzustellen. Die natürlichen Narren gehören in diesen Kontext mit hinein, sie sind aber nicht identisch mit anderen Formen von theologischer, moralischer oder künstlicher Narrheit. Die zwei unterschiedlich gestalteten Narrenwagen aus dem Triumphzug von Kaiser Maximilian weisen auf die Bandbreite des Narrenbegriffs hin, machen ebenso deutlich, dass die natürlichen Narren eine eigenständige Gruppe innerhalb des Narrenspektrums bilden. Wenn der natürliche Narr, wie ich gezeigt habe, im Mittelalter und früher Neuzeit nicht in einer medizinischen Definition aufgeht, ist zu fragen, wo dann

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Büttner: Historien von Claus Narren, Bl. A iiijr. Vgl. Welsford: The fool; Peter Burke: Helden, Schurken und Narren. Europäische Volkskultur in der frühen Neuzeit. Hg. von Rudolf Schenda. Stuttgart 1981; Sandra Billington: A social history of the fool. Brighton, New York 1984; Natalie Zemon Davis: Humanismus, Narrenherrschaft und die Riten der Gewalt. Gesellschaft und Kultur im frühneuzeitlichen Frankreich. Frankfurt 1987; Hans-Jürgen Bachorski, Werner Röcke: Narrendichtung. In: Von der Handschrift zum Buchdruck. Spätmittelalter, Reformation, Humanismus. 1320–1572. Hg. von Ingrid Bennewitz, Ulrich Müller. Reinbek 1991, S. 203–213; Werner Röcke: Schälke – Schelme – Narren. Literaturgeschichte des ›Eigensinns‹ und populäre Kultur in der Frühen Neuzeit. In: Schelme und Narren in den Literaturen des Mittelalters. 27. Jahrestagung des Arbeitskreises Deutsche Literatur des Mittelalters. Hg. von Danielle Buschinger, Wolfgang Spiewok. Greifswald 1994, S. 131–149; Werner Röcke: Die Gewalt des Narren. Rituale von Gewalt und Gewaltvermeidung in der Narrenkultur des späten Mittelalters. In: Forschungen zur deutschen Literatur des Spätmittelalters. Festschrift für Johannes Janota. Hg. von Horst Brunner, Werner Williams-Krapp. Tübingen 2003, S. 51–71; Gvozdeva: Rhetorik und RebusSpiel in den Narrenperformances; Velten: Komische Körper; Velten: ›Hofnarren‹. Vgl. Röcke: Schälke – Schelme – Narren, S. 132 im Anschluss an Alexander Kluge und Oskar Negt. Röcke: Schälke – Schelme – Narren, S. 132.

22 die natürliche Narrheit verortet wurde. Die vorliegende Studie analysiert Vorstellungen von natürlicher Narrheit im Mittelalter und früher Neuzeit, um mit ihnen Büttners Historien von Claus Narren genauer untersuchen zu können. Mit Hilfe von theoretischen Ansätzen, die verschiedene Perspektiven auf die Konzeption der natürlichen Narrheit geben, versuche ich, diese Form der Narrheit näher zu beschreiben und die so gewonnenen Ergebnisse in die Analyse von Büttners Werk einfließen zu lassen. Das erste Kapitel der Arbeit widmet sich, ausgehend von Normativitäts- und Normalitätsvorstellungen in Brants Narrenschiff, der natürlichen Narrheit und ordnet sie in die zeitgenössischen Narrenkonzeptionen ein. Anhand der Predigten von Geiler von Kaysersberg zum Narrenschiff wird bereits die Sonderstellung des natürlichen Narren deutlich, der von diesem Narrenreigen ausgenommen wird. Die Sicht auf den natürlichen Narren als außergewöhnliche Erscheinung, als ein Wundermensch im Buch der Natur und auch noch als ein Wunder in Paracelsus’ De generatione stultorum unterstreicht die Sonderstellung des Narren, die er ebenso im höfischen Kontext einnimmt. Um die mit den natürlichen Narren implizierten Funktionen genauer fassen zu können, greife ich auf ritualtheoretische Ansätze zurück und suche die natürliche Narrheit als einen liminalen Zustand darzustellen. Mit der liminalen Position eng verknüpft ist die den natürlichen Narren am Hof zugeschriebene Narrenfreiheit, die erweitert und als ›närrische Scherzbeziehung‹ bezeichnet werden kann, da sie das gegenseitige normverletzende Verhalten von Hof und Narr beschreibt. Ein abschließender Teil widmet sich dem historisch nachweisbaren Claus Narr, der über die Historien von Claus Narren hinaus ein häufig genanntes Beispiel eines natürlichen Narren in der frühneuzeitlichen Literatur ist. Die diskursanalytisch und ritualtheoretisch gewonnene Definition der natürlichen Narrheit bietet Ansatzpunkte für die Untersuchung der Historien von Claus Narren und ihrer Rezeption im zweiten Kapitel der Studie. Herangezogen wird dabei außerdem der historische Hintergrund des Werks, der sich anhand der innerprotestantischen Auseinandersetzungen, in die der Autor Wolfgang Büttner mit hineingezogen war, ergibt. Andere Werke des Autors spiegeln das ebenso wider. Wesentliche Hinweise auf den Aufbau der Historien von Claus Narren lassen sich gewinnen, bezieht man die von Wolfgang Büttner verfasste Dialectica Deutsch mit in die Analyse ein.87 Die bisher wenig beachtete und als reine Übersetzung einer Melanchthonschen Dialektik eingeschätzte Dichtungslehre weist nicht nur auf die vielfältigen Versuche in der frühen Neuzeit, Wissen zu systematisieren, sondern lässt sich auch auf die Struktur der Historien von Claus Narren beziehen. Nicht nur deren Aufbau, sondern auch die einzelnen Historien und deren Abfolge in den Kapiteln sind von dem Versuch gekennzeichnet, einer bestimmten Ordnung zu folgen, die jedoch nicht im Einzelnen durchgehalten wird. Daher sind auch

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Wolfgang Büttner: Dialectica Deutsch. Das ist/ Disputierkunst. Wie man vernünfftige vnd rechte Fragen/ mit vernunfft vnd mit kunst entscheiden/ vnd verantworten solle. Eisleben 1574.

23 nur zehn der insgesamt 16 Theile einem bestimmten Thema zuzuordnen. Anhand dieser thematisch geordneten Kapitel wird Büttners Verfahren, den natürlichen Narren Claus Narr als moraldidaktisches Exempel zu gebrauchen, dargelegt. Die verschiedenen Vorstellungen über natürliche Narren, die sich in den Historien von Claus Narren verankern lassen, werden anschließend untersucht und mit der Tradition der Kyniker und der Narren in Christo in Verbindung gebracht. Abschließend beschäftigt sich das zweite Kapitel mit der Rezeption der Historien von Claus Narren. Das dritte Kapitel beschreibt, wie sich der Begriff der natürlichen Narrheit veränderte und auflöste. Exemplarisch wird dabei auf die gedruckte Leichenpredigt anlässlich des Begräbnisses von dem natürlichen Narren Hans Miesko, auf die deutsche Übersetzung von Tomaso Garzonis Spital Vnheylsamer Narren/ vnnd N(rrinnen und auf Ausschnitte aus Grimmelshausens Simplicius Teutsch eingegangen. Am Beispiel einer der frühesten theoretischen Schriften zur Heilpädagogik von Jan Daniel Georgens und Heinrich Marianus Deinhardt aus dem 19. Jahrhundert wird nachgewiesen, wie die natürliche Narrheit in den Krankheitsdiskurs mündet und damit mittelalterliche und frühneuzeitliche Vorstellungen verdeckt, die die natürlichen Narren als zu verlachende Objekte, als Wunder und Wunderzeichen und als Exempel sah.

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2.

Natürliche Narrheit

Die Narrenliteratur des 16. Jahrhunderts, zu der auch die Historien von Claus Narren gezählt werden, ist nicht denkbar ohne das Werk, mit dem sich am Ende des 15. Jahrhunderts der Narrenbegriff in der Literatur durchsetzte: das Narrenschiff von Sebastian Brant.1 Die Konzeption der Narren bei Brant erwies sich als grundlegend und insofern bietet es sich an, ausgehend vom Narrenschiff die natürliche Torheit in das Narrenspektrum einzuordnen. In Form einer Negativdidaxe kennzeichnet Brant all die menschlichen Verhaltensweisen als närrisch, die nicht darauf ausgerichtet sind, moß vnd zyl2 zu halten. In dem programmatisch ausgerichteten 75. Kapitel Von bosen schutzen, aus dem das gerade genannte Zitat stammt, können die Narren nicht ins Schwarze treffen, weil sie ihre Armbrust zG nyder3 oder zG hoch4 halten, bogen/ senw/ vnd nuß5 brechen oder andere Dinge tun, die verhindern, dass sie treffen.6 Das Ziel des Schützen lässt sich mit den geltenden Normen gleichsetzen. Brant beschreibt im 75. Kapitel vor allem die Mühe, die es bereitet, einen eng eingekreisten Zielpunkt zu treffen, oder, im übertragenen Sinne, eine Norm zu erfüllen. In den anderen Kapiteln des Narrenschiffes werden die hier nur abstrakt angedeuteten Normen mit Beispielen ausgemalt. Alle, die von den dort beschriebenen religiösen und ethischen Vorschriften abweichen, werden als Narren bezeichnet. Eine tolerierte Deviation gibt es dagegen nicht, d. h. ein Narr ist der, der die gesetzte Norm nicht erfüllt. Der Toleranzbereich, hier verstanden als »Verhaltensspielraum innerhalb

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Sebastian Brant: Das Narrenschiff. Nach der Erstausgabe (Basel 1494) mit den Zusätzen der Ausgaben von 1495 und 1499. Hg. von Manfred Lemmer. Tübingen 31962. Stellvertretend für die umfangreiche Forschungsliteratur nenne ich hier: Ulrich Gaier: Studien zu Sebastian Brants Narrenschiff. Tübingen 1966; Joachim Knape, Dieter Wuttke: Sebastian-Brant-Bibliographie. Forschungsliteratur von 1800 bis 1985. Tübingen 1990; Joachim Knape: Die Entstehung von Brants Narrenschiff in Basel 1494. In: JOWG (1992/93), S. 293–303; Könneker: Wesen und Wandlung der Narrenidee; Barbara Könneker: Satire im 16. Jahrhundert. Epoche – Werke – Wirkung. München 1991, S. 54–86; Jan-Dirk Müller: Literarischer Text und kultureller Text in der Frühen Neuzeit am Beispiel des Narrenschiffs von Sebastian Brant. In: Zwischen den Disziplinen? Perspektiven der Frühneuzeitforschung. Hg. von Helmut Puff, Christopher Wild. Göttingen 2003, S. 81–101. Zu Sebastian Brant vgl. Joachim Knape: Dichtung, Recht und Freiheit. Studien zu Leben und Werk Sebastian Brants 1457–1521. Baden-Baden 1992. Brant: Narrenschiff, 75, S. 194, Z. 58. Brant: Narrenschiff, 75, S. 194, Z. 47. Brant: Narrenschiff, 75, S. 194, Z. 47. Brant: Narrenschiff, 75, S. 193, Z. 13. Vgl. dazu Könneker: Satire im 16. Jahrhundert, S. 58f.

25 dessen die Verhaltensweisen mehr oder weniger normkonform, aber immer noch geduldet sind«,7 existiert de facto nicht. Nur als wyß man,8 als Mensch ohne Fehler und Verirrungen, vermag man zu bestehen. Am Ende der Vorrede wird bereits dargelegt, dass es den weisen Mann an sich nicht geben kann: Dar vmb mit flyß sich yedes sGch Fyndt es sich nit jn dysem bGch So mag es sprechen/ das es sy Der kappen vnd des kolben fry Meint yemant das jch jnn nit rFr Der gang zGn wysen fur die thFr Vnd lyd sich/ vnd sy gGter dyng Byß ich ein kapp von Franckfurt bryng9

So gesehen ließe sich der weise Mann als personifizierte Norm lesen, die als Maßstab dem menschlichen Handeln dienen soll. In ihrer Absolutheit steht diese Vorschrift für Gottes Handeln und ist somit nicht von der göttlichen Allmacht zu trennen. Die Weisheit selbst legt dar, dass sie eine göttliche Eigenschaft ist, demgegenüber das menschliche Handeln nur närrisch sein kann: Durch mich/ die kunig hant jr kron Durch mich/ all gsatz mit reht vff ston Durch mich/ die fürsten hant jr landt Durch mich/ all gw(lt jr rehtspruch h$d [...] Mich hat besessen gott der herre Von anbegynn jn ewikeyt Durch mich hatt got all ding bereit10

Die enge Orientierung an einer Norm und der nicht eingeräumte Toleranzbereich ist sicherlich auch abhängig von der juristischen Ausbildung Sebastian Brants zu sehen.11 Doch sind die Narren des Narrenschiffes keineswegs alle als kriminell einzustufen und als Verbrecher zu bestrafen. Vielmehr verdeutlicht Brant Gefahren im alltäglichen Leben, sich nicht an der Norm zu orientieren. Jegliche Abweichung wird mit Angst und Sorge gesehen – wie s=rglich sy der narren stat.12 Nur durch die Einsicht in die eigene Narrheit vermag man diesen Gefahren zu begegnen. Keines der 112 Kapitel des Narrenschiffes befasst sich explizit mit den natürlichen Narren. Um zu verstehen, weshalb sie im Kontext dieses wichtigen Werks

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Siegfried Lamnek: Theorien abweichenden Verhaltens. Eine Einführung für Soziologen, Psychologen, Pädagogen, Juristen, Politologen, Kommunikationswissenschaftler und Sozialarbeiter. München 1996, S. 24. Brant: Narrenschiff, 112, S. 314. Brant: Narrenschiff, S. 6, Z. 129–136. Brant: Narrenschiff, 22, S. 58, Z. 13–22. Vgl. Knape: Dichtung, Recht und Freiheit. Brant: Narrenschiff, S. 4, Z. 52.

26 der Narrenliteratur nicht erscheinen, bietet es sich an, auf den von Jürgen Link unternommenen Versuch über den Normalismus zurückzugreifen.13 Link baut auf der grundlegenden Unterscheidung von Normativität und Normalität auf. Unter Normativität werden »normative Normen im Sinne juridoanaloger, sanktionsbewehrter Vor-schriften für Handeln und Verhalten«14 gefasst, während unter Normalität der Raum verstanden wird, den der Toleranzbereich um eine Norm herum einnimmt und der sich durch sogenannte Normalitätsgrenzen umgeben sieht. ›Normalität‹ konstituiert sich nach Link aufgrund von systematischer Verdatung und der Anwendung von statistischen Werten – wie beispielsweise dem statistischen Durchschnitt – erst ab 1800. Es liegt auf der Hand, dass dem Juristen Brant Gaußkurve und statistische Durchschnittswerte unbekannt waren. Dennoch meine ich, dass sein Narrenschiff auch als ein Versuch gelesen werden kann, mit Hilfe des Narrenbegriffs ein Normalitätsfeld zu bestimmen, d. h. zwischen Norm und Normalität zu unterscheiden. Die Narren im Narrenschiff zeichnen sich dadurch aus, dass sie das rechte Maß nicht einhalten können. So erreicht kaum ein Pfeil des Schützen, um im Bild des 75. Kapitels zu bleiben, das Ziel, d. h. die Norm. Dabei sind die von Brant angeprangerten Verhaltensweisen, die das Treffen verhindern, nicht per se verwerflich. Brant verurteilt die menschlichen Handlungen jedoch bereits in dem Moment, in dem sie nicht mehr direkt in das Ziel führen. So können die Narren zu geizig sein, aber auch ihr Geld verprassen, sie können sich zu sehr und zu wenig sorgen.15 Der Verhaltensspielraum, der nicht in die Narrheit führt, ist sehr eingeengt. Kein Stand, kein Beruf, kein Geschlecht, kein Alter schützt vor der Narrheit. Selbst wenn die Worte des Menschen wyse vnd klGg16 sind, bewahrt es ihn nicht davor, mit seinen Händen den narren pflGg17 zu ziehen, d. h. selbst kluge Gedanken können durch Handlungen verdorben werden. Brant kennzeichnet daher alles, was nicht der Norm entspricht, als närrisch. Der Toleranzbereich um die Norm herum ist für ihn bereits das Herrschaftsgebiet der Narrheit. Das Normalitätsfeld dient Brant nicht als Legitimierung für tolerierbare Abweichungen, sondern als Warnung vor dem geringsten Normbruch. Die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts durchsetzende Vorstellung von der Normalität als einem in Grenzen akzeptablem devianten Verhalten entspricht nicht der im Narrenschiff geäußerten Bewertung einer solchen Handlung. Gerade das, was später als ›normal‹ beschrieben wird, beobachtet auch Brant, interpretiert es jedoch als besorgniserregend.

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Jürgen Link: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird. Opladen, Wiesbaden 21999. Ute Gerhard, Jürgen Link, Ernst Schulte-Holtey: Infografiken, Medien, Normalisierung – Einleitung. In: Infografiken, Medien, Normalisierung. Zur Kartografie politisch-sozialer Landschaften. Hg. von Ute Gerhard, Jürgen Link, Ernst Schulte-Holtey. Heidelberg 2001, S. 7–22, hier S. 7. Vgl. Brant: Narrenschiff, 3, S. 11, Z. 1–10; 24, S. 61, Z. 1–6; 12, S. 31, Z. 1–8. Brant: Narrenschiff, 8, S. 23, Z. 5. Brant: Narrenschiff, 8, S. 23, Z. 6.

27 Ein Narr ist jemand, der einen Fehler begeht, der von der Norm abweicht. Ihm ist es jedoch nicht verwehrt, sein Versehen zu bereuen. Im Narrenschiff wird immer wieder daran erinnert, dass man, um nicht weiter der Narrheit zu verfallen, sich einem Normativ annähern sollte. Diese Narren, die ich hier als ›normale‹ Narren bezeichnen möchte, gehören in ein Normalfeld hinein, denn ihr deviantes Verhalten überschreitet noch nicht die Normalitätsgrenzen und ist daher immer wieder neu an der Norm ausrichtbar. Neben dem ›normalen‹ närrischen Handeln, aus dem eine Rettung möglich ist, gibt es jedoch auch närrisches Verhalten, das ausweglos erscheint. Dieses kennzeichnet den Grenzbereich, der Normalität und Anomalität voneinander scheidet. Waldenfels beschreibt ihn als einen »(Nicht-) Ort«,18 der der Kontingenz, die mit jeder Ordnung einhergeht, geschuldet ist. Diese Schwelle von Normalität zu Anomalität wird im Narrenschiff von zwei besonderen Narrentypen markiert. Hierzu gehören zum einen die Narren des in seiner rhetorischen Form bereits abweichenden 98. Kapitels, die vslendigen narren,19 deren selbst die ander narren sich doch schammen.20 Zu ihnen zählen all die vom glouben sint gescheyden21 wie die Saracenen/ Türken/ Heiden22 und außerdem Selbstmörder, Kuppler und Prostituierte. Diese gesellschaftlichen Außenseiter verweisen auf Devianzen in kulturellen, religiösen oder sexuellen Normen. Sie sollen in ihrer Narrheit verharren, da sie unbelehrbar und nicht würdig der gesatz23 sind.24 Obwohl sie alle zu den Narren gezählt werden, ist ihnen jede Aussicht auf Rettung verwehrt. Zum anderen gibt es im Narrenschiff Hinweise auf eine zweite Art von Narren, die ähnlich wie die vslendigen narren so weit von der Norm abweichen, dass auch ihnen eine Annäherung an die Norm nicht möglich ist. Ihre Devianz erfährt nicht die negative Bewertung wie die der vslendigen narren. Im 82. Kapitel entwirft Sebastian Brant die Idylle eines vergangenen bäuerlichen Lebens, das durch Armut geprägt ist und sich nicht durch die Herrschaft des Geldes regieren lässt. Die dort Lebenden besitzen die buren eynfalt25 und bilden einen Bereich der positiv bewerteten Torheit, die aber ebenso wie die vslendige Narrheit keinen Anschluss an die ›normale‹ Narrheit gewinnen kann. Zwar bezeichnet Brant sie, die über die buren eynfalt26 verfügen, nicht als Narren, aber der Begriff der Einfalt steht bereits schon früh in enger Beziehung zur natürlichen Narrheit bzw. Torheit.27

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Bernhard Waldenfels: Grenzen der Normalisierung. Frankfurt 1998, S. 13. Brant: Narrenschiff, 98, S. 256. Brant: Narrenschiff, 98, S. 256. Vgl. dazu Gaier: Studien, S. 362. Brant: Narrenschiff, 98, S. 257, Z. 10. Brant: Narrenschiff, 98, S. 257, Z. 9. Brant: Narrenschiff, 98, S. 257, Z. 32. Vgl. dazu Könneker: Wesen und Wandlung der Narrenidee, S. 84f. Brant: Narrenschiff, 82, S. 212, Z. 1. Brant: Narrenschiff, 82, S. 212, Z. 1. Vgl. Trier: Wortschatz, S. 346f.

28 Die von Brant beschriebene eynfalt wird als erstrebenswert dargestellt. Er beklagt ihren Verlust, ohne die eynfalt jedoch näher zu beschreiben. Aus den Erläuterungen der einfaltigkeit aus dem Seelenparadies des bekannten Straßburger Predigers Johannes Geiler von Kaysersberg lässt sich eine genauere Differenzierung von Einfalt und Torheit ableiten.28 Erstere ist solange eine Tugend, solange sie mit fürsichtigkeit gepaart ist: Ir sollend sein fürsichtig als die schlangen/ und einfaltig als die tauben. Da bey hatt uns der herr zG verston geben/ das wir die zwo tugenden/ einfalt/ und fürsichtigkeit mFssen bey einander haben/ unnd das eine on die ander nit ein tugend/ sunder ein laster ist/ denn wo fürsichtikeit ist/ da sol ouch sein einfalt/ unnd bey der einfalt/ da mGß ouch sein fürsichtikeit/ wenn die fürsichtikeit on einfalt/ ist ein betrFglicheit/ oder listigkeit/ unnd einfalt on fürsichtigkeit ist ein torheyt29

Genau hier liegt der Hauptunterschied zwischen der natürlichen und der künstlichen Narrheit, denn, wie Geiler an anderer Stelle noch einmal ausführt, hieße die fürsichtikeit on einfalt/ [...] ein schalkheyt/ und die einfalt on fürsichtigkeyt wer ein torheit.30 Die Narrheit, die nur aus der Einfalt besteht, die ohne Einsicht – providentia – ist und die als torheyt bezeichnet wird, gilt jedoch nicht unbedingt als ein Laster. Geiler nennt als Beispiel für die wahre Einfalt die Kinder, doch ebenso gut könnten die natürlichen Narren, die an anderer Stelle häufig in einer Reihe mit Kindern stehen, hier aufgezählt werden.31 Ein sollicher einfaltiger mensch der nyemands sch(dlichen ist/ und yederman nützlichen/ oder dienstlichen/ der selbig ist gott und den leüten angeneme/ das m=gen wir mercken bey den kindern/ die hat allermenigklich lieb. Wie kommt das? Es ist davon wenn ein kind tGt nyemans keinen schaden/ es betreüget nyemans/ es ist nit listig/ geschrenckt/ noch manigfaltig/ aber schlecht und einfaltig/ tGt allen menschen gern was inen lieb ist.32

Die Unterschiede zwischen den verschiedenen Arten von Narrheit formuliert noch deutlicher das Vorwort von Geilers Predigten über das Narrenschiff.33 Hier

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Johannes Geiler von Kaysersberg: Seelenparadies. In: Sämtliche Werke. Erster Teil: Die deutschen Schriften. Erste Abteilung: Die zu Geilers Lebzeiten erschienenen Schriften. 3. Bd. Hg. von Gerhard Bauer. Berlin, New York 1995. Im Gegensatz zu den anderen Werken von Geiler ist die Herausgabe des Seelenparadies’ von ihm selbst betreut worden. Vgl. dazu Gerhard Bauer: Johannes Geiler von Kaysersberg. Ein Problemfall für Drucker, Herausgeber, Verleger, Wissenschaft und Wissenschaftsförderung. In: Daphnis 23 (1994), S. 559–589, hier S. 568. Zu Geiler von Kaysersberg: Klaus Manger: Literarisches Leben in Straßburg während der Prädikatur Johann Geilers von Kaysersberg (1478–1510). Heidelberg 1983. Geiler von Kaysersberg: Seelenparadies, S. 615, Z. 21–29. Geiler von Kaysersberg: Seelenparadies, S. 616, Z. 24f. Vgl. dazu den Kupferstich der Ständetreppe von Gerhard Altenbach aus dem 17. Jahrhundert, auf dem Narr und Kind außerhalb der ständischen Ordnung stehen. Der Spruch »Den Kindern klein Gleich ich allein« steht unter den Sockeln der kindlichen und der närrischen Figur. Geiler von Kaysersberg: Seelenparadies, S. 620, Z. 23-S. 621, Z. 2. Ich beziehe mich hier auf die Ausgabe von 1520, die von Johannes Pauli übersetzt wurde: Johannes Geiler von Kaysersberg: Keiserspergs Navicula sive speculum fatuorum. Naren-

29 differenziert Geiler zwischen der sündhaften und der sündelosen Narrheit bei der Frage, ob eim narren sünd sei sein narrheit.34 Seine Argumentation lehnt sich an Thomas von Aquin an und führt aus, dass die Narrheit aus zwei Gründen entstehen kann.35 Zum einen kumpt narheit her das ein mensch sein sinn brucht in zeitlichen dingen vnd geschefften,36 d. h. willentlich richtet der Mensch sein Interesse auf das irdische Heil und entspricht damit dem Bild des Brantschen Narren. Diese Narrheit wird zu der sündhaften gerechnet. Zum anderen rührt die Narrheit von natürlicher geschicklicheit37 her und Geiler erklärt weiter, dass in denen die nit sinnig seint/ die selbig narrheit [...] nit sünde38 sei. So werden hier die natürlich narren39 von den moralischen Narren getrennt und damit wird auch begründet, warum sie nicht im Narrenschiff zu finden sind. Ihre Narrheit ist explizit keine Sünde, ähnlich wie es mit Berufung auf Thomas von Aquin im bGch der tugenden zu Beginn des 14. Jahrhunderts im Hinblick auf die Frage, ob torheit súnde si,40 erläutert wird: Der mensche ist vnderwilen torecht von gebresten der nature, als tobige lúte sint, solich torheit ist nút súnde, wan enkein súnde kumet von nature, wan mit natúrlichen werken engedienet noch verlúret der mensche kein lon.41

Aus moraltheologischer Sicht wird zwischen verschiedenen Formen der Torheit unterschieden und dabei das Verhalten der natürlichen Narren als sündelos eingeschätzt. Diese Differenzierung entspricht damit dem Befund aus den Texten des Narrenschiffes: natürliche Narren sind per se aus dem Diskurs des richtigen Verhaltens ausgeschlossen, da sie den Raum das Anomalen ausfüllen. Zwei Gruppen bilden so die ›anomalen‹ Narren: zum einen die vslendigen narren, deren bewusste und damit sündhaften Verfehlungen so weit reichen, dass ihnen keine Umkehr, also keine Normannäherung, mehr möglich ist. Zum anderen sind es die natürlichen Narren, deren deviantes Verhalten zwar eine Annäherung an die Weisheitsnorm ebenso unwahrscheinlich macht, nicht aber negativ konnotiert wird, weil ihnen keine Einsicht möglich ist. Sie verkörpern damit eine extreme

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schiff, so er gepredigt hat zu strassburg in der hohen stifft [...]1498 [...]Vnd vss latin in tütsch bracht. Strassburg 1520. Zu den Fragen der Bearbeitung und Autorschaft vgl. Bauer: Johannes Geiler von Kaysersberg, S. 568ff. Geiler von Kaysersberg: Navicula, Bl. XIIIv. Vgl. Thomas von Aquin: De Stultitia. In: Annie Kraus: Der Begriff der Dummheit bei Thomas von Aquin und seine Spiegelung in Sprache und Kultur. Münster 1971, S. 138–149. Geiler von Kaysersberg: Navicula, Bl. XIIIIr. Geiler von Kaysersberg: Navicula, Bl. XIIIv. Geiler von Kaysersberg: Navicula, Bl. XIIIv. Geiler von Kaysersberg: Navicula, Bl. XIIIv. ›Das bGch der tugenden‹. Ein Compendium des 14. Jahrhunderts über Moral und Recht nach der ›Summa theologiae« II-II des Thomas von Aquin und anderen Werken der Scholastik und Kanonistik. Hg. von Klaus Berg, Monika Kasper. Tübingen 1984, S. 94, I. 3.14.2. Vgl. dazu Thomas von Aquin: De Stultitia, a. 2, S. 144: »... ex indispositione naturali, sicut patet in amentibus. Et talis stultitia non est peccatum«. ›Das bGch der tugenden‹, S. 94, I. 3.14.2.

30 Abweichung von der Norm und der Normalität und spiegeln diese gleichzeitig wider. Abweichungen, so lautet die Argumentation, setzen etwas voraus, von dem sie abweichen, sei es eine Zielbestimmung, eine normative Regelung oder einfach der funktionsgerechte Ablauf.42

Doch keinesfalls konstituiert sich mit den ›anomalen‹ Narren eine alternative Form der Normalität, denn Abweichung »vollzieht sich gleichzeitig als Selbstabweichung, da sie ein Doppelereignis darstellt, das sich selbst gegenüber verschoben ist.«43 Die anomalen Narren stellen die Grenzfelder dar, denn zur Konstitution der ›normalen‹ Narren bedarf es beider Extreme, also der ›anomalen‹ positiven und der ›anomalen‹ negativen Narren, die damit einen Kontrast zu den ›normalen‹ Narren darstellen und so, um an das zu Beginn erwähnte Schützenbild anzuknüpfen, einen Rahmen um das Feld mit dem Ziel bilden. Zwischen den ›normalen‹ und den ›anomalen‹ Narren sieht Michel Foucault in seiner Histoire de la folie nun genau im Narrenschiff eine Verbindung. Für Foucault sind nicht die Ausschließungsmechanismen entscheidend, sondern vielmehr die Reziprozität von ›Wahnsinn‹ – im Sinne des französischen Worts folie – und Vernunft. Die Diskrepanz in der Zuschreibung und im Umgang mit mentaler Devianz war wohl der Ausgangspunkt für Foucaults Überlegung in seiner Histoire de la folie, in dem ›Irren‹ jemanden zu sehen, »der dem täglichen Leben des Mittelalters und an dessen gesellschaftlichem Horizont gegenwärtig und vertraut war«.44 Im Mittelalter imaginiert Foucault eine »Ganzheit«,45 das heißt eine noch nicht vollzogene Trennung von Wahnsinn und Vernunft. Diese Vorstellung entspricht möglicherweise einer Sehnsucht nach einer idealen Gesellschaft und wird hier gleichzeitig mit einem romantisierenden Mittelalterbild und einem Fortschrittspessimismus verknüpft. Die Gemeinsamkeit von Foucault und Brant liege, so Ingrid Kasten, darin, dass beide die Sehnsucht nach einer »ursprünglichen ›Ganzheit‹«46 teilten. Doch während bei Brant die sich innerhalb eines Normalitätsfeldes befindenden Narren im Vordergrund stehen, bezieht Foucault mit seinem weitumfassenden Begriff des Wahnsinns außerdem auch diejenigen mit ein, die als anomal gelten, also außerhalb eines Normalitätsfeldes stehen. Diese ›anomalen‹ Narren sieht Foucault zwangsweise auf die Narrenschiffe verfrachtet und nennt als literarisches Beispiel das Brantsche Narrenschiff, weshalb sich hier fälschlicherweise eine Verbindung von Wahnsinn und Narrheit ergibt. Die natürliche Narrheit, die im Narrenschiff und anderen nachfolgenden Werken nicht in ihre Moraldidaxe einbezogen wird, besetzt ein Feld, bei dem im

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Waldenfels: Grenzen der Normalisierung, S. 14. Waldenfels: Grenzen der Normalisierung, S. 16. Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft, S. 11. Kasten: ›Narrheit‹ und ›Wahnsinn‹, S. 253. Vgl. auch Matejovski: Das Motiv des Wahnsinns, S. 273f. Kasten: ›Narrheit‹ und ›Wahnsinn‹, S. 253.

31 Folgenden zu untersuchen ist, welche Vorstellungen mit ihr verbunden sind und welche Funktionen ihr zugeschrieben werden. Ausgehend von der Zuordnung der natürlichen Narren zu den Wundern zum einen im naturphilosophischen Diskurs und zum anderen im höfischen Raum soll die natürliche Narrheit als eine institutionalisierte Form der Liminalität betrachtet und sollen die Interaktionen der Narren mit Hilfe des aus der Ethnologie stammenden Konzepts der joking relationship beschrieben werden.

2.1

Wunderbare Narrheit

Wenn Paracelsus in seiner Abhandlung De generatione stultorum die natürliche Narrheit nicht als Krankheit, sondern als ein mysterium47 ansieht, verweist er damit auf eine längere naturphilosophische Tradition, in der natürliche Toren als außergewöhnliche, also als anomale Erscheinungen behandelt werden und in der sie als Wunder gelten.48 Gleichwohl haben diese Wunder ebenso Teil an Gottes Schöpfung, wie es Augustinus ausführt: Qualis autem ratio redditur de monstrosis apud nos hominum partubus, talis de monstrosis quibusdam gentibus reddi potest. Deus enim creator est omnium, qui ubi et quando creari quid oporteat vel oportuerit, ipse novit, sciens universitatis pulchritudinem quarum partium vel similitudine vel diversitate contexat. Sed qui totum inspicere non potest, tamquam deformitate partis offenditur, quoniam cui congruat et quo referatur, ignorat.49

Die Vielfalt der Schöpfung und damit auch der menschlichen Gestalt, so Augustinus, könne in ihrer geordneten Ganzheit nicht vom Menschen überschaut werden. Nur vom Standpunkt des einzelnen Beobachters hänge es ab, ob etwas wunderbar erscheine oder nicht.50 Augustinus ging es in seinem Hauptwerk in erster Linie darum, das dualistische Gottesbild des gnostischen Manichäismus zurückzuweisen, die Gutheit der Schöpfung gegen dessen Einwände zu verteidigen und das Theodizeeproblem innerhalb der christlichen Schöpfungstheologie zu lösen.[...] Augustinus, dessen vornehmliches Ziel es war, die Teilung Gottes in den bösen Schöpfer – und den guten Erlösergott

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50

Paracelsus: De generatione stultorum, S. 74. Vgl. oben, S. 15. Zu Wundern vgl. Lorraine Daston, Katharine Park: Wunder und die Ordnung der Natur 1150–1750. Berlin 2002. Aurelius Augustinus: Der Gottesstaat. De civitate dei. Paderborn, München, Wien, Zürich 1979. XVI, 8, S. 116f.: »Derselbe Grund für solch monströse Mißgeburten bei uns Menschen rechtfertigt auch gewisse Abnormitäten bei ganzen Völkern. Gott ist nämlich der Schöpfer aller, er weiß, wo und wann etwas hervorgebracht werden sollte oder soll, und er allein kennt die Schönheit des Alls, dessen Teile in Ähnlichkeit und Verschiedenheit zum Ganzen verwoben sind. Wer aber die Gesamtheit nicht zu überblicken vermag, wird durch scheinbare Mißgestalt eines Teiles verletzt, bei dem er die Übereinstimmung vermißt, weil er sich seiner Beziehung zum Ganzen nicht bewußt wird.« Vgl. Daston, Park: Wunder und die Ordnung der Natur, S. 46.

32 zu widerlegen, versuchte daher im Falle der monströsen Völker dem Manichäismus eine seiner Argumentationsstützen zu entreißen, indem er dem Einzelnen die Urteilsfähigkeit über die Gesamtheit des ordo und damit die Festlegung der Kriterien für Schönheit und Häßlichkeit absprach.51

Statt das Wunderbare vom Gewöhnlichen, also das Anomale vom Normalen, abzugrenzen, ist es nach Augustinus vielmehr wesentlich, die Natur zu studieren, um Gottes Schöpfungswunder erkennen zu können. An diese Denktradition knüpfen auch noch die mittelalterlichen Enzyklopädien des 13. Jahrhunderts von Bartholomäus Anglicus, Vinzenz von Beauvais und Thomas von Cantimpré an.52 Das Werk des letzteren bildet wiederum die Grundlage für das sogenannte Buch der Natur von Konrad von Megenberg, das als eine der frühesten naturphilosophischen Darstellungen sich mit den naturleichen torn53 auseinandersetzt.

2.1.1 Natürliche Narren als ›wunder men_chen‹ im ›Buch der Natur‹ Das Buch der Natur bezeichnet Konrad von Megenberg selbst als pGch von den natFrleichen dingen.54 Der Titel verdeutlicht sein Anliegen, »von den Eigenschaften (weniger missverständlich: von den Proprietäten) der in der Schöpfung

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52 53 54

Marina Münkler, Werner Röcke: Der ordo-Gedanke und die Hermeneutik der Fremde im Mittelalter. Die Auseinandersetzung mit den monströsen Völkern des Erdrandes. In: Die Herausforderung durch das Fremde. Hg. von Herfried Münkler. Berlin 1998, S. 701–766, hier S. 733. Daston, Park: Wunder und die Ordnung der Natur, S. 49. Konrad von Megenberg: Das ›Buch der Natur‹, S. 524, Z. 21. Konrad von Megenberg: Das ›Buch der Natur‹, S. 281, Z. 2f. Vgl. Gerold Hayer: Konrad von Megenberg ›Das Buch der Natur‹. Untersuchungen zu seiner Text- und Überlieferungsgeschichte. Tübingen 1998, S. 1, Fußnote 1: »... am häufigsten, insgesamt 18mal, überliefern die Handschriften der Prologfassung den Titel buoch von den naturlichen dingen ...« Für die umfangreiche Forschungsliteratur zum Buch der Natur sei hier weiterhin genannt: Traude-Marie Nischik: Das volkssprachliche Naturbuch im späten Mittelalter. Sachkunde und Dinginterpretation bei Jacob van Maerlant und Konrad von Megenberg. Tübingen 1986; Walter Buckl: Megenberg aus zweiter Hand. Überlieferungsgeschichtliche Studien zur Redaktion B des Buchs von natürlichen Dingen. Hildesheim, Zürich, New York 1993; Manfred Günter Scholz: Quellenkritik und Sprachkompetenz im ›Buch der Natur‹ Konrads von Megenberg. In: Festschrift Walter Haug und Burghart Wachinger. Hg. von Johannes Janota. Bd. II. Tübingen 1992, S. 925–941; Helgard Ulmschneider: Ain puoch von latein ... daz hât albertus maisterleich gesamnet. Zu den Quellen von Konrads von Megenberg ›Buch der Natur‹ anhand neuerer Handschriftenfunde. In: ZfdA 121 (1992), S. 36–63; Helgard Ulmschneider: Ain puoch von latein. Nochmals zu den Quellen von Konrads von Megenberg ›Buch der Natur‹. In: ZfdA 123 (1994), S. 309–333; Herfried Vögel: Sekundäre Ordnungen des Wissens im Buch der Natur des Konrad von Megenberg. In: Enzyklopädien der Frühen Neuzeit. Beiträge zu ihrer Erforschung. Hg. von Wolfgang Harms, Franz M. Eybl, Hans-Henrik Krummacher, Werner Welzig. Tübingen 1995, S. 43–63; Georg Steer: Das ›Buch von den natürlichen Dingen‹ Konrads von Megenberg – ein ›Buch der Natur‹? In: Die Enzyklopädie im Wandel vom Hochmittelalter bis zur frühen Neuzeit. Hg. von Christel Meier. München 2002, S. 181–188.

33 vorfindlichen ›Dinge‹ (res)«55 zu schreiben. Dahingegen wurde der heutige Titel zwar auch in einigen Handschriften verwendet, setzte sich aber erst mit den sechs Inkunabeldrucken durch und erhielt durch die Pfeiffersche Ausgabe 1861 »kanonische Geltung«.56 Konrads in den Jahren 1348/1350 entstandenes Werk, das durchaus auch noch im 16. Jahrhundert bekannt war, benutzt in großen Teilen den Liber de natura rerum in der dritten, nicht mehr autorisierten Redaktion des Thomas von Cantimpré [Thomas III]. Gegenüber der Vorlage verändert Konrad nicht nur die Gliederung und die Abfolge einiger Kapitel, sondern erweitert und ergänzt auch aus anderen Quellen, die besonders im Hinblick auf die natürlichen Narren von Belang sind.57 Von ihnen ist im achten Teil des Buchs die Rede. Im Vergleich zu den sieben anderen Teilen des Buchs der Natur nimmt das achte Kapitel insofern eine Sonderrolle ein, als dass dieses _tFkel58 über keine äußerliche Gliederung verfügt, die in anderen Teilen beispielsweise alphabetisch oder bei der Beschreibung des Menschen a capite ad calcem erfolgt. Der achte Teil besteht aus drei Abschnitten, die sich wiederum noch weiter unterteilen lassen. Der erste Abschnitt umfasst eine Aufzählung von den wunderleichen prunnen,59 während der zweite, in diesem Zusammenhang der wichtigere, von den wunder men_chen60 und der dritte von den wunderleichen laüten61 berichtet. Konrads Klassifikation der wunder men_chen62 und der wunderleich l(vt63 basiert auf der prinzipiellen Unterscheidung der Wunder, die zwischen den miraculi und den mirabilia trennt. Im Gegensatz zu Augustin, der alle Wunder dem unmittelbaren Schöpfungswillen Gottes unterworfen sieht, werden Wunder von mittelalterlichen Theologen wie Thomas von Cantimpré, gestützt auf griechische und arabische Quellen, abhängig von der ihnen zugeschriebenen Ursache ihrer Entstehung unterschieden.64 So unterliegen die mirabilia der allgemeinen göttlichen Ordnung und werden nur dadurch wunderbar, weil sie, wie Thomas von Aquin schreibt, »praeter naturae ordinem«65 sind. D.h. sie gelten als außernatürlich,

55

56 57

58 59 60 61 62 63 64 65

Klaus Grubmüller: Natûre ist der ander got. Zur Bedeutung von natûre im Mittelalter. In: Natur und Kultur in der deutschen Literatur des Mittelalters. Colloqium Exeter 1997. Hg. von Alan Robertshaw, Gerhard Wolf. Tübingen 1999, S. 3–17, hier S. 4. Hayer: Konrad von Megenberg ›Das Buch der Natur‹, S. 30, Fußnote 101. Vgl. dazu Hayer: Konrad von Megenberg ›Das Buch der Natur‹, S. 8–31; Ulmschneider: Zu den Quellen von Konrads von Megenberg ›Buch der Natur‹; Ulmschneider: Nochmals zu den Quellen von Konrads von Megenberg ›Buch der Natur‹. Konrad von Megenberg: Das ›Buch der Natur‹, S. 519, Z. 3. Konrad von Megenberg: Das ›Buch der Natur‹, S. 519, Z. 2. Konrad von Megenberg: Das ›Buch der Natur‹, S. 522, Z. 20. Konrad von Megenberg: Das ›Buch der Natur‹, S. 525, Z. 9. Konrad von Megenberg: Das ›Buch der Natur‹, S. 522, Z. 20. Konrad von Megenberg: Das ›Buch der Natur‹, S. 525, Z. 10. Daston, Park: Wunder und die Ordnung der Natur, S. 57. Thomas von Aquin: Summa contra gentiles. In: Thomas von Aquin [S. Tommaso d'Aquino]: La Somma contro i Gentili. Bd. 2. Bologna 2001, III, 100, S. 384.

34 da es sich um Erscheinungen handelt, die »dennoch allein auf sekundäre Ursachen zurückgingen und nicht die Aufhebung der üblichen göttlichen Vorsehung verlangten.«66 Dagegen handelt es bei dem miraculum um »einen unmittelbaren Eingriff Gottes in die Natur als kurzfristig-punktuelle Außerkraftsetzung der Naturgesetze«.67 Zu den mirabilia gehören demnach alle wunderbaren Spezien, die als »ein dauerhafter und regelmäßiger (wenn auch seltener oder exotischer) Teil der physischen Welt«68 galten. Einzelwesen indessen, die zu den Wundern rechneten, waren eine »einzigartige, übernatürliche und schnell vergängliche Schöpfung [...], die unmittelbar vom Willen Gottes abhing.«69 Mit ihnen wurde leicht Unglück assoziiert. Dieser Trennung zwischen wunderbaren Spezien und monströsen Individuen folgt Konrad von Megenberg in seinem Abschnitt über die wunder men_chen70 und die wunderleich l(vt,71 obgleich er bei den monströsen Einzelwesen keinen göttlichen Eingriff vermutet, sondern auf die natürlichen Entstehungsursachen verweist. Analog zu dieser Unterscheidung zwischen wunderbaren Spezien und monströsen Individuen gliedert Konrad seine Ausführungen. So widmet er den zweiten Abschnitt des achten Teils seines Werks den monströsen Individuen – den wunder men_chen – 72 zu denen er auch die natürlichen Narren zählt. Dem folgt im dritten Abschnitt des achten Teils die Aufzählung der wunderleich l(vt,73 die zu den Wundervölkern gehören, und die den tradierten Erzählungen über die Erdrandbewohner verpflichtet ist. Der Megenberger selbst bezeichnet entsprechend zu der Unterscheidung von monströsen Individuen und Wundervölkern diese Erdrandbewohner fast durchgehend als wunderleich l(vt74 oder auch nur levt.75 Dabei werden die bereits aus der Antike stammenden paradoxographischen Vorstellungen zitiert, die im Mittelalter hauptsächlich durch die Werke von Plinius und Solinus rezipiert wurden.76 Die Wundervölker werden sowohl durch pathographische

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Daston, Park: Wunder und die Ordnung der Natur, S. 142. Münkler, Röcke: Der ordo-Gedanke und die Hermeneutik der Fremde, S. 729. Daston, Park: Wunder und die Ordnung der Natur, S. 57. Daston, Park: Wunder und die Ordnung der Natur, S. 57. Konrad von Megenberg: Das ›Buch der Natur‹, S. 522, Z. 20. Konrad von Megenberg: Das ›Buch der Natur‹, S. 525, Z. 10. Konrad von Megenberg: Das ›Buch der Natur‹, S. 522, Z. 20. Konrad von Megenberg: Das ›Buch der Natur‹, S. 525, Z. 10. Konrad von Megenberg: Das ›Buch der Natur‹, S. 525, Z. 10. Konrad von Megenberg: Das ›Buch der Natur‹, S. 525, Z. 25. Stellvertretend für die zahlreichen Publikationen zu den Monstren sei hier verwiesen auf: Rudolf Wittkower: Allegorie und der Wandel der Symbole in Antike und Renaissance. Köln 1984, S. 87–150; John Block Friedman: The monstrous races in medieval art and thought. Syracuse 2000; Werner Röcke: Erdrandbewohner und Wunderzeichen. Deutungsmuster von Alterität in der Literatur des Mittelalters. In: Der fremdgewordene Text. Hg. von Silvia Bovenschen, Winfried Frey, Stephan Fuchs, Walter Raitz. Berlin, New York 1997, S. 265–284; Münkler, Röcke: Der ordo-Gedanke und die Hermeneutik der Fremde; Marina Münkler: Erfahrung des Fremden. Die Beschreibung Ostasiens in den Augenzeugenberichten des 13.

35 als auch ethnographische Merkmale voneinander abgegrenzt.77 So wird hier das klassische Repertoire der physisch veränderten Körper aufgezählt, wozu die hundeköpfigen Kynokephaloi, die kleinwüchsigen Pygmäen und die einäugigen Zyklopen und andere mehr gehören.78 Desgleichen können sich die Wundervölker in ihrem sozialen Zusammenleben unterscheiden, da sie beispielsweise di vater vnd mGter t=tent in dem alter vnd beraitent ir flei_ch zG ainer wirt_chaft vnd ezzent daz mit irn frevnden vnd achtend daz fur ain heiligs gutz werk.79 Als Quelle für die Darstellung der monströsen Völker nennt Konrad von Megenberg ein puch ze latein,80 an dem er bemängelt, dass es von den wunder men_chen81 nur an all ordenung82 erzählen würde, obwohl er dem vntz an daz end83 folgen wolle. Auch schon am Ende des ersten Abschnitt des achten Buchs, das die wunderleichen prunnen84 beschreibt, hat der Megenberger ein Ressentiment gegenüber seiner lateinischen Vorlage erkennen und wissen lassen, er habe nur der Freundschaft zuliebe diesen Abschnitt hineingenommen: Nu vant ich ain pGch ze latein der _elben lai, daz hat noch ains _tuks mer, daz _agt von den wunder men_chen. Daz wil ich in freunt_chaft auch her zG _etzen, wann zwar, ich g#b gern, het ich icht.85

Das puch ze latein86 ist identifiziert worden mit einer Vorform der dritten Redaktion des Textes von Thomas von Cantimpré, dem sogenannten Thomas III [a].87 In ihm findet sich im Gegensatz zu der späteren Ausgabe das auch in der ersten und zweiten Redaktion enthaltene Kapitel De monstruosis hominibus. Die Aufzählungen der monströsen Völker im dritten Abschnitt von den wunderleichen laüten88 basieren auf den entsprechenden Kapiteln in Thomas III [a].89 Es wird daher angenommen, dass Konrad von Megenberg mit zwei verschiedenen Ausgaben gearbeitet hat, nämlich mit Thomas III und Thomas III [a].

77 78 79 80 81 82 83 84 85 86 87 88 89

und 14. Jahrhunderts. Berlin 2000, S. 214ff.; Daston, Park: Wunder und die Ordnung der Natur, S. 205–252. Vgl. Münkler, Röcke: Der ordo-Gedanke und die Hermeneutik der Fremde, S. 726. Konrad von Megenberg: Das ›Buch der Natur‹, S. 525–528. Konrad von Megenberg: Das ›Buch der Natur‹, S. 525, Z. 13–15. Konrad von Megenberg: Das ›Buch der Natur‹, S. 525, Z. 7. Konrad von Megenberg: Das ›Buch der Natur‹, S. 525, Z. 5f. Konrad von Megenberg: Das ›Buch der Natur‹, S. 525, Z. 7f. Konrad von Megenberg: Das ›Buch der Natur‹, S. 525, Z. 8. Konrad von Megenberg: Das ›Buch der Natur‹, S. 519, Z. 2. Konrad von Megenberg: Das ›Buch der Natur‹, S. 522, Z. 17–19. Konrad von Megenberg: Das ›Buch der Natur‹, S. 525, Z. 7. Vgl. Ulmschneider: Zu den Quellen von Konrads von Megenberg ›Buch der Natur‹, S. 55. Konrad von Megenberg: Das ›Buch der Natur‹, S. 525, Z. 9. Vgl. Ulmschneider: Zu den Quellen von Konrads von Megenberg ›Buch der Natur‹, S. 44.

36 Dagegen ist für den zweiten Abschnitt über die wunder men_chen,90 in dem Konrad sich den monströsen Individuen widmet, bisher keine Quelle nachgewiesen worden. Es ist davon auszugehen, dass dieser Abschnitt ohne Benutzung einer Vorlage entstand. Konrad verweist zwar auf eine Vorlage bei seiner Darlegung, die mit der Frage beginnt, ob auch die wunder men_chen91 von Adam abstammten, stellt sich aber selbstbewusst der lateinischen Quelle entgegen: zG der frag wil ich anders antwurten, wann daz pGch ze latein antwFrt.92 Die in dem lateinischen pGch93 dargelegte Auffassung, die wunder men_chen94 stammten nicht von Adam ab bzw. nur aus den wider naturleichen werchen der men_chen, di _ich vermi_chent zG dem viech,95 versucht er zu widerlegen und entwickelt eine eigene Klassifikation und Ätiologie der Wundermenschen. Diese Überlegungen werden eingeleitet mit der Aussage: nu _prich ich Megenbergar, dazz di wunder men_chen zwaierlay _int.96 Konrad von Megenberg gebraucht seinen eigenen Namen nur dann, wenn »er sich selbst auf diesem Gebiete ausreichend kompetent einschätzte oder hier als fachliche Autorität anerkannt wurde«.97 Daher erhält seine eigene Erklärung sehr viel mehr Gewicht, und seine wiederholt geäußerte Kritik bezieht sich offensichtlich nur auf die im zweiten Unterabschnitt vorhandene Auflistung der Wundervölker, nicht aber auf die von ihm selbst entwickelte Darstellung der monströsen Individuen. Die letzteren unterteilt der Megenberger in zwei verschiedene Arten: etleich _int gesellt vnd etleich nicht.98 Die Ursache des Andersseins der beseelten und unbeseelten monströsen Individuen begründet Konrad zunächst sehr pauschal, denn sie ch=ment paidev von Adam vnd von _einn _Fnden, wann ich glaub daz: Het der er_t men_ch nicht ge_Fntt, all men_chen waren an geprechen geporen.99 Diese Erklärung hält ihn dennoch nicht davon ab, weitere Gründe ihrer Andersartigkeit zu benennen, wenn er sich den einzelnen Gruppen zuwendet. Im Hinblick auf die natürlichen Narren nun sind die geselten wunder men_chen100 von Interesse. Zu ihnen rechnet Konrad die, di ain men_chleich _el habent

90 91 92 93 94 95 96 97

98 99 100

Konrad von Megenberg: Das ›Buch der Natur‹, S. 522, Z. 20. Konrad von Megenberg: Das ›Buch der Natur‹, S. 522, Z. 20. Konrad von Megenberg: Das ›Buch der Natur‹, S. 522, Z. 23. Konrad von Megenberg: Das ›Buch der Natur‹, S. 522, Z. 23. Konrad von Megenberg: Das ›Buch der Natur‹, S. 522, Z. 24. Konrad von Megenberg: Das ›Buch der Natur‹, S. 522, Z. 25f. Konrad von Megenberg: Das ›Buch der Natur‹, S. 523, Z. 1. Hayer: Konrad von Megenberg ›Das Buch der Natur‹, S. 29. Neben den Wundermenschen hat sich Konrad nur in den Abschnitten zu den Bäumen (S. 391, Z. 19f), Kräutern (S. 420, Z. 16; S. 447, Z. 24f.; S. 453, Z. 23) und Edelsteinen (S. 463, Z. 24; S. 465, Z. 26) in dieser Art geäußert. Vgl. dazu auch Scholz: Quellenkritik und Sprachkompetenz im ›Buch der Natur‹ Konrads von Megenberg, S. 926. Konrad von Megenberg: Das ›Buch der Natur‹, S. 523, Z. 2. Konrad von Megenberg: Das ›Buch der Natur‹, S. 523, Z. 7–9. Konrad von Megenberg: Das ›Buch der Natur‹, S. 523, Z. 2.

37 vnd di doch geprechen habent.101 Zu betonen ist, dass geprechen102 hier nicht auf eine Krankheit verweist, sondern auf Mangel und Not.103 Nach Art ihres Mangels trennt der Megenberger diese Menschen noch einmal in diejenigen, die geprechen an dem leib104 und in die, die geprechen [...] an der _el werk105 haben. Die hier beschriebenen physischen Veränderungen umfassen sowohl das Fehlen eines Körperteils oder ein Übermaß an Körperteilen. Denn die wunder men_chen106 haben entweder ir glider nicht gantz107 oder aber sie haben mer [...] dann _i schGllen haben.108 Die Gründe für die Geburt eines monströsen Individuums führt der Megenberger auf natürliche Ursachen zurück. Dabei wird das Augenmerk vor allem auf den Zeugungsakt und die Schwangerschaft gelegt, denn dessen unvollständiger Vollzug bzw. andere störende Einflüsse wie Blicke auf hässliche Objekte oder der Einfluss der Sterne führten zu einem physisch veränderten Körper. So wird die Entstehung von siamesischen Zwillingen mit einem unvollständig geteilten Samen erklärt und bei zu großen oder zu kleinen Menschen, bei fehlenden Gliedmaßen oder bei Zweigeschlechtlichkeit die Ursache in der Kraft des Samens gesucht, die zu groß oder ze cranck109 sein kann. Bei der zweiten Gruppe der geselten wunder men_chen,110 die geprechen habent an der _el werken,111 werden die Ursachen nicht in dem Maße ergründet wie bei den physisch differenten wunder men_chen.112 Die psychische Devianz besteht bei der zweiten Gruppe entweder seit der Geburt oder es rührt aus der gewonhait113 her. Bei den letztgenannten wunder men_chen,114 die geprechen habent von gewonhait,115 wird die Ursache ihres Andersseins in ihrer Umgebung gesucht. Nicht die im Menschen angelegten Kräfte, also seine Natur, ist gestört, sondern die ihn umgebende Umwelt ist stärker und vermag, das Wesen des Menschen zu verändern:116

101 102 103 104 105 106 107 108 109 110 111 112 113 114 115 116

Konrad von Megenberg: Das ›Buch der Natur‹, S. 523, Z. 3. Konrad von Megenberg: Das ›Buch der Natur‹, S. 523, Z. 3. Vgl. dazu das Lemma gebrëchen in Matthias Lexer: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. Bd. I. Stuttgart 1992, Sp. 760. Konrad von Megenberg: Das ›Buch der Natur‹, S. 523, Z. 6f. Konrad von Megenberg: Das ›Buch der Natur‹, S. 523, Z. 7. Konrad von Megenberg: Das ›Buch der Natur‹, S. 523, Z. 2. Konrad von Megenberg: Das ›Buch der Natur‹, S. 523, Z. 10f. Konrad von Megenberg: Das ›Buch der Natur‹, S. 523, Z. 11. Konrad von Megenberg: Das ›Buch der Natur‹, S. 523, Z. 25. Konrad von Megenberg: Das ›Buch der Natur‹, S. 524, Z. 19. Konrad von Megenberg: Das ›Buch der Natur‹, S. 524, Z. 19f. Konrad von Megenberg: Das ›Buch der Natur‹, S. 523, Z. 2. Konrad von Megenberg: Das ›Buch der Natur‹, S. 524, Z. 20f. Konrad von Megenberg: Das ›Buch der Natur‹, S. 524, Z. 19. Konrad von Megenberg: Das ›Buch der Natur‹, S. 524, Z. 26. Vgl. zu der Frage, ob Natur oder Gewohnheit mächtiger sei: Konrad von Megenberg: Das ›Buch der Natur‹, S. 52, Z. 13–24: »Jdoch gewonhait verandert vil der natur an dem men_chen zN gGtem oder zN p=_em [...] Dar vmb i_t der _pruch war, der da _pricht: Diu gewonhait i_t ain wech_lerinn der natFr«. Vgl. auch Albrecht von Scharfenberg: Albrechts

38 Die aber den geprechen habent von gewonhait, daz _int di in den wælden erzogen werdent, verr von den vernuftigen l(uten, vnd lebent _am daz vih.117

Die naturleichen torn118 dagegen sind nicht durch Deprivation verändert. Sie sind diejenigen der geselten wunder men_chen,119 die ir cell der _el chreft niht recht ge_chicht in dem haubt120 haben und das, wie schon erwähnt, von gepurt121 an.122 Die Andersartigkeit der natürlichen Narren besteht aus einer abweichenden Gehirnstruktur und einer daraus resultierenden Störung der Geisteskräfte. Greift man auf die zu Beginn des Buchs der Natur gegebenen Erklärungen über den Aufbau der hirn_chal123 zurück, so lassen sich auch die cell,124 oder die ch(merlein125 weiter spezifizieren. Das Gehirn besteht demnach aus drei Kammern, in denen sich jeweils ein innerer Sinn, als _el chraft126 bezeichnet, befindet: Daz ain vorn in dem h(upt, vnd in dem i_t der _el chraft, die da haizzt fanta_tica oder ymaginaria. Daz i_t als vil ge_prochen _am dev pilderinne darvmb, daz _ie aller bekantleicher ding pild vnd geleichnizz in _ich _amnet. Daz ander ch(merlein i_t ze mittel_t in dem haupt, vnd in dem i_t der _el chraft, die da haizzt intellectualis, daz i_t vernunft. Daz dritt ch(merlein i_t ze hinder_t in dem h(upt, vnd in dem i_t der _el chraft, di da haizzt memorialis, daz i_t ged(chtnFzz. Die drei chreft der _el behaltend den _chatz aller bekantnüzz.127

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Jüngerer Titurel. Bd. III/1 (Strophe 4395–5417). Hg. von Kurt Nyholm. Berlin 1985, 5403: »... gewonheit ist noch richer dann nature, daz merkent die gehoften baz dann von rehter art ein viltz gebure«. Weitere Beispiele im DWb 6, Sp. 6581–6583. Konrad von Megenberg: Das ›Buch der Natur‹, S. 524, Z. 26f. Konrad von Megenberg: Das ›Buch der Natur‹, S. 524, Z. 21. Konrad von Megenberg: Das ›Buch der Natur‹, S. 524, Z. 19. Konrad von Megenberg: Das ›Buch der Natur‹, S. 524, Z. 22f. Konrad von Megenberg: Das ›Buch der Natur‹, S. 524, Z. 20. Vgl. dagegen Angelika Groß: ›La folie‹. Wahnsinn und Narrheit im spätmittelalterlichen Text und Bild. Heidelberg 1990, die den Text m.E. falsch liest, wenn sie die natürlichen Narren zu den physisch veränderten Menschen zählt, S. 86: »Die Wundermenschen, die ihre Gebrechen von Geburt hätten, also diejenigen mit körperlichen Gebrechen, bezeichnet er als die natürleichen tôren, die ze latein muriones haizent«. Konrad von Megenberg: Das ›Buch der Natur‹, S. 28, Z. 5. Konrad von Megenberg: Das ›Buch der Natur‹, S. 524, Z. 22f. Konrad von Megenberg: Das ›Buch der Natur‹, S. 28, Z. 15. Konrad von Megenberg: Das ›Buch der Natur‹, S. 28, Z. 16. Konrad von Megenberg: Das ›Buch der Natur‹, S. 28, Z. 15–23. Diese Vorstellung findet sich bereits bei Alexander Neckham, der wiederum auf Aristoteles und die Scholastik zurückgriff. Vgl. dazu Raymond Klibansky, Erwin Panofsky, Fritz Saxl: Saturn und Melancholie. Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst. Frankfurt 1992, S. 127: »In Übereinstimmung mit einer in der scholastischen Psychologie weit verbreiteten Anschauung erklärte Neckham, die menschliche Geistestätigkeit vollziehe sich in drei gesonderten Funktionen, die jeweils an eine bestimmte Stelle des Gehirns gebunden seien: 1.) die Kraft der anschaulichen Vorstellung (›vis imaginativa‹), die in der warmtrockenen Gehirnkammer des Vorderhirns angesiedelt ist und meist als ›cellula phantastica‹ bezeichnet wird; 2.) das Denkvermögen (›vis rationalis‹ oder ›cognitiva‹), das seinen Sitz

39 Die fantastica128 der ersten Kammer ist dazu da, die sich aus den fünf Sinnen zusammensetzenden pild vnd diu geleichnFzz aller bekantleicher ding129 zusammenzubauen und sie an die zweite Kammer – die Vernunft – zu verweisen. Diese bewertet die erhaltenen Bilder: sie aht vnd _chatzt diu dinch der vorenphangen ebenpild, reht als ain witzigev frawe.130 Der Vergleich von Vernunft und kluger Ehefrau betont nicht nur die übergeordnete Wertung jener Seelenkraft, er umfasst zudem auch die Tätigkeit des Verstandes, der die in Bilder erfahrene Umwelt in geordnete Bahnen zu bringen und sie zu kommentieren sucht. Das Gedächtnis in der dritten Kammer dient als eine _chlFzzeltragerin,131 das heißt es bewahrt die zuvor erhaltenen und geordneten Bilder. Im Sinne der im Buch der Natur ausgebreiteten Logik gibt es eine kausale Beziehung zwischen dem Äußeren und Inneren. Die andersartige Hirnstruktur ist daher auch an der Kopfform bei den natürlichen Narren ablesbar.132 Daz prFft man dar an, daz _i [die natürlichen Narren, RvB] vnge_chicktev haubt habent, aintweder ze groz oder ze clain.133

Doch nicht nur an der äußerlich abweichenden Kopfform, sondern auch an ihren Handlungen sind die natürlichen Narren zu erkennen, denn sie wGrkent nicht nach den werchen men_chleicher _el vnd habent doch men_chen _el _am di chint.134 Die Bedeutung des Wortes Seele erschließt sich hier, wie auch in den oben bereits genannten Textstellen, vor allem über die Seelenkräfte, bei der die Vernunft bestimmend wirkt, wenngleich sie bei den naturleichen torn135 eben nur wie bei Kindern ausgeprägt ist. Eine differenzierte Beschreibung der gestörten cell der _el chreft,136 die die ausgebreiteten Kenntnisse aus der Anatomie des Gehirns überträgt, findet sich

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in der warm-feuchten ›cellula logistica‹ im Mittelhirn hat; und 3.) das Gedächtnis, das in der kalt-trockenen Kammer des Hinterkopfs lokalisiert ist.« Konrad von Megenberg: Das ›Buch der Natur‹, S. 28, Z. 16. Konrad von Megenberg: Das ›Buch der Natur‹, S. 28, Z. 24f. Konrad von Megenberg: Das ›Buch der Natur‹, S. 28, Z. 28f. Konrad von Megenberg: Das ›Buch der Natur‹, S. 29, Z. 3. Konrad von Megenberg verweist auf weitere auffällige Merkmale des Kopfes, die er als Zeichen der Narren ansieht. Der Abschnitt »von den zaichen der naturleichen _iten« (S. 65, Z. 23 – S. 79, Z. 10) hat als Inhalt und Quelle, »wie dez men_chen ge_talt vnd _einer glider _chickung vns bezaichent _ein natFrleich _iten, vnd die ler wil ich _etzen als _ie Ra_is hat ge_etzet in _einr artztey« (S. 65, Z. 26–28). Vgl. zu den Narren vor allem den Abschnitt »Von des men_chen antlFtz« (S. 70, Z. 7–16). Zu dem zugrundeliegenden Liber Almamsoris von Rasis vgl. Groß: ›La folie‹, S. 83. In der Physiognomielehre finden sich weitere Hinweise auf die Narren durch die Art der Augen: S. 67, Z. 5f: »Welhes augen herfFr bev__ent aus dem haupt, der i_t vnschamich vnd chleffi_ch vnd ein tor«. Bei den Nasenlöchern: S. 69, Z. 11f: »Wer niden an der na_en langew na_l=cher hat vnd dFnnew, der i_t gach vnd ein tor ...« Bei der Stirn: S. 69, Z. 18: »Wer ein clain _tirn hat, der i_t ein tor ...« Konrad von Megenberg: Das ›Buch der Natur‹, S. 524, Z. 23f. Konrad von Megenberg: Das ›Buch der Natur‹, S. 524, Z. 24f. Konrad von Megenberg: Das ›Buch der Natur‹, S. 524, Z. 21. Konrad von Megenberg: Das ›Buch der Natur‹, S. 524, Z. 22.

40 in dem pGch von den natFrleichen dingen jedoch nicht. Die mentale Differenz der natürlichen Narren erklärt sich lediglich aus einer seit Geburt bestehenden andersartigen Hirnstruktur, die nicht als Krankheit zu verstehen ist. Ihre Devianz ist vielmehr als eine einzigartige außergewöhnliche Erscheinung zu sehen und rechtfertigt damit ihre Aufnahme in den Abschnitt über die wunder men_chen.137 Wunder und damit auch die bei Konrad von Megenberg in den Wunderdiskurs aufgenommenen natürlichen Narren werden im Laufe des Mittelalters in den philosophischen Schriften eher marginalisiert. So blieb bezeichnenderweise auch das Aristoteles fälschlich zugeschriebene Werk De mirabilibus auscultationibus als einziges unkommentiert.138 Der Grund ist darin zu suchen, dass Wunder eben nicht auf einer regelhaften Ordnung aufbauen, sondern etwas Ungewöhnliches, einen Regelbruch, repräsentieren, der teilweise auf einen göttlichen Einfluss zurückgeführt wurde. Das entsprach jedoch nicht der Sicht der scholastischen Naturphilosophie, die, wenn sie sich überhaupt mit Wundern beschäftigte, nur deren natürliche Ursachen betonte.139

2.1.2 Paracelsus’ ›De generatione stultorum‹ Erst im 16. Jahrhundert widmete man sich wieder ausführlich den Wundern. Im Mittelpunkt des Interesses standen sowohl die monströsen Individuen als auch die Wundervölker, wie sie beispielsweise in Ambroise Parés’ Werk De monstres et prodiges beschrieben werden.140 Im Gegensatz zu den naturphilosophischen Schriften des Mittelalters lag der Schwerpunkt im 16. Jahrhundert »eher auf Vielfalt als auf Gleichförmigkeit, eher auf der Durchbrechung klassifikatorischer Grenzen als auf taxonomischer Strenge«.141 Akademische Gelehrte, besonders Ärzte, die Daston und Park als die »Philosophen des Außernatürlichen«142 bezeichnen, war es ein Anliegen, einzelne Wunder, seien es ›Spezien‹ oder seien es ›Individuen‹, genauer zu erforschen und sie damit wieder in den Vordergrund zu stellen. Sie griffen dabei auf bereits vorhandene Modelle zurück wie

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Konrad von Megenberg: Das ›Buch der Natur‹, S. 522, Z. 20. Daston, Park: Wunder und die Ordnung der Natur, S. 135. Vgl. Bert Hansen: Nicole Oresme and the marvels of nature. A study of his De causis mirabilium with critical edition, translation, and commentary. Toronto 1985, S. 64. Ambroise Paré: Des monstres et prodiges. Hg. von Jean Céard. Genf 1971. Vgl. dazu Werner Röcke: Zeitenwende und apokalyptische Ängste in der Literatur des Spätmittelalters. In: Zeitschrift für Germanistik N. F. 10 (2000), S. 11–29; Josef H. Neumann: Der mißgebildete Mensch. Gesellschaftliche Verhaltensweisen und moralische Bewertungen von der Antike bis zur frühen Neuzeit. In: Der falsche Körper. Beiträge zu einer Geschichte der Monstrositäten. Hg. von Michael Hagner. Göttingen 1995, S. 21–44. Zur Verbindung von Konrad von Megenberg und Ambroise Paré: Claude Lecouteux: Konrad von Megenberg: Von den Wundermenschen. In: Etudes Germaniques 37 (1982), S. 290–304. Daston, Park: Wunder und die Ordnung der Natur, S. 187. Daston, Park: Wunder und die Ordnung der Natur, S. 188.

41 ›Geister‹ (in der Form feiner Dämpfe, sowohl innerhalb als auch außerhalb des menschlichen Körpers); okkulte Eigenschaften; Sympathien und Antipathien; sowie die Macht, die äußere Welt zu formen, die dem menschlichen Verstand, himmlischen Intelligenzen und besonders der menschlichen Einbildungskraft zugeschrieben wurde.143

Auch der eigenwillige Paracelsus kann in gewisser Weise zu den ›Philosophen des Außernatürlichen‹ gerechnet werden, da er ebenfalls bestrebt war, außergewöhnliche Naturerscheinungen zu erklären.144 Insbesondere gehört seine Philosophia de divinis operibus et factis, et de secretis naturae dazu.145 Zusammen mit der Philosophia pars altera de vita beata sollte es die Philosophia magna bilden.146 In der Philosophia de divinis operibus et factis, et de secretis naturae ist seine wenig beachtete Schrift De generatione stultorum enthalten, die sich mit den natürlichen Narren beschäftigt.147 Sudhoff nimmt an, dass der Traktat De generatione stultorum in der Zeit zwischen 1529 und 1532 entstand.148 Gedruckt wurden stark veränderte Auszüge aus dem ersten Teil der Philosophia magna 1567 durch Balthasar Flöter und später dann in der Huserschen Ausgabe von 1590. Der Rekurs auf den Wunderdiskurs erfolgt in De generatione stultorum gleich mit dem ersten Satz: Sich ist groß zu verwundern, dieweil und got den menschen so hoch und teur erlöst hat mit seim tot und blutvergießen, den selbigen leßt zu einem unweisen menschen geboren werden, der sein namen, sein tot, sein ler, sein zeichen, seine werk, sein guttat gegen menschen beschehen, nit kan erkennen, noch verstehn, ist aller vernunft, weisheit, so darzu gehört, beraubt, darzu auch dieweil der mensch ein bildung gottes ist, sol also mit einem narren, toren, einfeltigen, unwissenden menschen behaft sein

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Daston, Park: Wunder und die Ordnung der Natur, S. 189. Zu Paracelsus vgl. Walter Pagel: Paracelsus. An introduction to philosophical medicine in the era of the Renaissance. Basel, München, Paris, London, New York, Tokyo, Sydney 21982; Kurt Goldammer: Paracelsus in neuen Horizonten. Gesammelte Aufsätze. Wien 1986; Kilian Blümlein: Naturerfahrung und Welterkenntnis. Die Beiträge des Paracelsus zur Entwicklung des neuzeitlichen naturwissenschaftlichen Denkens. Frankfurt, Bern, New York, Paris 1992. Paracelsus: Philosophia de divinis operibus et factis, et de secretis naturae. In: Paracelsus (Theophrast von Hohenheim, gen. Paracelsus): Sämtliche Werke. Hg. von Karl Sudhoff. 1. Abteilung: Medizinische, naturwissenschaftliche und philosophische Schriften. 14. Bd.: Das Volumen primum der Philosophia magna. Spuria: Unechte, von Johannes Huser größtenteils für echt gehaltene Schriften unter Hohenheims Namen. München, Berlin 1933, S. 1–375. Vgl. Heinz Schott: Magie – Glaube – Aberglaube. Zur ›Philosophia magna‹ des Paracelsus. In: Paracelsus und seine internationale Rezeption in der frühen Neuzeit. Beiträge zur Geschichte des Paracelismus. Hg. von Heinz Schott, Ilana Zinguer. Leiden, Boston, Köln 1998, S. 24–35, hier S. 24f. Vgl. Schmitz: Das Hofnarrenwesen, S. 61ff. Vgl. Karl Sudhoff: Vorwort. In: Paracelsus (Theophrast von Hohenheim, gen. Paracelsus): Sämtliche Werke von Paracelsus. Hg. von Karl Sudhoff. 1. Abteilung: Medizinische, naturwissenschaftliche und philosophische Schriften. 14. Bd.: Das Volumen primum der Philosophia magna. Spuria: Unechte, von Johannes Huser größtenteils für echt gehaltene Schriften unter Hohenheims Namen. München, Berlin 1933, S. V-XXXV, hier S. XI.

42 und erscheinen, so doch der mensch die edleste creatur ist uber all, sol also vor allen creaturen gleich als schantlich stên, so doch auch alle creaturen gefreiet sind und kein narren under inen haben, alein der mensch: nun aber der ursach seind vil ...149

Die hier im Mittelpunkt stehenden natürlichen Narren werden als Wunder perzipiert, also als eine außerhalb der Ordnungen liegende Erscheinung, die näher zu erklären ist, denn so muß es ein groß mysterium han, das verborgen ist in der natur.150 Ähnlich wie Konrad von Megenberg sieht Paracelsus den Grund der Devianz der natürlichen Narren im Sündenfall begründet, denn durch die Vertreibung aus dem Paradies sei die Gottesebenbildlichkeit des Menschen zerbrochen. aber do sie [die Menschen, RvB] heraus kamen in die welt, do war nichts als alein greinen und zannen, und was er hett und warzu er beschaffen war, das ward im genomen und entsezt der volkomenen biltnis gottes; do nam sich der ursprung der mördern, der kriegern, der dieben. dan sie wurden zerbrechlich in aller irer frombkeit, redlikeit, keuscheit, zuchten und geschlachtnus. do warden hurer, do warden spiler, do warden reuber, do warden krumb kinder, do blint, do ghörlos, do stummen, do lamen, do sich fürchten, do narren, do monstren, do mißgewechs und der gleichen, die also für und für bis ins end der welt nicht zergênt.151

Im Weiteren wendet sich Paracelsus genauer der Frage zu, wie die Narren entstehen. Hier trennt er den menschlichen Körper zwischen dem recht leib,152 der als Ebenbild Gottes ohne Fehler ist, und dem vihisch leib,153 der aufgrund der Vertreibung aus dem Paradies missraten sein kann.154 Auch bei den Narren ist der ›viehische Leib‹ verdorben. Dieser wird, wie bei allen Menschen, von den vulcani hergestellt, die die in der Natur wirkende Kraft symbolisieren.155 dan nicht das genug sei, das wir sprechen, got hats also beschaffen, das alle jar wider kompt. es ist war, er hat aber einen drüber gesetzt, der es machen sol, formiren, corporiren und ordiniren, und das selbige werk danach durch die natur auf lassen wachsen. dan als wenig got dem menschen ein rock macht, sonder hat den schneider gesezt dazu, also wenig one ein arbeiter wird auch das gras wachsen und in seine forme gebracht. der selbige nun, der also die ding ordnet von dem samen in sein ultimam materiam, der selbige ist vulcanus.156

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Paracelsus: De generatione stultorum, S. 73. Paracelsus: De generatione stultorum, S. 74. Paracelsus: De generatione stultorum, S. 77. Paracelsus: De generatione stultorum, S. 84. Paracelsus: De generatione stultorum, S. 83. Vgl. dazu auch Kurt Goldammer: Das Menschenbild des Paracelsus zwischen theologischer Tradition, Mythologie und Naturwissenschaft. In: Kurt Goldammer: Paracelsus in neuen Horizonten. Gesammelte Aufsätze. Wien 1986, S. 209–228, hier S. 213. Vgl. Blümlein: Naturerfahrung und Welterkenntnis, S. 134–141. Paracelsus: De Meteoris. Ein Buch in 10 Kapiteln: Liber Meteororum. In: Paracelsus (Theophrast von Hohenheim, gen. Paracelsus): Sämtliche Werke. Hg. von Karl Sudhoff. 1. Abteilung: Medizinische, naturwissenschaftliche und philosophische Schriften. 13. Bd.: Schriften unbestimmter Zeit zur Meteorologie. München, Berlin 1931, S. 124–206, hier S. 156.

43 Der Mensch liefert das Material, aus dem der vulcanus ein neues Lebewesen formt. Aus der Vielzahl der vulcani und ihrer unterschiedlichen Schnitzkunst entsteht die Diversität der Menschen, die sich nicht nur auf ein unterschiedliches Äußeres beschränkt, sondern auch auf den Verstand Einfluss nehmen kann. Doch das Wissen um die genaue Herstellung des Menschen ist verborgen und weder Astronomie noch Astrologie können hier Hilfestellungen geben, denn so ein irriges ding ist in der vulcanei, und so ein seltsam schmiden, das noch bisher keiner den meister hat lernen kennen, noch minder die jungen [...] nun weiter den dingen fürzukomen ist nit müglich.157

Narren werden jedoch nicht von den vulkanischen Meistern, sondern von himlischen lerbuben und unerwachsenen meistern158 gemacht, die sozusagen ihre Lehrstücke herstellen. Die Narren sind aber nach Paracelsus nur in ihrem tierischen Leib verschnitzt, nicht aber in ihrem göttlichen, denn dieser ist, wie bei allen anderen, perfect und ganz.159 Das Aussehen der Narren variiert. Sie können in unmittelbarer Nachbarschaft zu sichtbar körperlich differenten Menschen – mißgewechs –160 stehen, jedoch sind physische Differenzen in keinem Fall proprium stultorum,161 sondern nur der fehlerhaften Schnitzkunst der Lehrbuben geschuldet. Das närrische Verhalten, die bossen,162 kommt allein daher, dass der viehische Leib des Narren im Zuge seiner Schöpfung betrunken wird und diesen himmlischen Wein, der für das Wachsen des Gehirns notwendig ist, nicht abbauen kann. Daher verliert der natürliche Narr die Kontrolle über seinen viehischen Leib.163 Doch jener Zustand erlaubt es ihm auch, weise Reden zu führen und zukünftige Dinge vorauszudeuten. Die den Narren innewohnenden göttlichen Botschaften können, weil sie nicht von außen erkennbar sind, nur über ihre Handlungen entschlüsselt werden, auch wenn sich selbst das Reden der natürlichen Narren einem höheren Sinn zu verweigern scheint: und also was solch leut [die Narren, RvB] reden, wiewol es gleich als trunken, vol, daubig heraus kompt und einfaltig, nit wol zu wörtern gebracht oder zum markt gesezt, so sollen sie doch von niemant veracht werden. dan vil prognostica werden also fürgehalten aus dem grunt und die warhaftigsten.164

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Paracelsus: De generatione stultorum, S. 81. Paracelsus: De generatione stultorum, S. 79. Paracelsus: De generatione stultorum, S. 83. Paracelsus: De generatione stultorum, S. 78. Paracelsus: De generatione stultorum, S. 82. Paracelsus: De generatione stultorum, S. 85. Vgl. Paracelsus: De generatione stultorum, S. 88. Paracelsus: De generatione stultorum, S. 89.

44 Die weisheit165 der Narren, so Paracelsus, rühre daher, dass es ab und zu – ein stunt oder constellation166– dem gottgleichen Leib gelänge, aus dem Narren herauszureden. Nur würden die wahren Worte unter den übrigen Narrenpossen als solche nicht erkannt werden, obgleich die natürlichen Narren größer urteil, mer gescheidikeit, mehr weisheit167 als andere Menschen besäßen. Während alle nichtnärrischen Menschen ihren vernünftigen viehischen Leib in allen Dingen benutzten und sich damit selbst den Erkenntnissen und Einsichten ihres eigenen gottgleichen Leibes verstellten, sei den Narren die Herrschaft über ihre zwei Körper entzogen und sie könnten so das Reden des gottgleichen Leibs nicht verhindern. Sowohl Konrad von Megenberg im 14. Jahrhundert als auch Paracelsus im 16. Jahrhundert sehen in den natürlichen Narren eine eigenständige Menschenart. Sie gelten als wunder men_chen.168 Ihre Andersartigkeit wird nicht als Irrtum der Natur bewertet. Damit schließt sich der Megenberger der Auffassung von Augustinus an, der die Existenz von Fehlern in der Schöpfung prinzipiell verneint und dabei auf die Allmacht und die Unfehlbarkeit Gottes verweist. So gesehen ist die gesamte Schöpfung Teil eines geordneten Ganzen. Der Mensch vermag nur nicht, diese Struktur zu erkennen und meine daher, jegliche Abweichung sei hässlich. Das heißt für Augustinus, dass die Natur an sich nicht schlecht sein kann. Der mittelhochdeutsche Naturbegriff spiegelt diese Auffassung wieder: »Natûre meint im Mittelalter nicht [...] die – belebte oder unbelebte – Außenwelt des Menschen, soweit sie nicht von ihm selbst erzeugt ist, sondern die in dieser und im Menschen selbst aufgrund ihrer Geschöpflichkeit wirkenden Kräfte und Prinzipien.169

Der Mensch besitzt als Spezies – wie andere Lebewesen und Dinge auch – eine ihm gemäße Art und Bestimmung, gegen die er sich nicht wehren kann, sie ist sozusagen seine Natur.170 Ein natürlicher Narr verfügt demnach von Geburt an über Eigenschaften, die ihn in seinen Handlungen als Narren erkennen lassen.

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Paracelsus: De generatione stultorum, S. 86. Paracelsus: De generatione stultorum, S. 87. Paracelsus: De generatione stultorum, S. 87. Konrad von Megenberg: Das ›Buch der Natur‹, S. 522, Z. 20. Grubmüller: Natûre ist der ander got, S. 3. Dagegen ist der Naturbegriff heute eng mit dem Normalitätsdiskurs und der als Opposition gedachten Kultur verflochten. Vgl. Link: Versuch über den Normalismus, S. 129: »Wo immer aber eine interdiskursive Kopplung zwischen den vorkulturellen (›natürlichen‹) und kulturellen Homöostasen etabliert wird, da findet eine doppelte Um-Definition statt: Nicht bloß werden, worauf Canguilhem den Blick lenkt, kulturelle Normalitäten mit ›Natur‹ aufgeladen – umgekehrt werden immer auch ›natürliche‹ Normalitäten im Sinne kultureller, also teleologischer, technomorpher, ja präskriptiver ›Normen‹ ›um-gedacht‹.« Vgl. Grubmüller: Natûre ist der ander got, S. 12.

45 Da es jedoch seine ureigene Bestimmung ist, so zu sein, kann diese Narrheit kein malum an sich sein, da es eben auch Teil von Gottes Schöpfung ist.171 So ist es ein unnützes Unterfangen, wenn der Ritter in Boners Reimpaarfabel Von einem torechten Schulpfaffen mit dem Untertitel Von natürlicher torheit aus dem Edelstein versucht, seinen Sohn für viel Geld in Paris studieren zu lassen, weil es eben gegen die natur seines Kindes ist: Wer von natur ist unbesint, Und minder witz hat den ein kint, Den mag diu schule zu Paris An sinnen niemer machen wis. Ist er ein esel und ein gouch, Das selb ist er zu Paris ouch. Wa diu natur verirret ist, Was schikt da hocher pfaffen list? Was hilft, das einer zu schule vert, Und gros gelt ane nutz verzert, Und hort vil hoche meister lesen? Ein tor mus er doch iemer wesen.172

Zwar wird dem närrischen Sohn zugestanden, dass seine natur im Gegensatz zu anderen Menschen verirret ist,173 doch ist an sich seine Andersartigkeit kein Fehler, wohl aber der Versuch sie zu korrigieren.174 Sind Menschen von Natur aus Narren, so ist ihre Eigenart Teil des ordo und ihre Torheit kann an sich keine Sünde sein. Dem stehen die Schalksnarren gegenüber, deren Närrischsein eben nicht der Natur geschuldet ist. Besonders in rechtlichen Auseinandersetzungen war die Frage relevant, inwieweit die natürlichen Narren und alle anderen wunder men_chen175 tatsächlich

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Vgl. zum ›malum‹ Röcke: Die Freude am Bösen, S. 12–16. Ulrich Boner: Der Edelstein. Aus Handschriften berichtiget und mit einem Wörterbuche versehen von George Friedrich Benecke. Berlin 1816, S. 339, Z. 67–78. Boner: Der Edelstein, S. 339, Z. 73. Zur Unbezwingbarkeit der naturgegebenen Anlagen vgl. Gottfried von Straßburg: Tristan. Hg. von Rüdiger Krohn. Stuttgart 81998: »daz wider der natiure kein herze tugentlîche tuo, dâ gehoeret michel arbeit zuo« (V. 11 634–11 636) Desweiteren Stricker: Tierbispel. Hg. von Ute Schwab. Tübingen 31983: »daz ist nature gebot: nature ist der ander got, siu gebiutet unde twinget. daz ir gebot volbringet der mensche unde allez daz da lebet. swer wider die nature strebet, daz ist ein so groze arebeit, daz sie noch rehte niemen leit« (V. 123–130) Weitere Belege finden sich bei Grubmüller: Natûre ist der ander got, S. 13f. Konrad von Megenberg: Das ›Buch der Natur‹, S. 522, Z. 20.

46 auch Menschen waren. Die Entscheidung darüber, ob einem Lebewesen, sei es ein monströses Individuum oder ein Vertreter einer wunderbaren Spezies, ein menschlicher Status zugestanden oder abgesprochen wurde, hatte oft weitreichende Folgen im kanonischen und weltlichen Recht.176 So musste beispielsweise bei Wundergeburten über die Taufhandlung entschieden werden. Die Zugehörigkeit oder der Ausschluss der Wundervölker und einzelner monströser Individuen vom genus hominum baut auf verschiedenen Argumentationslinien auf, die sich teilweise schon bei Augustinus finden. Er führt die Herkunft der Wundervölker auf Noahs Söhne und damit auf Adam zurück. Gleichzeitig sind für ihn Ratio und Sterblichkeit ausschlaggebend für das Menschsein. Verum quisquis uspiam nascitur homo, id est animal rationale mortale, quamlibet nostris inusitatam sensibus gerat corporis formam, seu colorem sive motum sive sonum sive qualibet vi, qualibet parte, qualibet qualitate naturam: ex illo uno protoplasto originem ducere nullus fidelium dubitaverit. Apparet tamen quid in pluribus natura obtinuerit et quid sit ipsa raritate mirabile.177

Für Thomas von Cantimpré, der sich ebenfalls auf die Vernunft als unterscheidendes Kriterium beruft, sind die Wundervölker, denen er ein eigenes Kapitel widmet, zwischen Menschen und Tieren anzusiedeln, da sie seiner Meinung nach keinen Verstand besäßen: Animalibus vero monstruosis animam inesse non credimus, et si per aliquos actus ad rationis motum sensu estimationis habilitentur extrinsecus, quoniam non habent cursum organizationis in corpore, ut sensu intellectuali rationis scemate perfruantur.178

Der adamitische Ursprung, der über die menschlichen Eltern hergestellt wird, ist für Konrad von Megenberg entscheidend bei der Frage nach der Zugehörigkeit der Monstren zu den Menschen. Mit dieser Argumentation setzt er sich ausdrücklich von seiner Quelle ab. Somit kann er auch die ge_ellten wunder men_chen,179 zu denen die natürlichen Narren gehören, und die vnge_elten180 Wundermenschen unter denen er diejenigen zählt, di et_waz men_chleich ge_talt

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Vgl. Friedman: The monstrous races, S. 178f.; Münkler, Röcke: Der ordo-Gedanke und die Hermeneutik der Fremde, S. 750ff. Augustinus: De civitate dei, XVI, 8, S. 116f: »Sondern wer immer irgendwo auf Erden als Mensch, also als sterbliches vernunftbegabtes Lebewesen geboren ist, er mag eine für unsere Begriffe noch so ungewohnte Körperform haben, an Farbe, Bewegung, Stimme, Kraft und Teilen seiner natürlichen Eigenschaften noch so sehr von anderen abweichen: kein Gläubiger soll zweifeln, daß er seinen Ursprung aus jenem einen zuerst gebildeten Menschen herleitet. Denn was die Natur bei der Mehrzahl der Menschen aufrecht erhält, erweist sie trotz allem auch in jenen merkwürdigen Seltsamkeiten.« Thomas von Cantimpré [Thomas Cantimpratensis]: Liber de natura rerum. Teil 1: Text. Hg. von Helmut Boese. Berlin, New York 1973, III, 1, S. 97. Konrad von Megenberg: Das ›Buch der Natur‹, S. 523, Z. 6. Konrad von Megenberg: Das ›Buch der Natur‹, S. 523, Z. 3.

47 habent an dem leib vnd doch chain men_chleich _el habent,181 als Menschen definieren. Innerhalb der letztgenannten Gruppe fasst er diejenigen als be_underev tier,182 die nicht von rechten men_chen183 geboren werden, die sich dennoch untereinander fortpflanzen und in ihren Handlungen dem Menschen gleichen können wie di affen vnd di mer chatzen.184 Indem der Megenberger die Herkunft und nicht den Verstand als Unterscheidungskriterium heranzieht, kann er auch Menschen mit einer mentalen Differenz in sein Menschenbild integrieren, die keine oder nur eine veränderte _el185 haben. Albertus Magnus argumentiert im Fall der Pygmäen anders, denn er erkennt diese nicht als Menschen an, da sie nicht über intellektuelle Fähigkeiten im Sinne der artes verfügen.186 Ihm pflichtet mit anderem Material Peter von Auvergne bei.187 Für Paracelsus bedingt wiederum das Vorhandensein einer unsterblichen Seele, und damit die unmittelbare Teilhabe an Gott,188 den Menschen. Monstra und mißgewechs ohne Seele sind für ihn Tiere, auch wenn sie von Frauen geboren wurden.189 Da in seinem dualistischen Menschenbild nur der verunstaltete viehische Leib die Herrschaft über den göttlichen Leib erlangen kann, ist für ihn ebenfalls rationales Handeln kein grundlegendes Kriterium. Auffällig an Konrad von Megenbergs und Paracelsus’ Unterscheidungen von Mensch und Tier ist, dass der Verstand in keiner Weise als Bedingung des menschlichen Seins gilt. Obgleich die schon in der Scholastik geführte Diskussion, ob und welchen Wundervölkern ein menschlicher Status zugesprochen werden kann, immer mit dem Hinweis auf die Vernunft versehen wurde, spielt der Verstand bei Konrad von Megenberg und bei Paracelsus nur eine untergeordnete Rolle.

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Konrad von Megenberg: Das ›Buch der Natur‹, S. 523, Z. 4f. Konrad von Megenberg: Das ›Buch der Natur‹, S. 525, Z. 3. Konrad von Megenberg: Das ›Buch der Natur‹, S. 524, Z. 34. Konrad von Megenberg: Das ›Buch der Natur‹, S. 525, Z. 2. Konrad von Megenberg: Das ›Buch der Natur‹, S. 524, Z. 25. Vgl. Friedman: The monstrous races, S. 190ff.; Münkler, Röcke: Der ordo-Gedanke und die Hermeneutik der Fremde, S. 754ff. Peter von Auvergne: Sind die Pygmäen Menschen? Hg. von Joseph Koch. In: Archiv für Geschichte der Philosophie 40 (1931), S. 209–213. Vgl. dazu Münkler, Röcke: Der ordoGedanke und die Hermeneutik der Fremde, S. 256–258. Goldammer: Das Menschenbild des Paracelsus, S. 221. Paracelsus: Liber de homunculis. Theophrastus. In: Paracelsus (Theophrast von Hohenheim, gen. Paracelsus): Sämtliche Werke. Hg. von Karl Sudhoff. 1. Abteilung: Medizinische, naturwissenschaftliche und philosophische Schriften. 14. Bd.: Das Volumen primum der Philosophia magna. Spuria: Unechte, von Johannes Huser für echt gehaltene Schriften unter Hohenheims Namen. München, Berlin 1933, S. 325–336, hier S. 326.

48

2.1.3 Narren in Wunderkammern Wunder verhandelte man als mirabilia und miraculi nicht nur im naturphilosophischen Diskurs, sondern sie wurden auch als Gegenstände und Lebewesen an Höfen gesammelt. Aus Reliquiensammlungen entstanden in der frühen Neuzeit Wunderkammern, die neben Reliquien wertvolle Steine, Klauen oder Hörner von Wundertieren wie dem des Einhorns, ebenso aber auch lebende Tiere und Menschen, die sich durch Andersartigkeit auszeichneten, enthielten.190 Im 16. und 17. Jahrhundert führte das verstärkte Interesse an künstlichen und natürlichen Wundern dazu, dass viele europäische Höfe unterschiedliche Sammlungen aufbauten. Die ersten Kunst- oder Wunderkammern waren als theatrum mundi mit dem Fürsten als Mittelpunkt der Welt gedacht wie beispielsweise die berühmte Sammlung von Schloß Ambras. Zu den Porträts in Ambras gehörten neben den Bildnissen des ersten Sammlers Erzherzog Ferdinand II. auch Darstellungen seiner Verwandten sowie anderer europäischer Fürsten. Ihnen »gleichwertig«191 war eine weitere Gruppe von Porträts, die »Bildnisse körperlich Abnormer: Riesen, Zwerge, Kranke und Krüppel«192 umfasste. Das Sammeln von wunderbaren Gegenständen und Lebewesen demonstrierte nicht nur durch seine ausgefallenen und seltenen Stücke das Besondere und die Auserwähltheit des Fürsten, sondern illustrierte auch durch die den Gegenständen und Lebewesen zugewiesenen magisch-religiösen Eigenschaften die Macht des jeweiligen Herrschers. Die räumliche Nähe zum wunderbaren Objekt war dabei ebenso wichtig wie die Fähigkeit, das Wunder überhaupt deuten zu können. Die Wunder wurden nicht anhand ihrer Art klassifiziert und aufbewahrt, sondern nach ihrem Wert, denn »die mittelalterliche Sammlung war nicht ein musaeum, sondern ein thesaurus (›Schatz‹ – der Begriff, mit dem sie am häufigsten bezeichnet wurde) im Sinne eines Depots für ökonomisches und spirituelles Kapital.«193 Die Wunder wurden gezielt dafür eingesetzt, um Staunen zu erzeugen wie beispielsweise bei dem als ›Fest des Fasans‹ gefeierten Bankett Philipps des Guten

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Vgl. Julius von Schlosser: Die Kunst- und Wunderkammern der Spätrenaissance. Ein Beitrag zur Geschichte des Sammelwesens. Leipzig 1908; Krzysztof Pomian: Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln. Aus dem Französischen von Gustav Roßler. Berlin 1988; Horst Bredekamp: Antikensehnsucht und Maschinenglauben. Die Geschichte der Kunstkammer und die Zukunft der Kunstgeschichte. Berlin 1993; Oliver Impey, Arthur Macgregor (Hg.): The origins of museums. The cabinet of curiosities in sixteenth- and seventeenth-century Europe. London 2001; Daston, Park: Wunder und die Ordnung der Natur, S. 301–354; Michael Hagner: Monstrositäten in gelehrten Räumen. In: Der (im-)perfekte Mensch. Metamorphosen von Normalität und Abweichung. Hg. von Petra Lutz, Thomas Macho, Gisela Staupe, Heike Zirden. Köln 2003, S. 42–61. Elisabeth Scheicher: Kunstkammer. In: Die Kunstkammer. Hg. von Elisbeth Scheicher. Innsbruck 1977, S. 13–23, hier S. 20. Scheicher: Kunstkammer, S. 20. Daston, Park: Wunder und die Ordnung der Natur, S. 85.

49 1454.194 Durch eine geschickt inszenierte Vorführung seiner Wundersammlung gelang es Philipp, überraschend viele Teilnehmer zu einem Kreuzzug zu verpflichten. Auch das Halten von natürlichen und künstlichen Narren lässt sich in Beziehung zu der Sammelleidenschaft an den Höfen setzen. So lebten am Hof von Philipp dem Guten allein vierundzwanzig Zwerge und Narren, die Bestandteil der wunderbaren Sammlungsobjekte waren.195 Beispielhaft ist ebenfalls die Sammlung von René von Anjou, die Edelsteine, orientalische Stoffe, Löwen, Affen und besondere Tiere mit außergewöhnlichen Merkmalen umfasste. Die Sammlung wurde in den Reisebeschreibungen Leo von Rozmitals durch dessen Begleiter Gabriel Tetzel folgendermaßen beschrieben: Und do man gessen het, füert man meinen herrn allenthalben umb. Und derselbig kunig gar gross lieb zu vogeln und seltsamen tier. Der sach wir aussdermassen vil, und geiss, kamen auss der heidenschaft, haben oren länger dann drei spann lang; und sahen do zwen gross lewen, zwen leoparden nacheinander, zwen straussen und ander seltsames tier gar viel.196

René von Anjou hielt außerdem an seinem Hof Zwerge, Riesen und einen der berühmtesten Narren, Triboulet, dessen Besonderheit in einem besonders kleinen Kopf bestand. Er wurde seit 1447 in den Rechnungsbüchern geführt.197 Der besondere Status des Narren war darin ablesbar, dass er Kleider trug, die teilweise so kostbar wie die königlichen Gewänder waren.198 Diesen Triboulet erwähnt Gabriel Tetzel auch in seinem Bericht und nimmt ihn, wie die anderen wunderbaren Dinge und Lebewesen, als außergewöhnlich wahr: Der kunig hett einen mann, hiess T u y b e l i m, der het den allerkleinsten Kopf, dene ich all mein tag ie gesehen hab. Er het ein barett auf recht als weit ein grosse pomerantz mag sein.199

Auch die Aufnahme der Narren im Triumphzug Kaiser Maximilians I. kann als eine Inszenierung des Wunderbaren verstanden werden.200 Die gesamte Konzeption des Triumphs ist auf Repräsentation ausgerichtet. Die dabei den Narren

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197 198 199 200

Daston, Park: Wunder und die Ordnung der Natur, S. 122–125. Zur burgundischen Hofhaltung als Vorbild für andere europäische Höfe vgl. Werner Paravicini: The court of the dukes of Burgundy. A model for Europe? In: Princes, patronage, and the nobility. The court at the beginning of the modern age c. 1450–1650. Hg. von Ronald G. Asch, Adolf M. Birke. London 1991, S. 69–102. Daston, Park: Wunder und die Ordnung der Natur, S. 117. Leo Freiherr von Rozmital: Des böhmischen Herren Leo’s von Rozmital Ritter-, Hof- und Pilger-Reise durch die Abendlande. 1465–1467. Beschrieben von zweien seiner Begleiter. Stuttgart 1843, S. 162f. Vgl. dazu auch Françoise Piponnier: Costume et vie sociale. La cour d’Anjou XIVe-XVe siècle. Paris 1970, S. 236. Lever: Zepter und Schellenkappe, S. 101. Vgl. Piponnier: Costume et vie sociale, S. 237. Rozmital: Des böhmischen Herren Leo’s von Rozmital Ritter-, Hof- und Pilger-Reise durch die Abendlande, S. 161. Vgl. oben, S. 5.

50 zugeschriebene Funktion verweist darauf, dass sie kurtzweil201 erregen sollten. Die Schalksnarren sind als Teil der künstlichen Wunder zu sehen, da sie über besondere Verstellungskünste verfügen. Zu den künstlichen Wundern gehören ebenso auch Automaten, die Getränke spenden oder andere technische Vorrichtungen, die der militärischen Verteidigung dienen: Die meisten künstlichen Wunder waren so etwas wie Wunder der Ingenieurskunst. Sie waren nicht lediglich dekorativ, sie geboten darüber hinaus über mächtige natürliche Kräfte, die sie für verblüffende Wirkungen nutzten. Wie Naturwunder, so wurden diese heterogenen Schöpfungen durch die Psychologie des Staunens zusammengehalten, wobei sie ihre emotionale Wirkung aus ihrer Seltenheit und dem Geheimnis zogen, das die Kräfte und Mechanismen umgab, dank deren sie funktionierten.202

Die natürlichen Narren zählen dagegen zu den Naturwundern, da sie einen Teil der monströsen wunder men_chen203 repräsentieren. Die natürlichen Narren behandelte man wie andere Menschen und Tiere, die als Monstren oder Vertreter eines Wundervolkes Teil der Wundersammlungen waren.204 Die natürlichen Narren wurden in einigen Fällen durch Wärter versorgt,205 sie wurden verschenkt und vererbt. Im Testament Friedrichs des Weisen wurde beispielsweise der natürliche Narr Albrecht dem Bruder des Kurfürsten zugesprochen, und der Erbe wurde zugleich an seine besondere Fürsorge für den Narren gemahnt: Albrechten, meinen Narren, sol mein Bruder zu sich nehmen, den behalten, und ihm kein Leid lassen thun.206

So werden die natürlichen Narren nicht nur im naturphilosophischen Diskurs zu den wunder men_chen207 gerechnet, sondern repräsentieren auch an den Höfen das Wunderbare.

2.2

Natürliche Narrheit als Liminalität

Die Sonderstellung der Hofnarren kann nicht allein mit ihrer Teilhabe am höfischen Wunderdiskurs erklärt werden. Die Narren stehen außerhalb aller Ordnungen und sie übernehmen daher besondere Funktionen. Die Eigenschaften,

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Schestag: Kaiser Maximilian I. Triumph, S. 160. Daston, Park: Wunder und die Ordnung der Natur, S. 104f. Konrad von Megenberg: Das ›Buch der Natur‹, S. 522, Z. 20. So zum Beispiel die Haarmenschen. Vgl. dazu: Roberto Zapperi: Ein Haarmensch auf einem Gemälde von Agostino Carracci. In: Der falsche Körper. Beiträge zu einer Geschichte der Monstrositäten. Hg. von Michael Hagner. Göttingen 1995, S. 45–55. Welsford: The fool, S. 119. ChurfFrst Friedrichs zu Sachsen letzter Wille, de Anno 1525 (g). In: Diplomatische und curieuse Nachlese der Historie von Ober-Sachsen, und angrantzenden Landern. Zu einiger Erlauterung derselben gehalten von Christian Sch=ttgen und George Christoph Kreysig. Eilffter Theil (1733), S. 65–76, hier S. 75. Konrad von Megenberg: Das ›Buch der Natur‹, S. 522, Z. 20.

51 die mit dem natürlichen Narren verbunden sind, lassen sich meines Erachtens nach am besten mit dem in der Ritualtheorie entwickelten Konzept der Liminalität beschreiben.208 Innerhalb der Kulturanthropologie werden im Anschluss an Victor Turner Schwellenwesen bzw. liminale Personen als diejenigen verstanden, die sich zwischen »den vom Gesetz, der Tradition, der Konvention und dem Zeremonial fixierten Positionen«209 befinden. In seinem Modell lehnt sich Turner zunächst an die von Arnold van Gennep entwickelten rites de passage an. Van Gennep hat in seinem dreigliedrigen Modell von Trennungs-, Umwandlungs- und Eingliederungsriten (rites de séparation, rites de marge und rites d’agrégation) beschrieben, wie einzelne Individuen oder Gruppen in einen neuen sozialen Status übertreten und wie jahreszeitliche Wechsel vollzogen werden.210 Dieses Modell hat weit darüber hinaus Geltung erlangt, da mit ihm nicht nur Phasen im Jahreslauf und individuelle Entwicklungen nachvollzogen, sondern auch Übergänge und Umbrüche aller Art beschrieben werden können. Turner hat auf die Schwellen- und Umwandlungsriten (rites de marge) seine besondere Aufmerksamkeit gelenkt. Er bezeichnet den Schwellenzustand auch als Liminalität, für den verallgemeinernd gilt, was van Gennep über die Initiationsriten bei den Novizen festgestellt hat: Während des ganzen Noviziats sind die gewöhnlichen ökonomischen und rechtlichen Beziehungen verändert, manchmal sogar völlig außer Kraft gesetzt. Die Novizen leben außerhalb der Gesellschaft; und die Gesellschaft hat keine Macht über sie, um so weniger, da sie sakral und heilig, somit unberührbar und gefährlich wie Götter sind. Aus diesem Grund ist die Gesellschaft, obwohl Tabus als negative Riten eine Barriere zwischen ihr und den Novizen errichten, gegenüber den Handlungen der Novizen schutzlos. [...] Während der Novizenzeit können die jungen Leute stehlen und plündern, soviel sie nur wollen, und sich auf Kosten der Gemeinschaft ernähren und schmücken.211

Liminalität eröffnet damit einen Raum, in dem die gewohnten Ordnungen, Regeln und kulturellen Praktiken – oder wie Turner es nennt »Faktoren der Kultur« –212 außer Kraft gesetzt sind. Gleichzeitig bietet Turner die Möglichkeit, diese neu zu deuten, sie miteinander zu kombinieren und dann letztendlich auch auf den außerliminalen Raum zu übertragen.213 Unter Liminalität versteht er jedoch nicht eine beliebige Form von Exklusion, Fremd- oder Anderssein.

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Ich beziehe mich hier vor allem auf die Ritualtheorie von Victor Turner: Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur. Frankfurt, New York 1989; Victor Turner: Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels. Frankfurt, New York 1989. Kritik aus mediävistischer Sicht dazu findet sich bei Caroline Walker Bynum: Fragmentation and redemption. Essays on gender and the human body in medieval religion. New York 1992, S. 27–51. Turner: Das Ritual, S. 95. Arnold van Gennep: Übergangsriten (Le rites de passage). Frankfurt, New York 1986, S. 21. van Gennep: Übergangsriten, S. 112f. Turner: Vom Ritual zum Theater, S. 40. Vgl. Turner: Vom Ritual zum Theater, S. 40f.

52 Entscheidend ist die Heiligkeit des liminalen Zustands, d. h. wichtig sind die magisch-religiösen Eigenschaften, die den jeweiligen Schwellenpersonen zugeschrieben werden. Turner bezieht Liminalität nicht nur auf einen vorübergehenden Zustand, sondern auch auf »Schwellenpersonen«,214 für die sich die Liminalität »mit zunehmender gesellschaftlicher und kultureller Spezialisierung und immer größer werdender Komplexität der sozialen Arbeitsteilung zu einer institutionalisierten Daseinsform«215 entwickelt. Der Hofnarr gilt dabei als ein wiederholt genanntes Beispiel für eine institutionalisierte Form der Liminalität. Im Fall des natürlichen Narren kann sie auch im außerhöfischen Raum Geltung erlangen, wobei sich die mit dem liminalen Zustand verbundenen Eigenschaften aufgrund fehlender Quellen kaum rekonstruieren lassen.216 Schwellenwesen zeichnen sich durch bestimmte Eigenschaften wie Armut, Besitzlosigkeit, Statuslosigkeit, uniforme Kleidung bzw. Nacktheit, sexuelle Enthaltsamkeit oder Dummheit aus.217 Für die natürliche Narrheit sind dies Eigenschaften wie die Asexualität und die Benennung von Verwahreinrichtungen. Darüber hinaus ließen sich weitere Beispiele finden, wenn man die Stellung des natürlichen Narren im juristischen Diskurs zu den Fragen der Vormundschaft, der Rechtsgeschäftsfähigkeit, der Haftung und der Erbfähigkeit betrachtet.218 Auffällig dabei ist, dass die Narren nicht nur von Rechten ausgeschlossen, sondern ebenso auch von Verpflichtungen ausgenommen werden, wie es für den Zustand der Liminalität kennzeichnend ist. Ebenso kann die äußere Kennzeichnung des natürlichen Narren durch Narrenkleidung bzw. Nacktheit, einen besonderen Haarschnitt und weitere Attribute wie Marotte, Käse, Schellen oder die Begleitung durch einen Hund auf seinen liminalen Status verweisen.219 Anhand von zwei Beispielen soll in den folgenden Kapiteln der Schwellenzustand der natürlichen Narren näher beschrieben werden. Zum einen geht es um die räumliche Verortung der Narren außerhalb des Hofes in Narrenhäusern und Torenkisten und zum anderen um die den natürlichen Narren zugeschriebene

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Turner: Das Ritual, S. 95. Turner: Das Ritual, S. 106. Turner: Das Ritual, S. 108. Turner verweist in diesem Zusammenhang explizit auf den Hofnarren als ein Beispiel. Siehe dazu auch die karnevalesken Narrenperformances: Gvozdeva: Rhetorik und Rebus-Spiel in den Narrenperformances, S. 380f. Turner: Das Ritual, S. 105. Vgl. Clemens Amelunxen: Zur Rechtsgeschichte der Hofnarren. Berlin, New York 1991; Hermann Conrad: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1: Frühzeit und Mittelalter. Karlsruhe 1962; Groß: ›La folie‹, S. 86–96; Matejovski: Das Motiv des Wahnsinns, S. 62–66; Fritz: Le discours du fou au moyen âge, S. 153–164. Angelika Groß, Jacqueline Thibault Schaefer: Tristan, Robert le diable und die Ikonographie des insipiens. Der Hund als neues Motiv in einem alten Kontext. In: Schelme und Narren in den Literaturen des Mittelalters. 27. Jahrestagung des Arbeitskreises Deutsche Literatur des Mittelalters. Hg. von Danielle Buschinger, Wolfgang Spiewok. Greifswald 1994, S. 55–72.

53 Asexualität. Dabei kann ich hauptsächlich nur auf die in Texten entwickelten Vorstellungen zurückgreifen, wobei bei einem solchen Vorgehen die Unsicherheit darin liegt, dass die Unterschiede zwischen Ritual und Text nivelliert werden, d. h. die rituelle Struktur wird in den Texten nur nachgezeichnet. Bei der Aufnahme ritueller Inhalte und Muster kann es zu inhaltlichen und formellen Verschiebungen und Umdeutungen kommen. Dennoch können Texte als indirekte Quellen genutzt werden, da sie allgemeine Vorstellungen von natürlicher Narrheit evozieren, sie in Bilder umsetzen und dramatisieren.220 Aufschlussreich sind dabei wiederholt gebrauchte literarische Strategien der Darstellung von natürlichen Narren, die zwar auch für eigene narrative Zwecke funktionalisiert werden, aber in verschiedenen Werken bestimmte Muster aufweisen. Von diesen Darstellungsstrategien ist anzunehmen, dass sie auf außerliterarischen Vorstellungen von natürlicher Narrheit beruhen.

2.2.1 Asexualität und natürliche Narrheit Kennzeichnend für Schwellenphasen ist unter anderem sexuelle Enthaltsamkeit.221 Eines der bekanntesten Beispiele in der mittelalterlichen Literatur, das auf diese Eigenschaft des liminalen Zustandes zurückgreift und mit ihr spielt, sind verschiedene Verkleidungsszenen in mehreren Tristanfassungen. Um Isolde ein Alibi für das Gottesgericht zu geben, verkleidet sich Tristan als Pilger, hilft ihr aus dem Schiff und strauchelt vor aller Augen absichtlich mit ihr, damit sie schwören kann, dass sie nur in den Armen ihres Mannes und in denen des mit ihr gestürzten Trägers gelegen habe.222 Tristan gelingt desgleichen mehrfach die Rückkehr an den Markehof, indem er sich als Mönch oder als Narr ausgibt.223

220

221 222 223

Vgl. dazu Birgit Althans, Kathrin Audehm, Constanze Bausch, Christoph L. Diedrichs, Katja Gvozdeva, Maren Hoffmeister, Carolin Quermann, Werner Röcke, Susanne Rupp, Robert Schmidt, Hans Rudolf Velten, Monika Wagner-Willi, Frank Wittchow, Christoph Wulf, Jörg Zirfas: Differenz und Alterität im Ritual. Eine interdisziplinäre Fallstudie. In: Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie 13 (2004), S. 187–249, hier S. 196. Vgl. Turner: Das Ritual, S. 103. Gottfried von Straßburg: Tristan. Nach dem Text von Friedrich Ranke neu hg. von Rüdiger Krohn, V. 15550ff. Vgl. dazu: Tristan als Mönch. Untersuchungen und kritische Edition. Hg. von Betty C. Bushey. Göppingen 1974; Tristan als Narr: Heinrich von Freiberg: Tristan und Isolde. Originaltext (nach der Florenzer Handschrift ms. B.R. 226) von Danielle Buschinger. Greifswald 1993, V. 5015–5718 und Ulrich von Türheim: Tristan und Isolde. Originaltext nach der Heidelberger Hs. Pal. Germ. 360. Hg. von Wolfgang Spiewok in Zusammenarbeit mit Danielle Buschinger. Greifswald 1994, V. 2471–2842. Vgl. dazu Peter Strohschneider: Gotfrit-Fortsetzungen. Tristans Ende im 13. Jahrhundert und die Möglichkeiten nachklassischer Epik. In: DVjs 65 (1991), S. 70–98; Jan-Dirk Müller: Vergiftete Erinnerung. Zu ›Tristan als Mönch‹. In: Homo medietas. Aufsätze zu Religiosität, Literatur und Denkformen des Menschen vom Mittelalter bis in die Neuzeit. Hg. von Claudia Brinker-von der Heyde, Niklaus Largier. Bern, Berlin, Frankfurt, New York, Paris, Wien 1999, S. 455–470.

54 Mit der Verkleidung in eine liminale Person kann Tristan sich noch mehr tarnen, als es ein Haarschnitt oder ein Gewand allein vermag, da sowohl das Narrenamt als auch das Ordensleben als institutionalisierte Formen des Schwellenzustandes angesehen werden.224 Mit diesem liminalen Zustand werden zugleich verschiedene Formen der sexuellen Enthaltsamkeit bzw. Asexualität verbunden. So werden die sich in einem permanenten liminalen Zustand befindenden natürlichen Narren als asexuelle Wesen wahrgenommen. Wie sehr natürliche Narrheit und Asexualität miteinander verbunden sind, soll exemplarisch an dem Märe die Halbe Birne belegt werden.225 In dem Märe von der Halben Birne wird erzählt wie der Ritter Arnolt, erfolgreicher Teilnehmer eines Turniers, als dessen Preis die Heirat mit einer Prinzessin ausgesetzt ist, in unhöfischer Weise eine Birne zerteilt, isst und sie eben jener Tochter des Königs anbietet. Die Prinzessin verspottet ihn daraufhin öffentlich. Der Ritter, nach Hause zurückgekehrt, sucht in seiner Schmach Hilfe bei seinem Knecht. Der empfiehlt ihm, sich als natürlicher Narr zu verkleiden und an den Hof zurückzukehren. So getarnt gelangt er in die Kemenate und sitzt mit den Frauen zusammen am Feuer. Als die Prinzessin seinen erigierten Penis erblickt, ruht sie solange nicht, bis sie den vermeintlichen Narren – unterstützt durch eine treue Dienerin – in ihrem Bett hat. Die Kammerfrau hilft ihr, den sexuellen Akt durchzuführen, da der närrische Ritter Unvermögen und Unkenntnis vortäuscht. Als er wieder als Ritter beim Turnier erscheint, kann er den Hänseleien der Prinzessin Details aus der nächtlichen Szene in der Kemenate entgegensetzen und sie damit schließlich zur Heirat zwingen. Als der düpierte Ritter dem Rat seines Knechtes folgend zum Hof zurückkehrt, zieht er sich als Narr an und hält sich bei Hofe auf der Schwelle zur Kemenate auf. ein wunneclîchez palas, dâ diu juncvrouwe inne slief,

224 225

Vgl. Turner: Das Ritual, S. 106. Ich beziehe mich auf folgende Ausgabe: Konrad von Würzburg (?): Die halbe Birne. In: Novellistik des Mittelalters. Märendichtung. Hg. von Klaus Grubmüller. Frankfurt 1996, S. 178–207. Eine andere Überlieferung findet sich bei: Hans Folz: Die halbe Birne. In: Hans Folz: Die Reimpaarsprüche. Hg. von Hanns Fischer. München 1961, S. S. 22–28. Zur halben Birne vgl. Jan-Dirk Müller: Die hovezuht und ihr Preis. Zum Problem höfischer Verhaltensregulierung in Ps.-Konrads ›Halber Birne‹. In: JOWG 3 (1984/85), S. 281–311; Max Schiendorfer: ›Frouwen hulde – gotes hulde‹. Zur Erzählstruktur und -strategie in ›Die halbe Birne (A)‹ und ›Die Heidin (A)‹. In: Homo Medietas. Aufsätze zur Religiosität, Literatur und Denkformen des Menschen vom Mittelalter bis in die Neuzeit. Hg. von Claudia Brinker-von der Heyde, Niklaus Largier. Bern, Berlin, Frankfurt, New York, Paris, Wien 1999, S. 471–485; Mireille Schnyder: Die Entdeckung des Begehrens. Das Märe von der halben Birne. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 122 (2000), S. 263–278. Mit weiteren Belegen: Klaus Grubmüller (Hg.): Novellistik des Mittelalters. Märendichtung. Frankfurt 1996, S. 1083–1101.

55 dâ vür leite sich der gief, swenne ez begunde nahten.226

Die Schwelle zur Kemenate als Aufenthaltsort für einen Narren ist nicht nur hier, sondern auch in den verschiedenen Fassungen des Tristan beschrieben worden.227 Der Zugang zur Kemenate, der einen »Rückzugs-, Schutz-, Absenzraum [...] im Rücken der höfischen Repräsentation«228 bildet, kann dem Narren kaum verwehrt werden. Die Ausnahmeerlaubnis, den sonst heimlichsten Raum des Hofes zu betreten, kann nur mit der dem Narren zugeschriebenen Asexualität begründet werden. Genau mit dieser Annahme spielt das Märe die Halbe Birne, denn gegen den Aufenthalt in der Kemenate spricht im Text lediglich sein ungewaschenes Äußeres.229 Doch so gut auch der Ritter den Narren mimt, fordert doch die natûre im erigierten Penis ebenso ihr Recht: biz an dem gebûre diu starke natûre ir kraft begunde öugen. daz muoste sich erzöugen an sînem ebenalten230

Natur meint hier die eigentliche Herkunft des als Narren verkleideten Ritters. Der zu Beginn als ein ritter an gebürte vrî231 Vorgestellte kann nun seine wahre Abkunft nicht mehr verbergen. Ebensowenig kann das männliche Glied seinen Ursprung verleugnen, was durch die metaphorische Umschreibung als ritterliche Waffe noch betont wird.232 Das Begehren der Prinzessin stellt sich insofern als defizitär heraus, da sie in der Sexualität des vermeintlichen Toren nicht seine eigentliche Natur, seine Ritterlichkeit, zu erkennen vermag und damit auf die List des Rache nehmenden Ritters hereinfällt. Auch die Kammerdienerin kann in ihm nur den Toren sehen:

226 227

228

229 230 231 232

Konrad von Würzburg (?): Die halbe Birne, S. 188, V. 208–211. Vgl. Ulrich von Türheim: Tristan und Isolde, Z. 4806–4808: sy [Isalde] nam in in jr pfleg vnd hieß jm vnder ein treppen oder stiegen. in jrer kemnaten petten. des warde herr tristrant fro. In den früheren Fassungen schläft Tristan auf der Schwelle oder in Isoldes Kemenate, vgl. dazu Ulrich von Türheim: Tristan und Isolde, V 2589–2649; Heinrich von Freiberg: Tristan und Isolde, V 5341–5378. Matejovski: Das Motiv des Wahnsinns, S. 237 weist auf weitere Parallelen zwischen den Tristan-Fassungen und dem Märe hin. Peter Strohschneider: Kemenate. Geheimnisse höfischer Frauenräume bei Ulrich von dem Türlin und Konrad von Würzburg. In: Das Frauenzimmer. Die Frau bei Hofe in Spätmittelalter und früher Neuzeit. 6. Symposium der Residenzen-Kommission der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Hg. von Jan Hirschbiegel, Werner Paravicini. Stuttgart 2000, S. 29–45, hier S. 33. Vgl. Konrad von Würzburg (?): Die halbe Birne, S. 190, V. 244. Konrad von Würzburg (?): Die halbe Birne, S. 192, V. 273–277. Konrad von Würzburg (?): Die halbe Birne, S. 180, V. 34. Schnyder: Die Entdeckung des Begehrens, S. 270f. Vgl. Konrad von Würzburg (?): Die halbe Birne, S. 192, V. 280–282.

56 er ist der aller beste gouch, der ie wart getœret: er ensprichet noch enhœret, er ist ein rehter stumbe.233

Die hier auf der Hand liegende Ungereimtheit aus dem Verhalten des vermeintlichen Narren und der eigentlich zu erwartenden Asexualität eines natürlichen Narren kann aber von den beiden Frauen ihrer wîplichen art wegen nicht entlarvt werden.234 Explizit wird am Ende des Märes noch einmal Bezug auf den Anfang der Kemenatenszene genommen und nun von einem offenliegenden Betrug gesprochen.235 Im Bett stellt sich Ritter Arnolt trotz seiner natûre als Narr, der nichts von dem Liebesvollzug versteht: dâ lac von minnen unde bran diu minneclîche künigîn und leit vil seneclîchen pîn, daz der tumbe gouch lac und der minnen niht enphlac, diu guoten wîben sanfte tout.236

Der Prinzessin und ihrer Zofe bereitet nicht das eigentliche Verhalten des Narren Probleme, sondern nur ihr eigenes Verlangen. Für den Ritter wird der Verzicht auf Befriedigung, also die Zügelung seiner Natur, damit begründet, dass er sich nun hier an der erlittenen Schmach der Birne wegen rächen möchte.237 In dem Märe von der Halben Birne dient die vorgetäuschte natürliche Narrheit dem Ritter dazu, unerkannt bis in das Bett der Prinzessin zu gelangen. In der Logik des Märes widerspricht seine deutlich sichtbare Männlichkeit der Maskerade als natürlicher Narr. Sie demaskiert ihn offen, wird aber nicht entdeckt, weil Prinzessin und Zofe in ihrer Maßlosigkeit seine Verkleidung als solche nicht erkennen. Ohne die einem natürlichen Narren zugeschriebene Asexualität würde das Märe an seinem Ende nicht von einem offenliegenden Betrug sprechen können. Täuschung und List basieren in dem Märe von der Halben Birne auf der Annahme, natürliche Narren seien asexuelle Wesen, als die man sich zwar verkleiden, nicht aber deren natûre annehmen kann.

233 234

235 236 237

Konrad von Würzburg (?): Die halbe Birne, S. 194–196, V. 326–329. Schnyder: Die Entdeckung des Begehrens, S. 272f. Anders dagegen Matejovski: Das Motiv des Wahnsinns, S. 252: »Der Wahnsinnige wird primär als sexualisierter, entgrenzter Körper gedacht.« Konrad von Würzburg (?): Die halbe Birne, S. 204, V. 494. Konrad von Würzburg (?): Die halbe Birne, S. 196, V. 350–355. Vgl. Konrad von Würzburg (?): Die halbe Birne, S. 196, V. 344–349.

57

2.2.2 Torenkisten und Narrentürme Natürliche Narren hatten über den höfischen Rahmen hinaus eine liminale Stellung inne, wie es die Institution der Narrenkisten zeigt. Orte, die Namen tragen, wie Doren-Kiste,238 Dorden-Kiste,239 cista stolidorum,240 custodia fatuorum,241 Narrenhäuslein,242 Narrenhaus243 oder auch Narrenthurm244 können in den meisten mittelalterlichen Städten nachgewiesen werden. Gemeint waren damit aus Holz gezimmerte Kästen oder andere verschlossene kleine Räume, die sich oft in den Türmen der Stadtmauern befanden und in die ein oder mehrere Menschen eingesperrt werden konnten.245 Ihre Insassen waren jedoch nicht nur psychisch Kranke und natürliche Toren – narren, torote oder unsinnige –,246 sondern auch Betrunkene, Besucher von Bordellen und Bettler.247 In die Torenkiste konnte man also aus vielerlei Gründen in Gewahrsam genommen werden. Zwar werden die Narrentürme als Vorläufer der Spitäler gesehen, sie sind aber selbst noch keine medizinisch-psychiatrischen Institutionen, wie es Kriegk für Frankfurt mit Erstaunen feststellt: Ebenso wenig habe ich von einer Einrichtung oder einer besonderen ärztlichen Behandlung zum Behuf ihrer Wiederherstellung irgend etwas gefunden, ja sogar nicht einmal von einer ärztlichen Untersuchung derer, welcher man als Irrsinnige einzusperren oder als genesen wieder frei zu lassen beschloß.248

Das Aufnahmekriterium für ein Narrenhaus war also nicht ein medizinisch begründeter Verdacht, sondern die von der jeweilig eingesperrten Person ausgehende Gefahr der Eigen- und der Fremdgefährdung. Als Grund galt beispielsweise das Bewerfen von anderen Menschen mit Steinen.249 Die Unterbringung in einem Narrenhaus galt als Ehrenstrafe, die umso schwerwiegender war, wenn es ein Verschlag war, in den Einsicht genommen werden konnte wie das bis 1715 nachweisbare Dresdner Narrenhäusel, das aus einem runden Käfig bestand, der von außen gedreht werden konnte.250 238 239 240 241 242 243

244 245 246 247 248 249 250

Kirchhoff: Grundriss einer Geschichte der deutschen Irrenpflege, S. 26. Kirchhoff: Grundriss einer Geschichte der deutschen Irrenpflege, S. 26. Kirchhoff: Grundriss einer Geschichte der deutschen Irrenpflege, S. 27. Kirchhoff: Grundriss einer Geschichte der deutschen Irrenpflege, S. 27. Kirchhoff: Grundriss einer Geschichte der deutschen Irrenpflege, S. 12. Georg Ludwig Kriegk: Die Geisteskranken und ihre Behandlung. In: Georg Ludwig Kriegk: Deutsches Bürgerthum im Mittelalter. Nach urkundlichen Forschungen. Nebst einem Anhang enthaltend ungedruckte Urkunden aus Frankfurtischen Archiven. Frankfurt 1871, S. 356. Kirchhoff: Grundriss einer Geschichte der deutschen Irrenpflege, S. 166. Vgl. Dieter Jetter: Geschichte des Hospitals. Bd. 1: Westdeutschland von den Anfängen bis 1850. Wiesbaden 1966, S. 53–62. Kirchhoff: Grundriss einer Geschichte der deutschen Irrenpflege, S. 9ff. Kirchhoff: Grundriss einer Geschichte der deutschen Irrenpflege, S. 105. Kriegk: Die Geisteskranken und ihre Behandlung, S. 54. Kirchhoff: Grundriss einer Geschichte der deutschen Irrenpflege, S. 12. Vgl. Rainer Rückert: Der Hofnarr Joseph Fröhlich. 1694–1757. Taschenspieler und Spaßmacher am Hofe August des Starken. Offenbach 1998, S. 99f.

58 Für die Versorgung von Kranken und Behinderten oder zumindest für deren Kosten hatten die Angehörigen zu sorgen. Die Unterbringung in einem Turm galt als kostspieliger, wenn auch besser, wie es an dem Wunsch einer Witwe aus der Nürnberger Patrizierfamilie Tetzel ablesbar ist, die 1481 bat, ihren Sohn, »der nicht bei Vernunfft sei«,251 in einem solchen auf ihre Kosten unterzubringen. Wenn die Angehörigen selbst kein ausreichendes Vermögen besaßen, sprang die Stadt mit einer finanziellen Beihilfe ein, jedoch auch nur, wenn der Betroffene dort ansässig war, denn fremde Narren und Kranke wurden aus der Stadt vertrieben.252 Für dieses Vorgehen finden sich Belege aus Nürnberg und anderen Städten.253 Ebenso gibt es Nachweise, dass andere Menschen eine Bezahlung dafür erhielten, wenn sie mental Kranke und Behinderte verwahrten.254 Das Narrenhaus war weniger ein ständiger Aufenthaltsort von Narren als vielmehr eine Sammeleinrichtung, also eine »besondere Art von polizeilichen Gefängnissen«255 für Menschen, die als gefährlich eingeschätzt bzw. die bei einem Normbruch ertappt wurden. Narrheit und Torheit als Namensgeber für diese Einrichtungen verweisen auf den liminalen Zustand der dort eingesperrten Menschen. Die Lage der Narrenhäuser spiegelt diese Situation wieder, denn diese Institutionen waren oft an den Toren der Stadt oder in der Stadtmauer angesiedelt. Ab dem 18. Jahrhundert wurde zunehmend zwischen den Bewohnern der Narrenhäuser differenziert. So gab es für die Ehrenstrafen in Frankfurt am Main weiterhin das Narrenhaus, während ›Geisteskranke‹ im Tollhaus untergebracht wurden.256 Dann erst bestimmten medizinische Kategorien die Aufnahme und die Aufenthaltsdauer der Insassen.

251 252 253

254 255 256

Kirchhoff: Grundriss einer Geschichte der deutschen Irrenpflege, S. 12. Vgl. Kriegk: Die Geisteskranken und ihre Behandlung, S. 354: Aus dem Bürgermeisterbuch von 1440: Den rasenden murer vnd den einen doren czur statt ußwisen. Kirchhoff: Grundriss einer Geschichte der deutschen Irrenpflege, S. 10: »Von 1400–1450 werden 62 Geisteskranke in den Stadtrechnungen erwähnt, von diesen wurden 31 fortgebracht, also auch die Hälfte, wie vom Jahre 1400. Von 1450 – 1500 finden wir im Ganzen 33 erwähnt, von denen sogar 21 transportiert sind, nach Regensburg, Grefenberg, Laidersfeld, Hertzogenawrach, Erlangen, Herrieden; allerdings heisst es vielfach auch ohne Angaben des Orts, derselbe wurde über die Donau (Tunau) gebracht, doch scheinen mir folgende Gründe wieder für die Auffassung zu sprechen, dass es sich beim Transport um Auswärtige handelte. Die Betreffenden blieben immer nur einige wenige Tage im Gefängnis, meistens nur 2–6 Tage, während die nicht Transportirten, also vielleicht Einheimischen, mindestens 15–21 Tage, ja wochen- und monatelang im Loch bleiben.« Auch im 16. Jahrhundert scheint es zu keinen wesentlichen Änderungen gekommen zu sein, vgl. dazu auch S. 96. Kirchhoff: Grundriss einer Geschichte der deutschen Irrenpflege, S. 11. Kriegk: Die Geisteskranken und ihre Behandlung, S. 357. Kriegk: Die Geisteskranken und ihre Behandlung, S. 358.

59

2.3

Närrische Scherzbeziehungen

In der Literatur wird mehrfach geschildert, dass ein Narr seinen Herrn als Narren bezeichnen oder sogar in Lebensgefahr bringen darf, ohne dafür bestraft zu werden.257 Meist wird dieses Verhalten mit der ›Narrenfreiheit‹ erklärt, die dem Narren Regelverletzungen zugestehen, die der übrigen Hofgesellschaft nicht erlaubt und die mit seinem liminalen Status begründbar sind. Das aggressive Verhalten der Narren findet jedoch auch sein Gegenstück im Verhalten des Hofes gegenüber den Narren, denn diese waren allen Formen körperlicher und mentaler Gewalt bis hin zu nicht vollzogenen Todesurteilen von Seiten des Fürsten und des Hofes ausgesetzt.258 Der herkömmliche Begriff der ›Narrenfreiheit‹ spiegelt die Gegenseitigkeit des gewalttätigen, normverletzenden Verhaltens nicht wider. Um die besondere Beziehung zwischen Narr und Hof besser beschreiben zu können, bietet es sich an, auf das aus der Ethnologie stammende Modell der joking relationship zurückzugreifen. Eine Verbindung zwischen zwei Menschen, die sich nach bestimmten Regeln gegenseitig verspotten und bisweilen aggressiv verhöhnen, ohne daran Anstoß nehmen zu dürfen, wird in der Kulturanthropologie als joking relationship oder parenté à plaisanterie beschrieben.259 Gluckman definiert es als »a standardized pattern of fooling and smart repartee, aimed at amusing the employer, and at which he could not take offence.«260 Die Spottverwandtschaft besteht aus »reciprocal or nonreciprocal verbal or action-based humor including joking, teasing, banter, ridicule, insult, horseplay, and other similar manifestations«261 in der Öffentlichkeit und endet meist mit einem Gelächter. Auch das persönliche Eigentum ist in dieser Beziehung nicht geschützt. Die joking relationship stiften, wie es Radcliffe-Brown

257

258

259

260 261

Vgl. bspw. den im Teuerdank geschilderten Versuch von Unfalo, mit Hilfe eines Narren den Helden umzubringen. In: Maximilian I.: Die geuerlicheiten vnd einsteils der geschichten des loblichen streytparen vnd hochberumbten helds vnd Ritters herr Tewrdannckhs. Augsburg 1517, Bl. s vijv–t ir. Vgl. Albert Wesselski (Hg.): Die Begebenheiten der beiden Gonnella. Weimar 1920, Nr. 34 und 35, S. 81–90. Zur Behandlung von Narren allgemein siehe Flögel: Geschichte der Hofnarren, S. 316ff.; Velten: Komische Körper, S. 306f. Vgl. Albert R. Radcliffe-Brown: On joking relationships. In: The social anthropology of Radcliffe-Brown. Hg. von Adam Kuper. London, Henley, Boston 1977, S. 174–188; Max Gluckman: Politics, law and ritual in tribal society. Chicago 1965, S. 97–104; Mahadev L. Apte: Humor and laughter. An anthropological approach. Ithaca, London 1985, S. 29–66. Für die Gesellschaft im Artusroman: Werner Röcke: Provokation und Ritual. Das Spiel mit der Gewalt und die soziale Funktion des Seneschall Keie im arthurischen Roman. In: Der Fehltritt. Vergehen und Versehen in der Vormoderne. Hg. von Peter von Moos. Köln, Weimar, Wien 2001, S. 343–361. Für die Narren: Velten: Komische Körper, S. 301f. Gluckman: Politics, law and ritual, S. 103. Apte: Humor and laughter, S. 31.

60 beschreibt, stabile Verbindungen zwischen verschiedenen Stämmen, zwischen zwei Familien bzw. zwischen einzelnen Familienmitgliedern.262 The theory that is here put forward, therefore, is that both the joking relationship which constitutes an alliance between clans or tribes, and that between relatives by marriage, are modes of organising a definite and stable system of social behaviour in which conjunctive and disjunctive components [...] are maintained and combined.263

So gesehen geht es bei den Scherzbeziehungen darum, einen unkontrollierten Gewaltausbruch zu verhindern. Mit Hilfe einer joking relationship können Konflikte vermieden werden, weil in ihr Aggressionen und provokative Handlungen offen ausagiert werden. Die in der Spottverwandtschaft ausgetauschten aggressiven Witze folgen einem festgefügten Muster aus abschätzigem Verhalten. Das Ritual einer joking relationship vermag so verbindende und trennende Elemente, die zwischen den zwei Spottverwandten stehen und die die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der sozialen Positionen der jeweiligen Person symbolisieren, zu integrieren. In der Spottverwandtschaft werden schwelende Konflikte und Differenzen lachend ausagiert und damit ihrem ursprünglichen Gewaltpotential beraubt. Die in der Ethnologie hauptsächlich für Verhaltensformen innerhalb afrikanischer und südamerikanischer Familien beschriebenen joking relationships eignen sich dafür, die Beziehungen zwischen Narr und Hof und vice versa zu charakterisieren. Die Spottbeziehung betont sehr viel stärker die Gegenseitigkeit dieses Verhältnisses, als es der Begriff der Narrenfreiheit ausdrückt, der eigentlich nur den Narren selbst im Blick hat. Allerdings ist eine direkte Übertragung der Erkenntnisse aus den ethnologischen Forschungen von Radcliffe-Brown und anderen auf die Handlungen der Hofnarren nicht möglich. Beispielsweise haben in einer traditionellen Spottverwandtschaft einer primitiven Gemeinschaft beide Partner eine definierte soziale Position innerhalb der Gesellschaft, während der Narr per se als Außenstehender wahrgenommen wird. Daher wird auch im Folgenden nicht der Begriff ›Spottverwandtschaft‹, sondern ›närrische Scherzbeziehung‹ verwendet. Der Narr fungiert in einer solchen närrischen Scherzbeziehung nur als ein Vermittler bzw. als ein Katalysator. Wie die Rolle des Narren im Kartenspiel als Joker kann er dabei symbolisch die jeweilige Rolle eines in einer Spottverwandtschaft eingebundenen Partners einnehmen.264 Seine Stellvertreterrolle erlaubt es ihm, spottend und aggressiv die in der höfischen Gesellschaft auftretenden

262 263 264

Neben der verwandtschaftsbezogenen joking relationship wird auch eine nichtverwandtschaftsbezogene Spottbeziehung beschrieben. Vgl. dazu Apte: Humor and laughter, S. 50–56. Radcliffe-Brown: On joking relationships, S. 178. Zur Rolle des Narren im Kartenspiel vgl. Mandy Sawitzki, Detlef Hoffmann: Der Narr – ein König ohne Krone. Einblicke in die Hierarchien spätmittelalterlicher Spielkarten. In: Narren. Porträts, Feste, Sinnbilder, Schwankbücher und Spielkarten aus dem 15. bis 17. Jahrhundert. Hg. von Lutz S. Malke. Leipzig 2001, S. 87–110.

61 Konflikte wie Verletzungen der Ehre, Angriffe auf die Kompetenz des Herrschers oder andere Formen des Normbruchs anzusprechen, sie zu inszenieren und gemeinsames Gelächter zu evozieren, denn »die Funktion der Narren oder närrischen Räte [...liegt] in dieser Verschiebungsleistung und d. h. in immer neuen Inszenierungen der Gewalt und der Gewaltvermeidung«.265 Damit wird das in den Auseinandersetzungen liegende Gewaltpotential abgeschwächt, da es in die rituelle Scherzbeziehung verschoben wird.266 Sowohl die närrischen Handlungen, die weder höfische Normen noch Konventionen achten, als auch der aggressive Umgang des Hofes mit den Narren können demnach als ein Mittel angesehen werden, das die höfische Gesellschaft stabilisiert und Kontroversen deeskalieren lässt. In der närrischen Scherzbeziehung sind die künstlichen und die natürlichen Narren vereint. Doch während der Schalksnarr die auf ihn gerichtete Gewalt »im inszenierten Streich, im gestischen und witzigen Spott«267 weiterzugeben vermag, bietet die Scherzbeziehung für den natürlichen Narren lediglich den Raum, um seine Handlungen, die Normen und Konventionen verletzen, in den höfischen Rahmen eingliedern zu können. Er wird nicht wie andere Mitglieder des Hofes bestraft, sondern verlacht. Der überwiegende Teil der aus dem Mittelalter und der frühen Neuzeit stammenden Texte über Hofnarren findet sich in Schwanksammlungen und Schwankromanen. Es ist zu vermuten, dass den dort beschriebenen närrischen Praktiken historische Rituale wie die einer närrischen Scherzbeziehung zu Grunde liegen. In literarischen Texten finden sich Verweise auf diese Scherzbeziehungen, sie werden hier aber re-inszeniert und umgedeutet. Exemplarisch soll das anhand von einigen Schwänken aus der Zimmerschen Chronik erläutert werden. Diese in Südwestdeutschland entstandene Hauschronik stammt aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts und ist in zwei Handschriften überliefert.268 Verfasst wurde sie vom Grafen Froben von Zimmern, der 1519 geboren wurde und wahrscheinlich 1566 starb. Sie hat den Anspruch, nicht nur eine reine Geschlechterfolge darzustellen, sondern tatsächlich die Geschichte einer Familie zu erzählen.269 Wenn Froben über die Generation seines Vaters zu schreiben beginnt, fügt er einzelne Schwänke und ganze Schwankkapitel ein. Damit besitzt die Zimmersche

265 266 267 268

269

Vgl. Röcke: Die Gewalt des Narren, S. 65. Röcke: Provokation und Ritual, S. 354f. Velten: Komische Körper, S. 302. Vgl. zur Zimmerschen Chronik Gerhard Wolf: Von der Chronik zum Weltbuch. Sinn und Anspruch südwestdeutscher Hauschroniken am Ausgang des Mittelalters. Berlin, New York 2002. Zu den Narren in der Chronik: Gerhard Wolf: ›daz die herren was zu lachen hetten‹. Lachgemeinschaften im südwestdeutschen Adel? In: Lachgemeinschaften. Kulturelle Inszenierungen und soziale Wirkungen von Gelächter im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Hg. von Werner Röcke, Hans Rudolf Velten. Berlin, New York 2005, S. 145–169. Vgl. Wolf: Von der Chronik zum Weltbuch, S. 140.

62 Chronik eine »Doppelnatur als Chronik und fiktionale Literatur«.270 Genau diese Doppelnatur spiegeln das 105. Kapitel, das von einem Narren namens Gabriel Magenbuch erzählt, und das 106. Kapitel, das von etlichen schalksnarren und andern dorechten mentschen271 berichtet, wider. Die beiden Schwankkapitel unterbrechen die Biographie des Vaters von Froben, Johann Werner von Zimmern, und sind eingebettet in die Erzählung über die Vätergeneration des Chronisten, zu der noch weitere drei Brüder gehören. Zu Beginn des 106. Kapitels grenzt der Erzähler die vorangegangenen und die folgenden Schwänke von dem Chronikgeschehen ab und motiviert ihre Aufnahme in die Chronik folgendermaßen: Wir haben in nechst vorgehendem capitel etlich guete schwenk, die sich mit Gabrieln Magenbuch begeben, erzellet, und wiewol villeucht ain ernsthafter leser ganz superstitios vermainen mechte, schimpflich oder verkerlich zu sein, die lecherlichen bossen von obgehörten dorechten oder unbesinnten mentschen in ain solliche historiam einzumischen, iedoch das alles wol erwegen und diese gedanken bedechtlich hündangesetzt, so werden die sachen, wie die ergangen, auch was sich in unser landtsart bei den zimbrischen underthonnen, zugehörigen und vernachpurten zu zeiten begeben, angezeicht und mueß der leser also nach erkündigung sovil trauriger und nachtailiger handlungen mit diesen dorechten oder kurzweiligen sachen widerumb recreirt und ufgehalten werden ...272

Es ist zu fragen, ob das Lachen des Lesers allein nur den Spaß an den närrischen Schwänken beinhaltet, oder ob die Aufforderung zu lachen, nicht eine Lesart in sich birgt, die über den unmittelbaren Schwank hinausgeht und die auf das Chronikgeschehen verweist. Froben Christoph von Zimmern erläutert selbst an anderer Stelle, dass seine literarischen Einschübe eine tiefere Bedeutung enthalten würden.273 Im Fall des als schalksnarren274 bezeichneten Gabriel Magenbuch hat schon Gerhard Wolf auf die Parallelen in der Dynastiegeschichte der Grafen von Zimmern hingewiesen. So schlägt Gabriel Magenbuch beispielsweise sein Geschlechtsteil einmal so sehr, dass er fast daran stirbt, weil ihm, als er mit einem leichten Mädchen zusammen ist, keine Erektion gelingt.275 Das weist auf Johann Werner von Zimmern, denn der hatte, so Gerhard Wolf, »angeblich aus Verärgerung über die Weigerung seines Bruders, ihm das Schloß Herrenzimmern zu verkaufen, wichtige Güter in ainer gehe und urenbunst [...] an Rottweil verschleudert und sein Geschlecht damit politisch und finanziell

270 271

272 273 274 275

Wolf: Von der Chronik zum Weltbuch, S. 142. Die Chronik der Grafen von Zimmern. Handschriften 580 und 581 der Fürstlich Fürstenbergischen Hofbibliothek Donaueschingen. Hg. von Hansmartin Decker-Hauff unter Mitarbeit von Rudolf Seigel. Bd. II. Sigmaringen 1967, 106, S. 129, Z. 11f. Die Chronik der Grafen von Zimmern, II, 106, S. 129, Z. 13–22. Vgl. Wolf: Von der Chronik zum Weltbuch, S. 316. Die Chronik der Grafen von Zimmern, II, 105, S. 127, Z. 19. Die Chronik der Grafen von Zimmern, II, 105, S. 121, Z. 36–S. 122, Z. 10.

63 ›entmannt‹.«276 Das Geschlechtsteil steht damit metaphorisch für das Geschlecht der Grafen von Zimmern. Es ist anzunehmen, dass nicht nur die Schwänke um Gabriel Magenbuch in der Zimmerschen Chronik erzählt werden, um Konflikte, die beispielsweise zwischen den Generationen herrschen, zu thematisieren und zu problematisieren. Gerade Frobens Vater, Johann Werner von Zimmern, wird verschiedentlich kritisiert. Die Figur des Narren bietet sich im Rahmen einer närrischen Scherzbeziehung als ein Joker an, der diese Auseinandersetzungen in Handlungen symbolisiert und im Lachen abmildert. Dazu gehört ein Schwank aus dem 106. Kapitel der Zimmerschen Chronik mit Auberle Hensel, der ein natürlicher Narr – im Text heißt es wörtlich, er sei ain kindt277 gewesen – bei den Grafen von Werdenberg war. Dieser Narr wird einmal nach Meßkirch in die Stammburg der Zimmern geschickt, wo man ihn fatzt.278 Der Narr möchte den Späßen entfliehen, wird jedoch von Johann Werner von Zimmern am Kittel festgehalten und der Zipfel des Kittels wird, damit der Narr nicht wegläuft, in der Tür festgeklemmt. Auberle Hensel weiß sich jedoch zu helfen, schneidet den Zipfel ab und die Hofgesellschaft kann, als sie seine List bemerkt, gerade noch sehen, wie er über den Hof läuft. Hier berichtet der Chronist nicht mehr von einem Lachen auf Seiten des Hofes. Der lachende Teil ist vielmehr, so meine Annahme, der Leser, wenn er den Schwank richtig deutet: Froben Christoph von Zimmern steht in einer kritischen Distanz zu seinem Vater, dem er unter anderem Prahlerei und Verschleuderung seines Besitzes vorwirft. Die direkte Kritik ist ihm, der eine Chronik seiner Familie schreiben will, nicht möglich. So jedoch tritt er über die närrischen Schwänke in eine närrische Scherzbeziehung zu seinem Vater. Er lässt Auberle handeln, um diesen Konflikt auszuagieren und nicht offen seine eigene Herkunft zu beflecken. Im Lachen wird die Spannung gelöst. Hinter der versteckten Rüge an Johann Werner von Zimmern steht der ernsthafte Streit der Grafen von Zimmern mit den Grafen von Werdenberg. Dieser wurde nach einigen, auch kriegerischen Auseinandersetzungen gelöst. Doch der Chronist ist unzufrieden, wie sein Vater den mühsam errungenen Zimmerschen Besitz verwaltet. Greift man auf diese Hintergrundinformationen zurück, dann ließe sich die Begebenheit mit dem entlaufenen Narren, der einem werdenbergischen Grafen gehört, auch als Tadel am Vater des Chronisten lesen, der mit dem gerade aus den Händen der Werdenberger entrissenen Besitz nicht richtig umgehen kann und ihn unter seinen Fingern zerrinnen lässt. So liest sich die bereits zitierte Einleitung zu dem Schwank in diesem Sinne doppeldeutig: ... und mueß der leser also nach erkündigung sovil trauriger und nachtailiger handlungen mit diesen dorechten oder kurzweiligen sachen widerumb recreirt und ufge-

276 277 278

Wolf: Von der Chronik zum Weltbuch, S. 324. Die Chronik der Grafen von Zimmern, II, 106, S. 129, Z. 25. Die Chronik der Grafen von Zimmern, II, 106, S. 129, Z. 32.

64 halten werden, welcher sich dann vil nach dem ervolgten vertrag mit den grafen von Werdenberg begeben ...279

Nicht nur der direkte Verweis auf den Werdenberger Vertrag, sondern auch die Wahl eines natürlichen Narren verstärkt diese Lesart. Natürlichen Narren werden bisweilen prodigische und weise Äußerungen zugeschrieben.280 Daher kann das Entlaufen von Auberle Hensel auf die Verschleuderung des Besitzes durch Johann Werner von Zimmern deuten, gleichzeitig aber auch, versteht man den Narren als ein von Gott gesandtes Prodigium, auf das vorherbestimmte Schicksal des Vaters des Erzählers, dem dieser, wie auch an anderer Stelle betont, nicht entrinnen kann. Die Narren dienen in den Schwankkapiteln der Verschiebung dieses VaterSohn-Konflikts als Joker. Mal übernehmen sie, wie Gabriel Magenbuch, die Rolle des Vater und demonstrieren so dessen Narrheit, mal übernimmt der Narr die Rolle des kritischen Sohnes wie im Fall von Auberle Hensel. Doch auch der Eintritt in eine närrische Scherzbeziehung spielt in dem 106. Kapitel eine Rolle und dient ebenfalls wiederum der Auseinandersetzung zwischen den Generationen, wie es im folgenden Beispiel erläutert werden soll. Johann Werner von Zimmern hatte bei sich einen weiteren natürlichen Narren namens Wolf Scherer, der aber von wegen das er so dorecht und ain so wunderbarlicher, verkerter mentsch281 gewesen sei, Petter Letzkopf282 genannt wurde. Einmal, so berichtet der Chronist Froben Christoph von Zimmern, sei der Narr Peter Letzkopf zu Wilhelm Werner von Zimmern gekommen. Jener war ein Onkel des Chronisten und wollte den Narren nicht auf eine Reise zu seiner Schwester, die Äbtissin in der Schweiz war, mitnehmen. Der Narr ärgerte sich so sehr darüber, dass er in die Reiterkappe von Wilhelm Werner Läuse legte. Die Reise war für den Onkel weniger angenehm und nur der Friseur in Schaffhausen freute sich über einen zusätzlichen Verdienst, weil er den Grafen von der Läuseplage befreien musste. Peter Letzkopf aber sei nach dieser bosshait nit vil mehr zu herr Wilhelm Wernhern283 gekommen. Dem eben zitierten Läuseschwank geht ein anderer voran, in dem erzählt wird, wie Johann Werner den Narren Peter Letzkopf wegen seins unsaubern wandels284 nicht mehr in seinem Schloss haben möchte und ihn daher unter einem Vorwand vertreiben und ihn in aim schimpf und zu ainer angst nachjagen285 lässt. Der Schlossherr hat alle kurzweil286 damit. Das heißt, Johann Werner lässt sich nicht

279 280 281 282 283 284 285 286

Die Chronik der Grafen Vgl. unten, S. 83. Die Chronik der Grafen Die Chronik der Grafen Die Chronik der Grafen Die Chronik der Grafen Die Chronik der Grafen Die Chronik der Grafen

von Zimmern, II, 106, S. 129, Z. 20–24. von von von von von von

Zimmern, Zimmern, Zimmern, Zimmern, Zimmern, Zimmern,

II, II, II, II, II, II,

106, 106, 106, 106, 106, 106,

S. 131, S. 131, S. 135, S. 132, S. 135, S. 135,

Z. Z. Z. Z. Z. Z.

3f. 4. 18. 34. 3f. 3.

65 nur die närrischen Streiche gefallen, sondern er beteiligt sich aktiv an ihnen. Im Unterschied dazu rächt sich der mit Läusen versehene Onkel des Chronisten Wilhelm Werner nicht. Die Asymmetrie zwischen Narr und Onkel Wilhelm ist meines Erachtens ganz bewusst vom Chronisten gewählt, denn sie dient als Lob des Onkels, der sich nicht auf solche närrischen Inszenierungen einlässt. Froben nimmt auch an anderer Stelle diesen Onkel von seiner sonst umfänglichen Kritik der Vätergeneration aus.287 Dagegen charakterisiert Froben seinen eigenen Vater als einen Narren, da dieser sich an den närrischen Schwänke beteiligt und seine kurzweil damit hat. Der letzte Absatz des 106. Schwankkapitels bestätigt das. Hier distanziert sich der Chronist von denjenigen, die Scherze mit Narren treiben – wie sein eigener Vater – und ruft dagegen zum Dulden – wie Wilhelm – auf und stellt sie damit unter das Gebot der Nächstenliebe.288 In somma, das ich diß capitel beschließ, kein schedlicher ding ist, als da ain herrschaft einen solchen lust mit narren hat; dann was wolt im regiment mit dergleichen leute ußgerichtet werden? Gleichwol die armen leut auch umb Gottes willen, wie billich, erzogen sollen werden.289

Die Narren können als eine Art Joker in den Schwankkapiteln angesehen werden. Der Vater-Sohn-Konflikt kann damit ganz verschieden bearbeitet werden, wenn die Narren den Unverstand des Vaters vorführen. Sie können ebenso in die Rolle des kritischen Sohnes – wie im Fall von Auberle Hensel – schlüpfen und metaphorisch für verlorenen Besitz stehen. Schließlich kann mit der Infragestellung der närrischen Institution wie bei Peter Letzkopf das gesamte väterliche Verhalten in Frage gestellt werden. Daher werden nicht nur innerhalb von einzelnen Schwänken närrische Scherzbeziehungen aufgegriffen und re-inszeniert, sondern darüber hinaus werden diese Scherzbeziehungen dazu gebraucht, um anderweitige Konflikte auf der Ebene des gesamten Werks zu symbolisieren. Somit werden die Narrenschwänke in der Zimmerschen Chronik für ideologische Zwecke instrumentalisiert und damit als literarische Texte in das Chronikgeschehen eingebunden. Das hier anhand von Ausschnitten aus der Zimmerschen Chronik vorgeführte Modell der närrischen Scherzbeziehung macht deutlich, dass nicht das normverletzende Verhalten des Narren allein, sondern auch der ebenso aggressive Umgang des Hofes mit dem Narren als eine rituelle Beziehung verstanden werden kann, die der Gewaltvermeidung und -reduzierung dient und damit stabilisierende Funktionen für die höfische Gesellschaft haben kann.

287 288 289

Vgl. Wolf: Von der Chronik zum Weltbuch, S. 329. Vgl. Wolf: Lachgemeinschaften im südwestdeutschen Adel, S. 158. Die Chronik der Grafen von Zimmern, II, 106, S. 137, Z. 16–19.

66

2.4

Natürliche Narrheit im 16. Jahrhundert: Claus Narr

Einer der bekanntesten natürlichen Narren im 16. Jahrhundert war Claus Narr. Ein am sächsischen Hof nachweisbarer Hofnarr namens Claus Narr lebte bis 1515.290 Die Belege über ihn sind sehr gering und setzen, von den ernestinischen Rechnungsbücher abgesehen, erst nach seinem Tod ein. Aus den Rechnungsbüchern hat Buchwald Belege erbracht, dass für den Narren 1499/1500 im Torgauer Schloß eine Kammer eingerichtet wurde: viij g von den fenstern ins hawßmans thurm in claws narren Kamer inzuhauwen und iiii betten zu setzen.291

Desgleichen belegt Buchwald sein Todesdatum und nennt die Quellen, aus denen sich die Kosten seiner Überführung nach Altenburg erschließen lassen.292 Demnach ist gesichert, dass Claus Hofnarr bei dem Ernestiner Friedrich dem Weisen war. Welsford verweist auf einen weiteren Beleg über Claus Narr im Dresdner Hauptstaatsarchiv aus dem Jahr 1461, ohne jedoch genauere Fundstellen zu nennen.293 Demnach wäre der Narr schon bei Kurfürst Friedrich II. gewesen und dann von den zunächst gemeinsam regierenden Brüdern Ernst und Albrecht übernommen worden. Andere Quellen, wie ein inzwischen verschollener handschriftlicher Bericht von 1536, den Schnorr von Carolsfeld in seinem Aufsatz über Claus Narr abdruckte, bieten zum historischen Narren kaum verwertbare Informationen.294 Für die Frage nach Vorstellungen und Funktionen natürlicher Narrheit spielt die Biographie des historischen Claus Narr eine eher untergeordnete Rolle. Aufschlussreich sind vielmehr die Texte, die sich auf den Narren berufen. Neben dem hier im Mittelpunkt stehenden umfangreichen Werk der Historien von Claus Narren, das ausschließlich diesem Narren gewidmet ist, gibt es bereits davor eine Reihe von Texten über Claus Narr, in denen sich die verschiedenen Sichtweisen des 16. Jahrhunderts auf die natürliche Narrheit widerspiegeln. Zwei unterschiedliche Positionen lassen sich dabei ausmachen: Zum einen wird der natürliche Narr – eingebunden in eine närrische Scherzbeziehung am Hof – zum Objekt des Spottes und Verlachens. Zum anderen gewinnt im Laufe des 16. Jahrhunderts die natürliche Narrheit an Bedeutung, da in diesen Narren eine Art Prodigium oder Wunderwesen gesehen und sie daher

290 291 292 293 294

Vgl. Georg Buchwald: Lutherana. Notizen aus den Rechnungsbüchern des Thüringischen Staatsarchivs zu Weimar. In: AfRG 25 (1928), S. 1–98. Buchwald: Lutherana, S. 93. Buchwald: Lutherana, S. 93. Welsford: The fool, S. 143: »He [Claus Narr, RvB] is mentioned in the Dresden archives in the years 1461 and 1518, and also in 1536 after his dead.« Vgl. Ruth von Bernuth: Glaube am Narrenseil. Claus Narr am ernestinischen Hofe zu Beginn des 16. Jahrhunderts. In: Glaube und Macht. Sachsen im Europa der Reformationszeit. Hg. von Harald Marx, Cecilie Hollberg. Bd. II: Aufsatzband zur 2. Sächsischen Landesausstellung. Dresden 2004, S. 298–304.

67 weniger verlacht, sondern vielmehr als ein Wunderzeichen rezipiert werden. Diese beiden Sichtweisen sollen im Folgenden anhand einiger exemplarischer Texte ausgeführt und erläutert werden, wobei neben den Beispielen, die sich explizit auf Claus Narr beziehen, auch solche herangezogen werden, die anderen Narren zugeschrieben worden sind.

2.4.1 Der verlachte Claus Narr Schon Konrad von Megenberg hob das Verhalten der natürlichen Narren hervor, weil es nicht dem allgemeinen menschlichen Handeln entspricht. Genau diese Differenz zwischen einem erwarteten, normgemäßen Verhalten und einer davon abweichenden Handlung bietet Anlass zum Verwundern, Staunen oder Lachen und ist Gegenstand vieler Erzählungen über natürliche Narren. Auch zu Claus Narr gibt es eine Überlieferungstradition, die ihn als einen natürlichen Hofnarren schildert, über dessen deviantes Verhalten vor allem gelacht wurde. Beispiele dieser Art finden sich überwiegend in Schwanksammlungen.295 So sind in der veränderten Neuausgabe des Schimpf und Ernst von Johannes Pauli, die 1533 erschien, drei Schwänke enthalten, die von Claus Narr berichten, von dem vil zu schriben wer.296 Unter dem Titel Von einem FFrsten, einem Narren und einem Hund steht einer der bekanntesten Schwänke, der in verschiedenen Fassungen überliefert wurde.297 Pauli erzählt, wie Claus Narr einmal allein im Schloß ist, weil der Fürst fast mit dem gesamten Hofgesinde zur Jagd geritten ist. Der zurückgebliebene Teil der Diener beschäftigt sich nun, wie dann solicher Leut Gewonheit ist,298 mit seinen Liebesangelegenheiten. So bleibt der Narr mit einem Hund namens Lepsch und einem jungen, angeketteten Bären allein. Claus Narr lässt den Bären von der Kette, der daraufhin alle Fenster aus der großen Hofstube ausschlägt. Als der Fürst zurückkehrt, bittet ihn das Hofgesinde um Gnade und berichtet, wie die Fenster zerstört wurden, woraufhin der FFrst und die Herren [...] alle lachen299 mussten. Das Vergnügen wird vom Fürsten noch

295

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Einen Überblick über Claus Narr in der Schwankliteratur bietet Schnorr v. Carolsfeld: Ueber Klaus Narr, S. 284ff. Dazu ergänzend: Schmitz: Wolfgang Büttners Volksbuch von Claus Narr, S. 51–66. Johannes Pauli: Schimpf und Ernst. Bd. 2: Paulis Fortsetzer und Übersetzer. Hg. von Johannes Bolte. Berlin 1924, 694, S. 3. Vgl. die verschiedenen Versionen bei: Johann Agricola: Drey hundert Gemeyner Sprichworter/ der wir Deutschen vns gebrauchen/ vnd doch nicht wissen woher sie kommen [...] an den durchleuchtigen/ hochgebornen Fursten/ vnd Herren/ Herrn Johann Fridreich/ Hertzogen zu Sachsen [...] geschriben/ erklert/ vnd eygentlich außgelegt. Haganaw 1529, 58, Bl. E iijv- E iiijr; Hans Sachs: Sämtliche Fabeln und Schwänke. Hg. von Edmund Goetze, Carl Drescher. Bd. IV: Die Fabeln und Schwänke in den Meistergesängen. Halle 1903, 248, S. 14; Jakob Frey: Gartengesellschaft (1556). Hg. von Johannes Bolte. Tübingen 1896, 125, S. 142 und Büttner: Historien von Claus Narren, VIII, 13, S. 205f. Pauli: Schimpf und Ernst, Bd. 2, 696, S. 4. Pauli: Schimpf und Ernst, Bd. 2, 696, S. 4.

68 gesteigert. Er bittet die Herren zu schweigen, denn er will gGt Spil anrichten.300 Daraufhin stellt der Fürst das Hofgesinde und den Narren mit seinem Hund Lepsch in einen Kreis um sich herum auf und spricht: Jr Herren, es ist einer under euch, der hat den Beren von der Kettin ledig gemacht, dardurch uns ein mercklicher Schad ist entstanden. W=lcher der ist, den wil ich strafen an seim Leib, dann ich wil ihm die Oren lassen abschneiden.301

Das in die Inszenierung eingeweihte Gesinde beteuert seine Unschuld, während Claus Narr sich zu seinem Hund hinunterbeugt und zu ihm sagt: O Lepisch, halt reinen Mundt, damit ich nit umb meine Oren kum!302 Der Fürst und die Herren können daraufhin das Lachen kaum verhalten.303 Der Fürst wiederholt das Spiel mehrmals, aber am Ende bestraft er den Narren weniger grausam: Und do der FFrst das lang getrib, hGb er und die Herren an zG lachen, unnd ließ der Her der Narren mit RhGten streichen, auff das er diß ein ander Zeit nit mer thet.304

Im Gegensatz zum Schalksnarren, dem es bei seinen närrischen Inszenierungen immer wieder gelingt, die Lacher auf seiner Seite zu haben und damit aktiv Anteil an der närrischen Inszenierung zu nehmen, ist hier der natürliche Narr selber Objekt einer Narrenperformance. Das begnadigte Hofgesinde lacht doppelt: nicht nur weil es seine Strafe erlassen bekommt, sondern auch weil es in den Spaß eingeweiht ist. Der Erzähler des Schwanks bereitet seine Leser auf das Lachen über den Narren vor, indem er beim Beschreiben der närrischen Handlungen dessen devianten Verstand offenbart. Als Claus Narr allein mit seinem Hund und dem Bären ist, nimmt der Narr an, er wer schon selbs allein Herr, und wolt auch ein Kurtzwil machen.305 In dem Augenblick, in dem der Narr sich mit der Bitte, ihn nicht zu verraten, an den Hund wendet, dienen die offengelegten närrischen Gedanken dazu, das Vergnügen zu steigern: der Narr bittet den Hund um Stillschweigen, dann er wFßt wol, das es sonst niemants het gesehen.306 Der Narr vermag nicht zu erkennen, dass er sich der umstehenden Lachgemeinschaft durch seine Frage an den Hund verrät. Unter Lachgemeinschaft soll hier mit Velten eine »relativ lockere, an ihren Rändern fließende und sich jedesmal neu konstituierende Gruppe von Teilnehmern an einer komischen Interaktion«307 verstanden werden. Der natürliche Narr hat jedoch keinen Anteil an ihr.

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Pauli: Schimpf und Ernst, Bd. 2, 696, S. 4. Pauli: Schimpf und Ernst, Bd. 2, 696, S. 4f. Pauli: Schimpf und Ernst, Bd. 2, 696, S. 5. Pauli: Schimpf und Ernst, Bd. 2, 696, S. 5. Pauli: Schimpf und Ernst, Bd. 2, 696, S. 5. Pauli: Schimpf und Ernst, Bd. 2, 696, S. 4. Pauli: Schimpf und Ernst, Bd. 2, 696, S. 5. Velten: Komische Körper, S. 301. Siehe auch Hans Rudolf Velten: Text und Lachgemeinschaft. Zur Funktion des Gruppenlachens bei Hofe in der Schwankliteratur. In: Lachgemeinschaften. Kulturelle Inszenierungen und soziale Wirkungen von Gelächter im Mittelalter und in

69 Dem Schwank folgt im Schimpf und Ernst eine didaktische Auslegung: der Fürst sei der allwissende Gott, der Narr entspreche dem Menschen, der seine Sünden jedoch nicht verstecken soll. Der Teufel, verkörpert im Hund Lepsch, werde, wenn er darum gebeten wird, bestimmt nicht schweigen. In der Ausgabe des Schimpf und Ernst von 1555 ist ein weiterer Schwank hinzugefügt. Darin handelt es sich um ein Missverständnis auf der Seite des Narren: Als der Narr einmal zum Fürsten kommt, entfährt diesem ein Wind. Der Arzt hatte dem Fürsten gerade ein Abführmittel gegeben und schätzt den Wind auf zehn Gulden. Da lässt Claus einen grossen mechtigen Scheiß308 und meint, dieser sei hundert Gulden wert, woraufhin er zur Tür hinausgetrieben wird. Der Schwank weist nicht nur auf den auf der Hand liegenden Fehlschluss über das Verhältnis von Körperfunktionen und Geldwert hin, sondern auch auf die diätetische Wirkung, die allgemein dem Lachen zugeschrieben wird.309 Weiterhin wird im zweiten Abschnitt des Schwanks erzählt, dass der Narr einmal beinahe verhungert wäre, weil er drei Tage und Nächte versucht habe, aus Käse junge Kälber zu brüten. Auf den ersten Blick hin scheint diese Begebenheit völlig ohne Zusammenhang mit der ersten zu stehen. Man könnte jedoch das Käsebrüten als einen Kommentar über die mentalen Fähigkeiten des Narren verstehen, der sich vor allem auf den ersten Abschnitt bezieht. Wird der natürliche Narr nicht in seiner Einfältigkeit besonders ausgewiesen, wie es durch die Erzählung vom Käsebrüten geschieht, könnte das Windlassen des Narren vor dem Fürsten als Teil einer obszönen performance verstanden werden, wie sie von Schalksnarren inszeniert wurden.310 Soll jedoch das provozierende, weil normbrechende Handeln einer mentalen Devianz zugeschrieben werden, bedarf es eines weiteren Beweises dieses besonderen Geisteszustands, der mit dem Ausbrüten der Kälber erbracht wird. Ähnlich ist auch der Schwank Von dem Narren im sack zu deuten, den die um 1560 erschienene Ausgabe des Rollwagenbüchleins von Georg Wickram enthält. Claus Narr hat etwas angerichtet und wird daraufhin von der Fürstin gewarnt, dass der Fürst ihn henken lassen wolle. Der Narr bekommt einen solchen Schreck,

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der Frühen Neuzeit. Hg. von Werner Röcke, Hans Rudolf Velten. Berlin, New York 2005, S. 125–143. Pauli: Schimpf und Ernst, Bd. 2, 841, S. 83. Vgl. auch Sachs: Fabeln und Schwänke, Bd. IV, 245, S. 10f. und Büttner: Historien von Claus Narren, IV, 1, S. 56f. Vgl. Sachs: Fabeln und Schwänke, Bd. IV, 245, S. 10, Z. 21–24: Sachs interpretiert den Wind und den dazugehörigen Ausspruch des Narren als Therapeutikum: »Der fFerst fing an zw lachen Des narren schwanck, Der gsFnt vnd kranck Jm thet vil frewden machen« Zur Diätetik allgemein: Heinz-Günter Schmitz: Physiologie des Scherzes. Bedeutung und Rechtfertigung der Ars Iocandi im 16. Jahrhundert. Hildesheim, New York 1972. Vgl. zu den obszönen Inszenierungen Velten: Komische Körper, S. 310–314.

70 dass er schier in die hosen gehofiert.311 Das genügt der Fürstin, um den mit dem Fürsten und der weiteren Hofgesellschaft geplanten Streich weiter zu treiben. Sie rät dem Narren, sich in einem Sack zu verstecken und darin mit Hilfe eines als Bauern verkleideten Edelmanns aus dem Schloß zu fliehen. Auf der Schloßbrücke fragt der Kurfürst den vermeintlichen Bauern, was er im Sack habe. Dieser gibt an, dass es Hafer sei. Doch daran will der fürst kein vergnügen haben [...] und fraget in zum anderen mal.312 Dieses Frage-Antwort-Spiel geht solange, bis schließlich der Narr aus dem Sack heraus dem Kurfürsten zuschreit: Du narr, er tregt habern. Geh=rst du nichts? Habern tregt er. Verstehst du nit mer teütsch? Habern, habern.313

Über die Antwort des Narren lachet der churfürst und seine edelleüt, giengen darvon und liessen den Narren im sack stecken.314 Auch dieser auf Kosten des Narren inszenierte Scherz endet mit einem Lachen und damit so wie die bereits angeführten anderen Schwänke. Ähnlich verfährt Hans Sachs, der Claus Narr in einigen Meisterliedern und in Reimpaargedichten erwähnt.315 Der erste Schwank des Reimpaargedichts Drey schwenck Klaus Narren, der sich auch in kürzerer Form in einem Meisterlied wiederfindet, erzählt, wie einmal Claus von einem Ausritt mit seinem Esel nach Hause zurückkehrt, wobei ihm der obere Flügel der Stalltür von Dienern verschlossen wurde.316 Der Narr bittet daraufhin seinen Esel, sich zu bücken. Doch das Tier hört nicht auf ihn, sondern läuft in den Stall und streift dabei Claus von seinem Rücken ab. Nach seinem Fall schimpft der Narr mit dem Reittier, das zurecht ein grober esel317 genannt würde, da es trotz besseren Wissens nicht auf Befehle reagieren würde. Die Komik der Situation steigert sich, da die Schelte des Narren, dass der Esel nicht situationsgerecht gehorcht hätte, auch den Toren selbst betrifft.

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Georg Wickram: Das Rollwagenbüchlin. In: Georg Wickram: Werke. Hg. von Johannes Bolte. Bd. III/IV. Hildesheim, New York 1974, 105, S. 131. Georg Wickram: Das Rollwagenbüchlin, 105, S. 132. Georg Wickram: Das Rollwagenbüchlin, 105, S. 132. Georg Wickram: Das Rollwagenbüchlin, 105, S. 132. Hans Sachs: Sämtliche Fabeln und Schwänke. Hg. von Edmund Goetze. Bd. II. Halle 1894, 267, S. 233–236; 306, S. 359–362; Sachs: Fabeln und Schwänke, Bd. IV, 244–246, S. 8–11; 248, S. 14f.; 501, S. 387f.; Hans Sachs: Sämtliche Fabeln und Schwänke von Hans Sachs. Hg. von Edmund Goetze, Carl Drescher. Bd. V: Die Fabeln und Schwänke in den Meistergesängen. Halle 1904, 622, S. 35–37; 659, S. 89f.; Hans Sachs: Sämtliche Fabeln und Schwänke. Hg. von Edmund Goetze, Karl Drescher. Bd. VI: Die Fabeln und Schwänke in den Meistergesängen. Halle 1913, 946, S. 160f. Weitere Fassungen sind verzeichnet bei Horst Brunner, Eva Klesatschke, Dieter Merzbacher, Johannes Rettelbach (Hg.): Repertorium der Sangsprüche und Meisterlieder des 12. bis 18. Jahrhunderts. Katalog der Texte. Jüngerer Teil. Hans Sachs 1701–3400. Bd. 10. Tübingen 1987. Sachs: Fabeln und Schwänke, Bd. II, 267, S. 233–236. Sachs: Fabeln und Schwänke, Bd. II, 267, S. 234, Z. 30.

71 Als nFn der esel kam geloffen Mit dem narren, welcher sach offen An dem rostal die vnder thFer Und doch oben den fluegel fFer, Klas aber so vil sin nit het, Das er sich selbert puecken thet318

Dieser erste Schwank endet mit dem Satz: Da wart alles hoffgsind sein lachen.319 Im zweiten Schwank wird ihm vom Hofgesinde ein weiterer Streich gespielt.320 Es stellt zu Claus Narrs Esel ein junges Füllen und erzählt dem Narren, dieser habe es geboren. Daraufhin schlägt der Narr wütend seinen Esel, denn jener habe sich von einem Mann in eine Frau verwandelt und würde außerdem noch Hurerei betreiben. Das Füllen nun drückt sich ob dieser Schlägerei verschreckt in eine Ecke. Als der Narr es sieht, tröstet er es und verspricht ihm Hilfe und Unterstützung als ein vatter ob seinem kind.321 Seinem Esel droht er jedoch die Todesstrafe an. Daraufhin lacht wieder das Hofgesinde. Der dritte Schwank schließt unmittelbar an das zuvor Geschehene an. Claus’ Esel ist aufgrund der Schläge gestorben. Der Narr will daher bis auf weiteres auf einem Stecken reiten, denn dieser würde ihm bestimmt keine hFrenkinder322 zur Welt bringen. Mit Stiefel und Sporen und wie ain rewters mon323 begleitet er so den Fürsten nach Torgau. Anfangs springt Claus Narr noch hin und her, doch unterwegs vergeht ihm sein hochmuet,324 denn der Weg war von kot dieff vnd schluepfrig.325 Als der Fürst in Torgau ankommt, fragt er, wie es dem Narren ergangen sei. Der entgegnet ihm, dass es ein narrenwerck326 sei, auf einem Stecken zu reiten. Ihm sei es jetzt gleichgültig, ob sein Esel ein Füllen trage oder nicht. Und wieder lacht des narren ydermon.327 In allen diesen Schwänken wird am Ende über Claus Narr gelacht. Dabei kann der Lachanlass sowohl spontan entstanden oder auch von der Hofgesellschaft inszeniert worden sein. Um den natürlichen Narren herum bildet sich eine kontingente Lachgemeinschaft, zu der er – im Gegensatz zu den Schalksnarren – nie gehört. Er ist ein zu verlachendes Objekt. Das Lachen bietet sich als eine Kompensation für Schäden an, die einem natürlichen Narren nicht angerechnet werden können, wie zum Beispiel die durch den Bären ausgeschlagenen Scheiben

318 319 320 321 322 323 324 325 326 327

Sachs: Fabeln und Schwänke, Bd. II, 267, S. 233f., Z. 15–20. Sachs: Fabeln und Schwänke, Bd. II, 267, S. 234, Z. 35. Vgl. auch Hans Wilhelm Kirchhof: Wendunmuth. Bd. 1. Hg. von Hermann Österley. Tübingen 1869, 412, S. 427f. Sachs: Fabeln und Schwänke, Bd. II, 267, S. 235, Z. 75. Sachs: Fabeln und Schwänke, Bd. II, 267, S. 235, Z. 85. Sachs: Fabeln und Schwänke, Bd. II, 267, S. 235, Z. 94. Sachs: Fabeln und Schwänke, Bd. II, 267, S. 236, Z. 104. Sachs: Fabeln und Schwänke, Bd. II, 267, S. 236, Z. 100. Sachs: Fabeln und Schwänke, Bd. II, 267, S. 236, Z. 116. Sachs: Fabeln und Schwänke, Bd. II, 267, S. 236, Z. 122.

72 in der Hofstube. Daher gibt Sachs den Rat, dass nur gros herren vnd frawen328 einen Narren halten sollen, also diejenigen, die die durch Narren verursachten Schäden auch ersetzen können. Also wer durch kFrczweil wil halten narren, Der mFes auch schadens leiden vil, Darff auf kain gwin nicht harren. DrFmb nimant narren halten sol, Dan gros herren vnd frawen.329

Die Beziehung zwischen dem natürlichen Narren und der Lachgemeinschaft kann jedoch nicht nur auf eine närrische Handlung und ein anschließendes Lachen als ›Bezahlung‹ für entstandene Schäden reduziert werden. In das Lachen hinein spielt häufig auch der Verweis auf eine tieferliegende Wahrheit in den Reden des Narren. Damit kann sowohl das auf der Hand liegende närrische Verhalten als auch die dahintersteckende Weisheit als Lachanlass dienen, wie es Sachs in dem Meisterlied Klas Narren drey wunderstüeck und in dem Schwank Klaus Narren drey grose wunder in der stat zv Leipzig vorführt.330 Hans Sachs setzt Claus Narr in einem 1549 entstandenen Meisterlied und in einem Schwank, den er 1563 schrieb, wiederum vordergründig als ein Objekt des Verspottens in Szene. Das Meisterlied und der Schwank erzählen von einem Bankett, bei dem Friedrich der Weise und andere Fürsten sich unterhalten: Die fuersten an zv reden fiengen Von selzam, wunderlichen dingen, Hin vnd herwider in den landen Was wunders aim wer zv gestanden Pis her in seinem ganczen leben, Vnd was selzams sich het pegeben, Vnd prachten vil sach auf die pon.331

Während die Teilnehmer des Banketts den schlaffdrFnck332 zu sich nehmen, erzählen sie sich von besonderen, wunderbaren Dingen, die ihnen zugestoßen sind. Da ergreift am Ende auch der Narr das Wort. Doch er berichtet von ganz anderen Dingen. Claus Narr ist sehr erstaunt darüber, dass es noch keinem aufgefallen sei, welche Wunder sich in Leipzig fänden. Als erstes wundert sich Claus darüber, dass die Barfüßermönche solche prächtigen Gebäude hätten, obwohl es ihnen nach ihrem Gelübde verboten sei, Geld anzurühren, denn sie dürften sich nur vom Betteln ernähren. Dagegen habe mein Fricz,333 also Friedrich der

328 329 330 331 332 333

Sachs: Fabeln und Schwänke, Bd. IV, 248, S. 15, Z. 50–54. Sachs: Fabeln und Schwänke, Bd. IV, 248, S. 15, Z. 50–54. Sachs: Fabeln und Schwänke, Bd. V, 622, S. 35–37 und Sachs: Fabeln und Schwänke, Bd. II, 306, S. 359–362. Sachs: Fabeln und Schwänke, Bd. II, 306, S. 359, Z. 13–19. Sachs: Fabeln und Schwänke, Bd. II, 306, S. 359, Z. 12. Sachs: Fabeln und Schwänke, Bd. II, 306, S. 360, Z. 53.

73 Weise, seine Mühe, die Bauleute zu bezahlen. Zum zweiten verwundert es den Narren, dass der Predigerorden in Leipzig soviel Getreide verkaufe, obwohl er selbst noch nie auf einem Feld einen Mönch habe arbeiten sehen. Er schlösse daraus, die Mönche sind nFn all mainaidig worn und thFn nichs den schlaffen, fressn vnd sauffen.334 Dagegen habe sein Kurfürst, obwohl er auch Herr über viele Bauern sei, in keinem Fall eine solche Summe übrig. Das dritte Wunder sieht Claus Narr bei den damaser mFnich,335 die Keuschheit schwören würden und dennoch ohne Ehefrauen viele kleine Kinder hätten. Sein Kurfürst habe dagegen ein sch=n vnd wolgeporne frawen336 und bekäme trotzdem keinen Sohn als Erben. Der Narr schließt mit der Bitte um Aufklärung: Wie das aber alles zv get, Jr herren, des perichtet mich, Weil ir vil gscheider seit wen ich, Pit euch sFma sFmmarFm, Das ich meins wundern gar abkFmb.337

Die Fürsten lachten dieser schwenck.338 Sie erinnern sich aber gleichzeitig auch daran, dass die Bettelorden im Deutschland339 Reichtum angehäuft hätten und damit die weltliche Macht überträfen. Die närrischen Handlungen dienen damit nicht nur dem unmittelbaren Vergnügen, sondern weisen darüber hinaus. Der Narr dient hier als Sprachrohr der protestantischen Kritik an den Klerikern und sein närrischer Status legitimiert seine Aussagen als wahr. Auch in dem oben genannten Reimpaargedicht Drey schwenck Klaus Narren spricht der Nachsatz explizit von einer göttlichen Gabe, die in dem närrischen Verhalten verborgen liegt: Hie merck man, wie got seine gab So mancherley giebet herab Den weissen vnd thoren auf erden, Das offenwar erkent mus werden Sein guet, dardurch sich mer vnd wachs Sein lon vnd er. So spricht Hans Sachs.340

In den Reden des Narren entdecken die Fürsten eine tiefere Wahrheit, die, so betont es Sachs in seinem Epimythion, als Gottesgabe entdeckt werden muss. Hier deutet sich bereits eine andere Sichtweise an, die in den natürlichen Narren nicht mehr ausschließlich Objekte des Verlachens und Verspottens sehen, sondern sie als Träger von göttlichen Botschaften wahrnehmen.

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Sachs: Sachs: Sachs: Sachs: Sachs: Sachs: Sachs:

Fabeln Fabeln Fabeln Fabeln Fabeln Fabeln Fabeln

und und und und und und und

Schwänke, Schwänke, Schwänke, Schwänke, Schwänke, Schwänke, Schwänke,

Bd. II, Bd. II, Bd. II, Bd. II, Bd. II, Bd. II, Bd. II,

306, 306, 306, 306, 306, 306, 267,

S. 361, S. 361, S. 362, S. 362, S. 362, S. 362, S. 236,

Z. Z. Z. Z. Z. Z. Z.

76f. 95. 107. 110–114. 115. 117. 125–130.

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2.4.2 Claus Narr als protestantisches Exempel, Wunder und Wunderzeichen Interesse an Claus Narr bekundeten vor allem protestantische Autoren. Der Grund hierfür ist nicht nur darin zu suchen, dass er an dem sächsisch-ernestinischen Hof von Friedrich dem Weisen lebte, der große Anteilnahme an der Reformation nahm. Da der historische Narr bereits vor der Reformation starb, muss es noch andere Gründe gegeben haben, weshalb das Interesse an seiner Figur im 16. Jahrhundert so groß war. In der Figur des Narren verbinden sich, so meine These, zwei verschiedene Deutungen der natürlichen Narrheit, die den Narren zum einen als Symbol einer millenarischen Bewegung sehen und ihn zum anderen als Prodigium verstehen. Die Reformation selbst ist als ein ritueller Prozess gedeutet worden, in dem gerade das Heilige eine neue Bedeutung erhalten sollte, denn »rather than simply replacing immanence with transcendence, the Protestants of the sixteenth century sought to redefine the place of the sacred in the world«.341 Die als eine millenarische religiöse Bewegung verstandene Reformation weist viele Kennzeichen der Liminalität auf. Sie ist durch Merkmale, die der communitas der Schwellenphase zu eigen sind wie »Homogenität, Gleichheit, Anonymität, Besitzlosigkeit [...], Herabsetzung aller auf das gleiche Statusniveau [...], Minimierung der Geschlechtsunterschiede (alle sind ›im Angesicht Gottes‹ oder der Ahnen gleich), Abschaffung von Rangunterschieden, Demut, Gleichgültigkeit gegenüber der äußeren Erscheinung, Selbstlosigkeit, totaler Gehorsam gegenüber dem Propheten oder Führer, sakrale Einweisung, extreme Betonung religiöser im Gegensatz zu weltlichen Einstellungen und Verhaltensweisen, [...] Einfachheit der Rede und des Auftretens, heilige Torheit...«342 charakterisiert. In solchen liminalen Phasen können zuvor marginalisierte, sich also im Zustand der permanenten Liminalität befindende Gruppen oder Individuen, zu Symbolen der neuen Bewegung werden, denn mit dem Zustand der Liminalität ist nach Turner eine mystisch-religiöse Macht verbunden.343 Zu fragen ist daher, ob die natürliche Narrheit eine solche Rolle in der Umbruchszeit des 16. Jahrhunderts übernehmen konnte. So verkörpert die als liminaler Zustand angesehene natürliche Narrheit in besonderer Weise den armen Nächsten, dem man sich aus protestantischer Sicht zuwenden sollte. Dagegen wurden Heilungswunder oder Bilderverehrung für Göt-

341

342 343

Edward Muir: Ritual in early modern Europe. Cambridge 1997, S. 186. Vgl. dazu auch Susan C. Karant-Nunn: The reformation of ritual. An interpretation of early modern Germany. London, New York 1997; Robert W. Scribner: Religion und Kultur in Deutschland 1400–1800. Hg. von Lyndal Roper. Göttingen 2002; Barbara Stollberg-Rilinger: Von der sozialen Magie der Promotion. Ritual und Ritualkritik in der Gelehrtenkultur der Frühen Neuzeit. In: Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie 12 (2003), S. 273–296. Turner: Das Ritual, S. 110. Turner: Das Ritual, S. 107. Vgl. oben, S. 50.

75 zendienst gehalten. Zerstörungen im Zuge der Reformation richteten sich vor allem auf Bilder und Objekte, die liturgische Funktionen hatten. In der mittelalterlichen Volksfrömmigkeit wurde der visuelle Sinn als der wichtigste erachtet, wenn es um Teilhabe am Göttlichen ging.344 Rituale und rituelle Gegenstände wurden sehend erfahren. Dieses Schauen selbst kann als »sakramentale Handlung«345 aufgefasst werden. Folgt man Robert Scribner, so besaßen Bilder demzufolge ein heiliges Potential, denn sie waren wirkmächtig.346 Zwischen ihnen und dem Betrachter kam es zu spezifischen Wechselwirkungen: sie wirkten partizipatorisch347 und sie verfügten über eine innere Persönlichkeit,348 repräsentierten also einen Teil des Heiligen selbst. Eine Erklärung lässt sich in einem zeitgenössischen theoretischen Modell des Sehens finden: Each visual image was not only active, it generated ›infinite images of itself‹. Religious images, images of the sacred, of the supernatural, were even more powerful; their reflective powers were multiplied. These images not only moved toward the human eye in a process of emanation. They also reflected that which was invisible, the unseen: the sanctity of the saints, the holiness of Christ. Like the surface of water, religious images made visible patterns of light, the hidden world of the divine; their material substance provided the glazing which caught and reflected the invisible world.349

Doch genau hier setzte die Reformation an. Die allein durch Bilder evozierte Teilhabe an der Heiligkeit und die den Bildern zugeschriebenen magischen Wirkungen galten als Götzendienst. Den Reformatoren war dagegen die Konzentration auf das Wort wichtig, da sie prinzipiell davon ausgingen, Gott sei sinnlich nicht fassbar.350 Stattdessen sollte das Gesehene zum Gehörten, also dem ausgelegten Wort, werden.351 Besonders die Calvinisten lehnten bildliche Darstellungen radikal ab: To Calvin’s eyes figures of the saints and Christ in churches detracted from the living icons of the congregation, the believers performing ritual duties. He wanted Christians to look at one another during church services rather than at alluring images.352

Anstelle der Heiligenbilder sollte man sich mehr seinem Nächsten und dabei vor allem den Armen zuwenden, denn nur in ihnen, so Zwingli, sei das wahre Bild Gottes zu erkennen.353

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Vgl. Scribner: Religion und Kultur in Deutschland, S. 110f. Scribner: Religion und Kultur in Deutschland, S. 111. Scribner: Religion und Kultur in Deutschland, S. 131. Scribner: Religion und Kultur in Deutschland, S. 131. Scribner: Religion und Kultur in Deutschland, S. 131. Lee Palmer Wandel: The reform of the images. New visualizations of the Christian community at Zürich. In: AfRG 80 (1989), S. 105–124, hier S. 108. Scribner: Religion und Kultur in Deutschland, S. 135. Muir: Ritual in early modern Europe, S. 193; Scribner: Religion und Kultur in Deutschland, S. 135. Muir: Ritual in early modern Europe, S. 195. Muir: Ritual in early modern Europe, S. 194.

76 Als zeitweilige Bewohner der Narrenhäuser oder als geduldete Bettler waren die natürlichen Narren im spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Alltag durchaus präsent und boten sich daher als ein neues Symbol für reformatorische Ideen an.354 Von einem marginalisierten Lachobjekt wurde der natürliche Narr zu einem bestaunten Wunder. Mit dem Amt des Narren, das als eine institutionalisierte Form von Liminalität angesehen werden kann, waren bereits schon zuvor Privilegien verbunden, die auf den Narren als eine moralisch-religiöse Instanz hindeuten.355 Doch gerade in den religiösen Auseinandersetzungen bot sich die natürliche Narrheit als ein besonderes Glaubensvorbild an. So führt Martin Luther in den Tischgesprächen aus, dass der ursprüngliche Glaube im Paradies wie bei den Kindern schlecht, einfältig, aufrichtig, ohn alle Bosheit und Heuchelei356 gewesen sei und fügt dem ein Beispiel von Claus Narr hinzu, der den Kindern gleichgesetzt wird, da seine Narrheit eben nicht wie bei den Schalksnarren auf Verstellungen beruhe: Darum sind solche natürliche Possen und Scherze die aller besten an Kindern, das sind die lieblichsten Närrlin. Angenommener Scherz und Poßwerk an den Alten hat solch Gnad nicht, fleußt und gefällt nicht so wol; denn was gefärbet und gedicht ist, das verleuret Gunst, haftet nicht und macht wenig Lust als das, so von Herzen natürlich zugeht. Darum sind die Kinderlin die feinsten Spielvogel, die reden und thun alles einfältig, von Herzen und natürlich. Ein solcher ist Claus Narr gewest, der in die Stiefel hofirte, und da er beschüldiget ward, entschüldiget er sich und sprach, die Mäuse hätten es gethan.357

Einen weiteren Anhaltspunkt für die herausgehobene Stellung, die der natürliche Narr Claus in der nachreformatorischen Zeit erhielt, bietet die außfuhrliche beschreibung des gegenwertigen/ alten/ vnd vhralten Standts Germaniæ. nemlich jhr erstes auffkomen/ zunemen/ vnd jetzige gelegenheit der Regierung vnd Herrschung/ Stett/ Policey/ Kirchenstandts/ Flecken/ Schl=sser/ D=rffer/ Fruchtbarkeit der Velder/ Berge/ W(ld/ FlFß/ vnd Lachen358 von Matthias Quadt von Kinckelbach, die unter dem Titel Teutscher Nation Herligkeitt 1609 veröffentlicht wurde. Der Verfasser nennt etlicher furnehmer Personen (welche vns das edle Teutschlandt vnser allgemeines liebes Vatterlandt ans liecht gebracht)

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355 356 357 358

Vgl. oben, S. 56. Vgl. dazu beispielsweise auch die Miniaturen im Gebetbuch des Matthäus Schwarz, die vier Augsburger Narren darstellen. Siehe dazu Malke: Nachruf auf Narren, S. 21ff. Vgl. Turner: Das Ritual, S. 108. Er bezieht sich damit auf Gluckman: Politics, law and ritual, S. 102. WA TR 4, 4364, S. 262. WA TR 4, 4364, S. 262. Matthias Quadt von Kinckelbach: Teutscher Nation Herligkeitt. Ein außfuhrliche beschreibung des gegenwertigen/ alten/ vnd vhralten Standts Germaniæ etc. Köln 1609, Bl. jr.

77 herkomen/ leben/ vnd abschiedt.359 Darunter findet sich auch ein kurzer biographischer Abschnitt zu Philipp Melanchthon. Zu dem Streit um die Philippisten berichtet Quadt von Kinckelbach, wie die Lutherischen360 in der Wittenberger Schloßkirche ein Bild von Melanchthon entzwey geworffen361 hätten. Dieses habe zuuoren mit des Lutheri vnd des Claus Narren Bildnus gestanden.362 Das Bild von Claus Narr wird anderweitig nicht genannt und wurde vermutlich bei dem Brand von 1760 zerstört.363 Über den Zweck und die Funktion der Darstellung von Claus Narr können daher nur Vermutungen angestellt werden. Die ernestinischen Kurfürsten verwahrten in der Wittenberger Schloßkirche, die zu Beginn des 16. Jahrhunderts gebaut worden war, nicht nur ihre umfangreiche Reliquiensammlung, sondern die Kirche enthielt darüber hinaus auch weitere in den Bereich der Wunderkammern gehörende Gegenstände wie eine Walfischrippe.364 Ob das Bild bereits aus dieser Zeit stammt und eine ähnliche Funktion wie die repräsentativen Darstellungen von monströsen Individuen wie beispielsweise im Schloss Ambras hatten, wo der Fürst sich und seine Familie im Mittelpunkt des Panoptikums einer wunderbaren Welt darstellen ließ, ist nicht eindeutig zu beantworten.365 Im Zuge der Reformation wurden große Teile des Reliquienschatzes eingeschmolzen und die Schloßkirche nutzte nun hauptsächlich die Universität.366 Die bei Quadt von Kinckelbach angedeutete Nähe der Bilder von Martin Luther und Philipp Melanchthon zum Bildnis von Claus Narr lässt vermuten, dass der Narr nicht nur ein Teil des Wunderbaren repräsentierte, sondern auch in das reformatorische Programm eingebunden war, dass ihn als Einfältigen und damit ein Vorbild des Glaubens sah. Möglicherweise kann Claus Narr daneben auch als ein Wunderzeichen verstanden werden, das die Reformation ankündigte.367

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Quadt von Kinckelbach: Teutscher Nation Herligkeitt, Bl. jr. Quadt von Kinckelbach: Teutscher Nation Herligkeitt, S. 415. Quadt von Kinckelbach: Teutscher Nation Herligkeitt, S. 415. Der Vorwurf an Melanchthon sei gewesen, dass er mit »Caluino heimliche correspondentz« gehabt und dass er in dem »Verstandt vnd Bekantnus Caluini« gestorben sei. Quadt von Kinckelbach: Teutscher Nation Herligkeitt, S. 415. Vgl. Schmitz: Wolfgang Büttners Volksbuch von Claus Narr, S. 285. Vgl. dazu Gabriele Wimböck: Exempla fidei: Die Kirchenausstattungen der Wettiner im Reformationszeitalter. In: Glaube und Macht. Sachsen im Europa der Reformationszeit. Hg. von Harald Marx, Cecilie Hollberg. Bd. II: Aufsatzband zur 2. Sächsischen Landesausstellung. Dresden 2004, S. 189–204, hier S. 189f. Vgl. oben, S. 47f. Vgl. Ernst Müller: Die Entlassung des ernestinischen Kämmerers Johann Rietesel im Jahre 1532 und die Auflösung des Wittenberger Heiligtums. In: AfRG 80 (1989), S. 213–239, hier S. 228f. Vgl. unten, S. 207.

78 Auch die Konsolplastik des Narren am Johann-Friedrich-Bau des Torgauer Schlosses, die zwischen 1533 und 1536 entstand, weist auf die besondere Stellung des Narren hin (Abb. 3). Auf der repräsentativen Hofseite ist neben dem Wendelstein die Figur von Claus Narr zu sehen, der über seinem Hund steht.368 Die Haltung des Narren ist gebeugt, seine Hände ruhen auf dem Gewand und er schaut mit geöffnetem Mund in die Höhe. Claus Narr an solch einer prominenten Stelle hebt die Bedeutung des Narren hervor. Er steht allein und ist nicht nur schmückendes Beiwerk wie in dem Zwickelrelief am gleichen Bau, auf dem der Narr ebenfalls dargestellt ist.369 Die Konsolplastik mit Claus Narr verweist an dieser zentralen Stelle darauf, dass der Narr nicht nur am ernestinischen Hof in Diensten stand, sondern dass ihm darüber hinaus eine für das Fürstentum wichtige Geltung zukam. Die besondere Rolle des Narren im reformatorischen Kontext ist außerdem an seiner Deutung als Prodigium ablesbar. In einer der ersten Sprichwortsammlungen nahm Johann Agricola 1528 das Sprichwort Lepsch lass nicht schnappen370 auf, das er auf Claus Narr zurückführte, jedoch erzählt er eine andere Begebenheit als im bereits zitierten Schwank aus dem Schimpf und Ernst.371 Der Ausspruch, den man anwenden solle, wenn wir yemand warnen daß er schweige/ vnd sage nichts,372 sei entstanden, als der Narr bei Bischof Ernst von Magdeburg die Federn eines Kissens, die er für Rosen hielt, in einem Zimmer verteilte. Nur der Hund des Bischofs namens Lepsch war zugegen gewesen. Als der Bischof das Unheil sah, bat Claus den Hund, nichts zu verraten. Bevor Agricola die Herkunft des Sprichworts durch diese Erzählung ableitet, stützt er seine Quelle ab. Dabei gibt er die Namen verschiedener ernestinischer und albertinischer Fürsten an, bei denen der Narr gedient habe: Ernst, Albrecht, Bischof Ernst von Magdeburg und der Name des Narren selbst legitimieren die Geltung des Sprichworts. ... die Vorstellung, das einzelne Sprichwort gehe auf eine konkrete Erfahrung historischer Figuren zurück, [ist] zumindest in der frühen Neuzeit weit verbreitet. Neben allgemeinen Äußerungen wie der von Sebastian Franck (1541), es gebe nicht warers noch gewissers dann die Sprichwörter, denn diese habe die erfarung gelert, werden im Besonderen auch bekannte biblische und literarische Figuren wie etwa Salomon und Äsop oder historisch greifbare Personen wie Claus Narr (bei Büttner) oder Adlige wie der Herzog von N. (bei Harsdörffer) als Urheber von Sprichwörtern angeführt.373

368 369 370 371 372 373

Vgl. Peter Findeisen, Heinrich Magirius (Hg.): Die Denkmale der Stadt Torgau. Mit Beiträgen von Karlheinz Blaschke, Peter Beyer, Dora Miethe, Hans Nadler. Leipzig 1976, S. 140. Vgl. Findeisen und Magirius: Die Denkmale der Stadt Torgau, S. 160. Agricola: Drey hundert Gemeyner Sprichworter, 58, Bl. E iijvf. Vgl. oben, S. 67. Agricola: Drey hundert Gemeyner Sprichworter, 58, Bl. E iiijr. Ludger Lieb: Krieg der Sprichwörter. Zur fragwürdigen Autorität von Erfahrung und Lehre in Georg Rollenhagens ›Froschmeuseler‹ (1595). In: Tierepik und Tierallegorese. Studien zur Poetologie und historischen Anthropologie vormoderner Literatur. Hg. von Bernhard

79

Abb. 3: Claus Narr am Johann-Friedrich-Bau von Schloss Torgau

80 Agricola hebt besonders hervor, dass Claus Narr vil zukunfftiger ding/ auch so an andern ortten geschehen sind/ verkundigt hat.374 Diese Fähigkeit sei den Doringen vnd Meyssen wol bewust375 gewesen. Die Thüringer und die Meißner, also die Ernestiner und Albertiner, zeichnen sich damit in zweifacher Hinsicht aus: zum einen besitzen sie einen Narren, der Zukünftiges prophezeien kann und zum anderen sind sie in der Lage, auch seine besondere Gabe zu erkennen. Auf die Voraussetzungen für das Erkennen der besonderen Fähigkeiten der natürlichen Narren, weise zu reden und zukünftiges Geschehen vorherzusagen, geht Paracelsus in seiner Abhandlung De generatione stultorum ein.376 Um die Wahrheit in den Handlungen eines natürlichen Narren zu entdecken, bedarf es der Auslegung und Ausdeutung. Denn der Narr selbst fungiert nur als Medium und daher ist der Übermittlungsprozess sehr gefährdet. Paracelsus warnt davor, die natürlichen Narren bewusst zu närrischen Handlungen zu provozieren. Denn genau das Herausreizen verfälsche die groß ler, exempel, weissagung und underricht:377 dan mit dem selbigen umbtreiben zerbricht man sie und macht sie listig auf narren sitten, und komen in die fantasei, domit man sie treibt, und also wird aber der recht geist zuruckgeschlagen. aber einem fürsten stêt es wol an, an seim hof narren nit vexiren lassen, noch einfeltige leut, sie in iren bossen, wie es die natur inen gibt, lassen fürfaren und alle ding aufmerken und wol ermessen [Hervorhebung RvB].378

In den Handlungen der natürlichen Narren werden, wenn sie unverfälscht, also nicht durch äußere künstliche Einflüsse gestört werden, göttliche Botschaften vermutet, die von einem Beobachter herausgelesen und bewertet werden müssen.379 Das Verbot des vexirens ist im 16. Jahrhundert eine weitverbreitete Forderung im Umgang mit den natürlichen Narren. Statt über sie zu lachen, sollte man in ihnen Zeichen Gottes erkennen, sie nicht in ihren Eigenarten stören und stattdessen sie bestaunen. Ähnlich argumentiert bereits Geiler von Kaysersberg, der die natürlichen Narren als Gotteskinder ansieht, in seinen Predigten zum Narrenschiff: vnd welcher mensch also ein nar ist den oder die sol man nit verachten/ man sol sie leiden vnd dulden als krancke glider/ sy werden behalten durch den glauben der heiligen kirchen/ vnd im tauff ist inen die erb sünd verzogen worden. Darumb thGnt die menschen fast vnrecht die sie vexieren sie vmbtreiben ir spotten sie verschmehen so sie seint in der gnad gottes [...] sie seint in der gnad gottes vnd du vileicht in todsünd. Er oder sie seind gotes fründ vnd du gotes figen/ er ist ein sun des reiches gottes/ du villeicht ein sun der verdampnis. Darumb so glaub ich das sie schwerlich

374 375 376 377 378 379

Jahn, Otto Neudeck. Bern, Berlin, Bruxelles, Frankfurt, New York, Oxford, Wien 2003, S. 251–277, hier S. 261f. Agricola: Drey hundert Gemeyner Sprichworter, 58, Bl. E iijvf. Agricola: Drey hundert Gemeyner Sprichworter, 58, Bl. E iiijr. Vgl. oben, S. 43. Paracelsus: De generatione stultorum, S. 91. Paracelsus: De generatione stultorum, S. 89. Vgl. unten, S. 203ff.

81 t=dtlich sünden der sie reitzet vnd erzürnet vnd macht sie schweren vnd got lestern oder zG andern wercken bringt die von im selber sünd sein tödlich ...380

Auch für Hans Sachs ist der natürliche Narr nicht nur ein Objekt des Verlachens und Verspottens, sondern auch er erwähnt weise Reden von Claus Narr. So erzählt er in dem Meisterlied Klas Narren rat zum krieg eine bekannte Begebenheit, die über verschiedene Narren berichtet wird.381 Claus Narr rät, man solle, bevor man in den Krieg ziehe, dort alles verwüste, um dann erst Frieden zu schließen, lieber den Krieg nicht beginnen und gleich den Frieden bewahren.382 Kurfürst Friedrich der Weise habe, so Sachs, auf den Rat des Narren gehört und sei nicht in den Krieg gezogen. Dem folgt in einem lehrhaften Abschluss des Meisterlieds die allgemeine Aufforderung, die Narrenrede ernst zu nehmen und einige Kriege gar nicht erst zu führen, denn diese würden überwiegend auf dem Rücken der Armen ausgetragen: O, volgt man dem Klawsnarren noch, So gw=n maniger krieg ein loch. ZFmb krieg ir etlich ratten hoch Vnd sint des kriegs pegirig Vnd ueber den feint schwirig, Dem man oft wenig schaden kon. Es get Fber den armen mon, Der mFs das har herlangen schon, Wen sich die fFersten rawffen.383

Über Claus Narr wird in diesem Meisterlied an keiner Stelle gelacht, vielmehr steigt er zu einem weisen Ratgeber auf. An anderer Stelle dient das übersteigerte Hineinlesen von wahrhaften und prophetischen Aussagen in das närrische Verhalten jedoch auch als Lachanlass, das in diesem Fall nicht mit Claus Narr verbunden ist, jedoch hier kurz erwähnt werden soll. In dem Meisterlied Der narr mit dem doctor384 schildert Hans Sachs eine Disputation zwischen einem griechischen Gelehrten und einem vom römischen Senat als Doktor verkleideten geporren narren,385 also einem natürlichen Narren. Die Komik des Meisterlieds basiert genau auf dem Widerspruch zwischen der Gestik des stummen Narren, der die Zeichen des Griechen immer als unmittelbare Bedrohung wahrnimmt, und der in sie hineingelegten höheren Bedeutung. Hintergrund ist die Bitte von Rom an Athen, der Stadt pürgerliche gsecz386 zukommen zu lassen. Die Griechen schicken daher einen Abgesandten, der jedoch zuerst die Vernunft der

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Geiler von Kaysersberg: Navicula, Bl. XIIIv. Vgl. Büttner: Historien von Claus Narren, IV, 2, S. 57; weitere Nachweise bei Schmitz: Wolfgang Büttners Volksbuch von Claus Narr, S. 53. Sachs: Fabeln und Schwänke, Bd. IV, 501, S. 387f. Sachs: Fabeln und Schwänke, Bd. IV, 501, S. 388, Z. 31–39. Sachs: Fabeln und Schwänke, Bd. IV, 243, S. 6–8. Sachs: Fabeln und Schwänke, Bd. IV, 243, S. 7, Z. 14. Sachs: Fabeln und Schwänke, Bd. IV, 243, S. 6, Z. 3.

82 Römer in einem Gespräch testen soll. In dem Wechselspiel missversteht der die römische Seite vertretende Narr die Gesten des weisen Griechen, der aber ebenso die Gestik des Narren zu seinen Ungunsten auslegt und am Ende den Narren für weise hält: Der weisman reckt ain finger auf, Darmit pedeuten dete, Das ain ainiger got allein Wer in der himel trone. Der narr vermaint, der weis man drot, Ain awg im aus zw stechen, Vnd auch zwen finger aufwarcz pot, Sich an im pald zu rechen, Zw stechen im zway augen aFs. Da dacht der weisman werde, Der narr maint, got wer in himel vnd erde Ein herr Feber all creatFr, Sichtig vnd auch vnsichtig, Vnd hielt den narren weis vnd glert, Jn der kFnst hoch vnd wichtig.387

Das lehrhafte Ende des Meisterlieds hält fest, dass man allgemein einige Menschen für weise hielte, wenn sie nur schweigen könnten. Der natürliche Narr gilt hier als ein Prototyp des Törichten, der seine Dummheit nur unter einem Mantel des Schweigens verstecken kann. Während bei Sachs die Sicht auf den natürlichen Narren zwischen Bewunderung und Spott changiert, betonen andere Autoren des 16. Jahrhunderts die prophetischen Gaben von Claus Narr sehr viel stärker und beziehen sie auf die ihm angeborene natürliche Narrheit. Eine der frühesten überlieferten Erzählungen über Prophezeiungen Claus Narrs stellen die Tischgespräche von Johann von Staupitz dar. Sie wurden 1517 von Lazarus Spengler zusammen mit den Fastenpredigten, die Staupitz in Nürnberg hielt, aufgeschrieben.388 Unter der Überschrift Etlich Nutzlich leren vnd facecien die der Erwirdig vnd gaistlich herr Johann von Staupitz doctor vicarius Augustiner ordens etlichen erbern personen die mit Jme die malzeit genomen mundtlich also Vber tisch mitgetailt hat ist ein Gespräch aufgezeichnet, in dem die prophetischen Gaben von Narren diskutiert werden. Staupitz weist in diesem Zusammenhang auf Claus Narr hin, den euer Vil mogen gekant haben.389 Die Bekanntheit des Narren bei den Nürnberger Patriziern voraussetzend, die sich als

387 388 389

Sachs: Fabeln und Schwänke, Bd. IV, 243, S. 7, Z. 24–38. Vgl. Schmitz: Wolfgang Büttners Volksbuch von Claus Narr, S. 13. Johann von Staupitz: Etlich Nutzlich leren vnd facecien die der Erwirdig vnd gaistlich herr Johann von Staupitz doctor vicarius Augustiner ordens etlichen erbern personen die mit Jme die malzeit genommen mundtlich also Vber tisch mitgetailt hat. In: Johann von Staupitz: Sämmtliche Werke. Hg. von J. K. F. Knaake. 1. Bd.: Deutsche Schriften. Potsdam 1867, S. 42–49, hier S. 48.

83 »Soliditas Stauptziana«390 vereinigten, erzählt er zwei Begebenheiten mit dem Narren, die beweisen sollen, dass der gleichen narret leut beweilen spiritus bey sich hetten.391 So habe der Narr einmal im Beisein des Kanzlers Mugenhoffer392 einen Sturz von Friedrich dem Weisen vorausgesagt, der sich dann tatsächlich ereignet habe. In dem von Staupitz überlieferten Gespräch zwischen Mogenhofer und Friedrich bestätigt der Kurfürst die prophetischen Gaben des Narren mit einem eigenen Erlebnis. Claus sei einmal plötzlich beim Schlafen aufgeschreckt und habe geschrien: Herzog, hilff, hilff die guten leut werden ertrincken.393 Vom Fenster habe dann der Fürst nur noch den Untergang eines Schiffes auf der Elbe beobachten können. Auch Luther nimmt an, dass dem Narren ein geistlein394 innewohnte, weil er den Brand der Festung Coburg voraussagte. Claus Nar non adeo natura fuit stolidus, sondern hat ein geistlein gehabet395

Staupitz und Luther greifen in ihrer Wortwahl auf die sich im 16. Jahrhundert verbreiteten Deutungen zurück, die Wunder mit Hilfe von Geistern oder Dämpfen zu erklären suchten.396 Gerade bei Luther wird die ambivalente Haltung gegenüber dem Narren deutlich, denn er sieht in ihm nicht nur ein Wunder, sondern auch einen Narren, der sich durch obszöne Handlungen auszeichnet, der aber dennoch einen kindlichen Glauben besitzt und daher von künstlichen Narren zu unterscheiden ist.397 Die Sicht, in den Handlungen der natürlichen Narren Weissagungen zu entdecken, ist eingebettet in das allgemein erstarkende Interesse an allem Außergewöhnlichen und Einmaligen im 16. Jahrhundert.398 Schon Konrad von Megenberg ordnete die natürlichen Narren der Kategorie der monströsen Individuen zu, d. h. zu denen, deren Andersartigkeit einmalig und nicht reproduzierbar war. Merkwürdigen und seltenen Einzelerscheinungen wie Blutregen, Sonnen- und Mondfinsternissen wurde schon in der biblischen und antiken Literatur eine prodigische Funktion zugewiesen. Im Mittelalter wurde die Deutung von solchen außergewöhnlichen Ereignissen in Abkehr zur Augustinischen Auffassung

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Vgl. dazu Markus Wriedt: Gnade und Erwählung. Eine Untersuchung zu Johann von Staupitz und Martin Luther. Mainz 1991, S. 8. Staupitz: Etlich Nutzlich leren vnd facecien, S. 48. Vgl. Ingetraut Ludolphy: Friedrich der Weise. Kurfürst von Sachsen 1463–1525. Göttingen 1984, S. 292: Dr. Johann Mogenhofer war im Zeitraum zwischen 1499 und 1519 Kanzler am ernestinischen Hof. Der Hauptsitz der Kanzlei war seit 1485 im Torgauer Schloss. Staupitz: Etlich Nutzlich leren vnd facecien, S. 48. WA TR 4, 3018b, S. 141. Vgl. auch 3018 a. WA TR 4, 3018b, S. 141. Daston, Park: Wunder und die Ordnung der Natur, S. 189. Vgl. WA TR 2, 1604, S. 149: Claus Narr: Gnediger herr, wenn ich nitt solt ein fortz lassen, so wer ich ein armer gesell vor gnaden; WA TR 4, 4364, S. 262. Vgl. oben, S. 40.

84 wiederbelebt.399 Wunder, die dem Lauf der Natur widersprechen, wurden als Zeichen für ein nahes Ereignis gesehen. Nach der geläufigen Definition von Isidor von Sevilla aus dem 7. Jahrhundert, die auch noch im 15. und 16. Jahrhundert rezipiert wurde, sind sie nicht »contra naturam, quia divina voluntate fiunt, cum voluntas Creatoris cuiusque conditiae rei natura sit«.400 Die Kündzeichen werden, so Isidor, portenta, ostenta, monstra und prodigia genannt, weil sie Zukünftiges ankündigen (portendere), vorzeigen (ostendere), zeigen (monstrare) und vorhersagen (praedicare).401 Sie dienen dazu, Gottes Botschaften einzelnen Menschen oder Völkern zu übermitteln und sie vor kommendem Unglück zu warnen. Begünstigt durch den Buchdruck verbreiteten sich seit dem Ende des 15. Jahrhunderts eine Vielzahl von Publikationen über Wunderzeichen. Zunächst als Einblattdrucke und newe zeitungen veröffentlicht, fanden sie zusammen mit antiken Vorbildern Eingang in die Prodigiensammlungen, die seit Mitte des 16. Jahrhunderts entstanden.402 Sie spiegeln das gestiegene Interesse an allem Außergewöhnlichen und Wunderbaren wider. Als Teil der monströsen Individuen nehmen die Wundergeburten dabei in der Prodigienliteratur des 16. Jahrhunderts eine herausgehobene Stellung ein.403 Wundergeburten und andere monströse Individuen tragen sichtbar und damit ablesbar Zeichen an ihrem Körper, die gedeutet werden müssen. Die Auslegung greift dabei auf die allegorische Naturdeutung im Mittelalter zurück und ist Gelehrten vorbehalten.404 Im Mittelpunkt stehen dabei die körperlichen Abweichungen, die als Fehler die Menschheit vor kommendem Unglück warnen sollen.

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Daston, Park: Wunder und die Ordnung der Natur, S. 58. Isidor von Sevilla: Etymologiarum sive originum libri XX. Hg. von Wallace Martin Lindsay. Oxford 1911, XI, iii, 1. Vgl. dazu auch Irene Ewinkel: De monstris. Deutung und Funktion von Wundergeburten auf Flugblättern im Deutschland des 16. Jahrhunderts. Tübingen 1995, S. 62. Isidor von Sevilla: Etymologiarum sive originum, XI, iii, 2. Als Begründer der Prodigiensammlungen gilt Conrad Lycosthenes, der 1552 das aus dem 4. Jahrhundert stammende Liber prodigiorum mit zwei weiteren neuzeitlichen Sammlungen von Polydorus Vergilius und Joachim Camerarius veröffentlichte. Eine weitere Sammlung stellt dar: Caspar Goltwurm: Wunderwerck vnd Wunderzeichen Buch. Darinnen alle fFrnemste G=ttliche/ Geistliche/ Himlische/ Elementische/ Jrdische vnd Teuflische wunderwerck/ so sich in solchem allem von anfang der Welt sch=pfung biß auff vnser jetzige zeit/ zugetragen vnd begeben haben/ kFrtzlich vnnd ordentlich verfasset sind/ Der gestalt vor nie gedruckt worden. Frankfurt 1557. Vgl. dazu Rudolf Schenda: Wunder-Zeichen. Die alten Prodigien in neuen Gewändern. In: Fabula 38 (1997), S. 14–32. Zu den Wundergeburten vgl. Ewinkel: De monstris; Rebekka Habermas: Wunder, Wunderliches, Wunderbares. Zur Profanisierung eines Deutungsmusters in der Frühen Neuzeit. In: Armut, Liebe, Ehre. Studien zur historischen Kulturforschung. Hg. von Richard van Dülmen. Frankfurt 1988, S. 38–66; Schenda: Wunder-Zeichen; Daston, Park: Wunder und die Ordnung der Natur, S. 205–252. Zur Monstradeutung vgl. Ewinkel: De monstris, S. 59–69.

85 Die Verfasser von Prodigienliteratur waren hauptsächlich Protestanten. Während in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts die Monstradeutung vor allem im konfessionellen Streit eine Rolle spielte – wie bei den zwei bekanntesten Beispielen des Mönchskalbes und des Papstesels – wurden die Wundergeburten in der zweiten Jahrhunderthälfte als Warnung vor individuellen und gesellschaftlichen Normverstößen aufgefasst.405 Wunderzeichen wurden von protestantischer Seite verwendet, um eigene Positionen zu legitimieren. Zwei graphische Darstellungen von Claus Narr, die am Ende des 16. bzw. am Anfang des 17. Jahrhunderts entstanden, bringen den Narren in Verbindung zu anderen zeitgenössischen Wunderzeichenberichten. Auf dem älteren Bild, einem Kupferstich von 1574, ist ein Porträt des Narren zu sehen, das auf ein verschollenes Ölgemälde zurückgeht (Abb. 4).406 Das Porträt ist eingefasst von einem Triumphbogen, auf dem ein Engel thront und mit zwei Schalmeien den Ruhm – die fama – des Narren verkündet. In den Basamenten werden die Tugenden veritas, prudentia, donum dei und simplicitas genannt, die so dem Narren als Eigenschaften zugeschrieben werden. Auf dem rechten Sockel des Bogens steht zuunterst die Einfalt (simplicitas), die als das Hauptmerkmal der natürlichen Narrheit verstanden werden kann. Sie korrespondiert mit der über ihr stehenden Klugheit (prudentia). Mentale Differenz, Einfalt oder eben Torheit ist aus dieser Sicht Voraussetzung für Klugheit bzw. Weisheit und entspricht damit dem paulinischen Weisheitsbegriff. Auf dem gegenüberliegenden linken Sockel ist am Fuß donum dei genannt, das damit in Beziehung zur simplicitas tritt. Schreibt man der natürlichen Narrheit eine prodigische Funktion zu, dann sind in der Einfalt als Geschenk Gottes wichtige Botschaften enthalten, d. h. die natürliche Narrheit würde damit – wie bei den Monstra – auf das Eingreifen Gottes zurückgeführt werden. Die in dem linken Sockel über dem donum dei stehende veritas bekräftigt diese Lesart, denn genau die Prodigien dienen als direktes Sprachrohr Gottes. Die auf dem Narrendenkmal stehende Inschrift verstärkt die dem Narren zugeordneten Bezeichnungen, denn es sei die warhaffte Contrafactur oder bildnus des einfeltigen frommen Jn Teutschlannden berümbten vnnd wunderbarn Claus Narren.407 Die dem Narren zugeordneten Attribute bestätigen die bereits im Denkmal aufgeführten Eigenschaften. Die Nennung von wunderbar erinnert an die bei Konrad von Megenberg vorgenommene Einordnung der natürlichen Narren zu den wunder men_chen408 und weist damit auf die Einmaligkeit und Besonderheit von Claus Narr hin.409 Die gleiche Inschrift verwendet ein späte-

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Vgl. Ewinkel: De monstris, S. 39–42. Jost Amman zugeschrieben: Wahrhaffte Contrafactur oder bildnus des einfeltigen frommen Jn Teutschlannden berümbten vnnd wunderbarn Claus Narren. Kupferstich von 1574. Vgl. dazu Schmitz: Wolfgang Büttners Volksbuch von Claus Narr, S. 287f. Jost Amman zugeschrieben: Wahrhaffte Contrafactur des Claus Narren. Kupferstich. Konrad von Megenberg: Das ›Buch der Natur‹, S. 522, Z. 20. Vgl. zu wunderbar DWb 30, Sp. 1841–1852.

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Abb. 4: Jost Amann zugeschrieben: Bildnis des Claus Narr

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Abb. 5: Jacob von der Heyden: Bildnis des Claus Narr

88 rer, bei Jacob von der Heyden in Straßburg zwischen 1610 und 1620 gedruckter Einblattdruck als Titel (Abb. 5): Warhaffte Contrafactur oder Bildnuß deß einf(ltigen/ frommen in Teutschenlanden berFmbten vnd wunderbaren Claus Narren/ welcher bey dem Durchleuchtigen Hochgebornen FFrsten vnd Herrn/ Herrn Fridrich vnd Johannes gebrFdern vnd Hertzogen in Sachsen/ gelebt/ vnd viel weise vernFnfftige reden zum Schimpff vnd Ernst fFrgebracht/ auch viel zukFnfftige ding geweissagt.410

Die Konstruktion des Titels entspricht genau dem Aufbau anderer Wunderzeichen-Flugblätter.411 Kennzeichnend für die Wunderzeichen-Flugblätter ist, dass sie bereits im Titel »eine Kombination von den Wundercharakter betonenden und wahrheitsbeteuernden Adjektiven«412 aufweisen, die in diesem Fall versichern, dass es das warhaffte Bild des Narren sei, der weise und prophetische Reden geführt habe. Die Texte, die den Illustrationen der Flugblätter und Flugschriften beigefügt sind, verwenden bestimmte Strategien, um die Glaubwürdigkeit des Wunderzeichens zu untermauern. Dazu gehört, dass Ort und Zeit aufgezählt und Zeugen benannt werden.413 In dem Kupferstich von 1574 und in dem Straßburger Einblattdruck werden die sächsisch-ernestinischen Kurfürsten als Zeugen aufgerufen. Die gereimten deutschen Verse auf dem Straßburger Flugblatt können als Beispiel für weitere Beglaubigungsstrategien dienen. So wird hier nicht nur Ranis als ein Geburtsort von Claus Narr, sondern am Ende der Verse wird auch sein Todesalter und der Ort, an dem er starb, genannt. Ebenso charakteristisch für die Beglaubigungsstrategien ist der »immer wiederkehrende Hinweis auf den göttlichen Ursprung der Wunderzeichen«,414 der Claus Narr nicht nur ob sunst all Narren ausserkorn415 sieht, sondern auch die erste Begegnung mit dem Fürsten direkt auf einen göttlichen Eingriff zurückführt: Wie dann Gott einmal hat versehn/ Da ich die G(nß solt hFten gehn/ Auff einer Wiessn/ vnd vngefehr/ Viel Reuter sah kommen daher/ Ergreiff ich die G(nß jung vnd alt/ Vnd st(ckts vnder mein GFrtel baldt/ Als ein Hirt fromm/ gieng damit fort/

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Jacob von der Heyden: Claus Narr. Einblattdruck. Straßburg um 1620. Michaela Schwegler: ›Erschröckliche doch wahrhafftige Newe Zeitung‹. Subjektivität und Objektivität in frühneuzeitlichen Wunderzeichenberichten. In: ZfdPh 121 (2002), S. 72–88, hier S. 79. Schwegler: Subjektivität und Objektivität in frühneuzeitlichen Wunderzeichenberichten, S. 79. Schwegler: Subjektivität und Objektivität in frühneuzeitlichen Wunderzeichenberichten, S. 80. Schwegler: Subjektivität und Objektivität in frühneuzeitlichen Wunderzeichenberichten, S. 83. Jacob von der Heyden: Claus Narr. Einblattdruck.

89 Biß der ChurfFrst zu Sachsen dort/ Friedrich genandt/ deß Landes Herr/ Kam lachend ...416

Der lachende Kurfürst verweist auf die Unterhaltungsfunktion des Narren, die auch noch an anderer Stelle hervorgehoben wird: Bey dem [dem sächsischen Kurfürsten, RvB] ich blieb/ weil er thet leben/ Vnd jhn/ ob andern/ lustig macht417

Doch seine Funktion am Hof wird nicht nur im Erregen von Heiterkeit gesehen. Claus Narr dient ebenso als weiser Ratgeber und Prodigium. Damit knüpft der Text an die bereits erwähnte Auserwähltheit des Narren an und betont wiederholt diese besonderen Fähigkeiten: Offt weisen raht ich herfFr bracht/ Jn Schimpff vnd Ernst/ nach glegenheit: Hab auch bißweilen Propheceyt418

Auf diese Weise kann die Geschichte mit den Gänsen als eine gelungene närrische Inszenierung gelesen werden, über die gelacht wird. Beweist Claus Narr sich im Umgang mit seinen Gänsen tatsächlich als ein natürlicher Narr, dann sind die mit seiner Torheit assoziierten Fähigkeiten, weise Reden zu führen und Prophezeiungen zu geben, als Gottesgaben anzusehen. Das Flugblatt folgt daher nicht nur in seinem Aufbau anderen Wunderzeichenflugblättern, sondern sucht auch in seiner Darstellung den Narren als ein solches Prodigium zu etablieren. Diese Bedeutung begründet der Einblattdruck am Ende auch damit, dass man von des Narren Wunderthat419 ein ganzes Buch gesammelt habe. Ebenfalls gibt der Kupferstich von 1574 an, dass die Historien zu truck ausganngen420 seien und des Narren natur, wort vnnd werck anzaigen vnnd außweisen421 würden. Gemeint sind in beiden Fällen die 1572 erstmalig erschienenen Historien von Claus Narren von Wolfgang Büttner. In diesem Werk wird der natürliche Narr zu einem Glaubensvorbild für alle.

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Jacob von der Heyden: Claus Narr. Einblattdruck. Jacob von der Heyden: Claus Narr. Einblattdruck. Jacob von der Heyden: Claus Narr. Einblattdruck. Jacob von der Heyden: Claus Narr. Einblattdruck. Jost Amman zugeschrieben: Wahrhaffte Contrafactur des Claus Narren. Kupferstich. Jost Amman zugeschrieben: Wahrhaffte Contrafactur des Claus Narren. Kupferstich.

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3.

Die ›Historien von Claus Narren‹

3.1

Der protestantische Pfarrer Wolfgang Büttner als Autor der ›Historien von Claus Narren‹

Das in der Wittenberger Schlosskirche neben Martin Luther und Philipp Melanchthon hängende Bild von Claus Narr, das nach den Reisebeschreibungen Quadt von Kinckelbachs sich dort noch zu Beginn des 17. Jahrhunderts befand, verweist darauf, dass die Figur dieses Narren eng in den reformatorischen Kontext eingebunden war.1 Auch die Historien von Claus Narren des ernestinischen Pfarrers Wolfgang Büttner verwenden den Narren als Argumentationshilfe innerhalb der religiösen Auseinandersetzungen des 16. Jahrhunderts. Dabei handelt es sich nicht nur um antikatholische Polemiken, die Büttner von seiner protestantischen Position aus formuliert, sondern auch um Streitigkeiten innerhalb des reformierten Lagers. Büttner bezieht sich ebenfalls in seinen anderen Werken wiederholt auf diese Auseinandersetzungen. Um die Anspielungen, die für das Verständnis der Historien von Claus Narren wesentlich sind, besser erfassen zu können, empfiehlt es sich, genauer auf den Hintergrund der religiösen Konflikte im ernestinischen Thüringen des 16. Jahrhunderts einzugehen. Anhand bisher unbekannter Visitationsprotokolle, die sich auf Wolfgang Büttner beziehen, lassen sich genauere Aussagen zu seiner Position innerhalb der Glaubensstreitigkeiten treffen.2 Mit Hilfe dieser neuen Dokumente und den bisher bekannten Informationen zu Büttner ergibt sich somit ein Einblick in die Verflechtungen von Biographie, Glaubensstreitigkeiten und eigenen Werken. Wichtige Informationen zu Wolfgang Büttner sind bereits durch Schnorr von Carolsfeld zusammengetragen und vor allem durch die Arbeiten von Röcke und Schmitz ergänzt und präzisiert worden.3 Aus diesen Befunden ergibt sich, dass Wolfgang Büttner, der in seinen Schriften und in den Visitationsprotokollen auch unter den Namen Wolff Büttner, Wolfgang Buttner, Wolffgangus Bütner, Wolffgangus Budwitz, Wolffgangus Bettner oder Wolffgangus geführt wird,

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Quadt von Kinckelbach: Teutscher Nation Herligkeitt, S. 415. Vgl. auch oben, S. 77. Die Hinweise und Abschriften zu Wolfgang Büttner aus den Visitationsprotokollen und anderen Quellen des Thüringer Hauptstaatsarchivs verdanke ich Daniel Gehrt. Schnorr v. Carolsfeld: Ueber Klaus Narr; Röcke: Der XXXVII PSALM; Röcke: Die Freude am Bösen, S. 252–265; Schmitz: Wolfgang Büttners Volksbuch von Claus Narr, S. 23–29.

91 wahrscheinlich um 1522 geboren wurde. Büttners eigene Altersangaben lassen sich aus seinen Werken nicht eindeutig erschließen, da sich in ihnen selbst Differenzen in den Zeitangaben finden. In einer Psalmenauslegung erwähnt Büttner beispielsweise die Verurteilung von Jan Hus im Konstanzer Konzil 1415, die vor 142 Jahren geschehen sei, wobei die Auslegung aber erst 1559 gedruckt worden ist.4 Im gleichen Werk gibt er an, fast 37. Jar alt5 zu sein.6 Abhängig davon, ob man nun von dem im Werk genannten Produktionsjahr 1557 oder vom Druckjahr 1559 ausgeht, ergibt sich hier ein Geburtsdatum nach 1520 und vor 1524. Weitere Beispiele, die auf ein Geburtsdatum vor 1524 deuten, hat Schnorr v. Carolsfeld gesammelt.7 Büttners Geburtsort ist vermutlich das bis 1547 zu dem ernestinischen Teil Sachsens gehörende Oelsnitz im Vogtland gewesen.8 Für seine schulische Ausbildung war Büttner wahrscheinlich in Magdeburg bei Georg Major und auch in Eger. Es wird außerdem angenommen, dass er in Wittenberg studierte.9 1563 wurde Büttner an der von Herzog Johann Friedrich I. 1548 gegründeten Hohen Schule und 1558 vollprivilegierten Universität Jena zum Magister promoviert.10 Ob er auch eine Zeit in Erfurt lebte, ist unklar, jedoch bezeichnet sich Büttner in einer Widmung an einige Erfurter Mitbürger als armer Mitbürger.11 Dieser Aufenthalt dürfte in die Zeit vor seinem ersten Amtsantritt als Pfarrer in Umpferstedt im Jahr 1548 fallen. 1563 wechselte er nach Wolferstedt, nachdem er für die Pfarrstelle in Herbsleben vorgeschlagen worden war, jedoch nicht von dieser Gemeinde berufen wurde.12 Nähere Angaben zu seiner Zeit als Pfarrer finden sich vor allem in den Visitationsprotokollen des ernestinischen Thüringens, von denen bisher nur der Kommentar zu Büttner in der Visitation von 1554/55 bekannt war.13 Weitere bisher nicht ausgewertete Visitationsprotokolle und Schreiben sind nicht nur

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Vgl. Wolff(gang) Büttner: Der XXXVII Psalm/ in Göttliche vnd Christliche Fragen gebracht/ sehr tr=stlich/ den armen fromen Christen/ die in der Welt viel mFssen leiden/ vnd erschrecklich den Gottlosen Tyrannen/ die in der Welt viel glFck vnd ehr haben. Erfurt 1559, Bl. C vijv- C viijv. Büttner: Der XXXVII Psalm, Bl. G vijr. Vgl. dazu Röcke: Der XXXVII Psalm, S. 52. Schnorr v. Carolsfeld: Ueber Klaus Narr, S. 299. Vgl. dazu Wolfgang Büttner: Epitome Historiarum. Christlicher ausgelesener Historien vnd Geschichten/ Aus alten vnd bewehrten Scribenten etc. o.O. 1576, Bl. 56vf.; weitere Ergänzungen bei Schnorr v. Carolsfeld: Ueber Klaus Narr, S. 298. Schnorr v. Carolsfeld: Ueber Klaus Narr, S. 300. Büttner ist in der philosophischen Fakultät verzeichnet. Vgl. Die Matrikel der Universität Jena. Hg. von Georg Mentz. Bd. I: 1548 bis 1652. Jena 1944, S. 564: »Buttner, Wolfg., pastor in Umpferstadt, mag. prom. 8. Juli 1563 (Bl. 125)«. Büttner: Der XXXVII Psalm, Bl. A iijv. Vgl. ThHStAW, EGA, Reg. Ll 406, Bl. 8r: »Wolfgangus Butnerus Mgr. itziger pfarrer zu vmpferstedt [sol, RvB] solcher geschicklickeit sein, das er einen grossern gemein dan vmpfferstedt fursein vnd dieselbe vorsorgenn kont«. Schmitz: Wolfgang Büttners Volksbuch von Claus Narr, S. 25–29.

92 aufschlussreich hinsichtlich der Biographie Wolfgang Büttners, sondern spiegeln darüber hinaus auch an der Person des Pfarrers die wechselhafte ernestinische Geschichte wider. Seit 1485 war das wettinische Gebiet zwischen den Brüdern Ernst (1441–1486) und Albrecht (1443–1500) aufgeteilt worden.14 Die Landgrafschaft Thüringen bildete das ernestinische Kurfürstentum Sachsen und die Markgrafschaft Meißen das albertinische Herzogtum Sachsen. Lediglich die Kurlande um Wittenberg blieben ungeteilt, da diese an die Kurwürde gebunden waren, die dem älteren der beiden Brüder, Ernst, zufiel. Gemeinsam verwaltete Gebiete, die geographisch eng verzahnte Lage der beiden Teile und eine unterschiedliche Reichspolitik führten zu Streitigkeiten auf verschiedenen Ebenen. Sie gipfelten in der Niederlage des Schmalkaldischen Bundes 1547 und der Abtretung der Kurwürde an den albertinischen Herzog Moritz von Sachsen. Die Kontroversen zwischen den Albertinern und Ernestinern beschränkten sich nicht nur auf die genuin politischen Bereiche, sondern wurden besonders auch im Streit um die ›wahre‹ Lehre und das Erbe Luthers ausgefochten. So sahen sich die Ernestiner als rechtmäßige Erben der Reformation legitimiert, weil sie für Luther und die Reformation eingetreten waren. Die Albertiner dagegen hatten erst 1539 mit dem Regierungsantritt von Herzog Heinrich dem Frommen (1473–1541) die Reformation eingeführt. Im kirchlichen Bereich waren die Visitationen, die nach dem Tod Friedrich des Weisen (1463–1525) einsetzten, ein Mittel, um die Reformation durchzusetzen und zu befestigen.15 Die ersten beiden großen Generalvisitationen fanden 1528/29 und 1533–35 statt.16 Unterbrochen durch den Schmalkaldischen Krieg und den Interimsstreit wurden die nächsten ernestinischen Visitationen erst wieder 1554/55 und 1569/70 als Generalvisitationen und 1562, 1573 und ab Herbst 1577 als Lokalvisitationen durchgeführt.17

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Zur Geschichte von Sachsen und Thüringen vgl. Karlheinz Blaschke: Geschichte Sachsens im Mittelalter. Berlin 1990; Reiner Gross: Geschichte Sachsens. Leipzig 2001; Hans Patze, Walter Schlesinger (Hg.): Geschichte Thüringens. Bd. 3: Das Zeitalter des Humanismus und der Reformation. Köln, Graz 1967; Jörg Rogge: Herrschaftsweitergabe, Konfliktregelung und Familienorganisation im fürstlichen Hochadel. Das Beispiel der Wettiner von der Mitte des 13. bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts. Stuttgart 2002. Zur Kirchengeschichte siehe Rudolf Herrmann: Thüringische Kirchengeschichte. Waltrop 2000 (Nachdruck der Ausgabe Weimar 1947). Vgl. Herrmann: Thüringische Kirchengeschichte, S. 5. Vgl. dazu Herrmann: Thüringische Kirchengeschichte, S. 28–30. Zu den Visitationen vgl. Arno Heerdegen: Geschichte der allgemeinen Kirchenvisitationen in den ernestinischen Landen im Jahre 1554/55. Nach Akten des Sachsen-ErnestinischenGesamt-Archivs in Weimar. Jena 1914 (Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte und Altertumskunde. Supplementheft 6); Rudolf Herrmann: Die Generalvisitationen in den Ernestinischen Landen zur Zeit der Lehrstreitigkeiten des 16. Jahrhunderts (1554/55, 1562, 1569/70, 1573). In: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte und Altertumskunde N. F. 22 (1915), S. 75–156; Daniel Gehrt: Pfarrer im Dilemma. Die ernestinischen

93 Wolfgang Büttner wird in der Generalvisitation von 1554/55 erstmalig erwähnt. Inhaltlich entsprach die Visitation von 1554/55 den Visitationen der vergangenen Jahrzehnte. Sie bestand aus einer »Prüfung der Pfarrer, ihres Verständnisses der Lehre, ihre [!] Gottesdienstordnung, ihrer Predigtfähigkeit und ihres Lebens [Konkubinat]«.18 In der Visitation von 1554/55 wurden die Geistlichen strenger als bisher untersucht. Das hatte zur Konsequenz, dass den Pfarrern verboten wurde, Wirtshäuser zu besuchen und an Tauffeiern teilzunehmen. Desgleichen wurden sie angehalten, intensiver zu studieren.19 Von Büttner wird in diesem Zusammenhang aus Umpferstedt berichtet, dass er ein Rohes wildes Leben mit volsauffen, vbermessigenn zutrincken, vnd andern daher rurenden frechhaiten gefurt habe,20 was die Visitatoren zu der Überlegung führte, ihme solches rohes Lebens halben zuentsezen.21 Die Kritik traf Büttner nicht allein, denn 160 von 555 zu prüfenden Geistlichen verstießen nach Ansicht der Untersuchungskommission gegen die geforderte Lebensführung bzw. wurden ihnen unzureichende theologische Kenntnisse bescheinigt.22 Einer der häufigsten Vorwürfe bestand wie auch im Fall Büttner darin, der Trunksucht verfallen zu sein. Für Wolfgang Büttner spricht jedoch, wie es im Protokoll vermerkt wurde, dass ehr in Lateinischer sprach, vnd rainer Christlichenn Lhar dermassen geschickt vnd erfaren, das Ime ein Kirchampt disfals wol zuuortrawen23 sei. Damit unterscheidet er sich von vielen anderen Pfarrern, bei denen die Visitatoren besonders das fehlende Wissen tadelten.24 Für Büttner wurde eine weitere Überprüfung angeordnet, die dann offensichtlich auch erfolgt ist, denn ein später hinzugefügter Zusatz teilt mit, das ehr sich gepessert, auch hinforder pesserung angelobt vnd zugesagt25 habe. In den folgenden Kirchenvisitationen von 1562, 1569/70 und 1573 wurden nicht mehr die Lebens- und Glaubensverhältnisse der Pfarrer überprüft, sondern es ging vielmehr darum, verschiedene Bekenntnisschriften anzuerkennen bzw. zu verurteilen.26 Hintergrund dafür waren die Lehrstreitigkeiten, die sowohl innerhalb des ernestinischen als auch des albertinischen Sachsens geführt wurden. Sie behandelten vor allem die sogenannten Adiaphora, d. h. die »Mitteldinge, die man ohne Verletzung des Gewissens tun oder lassen dürfe«27 und unter denen die in

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Kirchenvisitationen von 1562, 1569/70 und 1573. In: Herbergen der Christenheit. Jahrbuch für deutsche Kirchengeschichte 25 (2001), S. 45–71. Herrmann: Thüringische Kirchengeschichte, S. 24. Vgl. Herrmann: Die Generalvisitationen in den Ernestinischen Landen, S. 79. ThHStAW, EGA, Reg. Ii 23–26, Bl. 74r. ThHStAW, EGA, Reg. Ii 23–26, Bl. 74r. Herrmann: Die Generalvisitationen in den Ernestinischen Landen, S. 94. ThHStAW, EGA, Reg. Ii 23–26, Bl. 74r. Herrmann: Die Generalvisitationen in den Ernestinischen Landen, S. 99f. ThHStAW, EGA, Reg. Ii 23–26, Bl. 74v. Gehrt: Pfarrer im Dilemma, S. 45. Herrmann: Thüringische Kirchengeschichte, S. 141.

94 der Interimszeit teilweise wieder eingeführten katholischen Rituale verstanden wurden. Desweiteren setzte man sich mit dem Majorismus auseinander, der sich aus dem Streit um Georg Major und den verschiedenen Ansichten, inwieweit gute Werke zur Seligkeit notwendig seien, herleitete. Ein anderes Thema bildete der Synergismus, d. h. der Anteil des menschlichen Willens an der Bekehrung.28 Diese und weitere Streitfragen wurden in neun Punkte zusammengefasst und im Konfutationsbuch 1559 veröffentlicht.29 Die Pfarrer wurden verpflichtet, das Buch als Bekenntnisschrift anzuerkennen.30 Die von Büttner im gleichen Jahr veröffentlichte Psalmenauslegung entspricht weitestgehend in ihrer Auffassung dem Konfutationsbuch zur falschen Lehre zu vnser zeit,31 denn es werden als Beispiele Schwenckefelt/ Zwingel/ Osiander/ Sernetus32 und allgemein die Sacramentirer/ die hochfliegende arbitriaten/ oder voluntarier33 genannt. Der Jenenser Professor Victorin Strigel lehnte das Konfutationsbuch ab. Er wurde daraufhin seines Amtes enthoben und verhaftet, später aber wieder eingesetzt und vertrat dann seine gewandelte Einstellung in der Declaratio Victorini, die im Gegensatz zu der Gruppe um Flacius den Menschen nicht allein als ein passives Wesen verstand, sondern vielmehr in ihm noch »einen modus agendi bzw. eine capacitas und aptitudo bekehrt zu werden«34 sah. In der Visitation von 1562 sollte jeder Pfarrer die Declaratio Victorini unterschreiben. Büttner hat sich anfangs dem relativ geschlossenen Widerstand der Superintendentur Weimar angeschlossen, der er als Pfarrer von Umpferstedt zugeordnet war. Von insgesamt 80 Pfarrern dieser Superintendentur hatten nur 20 unterschrieben.35 Aufgrund der Weigerungen hatte Herzog Johann Friedrich öffentliche Kritik an der Declaratio Victorini, der Visitation oder den Theologen und Räten, die an ihr beteiligt waren, verboten.36 Das Protestschreiben von 55 Pfarrern gegen das Schweigegebot und die Amtsenthebung des Weimarer Superintendenten Bartholomäus Rosinus 1563 unterzeichnete Büttner auch noch, bevor er, wie einem Brief des damaligen Kanzlers Christian Brück an den Herzog Johann Fried-

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Vgl. Herrmann: Thüringische Kirchengeschichte, S. 145; Gehrt: Pfarrer im Dilemma, S. 45. Vgl. Gehrt: Pfarrer im Dilemma, S. 47: Die neun Korruptelen umfassten: »Michael Servets Leugnung der Dreifaltigkeit, der Mystizismus Kaspar Schwenckfelds, die antinomistische Hervorhebung und starke Betonung des Evangeliums gegenüber dem Gesetz in der Bußpredigt, die Tauftheologie der Täufer, die Abendmahlsauslegung Ulrich Zwinglis, der Synergismus in der Rechtfertigungslehre, die Rechtfertigungsauffassung Andreas Osianders als ein Innenwohnen der Gottheit Christi in den Gläubigen, das werkbetonte Gerechtigkeitsverständnis Georg Majors und der Adiaphorismus [...].« Vgl. Gehrt: Pfarrer im Dilemma, S. 47f. Büttner: Der XXXVII Psalm, Bl. D jr. Büttner: Der XXXVII Psalm, Bl. D jr. Büttner: Der XXXVII Psalm, Bl. D jr. Gehrt: Pfarrer im Dilemma, S. 48. Gehrt: Pfarrer im Dilemma, S. 50. Gehrt: Pfarrer im Dilemma, S. 52.

95 rich I. zu entnehmen ist, die Declaratio Victorini zu Beginn des Jahres 1563 noch unterschrieb:37 Darneben kann E.f.g., ich vndertheniglichen nicht verhaltenn, das am nechst vergangenn Montag, der pfarrer vom Vmpfferstadt, Er Wolfgangus, [...], zu mir kommen, vnd ein schreiben an E.f.g. Rethe haltendt vberanthwordt, welches Ich gelesenn, vnd daraus zusampt seiner vorgewandten entschuldigung souiel befunden, das er sich zuuorn E.f.g. vnd derselben visitatoren wiedersetzet, vnd der declaration nicht hat subscribiren wollen, auch hernacher E.f.g. beuehlichen, vnd anderweiten gnedigen declaration widerspensdiglich gemacht, Solchs were daher entstandenn vnd geflossenn, das er vor dem Subscribendten, so Ime teglich In ohrenn gelegenn, hin vnnd wieder Conuenticula, vnd Congressus gehabt, vnd angerichtet, gar keine ruhe, noch friede, haben konnen. Dieweil er aber nuemehr E.f.g. gnedige beuhelich, vnd anderweit gegebene declaration, vnd anthwordt, fur ganz Christlich vnd guth erkente, So wolte er sich auch hinfurder derselben gemeß, vnd als einem getreuen prediger, vnd Sehlsorger geburredte, Inn seinem ampt, Lehr, vnd Lebenn, Dermassen verhaltenn.38

Bereits sechs Jahre später zog Wolfgang Büttner seine Unterschrift unter der Declaratio Victorini wieder zurück und folgte damit einem der Ziele der Visitation von 1569/70, die unter anderem von allen Pfarrern verlangte, ihre Zustimmung zur Declaratio Victorini zu widerrufen.39 Die Visitation war von Herzog Johann Wilhelm, dem jüngeren Bruder von Johann Friedrich II., angeordnet worden, da dieser mit der Reichsacht belegt und von der Regierung abgesetzt worden war. Johann Wilhelm hatte bereits 1568 die normative Geltung der Declaratio Victorini aufgehoben. Büttner wird in den Protokollen als Unterzeichner der Declaratio Victorini geführt und daraus erklärt sich der Vermerk über ihn, dass er von den bestendigen lerern abgefallen40 sei. Er verpflichtet sich, dass er Abbitte tun und sich fortthin durch gotes gnade rechtschaffen vnd vnstrefflich vorhaltten41 möchte. Im Zuge der wechselvollen Auseinandersetzungen gab es auch immer wieder persönliche Kontroversen zwischen abgesetzten und im Amt verbliebenen Pfarrern, worauf sich der Hinweis, Büttner wolle sich vf aller pfarrer Kunftige

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Vgl. Gehrt: Pfarrer im Dilemma, S. 50 und ThHStAW, EGA, Reg. N 389: »Protest der Geistlichen in der Superintendenz Weimar gegen das erlassene fürstliche Mandat, die Declaration von freien willen nicht in Ungute zu gedencken und die unlangst gehaltenen Visitation auf der Canzel nicht zu schmähen, vnd die Vocation Helmrichts an Rosinus statt anzuerkennen, 1563«. Die eigenhändige Unterschrift Wolf Buttner, P. in Ompferstedt findet sich auf Bl. 7v. Kanzler Christian Brück an Johann Friedrich II, Weimar 20.02.1563: ThHStAW, Reg. O 647, Bl. 59vf. Zu den weiteren Zielen vgl. Gehrt: Pfarrer im Dilemma, S. 58: »Diese Visitation zielte ferner den Examinierungsfragen der Instruktion vom 31. Oktober 1569 zufolge darauf ab, daß die Geistlichen sich nicht nur von der römischen Kirche, sondern auch von den Adiaphoristen, Wiedertäufern, Zwinglianern, Osianderisten, Antinomern, Majoristen, Schwenckfeldern und Synergisten abgrenzen sollten.« ThHStAW, EGA, Reg. N 506, Bl. 17r. ThHStAW, EGA, Reg. N 506, Bl. 17r.

96 zusammen kunfft, selbs personlich vorsunen beziehen könnte.42 Das Verhalten Büttners war kein Einzelfall: Die zahlreichen Widerrufe deuten eher darauf hin, daß die individuellen religiösen Überzeugungen in dieser und in der vorangegangenen Visitation nicht das entscheidende Kriterium für Annahme oder Ablehnung der DecV [Declaratio Victorini, RvB] waren. Das Interesse am eigenen Amt und die Gehorsamsverpflichtung waren bedeutendere Faktoren.43

Eine erneute Wende fand nach dem Tod von Herzog Johann Wilhelm 1573 statt. Die Vormundschaft für die unmündigen Söhne Johann Wilhelms übernahm der albertinische Kurfürst August und veranlasste sofort eine weitere Visitation, die die Pfarrer zur Annahme von drei Artikeln zwang.44 So sollten sie neben der Bibel, die Schriften Luthers und auch die Melanchthons anerkennen. Letzterer war in den vorangegangenen Lehrstreitigkeiten im ernestinischen Thüringen immer wieder angefochten worden. Eine weitere Forderung bestand darin, dass die Pfarrer sich des vnbillichen Condemnirens, schmehens vnd lesterns wolverdienter vnschuldiger persohnen, kirchen und schulen, hinfort gentzlich eussern45 sollten. Außerdem wurde von ihnen verlangt, dass sie sich den zumeist neu eingesetzten Superintendenten und dem Konsistorium in Jena unterordneten. Büttner wurde zusammen mit drei anderen Pfarrern mit folgendem Ergebnis geprüft: Diese vier seindt in Examine von denn furnembsten artickeln Christlicher lehr geschickt vnd zimblich berichtet befunden, haben auch die vorgehaltene artickel de consensu doctrinae nach gottes wort vnnd den schrifften Lutherj vnd Philippj einhellig approbirt vnd angenhomen, sich zu schuldigem gehorsam des Superintendenten vnd beforderung Christlicher einigkeit willig erbotten, Sindt zu mhererm vleis denen sie auch zugesagt, vermant vnd derwegen bej ihren ambtern gelassen worden.46

Die Visitation von 1573 hatte die Entlassung von einem Fünftel der ernestinischen Pfarrer zur Folge. Gründe dafür lagen in den lang anhaltenden Spannungen zwischen Ernestinern und Albertinern und den sich daraus ergebenden Abgrenzungen in politischen wie theologischen Fragen. Die abgesetzten Pfarrer hatten vor allem Schwierigkeiten, Philipp Melanchthon als theologische Lehrautorität anzuerkennen und empfanden den kursächsischen Einfluss als einen Abfall von der wahren Lehre. Die Entscheidung der Pfarrer, die von ihnen geforderten Stellungnahmen anzunehmen oder sich ihnen zu widersetzen, war jedoch, wie die Untersuchung von Gehrt zeigt, häufig vom Verhalten ihrer Superintendenten abhängig.47

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Vgl. dazu auch Gehrt: Pfarrer im Dilemma, S. 59. Gehrt: Pfarrer im Dilemma, S. 60. Vgl. Gehrt: Pfarrer im Dilemma, S. 62. ThHStAW, EGA, Reg. Ii 57, Bl. 9r. ThHStAW, EGA, Reg. Ii 57, Bl. 35r. Gehrt: Pfarrer im Dilemma, S. 70f.

97 Wolfgang Büttner war, den erhaltenen Protokollen nach zu urteilen, keine Ausnahme. Seine Weigerung, 1562 die Declaratio Victorini zu unterschreiben, entsprach dem mehrheitlichen Verhalten der Geistlichen in der Superintendentur Weimar. Bei allen weiteren Visitationen fügte er sich den anstehenden Forderungen, auch wenn sie seiner zuvor bekundeten Meinung zuwiderliefen. Damit war es ihm möglich, durch alle politisch-religiösen Wechsel in der ernestinischen Landespolitik hindurch im Amt zu bleiben. Die Anpassung an die jeweiligen politischen Erfordernisse fand ihren Niederschlag aber auch in Büttners Werken. Es ist wohl nicht alles überliefert, was Wolfgang Büttner verfasst hat. Sein frühestes nachgewiesenes Werk stellt die Psalmenauslegung zum 37. Psalm aus dem Jahr 1559 dar.48 Bereits in diesem Werk verteidigt er die ernestinische Landespolitik und berichtet von der Gefangennahme des Kurfürsten Johann Friedrich, in dem er nicht nur einen lieben Landtsuater,49 sondern auch einen getrewen Wirt der Kirchen Jhesu Christi50 sieht. Wie bereits erwähnt, bezieht er sich in seinen Anspielungen ebenso auf das Konfutationsbuch. Die hier angeführten zeithistorischen Bezüge werden nur verstreut genannt, denn der Schwerpunkt liegt bei der in Frage und Antwort dargestellten bibelnahen Auslegung von ausgewählten Versen des Psalms. Sie setzen sich mit der Ungerechtigkeit in der Welt, verkörpert in den armen fromen Christen/ die inn der Welt viel mFssen leiden51 und in den Gottlosen Tyrannen/ die in der welt viel glFck vnd Ehr haben,52 auseinander. Büttner benennt in diesem Text verschiedene Mißstände, deren Lösung er sich durch die Gnade Gottes erhofft. Gleich zu Beginn gibt er als summa diss Psalms53 an: das du lernest gedult haben in der Welt/ vnd nicht murrest noch fluchest/ wann es dem Gottlosen nach allem seinem gefallen wol/ vnd glFcklich/ dir aber alzeit vbel geht/ vnd k=mmerlich.54

Die Auslegung des 37. Psalms stellt an sich, wie bereits von Röcke herausgearbeitet, keine wesentliche Neuerung in der Kontroversliteratur jener Zeit dar.55 Büttners Definition des Bösen greift alle Stände an und nimmt dabei selbstverständlich den Landesherren aus.56 Letzteren zählt er in die Reihe der Vorbilder, die bei Jan Hus und seiner Verbrennung 1415 anfängt, über Luther auf dem Wormser Reichstag 1521 geht und bis hin zu der bereits genannten Niederlage

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Vgl. dazu Röcke: Der XXXVII Psalm. Büttner: Der XXXVII Psalm, Bl. C viijv. Büttner: Der XXXVII Psalm, Bl. C viijv. Büttner: Der XXXVII Psalm, Bl. A iiijr. Büttner: Der XXXVII Psalm, Bl. A iiijr. Büttner: Der XXXVII Psalm, Bl. A iiijr. Büttner: Der XXXVII Psalm, Bl. A iiijr. Vgl. Röcke: Der XXXVII Psalm, S. 52. Vgl. Büttner: Der XXXVII Psalm, Bl. A vrf.

98 der Ernestiner 154757 führt, um zu illustrieren wie sich inn solchem zwang die Heiligen58 trösten. Die Identifizierung mit der wechselvollen ernestinischen Landespolitik bleibt hier wie in allen Werken Büttners erhalten. Einer der Gründe könnte in seiner Abhängigkeit vom ernestinischen Hof zu suchen sein, die er in der Psalmenauslegung erwähnt. Zwar ist dieses Werk den jtzt regierenden zweyermannen59 der freien Stadt Erfurt, Claus Schillige/ Wolffgang Schonner/ Adam Wenige/ Georgen HFbner60 gewidmet, Büttner betont aber, dass er sich nicht nur den Erfurter Bürgern zu Gehorsam verpflichtet sieht, sondern auch nichts unternehmen möchte, das jren FFrstlichen gnaden zu wider/ oder mir von jren FFrstlichen gnaden zu vngnaden m=cht ausgelegt werden.61 Er sei, so gibt er an, besonders Johann Friedrich und seinen Brüdern verpflichtet, da er unter gnedigem schutz vnd notturfftiger vnterhaltung/ bis in dreyzehen Jar [...] mit meinem Hause gnediglich bin versorget62 worden. Möglicherweise deutet dieser Hinweis darauf, dass Büttner bereits um das Jahr 1546 eine Pfarrstelle in den ernestinischen Landen angetreten hat. Erst aus dem Jahr 1567 ist ein bisher unbekanntes Werk von Wolfgang Büttner nachweisbar. In Wolferstedt verfasste er Christlieche vnd Teglieche Haus beet gesengleyn, die sich als Handschrift im Nachlass der Herzogin Dorothea Susanna von Sachsen-Weimar befinden und bislang nicht zu seinen Werken gerechnet wurden.63 Niewöhner, der 1919 eine Beschreibung der Handschrift anfertigte, vermutet, dass es sich um ein Autograph handelt. Das Werk enthält 41 Lieder, die, wie der Titel verweist, aus dem ersten Teyle [...] der psalmen dauid64 stammen und zum Singen und Beten für die eynveltiegen Christen, leyen65 und Kinder gedacht sind. Am Ende dieser Handschrift spricht Wolfgang Büttner die Hoffnung aus, dass er weitere Psalmen mit Gottes willen [...] auch in solche kiender liedlein briengen66 will. Andere Werke Büttners erschienen jedoch erst sehr viel später und waren wohl, wie er selbst angibt, aus der Suche nach Verdienstmöglichkeiten entstanden. War die wirtschaftliche Situation von protestantischen Pfarrern auch noch Jahrzehnte nach der Reformation ohnehin schwierig, so verschärfte sich Büttners Lage durch

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Büttner: Der XXXVII Psalm, Bl. C vijv–C viijv. Büttner: Der XXXVII Psalm, Bl. C vijv. Büttner: Der XXXVII Psalm, Bl. A ijr. Büttner: Der XXXVII Psalm, Bl. A ijr. Büttner: Der XXXVII Psalm, Bl. A iijr. Büttner: Der XXXVII Psalm, Bl. A ijvf. Den Hinweis auf die unbekannte Handschrift verdanke ich Daniel Gehrt: Wolfgang Büttner: Christlieche vnd Teglieche Haus beet gesengleyn, Aus dem ersten Teyle, der psalmen dauid, vor allerley anliegen dess leybs vnd der Seelen, mitt nutz vnd Trost, eynveltiegen Christen, leyen, vnd jungen Kiendern, zue siengen vnd zue beeten, angeriechtet, durch M: Woffgang: Büttner zue wolffersted. 1567. (Gotha, Forschungsbibliothek Codex Chart. B 900) Büttner: Christlieche vnd Teglieche Haus beet gesengleyn, Bl. A 1r. Büttner: Christlieche vnd Teglieche Haus beet gesengleyn, Bl. A 1r. Büttner: Christlieche vnd Teglieche Haus beet gesengleyn, Bl. L 7v.

99 besondere Umstände seit dem Jahr 1566. Nachdem in diesem und im folgenden Jahr große Unwetter die Ernten im Amt Allstedt, zu dem auch Büttners Gemeinde Wolferstedt gehörte, vernichteten und die daran anschließenden Krankheiten in Büttners Augen zur Weltpestilentz67 gerieten, war er in einige Nöte geraten.68 Anno 1566. am tage Ascensionis Dom. haglet der Himmel Schlossen vnd Wassersteine/ die zerschlugen vnd zerbrachen/ im Ampt Alsted/ vnd beuor in den KornflGhren Wolffersted/ Newendorff/ Winckel/ Mittelhausen/ Einsdorff/ vnd Entian/ allen Rockenhalm/ vnd ist auff diß jar keine WinterfrGchte verkomen noch tGchtig worden. Anno 1567. Hat ein Reiff vnd kalter frost/ abermal in gemeltem Ampt/ gleich am tage Ascensionis Dom. wie im f=rdern jare/ die edle Wintersaat/ im schoßbalge/ hingenommen vnd verderbet. [...] Vnd vor diesen zweyen Vngewittern/ ist das grausame Sterben in der Pfaltz Alsted angangen/ darnach durch gantz Deutschland gesteupet vnd gefahren [...].69

In der Mansfeldischen Chronik von Cyriacus Spangenberg werden die Ereignisse des Jahres 1566 bestätigt: Vmb diese zeit [Juni 1566, RvB]/ regte sich die Pestilentz allenthalben vmb vns her in der Nachbarschafft/ vnd nam auch je bissweilen etlich mit/ beyde zu Eisleben vnd Mansfeld/ vnd denn auch sunst hin vnd wider auff dem Lande/ biss es endlichen mit gewalt allenthalben angieng/ das wir im Thal Mansfeld keinen tag ohne Leichen waren/ vnd offt zu 8. 9. vnd 10. auff einen tag zubegraben hetten. Vmb Bartholomei sind starcke Regen vnd grosse Wasser gewesen [...] Aber viel Pfarherr sind dieses Sterben vber auff dem Lande in den Amptern auffgangen [...].70

Auch die Missernten für das folgende Jahr werden von Spangenberg erwähnt, der beschreibt, dass im Mai 1567 der Frost alle Bäume so gefrieren ließ, dass das Laub auff den Nussbeumen vnd Eichen/ nicht anders ausgesehen/ denn es were gekochet oder vesenget.71 Über diese Ereignisse hinaus sah sich Büttner – möglicherweise in Anspielung an die zuvor erwähnten kirchenpolitischen Streitigkeiten – vom Teufel vnd

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Büttner: Epitome Historiarum, Bl. 203r. Schon im Winter 1565 gab es eine große Epidemie, die Büttner wohl auch selbst miterlebte. Vgl. dazu Büttner: Epitome Historiarum, Bl. 209v: »Anno 1565. Jst durch die gantze Welt/ die Pestilentz starck vnd krefftig/ gezogen/ vnd viel hundertmal tausend Menschen im trFben vnd nassen Winter ersteckt vnd erwFrget. Man glaubt/ vnd hats zum theil durch grFndliche rechnunge/ das in ThFringen vber 253000. Menschen sturben. Doch solle man Sangerhausen/ vnd Mansfeldt/ jtem Northausen/ vnd MFlhausen/ auch in diese rechnunge ziehen/ weil sie auff ThFringen wenden vnd lenden«. Büttner: Epitome Historiarum, Bl. 203r. Cyriacus Spangenberg: Mansfeldische Chronica. Der Erste Theil. Von Erschaffung vnd Austheilung der Welt/ vnd insbesonderheit von der Graueschafft Mansfelt/ vnd den alten vnd ersten Deutschen K=nigen vnd FFrsten/ der Schwaben vnd Marckmannen/ Cherusken/ Francken vnd Sachsen. Vnd von gemeinen Politischen vnd Weltlichen hendeln/ so sich in Friede oder Kriegsleufften in dieser Landart/ Sachsen/ ThFringen vnd am Hartz/ auch etwan anderswo zugetragen/ dabey dieser Landart/ Oberkeiten oder Vnterthanen mit gewesen. Eisleben 1572, Bl. 487v. Spangenberg: Mansfeldische Chronica, Bl. 488r.

100 ehrlose[n] Conuicianten, vnd Priesterfeinde[n] vnd Verfolger[n]72 bedrängt und er sah sich in einer despectissimam paupertatem.73 Einzig und allein hätten ihn seine beyde hende negst dem HErrn, auff seinem Pferrlein mit der Schreibfeder vber eilff jar ernehret.74 So ist anzunehmen, dass die seit den siebziger Jahren des 16. Jahrhunderts erschienenen Werke von Wolfgang Büttner zur Aufbesserung seines Einkommens gedacht waren. Zu ihnen gehören neben den Historien von Claus Narren ein Kleiner Catechismus, die Dialectica Deutsch und die Epitome Historiarum. 1572 wurde neben den Historien von Claus Narren eine zweite Auflage des Kleinen Catechismus gedruckt, dessen erste Auflage nicht mehr nachweisbar ist.75 Der Titel spricht eine spezifische Leserschaft an, denn das Buch sei für die Wanderleute/ auff der Strasse/ vnd Handwercksgesellen auff der Werckstat/ gesetzt/ vnd zu singen. Der geringe Umfang, das kleine Format, die große Schrift und die einfachen Verse lassen vermuten, dass das Werk für einen größeren Rezipientenkreis gedacht war.76 Die Reformation beförderte die Lesefähigkeit breiterer Schichten. Das zog die Verbreitung von erbaulichen Texten, die auch außerhalb des Gottesdienstes rezipiert werden konnten, nach sich.77 Insofern könnte die Ansprache der im Titel des Kleinen Catechismus erwähnten Zielgruppen durchaus eine Verkaufsstrategie dargestellt haben, die, wenn man der Vorrede der Ausgabe von 1572 folgt, durchaus Erfolg hatte. Dort schreibt der Drucker Urban Gaubisch an alle Geschwister vnd Erben des Ehrwirdigen vnd Wolgelarten Ehrn M. Wolff BFtners,78 dass die erste Auflage von jung vnd alt gekaufft worden79 ist. Jetzt aber seien nichts desto weniger [...] die Exemplar dermassen verruckt vnd beseits komen/ das derselbigen nu nicht mehr verhanden80 wären. Gaubisch betont in seiner Vorrede vor allem die persönliche Beziehung zu Büttner und die Förderung, die er durch ihn erfahren hat: Nach dem ich aber mit ewrem lieben Vater in kundschafft komen/ vnd mir solch Exemplar zugestelt/ mit freundlicher bit/ ich wolte es widerumb fFr die hand nemen/ vnd in meiner Druckerey vernewen/ Dieweil mir aber durch seine Ehrwirden/ vnd euch

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Büttner: Epitome Historiarum, Bl. 203r. Büttner: Epitome Historiarum, Bl. 203r. Vgl. dazu auch Spangenberg: Mansfeldische Chronica, Bl. 487v. Büttner: Epitome Historiarum, Bl. 343v. Wolfgang Büttner: Der Kleine Catechismus/ in kurtze vnd Christliche Lieder/ fFr die Wanderleute/ auff der Strasse/ vnd Handwercks Gesellen auff der Werckstat/ gesetzt/ vnd zu singen. Eisleben 1572. Vgl. dazu Roger Chartier: Lese-Welten. Buch und Lektüre in der frühen Neuzeit. Frankfurt 1990, S. 59f. Vgl. Richard van Dülmen: Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit. Bd. 3: Religion, Magie, Aufklärung 16.–18. Jahrhundert. München 21999, S. 65f. Büttner: Der Kleine Catechismus, Bl. A 2r. Büttner: Der Kleine Catechismus, Bl. A 2v. Büttner: Der Kleine Catechismus, Bl. A 2v.

101 semptlichen viel guts vnd f=rderung geschehen/ vnd mir es zuuerschulden vnm=glich/ hab ich solcher Christlichen bitt billich stat vnd raum gegeben.81

Möglicherweise verfasste Büttner desweiteren einen besondern Agorithmum/ vnd 203. Cossistischer fragen.82 In der Vorrede seiner Dialectica Deutsch bezeichnet er sich mit einer Bescheidenheitsformel als schlimmer Dorffrechner83 und weist auf dieses Werk hin. Obwohl sich gelegentlich Hinweise in der Sekundärliteratur finden lassen, die ein solches Werk Büttner zuschreiben, konnte ein solcher Druck bisher nicht nachgewiesen werden.84 Die Vorliebe, mit Rechenoperationen Sachverhalte zu veranschaulichen, lässt sich bei Wolfgang Büttner zumindest in der 1574 erstmalig erschienen Dialectica Deutsch nachweisen, die eines der ersten Logiklehrbücher in deutscher Sprache darstellt und in der sich viele Beispiele auf einfache Rechenaufgaben beziehen. Gewidmet ist der Druck den Edlen/ Gestrengen vnd Ehrnuhesten/ Dietrichen/ Petern/ vnd Eckharden Gensen/ GebrFdern/ Junckern vnnd Erbsassen auff Densted in DFringen bey Weymar. Berns geht daher davon aus, dass Büttner »Präzeptor von jugendlichen Landadligen«85 gewesen sei. Zumindest gibt es in diesem Zusammenhang einen Hinweis auf die Edlen von Witzleben, die Büttner zwölf Jahre zuvor noch in Umpferstedt ihre Adelich gunst86 bezeugt hätten und ihm wohl den Auftrag erteilt haben, mit den Brüdern Gensen freye KFnste zu studieren.87 Auf die Lehrstreitigkeiten in der Zeit des Interims wird auch in diesem Werk angespielt, obgleich Büttner ein gelehrtes Studium den Auseinandersetzungen vorzieht: Darumb wil ich/ dieweil Dialectica des Philosophischen studij/ hand vnd instrument/ zum anfang hie kFrtzlich/ was Philosophia ist/ vnd leret/ hat vnd gibt/ anbringen/ Vnd mich versehen/ verstendige vnd besonnene Ingenia/ werden hernach dem l=blichen/ hohem vnd reichem studio/ solche bittere/ vnd vngescheidene schmach vnd aufflage/ wie denn vber 25. jar vnter vnruhigen/ vnd vnfriedlichen geschehen/ nicht mehr zuschieben/ sondern optima ingenia, darinnen zu studieren anreitzen/ vnd anhalten.88

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Büttner: Der Kleine Catechismus, Bl. A 2v-A 3r. Büttner: Dialectica Deutsch, Bl. A 4v. Büttner: Dialectica Deutsch, Bl. A 4v. Vgl. dazu Carl von Prantl: Ueber die zwei ältesten Compendien der Logik in deutscher Sprache. In: Abhandlungen der philosoph.-philologischen Classe der königlich bayerischen Akademie der Wissenschaften 8 (1858), S. 193–228, hier S. 207; Wilhelm Britzelmayr: Über die älteste formale Logik in deutscher Sprache. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 2 (1947), S. 46–68, hier S. 60; Jörg Jochen Berns: Nachwort. In: Justus Georg Schottelius: ETHICA. Die Sitten oder Wollebenskunst. Hg. von Jörg Jochen Berns. Bern, München 1980, S. 3–68, hier S. 33. Berns: Nachwort, S. 33. Büttner: Dialectica Deutsch, Bl. A 8r. Büttner: Dialectica Deutsch, Bl. A 8r. Büttner: Dialectica Deutsch, Bl. A 2v-A 3r.

102 Der erste Druck der Dialectica Deutsch erschien 1574, es folgten 1576, 1588 und 1596 weitere Auflagen.89 Die Dialektik stützt sich auf die 1547 erschienenen Erotemata dialectices von Philipp Melanchthon. Auch wenn der Text selbst die Vorlage nicht angibt, so verweist er jedoch zumindest im Zusammenhang mit Melanchthons De Anima auf jenen als Lehrmeister, denn er sei praeceptor nostri benemeritiss[imus, RvB].90 Dieser Verweis deutet meines Erachtens eher auf die Anerkennung Melanchthons hin als auf einen Studienaufenthalt Büttners in Wittenberg, den Schnorr von Carolsfeld vermutet.91 Meine Annahme ließe sich insofern stützen, da Melanchthon an anderer Stelle auch Germaniae Praeceptor92 genannt und erklärt wird, dass der heiligen Schrifft zum teil ehnlich vnd gleichf=rmig/ alle feine Schrifften vnd BFchere/ der alten vnd newen [Hervorhebung durch RvB] Orthodoxorum, als Lutheri vnd Philippi93 und darüber hinaus die wirdigen vnd beyde Corpora doctrinae/ der Chur vnd FFrsten zu Sachsen94 sind. Büttner spielt hier zum einen auf das kursächsische Corpus doctrinae Misnicum95 von 1559, das die ernestinischen Pfarrer in der Visitation von 1573 annehmen sollten, und auf das Corpus doctrinae Thuringicum96 von 1570 an.97 Fast in allen Werken kommt zum Ausdruck, dass sich Büttner selbst zu Unrecht verfolgt sah. Diesen Umstand erwähnt er auch in seiner groß angelegten Epitome Historiarum, in der er beklagt, dass der Sathan/ vnd seine rasende Caterua mit Sycophantischer Beladunge vnd Lesterunge/ an meinem Vorhaben vnd Arbeit

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Die Auflage von 1576 wurde in Leipzig durch Jakob Berwalds Erben gedruckt. Die dritte Auflage befindet sich als Anhang in folgendem Sammelwerk: THESAVRVS AVREVS. Hoch oder gemainer Teutscher Nation Formular/ Mit einem eynverleibten ordentlichen gerichtlichen Proceß [...] durch den lang geFbten / vnd viel jarig erfahrnen/ Johann Heliam Meichßner [...] Sampt desselben HandtbFchlein grFndtlichs Berichts/ der Orthographiæ vnnd Grammaticæ recht und wol zu schreiben [...] Diesem ist auch hinan gehenckt eine Teutsche Dialectica, wie man vernFnfftige vnnd rechte Fragen mit Vernunfftt vnd Kunst entscheyden vnd verantworten soll. Durch M. Wolffgang BFttnern. Frankfurt 1588. Die vierte Auflage der Dialectica erfolgte wiederum in Leipzig bei Berwald 1596. Büttner: Dialectica Deutsch, Bl. F 5r. Vgl. Schnorr v. Carolsfeld: Ueber Klaus Narr, S. 300. Büttner: Dialectica Deutsch. Bl. H 4r. Büttner: Dialectica Deutsch. Bl. H 6v. Büttner: Dialectica Deutsch. Bl. H 6v. Corpus Doctrinae Christianae. Das ist gantze Summa der rechten waren Christlichen Lehre aus heiligen Evangelii, nach jnnhalt G=ttlicher Prophetischen und Apostolischen Schriften etc. Leipzig 1560. Corpus doctrinae Christianae. Das ist/ Summa der Christlichen lere/ aus den Schrifften der Propheten vnd Aposteln/ fein kurtz/ rundt vnd grFndlich/ durch D. Martinum Lutherum sonderlich/ vnd andere dieser Lande Lerer zusammen gefasset. Wie dieselbige in vnser von Gottes gnaden Johans Wilhelm/ Hertzogen zu Sachsen/ Landgraffe in ThFringen/ vnd Marggraffen zu Meißen/ FFrstenthumen vnd Landen/ durch Gottes gnade eintrechtig bekandt vnd gelert wird. Jena 1570. Vgl. dazu Gehrt: Pfarrer im Dilemma, S. 62: Das kursächsische Corpus doctrinae bestand »neben den altkirchlichen Symbolen ausschließlich aus Schriften Melanchthons«, während das ernestinische Corpus doctrinae Thuringicum, ausgenommen die Augsburger Konfession und deren Apologia, keine von Melanchthon enthielt.

103 geseumet vnd abgehalten98 und er nicht alleine meine Studia habe mFssen lassen ruhen und feiheren.99 Währenddessen habe der FFrst der Welt/ vnd seine FFrstin Fraw Calumnia/ auff meinem RFcken gepflFget/ vnd tieffe Furchen auffgezogen.100 Die Epitome ist vor allem durch die von Steinhart bearbeitete und stark veränderte zweite Auflage von 1596 bekannt geworden.101 Erstmalig erschien sie 1576. Die Epitome wird in der Sekundärliteratur als Beispiel für eine protestantische Exempelsammlung genannt, ihre Vorrede ist untersucht worden und auf ihr reichhaltiges Material wird verwiesen.102 Eine eigenständige Untersuchung steht noch aus. Büttner widmet dieses Werk den Achtbarn Hoch vnd Wolweisen/ Fursichtigen/ Erbarn vnd Ersamen Regierenden BFrgemeistern/ Rath vnd Kemmern/ der Sechsischen FFrstlichen Stad Weymar103 und erinnert damit an seine 29 Jahre, die er dem dienst des Euangelij in der Ersamen gemeine zu Ompffersted/ neben der FFrstlichen Stad Weymar/ vnd bey den Wolfferstedtern neben Allsted vor dem Hartze vorgestanden104 habe. In der Epitome gibt er außerdem Auskunft über seine Familienverhältnisse. So habe er vor zwey vnd dreissig Jahren zum Newen Marckt mein liebes Weib in die Ehe gefreiet.105 Seine Verwurzelung in Thüringen bringt er damit zum Ausdruck, dass er hofft, mit gnaden vnd Ehren in der Erkentnis vnd Bekentnis Jhesu Christi in ThFringen abzuscheiden/ vnd beygelegt/ auch aus der ThFringischen Erden widerumb auffzuerstehen/ vnd vnuerweslich herfFr zu gehen.106 Schnorr von Carolsfeld fügt in seinem Aufsatz weitere Ausschnitte aus der Epitome ein, die möglicherweise biographische Ursprünge haben.107

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Büttner: Epitome Historiarum, Bl. a 4v. Büttner: Epitome Historiarum, Bl. a 4v. Büttner: Epitome Historiarum, Bl. a 4v. Wolfgang Büttner und Georg Steinhart: Epitome Historiarum. Das ist Christliche vnd kurtze beschreibung vieler denckwFrdiger Historien vnd Exempel/ beydes der heyligen Schrifft/ sowol auch anderer alten vnd newen Lehrern vnd Scribenten etc. Itzo aber auffs Newe übersehen, vermehret, nach Ordnung der 5 HauptstFcke des Catechismus Lutheri gerichtet vnd gebessert/ durch Georgium Steinhart. Leipzig 1596. Vgl. Ernst Heinrich Rehermann: Die protestantischen Exempelsammlungen des 16. und 17. Jahrhunderts. Versuch eines Überblicks und einer Charakterisierung nach Aufbau und Inhalt. In: Volkserzählung und Reformation. Ein Handbuch zur Tradierung und Funktion von Erzählstoffen und Erzählliteratur im Protestantismus. Hg. von Wolfgang Brückner. Berlin 1974, S. 580–656, hier S. 597–602; Schwitzgebel: Noch nicht genug der Vorrede; Schnorr v. Carolsfeld: Ueber Klaus Narr, S. 307–328. Die Epitome bietet beispielsweise umfangreiches Material für die Historia von D. Johann Fausten. Vgl. Historia von D. Johann Fausten. Text des Druckes von 1587. Kritische Ausgabe. Mit den Zusatztexten der Wolfenbütteler Handschrift und der zeitgenössischen Drucke. Hg. von Stephan Füssel, Hans Joachim Kreutzer. Stuttgart 1988, S. 260, 268, 280f., 286, 290, 295. Büttner: Epitome Historiarum, Bl. a 2r. Büttner: Epitome Historiarum, Bl. a 2r. Büttner: Epitome Historiarum, Bl. a 5r/v. Büttner: Epitome Historiarum, Bl. a 5v. Vgl. Schnorr v. Carolsfeld: Ueber Klaus Narr, S. 298ff.

104 Bisher wurde davon ausgegangen, dass Büttner vor 1596 starb, da in der Steinhartschen Neubearbeitung der Epitome von ihm als weyland Pfarherrn in der Graffschafft Manßfeld108 gesprochen wird. Eine genauere Bestimmung konnte nicht vorgenommen werden. Es ist anzunehmen, dass Büttner jedoch bereits um 1576 starb. Für diese Vermutung sprechen verschiedene Gründe: In der gerade zitierten Neuausgabe der Epitome wird Büttners Wirkungsort mit der Mansfelder Grafschaft angegeben. Diese Ortsangabe erklärt sich daher, dass das Amt Allstedt und somit auch Wolferstedt durch einen Tausch seit 1533 nicht mehr dem ernestinischen Kurfürsten Johann Friedrich, sondern dem Grafen Albrecht von Mansfeld als erbliches Lehen gehörte.109 Albrecht pfändete es weiter an die Stolberger Grafen. Die Ernestiner lösten es 1575 wieder ein, so dass Büttner entweder eine weitere Pfarrstelle in der Mansfelder Grafschaft innegehabt haben muss oder aber um den Zeitpunkt des Pfandlöses starb. Folgt man der Annahme, Büttners letzter Wirkungsort sei Wolferstedt gewesen, bieten auch die Visitationsprotokolle Anhaltspunkte für ein Sterbedatum Büttners um 1576, denn in der im Jahr 1577 stattfindenden Visitation war schon Laurentius Thunger Pfarrer in Wolferstedt.110 Zudem wurde in die Visitationsprotokolle von 1573 später der Vermerk, nachfolgend auf Büttners Namen, Successit Laurentius Thunger111 eingetragen. Bedenkt man außerdem die Produktivität Büttners, die vor allem in den siebziger Jahren lag, wäre es verwunderlich, wenn sich dieser Autor, der sich in der wechselvollen Zeit der Glaubensauseinandersetzungen in seinem Amt behauptet hatte, nicht weiter publiziert hätte. So ist anzunehmen, dass der Druck seines letzten Werks 1576 zeitlich in der Nähe seines Sterbedatums liegt. Wolfgang Büttner war ein überzeugter Anhänger der lutherischen Lehre, der – wie viele andere Pfarrer – sein gesamtes Leben im ernestinischen Gebiet verbrachte.112 Er musste sich jedoch auch den wechselvollen Verhältnissen anpassen und unterstützte, je nach Situation, ernestinische wie auch albertinische Landespolitik. Ebenso bekannte er sich zu verschiedenen Richtungen in den Glaubensstreitigkeiten, ohne jedoch eine radikale Position einzunehmen. Seine Äußerungen waren weitgehend davon bestimmt, sein Amt und seine Einnahmequellen zu behalten. Er mischte sich daher wenig mit eigenen Ansichten in die theologischen Kontroversen seiner Zeit ein. Der Magisterabschluss und auch

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Büttner und Steinhart: Epitome Historiarum. Vgl. Thomas Klein: Politik und Verfassung von der Leipziger Teilung bis zur Teilung des ernestinischen Staates (1485–1572). In: Geschichte Thüringens. Hg. von Hans Patze, Walter Schlesinger. Bd. 3: Das Zeitalter des Humanismus und der Reformation. Köln, Graz 1967, S. 146–334, hier S. 153. Vgl. ThHStAW, EGA, Reg. Ii 58. Vgl. ThHStAW, EGA, Reg. Ii 57, Bl. 35r. Vgl. Heinrich Kramm: Studien über die Oberschichten der mitteldeuschen Städte im 16. Jahrhundert. Bd. 1: Sachsen. Thüringen. Anhalt. Köln, Wien 1981, S. 380: »Der thüringische Pfarrstand hat sich zu 90% aus dem Lande selbst ergänzt«.

105 seine sonstigen Bemühungen zielten vermutlich darauf ab, ein Pfarramt in einer Stadt oder einem größeren Dorf zu übernehmen.113 Obwohl er sich mit anderen Pfarrern die schwierige wirtschaftliche Lage aufgrund von unklaren Einkommensverhältnissen teilte, ist es dennoch ungewöhnlich, dass Büttner sich seinen Lebensunterhalt durch den Druck von eigenen Werken aufzubessern suchte.114 Alle seine Schriften beziehen sich immer wieder auf die Glaubensstreitigkeiten am Ende des 16. Jahrhunderts, dennoch sind sie nicht ausschließlich der Kontroversliteratur zuzuordnen. Büttner bietet in ihnen Hilfestellung und Orientierung an. Dieser Anspruch findet sich auch in den Historien von Claus Narren.

3.2

›Sechs hundert/ sieben vnd zwantzig Historien/ Von Claus Narren‹

Das bekannteste Werk von Wolfgang Büttner, die Historien von Claus Narren, erschien erstmals 1572. Die Einleitung der Historien beginnt mit einem gereimten Vorspruch, dem eine Vorrede an den Leser folgt, und sie endet mit einer lateinischen Entschuldigung des Autors. Der sich anschließende Hauptteil umfasst 16 Kapitel, auf die in unterschiedlicher Zahl die im Titel angekündigten 627 – nach der Zählung von Schmitz sind es in der Ausgabe von 1572 tatsächlich nur 626 – Historien aufgeteilt sind.115 Jede Historie ist dreigliedrig aufgebaut: auf eine Überschrift folgt ein kurzer, oft in Form eines Apophthegmas verfasster Prosateil, dem sich eine gereimte Moralisatio anschließt. Die Historien von Claus Narren enden mit einer oratio autoris und einer Appendix. Bis auf zwei Ausnahmen nennt jede Kapitelüberschrift Claus Narr. Auch die Historien selbst beziehen sich bis auf 59 Historien auf den Narren. Die Historien ohne Claus Narr übernehmen innerhalb des Textes oft eine gliedernde Funktion oder sie schließen das Kapitel ab. 43 Historien sind ausdrücklich mit einzelnen Buchstaben oder anderen Abkürzungen als fremd gekennzeichnet.116 Sechs davon handeln von Claus Narr, die übrigen 37 beziehen sich nicht auf diesen Narren. Alle markierten Historien sind mit den Buchstaben A, B, F oder L beschriftet oder tragen Abkürzungen und Zusätze wie adiect. für adiectum. Zu den 37 Historien

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Vgl. Kramm: Studien über die Oberschichten, S. 381f. Über den Ausbildungsstand der thüringischen Pfarrer wird folgendes vermerkt: »Die Mehrheit der höheren Geistlichen scheint den Magister- (gewöhnlich aus der Zeit vor Ausübung des Vorberufes), in geringerem Maße auch den Dr. theol.-Grad gehabt zu haben. Geistliche mit einem akademischen Grad konnten sowohl in Stadt- wie in Landgemeinden eingesetzt werden. Immerhin gab es vielleicht etwas ansehnlichere Dörfer, in denen Pfarrer mit Magistergrad amtierten, die aber später, wenigstens zum Teil, in die Stadt berufen wurden.« Kramm: Studien über die Oberschichten, S. 382. Schmitz: Wolfgang Büttners Volksbuch von Claus Narr, S. 33. Auch die von mir benutzte Ausgabe von 1602 umfasst nur 626 Historien. Vgl. dazu Schmitz: Wolfgang Büttners Volksbuch von Claus Narr, S. 49–51.

106 kommen weitere 22, die sich ebenfalls nicht auf den Narren beziehen, jedoch keine Kennzeichnung tragen. Doch abgesehen von diesen insgesamt 59 Historien, die nicht Claus Narr zum Gegenstand haben, steht Claus Narr im Mittelpunkt der übrigen 567 Historien. Für Schmitz ist die Kennzeichnung fragwürdig, da Büttner sowohl weitere ungekennzeichnete Historien eingefügt hat, in denen Claus Narr nicht agiert, als auch das Material von vielen Historien aus anderen nachweisbaren Quellen stammt, die auf den Narren übertragen worden sind.117 Doch Büttner geht es wohl weniger um die Angabe von Quellen für sein Werk, sondern um die Glaubwürdigkeit seiner Historien. Daher beteuert er nochmals am Ende seiner Vorrede, daß/ was ich schreibe/ außgenommen/ etliche vnd wenig P=ßlein/ die am rande mit Buchstaben verzeichnet/ war ist vnd warhafftig.118 Der Autor nennt sich selbst nur verschlüsselt im Werk. Der deutsche Teil der Vorrede schließt mit dem Kryptonym: Author: malis vndique bonisque patet: volens,119 das als m[agister] v[olfgang] b[üttner] p[arochus] vol[ferstetensis] aufgelöst werden kann. Desweiteren ergibt sich aus der am Ende des Werks stehenden Oratio Authoris das Akrostichon MAGISTER VOLFGANG BVTTNER PFRRER ZV VOLVERSTET.120 Bereits Lappenberg und Gervinus ordneten das Kryptonym und das Akrostichon Mitte des 19. Jahrhunderts dem ernestinischen Pfarrer Wolfgang Büttner zu.121 Die Historien von Claus Narren enthalten keine ausdrückliche Dedikation. Die Vorrede ist an den Ehren/ Auffrichtigen/ der warheit/ fried vnd tugend geneigten Teutschen Leser122 gerichtet und wendet sich damit dezidiert an einen weiten Rezipientenkreis. Der Narr selbst wird in der Vorrede nur in wenigen Worten geschildert, die der Exordialtopik verpflichtet ist. Er habe sich durch seine angeborne Stoliditet/ oder Thorheit123 so ausgewiesen, dass andere Hofnarren mit ihm nicht vergleichbar seien. Unter den natürlichen Narren rage Claus Narr heraus, denn jeder in Deutschland kenne ihn. Das hätten auch schon die beiden Kurfürsten Friedrich und Johann bemerkt, denn sie haben offt deß einfeltigen Menschen wort vnd werck in Betrachtung genommen/ vnd sich sehr darab verwundert/ auch den guten Menschen lieb gehabt/ vnnd thewer geachtet.124

Die Fähigkeit, das Besondere des Narren zu erkennen, dient gleichzeitig dem Herrscherlob der Ernestiner, denen der Autor in besonderem Maße verpflichtet war.

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Schmitz: Wolfgang Büttners Volksbuch von Claus Narr, S. 50. Büttner: Historien von Claus Narren, Bl. A vijr. Büttner: Historien von Claus Narren, Bl. A vijr. Büttner: Historien von Claus Narren, Bl. kijv–kiijr. Vgl. Gervinus: Geschichte der Deutschen Dichtung. Bd. II, S. 303f.; Lappenberg: Dr. Thomas Murners Ulenspiegel, S. 382. Büttner: Historien von Claus Narren, Bl. A ijr. Büttner: Historien von Claus Narren, Bl. A iijr. Büttner: Historien von Claus Narren, Bl. A ijv.

107 Büttner setzt den Narren in einen abgeschlossenen historisch-geographischen Raum. Er führt hier zunächst aus, dass der Narr bei den ernestinischen Brüdern Friedrich und Johann gelebt habe. Der Narr sei an den Chur/ vnd FFrstlichen H(usern zu Wittenberg/ Torgaw/ Weymar/ vnd Aldenburg/ vnd an andern Chur vnd FFrstlichen H(usern/ jrer Chur vnd FFrstlichen Gnaden angeh=ren den FFrstenthumben/ gehalten vnd genehret125 worden. Büttner verortet den Narren damit in das ernestinische Sachsen nach der sächsischen Teilung von 1485 und lässt ihn – im Widerspruch zum historischen Claus Narr – nach der Reformation zwischen 1525 und 1532 sterben. In dieser Zeit ist Wittenberg der Ort im Herzogtum Sachsen, an den die Kurwürde gebunden ist und befindet sich immer noch in der Hand der Ernestiner. Um den Wahrheitsgehalt der Historien von Claus Narren zu untermauern, verweist Büttner auf verschiedene Zeugen. Neben den Kurfürsten Friedrich und Johann benennt er weitere Mitglieder der Hofgesellschaft, von denen er Informationen über den Narren erhalten habe.126 Andere Quellen mindert er herab und weist aus, dass er sie gekennzeichnet habe. So gibt er an, er habe dabey aber wenig/ vnd gar selten ein frembd P=ßlein mit eingemenget/ vnd mit Buchstaben/ oder andern zeichen notiret.127 In den Historien von Claus Narren gibt es weder in der Vorrede einen Verweis auf die Gliederung noch erschließt sie sich indirekt durch die einzelnen Kapitel. In der bisherigen Forschung galt daher der Aufbau von Büttners Werk als »äußerst disparat«.128 Es wurde darüber hinaus vermutet, dass Büttner die Aufteilung »erst kurz vor dem Druck oder sogar während des Drucks vorgenommen«129 habe, durch die Druckerei willkürlich Änderungen erfolgt seien oder aber dem Autor biographische Daten zu Claus Narr fehlten.130 Doch ist zu fragen, ob nicht die thematisch geordneten Kapitel der Historien von Claus Narren, die zwei Drittel des Werkes umfassen, für eine gewisse Ordnung sprechen. Im Folgenden sollen daher mit Hilfe von weiteren Werken Büttners Aufbau und Struktur der Historien von Claus Narren genauer untersucht werden.

3.2.1 Ordnungen in Büttners ›Dialectica Deutsch‹ (1574) und ›Epitome Historiarum‹ (1576) Verschiedene Versuche von Wolfgang Büttner, sein Material zu ordnen, bzw. sich auch theoretisch mit der Stoffindung und -gliederung auseinanderzusetzen, sind in seinen Werken erkennbar. Daher bietet es sich an, bevor der Aufbau der

125 126 127 128 129 130

Büttner: Historien von Claus Narren, Bl. A ijr/v. Vgl. Büttner: Historien von Claus Narren, Bl. A ijv. Büttner: Historien von Claus Narren, Bl. A iijr. Röcke: Die Freude am Bösen, S. 254. Schmitz: Wolfgang Büttners Volksbuch von Claus Narr, S. 49. Schmitz: Wolfgang Büttners Volksbuch von Claus Narr, S. 47ff.

108 Historien von Claus Narren genauer untersucht werden soll, einen Blick auf die Ordnung anderer Werke Büttners zu werfen. Vornehmlich seine Dialectica Deutsch, aber auch seine Epitome Historiarum verweisen auf sein unterschiedliches Vorgehen, den Stoff zu finden und zu gliedern. Daher wird hier zunächst ein Ausblick auf diese Werke gegeben, bevor im Einzelnen die Gliederung der Historien von Claus Narren erläutert wird. An der erstmals 1576 erschienenen Epitome, die eine umfangreiche und in der zweiten Auflage und Bearbeitung durch Georg Steinhart sehr erfolgreiche Exempelsammlung darstellt, ist ablesbar, wie sehr sich Büttner den vielseitigen Versuchen in der frühen Neuzeit verpflichtet sah, sein Material nach Topoi zu gliedern. Die der Epitome unterliegenden Ordnungskriterien werden bereits auf dem Titelblatt genannt, denn die hier erzählten Exempel sind alle nach ordnung vnd der Lere in den zehen Geboten Gottes/ Vnd der sieben Bitten in vnserm heiligen Vater vnser/ Gerichtet. Büttner baut damit auf eine von Andreas Hondorff im Promptuarium Exemplorum benutzte Ordnung auf, die – wie bereits zuvor ein Abschnitt in Manlius’ Colloctanea locorum communium – den Dekalog als Gliederung verwendet. Er gebraucht damit eine Struktur, die auch andere Exempelsammlungen dieser Zeit aufweisen.131 In der Vorrede verweist Büttner auf sein eigentliches Vorhaben, diesen Farraginem Historiarum/ in vnd nach den fFnff StFcken Christlicher Lere im Catechismo einzuteilen/ vnd die Artickel des Glaubens/ sampt beiden Sacramenten/ mit tr=stlichen vnd mit erschrecklichen/ wFsten vnd wilden Exempeln zu erzelen.132 Er wollte deshalb sein Werk nicht Epitome/ Sondern Catachesis Historia133 nennen, jedoch sollten andere fromme Lerer vnd Diener des Euangelij [...] auch arbeiten vnd den Federkarst in die Hand nemen.134 Ausgeführt hat das der spätere Bearbeiter der Epitome Historiarum Georg Steinhart, der den gesamten Kleinen Katechismus verwendete und damit dem Werk zu größerer Bekanntheit verhalf.135 Doch bereits die erste Fassung der Büttnerschen Epitome geht über Hondorff hinaus, der sein Werk ausschließlich nach den zehn Geboten strukturiert hatte, denn es nimmt zusätzlich die sieben Bitten des Vaterunsers auf. Motiviert ist die Epitome durch Wolfgang Büttners Arbeit als Pfarrer. Er greift damit auf eine Erklärung zurück, wie sie bereits bei Andreas Hondorff erscheint:

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132 133 134 135

Vgl. dazu Rehermann: Die protestantischen Exempelsammlungen, S. 597; Heidemarie Schade: Andreas Hondorffs Promptuarium Exemplorum. In: Volkserzählung und Reformation. Ein Handbuch zur Tradierung und Funktion von Erzählstoffen und Erzählliteratur im Protestantismus. Hg. von Wolfgang Brückner. Berlin 1974, S. 646–703; Burghart Wachinger: Der Dekalog als Ordnungsschema für Exempelsammlungen. In: Exempel und Exempelsammlungen. Hg. von Walter Haug, Burghart Wachinger. Tübingen 1991, S. 239–263; Schwitzgebel: Noch nicht genug der Vorrede, S. 40f. Büttner: Epitome Historiarum, Bl. a 4r. Büttner: Epitome Historiarum, Bl. a 4r. Büttner: Epitome Historiarum, Bl. a 4r. Vgl. Rehermann: Die protestantischen Exempelsammlungen, S. 600f.

109 Darzu denn nicht alleine predigen vnd KirchenFbunge/ nemlich beten vnd singen/ tr=sten vnd straffen/ auffl=sen vnd zubinden/ Sacrament ausspenden/ vnd alle Christliche Kirchen vnd l=bliche Stadzucht zu treiben vnd abzuwarten/ geh=ren vnd n=tig sein/ Sondern auch gut ist/ vnd besserlich die Feder anlegen/ vnd was ich meinen vertraweten den Ersamen zu Ompffersted/ vnd den Wolfferstedtern in jren Kirchen vnd Gemeinden gepredigt/ vnd warzu vnd zu wem ich sie/ mit dem Stecken vnd Stabe des HErrn/ gefFhret vnd geleitet/ dasselbe ausreisse vnd fortfahre/ vber berge vnd vber thale/ vber hFgel vnd gipffel/ lecke/ springe/ hFpffe vnd tantze/ wie die jungen Hirschlein vnd Lemblein/ vnd in der sch=nen Welt vnter dem Himmel laut/ helle/ gemein vnd offenbar sey vnd bleibe immerdar. Vnd darumb hab ich vber eilff jar aus obligendem meinem Lere vnd Predigtdienste/ nach dem befelh des HErrn vnd S. Pauli: Forschet in der Schrifft vnd prFfet alles / mit embsigem vnd stetem lesen/ mich geFbet/ vnd in der heiligen Schrifft/ die da ist die lebendige quelle/ vnd Ader des lebens/ spacieret/ vnd mich erlFstiget. Darneben mich auch in den BFchern der Mertyrer/ vnd GottfFrchtiger Kirchenlerer/ vnd Historienschreiber/ mit vleis vnd trewlich vmbgesehen/ vnd reine Historien/ so viel ich derselben zu lesen vnd zu betrachten haben k=nnen/ auff das Gesetze Gottes in den heiligen Zehen Geboten/ vnd auff des HErrn Christi Gebet/ im H. Vater vnser gezogen/ vnd also gebrauchet/ das mir vnd meinen eingethanen Kirchen vnd angepfarten/ grosser frommen vnd nutz auffgestiegen/ vnd beide aus Historien vnd Geschichten/ die zehen Gebot vnd die sieben Bitte des Vater vnsers/ zimlich habe lernen verstehen/ vnd andern auch damit den rechten brauch angeben vnd zeigen k=nnen/ vnd also mancherley vnd vielfeltige Exempla/ Historien/ Geschichte/ SprFche/ Wercke/ Thaten/ Belohung vnd vergeltunge/ Warnunge vnd Straffe/ in eine Methodische Epitome oder richtige kurtze ordnung zusammen getragen/ vnd mir/ wie geh=ret alleine/ vnd den Christlichen Versammlungen zu Ompffersted/ vnd der Wolfferstedter zu nFtzen vnd zu gebrauchen/ verwahret vnd beygelegt.136

Der Folioband baut auf seine Vorgänger auf, zu denen der wirdige vnd selige Andrea Hohndorff/ desgleichen Manlius/ Lycostenes vnd D. Fincelius137 von Büttner gerechnet werden. Die Epitome besteht aus fünf Teilen. Der erste Teil mit den ersten drei Geboten und der zweite mit den ersten drei Bitten des Vaterunsers sind aufeinander bezogen, dieweil die ersten drei Bitte im Vater vnser/ mit den ersten dreyen Geboten/ der zehen Gebot/ in lieblicher vnd feiner vergleichunge gegen einander geordnet/ vnd gestellet138 sind. Die vierte Bitte des Vaterunsers umfasst den dritten Teil, während die fünfte, sechste und siebente Bitte das vierte StFck139 bilden, wobei offensichtlich ein Zählfehler vorliegt, da es in der Epitome bereits als das fFnffte StFck140 ausgegeben wird. Der abschließende fünfte Teil nimmt dann das vierte bis zehnte Gebot auf. Jedes Gebot bzw. jede Bitte umfassen eine unterschiedliche Anzahl von loci communes, die Beispiele aus der Bibel, antiker Autoren, aus den Werken der Kirchenväter und aus der zeitgenössischen Literatur wie Facetienbücher und Prodigiensammlungen auflisten. So findet sich beispielsweise zum dritten Ge-

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Büttner: Büttner: Büttner: Büttner: Büttner:

Epitome Epitome Epitome Epitome Epitome

Historiarum, Historiarum, Historiarum, Historiarum, Historiarum,

Bl. Bl. Bl. Bl. Bl.

a 2v–a 3r. a 3r. 94v. 214r. 214r.

110 bot eine Aufzählung der Bekenner, die den Sabbath geheiliget141 haben. Dem folgen etliche Biblische Historien/ daraus man sihet/ wie der heilige Tag den JFden heilig zu halten aufferlegt/ vnd desselben vbertrettunge G=ttliche straffe gedrawet worden.142 Nach dem biblischen Negativexempel werden allerley feine vnd liebliche Geschichten/ welche auff heilige zeit sich zugetragen/ vnd denen/ die da mit dem Wort am Sabbath vmbgangen/ widerfaren/ aus allerley guten BFchern143 erzählt. Ein weiterer Topos zum dritten Gebot versammelt zeitgenössische Exempel vom Vntergang etlicher Tyrannen/ Edler/ BFrger/ Bawer/ Knechte/ Megde/ die das Wort verfolget/ verachtet/ Lerer vnd Prediger betrFbt/ mit hohn vnd spott von den heiligen Sacramenten lesterlich geredt144 haben. Am Ende der Ausführungen des insgesamt acht loci umfassenden dritten Gebots verzeichnet Büttner die Christen Fresser/ vnd Gotteslesterliche Bluthunde mit Namen allhie145 und zählt diese durch. Die Exempel folgen, bis auf von Büttner meist mit Zusätzen vermerkten Ausnahmen, einer alphabetischen Ordnung, wobei als Lemma meist der Name dient, jedoch auch akademische Titel, geographische Bezeichnungen und selbst Überschriften von zitierten Texten benutzt werden. Das Lemma ist oft mit einer Initiale geschmückt. In einigen Fällen greift Büttner auch nicht auf das Alphabet als Systematik zurück, sondern verwendet – wie in der bereits genannten Aufzählung der Christen Fresser –146 Zahlen und nummeriert die Exempel. Die zu Beginn der Epitome sorgsam aufeinander abgestimmte Ordnung zwischen den Zehn Geboten und dem Vaterunser läuft ab dem dritten Teil des Werks auseinander, wie auch die Systematik innerhalb der Kapitel nicht mehr konsequent durchgehalten wird. Büttner weist selbst daraufhin, wenn er über die Exempel die Überschrift sine ordine & titulo147 setzt oder nach einem ohne ersichtliche Systematik gestalteten Teil zu der alphabetischen Ordnung mit der Bemerkung nu wollen wir wider zu dem Buchstaben A. greiffen148 zurückkehrt. Auch entschuldigt er einmal die zweimalige Verwendung des Alphabets damit, dass noch etlicher zFchtigen Personen Exempla zugedencken149 seien und da er bey Xenocrate der Buchstaben ordnung habe abgehen lassen/ gehet ein ander ABC an.150 Ebenso finden sich ab dem vierten Teil Ergänzungen zu Geboten, die bereits zuvor behandelt worden sind. Auch das Ende der Epitome Historiarum mutet abrupt an:

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Büttner: Büttner: Büttner: Büttner: Büttner: Büttner: Büttner: Büttner: Büttner: Büttner:

Epitome Epitome Epitome Epitome Epitome Epitome Epitome Epitome Epitome Epitome

Historiarum, Historiarum, Historiarum, Historiarum, Historiarum, Historiarum, Historiarum, Historiarum, Historiarum, Historiarum,

Bl. Bl. Bl. Bl. Bl. Bl. Bl. Bl. Bl. Bl.

67r. 74v. 78r. 84r. 91v. 91v. 230r. 346v. 360r. 360r.

111 Von andern fleischlichen/ das ist/ Vng=ttlichen vnd Vnchristlichen begierden/ vnd anfechtungen/ als da seind begierde vnd wollust zum mFssiggange/ zur arbeit/ vnd mFhseligkeit/ zum glFcke vnd vnglFcke/ zum tode/ leben/ vnd sterben/ vnd zum ewigen leben/ haben wir in der 6. vnd 7. Bitte des Vater vnsers/ eine zimliche summa Exempel angebracht/ Vnd wollen die Zehengebot hiemit beschliessen/ vnd enden/ AMEN.151

Büttners Epitome weist mit ihrer an den Dekalog angelehnten Struktur, die um die sieben Bitten des Vaterunsers erweitert wurde, eine topische Ordnung aus, die jedoch am Ende eher willkürlich und zerfasert anmutet. Gerade in der frühen Neuzeit entstanden viele Werke, die die von ihnen angestrebten Gliederungen nicht bis zum Ende durchhielten, wie es Velten am Beispiel der Autobiographie nachweist.152 Ein ähnlicher Befund findet sich in den Historien von Claus Narren, die ebenfalls im zweiten Drittel eher ungeordnet erscheinen, wenngleich Wolfgang Büttners Faszination an der Topik sich nicht nur in der Epitome und im Claus Narr, sondern auch theoretisch in der Dialectica Deutsch niedergeschlagen hat. Die 1574 erschienene Dialectica Deutsch bietet sich an, in die Analyse der Historien von Claus Narren einbezogen zu werden, da sie nicht nur in unmittelbarer zeitlicher Nähe zum Claus Narr entstand, sondern als Dichtungslehre eine theoretische Anleitung darstellt, wie man von jeder sache/ sprache halten/ handlen/ vnd disputiren153 soll. Als ein solches Werk gibt die Dialectica Deutsch einen Einblick in die Wissensorganisation der frühen Neuzeit und lässt Rückschlüsse auf die Struktur der Historien von Claus Narren zu. In der bisherigen Forschung sind die Bezüge zwischen der Dialectica Deutsch und den Historien von Claus Narren noch nicht untersucht worden. Da Büttners Dialektik die zweite deutschsprachige Dialektik überhaupt ist, erscheint eine Einordnung und Skizzierung des bisher kaum beachteten Werks an dieser Stelle notwendig. Der Begriff und der Inhalt von Logik und Dialektik waren immer wieder umstritten.154 Im Mittelalter und früher Neuzeit gab es wiederkehrende Auseinandersetzungen, ob die Dialektik entweder »ein Instrument (organon), eine Wissenschaft (episteme) oder eine Kunst (techne)«155 sei. Für Melanchthon ist sie letzteres und eine Grundfertigkeit. Melanchthon übersetzt sie daher mit vnterred kunst oder vnterricht kunst.156 Wolfgang Büttner stellt sich ebenfalls in diese

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Büttner: Epitome Historiarum, Bl. 425v. Hans Rudolf Velten: Das selbst geschriebene Leben. Eine Studie zur deutschen Autobiographie im 16. Jahrhundert. Heidelberg 1995. Büttner: Dialectica Deutsch, Bl. A 5r. Vgl. dazu François Muller: Das Weiterleben der mittelalterlichen Logik bei Melanchthon und Jungius. In: Mittelalterliche Denk- und Schreibmodelle in der deutschen Literatur der Frühen Neuzeit. Hg. von Wolfgang Harms, Jean-Marie Valentin. Amsterdam 1993, S. 95–110. Muller: Das Weiterleben der mittelalterlichen Logik bei Melanchthon und Jungius, S. 101. Philipp Melanchthon: Erotemata dialectices continentia fere integram artem, ita scripta, ut iuuentuti utiliter proponi possit. Wittenberg 1547, Bl. b 1v.

112 Tradition und bezeichnet in seinem 1574 erstmalig unter dem Titel Dialectica Deutsch erschienenen Werk die Dialektik als Disputiere kunst.157 In seinem Vorwort erläutert er, die Dialectica sei Hand vnd Instrument158 für das Studium der Philosophie und leret wol/ gewis vnd eigentlich/ de quauis Materia, von einer jeden sache/ sprache halten/ handlen/ vnd disputiren159 soll. So verstanden ist die Dialektik eine Hilfe, um ein Ordnungssystem für jeden Stoff zu schaffen. Die Dialektik gehört zum Trivium und soll neben der Grammatik und der Rhetorik die Grundlage für ein weiteres Studium bilden. Sie hat für Büttner Vorrang vor den beiden anderen Künsten, denn in ihr seien alle freye KFnste verborgen [...] wie die Schnecke in jrem Heusslein/ oder wie der Dotter im Eye/ vnter der schale/ im weissen.160 Das grenzt die Dialektik insbesondere von der Rhetorik ab, der Büttner lediglich eine schmückende Funktion zuweist, denn die Rhetorica schreibet vor/ wie man ornate, zierlich/ eleganter, lieblich/ vnd vrbane, h=fflich/ solle eine b=se/ oder eine gute sache/ vorbringen/ glaubwirdig machen/ oder in verdacht ziehen.161 An anderer Stelle vergleicht Büttner sie mit der bekannten Metapher des Blumenwindens, denn sie bindet aus/ vnd von sch=nen Blumen liebliche Krentzlein [...]/ vnd FrewdepFschlein zusammen.162 Es ist davon auszugehen, dass Büttner in seiner Ausbildung mit den lateinischen Vorlagen seiner Dialectica, die nach dem bisherigen Forschungsstand aus den verschiedenen Dialektiken Philipp Melanchthons bestehen, gearbeitet hat. Melanchthon veröffentlichte erstmalig 1520 die Compendiaria dialectices ratio,

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Büttner: Dialectica Deutsch, Bl. B 1v. Vgl. zu Büttners Dialektik den bis heute grundlegenden Aufsatz von v. Prantl: Ueber die zwei ältesten Compendien der Logik in deutscher Sprache. Ihm folgen Rudolf Eucken: Geschichte der philosophischen Terminologie im Umriss. Hildesheim 1964 (Unveränderter Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1879), S. 126f.; Britzelmayr: Über die älteste formale Logik in deutscher Sprache. Vgl. desweiteren Wilhelm Risse: Die Logik der Neuzeit. 1. Bd.: 1500–1640. Stuttgart-Bad Cannstatt 1964, S. 60f. Ausführlicher Armin Sieber: Die Rezeption von Philipp Melanchthons Rhetorik und Dialektik in volkssprachlichen Quellen des 16. Jahrhunderts. In: Werk und Rezeption Philipp Melanchthons in Universität und Schule bis ins 18. Jahrhundert. Hg. von Günther Wartenberg. Leipzig 1999, S. 133–146. Erwähnung findet die Dialectica Deutsch außerdem bei Berns: Nachwort; Joachim Knape, Armin Sieber: Rhetorik-Vokabular zur zweisprachigen Terminologie in älteren deutschen Rhetoriken. Wiesbaden 1998. Büttner: Dialectica Deutsch, Bl. A 2v. Büttner: Dialectica Deutsch, Bl. A 4r. Büttner: Dialectica Deutsch, Bl. B 1v. Melanchthons Position ist dagegen nicht eindeutig bestimmt. In seinen frühen Schriften ordnet er die Rhetorik zwar der Dialektik unter, geht dann aber später dazu über, beide Fächer als gleichberechtigt zu sehen. Vgl. Melanchthon: Erotemata dialectices, Bl. b iijrf: »Vicinae artes sunt, sed ita, Dialectica circa omnes materia uersatur, & rerum summas proprijs uerbis, nude proponit, nec unam sententiam pluribus uerbis aut adhibitis luminibus figurarum pingit. Sed Rhetorica addit ornatum in ijs materijs, quae orationis copia & splendore illustrari & uadrie pingi possunt.« Vgl. dazu Joachim Knape: Philipp Melanchthons ›Rhetorik‹. Tübingen 1993, S. 6–8; Sieber: Die Rezeption von Philipp Melanchthons Rhetorik und Dialektik, S. 135–137. Büttner: Dialectica Deutsch, Bl. A 4r. Büttner: Dialectica Deutsch, Bl. G 7v.

113 1528 folgte dann die Ausgabe der Dialectices libri quatuor163 und 1547 schließlich die Erotemata dialectices.164 Diese Werke waren überaus erfolgreich und vor allem gilt die letzte Ausgabe, die Erotemata dialectices, als eines der wichtigsten protestantischen Dialektiklehrbücher der frühen Neuzeit überhaupt.165 Es bedarf noch einer genaueren Untersuchung, welche dieser Dialektiken Melanchthons die Grundlage für den Büttnerschen Text gebildet hat. Bisher wurde Melanchthons Dialectices libri quatuor genannt.166 So meint bereits von Prantl in seiner Untersuchung, Büttner folge Melanchthon »fast Zeile für Zeile, und schaltet dabei nach eigenem Gutdünken nur die Beispiele und zuweilen ein recapitulierendes Examen ein«.167 Sieber schränkt das Urteil ein und geht davon aus, dass die Dialectica Deutsch »unter partieller Berücksichtigung der ›Erotemata dialectices‹«168 geschrieben worden sei. Es spricht meiner Meinung einiges dafür, dass für Büttner die Erotemata dialectices die Vorlage gebildet haben. Allein die äußere Gestaltung der Dialectica Deutsch ähnelt mehr den Erotemata dialectices als den Dialectices libri quatuor. Außerdem sind sowohl die Erotemata als auch die Büttnersche Dialectica in kurze Abschnitte mit Fragen und Antworten gegliedert, während die Dialectices libri quatuor als fortlaufender Text mit kurzen Überschriften geschrieben ist. Desweiteren sind die mathematischen Beispiele, die sich durch die Dialectica Deutsch ziehen, erst in Melanchthons Erotemata dialectices zu finden. Sie beruhen ihrerseits auf Melanchthons Beschäftigung mit der Euklidschen Geometrie, die ihm aber erst mit einem im Jahr 1533 erschienenen Druck, und damit lange nach dem Erscheinen der Dialectices libri quatuor, zugänglich wurde.169 Weitere Beispiele, u. a. der Hinweis von Sieber, dass der Syllogismus hypotheticus

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Philipp Melanchthon: De dialectica libri quatuor. Leipzig 1531. Sieber: Die Rezeption von Philipp Melanchthons Rhetorik und Dialektik, S. 136. Vgl. zur Dialektik Melanchthons: Barbara Bauer, Theodor Mahlmann, Jan Seifert: Dialektik. In: Melanchthon und die Marburger Professoren (1527–1627). Hg. von Barbara Bauer. Marburg 1999, S. 77–122; Günter Frank: Melanchthons Dialektik und die Geschichte der Logik. In: Melanchthon und das Lehrbuch des 16. Jahrhunderts. Hg. von Jürgen Leonhardt. Rostock 1997, S. 125–145; Günter Frank: Die theologische Philosophie Philipp Melanchthons (1497–1560). Leipzig 1995; Knape: Philipp Melanchthons ›Rhetorik‹; Muller: Das Weiterleben der mittelalterlichen Logik bei Melanchthon und Jungius; Risse: Die Logik der Neuzeit. 1. Bd., S. 82–107. Vgl. Frank: Melanchthons Dialektik und die Geschichte der Logik, S. 125; Risse: Die Logik der Neuzeit. 1. Bd., S. 89. Vgl. v. Prantl: Ueber die zwei ältesten Compendien der Logik in deutscher Sprache, S. 207. Er nennt die Büttnersche Dialectica »eine Uebersetzung des ausführlicheren Compendiums Melanchthons (De dialectica libri quatuor. Lips. 1531)«. Dieses Urteil wird übernommen von Britzelmayr: Über die älteste formale Logik in deutscher Sprache, S. 47. v. Prantl: Ueber die zwei ältesten Compendien der Logik in deutscher Sprache, S. 207. Sieber: Die Rezeption von Philipp Melanchthons Rhetorik und Dialektik, S. 144. Vgl. Frank: Melanchthons Dialektik und die Geschichte der Logik, S. 141.

114 ebenfalls auch nur in den Erotemata enthalten ist, bestätigen die Annahme, die Erotemata dialectices haben die Vorlage für die Dialectica Deutsch gebildet.170 Wenn auch die Gemeinsamkeiten von Melanchthons Dialektik-Lehrbüchern und Büttners Dialectica Deutsch auffällig sind, so sollten sie nicht darüber hinwegtäuschen, dass in der volkssprachlichen Dialektik von Büttner wichtige Veränderungen gegenüber der Vorlage enthalten sind. Das ist neben der Übersetzungsleistung Grund genug, dieses Werk als ein eigenständiges zu rezipieren und nicht nur mit seinen Vorlagen zu vergleichen.171 Die Dialectica Deutsch ist die zweite überlieferte volkssprachliche Dialektik überhaupt. Die bereits 1533 gedruckte Wahre Dialectica von Ortholph Fuchsperger gilt als die erste.172 Deshalb wurden diese beiden Werke immer wieder zusammen genannt und miteinander verglichen, auch wenn sich keine Abhängigkeit des jüngeren Drucks vom älteren nachweisen lässt. Wurde Büttners Dialectica Deutsch von der älteren Forschung vermutlich wegen seiner Nähe zu Melanchthon bevorzugt und die Dialektik als eine peripatetische rezipiert, galt Fuchsperger dagegen nur als Übersetzer der Dialektik von Rudolph Agricola und als Vertreter einer rhetorischen Dialektik.173 Diese Wertung ist gerade in neuerer Zeit relativiert worden, doch eine genauere Untersuchung und damit Neubewertung für den Büttnerschen Text steht noch aus.174 Das Abfassen der Dialectica Deutsch in der Volkssprache folgt wohl dem durch Luther angestoßenen Gedanken, dass Aristoteles’ Bücher von der Logik, Rhetorik, Poetik behalten oder sie eine kurze Form gebracht mit Nutzen gelesen würden, junge Leute zu üben, gut zu reden und zu predigen,175 nicht aber mehr mit Kommentaren beladen werden dürften. Die Reformation gab der deutschen Sprache einen Vorzug und diese Aufwertung beruhte auf zwei theologischen Grundvoraussetzungen: dem Priestertum aller Gläubigen und der Sprachlichkeit der Offenbarung einerseits und auf einer Geschichtskonzeption, in

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Sieber: Die Rezeption von Philipp Melanchthons Rhetorik und Dialektik, S. 144. Vgl. Büttner: Dialectica Deutsch, Bl. N 6v-N 7v. Ansätze dazu finden sich bei Sieber: Die Rezeption von Philipp Melanchthons Rhetorik und Dialektik. Ortholph Fuchsperger: Ain gründlicher klarer anfang der natürlichen vnd rechten kunst der waren Dialectica. Augsburg 1533. Vgl. zu Fuchsperger Armin Sieber: Rhetorik – Topik – Dialektik. Zur Übernahme rhetorischer Kategorien im ersten deutschen Logiklehrbuch von Ortholph Fuchsperger (1533). In: ARTIBVS. Kulturwissenschaft und deutsche Philologie des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Hg. von Stephan Füssel, Gert Hübner, Joachim Knape. Wiesbaden 1994, S. 229–248; Sieber: Deutsche Rhetorikterminologie in Mittelalter und früher Neuzeit. Baden-Baden 1996, S. 146–162; Sieber: Die Rezeption von Philipp Melanchthons Rhetorik und Dialektik. Vgl. v. Prantl: Ueber die zwei ältesten Compendien der Logik in deutscher Sprache, S. 201; Risse: Die Logik der Neuzeit. 1. Bd., S. 60. Vgl. Berns: Nachwort, S. 33; Sieber: Rhetorik – Topik – Dialektik, S. 233–235. Martin Luther: An den christlichen Adel deutscher Nation. Hg. von Ernst Kähler. Stuttgart 1962, S. 92.

115 der der mittelalterliche Translatio-Gedanke von imperio und studium und auch von lingua auf das Wirken Gottes in den Sprachen übertragen wird [...].176

Werke zu den drei Fächern des Triviums in der Volkssprache finden sich trotzdem erst erstaunlich spät.177 Stellte der Großteil der frühen deutschen Ausgaben hauptsächlich Hilfsmittel für das Abfassen von juristischen Texten dar, so erschienen im Laufe des 16. Jahrhunderts doch auch einige Grammatik- und dann die genannten Dialektiklehrbücher, die über den juristischen Gebrauchsrahmen hinausgingen.178 Büttners Dialektik hatte neben einer zweifellos religiösen Motivation, die sich an Luther anlehnte, auch eine wirtschaftliche und eine pädagogische.179 Risse vertritt die These, die Dialectica Deutsch sei »für des Latein unkundige Zöglinge elementarer Rechenschulen geschrieben«180 worden und bezieht sich dabei auf Textstellen wie folgende: Weil du vnd deine Kneblein/ in der rechnungs Schule/ aus den deutschen/ vnd aus den gemeinen rechen BFchlein/ viel Lateinischer wort/ als da seind/ Addiren/ Subtrahiren/ Summa/ Rest/ Multipliciren [...] etc. mFssen gewohnen/ vnd darumb von wegen solcher Lateinischen worten sich nicht von der Kunst keren noch abziehen.181

Die gegenteilige Vermutung von Berns, Büttner habe die Dialectica Deutsch für ein lateinkundiges gelehrtes Publikum geschrieben, lässt sich mit dieser und anderen Textstellen nicht bestätigen.182 Büttner fügt zwar immer wieder kurze lateinische Passagen ein, die er nicht immer verdeutscht, dennoch fällt auf, dass ein zweiseitiger lateinischer Exkurs über die Prädikamente für den deutschen Leser übersetzt wird.183 Büttner schrieb vermutlich für ein lesekundiges männliches Publikum, das über elementare Kenntnisse in der Arithmetik verfügte, nicht aber zwangsläufig Latein verstand. Die Verbindung von Arithmetik und Logik ist

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Klaus Grubmüller: ›Deutsch‹ an der Wende zur Neuzeit. In: Mittelalter und frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze. Hg. von Walter Haug. Tübingen 1999, S. 263–285, hier S. 276. Vgl. dazu auch Joachim Knape: Humanismus, Reformation, deutsche Sprache und Nation. In: Nation und Sprache. Die Diskussion ihres Verhältnisses in Geschichte und Gegenwart. Hg. von Andreas Gardt. Berlin, New York 2000, S. 103–138. Vgl. Sieber: Rhetorik – Topik – Dialektik, S. 230f. Eine Ausnahme dazu bildet Friedrich Riederers Spiegel der wahren Rhetorik von 1493. Siehe dazu: Erich Kleinschmidt: Humanismus und urbane Zivilisation. Friedrich Riederer (um 1450–um 1510) und sein ›Spiegel der waren Rhetoric‹. In: ZfdA 112 (1983), S. 296–313. Vgl. auch Sieber: Deutsche Rhetorikterminologie in Mittelalter und früher Neuzeit, S. 7; Sieber: Rhetorik – Topik – Dialektik, S. 232. v. Prantl: Ueber die zwei ältesten Compendien der Logik in deutscher Sprache, S. 218f. Risse: Die Logik der Neuzeit. 1. Bd., S. 60. Büttner: Dialectica Deutsch, Bl. L 7v. Berns: Nachwort, S. 36. Büttner: Dialectica Deutsch, L 1r–L 2v: Unter der Überschrift: »Fur den deutschen Leser/ diss Latein zuuernemen/ wie vil m=glich vnd besserlich« steht die Übersetzung der Notabilis Regula (K 8r–L 1r).

116 oft als eigenständige Leistung der Büttnerschen Dialektik herausgestellt worden, wobei die Beispiele aus dem Alltagsleben heraus gewählt sind: Darumb mFssen definitiones/ vnd definita/ das ist die verklerunge fur sich selbst/ Vnd das da verkleret ist/ vnd ausgelegt worden/ sich mit der rechnunge auff der Detri betragen/ vnd vergleichen. Denn wenn ich spreche/ Man kauffet vmb 13. gFlden 7. ellen Gewandt/ vnd man hat 84 1/2 gFlden ausgeben/ wie viel ellen hat man vmb so viel Gelt gekaufft? So finde ich 45 1/2 ellen. Wenn ich nu rechne durch verkerung/ vnd spreche/ 45 1/2 ellen/ gestehen 84 1/2 gFlden/ Was gestehen 7. gFlden/ so finde ich wider 13. gFlden/ vnd ist die rechnung wie sie sein solle. Also mus das definirte bildewort/ oder die species/ mit der gantzen definition vnd erklerunge/ vnd die erklerunge/ oder die definition hinwider/ das definitum/ oder das verklerte gewis machen/ vnd bewehren.184

Auch der Gebrauch von Handwerksbezeichnungen als Übersetzung wie Meisterwort185 für Genus oder der Wegfall von Quellenangaben aus Mittelalter und Antike, wie sie sich in Melanchthons Dialektiken finden, lassen ebenso eine solche Leserschaft vermuten, die sich aus dem städtischen Bürgertum und vielleicht – bedenkt man Büttners Widmung – aus dem Adel zusammensetzte. In der Dialectica Deutsch ist die Unsicherheit bei der Übersetzung von lateinischen Fachtermini ins Deutsche an vielen Stellen zu spüren. So verbessert Büttner beispielsweise die durch das Latein geprägte Formulierung: Trunckenheit ist Laster186 folgendermaßen: Oder das du deutsch redest/ Die Trunckenheit ist ein Laster.187 In einem Einschub reflektiert Büttner seine Bemühungen beim Übersetzen: Du spFrest Ersamer Leser/ vnd vernimmest/ das ich mich Lateinischer wort vnd reden enthalte/ so viel mir m=glich/ vnd ich vmbschweiffen kan/ vnd doch mit verstendlichen/ vnd mit reinem deutschen/ alles was da sonst zu deutschen schwer/ vnd mFhesam/ meines erachtens/ also vorbringe/ das dich kein Lateinisch w=rtlein/ in vnser deutschen Dialectica solle auffhalten/ oder zu studieren/ vnd mit tapfferm nachsinnen/ zu lesen verdrossen machen.188

Die im Anschluss daran gegebene Einschränkung, dass gleichwohl alle Fachwörter mFssen gewohnen,189 benennt jedoch ein weiteres Problem, da genau diese nicht nur in Latein angeführt, sondern auch mit mehreren Übersetzungsvarianten angegeben und alternierend verwendet werden. Daher fehlt im Text oft eine eindeutige Bezeichnung.190 Diese Schwierigkeiten sind kennzeichnend

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Büttner: Dialectica Deutsch, Bl. G 3r/v. Büttner: Dialectica Deutsch, Bl. B 7r. Vgl. auch Bl. G 6r: »Materia ist der grundt/ aus dem man kan etwas bawen/ als aus dem Mehle kan man Brot backen/ von der Gersten kan man Bier brawen/ vom Gewandt kan man einen Rock/ vnd aus milch kan man butter vnd kese machen«. Büttner: Dialectica Deutsch, Bl. J 2r. Büttner: Dialectica Deutsch, Bl. J 2r. Büttner: Dialectica Deutsch, Bl. L 7v. Büttner: Dialectica Deutsch, Bl. L 7v. Vgl. dazu Berns: Nachwort, S. 35f.; v. Prantl: Ueber die zwei ältesten Compendien der Logik in deutscher Sprache, S. 217.

117 für die ersten Versuche, bisherig ausschließlich lateinsprachige Werke in der Volkssprache zu drucken.191 Ein für den Bezug auf die Historien von Claus Narren wichtiger Unterschied zwischen der Melanchthonschen und der Büttnerschen Dialektik besteht darin, dass die Dialectica Deutsch anders als die Dialektiken Melanchthons gegliedert ist. Der erste Teil der Dialektik von Melanchthon, als liber primus bezeichnet, beschäftigt sich mit den Prädikabilien und den Prädikamenten, der zweite mit den »verschiedenen Aussageformen (›De propositione‹), ihrer Entgegensetzung und Umkehrung (›De oppositione et de conversione‹) sowie ihren Modalitäten (›De modalibus‹)«192 und der dritte mit der Beweisführung (›De argumentatione‹). Das vierte Buch lehnt sich an Rudolph Agricolas De locis argumentorum an und enthält die Topik. Büttners Dialectica Deutsch beschäftigt sich im ersten Teil ebenfalls mit den Prädikamenten und definiert das Anliegen als von vnbekanter dinge/ deutunge vnd erklerunge.193 Da jedoch Büttner die Diuision, d. h. wie man weitleufftige wort einziehen vnd schmelern solle,194 als zweites, recht kurzes Kapitel rechnet, wird die Lere von der Proposition195 bereits als sein dritter Teil gezählt. Das letzte stFcke der Dialectica will einen jeden Deutschen,196 die betriegliche/ scheinbarliche/ vnd verfFrliche Argument [...] leren/ Negiren/ verwerffen vnd auff zul=sen.197 Gänzlich fehlt allerdings die Topik, die sich bei Melanchthon im vierten Buch findet. Statt aus den klassischen Loci communes zu schöpfen, wie es auch Melanchthon vorschlägt, sollen die Argumente für die inventio bereits in den Prädikamenten, d. h. den zehn Kategorien, die Büttner wort Register198 nennt, gefunden werden. Dieser ungewöhnliche Vorschlag ist nicht von Beginn an absehbar, denn noch im ersten Teil der Dialectica Deutsch wird bei der Beantwortung der Frage, ob man denn zu jeder frage antwort199 fände, die klassische Definition herangezogen:

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Ähnliche Probleme bereiten auch historische Beschreibungen wie bspw. in Johannes Turmairs Bayrischer Chronik, zitiert nach Grubmüller: ›Deutsch‹ an der Wende zur Neuzeit, S. 274: »Ich mueß auch sunst im teutsch alle ding pas herfür streichen und mit vil mêrern worten herfür an den tag pringen dan im latein. Es ist kain rechtsinnig historien und pücher, darzue gehörend, in unser sprach verhanden; solcher püecher hat die römisch sprach und nemlich die kriechisch ân zal. Demnach im latein nit not ist, vil wort zue treiben, ist genueg, das einer nur anzaig, wo und in welchen püechern man’s find. Das kan im teutsch nit sein, mues alles nach der lenge geschriben werden, damit es verstendlich sei«. Knape: Philipp Melanchthons ›Rhetorik‹, S. 8. Büttner: Dialectica Deutsch, Bl. B 5v. Büttner: Dialectica Deutsch, Bl. B 8v. Büttner: Dialectica Deutsch, Bl. J 1r. Büttner: Dialectica Deutsch, Bl. N 7v. Büttner: Dialectica Deutsch, Bl. N 7v. Büttner: Dialectica Deutsch, Bl. L 1r. Büttner: Dialectica Deutsch, Bl. B 3r.

118 Ja wol/ vnd solchs furnemlich aus der Topica, die da ist der ander teil Dialecticæ, Vnd hat den Namen von Topus, das ist ein ort/ oder eine Kammere/ aus der man zu aller frage/ gerechte oder falsche antwort nimpt vnd borget.200

In einem später folgenden Exkurs wird die Auslassung der Topik auf Latein und mit einer sich anschließenden deutschen Übersetzung damit begründet, dass bereits die vorher erläuterten Kategorien die Topik umfassen würden: Denn/ die lere predicamentorum/ oder der wort Register/ ist ein vnersch=pfflicher Brun/ der da reichet zu einer jeden einfechtigen/ oder vollen frage/ erklerunge/ satzreden/ vnd Argument/ damit dieselbe frage bewehret vnd befestiget wird. Vnd k=nntest sagen/ Die gantze Topica/ oder die Lere/ daher man Argument nemen/ oder beweis fFren/ haben jren anfang vnd vrsprung/ aus den wort Registern gesogen/ vnd darumb die Topica nicht mehr ist/ denn eine widerholung/ des/ dauon in der wort Registern bericht vnd meldung geschehen.201

Wenn also die Kategorien eine solche Fundgrube bilden, die die gesamte Topik enthält, so ist gerade auch hier der Ansatzpunkt zu finden, nach der sich eine topische Ordnung der Historien von Claus Narren erschließen könnte. Unter der im Mittelalter üblichen Bezeichnung Predicamente202 lehnen sich die zehn Kategorien bei Büttner an die von Aristoteles entwickelte Kategorienlehre an. Die Predicamente werden in der Dialectica übersetzt als wort Kammern oder wort Register.203 Die Erklärung derselben hat bereits topischen Charakter, denn sie seien ein reicher vorraht/ vnd eine vberflFssige Schatzkammer204 und aufgebaut wie ein Schuldregister.205 Neben der Stoffindung stellen die zehn Kategorien den Ordnungsversuch einer schier unerschöpflichen Materialfülle dar und entsprechen damit den Bemühungen um eine Gliederung und Ordnung der Welt – ein Bemühen, das sich in vielen Werken der frühen Neuzeit erkennen lässt.206 Die zehn Kategorien werden sowohl lateinisch genannt, als auch in die Volkssprache übersetzt als substantia (das NatFrliche wesen), quantitas (Zale vnd gr=sse), qualitas (Art vnd eigenschafft), relatio (Person ampt/ vnd stand), ubi (Stadt/ raum vnd ort), quando (Zeit vnd weile), situs (Geschicklikeit am leibe),

200 201 202 203 204 205 206

Büttner: Dialectica Deutsch, Bl. B 3r. Büttner: Dialectica Deutsch, Bl. L 1r/v. Vgl. dazu Christian Thiel: Prädikament. In: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. Hg. von Jürgen Mittelstraß. Mannheim 1995, S. 368f. Büttner: Dialectica Deutsch, Bl. C 5v. Büttner: Dialectica Deutsch, Bl. C 5v. Büttner: Dialectica Deutsch, Bl. C 7r. Vgl. Hans-Jürgen Bachorski, Werner Röcke: Weltbilder: Ordnungen des Wissens und Strukturen der literarischen Sinnbildung. In: Weltbildwandel. Selbstdeutung und Fremderfahrung im Epochenübergang vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit. Hg. von Hans-Jürgen Bachorski, Werner Röcke. Trier 1995, S. 7–17; Udo Friedrich: Ordnungen des Wissens. In: Germanistik als Kulturwissenschaft. Eine Einführung in neue Theoriekonzepte. Hg. von Claudia Benthien, Hans Rudolf Velten. Reinbek 2002, S. 83–102 und Udo Friedrich: Grenzen des Ordo im enzyklopädischen Schrifttum des 16. Jahrhunderts. In: Die Enzyklopädie im Wandel vom Hochmittelalter bis zur frühen Neuzeit. Hg. von Christel Meier. München 2002, S. 391–408.

119 habitus (Ziere/ vnd kleidung), actio (des natFrlichen wesen Wirckunge vnd arbeit) und passio (des natFrlichen wesen Dulden vnd leiden).207 Das vierte wort Register Relatiuorum208 verdient besondere Beachtung. Nicht nur hebt es sich von den anderen Prädikamenten ab, sondern es ist auch im Hinblick auf die Historien von Claus Narren wesentlich, da sich hier Hinweise auf die Struktur der Historien finden. Das wort Register Relatiuorum ist der Ort in der inventio, der von Personen vnd Ampt Namen209 handelt und sich daher mit der Beschreibung des Menschen befasst. In der Dialectica Deutsch wird bestimmt, dass das wort Register Relatiuorum der Beschreibung von Personen dienen soll, wie es in der Kategorie qualitas in einer Anmerkung zu der Frage, welche Habitus/ gewonheiten/ oder geschickligkeiten/ geh=ren zum leibe,210 formuliert wird: Du must aber in solchem fur sich selbst die Person nicht ansehen/ sondern alleine die vbunge/ vnd die arbeit/ damit die Person zu thun/ vnd zu schaffen/ in betrachtunge nemen. Denn die Person eines Schneidern/ oder des Kriegemannes/ gehöret in das wort Register Relatiuorum.211

Das wort Register Relatiuorum nimmt innerhalb der Dialectica Deutsch eine Sonderstellung ein. Da es sich komplexer ausnimmt als die übrigen Kategorien, muss, so Büttner, dieses Register auch mit besondern Regeln vorgebracht vnd verkleret werden.212 Ausgehend von seiner ursprünglichen Bedeutung, enthält es nichts Eigenes an sich, sondern nimmt nur Bezug auf andere Größen: Relatio/ oder Relatiuum nomen/ ist ein solch wort/ vnd hat eine solche deutunge/ oder bildnisse/ die da keine natFrliche Creatur/ auch keine masse/ noch zalle/ darzu auch keine geschickligkeit noch bewegligkeit am gemFte/ oder eine entpfindligkeit in den fFnff sinnen bedeutet.213

Büttner unterteilt dieses wort Register noch einmal in neun nummerierte Topoi. Zunächst einmal gelten die drei in der Dialectica Deutsch vor dem Abschnitt über die Relativa besprochenen Kategorien substantia,214 quantitas215 und qualitas – letzteres verstanden als tugend Register –216 als unabdingbar für die wort Kammer Relatiuorum und sind daher als die ersten drei Topoi aufgezählt:

207

208 209 210 211 212 213 214 215 216

Vgl. Büttner: Dialectica Deutsch, Bl. C 7r/v. Büttner bemängelt übrigens selbst seine inkorrekte Übersetzung der Kategorien, Bl. C 7r: »Ob man nun wol derselben Namen/ mit deutschen Namen nicht wol zelen noch nennen/ wil ich doch mit G=ttlichem verleihen also dauon reden/ vnd leren/ das ein jeder Deutscher mich wol vernemen/ vnd verstehen solle«. Büttner: Dialectica Deutsch, Bl. E 6v. Büttner: Dialectica Deutsch, Bl. E 5v. Büttner: Dialectica Deutsch, Bl. D 6v. Büttner: Dialectica Deutsch, Bl. D 7v. Büttner: Dialectica Deutsch, Bl. E 5v. Büttner: Dialectica Deutsch, Bl. E 5v. Büttner: Dialectica Deutsch, Bl. E 5v-E 6v. Vgl. Büttner: Dialectica Deutsch, Bl. E 6v-E 7r. Büttner: Dialectica Deutsch, Bl. E 7r/v.

120 Vnd mag vnd kan doch dabey kein wort/ in diesem wort Register raum noch stat finden/ es werde denn zuuor aus gemelten vnd gefasten dreyen wort Registern/ gesponnen vnd gedrehet.217

Nach diesen ersten drei Kategorien, die Büttner römisch von I-III nummeriert, zählt er unter IV alle lere wort vnd Namen/ die man in der Christlichen Kirchen aus der heiligen Schrifft fFret vnd brauchet.218 Dem schließen sich unter V die Artes-Topoi an wie alle Philosophische Namen/ die da von Philosophischen kFnsten benamet vnd bezeichnet sein.219 Unter VI folgen alle Ampt vnd Personen Namen/ die in der Ethica/ vnd auff dem Kauffhause/ in vbunge vnd im brauch220 und unter VII alle erbare Handwercks Personen.221 Dem folgt der VIII. Abschnitt mit Hausrat vnd Werckzeug,222 sofern es hier um den nutzen223 eines Gegenstandes geht. Alle Speise vnd Trancke Namen224 bilden den IX. Fundort, denn diese Kategorie sei eine Schatzkammer/ darinne die Menschliche Natur/ sterckung vnd labsal225 habe. Das wort Register besteht damit neben den drei Kategorien substantia, quantitas und qualitas aus weiteren sechs nummerierten loci, die sich auf die Theologie, die Artes, das Handwerk, den Handel, die Werkzeuge und die Nahrung beziehen. Auch die übrigen sechs Kategorien actio, passio, ubi, quando, situs, und habitus finden ihren Raum innerhalb der wort Kammer Relatiuorum, werden aber nicht unter den nummerierten topischen Teilordnungen aufgeführt, sondern nur in einem Zusatz erwähnt: Zu letzt kanstu vnd magst alle wort vnd Namen/ die man in sechs folgende wort/ vnd Namen Register menget vnd scheubet/ auch an diese stete bringen.226

Mit der Aufnahme der neun Kategorien enthält die wort Kammer Relatiuorum alle Prädikamente und bildet damit im Kleinen die gesamte Topik der Dialectia Deutsch ab. In der Appendix folgen noch zwei weitere Begriffe, zum einen das Fundamentum/ die Quelle/ vnd der vrsprung227 und zum anderen der Terminus/ das ende/ vnd das gelende,228 die hier nicht one besondern nutz vnd frommen/ gefFhret vnd gebrauchet229 werden. Sie sind, wie die übrigen sechs Kategorien actio, passio, ubi, quando, situs, und habitus, nicht nummeriert.

217 218 219 220 221 222 223 224 225 226 227 228 229

Büttner: Büttner: Büttner: Büttner: Büttner: Büttner: Büttner: Büttner: Büttner: Büttner: Büttner: Büttner: Büttner:

Dialectica Dialectica Dialectica Dialectica Dialectica Dialectica Dialectica Dialectica Dialectica Dialectica Dialectica Dialectica Dialectica

Deutsch, Deutsch, Deutsch, Deutsch, Deutsch, Deutsch, Deutsch, Deutsch, Deutsch, Deutsch, Deutsch, Deutsch, Deutsch,

Bl. Bl. Bl. Bl. Bl. Bl. Bl. Bl. Bl. Bl. Bl. Bl. Bl.

E 5v. E 7v. E 7v–E 8r. E 8r/v. E 8r. E 8v. E 8v. E 8v–F 1r. F 1r. F 1r. F 1v. F 1v. F 1v.

121 Die unter der Kategorie der Relativa zusammengestellten Fundorte beziehen sich nicht alle explizit auf die Personenbeschreibung, so wie es die beispielsweise die auf Quintilian fußenden loci a persona tun.230 Oft besteht die Büttnersche Definition nur aus der Aufzählung von Beispielen wie etwa die Topoi, die in der Ethica/ vnd auff dem Kauffhause/ in vbunge vnd im brauch:231 Verkeuffer/ vnd Keuffer/ Leiher/ vnd auffborger/ Amtmann/ Sch=sser/ Richter/ Hescher/ Hencker/ Galge/ Rabenstein/ Rad/ Schwerd/ Staubbesen/ Stranck/ Gefengnisse/ Stock/ vnd anders/ damit man dem argen seine krafft vnd gifft schwechet/ oder vertreibet.232

Büttner weicht in der wort Kammer Relatiuorum deutlich von den acht Regeln Melanchthons, die dieser für die Relativa aufstellt, ab.233 Er gestaltet diese wort Kammer als eine Materialsammlung, die – wie die Loci-communes-Sammlungen – unter bestimmten Stichworten Beispiele versammelt. Die von Büttner entworfene wort Kammer Relatiuorum kann als ein sehr eigenständiger Versuch gesehen werden, Menschen aller Art mit einer Anzahl Topoi fassen zu können. Sie gehört damit zu den vielfachen Bemühungen der frühen Neuzeit, aus den Artes und dem alltäglichen Leben, aus verschiedenen Berufsgruppen und Ständen, gemeinsame Fundorte zu bilden und damit eine gewisse Ordnung zu schaffen. Um die Struktur der 16 Kapitel der Historien von Claus Narren zu entschlüsseln, bietet der Systematisierungsversuch zur Topik aus der Dialectica Deutsch wichtige Ansatzpunkte. Zwischen beiden Werken bestehen auffällige Parallelen, die sich vor allem auf Büttners eigenständige Zusätze beziehen und die in den bisherigen Untersuchungen zum Claus Narr nicht beachtet wurden. Büttners Dialectica Deutsch erschien erstmalig 1574, während die Historien von Claus Narren bereits zwei Jahre zuvor gedruckt wurden. Inwiefern die später erschienene Dialectica Deutsch die Grundlage für den Aufbau der Historien von Claus Narren bildet, lässt sich nicht belegen. Denkbar ist auch, dass die Historien von Claus Narren eine praktische Übung darstellten, auf die Büttner dann in seinen theoretischen Ausführungen in der Dialectica Deutsch zurückgriff.

3.2.2 Die Ordnung der 16 ›Theile‹ in den ›Historien von Claus Narren‹ Die Historien von Claus Narren teilen sich auf sechzehn Kapitel, die Büttner als theile bezeichnet, mit unterschiedlicher Historienanzahl auf. Der in der Di-

230

231 232 233

Vgl. dazu Heinrich Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft. München 1960, § 376; Gert Ueding, Bernd Steinbrink: Grundriß der Rhetorik. Geschichte, Technik, Methode. Stuttgart, Weimar 1994, S. 238–244. Büttner: Dialectica Deutsch, Bl. E 8v. Büttner: Dialectica Deutsch, Bl. E 8v. Vgl. Melanchthon: Erotemata dialectices, Bl. f ijv–g vijv.

122 alectica Deutsch vorgeschlagene Versuch, mit Hilfe der umfangreichen Topoi aus der wort Kammer Relatiuorum Personen zu beschreiben, und die Gliederung der Historien von Claus Narren weisen auffällige Gemeinsamkeiten auf. Die Übereinstimmungen, die zwischen den loci aus der wort Kammer Relatiuorum und den thematisch geordneten Kapiteln der Historien von Claus Narren bestehen, sind bisher übersehen worden. Das betrifft zum einen die thematische Ausrichtung der einzelnen Kapitel, die mit einigen Topoi aus der wort Kammer Relatiuorum übereinstimmen, und zum anderen auch die strukturelle Gestaltung von einzelnen Historien. Bevor jedoch darauf eingegangen wird, soll hier zunächst einmal ein Überblick über die sechzehn Kapitel der Historien von Claus Narren gegeben werden. Kapitelabfolge der Historien von Claus Narren I

Der erste Theil von Clausen Vrsprung/ vnd wie er in der jugend geredt vnd gethan/ Mit lustigen Reimen gedeutet vnd erkl(ret.

II

Das ander theil. Jn dem seynd saubere vnnd reyne P=ßlein/ zu manchf(ltiger Lehre angefFhret/ vnnd wol zu gebrauch geweiset.

III

Der dritte theil. Nun beginnet Clauß in seiner Thorheit/ die schlecht vnnd reyn ist/ zu zunemmen/ Derhalben werden seine Wort vnd Schwencke kurtzweiliger/ vnd zu guter Lehre auch dienstlicher seyn.

IV

Der vierde theil. Von mancherley lustigen/ kurtzweiligen/ vnnd schimpfflichen Worten/ die Clauß vor dem FFrsten geredt: Zu allem guten f=rderlich/ vnnd mit nutz zu lesen/ vnd zu behalten.

V

Der fFnffte teil/ von Jungfrawen vnd Frawen/ reine vnnd sch=ne Wort/ auch lustige reden/ mit kurtzweil zu lesen/ vnd mit nutz/ ohn (rgernuß zubehalten.

VI

Der sechste teil/ Von kurtzweiligen worten/ vnnd schwencken/ die man von Clausen geh=ret/ vnd jhm ehrliche Hoffdiener nachgesagt/ M(nniglichen ohne fahr zu lesen/ vnd BFrgerlich zu gebrauchen/ r(thlich vnd sehr dienstlich.

VII

Der siebend teil/ Allerley reine vnnd lustige wort/ von Handwercksleuten/ vnd andern/ mit dem Clauß kFrtzweil getrieben/ vnd geFbt/ Mit freuden vnd hortig zulesen.

VIII

Der achte theil/ Von Clausen Clauserey/ reine vnnd kurtzweilige P=ßlein/ die Clauß exerciret/ von V=glein vnd von Thieren/ mit lust vnd mit nutz zulesen.

IX

Der Neundte Theil/ Von kurtzweiligen vnnd vn(rgerlichen Wercken/ vnd Worten/ die man Clausen bei Collationen abgemercket/ vnd nachgesagt/ hurtig zu lesen.

X

Der Zehendte Theil/ Von Clausen natFrlichen angebornen Schimpffworten vnnd SprFchen/ mit verwunderung zulesen/ vnd zu gutem zu gebrauchen.

XI

Der eilffte theil. Von fr=lichen vnd gar lieblichen Worten vnd SprFchen/ die man von Clausen geh=ret vnnd gesehen/ zu Ersamen nutz/ vnd kurtzweile fast f=rderlich vnd dienstlich.

123 XII

Der Zw=lffte Theil/ sehr schimpffliche Reden vnd Wort/ die erbare Ehrenleute Clausen abgemerckt vnd nachgesagt haben/ zur BFrgerlichen Lehre/ wie andere Weltliche Apologen/ dienstlich vnd f=rderlich.

XIII

Der dreyzehende Theil/ schimpffliche vnd fr=liche Schwencke/ die man von Clausen geh=ret/ vnd gesehen hat/ Mit nutz/ vnd kurtzweilig zu lesen.

XIV

Der vierzehende Theil/ Gantz lustig/ zu ehren vnd schimpfflicher kurtzweil/ geFbte vnd angebende Schwencke von Clausen/ nicht ohne frucht vnd reine Lehre zu lesen vnd zu recitiren.

XV

Der funffzehende Theil/ sind liebliche vnnd lustige reine wort/ vnd schimpffwercke vnnd schimpffw=rter/ m(nniglich ohne (rgerniß vnd anst=sse zulesen.

XVI

Der sechszehende Theil/ von sterben vnnd krancken Christlich zu lesen/ Vnnd dabey zu lehrnen/ wie man sich t(glich zu seligem/ friedlichem vnd sanfftem Absterben/ fertig machen/ vnd sich alle stunden deß Todts versehen solle.

Der Aufbau der Kapitel und ihre Reihenfolge stellt sich in den thematisch geordneten Kapiteln der Historien von Claus Narren wie folgt dar: Der erste theil von Clausen Vrsprung und das 16. Kapitel Von sterben vnnd krancken, der unter anderem vom Tod des Narren berichtet, entsprechen einer gewissen biographischen Gliederung, die sich jedoch nicht in den anderen Kapiteln fortsetzt. Zwar deutet der Titel des dritten theils eine Entwicklung des Narren an, denn nun beginnet Clauß in seiner Thorheit/ die schlecht vnnd reyn ist/ zu zunemmen,234 doch enthalten die Historien keinerlei entsprechende Hinweise, die auf eine Zunahme der Narrheit hindeuten. Vielmehr sind die Historien in diesem dritten Kapitel nach dem Jahresablauf ausgerichtet. Vom vierten bis neunten Kapitel korrespondieren die in der Überschrift angekündigten Themen mit dem Inhalt der Historien des jeweiligen Kapitels. So beschäftigen sich das vierte und das sechste Kapitel mit dem Leben des Narren am Hof. In dem vierten theil, der von mancherley lustigen/ kurtzweiligen/ vnnd schimpfflichen Worten235 handelt, die Clauß vor dem FFrsten geredt,236 wird vor allem das ungleiche Paar Narr und Herrscher gegenübergestellt. Im sechsten theil, der von kurtzweiligen worten/ vnnd schwencken/ die man von Clausen geh=ret/ vnd jhm ehrliche Hoffdiener nachgesagt237 haben berichtet, steht hingegen das Hofgesinde im Vordergrund. Der fünfte theil ist den Jungfrawen vnd Frawen gewidmet, der siebente den Handwerkskünsten und der achte berichtet von V=glein vnd von Thieren. Der neunte theil handelt schließlich von Collationen und beschäftigt sich hauptsächlich mit dem Essen und Trinken. Auch das zehnte Kapitel ließe sich noch in diese

234 235 236 237

Büttner: Büttner: Büttner: Büttner:

Historien Historien Historien Historien

von von von von

Claus Claus Claus Claus

Narren, III, S. 35. Narren, IV, S. 56. Narren, IV, S. 56. Narren, VI, S. 137.

124 Reihe einordnen, obwohl der Titel nur das didaktische Anliegen hervorhebt.238 Die überwiegende Anzahl der Historien des zehnten theils ist Themen aus den Bereich der Artes und der Theologie gewidmet. Zwei Drittel der Historien von Claus Narren weisen demnach eine thematische Ordnung und darüber hinaus Parallelen mit den in der Dialectica Deutsch vorgeschlagenen Topoi zur Personenbeschreibung aus der mit besonderen Regeln und die gesamte Topik umfassenden wort Kammer Relatiuorum auf. Dabei gibt es nicht nur Übereinstimmungen mit dem vorgeschlagenen Stoff, sondern teilweise auch mit der formalen Struktur von einzelnen Historien. Auffällig ist dabei, dass die von Büttner zusätzlich vorgeschlagenen weiteren Topoi aus der Dialectica Deutsch zusammen mit ausgewählten Prädikamenten themengebend für die topischen Teilordnungen in den Historien von Claus Narren sind. Sie bieten inhaltliche Kerne für eine Reihe von Kapiteln in den Historien von Claus Narren und können dabei als Illustration dafür dienen, wie Büttner sich eventuell die Stoffindung vorgestellt hat, unabhängig davon, ob er nun das Verfahren zuerst theoretisch in der Dialectica Deutsch entwickelt oder ob er aus der praktischen Anwendung aus den Historien von Claus Narren heraus diese Topoi in seine Dichtungslehre eingefügt hat. Ausgeprägte Parallelen bestehen zwischen dem siebenten, neunten und zehnten Kapitel der Historien von Claus Narren und den fünf nummerierten Topoi der Dialectica zur Theologie, den Artes, dem Handwerk, den Werkzeugen und der Nahrung, die Büttner in die wort Kammer Relatiuorum zur Personenbeschreibung einfügt. Die Topoi aus dem sechsten Unterregister der Handwercks Personen aus der Dialectica Deutsch korrespondieren so mit dem siebenten theil der Historien von Claus Narren, der ebenfalls von Handwercksleuten handelt. In der Dialectica Deutsch heißt es: VI. Du solt auch hieher stellen alle erbare Handwercks Personen/ wie die selben jren Namen gewinnen/ aus den geschickligkeiten der ersten Gattunge im kunst Register/ als Venator ein Jeger/ von der Venatoria, das ist von der Jeger kunst/ Dustor canum die Hundemusterer/ Dux/ von der militia/ wie man krieg fFren/ vnd Aciem instituiren/ das ist eine Feltordnung fassen vnd ordnen. Jtem/ Miles ein Kriegsman/ Hauptman/ Weibel/ Profos/ Leitenampt/ Steckenknecht. Von der Nautica/ k=mmet der Schiffman/ Patron/ Schiffe/ Kane/ Gallehe. Jtem von der Agricultur/ wird der Name Bawer/ Wintzer/ Gertner/ vnd andere Dorff hantierer/ etc.239

238

239

Vgl. Büttner: Historien von Claus Narren, X, S. 281: »Der Zehendte Theil/ Von Clausen natFrlichen angebornen Schimpffworten vnnd SprFchen/ mit verwunderung zulesen/ vnd zu gutem zu gebrauchen«. Büttner: Dialectica Deutsch, Bl. E 8r. Vgl. Büttner: Dialectica Deutsch, Bl. D 6v–7v: »Welche Habitus/ gewonheiten/ oder geschickligkeiten [Hervorhebung RvB]/ geh=ren zum Leibe? Lana, Weber kunst/ das ist spinnen/ nehen/ wircken/ sticken/ Schneiderey/ KFrsnerey/ stricken/ zwirnen/ kemmen vnd brechen. Nemius, die Jeger kunst/ Wild jagen/ vnd Wild fahen/ Vogel fang/ hetzen/ beyssen/ horn blasen/ netze spannen/ leymstangen.

125 Der Inhalt des hier zitierten Abschnitts in der Dialectica Deutsch zum wort Register Relatiuorum besteht aus einer Aufzählung von Vertretern der artis mechanicae. Eine solche ließe sich auch für den siebenten theil – von Handwercksleuten/ vnd andern/ mit denen Clauß kFrtzweil getrieben vnd geFbt –240 herstellen. Über die handwerklich arbeitenden Menschen hinaus nimmt Büttner in das Kapitel der Historien von Claus Narren ebenso die in diesen Berufen benutzten Geräte und die mit diesen Berufen verbundenen Traditionen auf. Dagegen trennt Büttner in der Dialectica Deutsch zunächst einmal handwerkliche Tätigkeiten von den sie ausführenden Personen. Er zählt erstere zu der Kategorie der Qualität und letztere zur Kategorie der Relativa. Gleichwohl enthält seine der Personenbeschreibung und als Findeort dienende wort Kammer Relatiuorum auch die Handwerksgeräte als Topoi, die hier jedoch nur aufgenommen werden sollen, wenn es um ihren Zweck geht: VIII. Zum achten/ soltu in diesen Catalogum verschaffen/ so fern du nicht sein natFrlich wesen/ als holtz/ oder zien/ auch nicht seine masse/ oder forma/ sondern alleine seinen Finem/ das ist seinen nutz/ darzu in des Meisters hand gearbeitet/ zu gemFte fFrest/ allen Hausrat/ vnd Werckzeug/ wie solche seind/ SchFsseln/ Teller/ L=ffel/ T=pffe/ Kreuse/ Glesere/ Becher/ MFntze/ Ketten/ Borten/ Schauffeln/ Hawen/ Hoblen/ Kandele/ ZFbere/ Hemmer/ Zangen/ Axt/ Parthen/ Beyle/ Armbrust/ Harnisch/ vnd Faustlaugen/ das sind Streitkolben/ vnd EisenhFte.241

Der siebente theil der Historien von Claus Narren umfasst neben den Historien, die sich auf verschiedene Handwerksberufe beziehen, ebenso solche, in denen Hausrat und Werckzeug im Mittelpunkt stehen. Dabei wird, wie in der Dialectica Deutsch vorgeschlagen, deren nutz verhandelt, auch wenn es aus der närrischen Perspektive geschieht, weil der Narr beispielsweise nicht mit dem Locheisen und auch nicht mit dem Ziehmesser eines Küfers umzugehen weiß.242 Der neunte theil, Von kurtzweiligen vnnd vn(rgerlichen Wercken/ vnd Worten/ die man Clausen bey Collationen abgemercket, nennt die Tischreden als thematischen Schwerpunkt in seiner Überschrift. In der damit korrespondierenden Kategorie Speise vnd Trancke Namen aus der Dialectica Deutsch werden einzelne Getränke und Gerichte vorgeschlagen.

240 241 242

Miles, Kriegs kunst/ fechten/ st=rmen/ kriegen/ verlieren/ streiten/ siegen/ rauben/ plFndern/ brennen/ schatzen/ vnd verwFsten«. Büttner zählt außerdem dazu die »schiffe kunst, den Ackerbaw, die Wund artzney« und letztendlich die »Fabrilis«, bei denen er, auf seine eigene Tätigkeit als Pfarrer anspielend, aufzählt: »Schmidt/ Zimmerman/ BFtner/ Platner/ Wagner/ MFller/ Eseltreiber/ Kirchner/ id est, Flagella sedulorum Pastorum, Stubenkerer/ vnd Henckers Knechte«. Büttner: Historien von Claus Narren, VII, S. 163. Büttner: Dialectica Deutsch, Bl. E 8v. Vgl. Büttner: Historien von Claus Narren, VII, 11, S. 168f. und 27, S. 180.

126 IX. Du solt hieher nemen alle Speise vnd Trancke Namen/ Brot/ Kese/ Butter/ gebraten oder gesotten fleisch/ vnd Fische/ Meth/ Bier/ Claret/ Reinfal/ vnd die gantze Apotecke/ quæ est naturalium rerum repositorium, eine Schatzkammer/ darinne die Menschliche Natur/ sterckung vnd labsal hat. NOTA. Denn ob wol diese dinge/ so man in der Apotecken aus mancherley materialien zusamen ordenet/ natFrliche species/ vnd zum predicamento/ substantiarum/ der natFrlichen gesch=pffe Gottes geh=ren/ so seind sie doch/ dieweil sie der Apotecker zu besonderm nutz vnd brauch zurichtet/ nun mehr in dieser ordnunge zu stehen/ geschickter/ denn das sie in die wort Kammer substantiarum solten geweiset werden.243

Analog zu der Eingliederung der Handwerksgeräte in die Topoi zur Personenbeschreibung wird ebenso bei den Speise vnd Trancke Namen ihre Aufnahme damit begründet, dass sie einen besonderen Zweck besässen und daher weniger ihre Beschaffenheit, sondern vielmehr ihr Nutzen im Vordergrund stünde. Auf den beziehen sich, närrisch kommentiert, da Claus Narr weder die Wirkung von Alkohol noch bestimmte Gewürze einschätzen kann, eine große Anzahl von Historien im neunten Kapitel der Historien von Claus Narren und setzen so den Narren mit diesem Thema in Verbindung. Der zehnte theil der Historien von Claus Narren – Von Clausen natFrlichen angebornen Schimpffworten vnnd SprFchen/ mit verwunderung zulesen/ vnd zu gutem zu gebrauchen – 244 lässt sich im Titel thematisch nicht zuordnen. Jedoch beschäftigen sich fast alle Historien mit den Artes. Ein Schwerpunkt liegt auf theologischen Themen, die Person des Gelehrten und der Stand der Wissenschaften allgemein wird gestreift.245 Ebenso spielen die Musik und naturwissenschaftliche Fragen vor allem aus dem Bereich der Geographie eine Rolle.246 Damit vereint dieser theil gleich zwei Fundstellen zu den theologischen und wissenschaftlichen Topoi, die in der Dialectica Deutsch vorgeschlagen werden: IIII. So nimm nun/ vnd bringe in das person vnd ampt Register/ alle lere wort vnd Namen/ die man in der Christlichen Kirchen aus der heiligen Schrifft fFret vnd brauchet/ solchs seind die Namen/ Gottes Gesetze vnd Euangelion/ Prophet/ Apostel/ Pfarrer/ Caplan/ Doctor/ Magister/ Student/ SchFler. Beichte/ Absolutio/ Tauffe/ Abendmal/ das

243 244 245

246

Büttner: Dialectica Deutsch, Bl. E 8v–F 1r. Büttner: Historien von Claus Narren, X, S. 281–314. Vgl. Büttner: Historien von Claus Narren. Zur Theologie: X, 1–9, S. 281–290; 16, S. 296; 17, S. 297; 20, S. 300; 21, S. 301; 26, S. 306; 35, S. 312 und 37, S. 313. Hinzunehmen könnte man eventuell auch die 18. Historie, wenn man die Beschreibung einer schwierigen Ehe als von »deß frommen Mannes Creutz« mit ihrer religiösen Konnotation liest. Zu den Gelehrten und den Wissenschaften: X, 13, S. 293f.; 14, S. 294f.; 22, S. 301; 23, S. 302; 25, S. 305; 36, S. 312f. und 38, S. 313f. Vgl. Büttner: Historien von Claus Narren. Zur Musik: X, 27–31, S. 306–309. Zur Geographie: X, 11, S. 291; 12, S. 292f.; 15, S. 295f.; 19, S. 299; 24, S. 304 und 34, S. 311.

127 Gebete/ der Glaube/ Gerechtigkeit des Glaubens/ anfechtung/ bekennung/ erl=sung/ sFnde/ verdammen/ tod/ leben/ sterben vnd verderben.247

Nach den theologischen Topoi folgen die Künste: V. Es geh=ren auch an diesen ort alle Philosophische Namen/ die da von Philosophischen kFnsten benamet/ vnd bezeichnet sein/ Als Philosophus/ ein Liebhaber der weisheit/ Arithmeticus ein Rechenmeister/ Medicus ein Artzt/ Latinus/ Grecus/ Hebreus/ von Lateinischer/ Griechischer sprache/ Germanus ein Deutscher/ Jtalus ein Welscher.248

Die auffälligsten Parallelen zwischen der Dialectica Deutsch und den Historien von Claus Narren bestehen daher zwischen den von Büttner in der Dialectica zusätzlich zu den zehn Kategorien vorgeschlagenen loci, die sich nummeriert auf die Theologie, die Artes, das Handwerk, die Werkzeuge, die Nahrung sowie im Anhang auf den Anfang und das Ende beziehen. Über die in der Dialectica nummerierten Topoi hinaus sollen in der wort Kammer Relatiuorum auch alle übrigen Kategorien der Personenbeschreibung dienen. Aus dieser Perspektive betrachtet, ergeben sich zwischen dem zeit Registerlein aus der Dialectica Deutsch und dem dritten Kapitel der Historien von Claus Narren weitere Parallelen. Im zeit Registerlein/ Quando249 werden neben Zeiteinheiten wie Stunden, Tagen oder Wochen item/ feyer oder heilige tage/ Sontag/ Pfingsten/ Weyhnachten/ Ostern/ Montag/ Dinstag/ etc.250 vorgeschlagen. Der dritte theil des Claus Narr ist nach dem Kirchenjahr geordnet und liefert mit dieser zeitlichen Struktur einen Anknüpfungspunkt zu dem zeit Registerlein aus der Dialectica Deutsch. Beginnend mit dem Martinsfest finden sich Historien zum Neujahrsfest am Hof, zu Weihnachten, zum Tag der Unschuldigen Kinder, zum Dreikönigsfest, zur Fastnacht, zur Passions- und Osterzeit, zu Pfingsten und zum Johannistag. Zwei weitere Historien behandeln den Tagesablauf und die Unterscheidung von Fest- und Alltagszeit. Die zeitliche Struktur bedingt nicht nur die Abfolge der einzelnen Historien aufeinander, sondern ist auch für deren Inhalt bestimmend. Damit entsprechen die Historien um Claus Narr den Beispielen aus dem zeit Registerlein der Dialectica. Ferner korrespondieren der erste und der letzte theil der Historien von Claus Narren mit den in einem Zusatz in der wort Kammer Relatiuorum vorgeschlagenen Kategorien von Fundamentum und Terminus aus der Dialectica Deutsch. Bietet der erste theil den Vrsprung des Narren als Ausgangspunkt für seine Entwicklung als Hofnarr an, so berichtet der letzte theil vom Tod des Narren und bildet damit den Abschluss des Werks. Andere Schwankromane sind, ohne Parallelen mit einer Dialektik aufzuweisen, auch nach dem biographischen Prinzip

247 248 249 250

Büttner: Büttner: Büttner: Büttner:

Dialectica Dialectica Dialectica Dialectica

Deutsch, Deutsch, Deutsch, Deutsch,

Bl. Bl. Bl. Bl.

E 6v. E 6v–E 7r. F 6v. F 7r.

128 gebaut, weshalb diese beiden Kategorien noch keinen deutlichen Zusammenhang zwischen den Historien von Claus Narren und der Dialectica Deutsch vermuten lassen können. Dialectica Deutsch Von dem wort Register Relatiuorum (Topik) Prädikamente

Wolfgang Büttners Zusätze

substantia (I)

alle lere wort vnd Namen/ die man in der Christlichen Kirchen aus der heiligen Schrifft fFret vnd brauchet (IV)

Historien von Claus Narren

Der Zehendte Theil/ Von Clausen natFrlichen angebornen Schimpffworten vnnd SprFchen (Historien zu den Artes)

quantitas (II)

alle Philosophische Namen/ die da von Philosophischen kFnsten benamet vnd bezeichnet sein (V)

qualitas (III)

alle erbare Handwercks Personen (VII)

actio

Hausrat vnd Werckzeug (VIII)

passio

alle Speise vnd Trancke Namen (IX)

ubi

alle Ampt vnd Personen Namen/ die in der Ethica/ vnd auff dem Kauffhause/ in vbunge vnd im brauch (VI)

situs

Fundamentum/ die Quelle/ vnd der vrsprung

Der erste Theil von Clausen Vrsprung/ vnd wie er in der jugend geredt vnd gethan

habitus

Terminus/ das ende/ vnd das gelende

Der sechzehende Theil/ Von sterben vnnd krancken Christlich zu lesen/ Vnnd dabey zu lehrnen/ wie man sich t(glich zu seligem/ friedlichem vnd sanfftem Absterben/ fertig machen/ vnd sich alle stunden deß Todts versehen solle

quando

Der siebend teil/ Allerley reine vnnd lustige wort/ von Handwercksleuten/ vnd andern Der Neundte Theil/ Von kurtzweiligen vnnd vn(rgerlichen Wercken/ vnd Worten/ die man Clausen bey Collationen abgemerckt

Der dritte theil. Nun beginnet Clauß in seiner Thorheit [...] zu zunemmen (Historien in Ordnung nach dem Kirchenjahr)

129 Sechs Kapitel der insgesamt 16 theile der Historien von Claus Narren enthalten Topoi, die Büttner für die Personenbeschreibung in dem wort Register Relatiuorum der Dialectica Deutsch vorgeschlagen hat. Dabei finden sich von den neun nummerierten Fundorten aus der Dialectica, die zum einen aus den Kategorien substantia, quantitas und qualitas und zum anderen aus weiteren, von Büttner selbständig hinzugefügten Topoi bestehen, fünf in drei Kapiteln der Historien von Claus Narren. Hierbei fällt auf, dass Büttners zusätzlich vorgeschlagene Topoi, die aus der Theologie, den Artes, dem Handwerk, dem Handel, den Werkzeugen, der Nahrung und dem Handel bestehen, alle bis auf den letztgenannten Topos, vollständig im siebenten, neunten und zehnten Kapitel des Claus Narr zu finden sind. Drei zusätzliche nichtnummerierte Fundorte der Dichtungslehre haben Parallelen mit dem ersten, dem dritten und dem sechzehnten Kapitel der Historien von Claus Narren. Die sechs Kapitel des Claus Narr, die somit starke Übereinstimmungen mit der Dialectica Deutsch aufweisen, umfassen zwar nur etwas mehr als ein Drittel der Historien von Claus Narren, sind aber insofern bedeutend, als dass sie Hinweise ingesamt auf eine Ordnung dieses zuvor als disparat empfundenen Werks geben. Doch nicht nur in der Topik bestehen zwischen den Historien von Claus Narren und der Dialectica Deutsch Gemeinsamkeiten. Im ersten Kapitel von Clausen Vrsprung finden sich auch auf der strukturellen Ebene der Historien Parallelen. Vier aufeinander folgende Historien beschäftigen sich mit der Herkunft des Narren. In ihrer Struktur entsprechen sie dem in der Dialectica Deutsch vorgeschlagenen Verfahren aus der wort Kammer Relatiuorum, die Personen vnd Ampt Namen251 zu beschreiben: I. Darumb fFgen sich hieher zum ersten/ aus der ersten wort Kammer/ der NatFrlichen gesch=pffe vnd Creaturen Gottes/ alle wort vnd bildnissen/ die man vom Namen einer Substantia/ oder einer natFrlichen Creatur/ formiren vnd deruiren kan/ Also: Homo, ein Mensch. Jst eine natFrliche substantia/ vnd eine vernFnfftige Creatur/ Dauon kan man nun sagen: Ein Mensch ist ein Vater/ ein Son/ eine Mutter/ eine Tochter/ ein Schwager/ ein Bruder/ ein Freund/ ein Vetter/ eine Base/ eine Mume/ ein Gefattere/ eine Braut/ ein Breutgam/ ein K=nig/ ein BFrger/ ein Edelman/ ein Kauffherr/ ein Wucherer/ vnd dergleichen ...252

Demzufolge lässt sich ein Mensch über Verwandtschaftsbeziehungen oder andere soziale Positionen näher bestimmen. Verallgemeinernd wird vorgeschlagen, dass man wie bei der Multiplikation die zwei Multiplikatoren, zu einem Wort nur ein ander w=rtlein darneben253 setzen solle, um die viel ander Namen/ species oder

251 252 253

Büttner: Dialectica Deutsch, Bl. E 5v. Büttner: Dialectica Deutsch, Bl. E 5v–6r. Büttner: Dialectica Deutsch, Bl. E 6r.

130 bildnissen,254 die man vom Namen Mensch deriuiren vnd zeugen255 kann und die dennoch für sich allein nicht verständlich seien, zu begreifen. Nach diesem Verfahren sind auch einige Antworten des Narren aufgebaut, die ihm zu seiner Herkunft gestellt werden. So antwortet Claus auf die Frage, wie sein Vater hieße, damit: Mein Vatter heißt wie mein Großvatter/ der hieß auch Vatter/ vnd war meines Vatters Vetter/ vnnd mein Schwager.256

Die an sich triviale Antwort, dass auch der Großvater schon Vater hieß und die eher unrealistisch anmutenden Verwandtschaftsbeziehungen führen Claus als Narren vor. Mit den Namen von Familienmitgliedern spielt eine weitere Historie: Wer ist Clausen Vatter. Es fraget einer: Wer ist dein Vatter? Clauß sprach: Wer ist dein Vatter? Antwort: Meiner Mutter Ehemann ist mein Vatter. Clauß/ Der ist mein Vatter auch/ das magstu mir wol glauben/ allein/ daß wir nicht zween BrFder seynd.257

Die Moralisatio deutet die närrische Antwort in eine allgemeine Warnung vor dem unüberlegten Sprechen um. Der Narr selbst wird von der Schelte ausgenommen, seine Antwort wird noch einmal erläutert und letztendlich als beispielhaft dargestellt: Sich mancher jrrt in seiner red/ Vnd sagt/ das jhm nicht wol ansteht/ Drumb wol auff deinen Mund hab acht/ Redstu zuvieil [!]/ du wirst verlacht/ [...] Clauß spricht: der ist mein Vatter auch/ Meint/ seiner Mutter Ehemann sey Sein Vatter/ sonst das wort klingt frey/ Als er ein andern Vatter nennt/ Jm reden/ drumb sey nicht zu behend/ Vnd wenn du dich verjrrst zu weit/ So bessers mit bescheidenheit/ Wie Cl(ußlein thut am end vnd spricht: Gleichwohl wir seyn zween BrFder nicht.258

Es liegt in der Natur des natürlichen Narren, dass er seine eigene Herkunft nicht genau angeben kann.259 Das im wort Register Relatiuorum vorgeschlagene

254 255 256 257 258 259

Büttner: Dialectica Deutsch, Bl. E 6r. Büttner: Dialectica Deutsch, Bl. E 6r. Büttner: Historien von Claus Narren, I, 5, S. 5. Büttner: Historien von Claus Narren, I, 6, S. 5f. Büttner: Historien von Claus Narren, I, 6, S. 6. Vgl. dazu auch weitere Historien im ersten Teil: Büttner: Historien von Claus Narren, I, 3 und 4, S. 3ff.

131 Verfahren zur Personenbeschreibung wird hier auch verwendet, kann aber nur auf närrische Art und Weise erfolgen. Neben den Kapiteln, die sowohl thematische wie strukturelle Parallelen zur Dialectica Deutsch haben, verfügen weitere vier Kapitel in den Historien von Claus Narren über topische Teilordnungen, ohne dass dabei eine Beziehung zu Büttners Dichtungslehre hergestellt werden könnte. Dazu gehören höfische Themen, die im vierten und sechsten Kapitel verhandelt werden, der fünfte theil, der von Jungfrawen vnd Frawen spricht und der achte, der den V=glein vnd […] Thieren gewidmet ist. Damit erweitern die Historien von Claus Narren die Fundorte über das in der Dialectica Deutsch vorgeschlagene Verfahren, denn nun werden nicht nur die Theologie und die Künste, die bürgerlichen Berufe und Betätigungsfelder, das Essen und Trinken mit dem Narren verbunden, sondern ebenso Fragen nach Macht- und Geschlechterverhältnissen. Der Narr bietet sich in einem solchen, aus topischen Teilordnungen bestehenden Text als eine stilistische Übung an, da es keine feststehende Narrenrhetorik gibt. Der Narr selbst verkörpert das Disparate und Heterogene, er wird als eine außergewöhnliche und aus allen Normen fallende Figur rezipiert, die sich, folgt man Büttners Ordnungsschema, von allen denkbaren Erfahrungswelten wie der höfischen, der bürgerlichen, der bäurischen und selbst der tierischen unterscheidet. Er stellt damit eine singuläre, wunderbare Erscheinung dar und wird, wie im Folgenden noch zu erläutern sein wird, als didaktisches Exempel verstanden, worauf der Claus Narr in den Mund gelegte Vorspruch in den Historien von Claus Narren bereits verweist: Clauß Narr HJe ist kurtzweil/ zucht/ schimpff vnd ehr/ Jn rechter maß/ nach BFrger Lehr/ Zu gutem alles angefFhrt/ Wers list/ mich recht vernemmen wird/ Ders nicht versteht/ vnd wil auch seyn/ Zu klug/ der bleibe klug allein.260

Nicht alle Historien innerhalb der thematisch geordneten Kapitel der Historien von Claus Narren sind eindeutig dem jeweiligen Themenschwerpunkt verbunden. Die topische Ordnung, so sie nachvollzogen werden kann, wird nicht immer stringent eingehalten. Das gilt auch für die sechs ungeordneten Kapitel der Historien von Claus Narren, zu denen der zweite, sowie der elfte bis fünfzehnte theil zählen. Während die ersten theile anhand von Kapitelüberschrift und inhaltlicher Gestaltung einer thematischer Ordnung folgen, lässt sich das letzte Drittel der Kapitel keinem besonderen Thema zuordnen. Die sechs theile

260

Büttner: Historien von Claus Narren, Bl. Ajv.

132 (II, XI–XV), die weder den Topoi aus der Dialectica Deutsch gleichen noch andere Ordnungskriterien in ihren Titeln nennen, lassen sich nicht weiter zuweisen. Die einzelnen Historien umfassen sowohl bereits zuvor behandelte Themen oder greifen neue auf, wirken aber wahllos zusammengestellt. Auch die jeweiligen Kapitelüberschriften stellen nur Variationen des Buchtitels der Historien von Claus Narren dar, wenn sie von fr=lichen vnnd gar lieblichen Worten vnnd SprFchen261 des Narren berichten oder gantz lustig zu ehren vnd schimpfflicher kurtzweil/ geFbte vnd angebende Schwencke von Clausen262 als Inhalt angeben. Der zwölfte theil wiederholt fast vollständig den Haupttitel des Werks.263 Die Unordnung des elften bis fünfzehnten Kapitels ist daher möglicherweise der Erklärung geschuldet, die Büttner in der Vorrede anführt: ... daß ich so viel schreibe vnd berichte/ als ich von Erbarn Leuthen erfahren/ vnd noch mehr erfahren haben wolte/ wenn ich nicht gedacht/ daß es zeit/ Clausen verzeichnete Posseration/ Chur vnd FFrstlichen Dieneren zu Sachsen/ vnd sonst allen tapffern Teutschen mitzutheilen vnd zu zureychen.264

Gegen den Zeitdruck spricht jedoch, dass der abschließende letzte theil der Historien von Claus Narren sich wieder in eine thematische Gliederung fügt. Für die ungeordneten davor stehenden Kapitel (XI-XV) kann daher auch vermutet werden, dass sie auf den thematisch strukturierten theilen (I, III–X) aufbauen und diese ergänzen, dass sie aber keinem Programm mehr folgen, da die zuvor verwendete Gliederung nur dem Einüben des Lesers in das didaktische Programm mit Hilfe bestimmter Topoi dient.265 Auch weisen die Historien von Claus Narren damit eine Parallele zu Büttners anderem monumentalen Werk der Epitome Historiarum auf, denn diese verspricht ebenfalls im Vorwort eine sehr viel umfassendere Gliederung, als sie letztendlich ausgeführt wird.

3.2.3 Historienabfolge innerhalb der ›Theile‹ Neben der unvollständigen Gliederung der Kapitel wirkt auch die Abfolge der Historien in den einzelnen Kapiteln eher zusammenhanglos und basiert auf keiner systematischen Ordnung. Das betrifft allein schon den Umfang der verschiedenen Kapitel, in die die 626 Historien aufgeteilt sind. Die geringste Anzahl mit

261 262 263

264 265

Büttner: Historien von Claus Narren, XI, S. 314. Büttner: Historien von Claus Narren, XIV, S. 421. Vgl. Büttner: Historien von Claus Narren, XII, S. 356: »Der Zw=lffte Theil/ sehr schimpffliche Reden vnd Wort/ die erbare Ehrenleute Clausen abgemerckt vnd nachgesagt haben/ zur BFrgerlichen Lehre/ wie andere Weltliche Apologen/ dienstlich vnd f=rderlich«. Büttner: Historien von Claus Narren, Bl. Avr. Vgl. dazu Ludger Lieb: Wahrnehmung als Organisationsprinzip. Überlegungen zur Funktion der Fabel in Sebastian Brants ›Esopus-Additiones‹. In: Fremdes wahrnehmen – fremdes Wahrnehmen. Hg. von Wolfgang Harms, C. Stephen Jaeger. Stuttgart, Leipzig 1997, S. 238–253, hier S. 242f.

133 15 Historien enthält das 14. Kapitel, während das darauffolgende 15. Kapitel mit 59 Historien die größte Zahl enthält. Die Aufteilung der Historien in den jeweiligen theilen folgt ebenfalls keiner strengen logischen Ordnung. Die meisten Historien stehen in den einzelnen theilen inhaltlich in einer losen, teilweise unverbundenen Abfolge da. Als exemplarisch für diese zufällig erscheinende Anordnung kann das zweite Kapitel gelten, das hier kurz dargestellt werden soll. Das ander theil kann weder durch den Titel noch durch den Inhalt der Historien einem bestimmten Themenkreis zugeordnet werden. Die erste Historie handelt von einem Hofthoren, der in einer fürstlichen Mitgift das Fehlen von nützlichen Haushaltsgegenständen beklagt.266 In der zweiten Historie weigert sich Claus Narr, zum Fürsten hinzugehen, als er von diesem gerufen wird, während er in der darauffolgenden sechs Esel statt vier zählt, da er den die Tiere begleitenden Müller und dessen Gehilfen auch für Esel ansieht.267 Claus Narr lobt in den folgenden Historien das Essen bei Armen. Weiterhin soll nicht er, sondern seine Nase ein Stück Holz anklagen, an dem der Narr sich stieß. Er hält Fische für Würmer und weiß nicht, warum seine Augen brennen, obwohl er zuvor an einem Feuer saß.268 In der achten Historie ruft der Narr dazu auf, sich an dem Feuer zu wärmen, das von einem großen Brand in der Stadt ausgeht.269 In einer weiteren Historie meint der Narr, er könne einem Herrn nicht die Hand geben, da sie zu groß sei.270 Außerdem bestellt Claus Bäuerinnen mit Eier und Käse ins Schloß, gibt an, dass er genauso alt sei wie seine Nase und warnt einen Menschen, den ein anderer ärgert.271 Die zwei folgenden Historien erzählen zum einen von der Mutter eines großen Hundes, vor dem sich der Narr fürchtet, und zum anderen von einem Stein, der im Fußsteige272 des Narren liegt. Im Weiteren sieht Claus Narr einer Frau beim Essen zu, schmatzt mit und meint, er habe auch gut gegessen.273 In der sechzehnten Historie will er nicht seinen Hut an einen Nagel hängen lassen, da lieber Diebe vnnd Sch(lcke274 gehängt werden sollten. Die darauffolgende Historie erzählt vom Narren, der in Wasserkübeln tote Fische sieht und meint, sie wären alle ertrunken.275 Danach kommentiert der Narr die Arbeit eines Seilers und wundert sich über einen Storch, der von Spatzen vertrieben wird.276 In der vorletzten Historie sitzt Claus in einem Karren und glaubt, weit

266 267 268 269 270 271 272 273 274 275 276

Büttner: Büttner: Büttner: Büttner: Büttner: Büttner: Büttner: Büttner: Büttner: Büttner: Büttner:

Historien Historien Historien Historien Historien Historien Historien Historien Historien Historien Historien

von von von von von von von von von von von

Claus Claus Claus Claus Claus Claus Claus Claus Claus Claus Claus

Narren, Narren, Narren, Narren, Narren, Narren, Narren, Narren, Narren, Narren, Narren,

II, II, II, II, II, II, II, II, II, II, II,

1, S. 20. 2 und 3, S. 21f. 4–7, S. 22ff. 8, S. 25. 9. S. 25f. 10–12, S. 26ff. 14, S. 29. 15, S. 30. 16, S. 30f. 17, S. 31. 18 und 19, S. 31f.

134 damit zu fahren.277 Der zweite theil der Historien von Claus Narren schließt mit einem Schwank ab, der erzählt, wie Petrus einmal probehalber an Gottes statt die Welt regieren möchte.278 Dieses ander theil, das zu der kleineren Anzahl an Kapiteln der Historien von Claus Narren gehört, die unter kein Thema gestellt sind, weist dennoch einen typischen Aufbau auf, da es, wie alle anderen Kapitel, kein nur einer Logik verpflichtetes Ordnungssystem hat, sondern vielmehr verschiedene Ebenen des Textes miteinander verbindet. Exemplarisch lässt sich das an der siebenten bis einundzwanzigsten Historie des zweiten Kapitels nachvollziehen: wird in der siebenten Historie erzählt, wie Claus rote Augen vom Feuer bekommt, wird in der achten Historie noch einmal auf dasselbe Thema Bezug genommen, wobei es hier sich nun um einen Stadtbrand handelt, an dem der Narr sich wärmen will. Das Adjektiv ›groß‹ im Titel der letztgenannten achten Historie Groß Feuwer279 erscheint wiederum als Stichwortgeber im Prosatext der darauffolgenden neunten Historie, in der Claus einem fremden Herrn nicht die Hand mit folgender Begründung reichen möchte: Der FFrst wird dich ehrlicher empfahen/ denn ich dich empfahen kan/ Woltestu mir deine Hand geben/ weil du ein grosser Herr bist/ vnnd eine gr=ssere Hand hast/ denn ich habe.280

Die zehnte Historie knüpft ebenfalls an die vorherige an, nun aber auf der räumlichen Ebene, da sie im höfischen Raum bleibt und den Fürsten selbst in Erscheinung treten lässt, der mit den Bäuerinnen spricht, die Claus veranlasst hatte, Butter, Käse und Eier ins Schloss zu bringen. Die elfte Historie unterbricht die Reihe, denn sie greift auf ein Thema der fünften Historie zurück, das sich – sicherlich auch mit einer sexuellen Konnotation zu verstehen – mit der Nase des Narren beschäftigt. War die närrische Nase in der fünften Historie beschädigt, wird sie hier in der elften Historie vom Narren als ein separat gedachtes Körperteil begriffen, das im Zweifelsfall sogar älter und damit klFger281 sein könne. Die dazugehörige Lehre verweist auf eine andere sprichwörtliche Redensart: Also man heut noch spricht vnd sagt/ Wenn man nach jemands Alter fragt/ Jch bin so alt/ daß ich noch hab/ Vnd meinen ersten Kopff noch trag.282

277 278 279 280 281 282

Büttner: Büttner: Büttner: Büttner: Büttner: Büttner:

Historien Historien Historien Historien Historien Historien

von von von von von von

Claus Claus Claus Claus Claus Claus

Narren, Narren, Narren, Narren, Narren, Narren,

II, II, II, II, II, II,

20, S. 33. 21, S. 33f. 8, S. 25. 9, S. 25f. 11, S. 27. 11, S. 27.

135 Die Redensart dient aber nur als Anlaß, um an die Sündhaftigkeit des Menschen allgemein zu erinnern und wird durch ein lateinisches Zitat mit anschließender freier gereimter Übersetzung abgeschlossen: Semper homo malus est, sine crimine viuere nescit. Deß Menschen art ist b=ß vnd arg/ Von seiner ersten stund/ in Sarck.283

Die in der Lehre gegeisselte Boshaftigkeit des Menschen greift die nächstfolgende zwölfte Historie im Prosateil und in der dazugehörigen Lehre auf. Es wird hier erzählt, dass der Narr beobachtet, wie ein Heuchler284 jemanden hinter dessen Rücken verhöhnt. Daraufhin warnt der Narr den Verspotteten. Die Lehre verurteilt davon ausgehend alle doppelzüngigen Handlungen, denn es sei der Stechwesp art vnd gifft/ die redet fein vnd meynts doch nicht.285 Die Wespe wird dabei, wie die Lehre weiter erläutert, metaphorisch für den Beeltzebub286 gebraucht und steigert damit die Aussage der vorangegangenen Historie samt Lehre. Die dreizehnte und vierzehnte Historie knüpfen an die zuvor in der achten und neunten Historie aufgemachten semantischen Reihe um das Wort ›groß‹ an. Die dreizehnte Historie Ein grosser Hundt287 ist lokal außerdem an die zehnte Historie angebunden, da sie wieder im höfischen Raum verortet wird. In ihr geht es um einen großen Hund, den Claus am Hof sieht, sich über ihn wundert und denkt, er habe vielleicht auch seine eigene Mutter gefressen, die eine grosse Frauw288 gewesen sei. Eine weitere Verschränkung durch das Attribut groß zwischen Überschriften und Prosatexten findet in der vierzehnten Historie Ein grosser Stein im Wege289 statt, in der Claus einen Stein aus dem Weg räumt, was übertragen in der moralischen Ausdeutung als das Beseitigen von falschen Lehren verstanden wird. In eine assoziative Reihe zu diesen beiden Historien könnte man auch die fünfzehnte Historie stellen, die erzählt, dass Claus ein dick Fr(wlein290 beim Essen beobachtet habe und damit groß und dick miteinander verbindet. Die sechzehnte und siebzehnte Historie beziehen sich ebenfalls aufeinander, knüpfen aber nicht an die vorherigen Themen an und bilden damit, wie bereits zuvor die elfte und zwölfte Historie, eine Einheit für sich. In der sechzehnten Historie will Claus zunächst Diebe vnnd Sch(lcke mit dir an den Galgen hencken,291 bevor er seinen Hut an einen Nagel hängen will. Die Todesthematik

283 284 285 286 287 288 289 290 291

Büttner: Büttner: Büttner: Büttner: Büttner: Büttner: Büttner: Büttner: Büttner:

Historien Historien Historien Historien Historien Historien Historien Historien Historien

von von von von von von von von von

Claus Claus Claus Claus Claus Claus Claus Claus Claus

Narren, Narren, Narren, Narren, Narren, Narren, Narren, Narren, Narren,

II, II, II, II, II, II, II, II, II,

11, S. 27. 12, S. 27. 12, S. 28. 12, S. 28. 13, S. 28. 13, S. 28. 14, S. 29. 15, S. 30. 16, S. 30.

136 wiederholt sich sowohl im Prosateil der folgenden Historie, wenn auch auf andere Art und Weise, denn nun sind es Fische, die tot in einem Kübel schwimmen und deren Tod der Narr beklagt. Beide Lehren beziehen sich auf den Inhalt der jeweiligen Historie. Während in der ersteren die gerechte Strafe für alle Diebe eingefordert wird, werden in der zweiten Lehre diejenigen als tot angesehen, die in wollust vnd in frewd292 leben. Die beiden darauffolgenden Historien sind wiederum in die Reihe um das Attribut ›groß‹ eingebunden wie die achtzehnte Historie Grosse Schmitze,293 die von einem Dialog zwischen einem Seiler und dem Narren berichtet. Aber auch die neunzehnte Historie bezieht sich gewissermaßen darauf, da hier von einem Storch erzählt wird, den die Sperlinge vnnd andere kleine V=glein294 aus seinem Nest vertreiben. Damit endet mit dem Antonym des Wortes ›groß‹ die mit Unterbrechungen gestaltete assoziative Reihe. Die vorletzte zwanzigste Historie kann als Abschluß der närrischen Historien gelesen werden. Im Prosateil wird erzählt, wie der Narr sich in einen Schiebekarrn295 setzt und glaubt, dass er fährt. Nach einer Weile steigt er heraus, schiebt den Karren weiter und setzt sich wieder hinein, bis er so ermattet ist, dass er feststellt: Jch habe mich mFde gefahren/ vnd mFde gangen.296 Nicht nur die Müdigkeit lässt sich als eine Schlussmetapher lesen, sondern die Lehre interpretiert auch die närrische Handlung als Erinnerung, dass man nur die Dinge beginnen und beenden könne, auf denen Gottes Segen ruhe: Wir thun jetzund das/ vnd darnach diß/ Mit einem wie dem andern ists/ Was man auff dieser Welt beginnt/ Sein end mit klag vnd weh gewinnt/ Vnd was wir thun ist angst vnd mFh/ Vnd bleiben sterblich forth vnd je. Doch wenn deß Herren Wort vnd Stimm Erquickt vnd labt/ hat muth vnd sinn.297

Die letzte Historie des zweiten Kapitels, die einundzwanzigste Historie Petrus hFtet einer Ziegen,298 stellt, eine durch Personal und Inhalt deutlich markierte Zäsur dar, da hier nicht der Narr, sondern der Apostel im Mittelpunkt steht, wie es auch in den letzten Historien des dritten, vierten und fünften Kapitels der Fall ist.299 Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Historien im zweiten Kapitel – und diese Beobachtung lässt sich auch auf andere Kapitel des Werks über-

292 293 294 295 296 297 298 299

Büttner: Historien von Claus Narren, II, 17, S. 31. Büttner: Historien von Claus Narren, II, 18, S. 31. Büttner: Historien von Claus Narren, II, 19, S. 32. Büttner: Historien von Claus Narren, II, 20, S. 33. Büttner: Historien von Claus Narren, II, 20, S. 33. Büttner: Historien von Claus Narren, II, 20, S. 33. Büttner: Historien von Claus Narren, II, 21, S. 33. Vgl. Büttner: Historien von Claus Narren, III, 25, S. 55f.; IV, 53, S. 92f.; V, 57, S. 135f.

137 tragen – miteinander auf unterschiedliche Art und Weise verschränkt sind. Sie sind semantisch verknüpft, jedoch nicht im Sinne einer semantischen Hierarchie, sondern in Form von semantischen Reihen. Dabei können hier sowohl die Überschriften, die Prosateile der Historien als auch die gereimten Morallehren miteinander verbunden sein. Ebenso kann die Abfolge der Historien durchbrochen sein. Teilweise können solche die Reihen unterbrechenden Historien, wie auch noch bei der Analyse weiterer Kapitel der Historien von Claus Narren zu sehen ist, textkommentierende Funktionen übernehmen.

3.2.4 Der Aufbau der Historien Die kleinste eigenständige Einheit bilden in Büttners Werk die Historien, die immer die Dreiteilung einer Überschrift, einer in Prosa abgefassten Historie und einer gereimten Lehre aufweist. Die Überschrift gibt meist in kurzer Form den Inhalt des Prosateils wieder. Letzterer wiederum schildert – sieht man von wenigen Ausnahmen einmal ab – jeweils singuläre, meist alltägliche Begebenheiten aus dem Leben des Hofnarren, die improvisiert, pragmatisch und teilweise auch komisch erscheinen. Die 626 Historien, die Büttner in seinem Werk versammelt, basieren nur zu einem kleinen Teil auf bereits bekannten Schwänken von Sachs, Pauli und anderen.300 Wenn Büttner auf die Überlieferung zurückgreift, rafft er meist das Material und teilt es kurz und knapp mit. Dennoch unterscheiden sich diese Historien meist noch in der Länge von den übrigen, die auf keine andere Quelle verweisen und die den Hauptteil des Werks ausmachen. Claus Narr ist die alles verbindende Figur in den Historien von Claus Narren. Das impliziert gleichzeitig jedoch auch eine Diversität, die in der Figur des natürlichen Narren selbst angelegt ist. Agiert der natürliche Narr als liminale Figur mit seiner Umwelt in einer Spottbeziehung, kann er dort als eine Art Joker jegliche Position einnehmen. Der Narr tritt in eine unmittelbare Kommunikation von gleich zu gleich, unabhängig davon, ob er mit dem Fürsten oder mit seinem eigenen Hut spricht. Daher lässt sich auch in den 626 Historien des Büttnerschen Werks keine eindeutige Rolle des natürlichen Narren Claus festlegen, vielmehr ist er als eine Figur konstruiert, die eine für beliebige Inhalte offene Leerstelle darstellt. Das Charakteristikum des närrischen Verhaltens besteht meist darin, über allgemein anerkanntes Wissen nicht, nur unzureichend oder aber auch hellseherisch zu verfügen. Allgemein anerkanntes Wissen bedeutet hier Kenntnisse, die das alltägliche Leben, d. h. die »Wirklichkeit der Alltagswelt«301 betreffen. Dazu gehört, dass der Narr nicht zwischen Ursache und Wirkung unterscheiden

300 301

Vgl. Schmitz: Wolfgang Büttners Volksbuch von Claus Narr, S. 51–66. Peter L. Berger, Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt 161999, S. 21.

138 kann und so zum Beispiel unabhängig voneinander existierende Erscheinungen miteinander verbindet. In der sechzehnten Historie des ersten Teils erhält Claus beispielsweise statt einer Milchsuppe eine Weinsuppe und glaubt, die Kühe müssten bunt gewesen sein.302 Dinge aller Art werden desweiteren von Claus Narr personifiziert und entsprechend behandelt. Der Narr fleht wegen eines Windes in seiner Hose um Rettung vor dem Feind oder spricht mit seinem Hut und lässt ihn, weil er ihm ungehorsam erscheint, liegen.303 Selbst eigene Körperteile existieren in der Wahrnehmung des Narren unabhängig von ihm. Claus stößt sich einmal an einem Holz, dass ihm die Nase blutet, und will, als er von einem anderen deshalb zum Richter geschickt wird, seine Nase entscheiden lassen, denn ihr sei wehe304 geschehen. Hierzu zählt ferner auch, dass Claus Narr in den Historien Mensch und Tier gleichsetzt und von einem Hund meint, er habe seine Mutter, die eine grosse Frauw305 gewesen sei, gefressen. Ebenso wie der Narr Unterschiede zwischen Mensch und Tier nivelliert, achtet er auch nicht die gesellschaftlichen Ränge, bzw. entwickelt eine eigene Hierarchie. So ist er entsetzt, dass ein Koch um den soeben verstorbenen Fürsten trauert, nicht aber um seinen eigenen, schon vor längerer Zeit gestorbenen Vater.306 In einer anderen Historie geht er nicht zum Fürsten, der ihn hat rufen lassen, vielmehr solle dieser selbst kommen.307 Claus Narr verfügt oft ebensowenig über allgemeine Vorstellungen von Zeit, Raum und Größe, weshalb er beim Klang einer Glocke meint, der dazugehörige Kopf samt Schelle müsste besonders groß sein.308 Kurz, das närrische Verhalten stellt immer einen Normbruch dar. Ist das normverletzende Verhalten der Schalksnarren zumeist auf eine Provokation ausgerichtet, die in einem bestimmten Rahmen inszeniert wird, ist für den natürlichen Narren der Rahmen nicht maßgeblich, denn seine mentale Differenz wird als gleichbleibend durch Raum und Zeit dargestellt. Die Historien bauen auf der Differenz zwischen der Handlung des Narren und den normativen Vorstellungen des Rezipienten auf. Mit dem Leser wird meist am Anfang einer Historie eine für das Verständnis der Historien unabdingbare Übereinkunft über das allgemein anerkannte Wissen durch den ersten und, wie bei einem Apophthegma üblich, in die Situation einführenden Satz erzielt.309

302 303 304 305 306 307 308 309

Büttner: Historien von Claus Narren, I, 16, S. 12. Büttner: Historien von Claus Narren, I, 12, S. 9f. und I, 17, S. 13. Büttner: Historien von Claus Narren, II, 5, S. 23. Büttner: Historien von Claus Narren, II, 13, S. 28. Büttner: Historien von Claus Narren, I, 11, S. 9. Büttner: Historien von Claus Narren, II, 2, S. 22. Büttner: Historien von Claus Narren, I, 19, S. 14f. Zur apophthegmatischen Struktur vgl. unten, S. 221.

139 Als er [Claus, RvB] von einem sawren Merrettich aß/ vnd im starck in der Nase roch/ schrey er abermal: O Fewr/ Fewr ist in meiner Nasen auffgangen/ wer wird mirs d(mpffen vnnd leschen/ daß mir der Kopff nicht verbrennet.310

Der Autor stellt mit der Information, der Narr habe von einem scharfen Meerrettich gegessen, gleichzeitig ein Einverständnis über die möglichen Folgen eines solchen Genusses her. Der natürliche Narr bringt jedoch das Brennen in der Nase nicht mit der eigentlichen Ursache in Verbindung, sondern vermeint, ein Feuer sei ausgebrochen. Viele Historien sind nach diesem Prinzip aufgebaut. Durch das Erzählen einer alltäglichen Begebenheit erzeugt der Autor einen gemeinsamen Wissensstand. Der Narr reagiert dagegen mit einem nicht zu erwartenden Verhalten. Besteht ein Zweifel über die Ausgangssituation in einer Historie, wird durch einen Erzählerkommentar versucht, ein Einverständnis mit dem Leser herzustellen: Claus sprach zu einem Reuter: Mann wird fort nicht mehr Liecht in Stall geben. Der Reuter sprach: Das schadet nit/ mein Cl(ußlein/ Denn der Herr wird forthin selbest in alle winckel leuchten/ (Meynet/ der Tag wFrde zunemmen/ vnd l(nger werden.) Wie/ sprach Clauß: Wolt dir mein Herr selber leuchten? Das were ein wunderliche Meynung/ Jch bin so edel vnd gelehrt als du seyn magst/ aber meinen Herrn hab ich darzu nit gewehnen k=nnen/ daß er mir geleuchtet hette.311

Um den Kontrast zwischen Ausgangssituation und närrischer Rede zu betonen, wird dem Leser die nötige Zusatzinformation in Klammern hinterbracht. Umgekehrt werden dem Leser auch manche närrischen Verhaltensweisen erklärt, um das andersartige Denken hervorzuheben: Man trug einer Jungfrauwen Leiche herrliche/ vnd mit grossem pracht zu Grabe/ vnd waren viel Fackeln angebrennet/ darzu die Todtenbar mit Sammat vnd weissen TFchern behenget. Das sahe Clauß/ vnnd meinet es wehre ein Hochzeit/ vnd man brechte dem Breutigam die Braut also heimgefFhret/ vnd sprach: Wolan/ man bringet dem Breutigam die Braut herrlich vnd sch=n heim/ er wirdt sie gewißlich auch herrlich vnd mit ehren empfahen/ vnd annemen.312

Die Differenz des närrischen Denkens wird häufig mit dem Verb meinen angezeigt. Dass die Aussage im zweiten Teil der Historie jedoch allein nur die Sicht des Narren ist, wird entweder an der wörtlichen Rede oder in einer anderen Form sichtbar, die deutlich die Ansicht des Narren wiedergibt. Zum Teil werden Erklärungen zum Verhalten des Narren auch noch in der Lehre nachgereicht wie in folgender Historie: Trebern mesten wol. Einer sprach: Mein Claußlein/ wie kommt es doch/ wir leben wol/ vnd essen gute Koste/ vnnd bleiben geringe vnnd magere Leuthe? Darzu lachet Clauß/ vnnd sprach: Wie solt es kommen? Es kommet ein Fuder in das ander/ vnd frisset ein fuder das

310 311 312

Büttner: Historien von Claus Narren, I, 8, S. 7. Büttner: Historien von Claus Narren, III, 10, S. 43. Büttner: Historien von Claus Narren, XVI, 10, S. 489f.

140 ander/ Blieben wir bey einem fuder/ vnd fressen Treber vnd Kleyen/ so wFrden wir auch feist/ wie die Schwein feist werden. Lehre. Sein Rechnung hat Clauß so gemacht/ Wenn man gemeste Schwein abschlacht/ Die man bey Treber/ vnd bey Kley GefFttert hatt/ also sey jm sey/ Wenn mancher nicht fFr wollust friß/ Was er doch sauffe oder jß/ Daß er freß mit dem Schwein im Stall/ Die werden feist von Trebern all.313

Hinter jeder Historie steht das gemeinsam geteilte Wissen von Autor und Leser ob des richtigen, des ›normalen‹ Verhaltens in dieser Situation. Die Spannung zwischen erwartetem ›normalen‹ und tatsächlich stattfindendem närrischen und damit normverletzenden Verhalten vermag besonders gut die apophthegmatische Struktur zu inszenieren, die ein Großteil der Historien aufweist. Die Apophthegmen, die vor allem im 17. Jahrhundert beliebt waren und von Zincgref als Sinnreiche kurtz- vnd Klug-gespitzte Reden314 bezeichnet werden, weisen eine zweiteilige Form auf, die aus einer Situation und dem »aus ihr hervorgehende[n] Spruch«315 besteht. Der Chrie zugehörig ist das Apophthegma ebenfalls »grundsätzlich ein Sprechakt und kein ›freischwebender‹ allgemeiner Satz«,316 denn hier werden verbale und nonverbale Handlungen einer »historische[n] Persönlichkeit«,317 auf bestimmte Situationen zu reagieren, gefasst. Wie immer also im einzelnen das Apophthegma erscheinen mag – sei es als schlagfertige Replik auf eine provozierende Frage, sei es als die zur sprichworthaften Formel verdichtete Lehre eines faktischen Geschehens –, immer sind solche dicta ›ex occasione quapiam pronunciata‹, ist der Ausspruch als ›Klugrede‹ ableitbar aus dem Kontext eines faktischen Geschehens.318

Der historisch situierte, gleichzeitig aber über den aktuellen Diskurs hinaus verweisende Sprechakt bildet einen Zirkel, in dem »die Exemplarität gleichzeitig

313 314

315 316

317 318

Büttner: Historien von Claus Narren, IV, 26, S. 72f. Julius Wilhem Zincgref: Teutsche Apophthegmata das ist der Teutschen Scharfsinnige kluge Sprüche. Bd. 1: 1. Teil: Teutscher Nation Klug-ausgesprochene Weisheit. 2. Teil: Teutscher Nation Denkwürdiger Reden – Apophthegmata genandt. Hildesheim 2006 (Nachdruck der Ausgabe Amsterdam 1653), Bl. 5r. Theodor Verweyen: Apophthegma und Scherzrede. Geschichte einer einfachen Gattungsform und ihrer Entfaltung im 17. Jahrhundert. Bad Homburg, Berlin, Zürich 1970, S. 21. Peter von Moos: Die Kunst der Antwort. Exempla und dicta im lateinischen Mittelalter. In: Exempel und Exempelsammlungen. Hg. von Walter Haug, Burghart Wachinger. Tübingen 1991, S. 23–57, hier S. 43f. Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft, § 1117, S. 536. Verweyen: Apophthegma und Scherzrede, S. 22.

141 zur Voraussetzung und zum Garanten einer historischen Faktizität«319 wird. Die Historien von Claus Narren nutzen das Potential, das diese rhetorische Form bietet. Clauß h=ret ein grosse Schelle. Er h=ret ein grosse glocke leuten/ da sprach er: Da h=re ich ein grosse Schelle/ die Kappen vnnd die Ohren werden auch weitlich groß seyn/ daran ein solche Schelle hanget.320

So wie der Narr hier die Glocke kommentiert, so ist auch ein Großteil der anderen 626 Historien im Claus Narr aufgebaut. Im Mittelpunkt stehen immer eher zufällige und alltägliche Begebenheiten mit dem Narren. Daher wird deutlich, warum sich eine Systematik des närrischen Verhaltens kaum erstellen lässt, da die Handlungen des Narren durch ihren improvisatorischen Charakter gekennzeichnet sind. Lediglich die Anlässe die den natFrlichen angebornen Schimpffworten vnnd SprFchen321 des Narren zugrunde liegen, lassen sich anhand der thematischen Ordnung der einzelnen Kapitel bündeln, da sie auf die topischen Teilordnungen zurückgreifen. Die Situation speist sich aus der Topik, während das närrische Verhalten an sich eine Reaktion darstellt, die in jedem Fall eine Norm bricht und sich spontan entwickelt. Die Systematik des närrischen Verhaltens besteht daher in der Devianz. Der in Form eines Apophthegmas abgefasste Prosateil entwickelt dabei eine Spannung zwischen der Situation, in die der Narr hineingestellt ist, und seiner Handlung, die die Lizenz zum unkonventionellen, wenn nicht normverletzenden Verhalten hat. Die Sprüche des Narren weisen über die konkrete Situation hinaus und enthalten eine allgemeine, lehrhafte Deutung. Anders als die Apophthegmensammlungen des 17. Jahrhunderts, die sich mit der zweigeteilten Form des Apophthegmas begnügen und auf deren Scharfsinnigkeit vertrauen, bindet Büttner die Reden des Narren in eine Lehre ein. Das mag auch daran liegen, dass sich die Handlungen von Claus Narr nicht immer als kluge Reden ausweisen und vor allem die Doppeldeutung, wie sie Harsdörffer in seiner Vorrede zur III. Kunstquelle aus der Ars Apophthegmatica als Kennzeichen für einen nachsinnigen Schertz322 nennt, weniger deutlich auf der Hand liegt. Damit sind die Lehren sehr viel stärker an die Historien gebunden und haben im Gegenteil zu anderen Werken der Schwankliteratur weniger die Tendenz, sich zu verselbständigen. Die Moralisatio ist in den Historien von Claus Narren essentiell und weist dadurch

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Niklaus Largier: Diogenes der Kyniker. Exempel, Erzählung, Geschichte in Mittelalter und Früher Neuzeit. Mit einem Essay zur Figur des Diogenes zwischen Kynismus, Narrentum und postmoderner Kritik. Tübingen 1997, S. 8. Büttner: Historien von Claus Narren, I, 19, S. 14. Büttner: Historien von Claus Narren, X, S. 281. Georg Philipp Harsdörffer: Ars apophthegmatica. Das ist: Kunstquellen denckwürdiger Lehrsprüche und ergötzlicher Hofreden. Bd. 1. Hg. und eingeleitet von Georg Braungart. Frankfurt 1990, S. 14.

142 auf die über den aktuellen Sprechanlass hinausreichende Bedeutung hin. In der oben zitierten Historie Clauß h=ret ein grosse Schelle323 wird die Glocke, die Claus für eine große Schelle an eines Narren Kopf hält, zum einen als der äußere Schein interpretiert, der immer über das wahre Wesen einer Sache hinwegtäuscht, und zum anderen wird sie als Glocke im Dienste des Herren gesehen, die die weltlichen Sünder, hier als Narrenk=pff324 bezeichnet, zusammenruft, um jedem vorzuführen, was er fFr brech vnd m(ngel fFhr.325 Die in der apophthegmatischen Struktur aufgenommene Spannung wird in der Lehre kommentiert und mit einer allgemeinen Verhaltensaufforderung an den Leser versehen. Die Handlungen des Narren selbst geben den Anlass für die moralische Deutung. Der natürliche Narr, verstanden als ein Sprachrohr Gottes, wird nie bewertet. Nur in den Fällen, wo sein Verhalten Anstoß erregen könnte, wird er oft in der Lehre entschuldigt, die Auslegung verweigert oder aber die Handlung von einem anderen Narren – teilweise sogar einem anderen Claus – erzählt. Kritik wird in keinem Fall geübt, denn die natürliche Narrheit von Claus kann als solche nicht verurteilt werden, während die Lehren diese Torheit auf allgemein menschliches – und damit verurteilenswertes – Fehlverhalten übertragen. Exemplarisch soll dieses Verfahren an einigen Lehren vornehmlich der ersten beiden theile der Historien von Claus Narren nachvollzogen werden. Die in paarweise gereimten Versen abgefasste Morallehre besteht im gesamten Werk meist aus sechs Versen, sie kann aber auch kürzer und mit mehr als 20 Versen erheblich länger sein. Überschrieben ist sie meist mit dem Wort Lehre. Nur im ersten und zweiten theil der Historien von Claus Narren variiert dieser Titel und gibt stattdessen genaue Anweisungen an den Leser. So werden die Fragen gestellt: Was lehret dieser Jocus oder Schimpff?326 Was lehret dich das?327 Warzu wird das gesagt?328 Was gibt das?329 Auch heißt die Moral Gute Lehre,330 Sch=ne Lehre,331 oder sie enthält die Aufforderung Lehrne.332 Lehre wird weiterhin umschrieben als Morale: oder sittliche Lehre.333 Das erste und zweite Kapitel wirkt daher wie eine Einübung des Lesers in den Umgang mit den Historien. Die Lehren werden hier immer als integraler Bestandteil aufgefasst und entsprechen ganz dem Sinn des Titels des zweiten Kapitels, in dem saubere vnnd reyne P=ßlein/

323 324 325 326 327 328 329 330 331 332 333

Büttner: Büttner: Büttner: Büttner: Büttner: Büttner: Büttner: Büttner: Büttner: Büttner: Büttner:

Historien Historien Historien Historien Historien Historien Historien Historien Historien Historien Historien

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Claus Claus Claus Claus Claus Claus Claus Claus Claus Claus Claus

Narren, Narren, Narren, Narren, Narren, Narren, Narren, Narren, Narren, Narren, Narren,

I, 19, S. 14. I, 19, S. 15. I, 19, S. 15. I, 2, S. 3. I, 7, S. 7. II, 3, S. 22. I, 8, S. 7. II, 4, S. 22. II, 13, S. 29. I, 9, S. 8; II, 9, S. 26 und II, 17, S. 31. I, 15, S. 12.

143 zu manchf(ltiger Lehre angefFhret/ vnnd wol zu gebrauch geweiset334 sind. Die enge Verbindung von Narration und Didaxe in den Historien von Claus Narren lässt sich beispielsweise auch an der Rezeptionsgeschichte ablesen, da sowohl die Überarbeitungen des Werks als auch die Aufnahme von einzelnen Historien vielfach die Lehren mit übernehmen.335 Dieses, im Vergleich mit anderen Werken der Schwankliteratur, eher unübliche Verfahren deutet meines Erachtens auf die enge Zugehörigkeit von Prosateil und Moralversen der Historien von Claus Narren hin. Selbst Zincgrefs und von Weidner fortgesetzte Apophthegmensammlung, die eine große Anzahl der Historien von Claus Narr aus Büttner übernimmt, zitiert in einigen Fällen die Lehre bzw. Ausschnitte aus der Lehre.336 Die Verhaltensanweisungen für den Leser variieren in den Lehren und reichen von Ratschlägen, die das alltägliche Leben betreffen, über Angelegenheiten der Landesherrschaft bis hin zu moralischen, ethischen und religiösen Fragen. Thematisch sind die Lehren in keinem Fall an die Historie gebunden, vielmehr dient die im Prosateil skizzierte närrische Handlung als ein Ausgangspunkt, um die moralische Handlungsanweisung über die konkrete Situation hinaus zu zeigen. Dabei bedient sich Büttner verschiedener Verfahren. In der überwiegenden Anzahl der Historien begreift er den Narren als Vorbild und streicht in der Lehre sein Handeln als beispielgebend heraus. In einer zweiten Variante, die jedoch eine sehr viel kleinere Anzahl von Historien umfasst, rügt die Moralisatio das närrische Handeln und benutzt den Narren als Negativexempel. Gleichfalls als Negativexempel werden in einer dritten Form der Historien die Protagonisten verstanden, die mit dem Narren interagieren und deren Verhalten in Form einer Negativdidaxe ebenfalls Anlass zur Belehrung gibt. Die vierte Variante, in der Historien und Lehren kaum miteinander verbunden sind, betrifft nur sehr wenige Historien. Diese vier Formen sollen nun im Folgenden anhand einiger Beispiele dargestellt werden. Die größte Anzahl der Historien stellt das zunächst närrisch anmutende, deviant geltende Verhalten als normativ dar. So ordnet der Narr einmal an, dass Bawerweiblein Eier, Butter und Käse ins Schloß bringen sollen. Als sich der Kurfürst Friedrich über die Bäuerinnen wundert, antwortet Claus: Bestell/ daß man jhnen gebe/ was man schuldig ist/ so werden sie davon gehen/ vnnd dich vngemahnet lassen.337 Mit der Zahlungsaufforderung von Claus Narr endet die Historie, ohne dass das eigenmächtige Verhalten des Narren in irgendeiner Form

334 335 336

337

Büttner: Historien von Claus Narren, II, S. 20. Vgl. unten, S. 236ff. Vgl. bspw.: Julius Wilhelm Zincgref und Johann Leonhard Weidner: Teutscher Nation/ APOPHTHEGMATUM/ Das ist/ Deren in Teutschen Landen/ Wehr-Lehr-Nehr-Weiber-stands Personen, Clerisey/ Hof- vnd Schalcks-narren, Schulbossen, Vmb- vnd Vffschrifften/ DenckwFrdiger GFlden vnd Silber-/ mFntzen Teutscher Potentanten vnd Herrn usw. FVNFFTER THEIL. Amsterdam 1655, S. 143. Dort findet sich die 14. Historie mit Lehre aus dem 4. Teil der Historien von Claus Narren fast wortwörtlich wieder. Büttner: Historien von Claus Narren, II, 10, S. 26.

144 verurteilt wird. Auch in der Lehre ist nichts davon zu finden, vielmehr wird die Antwort des Narren an den Kurfürsten in eine allgemeine Empfehlung umgedeutet, alle Schulden zu begleichen: Wer nicht bezahlt vnd wider gibt/ Ein ander fahrt dem leiht man nicht/ Wer aber zahlt vnd glauben helt/ Die Freundschafft frommer Leuth behelt/ Solchs Clauß gibt hie zu lehrnen mir/ Das lehrne auch/ wenns liebet dir.338

Claus wird nicht in jeder Lehre explizit als Autorität benannt, doch dienen seine konkreten närrischen Handlungen immer wieder als Beispiel und werden dabei vor allem im übertragenen Sinn als Vorbild gebraucht. Die Figur des Narren ist als Exempel konstruiert, das die moralischen Glaubens- und Lebensvorstellungen des protestantischen Autors untermauert. Demgemäß wird Claus’ Bitte an einen Hund, der gerade einen Braten frisst, als eine allgemeine Warnung vor dem Geiz verstanden. Der Hund solle mit ihm teilen, denn er würde, wenn ich ein andermal auch habe,339 ebenso ihm etwas abgeben: Ein geitzig Mensch g=nnt niemand gut/ Wie offt vnd sehr mans bitten thut. Hart Leut vnter den Christen seyn/ Ehe/ sag ich/ man erweicht ein Stein/ Denn daß man sie dahin bedeut/ Sich anzunemmen armer Leuth. Das muß vnd wird Gott straffen schier/ Wenns gleich kein Geitzwanst gl(ubet mir340

Vorbildhaft kann der Narr doch auch in dem Fall sein, wenn er offensichtlich die Situation missversteht und zum Beispiel während eines Stechens im Kartenspiel alle verfügbaren Messer einsammelt. Die Lehre unterstützt die fürsorgliche Handlung des Narren und warnt vor dem Spielen, dieweil dauon offt Hader wird.341 Selbst Fragen, die von der Unwissenheit des Narren zeugen, können letztlich auf eine höhere Wahrheit verweisen. So erkundigt sich der Narr einmal danach, was Christophorus trägt und der Kurfürst antwortet, dass dieser Himmel und Erde tragen würde. Die Historie endet mit der verwunderten Frage des Narren: Worauff steht vnd gehet denn der gute Kerle/ weil er die Erde auff seinem Halse treget.342 Das greift die Lehre auf, indem sie im übertragenen Sinne die Frage beantwortet, worauf man im Leben stehe: Gott ist die Bahn/ die Straß vnd Weg/ Darauff man eyn zum Himmel geht/

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Büttner: Büttner: Büttner: Büttner: Büttner:

Historien Historien Historien Historien Historien

von von von von von

Claus Claus Claus Claus Claus

Narren, Narren, Narren, Narren, Narren,

II, 10, S. 26. I, 10, S. 8. I, 10, S. 8f. XI, 1, S. 315. IV, 4, S. 58f.

145 Sein thewer Wort/ sein Steck vnd Stab/ Jsts Lebens halt/ Safft/ Krafft vnd Lab/ Wer geht die Straß vnd wandert drauff/ Dem macht sich st(ts der Himmel auff.343

Idealisiert erscheint so nicht nur die Armut des Narren, die als Vorbild verstanden wird, sondern Claus Narr gilt als Beispiel für andere Tugenden wie Einfachheit, Enthaltsamkeit, mâze oder Keuschheit, wie sie auch einem anderen natürlichen Narren unterstellt werden, der sich über einen Herzog wundert, der keinen Butterkasten zur Hochzeit geschenkt bekommt: Hie sihet man/ was einfalt thut/ Die wehlet Armut fFr groß gut. Ohn Reichthumb sich ein Hertz auff Gott Verl(st/ bey Reichthumb seiner spott.344

So bietet die vermeintliche Milchsuppe, die eine Weinsuppe war, Büttner den Raum, um sich allgemein gegen Neuerungen, die eben auch das Essen betreffen, auszulassen: Das Naschen nimpt hin Gelt vnd Gut/ Verderbt im Leib das Marck vnd Blut. Man braucht so seltzam Speiß vnd Tranck/ Solt man nicht werden Siech vnd Kranck?345

Einen großen Umfang innerhalb der Lehren nehmen die Fragen zur Normsetzung und Disziplinierung im öffentlichen und privaten Bereich ein. Themen sind hier unter anderem das richtige Verhalten gegenüber der Obrigkeit und die christliche Haushaltung, wobei hier vor allem Ehefragen, der Umgang mit Knechten und die Erziehung der Kinder im Mittelpunkt stehen. Öffentliches und privates Leben werden immer wieder miteinander verzahnt betrachtet. Auch wirtschaftsethischen Erörterungen wird in den Lehren Raum gegeben wie beispielsweise in der Historie, in der der Narr eine Mandel Eyer,346 d. h. 15 Eier, für drei Pfennige zu teuer findet und für die gleiche Summe lieber einen Stall mit Pferden kaufen möchte: Die Narren Red darzu sich reimbt/ Jm Kauff sich Geldt vnd Wahr vereint/ Die Marck vnd Kauff Gerechtigkeit/ Jm handlen helt kein vnderscheid. Dem Bawer wie dem BFrger leist/ Nach Art vnd Maß Proportz gewicht/ Ohn diß viel vngleichs vnd b=ß geschicht. Clauß meint/ ein Stall voll stoltzer Roß/

343 344 345 346

Büttner: Büttner: Büttner: Büttner:

Historien Historien Historien Historien

von von von von

Claus Claus Claus Claus

Narren, Narren, Narren, Narren,

IV, 4, S. 59. II, 1, S. 20. I, 16, S. 13. IV, 37, S. 92.

146 Sey besser dann ein Korb mit NFß/ Drumb solt man die Roß kauffen baß/ Denn ein Eyerkorb zu kauffen was.347

Ein ebenfalls wiederkehrendes Thema sind Fragen nach Herrschaftssicherung und Normdurchsetzung und dabei vor allem die immer wieder hart geforderte Bestrafung von Delinquenten. Zum Beispiel will Claus Narr nicht eher seinen Hut an einen Nagel hängen, ehe nicht mit allen Dieben gleichermaßen verfahren werde. In diesem Fall streicht die Lehre nur die Richtigkeit des närrischen Ausspruchs heraus: Man straff vnd henck den/ ders verdient/ Vnd schFtz Wittfrauwen arme Kind/ Nemm sich der frommen Nottufft an/ Das heißt die Schrifft selbst wolgethan. Ein Dieb fFrwar man nicht baß ehrt/ Denn wenn man jm das stelen wehrt/ Henckt jn an Galgen oder Eych/ Man straffe jhn nur es gilt gleich.348

Hierhin gehört ebenso das immer wieder geforderte standesgemäße Verhalten, das anhand der bereits erwähnten Historie diskutiert wird, in der Claus einem höherstehenden Herrn nicht die Hand reichen will, weil dieser eine vermeintlich grössere Hand habe: An diesem Wort faß vnd merck. Daß dir nicht ziemen alle werck/ Auch nicht zu jedem dich gesell/ Vnd dich zu deines gleichen stell. Denn wer vber sich schneidt vnd segt/ Der Wind dem speen ins Angesicht weht.349

Doch die Lehren des Narren reichen über die Reglementierungen und Normierungen des Alltagsleben weit hinaus. Der von Claus liegengelassene Hut, der trotz des Narren Wunsch nicht freiwillig zu ihm zurückkehrt, wird zu dem Rat genutzt, nicht nach irdischem Gut zu streben, sondern, ganz dem protestantischen Frömmigkeitsideal entsprechend, sich auf Christus zu verlassen. Laß fahren hin was nicht seyn kan/ Vnd nimm dich vmb das gewißte an/ Nimpt man dir hin gleich deinen Leib/ Vnd jagt dich weg von Kind vnd Weib/ So halt das Haupt fest/ gewiß vnd fast/ Von Christo dich nicht treiben laß.

347 348 349

Büttner: Historien von Claus Narren, IV, 37, S. 92. Büttner: Historien von Claus Narren, II, 16, S. 31. Büttner: Historien von Claus Narren, II, 9, S. 26.

147 Nicht sihe dich vmb nach deinem Gut/ Laß fahren/ Mantel Rock vnd Hut.350

Das Dulden und Leiden in der irdischen Welt wird allegorisch mit der blutenden Nase des Narren gleichgesetzt und als Ideal angepriesen: Wer dult vnd leidt/ vnd sucht nicht Rach/ Der folget diesem Clausen nach/ Die Rach deß Herren Hand behelt/ Der strafft daß Hut vnd Haar abfellt.351

Die Verwunderung des Narren, warum ein Koch über den Tod seines Fürsten, aber nicht über den seines Vaters trauert, dient einem allgemeinen memento mori und der Erinnerung, dass alle im Tod gleich seien: Es stirbt der klein/ dem folgt der groß/ Wir sterben alle nackend vnd bloß/ Vnd wie wir seynd geboren ber/ Also wir sterben/ bloß vnd leer/ Der Reich sich nicht abkauffen kan/ Der starck muß mit dem Krancken dran.352

Auch Polemiken sowohl in der Auseinandersetzung mit Glaubensgegnern – sei es die katholische Kirche oder seien es von der Lehrmeinung abweichende Auffassungen innerhalb der protestantischen Kirche, auf die Büttner ja verschiedentlich in seinen Werken Bezug nimmt – sind Gegenstand der Moralisatio. Man sol mit fleiß abraumen/ das Gesundter Lehr entgegen was/ Damit vns Menschen Lehr nicht stFrtz/ Vom Leben/ vnd in Todt vns hFrtz. Wer auch zu Ehren kommen wil/ Der meng sich nicht in alle Spiel. Raum ab/ vnd meid das leicht Gesind/ Davon man kein gut Lob gewinnt/ Sonst bricht man leichtlich Halß vnd Bein/ Vber ein Klotz oder ein Stein.353

Die Historien, in denen in der Lehre der Narr gerügt und sein Verhalten als närrisch herausgestrichen wird, umfassen nur eine kleine Anzahl. Oft wird dabei nicht der Name von Claus Narr eingesetzt oder aber es wird die Historie mit dem Zusatz adiectum gekennzeichnet. Meist sind es religiöse Themen, bei denen die närrische Handlung in der Lehre korrigiert wird. In einer solchen Historie wun-

350 351 352 353

Büttner: Historien von Claus Narren, I, 17, S. 13f. Büttner: Historien von Claus Narren, II, 5, S. 23. Büttner: Historien von Claus Narren, I, 11, S. 9. Büttner: Historien von Claus Narren, I, 14, S. 29f. Klotz ist ein häufig in der Auseinandersetzung mit Flacius verwendeter Begriff.

148 dert sich Claus einmal über die an den Ärmelaufschlägen eingestickte Devise V.D.M.I.AE. – Verbum Domini Manet In Æternum – denn er glaubt zwar, dass Gottes Wort in ewigkeit bleibe,354 jedoch bezweifelt er, dass es auff deinem Rock wirdt vber zwey Jahr bleiben.355 Das Misstrauen des Narren in die Haltbarkeit seiner Kleidung im Zusammenhang mit diesem Motto muss in der Lehre richtig gestellt werden, denn Büttner versucht jeden Glaubenszweifel auszuräumen: Clauß ist der meynung vnd im sinn/ Die Buchstaben verfallen hin/ Vnd kommen vmb wenn reist der Rock/ Vnd bleibt doch ewig Gottes Wort/ Jn dem vns Herr erhalt zum end/ Faß vnser Seel in deine H(nd/ Vnd vns dein Vatterland zu fFhr/ Darzu du bist der Weg vnd ThFr.356

Einige Lehren bewerten Schlüsse des Narren als falsch und bieten stattdessen eine bessere Lesart des Geschehens an wie im Fall des Hundes, der nach Aussage des Narren eine große Frau als Mutter haben soll: Clauß meynt/ der Hund sey schrecklich b=ß/ Sein Mutter sey zw=lffmal so groß. Das laut wie man zu sagen pflegt/ Der Sohn seim Vater nachgeredt/ Vnd ist ein Schalck/ gleich wie auch was Ein Schalck sein Vatter/ nicht ist das/ Beim frommen Vatter offt man findt/ Ein vngerahten Teuffels Kindt/ Zuweil ein b=ser Vatter zeucht Ein Sohn/ der Ehr vnd Gut erreicht. Darumb von Rindvieh recht man spricht/ Die art ist gut/ vnd wol sich zicht/ Der Mensch hat viel ein andre Weiß/ Dort ist Natur/ hie kunst vnd fleiß.357

Die letzten Zeilen der Lehre enthalten implizit eine Entschuldigung des Narren, der als natürlicher Tor ja mehr der Natur und weniger der Gelehrsamkeit verpflichtet sei. Nach dem Hören eines Weihnachtsliedes glaubt der Narr einmal von einer Tugendtvesten vnnd Edlen Jungfrawen,358 sie habe ein Kind geboren, da sie ebenfalls Maria hieß. In der Lehre dazu heißt es:

354 355 356 357 358

Büttner: Büttner: Büttner: Büttner: Büttner:

Historien Historien Historien Historien Historien

von von von von von

Claus Claus Claus Claus Claus

Narren, Narren, Narren, Narren, Narren,

XI, 31, S. 338. XI, 31, S. 338. XI, 31, S. 338. II, 13, S. 29. III, 7, S. 40.

149 Wer vns das Kindlein nicht geborn/ So wern wir allzumal verlorn. Davon der Alber Clauß so redt/ Wie ers vernimmet vnd versteht. Eim frommen Christen doch ich ried/ Daß er Gottes Wort verlachte nit.359

Eine weiteres Verfahren, Erzählung und Moral miteinander zu verbinden, besteht über die mit dem Narren agierenden Protagonisten. Diese verhalten sich meist ungebührlich gegenüber Claus Narr und werden dementsprechend in der Lehre gerügt. Dabei kann, wie in den Fällen, in denen der Narr als positives Beispiel agiert, nun aber in Form einer Negativdidaxe, sowohl das konkrete Verhalten der Gegenspieler von Claus kritisiert werden, wie auch dieses auf eine allgemeine Situation übertragen werden. So wird Claus einmal von einem ungenannten Gesprächspartner beschuldigt, dass er ein Vnkindt360 sei, worauf der Narr antwortet, dass er zwar nicht wisse, wer er sei, aber wenn du meine vnd deine Mutter fragtest/ die wFrden vns berichten/ was wir beyde fFr Reuter weren.361 Kritisiert in der Lehre wird der Angriff auf den Narren und es wird die Empfehlung ausgesprochen, jeden so bleiben zu lassen, der er ist.362 In einer geringeren Anzahl von Fällen wird in der Lehre relativ willkürlich auf den Inhalt der Historie zurückgegriffen und stellt eher nur eine Assoziation zum Erzählten dar. Dann dient die jeweilige Situation, in der sich der Narr befindet, lediglich als Stichwortgeber für die Didaxe. Die thematische Verbindung zwischen Narratio und Lehre besteht dabei nur sehr lose wie in der ersten Historie, die von keiner närrischen Handlung des Narren erzählt, sondern nur seinen Namen, seinen Geburtsort und seinen Beruf angibt. Die Lehre selbst greift die Herkunft des Narren und seine Arbeit als Gänsehirt als eine allgemeine Aufforderung auf, sich standesgemäß zu verhalten.363 Das Verfahren von Büttner, Narratio und Moralisatio miteinander zu verschränken, fußt auf der Zweiteilung von natürlicher Narrheit, wie sie in Gestalt von Claus Narr in den Schwänken erscheint, und allgemein menschlicher Narrheit in den Lehren. Diese Schnittstelle zwischen den beiden Narrheiten wird über das Lachen miteinander verbunden. Indem man zunächst über den vermeintlich einfältigen Narren lacht, offenbaren sich allgemeine menschliche Fehler und Schwächen. Dieses Modell mutet paradox an, da im Normbruch des natürlichen Narren gleichzeitig normative Verhaltensvorschriften für die Allgemeinheit enthalten sind. Ermöglicht wird diese Öffnung der Figur des natürlichen Narren

359 360 361 362 363

Büttner: Historien von Claus Narren, III, 7, S. 40. Büttner: Historien von Claus Narren, I, 4, S. 4. Büttner: Historien von Claus Narren, I, 4, S. 4f. Büttner: Historien von Claus Narren, I, 4, S. 5. Vgl. Büttner: Historien von Claus Narren, I, 1, S. 1.

150 über die mit der natürlichen Narrheit verbundenen Vorstellungen, wie sie vor allem in den Narren in Christo zu finden sind.364 Dieses Verfahren wird bereits in der zweiten Historie des ersten theils deutlich. Der für Büttners Werk überdurchschnittlich lange Prosateil erzählt, wie der Narr aus Unwissenheit die Gänse erstickt, die er hüten soll. Übersetzt wird diese närrische Handlung in der Lehre für die Allgemeinheit: Wer ist der heut die G(nß ersteckt? Der neuwe monier vnd Kleidung tregt/ Vnd helt nicht ziel/ trifft keine Maß/ Von dem sagt man/ ein Narr ist das/ Mit wollust seinem Fleisch hofiert/ Sein Gelt vnd Gut in staub verjrrt.365

Die Trennung zwischen natürlicher Narrheit von Claus und moralischer Narrheit wird zusätzlich noch durch eine zeitliche Grenze zwischen einer vormals existierenden Zeit, in der es in der Imagination nur solche Narren wie Claus gegeben habe, und der heutigen Zeit mit ihren neuen Moden und den überall erscheinenden Narrheiten unterstrichen.366 Reimform und Wortwahl gleichen hier der Definition des Narren aus Brants Narrenschiff. Bei Brant werden ebenfalls diejenigen als Narren verstanden, die nicht moß vnd zyl367 halten können. Die zu Beginn der Historien von Claus Narren und damit an prominenter Stelle stehende Beschreibung des Narren weist meines Erachtens nicht zufällig Gemeinsamkeiten mit Brants didaktischem Werk auf. Auf die im Narrenschiff aneinandergereihten Narrenfiguren, die eben nicht auf hierarchisch geordneten Sündenlehren und Lasterkatalogen fußen, sondern Normabweichungen aller Art versammeln, die unabhängig von der gesellschaftlichen Zugehörigkeit sind, baut Büttner in seinen Lehren auf. Auch er warnt vor Völlerei und Prasserei, denn viel sauffen schnellen Todt dir bringt.368 Er klagt diejenigen an, die zu schnell zornig werden oder geizig sind und fordert gleichzeitig zur Geduld auf. Die dicta et facta des Narren sind permanente Inszenierungen eines Normbruchs, der aber nicht negativ bewertet wird, sondern Anlass zur Belehrung gibt. Am Ende der Vorrede ruft Büttner vor allem die kurfürstlichen Diener dazu auf, die Historien weiter fortzuschreiben, denn er glaube, dass sein Buch nach

364 365 366

367 368

Vgl. auch unten, S. 224ff. Büttner: Historien von Claus Narren, I, 2, S. 3. Vgl. auch Büttner: Historien von Claus Narren, VIII, S. 228: »Wenn niemand nart denn solche Leut/ Wie Clauß auch war zur selben zeit/ So giengs baß in der Christenheit/ Vnd hFlff mich auch vmb ein neuw Kleid/ Damit der Narr mein spotten kan« Brant: Narrenschiff, 75, S. 194, Z. 58. Büttner: Historien von Claus Narren, I, 7, S. 7. Vgl. auch weiterhin I, 8, 9, S. 7f.

151 kurtzer zeit/ [...] zu herrlicher Proceritet oder gr=sse steigen369 werde. Zwei Einschränkungen macht Wolfgang Büttner jedoch bei dieser Aufforderung. Zum einen sollen Clausen keine vnzFchtige Wort/ noch str(ffliche werck nachgesagt370 werden, da Claus niemals so etwas getan habe. Zum anderen sollen die Schwänke von Claus nicht in Zusammenhang mit vnzFchtigem Geschmeisse/ das von andern Hoffthoren geredet/ oder gethan/ auch wol in vnehrsamen Schande/ vnd abschewlichen Laster=rtern m=chte entdichtet371 sein, gebracht werden. Die positive Sicht auf den Narren verträgt sich in keiner Weise mit anderen Narrendichtungen, die Büttner als die vnzFchtigen/ Eulenspiegelen Lepperey/ vnd andere Schandgedichte372 schmäht. Die Historien von Claus Narren werden damit von anderer fiktionaler Literatur abgegrenzt. Büttner setzt Claus Narr als eine historische Figur ein, von der er nur den Anfang des Erzählens gemacht habe: Nicht aber/ daß der auffrichtige Ehrenleser gedencken wolt/ als daß jm von mir/ in diesem Clausen Buch/ alle vnd jede wort vnd schw(nck/ die da Clausen zugeplatzet/ vnd abgemerckt worden/ in gemein weren vermeldet vnd describiret.373

Die Analyse des Aufbaus der Historien von Claus Narren sollte verdeutlichen, dass entgegen anderweitigen Annahmen auch diesem Werk Büttners eine Ordnung zuzuschreiben ist, die sich auf eine gewisse thematische Gliederung der Kapitel, auf die Abfolge der Historien und auf den Aufbau der einzelnen Historien erstreckt. Der Text dient nicht nur der Belehrung, sondern kann auch als ein poetologischer Versuch verstanden werden. Die Aufforderung Büttners, den Text fortzuschreiben, stimuliert den Leser dazu, beispielhaft dem von Büttner entworfenen poetologischen Modell zu folgen. Die Rezeptionsgeschichte der Historien von Claus Narren zeigt jedoch, dass Büttner mit seinem Versuch allein blieb, sein Werk mit 27 Auflagen und vielfachen wörtlichen Übernahmen von einzelnen Historien und ihren Lehren aber durchaus Erfolg hatte.374

3.3

Die thematisch geordneten ›Theile‹ der ›Historien von Claus Narren‹

Anhand der thematischen Kapitel in den Historien von Claus Narren kann exemplarisch nachvollzogen werden, in welcher Breite Wolfgang Büttner den Narren einsetzt, um die moralischen Belehrungen wirken zu lassen. Dabei werden im Folgenden diejenigen der 16 theile vorgestellt, die sich an eine topische

369 370 371 372 373 374

Büttner: Historien von Büttner: Historien von Büttner: Historien von Büttner: Historien von Büttner: Historien von Vgl. unten, S. 236ff.

Claus Claus Claus Claus Claus

Narren, Narren, Narren, Narren, Narren,

Bl. A vjv. Bl. A vjv. Bl. A vjv. Bl. A vv. Bl. A iiijvf.

152 Teilordnung anlehnen. Damit können zum einen Fragen nach dem spezifischen Aufbau einiger ausgewählter Kapitel geklärt, Themenschwerpunkte Büttners stärker illustriert und vor allem die Konzeption der Narrenfigur nachvollzogen werden.

3.3.1 I. ›Theil‹: ›Von Clausen Vrsprung‹ Das erste Kapitel der Historien von Claus Narren kündigt im Titel an, von Clausen Vrsprung/ vnd wie er in der jugend geredt vnd gethan375 zu erzählen. Das Herkommen des Narren, das in den ersten sechs Historien erörtert wird, bereitet den Raum für die darauf folgenden Historien, die sich mit der Natur und dem Habitus des Menschen allgemein beschäftigen und damit das im Titel genannte Thema nicht nur allein auf den Narren beziehen. Die Herkunft des Narren ist Inhalt der ersten Historie. Der Titel Ranstedt376 nennt den Geburtsort, in dem Claus als ein Gänsehirt gelebt hat und von Armen vnd von einfeltigen Leuten geboren377 worden sei. Die Nennung des Geburtsortes gehört zu den Legitimationsstrategien, wie sie in den Wunderzeichenberichten verwendet werden, um wunderbare Erscheinungen und Lebewesen zu bezeugen.378 Die folgende zweite und über Büttners Werk hinaus berühmte Historie kommt noch einmal auf das Herkommen des Narren zurück. Hier wird in einer für die Historien von Claus Narren unüblichen Länge und Ausführlichkeit erzählt, dass der Vater von Claus, ein nicht näher benannter Bawer379 eines Dorfes im Land zu Meissen,380 froh war, als der Hochgeborne FFrst/ Hertzog Friderich381 den Narren geschenkt haben wollte. Claus erweist sich als Narr, weil er alle Gänse, die er hüten sollte, in seinen Gürtel steckte – die dadurch erstickten –, um schnell zu dem Platz zu gelangen, an dem der Fürst vorüberfuhr. Die wirtschaftliche Unverwertbarkeit des närrischen Sohnes bewirkt, dass der Vater deß wol zu frieden382 war, denn nach seinen eigenen Aussagen ist Claus Narr jm nichts nFtz/ denn daß er jm zu zeiten nur vile vngerechts jn dem hause machte.383 Diese Historie kann exemplarisch für die ›Entdeckung‹ eines natürlichen Narren stehen: ein bis dahin unbekannter, meist aus bäuerlichem Milieu stammender Mensch weist sich durch ein auffälliges Verhalten aus und wird als Narr für den Hof gedungen. Die einfache Herkunft – oft als Hirte – gehört zur Typologie des natürlichen Narren.

375 376 377 378 379 380 381 382 383

Büttner: Historien Büttner: Historien Büttner: Historien Vgl. oben, S. 83. Büttner: Historien Büttner: Historien Büttner: Historien Büttner: Historien Büttner: Historien

von Claus Narren, I, S. 1. von Claus Narren, I, 1, S. 1. von Claus Narren, I, 1, S. 1. von von von von von

Claus Claus Claus Claus Claus

Narren, Narren, Narren, Narren, Narren,

I, I, I, I, I,

2, 2, 2, 2, 2,

S. 3. S. 1. S. 1. S. 3. S. 3.

153 Weitere Historien des ersten theils, die vom Herkommen des Narren sprechen, legen dem Narren unlogische Verwandtschaftsbeziehungen in den Mund, die aber in der Lehre teilweise zugunsten des Narren wieder aufgelöst werden. So kritisiert die Moralisatio den Leser, wenn er über die Antwort des Narren auf die Frage nach dem Namen seines Vaters lachen sollte, nämlich dass sein Vater wie sein Großvater geheissen habe und gleichzeitig der Vetter seines Vaters und sein eigener Schwager sei: Dich deiner Freundschafft nicht beschem/ Ob gleich dieselben Bettlen gehn/ Clauß kompt von armen Leuten her/ Mit diesem Wort anrFhret er: Jch den/ der seinen Vatter scheucht/ Eim wilden Thier im Wald vergleich.384

Das erste Kapitel schildert mit Clausen Vrsprung nicht nur die Herkunft dieses Narren, sondern erweitert dieses Thema hinsichtlich des richtigen Maßes, das im Leben gefunden werden muß und für das Claus Narr als Exempel herhält. Büttner nutzt dazu gleich die erste Historie, die ohne weitere Handlung vom Geburtsort und dem Beruf des Narren als Gänsehirt erzählt, um den Leser zu warnen, dass er sich nicht über seinen Stand erheben soll: Wenn jeder thut was jm gebFrt/ Der hat sein Wandel recht gefFhrt/ Wie vns der G(nßhirt Clauß probiert/ Vnd jeden seim Stand nach gehn lehrt.385

In den auf die Herkunft folgenden weiteren Historien des ersten theils trifft Claus Narr in einer Vielzahl von unterschiedlichen Situationen – analog zu den unsinnigen Aussagen über seine Familie – Feststellungen, die sich thematisch auf das Essen und Trinken sowie die Kleidung beziehen. Ein Teil von ihnen weist deutliche Bezüge zu Fragen nach der Natur und Gewohnheit des Menschen auf und knüpft damit sowohl an die Prosateile der ersten Historien an, die die Herkunft des Narren erläutern, wie auch den dazugehörigen Lehren, die allgemein auf Standesfragen und das angemessene Benehmen zielen. Die närrischen Aussagen zum Alkohol, der sich als Tod im Krug oder hinter bunten Kühen in einer Weinsuppe versteckt, dienen als Warnung vor schlechten Gewohnheiten, die dazu führen würden, dass der Mensch b=ß Natur/ auch habitum386 bekäme. Vergleichbare Mahnungen gelten demjenigen, der zehrt vnd prast ohn weiß vnd Maß,387 da alle Nascherei Gut vnd Nahrung388 nehmen würde; stattdessen sei

384 385 386 387 388

Büttner: Büttner: Büttner: Büttner: Büttner:

Historien Historien Historien Historien Historien

von von von von von

Claus Claus Claus Claus Claus

Narren, Narren, Narren, Narren, Narren,

I, I, I, I, I,

5, 1, 7, 9, 8,

S. 5. S. 1. S. 7. S. 8. S. 7.

154 der Empfehlung des Narren zu folgen, den Menschen ein verdorbenes Essen erst dann vorzusetzen, wenn sie alle hungrig sind, denn kein Speiß noch Kost eim baß bek=mpt/ denn die man hungrig zu sich nimpt.389 Die rechte mâze wird in diesem ersten Kapitel der Historien von Claus Narren nicht nur im Bezug auf Essen und Trinken verhandelt. Fragen nach angemessenen Strafen bilden einen weiteren Schwerpunkt der Historien und der dazugehörigen Lehren. Einem Vater, der seinen Sohn mit Fußtritten strafen wollte, rät Claus, zuvor doch erst die Schuhe auszuziehen, um den Zorn verrauchen zu lassen. Die Lehre unterstützt die Sicht des Narren und führt in der Moralisatio die Narratio weiter fort: Diß wort also man redt vnd meynt/ Wenn wir ergrimmt vnd zornig seynd/ Jm zoren theten das nicht dient/ Weil man sich nicht im grimm besinnt/ Daß man jm weil darzu erwehl/ Vnd mit der straff sey nicht zu schnell390

Gleichzeitig wird auch die rechte Bestrafung von Übeltätern in den Lehren gefordert.391 Der Narr, der eine brennende Kohle von seinem Rock in dem Moment schüttelt, in dem sie ihm die Haut verbrennt, dient als Beispiel für den richtigen Umgang mit Kontrahenten: Dieweil du kanst trag deine Feind/ Die dir abhold vnd neidisch seynd/ Doch daß er dich nicht beiß noch plag/ Kein Gsellschafft mit im hab vnd trag.392

Nur lose verknüpft mit den Fragen nach Herkunft, Gewohnheiten und dem rechten Maß sind weitere Historien des ersten theils, die jedoch einen breiten Einblick in die närrischen Verhaltensweisen geben, bei denen der Narr nicht nur eine große Glocke für eine Schelle an einer Narrenkappe hält, sondern auch Gegenstände verschiedener Art personifiziert, die alle verschiedene Anlässe für Belehrungen geben. Einen Bogen zur zweiten einführenden und ausführlich erzählten Historie spannt die letzte, in der Claus Narr sich über einen jungen Mann wundert, der wie ein bundter Vogel393 gekleidet ist. Die in der Lehre von jedem Menschen geforderte vernFnfftig bscheiden red394 kann als die Quintessenz des ersten Kapitels der Historien von Claus Narren gelten, die in den närrischen Handlungen des Narren Verhaltensregeln für ein maßvolles und ausgeglichenes Leben sucht.

389 390 391 392 393 394

Büttner: Historien von Claus Narren, I, 20, S. 15. Büttner: Historien von Claus Narren, I, 24, S. 18. Vgl. Büttner: Historien von Claus Narren, I, 14, S. 11. Büttner: Historien von Claus Narren, I, 15, S. 12. Büttner: Historien von Claus Narren, I, 26, S. 19. Büttner: Historien von Claus Narren, I, 26, S. 19.

155

3.3.2 III. ›Theil‹: Claus Narr im Jahreslauf Das dritte Kapitel ist am stärksten gegliedert, weil es dem Jahresablauf, beginnend mit dem Martinstag, folgt. Schmitz sieht in der Annahme, Gewohnheiten seien in der Lage, das Wesen des Menschen zu verändern, auch den Grund, weshalb der dritte theil der Historien von Claus Narren zeitlich strukturiert ist: Indem er [Büttner, RvB] auf diese Weise zeigt, daß der Narr sich das ganze Jahr hindurch närrisch aufführt, möchte er wohl zugleich auch suggerieren, daß eben durch dieses lange andauernde, zur Gewohnheit werdende närrische Verhalten die Narrheit, wie dies die Kapitelüberschrift ja auch ankündigt, immer weiter zugenommen habe, d. h. Claus immer mehr in seine Rolle hineingewachsen sei.395

Die Gewohnheit, die zu einer zweiten Natur wird, ist gerade im Bezug auf die Narren ein wiederkehrendes Thema, das ganz herausgehoben im Lalebuch verhandelt wird: Die Lalen waren handlich daran mit jhrer Narrey/ vnnd trieben solche so viel/ daß sie es in Gewonheit brachten. Vnd wie sie am ersten auß zeittigem vnnd wolbedachtem rhat die Thorheit angefangen hatten/ also schlug sie jhn hernach in jr Natur vnd Art/ also daß sie fFrohin nicht mehr auß Weyßheit Narrey trieben/ sonder auß rechter erblicher angeborner Thorheit. Vnd wer hie diesen spruch/ Consuetudo est altera Natura (dz ist: Was gwohnet ward/ Schlegt in die Art) nit glauben w=lte/ der wurde von disen Bauren vberzeugt worden ... 396

Hat Büttner bereits im ersten theil verschiedentlich vor den schlechten Gewohnheiten gewarnt, die den Menschen nachhaltig verändern würden, erklärt er in seiner Dialectica Deutsch den Habitus damit, dass es eine geschickligkeit [ist]/ die dem Menschen hernach anklebt vnd anhenget/ als were es jm von Natur angeboren.397 Doch während die Narrheit für die Lalen zu einer zweiten Natur wird, die sich dann kaum mehr von einer angeborenen – natürlichen – Narrheit unterscheidet, ist Claus Narr, wie es Büttner in der Vorrede mehrmals betont, bereits von Geburt an ein Tor. Unabhängig vom Jahresablauf verhält Claus sich närrisch, seine mentale Differenz ist permanent. Im Ablauf der Historien des dritten theils, gleichwohl sie zeitlich strukturiert sind, ist nicht zu erkennen, dass sich die Narrheit in irgendeiner Form steigert. Dem Narren fehlt bereits zu Beginn, d. h. zum Martinsfest, das Verständnis und das Wissen um die Bräuche mit der Martinsgans. Die Unwissenheit bleibt durchgehend bis zum Ende des Kapitels erhalten, an dem der Narr sich während des Johannisfestes beklagt,

395 396

397

Schmitz: Wolfgang Büttners Volksbuch von Claus Narr, S. 47f. Das Lalebuch. Nach dem Druck von 1597 mit den Abweichungen des Schiltbürgerbuchs von 1598 und zwölf Holzschnitten von 1680. Hg. von Stefan Ertz. Stuttgart 1993, S. 109. Siehe auch S. 51f. und S. 138. Vgl. ebenso auch Brant: Narrenschiff, 49, Z. 31. Weitere Hinweise bei Schmitz: Physiologie des Scherzes, S. 177–183. Büttner: Dialectica Deutsch, Bl. D 6r.

156 daß man so viel gut Bier verbrennet,398 denn er meint, es were Bier in den Fassen/ vnd das Bier brFnne.399 Ebensowenig verweisen die Lehren auf einen progredienten Verlauf der Narrheit. Die zeitlichen Kategorien in diesem Kapitel dienen vielmehr als thematische Anregungen für die Historien. So finden sich im dritten theil viele Historien, die Elfriede Moser-Rath brauchgeschichtlich als interessant bewertet, weil sie sich mit Festen und Gewohnheiten im jahreszeitlichen Wechsel befassen.400 Vier Historien beschäftigen sich mit den Neujahrsbräuchen am Hof. Dabei stehen vor allem die zu verteilenden Gaben im Vordergrund. In der frühen Neuzeit war es noch üblich, sie am Neujahrstag zu bescheren, da es zu Weihnachten keine Geschenke gab.401 Der Fürst theilet den Hofdienern das newejahr auß402 und Claus fragt ihn daraufhin: lieber sagt mir/ wie offt kompt das newe Jahr in einem Jahre?403 Als ihm der Bescheid gegeben wird, das neue Jahr komme nur einmal im Jahr, ist er beruhigt und antwortet: wenn es =ffter k(me/ so mFstestu auch =ffter außtheilen/ vnd wFrdest nicht viel behalten.404 Auch hat der Narr kein Einsehen, dass man zu zeiten m(ssig405 leben solle. Er erklärt stattdessen, es gäbe Fleisch an den verbottenen tagen406 nur deshalb nicht, weil die Köche f=rchten der Rauch fresse sie/ vnd sie mFssen in dem Feuwer ersauffen.407 Claus Narr äußert verschiedentlich Unverständnis über wiederkehrende Festtage. Noch stärker betonen die Historien das differente Zeitgefühl des Narren, wenn historische Prozesse veranschaulicht werden. Claus wundert sich darüber, dass Sanct Martin408 als spendabler Geber nicht mit am Tisch sitzt, um die Martinsgans zu essen. Gemäß dem antijüdischen Topoi vom Gottesmord glaubt er desweiteren nach einer Predigt über die Kreuzigung Christi, dass die tatsächlichen M=rder409 immer noch im Land leben würden und die Lehre stellt erst wieder die historische Distanz her, denn je schneller Straff/ je gr=sser Gnad/ Gotts langsam Straff/ ist Seelen schad.410 Claus Narr bereut es sogar, dass er Jesus bei dessen Einzug

398 399 400

401 402 403 404 405 406 407 408 409 410

Büttner: Historien von Claus Narren, III, 18, S. 50. Büttner: Historien von Claus Narren, III, 18, S. 50. Elfriede Moser-Rath: Claus Narr. In: Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Begründet von Kurt Ranke. Hg. von Rolf Wilhelm Brednich. Bd. 3. Berlin, New York 1981, Sp. 74–77. Vgl. Richard van Dülmen: Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit. Bd. 2: Dorf und Stadt 16.–18. Jahrhundert. München 21999, S. 134. Büttner: Historien von Claus Narren, III, 3, S. 36f. Büttner: Historien von Claus Narren, III, 3, S. 37. Büttner: Historien von Claus Narren, III, 3, S. 37. Büttner: Historien von Claus Narren, III, 21, S. 51. Büttner: Historien von Claus Narren, III, 21, S. 52. Büttner: Historien von Claus Narren, III, 21, S. 52. Büttner: Historien von Claus Narren, III, 1, S. 35. Büttner: Historien von Claus Narren, III, 13, S. 45. Büttner: Historien von Claus Narren, III, 13, S. 46.

157 in Jerusalem nicht sein Pferd habe leihen können, auch wenn er selbst hette zu fusse lauffen411 müssen. Weder die reversible Zeitbewegung, die »Wiederkehr von festen Zeitstrecken«412 wie die eines Tages oder eines Jahres, ist dem Narren vertraut, noch die irreversible Zeitbewegung einer Geschichtszeit, die eben nicht wiederholbar ist und damit Ereignisse wie Passion und Kreuzigung zu einem einmaligen Geschehen in der Vergangenheit werden lassen. Die Lehren dagegen bieten Raum, um anhand des Jahresablaufs den Leser zu unterweisen. So werden allgemeine Ratschläge gegeben, die das vernünftige Haushalten und den sozialen Umgang miteinander betreffen. Man solle beispielsweise das recht maß413 halten, wenn Gaben verteilt werden und nicht zu viel verprassen: Wer r(htlich ist/ auffhebt vnd spart/ Der findt vnd hat/ wenns vbel jahrt/ Schlegt man die Zeen dann in die Wend. Vnd kompts daß man bedarff auff borg/ Vor vns nicht einer ist der sorgt.414

Auf die zeitliche Thematik nehmen die Lehren vor allem Bezug, wenn es um rituelle Abläufe geht. So wird das Verbot, Fleisch an bestimmten Tagen zu essen, nicht mehr religiös motiviert, sondern soll dem Koch und der Mäßigung zuliebe eingehalten werden: Fleisch alle tage man nicht speist/ Das dient dem Koch/ daß jn nicht beist/ Jn seine Augen sehr der Rauch/ Denck du daran es dient vns auch/ Wenn man zu zeiten m(ssig lebt/ Jns Hauß es nutz vnd frommen tregt.415

An anderer Stelle wird explizit Bezug genommen auf katholische Rituale, die einen willkommenen Anlass zu einer antikatholischen Polemik in der Lehre bieten wie in der Historie, die auf das Auspeitschen am Tag der Unschuldigen Kinder hinweist: Kindtlein Tag Jm Bapsthumb hat man an der VnschFldigen Kindlein Tag das Gesinde mit der Gerten auffgewecket/ Also wolten sie Clausen auch im Bette steupen/ Da fraget er: Wie ist jm denn nun? Hat man aber kindlein erstochen? Man antwortet jhm: Nein Clauß/ es

411 412 413 414 415

Büttner: Historien von Claus Narren, III, 19, S. 50 Wolfgang Kaempfer: Zeit. In: Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie. Hg. von Christoph Wulf. Weinheim, Basel 1997, S. 179–197, hier S. 182. Büttner: Historien von Claus Narren, III, 3, S. 37. Büttner: Historien von Claus Narren, III, 2, S. 36. Büttner: Historien von Claus Narren, III, 21, S. 52.

158 sind keine mehr erstochen/ Mann steupet dich aber/ vmb der heiligen Kindlein willen/ die Herodes erstechen ließ. Clauß ward zornig/ vnd sprach: Darumb hat man mich vor einem Jahre einmal gesteupet/ last mich kurtzvmb zu frieden/ oder es wird nicht gut werden/ jr mFst nicht alle jahr ein Narren an mir haben. BFrger Lehre. Was ist gestraffet vnd verpent/ Jst vnrecht/ wenn mans arg gewehnt. Es ist auch Narrenwerck vnd Tant/ Wenn man ohn wort/ Beyspiel nachant/ Der Kindlein Blut ist frisch vnd grFn/ Bey Gott im fried/ vnd leben jhm.416

Während die Osterbotschaft, über die sich der Narr freut, in der Lehre nochmals bekräftigt wird,417 kämpft der Narr in der Historie Clauß fichtet in der Kirchen418 gegen den an Karfreitag üblichen Lärm im Gotteshaus, und die Lehre pflichtet ihm in seinem Bemühen gegen die katholischen Priester bei: Was wird mir hiermit angezeigt? Daß nichts an M=nch vnd Pfaffen leit: Die schmirt vnd balsamirt der Bapst/ Sie sind der Welt ein schwere Last/ [...] Wie jre Kunst ist gangen ab/ An diesem Clausen P=ßlein hab. Jm Koth ligt jre Witz vnd Tandt/ Jr Heucheley ist gnug bekannt.419

Der Ablauf des Jahres steigert nicht die Narrheit von Claus Narr, denn er bleibt durch das Jahr hindurch der Mahner, der die fest eingefahrenen Riten hinterfragt. Im Gegensatz zu anderen Formen von Narrheit, die wie die Fastnachtsnarren an zeitliche Räume gebunden sind, erscheint die Torheit von Claus als konstant. Der dritte theil illustriert damit die natürliche Narrheit als eine permanente mentale Devianz. Die Lehren des dritten theils erläutern, warum es notwendig ist, die Bräuche einzuhalten oder aber auch nicht mehr zu feiern. Die Erklärungen sind dabei vor allem utilitaristischer Natur.

3.3.3

IV. und VI. ›Theil‹: Claus Narr am Hof

Nur ein kleiner Teil der Historien von Claus Narren erzählt von Begebenheiten, die sich in einem höfischen Kontext verorten lassen, obwohl Büttner in der Vor-

416 417 418 419

Büttner: Büttner: Büttner: Büttner:

Historien Historien Historien Historien

von von von von

Claus Claus Claus Claus

Narren, Narren, Narren, Narren,

III, III, III, III,

8, S. 41. 14, S. 46. 15, S. 47. 15, S. 47f.

159 rede verschiedentlich die Bedeutung von Claus Narr als Hofnarr hervorhebt.420 Das vierte Kapitel, das von mancherley lustigen/ kurtzweiligen/ vnnd schimpfflichen Worten421 handelt, die Clauß vor dem FFrsten geredt,422 enthält die größte Zahl an Historien, die von Begegnungen des Narren mit dem Fürsten oder anderen, in der höfischen Hierarchie höher stehenden Mitgliedern der Hofgesellschaft berichten.423 Zählt man zu diesen Historien auch noch jene hinzu, die sich auf das Leben am Hof allgemein beziehen bzw. die das Schloss als Schauplatz wählen, so ist die Narratio von 36 der insgesamt 53 Historien des vierten Kapitels in den höfischen Kontext eingebunden. Zwei weitere ließen sich außerdem hinzurechnen, da bei ihnen die Lehre zum einen Bezug auf die sächsisch-ernestinische Landesteilung nimmt und zum anderen eine allgemeine Aussage zum Verhältnis von Herrn und Knecht trifft. Lose verknüpft sind zusätzlich vier Historien mit dem Thema der Landesherrschaft, da sie sich mit Rechtsfragen und dabei vor allem mit der gerechten Bestrafung auseinandersetzen. Die restlichen Historien gliedern sich entweder assoziativ oder durch Analogiebildung an die vorherigen Historien an wie die folgende Reihe, die aus Assoziationen zum Wasser und zum Laufen besteht und mit einer Analogiebildung abgeschlossen wird: Die 16. Historie erzählt, wie Claus Narr auf eine Treppe im Schloss uriniert, weil seine Schuhe ihm das befohlen hätten, um nicht nass zu werden. Daraufhin lässt der Narr in der folgenden Historie die Waschfrauen noch tiefer ins Wasser hineinwaten. Die 18. Historie bietet eine assoziative Verknüpfung von Waten und Laufen und berichtet über einen Streit zwischen zwei Menschen über die Entfernung von Jena nach Weimar, an dessen Ende der Narr empfiehlt: Lauff du den weg fFr zwo Meilen/ Vnd du lauff jn fFr drey Meilen/ es hat einer nit vmb einen schritt weiter denn der ander.424 Analog dazu wird in der nachfolgenden Historie von einer Auseinandersetzung um die Wassermenge in Saale und Ilm gestritten und der Narr beendet mit einem vergleichbaren Kommentar die Diskussion: Die Jhlme hat auch Wasser gnug/ wenn nur deine Mutter vnnd deine Schwester drinnen ers(ufft wFrden.425 Die Lehren der letzten beiden Historien übertragen die närrischen Aussagen in den gesellschaftlichen Kontext. Die umstrittene Entfernung zwischen Jena und Weimar, die der Narr mit seinem weisen Spruch beendet, entspreche, so die Lehre, der Entfernung zwischen armen und

420 421 422 423

424 425

Vgl. Büttner: Historien von Claus Narren, Bl. A iijr. Büttner: Historien von Claus Narren, IV, S. 56. Büttner: Historien von Claus Narren, IV, S. 56. Vgl. Aloys Winterling: ›Hof‹. Versuch einer idealtypischen Bestimmung anhand der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Geschichte. In: Zwischen ›Haus‹ und ›Staat‹. Antike Höfe im Vergleich. Hg. von Aloys Winterling. München 1997, S. 11–25, hier S. 14: Unter ›Hof‹ soll hier »eine räumlich-sachliche, soziale, wirtschaftliche und herrschaftliche Einheit« verstanden werden. Vgl. dazu auch Strohschneider: Kemenate. Geheimnisse höfischer Frauenräume bei Ulrich von dem Türlin und Konrad von Würzburg, S. 30. Büttner: Historien von Claus Narren, IV, 18, S. 67. Büttner: Historien von Claus Narren, IV, 19, S. 68.

160 reichen Menschen, die beide einander bedürften, denn ein Hand die ander netzt vnd treugt/ On das verderben Land vnd Leut.426 Das Wasser, das in der Ilm bereits gnug427 ist, dient als Anlass zur Belehrung, dass mann sich nur begnFgen wolt [...] zu seim Beruff vnd seinem Stand.428 In den am Hof situierten Historien dient die paradox gestaltete Narrenfigur nicht nur als Erzählanlass für mehr oder weniger lustige Begebenheiten mit dem Fürsten, sondern gleichzeitig der Belehrung. Neben Dialogen des Narren mit dem Fürsten und mit Mitgliedern des Hofes als auch dem Schloss als Schauplatz närrischer Handlungen wird der Narr in Situationen hineingestellt, die Kommentare zu Adelichen Exercitiis429 geben oder auf die sächsische Landesgeschichte wie den Altenburger Prinzenraub 1455 oder die Teilung von 1485 anspielen. Zu den bereits anderweitig überlieferten Narrenschwänken zählt die erste Historie des vierten theils – Der FFrst l(ßt ein Windlein –430 die in einem Meisterlied von Hans Sachs und in Schwänken aus dem Schimpf und Ernst von Johannes Pauli erwähnt wird.431 Dem Kurfürsten geht mit ärztlicher Hilfe ein Flatus ab, den der Arzt auf den Wert von zehn Gulden schätzt. Daraufhin sammelt Claus einen grossen starcken Windt432 und sprang herumb/ vnnd schlug in seine h(nde,433 da er meint, seiner sei nun 100 Gulden wert. Diese Historie verweist nicht nur auf die wichtigste Funktion des Hofnarren, dem Vergnügen zu dienen, sondern spielt auch mit der dem Lachen zugeschriebenen gesundheitsfördernden, weil diätetisch wirksamen Funktion.434 Darüber hinaus verweist das Herumspringen im Raum auf die komischen Körperinszenierungen, die vor allem die künstlichen Narren an den Höfen auszeichnen.435 Hier ist ein wesentlicher Unterschied zwischen den natürlichen und den künstlichen Narren zu beobachten. Was bei den Schalksnarren als aufgeführte Gesten, also als bewusst eingesetzte und damit steuerbare und intentional nutzbare Körperausdrücke, die mimische Qualitäten erreichen können, begriffen werden kann, wird bei den natürlichen Narren nicht als eine solche Inszenierung verstanden. Die Kunst der Schalksnarren besteht in ihren wundersamen »Metamorphosen des Körpers«.436 Durch die Inszenierung des närrischen Auftritts entsprechend einer Theateraufführung wird »die weitgehend unbewusste Mimik in Gestik

426 427 428 429 430 431 432 433 434 435 436

Büttner: Historien von Claus Narren, IV, 18, S. 67. Büttner: Historien von Claus Narren, IV, 19, S. 68. Büttner: Historien von Claus Narren, IV, 19, S. 68. Büttner: Historien von Claus Narren, IV, 10, S. 63. Büttner: Historien von Claus Narren, IV, 1, S. 56. Sachs: Fabeln und Schwänke, Bd. IV, Nr. 245, S. 9f.; Pauli: Schimpf und Ernst, Bd. 2, Nr. 841, S. 83. Siehe auch Nr. 437, S. 179 und Nr. 812, S. 70. Vgl. oben, S. 69. Büttner: Historien von Claus Narren, IV, 1, S. 56. Büttner: Historien von Claus Narren, IV, 1, S. 57. Vgl. Schmitz: Physiologie des Scherzes. Vgl. Velten: Komische Körper, S. 302f. Velten: Komische Körper, S. 314.

161 transformiert und stilisiert«.437 Verwiesen seien hier nur auf die Verwandlungen des Gonnella, der unter anderem seine Gesichtszüge in einem Augenblicke so meisterlich verändern konnte, daß ihn kein Mensch in der Welt erkannt hätte, und es machte ihm nichts aus, in dieser Veränderung einen ganzen Tag lang zu verharren ...438

Die Fähigkeit, sich verschiedenen Menschen und Tieren mimetisch anzuverwandeln, nutzt die Differenz aus, die zwischen der Mimik als unmittelbarem Ausdruck und der Gestik als mittelbarem und damit gestaltbarem Körperausdruck herrscht.439 Verwandelt sich Gonnella mit Hilfe von Gesten und ohne dabei erkannt zu werden in den Fürsten oder droht glaubhaft an, zu einem Wolf zu werden, so verfolgt er damit direkt und indirekt eigene Interessen. Das heißt, die Inszenierung ist zweckgerichtet, bedient sich verschiedener Listen und speist sich auch aus ihrer »Freude am Bösen«.440 Die Freude des natürlichen Narren Claus über einen gelungenen Wind versucht dagegen eine Natürlichkeit seiner Körperausdrücke zu imaginieren, in der ebenfalls Mimik und Gestik zusammenfallen, hier aber die Mimik vorherrschend ist. Anders gesagt, das Herumspringen im Raum soll als Ausdruck der unverstellten Freude verstanden werden, da der Narr, wie die Lehre ausführt, aufgrund seiner mentalen Differenz Dinge nur nach der Quantität beurteile: Am meisten gelten sol das best/ Wenn du sonst Clausen recht verstehst. Das gr=st er h=her sch(tzt vnd acht/ Vnd nach der gr=ß sein rechnung macht. Wie sonst ein Narr thut/ vnd ein Kind/ VernFnfftig Leuth seynd baß gesinnt.441

Die performance des natürlichen Narren bedarf daher in den Texten alle Zeichen und Merkmale einer sich zufällig ergebenden Gelegenheit. Überschießende und damit nicht normgerechte Gesten sind dem künstlichen und dem natürlichen Narren eigen und beide erregen Lachen. Doch setzt der Schalksnarr sie intentional ein und wählt sie aus einem Arsenal an Mitteln aus, während dem natürlichen Narren eine solche Vorgehensweise versagt bleibt. Komisch wirkt der vom Narren angestrebte Vergleich der beiden Winde nicht nur, weil es um die bereits in der frühen Neuzeit mit Scham konnotierten Körperausscheidungen geht, sondern darüber hinaus durch den Vergleich der Ausscheidungen des ungleichen Paares von Narr und Fürst. 437 438 439 440 441

Christoph Wulf: Geste. In: Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie. Hg. von Christoph Wulf. Weinheim, Basel 1997, S. 516–524, hier S. 518. Die Begebenheiten der beiden Gonnella. Hg. von Albert Wesselski. Weimar 1920, 10, S. 43: Der Wille geht fürs Werk. Wulf: Geste, S. 517. Röcke: Die Freude am Bösen. Büttner: Historien von Claus Narren, IV, 1, S. 57.

162 Das besonders im vierten theil dargestellte Verhältnis von ernestinisch-sächsischem Kurfürsten und Claus Narr evoziert allgemeine Vorstellungen des ungleichen Paares von Herrscher und Narr.442 Die sich in einer närrischen Scherzbeziehung äußernde Freiheit des natürlichen Narren, die Büttner einzig nur Claus Narr zugesteht, bestimmt das Verhältnis von Narr und Fürst.443 Weitere Historien des vierten theils beschreiben den permitted disrespect, d. h. die Möglichkeit, sich bar jeglicher Konvention zu verhalten.444 So wird in einigen Historien davon berichtet, wie es dem Narren misslingt, seine Körperausscheidungen zu kontrollieren.445 Einmal passiert ihm ein solches Missgeschick, als er auf dem Narrenl(dlein446 der fürstlichen Kutsche sitzt. Der Fürst möchte daraufhin wetten, dass Clauß hat in seine Hose gethan/ das vnser keiner thun dorffte.447 Claus rät ihm zu dieser Wette, denn er wisse genau, dass der Fürst gewinnen werde. Jedoch erstrecken sich Claus Narrs Ratschläge auch auf andere Gebiete. So legt er beispielsweise dem Fürsten nahe, ein Schreiber zu werden, um endlich genug Geld zu verdienen.448 Weiterhin enthält der vierte theil die ersten Historien, die von den prophetischen Gaben und der Weisheit des Narren berichten. Möglicherweise handelt es sich hier um ein verstecktes Fürstenlob, denn auch demjenigen, der die Weisheit eines natürlichen Narren erkennen kann, gebührt Lob und Anerkennung und spiegelt damit die Einzigartigkeit des Besitzes eines solchen Narren wider. Die bekannteste Historie in diesem Zusammenhang bezieht sich auf die sächsische Teilung von 1485: Landestheilunge. Als die Durch. Ch. vnd FFrsten zu Sachsen/ Entsichtigung vnnd Landtstheilung vornammen/ zerschneide Clauß eine sch=ne Schaube/ tratt fFr die FFrsten/ vnd sprach: GFnstige Herren/ da dieser Rock noch gantz war/ kleidet er den wol/ der jhn antrug/ aber nun taug er weder zu stifflen noch zu schuen/ Darumb lasset das Land gantz vnnd vngetheilet bleiben/ jr habt raum gnug drinnen/ wenn euwer noch einer oder viere gleich weren.449

Die bis heute beklagte Teilung der sächsischen Lande wurde bereits zu Büttners Zeiten als eine verhängnisvolle Entscheidung angesehen.450

442 443 444 445 446 447 448 449 450

Vgl. dazu Lever: Zepter und Schellenkappe, S. 118f.; John Southworth: Fools and jesters at the English court. Stroud 1998, S. 3. Zu den joking relationship vgl. oben, S. 59. Radcliffe-Brown: On joking relationships, S. 174. Vgl. dazu Velten: Komische Körper, S. 301. Vgl. Büttner: Historien von Claus Narren, IV, 7, S. 60; 16, S. 66; 24, S. 71. Büttner: Historien von Claus Narren, IV, 24, S. 71. Büttner: Historien von Claus Narren, IV, 24, S. 71. Büttner: Historien von Claus Narren, IV, 40, S. 83. Büttner: Historien von Claus Narren, IV, 34, S. 78. Vgl. Blaschke: Geschichte Sachsens im Mittelalter, S. 297; Gross: Geschichte Sachsens, S. 31.

163 Die weisen Reden des Narren sind in der Minderzahl gehalten und werden außerdem durch gegensätzliche Historien kontrastiert wie beispielsweise durch die 37. Historie, in der Claus aus dem FFrstlichen Rath451 hinausbefördert wird, weil er dort nach dem Rat fragte. Als er die gleiche Frage draußen dem Hofgesinde stellt, wird ihm als Antwort gegeben, ihr Rat sei ein Pflugrad. Claus folgert daraufhin daraus, dass der Rat in der Ratsstube ein Wagenrad sein müsse, denn sie haben lange dran gearbeytet/ aber es ist ein groß Rad/ darumb k=nnen sie nicht bereyt damit werden.452 Der Narr, der die sächsische Landesteilung als ein Verhängnis erkennt, aber nicht zwischen Rat und Rad unterscheiden kann, wirkt inkonsistent.453 Doch eben diese scheinbare Unbeständigkeit versucht Büttner in den Lehren dahingehend zu interpretieren, dass in fast allem Tun des Narren – Büttner nutzt an anderer Stelle die Formulierung plerunque –454 eine höhere Wahrheit verborgen läge. In der 37. Historie bekräftigt die närrische Bemerkung, dass der fürstliche Rat lange an dem Rad gearbeitet hätte, die in der Lehre vertretene Ansicht, dass ein Sach sol werden wolbedacht/ ehe man sie laut vnd richtig macht.455 Die Rolle der natürlichen Narren als weise Ratgeber wird durch die zweite, mit B markierte Historie aus dem vierten theil mit dem Titel Vorhin friede machen,456 noch stärker betont. Die Bemerkung eines ungenannten Narren, es sei vernünftiger, Frieden zu schließen, bevor man in den Krieg zieht und Schaden anrichtet, wurde in anderen Werken auch auf Claus Narr übertragen.457 Gesetz/ Gerechtigkeit/ vnd Ehr/ Find keinen raum im Krieg vnd Heer/ Wenn gleich der KriegsfFrst strafft vnd wehrt/ Die Knecht er nit im Sacke fFhrt. Drumb wolt der Narr/ man machte Fried/ Daß Vnraht vnd viel Schad verblieb/ Der Gwinn ist klein den man erstreit/ Davon verderben Land vnd Leuth.458

Wie in dieser Lehre findet auch in anderen Historien des vierten theils verstärkt eine Auseinandersetzung mit dem weltlichen Machtanspruch und den Forderungen an einen rex iustus statt. So solle der Fürst, anstelle Jagden in den Wäldern abzuhalten, lieber b=se B(lge/ vnd lose Buben459 in den Dörfern und Städten

451 452 453 454 455 456 457

458 459

Büttner: Historien von Claus Narren, IV, 37, S. 80. Büttner: Historien von Claus Narren, IV, 37, S. 81. Vgl. Schmitz: Wolfgang Büttners Volksbuch von Claus Narr, S. 77f. Büttner: Historien von Claus Narren, X, 31, S. 309. Büttner: Historien von Claus Narren, IV, 37, S. 81. Büttner: Historien von Claus Narren, IV, 2, S. 57. Vgl. WA TR 4, 4070, S. 112; Sachs: Fabeln und Schwänke, Bd. IV, 501, S. 388. Siehe auch Johannes Pauli: Schimpf und Ernst. Erster Teil. Die älteste Ausgabe von 1522. Hg. von Johannes Bolte. Berlin 1924, 39, S. 31 und Schmitz: Wolfgang Büttners Volksbuch von Claus Narr, S. 387. Büttner: Historien von Claus Narren, IV, 2, S. 57f. Büttner: Historien von Claus Narren, IV, 6, S. 60.

164 jagen lassen. Dies wird durch die Lehre mit dem Vers zum Galgen hin/ vnd Rabenstein/ was nicht wil from vnd redlich seyn460 unterstützt. Eine weitere Lehre legt – ein in den Historien von Claus Narren selten vorkommendes Verfahren – Widerspruch gegen die Ansicht des Narren ein. Claus Narr rät, den Ehemann, der einer seiner Mägde schwängerte, nicht zu strafen, da die dadurch zur Fraw Mutter461 gewordene Magd zu Ehren gekommen sei. Die Moralisatio dagegen fordert die Obrigkeit auf, hart durchzugreifen: Wo man Vnzucht erlaubt vnd sterckt/ Vnd straffet keine b=se werck/ So sicht man/ meyn ich/ wie es geht/ Vnd wies in Dorff vnd St(tten steht/ Ach strafft/ wer hat das Schwerd/ vnd fFhrt/ Daß man so viel der Schand nicht spFrt/ An diesem end/ vnd darnach dort/ Die SFnd ist starck an allem ort.462

Die weltliche Herrschaft allein ist jedoch nicht ausschließlich Gegenstand der Lehren im vierten theil, denn sie selbst wird oft als die darüberhinausweisende Allmacht und Übermacht Gottes gedeutet. Dies wird am anschaulichsten in der 32. Historie erzählt: Der FFrst schlaffet nicht. Ein Hofraht eylet am frFhen Morgen zum FFrsten/ vnd fand Clausen/ vnd fragt: Wie gehet es meim Claußlein? Hat mein G. H. der Ch. F. abgeruhet/ vnnd ist auffgestanden? Clauß sprach: Du bist ein kluger Mann: vnd fragst/ Ob mein Herr der Ch. F. schlaffe? Solte mein Herr schlaffen/ wer wFrde denn fFr seine Land vnd Leut wachen? Ein FFrst muß wachen/ daß wir faulen vnd vollen Narren schlaffen k=nnen. Lehre. Wenn Gott nit wacht/ vnd schFtzt die Statt/ So hilfft kein Menschen Kunst noch Rath/ Was Gott beschFtzet vnd erhelt/ Ohn seinen willen nit zerfellt/ Deß FFrsten wach/ sorg/ fleiß vnd treuw/ Bringt nutz dem Land/ vnd viel gedey/ Nicht daß er wach/ vnd schlummer nicht/ Sondern bestelle Recht vnd Gricht/ Jm fried erhalt/ Statt/ Land vnd Leuth/ So nimpt als zu/ vnd wol gedeyt.463

Der Anspruch des vierten theils, von schimpfflichen Worten/ die Clauß vor dem FFrsten geredt464 zu berichten, wird nicht nur in persönlichen Begegnungen

460 461 462 463 464

Büttner: Büttner: Büttner: Büttner: Büttner:

Historien Historien Historien Historien Historien

von von von von von

Claus Claus Claus Claus Claus

Narren, Narren, Narren, Narren, Narren,

IV, IV, IV, IV, IV,

6, S. 60. 28, S. 74. 28, S. 74. 32, S. 76f. S. 56.

165 von Narr und Kurfürst realisiert. Die Aufgaben und Pflichten eines Landesherren werden auch in den übrigen Historien und Lehren reflektiert, die aus dem närrischen Handeln Anweisungen für die Obrigkeit herauslesen, ohne den allgemeinen Appell an den Leser – auff Ehr vnd Tugend/ vnd auff recht/ fest halten sol das Menschlich geschlecht465 – zu vernachlässigen. Das sechste Kapitel der Historien von Claus Narren greift noch einmal auf den Hof als Schauplatz närrischer Handlungen zurück. In diesem theil werden vorwiegend Begegnungen des Narren mit einfachen Bediensteten am Hof erzählt, wie es bereits der Titel verheißt: Von kurtzweiligen worten/ vnnd schwencken/ die man von Clausen geh=ret/ vnd jhm ehrliche Hoffdiener nachgesagt.466 So beginnt das sechste Kapitel damit, dass der Narr, vom Mondlicht geweckt, auff/ auff jhr BrFder auff467 ruft. Er meint, die Sonne schiene schon und er habe die geplante Reise des Kurfürsten verschlafen. Hier setzt die Lehre nicht bei dem Missverständnis an, sondern lobt den frommen Diener,468 also Claus Narr, der sich sorgt. In den nachfolgenden Historien und den dazugehörigen Lehren geht es im Umfeld des Hofes immer wieder um Ehre, Schulden und Borgen, richtiges Benehmen, kurz gesagt, um das normgerechte Verhalten eines Untergebenen. Etwa die Hälfte der Historien besteht aus kurzen Dialogen des Narren mit einem Reuter,469 in den anderen Historien agiert der Narr mit anderen Mitgliedern der Hofgesellschaft, die von einem Edelman470 bis hin zum Stubenfeger471 reichen. Acht der insgesamt 36 Historien des sechsten theils weisen keine besonderen Bezüge zum Hof auf. Wie im vierten theil wird auch hier wiederum die ›Natürlichkeit‹ des Narren als Anlass genommen, um daraus Handlungsanleitungen für den Leser zu gewinnen. Der im Bereich der Anomalität agierende Narr wird als ein Exempel gebraucht, das durch die Lehren für den allgemeinen Alltag gedeutet wird. So klagt einmal Claus Narr vor einem Bild des Kurfürsten über eine ihm gegenüber begangene Ungerechtigkeit, geht aber, als der Fürst nicht antwortet, wieder weg, da er ihn nicht wecken möchte. Die Lehre versteht das Klagen des Narren allegorisch und übersetzt es als Ratschlag an den Leser daher auf diese Weise: Wenn du nicht leiden kanst/ noch wilt/ Dem FFrsten klags/ vnd seinem Bild/

465 466 467 468 469 470 471

Büttner: Büttner: Büttner: Büttner: Büttner: Büttner: Büttner:

Historien Historien Historien Historien Historien Historien Historien

von von von von von von von

Claus Claus Claus Claus Claus Claus Claus

Narren, IV, 17, S. 67. Narren, VI, S. 137. Narren, VI, 1, S, 137. Narren, VI, 1, S. 137. Narren, VI, 6, S. 141. Narren, VI, 3, S. 138. Narren, VI, 24, S. 153.

166 Das ist dem Amptmann oder V=gt/ FFr gwalt der schFtzet dich vnd hegt.472

Vergleichbar werden Ehrverletzungen in den Historien verhandelt. So wird einem redlichen Mann473 vorgeworfen, sein Vater sei ein Schalck,474 seine Mutter und Tochter ein Sack475 und sein Sohn ein Spitzknab.476 Den zu Unrecht Angegriffenen verteidigt Claus Narr, schimpft den Angreifer selbst einen Narren und gibt den Vorwurf einer unehrenhaften Familie zurück. Die Lehre argumentiert im Sinne des Narren: Es ist nicht recht/ vnd taug auch nicht/ Das man fromm Ehrenleut vernicht/ Vmb frembde schuld vnd laster schwer/ Der redlich thut/ der hat die Ehr/ Der handelt wie ein Schalck vnd Dieb/ FFr sich ein Bub vnd B=ßwicht blieb.477

Ein andermal möchte jemand den Narren ärgern und fragt ihn, wer er sei. Die Frage gibt Claus zurück und antwortet auf die Angaben des Hofdieners mit einem Echo, dass nämlich auch er ein Edelmann, ein Diener des Kurfürsten zu Sachsen, ein Junker, ein Kriegsmann, der zehen Fahnen Reuter erlegt478 habe, und ein Narr wie jener sei. Auch hier legt die Lehre sein Verhalten als ehrenhaft aus: Sihe da/ Clauß ist/ vnd wils auch seyn/ Was sich gebFrt mit Ehr vnd Schein/ Ein Knecht/ ein Diener/ Edelmann: Vnd was mit ehren nicht seyn kan/ Das lobt er nicht/ wil auch nicht dran.479

Ehrenhaftigkeit war in der frühen Neuzeit nicht per se an einen Stand gebunden, sondern wurde von jedem immer wieder aufs neue verteidigt, doch wer wenig oder keinen Besitz hatte, konnte oft nur um seine Ehre streiten.480 Der natürliche Narr wird als eine Figur konzipiert, die trotz des närrischen Status um seine eigene Ehre ficht. Die Historien des sechsten theils können als ein Verhaltenskatalog gelesen werden, wie das richtige Ansehen zu bewahren sei. So wird mit der Stimme des Narren vor der Korrumpierbarkeit durch Macht,

472 473 474 475 476 477 478 479 480

Büttner: Historien von Claus Narren, VI, 17, S. 148. Büttner: Historien von Claus Narren, VI, 2, S. 138. Büttner: Historien von Claus Narren, VI, 2, S. 138. Büttner: Historien von Claus Narren, VI, 2, S. 138. Büttner: Historien von Claus Narren, VI, 2, S. 138. Büttner: Historien von Claus Narren, VI, 2, S. 138. Büttner: Historien von Claus Narren, VI, 4, S. 140. Büttner: Historien von Claus Narren, VI, 4, S. 140. Vgl. Richard van Dülmen: Der ehrlose Mensch. Unehrlichkeit und soziale Ausgrenzung in der Frühen Neuzeit. Köln, Weimar, Wien 1999, S. 4.

167 vor dem Schuldenmachen und vor zu hohen Zinsen gewarnt.481 Ebenso solle man auf das Aussehen achten und sich höflich benehmen.482 Büttner kommt es darauf an zu vermitteln, dass jeder nach seinen Möglichkeiten suchen sollte, sich angemessen zu verhalten. Dabei wird keine allgemeingültige Norm etabliert, sondern es wird zwischen den verschiedenen Fähigkeiten der Menschen unterschieden. Exemplarisch für die differenzierten Anforderungen steht die Historie Drey Endten.483 Ein fremder Postbote fragt Claus Narr an einem Fluss, ob er ihn an dieser Stelle überqueren könne und der Narr bejaht dies. Der Bote ertrinkt fast und beklagt sich deshalb beim Fürsten. Dieser vermutet, dass der Narr den schlechten Rat gegeben habe. Als er ihn daraufhin holen lässt, rechtfertigt sich Claus damit, dass doch am Tag zuvor drei Enten über jene Stelle geschwommen seien und ein Pferd daher allemal dieses Hindernis überwinden könne. Dieser Ratschlag aus Unvernunft führt jedoch nicht zur Strafe, denn Recht ist gesagt der Poß vnd Wort/ Ein schlechter Mann offt thut vnd thort/ Das jhm zu keinem Nachtheil k=mpt/ Wenns aber ein Weiß mann vernimpt/ So ist geth=ret vber maß/ Auch ist jhm sehr gefehrlich das.484

Angemessenes Verhalten definiert sich nach Stand und geistigem Vermögen. Daher kann Claus Narr als natürlicher Narr immer noch ein ehrenhafter Narr sein, während andere als Narren beschimpft werden. Das vierte und das sechste Kapitel beziehen sich innerhalb der Historien von Claus Narren aufeinander. Während der vierte theil Begegnungen mit dem Fürsten zum Anlass nimmt, in der Didaxe auf Fragen zur Landesherrschaft zu verweisen, spiegelt der Schwerpunkt des sechsten Kapitels den Stand von Untergebenen wider, wenngleich hier nicht nur Fragen nach der Hörigkeit, sondern vor allem auch zur Ehre verhandelt werden.

3.3.4 V. ›Theil‹: ›Von Jungfrawen vnd Frawen‹ Im fünften theil der Historien von Claus Narren, der von Jungfrawen vnd Frawen485 handelt und reine vnnd sch=ne Wort/ auch lustige reden486 umfasst, die

481 482 483 484 485 486

Büttner: Historien von Claus Narren, VI, 5, S. 140; 3, S. 138 (mit einem »einfeltigen« statt Claus Narr); 8, S. 142 und 19, S. 150. Vgl. Büttner: Historien von Claus Narren, VI, 14, S. 146 und 13, S. 145f. Büttner: Historien von Claus Narren, VI, 18, S. 148ff. Büttner: Historien von Claus Narren, VI, 18, S. 150. Büttner: Historien von Claus Narren, V, S. 93. Büttner: Historien von Claus Narren, V, S. 93.

168 mit kurtzweil zu lesen/ vnd mit nutz/ ohne (rgernuß zubehalten487 seien, verdanken die dort versammelten Historien ihre Aufnahme – bis auf wenige Ausnahmen – dem Umstand, dass hier das weibliche Geschlecht als Topos benutzt wird. Claus Narr wird daher in unterschiedlicher Art und Weise mit weiblichen Lebewesen, gleich Mensch oder Tier, in Beziehung gesetzt. Eine lockere innere Struktur des fünften theils ergibt sich anhand der Historien, die der Autor als fremd kennzeichnet und die als Zäsuren verstanden werden können.488 So bilden die Historien, die sich dem weiblichen Äußeren widmen, eine erste Gruppe innerhalb des Kapitels und werden von zwei Ehebruchsschwänken, die eine Handlung ohne Claus Narr erzählen, unterbrochen. Diese beiden mit A und B489 gekennzeichnten Historien leiten über zu der nächsten Historiengruppe, die sich überwiegend mit Fragen zu Liebe und Ehe beschäftigt und die mit einem dritten Ehebruchsschwank eines anderen ungenannten Narren abgeschlossen wird. Am Ende des fünften theils werden Historien angeführt, die vor allem vom richtigen Verhalten von Mägden handeln. Die vielfältig konstruierten Begegnungen Claus Narrs bieten genügend Raum, um Fragestellungen, wie sie sich auch in Ehe- und Haushaltslehren des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit finden lassen und die gerade im Zuge der Reformation unter dem Stichwort der christlichen Haushaltung verhandelt werden, zu besprechen.490 Sowohl die Historien als auch die Lehren diskutieren das Aussehen, nennen Verhaltensregeln für Mägde und geben Empfehlungen für das richtige Haushalten. Die Verwunderung des Narren über eine Frau, die nur einen und nicht gleich zwölf Zuber Wasser mit Regen auffüllt, dient dem Hinweis, maßvoll zu wirtschaften: Wenn Gott vns viel beschert vnd schenckt/ Auff keinen Vorraht man gedenckt/ Man schlempt dahin/ vnd prast in Tag/ Daß man darnach zu darben hat/ Den Regen fahen Clauß hie lehrt/ Das heist bewar/ was Gott beschert/ Nicht alles auff den Sontag friß/ Denck/ Montag Sontags Bruder ist491

Aus Kleidung und Betragen werden innere Einstellungen abgelesen wie beispielsweise die, dass ein Ehrsam Weib sich reyn verhFllt/ ist still/ keusch/ zFchtig

487 488 489 490

491

Büttner: Historien von Claus Narren, V, S. 93. Vgl. oben, S. 105. Büttner: Historien von Claus Narren, V, 6 und 7, S. 97f. Vgl. dazu Werner Röcke: Von ›christlicher Haushaltung‹ und ›guter Policey‹. Die Reglementierung von Ehe, Familie und Gesellschaft in der lutherischen Sozialethik. In: Passagen. Literatur – Theorie – Medien. Hg. von Manuel Köppen, Rüdiger Steinlein. Berlin 2001, S. 17–37; Trude Ehlert: Die Rolle von ›Hausherr‹ und ›Hausfrau‹ in der spätmittelalterlichen volkssprachigen Ökonomik. In: Haushalt und Familie in Mittelalter und früher Neuzeit. Hg. von Trude Ehlert. Sigmaringen 1991, S. 152–166. Büttner: Historien von Claus Narren, V, 37, S. 122.

169 vnd nicht wild.492 Die Tugenden der zuht, der triuwe und der kiusche werden im fünften Kapitel zusammen mit der Frömmigkeit wiederholt als Verhaltensnormen für Frauen gepriesen.493 Kein Silber/ Sammet/ auch kein Golt/ Eim M(gdlein ich vergleichen wolt/ Das zFchtig ist/ auch keusch vnd fromm/ Lieff nicht vnd spielet an der Sonn/ Liebt Gott vnd seinen Vatter h=rt/ Vnd seine liebe Mutter ehrt/ Vnd lehrnet was jhm dient vnd fFgt/ Vnd achtet leichte M(gdlein nit/ Ein solches M(gdlein sag ich auch/ [...] Jst lobenswerth darzu ein zier/ Vnd wens deß Keysers Tochter wer.494

Die Historien, die sich mit den Mägden beschäftigen, dienen nicht nur als Beispiele für das richtige Verhalten als solches – hier wird vor allem vor unehelichen Geburten gewarnt –495 sondern auch als Anweisungen, wie Untergebene allgemein zu behandeln seien: Ein fromme Magd die recht bestellt/ Was jhrer Frawen wolgefellt/ Ein Knecht der auch das sein verricht/ Vnd thut/ darzu er sich verpflicht/ Dem soll man g=nnen Bier vnd Brot/ Vnd sonsten auch was gebet Gott.496

Selbst die Historien, in denen der Narr die Geschlechtsgrenzen überspringt, dienen der allgemeinen Didaxe.497 Claus will mit Frauen lieber acht tage spatziren gehen vnd fahren/ denn mit dem FFrsten eine stund reiten,498 da die Frauen nicht so schnell liefen und er selbst werde auch nicht so mFde/ als wann ich neben dem FFrsten lauffe.499 Das Ansinnen von Claus Narr warnt den Leser in der Lehre vor überschnellen Reaktionen und kehrt wieder das Verhältnis von

492 493

494 495 496 497

498 499

Büttner: Historien von Claus Narren, V, 1, S. 94. Vgl. Rüdiger Schnell: Liebesdiskurs und Ehediskurs im 15. und 16. Jahrhundert. In: The graph of sex and the German text. Gendered culture in early modern Germany 1500–1700. Hg. von Lynne Tatlock. Amsterdam, Atlanta 1994, S. 77–120, hier S. 102. Büttner: Historien von Claus Narren, V, 5, S. 97. Büttner: Historien von Claus Narren, V, 39, S. 123 und 43, S. 125. Büttner: Historien von Claus Narren, V, 36, S. 212. Vgl. dazu Beate Kellner: Zwischen Feuer und Wasser. Chiffrierungen des Geschlechts in der Arcadia der Gräfin von Pembrock. In: Poststrukturalismus. Herausforderung an die Literaturwissenschaft. Hg. von Gerhard Neumann. Stuttgart, Weimar 1997, S. 575–597. Büttner: Historien von Claus Narren, V, 24, S. 112. Büttner: Historien von Claus Narren, V, 24, S. 112.

170 verspottetem Narren und lachendem Gegenüber mit dem Lob der Langsamkeit um. Der Schwang hat auch ein andern schein/ Die Lehr ist gut/ subtil vnd rein/ Langsam/ gemach/ ist Kunst vnd Witz/ Zum huy vnd st=rmisch bessert nichts/ Wer mit dem Kopf auch reist durchhin/ Der hat zuletzt viel spott zu gewinn/ Vnd ist auch recht/ daß man sein lacht/ Dieweil er sich so p(tzig macht.500

Dem närrischen Sprechen wird der Bereich der Anomalität zugeteilt und damit von vornherein jegliche kritische Auseinandersetzung mit den Geschlechterbeziehungen aus dem Wege gegangen. Selbst wenn Claus Narr im zwölften theil der Historien von Claus Narren wünscht, daß er auch eine Frauw were,501 schließt die Lehre mit der Feststellung: Der Frauwen Sinn thut auch nicht rath/ Jhr Hertz vnd Sinn im Rock sie hat.502

Die in den Historien aufgeworfenen Fragen dienen der Stabilisierung des binären Geschlechtermodells, wie es vor allem an den Historien abzulesen ist, die sich mit dem Themenkomplex um Liebe, Ehe und Sexualität beschäftigen. Der Narr erweist sich in diesen Historien als derjenige, der auf der einen Seite als asexuelles Wesen wahrgenommen wird und damit auch nicht für die Ehe als dem hier einzig legitimierten Raum für Sexualität in Frage kommt, und der auf der anderen Seite Ordnungsmechanismen im Geschlechterverhältnis am stärksten internalisiert zu haben scheint.503 Die den natürlichen Narren zugeschriebene Asexualität wird ausgespielt und als Tugend dargestellt. Wie bei anderen natürlichen Narren wird die mentale Differenz auf den Bereich der Sexualität übertragen.504 In den Historien von Claus Narren

500 501 502 503

504

Büttner: Historien von Claus Narren, V, 24, S. 112. Büttner: Historien von Claus Narren, XII, 24, S. 367. Büttner: Historien von Claus Narren, XII, 24, S. 367f. Vgl. Büttner: Historien von Claus Narren, V, 13, S. 103: »Es ist deß Herren Werck vnd Stand/ Die zFchtig Ehe/ dadurch viel Schand/ Ein Mann nachlast/ vnd auch ein Frauw Drumb jeder nach seins gleichen schauw/ Vnd eins dem andern pflicht/ vnd leist/ Was Gott/ vnnd zFchtig Ehebett heist/ So bleibt das Eheband fest vnd steht/ Sonst knod vnd schleiff von einander geht« Siehe oben, S. 53f. Vgl. auch Cindy LaCom: »It is more than lame.« Female disability, sexuality, and the maternal in the nineteenth-century novel. In: The body and physical difference. Discourses of disability. Hg. von David T. Mitchell, Sharon L. Snyder. Ann Arbor

171 weicht der Narr allen Formen des Begehrens aus und verfügt auch nicht über das notwendige Wissen über den Geschlechtsakt. So gebärdet er sich wie naive Ehemänner in anderen Schwänken. Als er mit einer anderen Närrin zusammen baden soll, weil man gerne weitere Narren haben wollte, schlägt er sie mit einer Rute und ruft: Da hastu Kinder/ wiltu mehr Kinder haben: Hehe/ wiltu mehr Kinder haben? ich wil dir mehr geben.505 Vergleichbar gibt Claus Narr in einer Historie des neunten theils auf die Frage, wo die Leute506 herkämen, die Antwort, dass sie auf den Bäumen wachsen würden und wenn sie reiff seyn/ brechens die Frauwen abe/ vnd bringens zu vns getragen.507 Die nachfolgende Lehre geht auf das Missverständnis ein, das aus der Doppeldeutigkeit des flektierten Wortes brecht einmal im Sinne von bringen und zum anderen im Sinne von abbrechen entstanden ist und legt gleichzeitig der zunächst unsinnig anmutenden närrischen Aussage eine tiefere Bedeutung bei: Clauß hat vielleicht geh=ret daß/ Ein schwanger Weib genesen was/ Vnd daß die Weh frauw brecht die Kindt/ Solchs auff die Frag zu sinn jm k=mpt. Vnd redet recht dieweil er spricht: Auß Kindern erst man Leut zuricht/ Wenn man sie lehrt vnd vnderweist/ Die ding zuthun die Gott vns heist.508

Wesentlich ist, dass es dem Narren an einem grundlegenden Verständnis über Sexualität mangelt. Daher ist es auch weniger aufschlußreich, ob Claus Narr aufgrund dieses Nichtwissens die obszöne Metapher des Rutenschlagens in der eigentlichen Bedeutung inszeniert oder ob er die Zeugung eines Menschen außerhalb einer menschlichen Beziehung ansetzt. Selbst wenn der Narr nicht als Vorbild dienen kann, weil er auf eine andere Närrin einschlägt, um Kinder zu bekommen, verweist Büttner auf Gottes Gnade, von der auch der Kindersegen abhinge, und kritisiert damit indirekt den Versuch des Hofes, Narren zu züchten: Was Gott nicht gibt/ das nim nicht/ Was Gott beschert/ bleibt vnerwehrt/ Kein FFrwitz taug/ auch thuts nit brunst/ Die Kindlein gibt vns Gott vmb sonst.509

505 506 507 508 509

1997, S. 189–201; Adrienne Asch, Michelle Fine: Nurturance, sexuality and women with disabilities. In: The disability studies reader. Hg. von Lennard J. Davis. New York, London 1997, S. 241–259. Büttner: Historien von Claus Narren, V, 29, S. 118f. Büttner: Historien von Claus Narren, IX, 31, S. 270. Büttner: Historien von Claus Narren, IX, 31, S. 270. Büttner: Historien von Claus Narren, IX, 31, S. 270f. Büttner: Historien von Claus Narren, V, 31, S. 118.

172 An die Vorstellung eines asexuellen natürlichen Narren knüpft außerdem die Historie Claus will einem bey der Braut schlaffen510 an. Claus Narr will nur eine Einladung zu einer Hochzeit annehmen, wenn er bei der Braut schlafen darf. Der Bräutigam willigt ein und schränkt ein, dass er es eim andern511 nicht erlauben würde, denn es ist vnrecht.512 Claus erwidert darauf, dass er nichts tun wolle, was einem andern nit recht ist.513 Der Narr, dem die Einsicht in das Verbot, nicht bei eines anderen Frau zu schlafen, fehlt und der sich aber trotzdem danach richten möchte, dient exemplarisch für tugendhaftes Verhalten und als Hinweis, wie man sich in den ordo einfügen soll: Hie hastu Leser gut bericht/ Das mir vnd dir gebFret nicht/ Zu thun was anders dann das recht/ Solchs lehret Clauß der alber Knecht/ Vnd taug nicht/ wenn man spricht/ das dir Jst gut/ vnd recht/ ist recht auch mir/ Der holt die Braut vnd sie heim fFhrt/ Dem sie/ vnd dir ja nicht gebFrt/ Drumb jeder hat/ was Gott jm gab/ Vnd schmiß man dem sein K=pfflein ab/ Der Gottes Ordnung widerfecht/ Das ist ja Gott/ vnd Keysers Recht.514

In einigen anderen Historien wird der Narr sogar zum Richter über das richtige Verhalten und folgt damit ganz dem in der Vorrede verkündeten Programm, keine SFndenbFcher/ die dem Teuffel ruffen/ vnd Vnzucht suchen515 schreiben zu wollen. So lobt im zwölften Kapitel Claus Narr einmal eine Sau, die nur ein Ferkel hat und setzt hinzu, dass er mehr S(uwe gesehen [hat, RvB]/ die liessen acht oder neun Fercklein by jhnen/ vnd neben her lauffen. Ach/ was machet vnd leidet man im Lande/ man solte die vnzFchtigen S(uwe alle zugleich zur Staupen hauwen.516

Die Lehre beklagt nur, dass man den Vorschlag des Narren nicht aufgreifen könne: Das wer ein feine weiß vnd Tantz/ Nach man alts ein Bulenkrantz/ Vnd strichs mit Ruthen weg vom Land/ Strafft schn=de sFnd mit schwert vnd strang. Viel vnlust vnder wegen blieb/

510 511 512 513 514 515 516

Büttner: Büttner: Büttner: Büttner: Büttner: Büttner: Büttner:

Historien Historien Historien Historien Historien Historien Historien

von von von von von von von

Claus Claus Claus Claus Claus Claus Claus

Narren, V, 45, S. 126f. Narren, V, 45, S. 127. Narren, V, 45, S. 127. Narren, V, 45, S. 127. Narren, V, 45, S. 127. Narren, Bl. A vv. Narren, XII, 29, S. 371.

173 Vnd hett der FFrst am Hoff auch fried/ Darzu die R(th auch k(men drauß/ Ein huren sach fFlt Schloß vnd Hauß.517

Doch nicht nur von Tieren leiten sich die närrischen Ratschläge ab, die über Fragen zur christlichen Haushaltung hinausreichen. Claus Narr antwortet einer Braut auf ihr Klagen, dass sie von ihrem Bräutigam geschlagen würde, mit der Frage: die schuld ist dein/ warumb lernest du nicht seinen willen/ vnd vergissest deinen willen?518 Die Moralisatio überträgt das Klagen der Braut auf die Boßheit519 und Sünde der Welt, die gestraft werden müsse, wenn man sich nicht richtig verhalte: Wenn man recht thut/ vnd recht auch lebt/ So henckt man kein/ auch kein man k=pt.520

Einem Ehemann erteilt Claus über dessen davongelaufene Ehefrau das Urteil Jst sie fromb/ so k=mpt sie wider/ Jst sie aber b=ß/ so lauffet sie zum andern.521 Die Lehre untermauert das närrische Urteil: Wenn st=ßt der Mann das Weib hinauß/ Sie weicht kein tritt von seinem Hauß/ Zu jener ThFr sie wider laufft/ Wenn er sie in der f=rdern raufft.522

Die mit einem Buchstaben oder einer Abkürzung markierten Historien im fünften theil haben, wie bereits erwähnt, eine gliedernde Funktion und erweitern darüber hinaus das närrische Spektrum der Historien von Claus Narren, denn hier werden vor allem die Liebesnarren eingebunden, also die aus Liebe um den Verstand gekommenen Minnesklaven.523 Auf einen Liebhaber, der bewusst zu einem Narren wird, spielt die sechste Historie Ein Narr herzet eine Ehebrecherin524 an. Ähnlich wie im Prosa-Tristan kann sich die Ehebrecherin vor der Strafe am Gacke525 – am Pranger – durch eine List retten. Sie lässt sich von ihrem als Narren verkleideten Liebhaber in aller Öffentlichkeit küssen und schwört es hette sie kein Mann/ denn dieser Narr/ vnnd jhr Ehemann angerFret.526

517 518 519 520 521 522 523 524 525 526

Büttner: Historien von Claus Narren, XII, 29, S. 371. Büttner: Historien von Claus Narren, V, 53, S. 133. Büttner: Historien von Claus Narren, V, 53, S. 133. Büttner: Historien von Claus Narren, V, 53, S. 133. Büttner: Historien von Claus Narren, V, 55, S. 134. Büttner: Historien von Claus Narren, V, 55, S. 134. Zur ikonographischen Tradition der Liebesnarren vgl. Malke: Nachruf auf Narren, S. 34–39. Vgl. desweiteren Matejovski: Das Motiv des Wahnsinns, S. 48–52. Büttner: Historien von Claus Narren, V, 6, S. 97f. Büttner: Historien von Claus Narren, V, 6, S. 97. Büttner: Historien von Claus Narren, V, 6, S. 97.

174 Die darauf folgende siebente Historie Ein alter frommer Narr527 erzählt von einem alten Mann, der seine Ehefrau nach einem Rendezvous mit ihrem Liebhaber zunächst nicht in sein Haus lassen will, von seiner Frau dann aber durch einen angedrohten Selbstmord herausgelockt und daraufhin nun selbst wiederum ausgesperrt und des Ehebruchs bezichtigt wird. Der betrogene Ehemann wird durch seine listig agierende Frau als alter Narr528 vom Fenster aus beschimpft und seine Leichtgläubigkeit und sein fehlendes Urteilsvermögen kann nur mit seiner Liebesblindheit entschuldigt werden. In dem dritten Ehebruchsschwank Ein Schweinregen529 beobachtet ein Narr den Ehebruch der Frau seines Herren, wird aber von der Ehebrecherin in weiser Voraussicht mit Ferkeln beworfen. Aufgrund der Aussage des Narren soll die Frau bestraft werden, doch als der Narr den Zeitpunkt als den Tag angibt, an dem es junge Schweine geregnet hätte, wird seine gesamte Rede als unglaubwürdig erachtet. Diese Historie findet sich schon in den orientalischen Quellen der Sieben weisen Meister, doch nimmt dort im Exempel Avis eine Elster die Stelle des Narren ein.530 Die Version mit einem Narren ist übrigens nur für die Historien von Claus Narren nachweisbar.531 Betrachtet man die Narren in den drei Historien zusammen, so ergeben sich verschiedene Facetten der Narrheit. Zum Narren kann man unfreiwillig und freiwillig aus Liebe werden oder man kann mittelbar als närrischer Zeuge fungieren. Die drei als frembd P=ßlein532 markierten Historien binden das Thema des fünften theils in den Liebes- und Ehediskurs der Zeit ein. Dass im Hinblick auf die natürliche Narrheit nur die Historie Ein Schweinregen relevant ist, beweisen die Lehren. Weder der als Liebesnarr dargestellte gehörnte Ehemann in der Historie Ein alter frommer Narr noch der sich als Narr gebende Liebhaber in der Historie Ein Narr herzet eine Ehebrecherin erfährt eine solche Auslegung, wie sie in den anderen Historien mit Claus Narr üblich ist. In der Moralisatio wird bei dem Schwank mit dem alten Ehemann auf die b=se Frauwen list533 als Ursache verwiesen. Auch die angenommene Narrheit aus der sechsten Historie wird nicht reflektiert. Stattdessen bezieht sich die Lehre auf das Verhalten der Frau und verurteilt das f(lschlich schweren.534

527 528 529 530

531 532 533 534

Büttner: Historien von Claus Narren, V, 7, S. 98. Büttner: Historien von Claus Narren, V, 7, S. 98. Büttner: Historien von Claus Narren, V, 33, S. 119f. Die Historia von den sieben weisen Meistern und dem Kaiser Diocletianus. Nach der Gießener Handschrift 104. Hg. von Ralf-Henning Steinmetz. Tübingen 2001, S. 20–22, Avis: »Das dritt bispel vnd exempel des dritten maisters.« Vgl. S. 79: »Der Stoff wurde auch von Boccaccio (›Decamerone‹ Vii 4) und Molière (›George Dandin‹) aufgegriffen. Zuerst findet sich die Erzählung in der ›Disciplina clericalis‹ des Petrus Alfonsi [...], ist aber wohl indischen Ursprungs.« Vgl. Schmitz: Wolfgang Büttners Volksbuch von Claus Narr, S. 54. Büttner: Historien von Claus Narren, Bl. A iiijv. Büttner: Historien von Claus Narren, V, 7, S. 98. Büttner: Historien von Claus Narren, V, 6, S. 97.

175 Die zu diesen Ehebruchsschwänken gehörenden Lehren verweisen auf die Frauen als Grund des närrischen Gebarens von Männern. Die misogynen Einstellungen gegenüber Frauen wiederholen sich im fünften Kapitel mehrmals. In der bereits erwähnten Historie, in der Claus meint, ein Krieger würde durch eine Frau zu einem Narren werden, zitiert die dazugehörige Lehre weitere antike und biblische Beispiele: Den K=nig Dauid teuscht ein Weib/ Ein Weib den FFrsten Samson teubt/ Vnd Herculem den freyen Heldt/ Ein Weib vexiret/ n(rrt vnd fellt.535

Anders dagegen ist die Moralisatio zur Historie Ein Schweinregen aufgebaut. Der hier auftretende Narr gilt als ein natürlicher, denn seine Aussage, dass es Schweine geregnet hätte, wird seiner mentalen Differenz zugeschrieben. Daher wird auch sein Zeugnis über den Ehebruch als närrische Rede abgetan. Jedoch erfährt das Verhalten des Narren in der Lehre eine positive Deutung: Offt sagt mancher die Warheit rein/ Wann man jhm gl(ubt/ es were fein/ Aber man h=rt/ vnd gl(ubt nicht dem/ Der mehr versteht/ dann drey vnd zween/ Daß man einen Narren vexirt/ Was ists? der Gelehrt wird tribulirt.536

Hier spielt Büttner offensichtlich auf seine eigene Situation an, in der der Gelehrte nicht nur wie ein Narr lächerlich gemacht, sondern auch noch zusätzlich geplagt wird. Der Narr wird hier in den Schutz genommen und rehabilitiert. Die Historie kann als ein Negativexempel für den Fall gelesen werden, was mit natürlichen Narren geschieht, die vexirt werden und denen nicht geglaubt wird. Büttner versucht anhand dieses Narren ein Modellfall zu entwickeln, der vorführt, wie schnell die in einer närrischen Handlung versteckte Wahrheit verzerrt werden kann. Die topische Teilordnung des fünften theils, die der Weiblichkeit gewidmet ist, bietet verschiedene Anlässe, um sich mit Fragen von Liebe, Ehe und christlicher Haushaltung zu beschäftigen, die in der Moralisatio bekräftigt, ausgebaut und teilweise auf allgemeine Verhaltensmaßregeln ausgedehnt werden.

3.3.5 VII. ›Theil‹: ›Von Handwercksleuten‹ Handwerker und deren Tätigkeitsfelder stehen im siebenten theil der Historien von Claus Narren im Vordergrund. Büttner stellt in seinen Historien Begeg-

535 536

Büttner: Historien von Claus Narren, V, 19, S. 107. Büttner: Historien von Claus Narren, V, 33, S. 120.

176 nungen des Narren mit verschiedenen Handwerkern bzw. deren Geräten und Tätigkeiten dar, zu denen unter anderem Schuster,537 J(ger,538 Seyler,539 Becker,540 Zimmerleut,541 Schmide,542 Lundentr(ger,543 Fechter,544 Stubenheitzer,545 Fleischer,546 B=ttner,547 Bader,548 Schneider,549 K=rber,550 Hencker,551 Tischer,552 KFrßner,553 Wagner,554 Bauern555 und selbst Spacirer556 gehören. Von den insgesamt siebenundvierzig Historien weisen nur drei explizit keinen Bezug zur thematischen Ordnung des Kapitels auf. Claus Narr verharrt in diesem Kapitel in einer außenstehenden und beobachtenden Position. So ruft der Narr die Jäger, weil er entweder eine Maus für ein jung Hirschlein557 hält und eine Katze für einen Hasen, oder er schlägt einem Seiler vor, statt Hasengarn herzustellen, gleich auf Hasenjagd zu gehen.558 Seine Unkenntnis reicht so weit, dass er sich mit beiden Seiten des Durchschlags,559 also einem Locheisen der Zimmerleute, verletzt, das Gerät in den Burggraben wirft und feststellt: Hinden vnd forne h(uwet nicht mehr/ dann es ligt alles im Burggraben.560 Ebenso verfährt er mit einem B=ttners Messer,561 mit dem er nicht Brot schneiden kundte vnd auch dasselbe nicht in seine Scheide562 bringen konnte und es deshalb ins Wasser wirft, denn es gehöre an den Galgen, was nicht fressen noch sauffen will.563 Handwerksberufe und Werkzeuge dienen in diesem

537 538 539 540 541 542 543 544 545 546 547 548 549 550 551 552 553 554 555 556 557 558 559 560 561 562 563

Büttner: Historien von Claus Narren, VII, 1, S. 163. Büttner: Historien von Claus Narren, VII, 4, S. 164f.; 5, S. 165; 6, S. 166; 18, S. 137; 29, S. 182. Büttner: Historien von Claus Narren, VII, 8, S. 167. Büttner: Historien von Claus Narren, VII, 9, S. 167; 10, S. 168. Büttner: Historien von Claus Narren, VII, 11, S. 168. Büttner: Historien von Claus Narren, VII, 13, S. 170. Büttner: Historien von Claus Narren, VII, 14, S. 170. Büttner: Historien von Claus Narren, VII, 16, S. 172. Büttner: Historien von Claus Narren, VII, 19, S. 174. Büttner: Historien von Claus Narren, VII, 20, S. 175; 21, S. 175f. Büttner: Historien von Claus Narren, VII, 23, S. 177; 27, S. 180f. Büttner: Historien von Claus Narren, VII, 24, S. 178; 33, S. 184f. Büttner: Historien von Claus Narren, VII, 26, S. 179f.; 43, S. 191f. Büttner: Historien von Claus Narren, VII, 28, S. 181. Büttner: Historien von Claus Narren, VII, 32, S. 184. Büttner: Historien von Claus Narren, VII, 35, S. 185f. Büttner: Historien von Claus Narren, VII, 36, S. 186f und 37, S. 187. Büttner: Historien von Claus Narren, VII, 39, S. 189. Büttner: Historien von Claus Narren, VII, 45, S. 193. Büttner: Historien von Claus Narren, VII, 44, S. 192. Büttner: Historien von Claus Narren, VII, 4, S. 164. Vgl. Büttner: Historien von Claus Narren, VII, 6, S. 166 und 8, S. 167. Büttner: Historien von Claus Narren, VII, 11, S. 168. Büttner: Historien von Claus Narren, VII, 11, S. 168f. Büttner: Historien von Claus Narren, VII, 27, S. 180. Büttner: Historien von Claus Narren, VII, 27, S. 180. Büttner: Historien von Claus Narren, VII, 27, S. 180.

177 Kapitel als Topoi, aus denen sich die Situationen, in die der Narr hineingestellt wird, speisen. Fast alle Lehren des siebenten theils nutzen das konkrete handwerkliche Beispiel, um allgemeine Verhaltensanweisungen zu geben. Die Maus, die ein junger Hirsch sein soll, mahnt, sich vor dem äußeren Schein einer Sache vorzusehen, und die Katze, die vom Narren für einen Hasen gehalten wird, warnt vor den Listen, mit denen man andere ärgert. Die Verletzung, die Claus sich mit dem Durchschlag selbst zufügt, erinnert daran, dass man sich selbst in Gefahr bringe, meist aber einem anderen die Schuld dafür geben würde. Propagiert wird eine bürgerliche Norm, oder wie Werner Röcke es formuliert, ein »Katechismus bürgerlicherprotestantischer Moral«,564 der sich ganz bewusst vom höfischen Ideal absetzt. So versteht einmal der Narr nicht, warum ein Jäger Hasen und Wachteln fängt, statt, wie es auch in der Lehre bestätigt wird, zur Gewinnoptimierung gleich Ochsen und Schafe zu jagen: Clauß grossen nutz fFrs beste schetzt/ Nichts helt er/ daß man Hasen hetzt. Man fengt drey Hasen kaum mit dem/ Daß mag ein feister Ochs gestehn. Vnd solt ich haben selbst die kFhr/ Jch nemm ein Rind/ ließ Hasen dir/ Vnd ist also wie Cl(ußlein denckt/ Ein Ochsen man so leichtlich fengt/ Das ist/ auffzeuhet/ fFttert/ mest/ Als man findet ein Wachtlein nest/ Fanget ein Hasen oder vier/ Die Rechnung mach du selber dir/ Auff J(ger/ Reuter/ SchFtzen/ Knecht/ Vnd was auch gsteht die hundszucht schlecht/ So wirstu jnnen werden frey/ Daß klein gwinn am Wildfahen sey/ Doch was man thut zur freud vnd lust/ Vnbillich du bereden thust.565

Doch nicht nur alltagspraktische Ratschläge sind Inhalt der Lehren, sondern Büttner verweist in ihnen ebenfalls wie in anderen Kapiteln auf die christliche Heilsgeschichte. So fragt in einer Historie der Narr einen Lundentr(ger,566 was dieser mit dem vnfl(tigen Zeuge567 anstellen würde. Der Lumpensammler antwortet, dass er daraus Papier herstelle. Die Antwort befriedigt den Narren nicht, denn er kann sich nur vorstellen, dass daraus scheußlich Papier568 würde und er wolle, wenn er ein Schreiber wäre, doch lieber ein Schuster oder Köhler sein.

564 565 566 567 568

Röcke: Die Freude am Bösen, S. 256. Büttner: Historien von Claus Narren, VII, Büttner: Historien von Claus Narren, VII, Büttner: Historien von Claus Narren, VII, Büttner: Historien von Claus Narren, VII,

18, 14, 14, 14,

S. 173f. S. 170. S. 170. S. 170.

178 Die Lumpen des Lumpensammlers, die dennoch zu weißem Papier verarbeitet werden, stehen allegorisch für den Erlösungstod am Kreuz: Wer selig werden soll/ vnd fromm/ Wird erst gewaschen reyn vnd schon/ Durch Christi schweiß in seinem Todt/ Sonst gilt noch taug kein Mensch fFr Gott/ Das heilig Creutz hilfft auch darzu/ Daß man wider Gottes Wort nicht thu.569

Um das Narrenbild, das die Historien von Claus Narren entwerfen, gegen andere zeitgenössische Narrenkonzeptionen abzugrenzen, bietet sich an dieser Stelle ein Vergleich mit dem Dil Ulenspiegel an, von denen sich Büttner in der Vorrede als von den Eulenspiegelischen schanden570 deutlich abgrenzt.571 Ulenspiegel ist der einzige intertextuelle Verweis, auf den sich Büttner gleich mehrfach in seiner Vorrede bezieht. Der siebente theil eignet sich besonders, um auf die in der Vorrede unternommenen Abgrenzungsversuche zurückzukommen, da hier einige Historien ähnlich wie im Ulenspiegel strukturiert sind. Damit kann an dieser Stelle auf der Ebene der Texte nach den Unterschieden zwischen Claus Narr und dem Ulenspiegel gefragt werden, da eben auch in der Forschungsliteratur wiederholt diese beiden Narrenfiguren miteinander verglichen wurden. So stellt Moser-Rath fest, dass die Historien von Claus Narren »dem Vergleich mit dem Eulenspiegel [...] allerdings nicht stand[halten]«.572 In einer exemplarischen Gegenüberstellung von Schwänken aus dem Ulenspiegel mit Historien aus dem Claus Narr sollte jedoch deutlich werden, dass die Narrenkonzeption in beiden Schwankromanen grundsätzlich verschieden ist. Eine Historie des siebenten theils ähnelt in ihrer Konstruktion ganz besonders einem Ulenspiegelschen Schwank. In der 33. Historie wird erzählt, wie Ulenspiegel

569 570 571

572

Büttner: Historien von Claus Narren, VII, 14, S. 171. Büttner: Historien von Claus Narren, Bl. A vv. Vgl. dazu auch Heinz-Günter Schmitz: Sophist, Narr und Melancholievertreiber. Zum Eulenspiegelbild im 16. und 17. Jahrhundert. In: Hermann Bote. Städtisch-hansischer Autor in Braunschweig 1488–1988. Hg. von Herbert Blume, Eberhard Rohse. Tübingen 1991, S. 212–229, hier S. 216f: Ulenspiegel wurde wiederholt in theologischen Schriften verurteilt, u. a. in Melanchthons Erotemata dialecticis und seinen Loci theologici. Zum Ulenspiegel vgl. Röcke: Die Freude am Bösen, S. 213–265; Michael Josef Aichmayr: Die Symbolgestalt der Eulenspiegel-Figur im Kontext der europäischen Narren- und Schelmenliteratur. Göppingen 1991; Rüdiger Schnell: Das Eulenspiegel-Buch in der Gattungstradition der Schwankliteratur. In: Hermann Bote. Städtisch-hansischer Autor in Braunschweig 1488–1988. Hg. von Herbert Blume, Eberhard Rohse. Tübingen 1991, S. 171–196; Hans-Joachim Behr: Der Ulenspiegel im Umkreis der mittelalterlichen Narrenliteratur. In: Eulenspiegel-Jahrbuch 37 (1997), S. 13–32; Hans-Joachim Behr: Narrenbilder. Rolle und Funktion des Narren im Eulenspiegel- und Lalebuch (Schiltbürgerbuch). In: Eulenspiegel-Jahrbuch 39 (1999), S. 59–77. Moser-Rath: Claus Narr, Sp. 75. Vgl. auch Strassner: Schwank, S. 79.

179 bei einer Wirtin übernachtet und an der Herrentafel umb 24 Pfenig573 frühstückt. Als er zahlen soll, verweigert er es und fordert seinen Lohn für das Essen, denn er nimmt die Aussage der Wirtsfrau, an der Taffel es man daz Mal umb 24 Pfening,574 wörtlich. Der Streit mit der Wirtin endet damit, dass Ulenspiegel zwar nichts bezahlt bekommt, aber selbst auch nichts zahlen muss. Ihm gelingt damit eine bereits zu Beginn des Schwanks angekündigte List, denn er nutzt die Mehrdeutigkeit der mündlichen Rede und legt sie zu seinen Gunsten aus. Anders bei Claus Narr. Der isst Semmeln bei einem Bäcker, kann sie nicht bezahlen und bittet daher, dass dieser ihm das Geld leihen solle, bis er wiederkäme, denn dann wolle er es wette essen/ vnnd kein Heller schFldig bleiben.575 Die Pointe liegt hier nicht wie im Ulenspiegel in einem persönlichen Gewinn durch eine schlagkräftige Argumentation, sondern in der vom Narren verwendeten unlogischen Kombination von Geld borgen und wette essen.576 Indem er versichert, für den Schaden essen zu wollen, wenn er zurückkehrt, beweist er seine Einfalt, die eben keine List zur persönlichen Bereicherung darstellt. Auf das gegenseitige Vertrauen zielt dementsprechend auch die Lehre ab: Offt wird eim frommen Mann gedient/ Vnd wenn ers recht vnd wol besinnt/ Jm anderen es vergolten wird/ Ein Wolthat die ander gebiert/ Vnd machet wett/ vergleicht vnd schlicht/ Was sonst groß Geldt verm=chte nicht.577

Ulenspiegel sind utopische Vorstellungen, in denen »die Tauschäquivalenz von Geben und Nehmen aufgehoben«578 ist, nicht fremd. Er aber setzt sie immer einzeln gegenüber der Gesellschaft durch. Ulenspiegel [bleibt] auch noch in seinem fatalen Verlangen danach, Unfrieden zu stiften, überkommene Ordnungen zu zerbrechen, anderen zu schaden und sich selbst zu nutzen, an kollektive Lebens- und Organisationsformen und Utopien des Überflusses gebunden, die allerdings nicht mehr als solche, sondern nur noch in verzerrter Gestalt, in und durch ihr Gegenteil sichtbar werden.579

Dagegen ist Claus Narr als eine Figur konzipiert, die keine List einsetzen, sich also nicht verstellen kann, um einen persönlichen Gewinn zu erzielen. Damit hinterfragt sie auch nicht die bestehenden Ordnungen, sondern der Narr wird

573 574 575 576 577 578 579

Ein kurtzweilig lesen von Dyl Ulenspiegel. Nach dem Druck von 1515. Hg. von Wolfgang Lindow. Stuttgart 1978, 33, S. 99. Ein kurtzweilig lesen von Dyl Ulenspiegel, 33, S. 99. Büttner: Historien von Claus Narren, VII, 9, S. 167. Büttner: Historien von Claus Narren, VII, 9, S. 167. Büttner: Historien von Claus Narren, VII, 9, S. 167f. Röcke: Die Freude am Bösen, S. 234. Röcke: Die Freude am Bösen, S. 241.

180 als Exempel benutzt, um die Triebverfallenheit der einzelnen Menschen anzuprangern. In diesem Zusammenhang ist eine weitere Historie des siebenten theils interessant, die erzählt, wie Claus Narr die Mehrdeutigkeit sprachlicher Äußerungen nicht verstehen kann. Hier will Claus sich seinen Kolbe580 waschen lassen, aber als ihm der Barbier erwidert, er könne ihm gern sein H(upt581 sauberwaschen, lehnt er es ab, denn der Barbier soll ihm den Kolbe582 und nicht das Haupt583 waschen, da er die Synonymie von Kolben und Haupt nicht begreift. Schließlich wäscht ihn der Knecht vnnd macht jm das H(upt nicht naß.584 Die Komik des im närrischen Kontext mehrdeutig zu verstehenden Wortes Kolben berührt die Lehre nicht: Mit vns ists allen so gethan/ Wenn man thut was wir w=llen han/ So dencken wir da geht es recht585

Nicht die Fähigkeiten eines Ulenspiegels, List und Verstellung zu gebrauchen, zeichnen Claus Narr als natürlichen Narren aus, sondern seine gleichbleibende Torheit. Daher überrascht es auch nicht, dass der aus der Sammlung von Ulrich Boner stammende Schwank Von einem torechten Schulpfaffen auf Claus Narr übertragen wird.586 Will Claus Narr in der Historie Hirschgeweyhe587 ein solches Tier aus der Wand ziehen, weil er hinter dem Geweih einen noch lebenden Hirsch wähnt, so kann bei Boner der von seinen Studien aus Paris zurückgekehrte Sohn sich nicht erklären, wie eine Kuh und deren Schwanz, der in einem Loch an der Zimmertür hängt, durch das Loch gekommen und allein der Schwanz hängen geblieben ist. Während bei Boner die unbelehrbare Torheit des Studenten im Vordergrund steht, dient Claus Narr als Warnung dafür, wie leicht man sich täuschen kann: Clauß gl(ubt/ der Hirsch steck in der Wand/ Das Wort brauch ich in dem Verstand/ Manch Heuchler aussen scheint vnd gl(ntzt/ Wenn du jhn recht im Hertzen kenst/ Du sprechst/ es ist ein Schalck vnd Bub/ Er scheinet fromb/ vnd ist betrug/ Gleich wie das gute Cl(ußlein meint/ Weil H=rner an den Wenden seynd/ Der Hirsch drumb in der Mauwer steck/

580 581 582 583 584 585 586 587

Büttner: Historien von Claus Narren, VII, Büttner: Historien von Claus Narren, VII, Büttner: Historien von Claus Narren, VII, Büttner: Historien von Claus Narren, VII, Büttner: Historien von Claus Narren, VII, Büttner: Historien von Claus Narren, VII, Boner: Der Edelstein, XCIX, S. 336–340. Büttner: Historien von Claus Narren, VII,

33, 33, 33, 33, 33, 33,

S. 185. S. 185. S. 185. S. 185. S. 185. S. 185.

5, S. 165.

181 HFt dich/ man gibt dir Warlich Dreck/ Jns Maul/ das man mit Honig schmiert/ Vnd dich bey deiner Naß vmbfFhrt.588

Das gute Cl(ußlein589 wird im siebenten Kapitel mit Situationen und Themen konfrontiert, die sich auf Handwerksberufe und deren Gerätschaften beziehen. Anders als Ulenspiegel, zu dem sich wegen der thematischen Nähe ein Vergleich anbot, wird Claus Narr als Figur konzipiert, die Doppeldeutigkeiten nicht verstehen und vor allem nicht zu seinem Vorteil auszunutzen weiß. Das ist Teil der erstrebenswerten Simplicitet590 des natürlichen Narren, wie sie von Büttner zur moralischen Belehrung eingesetzt wird.

3.3.6 VIII. ›Theil‹: ›Von V=glein vnd von Thieren‹ Der achte theil enthält Historien, in denen der Narr Tieren gegenübergestellt wird. Das Spektrum reicht von einem dreiköpfigen und dreischwänzigen Monstrum, das in einer antikatholischen Polemik den Papst darstellen soll, über biblische Anspielungen auf das Kamel, welches leichter durch ein Nadelöhr gehe, bis hin zu Gänsen, bei denen Claus Narr gern zur Hochzeit eingeladen wäre. Thematisch passend fügt Büttner hier auch unter dem Titel Ein Fuchs betreugt ein L=wen591 die einzige Fabel ein, die die Historien von Claus Narren enthalten. Der Narr wird im achten Kapitel sowohl auf der Handlungsebene mit Tieren als auch mit deren symbolischen und allegorischen Bedeutungen konfrontiert. Selbst Spielzeug wie das Steckenpferd, das die Form eines Tieres hat und einen symbolischen Sinnbezug sowohl zur Kindheit wie auch zur Narrheit aufweist, gehört in den thematischen Rahmen dieses theils. Doch was bedeutet hier die Gegenüberstellung von Narr und Tier? In der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Literatur füllt die Figur des Narren oft einen Grenzraum zwischen Mensch und Tier aus. Den Narren scheinen tierische Körperteile wie Eselsohren gleichsam angewachsen zu sein und so werden sie als besondere Mischwesen wahrgenommen.592 Die Annahme von chimärischen Zügen durch die Narren symbolisiert ihre Position im Bereich der Anomalität und betont dabei ihre Nachbarschaft zum Monströsen. Die Verwandlung kann als bewusste Inszenierung der Schalksnarren erfolgen wie bei Gonnella, der sich in einen Wolf verwandelt, um ein Geschenk von einem geizigen Abt zu erlangen

588 589 590 591 592

Büttner: Historien von Claus Narren, VII, 5, S. 165f. Büttner: Historien von Claus Narren, VII, 5, S. 166. Büttner: Historien von Claus Narren, Bl. k iiijv. Büttner: Historien von Claus Narren, VIII, 23, S. 215. Velten: Komische Körper, S. 314f. Zur Metamorphose als »diachrone Form des Chimärischen« vgl. Peter Fuß: Das Groteske. Ein Medium des kulturellen Wandels. Köln, Weimar, Wien, Böhlau 2001, S. 363f.

182 oder aber wie bei Claus Narr, um als ein Bestandteil der natürlichen Narrheit ausgewiesen zu werden.593 In den Historien von Claus Narren verwandelt sich der Narr nach außen hin nicht in ein Tier, sondern gibt nur durch sein Verhalten kund, dass er sich als Teil des Tierreiches betrachtet bzw. keinen Unterschied zwischen Menschen und Tieren erkennen kann. Mit den Gänsen will er Hochzeit feiern und eine Sau bezeichnet er als seine Schwester.594 Ebenso behandelt Claus Narr Tiere wie Menschen. Er bemitleidet eine Bärin, die von Kindern geärgert wird, weil er in ihr einen Armen gefangnen Mann595 sieht, der sich rächen würde, käme er nur frei. Die Pointe einer anderen Historie besteht darin, dass Claus seinen Hund als Verräter beschimpft, weil dieser ihn in seinen Finger zwickte.596 In einer weiteren Historie bestraft er sein Pferd, weil es ventiliert597 hat, und lässt es zur Strafe zu fuß598 laufen oder er ärgert sich über eine Ziege, die eine von ihm für sie hingestellte Leiter nicht zu nutzen weiß.599 Über eine Bärin, die uriniert, beklagt er sich, da sie thut wie ein Thier/ das keine Vernunfft hat.600 Auch an anderer Stelle vermag er nicht, zwischen Mensch und Tier zu trennen und hält eine Sau für einen Spielmann, was die Lehre folgendermaßen kommentiert: Clauß schetzt ein Thier eim Menschen gleich/ Den nicht vernunft regier vnd zeuch. Jch wFndscht mir selbst zu seyn ein Schwein/ Wenn ich nit solt vernFnfftig seyn601

Über die Handlungsebene hinaus verwischt der Narr die Unterscheidung von Mensch und Tier. Ebenso kollidieren symbolische Zuschreibungen mit den Vorstellungen des Narren wie beispielsweise in der Historie, die berichtet, dass der Narr über den Affen sagen hört, er sei ein visierlich Thier/ vnnd voller schalckheit.602 Daraus schließt Claus, Affe und Narr seien ein ding.603 Man widerspricht ihm, denn ein Affe, sei ein scheußlich Thier,604 der alle seine heimligkeit beschauwen605 lässt. Doch das bestärkt den Narren, der meint, er habe sein Lebenlang viel Affen gesehen/ vnd ist ein Affe gleich wie alle Menschen sind.606

593 594 595 596 597 598 599 600 601 602 603 604 605 606

Wesselski: Die Begebenheiten der beiden Gonnella, 5, S. 22f. Büttner: Historien von Claus Narren, VIII, 30, S. 221 und 31, S. 222. Büttner: Historien von Claus Narren, VIII, 7, S. 202. Büttner: Historien von Claus Narren, VIII, 34, S. 224. Büttner: Historien von Claus Narren, VIII, 6, S. 200. Büttner: Historien von Claus Narren, VIII, 6, S. 201. Büttner: Historien von Claus Narren, VIII, 27, S. 218f. Büttner: Historien von Claus Narren, VIII, 8, S. 202. Büttner: Historien von Claus Narren, VIII, 35, S. 225. Büttner: Historien von Claus Narren, VIII, 2, S. 197. Büttner: Historien von Claus Narren, VIII, 2, S. 197. Büttner: Historien von Claus Narren, VIII, 2, S. 197. Büttner: Historien von Claus Narren, VIII, 2, S. 197. Büttner: Historien von Claus Narren, VIII, 2, S. 197f.

183 Sowohl die Vermischung von Mensch und Tier wie auch das Hinterfragen von symbolischen Bedeutungen greifen die Lehren auf und nutzen es als allgemeine Warnung vor Lastern und Sünden. Dabei wird immer wieder auf die Vernunft, deren Besitz den Menschen vom Tier unterscheidet, verwiesen, denn sie sei seine angeborne/ vnd anhengende Natur/ vnd eigenschafft.607 Gleichzeitig werden damit die den Tieren symbolisch zugeschriebenen Eigenschaften in den Lehren reaktiviert, verfestigt und bestätigt. Programmatisch lässt sich das an der ersten Historie des achten Kapitels ablesen, in der der Narr, nachdem er viel über den Papst gehört hat, fragt: was ist der Bapst fFr ein thier?608 Die Lehre bleibt nicht nur bei der antikatholischen Polemik stehen, sondern ruft weitere Vorurteile auf, die über die pejorativ gebrauchte Tiermetaphorik hinausgehen. Der Bapst der Christen Haupt wil seyn/ Das reimpt sich als zum Tantz das schwein/ Wie der Guckguck ist ein Jurist/ Vnd ein schand JFd ein guter Christ/ Auch wie der Bock im Garten hFt/ Wenn man jm drinn erlaubnuß gibt/ Auch wie ein Kalb auff Steltzen geht/ Also die Christenheit besteht/ Auff B(bst/ auff Bischoff/ Cardin(l/ Von dem zum rechten Haupt ich wehl/ Das ist Christus mein st(rck vnd krafft/ Wies der Sathan mit B(psten macht/ Mit seinen H(upten/ schwantz vnd strFmpff/ Jm Hoselberg vnd Meers tFmpff.609

Ähnlich erfährt die Gleichsetzung von Affe und Narr, die Claus in der bereits erwähnten zweiten Historie vornimmt, eine positive Bestätigung, obwohl er die diesem Tier zugeschriebenen negativen Eigenschaften wieder aufruft: Ein Mensch sein sFnd nit f=rcht noch schewt/ Drumb gleich er einem Affen bleibt/ Ein Mensch sein SFnd lobt vnd verficht/ Vnd sich deß Affens weiß nach richt/ Hat Cl(ußlein diese Wort gemeldt/ Wie ich offt gh=rt hab in der Welt/ So redt er recht/ vnd als ein Christ610

Tiere und die mit ihnen assoziierten Laster stehen dabei wiederholt für die Sündhaftigkeit des Menschen und werden vor allem zur Warnung vor gula und luxuria gebraucht.

607 608 609 610

Büttner: Büttner: Büttner: Büttner:

Dialectica Deutsch, Bl. B 8r. Historien von Claus Narren, VIII, 1, S. 196. Historien von Claus Narren, VIII, 1, S. 197. Historien von Claus Narren, VIII, 1, S. 198.

184 Also thun S(uw vnd wilde Thier/ Was man jhn gibt/ vnd tr(get fFr/ Jn Halß da fFllens als hinein. Es sey Bier oder edler Wein/ Vnd werffens denn von sich hinweg/ Gleich wie ein Hund am Wege pflegt/ Das sehen wir/ strafft Gott zugleich/ An dem der Arm ist oder Reich.611

Doch auch selbst die unlogische Schlussfolgerung von Claus Narr, dass man zu dem wird, von dem man gegessen habe und daher derjenige, der von einem Kalb isst, zu einer Kuh werde, während er selbst von einem Narren gegessen habe, wird in der Lehre als moralische Warnung vor Völlerei und Prasserei aufgelöst, die den Menschen Vernunft und Verstand nehme und zu einem Tier werden lasse. Ein glehrter Arzt wol also sagt/ Wird er von der Leut weiß gefragt/ Wies k(m daß mancher wFrd gar toll/ Braucht sein Vernunfft vnd witz nit wol/ Vnd sprech man frisset schaaf vnd schwein/ Seufft tag vnd nacht/ Bier/ meth vnd wein/ Dauon hernach ist man geschickt/ Wie ist das Rind vnd Kalb am Strick/ Hat keine sinn/ kein witz/ vernunfft/ So ist vnd heist der Schlemmer zunfft.612

Durch die Versuchungen des Teufels können die Menschen sogar noch die Tiere in ihrer Triebhaftigkeit überbieten: Es wer ein schand/ wenn ich es sagt/ So gar nach keiner ehr man fragt/ Man seufft auß Schuen Bier/ vnd frist/ Gleich wie ein Sauw wFlt in dem Mist/ Solte ein Christ sein zeit verzehrn/ MFst Gott mit Pestilentz erwehrn/ Kein Thier auff Erd so thut vnd wFth/ Als thut der Mensch durchs Teuffels trieb/ Drumb recht solch Leut dahin man fFhrt/ Da sonst ein Sauw jhrn RFssel rFhrt.613

Neben dem Prassen und Schlemmen dienen die Tiervergleiche auch als Warnung vor den Modetorheiten. So wird ein edler Hoff Juncker,614 der einen Wolfspelz anzieht, von Claus Narr als ein Wolf angesehen und beide Wölfe werden sich,

611 612 613 614

Büttner: Büttner: Büttner: Büttner:

Historien Historien Historien Historien

von von von von

Claus Claus Claus Claus

Narren, VIII, Narren, VIII, Narren, VIII, Narren, VIII,

8, S. 202f. 3, S. 198f. 31, S. 222. 14, S. 206.

185 so Claus, einer dem andern inn Beltz speyen.615 Die Lehre bekräftigt die närrische Sicht: Diß Wort ist schlimm vnd lautet schlimm/ Vnd ist die lauter Warheit drinn/ Man ziert sich heut gar wunderlich/ Man weiß nicht/ was ist Mensch vnd Vieh/ Damit man sehen muß vnd soll/ Dem Scharrer ziempt die Schaube wol/ Dieweil sein art vnd sitten seyn/ Gleich wie deß Wolffs vnd wilden schwein.616

Selbst der Hinweis des Narren, dass man gar nicht erst zum Markt gehen brauche, um Ochsen und Schweine zu kaufen, denn wir haben Ochsen vnd Schwein gnug im Lande/ vnd lauffet solch Viehe t(glich in vnsern Vorbergern/ mit grossen Scharen auß vnd eyn,617 wird als richtige Äußerung bewertet, die nur durch den historischen Abstand relativiert wird. Wenn nicht ein Mensch lebt wie er solt/ Nach Gottes Wort vnd Wolgefall/ Der reinen Tugend auch nachstrebt/ Den acht man keines Menschen Werth/ Sondern ist gleich eim wilden Schwein/ Sagt Clauß zu Teutsch vnd nicht Latein/ Doch wenn er heut so reden wolt/ Den Kopff man jhm recht str(len solt.618

Der natürliche Narr, der Grenzen zwischen Mensch und Tier verwischt und symbolische Bedeutungen nicht versteht, ist auch im achten Kapitel Warner vor dem lasterhaften, tiergleichen Leben der Menschen. Seine eigene Zugehörigkeit zum genus humile steht dabei in keiner Weise zur Debatte, wohl aber wird in diesem theil der Historien von Claus Narren wiederholt auf närrische Inszenierungen zurückgegriffen, die auch in der zeitgenössischen Narrenliteratur oft verhandelt werden wie das Steckenpferdreiten und weitere närrische Praktiken. Die Historie Clauß reitet auff einem Stecken619 erinnert zunächst an den bereits von Sachs in einem Reimpaargedicht erzählten Schwank, in dem der Narr seinen als Hure beschimpften Esel damit strafen will, dass er statt auf ihm auf einem Steckenpferd reitet.620 Büttner erzählt es in den Historien von Claus Narren harmloser und führt keinen Grund an, weshalb der Narr auf dem Steckenpferd reitet. Auch ist bei ihm die Pointe anders konstruiert, denn seine Historie endet damit, dass

615 616 617 618 619 620

Büttner: Historien Büttner: Historien Büttner: Historien Büttner: Historien Büttner: Historien Vgl. oben, S. 71.

von von von von von

Claus Claus Claus Claus Claus

Narren, VIII, Narren, VIII, Narren, VIII, Narren, VIII, Narren, VIII,

14, S. 206f. 14, S. 207. 49, S. 236. 49, S. 236. 5, S. 200.

186 Claus sagt: Mir deß reitens nicht viel/ ich hab mich nie so mFde geritten/ ich weiß auch lieben Freunde/ daß ich mich mFder geritten habe/ denn wenn ich zu fuß gelauffen were/ wie ein ander Bottenl(uffer/ der darumb nit reiten wil/ weil man von reiten so mFde wirdt.621 Das Steckenpferd wird zunächst einmal mit Kindern assoziiert, gilt als ein Symbol der Kindheit und auch »der Tor des Davidpsalms 52 im Holzschnitt der Holbeinbibel – bereits vor deren verschiedenen Ausgaben erstmals als Blatt eines Bilderauszugs, 1538, gedruckt [...] – ist traditionell als ein rennender natürlicher Narr dargestellt, der, selber, kindisch, mit Windmühle und Steckenpferd ausgestattet, von Kindern verfolgt wird.«622 Natürliche Narren und Kinder werden häufig in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Literatur miteinander gleichgesetzt.623 Darüberhinaus sind mit dem Steckenpferd weitere Bedeutungen verbunden, die vor allem in karnevalesken Performances realisiert wurden und dort beispielsweise die Ritterlichkeit karrikieren, für Prostituierte und für den sexuellen Akt an sich stehen können.624 Denkbar wäre, dass in der Historie Clauß reitet auff einem Stecken –625 analog zu den charivaresken Verspottungen – die den natürlichen Narren zugeschriebene Asexualität aufgegriffen und verlacht wird. Versteht man Reiten, wie häufig in komischen Texten, als obszöne Metapher, so erhält die Aussage des Narren, vom Reiten immer müde zu werden, eine zusätzliche komische Bedeutung, wenn man den Narren für unfähig hält, sexuell zu agieren. Die sexuelle Metaphorik verbindet übrigens auch die Büttnersche Historie mit dem Schwank von Sachs, in dem Claus feststellt, dass es ein narrenwerck626 sei, auf einem Stecken zu reiten. Büttners Lehre nimmt dagegen in keiner Weise auf die obszöne Konnotation Bezug und resümmiert stattdessen die Mühen der einzelnen Stände. Ein BFrger der sein Handwerck vbt/ Ein Bauwer der da seet vnd pflFgt/ Ein Kauffman der da fehrt vnd reyst/ Ein Schmid der auff den Amboß schmeist/ Wird mFd an seinem Werk vnd laß/ Vnd helt ein Glerter habs viel baß/ [...] Ein jeder Stand hat harten schweiß/ Wie ich mit Gott vnd Schrifft beweiß627

621 622

623 624

625 626 627

Büttner: Historien von Claus Narren, VIII, 5, S. 200. Malke: Nachruf auf Narren, S. 23. Vgl. Werner Mezger: Steckenpferd – Hobbyhorse – Marotte. Von der Ikonographie zur Semantik. In: Zeitschrift für Volkskunde 79 (1983), S. 245–250. Vgl. oben, S. 28. Vgl. dazu Katja Gvozdeva: Hobbyhorse performances. A ritual attribute of carnivalesque traditions and its literary appropriation in sottie theatre. In: Genre and ritual. The cultural heritage of medieval rituals. Hg. von Eyolf Østrem. Copenhagen 2005, S. 65–86. Büttner: Historien von Claus Narren, VIII, 5, S. 200. Sachs: Fabeln und Schwänke, Bd. II, 267, S. 236, Z. 116. Büttner: Historien von Claus Narren, VIII, 5, S. 200.

187 Büttner lässt daraufhin eine Historie folgen, die den bei Sachs erzählten Schwank nochmals variiert. Will bei Hans Sachs der Narr seinen Esel strafen und deshalb auf dem Stecken reiten, weil er meint, sein Esel sei zur Hure geworden und habe ein Füllen geboren, wandelt Büttner die Historie dahingehend ab, dass Clausen Pferd ventiliert.628 Zur Strafe steigt der Narr vom Pferd, setzt sich den Sattel auf den Kopf und sagt zu seinem Tier: Wie nu mein Gesell? Kanst du eins/ So kan ich das ander/ Wiltu fartzen/ must du auch zu fuß lauffen.629 In der Lehre wird das Verhalten des Narren nicht nur mit überhöhten Vorstellungen und Amtsanmaßung gleichgesetzt, sondern es klingt auch die obszöne Konnotation der närrischen Performance an, in der Claus Narr freiwillig auf das Reiten verzichtet und sich zum ›Berittenen‹ macht, indem er sich den Sattel aufsetzt. Clauß meynt/ wenn er den Sattel trag/ So geh das Pferd/ er aber trab/ Das ist wie mancher denckt vor redt/ Wenn ich Gewalt zu straffen hett/ Als hat der FFrst/ ich wolt viel baß/ Mit recht vnd ernst thun diß vnd das/ Außrichten vnd bestellen auch/ Also thet Clauß der gute Gauch/ Der denckt er sey nun erst ein Mann/ Weil er den Sattel tragen kan/ Vnd hab des Pferdlein hart gestrafft/ Weil er jm vorlauff vnd hernach.630

Weitere Historien des achten theils rekurrieren auf bekannte närrische Inszenierungen, die sich vor allem mit verschiedenen Versuchen der Fortplanzung auseinandersetzen und die obszön gedeutet werden können. Es wird in mehreren Variationen erzählt, wie Claus Narr versucht, Tiere auszusäen oder auszubrüten, indem er deren Fäkalien oder Knochen vergräbt bzw. erwärmt.631 Tiere oder andere nichtpflanzliche Dinge auf ungewöhnliche Art und Weise zu vermehren, gilt allgemein wie bei den Lalen als ein Beweis der Narrheit: Sintemal kund vnd offenbar/ daß der Zucker/ welcher dem Saltz nicht vn(nlich/ auch wachse/ so mFsse ja folgen/ daß dz Saltz gleicher massen auff dem Feld herfFr wachse: welchs dann darauß abzunemmen/ dieweil das Saltz auch K=rnlin habe/ also daß man sage/ Ein K=rnlin Saltz/ etc. Demnach auch kund vnd offenbar/ daß andre sachen wachsen/ als K(lber so man K(ß setzet/ vnd HFner wann man Eyer in Boden stecket ...632

628 629 630 631 632

Büttner: Historien von Claus Narren, VIII, 6, S. 200. Büttner: Historien von Claus Narren, VIII, 6, S. 201. Büttner: Historien von Claus Narren, VIII, 6, S. 201. Vgl. Büttner: Historien von Claus Narren, VIII, 10, S. 203f.; 11, S. 204 und 18, S. 210f. Das Lalebuch, S. 57. Vgl. Hans Sachs: Das Kälberbrüten. In: Fastnachtspiele des 15. und 16. Jahrhunderts. Hg. von Dieter Wuttke. Stuttgart 1989, S. 131–147.

188 Claus bemüht sich, aus Schaaflorbern633 Schafe wachsen zu lassen und erwidert, als er auf sein vergebliches Tun hingewiesen wird, dass dann wohl Lämmer aus seinen Samen würden. Ebenso versucht er aus Hühner- und Gänsekot das entsprechende Geflügel zu züchten und beharrt auf seinem Vorhaben, als ihm stattdessen vorgeschlagen wird, Eier in der Erde zu vergraben. Er fügt hinzu, dass er darauf zurückgreifen wolle, wenn sein Versuch misslänge.634 In einer ähnlich strukturierten Historie gelingt es erst dann den Narren vom Ausbrüten von Pferdeäpfeln wegzulocken, biß einer auch also thet/ vnd stund wider auff/ vnnd gieng davon/ dem gieng Clauß nach/ vnd wurden die guten Pferdts Eyer zuschanden.635 Das Ansinnen, aus Exkrementen neue Tiere zu gewinnen, wird in den drei Büttnerschen Historien noch einmal überboten, als der Narr, sobald er auf sein unmögliches Unterfangen hingewiesen wird, nicht von seinem Plan ablässt und dadurch umso mehr seine Narrheit beweist. Die Doppelung sucht nicht nur seine natürliche Narrheit zu untermauern, sie weist außerdem auf die Kopplung von mentaler Differenz und Asexualität hin.636 Doch auch hier wird das närrische Verhalten nicht nur als komisch bewertet, sondern es wird beispielsweise im Fall der Historie Schaaflorbern versucht, praktische und religiöse Handlungsanleitungen daraus zu gewinnen: Diß ist ein schwang vnd guter ernst/ Wen du jn recht verstehst vnd lehrnst/ Vnd strauwest weitlich Schaff mist auß/ Es fFllt dir wider Scheur vnd Hauß/ Zuvor wenn Gott selbst Dingmann ist/ Deß Fuß baß dingt denn stroh vnd mist.637

Nicht alle Lehren, die an die Historien mit den närrischen Versuchen der Fortpflanzung gebunden sind, preisen das Düngen. Stattdessen warnt die Moralisatio der Historie HFnerbeinlein den Haußwirth638 vor falschem Gesinde, das ihm die Gänse und Hühner verschwinden ließe, bzw. spielen in der Historie Clauß vber Pferds Eyer auf den Roßthauw639 an, der zu hoch hinaus will und sich als ein Apfel ausgibt. Daher solle man bedenken, dass Hochmut auch am Galgen enden könne. Herausragend am achten Kapitel der Historien von Claus Narren ist, dass Büttner hier auf sehr bekannte Narreninszenierungen um Steckenpferde und Vermehrungspraktiken zurückgreift, die er an verschiedenen Beispielen präsentiert. Dabei verflacht und verharmlost er die Narrationen und folglich auch die Didaxe,

633 634 635 636 637 638 639

Büttner: Historien Büttner: Historien Büttner: Historien Vgl. oben, S. 53. Büttner: Historien Büttner: Historien Büttner: Historien

von Claus Narren, VIII, 10, S. 203. von Claus Narren, VIII, 11, S. 204. von Claus Narren, VIII, 18, S. 211. von Claus Narren, VIII, 10, S. 204. von Claus Narren, VIII, 11, S. 204. von Claus Narren, VIII, 18, S. 211.

189 so dass das doppeldeutige rhetorische Spiel um die närrischen Handlungen zwar noch anklingt, jedoch Witz und Hintergründigkeit zugunsten von harmloseren Varianten und einem reinen Nützlichkeitsdenken aufgegeben wird.

3.3.7 IX. ›Theil‹: ›Von kurtzweiligen vnnd vnargerlichen Wercken/ vnd Worten bey Collationen‹ Der Titel des neunten theils deutet bereits auf die thematische Ordnung dieses Kapitels hin, das sich über die in der Überschrift genannten Collationen640 hinaus mit symbolischen und rituellen Formen der Nahrungsaufnahme beschäftigt. Dennoch ist die Ordnung des neunten theils viel disparater als in den Kapiteln zuvor. Selbst wenn man zu dem Bereich der Collationen nicht nur gemeinsames Essen und Trinken, sondern auch die Zubereitung derselben hinzurechnet, fällt eine größere Anzahl von Historien auf, deren Aufnahme unmotiviert erscheint.641 Jedoch lassen sich mehr als zwei Drittel der Historien dem thematischen Kreis um das Essen und das Trinken zuordnen. Die erste Historie erzählt vom Schmecken und die vorletzte, die gleichzeitig die letzte Historie mit Claus Narr in diesem theil darstellt, beschäftigt sich mit der Verdauung.642 Die letzte Historie erzählt von einem betrogenen Ehemann als Narr mit einem Auge643 und markiert – vergleichbar mit den Schwänken über Petrus, die die ersten Kapitel der Historien von Claus Narren abschliessen – das Ende des neunten theils. Auch die Lehren greifen auf die thematische Ordnung des Kapitels zurück und warnen vor übermässigem Essen und Trinken. Darüberhinaus sind tugendund lasterhaftes Verhalten, die Narrheit und der richtige Glauben Gegenstand der moralischen Belehrung. Damit dienen die Lehren der Warnung vor Wollust und Trunkenheit, sie preisen das Maßhalten und verweisen auf Gott als den Spender aller Gaben, wie es schon die Lehre zur ersten Historie zusammenfasst. Sie deutet die Reaktion des Narren aus, der eine mit Gewürzen und Marzipan verzierte Butterwecke nicht essen will und stattdessen einen rohen Butterweck644 haben möchte, der weder gebraten noch gesotten ist.645 Assoziiert wird hier, wie an anderer Stelle auch, die natürliche Narrheit mit einer idealen Einfachheit und Schlichtheit.

640

641 642 643 644 645

Lexer: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch, Bd. I, Sp. 1665 gibt für collâcie »vortrag über tisch in einem kloster [...]; abendmal, trunk nach demselben« an; Götze: Frühneuhochdeutsches Glossar. Berlin 1967, S. 138, übersetzt mit »Schmaus, bes. Nachtessen; Ansprache«. Vgl. z. B. Büttner: Historien von Claus Narren, IX, 2, S. 245f.; 9, S. 250 und 38, S. 275. Diese Historien hätten thematisch besser in den fünften Teil gepasst. Büttner: Historien von Claus Narren, IX, 44, S. 279. Büttner: Historien von Claus Narren, IX, 45, S. 280. Büttner: Historien von Claus Narren, IX, 1, S. 244. Büttner: Historien von Claus Narren, IX, 1, S. 244.

190 So geths vnd ist also gethan/ Was Gott gibt/ wolln wir besser han/ Vnd kochen diß/ vnd brauwen ein/ Verderben Fleisch/ Bier/ Brod vnd Wein/ Sol aber das nicht SFnde seyn? Wenn man nit braucht wz Gott vns schenckt/ Jhr frommen Christen drauff gedenckt/ Nempt an mit danck was Gott beschert/ Vnd euch der N(scherey erwehrt/ Daß nicht die WFrtz den Beutel stech/ Vnd vnser Tranck sey Brunnen zech.646

In einer weiteren Historie steht der Narr als Exempel für eine unverfälschte, natürliche Einstellung zum Essen, die ebenso als erstrebenswert angesehen wird. So meint Claus Narr im Gegensatz zu der ihn umgebenden Gesellschaft, die gern Fisch und Fleisch isst oder Wein trinkt, er äße gern, wenn ihn hFngert/ vnd was auff den Tisch kommet/ t=chte es nicht zu essen/ der Koch wFrd es nit angerichtet haben.647 Ebenso möchte er eine Gesellschaft, die beim Essen nicht richtig zulangt, aufs Feld und in die Heide schicken, den Fresser648 zu suchen, was die Moralisatio untermauert. Kein Essen schmeckt noch baß bek=mpt/ Denn daß man hungrig zu sich nimpt/ Vnd wenn man jmmer frist vnd schlempt/ FFrwar das kriegt kein gsundes End649

Mental different erscheint Claus Narr in diesem theil, weil er elementare Regeln, denen die Nahrungsaufnahme unterworfen ist, nicht zu kennen scheint. Doch verhindert seine mentale Andersartigkeit in keinem Fall Essen und Trinken, vielmehr befördert sie es, denn dem natürlichen Narren wird ein Verhalten zugeschrieben, das der unmittelbaren Bedürfnisbefriedigung unabhängig von weiterreichenden Konsequenzen dient.650 So möchte der Narr in einer Historie,

646 647 648 649 650

Büttner: Historien von Claus Narren, IX, 1, S. 245. Büttner: Historien von Claus Narren, IX, 20, S. 261. Büttner: Historien von Claus Narren, IX, 24, S. 264. Büttner: Historien von Claus Narren, IX, 24, S. 264. Auch schon im Iwein wird das als Eigenart der natürlichen Narren ausgegeben, wenn dem Helden einzig und allein die Befriedung seiner oralen Bedürfnisse ihm noch als Denkleistung anerkannt wird. Vgl. Hartmann von Aue: Iwein. Aus dem Mittelhochdeutschen übertragen, mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen von Max Wehrli. Zürich 1988: »sô teter sam die tôren tuont in ist niht mêre witze kunt niuwan diu eine umbe den munt« (V. 3268-V. 3270) Auch die nachfolgende Szene mit dem Einsiedler, der ihn mit Wasser und Brot zähmt, spielt darauf an: »nu erzeicte der tôre zehant daz der tôre und diu kint vil lîhte ze wenenne sint« (V. 3320-V. 3322)

191 die auf die Hussiten anspielt, nicht auf den böhmischen Wein verzichten, auch wenn er dadurch ewig ein Ketzer651 bliebe. Um das Verlangen nach Fleisch schneller stillen zu können, schlägt Claus Narr einem Koch vor, doch schon am Donnerstag den Fisch zu essen, um dann am Freitag bereits das Fleisch zur Mahlzeit haben zu können.652 Essen und Trinken wird jedoch nicht nur als konkrete Nahrungsaufnahme, sondern darüber hinaus als Ritual auch im religiösen Sinne verstanden. Bereits einfache Ess- und Trinkrituale werden durch den Narren hinterfragt. So versteht der Narr beispielsweise nicht das Zuprosten, noch die Regelhaftigkeit eines Jahresablaufes.653 Auch nutzt Büttner den Narren wiederholt für antikatholische Polemiken. So kritisiert er indirekt die Praxis des Fastens, wenn er auf eine Predigt eines Mönchs, der beim Aposteltag die Gemeinde zum fasten vnd feyren654 aufforderte, kommentiert als wir feyren mehr/ denn wir arbeiten/ Aber wenn wir fasten/ so essen wir die besten Fisch/ vnd trincken guten Wein/ wie der Kellner/ vnd d=rffts vns der M=nch nit lehren/ wir wissen vor wohl wie der Wein schmeckt.655

Die Lehre bestätigt die Beobachtung des Narren und beanstandet die an Feiertagen begangene BFberey656 und die allzu üppigen Fastenmahlzeiten. Alles in allem sind die Handlungen des Narren wiederum mehr der parrhesia657 verpflichtet. So stellt der Narr nicht nur Ess- und Trinkgewohnheiten und religiöse Rituale in Frage, sondern tadelt ebenso Gelehrte, die von dem Teufflischen Laster Ebrietatis, der Trunkenheit658 reden, dass sie es gar nicht beurteilen könnten, da

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Iwein ist bedingt nur als ein natürlicher Narr zu sehen. Seine mentale Differenz wird zumindest noch bei Chrétien de Troyes als Melancholie begriffen, von der er letztendlich auch geheilt werden kann. Sein Anderssein wird hier – im Gegensatz zu der natürlichen Narrheit – als Krankheit begriffen, die die sinne befällt. Vgl. verschiedene Interpretationen dazu u. a. bei Wolfgang Mohr: Iweins Wahnsinn. Die Aventiure und ihr Sinn. In: ZfdA 100 (1971), S. 73–94; Burkhard Krause: Zur Psychologie von Kommunikation und Interaktion. Zu Iweins ›Wahnsinn‹. In: Psychologie in der Mediävistik. Gesammelte Beiträge des Steinheimer Symposions. Hg. von Jürgen Kühnel, Hans-Dieter Mück, Ursula Müller. Göppingen 1985, S. 215–242; Matejovski: Das Motiv des Wahnsinns, S. 120–155; Bruno Quast: Das Höfische und das Wilde. Zur Repräsentation kultureller Differenz in Hartmanns Iwein. In: Literarische Kommunikation und soziale Interaktion. Studien zur Institutionalität mittelalterlicher Literatur. Hg. von Beate Kellner, Ludger Lieb, Peter Strohschneider. Frankfurt, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien 2001, S. 111–129. Historien von Claus Narren, IX, 7, S. 249. Die Lehre spielt übrigens wieder auf die Auseinandersetzungen im ernestinischen Sachsen an. Büttner: Historien von Claus Narren, IX, 3, S. 246. Vgl. auch IX, 21, S. 261. Büttner: Historien von Claus Narren, IX, 33, S. 271 und 27, S. 267. Vgl. auch zu den Trinkritualen IX, 36 und 37, S. 274f. Büttner: Historien von Claus Narren, IX, 28, S. 267. Büttner: Historien von Claus Narren, IX, 28, S. 268. Büttner: Historien von Claus Narren, IX, 28, S. 268. Vgl. unten, S. 203. Büttner: Historien von Claus Narren, IX, 41, S. 278.

192 sie selbst nie betrunken gewesen seien. In der närrischen Einfalt verbirgt sich der Sinn für maßvolles Essen und Trinken und keinerlei Verständnis für Prasserei und Völlerei. Kein Zecher ist auch Clauß gewest/ Vnd doch an seinem Wort versteht/ Das Epicurus ist ein Schwein/ Kein Tugend acht/ fragt nur nach Wein.659

Selbst die Heilsgeschichte hinterfragt der Narr. Zwei Historien des neunten Kapitels beziehen sich auf die Speisung der Fünftausend. Als Claus in einer Predigt davon hört, sagt er dem Kurfürsten, der Mönch könne weitlich liegen.660 Die nachfolgende Historie bezieht sich auf eben jenes Gespräch und der Kurfürst versucht dem Narren die wunderbare Speisung damit zu erklären, dass die Brote so hoch wie ein Haus und die Fische höher als der Hausmannsturm des Torgauer Schlosses gewesen seien.661 Claus meint dennoch, dass es unglaubwürdig sei, denn das Essen solle ein Knabe getragen haben. Der Fürst antwortet daraufhin, dass es eben ein starker Knabe und leichte Brote und Fische gewesen wären. Die dazugehörigen Lehren zielen darauf ab, dass nicht die Vernunft, sondern der Glaube vor Gott zähle. Was vnser Sinn nicht fassen kan/ Das w=llen wir nicht nemmen an/ Vernunfft vnd Sinn vor Gott nicht taug/ Gerecht vnd from macht vns der Glaub.662

Damit knüpft der neunte theil auch an die Auseinandersetzungen des achten Kapitels an, der vor dem Verlust der Vernunft warnt. Doch der Vernunft übergeordnet ist der Glaube, den Claus Narr, wie in den Historien von Claus Narren mehrfach versichert wird, in jedem Fall besitzt. In diesem Zusammenhang ist auch zu verstehen, weshalb die 13. Historie Clausen Glaube663 mit dem Zusatz adiectum gekennzeichnet ist. Die Historie berichtet davon, dass Claus bei einem herrlichen Mahl664 gefragt worden sei, was er glauben würde. Claus entgegnet, dass er glaube, was der andere nicht glauben würde und führt weiter aus, dass er glaube, man wird seinen Gesprächspartner newlich an dem lichten hellen Galgen hencken [...] das glaubst du nicht/ vnd hast es auch nie geglaubet.665 Diese Narrenrede unterscheidet sich von denen vieler anderer Historien.666 Zunächst

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Büttner: Historien von Claus Narren, IX, 37, S. 275. Büttner: Historien von Claus Narren, IX, 10, S. 252. Büttner: Historien von Claus Narren, IX, 11, S. 252f. Büttner: Historien von Claus Narren, IX, 10, S. 252. Büttner: Historien von Claus Narren, IX, 13, S. 254. Büttner: Historien von Claus Narren, IX, 13, S. 254. Büttner: Historien von Claus Narren, IX, 13, S. 254f. Vgl. dagegen Schmitz: Wolfgang Büttners Volksbuch von Claus Narr, S. 50.

193 einmal antwortet der Narr in einer ihm sonst nicht gemäßen Form, nämlich mit einem von ihm bewusst intendierten Rätsel. Könnte man andere Antworten von ihm durchaus als rätselhaftes Sprechen bezeichnen, so erfolgt die Auflösung jedoch immer entweder durch den Erzähler vorweg innerhalb der Narratio oder in der Lehre, in keinem Fall aber durch den Narren selbst. So gesehen wäre auch der lateinische Einschub erklärlich, der die Möglichkeit einer solchen Äußerung des Narren Claus prinzipiell anzweifelt und sie nur für eine fälschliche Zuschreibung der mündlichen Tradierung hält: Ex multis equidem audiui Claum cum quodam ita iocatum fore, verum quia alius quispiam cum equite locutus est in hunc modum, non possum prorsus affimare à Clao profectum esse hoc verbum, quamuis nil referat, etiamsi Clao adscribatur.667

Die Distanzierung des Autors gegenüber dem Narren lässt sich nicht nur an diesem Zusatz ablesen, sondern auch die Lehre enthält eine scharfe Narrenschelte: Jch habs vor offt vnd viel gemeldt/ Wer sich zu Narren helt vnd gsellt/ Der hat dauon kein Ehr noch Lob/ Der Narr macht Herr vnd Frauw zu spott/ Vnd sagt ein Narr fein Wort in tag/ Wers so/ es brecht dir Weh vnd Klag.668

Die sonst übliche Trennung zwischen dem Narren des Prosateils und der aus Erzähler und Leser bestehenden Narrengemeinde wird hier zugunsten einer in Prosateil und Lehre negativ gezeichneten Narrenfigur fallengelassen. Ein protestantische Glaubensgrundsätze verunglimpfender Claus Narr ist für Büttner unvorstellbar und damit ließe sich die besondere Markierung der Historie erklären. Ähnlich verfährt Büttner in der achten Historie Ein kleine vnd grosse Nase.669 In dem auch anderweitig oft zitierten Schwank wundert der Narr sich zuerst über die große Nase eines Bischofs, dann, als ihm das verboten wird, über die lustige vnd feine.670 Daraufhin wird er wiederum geschlagen und nach draußen geschickt. Der Narr kehrt ein drittes Mal zurück und sagt zu dem geistlichen Würdenträger: Ey mein lieber Herr Bischoff/ ich wolte du hettest ein ding in deiner Nasen/ ich habe warlich deiner Nasen keinen gewinn/ behalt dir deine Nase/ sie sey wie sie ist/ ich mag jr nicht mehr.671

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Büttner: Büttner: Büttner: Büttner: Büttner:

Historien Historien Historien Historien Historien

von von von von von

Claus Claus Claus Claus Claus

Narren, Narren, Narren, Narren, Narren,

IX, IX, IX, IX, IX,

13, S. 255. 13, S. 255. 8, S. 249. 8, S. 250. 8, S. 250.

194 Nachweisbar ist die Historie schon vor Büttner für einen namenlosen Narren eines französischen Geistlichen.672 Doch die hier eingeführte Unterscheidung der beiden Narren mit dem Namen Claus – es wird vermerkt, es sei ein anders Clauß gewesen (Nam simile de alio quodam fatuo narratur) –673 verweist deutlich auf das der Didaxe verpflichtete Programm Büttners. Es stellt einen natürlichen Narren als Exempel heraus, wohingegen solche eindeutig obszön konnotierten Äußerungen nur einem anderen Narren zugeschrieben werden können. Die Lehre straft dementsprechend auch diesen anderen Claus ab: Also wir all erkennen bald/ Was diesem oder jenem fehlt/ Das straffen wir/ vnd richten viel/ Auff sich selbs keiner mercken wil/ Woran es jhm fehl vnd gebrech/ Wenn einer erst sich selbst besech/ Vnd von jm weg die Laster schFtt/ Er ließ wol ander Leut zu fried/ Vnd decht mein Nechsten brech ist klein/ Dagegen trag ich grosser Neun.674

Die beiden zuletztgenannten Historien, die explizit von einem anderen Narren als Claus erzählen, greifen jedoch auf einen mit närrischen Inszenierungen oft verbundenen Ort zurück, denn auch Flögel schreibt noch, »Narren gehören vor den Tisch, daß sie stocken«.675 Doch Claus Narr wird in Büttners Historien von Claus Narren weniger als Lustigmacher und Unterhalter bei Tisch dargestellt, sondern vielmehr dient er dazu, maßvolles Verhalten einzufordern. Dazu gehört nicht nur die Zurückhaltung und das Benehmen beim Essen und Trinken, sondern auch die Erinnerung daran, dass die geistliche Speise ein essentieller Bestandteil des Lebens ist.

3.3.8 X. ›Theil‹: Claus Narr und die Artes Der Titel des zehnten theils – Von Clausen natFrlichen angebornen Schimpffworten vnnd SprFchen/ mit verwunderung zulesen/ vnd zu gutem zu gebrauchen –676 deutet in keiner Weise auf die thematische Ordnung dieses Kapitels hin, das sich sowohl in den Narrationen wie auch Moralisationen verstärkt mit Glaubensfragen beschäftigt. Verbunden ist diese theologische Auseinandersetzung mit den übrigen Historien des zehnten theils, die ihre Themen aus den Artes schöpfen und damit eine Brücke zur Theologie schlagen. Während die ersten vier

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Vgl. Pauli: Schimpf und Ernst, Bd. 1, 41, S. 32; Sachs: Fabeln und Schwänke, Bd. IV, 247, S. 12f. Büttner: Historien von Claus Narren, IX, 8, S. 249f. Büttner: Historien von Claus Narren, IX, 8, S. 250. Flögel: Geschichte der Hofnarren, S. 182. Büttner: Historien von Claus Narren, X, S. 281.

195 Historien Luther und die reformatorische Lehre verhandeln, deutet die Lehre der fünften Historie die Narrenrede als eine Replik auf die historischen Anfänge der Reformation, obgleich der Narr lediglich die Abwesenheit der Sonne bemängelt. Die folgenden Historien greifen neben theologischen Themen Fragen zur Geographie, Geometrie und Musik auf. Außerdem wird verschiedentlich die Situation von Gelehrten, seien es Studenten, Doktoren oder Pfarrern, beschrieben. Die KFnste identifiziert Büttner in seiner Dialectica Deutsch mit dem Verstand: Wolan/ was geh=ret zum verstande? Alle freye KFnste/ vnd l=bliche Faculteten/ als da seind die gantze Philosophia/ Gram: Rhetorica/ Musica/ Arithmetica/ Astronomia vnd Geometria/ darnach Cosmographia/ Mathematica/ Metaphisica/ Phisica/ Geodesia/ Phisiognomia/ Topographia/ Summa summarum/ mit einer summa/ alles was Menschlicher wolfart/ vnd zu derselben bef=rderunge/ mit weisheit vnd klugheit/ gedeylich vnd fr=mlich/ das ist vnd heist Habitus mentis, oder Intellectus/ vnd mus zum verstande des Menschen gefFgt/ vnd daselbst hin verzielet vnd eingeweist werden.677

Verstand bedeutet in erster Linie, über Wissen aus den Bereichen der Artes zu verfügen. Jedoch genau diesen Verstand besitzt der Narr nicht, ihn charakterisiert seine mentale Differenz. So erklärt ein Mathematiker dem Narren in einem Collegio678 die Weltkugel und Claus sucht dazu die passenden Weltkegel.679 Als ihm aber in der darauffolgenden Historie der Globus mit seinen Darstellungen genauer gezeigt wird, kann er BurckmFhle/ vnnd das W(ldichen,680 die auf dem Weg nach Jena liegen, nicht erkennen. An anderer Stelle sieht der Narr zwei Regenbogen als Bogen an und befürchtet, mit noch schärferen Pfeilen beschossen zu werden.681 Er vermag weder zu verstehen, wie eine Orgel oder eine Laute funktioniert, noch sind ihm die Grundlagen des Gesangs vertraut.682 Doch dieses wird dem Narren nicht vorgeworfen, da solcher Mangel in seiner Natur liegt und als unveränderbar angesehen wird. Eim jeden Kopff die Kunst nicht dient. Daß er dieselben lehrnen kFnd/ Sich jede Faust nicht reimbt noch schickt/ Daß sie ein guten Schneider gibt/ Natur/ das ist ein guter Sinn/ Vnd wenn man vnderricht der ding/ Vnd vbt sich embsig/ viel darinn/ Gibt Kunst vnd Weißheit Gott zu ehr/ Ohn Gottes forcht taug keine lehr.683

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Büttner: Dialectica Deutsch, Bl. D 7v–D 8r. Büttner: Historien von Claus Narren, X, 11, S. 291. Büttner: Historien von Claus Narren, X, 11, S. 291. Büttner: Historien von Claus Narren, X, 12, S. 293. Büttner: Historien von Claus Narren, X, 15, S. 295f. Vgl. Büttner: Historien von Claus Narren, X, 29, S. 308 und 30, S. 308f.; 27, S. 306f. und 28, S. 307. Büttner: Historien von Claus Narren, X, 28, S. 307f.

196 Das zehnte Kapitel kann in gewisser Weise als Fortsetzung des achten theils gelesen werden. Während das achte Kapitel den Leser eindringlich warnt, seinen Verstand zu gebrauchen, um nicht zu einem Tier zu werden, verdeutlicht das zehnte die Nichtigkeit der menschlichen gegenüber der göttlichen Vernunft. Zunächst einmal warnt der auf die Wissenschaften ausgerichtete zehnte theil vor der Erforschung der Welt, denn die neuwen FFnd sind Teuffels trieb.684 Auch das übermäßige Studium schadet, wie es Büttner aus eigener Erfahrung kommentiert. Die Kunst ist reich vnd lobens werth/ Die misset ab Himmel vnd Erdt/ All Landt vnd Leuth erkennen lehrt/ Darzu man weder schifft noch fert/ Allein mit Zahl vnd Instrument/ All ferr vnd nahe orth man kennt/ Wie weit die Statt von jener ligt/ Die Kunst deß Menschen Sinn sehr vbt/ Doch nicht so viel darinn studier/ Du wirst zum N(rrlein glaub du mir/ Jch hab mich auch versucht darinn/ Vnd wenn ich noch damit vmbgieng/ Jch wFrd zum Kind/ wie ich auch war/ Vor viertzig vnd fFr sieben Jahr/ Wendestu dich aber drauf allein/ Vnd leßt ander Studieren seyn/ So k=mpstu zimlich hoch hinan/ Aber ich heiß ein Glehrten Mann/ Der Tugend sucht vnd f=rchtet Gott/ Wers besser weiß/ lach mein vnd spott.685

Doch nicht nur das lange Studieren kann der Weisheit schaden, auch Gelehrte überhaupt verfügen nicht immer über weise Einsichten. Auf die Frage eines Mathematikers, wie groß die Welt sei, sagt Claus: Sie reichet von Abend biß zum Morgen vnd vom Mittag biß zur Mitternacht/ vnd ist so groß als du vnd ich seynd.686 Die närrische Antwort erfährt in der Moralisatio eine positive Deutung. Sind das deß Clausen wort vnd schwenck/ So weiß ich nicht was ich gedenck/ Wenn man im Land ein Klugen fragt/ Solch Wort man jhm nicht bald abjagt/ Vnd ist wie Cl(ußlein hie vermeldt/ Nicht gr=sser die sch=n herrlich Welt/ Dann ist vom Abend an den Tag/ Diß Wort ist nicht ein Narren sag/

684 685 686

Büttner: Historien von Claus Narren, X, 10, S. 291. Büttner: Historien von Claus Narren, X, 11, S. 292. Büttner: Historien von Claus Narren, X, 19, S. 299.

197 Nicht gr=sser auch denn du vnd ich/ Der Welt man dich vergleicht vnd mich/ [...] Gott hat sein G=ttlich macht beweist/ An seim Gesch=pff das jhn hoch preist/ Sein Bild dem Menschen er eingeust/ Drumb wol ein kleine Welt du heist.687

Theologische Fragen umfassen eine große Anzahl von Historien im zehnten Kapitel der Historien von Claus Narren. So möchte Claus Narr einmal das Abendmahl nehmen, es wird ihm aber stattdessen ein saurer Rettich in den Mund gelegt und er schreit: O du sFsser Gott/ wie sawer ist dein heiliger Wahrleichnam.688 Die in der Lehre angebotene Deutung vermag zwar nicht die Frage zu lösen, ob natürliche Narren das Abendmahl empfangen dürfen oder nicht, stellt aber den Glauben als wesentlich für das Seelenheil heraus: Hier wird der gute Mensch geteuscht/ Mich dFnckt es taug nit daß mans preist/ Jch h=r/ daß mans mehr Thoren gibt/ Das Sacrament/ vnd nimpts jn nit/ Doch wie man hieran thut vnd fehrt/ Bin ich nicht worden so gelehrt/ Daß ichs beredt vnd widersprech/ Der Glaub zum Wort heilt all gebrech/ Wir sind sonst Thoren oder glahrt/ So viel sag ich zu dieser fahrt/ Darvon ich sonst k=nd melden mehr/ Geh=rt aber nicht alls hieher.689

Die hier zitierten Beispiele illustrieren umfassend den paulinischen Weisheitsbegriff. Die Wissenschaften – die Weisheit der Welt – werden mit der närrischen Weltsicht konfrontiert. Die Auffassungen des Narren werden in der Lehre mit der göttlichen Weisheit identifiziert und sind damit nicht lächerlich, sondern der weltlichen Weisheit überlegen. Dies geschieht beispielsweise auch in der Historie Clauß im Himmel.690 Hier fragt der Narr die Sonne, wie sie hieße und ein anderer antwortet, dass sie sich Claus nennen würde. Der Narr möchte sich daraufhin, weil es einen Claus im Himmel gäbe, an einem Feiertag mit ihm verabreden, um einiges mit ihm zu bereden. Auch wenn die Antwort des Narren nur durch eine Täuschung zustandekommt, gilt sie dennoch als ein wahres Glaubenszeugnis: Meynt jhr nicht liebe BrFder mein/ Als Clauß hie narrt ohn scharpff Latein/

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Büttner: Büttner: Büttner: Büttner:

Historien Historien Historien Historien

von von von von

Claus Claus Claus Claus

Narren, Narren, Narren, Narren,

X, X, X, X,

19, S. 299f. 7, S. 288. 7, S. 288. 6, S. 287.

198 Jst recht vnd bleibt die Warheit rein/ Solt nicht ein Clauß im Himmel seyn/ Es muß/ der gl(ubig ist/ hinein/ Vnd warlich nicht fehlen an eim.691

Glaube und Verstand sind voneinander getrennt, denn der Glaube gehört zum Willen, wie es Büttner in der Dialectica Deutsch beschreibt: Glaube vnd auffrichtigkeit/ seind zwo l=bliche Tugenden/ vnd Seulen/ darauff das Menschliche geschlecht gegrFndet/ vnd bestehet/ Aber sie haben im Menschlichen verstande keine niederlasse/ noch wohnunge/ sondern sie hausiren vnd wohnen im Menschlichen gemFte/ das ist/ in einem guten vnd redlichen willen.692

So gesehen ist dem Narren zwar weitestgehend das Wissen um die Beschaffenheit und Ordnung der Welt durch seinen mangelnden Verstand verwehrt, nicht aber Glaubensfähigkeit und tugendhaftes Verhalten an sich. Auch die göttliche Gnade erlangt man nicht durch den Gebrauch von Vernunft, denn diese erhält man allein durch den Glauben, wie es Büttner im Schlussgebet der Dialectica Deutsch formuliert: Vernunfft fehrt wol zum Himmel nan Darein sie doch nicht kommen kann/ Auch drFber nicht/ Gott macht die ban/ Zum Himmel/ drin das leben steht Zu dem man ein durch Christum geht/ Gott geb/ das heut geschehen solt Furwar ich mich nicht seumen wolt/ [...] Allein im Glauben mich erhalt Verlass mich nicht/ ich bin nun alt693

Die Überlegenheit des Glaubens über den Verstand führt das zehnte Kapitel an verschiedenen Beispielen vor und etabliert damit den Narren als eine Figur mit einer mentalen Devianz, die gerade deshalb über tiefere Einsichten verfügt als es selbst Gelehrten möglich ist. Dieses Kapitel mit seiner im Titel nicht spezifizierten thematischen Ordnung markiert zugleich den Übergang zum elften bis fünfzehnten theil der Historien von Claus Narren, deren Ordnung disparat erscheint. Keines der folgenden fünf Kapitel lässt sich thematisch eingrenzen, wiewohl sich immer wieder verschiedene Historien um ein Thema gruppieren lassen.694 Erst der abschließende sechzehnte theil fügt sich wieder in die topische Ordnung ein.

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Büttner: Historien von Claus Narren, X, 5, S. 287. Büttner: Dialectica Deutsch, Bl. D 4v. Büttner: Dialectica Deutsch, Bl. S 5v. Büttner: Historien von Claus Narren. Vgl. beispielsweise zur Armut: XI, 5–11, S. 317ff.; zu katholischen Riten: XIII, 14–20, S. 396ff.

199

3.3.9 XVI. ›Theil‹: ›Von sterben vnnd krancken‹ Der sechzehnte theil schließt die biographische Klammer zum ersten Kapitel und endet mit dem Tod von Claus Narr. Die letzte Historie berichtet davon, dass der Narr nach Weyda unterwegs war und dort starb.695 Von den insgesamt 28 Historien dieses Kapitels behandeln 23 das Thema Sterben und Tod, während die anderen fünf sich mit Krankheiten auseinandersetzen. So gibt sich beispielsweise der Narr als ein Mörder aus, obwohl er die Tat nur geträumt haben kann, oder er sieht eine Klette im Rock als den Tod an.696 Auch hat Claus Mitleid mit einem umgehauenen Baum, den man so hart gestrafft hat,697 weil er wohl vbel gehandelt698 habe. Die verschiedenen Historien über den Tod und über Krankheiten dienen der Belehrung des Lesers, der sich, wie es bereits im Titel des Kapitels heißt, sich t(glich zu seligem/ friedlichem vnd sanfftem Absterben/ fertig machen/ vnd sich alle stunden deß Todts versehen solle.699 Der Narr agiert hier vor allem als Mahner. Wird der schnelle Tod eines reichen Bürgers beklagt, so antwortet der Narr, dass es die rechte stunde/ vnd der letzte tag mit jhm [war, RvB]/ er wehre sonst noch nicht gestorben/ wehre auch wol bey vns blieben/ wenn er hette bleiben k=nnen.700 Die Lehre setzt mit den Gedanken des Narren fort: Zu schnell stirbt keiner/ vnd die zeit/ Die Gott eim jeden g=nnt/ vnd leiht/ Erlebt ein Mensch vnd drFber nicht/ Was Physic oder Metri spricht.701

Die Klette, die Claus Narr am Gewand hängt und die der Narr selbst als den Tod ansieht, der sich seinen Rock um den Hals gehängt habe, dient einem allgemeinen memento mori in der Moralisatio: Vns klebt der Tod an hart/ vnd hafft/ Kein Mensch sich dessen ledig macht/ Man streift vnd schFtle wie man w=ll/ Da gilt kein Conseru auch kein Pill/ Darzu kein Latwerg/ kein Purgatz/ Die SFnd dem Todt alls geben hat/ Vnd mFssen sterben all mit schmertz/ Gott geb vns nur ein gl(ubig Hertz/ Daß wir in Christo sterben ab/ So bleiben wir nicht lang im Grab/

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Büttner: Historien von Claus Narren, XVI, 28, S. 500. Vgl. Büttner: Historien von Claus Narren, XVI, 1, S. 482 und 3, S. 483. Büttner: Historien von Claus Narren, XVI, 5, S. 485. Büttner: Historien von Claus Narren, XVI, 5, S. 485. Büttner: Historien von Claus Narren, XVI, S. 482. Büttner: Historien von Claus Narren, XVI, 2, S. 483. Büttner: Historien von Claus Narren, XVI, 2, S. 483.

200 Vom Todt wir wider aufferstehn/ Jns Leben mit dem HErren gehn.702

Ebensowenig wie der Zeitpunkt des Todes vorherbestimmbar ist, kann auch nicht der Ort des Todes gewählt werden, es sei auf dem Land oder auf dem Wasser.703 Claus Narr protestiert verschiedentlich in den Historien gegen Flüche, die ihm selbst oder anderen gewünscht werden und die sich vor allem auf den Tod und die Hölle beziehen. Eine dazugehörige Lehre unterstreicht und begründet die Ablehnung: Man wFndscht mit vngestFmm vnd flucht/ Ein Mensch deß andern schaden sucht/ Vnd giebt auff seines Feinds verderb/ Niemandt betracht/ daß er auch sterb/ Vnd kommen kan in leyd vnd weh/ WFndsch nit mein Kind/ der Tod kompt ehe/ Denn ich vnd jhr wol dencken dran/ Vnd mFssen in eim hui davon.704

Auch die Medizin erfährt im sechzehnten theil eine kritische Würdigung. Zwar ist Medica [...] Gottes Werck,705 aber dennoch kann sie nicht in den göttlichen Schöpfungsplan eingreifen und ihn umstellen. Büttner polemisiert gegen Paracelsus und empfiehlt stattdessen Philipp Begardis Buch Index Sanitatis.706 Auch warnt in der Historie Den Tod gefressen707 jemand den Narren, dass er den Tod einsaufe. Claus entgegnet, andere hätten ihn schon eingefressen.708 In der Auslegung verweist Büttner darauf, dass die Erbsünde Ursache des Todes und anderer Übel und sie vor allem gegenüber der Humoralpathologie und Astrologie abzusetzen sei. Fragt man ein glehrten Mann/ vnd sprech: Woher kompt kranckheit vnd gebrech: Sorg/ gremen/ angst/ forcht/ schrecken/ todt/ Elendt/ hertzleidt/ vnd ander noth/ Krieg/ Theuwrung/ Pestilentz vnd Gifft/ Vnd was deß jammers mehr antrifft/ So sagt er her vom Temprament/ Vnd sicht ans Menschen Naß vnd H(ndt/ Sagt her/ es sey der feuchten schuldt/

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Büttner: Historien von Claus Narren, XVI, 3, S. 483f. Büttner: Historien von Claus Narren, XVI, 4, S. 484. Büttner: Historien von Claus Narren, XVI, 15, S. 493f. Vgl. auch XVI, 24 und 25, S. 498. Büttner: Historien von Claus Narren, XVI, 20, S. 497. Philipp Begardi: Index Sanitatis. Eyn Sch=ns vnd vast nützlichs BFchlin/ genant Zeyger der gesundtheyt/ Den jhenen/ so kranck seind/ vnd nit wissens haben/ wie/ wo vnd mit was massen sie widerumb bekommen m=gen vnd erlangen recht volkommende gesundtheyt zu trost gemacht vnd an tag geben. Worms 1539. Büttner: Historien von Claus Narren, XVI, 11, S. 490. Büttner: Historien von Claus Narren, XVI, 11, S. 490.

201 Die Leben wurtz er nennen wolt/ Sonst heists humidum Radical, Wenn das verlischt im Leib zu mal/ Vnd kriegt der Leib zu viel der hitz. Als denn ein Stern am Himmel sitzt/ Den Todt dem Menschen zeigt vnd bringt. Clauß aber hie viel anders singt/ Kein Menschen/ merck/ der Stern erwFrgt/ Auch nicht von feucht noch treugem stirbt/ Es ist der frisch vnd gut Salat/ Den Adam eingefressen hat/ Den Todt fraß Adam ein vnd schluckt/ Der vns auch Halß vnd Hertz abtruckt.709

Die natürliche Narrheit wird an keiner Stelle und auch nicht in diesem dem Tod und den Krankheiten geweihten Kapiteln als Krankheit verhandelt. Claus Narr selbst kommt als natürlicher Narr in eine Phantasiam,710 die in keinen Zusammenhang mit seiner Narrheit gesetzt wird und in der er glaubt, er sei tot. Der Narr isst und trinkt deshalb nicht mehr, bis ein anderer sich auch als gestorben ausgibt und vor des Narren Augen Essen und Trinken zu sich nimmt. In der Deutung werden alle Menschen einschließlich dem vermeintlich toten Narren, nur durch das Wort – das ist die Speiß vnd Seelen tranck –711 auferweckt werden können. Der Glauben an die Erlösung durch den Kreuzestod Christi und an die Auferstehung sind zentrale Glaubensaussagen in dem abschließenden Kapitel der Historien von Claus Narren. Dementsprechend werden alltägliche Handlungen des Narren darauf bezogen. Einmal will der Narr ein altes Hemd nicht anziehen und ein neues haben, weil er meint, er sei aus dem Bad gekommen. Der Erzählerkommentar fügt hinzu, dass der Narr vielleicht von baden getr(umet712 habe. Die Lehre legt das Geschehen ganz im Sinne der Heilsgeschichte aus: Diß Wort ein solch bedeutung hat/ Herr Adam wil nicht nein ins Grab/ Dem Fressemaul vnd faulen Haut Vor sterben/ vnd dem Tode grauwt/ Doch h=rt Herr Adam/ alter Herr/ Wenn jhr euch sperret noch so sehr/ So mFst jhr dran mein Domine, Cum vestro malo homine, Das neuwe kleid das Christus gibt/ Jm Wort/ ist Glaub/ vnd wahrer friedt.713

709 710 711 712 713

Büttner: Büttner: Büttner: Büttner: Büttner:

Historien Historien Historien Historien Historien

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Claus Claus Claus Claus Claus

Narren, Narren, Narren, Narren, Narren,

XVI, XVI, XVI, XVI, XVI,

11, S. 490f. 7, S. 486. 7, S. 487. 17, S. 494. 17, S. 494f.

202 Dass der natürliche Narr ein Vorbild auch für das richtige Sterben ist, wird in dieser Historie nur angedeutet. Deutlicher erscheint es in der Historie Todtenbare,714 in der eine Jungfrau mit viel Pracht zu Grabe getragen wird. Der Narr freut sich über eine vermeintliche Hochzeit, bei der die Braut zum Bräutigam heimgeführt würde. Die Aussage des Narren, so die Lehre, sei ein Christlich Clausen redt,715 da man ja tatsächlich mit dem Tod zum Herren heimgebracht würde. Auch hat der Narr nicht Angst vor dem Tod, sondern nur davor, ob alle Lebenden genug Raum im Himmel haben werden.716 Die Lehre räumt diese Sorge aus: Auch hat Christus die St(tt bereyt/ Jn der man lebt in Ewigkeit.717

An anderer Stell trauert der Narr darüber, dass ein leutseliger vnd frommer Mensch,718 von dem man sagt, dass er mit seinen Späßen sogar Tote aufwecken könne, sterben werde und es dann keinen gäbe, der ihn vom Tode wieder auferweckt. Jedoch dient hier die närrische Rede nur als Anstoß, um allgemeine Glaubensgrundsätze zu wiederholen: Vom Todt wir werden aufferstehn/ Zu Gott ins ewig Leben gehn/ Durch Jesum Christum doch allein/ Der ist die Straß sonst weiß ich kein.719

Die antikatholische Polemik, die in den Historien von Claus Narren immer wieder spürbar ist, erscheint auch im sechzehnten theil. Als der Narr von einem Mönch gefragt wird, ob er die letzte Ölung haben wolle, bejaht er das. Er meint: Hilfft es mir nicht/ so wirdt es dir helffen/ denn man sol dir Schmierlohn geben720 und die Lehre schließt an: Hie merckt ein jeder Christ vnd h=rt/ Daß Claus sich an den Bapst nich kehrt/ Helt nichts auff Schmiererey vnd =l/ Deß HErren ist sein arme Seel/ Der M=nch lohn ist weh vnd pein/ Vnd sol das Hellisch feuwer seyn.721

Von Anfang bis Ende ist Claus Narr in den Historien von Claus Narren als ein Vorbild für den Leser gestaltet. Daran knüpft auch der Schlussteil des Buchs an, der sich an den sechzehnten theil anschließt.

714 715 716 717 718 719 720 721

Büttner: Büttner: Büttner: Büttner: Büttner: Büttner: Büttner: Büttner:

Historien Historien Historien Historien Historien Historien Historien Historien

von von von von von von von von

Claus Claus Claus Claus Claus Claus Claus Claus

Narren, Narren, Narren, Narren, Narren, Narren, Narren, Narren,

XVI, XVI, XVI, XVI, XVI, XVI, XVI, XVI,

10, 10, 26, 26, 14, 14, 27, 27,

S. 489f. S. 490. S. 499. S. 499. S. 492. S. 493. S. 499. S. 499f.

203 In der Oratio Autoris gibt sich der Erzähler in Gottes Hände und wünscht sich ein ruhiges Ende. Sollte er jedoch durch Gottes Gnade länger leben, so bittet er darum, die Ketzerey722 zu beenden und ihm sein t(glich Brot723 zu bescheren. Die Wünsche sind als ein Gebet formuliert und verweisen durch das Akrostichon, das MAGJSTER VOLFGANG BVTTNER PFRRER ZV VOLFFERSTET ergibt, auf den Autor der Historien von Claus Narren. Ein Sch=ner Appendix, der der Oratio Autoris folgt, handelt von den Sünden oder den Torheiten der Welt: de quatuor peccatis seu stoliditatibus Mundi.724 Die vier Sünden – Blasphemie, Geiz, Hochmut und Trunkenheit – werden zusammengefasst und als Laster angeprangert. Der weltlichen, verwerflichen Narrheit – stoliditas – wird die natürliche, erstrebenswerte Narrheit – simplicitas – im Schlussgebet gegenübergestellt, die programmatisch für das gesamte Werk stehen kann: Erbarm dich vnser HErre Gott/ Vns liebt/ du weist/ dein rein gebot/ Vns liebt die schlecht Simplicitet/ An vns klebt nur Stoliditet/ Das ist der SFnden last vnd st(rck. Nach Thoren art/ vnd Kinder weiß/ Steht vnser hertz/ sinn/ muth vnd fleiß/ Doch trauwen wir/ vnd glauben fest/ Dein Vatters handt vns nicht verlest/ Du stehst bey vns steiff in der noth/ Drumb heist vnd bleibst du treuwer Gott.725

3.4

›Der lehrende Claus‹: Konzeptionen der natürlichen Narrheit in den ›Historien von Claus Narren‹

Die Historien von Claus Narren greifen auf Vorstellungen über die natürliche Narrheit zurück und entwerfen mit deren Hilfe ein dezidiert didaktisches Programm, das von praktischen Hinweisen zum Alltagsleben, Fragen zur Landesherrschaft bis hin zur religiösen Unterweisung im Sinn einer protestantischen Ethik reicht. Das Werk vertritt nicht den Anspruch, einen natürlichen Narren zu beschreiben, sondern vielmehr benutzt es die Devianz des Narren als beispielgebendes Vorbild. Veranschaulichen lässt sich das an den thematisch geordneten Kapiteln der Historien von Claus Narren. Greifen diese auf loci als eine wie in der Dialectica Deutsch beschriebene Schatzkammer726 zurück und variieren

722 723 724 725 726

Büttner: Büttner: Büttner: Büttner: Büttner:

Historien von Claus Narren, Bl. Historien von Claus Narren, Bl. Historien von Claus Narren, Bl. Historien von Claus Narren, Bl. Dialectica Deutsch, Bl. C 5v.

k k k k

ijv. ijv. iijr. iiijv.

204 entsprechend das thematische Feld, indem sie unterschiedliche Situationen mit dem Narren entwerfen, evozieren sie damit eine Doppeldeutigkeit. So entsteht ein Bild des Narren, dessen Devianz sich anhand von verschiedenen Themen entfaltet, die vom Hof bis zu Handwerkern, von Frauen bis zu Tieren reichen. Gleichzeitig wird aus den verschiedenen Situationen, in die der Narr hineingestellt ist, ein didaktisches Programm für den Leser entworfen. Diese Doppeldeutigkeit ist bereits den jeweiligen Überschriften zu entnehmen. Explizit fasst es der Titel des 16. theils, das als leztes Kapitel vom Tod des Narren berichtet und gleichzeitig der Warnung des Lesers dient: Der sechszehende Theil/ von sterben vnnd krancken Christlich zu lesen/ Vnnd dabey zu lehrnen/ wie man sich t(glich zu seligem/ friedlichem vnd sanfftem Absterben/ fertig machen/ vnd sich alle stunden deß Todts versehen solle.727

Auf der Handlungsebene wird in diesem Kapitel der Tod des Narren erzählt, der gleichzeitig als memento mori für den Leser dient. Auch die anderen theile, die an die Ankündigung, von bestimmten kurtzweiligen vnnd vn(rgerlichen Wercken/ vnd Worten728 des Narren zu erzählen, anknüpfen, verweisen gleichzeitig immer auf die moralische Belehrung des Lesers, denn die Historien seien zu manchf(ltiger Lehre angefFhret/ vnnd wol zu gebrauch geweiset729 oder nicht ohne frucht vnd reine Lehre zu lesen vnd zu recitiren.730 Das didaktische Anliegen des Werks führt dabei verschiedene Traditionen zusammen, die in den Historien von Claus Narren miteinander verflochten sind. In einer kleineren Anzahl von Historien wird Claus Narr als ein die Zukunft prophezeiender Narr gezeichnet. Hier wird er damit als ein Prodigium und somit als ein zukünftiges Geschehen ankündigendes Wunderzeichen rezipiert. Doch auch alle anderen Handlungen des Narren werden in den Lehren überwiegend als beispielgebend gedeutet. Die Darstellung des Narren als ein Exempel verweist auf die Kyniker und damit verbunden die Narren in Christo, weshalb diese Traditionen und ihre vorbildgebende Rolle für die Historien von Claus Narren genauer analysiert werden sollen.

3.4.1 Claus Narr als Wunder und Wunderzeichen Gott selbst den Regenbogen stellt/ Daß er daran bedeut die Welt/ Er strafft mit Wasser/ Fewr vnd Blut/ Doch wer ablest vnd Busse thut/ Ein Gnadenzeichen Gott vns zeigt/ Dabey der ander Bog sich eugt/

727 728 729 730

Büttner: Büttner: Büttner: Büttner:

Historien Historien Historien Historien

von von von von

Claus Claus Claus Claus

Narren, Narren, Narren, Narren,

S. 482. IX, S. 244. II, S. 20. XIV, S. 421.

205 Gibt zuuerstehn will man nicht dran/ Der Gottesl(sterung mFssig gahn/ So wil Gott dran vnd schmeissen drauff/ Vnd sehen wer seim grimm entlauff/ Also ein Bog Gotts Gnad bdeut/ Der ander auff sein Vngnad zeigt.731

Diese Lehre folgt einer Historie, in der Claus Narr einen doppelten Regenbogen sieht. Das ungewöhnliche Naturereignis des doppelten Regenbogens deutet Büttner als ein besonderes Gotteszeichen, das, abhängig vom Beobachter, sowohl Gnade wie auch Ungnade bedeuten kann. Damit spielt er auf ein besonders in der frühen Neuzeit verbreitetes Verfahren an, das in ausgefallenen Dingen und Lebewesen göttliche Kündzeichen sah. Der natürliche Narr Claus Narr wurde schon vor dem Erscheinen der Historien von Claus Narren als ein Prodigium rezipiert.732 Das Büttnersche Werk baut auf diesen Vorstellungen auf und vertieft sie. Das soll im Folgenden anhand der Vorrede und mit Hilfe der im ganzen Werk verstreuten Historien, die von prophetischen und weisen Reden des Narren berichten, belegt werden. Die im 16. Jahrhundert verbreiteten Berichte über Wunderzeichen, die über doppelte Regenbogen, Blutregen oder Wundergeburten berichteten und die meist als Flugblätter erschienen, verwenden bestimmte Verfahren, um das Wunder als solches zu legitimieren.733 Wunder werden auf einen göttlichen Eingriff zurückgeführt, ihr Erscheinen wird örtlich und zeitlich unter Hinzuziehung von Zeugen beschrieben. Auf diese rhetorischen Strategien, auf die die Wunderzeichenberichte aufbauen, greift Wolfgang Büttner in seiner Vorrede zu den Historien von Claus Narren zurück. Büttner wendet sich in der Vorrede an den Teutschen Leser734 und spricht damit, vergleichbar den newen Zeitungen, eine breite Leserschaft an. Der Narr wird als einmalig und unvergleichbar eingeführt, weil er nicht allein von Natur in seinen sinnlichen kr(fften/ der vernunfft vnd verstandes/ ein zerrFtter/ schlechter/ einf(ltiger/ kindischer Narr [...] gewesen/ sondern anders woher/ seiner einfalt vnd kindischen thorheit/ Vrsach entsprungen/ vnd geflossen ist.735 Das anders woher736 seiner Narrheit kann eigentlich nur auf einen direkten göttlichen Eingriff zurückgeführt werden. Dass die natürliche Narrheit auf jeden Fall als eine göttliche Eigenschaft angesehen wird, ist in dem bereits zitierten Schlussgebet der

731 732 733 734 735

736

Büttner: Historien von Claus Narren, X, 15, S. 296. Siehe oben, S. 83f. Siehe oben, S. 85. Vgl. Ewinkel: De monstris, S. 7–9; Schwegler: Subjektivität und Objektivität in frühneuzeitlichen Wunderzeichenberichten. Büttner: Historien von Claus Narren, Bl. A ijr. Büttner: Historien von Claus Narren, Bl. A iiijr. Siehe auch Büttner: Historien von Claus Narren, Bl. A iijr. Vgl. WA TR 4, 3018 b, S. 141: Diese Büttnersche Erklärung erinnert stark an die von Luther in seinen Tischreden gebrauchte Wendung: »Claus Nar non adeo natura fuit stolidus, sondern hat ein geistlein gehabet«. Büttner: Historien von Claus Narren, Bl. A iiijr.

206 Historien von Claus Narren ablesbar, die Gott anruft und dabei um die schlecht Simplicitet737 bittet, denn nach Thoren art/ vnd Kinder weiß/ steht vnser hertz/ sinn/ muth vnd fleiß.738 Die Einfalt als göttliche Gabe allein reicht jedoch nicht aus, um die Einmaligkeit und Auserwähltheit des Narren darzulegen. Büttner greift daher auf eine weitere Strategie zurück und erklärt, dass Claus Narr seine angeborne Stoliditet/ oder Thorheit/ so schimpflich beweist vnnd getrieben/ daß anderer Nationen/ frembder K=nigreiche vnd FFrstenthume/ angekleydete Hofthoren jme nit zuvergleichen739 seien. Mit diesem Beweis führt Wolfgang Büttner ihn als eine singuläre Erscheinung vor, die, wie andere monströse Einzelwesen, sowohl Lachen als auch Staunen und Bewunderung hervorrufen soll: vnd also seine zuchtreine Wort/ vnd freudmachende red/ die zum schimpff/ vnd zu keinem ernst gedeien/ noch reichen/ nicht sollen hingeworffen/ sondern mit verwunderung gelesen/ vnd zu allem guten zugebrauchen/ auffgefangen/ vnd bewaret ...740

Neben der wiederholt betonten Einmaligkeit des wunderbaren Lebewesens müssen Wunderzeichenberichte vor allem ihre Quellen absichern. In der Vorrede der Historien von Claus Narren werden nicht nur die beiden Kurfürsten Friedrich und Johann genannt,741 sondern Büttner bemüht eine ganze Reihe weiterer Zeugen, die ihm von dem Narren berichtet hätten, denn er habe alles über den Narren von ansehnlichen/ Adelichen/ Wirdigen/ Erbarn/ Ersamen/ vnd Namhafften/ im Herrn seligen/ Mann vnd Weibs Personen/ die Clausen wol gekennet/ zu seiner zeit gelebet/ vnnd sonst in den Chur vnd FFrstlichen H(usern zu Sachsen ab vnd zugangen/ auch zu Kirch(mptern/ vnd Hoffr(then sind gebrauchet [...] zu bericht genommen/ vnd in Ersamen Collation gesellschafften/ vnd kurtzweiligen schertzen auffgemerckt, [...] nachgeschrieben/ vnd zu liecht tretten lassen.742

Zweifelsohne ist Büttner der Exordialtopik verpflichtet, doch dass es ihm um einen spezifischen Echtheitsbeweis seiner Historien ging, wird an einer anderen Stelle der Vorrede deutlich, wenn er auf seine Gewährsleute noch ein zweites mal zurückgreift und sich entschuldigt, dass er zwar gerne jedes Wort vnnd schwanck/ den Claus getrieben/ vnd damit an Chur vnd FFrstlichen H(usern freude erwecket/ vnd gel(chter gestifftet/ in eine artliche ordnung gefasset/ vnd dabey den ort/ die person/ vnd die zeit/ das ist/ wo im Land/ vnd in welcher Stadt/ an welchem tage/ vnd vor welchen Leuten743 der Narr habe seine simplicitet exerciret/ vnd vernemmen lassen/ vermeldt vnd angezeiget haben744 wollte.

737 738 739 740 741 742 743 744

Büttner: Historien von Claus Narren, Bl. k iiijv. Büttner: Historien von Claus Narren, Bl. k iiijv. Büttner: Historien von Claus Narren, Bl. A iijr. Büttner: Historien von Claus Narren, Bl. A iijr. Vgl. Büttner: Historien von Claus Narren, Bl. A ijv. Büttner: Historien von Claus Narren, Bl. A ijv. Büttner: Historien von Claus Narren, Bl. A iiijr. Büttner: Historien von Claus Narren, Bl. A iiijr.

207 Dieses Unterfangen sei ihm aber jetzt nicht mehr möglich, da seine Zeugen sich in jre Schlaffk(mmerlein eingethan745 und im Herrn ruhen vnd schlafen.746 Auch sei ihm auß vnachtsamkeit viel entfallen.747 Das närrische Handeln genau mit Zeiten, Orten und Personen angeben und damit verifizieren zu wollen, verweist auf den Anspruch des Autors, nur Wahres und Überprüfbares erzählen zu wollen. Büttner nennt hier genau die Kriterien, die andere Wunderzeichenberichte verwenden, um sich abzusichern. Er führt gleich mehrere Gründe an, weshalb er seine Historien nicht mit Ort, Zeit und Zeugen belegen kann. Die Versicherung des Autors am Ende der Vorrede, es sei alles wahrhafftig,748 was er aufgezeichnet hätte, gehört ebenfalls zu den Verfahren, den Text glaubwürdig erscheinen zu lassen. Eine weitere Legitimationsstrategie ist die Kennzeichnung von einigen Historien als frembd.749 Büttner grenzt auf diese Weise, wie bereits gezeigt wurde, Historien aus, die von einer anderen Narrenkonzeption ausgehen oder bezeichnet damit Historien, die von anderen Narren handeln.750 Gleichzeitig vermittelt diese Markierung auch denjenigen Historien Authentizität, die durch keinerlei Zusatz gekennzeichnet sind. Nicht zuletzt betont auch die Wahl des Wortes Historien zur Bezeichnung der 627 Schwänke im Titel den Versuch, den Narren als eine glaubwürdige historische Referenz zu etablieren, die durch historische Zeiten, Orte und Personen bezeugt und damit als ein lehrhaftes Wunder wahrgenommen werden kann.751 Neben den in der Vorrede benutzen Strategien, um Claus Narr wie ein Wunderzeichen einzuführen, weisen im besonderen Maße die Historien, die Prophezeiungen und weise Reden von Claus Narr enthalten, auf ihn als ein Prodigium. Sie finden sich zerstreut in einigen Kapiteln der Historien von Claus Narren. Die bekannteste Historie ist diejenige, in der Claus einen kostbaren Mantel zertrennt, um vor der Landesteilung von 1485 zu warnen.752 In einer anderen sagt er einen Schiffsuntergang vorher.753 Auch den Brand von Coburg prophezeit Claus in den Historien von Claus Narren wie schon in den Tischgesprächen von Luther, indem der Narr in eine Ratsversammlung geht und die dort Anwesenden beschimpft:

745 746 747 748 749 750 751

752 753

Büttner: Historien von Claus Narren, Bl. A iiijv. Büttner: Historien von Claus Narren, Bl. A iiijv. Büttner: Historien von Claus Narren, Bl. A iiijv. Büttner: Historien von Claus Narren, Bl. A vijr. Büttner: Historien von Claus Narren, Bl. A iijr. Vgl. oben, S. 191f. Zum Begriff der Historia Joachim Knape: ›Historie‹ in Mittelalter und Früher Neuzeit. Begriffs- und gattungsgeschichtliche Untersuchungen im interdisziplinären Kontext. BadenBaden 1984; Wolfgang Brückner: Historien und Historie. Erzählliteratur des 16. und 17. Jahrhunderts als Forschungsaufgabe. In: Volkserzählung und Reformation. Ein Handbuch zur Tradierung und Funktion von Erzählstoffen und Erzählliteratur im Protestantismus. Hg. von Wolfgang Brückner. Berlin 1974, S. 13–123. Büttner: Historien von Claus Narren, IV, 34, S. 78. Büttner: Historien von Claus Narren, X, 31, S. 309.

208 Ir rathtet alle fein vnd wol/ aber ich sihe keinen weder kalt noch warm Wasser sch=pffen/ daß er damit das Feuwer zu Coburg leschen hFlffe ...754

Den Einsturz einer Brücke deutet Claus nur an, führt aber nach dem Unglück aus, dass er es gewusst habe. Er hätte zuvor aber nichts davon gesagt, weil man ihm als Narren nicht glauben würde.755 Daneben berichtet Büttner von weniger spektakulären Prophezeiungen des Narren. So fiel einmal ein Dieb von einem Galgen und sollte seinen Strick nach Rom/ oder zu Sanct Jacob756 tragen. Claus Narr sagt jedoch voraus, dass er wieder kommen und gehängt werden würde, was dann, wie es die Historie vermerkt, auch geschehen sei.757 Die Lehre, die nach dem prophezeiten Schiffsuntergang folgt, erklärt das besondere Wissen von Narren und Kindern: Was sagt ein Kindtlein vnd ein Narr/ Das ist plerunque recht vnd war/ Wenn man sich nur kFnd richten drein/ Der Kindlein red trifft gmeinlich ein/ Wol selbst jhr Wort sie nicht verstehn/ Doch reimpt sichs fein zu dem vnd jem.758

Die in Narren und Kindern verborgene tiefe Wahrheit muss als solche erkannt werden, da sie von den Narren und Kindern selbst nicht gedeutet werden kann. Tragen andere monströse Individuen ihre warnenden Botschaften direkt sichtbar, sind sie bei den natürlichen Narren aus seinem Verhalten und seinen Reden zu entnehmen. Das Handeln des Narren verweist auf weise und hellseherische Gaben, das als Wunder perzipiert und auf ein direktes Einwirken Gottes wie beim Brand von Coburg zurückgeführt wird. Wo Clauß die brunst gesehen hat/ Jch selbst noch nie erfahren hab/ Allein daß ich bey mir gedenck/ Es sey von Gott jhm zugewend/ Gar wunder ding wirckt Gott allein/ Auff Erd kein Mensch sich richtet drein.759

Die Historien, in denen der Narr als Prophet agiert und sich so als ein Wunderzeichen erweist, decken ein breiteres Themenspektrum ab, das von politischen Ereignissen bis hin zu individuellen Begebenheiten reicht. Darüberhinaus greift Büttner auch auf den Narren als ein die Reformation ankündigendes Prodigium zurück.

754 755 756 757 758 759

Büttner: Historien von Claus Narren, XI, 16, S. 325. Büttner: Historien von Claus Narren, XII, 43, S. 382. Büttner: Historien von Claus Narren, XI, 18, S. 327. Vgl. auch Büttner: Historien von Claus Narren, XV, 10, S. 448f. Büttner: Historien von Claus Narren, X, 31, S. 309f. Büttner: Historien von Claus Narren, XI, 16, S. 326.

209 Der Titel des zehnten Kapitels, der einen Großteil dieser Historien anführt, betont die seit Geburt bestehende natürliche Narrheit, denn er berichtet von Clausen natFrlichen angebornen Schimpffworten vnnd SprFchen,760 die mit verwunderung zulesen seien.761 Imaginiert wird eine Zeit, in der die reformatorischen Ideen sich noch nicht durchgesetzt haben und daher hat man gefragt, was doch auß Doct. Luthers Sach wFrde.762 Claus antwortet daraufhin, dass sie gut würde, jedoch sein Rock und seine Schuhe verdürben jeden Tag mehr. Die Lehre betont die zeitliche Distanz zu dem Erzählten, denn Luther lebt nun mit Gott im Himmelreich.763 Des Narren Aussage wird aus der historischen Entfernung zu einer prophetischen Rede, die Büttner in der Lehre als ein starck warhafftig wort764 beurteilt. Den von Claus bedauerten Kleiderzerschleiß deutet Büttner als die vor Wut zerrissenen Gewänder des Papstes aus, der sich über die Siegeszüge der Protestanten ärgern würde. Der mit einer prodigischen Funktion versehene Narr legitimiert damit das reformatorische Programm Martin Luthers. Ähnlich prophetisch redet Claus über die Verfolgungen, der sich Luther durch den Papst ausgesetzt sah, denn würde man, so der Narr, Luther verbrennen, dann ginge davon ein groß Feuwer765 aus. Die Lehre bestätigt wiederum die Aussage des Narren, denn unter dem großen Feuer wird verstanden, dass das Land noch Luther mehr766 trage und damit Luthers Lehre767 rein bliebe. Desweiteren verteidigt der Narr den Reformator vor Kurfürst Friedrich dem Weisen, weil er wisse, dass er dem Fürsten so viel guts g=nnet vnd wFndschet/ als jhm selber.768 Auch habe einmal Claus einen polnischen Doktoren aus der Nähe von Luther verjagt, der nichts Gutes im Sinn gehabt habe. Dieser Schutz wird in der Lehre allgemein auf das direkte Einwirken Gottes zurückgeführt: Gar offt der fromme Luther schreib/ Daß er fest halt/ vnd gwißlich gl(ub/ Jhm sey vergifftet Tisch vnd B(nck/ Der Predigstul/ darzu die Wend/ Noch schFtzt jn Gott/ vnd jhn erhelt/ Vnd wer voll B(pst die Hell vnd Welt.769

Der Narr wird damit in den Dienst einer Verklärung Luthers gestellt, die den Reformator schon im 16. Jahrhundert »zum ›deutschen Propheten‹ und ›Wundermann‹, der seinen evangelischen Brüdern das verdunkelte Evangelium wieder

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Büttner: Büttner: Büttner: Büttner: Büttner: Büttner: Büttner: Büttner: Büttner: Büttner:

Historien Historien Historien Historien Historien Historien Historien Historien Historien Historien

von von von von von von von von von von

Claus Claus Claus Claus Claus Claus Claus Claus Claus Claus

Narren, Narren, Narren, Narren, Narren, Narren, Narren, Narren, Narren, Narren,

X, X, X, X, X, X, X, X, X, X,

S. 281. S. 281. 1, S. 281. 1, S. 281. 1, S. 281. 2, S. 282. 2, S. 282. 2, S. 282. 3, S. 283. 4, S. 284.

210 entzündet und sie vom Reich des Antichrist befreit habe«,770 erklärt. Mit der Koppelung von treuer Luthernachfolge und natürlicher Narrheit wird an einen Prozess angeknüpft, der in millenarischen Bewegungen wie der Reformation stattfinden kann, denn hier können liminale Schwellenwesen, zu denen auch die natürlichen Narren rechnen, zu einem Symbol werden, wie es Büttner mit Claus Narr in seinen Historien von Claus Narren zu etablieren sucht.771 Prophezeit der Narr nun den Sieg der Reformation, dann legitimiert er diesen Prozess der Umwandlung und beweist damit gleichzeitig seine eigene Symbolkraft. Mit Wunderzeichen verbunden waren immer Mahnungen an die Menschheit. Diese didaktische Funktion zeigt sich bei Claus Narr auch in den Historien, die keine dezidierten Prophezeiungen enthalten und die ihn hier als ein Exempel sehen.

3.4.2 Claus Narr als Exempel Wolfgang Büttner geht davon aus, dass Claus Narr an Chur vnd FFrstlichen H(usern freude erwecket/ vnd gel(chter gestifftet772 habe. Ebenso bringe das Wiedererzählen der närrischen Schwänke Lachen hervor und helfe dabei, sowohl viel leichtfertiger vnzucht/ bey zechen vnd zutrincken/ auffhalten vnd demmen,773 als auch im Sinne der mittelalterlichen Humoralpathologie manch trawrig gemFht auffmundern/ vnd mehr fr=lich774 zu machen.775 Doch Büttners Hauptanliegen ist vor allem die Didaxe. Lachen, auch als therapeutisches Mittel, ist nur Nebenprodukt. Denn die Worte und Werke des Narren sollen nicht hingeworffen/ sondern mit verwunderung gelesen/ vnd zu allem guten zugebrauchen776 sein, ja, jedermann würde seine wort vnd werck777 lieben und t(glich778 brauchen. Erinnert sei außerdem an den im Schlussgebet ausgesprochenen Wunsch, bei dem die Narrheit von Claus als Simplicitet779 zu einer erstrebenswerten Eigenschaft erklärt wurde. Sein Verfahren erklärt Büttner in einem längeren Absatz:

770

771 772 773 774 775 776 777 778 779

Röcke: Von ›christlicher Haushaltung‹ und ›guter Policey‹, S. 17. Vgl. dazu auch Wolfgang Brückner, Heidemarie Gruppe: Luther als Gestalt der Sage. In: Volkserzählung und Reformation. Ein Handbuch zur Tradierung und Funktion von Erzählstoffen und Erzählliteratur im Protestantismus. Hg. von Wolfgang Brückner. Berlin 1974, S. 260–324; Stefan Laube: Der Kult um die Dinge an einem evangelischen Erinnerungsort. In: Lutherinszenierung und Reformationserinnerung. Hg. von Stefan Laube, Karl-Heinz Fix. Leipzig 2002, S. 11–34. Siehe oben, S. 74ff. Büttner: Historien von Claus Narren, Bl. A iiijr. Büttner: Historien von Claus Narren, Bl. A vv. Büttner: Historien von Claus Narren, Bl. A vv. Vgl. dazu Klibansky, Panofsky, Saxl: Saturn und Melancholie, S. 125–199; Schmitz: Physiologie des Scherzes. Büttner: Historien von Claus Narren, Bl. A iijr. Büttner: Historien von Claus Narren, Bl. A iijv. Büttner: Historien von Claus Narren, Bl. A iijv. Büttner: Historien von Claus Narren, Bl. k iiijv.

211 Wz kurtzweiliger schimpfferey/ an diesen saubern/ an reinen Clausen worten/ vnd wie allen Christlich vnd BFrgerlich zugebrauchen/ vnd zuverstehen/ werden die zugefFgten Reime vornembst Theils nach der Ethica vnd Tugendlehre gesetzt/ grFndlich entwerffen/ vnd fromme Biderleute zu Christlichem nachsinnen bewegen vnd gewinnen/ auch auß der vrsach allein/ weil Clausen wort vnd reden/ zu vblichen guten teutschen SprFchw=rtern geraten/ vnd sub horizonte Germanie gebraucht werden.780

Der didaktische Anspruch der Historien von Claus Narren bestimmt auch den Aufbau jeder einzelnen Historie. Im Prosateil werden die närrischen Handlungen beschrieben, während die Lehre das närrische Verhalten in ethische Handlungsanweisungen für den Leser übersetzt. Die wort vnd werck781 des Narren dienen nicht allein der Unterhaltung, sondern vor allem dazu, einen moralischen Nutzen daraus zu ziehen. Daher bietet Büttner eine Auslegung für den Rezipienten an. Analog zu den prophetischen und weisen Reden von Claus Narr wird das deviante Verhalten des Narren ausgedeutet und ausgelegt, was an folgendem Beispiel erläutert werden soll: Clausen sol eine Maure nicht verklagen Clauß war hart mit seinem Kopff an eine Maur gelauffen/ vnd hatt sich sehr gestossen/ weynet vnd schrey sehr: Ach weh mir armen Gesellen/ wie vbel hab ich mich fFrgesehen/ Ach ich armer schweiß werde zu grossem schaden kommen/ denn die Maure wird mich hardt verklagen/ so werde ich hardt gesteupet werden/ denn ich hab sie mit meinem Kopff gestossen/ wenn sie nur nicht blutet/ oder eine Wunde hette/ Jst sie aber wundt/ so tr=ste Gott die liebe Seele/ denn die Wunde wird jhr niemand heilen/ vnd wird daran sterben mFssen. Lehre Billich man dem erlest die Straff/ Geschichts nicht gar/ doch nicht zu scharpff/ Jhnen straffe/ dieweil er schnell/ Sein vnrecht hat bekennt vnd fehl/ Vnd bitt vmb Gnad/ Verzeihung/ Gunst/ Vns lehrt das Euangeli sonst/ Daß mann SFnd nachlaß vnd vergeb/ Vnd allem argen widerstreb/ Vnd nicht mit b=sem Wandel mach/ Daß (rger werd die letzte Sach/ Denn war die erst/ drumb bessert euch/ Vnd mir/ wie ich dir auch verzeich. Was sonst mehr steckt in diesem Ranck/ Das ist ein feiner Laberschwanck/ Vnd mag davon nicht sagen viel/ Ein jeder suchs wers haben wil/ Vnd jhm zu suchen ist verg=nnt/ Er darff kein Aug/ wol blind ers find.782

780 781 782

Büttner: Historien von Claus Narren, Bl. A vr. Büttner: Historien von Claus Narren, Bl. A iijv. Büttner: Historien von Claus Narren, XII, 13, S. 358f.

212 Claus Narr klagt, weil er sich an einer Mauer stieß und nun fürchtet, von dieser verklagt zu werden. Er bereut diesen Unfall, da er sich um die Mauer sorgt. Büttner legt das Verhalten des Narren als vorbildhaft für den Umgang mit eigenen Fehltritten aus. Nur demjenigen, der seine Sünden bereut, wird verziehen. Das konkrete närrische Verhalten gilt als Beispiel und wird in dem Deutungsverfahren in allgemeine Handlungsanweisungen umgesetzt. Mit der Zeile Was sonst mehr steckt in diesem Ranck783 spricht Büttner das von ihm gewählte Verfahren, die Worte und Werke des Narren auszulegen, an. Manchmal scheitert Wolfgang Büttner selbst an dieser Aufgabe, doch verdeutlichen gerade diese missglückten Versuche seinen durchgehenden Anspruch, Lehrhaftes aus allen Handlungen des Narren zu ziehen. So beispielsweise auch im Fall der Historie, in welcher der Narr das Schloss aushungern will. Dazu setzt Claus sich unter eine Brücke und weigert sich, zu essen. Schließlich kommt der Fürst mit dem Hofstaat angeritten. Der Narr freut sich darüber, denn nur so habe er sie herauß bringen/ vnd zur Feldschlacht locken vnd anreitzen784 können. Bei dieser Historie versagt Büttners Auslegungsverfahren: Ein wunder Mensch lieber Gott/ Es scheind ja seyn ein Narrenspott/ Was aber damit lauff vnd geht/ Mein alber Kopff es nicht versteht/ Drumb laß ichs bleiben/ wie es bleibt/ Wers deuten kan dem seys erl(ubt785

An anderen Stellen, die aufgrund der politischen Lage ihm zu brisant erscheinen, verzichtet Büttner ebenfalls auf eine Deutung, betont aber gerade dadurch deren zweideutigen Charakter. So spielt er beispielsweise auf die Metaphern vom toten Klotz und dem leeren Fass an, die in der Auseinandersetzung um Matthias Flacius im ernestinischen Sachsen eine große Rolle spielten.786 In einer Historie wundert sich Claus Narr, dass eine Frau nur in einem und nicht in zwölf Zubern Regenwasser auffing, erklärt aber diesen Umstand damit, dass derjenige, der viel hat/ der muß viel wider geben.787 Die Lehre enthält, neben dem Ratschlag, sorgsam mit seinem Gut umzugehen und es nicht zu verprassen, noch eine weitere politische Bedeutung: Wenn Gott vns viel beschert vnd schenckt/ Auff keinen Vorraht man gedenckt/

783 784 785

786 787

Büttner: Historien von Claus Narren, XII, 13, S. 359. Büttner: Historien von Claus Narren, IV, 40, S. 80. Büttner: Historien von Claus Narren, IV, 40, S. 80. Vgl. bspw. auch Büttner: Historien von Claus Narren, VII, 33, S. 185: Der Narr will sich hier seinen »Kolben« waschen lassen, nicht aber sein Haupt. Die Lehre endet damit: »Der schwanck hat noch bey mir ein griff/ Jst aber mir zu hoch vnd tieff«. Vgl. oben, S. 211f. Büttner: Historien von Claus Narren, V, 37, S. 122.

213 Man schlempt dahin/ vnd prast in Tag/ Daß man darnach zu darben hat/ Den Regen fahen Clauß hie lehrt/ Das heist bewar/ was Gott beschert/ Nicht alles auff den Sontag friß/ Denck/ Montag Sontags Bruder ist/ Es steckt noch eins in diesem Schwang/ Wers sagt/ verdient fFrwar kein Danck/ Doch dFncket mich/ nicht einer frist/ Der eben wie ich sterblich ist/ Vnd brombt vnd zanckt gleich wie ein B(r/ Der ein Klotz vnd Holunck es wer.788

Die Weisheit des Narren zeigt sich nicht ausschließlich in prophetischen Reden, sondern in allen seinen Handlungen, die zum Nachdenken und Nachahmen anregen sollen. Über einige Wundertaten hinaus soll der Narr Vorbild sein. Von der Sicht auf den Narren als ein Objekt des Spottes und des Verlachens wendet sich Büttner ab. Für ihn ist Claus Narr dagegen ein Vorbild im Glauben und alltäglichen Leben. Der Anspruch der Historien von Claus Narren, der Belehrung zu dienen, ist auch an der Rezeptionsgeschichte ablesbar. In der Herzog-AugustBibliothek in Wolfenbüttel sind nicht nur die Apophthegmensammlungen von Zinncgref, Weidner und anderen unter Ethica als »möglichst vollkommene Summe der den Menschen angehenden Erfahrungen und des Wissens«789 gesammelt worden, sondern auch die Ausgabe von 1616 der Historien von Claus Narren findet sich unter dieser Signatur. Auf das Verfahren, aus den Handlungen eines natürlichen Narren allgemeingültige Aussagen zu gewinnen, weist auch schon Paracelsus hin, der in den natürlichen Narren ebenfalls exempel790 sieht. Büttner bietet eine Auslegung an, verweist aber immer wieder auf weitere Deutungsmöglichkeiten. Sein Vorgehen blieb nicht unumstritten. Schon Fischart macht sich über den Explicanten Büttner in seinem Werk Aller Pracktick Großmutter lustig: Oder gleich wie der Explicant, Der groß Witz bey Clauß Narren fand. Aber vergaß darbey der seinen, Vnd deit den Treck, daß man m=cht weinen.791

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Büttner: Historien von Claus Narren, V, 37, S. 122. Verweyen: Apophthegma und Scherzrede, S. 75. Paracelsus: De generatione stultorum, S. 91. Vgl. oben, S. 79. Johann Fischart: Aller Pracktick Großmutter. Die dickgeprockte, Pantagruelische Betrugdicke Prockdick, oder Pruchnastickatz, Laßtafel, Bawrenregel vnd Wetterbüchlein, auff alle Jahr vnd Land gerechnet vnd gericht: Durch den Vollbeschitten Mäußstörer Windhold Alcofribas Wüstblutus von Aristophans Nebelstatt: deß Herrn Pantagruel zu Langreuel Obersten Löffelrefomirer, Erb- vnd Ertztrenck, vnd Mundphysicus etc. M. DC. XXIII. In: Johann Fischart’s Geschichtklitterung und Aller Praktik Großmutter. Hg. von J. Scheible. Stuttgart 1847, S. 543–663, hier S. 578. Vgl. unten, S. 236ff.

214 Aus heutiger Sicht ist es ein paradoxes Vorgehen, einen nach außen hin unsinniges und abweichendes Verhalten zeigenden Menschen zu einem Exempel zu erheben. Der Gedanke, ein widersprüchliches Vorbild als ein Beispiel zu etablieren, ist jedoch nicht neu. Zwei miteinander verknüpfte Traditionen greifen genau auf diese paradoxen Inszenierungen zurück: Diogenes und die Narren in Christo, auf die im Folgenden eingegangen werden soll.

3.4.3 Claus Narr als Kyniker Als Claus einmal hört, wie ein weidlicher Kriegßmann792 gelobt wird, bedauert er ihn, denn ein Weib wird jhn zum Narren machen.793 Eine ähnliche Begebenheit wird von Diogenes erzählt, der – hier folge ich dem anonymen Zürcher Diogenes, der 1550 gedruckt wurde –, als er ebenfalls einen kriegsman794 sah, der einem gmeinen m(tzly795 hinterherschaute, den Krieger als Gefangenen des Mädchens erklärt und meint, es w(re ein torlichs/ das ein kriegsman/ der mit mannen stryten sol,796 sich von einem solchen Mädchen fangen lässt.797 Wolfgang Büttner ist genau dieser Druck des Diogenes bekannt gewesen, denn in seiner vier Jahre nach den Historien von Claus Narren erschienenen Epitome Historiarum verweist er darauf und fügt ein Beispiel ein, dass sich in vielfachen Variationen auch im Claus Narr findet: Ein deutscher Schweitzer hat Diogenis vitam, & Philosophiam, (wie ichs hab angesehen) aus den Apophteg. Eras. in Schweitzerisch deutsch/ transferiret/ vnd schreibet von jm also: Diogenem fordert ein geitziger Fraß/ vnd vnersettlicher Wanst/ mit jm zu essen. Diogenes sprach: Du darffst vnd kanst mich nicht laden/ mit dir zu essen/ denn ich wil zu dir nicht kommen/ Wo mich aber die armen BFrger laden/ vnd bitten wFrden (welchen du dein Gut vnd deine Narunge/ von jrer Narunge abgeschunden) so wolt ich kommen / Denn was sie mir zu essen vorsetzen/ das ist jr/ Aber was du mir vortrFgest/ das ist nicht dein/ sondern erwuchert/ vnd geraubet/ dauon lFstet mich nicht zu essen noch zu trinken.798

Die Parallelen, die sich hier zwischen Diogenes und Claus Narr auftun, können nicht damit erklärt werden, dass Büttner das Material für die 627 Historien auszugehen drohte und er daher auf die große Anzahl von Erzählungen über

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Büttner: Historien von Claus Narren, V, 19, S. 107. Büttner: Historien von Claus Narren, V, 19, S. 107. Diogenes. Ein Lustige vnnd Kurtzwylige History von aller Leer vnnd Laben Diogenis des Heydnischen Philosophi. Getruckt zG Zürych/ by Rodolff Wyssenbach. M. D. L. In: Niklaus Largier: Diogenes der Kyniker. Exempel, Erzählung, Geschichte in Mittelalter und Früher Neuzeit. Tübingen 1997, S. 101–165, hier S. 148. Ein Lustige vnnd Kurtzwylige History von aller Leer vnnd Laben Diogenis, S. 148. Ein Lustige vnnd Kurtzwylige History von aller Leer vnnd Laben Diogenis, S. 148. Ein Lustige vnnd Kurtzwylige History von aller Leer vnnd Laben Diogenis, S. 148. Büttner: Epitome Historiarum, Bl. 375v. Vgl. dazu beispielsweise bei Büttner: Historien von Claus Narren, I, 20, S. 15; IX, 20, S. 261 und IX, 24, S. 264.

215 Diogenes, die in dieser Zeit im Umlauf waren, zurückgriff. Vielmehr gibt es zwischen dem Narren in den Historien von Claus Narren und dem Kyniker eine Reihe von Gemeinsamkeiten, die für den Aufbau, die Struktur und vor allem die lehrhafte Ausrichtung des Büttnerschen Werks aufschlussreich sind. Deshalb soll nun kurz auf Diogenes und die auf ihn aufbauende Erzähltradition eingegangen und danach deren Gemeinsamkeiten mit der Büttnerschen Narrenkonzeption genauer herausgearbeitet werden. Diogenes von Sinope lebte im vierten Jahrhundert vor Christus.799 Er galt als ein Anhänger des Sokratesschüler Antisthenes und als Begründer des Kynismus.800 Diogenes von Sinope steht für denjenigen, der die Norm bricht und sie damit in Frage stellt, der die Armut freiwillig wählt, der einer ›Natürlichkeit‹ verhaftet ist, der die Unabhängigkeit von der Gesellschaft pflegt, kurz, der das Leben eines Hundes freiwillig wählt.801 Der Hund – κυων – als Namensgeber für die Kyniker, ist »emblematisches Vorbild«,802 weil auch er selbst tabuisierte Handlungen, wie Essen, Trinken und Geschlechtsverkehr in der Öffentlichkeit vollzieht. Diogenes lebt in seiner Tonne nicht nur an einem liminalen Ort, sondern er selbst agiert aus der Liminalität heraus. In der frühen Neuzeit speiste sich die Diogenesrezeption aus der bereits im frühen Christentum stattgefundenen Auseinandersetzung mit Diogenes und aus den erst durch die Humanisten entdeckten Quellen. Im Mittelalter sah man in dem Kyniker ein Vorbild der Askese und der freiwillig gewählten Armut, kritisierte jedoch gleichzeitig seine Schamlosigkeit. Doch obwohl er als heidnischer Philosoph rezipiert und damit der stultitia geziehen wird, gilt Diogenes überwiegend als moralphilosophisches Leitbild.803 Mittelalterliche Sammlungen von Sentenzen, Florilegien, Chroniken, Traktaten und Predigten enthalten ein wiederkehrendes Korpus an Anekdoten aus dem Leben von Diogenes, die über antike Autoren wie Cicero, Valerius Maximus, Seneca, Macrobius und frühchristliche Autoren wie Hieronymus, Augustinus, Tertullian, Sidonius Apollinaris vermittelt wurden.804 Zum anderen wurden seit dem 15. Jahrhundert diese Sammlungen durch

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Zu Diogenes vgl. Heinrich Niehues-Pröbsting: Der Kynismus des Diogenes und der Begriff des Zynismus. München 1979; Margarethe Billerbeck (Hg.): Die Kyniker in der modernen Forschung. Aufsätze mit Einführung und Bibliographie. Amsterdam 1991; R. Bracht Branham, Marie-Odile Goulet-Cazé (Hg.): The cynics. The cynic movement in antiquity and its legacy. Berkeley, Los Angeles, London 1996; Niklaus Largier: Diogenes der Kyniker. Largier: Diogenes der Kyniker, S. 1. Vgl. Largier: Diogenes der Kyniker, S. 2f. Largier: Diogenes der Kyniker, S. 2. Largier: Diogenes der Kyniker, S. 17. Traditionsbildend wirkt hier vor allem Hieronymus. Sylvain Matton: Cynicism and christianity from the Middle Ages to the Renaissance. In: The cynics. The cynic movement in antiquity and its legacy. Hg. von R. Bracht Branham, Marie-Odile Goulet-Cazé. Berkeley, Los Angeles, London 1996, S. 240–264, hier S. 240. Vgl. auch die Materialien zur Rezeptionsgeschichte des Diogenes bei Largier: Diogenes der Kyniker, S. 166–359.

216 die Bioi des Diogenes Laertius und die Moralia von Plutarch ergänzt, die erst seit dem Ende des 14. Jahrhundert als Übersetzungen verfügbar waren und von den Humanisten verbreitetet wurden. Besonders die Sammlung von Erasmus Apophthegmatum, sive scite dictorum librí sex, die 1531 erschien und auf die auch Büttner verweist, und das 1555 gedruckte Sammelwerk von Lycosthenes Apophthegmatum sive responsorum memorabilium halfen dabei, die begrenzte Anzahl von Anekdoten über Diogenes zu erweitern.805 In beiden Sammlungen nimmt Diogenes einen erstaunlich breiten Raum ein.806 Die mittelalterliche Kritik an Diogenes teilt Martin Luther, der, wie andere Autoren auch, vor allem den Stolz des Kynikers in einer Anspielung auf Andreas Karlstadt geißelt.807 Luther bezieht sich dabei unter anderem auf die Begegnung von Diogenes und Alexander, bei der der Kyniker, vom Kaiser nach einem Wunsch befragt, ihm antwortete, ehr solle ihm niht nehmen, was ehr ihm niht geben konnte.808 Auf die Nachfrage, was es denn sei, erklärt Diogenes, dass der Kaiser vor der Sonne stünde, die darum nicht in sein Fass scheinen könne. Für Luther ist es vor allem die freiwillige Wahl der Armut und die durch die öffentlich gelebte Askese evozierte Aufforderung, sich zu positionieren, die er kritisiert: So stoltze, hoffertige tropffen werden aus solchen Heuchelern, das sie Jderman, auch Konige und Keyser pochen unndt trotzen durffen, wollen keine ehr haben unnd suchen doch Ehr, unnd das sie alle welt ahnbete umb ihrer heiligkeit willen. Solche Heucheler will Gott niht haben, sondern lest dir dein Reichthumb, lest dir, was du hast, unnd will, das du es auch frisch gebrauchen solst zu seiner Ehr, deiner Notturfft, Jderman zu nutz, niemandt zu schaden ...809

Die Skepsis, die Luther gegenüber dem Kyniker verlauten lässt, ist vergleichbar der Kritik, wie sie an den Schalksnarren geübt wird. Die angenommene Narrheit entspricht der bewusst eingenommenen Haltung des Kynikers. Kyniker werden

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Erasmus von Rotterdam: Apophthegmatum, sive scite dictorum librí sex. Basel 1531; Lycosthenes, Conrad: Apophthegmatum sive responsorum memorabilium. Basel 1555. Matton: Cynicism and christianity, S. 242: »The third book of Erasmus‹ apophthegms is the one that makes greatest use of Plutarch and treats in turn of Socrates, Aristippus, and Diogenes the Cynic. Diogenes is given the lion’s share with 218 apophthegms, as against 91 for Socrates and 61 for Aristippus. [...] Like Erasmus, Lycosthenes gives considerable space to Diogenes, who takes up a large part of the book, with 226 index references compared with 160 for Socrates, 64 for Plato, and 56 for Aristotle.« Eine Übersicht über die mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Anekdoten zu Diogenes bietet Largier: Diogenes der Kyniker, S. 19–24. Zu den Auseinandersetzungen um Karlstadt vgl. Ernst Kähler: Karlstadts Protest gegen die theologische Wissenschaft. 450 Jahre Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Bd. 1: Wittenberg 1502–1817. Wittenberg, Halle 1952, S. 299–312; Ernst Kähler: Karlstadt und Augustin. Der Kommentar des Andreas Bodenstein von Karlstadt zu Augustins Schrift De spiritu et litera. Halle 1952; Stollberg-Rilinger: Von der sozialen Magie der Promotion, S. 286ff. WA 47: Reihenpredigten über Johannes 3–4 sowie Matthäus 18–24, Predigten 1539, S. 360, Z. 22f. WA 47, S. 360, Z. 24–30.

217 schon in der Antike mit den moriones und scurrae assoziiert, ebenso nehmen aber auch mittelalterliche Mendikantenorden bewusst Bezug auf die kynische Tradition, wenn sie sich als Domini canes bezeichnen.810 Daher ist auch die Verbindung von Ulenspiegel mit den Kynikern weniger überraschend, wenn »noch in Peter Laurembergs Acerra philologica aus dem siebzehnten Jahrhundert die Vita des Kynikers unter dem Titel ›des gelahrten Eulen-Spiegels Diogenis Leben und Thaten‹ erscheint«.811 Büttners Sicht auf die Kyniker ist ebenso zweideutig. Teilt er in den Historien von Claus Narren die kritische Sicht auf Diogenes mit Luther, so nimmt er in seiner Epitome historiarum 25 Diogenes-Exempel auf, dieweil viel vnd offt vom Diogene Philosopho gesagt/ vnd seiner gedacht812 wird und versieht sie teilweise mit gereimten Lehren. Auch in seiner Dialectica Deutsch bezieht er Diogenes in seine Beispiele ein, ohne ihn jedoch in diesem Zusammenhang moralisch zu bewerten.813 In der frühen Neuzeit bildete sich eine besondere Form des Kynismus, der sogenannte christliche Kynismus heraus, der aus meiner Sicht auch entscheidend die Historien von Claus Narren beeinflusste: ... many Renaissance authors adapt claims clearly founded in Evangelical paradoxy to head off several threats to new freedoms at once, using those claims to buttress and hedge Cynic claims for autonomous selfhood as well as vice versa, and dramatically fusing the two exposés of both freedom and unfreedom in a single utopian mode that has aptly been called ›Christian Cynicism‹.814

Als Nachweis für einen Einfluss von kynischem Gedankengut auf die formale und inhaltliche Gestaltung der Historien von Claus Narren können verschiedene Befunde aus dem Büttnerschen Werk herangezogen werden. Wolfgang Büttner selbst stellt die Nähe von natürlicher Narrheit und Kynismus in der Historie Auffs Grab bruntzen815 her. In dieser wird von einem namenlosen Narren berichtet, der einen bösen Jungen davor warnt, dass ein Hund nur auf sein Grab werde bruntzen816 können, wenn er eine Leiter benutzt. Die damit indirekt ausgesprochene Drohung, am Galgen zu landen, wird ebenso von Diogenes gegenüber einem Jungen gesagt, der mit Steinen nach einem Galgen zielt. Der Steinewerfer solle aufpassen, dass er nicht sein Grab träfe.817 In den Historien von Claus Narren setzt Büttner in einem lateinischen Nachsatz hinzu, dass man Ähnliches von

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Daniel Kinney: Heirs of the dog. Cynic selfhood in medieval and Renaissance culture. In: The cynics. The cynic movement in antiquity and its legacy. Hg. von R. Bracht Branham, Marie-Odile Goulet-Cazé. Berkeley, Los Angeles, London 1996, S. 294–328, hier S. 299. Largier: Diogenes der Kyniker, S. 366. Büttner: Epitome Historiarum, Bl. 413r. Büttner: Dialectica Deutsch, Bl. R 3v. Kinney: Cynic selfhood in medieval and Renaissance culture, S. 314. Büttner: Historien von Claus Narren, XII, 25, S. 368. Büttner: Historien von Claus Narren, XII, 25, S. 368. Ein Lustige vnnd Kurtzwylige History von aller Leer vnnd Laben Diogenis, S. 135.

218 einem Kyniker berichtet und bezieht sich damit offensichtlich auf das gerade genannte Diogenes-Beispiel: Simile habes à Cynico dictum.818 Diese Historie ist mit dem Zusatz Adiect.819 als fremd gekennzeichnet und verweist damit auf die von Büttner in der Vorrede angekündigte Bezeichnung aller Historien, für deren wahren Inhalt er nicht bürgen wolle. Die Kennzeichnung und der fremde Narr in der Historie Auffs Grab bruntzen betonen zwar den Unterschied zwischen dem Kyniker und dem natürlichen Narren Claus, aber die Aufnahme dieser Historie in die Historien von Claus Narren und die lateinische Erklärung, die auf die Ähnlichkeit von Narr und Kyniker abzielt, legen doch eine stärkere Gemeinsamkeit beider nahe. Diese wird noch deutlicher in weiteren Beispielen, die eindeutig auf kynische Ursprünge verweisen. In seinem sechsten Diogenes-Beispiel seiner Epitome beschreibt Büttner, wie Diogenes einmal in einer Schule lehrt, ihm aber keiner zuhören will. Daraufhin beginnt er, sich wie ein Narr vnd Wahnsinniger820 zu stellen, da h=ret jn jederman.821 Ähnlich verläuft die Historie, in der Claus auf eine Trommel schlägt und viele deshalb zu dem Narren laufen. Dieser freut sich darüber, denn ein Narr kan ein gantz Schloß voll Narren zusammen bringen/ vnnd wenn zehen Doctores bey einander weren/ vnd alle auff Drommlen schlFgen/ sie br(chten nicht so viel gelehrter Doctorn zusammen/ als ich Narren zusammen gepaucket hab.822

Die den zwei Exempeln beigefügten Lehren verurteilen beide gleichermaßen die Narrheiten dieser Welt, die eine große Anziehungskraft auf die Menschen ausübten. So heißt es in der Epitome zu dem gerade erwähnten Diogenes-Exempel: Man laufft vnd eilt der schalckheit zu/ Gleich wie zum Futterkasten ein Kuh. Vorwar man findt nicht viel auff Erd/ Der erbarkeit vnd zucht begert.823

Die Lehre aus den Historien von Claus Narren schließt außerdem noch eine indirekte Entschuldigung von Claus Narr ein, denn einem jungen Kindlein824 wird das närrische Verhalten durchaus erlaubt. Da natürliche Narrheit und Kindheit auch synonym verwandt werden, ist der Narr von der Verurteilung ausgenommen, die sich daher nur auf die angenommene Narrheit bezieht: Man sagt ein Narr viel Narren macht/ Deß ich denn selbst hab offt gelacht. Wenn ich ein Narren h=rt/ als dann

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Büttner: Büttner: Büttner: Büttner: Büttner: Büttner: Büttner:

Historien von Claus Narren, XII, 25, S. 368. Historien von Claus Narren, XII, 25, S. 368. Epitome Historiarum, Bl. 413v. Epitome Historiarum, Bl. 413v. Historien von Claus Narren, IV, 11, S. 63. Epitome Historiarum, Bl. 413v. Historien von Claus Narren, IV, 11, S. 63.

219 Ein Narr gar bald zum andern kam/ Vnd trieben Narren schimpff/ vnd das AnstFnd eim jungen Kindlein baß.825

Die beiden Beispiele unterscheiden sich nur in der Ausgangsmotivation der beiden Akteure. Der Narr handelt närrisch, muss sich also nicht verstellen, während der Kyniker sich erst den Anschein geben muss, er sei mental verändert. Genau dieser Unterschied bedingt die unterschiedliche Bewertung, die der natürliche Narr und Diogenes erfahren. Sind die Handlungen von Claus Narr aus der Natur, also aus Gott, hervorgegangen, können sie als Exempel dienen, während der Kyniker nur eingeschränkt als Vorbild gelten kann. Die Kritik an Diogenes entspricht der ablehnenden Haltung Büttners gegenüber der angenommenen, künstlichen Narrheit. Das Verhalten des Schalksnarren ist verwerflich, weil er sich bewusst als mental verändert gibt. Den Unterschied zwischen einem natürlichen Narren und einem Kyniker verdeutlicht die Historie Clauß brontzet weil es regnet.826 Hier wird erzählt, wie der Narr einmal im Regen an eine Wand urinierte und meynet sein Wasser trFffe/ weil das Dach oder die Rinne treufflete.827 Erst als sich ein anderer neben den Narren stellt und ebenfalls so tut, als würde er Wasser lassen, dann aber wieder weggeht, lässt sich der Narr überzeugen, den Ort zu verlassen. In der Lehre nun heißt es, dass Diogenes – ein glehrter Heyd –828 ebenso in der Öffentlichkeit seine Notdurft verrichtet hätte und es als ein natFrlich ding829 ausgab. Doch diese Überzeugung lässt Büttner nicht gelten: Wenns thet ein Sauw vnd ander Vieh/ Daselbst natur hat raum vnd statt/ Ein Mensch natur bezwingen mag/ Mit Sinn vnd Willen den er hat/ Sonst nennt man jhn ein schand Vnflat. Gleicht jn eim Hund vnd einer Katz/ Die jhren Mist deckt vnd verkratzt.830

Dem natürlichen Narren wird, ebenso wie den Tieren, in der Lehre damit indirekt der Freiraum eingeräumt, sich seinen Trieben hinzugeben, da er nicht genügend Verstand besitze, um adäquat zu reagieren. Möglicherweise bietet der Buchstabe F,831 der der Historie beigegeben ist, einen zusätzlichen Schutz, kynisches und närrisches Verhalten nicht miteinander zu verwechseln.

825 826 827 828 829 830 831

Büttner: Büttner: Büttner: Büttner: Büttner: Büttner: Büttner:

Historien Historien Historien Historien Historien Historien Historien

von von von von von von von

Claus Claus Claus Claus Claus Claus Claus

Narren, Narren, Narren, Narren, Narren, Narren, Narren,

IV, 11, S. 63f. XV, 6, S. 446. XV, 6, S. 446. XV, 6, S. 446. XV, 6, S. 446. XV, 6, S. 446. XV, 6, S. 446.

220 Büttner greift dabei auf ein in der mittelalterlichen Diogenesrezeption durchaus gängiges Verfahren zurück, das einzelne Züge des Kynikers als vorbildlich darstellt, während es den Kynismus insgesamt verurteilt.832 Dem gelehrten Diogenes wird seine HFndisch art833 vorgeworfen, weil er sie entgegen seinem geistigen Vermögen freiwillig gewählt habe, gleichwohl übernimmt Büttner verschiedentlich Beispiele des Kynikers.834 Wenn Büttner jedoch Anekdoten von Diogenes auf den natürlichen Narren umschreibt, dann modifiziert er sie auch. So nimmt er beispielsweise auf die Begegnung von Diogenes und Alexander Bezug. Verdunkelt wird die Sonne beim Narren nicht durch den vor der Tonne stehenden Kaiser, sondern durch einen bewölkten Himmel. Diese Naturerscheinung bewirkt, dass der Narr schwermFtig vnd traurig835 erscheint und auf die Frage eines Predigers836 daher antwortet: Mir manglet eben was dir auch manglet.837 Der Hofgeistliche vermisst nichts und Claus wundert sich darüber, dass dem Geistlichen nicht wie ihm selbst auch die Sonne fehlen würde. Während die allegorische Auslegung des Diogenes-Exempels den Kyniker als ein allgemeines Vorbild versteht, dem die Sicht auf Jesus als Sonne der Gerechtigkeit durch einen weltlichen Widersacher genommen wird, stellt Büttner dagegen zur Claus-Narr-Historie einen aktuellen Bezug her.838 Weltliche und geistliche Gegner wie Kaiser und Papst verdunkelten die Wahrheit und damit Gottes Gnade, weil sie Martin Luther verfolgen lassen. Ach Gott wie gieng da leyd vnd klag/ Der Warheit Gwalt vnd weh geschach/ Vnd glaubt ein jeder Mensch fFrwar/ Die Sonn wer vns verblichen gar/ Vnd hett sich Gott von vns gekehrt/ Er logen wehr was Luther lehrt. 839

Büttner bestreitet, dass dem Narren die Symbolik seines Handelns bewusst ist, auch wenn dem Geistlichen in der Historie die Augen vber geflossen840 seien. Jedoch der Sieg der Reformation beweise Gottes Gnade in dieser Welt: Hat Clauß nun auch gesehen diß/ Das red ich nicht/ doch ists gewiß/ Die ding also ergangen seyn/ Gott lob mich frewt der Sonnen Schein841

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Kinney: Cynic selfhood in medieval and Renaissance culture, S. 309. Büttner: Historien von Claus Narren, XV, 6, S. 446. Vgl. dazu auch Büttner: Epitome Historiarum, Bl. 414v. Büttner: Historien von Claus Narren, X, 5, S. 284. Büttner: Historien von Claus Narren, X, 5, S. 284. Büttner: Historien von Claus Narren, X, 5, S. 284. Largier: Diogenes der Kyniker, S. 46. Büttner: Historien von Claus Narren, X, 5, S. 286. Büttner: Historien von Claus Narren, X, 5, S. 285. Büttner: Historien von Claus Narren, X, 5, S. 286f.

221 Weitere Anekdoten sind von Diogenes überliefert, die von Männern erzählen, die wybischs gmFts842 hätten und daher von dem Kyniker kritisiert werden. Claus Narr reagiert ebenso auf einen Menschen, der reich vnd zart843 ist, der seiner F(uste nicht brauchen844 will und sich stattdessen von seinem Diener anziehen lässt. Claus spricht ihm nun einen Sinn vnd einen verstandt845 eines Pferdes zu, denn auch dieses müsse, wenn es ausreiten soll, aus- und eingezäumt werden. Die Auslegung der beiden Exempla stimmt in der Kritik überein. So verurteilt der Diogenes-Druck das weyche[m] vnd wollustige[m] l(ben,846 während Büttner wollust und fraß847 geißelt. Ebenfalls gleichen sich die Kommentare von Diogenes und Claus Narr, die die Reaktion eines Menschen, der sich schämt und daher im Gesicht rot wird, bewerten. Diogenes findet es bei einem Mann und Claus bei einer Frau bzw. bei einem Mädchen schön, weil ihnen die Tugend im Gesicht stehen würde.848 In einem weiteren Beispiel wollen jeweils Claus Narr und Diogenes einer Einladung nicht folgen, weil man ihnen am Tag zuvor nicht gedankt habe, als sie dort bereits zu Gast waren. In der Historie mit dem Narren wird die soziale Differenzierung der Gäste, die bei Diogenes nur erklärend hinzugesetzt ist, ausgespielt, denn die anderen Gäste hat der einladende Hofrath [...] mit ehren von sich gelassen/ vnnd die jhnen geleistete Freundschafft herrlich gedanckt.849 Claus Narr weigert sich, noch einmal hinzugehen, weil ihm nicht gedankt wurde, obwohl er es sich habe genauso gut gehen lassen wie die anderen auch. Ja, er wolle nicht einmal seinen Hund zu jm kommen lassen.850 Dieser Zusatz, der bei Diogenes fehlt, kann auch als eine versteckte Andeutung auf den Kyniker und dessen Leben als Hund gelesen werden, auf das Büttner verschiedentlich anspielt. Der Hund als Begleiter des Narren erscheint nicht erst bei Büttner. In der Sprichwortsammlung von Agricola ist der Hund Lepsch zwar noch Eigentum des Bischofs, aber in der weiteren Tradierung gehört der Hund bereits dem Narren. In der Ausgabe von 1533 von Paulis Schimpf und Ernst het der Nar ein Hund aufferzogen, der bei niemants bleib dann allein bei disem Narren, und wo der Nar war, da was der Hund auch.851 Auch bei Sachs ist es der Hund des Narren, der nicht verraten soll, wer den Bären von der Kette gelassen hat.852 Die am

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Ein Lustige vnnd Kurtzwylige History von aller Leer vnnd Laben Diogenis, S. 134. Büttner: Historien von Claus Narren, VIII, 4, S. 199. Büttner: Historien von Claus Narren, VIII, 4, S. 199. Büttner: Historien von Claus Narren, VIII, 4, S. 199. Ein Lustige vnnd Kurtzwylige History von aller Leer vnnd Laben Diogenis, S. 134. Büttner: Historien von Claus Narren, VIII, 4, S. 199. Vgl. Ein Lustige vnnd Kurtzwylige History von aller Leer vnnd Laben Diogenis, S. 143 und Büttner: Historien von Claus Narren, V, 4, S. 95f. und 5, S. 96f. Büttner: Historien von Claus Narren, IV, 8, S. 61. Büttner: Historien von Claus Narren, IV, 8, S. 61. Pauli: Schimpf und Ernst, Bd. 2, 696, S. 4. Sachs: Fabeln und Schwänke, Bd. IV, 248, S. 14f.

222 Torgauer Schloß stehende Doppelkonsolplastik von Claus, bei der der Narr auf einem Hund steht, verweist auf diese verschiedenen Überlieferungen mit dem Hund Lepsch und spielt damit möglicherweise auch auf die Verbindung von Kyniker und natürlichem Narren an. Neben den inhaltlichen Parallelen, die sich zwischen einigen Historien aus dem Claus Narr und den Erzählungen über Diogenes auftun, weist auch die formale Struktur einige Ähnlichkeiten auf. Die beliebteste rhetorische Form der Diogenesexempel ist das Apophthegma bzw. die Chrie. Die Darstellung des Lebens von Diogenes ist untrennbar mit der rhetorischen Form der Chrie verbunden, denn hier wird der Normbruch, die Tabuverletzung, die Natürlichkeit performativ nachvollzogen. Die Chrie ist ein an eine historische Persönlichkeit gebundener Sprechakt, der auf eine gegebene Situation erfolgt. Bereits Priscians Übersetzung der Progymnasmata von Hermogenes enthält diese rhetorische Form: Usus est, quem Graeci χρειαν vocant, commemoratio orationis alicuius vel facti vel utriusque simul, celerem habens demonstrationem, quae utilitatis alicuius plerumque causa profertur.853

Abgelöst von der Ausgangssituation kann die Chrie leicht zu einer Gnome oder Sentenz werden.854 In der Form ist sie kurz und prägnant, denn »eine Chrie wird nicht um der (wie immer lehrreichen oder pragmatisch nützlichen) Erzählung, sondern um der verbürgten Pointe willen erzählt.«855 Obgleich das Apophthegma und die Chrie historisch angebunden sind, weisen sie doch über den aktuellen Diskurs hinaus. Sammlungen von Chrien oder Apophthegmen, in denen Diogenes ein häufig genanntes Beispiel ist, dienen zwei Zielen. Zum einen waren sie schon in der Antike ein beliebtes rhetorisches Übungsmaterial, das über das Mittelalter und die frühe Neuzeit hinaus vor allem im Schulunterricht rezipiert wurde.856 Zum anderen ist schon in der Definition bei Priscian der Nutzen der Chrie betont und so gehört sie auch »aufgrund ihrer weisen oder lebensklugen Lehren zum Erziehungsprogramm«.857 Sie dient damit sowohl der rhetorischen Schulung wie auch der moralischen Erziehung.

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Zitiert nach Markus Fauser: Chrie. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. von Gert Ueding. Bd. 2: Bie-Eul. Tübingen 1994, Sp. 190–197, hier Sp. 193: »Usus, den die Griechen Chrie nennen, ist der denkwürdige Ausspruch einer Person oder deren Handlungsweise oder beides zugleich, wobei in unmittelbar anschaulicher Vergegenwärtigung (demonstratio) etwas für viele Fälle Nützliches hervorgehoben wird.« Vgl. v. Moos: Die Kunst der Antwort, S. 42f. v. Moos: Die Kunst der Antwort, S. 43f. Vgl. Fauser: Chrie, Sp. 193; Derek Krueger: The bawdy and society. The shamelessness of Diogenes in Roman imperial culture. In: The cynics. The cynic movement in antiquity and its legacy. Hg. von R. Bracht Branham, Marie-Odile Goulet-Cazé. Berkeley, Los Angeles, London 1996, S. 222–239, hier S. 223f. v. Moos: Die Kunst der Antwort, S. 44.

223 Der Philosophie des Diogenes liegt keine Theorie zugrunde, vielmehr ist er ein Philosoph der Kontingenz und der rhetorischen Akte, wie es Branham herausstellt: ... the chreia tradition suggests that Diogenes’ most brilliant invention was not a set of doctrines, let alone a method, but himself – a concrete yet malleable demonstration of a modus dicendi, a way of adapting verbally to (usually hostile) circumstances. It is this process of invention, this applied rhetoric, that constitutes the Cynic’s discourse, a process in which strategies of survival and rhetorical strategies repeatedly converge and coalesce.858

Die performance von Diogenes, so Branham weiter, zeichnet sich durch Pragmatismus, Improvisation und Komik aus. Die Kyniker argumentieren nicht von einer Idee ausgehend, sondern von der aktuellen Situation aus. Diogenes plant nicht, in einer Tonne zu leben, um seinen Lebensstil zu markieren, sondern er reagiert damit auf die bestehenden Umstände: Als er einen brieflich gebeten hatte, ihm ein Häuschen zu besorgen und dieser zu lange auf sich warten ließ, nahm er das Faß im Metroon (Tempel der Göttermutter Kybele und Staatsarchiv) zu seiner Wohnung ...859

Diogenes Leben besteht aus Improvisationen, die sich den Gegebenheiten anpassen. Seine performances bringen ebenso Lachen hervor, eben weil er in ihnen Regeln bricht, sie hinterfragt und die Vernunft gegen sich selbst ausspielt. Das Leben in der Liminalität gesteht ihm einzig und allein die Freiheit der Rede – die parrhesia – zu.860 Auch die Historien von Claus Narren bestehen überwiegend aus Apophthegmen, in denen kurz eine Situation umrissen wird, der eine Handlung des Narren folgt. Ein gut Gesell hatte ein wenig Pfenninge/ damit zehlet er sich/ vnd macht viel wesens. Clauß sprach zu jm: Dein Gelt macht dich zum Man/ du werest sonst eben wie ein ander Narr/ vnd grober T=lpel.861

So wie der Narr hier das Geldzählen kommentiert, so ist auch ein Großteil der anderen 626 Historien im Claus Narr aufgebaut. Im Mittelpunkt stehen immer eher zufällige und alltägliche Begebenheiten mit dem Narren. Daher wird deutlich, warum sich eine Systematik des närrischen Verhaltens kaum erstellen lässt, da die Handlungen des Narren durch ihren improvisatorischen Charakter

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R. Bracht Branham: Defacing the currency. Diogenes’ rhetoric and the invention of cynicism. In: The cynics. The cynic movement in antiquity and its legacy. Hg. von R. Bracht Branham, Marie-Odile Goulet-Cazé. Berkeley, Los Angeles, London 1996, S. 81–104, hier S. 87f. Laertius Diogenes: Leben und Meinungen berühmter Philosophen. I. Bd.: Buch I-VI. Übersetzt aus dem Griechischen von Otto Apelt. Berlin 1955, VI, 23, S. 306. Vgl. dazu auch Branham: Diogenes’ rhetoric, S. 90. Branham: Diogenes’ rhetoric, S. 103. Büttner: Historien von Claus Narren, XIII, 5, S. 388.

224 gekennzeichnet sind, die sich wie bei Diogenes nur schlecht mit einer Programmatik vertragen: Jede Ethik, die hieraus entstehen kann, muß deshalb vom Prinzipiellen sich verabschieden und das Narrative, die Vielfalt der Gesten, Fälle und Anekdoten ins Zentrum stellen.862

Unter Zuhilfenahme von inhaltlichen und strukturellen Merkmalen aus der Diogenesrezeption etabliert Wolfgang Büttner den natürlichen Narren Claus als den ›wahren Diogenes‹, dem sein abweichendes Verhalten naturgegeben ist und der damit aus protestantischer Sicht ein überzeugendes Exempel darstellt. Wie im Falle der frühneuzeitlichen Diogenesrezeption ließe sich hier auch von einer narrativen Ethik sprechen, die sich, in Anlehnung an Dietmar Mieth, nicht »›als System voneinander abgeleiteter Normen‹ versteht, sondern als reflexive Orientierung am ›ethischen Modell‹«.863 Ist bei Diogenes das Exempel ein Beleg für die Geltung der Norm und mittels seiner narrativen Struktur »gleichzeitig auch eine Überforderung der Norm durch den konkreten, erzählten Fall«864 lassen sich alle Mehrdeutigkeiten im Fall von Claus Narr immer mit dem Verweis auf die natürliche – und damit gottgewollte – Narrheit vermeiden. Auf der kynischen Tradition baut das Konzept der Narren in Christo auf, die den Erzählungen über Diogenes folgend ebenfalls der parrhesia verpflichtet sind und bei denen im Normbruch eine tieferliegende göttliche Wahrheit vermutet wird. Anzunehmen ist, dass das Christusnarrentum ebenfalls in der Konzeption des natürlichen Narren in den Historien von Claus Narren eine Rolle spielt.

3.4.4 Claus als Narr in Christo Claus Narr kann in den Historien von Claus Narren als ein Prodigium und als ein mit der kynischen Tradition verflochtenes Exempel gesehen werden. Mit den Kynikern ist eine besondere Art von Narren eng verbunden: die Narren in Christo. Zu fragen ist, ob nicht auch die Torheit von Claus Narr zu dieser Form der Narrheit gerechnet werden kann, die bis heute in den Ostkirchen lebendig ist, die aber auch in Westeuropa Verbreitung fand. Da die Untersuchungen der Christusnarren sich vor allem mit byzantinischen und russischen Quellen beschäftigen, stelle ich diese zuerst zusammen, bevor ich mich dann den westeuropäischen und vor allem den deutschen Formen der Narren in Christo mit Hinblick auf die Historien von Claus Narren zuwende. Als eine besondere Variante des christlichen Kynismus können die Narren in Christo betrachtet werden. Die Wurzeln der Christusnarren reichen bis in die

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Largier: Diogenes der Kyniker, S. 8. Largier: Diogenes der Kyniker, S. 80. Largier: Diogenes der Kyniker, S. 80f.

225 Spätantike. Im byzantinischen Christentum wurden Mönche, saloi, verehrt, die meist in Städten eine öffentliche Form der Askese lebten, die ihnen kaum Kleidung und wenig Essen ließ, Erniedrigungen und Beleidigungen einbrachte und die als mentale Devianz verstanden wurde.865 Nur heimlich wie nachts und in Vorhallen von Kirchen, zogen sie sich zum Gebet zurück. Für die Entstehung des Christusnarrentums werden zwei Gründe angeführt: zum einen löste diese Form der Entsagung im permanenten Normbruch das frühchristliche Märtyrertum durch ein selbstgewähltes Leiden ab und zum anderen war es eine Form des Protests gegen normativ festgelegte Regeln des Christentums. Die als imitatio christi verstandene Form der Narrheit hat ihren Ursprung in dem paulinischen Torheitsbegriff. Das hierfür prägende biblische Zitat ist die von Paulus als Peristasenkatalog formulierte Anklage der Korinther: Denn mir scheint, Gott hat uns Apostel auf den letzten Platz gestellt, wie zum Tode Verurteilte. Denn wir sind ein Schauspiel geworden für die Welt, für Engel und Menschen. Wir sind Narren um Christi willen, ihr aber seid klug in Christus; wir schwach, ihr aber stark; ihr herrlich, wir aber verachtet. Bis auf diese Stunde leiden wir Hunger und Durst, sind dürftig gekleidet, werden geschlagen und haben keine feste Bleibe und mühen uns ab mit unsrer Hände Arbeit. Man schmäht uns, so segnen wir; man verfolgt uns, so dulden wir’s, man beschimpft uns, so reden wir freundlich. Wir sind der Abschaum der Menschheit geworden, jedermanns Kehrricht, bis heute. (1Kor 4, 9–13)

Ziel dieser Aussage ist es, die Analogie des Lebens als Apostel zu Leben und Leiden Jesu zu sehen, »wobei Paulus sein eigenes vom Gekreuzigten geprägtes Leben zur μιμησις empfiehlt«.866 Aus diesem Abschnitt leitet sich die Bezeichnung der ›Narren in Christo‹ für diejenigen her, die von Natur aus mental different sind oder freiwillig ein Leben als Narr wählen. Dieses Christusnarrentum entspricht jedoch nicht dem eigentlichen paulinischen Sinn, denn »Paul was surely not advocating a pretense to insanity«.867 Bekannt sind aus Byzanz vor allem der heilige Narr Symeon von Emesa, der im 6. Jahrhundert lebte, und der heilige Narr Andreas von Konstantinopel, der Ende des 8. bis zur Mitte des 9. Jahrhunderts nachgewiesen werden kann.868

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Zu den byzantischen Narren und deren Tradition in der Ostkirche vgl. Ernst Benz: Heilige Narrheit. In: Kyrios. Vierteljahresschrift für Kirchen- und Geistesgeschichte Osteuropas 3 (1938), S. 1–55; Peter Hauptmann: Die ›Narren um Christi Willen‹ in der Ostkirche. In: Kirche im Osten. Studien zur osteuropäischen Kirchengeschichte und Kirchenkunde 2 (1959), S. 27–49; Sergej A. Iwanow: Visantiskoje jurodstvo. Moskau 1994. Wolfgang Schrage: Der erste Brief an die Korinther. Bd. VII. 1. Teilband 1Kor 1,1–6,11. Zürich, Braunschweig 1991, S. 331. Derek Krueger: Symeon the holy fool. Leontius’s life and the late antique city. Berkeley 1996, S. 65. Vgl. zu Symeon Krueger: Symeon the holy fool. Siehe auch Walter Nigg: Der christliche Narr. Über Symeon von Edessa, Jacopone da Todi, Erasmus’ ›Lob der Torheit‹, Philipp Neri, Cervantes’ ›Don Quijote‹, Heinrich Pestalozzi und Dostojewskijs ›Idiot‹. Zürich 1993, S. 27–62. Zu Andreas: Lennart Rydén: The life of St. Andrew the fool. Uppsala 1995.

226 Symeon erhielt seine Bedeutung als heiliger Narr vor allem durch seine von Bischof Leontius von Neapolis in der Mitte des siebenten Jahrhunderts verfasste Lebensbeschreibung. Das hier entwickelte Bild eines heiligen Narren fußte auf den zwei Vorbildern: Jesus und Diogenes.869 Das byzantinische Christusnarrentum und die darauf aufbauenden weiteren Bewegungen sind nicht ohne die weitverbreiteten Apophthegmensammlungen mit kynischem Gedankengut denkbar. Von dem byzantinischen Christusnarrentum wiederum beeinflusst waren die russischen Narren in Christo, die sogenannten jurodivye, die sich besonders vom 15. bis 17. Jahrhundert in Rußland stark verbreiteten. Ebenso wurde eine große Anzahl von Legenden über sie erstmalig schriftlich gefasst und viele von den Narren in Christo wurden als Heilige kanonisiert. Nachweisbar ist der erste russische Narr in Christo bereits im 11. Jahrhundert.870 Durch den »Kontakt mit byzantischen Askesemodellen und die Lektüre der ins Altkirchenslavische übersetzten Viten«871 der heiligen Narren am Ende des byzantinischen Reichs wurde das Christusnarrentum in Russland weitergeführt.872 Jurodstvo, das Christusnarrentum, ist ein fester Bestandteil der altrussischen Religion und Kultur. Sowohl die Annahme, jurodstvo sei »westeuropäischen Ursprungs«,873 als auch die dazu bestehende konträre Auffassung, es sei eine ausschließlich russische Erscheinung, ist sicherlich nicht haltbar.874 Es kann vermutet werden, dass sich das Christusnarrentum aus verschiedenen Quellen speiste. Jurodivost bezeichnet ebenso wie die natürliche Narrheit eine von Geburt an bestehende mentale Differenz.875 Auch Freiherr von Herberstein nennt in seinen Reisebeschreibungen die jurodivye Narren, und in russischen Wörterbüchern des

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Krueger: Symeon the holy fool. Vgl. auch Benz: Heilige Narrheit, S. 18. Vgl. Renate Lachmann: Der Narr in Christo und seine Verstellungspraxis. In: Unverwechselbarkeit. Persönliche Identität und Identifikation in der vormodernen Gesellschaft. Hg. von Peter von Moos. Köln, Weimar, Wien 2004, S. 379–410, hier S. 381. Lachmann: Der Narr in Christo, S. 381. Grundlegend dazu Iwan Kologriwow: Das andere Russland. Versuch einer Darstellung des Wesens und der Eigenart russischer Heiligkeit. München 1958, S. 241–249; Aleksandr M. Pančenko: Lachen als Schau-Spiel. In: Dimitrij S. Lichačev, Aleksandr M. Pančenko: Die Lachwelt des alten Rußland. Mit einem Nachtrag von Jurij M. Lotman und Boris A. Uspenskij. Eingeleitet und hg. von Renate Lachmann. München 1991, S. 83–170; Dimitrij Tschizewskij: Die heiligen Narren (›Jurodivye‹). In: Russische Heiligenlegenden. Hg. von Ernst Benz. Zürich 1953, S. 424–434. Weiterhin Konstantin G. Isupov: Narrentum in Christo. In: Lexikon der russischen Kultur. Hg. von Norbert P. Franz. Darmstadt 2002, S. 318–319; Lachmann: Der Narr in Christo. Kologriwow: Das andere Russland, S. 243ff. Vgl. dazu die Lesemenäen für den 14. Mai: »Der selige Isidor stammte aus den westlichen Ländern mit römischer Sprache und war deutscher Herkunft. Da er den wahren Glauben über alles liebte, verließ er sein Haus, legte seine Kleider ab und begann für Christus das Leben eines Narren nach dem Beispiel der heiligen Andreas und Simeon, die Gott durch diese Narrheit dienten, in den Augen der Menschen töricht erscheint, aber in den Augen Gottes jede menschliche Weisheit übersteigt.« Isupov: Narrentum in Christo, S. 318. Vgl. Ivan Pawlowski: Russisch-deutsches Wörterbuch. Leipzig o.J., Teil II, S. 1766 gibt als Bedeutung von Jurodivost »der (angeborene) Blödsinn« an.

227 16. und 17. Jahrhunderts »stehen ›Christusnarrentum‹, ›Dummheit‹, ›Torheit‹ in einer synonymen Reihe«.876 Das kirchenslavische Wörterbuch gibt als Übersetzung für jurodivyj radi Christa an: »Ein Mensch, der einen Sonderweg der Rettung gewählt hat, dem Rat des Hl. Paulus folgend, der sich rein äußerlich als geistesschwach ausgibt, in Wirklichkeit aber von echter Weisheit erfüllt ist.«877 Wie das Attribut natürlich bei den Narren auf die permanente und seit Geburt bestehende Andersartigkeit hinweist, ist auch in der Bezeichnung jurodivost eine solche Bedeutung enthalten. Die Wurzel dieses Wortes leitet sich aus urod ab, das sich aus dem negierenden Präfix u und das für Geburt stehende rod ableiten. Urod bedeutet daher Missgeburt bzw. Monster.878 So werden also beide, der natürliche Narr und der jurod, zu den monströsen Wunderwesen gerechnet. Das Interesse an dem Wunderbaren erstarkte auch im Russland des 16. Jahrhunderts und hielt noch im 17. Jahrhundert an. So gesehen ließe sich das vermehrte Auftreten der jurodivye vom 15. bis 17. Jahrhundert nicht nur aus der fortlebenden Tradition der byzantinischen Christusnarren heraus, sondern ebenso mit der Faszination am Wunderbaren, das im gleichen Zeitraum herrschte, erklären. Daraufhin deutet beispielsweise die Rezeptionsgeschichte zu dem jurod Prokopij von Ustjug hin, der Anfang des 14. Jahrhunderts starb. Die Legende über ihn wurde erstmalig im 16. Jahrhundert aufgezeichnet und, das ist für das steigende Interesse an dem Wunderbaren wichtig, als Beweis für seine prophetische Gabe wurde ein Meteoriteneinschlag, der tatsächlich in der Nähe Ustjug aber erst im 16. Jahrhundert eintraf, angeführt.879 Als Quellen zu den jurodivye dienen Reisebeschreibungen, Ikonen mit Darstellungen der Christusnarren, Briefe und andere Zeugnisse der heiligen Toren, vor allem aber die Viten, die als »Gedenkliturgien und kurze Prolog-Legenden den gewöhnlichen Gläubigen«880 bis in das 18. Jahrhundert bekannt waren und mindestens bis zur Einführung des Heiligen Synod 1722 durch Peter den Großen verehrt wurden.881 Die bekanntesten jurodivye wählten das Leben eines Narren freiwillig, nahmen es als podvig,882 als Heldentat, auf sich, denn die »Legenden enthalten immer

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Pančenko: Lachen als Schau-Spiel, S. 117. Grigorij M. Djacenko: Polnyj cerkovno-slavjanskij slovar. Moskau 1899, zitiert nach Lachmann: Der Narr in Christo, S. 384. Max Vasmer: Russisches Etymologisches Wörterbuch. Heidelberg 1980, 3. Bd., S. 188. Legende vom heiligen Narren Prokopij von Ustjug. In: Russische Heiligenlegenden. Hg. von Ernst Benz. Zürich 1953, S. 283–292. Vgl. für das 17. Jahrhundert die Vorgänge um den Christusnarren Ivaška Grigor’ev und Faddej bei Pančenko: Lachen als Schau-Spiel, S. 157ff. Pančenko: Lachen als Schau-Spiel, S. 127. Vgl. Briefe eines Christusnarren aus dem 17. Jahrhundert. In: Dimitrij S. Lichačev, Aleksandr M. Pančenko: Die Lachwelt des alten Rußland. Mit einem Nachtrag von Jurij M. Lotman und Boris A. Uspenskij. Eingeleitet und hg. von Renate Lachmann. München 1991, S. 171–183. Tschizewskij: Die heiligen Narren (›Jurodivye‹), S. 425.

228 die Formeln: ›er machte sich zum Narren‹ (jurod sja tvorja), und das Wort ›heiliger Narr sein‹ (jurodstvovati) bedeutet nichts anderes als ›sich zum Narren verstellen‹«.883 Doch die eigene Entscheidung musste, so in den typologisch geprägten Überlieferungen, vor der Öffentlichkeit geheim gehalten werden, um als wirklicher Christusnarr zu gelten. Die Schwierigkeit zwischen frommer, freiwillig angenommener Christusnarrheit, Pseudochristusnarrheit, die gewählt wurde, um Strafen zu entgehen, und angeborener Narrheit zu unterscheiden, ist Gegenstand vieler Auseinandersetzungen in der russisch-orthodoxen Kirche gewesen. Die religiöse Verehrung betraf alle gleichermaßen.884 Zum jurodstvo gehören bestimmte Topoi, die den Christusnarren erkennbar machen und die auch schon in der Hagiographie zu Symeon und Andreas auftreten. Die Topoi des Christusnarrentums sind von ihrer Anlage her paradox, Pančenko sieht sogar im Paradoxen eine »ästhetische Dominante«.885 Bereits im paulinischen Weisheitsbegriff ist diese Widersprüchlichkeit angelegt.886 Den jurodivye ist eine besondere Performativität zu eigen. Im vierten Kapitel des ersten Korintherbriefs wird bereits auf das Schauspiel verwiesen, das auch schon die byzantinischen Narren in Christo aufnahmen, denn immer wieder wird das Spielerische, das Rollenhafte der Narrheit betont. Um jedoch glaubhaft und nicht eitel zu erscheinen, darf der Narr sein Spiel nur wenigen Vertrauten verraten. Vor der Welt muss er als wirklicher, als natürlicher Narr erscheinen. In der Hagiographie wird daher oft davon berichtet, wie sich der Christusnarr tagsüber seiner Rolle hingibt, um nachts im Schutz der Dunkelheit und oft in einer Kirche zu beten.887 Sobald er als heiliger Narr von anderen Narren unterschieden werden kann, flieht er den Ort. Sein Schauspiel in der Öffentlichkeit ist permanent, während sein Ziel als ein didaktisches Anliegen zu sehen ist.888 Zwar nimmt der Christusnarr Elemente der Skomorochen auf, die vergleichbar mit Gauklern und Schalksnarren sind, doch während letztere Lachen erregen wollen, geht es den Christusnarren um Belehrung, die unter einer »Lach-Hülle«889 verdeckt ist.890 Alle Menschen, die in die Handlungen des Narren mit einbezogen werden, werden zu Mitspielern einer besonderen Art. Reagieren die Zuschauer so,

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Pančenko: Lachen als Schau-Spiel, S. 93. Pančenko: Lachen als Schau-Spiel, S. 87. Pančenko: Lachen als Schau-Spiel, S. 120. Schrage: Der erste Brief an die Korinther, S. 312. Benz: Heilige Narrheit, S. 12. Vgl. Legende vom heiligen Narren Prokopij von Ustjug, S. 283: Das Leben von Prokopij von Ustjug wird folgendermaßen geschildert: »Bei Tag ging er in der Stadt umher und gebärdete sich wie ein Narr und wurde von vielen gescholten, und es wurde ihm übel mitgespielt, zumeist von unverständigen Kindern. Bei Nacht aber ging er in die Kirche und betete zu Gott mit Tränen für die Stadt und die Leute und für die, so ihm übeltaten, und sprach: ›Herr, rechne ihnen meine Sünden nicht zu!‹« Benz: Heilige Narrheit, S. 30. Pančenko: Lachen als Schau-Spiel, S. 101. Vgl. dazu Norbert P. Franz: »Oh, Brüder, werden wir nüchtern ...« Bemerkungen zu einer Unterweisung des Moskauer Metropoliten Daniil. In: Zeitschrift für Slawistik 37 (1992),

229 wie es das Narrenspiel von ihnen erwartet, indem sie den Narren misshandeln, über ihn lachen, ihn verachten, dann beweisen sie damit die Narrheit der Welt und werden selbst zu Narren. Denn analog zum Leidensweg Christi opfern die Narren ihren Körper der Welt und fordern überdies die Misshandlungen durch eigene provozierende Handlungen permanent heraus, indem sie mit Kot und Mist um sich werfen, in der Öffentlichkeit kopulieren, defäkieren und in lautes Lachen ausbrechen.891 Das Spiel des Christusnarren ist paradox, denn indem er sich der Sünde hingibt – in der Hagiographie gibt es auch die Tendenz, seine vermeintlichen Fehltritte als nicht wirklich, sondern nur scheinbar vollzogen darzustellen – ist er selbst doch sündlos. Allein vom Zuschauer hängt es ab, die Heiligkeit des Narren zu erkennen: ... das Schauspiel des Christusnarrentums macht eine alternative Wahrnehmung möglich. Für sündige Augen ist dieses Schauspiel ein Ärgernis, eine Versuchung, für gerechte – eine Errettung. Derjenige, welcher in den Handlungen des Christusnarren eine sündige Tollheit, eine niedrige Fleischlichkeit sieht, schlägt den Mimen oder lacht über ihn. Derjenige, der einen ›Nutzen für die Seele‹ in diesem ›merkwürdigen und sonderbaren‹ Schauspiel erblickt, zeigt Ehrfurcht.892

Die performance des natürlichen Narren ist als ein religiöses Ritual zu verstehen, in dem Widersprüche aufgelöst und zugunsten einer höheren, einer göttlichen Wahrheit vereinheitlicht werden. Pančenko geht davon aus, dass sich das jurodstvo nicht in einem Ritual, sondern in einem Schauspiel vollzieht. Dabei definiert er den Ritualbegriff als »zeremonielle Geste«,893 also als hohle und leere Form, während die Darstellung der Christusnarren als Schauspiel bei den Zuschauern ein »emotionales Echo«894 erzeuge, die die »Abkühlung der Leidenschaften«895 verhindere. Pančenko verwendet einen eingeschränkten Ritualbegriff, während er das närrische Handeln der Christusnarren in Verbindung zur Lachkultur setzt. In Anlehnung an Bachtin verstehen Pančenko und Lichačev unter der Lachwelt eine zur offiziellen Kultur bestehende Gegenwelt.896 Doch genau die Nähe von Lach-

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S. 163–174, hier S. 168; Aleksandr S. Famincyn: Skomorochi na Russi. St. Petersburg 1995 (erstmalig 1889). Pančenko, S. 136: Vor allem im 16. und 17. Jahrhundert war das Lachen in Rußland verboten, wie der Erzdiakon Paul von Aleppo bemerkt: »Erfahrene Leute sagten uns, daß jemand, der sein Leben um fünfzehn Jahre verkürzen will, ins Land der Moskoviter fahren soll. Er muß dort wie ein Heiliger leben. [...] Er muß Scherze, Lachen und Ausgelassenheit aufgeben [...], denn die Moskoviter [...] spionieren allen Fremden Tag und Nacht durch die Türspalten nach und wachen darüber, ob sie sich auch dauernd der Demut, des Schweigens, des Fastens und Betens befleißigen, oder ob sie trinken, sich am Spiel ergötzen, scherzen, lachen oder streiten. [...] Sobald sie bei einem einen großen oder kleinen Fehltritt bemerken, dann verbannen sie ihn schleunigst in das Reich der Finsternis, zusammen mit Verbrechern. [...] verschicken sie ihn in die Länder Sibiriens.« Pančenko: Lachen als Schau-Spiel, S. 106. Pančenko: Lachen als Schau-Spiel, S. 102. Pančenko: Lachen als Schau-Spiel, S. 102. Pančenko: Lachen als Schau-Spiel, S. 102. Lichačev und Pančenko: Die Lachwelt des alten Rußland, S. 1f. Zur gegenweltlichen Lach-

230 kultur und jurodstvo stellen Kultursemiotiker Jurij Lotman und Boris Uspenskij in Frage. Sie sehen vielmehr in den Darstellungen Überreste von »Elementen magischen und heidnischen Verhaltens«,897 die als Rituale fest in die offizielle orthodoxe Kultur integriert wurden und im Gegensatz zum Karnevalesken nicht als Parodie von herrschenden Normen zu begreifen sind. Die jurodivye verwenden sowohl aus der offiziellen als auch aus der Gegenkultur Formen und Begriffe, zitieren sie, spielen aber nicht mit den Normen und Normabweichungen, sondern integrieren sie in ihre eigene Norm, denn das Verhalten des Christusnarren ist »nicht spielerisch, sondern eindeutig und ernst«.898 Der jurod wie auch der natürliche Narr befinden sich in einem anomalen Zustand, der keinen Anschluss zu der ihn umgebenden Welt finden kann. Er ist, ebenso wie ein Heiliger, ein Wunderwesen, das als solches mit didaktischen Interpretationen versehen und kanonisiert werden kann. Gerade die innere Heiligkeit des Christusnarren ist auch die Bedingung dafür, daß sein Verhalten, vom Standpunkt seiner Umgebung aus, zwei verschiedene, antinomisch entgegengesetzte Interpretationen zuläßt. Der Umstand, daß er sich in einem sakralen Mikrokosmos befindet, verleiht seinem Verhalten in den Augen der Außenstehenden, die in einer sündigen Welt leben, den Charakter eines ›verkehrten‹ Verhaltens.899

In deutschsprachigen Schriften der frühen Neuzeit spielt das Christusnarrentum nur eine untergeordnete Rolle. Eine angenommene Narrheit, wie sie von den saloi und jurodivye praktiziert wird, faszinierte aber beispielsweise katholische Geistliche im 17. und 18. Jahrhundert. So bindet der Jesuit Jacob Schmid in seinen Legendenkranz Die weiße Thorheit die Heiligen ein, welche umb Christi Willen sich von der Welt als Thoren und Narren haben ansehen lassen.900 Bei Schmid sind vor allem aber diejenigen gemeint, die als natürliche Narren gelten, denn sie haben einen so seltsamen und artigen Lebens-Wandel gefFhret, daß sie wFrcklich scheinten von Sinnen gekommen zu seyn.901 Durch diese wiederum habe, und damit greift die im 18. Jahrhundert erschienene Schrift noch auf das Konzept der natürlichen Narren als Prodigien zurück, Gott herrliche Miracul

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welt allgemein: Michail M. Bachtin: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur. Hg. und mit einem Vorwort versehen von Renate Lachmann. Frankfurt 1995; Dimitrij S. Lichačev: Lachen als ›Weltanschauung‹. In: Dimitrij S. Lichačev, Aleksandr M. Pančenko: Die Lachwelt des alten Rußland. Mit einem Nachtrag von Jurij M. Lotman und Boris A. Uspenskij. Eingeleitet und hg. von Renate Lachmann. München 1991, S. 7–81. Jurij M. Lotman, Boris A. Uspenskij: Neue Aspekte bei der Erforschung der Kultur des alten Russland. In: Dimitrij S. Lichačev, Aleksandr M. Pančenko: Die Lachwelt des alten Rußland. Mit einem Nachtrag von Jurij M. Lotman und Boris A. Uspenskij. Eingeleitet und hg. von Renate Lachmann. München 1991, S. 185–200, hier S. 195. Lotman, Uspenskij: Neue Aspekte, S. 197. Lotman, Uspenskij: Neue Aspekte, S. 197. Jacob Schmid: Die weiße Thorheit. Erwisen Jn unterschiedlichen Heiligen/ Welche umb Christi Willen sich von der Welt als Thoren und Narren haben ansehen lassen. Augsburg, Regensburg 1739. Schmid: Die weiße Thorheit, Bl. )()( 3r.

231 und Wunderwerck902 bewirkt. In der Vorrede warnt Schmid eindringlich davor, sich einfach nur als ein Narr ohne eine außdruckliche und hefftige innerliche Eingebung903 zu stellen. Desgleichen – und hier lehnt er sich in seiner Argumentation an Matthäus Raders Viridarium Sanctorum, das zu Beginn des 17. Jahrhunderts entstand, an – unterscheidet Schmid deutlich zwischen den verschiedenen Narrentypen. So verurteilt er diejenigen, die sich als Narren geben, um bey andern ein außgelassenes und leichtfertiges Gel(chter zu verursachen,904 wohingegen eine wahrhaffte bescheidene Einfalt, welche da allem Betrug und Schalckheit abhold ist und die auf eine Zeitlang sich tobsinnig, zerritet, n(rrisch, und einf(ltig stellt, eine Wunders-wFrdige, eine l=bliche Sach905 sei. Hier ist die vor allem im 17. Jahrhundert einsetzende Entwicklung zu beobachten, in der die Grenzen zwischen psychischer Krankheit und natürlicher Narrheit zunehmend verwischen. Zu den Heiligen selbst zählt Schmid neben Simeon von Emesa unter anderem Jacopone da Todi, die beide auch Vorbilder für eine Reihe von barocken Spielen wurden. Jacopone da Todi (1230–1306) hat der Legende nach ein Leben als Narr in Christo begonnen, als seine Frau bei einem Unglück ums Leben kam und er an ihrem Körper ein Büßergewand entdeckte, das sie unter ihrer kostbaren Kleidung trug. Seit Beginn des 17. Jahrhunderts verbreiteten sich die Spiele im Zuge der Gegenreformation.906 Die verschiedenen Spiele und der Legendenkranz Die weiße Thorheit bezeugen deutlich das Interesse in dieser Zeit an solchen Christusnarren. Auch aus Frankreich gibt es in der frühen Neuzeit vergleichbare Überlieferungen, in denen der »holy idiot, the ›enlightened illiterate‹«907 stark verehrt wurde, denn »during the seventeenth century the interest in such figures became almost a cult«.908 So wurden psychisch Kranke als heilige Narren verehrt wie Jean-Joseph Surin, der von 1600 bis 1665 lebte:

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Schmid: Die weiße Thorheit, Bl. )()( 3r. Schmid: Die weiße Thorheit, Bl. )(()()( 2v. Schmid: Die weiße Thorheit, Bl. )()()( 3v. Schmid: Die weiße Thorheit, Bl. )()()( 4r. Sechs Symeon- und fünf Jacopone-Spiele führt Leonhardt-Aumüller auf, die in der Zeit von 1600 bis 1751 entstanden. Vgl. Jacqueline Leonhardt-Aumüller: ›Narren um Christi willen‹. Eine Studie zu Tradition und Typologie des ›Narren in Christo‹ und dessen Ausprägung bei Gerhart Hauptmann. München 1993, S. 59–74. John Saward: Perfect fools. Folly for Christ’s sake in catholic and orthodox spirituality. Oxford, New York, Toronto, Melbourne 1980, S. 135. Saward: Perfect fools, S. 135. Dagegen spricht sich Jean-Marie Fritz in seiner auf das Mittelalter konzentrierten Untersuchung gegen die Existenz eines solchen Phänomens aus und verweist es ganz in die Tradition der Ostkirche. Vgl. Fritz: Le discours du fou au moyen âge, S. 187ff. Zu einem anderen Ergebnis kommt Laharie: La folie au moyen âge, S. 87ff. Zusammenfassend dazu: Lachmann: Der Narr in Christo, S. 385ff. Vgl. weiterhin Sandra Billington: The cheval fol of Lyon and other asses. In: Fools and folly. Hg. von Clifford Davidson. Kalamazoo 1996, S. 9–33.

232 It is true that his madness was involuntary and caused him great pain; there was nothing simulated or ›mimic‹ about it. But by humbly enduring it, he became a witness and prophetic sign: prodigium factus sum multis.909

In den katholischen Dichtungen gibt es immer die Möglichkeit einer aktiven Entscheidung, ein solcher Narr zu werden. Dagegen ist es in der protestantischen Tradition immer eine Gottesgabe, die äußerlich nicht erzwungen werden darf. Die paradoxe Idee, die göttliche Wahrheit gelte in der Welt nur als Torheit, ist gerade auch für die Protestanten ein wichtiger Topos, auf den gerade im Zuge der reformatorischen Auseinandersetzungen immer wieder zurückgegriffen wird. Die protestantischen Autoren bezogen sich dabei explizit auf den paulinischen Weisheitsbegriff. So betont in der Auslegung des ersten Korintherbriefes Cyriacus Spangenberg genau die Spannung zwischen verlogener Welt und nicht erkanntem Heiligen: Die Welt ist ein tolles/ wildes/ eigensinnigs/ wFste Gesinde/ welchs weder nach Gott noch seinem wort fraget/ lest sich allein die tolle vernunfft regieren/ vnd was derselben gut dFnckt/ helt sie fur recht/ meinet sie habe es also wol troffen/ vnd darff jhr niemand ins spiel reden. K=mpt nu jrgend ein Gottuerstendiger Mensch/ vnd strafft solche blindheit/ zeigt darneben an/ wie man fur Gott recht vnd wol leben/ vnd zur Seligkeit kommen m=ge/ so ists der Welt lecherlich/ helt solche Leute fur Thoren vnd Keuckler/ vnd vnnFtze Leute/ die entweder vom Teüffel besessen/ oder nicht wol bey sinnen sind/ schmehen/ h=nen/ vnd lestern sie auffs h=chste.910

In den Augen der Welt werden die wahren Heiligen zu mental devianten Menschen, die als natürliche Narren nicht bei Sinnen oder als psychisch Kranke von einem Dämon besessen sind. Für Spangenberg kann keiner gleichzeitig Ansehen in der Welt und vor Gott genießen. Ein wirklicher Heiliger muss, wie es bereits ein Charakteristikum der byzantinischen Christusnarren ist, verlacht, verfolgt und gedemütigt werden und steht damit in der Nachfolge der christlichen Märtyrer: Zum dritten/ sind die Gottseligen fur der Welt Narren/ vmb CHRJSTVS willen. Die furcht GOTTES ist der Weisheit anfang. Weil denn die gleubigen Gottes furcht vnd liebe haben/ sind sie weiser vnd klFger/ denn aller Menschen Kinder/ Aber die Welt helt sie fur Narren/ vmb des Euangelij willen/ welches ein Thorheit ist/ denen die verloren werden/ vmb des Creutzes willen/ so stets darneben ist/ Aber vns/ die wir selig werden/ ists eine krafft GOTTES. Weil wir vns nu damit/ wider die Weisen vnd gewaltigen dieser Welt/ vnd wider die Werckheiligen aufflegen/ vnd derhalben allerley verfolgung erleiden mFssen/ helt vns jederman fur Nerrisch/ als die wir wol gute tag vnd friede haben m=chten/ wenn wir selber wolten/ vnd nur das maul hielten. Doch wir sind Narren vmb CHRJSTVS willen (saget Paulus) Jr seid klug in CHRJSTO. Wil also viel sagen/ Es ist mir ein seltzam wunder ding/ das wir vns beide eines CHRJSTJ rhFmen/ vnd wir Aposteln werden doch vmb seinet willen als Narren verachtet. Jhr aber wolt in CHRJSTO sein/ vnd gleichwol fur der Welt weise vnd gar klug geachtet

909 910

Saward: Perfect fools, S. 118. Cyriacus Spangenberg: Die erste Epistel Sanct Pauli an die Corinthier. Eisleben 1561, Bl. 63v.

233 sein/ entweder es sind zwen CHRJSTVS/ oder jr betriegt euch selbst/ das jr menschliche Weisheit vermengt mit Christo/ vnd seiner Lere.911

Die Identifikation des Theologen mit der Narrenrolle findet sich schon bei Brant, Luther und Erasmus.912 In den religiösen – auch innerprotestantischen – Auseinandersetzungen sehen sich viele Geistliche als die wahren, jedoch verkannten Apostel und von der Welt verfolgt an. Wolfgang Büttner ist davon in seinem Denken und Schreiben ebenfalls stark geprägt, das bereits am vollständigen Titel seines letzten Werks und der darin betonten dichotomen Unterscheidung der Menschheit in Kinder Gottes und Kinder der Welt ablesbar ist: Epitome Historiarum. Christlicher ausgelesener Historien vnd Geschichten/ Aus alten vnd bewehrten Scribenten. Vnd die sich auch zu vnsern zeiten zugetragen. Ordentlicher vnd kurtzer Auszug. In FFnff BFcher. Nach ordnung vnd der Lere in den zehen Geboten Gottes/ Vnd der sieben Bitten in vnserm heiligen Vater vnser/ Gerichtet. Darinnen abzunemen/ wie die Kinder Gottes in dem Gesetz des HErrn recht vnd wol gewandlet/ Gott gedienet vnd angeruffen/ Vnd darumb von Gott mit Gnaden vnd Ehren/ zeitliche Belohnung empfangen. Die Weltkinder aber/ so dawider gestrebet/ Gott verachtet vnd gelestert/ von jm auch grewlich gestrafft vnd getilget sind. Zu gutem vnd reichem Trost/ den betrFbten vnd Elenden Christen/ die in der Welt veracht vnd verhasset. Den Sichern aber vnd rohem Weltp=bel/ zum schrecken vnd abschewe.913

Auch in den Historien von Claus Narren rekurriert Büttner mehrfach auf den in der Tradition der Narren in Christo stehenden Narrenbegriff. Das verläuft in einer Historie sogar auf den Ebenen von Narratio und Moralisatio. Dort erzählt man von einem Dieb, der gehängt wurde, woraufhin Claus Narr lieber ein Narr [...] / denn ein Dieb914 sein möchte und damit komisch wirkt, da ihm ja die natürliche Narrheit als solche angeboren ist und ihm daher auch im Gegensatz zu den sich verstellenden Schalksnarren keine Wahl lässt. In der Lehre erfährt diese nur scheinbar und damit lächerlich wirkende freiwillige Narrheit nun eine Umdeutung, da Büttner sich im selbstgewählten Narrenstand sieht: Diß wort ich deuten kFnd auff mich/ Weil Narren thun hab gschrieben ich/ Denn schnell man richtet vnd verdampt/ Ehe man die Sach recht hat erkannt/ Doch schreib ich schlecht nach meiner art/ Weil ich ein Narr genennet ward/ [...] Drumb schweig ich auch/ vnd nit verbrenn Mein Bart/ vnd meine Kolb verseng/ Doch lieber Narr ich bin vnd bleib/ Dann daß ich wie ein Schwermer schreib.915

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Spangenberg: Die erste Epistel Sanct Pauli an die Corinthier, Bl. 64r. Vgl. Kartschoke: Narrenrede bei Brant, Luther und Sachs. Büttner: Epitome Historiarum. Büttner: Historien von Claus Narren, XIII, 13, S. 395. Büttner: Historien von Claus Narren, XIII, 13, S. 395f.

234 Die gerade hier angeführte Anspielung auf die Schwärmer zieht damit eine Verbindung zu den sich als Narren Christi sehenden protestantischen Geistlichen, die sich durch den erwarteten Hohn und Spott auf ihre gelebten und geschriebenen Glaubenszeugnisse in der Nachfolge der Apostel sahen. Büttner und seine Historien von Claus Narren stehen damit in der reformatorischen Tradition, wie sie bereits durch Andreas Bodenstein von Karlstadt in der Außlegung vnnd Lewterung etzlicher Heyligenn geschrifften 1519 angedacht worden war: Daß diese Texte selbst eine Hochform theologischen Denkens als Voraussetzung hatten, das ist ihren Bewunderern damals kaum zum Bewußtsein gekommen. Sie glaubten vor allem, daß sich das wiederhole, was Paulus in der gnostischen Weisheit der Korinther gegenüber am Kreuze Christi offenbart sah, ›das die ungelarten einfeltigen leyhen eins hochern verstants seindt dan dye gelarten vermuschten (d. h. gezierten) Theologen. Es ist aber vorordent, daz got dye unverstendige und unachtbare erwelet, dy hochweysen und namhafften tzu beschemen.‹916

Durch die Identifikation mit den Aposteln erhält Büttner eine weitere rhetorische Strategie, sein Werk zu rechtfertigen: Wird sein Buch als Narrenwerk angesehen und verlacht, so geschieht es mit den Augen der Welt, die nicht die wahre Gottesbotschaft des Textes erkennen können. Zugleich würde mit diesem Unverständnis sein Werk legitimiert. Wers list/ mich recht vernemmen wird/ Ders nicht versteht/ vnd wil auch seyn/ Zu klug/ der bleibe klug allein. Zwar ich schreib guts/ kein args ich schreib/ Vnd jederman verhast doch bleib/ Das macht der Gleißner vnd sein hertz/ Der achtet Gott vnd mich zum schertz.917

Die Historien selbst weisen ebenfalls deutliche Bezüge zu den Inszenierungen der Christusnarren auf. Die Form der Apophthegmen inszenieren in den Historien von Claus Narren rhetorische Akte um die Worte und Taten des Narren oder, wie es Büttner in der Vorrede selbst wiederholt betont, die εργα vnd λογοι918 des Narren. Überliefert wird nicht nur eine Sentenz, sondern der Sprechakt selbst.919 In der rhetorischen Form des Apophthegmas geht es um das Schauspiel des natürlichen Narren. Doch es ist im Gegensatz zu dem des Schalksnarren ein unfreiwilliges, denn nur die Welt um ihn herum nimmt es als ein solches wahr, so wie es Spangenberg für die Apostel beschreibt: Wenn sich nu die Lerer daran nicht keren/ vnd nach Gottes worten alles falsch vertrawen der welt straffen/ dargegen nichts dan Gottes gnade rhFmen/ so wird die welt aus anregen jhres FFrsten erbost/ wFttet vnd tobet wider die Gottseligen/ legt jhn

916 917 918 919

Kähler: Karlstadts Protest gegen die theologische Wissenschaft, S. 306. Büttner: Historien von Claus Narren, Bl. A jv. Büttner: Historien von Claus Narren, Bl. A iiijv. Vgl. Largier: Diogenes der Kyniker, S. 7.

235 alle plage vnd hertzleid an/ martert vnd t=dtet sie endlich auffs jemmerlichste darzu/ vnd helt dennoch solchs alles fur kurtzweil/ vnd Schawspiel/ lachts vnd ist guter ding darzu/ als hette sie Gott ein grossen gefallen gethan. Also sind die Gotseligen ein schaw Spiel der Welt.920

Noch stärker tritt diese Ansicht in Büttners lateinischer Vorrede zu Tage, in der er darlegt, dass die Welt aufgrund ihrer Laster gar keine Welt sei und daher auch nicht die Narrheit von Claus begreifen könne.921 So verweist er schon an dieser Stelle auf die paradoxe Heiligkeit des Narren, der von der Welt verlacht und verspottet wird. MVNDO NON Mundo. Non dubito mundum, qui propter innatam & inhabitantem prauitatem non est mundus, reprehendere labores meos, fatuitatem stolidi Nicolai, cum commoditate, explicantes: ac vociferari non ferte talia scripta pietatem iustificantis Euangelij, sed obesse modestiae Theolog. & offendere docendi Ministerium. Næ ego talem immundicatem hortor, legere clarissimorum & doctis. Theo. scripta & elucubrationes, quas in Fabulis Plautinis, & in Teren. Comoediis, & in Ethnicorum Apophthegmatis, & in ferarum venationibus fideliter explicandis & describendis, collocarunt. Deprehendet illico, nimirum quantum ab bene doctum virum eruditionis, Linguarum Artium, & Historiarum sacrarum & Prophetarum, requiratur. Sane necessaria est omnis cognitio, cum vt probetur, tum vt retineatur & obseruetur. Neq; etiam reiiciendi sunt exigui lapilli, & inanis pulueris segmenta, a magna structura sancts. Domus Domini.922

In den Historien selbst inszeniert Büttner immer wieder die Weltweisheit und bindet den Leser darin ein. Notfalls mit zusätzlichen Erklärungen in den Historien stellt er ein Einverständnis über die Ausgangssituation her. Damit verpflichtet er den Rezipienten zu einer Teilnahme an dem Schauspiel, das zunächst so wirkt, als würde hier über den Narren zum Zweck des Vergnügens erzählt werden. Erst in den Lehren offenbart sich die alternative Wahrnehmung des

920 921 922

Spangenberg: Die erste Epistel Sanct Pauli an die Corinthier, Bl. 63v. Büttner: Historien von Claus Narren, Bl. A vijv. Die Fehler im lateinischen Text sind vermutlich auf den Setzer zurückzuführen. Für die Hilfe bei der nachfolgenden Übersetzung danke ich Frank Wittchow, Christoph Kähler und Anselm Steiger. »Der Weltordnung und nicht der Weltlichkeit. Ich zweifle nicht daran, dass eine Welt, die wegen der ihr eingeborenen und in ihr wohnenden Schlechtigkeit gar keine Welt ist, meine Arbeiten tadelt, die die Narrheit des dummen Nikolaus [Claus, RvB] angemessen darlegen: und ihr ruft, dass solche Schriften nicht die Frömmigkeit des sie rechtfertigenden Evangeliums aufweisen, sondern der Zurückhaltung der Theologen schaden und das Predigtamt stören. Und ich ermuntere diese Nichtweltlichkeit nicht dazu, die Schriften und Studien der berühmtesten und gelehrtesten Theologen zu lesen, die sie auf die treuliche Erklärung und Beschreibung der Stücke des Plautus und der Komödien des Terenz, der Sprüche der Heiden und der Tierhetzen, aufgewendet haben. Sie wird sofort tadeln, wieviel an Bildung, Sprachen und Künsten, Wissen um die Heiligen Geschichten und Propheten von einem gelehrten Mann verlangt wird. Freilich ist jede Erkenntnis notwendig, einerseits, damit sie gut geheissen wird, andererseits aber besonders damit sie behalten und beachtet wird. Denn vom grossen Bau des heiligen Hauses des Herrn sind auch die kleinsten Steine und Partikelchen von feinstem Sand nicht zu verachten.«

236 närrischen Verhaltens. Das Lachen über den Narren markiert die Zugehörigkeit des Spötters zur Welt, während ihm in der Moralisatio die in den närrischen Handlungen liegende göttliche Wahrheit nahegelegt wird. Claus selbst kann als ein solcher Christusnarr in allen seinen Handlungen nicht verwerflich sein, da er aus einem liminalen – heiligen – Zustand heraus agiert. Der Narr als der Träger einer göttlichen Weisheit und damit als ein Widerspruch zu der ihm umgebenden Welt wird nicht nur in jeder Historie inszeniert, sondern auch noch einmal im Schlussgebet hervorgehoben, wenn zwischen weltlicher und geistlicher Narrheit, d. h. simplicitet923 und stoliditet924 unterschieden und hier der Welt manier vnd brauch925 als sündhaft angeprangert wird. Büttner selbst identifiziert sich mehrfach mit der einfalt926 des Narren und setzt sie bereits in der Vorrede rhetorisch ein, um die Kritik an seinem Werk als das Lachen der Welt zu brandmarken: Ja sage ich/ solche breite/ tieffe/ vnd hoch gelahrte Morologen/ solten one fantastische vnbed(chtigkeit/ diese dinge nicht deridiren/ viel weniger mich/ nach jrer general Geistlichkeit/ verlachen/ vnd zuuverspotten bey den einfeltigen angeben vnd fFrtragen.927

Greifen die Protestanten immer wieder auf den paradoxen Begriff der Narrheit in Christo zurück und beschreiben es genau mit den Topoi, die den Christusnarren zu eigen sind, so ist auch Büttners Wahl, einen natürlichen Narren als beispielgebendes Vorbild zu wählen und ihm ein solch umfangreiches Werk zu widmen, in dieser Tradition zu sehen. Das Lesen der Historien ist, vergleichbar mit den performances der Narren in Christo, als ein religiöses Ritual zu verstehen. Dabei werden die Widersprüche zwischen den vor der Welt närrisch erscheinenden Handlungen zugunsten einer in ihnen verborgenen göttlichen Weisheit aufgelöst. So ist das Lesen der Historien daher als performativer Akt zu verstehen: die in der Narratio erzählte närrische Handlung und das folgende Lachen darüber ist wie das Schauspiel der Narren in Christo zu verstehen, die das Lachen ebenso mit ihrer permanenten Devianz herausfordern. Doch während es den Zuschauern beim religiösen Ritual der Narren in Christo selbst überlassen bleibt, die Paradoxie des Schauspiels zugunsten einer göttlichen Wahrheit aufzulösen, bietet Büttner seinen Lesern diese Dechiffrierung der devianten närrischen Handlungen in den Lehren selbst an. Die Rezeptionsgeschichte der Historien von Claus Narren zeigt, dass die enge Verbindung von Narratio und Moralisatio verstanden wurde, denn viele nachfolgende Ausgaben von Büttners Werk ließen die Lehren unverändert und es wurden auch die Historien mit der zugehörigen Moralisatio in andere Werke übernommen. Erzählung und Belehrung bilden in

923 924 925 926 927

Büttner: Büttner: Büttner: Büttner: Büttner:

Historien Historien Historien Historien Historien

von von von von von

Claus Claus Claus Claus Claus

Narren, Narren, Narren, Narren, Narren,

Bl. k iiijv. Bl. k iiijv. Bl. k iiijr. Bl. A iiijr. Bl. A iiijr.

237 Büttners Werk eine Einheit, die in der paradoxen Figur des natürlichen Narren ihre Begründung findet.

3.5

›Vnd deit den Treck, daß man m=cht weinen‹: Rezeption der ›Historien von Claus Narren‹

Die Historien von Claus Narren erwähnt die Forschungsliteratur seit dem 19. Jahrhundert nur am Rande und wertet sie oft als eine schlechtere Variante des Ulenspiegels. Dabei ist bisher übersehen worden, dass sich die Narrenkonzeption dieser beiden Werke grundlegend voneinander unterscheidet. Die Sicht auf den natürlichen Narren Claus als eine Form heiliger Narrheit kann offensichtlich spätestens ab dem 19. Jahrhundert nicht mehr nachvollzogen werden. Unklar ist, inwieweit Büttners Anliegen überhaupt verstanden und aufgegriffen wurde oder ob es daneben auch noch andere Deutungsmöglichkeiten zu Claus Narr gab. Um diese Fragen zu klären, bietet es sich an, auf die Rezeptionsgeschichte der Historien von Claus Narren näher einzugehen. Büttners Historien von Claus Narren stellten einen großen Druckerfolg dar. Nachgewiesen und erhalten sind 27 deutsche und zwei holländische Ausgaben.928 Allein aus dem 16. Jahrhundert haben sich fünf Auflagen erhalten. So erschienen bereits 1573 zwei Ausgaben bei Kilian Han und Nikolaus Bassee in Frankfurt. Letztgenannter Drucker gab in den Jahren 1579, 1587 und 1592 drei Auflagen heraus und seine Erben edierten 1602 eine weitere. Im 17. Jahrhundert erschienen neben dem Basseedruck noch weitere elf Drucke, bei denen größtenteils die Angaben des Ortes und des Druckers nicht vorhanden sind, teilweise auch nicht die des Jahres.929 Auch im 18. Jahrhundert fehlen genauere Hinweise zur Provenienz der noch erhaltenen neun deutschen Drucke.930 Die beiden niederländischen Ausgaben sind 1652 und 1736 in Amsterdam gedruckt worden. Neben diesen 29 bewahrten Drucken können bibliographisch weitere Ausgaben nachgewiesen werden. So druckte vermutlich Johann Francke in Magdeburg 1605 eine Auflage. Auch für das 18. Jahrhundert nimmt Schmitz an, dass es mindestens zwei weitere Drucke gegeben habe.931

928 929

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Eine ausführliche Darstellung aller erhaltenen 29 Drucke findet sich bei Schmitz: Wolfgang Büttners Volksbuch von Claus Narr, S. 305ff. Schmitz gelang der Nachweis, dass die beiden Basler Drucke von 1616 und 1617 bei Ludwig König erstellt wurden. Letzterer ist lediglich eine Titelauflage des ersten Basler Drucks. Zwei Ausgaben aus Erfurt von 1645 und 1655 wurden bei Tobias Fritzsche gedruckt. Für die zwei Ausgaben von 1657, die folgenden aus den Jahren 1665, 1683, 1695, 1699 und eine ohne genauere Datierung fehlen sowohl der Nachweis der Drucker als auch der des Druckortes. Erschienen sind weitere Ausgaben 1703, 1708, 1710, 1711, 1721, 1734 und drei ohne Jahresangaben. Schmitz: Wolfgang Büttners Volksbuch von Claus Narr, S. 350ff. Der Druck von 1605 aus

238 Alle Änderungen, die sich in den 27 Ausgaben ergeben haben, weist Schmitz in seiner Untersuchung zu den Historien von Claus Narren nach und stellt die Drucke in ihrer stemmatischen Abhängigkeit dar. Wichtig für die Textgeschichte ist dabei, dass es bis zur neunten Auflage von 1617 zu keinen wesentlichen inhaltlichen Veränderungen kam. In den seit Mitte des 17. Jahrhundert erschienenen Drucken fehlen die gereimten Lehren, die sich jeder Historie anschließen. Ebenso verringerte sich die Anzahl der 627 Historien.932 Doch nicht nur die vielen Auflagen, sondern auch die oft wörtlichen Zitate aus den Historien von Claus Narren in anderen Werken beweisen den Erfolg des Druckes. Eine Vielzahl von Werken beruft sich auf Claus Narr und die Historien von Claus Narren.933 Unumstritten war Claus Narr dennoch nicht, wie es das bereits angeführte Zitat von Fischart beweist, der über das von Büttner verwendete Auslegungsverfahren weinen934 möchte. Die vorwiegend aus dem 16. und 17. Jahrhundert stammenden Werke, die sich auf Claus Narr und die Historien von Claus Narren beziehen, gehen unterschiedlich mit der Narrenfigur und dem von Büttner vorgeschlagenen Verfahren um, die Handlungen des Narren auszulegen. Zu der ersten Gruppe gehören die Autoren, die das Werk kritiklos adaptiert haben, zu der zweiten Gruppe rechnen die, die nur an den Schwänken des Narren wegen ihrer Komik oder wegen des historischen Claus Narr interessiert waren. Eine dritte Gruppe von Werken rezipiert die Historien von Claus Narren ironisch. Die bearbeiteten Auflagen der Historien von Claus Narren erfahren analoge Umdeutungen, die den drei genannten Gruppen entsprechen. Daher werden sie in die Rezeptionsgeschichte, die hier exemplarisch dargestellt werden soll, mit einbezogen. Die Werke, die die Historien von Claus Narren unkritisch rezipieren, übernehmen die Historien mit und ohne Lehren in ihre meist moraldidaktischen Werke. Die Verfasser und Kompilatoren setzten damit Büttners Bemühungen fort, Claus Narr als Exempel zu etablieren. Dazu zählt beispielsweise eine erweiterte Ausgabe des Faustbuchs von 1599, in die Georg Rudolf Widmann einige

932 933

934

Magdeburg ist in der Bibliotheca librorum Germanicorum classica aus dem Jahr 1611 von Georg Draudius verzeichnet. Die Ausgabe von 1724 besaß die Berliner Staatsbibliothek zu Berlin. Da das Exemplar zu den Kriegsverlusten zählt, können die Angaben nur aus dem Katalog erschlossen werden. Der andere Druck aus dem 18. Jahrhundert ist nachgewiesen bei Görres: Die teutschen Volksbücher, S. 246. Vgl. die Übersicht mit allen Veränderungen der 29 Ausgaben bei Schmitz: Wolfgang Büttners Volksbuch von Claus Narr, S. 261–270. Eine Auflistung von Werken findet sich in dem Kapitel »Claus-Narr-Splitter und Claus-NarrBilder. Zum Nachleben Claus Narrs in Literatur und bildender Kunst des 16.–18. Jahrhunderts« bei Schmitz: Wolfgang Büttners Volksbuch von Claus Narr, S. 275–289. Fischart: Aller Pracktick Großmutter, S. 578.

239 Historien von Claus Narr, die vor der Trunkenheit oder Spielsucht warnen sollen, aufgenommen hat.935 Zu dem so bringt das vberflFssig leben nichts guts/ krenckt denn leib/ vnd anderst mehr/ davon ich ein geschicht sagen muß/ von Claus/ des ChurfFrsten Johan Friederichs in Sachsen/ Narren/ das jhre ChurfFrstliche Gnad an einem Abend het zu viel gezecht/ vnd klagt am morgen vbers haupt/ Da sprach Claus/ wieder an/ Herr Friderich/ wieder an/ der Fürst sprach/ Ja wol Clauslin/ was wFrde dan wol darauß werden/ Claus antwortet/ Ein Narr wFrd darauß/ wie ich lang gewesen bin. Von Trunckenheit nichts guts entspringt/ Vernunfft vnd gute Sinne hinnimpt/

Der FFrst ein Narr wie Clauß.

(Weidner)936

(Büttner IV, 42)937

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Der Durch. Ch. F. hatte an einem abend zuviel gezechet/ vnd klaget am Morgen sein Haupt. Clauß sprach: Wider an/ Herr Friderich/ wider an. Der FFrst sprach: Ja wol Cl(ußlein/ was wird aber darauß werden? Clauß antwortet: Ein Narr wird drauß/ wie ich lang gewesen bin. Lehre Von Trunckenheit nichts guts entspringt/ Vernunfft vnd gute Sinn hinnimpt/ Darzu ein schnelles sterben bringt/ Vnd ewig in die Hell verbrinnt.

Auch die weiteren Auflagen der Historien von Claus Narren tradierten weiterhin Büttners Verfahren. Die Bearbeitung n, die einem nicht näher zu datierenden und auch ohne Ort versehenen Druck der Historien von Claus Narren aus dem 17. Jahrhundert zugrundeliegt, fasst das Anliegen des Textes bereits in ihrem Titel zusammen: Der lehrende Claus. Das ist: Feine schimpffliche Wort und Reden/ die Erbare Ehrenleuth dem Clausen/ Weiland ChurfFrstlichn S(chsischen gewesenen Hoff-Narren/ abgemerckt/ und nachgesagt haben/ zu einer Christlichen Erlustigung/ Mit angefFgten guten Lehren.938

Die gereimten Lehren strich der anonyme Bearbeiter und ersetzte sie durch eigene Lehrsätze, denn auch er meinte, dass die Historien von Claus Narren viel herrliche und nutzliche Lebens Regel939 enthalten. Seine weiterführenden Erklä-

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939

Vgl. Georg Rudolf Widman: Erster Theil der Warhafftigen Historien von den grewlichen vnd abschewlichen SFnden vnd Lastern/ auch von vielen wunderbarlichen vnd seltzamen ebentheuren: So D. Iohannes Faustus Ein weitberuffener SchwartzkFnstler vnd Ertzzauberer/ durch seine Schwartzkunst/ biß an seinen erschrecklichen end hat getrieben. Mit nothwendigen Erinnerungen vnd sch=nen exempeln/ menniglichem zur Lehr vnd Warnung außgestrichen vnd erklehret. Hamburg 1599, S. 113f., S. 116, S. 118. Vgl. dazu Büttner: Historien von Claus Narren, IX, 41, S. 277f.; XIV, 14, S. 439; XI, 1, S. 314f.; IV, 21, S. 69; VIII, 32, S. 222f. Widman: Erster Theil der Warhafftigen Historien, S. 112. Büttner: Historien von Claus Narren IV, 42, S. 84f. Wolfgang Büttner: Der lehrende Claus. Das ist: Feine schimpffliche Wort und Reden/ die Erbare Ehrenleuth dem Clausen/ Weiland ChurfFrstlichn Sachsischen gewesenen Hoff-Narren/ abgemerckt/ und nachgesagt haben/ zu einer Christlichen Erlustigung/ Mit angefFgten guten Lehren. o.O. o. J. Büttner: Der lehrende Claus, zitiert nach Schmitz: Wolfgang Büttners Volksbuch von Claus Narr, S. 222.

240 rungen decken sich mit dem didaktischen Anliegen Büttners. Auch er wollte, dass die Historien und die Lehren nicht nur zur Erheiterung in einem größeren Kreis erzählt werden: Derohalben/ zu besserm Verstande/ ist bey einer jeden geschicht ein nutzliche Lehre beygefüget worden/ und wol werth/ das in grosser Schwermüthigkeit gelesen/ und hiedurch das traurige Gemüth in etwas erfrischet werde. Ja man kan es auch bey ehrlichen Zusammenkünfften gar nützlich gebrauchen/ und bißweilen mit solchen frölichen Schertzreden und höfflichem Schimpff/ mehr/ als mit hoher verständiger Leuthe geführten Sprüchen/ ausrichten.940

Die zusammengefassten Lehren des unbekannten Bearbeiters gleichen inhaltlich den gereimten Nutzanwendungen Büttners. Sie übersetzten lediglich seine antikatholische Polemik durch »konfessionslose, allgemeinchristliche«941 Hinweise. Diese Bearbeitungen und Zitate aus den Historien von Claus Narren belegen, dass Büttners Versuch, einen natürlichen Narren als ein moraldidaktisches Exempel zu statuieren, tatsächlich auch so verstanden wurde. Dagegen weisen andere Ausgaben darauf, dass Büttners Lehren nicht immer als nutzbringend empfunden wurden. Das neu hinzugefügte Nachwort der Bearbeitung m, die dem Druck M von 1657 zugrundeliegt, spricht zwar noch davon, dass in den Historien von Claus Narren eine heimliche Welt=Weißheit verborgen942 sei, lässt aber die Lehren vollständig weg. Die Didaxe muss daher von jedem Leser selbst hergeleitet werden wie bei anderen Werken, die mit dem Claus Narr verglichen werden. Die Fabeln Äsops und andere viel schöner Fabelbücher mehr/ als der Reinicke Fuchs/ und der Frosch=Mäuseler/ welche/ wenn sie mit gutem Verstande und reiffen [!] Nachsinnen gelesen werden/ die rechte Ethica, so zu diesem Leben in politics nöthig ist/ genugsam lehren und vorzeigen. Unter diesen ist nicht das geringeste gegenwertiges Büchlein von Claus Narren/ welches zwar dem eusserlichen Schein nach/ närrisch klinget/ aber solche kluge Phrases und Lehrstücke in sich begreiffet/ die offtmals einem/ der sich gar klug zu düncket/ seinen Wahnwitz niederlegen können. Hätt’ mancher Dünckeklug Claus Narren seinen Witz/ Er käme offt mit Fug In einen höhern Sitz.943

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Büttner: Der lehrende Claus, zitiert nach Schmitz: Wolfgang Büttners Volksbuch von Claus Narr, S. 222. Schmitz: Wolfgang Büttners Volksbuch von Claus Narr, S. 224. Wolfgang Büttner: Historia von/ Claus Narren/ Weilandt Churfürstlichen/ Sächsischen gewesenen/ Hofnarren/ etc./ Höffliche und kurtzweilige Schertzreden/ In sechzehn unterschiedliche Theil/ fein kurtz gefasset. o.O. 1657, zitiert nach Schmitz: Wolfgang Büttners Volksbuch von Claus Narr, S. 220. Wolfgang Büttner: Historia von/ Claus Narren 1657, zitiert nach: Schmitz: Wolfgang Büttners Volksbuch von Claus Narr, S. 220.

241 Die Paradoxie des närrischen Vorbilds wird auch hier als solche erkannt, denn im gleichen Nachwort wird der Leser weiterhin aufgefordert, das Werk nicht nur überhin, sondern mit guten [!] Verstande lesen/ wiederlesen/ und wol behertzigen.944 Die zweite Gruppe in der Rezeptionsgeschichte von Claus Narr bilden die Werke, die an der Figur des Hofnarren und an seinen Possen interessiert waren. Der Büttnersche Text gilt als historische Quelle, die zitiert wird, um Begebenheiten mit dem Narren zu belegen. Dabei lassen sich die Beweggründe, das Vergnügen an den Handlungen des Narren und das historische Interesse an der Figur des sächsischen Hofnarren Claus Narr nicht immer voneinander trennen. Die Bearbeitung j der Historien von Claus Narren schiebt mehr den Unterhaltungswert der Historien in den Vordergrund. Auf dieser Bearbeitung basieren die Drucke aus den Jahren 1645, 1655 und 1657. Der hier ebenfalls unbekannte Bearbeiter nennt in einer kurzen Vorrede, die das alte Vorwort ersetzt, vor allem diätetische Gründe für die Lektüre der Historien von Claus Narren: Obwol/ günstiger liebr Leser/ der Claus Narr/ wie man jhn nennet/ ein fein Büchlein an jn [...] selber vnd wol wert ist/ daß man es in schwermütigkeit vnd Melancholischen trawriger Zeiten lesen/ darin man sich denn allerley kurtzweiligen Reden erholen kann.945

Doch die gereimten Lehren sind für diesen Bearbeiter eher störend und deshalb veränderte er den Text dementsprechend, wie es weiter in seiner Vorrede heißt: Jedoch weil es der Author mit seiner Außlegung/ vnd andern frembden Historien/ die er doch wissentlich hinnein gesetzt/ vnd mit sonderlichen Buchstaben verzeichnet/ etwas weitleufftig/ vnd dem Leser/ so mehr auff die Historien vnd Possen/ dann auff die Moralia vnd Lehren siehet/ zu lesen vertrießlich gemacht hat/ als hab ich jhn vorgonommen/ durch gelesen/ vnd das was nicht zu Claus Narren gehöret/ neben den Reimen außgelöschet/ vnd Claus Narren fröliche Schertzreden/ vnnd höfflichen Schimpff/ wie jtzo augenscheinlichen drucken lassen/ damit es desto kürtzer/ vnd zulesen desto anmüthiger seyn möchte.946

Zu der Gruppe, die die Historien mehr aus historischem Interesse aufnahm, zählt als herausragendes Beispiel die von Zincgref begonnene und später von Weidner fortgesetzte Apophthegmensammlung, die in verschiedenen Ausgaben

944 945

946

Büttner: Historia von/ Claus Narren 1657, zitiert nach: Schmitz: Wolfgang Büttners Volksbuch von Claus Narr, S. 220. Wolfgang Büttner: Historia von Claus Narn/ Weiland ChurfFrstlichen Sachsischen gewesenen Hoffnarn/ etc. H=ffliche vnd Kurtzweilige Schertzreden/ Jn sechzehen vnterschiedliche Theil/ fein kurtz gefasset. Erfurt 1645, zitiert nach Schmitz: Wolfgang Büttners Volksbuch von Claus Narr, S. 214. Büttner: Historia von Claus Narn 1645, zitiert nach: Schmitz: Wolfgang Büttners Volksbuch von Claus Narr, S. 214.

242 im 17. und 18. Jahrhundert erschien.947 Da Zincgref auch in seinen Historien häufig die Form des Apophthegmas benutzte, musste er kaum Veränderungen am Text vornehmen, um ihn dem Charakter seiner Sammlung anzupassen, wie es sich an folgendem Beispiel gut ablesen lässt. Clausen war sein Hut abgefallen/ vnnd hFhlerte eine Treppe hinab/ vnd weil er sorget/ daß jhm der Kopff auch abfiele/ fasset er seinen Kopff zwischen beyde f(uste/ rieff dem Hut/ wie man einem hFndlein locket: Komme wider HFtlein/ komme wider. Vnnd da er nicht wolt widerkommen/ gieng Clauß auch davon/ vnd ließ den Hut ligen/ vnnd sprach: Jch wil dir nicht nachlauffen/ wenn du vber die Mawer lieffest/ weil ich sihe/ daß du meinet halben dich nicht wendest/ noch vmbkehrest.

Clausen war sein Hut die st(gen hinab gefallen; vnd weil er sorget/ der kopf m=chte jhm auch abfallen/ fasset er den Kopff zwischen beyde f(ust/ rFffet dem hute/ wie man den hunden thut/ kom wieder/ hFtlein/ kom wieder. Vnd weil er nicht wieder kommen wolt/ gieng Claus auch davon/ sagend: ich wil dir nicht lang nach lauffen/ wann du auch Fber die maur lieffest/ weil ich sehe daß du meinenthalben nicht wendest/ noch vmbkehrest.

(Büttner, I, 17)948

(Zincgref/Weidner)949

948

949

Elfriede Moser-Rath weist nach, dass im ersten Band der Apophthegmensammlung 67, im dritten 14 und im fünften Band 267 Historien aus den Historien von Claus Narren aufgenommen worden sind.950 Vereinzelt enthalten die Apophthegmen auch noch die Büttnerschen Lehren. Die im 17. Jahrhundert verbreiteten Sammlungen beziehen sich immer wieder auf Claus Narr als legitimierende historische Instanz. Für die Kompilatoren spielt weniger die natürliche Narrheit eine Rolle, vielmehr geht es um die Sentenz, die überraschende Äußerung, wie sie bei Büttner in der apophthegmatischen Struktur bereits angelegt ist.951 So erzählt Samuel Gerlach in seinem 1647 erschienenen Eutrapeliarum einige Historien aus den Historien von Claus Narren. An einer Stelle wird der Narr charakterisiert als jemand, der ein guhter Natuhr KFndiger gewesen sei, denn ehr spraach: Wohrvon einer esset/ daß wird ehr auch/ wer von einem Kalb isset/ dehr wird ein Kalb/ wehr von einem Schwein isset/ dehr wird ein Schwein/ Jch habe von einem Narren gefressen/ dahrFm byn ich ein Narr.952

947 948 949 950 951 952

Vgl. Verweyen: Apophthegma und Scherzrede, S. 119ff. Büttner: Historien von Claus Narren, I, 17. Zincgref/ Weidner: Teutscher Nation/ APOPHTHEGMATUM, V, S. 137. Elfriede Moser-Rath: ›Lustige Gesellschaft‹. Schwank und Witz des 17. und 18. Jahrhunderts in kultur- und sozialgeschichtlichem Kontext. Stuttgart 1984, S. 71. Zum Wegfall der Moralisatio allgemein vgl. Largier: Diogenes der Kyniker, S. 50f. Samuel Gerlach: EVTRAPELIARUM. Philologico-Historico-Ethico-Politico-THEOLOGICARUM. Oder Dahs Ander Tausend sch=ner/ NFtzlicher/ Naachdencklicher/ VernFnfftiger/ Sinn/ Lehr/ Geistreicher/ und ahnmuhtiger Geschichten und Reden/ Manniglichen zuhr

243 Zu der dritten Gruppe von Texten, die sich durch Ironie mit den Historien von Claus Narren auseinandersetzen, rechnet ein fast unbekanntes anonymes Werk, das 1729 erstmalig unter dem Titel Besonders curieuses Gespr(che in dem Reiche derer Todten erschien.953 Bei diesem Gespräch begegnen sich der bekannte Schalksnarr Joseph Fröhlich, der vornehmlich am sächsischen Hof in Dresden wirkte, und Claus Narr und suchen sich einander zu überbieten. Vermutlich hat das Werk Johann Christian Gell, der oft unter dem Pseudonym Iccander veröffentlichte, geschrieben.954 Iccander verfasste auch mehrere fiktive Briefe über den Hofnarren Joseph Fröhlich. Iccander übernimmt für seine Claus-Narr-Figur Passagen aus Büttners Buch, von dem er in der Vorrede ganz im Sinne der Exordialtopik behauptet, dass es nur ein klein BFchlein sei,955 dass sich itzo etwas rar machet.956 Joseph Fröhlich wird dabei als der überlegenere Narr geschildert, der wirtschaftlich größere Erfolge vorzuweisen hat, auch wenn die ihm verliehenen Titel vor allem in seiner Funktion als Spaßmacher zugeschrieben sind, wie es auf einem ihm umgehängten Orden steht: Joseph Fr=lich, Nichtvester und unwFrdiger BFrgermeister zu Narrendorff an der Elbe, BerFhmter Taschenspieler Bestraffer aller Hunds=Verbrechen, Obrister aller B(hrenheuter, Ausschus aller Flegel, Hauptschwein in Fressen und Sauffen, Stinckender Lufft Balsamirer, Zolleinnehmer der Maulschellen und NasenstFber Geordneter Richter alle Narren, und Erb= und Gerichts=Herr aller HundsfFtterey, Ritter vom goldnen Sporn.957

953 954 955

956 957

Erlustigung und Erg=tzligkeit/ auch der lernenden Jugend zu nFtzlicher Fbung/ so wohl yn der reinen Deutschen/ als auch mit Fbersetzen yn dehr Lateinischen Spraachen/ aus unterschiedenen BFchern mit fleiß zusammen gelesen und heraus gegeben durch M. S. G. Lübeck 1647, Nr. 369, S. 72 entspricht Büttner: Historien von Claus Narren, VIII, 3, S. 198f. Die bei Gerlach unter den Nummern 367, 372, 375 und 381 angeführten Beispiele gleichen bei Büttner den Historien XIII, 9, S. 391f.; V, 45, S. 126f.; XIII, 5, S. 388f.; VIII, 12, S. 205. Vgl. Rückert: Der Hofnarr Joseph Fröhlich, S. 155. Vgl. Rückert: Der Hofnarr Joseph Fröhlich, S. 155. Besonders curieuses Gesprache in dem Reiche derer Todten, zwischen dem K=nigl. Pohln. und ChurfFrstl. Sachß. Hof=Taschen Spieler und kurtzweiligen Rath Joseph Fr=lichen, so sich eine kurtze Zeit in diesem Reiche arretiret, vom Mercurio aber wieder ins Reich der Lebendigen gebracht worden, und dem ChurfFrstl. Sachß. gewesenen kurtzweiligen Rath Signor Claudio, vulgò Claus Narren, worinnen beyde Personen einander ihre Lebens=Historie mit untermengten lustigen Schwancken und lacherlichen Reflexionen bekannt machen. Hamburg 1729, S. 5. Besonders curieuses Gesprache in dem Reiche derer Todten, S. 5. Besonders curieuses Gesprache in dem Reiche derer Todten, S. 17.

244 Joseph Fröhlich unterstand, wie es auch im Gespräch aus dem Totenreich mit Claus Narr berichtet wird, ein Narrendorf in der Nähe des Pillnitzer Schlosses, wo verschiedene närrische Streitereien inszeniert und geschlichtet wurden. Ihm wird in dem Hamburger Druck von 1729 Claus Narr gegenübergestellt, der sich über seinen Nachfolger nicht nur wundert, sondern ihn durch Jähzorn zu beherrschen sucht. Claus Narr wird als der in aller Welt berFhmte ChurfFrstliche S(chsische Polyhistor Stultitiæ, der die Wahrheit in Schertzen unter Augen sagende, und die Gebrechen und M(ngel ohne Scheu straffende und er=ffnende kurtzweilige Rath958 vorgestellt. Mehrmals droht Fröhlich, das Gespräch zu beenden, denn Signor Claudius ist allzeit so gesinnet, daß, auf was er kommet, so gleich ins Werck gesetzet werden muß, sonst wird er b=se, wie eine Spitzmauß.959 Die Erzählungen über Claus Narr setzen sich aus montierten Ausschnitten der Historien von Claus Narren zusammen, die der Narr aus eigener Erinnerung schildert. So überblickt der natürliche Narr im Reiche derer Todten mehr, als es ihm in Büttners Werk möglich ist und betont damit umso mehr seine mentale Differenz: ... wenn ich ausreuten wollen, so hab ich meinen Sattel auf meinen Kopff genommen, und ein Stecken=Pferd zwischen die Beine, und hab so lange geritten, biß ich recht mFde worden. Jch gieng einmahl ins Bad, und versprach dem Chur=FFrsten, nicht ehe, biß morgen, auszubaden, der Bader, dieses wissende, wolte ich gerne loß seyn, merckte meine Phantasey, trat derohalben in das Hauß, und rieff: H=ret ihr Herren, last euch sagen, die Glocke die hat sechse geschlagen. Kam zu mir wieder, und sprach: Gn(diger Herr Claude, (denn Ehre muß seyn in der Welt,) der Stadt=W(chter hat des Morgens geruffen: Da badete ich aus, und gieng davon.960

958 959 960

Besonders curieuses Gesprache in dem Reiche derer Todten, S. 9. Besonders curieuses Gesprache in dem Reiche derer Todten, S. 13. Besonders curieuses Gesprache in dem Reiche derer Todten, S. 50f. Die hier erzählten Begebenheiten spielen auf Büttner: Historien von Claus Narren, VIII, 5, S. 200 und IX, 35, S. 273f. an. Wie wenig am Text verändert wurde, kann an der letztgenannten Historie gut nachvollzogen werden, während die Lehre die unterschiedlichen Lesarten deutlich hervorhebt: »Harre biß Morgen. Clauß hatte gebadet/ vnnd wolte außbaden/ vnd sich abwaschen lassen/ Da sprach einer der mit jhm badet/ Mein Claußlein/ bade du heut nicht auß/ harre vnnd bade biß Morgen/ Also bleib Clauß auff diß Wort sitzen/ vnd gieng jederman auß dem Bad. Der Bader fragt: Clauß/ wiltu nicht auch außbaden? Clauß sprach: Nein/ ich harre vnd bade biß Morgen. Der Bader verstundt Clausen Sinn vnd Fantasey/ tratte in das Hauß/ vnd rieff: H=ret jhr Herren last euch sagen/ die Glock hat sechse geschlagen/ gieng wider hineyn zu Clausen/ vnnd sprache: Clauß der Stadtwachter hat deß Morgen geruffen. Da badet er auch auß/ vnd gienge davon. Lehre. Mit glimpff den Narren man betreugt/ Also thun auch weiß kluge Leut/ Die man mit sanffter red gewinnt/ Vnd sonst mit Degen nicht bezwingt/ Denn hart spricht man/ macht wider hart/ Dauon zu letzt k=mpt eine Schart.«

245 Doch während Claus Narr den Schilderungen von Joseph Fröhlich und seinen Schwänken, die den ersten Teil des Gesprächs ausmachen, aufmerksam zuhört und schließlich feststellt, dass der andere Narr glFcklicher, als ich, bey Hofe gewesen961 sei, langweilt sich Fröhlich ausgesprochen über die Schwänke von Claus Narr. Der Hoftaschenspieler Fröhlich verbittet sich weitere Zoten962 bei der Erzählung, was er getan habe, als ihm etwas mit grossem Geprassel in die Hosen963 ging. Auch sonst wird Fröhlich als der Tugendhaftere der beiden dargestellt. Er erzählt von seiner Frau und der Taufe seines Sohnes, bei der er den K=nig, nebst 17, andern Ministers und sieben Damens zu Gevattern gehabt964 habe. Darüber wundert sich Claus Narr sehr: Jch dachte, weil Signor Claudius kein Weib bekommen k=nnen, h(tte Joseph, sein Successor nach hundert Jahren, am Dreßdner Hof auch niemand haben wollen, ich behalff mich immer mit andern Weibs=Personen wechselte gerne ab.965

Nicht nur der Hurerei, sondern auch der Trunkenheit ist Claus Narr im Gespr(che in dem Reiche derer Todten nicht abgeneigt, denn er hat am Dreßdner Hof [...] manchmahl auch ein Glaß guten Wein ausgestochen.966 Ebenso kritisiert Joseph Fröhlich Claus Narrs Polemik gegenüber katholischen Geistlichen und deutet damit die gewandelten Verhältnisse am sächsischen Hof an. Die Lehren von Büttner, die in den Handlungen des Narren immer eine höhere Wahrheit verborgen sahen, spielen keine Rolle, vielmehr wird das närrische Verhalten als dumm967 bewertet, weil Claus Narr eine Katze vor einen Haasen und eine Mauß vor einen Hirsch968 angesehen habe, obwohl es ein Kind von vier Jahren besser verstehet.969 Joseph Fröhlich wundert sich sogar, dass man seinen Vorgänger nicht mit der ThFr vorn Arsch gestossen, und fortgejaget970 habe. Claus kann ihn nur damit trösten, dass die Welt immer klüger würde. Am Ende, während Claus Narr weitere Schwänke erzählt, ist Joseph Fber dieser Erzehlung in einen langen und tieffen Schlaff verfallen,971 aus dem er nur zu erwecken ist, weil seine Erlösung972 naht und er zu den Lebenden zurückkehren darf. Daraufhin bricht Claus Narr in Tränen aus und

961 962 963 964 965 966 967 968 969 970 971 972

Besonders Besonders Besonders Besonders Besonders Besonders Besonders Besonders Besonders Besonders Besonders Besonders

curieuses curieuses curieuses curieuses curieuses curieuses curieuses curieuses curieuses curieuses curieuses curieuses

Gesprache Gesprache Gesprache Gesprache Gesprache Gesprache Gesprache Gesprache Gesprache Gesprache Gesprache Gesprache

in in in in in in in in in in in in

dem dem dem dem dem dem dem dem dem dem dem dem

Reiche Reiche Reiche Reiche Reiche Reiche Reiche Reiche Reiche Reiche Reiche Reiche

derer Todten, derer Todten, derer Todten, derer Todten, derer Todten, derer Todten, derer Todten, derer Todten, derer Todten, derer Todten, derer Todten, derer Todten,

S. 32. S. 33. S. 32. S. 36. S. 36. S. 12. Vgl. auch S. 25. S. 40. S. 40. S. 40. S. 34. S. 60. S. 62.

246 ... kunts vor Weinen kein Wort reden, hieng seine Sackpfeiffe an eine Weyden, zog sein R=cklein mit Schellen aus, rauffte sich die Haare aus dem Barthe, und kunte Josephen vor Jammer nicht mehr ansehen ...973

Der in diesem Streitgespräch eindeutig als überlegenere Narr inszenierte Joseph Fröhlich bewertet die von Claus erzählten Schwänke, bevor er das Reich der Toten wieder verlässt: Jch hab es alles gehöret, es ist wunderlich Zeug unter einander gewesen, theils ist argut, geschickt und scharffsinnig, theils aber auch sehr abgeschmackt und dumm heraus kommen. Jch gestehe offenhertzig ich h(tte dich vor viel verst(ndiger und klFger angesehen, als ich dich nun gefunden. Man hat in der Welt ein groß Fait von dir gemacht, und dich h=her (stimiret, als du es werth bist.974

Dieses 1729 verfasste Urteil findet sich auch in späteren literaturgeschichtlichen Darstellungen, die sich mit den Büttnerschen Historien von Claus Narren auseinandersetzen. So sind nach Görres die Schwänke »häufig unbedeutend, leer und ungelenk, oft aber auch glücklich, bedeutend, treffend und belustigend«.975 Die Beispiele aus der Rezeptionsgeschichte der Historien von Claus Narren verdeutlichen die unterschiedlichen Sichtweisen auf die natürliche Narrheit. Die große Anzahl an unveränderten Nachdrucken, die Übernahme von Historien samt ihrer Lehre aus dem Claus Narr und neu verfasste Lehren zu den Historien, die Büttners Deutungsverfahren weiterverwenden, weisen auf ein großes Interesse an einem natürlichen Narren hin, der als Wunder und Exempel rezipiert wird. Hierzu zählen auch noch die Texte wie Zincgrefs Apophthegmensammlung, die in dem Narren zumindest eine historische Figur sehen. An die schon vor dem Erscheinen der Historien von Claus Narren bestehende Sicht auf den Narren als ein zu verlachendes Objekt knüpfen einige überarbeitete Drucke des Werkes aus der Mitte des 17. Jahrhunderts an, die die Historien zur Belustigung lesen. Die in den Handlungen des Narren liegende Paradoxie wird nicht mehr benannt und das damit verbundene didaktische Anliegen schwächt sich ebenfalls ab. Als schlechte Witze werden die Historien schließlich zu Beginn des 18. Jahrhunderts in dem fiktiven Gespräch zwischen dem Schalksnarren Joseph Fröhlich und dem natürlichen Narren Claus verarbeitet. Auch wenn die eher kritische Überlieferung der Historien von Claus Narren erst später einsetzt, existieren doch zumindest im 17. Jahrhundert zeitgleich verschiedene Sichtweisen, die den natürlichen Narren bewundern, verehren oder verspotten.

973 974 975

Besonders curieuses Gesprache in dem Reiche derer Todten, S. 64. Besonders curieuses Gesprache in dem Reiche derer Todten, S. 61. Görres: Die teutschen Volksbücher, S. 246.

247

4.

Aus der Wunderkammer in die Irrenanstalt

Die Rezeption der Historien von Claus Narren seit dem Ende des 16. Jahrhunderts zeigt bereits auf, wie unterschiedlich mit der natürlichen Narrheit umgegangen wurde und wie sie Anlass zum Spott und zur Bewunderung gab. Dabei ist Büttners Narrenfigur keine singuläre Erscheinung, auch wenn natürliche Narren im Verhältnis zu den künstlichen Narren weniger stark in den Narrenliteraturen des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit zum Vorschein treten. Hinzu kommt, dass im Gegensatz zum Begriff der Schalksnarrheit der Begriff der natürlichen Narrheit einen wesentlich tiefgehenderen Bedeutungswandel seit dem 16. Jahrhundert durchlaufen hat. Um die vielfältigen Änderungen nachvollziehen zu können, die letztlich dazu führten, dass der Ausdruck ›natürlicher Narr‹ heute nicht mehr verwendet und damit einhergehend ein Text wie die Historien von Claus Narren ohne Erläuterung nicht verstanden wird, sei hier exemplarisch auf drei sehr verschiedene Werke des 17. Jahrhunderts verwiesen, die diesen Bedeutungswandel markieren. Zu ihnen gehören eine mehrfach gedruckte Leichenpredigt zum Begräbnis des natürlichen Narren Hans Miesko, Garzonis Spital Vnheylsamer Narren in seiner deutschen Übersetzung von Georg Friedrich Messerschmidt und Grimmelshausens Simplicius. Die drei Werke repräsentieren damit drei sehr verschiedene Textsorten, doch zeichnen sie sich dadurch aus, dass sie sich alle auf die natürliche Narrheit beziehen. Sie greifen dabei auf bereits beschriebene Strategien des Umgangs mit diesen Narren als Objekte des Spottes und der Verwunderung zurück, ebenso repräsentieren sie neue Sichtweisen. Die hier vorgestellten Beispiele geben in ihrer Unterschiedlichkeit einen Einblick in den frühneuzeitlichen Diskurs über die natürliche Narrheit, der jedoch keinen Anspruch auf Vollständigeit erhebt und mehr ein Nebeneinander denn eine fortlaufende Entwicklung der Narrheit darstellt. Abgeschlossen wird dieses Kapitel mit einem kurzen Ausblick ins 19. Jahrhundert.

4.1

Natürliche Narrheit bei einer Leichenpredigt für Hans Miesko, in Garzonis ›Narrenspital‹ und in Grimmelhausens ›Simplicius Teutsch‹

Aufschlussreich für die Sicht auf die natürliche Narrheit zu Beginn des 17. Jahrhunderts ist die von Philipp Cradelius geschriebene Predigt zur Beerdigung des

248 natürlichen Hofnarren Hans Miesko.1 Cradelius versteht unter einem natürlichen Narren einen solchen Menschen/ der zwar von GOtt zu einer vernunfftigen Creaturn geschaffen/ aber dennoch seine vernunfft/ nicht fertig vnd v=llig gebrauchen kFnnen/ vnd derwegen in seinem gantzen Leben vnd Wandel ein Narr vnd Thor/ wie er auff gut Deutsch genand worden2 sei. Die Leichenpredigt für einen solchen Narren bedarf in den Augen des Predigers einer besonderen Entschuldigung, die er gleich in seiner Einführung hervorbringt. Neben dem Befehl des regierenden Herrschers, an dessen Hof der Narr zuletzt gewesen ist, sind es zwei Gründe, die für Cradelius entscheidend sind. Zum einen habe der Narr immer treu seine Dienste erfüllt, die er durch seine Albertet/ bl=digkeit/ einfalt/ N(rrischen auffzFgen vnd Thorheit geleistet vnd bezeiget3 und die darin bestanden, nicht gemeinen Leuten [..] sondern zween vornehmen vnd hochl=blichen Potentaten vnd deroselben hochgeehrten Gem(hlinnen4 zu belustigen. Die Besonderheit des Narren war jedoch dessen einzigartige Torheit, die seiner Herrschaft nicht nur zur Belustigung diente, denn er habe ihnen ... mit seiner gegenwart/ kurtzweiligen Ebenthewrlichen geschwetz vnd vornehmen vnter den schweren Regiments vnnd Haußsorgen viele vnnd mancherley Melancholische vnd trawrige gedancken vertrieben/ vnnd hie beneben an sich war vermercken lassen/ das gemeine Sprichwort: Narren vnd Kinder reden gemeinlich die Warheit.5

Der diätetische Effekt, der das Lachen über den Narren bewirken soll, verbindet sich mit der Sicht auf den natürlichen Narren als einem Verkündiger der Wahrheit. Damit sei, so Cradelius, der Narr oft nützlicher gewesen als ein ander verdrossener fauler vnnd nachl(ssiger auffwarter.6 Das wahrhafftige Reden habe sich vor allem gezeigt, wen man jhn seinen Friedenshumor vnd rechten terminis gelassen vnd mit vnzeitiger vexation vnd nacken nicht turbiret vnd molestiret hat.7 Zur Pflichterfüllung rechnet Cradelius auch das christlich geführte Leben des Narren, denn dieser sei nicht nur getauft, sondern durch seine Bemühungen weiterhin ein Kind GOttes8 und ein erbe vnd Miterbe Christi vnd seines Reichs geworden.9

1

2 3 4 5 6 7 8 9

Philipp Cradelius: Eine Lehr Trost vnd Vermahnungs Predigt/ Bey der Leich vnnd Begrabnuß des weiland Albern vnd Vnweisen Herrn/ Hans Miesko FFrstlichen Alten Stettinischen Naturalis Philosophi vnd Kurtzweiligen Tisch Raths/ Welcher den 22. Decembris des 1619. Jahres auff dem F. Hause in Stettin Selig im HErren eingeschlaffen/ vnd folgends den 23. in der Kirchen zu S. Peter daselbst mit Christlichen Ceremonien zur Erden bestattet worden. Alten Stettin 1619. Cradelius: Eine Lehr Trost vnd Vermahnungs Predigt, Bl. A ijv. Cradelius: Eine Lehr Trost vnd Vermahnungs Predigt, Bl. A iijr. Cradelius: Eine Lehr Trost vnd Vermahnungs Predigt, Bl. A iijr. Cradelius: Eine Lehr Trost vnd Vermahnungs Predigt, Bl. A iijv. Cradelius: Eine Lehr Trost vnd Vermahnungs Predigt, Bl. A iiijr. Cradelius: Eine Lehr Trost vnd Vermahnungs Predigt, Bl. A iiijr. Cradelius: Eine Lehr Trost vnd Vermahnungs Predigt, Bl. A iiijr. Cradelius: Eine Lehr Trost vnd Vermahnungs Predigt, Bl. A iiijr.

249 Vnd ob er gleich in seinem gantzen Leben biß ans ende ein Kind vnnd Narr geblieben/ so hat jhm doch seine Kindt vnd Alberheit/ an der seligkeit also weinig geschadet/ das sie jhm vielmehr dazu befFrderlich gewest/ vnd jhme eben so wol als andern Kindern angangen/ was Christus gesaget: Lasset die Kindlein zu mir kommen vnd wehret jhnen nicht/ den solcher ist dz Reich Gottes.10

Der Narr habe nicht nur Gott als seinen Vater und Christus als seinen Erlöser angesehen, sondern er habe, offensichtlich keiner vernünftigen Sprache mächtig, dennoch seine devotion mit H(nde auffheben/ Brustschlagen/ Kniebeugen/ Seufftzen/ gen Himmel sehen/ vnnd derogleichen eusserlichen Geberden bißweilen besser an den Tag gegeben/ den viele andere die jhre vernunfft vnnd dessen gebrauch v=llig von dem lieben GOtt erlangt.11

Neben der frommen Pflichterfüllung führt Cradelius die Einfalt und Unverständigkeit als Grund an, weshalb dieser Narr als moralisches Exempel dienen soll. Dieser Gedanke, der auch schon in den Historien von Claus Narren erscheint, sieht in dem natürlichen Narren Hans Miesko ein nachahmenswertes Vorbild für den Leser. ... wen wir sein leben vnd Wandel/ seine schwacheit vnd st(rcke/ seinen natFrlichen vnverstandt vnd Geistliche Weißheit/ seinen eingang vortgang vnd außgang des Lebens in specie anschauen solten vnd wolten/ wFrden wir eben so wol an jhm etwas zu studieren vnnd zu lernen haben/ als an einem der weisesten hochbegabtesten vnnd wolverdienesten M(nnern ...12

Im Anschluss an diese Ausführungen entschuldigt sich Cradelius dafür, dass er den letzten Gedanken nur allgemein ansprechen, nicht aber ausführen und sich nur auf die Auslegung des Predigttextes (1. Sam 20) konzentrieren könne.13 Cradelius stellt den sich vnsinnig vnd N(rrisch14 gebenden David des Predigttextes dem Hofnarren Hans Miesko gegenüber, wobei der Prediger diesen Vergleich besonders legitimieren muss. Die Schwierigkeit rührt offenbar daher, dass Cradelius wie andere Protestanten die vorgetäuschte Narrheit eigentlich negativ bewertet und sie daher im Grunde nicht mit einer angeborenen Narrheit gleichstellen kann. Davids Verstellung rechtfertigt Cradelius mit dessen auserwähltem Status, durch den selbst trotz dieser Verwandlung immer noch der Heilige Geist gesprochen habe. Es sei ein factum singulare,15 das selbst in der Bibel einmalig sei. David zeigt wFnderliche schwencke vnd Narrenpossen,16 indem er seine Sprache und sein Verhalten verändert und wie die Menschen

10 11 12 13 14 15 16

Cradelius: Eine Lehr Trost vnd Vermahnungs Predigt, Bl. A iiijr/v. Cradelius: Eine Lehr Trost vnd Vermahnungs Predigt, Bl. A iiijv. Cradelius: Eine Lehr Trost vnd Vermahnungs Predigt, Bl. B jr/v. Vgl. Cradelius: Eine Lehr Trost vnd Vermahnungs Predigt, Bl. B jv. Cradelius: Eine Lehr Trost vnd Vermahnungs Predigt, Bl. B jv Cradelius: Eine Lehr Trost vnd Vermahnungs Predigt, Bl. C iiir. Cradelius: Eine Lehr Trost vnd Vermahnungs Predigt, Bl. B iiijr.

250 handelt, die entweder vnsinnig vnd Rasend vnd jhrer vernunfft gar nicht/ oder bl=d vnd N(rrisch sind/ vnnd sie nicht ganz gebrauchen k=nnen.17 Ihre Narrheit und Unvernunft ist an ihren eusserlichen geberden18 ablesbar, da sie mit dem Munde wunderlich ebentheur vnd auffzFge machen/ N(rrische vnd Kindische sachen reden/ mit Augen/ H(nden/ FFssen vnd gantzem Leib wincken/ wancken/ lauffen/ rennen/ Tumlen/ stFrtzen/ fallen/ beissen/ reissen/ schlagen/ stechen/ hauwen/ andern vnd sich selbst am Leibe schaden thun ...19

Die Predigt beschreibt ausführlich, wie sich David verstellt, damit den Morionibus vnd Stockfischen/ die an dem Hoffe des K=nigs Sauls gesehen nach agiret20 und solchermaßen die natürlichen Narren imitiert. Cradelius legitimiert in einem gewissen Rahmen die Funktion der Narren am Hof als Belustiger. Er geht auch davon aus, dass Narrheit und Unsinnigkeit nicht zu heilen seien, denn die Toren lassen sich auch nicht einreden vnd corrigiren, weder mit Worten noch der that/ weder mit drawen noch straffen/ bleiben wie sie sein21 und greift damit auf bereits vorhandene Vorstellungen zurück. Doch zusätzlich sind in der Predigt von Cradelius drei neue Aspekte im Hinblick auf die natürliche Narrheit zu beobachten. Der Text vermischt immer wieder Narrheit und Unsinnigkeit, also permanente und temporäre mentale Devianz. Zwar verwendet Cradelius die unterschiedlichen Bezeichnungen der bl=den Aberwitzigen Leute und Narren,22 aber bei der Beschreibung ihres Verhaltens oder der Art und Weise, wie sie behandelt werden, verwischen sich die Grenzen. Dagegen wird deutlich ein Unterschied zwischen den permanent und temporär mental devianten Menschen und vns23 gemacht, d. h. denjenigen, die die gaben des gemFthes vnd Leibes24 richtig gebrauchen und einsetzen können. Diesen zweiten Aspekt, der bei Cradelius neu hinzutritt, zieht er vor allem zu didaktischen Zwecken heran. So vergleicht der Pfarrer das Amt eines Hofnarren in einem drastischen Vergleich mit einer memento mori Tradition der Ägypter, die bei jhren conviviis zum schawessen25 einen ged=rreten Todten Kopff/ Reff vnd C=rper26 auftragen ließen, um die Gäste an die Mässigkeit und Vergänglichkeit zu erinnern. Solchermaßen sind die Narren dazu da, um den Menschen vor sündhaftem Leben zu warnen und ihn an die von Gott verliehenen Fähigkeiten zu erinnern:

17 18 19 20 21 22 23 24 25 26

Cradelius: Cradelius: Cradelius: Cradelius: Cradelius: Cradelius: Cradelius: Cradelius: Cradelius: Cradelius:

Eine Eine Eine Eine Eine Eine Eine Eine Eine Eine

Lehr Trost Lehr Trost Lehr Trost Lehr Trost Lehr Trost Lehr Trost Lehr Trost Lehr Trost Lehr Trost Lehr Trost

vnd Vermahnungs vnd Vermahnungs vnd Vermahnungs vnd Vermahnungs vnd Vermahnungs vnd Vermahnungs vnd Vermahnungs vnd Vermahnungs vnd Vermahnungs vnd Vermahnungs

Predigt, Predigt, Predigt, Predigt, Predigt, Predigt, Predigt, Predigt, Predigt, Predigt,

Bl. Bl. Bl. Bl. Bl. Bl. Bl. Bl. Bl. Bl.

C iiiv. C iiiv. C iiiv. B iiijv. C iiiv. G iijv. E 4r. E 4r. E 4r. E 4r.

251 Also thut Gott auch in vnserm wolleben/ vnd da wir gesund sein/ sonderlich am H(upt/ er tregt vns solche Todten K=pffe auff/ stellet zwey drey oder mehr Narren vnd hasen fFr die F. Tapffel/ einen andern bl=den Menschen beim altar in der Kirchen/ lesset in der Hoffstuben/ KFchen/ Hoff vnd Stadt hie vnnd dort einen ebentewrer vnnd Leimstengler/ oder wol gar einen vnnsinnigen vnd rasenden herumb lauffen/ dz wir dadurch nicht alleine erinnert werden der sFnde/ Gottes Zorn vnd straffe/ sondern der gaben des gemFthes vnd Leibes/ die wir von Gott empfangen haben/ das wir sie recht gebrauchen ...27

Er brandmarkt, dass die Narren verachtet/ gemeidet/ oder/ da sie noch vnter den Leuten platz haben/ von den aller schlimsten Plaumenschluckern/ Tellerleckern Schuchwischern Schmerbengeln [...] commoviret, vexiret, tribuliret, castigiret, vnd wol vmb jhre/ so sie noch haben/ Leibes gesundheit und Leben gebracht28 werden. Die Ursache der Narrheit und Unsinnigkeit liege nicht nur allein in dem sündhaften Verhalten der Menschen, ebenso sollen durch die Narren die wercke GOttes offenbahr werden,29 da sie Teil von Gottes Schöpfung seien.30 Sie seien außerdem ein Spiegelbild eines jeden Menschen und erinnern an die ihm angeborene Sünde. Daher könne man an ihnen seine lust vnd kurtzweile aber Christlicher maß nach31 haben. Man solle die Narren nicht schlagen und nicht schlimmer als die Hunde behandeln, sondern jhnen viel mehr alles gutes vnd liebes bezeigen/ sie auffnehmen/ Herbergen/ Kleiden/ Speisen/ Trencken/ vnnd mit NottFrfftigen vnterhalt versorgen/ sie schFtzen/ beschirmen vnd verteidigen/ auch im Tod nicht verlassen.32

Der dritte neue Aspekt bei Cradelius liegt darin, dass er den Aufenthalt von natürlichen Narren am Hof als einen Akt der christlichen Nächstenliebe bewertet. Es sei nicht für eine last/ beschwer vnd abgang der Hoffhaltung33 zu halten, sondern für ein GlFck vnd herrliches stFck/ denn in vnd an jhnen haben sie Christum auffgenommen.34 Während Büttner die Aufnahme und Fürsorge um Claus Narr durch sein wunderbares Handeln rechtfertigt, instrumentalisiert Cradelius Narren und Unsinnige als Mahnung zur Einhaltung der christlichen Nächstenliebe. Einen anderen Blick auf die natürliche Narrheit nimmt die 1618 erschienene deutsche Übersetzung von Garzonis L’Ospedale de’ pazzi incurabili, die Georg Friedrich Messerschmid anfertigte.35 Unter dem Titel Spital Vnheylsamer Nar-

27 28 29 30 31 32 33 34 35

Cradelius: Eine Lehr Trost vnd Vermahnungs Predigt, Bl. E 4r. Cradelius: Eine Lehr Trost vnd Vermahnungs Predigt, Bl. C iiijv. Cradelius: Eine Lehr Trost vnd Vermahnungs Predigt, Bl. D iiijr. Vgl. Cradelius: Eine Lehr Trost vnd Vermahnungs Predigt, Bl. E jv. Cradelius: Eine Lehr Trost vnd Vermahnungs Predigt, Bl. E 1v. Cradelius: Eine Lehr Trost vnd Vermahnungs Predigt, Bl. E 2r. Cradelius: Eine Lehr Trost vnd Vermahnungs Predigt, Bl. E 2v. Cradelius: Eine Lehr Trost vnd Vermahnungs Predigt, Bl. E 2v. Tomaso Garzoni: Spital Vnheylsamer Narren/ vnnd Narrinnen. Herrn Thomasi Garzoni.

252 ren/ vnnd N(rrinnen versammeln sich analog zum Narrenschiff eine Anzahl von Narrheiten. Doch nun reisen die Narren nicht in einem imaginären Schiff, sondern sind aufgrund ihrer Torheiten in einem Spital vereint. Zu den Narrheiten gehören unter anderem der Wanwitz,36 die Trawrigkeit,37 die Sinnlosigkeit,38 die Hirnsgeminderte/ geringerte/ vnd schwirmmisirende39 Narrheit, die Gleiß- oder Schertznarrheit,40 die HirnwFtigkeit,41 die visirliche Narrheit42 und schließlich die Teuffels43 Narrheit. Einer jeden Narrheit ist ein Gott oder eine Göttin zugeteilt, an die auch, nachdem die Narren im Einzelnen vorgestellt wurden, ein besonderes Gebet gerichtet wird. Die Versammlung von Torheiten in diesem Spital trennt nicht mehr zwischen moralischen Narren und Narrheiten aufgrund einer permanenten oder variablen mentalen Devianz. Das den natürlichen Narren global mental deviante zugeschriebene Verhalten fächert sich in verschiedene Torheiten auf. So ist den sinnlosen, vergeßlichen44 Narren ein mangelhaftes Gedächtnis zu eigen und sie sind in vnd durch dieses zuerkennen vnd zuerlernen/ als das kein Discurs, noch das geringste FFncklein deß nachsinnens/ oder nachgedenckens45 haben. Garzoni führt mehrere Beispiele hierfür an. Von Attico, deß Sophisten Herodis Sohn/ schreibet Plinius, es habe derselb ein solche grobe tolle Ged(chtnuß gehabt/ daß er die ersten Buchstaben im A/ b/ c nimmermehr hab k=nnen in Sinn bringen/ vnd in Ged(chtnuß behalten.46

Hirnsgeminderte/ geringerte/ vnd schwirmisirende Narren47 wiederum können wegen vnvollkommenheit jhres thuns/ jhrer Geb(rden/ der Reden vnd der Gedancken/ einem jedwedern/ so jhnen auff vnd zuhorcht/ Materi vnd vrsach zum

36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47

Auß der Jtalianischen Sprach Teutsch gemacht. Durch Georgium Fridericum Messerschmid. Straßburg 1618. Zu Garzoni vgl. Guillaume van Gemert: Tomaso Garzoni in der deutschen Narrentradition. Zur Hospidale-Übersetzung von 1618. In: Tomaso Garzoni. Polyhistorismus und Interkulturalität in der frühen Neuzeit. Hg. von Michele Battafarano. Bern, Berlin, Frankfurt, New York, Paris, Wien 1991, S. 53–75; Elmar Locher: Das Spital unheylsamer Narren. Zur Wahnsucht bei Garzoni und Harsdörffer. In: Tomaso Garzoni. Polyhistorismus und Interkulturalität in der frühen Neuzeit. Hg. von Michele Battafarano. Bern, Berlin, Frankfurt, New York, Paris, Wien 1991, S. 77–108; Allen Thiher: Revels in madness. Insanity in medicine and literature. Ann Arbor 1999, S. 63–68. Garzoni: Spital Vnheylsamer Narren/ vnnd Narrinnen, S. 11–21. Garzoni: Spital Vnheylsamer Narren/ vnnd Narrinnen, S. 21–32. Garzoni: Spital Vnheylsamer Narren/ vnnd Narrinnen, S. 46–51. Garzoni: Spital Vnheylsamer Narren/ vnnd Narrinnen, S. 60–65. Garzoni: Spital Vnheylsamer Narren/ vnnd Narrinnen, S. 102–108. Garzoni: Spital Vnheylsamer Narren/ vnnd Narrinnen, S. 146–152. Garzoni: Spital Vnheylsamer Narren/ vnnd Narrinnen, S. 182–195. Garzoni: Spital Vnheylsamer Narren/ vnnd Narrinnen, S. 195–200. Garzoni: Spital Vnheylsamer Narren/ vnnd Narrinnen, S. 46. Garzoni: Spital Vnheylsamer Narren/ vnnd Narrinnen, S. 46. Garzoni: Spital Vnheylsamer Narren/ vnnd Narrinnen, S. 48. Garzoni: Spital Vnheylsamer Narren/ vnnd Narrinnen, S. 61.

253 Lachen geben,48 wie Tonino von Buffallora, der in einem Wald Fliegen fing und sie als sch=ner frembder Sachen49 ausgab, die er verschenken wollte. Die Fliegen, die in bildlichen Darstellungen am Kopf symbolisch die Narrheit anzeigen können, ließ er in einem Raum aus. Unter ihnen waren auch Mücken und Bremsen, die alle Anwesenden zerstachen, doch habe das bey diesen Leuten/ ein solches Lachen bewegt/ daß sie schier darvon weren gestorben.50 Die groben vnd vngeschickten51 Narren wiederum werden an diesem erkennt/ das sie nit nach Erheisch vnd Erforderung der zeit wFrcken; nicht nach zeit vnd gelegenheit reden; nicht nach wFrde vnd ansehen thun; ihre Red nicht nach grauitet vnd Ernste vorbringen; Sondern in all jhrm thun/ Geb(rden/ Reden/ Worten/ Wincken vnd Wercken [...] Seind sie so vngeschickt/ So vngebachen/ So vngehobelt/ dz sie von jedermann wol grosse/ grobe tolle Thierer genennt werden.52

So weiß ein solcher Narr nicht, ob er von Mutter oder Vater geboren sei,53 ein anderer, der Apotheker war, verkaufte Arsen statt Amelmeel54 und tötete jemanden damit, oder ein närrischer Küchenjunge schäumte einen Hasen so ab, dass er dabei auch die Brühe weggoß. Ein weiterer Narr glaubte seinem Herrn, der Kerzen herstellen wollte, aber seinem Diener weismachte, das Unschlitt sei Marzipan. Er trank von dem heißen Wachs und verletzte sich, worüber sein Herr hette m=gen vor Lachen/ daß sich der Narr also h(ßlichen selbsten betrogen vnd angefFhrt zerspringen vnd zergehen55 mögen. Diejenigen, die bey der Welt/ den Nahmen th=richte Narren haben,56 sind die wiederum, so Garzoni in der Übersetzung von Messerschmid, die in jhrem Gespr(ch so L(ppisch/ im vorbringen so vnh=fflich vnd vnlieblich/ in jhrm lassen/ thun/ handeln/ schalten vnd walten [...] So vngeschickt vnnd vngel(rt sind, dass sie auch von allen anderen Narren unterschieden werden müssen. Auch über diese wird unendlich gelacht, weil sie beispielsweise kein Latein können.57 Die lasterhaften Narren nun haben neben der verminderung deß Hirns58 auch noch einige Laster, die von defect vnd mangel deß verderbten vnd verhergten Verstandes59 kommen. So habe sich ein Ehemann, dessen Frau sich neben ihm mit einem Liebhaber vergnügte, schlafend gestellt, um nicht als ein Cornucopia

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Garzoni: Spital Vnheylsamer Narren/ vnnd Narrinnen, S. 61. Garzoni: Spital Vnheylsamer Narren/ vnnd Narrinnen, S. 63. Garzoni: Spital Vnheylsamer Narren/ vnnd Narrinnen, S. 63. Garzoni: Spital Vnheylsamer Narren/ vnnd Narrinnen, S. 67. Garzoni: Spital Vnheylsamer Narren/ vnnd Narrinnen, S. 65. Garzoni: Spital Vnheylsamer Narren/ vnnd Narrinnen, S. 66. Garzoni: Spital Vnheylsamer Narren/ vnnd Narrinnen, S. 67. Garzoni: Spital Vnheylsamer Narren/ vnnd Narrinnen, S. 69. Garzoni: Spital Vnheylsamer Narren/ vnnd Narrinnen, S. 71. Vgl. Garzoni: Spital Vnheylsamer Narren/ vnnd Narrinnen, S. 72ff. Garzoni: Spital Vnheylsamer Narren/ vnnd Narrinnen, S. 76 Garzoni: Spital Vnheylsamer Narren/ vnnd Narrinnen, S. 76.

254 zu gelten.60 Die Laster dieser Narren sind jedoch nicht ausschließlich sexueller Natur. Diese Narrenrevue ließe sich beliebig fortsetzen. Die Narrheiten selbst sind in Garzonis Spital zwar unheilbar, haben aber in jedem Fall Eigenschaften, die jedem Menschen in der einen oder anderen Form zugeschrieben werden können. Bei den Insassen sind sie so übersteigert, dass sie als eine Krankheit angesehen werden. Für Garzoni spielt die Dauer der Narrheit keine Rolle. Er etabliert ein System von Torheiten, zu denen er nicht nur die bereits im Narrenschiff aufgezählten Verhaltensweisen rechnet, sondern auch die Handlungen, die sonst mit Unsinnigen oder mit natürlichen Narren verbunden werden. In der Vorrede versichert der Autor, dass die Unkosten, die durch die Besichtigung des Spitals entstünden, niemand bereuen würde. ... da wird das Palatium der gemachten Alicidæ, von Kammer zu Kammer/ von Gemach zu Gemach/ welche Hirnes verzauberter/ vnnd durch ein Bestische Metamorphosin, abschewlich vnnd h(ßlich verwandelter Leute/ voll stecket/ gezeigt vnd gewiesen werden/ darauff dann keinen nicht/ seines geringen geltlins/ daß ers hieran habe verwendet/ wirdt oder soll gerewen/ als der deß Lachens/ beneben den verwunderungen/ die hierdurch bey jhme werden erweckt werden/ genugsame Satisfaction bekommen/ vnd davon tragen wird.61

Die Behandlung der Narren und ihrer Narrheiten ist nicht das Ziel dieses imaginären Besuchs, das in einem Spital angesiedelt wird. Vielmehr sollen Lachen und Bewunderung dagegen mit dieser Schau geweckt werden: »Garzoni was perhaps the first writer to identify the asylum and the theatrical stage as having comparable functions in the staging of discourse«.62 Die Narrheiten, die in ihrer übersteigerten Form allesamt als Krankheiten gelten, werden ausgestellt, um Lachen bei den Zuschauern zu erregen. Auch wenn diese Funktion den künstlichen und natürlichen Narren am Hof bereits vorher zugeschrieben wurde, so ist doch diese Form des Schauspiels, das in einem als Bühne aufgebauten Spital stattfindet, neu. Die Übersetzung von Messerschmid 1618 fand zunächst keinen Anklang.63 Die Taxonomie, die Garzoni hier vorschlägt, widerspricht anderen Vorstellungen von moralischer oder natürlicher Narrheit bzw. Unsinnigkeit der frühen Neuzeit: Wir erhalten bei Garzoni den Nachweis, daß sich Narrheit immer erst aus der Relation zur Ratio oder zu rationalen Handlungsmodellen gewinnen läßt. Erst im Bezug auf diese erweist sich menschliches Handeln als närrisches, in der festgestellten Devianz von diesen. Erkennbar wird das Verhalten an medizinischen Indikatoren wie an verschiedenen Ordnungssystemen, deren Regeln überschritten werden.64

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Garzoni: Spital Vnheylsamer Narren/ vnnd Narrinnen, S. 77. Garzoni: Spital Vnheylsamer Narren/ vnnd Narrinnen, Bl. A vv-Avjr. Thiher: Revels in madness, S. 67. Vgl. Gemert: Tomaso Garzoni in der deutschen Narrentradition. Zur Hospidale-Übersetzung von 1618, S. 70. Locher: Zur Wahnsucht bei Garzoni und Harsdörffer, S. 97.

255 Medizinische, moralische und andere Ordnungssysteme im Hinblick auf die Unvernunft verbanden erst Mediziner wie Pinel Ende des 18. Jahrhunderts: Pinel verknüpft die drei offensichtlich heterogenen Dimensionen, aus deren Verbindung die irrenärztliche Synthese hervorgeht: Klassifizierung des institutionellen Raums, nosographische Anordnung der Geisteskrankheiten, Durchsetzung einer spezifischen Machtbeziehung zwischen Arzt und Krankem, der ›moralischen Behandlung‹.65

Garzonis Versuch, alle Formen von Narrheiten zu versammeln und auszustellen, imaginiert schon eine allumfassende Institution für Abweichungen aller Art, die hier mit Lachen und Verwunderung betrachtet werden sollen.66 Lachen und Verwunderung über närrische Künste spielen auch in einem der bedeutendsten literarischen Werke des 17. Jahrhunderts eine Rolle, in dem der Hauptheld wissentlich und unwissentlich als Narr agiert und damit neben der Leichenpredigt von Cradelius und Garzonis Narrenspital noch einen anderen Blick auf die natürliche Narrheit im 17. Jahrhundert eröffnet. Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen, auf dessen Simplicius Teutsch hier nur in Ausschnitten eingegangen werden kann, kannte die Narrenliteratur seiner Zeit, zu der auch noch die Historien von Claus Narren zählten. In seinem Satyrischen Pilgram beschimpft Momus in der Vorrede den Autor des Werks als einen närrischen Scribenten: ... hat ers aber gethan sich sehen zu lassen/ und ihm einen Nahmen zu machen/ oder der posteritet zu hinderlassen/ daß er auch einmal da gewesen/ so tauret mich daß er vergeblich so viel leer Stro gedroschen und seine Zeit so Fbel angeleht hat; Es sey dann sach/ daß er sich diß Orts mit denen so Eulenspiegels: und Claus Narren Legend/ den Rollwagen und andere dergleichen hohe Sachen beschrieben/ bemFhen und außzahlen lassen will ...67

Zeitgleich mit dieser Vorrede entstanden die ersten Überlegungen Grimmelshausens zum Simplicissismus, der sich auf besondere Art und Weise mit Narrheiten auseinandersetzt.68 Die Narrenkonzeptionen im Simplicius Teutsch sind bereits verschiedentlich untersucht worden, ohne dass jedoch die spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Vorstellungen von natürlicher Narrheit mit einbezogen worden wären.69 Aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang vor allem die ersten beiden Bücher. In diesen zwei Büchern wird Simplicius von dem Bauern-

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Robert Castel: Die psychiatrische Ordnung. Das goldene Zeitalter des Irrenwesens. Frankfurt 1983, S. 93. Garzoni: Spital Vnheylsamer Narren/ vnnd Narrinnen, Bl. A vjr. Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen: Satyrischer Pilgram. Hg. von Wolfgang Bender. Tübingen 1970, S. 7, Z. 24–31. Vgl. Paul Gutzwiller: Der Narr bei Grimmelshausen. Bern 1959, S. 25. Vgl. Gutzwiller: Der Narr bei Grimmelshausen; Thomas Strässle: ›Vom Unverstand zum Verstand durchs Feuer‹. Studien zu Grimmelshausens Simplicissimus Teutsch. Bern, Berlin, Bruxelles, Frankfurt, New York, Oxford, Wien 2001.

256 hof im Spessart vertrieben, kommt zum Einsiedler in den Wald und wird danach am Hanauer Hof zu einem Narren. Gefangen von kroatischen Soldaten, muss er weiter als Narr dienen, ebenso wie im Lager bei Magdeburg, in dem es ihm schließlich auf Umwegen gelingt, sein Narrenkleid loszuwerden. Die natürliche Narrheit wird meines Erachtens im Simplicius Teutsch auf zwei Ebenen verhandelt: zum einen dient sie dazu, um Simplicius zu charakterisieren. Zum anderen wird sie in den Hofnarrenszenen als äußere Hülle benutzt, um die Narrheiten der Welt vorzuführen. Für seinen Pflegevater im Spessart und auch für den Einsiedler gilt Simplicius als närrisch. Er beschreibt diesen Zustand so: Sonst war ich ein trefflicher Musicus auff der Sackpfeiffe, mit deren ich sch=ne Jalemj=Ges(nge machen konte: Aber die Theologiam anbelangend, lasse ich mich nicht bereden, daß einer meines Alters damals in der gantzen Christenwelt gewesen sey, der mir darin h(tte gleichen m=gen, dan ich kante weder Gott noch Menschen, weder Himmel noch H=lle, weder Engel noch Teufel, und wuste weder Gutes noch B=ses zuunterscheiden ...70

Er habe, so Simplicius weiter, wie unsere erste Eltern im Paradiß gelebet71 und damit in einem Zustand der Unwissenheit, daß mir unmFglich war zuwissen, daß ich so gar nichts wuste.72 Als Soldaten den Hof plündern, entschuldigt sich Simplicius für seine Unkenntnis damit, dass er nur mit der Gestalt ein Mensch, und mit dem Namen ein Christen=Kind, im Fbrigen aber nur eine Bestia73 gewesen sei. Damals stund ich auß, und empfand (jedoch gantz unvermerckt) die WFrckung des Unverstands und der Unwissenheit, wan ein unvernFnfftig Thier an meiner Stelle gewesen w(re, so h(tte es besser gewust, was es zu seiner Erhaltung h(tte thun sollen, als ich ...74

Auffällig in diesem Zusammenhang sind die Übereinstimmungen mit den Historien von Claus Narren. Dass hier zumindest auf vergleichbare Vorstellungen über die natürliche Narrheit zurückgegriffen wird, belegen einige Beispiele aus dem Discurs75 zwischen Simplicius und dem Einsiedler. Simplicius kann die Begriffe Vater und Mutter nicht zuordnen und weiß nicht einmal seinen Namen. Auch Claus Narr kennt weder seinen eigenen Namen, noch den seines Vaters. Der Einsiedler entsetzt sich noch mehr, als Simplicius weder das Vaterunser beten kann, noch weiß, was eine Kirche ist. Er nennt ihn aufgrund seiner Unwissenheit Simpl.76

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Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen: Der Abenteuerliche Simplicissimus. Abdruck der ältesten Originalausgabe 1669. Halle 1880, S. 9. Grimmelshausen: Simplicissimus, S. 9. Grimmelshausen: Simplicissimus, S. 9. Grimmelshausen: Simplicissimus, S. 15. Grimmelshausen: Simplicissimus, S. 19. Grimmelshausen: Simplicissimus, S. 25. Grimmelshausen: Simplicissimus, S. 24.

257 Die Einfalt von Simplicius äußert sich bei der Betrachtung bildlicher Darstellungen von Menschen. Als er zum erstenmal eine Bibel aufschlägt, wundert er sich, dass ihm die dort Abgebildeten keine Antwort geben, obgleich der Einsiedel zuvor seiner Ansicht nach mit ihnen zu sprechen schien: ... ich fragte dieselbigen Bilder selzame Sachen, weil mir aber keine Antwort wiederfahren wolte, ward ich ungedultig, und sagte eben, als der Einsidel hinter mich schlich: Jhr kleine Hudler, habet ihr dan keine M(uler mehr? habet ihr nicht allererst mit meinem Vater [...] lang genug schw(tzen k=nnen? ich sehe wol, daß ihr auch dem armen Kn(n seine Schafe heim treibet, und das Hauß angezFndet habet, halt, halt, ich will diß Feur noch wol l=schen, damit stund ich auff Wasser zuholen, weil mich die Noth vorhanden zuseyn bedFnckte.77

Selbst der Einsiedler muss, wider seinen Willen und Gewonheit,78 über dieses Verhalten lachen und reagiert ähnlich wie auf einen natürlichen Narren, der ebenso mit seiner Einfalt Lachen produziert. Jedoch beginnt der Einsiedler daraufhin, Simplicius das Lesen zu lehren und erklärt ihm: Liebes Kind, diese Bilder k=nnen nicht reden, was aber ihr Thun und Wesen sey, kan ich auß diesen schwartzen Linien sehen, welches man lesen nennet, und wan ich dergestalt lese, so h(ltest du davor, ich rede mit den Bildern ...79

Sowohl die soeben zitierten Begebenheiten als auch die Szene, in der Simplicius das Feuer im Buch löschen möchte, erinnern auf der Handlungsebene an die Historien von Claus Narren, in denen der Narr einmal mit dem Bild des Kurfürsten redet, ein andermal für die Wunden des heiligen Sebastians einen Arzt holen oder einen gemalten Vogel von der Wand verscheuchen möchte.80 Doch während Büttner das närrische Handeln allegorisch deutet – die Bilder des Fürsten sind der Amptmann81 oder V=gt,82 der heilige Sebastian steht für hungernde arme Menschen und das Vogelbild für zu lang gebliebene Gäste – nutzt Grimmelshausen es für einen Erziehungsdiskurs. Hier offenbart sich der grundlegende Unterschied zwischen der Narrenkonzeption im Simplicius Teutsch und in den Historien von Claus Narren. Grimmelshausen entwirft ein Erziehungsprogramm, das durch den Einsiedler vertreten wird. Der möchte nach dem ersten Gespräch mit Simplicius zu dessen Eltern gehen und sie zugleich lehren, wie sie Kinder erziehen solten.83 Während Simplicitet84 für Büttner eine Tugend ist, um die er in dem Schlussgebet der Historien von Claus Narren bittet, ist

77 78 79 80 81 82 83 84

Grimmelshausen: Simplicissimus, S. 28. Grimmelshausen: Simplicissimus, S. 29. Grimmelshausen: Simplicissimus, S. 29. Vgl. Büttner: Historien von Claus Narren, VI, 17, S. 148; IX, 5, S. 247; XV, 32, S. 462. Büttner: Historien von Claus Narren, VI, 17, S. 148. Büttner: Historien von Claus Narren, VI, 17, S. 148. Grimmelshausen: Simplicissimus, S. 24. Büttner: Historien von Claus Narren, Bl. k iiijv.

258 bei Grimmelshausen Simplicitas zwar »ein natürlicher, [...] sogar gottgewollter Zustand«,85 der jedoch durch Erziehung überwunden werden muss. Im IX. Kapitel wird der Erziehungsgedanke noch einmal vertieft. Der Einsiedler behält Simplicius, um ihn in der Christlichen Religion86 zu unterrichten. Grundlage dafür ist die Aristotelische Seelenlehre, nach der die Seele eines Menschen einer l(eren unbeschriebenen Tafel87 gleiche, darauff man allerhand notiren k=nne.88 Durch die göttliche Gnade könne eben eine solche glatte Tafel durch fleissige Impression und Ubung gezeichnet, und zur Vollkommenheit und perfection gebracht89 werden. Werde die Seele eines Menschen jedoch ohn Lehr, Wissenschafft und Ubung90 gelassen, so sei sie wie ein Feld, das zwar von Natur fruchtbar sey, aber wan man es nicht baue und besame,91 bringe es gleichwohl keine Frucht.92 Simplicius lernt begierig, weil der Einsiedler die geschlichte Tafel meiner Seele gantz l(er, und ohn einzige zuvor hinein gedruckte BildnFssen gefunden.93 Die Erziehung erstreckt sich nur auf den religiösen Bereich, denn der Einsiedler versucht, aus Simplicius einen Christen zu machen, unter dem er einen Menschen versteht, der nur fleissig bete und arbeite.94 ... dahero es kommen, obzwar ich in geistlichen Sachen zimlich berichtet ward, mein Christenthum wol verstand, und die Teutsche Sprache so sch=n redete, als wan sie die Orthographia selbst außspr(che, daß ich dannoch der Einf(ltigste verblieb ...95

Im Simplcius Teutsch ist die natürliche Narrheit kein per se unveränderbarer Zustand mehr. Zumindest bei Simplicius kann sie aufgebrochen und neugestaltet werden. Gottes Gnade offenbart sich in der Bildung, die Simplicius durch den Einsiedler erfährt: ... sein Leben und seine Reden waren mir eine immerw(rende Predigt, welche mein Verstand, der eben nicht so gar dumm und h=ltzern war, vermittels G=ttlicher Gnade, nicht ohn Frucht abgehen ließ ...96

Voraussetzung für die Bildbarkeit ist damit in jedem Fall der Verstand, den Simplicius nicht zuletzt durch seine Herkunft hat. Das bewahrt ihn jedoch nicht davor, zuerst als ein natürlicher Narr dargestellt zu werden, denn auch nach dem Unterricht bei dem Einsiedler behält er seine pure Einfalt gegen andern

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Gutzwiller: Der Narr bei Grimmelshausen, S. 19. Grimmelshausen: Simplicissimus, S. 26. Grimmelshausen: Simplicissimus, S. 27. Grimmelshausen: Simplicissimus, S. 27. Grimmelshausen: Simplicissimus, S. 27. Grimmelshausen: Simplicissimus, S. 27. Grimmelshausen: Simplicissimus, S. 27. Grimmelshausen: Simplicissimus, S. 27. Grimmelshausen: Simplicissimus, S. 27. Grimmelshausen: Simplicissimus, S. 32. Grimmelshausen: Simplicissimus, S. 32. Grimmelshausen: Simplicissimus, S. 27.

259 Menschen zurechnen97 und wird daher von dem Eremiten nun nicht mehr Simpl, sondern Simplicium98 genannt. Das Leben des Einsiedlers mit seinem Schützling im Wald ist ein freiwilliger Rückzug aus der Welt und bis auf den Pfarrer haben die beiden keinen Kontakt mit anderen Menschen. Sie vermeiden ihn, denn an Sonn- und Feiertagen gehen sie bereits um Mitternacht zur Kirche, damit sie noch frFhe genug, ohn m(nnigliches Vermercken99 sich auf der nicht mehr funktionierenden Orgel verstecken und nach dem Gottesdienst so verstolen wieder heim100 gehen können. Nach dem Tod des Einsiedlers verlässt Simplicius den Wald und gelangt nach Hanau. Er erregt durch sein merkwürdiges Aussehen einen Menschenauflauf: Also fFhrete man mich in die Stat, und jederman lieff zu, als wan ein Meer=Wunder auff die Schau gefFhret wFrde; und gleichwie mich jedweder sehen solte, also machte auch jeder etwas besonders auß mir, etliche hielten mich vor einen Spionen, andere vor einen Unsinnigen, andere vor einen Geist, Gespenst oder sonst vor ein Wunder, welches etwas besonders bedeuten wFrde: Auch waren etliche, die hielten mich vor einen Narren, welche wol am n(chsten zum Zweck geschossen haben m=gten, wan ich den lieben GOtt nicht gekant h(tte.101

Aus der Innensicht heraus hätte sich Simplicius selbst für einen Narren gehalten, wenn er nicht durch den Einsiedler christlich erzogen worden wäre. Den grundlegenden Unterschied zwischen einem natürlichen Narren und Simplicius, der im Gegensatz zu dem Narren eine christliche Erziehung genossen hat, kann die Welt nicht erkennen. Simplicius erhält nach seiner religiösen Unterweisung in der Konfrontation mit der Welt die Funktion eines Christusnarren, die Büttner bereits dem natürlichen Narren zuspricht, der keine religiöse Unterweisung genossen hat. Beide, Claus Narr und Simplicius, belehren die Welt über ihre Torheit. Die Bezüge zu den Christusnarren, die oben zu Claus Narr hergestellt wurden, lassen sich auch bei Simplicius entdecken. So vollzieht sich sein Einzug in die Welt wie der eines Christusnarren und entspricht damit beispielsweise der Legende von Symeon dem Christusnarren, der auch das Leben als Eremit aufgab, um ein heiliges Leben in der Öffentlichkeit zu führen. Symeon zieht aus der Wildnis in die Stadt und ihm folgen gleich eine Anzahl Kinder.102 Auch Simplicius verursacht einen Auflauf, als er in Hanau aus dem Wald und vom Einsiedler kommend aufgegriffen wird. Auch das Verhalten von Simplicius bis hin zur Verwandlung in ein Kalb gilt für seine Umwelt meist als närrisch. Dazu gehört, dass er in der Öffentlichkeit mehr-

97 98 99 100 101 102

Grimmelshausen: Simplicissimus, S. 27. Grimmelshausen: Simplicissimus, S. 27. Grimmelshausen: Simplicissimus, S. 31. Grimmelshausen: Simplicissimus, S. 31. Grimmelshausen: Simplicissimus, S. 54. Vgl. Krueger: Symeon the holy fool, S. 151.

260 mals einen Wind fahren lässt, Befehle wörtlich versteht und daher beispielsweise Erbrochenes als wieder anzurichtende Speise in die Küche bringt.103 Simplicius glaubt ebenso anderen Menschen, die mit ihm einen Spaß machen und ihm einreden, die Paare beim Tanz wollten die Decke zum Einstürzen bringen.104 Der Gubernator lockt aus Simplicius das Verbot von dem dollen F(hnrich105 hervor, der ihm verbat, von seinem heimlichen Rendevous im Gänsestall zu erzählen, bei dem Simplicius unfreiwillig Zeuge geworden war: Er [der Gubernator, RvB] fragte, warum ich die ThFr an dem G(nsstall zerschnitten h(tte? Jch antwortete, das mag jemand anders gethan haben; Er fragte, wer dan? Jch sagte, vielleicht der so zu mir kommen; Wer ist dan zu dir kommen? Jch antwortete, das darff ich niemand sagen; Mein Herr war ein geschwinder Kopff, und sahe wol wie man mir lausen muste, derowegen Fbereilte er mich, und fragte, wer mir solches dan verbotten h(tte? Jch antwortete gleich, der dolle F(hnrich; demnach ich aber an jedemans Gel(chter merckete, daß ich mich gewaltig verhauen haben mFste ...106

Der Gubernator führt die Befragung weiter fort und steigert damit die Komik, da Simplicius wie ein natürlicher Narr auch nicht den Geschlechtsakt versteht, der sich vor seinen Augen im Gänsestall vollzieht und ihn zum Vergnügen des Publikums schildert: Darauff fragte mich mein Herr, was der dolle F(hnrich bey mir im G(nsstall zuthun gehabt? Jch antwortete, er brachte eine Jungfer zu mir hinein: Was th(t er aber weiter? sagte mein Herr, ich antwortete, mich deuchte, er wolte im Stall sein Wasser abgeschlagen haben. Mein Herr fragte, was th(t aber die Jungfer dabey, sch(mte sie sich nicht? Ja wol nein Herr! sagte ich, sie hub den Rock auff, und wolte darzu [...] scheissen. HierFber erhub sich bey allen Anwesenden ein solch Gel(chter, daß mich mein Herr nicht mehr h=ren, geschweige etwas weiters fragen konte ...107

Vergleichbare Schilderungen finden sich auch über Claus Narr, der in einer der bekanntesten Erzählungen seinen Hund Lepsch in aller Öffentlickeit bittet zu schweigen und der ebenso in Büttners Werk mehrfach seine sexuelle Unwissenheit, die mit der natürlichen Narrheit assoziiert wird, zur Schau stellt. Je länger Simplicius am Hanauer Hof bleibt, desto mehr ist man dort davon überzeugt, dass aus ihm noch ein guter Hofnarr werden könne: Solches verursachte einen allgemeinen Schluß zu meinem Untergang, welcher war, daß man mich dapffer agiren solte, so wFrde ich mit der Zeit einen raren Tischrath abgeben, mit dem man auch den gr=sten Potentaten von der Welt verehren, und die Sterbende zulachen machen k=nte.108

103 104 105 106 107 108

Vgl. Grimmelshausen: Simplicissimus, S. 77 und S. 88f. Grimmelshausen: Simplicissimus, S. 89ff. Grimmelshausen: Simplicissimus, S. 99. Grimmelshausen: Simplicissimus, S. 99. Grimmelshausen: Simplicissimus, S. 99. Grimmelshausen: Simplicissimus, S. 100.

261 Erst als man zu dem Schluss gekommen ist, Simplicius als Narr zu sehen, kann über sein Verhalten gelacht werden und er kann damit in einer närrischen Scherzbeziehung in den Hof integriert werden. Er gilt als ein natürlicher Narr, der mit seinen n(rrischen Einf(llen jederman Fber 17. Lauten zuseyn109 scheint. Der Hanauer Hof reagiert auf Simplicius wie auf einen natürlichen Narren. Er wird bei seinem Einzug bestaunt und Simplicius erregt solch ein Staunen, dass er für den Gubernator gemalt und das Bild zusammen mit seinem Wald=Kleid, samt den Ketten und aller Zubeh=r [...] hingegen in die Kunst=Kammer zu andern raren Sachen und Antiquit(ten gethan110 wird. Die mit den Wunderzeichen verbundene prodigische Funktion spielt ebenfalls hier hinein, denn Simplicius wird für ein Wunder111 gehalten, welches etwas besonders bedeuten112 würde. Der Gubernator meint, dass er Simplicius’ Reden beynahe vor ein Oracul oder Warnung Gottes halten muß.113 Simplicius wird vergleichbar den monströsen Individuen als Wunder wahrgenommen, sein Bild wird in der Kunstkammer aufbewahrt, man hält ihn zur Belustigung und erwartet gleichzeitig prophetische Reden von ihm. Bis zu seiner Verwandlung in einen Narren in der Kalbshaut konfrontiert Simplicius die Welt mit seiner Einfalt und entlarvt damit ihre Narrheit. Seine natürliche Haartracht steht der Modetorheit des Haar=Plunders, Puders oder Pulvers (wie man das Narren oder N(rrin=werck nennet)114 gegenüber. Ebenso kann er – vergleichbar wie in den bereits erwähnten Begebenheiten bei Claus Narr –115 den ihn untersuchenden Offizier aufgrund dessen äußerer herausgeputzter Erscheinung nicht als Mann oder Frau identifizieren, wodurch sich wiederum dessen eigentliche Unwissenheit äußert: Dieses m(nnische Weib, oder dieser weibische Mann, wie er mir vorkam, ließ mich Fberall besuchen, fand aber nichts bey mir, als ein BFchlein von Bircken=Rinden, darin ich meine t(gliche Gebet geschrieben [...] solches nam er mir; weil ichs aber ungern verlieren wolte, fiel ich vor ihm nieder, fasste ihn um beyde Knie, und sagte: Ach mein lieber Hermaphrodit, last mir doch mein GebetbFchlein! Du Narr antwortete er, wer Teufel hat dir gesagt, daß ich Herman heisse?116

Simplicius hat nichts anderes bei sich, als ein reines Gewissen, und auffrichtig frommes GemFt [...], welches mit der edlen Unschuld und Einfalt begleitet und umgeben war.117 Er kann um sich herum in der Welt nur eitel Heucheley, und

109 110 111 112 113 114 115 116 117

Grimmelshausen: Simplicissimus, Grimmelshausen: Simplicissimus, Grimmelshausen: Simplicissimus, Grimmelshausen: Simplicissimus, Grimmelshausen: Simplicissimus, Grimmelshausen: Simplicissimus, Vgl. oben, S. 220. Grimmelshausen: Simplicissimus, Grimmelshausen: Simplicissimus,

S. S. S. S. S. S.

99. 58. 54. 54. 132. 52.

S. 53. S. 65.

262 sonst so unzehlbare Thorheiten bey allen Welt=Menschen118 erkennen. So setzt Grimmelshausen hier auf die auch von Büttner immer wieder evozierte Spannung zwischen Gottes- und Weltkindern. Diesen Widerspruch greift ebenfalls die paradox formulierte Überschrift zum XXV. Kapitel auf, die lautet: Dem seltzamen Simplicio komt in der Welt alles seltzam vor, und er hingegen der Welt auch.119 Die Welt lacht über ihn und verspottet ihn als einen Narren, während sie ihr eigenes Tun und Treiben als gut und richtig einschätzt: Wan ich nun so etwas h=rete, sahe, und beredete, und wie meine Gewonheit war, mit der H. Schrifft hervor wischte, oder sonst treuhertzig abmahnete, so hielten mich die Leute vor einen Narren, ja ich ward meiner guten Meynung halber so offt außgelachet, daß ich endlich auch unwillig ward, und mir vorsatzte, gar zuschweigen, welches ich doch auß Christlicher Liebe nicht halten konte.120

Simplicius fragt sich schließlich, ob er tatsächlich unter Christen wohnt. Mit dieser Sorge wendet er sich an den Pfarrer, den er schon von der Einsiedelei her kannte. Der Geistliche tröstet ihn über den von ihm erlittenen Spott und führt indirekt den Korintherbrief des Paulus und den dort enthaltenen Verweis auf die Narren in Christo an: ... wann unsere erste fromme Christen, die zu Christi Zeiten gelebt, ja die Aposteln selbst, anjetzo aufferstehen, und in die Welt kommen solten, daß sie mit dir eine gleiche Frage thun, und endlich auch so wol als du, von jederm(nniglich vor Narren gehalten wFrden ...121

Anders als bei Claus Narr und bei anderen Christusnarren bleibt es bei Simplicius nicht dabei, dass er durch seine Torheit die Narrheit der Welt widerspiegelt und zu ermahnen sucht. Er selbst wird Teil der Welt in dem Augenblick, in dem ihm der Verstand geraubt und er in einen natürlichen Narren verwandelt werden soll, denn er gelangt, gleich dem Ph=nix vom Unverstand zum Verstand durchs Feur.122 Die ihm vom Pfarrer gegebene Medizin und vor allem dessen Ratschlag: so achte und glaube nicht alles, was man dich Fberreden will, und stelle dich doch, als wan du alles glaubtest,123 markieren vor der eigentlichen Initiation zum Narren eine Wende im Wesen des Simplicius. Offenbar wird das durch die Verwandlung in ein Kalb, wobei sein tierisches Gewand mit weiteren närrischen Attributen verziert ist:

118 119 120 121 122

123

Grimmelshausen: Simplicissimus, S. 65. Grimmelshausen: Simplicissimus, S. 70. Grimmelshausen: Simplicissimus, S. 73. Grimmelshausen: Simplicissimus, S. 74. Grimmelshausen: Simplicissimus, S. 111. Vgl. dazu auch die Subskriptio des Titelkupfers. Strässle: ›Vom Unverstand zum Verstand durchs Feuer‹, S. 102. Auf eine Quelle verweist: Rosmarie Zeller: Euphormio, Simplicius aus Lusinia. Zu einer möglichen Quelle der Narrenepisode im Simplicissimus. In: Simpliciana XXII (2000), S. 397–402. Grimmelshausen: Simplicissimus, S. 103.

263 Den andern Tag erwachte ich wiederum [...] hatte ich ein Kleid an von Kalb=Fellen, daran das rauhe Theil auch außwendig gekehrt war, die Hosen auff Polnisch oder Schw(bisch, und das Wams noch wol auff eine n(rrischere Manier gemacht, oben am Hals stund eine Kappe wie ein M=nchs=gugel, die war mir Fber den Kopff gestreifft, und mit einem sch=nen paar grosser Esels=Ohren gezieret. Ich muste meines Unsterns selbst lachen, weil ich beydes am Nest und den Federn sahe, was ich vor ein Vogel seyn solte: Damals fing ich erst an, in mich selbst zugehen, und auff mein bestes zugedencken.124

Nun gelingt es Simplicius nicht mehr, die Welt zu belehren, alle Thorheiten zubereden, und alle Eitelkeiten zustraffen.125 Er hat nicht mehr die mit der wirklichen Einfalt einhergehenden Dauben=Augen.126 Sobald er selbst die Gabe der Verstellung beherrscht, die mit Schalkheit, also List und Betrug, gepaart ist, kann er der Welt nicht mehr als Vorbild dienen und sie belehren.127 Vielmehr gilt die Verstellung – die (dis-)simulatio – als ein Laster, wie es auch Grimmelshausen in der Verkehrten Welt feststellt, dass bei Hof aller hand Laster im schwang128 seien, wo der Neid und Haß sambt der Verleumdung regirten/ Mißgunst florirte/ Ehrgeitz und Hoffart war gemeine/ man konte simuliren und dissimuliren/ List/ Lugen/ Betrug und Falschheit schwebte oben.129 Sind ihm die Körperausscheidungen beispielsweise in seinem Stadium als natürlicher Narr noch unkontrollierbar gewesen, setzt er sie nun als Schalksnarr ganz bewusst ein.130 Er imitiert die natürliche Narrheit so kunstvoll, dass es die Welt nicht bemerkt und ihn für einen idealen natürlichen Narren hält. Die angeführten Beispiele aus dem Simplicius Teutsch zeigen die Ähnlichkeiten der an Claus Narr herausgearbeiteten Vorstellungen von natürlicher Narrheit im 16. Jahrhundert. Dennoch unterscheiden sich die Konzeptionen von natürlicher Narrheit in den Historien von Claus Narren und dem Simplicius grundlegend. Die Unterschiede klingen bereits in einem anderen Werk von Grimmelshausen an. Die vom Ich-Erzähler im Gespräch mit Kaiser Julian in Grimmelshausens Verkehrter Welt entwickelten Idealvorstellungen eines christlichen Lebens sehen die natürlichen Narren als Objekte des Mitleids und der christlichen Nächstenliebe und deuten damit auf Verschiebungen im Umgang mit der natürlichen Narrheit hin: Jch antwortet Juliano/ heutigs Tags ist Christlichleben viel ein anders/ und wie du ein Hoff-Leben beschreibest/ also mag es wohl bey Türcken und Haiden hergehen/ welches ich doch schwerlich glaube/ bey unseren heutigen Hoffhaltungen werden abgeschafft

124 125 126 127 128

129 130

Grimmelshausen: Simplicissimus, S. 107. Grimmelshausen: Simplicissimus, S. 117. Grimmelshausen: Simplicissimus, S. 79. Vgl. Strässle: ›Vom Unverstand zum Verstand durchs Feuer‹, S. 83ff. Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen: Des Abenteurlichen Simplicii verkehrte Welt. In: Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen: Werke II. Hg. von Dieter Breuer. Frankfurt 1997, S. 413–510, hier S. 429. Grimmelshausen: Des Abenteurlichen Simplicii verkehrte Welt, S. 429. Vgl. Strässle: ›Vom Unverstand zum Verstand durchs Feuer‹, S. 89.

264 alle Finantzer und Partitenmacher/ alle Ohrenbläser und Mährenträger/ alle Fuchßschwäntzer/ Schalcks-Narren/ Musicanten/ Zeitvertreiber und Possenreisser/ und wann sich gleich irgents bey Hoff ein natürlicher Narr befindet/ so erhält ihn der Fürst aus Barmhertzigkeit/ weil er sich sonst nicht Ernähren könte/ und gar nicht um seine Lust damit zu haben/ sintemahl er wohl anders zuschaffen und die Edle unwiderbringliche Zeit besser anzulegen weiß ...131

Wenn die Barmherzigkeit eine Form des Umgangs mit den natürlichen Narren darstellt, so weist der als närrisch dargestellte Simplicius eine andere Möglichkeit auf. Simplicius kann sich von einem natürlichen Narren über einen Narren mit Hilfe der christlichen Erziehung zu einem Schalksnarren verwandeln. Diese Entwicklungsmöglichkeit ist dem Narren in den Historien von Claus Narren nicht gegeben. Natürliche Narrheit ist im Simplicius Teutsch, anders als in den Historien von Claus Narren, kein gottgewollter Zustand und sie hat auch keine prodigische Funktion mehr. Grimmelshausen fasert vielmehr die mit der natürlichen Narrheit verbundenen Vorstellungen auf: der närrische Urzustand muss erst durch religiöse Bildung überwunden werden, bevor Simplicius als ein Christusnarr die Welt belehren kann und als Schalksnarr selbst Anteil an der verkehrten Welt nimmt. Die fundamentale Kritik, die Grimmelshausen dabei wiederholt äußert, wendet sich nicht gegen die natürlichen Narren an sich, wohl aber gegen die Sicht, die die natürlichen Narren als Wunder, als Objekt des Vergnügens und als Zukunftsdeuter sieht.132

4.2

Das Ende der natürlichen Narrheit

Cradelius, Garzoni und Grimmelshausen spielen sehr unterschiedliche Einstellungen gegenüber der natürlichen Narrheit in ihren Texten durch. Mit dem Verweis auf die christliche Nächstenliebe, wie sie Cradelius predigt und auf die auch Grimmelshausen verweist, kümmert man sich im 18. Jahrhundert zunehmend um natürliche Narren als Objekte der Medizin und der Erziehung. In Garzonis Spital werden in den natürlichen Narren ansatzweise Kranke gesehen und Menschen, die wie Simplicius erzogen werden müssen. Medizinische Therapien und pädagogische Programme sind Garzoni und Grimmelshausen fremd. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts bestanden die verschiedenen Vorstellungen von natürlicher Narrheit nebeneinander. Büttners Historien von Claus Narren,

131 132

Grimmelshausen: Des Abenteurlichen Simplicii verkehrte Welt, S. 430. Vgl. dazu bspw. die Kritik an den Kunstsammlungen. Grimmelshausen: Simplicissimus, S. 69: Simplicius besucht mit einem vornehmen Herren die Kunstkammer, wo ihm das Ecce Homo am besten gefällt, weil nichts »seltener und Verwunderns wFrdiger [ist], als daß Gottes Sohn selbst unsert wegen gelitten, wie uns diß Bildnus vorstellet«, während der andere Besucher eine »papierne Karte [...] darauff stunden der Chineser Abg=tter in ihrer Majestat sitzend, deren theils wie der Teuffel gestaltet waren« mehr schätzt, weil sie »rarer, und dahero auch köstlicher« seien.

265 in dem ein natürlicher Narr ein belehrendes Wunderzeichen ist, wurden ebenso gedruckt wie der Simplicius oder Garzonis Spital Vnheylsamer Narren/ vnnd N(rrinnen. Ähnlich anderen monströsen Individuen wurden die natürlichen Narren als Wunderzeichen gesehen, ihre Handlungen wurden zum Vergnügen betrachtet und sie wurden gleichzeitig als eine Verirrung verstanden.133 Dabei folgten die Vorstellungen keinem linearen Verlauf, es gab kein teleologisches »Modell der fortschreitenden und fortschrittlichen Naturalisierung«.134 Dennoch änderten sich die Einstellungen gegenüber den monströsen Individuen und den Wundervölkern langsam. Im 17. Jahrhundert trat zunächst ein wissenschaftliches Interesse an ihnen in den Vordergrund. In den neu gegründeten Akademien der Wissenschaften wurden die Wunder auf ihre Glaubwürdigkeit untersucht. Sie sollten möglichst von den Gebildeten selbst in Augenschein genommen werden und sie wurden in Kategorien eingeteilt.135 In seinen 1614 gedruckten Observationes nimmt Felix Platter unter dem Stichwort ›angeborene Dummheit‹ Bezug auf die natürlichen Narren. Platter, Stadtarzt in Basel, schreibt in seinem Werk nur selbst beobachtete Krankengeschichten auf, in denen er »als Augenzeuge die Wahrheit«136 verbürgen kann.137 Sein Vorgehen entspricht damit ganz dem Interesse der Zeit, Wunder möglichst genau als Tatsache zu erfassen, denn diese spielen »eine zeitlich begrenzte Rolle, aber dennoch eine Schlüsselrolle bei der Herausbildung einer neuen Kategorie der wissenschaftlichen Erfahrung [...]: der Tatsache, losgelöst von Erklärung, Illustrierung oder Schlußfolgerung«.138 Platters Einteilung spiegelt die Zweiteilung der Wunder in monströse Individuen und wunderbare Spezien wider und er ergänzt sie mit eigenen Beobachtungen. Er unterteilt die angeborene Dummheit in drei Arten. In die erste Gruppe rechnet er diejenigen, die von Geburt an mental verändert sind: Von Geburt an Alberne oder Dumme sehen wir viele da und dort. Sie bieten bald in der Kindheit selbst die Anzeichen der Blödheit dar, indem sie gestikulieren und lachen, nicht leicht gehorchen oder nicht gelehrig sind und das nicht hinzulernen, was irgendwelchen Fleiß erfordert. Vielmehr treiben sie durch allerhand Scherze Possen, tun das meiste linkisch und reizen zum Lachen.139

Zu ihnen zählt er auch die natürlichen Hofnarren, die den »Großen dieser Erde, die durch den Umgang mit solchen Toren ergötzt werden, [...] Vergnügen [brin-

133 134 135 136

137 138 139

Vgl. Daston, Park: Wunder und die Ordnung der Natur, S. 208. Daston, Park: Wunder und die Ordnung der Natur, S. 208. Vgl. Daston, Park: Wunder und die Ordnung der Natur, S. 253ff. Felix Platter: Observationes. Krankheitsbeobachtungen in drei Büchern. Aus dem Lateinischen übersetzt von Günther Goldschmidt. I. Buch: Funktionelle Störungen des Sinnes und der Bewegung. Bern, Stuttgart 1963, S. 28. Zu Platter vgl. Horst Wenzel: Die Autobiographie des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit. Bd. 2: Die Selbstdeutung des Stadtbürgertums. München 1980, S. 188–190. Daston, Park: Wunder und die Ordnung der Natur, S. 259. Platter: Observationes, S. 53.

266 gen] und [...] daher an ihren eigenen Höfen erzogen«140 werden. Platters ›angeborene Dummheit‹, die vereinzelt an verschiedenen Orten erscheint, entspricht damit der Kategorie der monströsen Einzelwesen. Neu ist bei ihm eine zweite Art von Menschen, die eine angeborene Dummheit besitzen und zu denen die zählen, die »weniger albern«141 sind, daher ihren Berufen nachgehen können, aber »doch darin ihre Dummheit beweisen, dass sie begierig sind, gelobt zu werden, und kurzweilige Dinge und Possen zugleich erzählen und tun«.142 Diese neue Gruppe ist insofern bemerkenswert, da sie bereits auf eine weniger starr verlaufende Grenze zwischen psychischer Norm und Abweichung verweist. Die dritte Art ist »außer durch angeborene Dummheit von Natur durch gewisse Fehler gekennzeichnet«,143 wozu vor allem die Kretinen gerechnet werden. Platter führt weiter aus, dass diese Menschen vereinzelt vorkommen, mehr aber noch »in bestimmten Gegenden besonders häufig«144 zu finden seien und beschreibt sie genauer: Bisweilen haben sie einen unförmigen Kopf, eine ungeheure und aufgeschwollene Zunge, sind stumm, gleichzeitig haben sie bisweilen eine kropfige Kehle und bieten einen garstigen Anblick. Diese saßen vor ihren Häusern, blickten mit starren Augen die Sonne an und erregten, indem sie zwischen den einzelnen Fingern Stäbchen hielten und den Körper auf mancherlei Art drehten und den Mund verzogen, bei den Vorübergehenden heftiges Lachen und Bewunderung.145

Platter verweist damit auf die Vorstellungen von Wundervölkern, zu denen die Kretinen immer wieder gezählt wurden. Als Phänomen wurden sie schon zuvor genannt, unter anderem bei Paracelsus, der sie zu den Narren rechnet und ebenso auf eine örtliche Häufung verweist: Von den dingen aber zu reden, das sie etwan auch misgewechs am leib, das ist ubergewechs mit in tragen, als kröpf und dergleichen. [...] aber sie komen aus den erzischen und mineralischen wassern, die kröpf aus eigener art geberen, do dan solch constellationes auch vil sind und gemeinglich am meristen, wo solche regiones auch sind.146

Die Kretinen treten als eine Art närrisches Wundervolk an die Seite der einzeln erscheinenden natürlichen Narren, von denen sie bis in das 19. Jahrhundert hinein strikt getrennt werden. Platter stützt sich in seiner Beschreibung auf seine eigenen Erfahrungen: ... in einem Dorf des Wallis, Bremis genannt, sah ich die meisten an den Wegen sitzen; von ihnen wurden einige zu mir nach Sitten gebracht, mit der Frage, ob ich ihnen selbst vielleicht etwas Hilfe bringen könnte.147

140 141 142 143 144 145 146 147

Platter: Observationes, S. 53. Platter: Observationes, S. 53. Platter: Observationes, S. 53. Platter: Observationes, S. 53. Platter: Observationes, S. 54. Platter: Observationes, S. 54. Paracelsus: De generatione stultorum, S. 82. Platter: Observationes, S. 54.

267 Therapievorschläge kann Platter im Gegensatz zu anderen Krankheiten, die er in den Observationes bespricht, auch nicht geben, wenngleich Menschen mit Kröpfen seit dem 17. Jahrhundert zunehmend das wissenschaftliche Interesse wecken.148 Esquirol beschrieb es folgendermaßen: Der Cretinismus ist als eine sehr bemerkliche Varietät des Stumpfsinns zu betrachten. Die Cretinen sind die Stumpfsinnigen der Gebirge, obgleich sie sich auch bisweilen in den Ebenen finden: betrachtet man bloß den Zustand der intellectuellen Fähigkeiten, sind sie nicht wesentlich von den gewöhnlichen Jdioten verschieden, im übrigen aber ergeben sich zwischen beiden wesentliche Verschiedenheiten. Diese sind, daß der Cretinismus in engen und tiefen Gebirgsthälern und in einigen flachen Ländern endemisch, und ganz vorzüglich erblich ist; auch sind die Cretinen in ihrem Aeußern phlegmatischer, scophulöser, bläßer und bleicher und mehr als die Jdioten und Blödsinnigen zur Onanie geneigt.149

Die von Paracelsus, Platter und Esquirol ausgeführte Teilung der mentalen Devianz, die Merkmal sowohl von Individuen wie auch Spezien ist, spiegelt sich auch noch in den frühen Schriften zur Heilpädagogik wider, die im 19. Jahrhundert entstanden. Dazu zählt die grundlegende Aufsatzsammlung von Jan Daniel Georgens und Heinrich Marianus Deinhardt, die 1861 unter dem Titel »Die Heilpädagogik mit besonderer Berücksichtigung der Idiotie und der Idiotenanstalten«150 erschien und als einer der wichtigsten pädagogischen Texte des 19. Jahrhunderts gilt, der sich mit mentaler Devianz auseinandersetzt und sie folgendermaßen definiert: Eine tiefere Entartung als die im Idiotismus uns entgegentretende lässt sich nicht denken, weil sie in dem ursprünglich gegebenen Verluste der Menschlichkeit, d. h. dessen, was den Menschen zum Menschen macht, besteht, und zwar in dem Verluste, welcher – wie es schon in dem Doppelbegriffe eines ursprünglichen Verlustes liegt – weder die Tendenz zur Menschlichkeit aus-, noch die Entwicklung der Thierheit einschliesst. Der Idiot ist ein verfehlter Mensch, er steht also zugleich unter und über dem Thiere ...151

148 149

150

151

Vgl. bspw. Jakob Fidelis Ackermann: Über die Kretinen, eine besondere Menschenabart in den Alpen. Gotha 1790. Jean Etienne Dominique Esquirol: Allgemeine und specielle Pathologie und Therapie der Seelenstörungen. Frei bearb. von Karl Christian Hille. Nebst einem Anhange kritischer und erläuternder Zusätze von Johann Christian August Heinroth. Leipzig 1827, S. 510f. Jan Daniel Georgens, Heinrich Marianus Deinhardt: Die Heilpaedagogik. Mit besonderer Berücksichtigung der Idiotie und der Idiotenanstalten. Bd. 1: Zwölf Vorträge zur Einleitung und Begründung einer heilpädagogischen Gesammtwissenschaft. Giessen 1979 (Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1861). 1863 erschien ein zweiter Band über »die Idiotie und die Idiotenerziehung in ihrem Verhältnis zu den übrigen Zweigen der Heilpädagogik und zu der Gesundenerziehung«. Georgens, Deinhardt: Die Heilpaedagogik. Bd. 1, S. 198. Zu Georgens und Deinhardt vgl. Anne Waldschmidt: Paradoxien des Normalismus. Normalitätsvorstellungen im heilpädagogischen Diskurs. In: Zeichen und Gesten. Heilpädagogik als Kulturthema. Hg. von Heinrich Greving, Christian Mürner, Peter Rödler. Gießen 2004, S. 98–112, hier S. 102f.

268 Georgens und Deinhardt unterteilen den Idiotismus daran anschließend in den sogenannten endemischen und den sporadischen Idiotismus. Endemischer Idiotismus wird von ihnen auch als Kretinismus152 bezeichnet, worunter Georgens und Deinhardt ebenfalls eine Degeneration einer ganzen Bevölkerungsgruppe in einer bestimmten Gegend verstehen. Hierbei ist zu beachten, dass die Erscheinung des endemischen Idiotismus dem Bereiche der Civilisation und Halbcivilisation angehört und sich auch hierdurch wie durch die Nichtentwicklung der thierischen Fähigkeiten [...] als eine Degeneration dokumentirt, welche, so tief sie eine Bevölkerung ergreifen kann, doch ein eingetretenes Übel, eine chronische Gemeinkrankheit ist, die sich überwinden lässt und überwunden werden muss, wenn nicht die ergriffene Bevölkerung an ihr zu Grunde gehen soll.153

Georgens und Deinhardt fordern im Fall der Kretinen eine weitere wissenschaftliche Untersuchung, die die bisher erbrachten Ergebnisse von der »geographischen und ethnographischen Seite«154 einschließen soll: Mögen die Annahmen, die beispielsweise hinsichtlich der territorialen Ursachen des Kretinismus bis jetzt hervorgetreten sind, immerhin als Hypothesen ohne wissenschaftliche Begründung gelten können, so sind sie doch die Anfänge einer wissenschaftlichen Behandlung des Gegenstandes von der geographischen und ethnographischen Seite – Anfänge, die sich erweitern und zusammenschliessen können und werden, und zwar in dem Masse, in welchem sich einestheils die geographisch-ethnographische Wissenschaft überhaupt entwickelt und ausbildet, anderntheils insbesondere die geographische Krankheitskunde Fortschritte macht und der Zusammenhang des jedesmaligen Krankheitsstandes und Charakters mit der jedesmaligen Bestimmtheit der meteorologischen Erscheinungen sowie mit gegebenen geographischen Beschaffenheiten eines mehr oder minder ausgedehnten Gebietes durch fortgesetzte Beobachtungen und eine genaue Statistik der betreffenden Verhältnisse herausgestellt wird.155

Das von Georgens und Deinhardt vorgeschlagene Untersuchungsprogramm ist noch ganz von der Rhetorik des Wunderbaren des 16. und 17. Jahrhunderts und im Fall des endemischen Idiotismus von den Vorstellungen über die Wundervölker als sich grundsätzlich von anderen Menschen unterscheidende Spezien geprägt. Neu ist jedoch hier der Krankheitsbegriff, den sie für diese Form von mentaler Devianz verwenden. Der Kretinismus als »allgemeine Entartung«156 unterscheidet sich von dem sporadischen Idiotismus analog zu der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Trennung von Wundervölkern und monströsen Individuen. Kretinen leben wie Wundervölker in territorial abgegrenzten Räumen, sie bilden eine eigene Art für sich, die sich untereinander fortpflanzt und sich in ihren sozialen und physischen Merkmalen unterscheidet. Während der endemische Idiotismus als eine eigene

152 153 154 155 156

Georgens, Georgens, Georgens, Georgens, Georgens,

Deinhardt: Deinhardt: Deinhardt: Deinhardt: Deinhardt:

Die Die Die Die Die

Heilpaedagogik. Heilpaedagogik. Heilpaedagogik. Heilpaedagogik. Heilpaedagogik.

Bd. Bd. Bd. Bd. Bd.

1, 1, 1, 1, 1,

S. S. S. S. S.

199. 199. 225. 225. 239.

269 Klasse dargestellt wird, wird der sporadische Idiotismus als Devianz innerhalb der Gesellschaft bezeichnet. Er wird zusammengefasst mit den Geisteskrankheiten. Mit Hilfe einer abgewandelten Temperamentenlehre verbinden Georgens und Deinardt Geisteskrankheit und Idiotismus.157 Für den Idiotismus entwickeln sie eine eigene Systematik, die in Wortwahl und Beschreibung an frühneuzeitliche Konzeptionen von Narrheit anknüpfen. Die Autoren unterscheiden »den Stumpfsinn, den narrenhaften Idiotismus, den melancholischen Idiotismus und den Idiotismus der Beschränktheit«.158 Ohne auf diese Unterteilung näher einzugehen, sei nur darauf verwiesen, wie stark der narrenhafte Idiotismus als ein Schauspiel beschrieben wird, über das jetzt nicht mehr gelacht wird, weil es zu einer wissenschaftlichen Tatsache geworden ist: Der narrenhafte Idiotismus charakterisiert sich durch eine ungehemmte und unbeherrschte Vorstellungsthätigkeit, welche theils als ein unzusammenhängendes Hervortreten verschiedener Vorstellungen, theils als die unaufhaltsame Rotation fixer Vorstellungsreihen, welche eintritt, sobald die erste Anregung gegeben ist, erscheint. Es fehlt also hier die regulierende Energie [...]159

Als Ursachen des sporadischen Idiotismus werden widernatürliche bzw. soziale Einflüsse genannt und erinnern vor allem mit der Wortwahl widernatürlich – gegen die Natur verstossend – an die göttlichen Eingriffe, auf die die Entstehung von monströsen Individuen in Mittelalter und früher Neuzeit zurückgeführt wurden. Bei dem sporadischen Idiotismus führt die ätiologische Untersuchung fast immer auf die Thatsache oder Wahrscheinlichkeit einer widernatürlichen Vernachlässigung oder Ueberreizung im ersten Kindesalter, auf Verkehrtheiten der Pflege und Erziehung, wobei ausser den Verletzungen alle Einflüsse in Betracht kommen, welche Hyperämie und Anämie des Gehirns bedingen – und weiterhin, insofern diese ätiologischen Momente als nur hinzukommende oder begünstigende erscheinen und eine Vererbung oder ausgebildete Krankheiten der Eltern, welche auf die Zeugung und erste Ernährung des Kindes störend eingewirkt haben, nicht vorliegen, auf die begründete Annahme einer latenten Krankhaftigkeit der Erzeuger oder doch widernatürlicher Verhältnisse und einer widernatürlichen Befriedigung. Alle diese Ursachen sind sociale, d. h. sie hängen mit der Verrohung, Erschlaffung und Überreizung, welche das Leben der civilisirten Gesellschaft mit sich bringt, genau zusammen ... [Hervorhebung, RvB]160

Die Untersuchung des sporadischen und endemischen Idiotismus sollte, so die Autoren, mit Hilfe der Statistik erfolgen. Auch an anderen Stellen wird deutlich, wie stark Georgens und Deinhardt von einem normalistischen Standpunkt aus agieren, d. h. »ihr Werk ist Teil eines ›Netzes‹ oder ›Archipels‹ von Dispositiven, d. h. einer Gesamtheit von Diskursen, operativen Strategien und Subjekttaktiken, mittels derer in modernen Gesellschaften Normalitäten (und Abweichungen)

157 158 159 160

Vgl. Georgens, Deinhardt: Die Heilpaedagogik. Bd. 1, S. 56ff. Georgens, Deinhardt: Die Heilpaedagogik. Bd. 1, S. 206. Georgens, Deinhardt: Die Heilpaedagogik. Bd. 1, S. 246. Georgens, Deinhardt: Die Heilpaedagogik. Bd. 1, S. 201.

270 produziert werden«.161 Voraussetzung für die Zusammenführung von Geisteskrankheiten und Idiotismus ist der Bezug auf eine Norm. Dabei ist die Abweichung von der Norm das entscheidende Kriterium, unter das permanente und zeitweilige mentale Differenze zusammengeführt werden. Die Formen der Idiotie [...] müssen mit den Formen der Seelenstörung oder Geisteskrankheit, die eine relativ normale Entwicklung zur Voraussetzung haben, correspondiren, weil beide zu den Typen der normalen Individualität ein bestimmtes Verhältnis haben müssen.162

Damit verweist die Abhandlung von Georgens und Deinhardt auf eine Entwicklung, die Ende des 18. Jahrhunderts einsetzte. Michel Foucault spricht von einer ›Macht der Norm‹, die hier zum Tragen kommt: Sagen wir vorsichtiger, daß seit dem 18. Jahrhundert die Macht der Norm zu den anderen Mächten hinzutritt und neue Grenzziehungen erzwingt: zur Macht des Gesetzes, zur Macht des Wortes und des Textes und zur Tradition. Das Normale etabliert sich als Zwangsprinzip zusammen mit der Einführung einer standardisierten Erziehung und der Errichtung der Normalschulen; es etabliert sich in dem Bemühen, ein einheitliches Korpus der Medizin und eine durchgängige Spitalversorgung der Nation zu schaffen, womit allgemeine Gesundheitsnormen durchgesetzt werden sollen; es etabliert sich in der Regulierung und Reglementierung der industriellen Verfahren und Produkte. Zusammen mit der Überwachung wird am Ende des klassischen Zeitalters die Normalisierung zu einem großen Machtinstrumente. [...] Einerseits zwingt die Normalisierungsmacht zur Homogenität, andererseits wirkt sie individualisierend, da sie Abstände mißt, Niveaus bestimmt, Besonderheiten fixiert und die Unterschiede nutzbringend aufeinander abstimmt ...163

Jürgen Link charakterisiert in seinem Versuch über den Normalismus die Bemühungen, alle Abweichungen mit Hilfe der Statistik zu erfassen, als den Beginn des ›Normalismus‹. ... Normalisierung meint also einen historisch-spezifischen Typ routinemäßiger, dabei aber selbst dynamischer ›Regulierung‹/›Stabilisierung‹ des konstitutiven ›produktiven Chaos‹ der Moderne. [...] Die ›Anschließbarkeit‹ (Luhmann) der sozialen Gegenständlichkeiten innerhalb der sozialen ›Teilsysteme‹ setzt homogenisierte Felder voraus – und Normalfelder erfüllen das Desiderat der Homogenität am effektivsten.164

Link unterscheidet grundlegend zwei Strategien voneinander, die der Herstellung eines Normalitätsfeldes dienen. Zum einen zählt hierzu die protonormalistische Strategie, die durch eine »maximale [...] Komprimierung der Normalitätszone«165 statische Grenzen errichtet. Bei dieser Strategie werden Normen bereits vorher festgelegt und können dem Individuum auch als solche aufgezwungen wer-

161 162 163 164 165

Waldschmidt: Paradoxien des Normalismus, S. 99. Georgens, Deinhardt: Die Heilpaedagogik. Bd. 1, S. 205. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 237. Link: Versuch über den Normalismus, S. 313. Link: Versuch über den Normalismus, S. 78.

271 den.166 Obwohl miteinander verbunden – Link spricht hier von einer »aporetischen siamesischen Bifurkation«167 – unterscheidet sich davon die zweite, die flexibel-normalistische Strategie darin, dass ihre Grenzen fließender sind, so dass die Normalitätszone sehr viel stärker expandieren und dynamisieren kann.168 Die Normalitätsgrenzen bei der flexibel-normalistischen Strategie werden erst im Nachhinein aus der Statistik berechnet und den Ergebnissen entsprechend angepasst.169 Die Entstehung dieser beiden Strategien setzt Link zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit Adolphe Quételets Publikationen an, die nicht nur die bereits bekannte »diskursive Kopplung zwischen empirischer und mathematischer Statistik (einschließlich der gaußschen ›Normalverteilung‹)«170 mit sich brachte, sondern darüber hinaus auch noch den »›mittleren Menschen‹ (homme moyen, im Sinne von Medianwert) zum sowohl ästhetischen wie politischen Idealtyp [erhob], indem er die Kollektivsymbolik des Gleichgewichts, der Stabilität, des Optimalen und der Schönheit mit ihm verknüpfte.«171 Link zählt zu den Begründern des Protonormalismus Auguste Comte, der das Broussaische Prinzip eigentlich formulierte, wonach Krankheiten als »kontinuierliche ›Verlängerungen‹ (›prolongements‹, Comte) des Normalzustandes aufzufassen«172 seien. Die Verbindung von psychischer Anomalität und Normalität schildert Comte aus eigener Erfahrung am Beispiel des Wahnsinns, dem er die Idiotie in seinem Positivistischen Katechismus in einem fiktiven Gespräch gegenüberstellt: Es wird für Sie ausreichend sein, meine Tochter, die gerade dargestellte Lehre (doctrine) aufmerksam zu erwägen, um zu erkennen, daß sie in der Tat die wahre Theorie des Wahnsinns und der Idiotie enthält. Diese beiden entgegengesetzten Zustände (états) bilden die beiden Extreme der normalen Korrelation (proportion), die der Zustand der Vernunft (état de raison) zwischen den objektiven Impulsen und den subjektiven Einfällen (inspirations) erfordert. Die Idiotie besteht im Exzeß der Objektivität, wenn unser Gehirn zu passiv wird; und der eigentliche Wahnsinn besteht im Exzeß der Subjektivität infolge einer maßlosen Aktivität dieses Apparats. Aber der mittlere Grad (degré moyen), der die Vernunft konstituiert (constitue), bewegt sich selber in jenen regelmäßigen Schwankungen (variationa régulières), die jede menschliche Existenz, die soziale so gut wie die persönliche, erfährt.173

166 167 168 169 170 171 172 173

Link: Versuch über den Normalismus, S. 92. Link: Versuch über den Normalismus, S. 82. Link: Versuch über den Normalismus, S. 78. Link: Versuch über den Normalismus, S. 92. Link: Versuch über den Normalismus, S. 205. Link: Versuch über den Normalismus, S. 205. Link: Versuch über den Normalismus, S. 209. Auguste Comte: Positivistischer Katechismus oder summarische Darstellung der universellen Religion in dreizehn systematisierten Dialogen zwischen einer Frau und einem Priester der HUMANITÄT. Paris, Rio de Janeiro, London, 1891, zitiert nach Link: Versuch über den Normalismus, S. 219f.

272 Die prinzipielle Möglichkeit des normalen Menschen, in anomale Zustände zu verfallen, löste gleichzeitig eine Denormalisierungsangst aus. Wenn die Normalitätsgrenze auf einer homogenen und kontinuierlichen Skala liegt, dann kann jeder prinzipiell ›über die Grenze geraten‹. Ver-Sicherung kann dann nicht länger im Vertrauen auf ein für allemal ›gesundes Wesen‹, auf einen ›gesunden Typ‹ oder Charakter gefunden werden.174

Norm und Anpassung an die Norm thematisiert bereits Sebastian Brant in seinem Narrenschiff. Warnte er jedoch mehr vor den moralischen Fehlen, die den Menschen zu einem Narren machten, greift die Denormalisierungsangst der Moderne weiter aus und bezieht anomale Zustände wie die natürliche Narrheit, die nun ausschließlich als mentale Differenz verstanden wird, mit ein. Die Strategien, das Anomale einzugrenzen und auszuschließen, sind hinlänglich beschrieben worden.175 Der Krankheitsdiskurs bestimmt seit dem Ende des 18. Jahrhunderts Vorstellungen von natürlicher Narrheit als einer Form der Unvernunft und verdeckt so mittelalterliche und frühneuzeitliche Konzeptionen von natürlichen Narren als Lachobjekte, Wunderzeichen, Exempel und Heilige.

174 175

Link: Versuch über den Normalismus, S. 211. Foucault: Überwachen und Strafen; Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft; Castel: Die psychiatrische Ordnung.

273

5.

Bibliographie

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Abbildungsverzeichnis Abbildung 1:

Abbildung 2:

Abbildung 3: Abbildung 4:

Abbildung 5:

Hans Burgkmair: Triumphzug Maximilian I.: Wagen der Schalksnarren. Holzschnitt. 1517. Herzog Anton Ulrich Museum Braunschweig. Hans Burgkmair: Triumphzug Maximilian I.: Wagen der natürlichen Narren. Holzschnitt. 1517. Herzog Anton Ulrich Museum Braunschweig. Claus Narr am Johann-Friedrich-Bau von Schloss Torgau. Foto: Jörg Schöner. Jost Amann zugeschrieben: Bildnis des Claus Narr. Kupferstich. Staatliche Museen Preußischer Kulturbesitz Berlin, Kupferstichkabinett. Foto: Volker-H. Schneider. Jacob von der Heyden: Bildnis des Claus Narr. Privatsammlung Heinz-Günter Schmitz.

295

Personen- und Sachregister Ackermann, Petrus 10 Adiaphora 93 Agricola, Johann 67, 78–80, 221 Agricola, Rudolph 114, 117 Albertus Magnus 47 Albrecht, Herzog von Sachsen 66, 78, 92 Albrecht, Hofnarr 50 Altenburg 66, 160 Ambras 48, 77 Andreas von Konstantinopel 225 Apophthegma 105, 138, 140–143, 222f., 234f., 241f. Aristoteles 38, 40, 114, 118 Asexualität 52–56, 170, 186, 188 Auberle Hensel 63–65 August, Kurfürst von Sachsen 96 Augustinus, Aurelius 31–33, 44, 46, 83, 215

Declaratio Victorini 94–97 De generatione stultorum 16f., 22, 31, 40–44, 80, 213, 266 De mirabilibus auscultationibus 40 Deinhardt, Heinrich Marianus 23, 267–270 Der XXXVII Psalm 91, 94, 97f. Devianz, – allgemein 27, 141, 203f., 236, 254 – mentale 17, 20, 30, 37, 40, 69, 158, 198, 225, 250, 252, 267–269 Dialectica Deutsch 22, 100–102, 107–122, 124–132, 155, 183, 195, 198, 203, 217 Dialectices libri quatuor 113 Diogenes 214–224, 226 disability studies 1, 15 Dorothea Susanna, Herzogin von SachsenWeimar 98

Bachtin, Michail 10, 229f. Bassee, Nikolaus 237 Begardi, Philipp 200 Behinderter 12, 17, 20, 58 Behinderung 15f. Boner, Ulrich 45, 180 Brant, Sebastian 14, 19, 21f., 24–30, 150, 155, 233, 272 Brück, Christian 94f. Buch der Natur 15f., 22, 32–40, 45–47, 50, 85 Büttner, Wolfgang 7f., 11, 22, 78, 90–105 Burgkmair, Hans 4f.

Einfalt 12, 14, 21, 27f., 43, 69, 76f., 85, 145, 179, 192, 205f., 231, 236, 248f., 257f., 261–263 Epitome Historiarum 91, 100, 103f., 107–111, 132, 214, 217f., 220, 233 Erasmus von Rotterdam 21, 216, 233 Ernst, Bischof von Magdeburg 78 Ernst, Kurfürst von Sachsen 66, 78, 92 Erotemata dialectices 102, 111–114, 121, 178 Esquirol, Jean Etienne Dominique 267 Exempel 11, 23, 74, 80, 108, 110f., 131, 144, 153, 165, 174, 180, 190, 194, 204, 210, 213f., 218–220, 224, 238, 240, 246, 249, 272 Exempelsammlung 103, 108

Calvin, Johannes 75 Chrie 140, 222f. Christlieche vnd Teglieche Haus beet gesengleyn 98 Christusnarr siehe Narr in Christo Claus Narr, Hofnarr 7, 10, 66f. Compendiaria dialectices ratio 112 Comte, Auguste 271 Corpus doctrinae Misnicum 102 Corpus doctrinae Thuringicum 102 Cradelius, Philipp 247–251, 255, 264

Ferdinand II., Erzherzog von Österreich 48 Fischart, Johann 213, 238 Flacius Illyricus, Matthias 94, 147, 212 Flögel, Karl Friedrich 10, 59, 194 Folz, Hans 54 Foucault, Michel 18–20, 30, 270, 272 Francke, Johann 237 Frey, Jakob 67

296 Friedrich III. (der Weise), Kurfürst von Sachsen 50, 66, 72, 74, 81, 83, 89, 92, 106f., 143, 206, 209 Fröhlich, Joseph 243–246 Fuchsperger, Ortholph 114 Gabriel Magenbuch 62–64 Garzoni, Tomaso 23, 247, 251–255, 264f. Gaubisch, Urban 100 Geiler von Kaysersberg, Johannes 22, 28f., 80f. Gell, Johann Christian 243 Georgens, Jan Daniel 23, 267–270 Gerlach, Samuel 242f. Goltwurm, Caspar 84 Gonnella 21, 59, 161, 181 Gottfried von Straßburg 45, 53 Grimmelshausen, Hans Jacob Christoffel von 23, 247, 255–264 Halbe Birne 54–56 Han, Kilian 237 Hans Clawerts Werckliche Historien 10 Harsdörffer, Georg Philipp 78, 141 Hartmann von Aue 190 Heinrich (der Fromme), Herzog von Sachsen 92 Heinrich von Freiberg 53, 55 Heyden, Jacob von der 87–89 Historia von D. Johann Fausten 103 Historia von den sieben weisen Meistern 174 Historie 8f., 22, 105f., 123f., 129, 131–151 Historien von Claus Narren 7–13, 20, 22–24, 66, 89f., 100, 105–108, 111, 117–119, 121–224, 233–247, 249, 255–257, 263f. Hofnarr siehe Narren Humoralpathologie 17, 19, 200, 210 Hund 52, 67–69, 78, 135, 138, 144, 148, 182, 184, 215, 217, 219, 221f., 260 Isidor von Sevilla 84 Johann Friedrich I., Kurfürst und Herzog von Sachsen 91, 94f., 97f, 104 Johann Friedrich II., Herzog von Sachsen 95 Johann Wilhelm, Herzog von Sachsen 95f. joking relationship 31, 59f. Karlstadt, Andreas Bodenstein von 216, 234 Kirchhof, Hans Wilhelm 71

Kölderer, Jörg 4 Konrad von Megenberg 15f., 32–40, 42, 44, 46f., 67, 83, 85 Krankheit 15–20, 23, 31, 37, 40, 99, 191, 199–201, 231, 254f., 267–272 Kretinismus 268 Krüger, Bartholomäus 10f. Kunz von der Rosen 6 Kynismus 215, 217, 220, 224 Lalebuch 21, 155, 187 Lepsch 67–69, 78, 221f., 260 Liber de natura rerum 33, 46 Liminalität 31, 50–52, 74, 76, 215, 223 Lob der Torheit 21 Luther, Martin 14, 76f., 83, 90, 92, 96f., 102, 114f., 195, 205, 207–210, 216f., 220, 233 Lycosthenes, Conrad 84, 216 Major, Georg 91, 94 Mansfeld, Albrecht Graf von 104 Maximilian I., römisch-deutscher Kaiser 3–6, 13, 16, 21, 49f., 59 Melancholie 18, 191 Melanchthon, Philipp 22, 77, 90, 96, 102, 111–114, 116f., 121, 178 Messerschmidt, Georg Friedrich 247 Miesko, Hans 23, 247–251 Moritz, Kurfürst und Herzog von Sachsen 92 Narr in Christo 23, 150, 204, 214, 224–237, 259, 262, 264 Narren – Hofnarren 13f., 21, 50–53, 59ff., 106, 160, 265 – künstliche 7, 12–14, 21, 28, 45, 49f., 61f., 68f., 71, 76, 83, 138, 160f., 181, 216, 219, 228, 233f., 243, 246f., 254, 263f. – natürliche 3–88, 106, 130, 137–139, 142, 145, 148–150, 152, 155, 158, 160–163, 166f., 170, 172, 174f., 180–182, 185f., 188–191, 194, 197, 201–205, 208–210, 213, 217–220, 222, 224, 226–237, 240, 242, 246–266, 272 – vslendige 27, 29 Narrenfreiheit 22, 59f. Narrenhaus 52, 57f., 76 Narrenschiff 14, 19, 21f., 24–30, 80, 150, 155, 252, 254, 272 Narrenturm 57f.

297 Norm 18, 24–29, 44, 61, 131, 145f., 165, 167, 169, 177, 224, 230, 266, 270–272 Normalität 22, 26f., 30, 44, 269–272 Normativität 22, 26f. Normbruch 26, 58, 61, 138, 149f., 222, 224f. Paracelsus (Theophrast von Hohenheim gen. Paracelsus) 16, 22, 31, 40–44, 47, 80, 200, 213, 266f. Paré, Ambroise 40 Pauli, Johannes 28, 67–69, 137, 163, 194, 221 Peter Letzkopf 64f. Peter von Auvergne 47 Philipp III. (der Gute), Herzog von Burgund 48f. Pinel, Philippe 255 Platter, Felix 265–267 Plinius 34, 252 Prädikamente 115–117, 119f., 124, 128 Prodigium 64, 66, 74, 78, 83–85, 89, 204f., 207–209, 224, 230–232 Prokopij von Ustjug 227f. Prophetie 81–83, 88, 162, 205, 208f., 211, 213, 232, 261 Quadt von Kinckelbach, Matthias 76f., 90 Quételet, Adolphe 271 Ranis 88 Ranstedt 152 René von Anjou 49 Rollwagenbüchlein 69f. Rosinus, Bartholomäus 94f. Rozmital, Leo von 49 Sachs, Hans 67, 69–73, 81f., 137, 160, 163, 185–187, 194, 221 Satyrischer Pilgram 255 Schalksnarren siehe künstliche Narren Scherzbeziehung, närrische 22, 59–66, 162, 261 Schimpf und Ernst 67–69, 78, 160, 163, 194, 221 Schmid, Jacob 230f. Schwank 9f., 13, 61–65, 67–73, 78, 134, 137, 149, 151, 160, 168, 171, 174, 178–180, 185–187, 189, 193, 207, 210, 238, 245f. Schwankroman 10f., 61, 127, 178 Schwanksammlung 7f., 21, 61, 67 Seelenparadies 28 Simplicius Teutsch 23, 247, 255–265

Spangenberg, Cyriacus 99f., 232–235 Spital Vnheylsamer Narren/ vnnd N(rrinnen 23, 247, 251–255, 264f. Spott 59–61, 66, 72f., 80–82, 110, 170, 186, 213, 234–236, 246f., 262 Spottverwandtschaft 59f. Sprichwort 7, 78, 140, 248 Sprichwortsammlung 78, 221 Staupitz, Johann von 82f. Steckenpferd 181, 185f., 188 Steinhart, Georg 103f., 108 Stricker, Der 45 Strigel, Victorin 94 Symeon von Emesa 225f., 228, 231, 259 Tetzel, Gabriel 49, 58 Thomas von Aquin 29, 33 Thomas von Cantimpré 32f., 35, 46 Thunger, Laurentius 104 Tor (tôr) 7, 14 Torenkiste 52, 57f. Torgau 66, 71, 78f., 83, 192, 222 Triboulet 49 Tristan 19, 45, 53–55, 173 Triumphzug 3–6, 13, 16f., 21, 49f. Ulenspiegel 9, 21, 151, 178–181, 217, 237, 255 Ulrich von Türheim 53, 55 Umpferstedt 91, 93f., 101 Von einem torechten Schulpfaffen 45, 180 Wahnsinn 13, 17–20, 30, 56, 218, 271 Wahnsinn und Gesellschaft 18f., 30, 272 Weidner, Johann Leonhard 143, 213, 239, 241f. Weimar 94f., 97, 159 Wendunmuth 71 Wickram, Georg 69f. Widman, Georg Rudolf 238f. Wittenberg 77, 90–92, 102, 107 Wolferstedt 91, 98f., 104 Wunder 16, 22f., 31, 33f., 40–42, 48–50, 72, 76, 83f., 205, 207f., 246, 259, 261, 264f. Wundergeburt 46, 84f., 205 Wunderkammer 48–50, 77, 261, 264 Wundermenschen 16, 22, 32–40, 44–46, 50, 66, 85 Wundervölker 33–36, 40, 46f., 50, 265–268 Wunderzeichen 23, 67, 74, 77, 85f., 88f., 152, 204–208, 210, 261, 265, 272

298 Zimmern, Froben Christoph von 61–65 Zimmern, Johann Werner von 62–65 Zimmern, Wilhem Werner von 64f.

Zimmersche Chronik (Chronik der Grafen von Zimmern) 61–65 Zincgref, Julius Wilhelm 9, 140, 143 241f., 246