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German Pages [188] Year 2022
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© 2023 V&R unipress | Brill Deutschland GmbH ISBN E-Lib: 9783737014441
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Frank van der Velden
Narrative religiöser Diversität aus dem Nahen Osten und Nordafrika Eine Arbeitshilfe für die pädagogische Praxis
Mit 3 Abbildungen
V&R unipress
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Gefördert aus Mitteln des Landes Hessen im Rahmen des Hessischen Weiterbildungspakts. © 2023 Brill | V&R unipress, Robert-Bosch-Breite 10, D-37079 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress und Wageningen Academic. Wo nicht anders angegeben, ist diese Publikation unter der Creative-Commons-Lizenz Namensnennung-Nicht kommerziell-Keine Bearbeitungen 4.0 lizenziert (siehe https://creative commons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/) und unter dem DOI 10.14220/9783737014441 abzurufen. Jede Verwertung in anderen als den durch diese Lizenz zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Mumienbildnis eines Mädchens, Enkaustik auf Sykomorenholz, Höhe 35,5 cm, Römisches Ägypten 120–150 n. Chr., Abdruck mit freundlicher Erlaubnis der Liebieghaus Skulpturensammlung, Frankfurt am Main. Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-7370-1444-1
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Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zum Begriff des Narrativ in dieser Studie . . . . . . . . . . . . . . . . . Narrative im arabischen chronotope . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Arabisation statt islamisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . The Clash of Civilization Narratives . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Interreligiöse Alltagsroutinen als ›Gutmenschentum‹? . . . . . . . . . Sieben Narrative und ihre Didaktisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . Kritische Sichtung der Narrative – sach- und fachbezogen . . . . . . Didaktisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Elementarisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Methoden und Materialien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Outcome-Orientierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Trigger-Warnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnisse: Narrative – eine Ressource zwischen Treasure und Trigger .
13 14 15 17 19 20 21 22 23 23 23 24 24 25
Teil I – Das geschichtliche und gesellschaftliche Umfeld Der chronotope der arabischen Nationalstaaten . . . . . . . . . . . Eine präzedenzlose Phase der arabischen Moderne . . . . . . . . . Die bürgerliche Emanzipation der religiösen Minderheiten . . . Zeiten der Krise und des Zusammenbruchs (–1918) . . . . . . . Versuche einer arabischen Staatengründung (1919–) . . . . . . . Arabische Nationenwerdung als religionsübergreifendes Projekt Historical Imagination: Moderne arabische Geschichtsschreibung Spenglers Kultur-Morphologie im Niemandsland . . . . . . . . . George Habib Antonius: ›arabisation‹ statt ›islamisation‹ . . . . . Was ist ›arabische‹ Herkunftsidentität? . . . . . . . . . . . . . .
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31 31 32 33 33 34 35 35 36 37
6
Inhalt
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Narrative für ein neues Paradigma? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der extremistische Kampf gegen die Narrative des chronotope . . . . Es geht gegen staatliche und religiöse Autoritäten . . . . . . . . . . Der Brief der 126 sunnitischen Gelehrten an Abu Bakr Al-Baghdadi Die »Charta von Medina« als alternatives Narrativ . . . . . . . . . . The Clash of Civilization Narratives: Versuch einer Typologisierung . Erlebte Zeit – erzählte Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Überschätzung der ›Kultur‹ in extremistischen Narrativen . . . Merkmale extremistischer Narrative . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verschwörungsmythen sind wie umgedrehte Religionen . . . . . . . Merkmale ambiguitätstoleranter Narrative . . . . . . . . . . . . . . Aktuelle Herausforderungen für ein neues Paradigma religiöser Diversität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Internationale ›islamistische‹ Netzwerker . . . . . . . . . . . . . . . Säkularisierungstendenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Globalisierungstendenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein neues Paradigma religiöser Diversität? . . . . . . . . . . . . . .
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45 45 46 48 49 50 50 53 54 56 56
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57 58 60 61 62
Alltagsroutinen religiöser Diversität . . . . . . . . . . . . . . . . . Nachbarschaftliche Ressourcen und Routinen . . . . . . . . . . Eine Orientierung zur Begrifflichkeit . . . . . . . . . . . . . . . Ressourcen sind keine Garantien . . . . . . . . . . . . . . . . . Alltagsroutine ›Kondolenzbesuch‹ . . . . . . . . . . . . . . . . Narrative Interviews zur religiösen Diversität in Syrien bis 2010 Syrien – eine religiös diverse Gesellschaft . . . . . . . . . . . . Die Selbsterzählung als toleranter Nachbar oder Freund . . . . Die Selbsterzählung aus der Opferrolle . . . . . . . . . . . . . . Die Selbsterzählung als rationaler Kritiker des religiösen Extremismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Selbsterzählungen zwischen Treasure und Trigger . . . . . . . . Trigger-Alarm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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65 65 66 67 68 69 69 70 72
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73 74 76
Welche Sprache ist ›arabisch‹? . . . . . . . . . . . . Was sind arabische »manners and traditions«? . . . Othering in der modernen arabischen Geschichtssicht Die narrative Struktur des arabischen chronotope . .
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Inhalt
Teil II – Sieben Narrative und ihre Didaktisierung ¯ıd wahda: Die ›einige Hand‹ von Kopten und Muslimen in den ˙ ägyptischen Revolutionen von 1952 und 2011 . . . . . . . . . . . . . . Darstellung und kritische Sichtung des Narrativs . . . . . . . . . . . . Fakes and facts! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zielpublikum und Zweck der traditionellen Erzählung . . . . . . . . Didaktisches Beispiel: »Zwischen heute und dort« (Performance des hakawa¯ti) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ˙ Material . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pädagogisches Setting . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alltagserfahrungen religiöser Diversität . . . . . . . . . . . . . . . . . Selbsterzählungen von Zugehörigkeit und kultureller Diversität . . . Neugier auf die Sicht des anderen: Perspektivenübernahmen . . . . Outcome: Stärkung von ästhetischer und anamnetischer Kompetenz Trigger-Warnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Infokasten: Die ›Flucht der Heiligen Familie nach Ägypten‹ . . . . . .
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79 79 80 81
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82 84 85 86 86 87 88 89 89
Bassam Dawood: Ein Abend mit Al-Hakawati (Skript) . . . . . . . . . .
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bila¯d al-Andalus: ›Die Landschaften Andalusiens‹ als interreligiöses Utopia des 20. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Darstellung und kritische Sichtung des Narrativs . . . . . . . . . . . Fakes and facts! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zielpublikum und Zweck der traditionellen Erzählung . . . . . . . Wie wird das Narrativ heute in Deutschland didaktisiert? . . . . . Didaktisches Beispiel: »Dare to dream!« (kritischer Autorenfilm aus Ägypten) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pädagogisches Setting . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Material . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Magda Harouns Monolog (Arbeitsübersetzung) . . . . . . . . . Alltagserfahrungen religiöser Diskriminierung . . . . . . . . . . . . Neugier auf die Sicht des anderen: Perspektivenübernahmen . . . Outcome: Einander Einblick gewähren statt einander belehren . . . Trigger-Warnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Infokasten: Juden in Ägypten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Die »Charta von Medina«: Blaupause für eine moderne Rechtsordnung? . Darstellung und kritische Sichtung des Narrativs . . . . . . . . . . . . . Fakes and facts! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
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117 119 119 120 122 122 124 124
Die ›erste Hidschra‹ der Muslime nach Äthiopien . . . . . . . . . . . . . Darstellung und kritische Sichtung des Narrativs . . . . . . . . . . . . . Fakes and facts! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zielpublikum und Zweck der traditionellen Erzählung . . . . . . . . . Konversion als Ergebnis des Dialogs? . . . . . . . . . . . . . . . . . The Clash of Civilization Narratives: Polemik, als Dialog getarnt . . . . Didaktisches Beispiel: Eine Geschäftsordnung zum guten Umgang mit bleibenden Differenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pädagogisches Setting . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Material . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alltagserfahrung »Erzähl’ mal von Deiner Religion!« . . . . . . . . . . . Neugier auf die Sicht des anderen: Perspektivenübernahmen . . . . . Outcome: Stärkung von Diversifizierungs- und Relationierungskompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Trigger-Warnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Texte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
127 127 129 130 131 132
Zielpublikum und Zweck der traditionellen Erzählung . . . . . . . . Didaktisches Beispiel: Klartext zum Integrationsparadox? . . . . . . . Pädagogisches Setting . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Material . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alltagserfahrungen der (mangelnden) Augenhöhe . . . . . . . . . . . Outcome: Kommunikations- und Handlungskompetenzen stärken . Trigger-Warnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Infokasten: Die Marrakesch-Erklärung und die »Charta von Medina«
al-hubbu dı¯nı¯: »Die Liebe ist meine Religion« – ein sufisches Narrativ im ˙ modernen Islam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Darstellung und kritische Sichtung des Narrativs . . . . . . . . . . . . . Fakes and facts! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zielpublikum und Zweck der traditionellen Erzählung . . . . . . . . . Probleme der modernen Rezeption sufischer Narrative . . . . . . . . Didaktisches Beispiel: Rumis Auslegung des »Gleichnis vom Elefanten und den Blindgeborenen« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Material . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pädagogisches Setting . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alltagserfahrungen persönlicher Unverfügbarkeit . . . . . . . . . . . . Neugier auf die eigene Sicht aus anderer Perspektive (= Rollenspiel) . Outcome: Lernen von der individuellen Erfahrung jedes einzelnen . . . Trigger-Warnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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141 141 142 143 145 146 146 147 148 149 150 151
9
Inhalt
Infokasten: Klassische Auslegungen des »Gleichnis vom Elefanten und den Blindgeborenen« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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167 167 168 169 170
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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Ein christliches Verfolgungsnarrativ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Darstellung und kritische Sichtung des Narrativs in zwei Versionen . Die Bagdad-Version . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Kairo-Version . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fakes and facts der ›Bagdad-Version‹! . . . . . . . . . . . . . . . . . Zielpublikum und Zweck der Erzählung der ›Bagdad-Version‹ . . . Fakes and facts der ›Kairo-Version‹! . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zielpublikum und Zweck der Erzählung der ›Kairo-Version‹ . . . . »Places of Suffering«: Eine Anregung aus Sarajevo/BiH . . . . . . . . Das Projekt »Places of Suffering« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Outcome: Opferstimmen achten, Verschwörungserzählungen meiden Trigger-Warnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Infokasten: Kopten in Ägypten und in Deutschland . . . . . . . . . . Kontrastfolie Saints of Colour: Das afrikanische Erbe unseres Christentums aus römischer Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (Eye-)Opener: Nubians at Hadrian’s Wall . . . . . . . . . . . . . . . Darstellung und kritische Sichtung des Narrativs . . . . . . . . . . . Fakes and facts! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Waren die Ottonen woke? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Didaktisches Beispiel: Colours. Kulturelle Diversität im ›deutschen‹ Christentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Material . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pädagogisches Setting . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alltagserfahrungen kultureller ›Zugehörigkeit‹ . . . . . . . . . . . . Neugier auf die Sicht des anderen: Entwicklung einer Streitkultur Outcome: Erwerb von Ambiguitätstoleranz . . . . . . . . . . . . . . Trigger-Warnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Vorwort
Diese Arbeitshilfe ist in der Folge eines von mir geleiteten Projekts der Katholischen Erwachsenenbildung (KEB) Hessen e.V. im Rahmen des hessischen Weiterbildungspaktes 2017–2020 entstanden. Daher gilt mein Dank dem Vorsitzenden der KEB Hessen e.V., Johannes Oberbandscheid, für das gewährte Vertrauen und die kontinuierliche Unterstützung. Mein Dank gilt weiterhin Prof. Dr. Harry H. Behr, Professurinhaber für Erziehungswissenschaft mit Schwerpunkt Islam an der Johann Wolfgang von Goethe-Universität Frankfurt am Main, für die fachwissenschaftliche und freundschaftliche Kooperation im Rahmen des Projektes. Dem hessischen Kultusministerium sei gleichermaßen gedankt für die großzügige Finanzierung der Publikation dieser Arbeitshilfe, die nur als openaccess-Edition erscheint und in dieser Form kostenfrei von jeder Institution und von allen Kolleginnen und Kollegen der pädagogischen und sozialen Arbeit genutzt werden kann. Limburg, 19. November 2022 Frank van der Velden
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Einleitung
Auch im Nahen Osten und in Nordafrika sehnen sich Christen, Muslime, Juden, Jesiden, Drusen und andere Menschen nach einem friedvollen Zusammenleben der Religionsgemeinschaften und erzählen davon seit jeher in kulturspezifischen interreligiösen Narrativen. Doch die Wissensbestände zu solchen Narrativen aus den Kulturen der Herkunftsländer zugewanderter Menschen finden in unserer öffentlichen Diskussion bisher kaum Beachtung.1 Liegt es daran, dass sie aus Krisenlandschaften stammen, denen wir aufgrund der aktuellen, häufig religiös markierten Konflikte keine interreligiöse Lösungskompetenz zutrauen? Tatsächlich – das sei direkt am Anfang betont – dürfen in dieser Arbeit neben den Narrativen gelingenden Zusammenlebens die Opfernarrative religiöser Minderheiten nicht übergangen werden. Warum also sollte man diese Jahrhunderte alte, komplexe interreligiöse Aushandlungskultur des Nahens Ostens und Nordafrikas kennenlernen wollen? Weil die aktuelle deutsche Migrationsgesellschaft meines Erachtens ihre narrative Identität nur unter der Bedingung ausbilden kann, dass sie die Narrative zugewanderter Menschen darin integriert. Mancherorts hierzulande soll diese Art der Teilhabe aber durch ein kulturelles Othering verhindert werden, demzufolge ›orientalische‹ Aushandlungsstrategien gesellschaftlicher Teilhabe per se nicht in eine westliche, säkular geprägte Gesellschaft passen. Diese Arbeitshilfe wehrt eine solche kulturalistische Entgegensetzung ab und schaut stattdessen im Einzelfall auf fünf Narrative der ›Beheimatung in religiöser Vielfalt‹ aus der arabischen und der äthiopisch/eritreischen Tradition. Gleichzeitig wird ein christliches Verfolgungsnarrativ aus der gleichen Region vorgestellt. Die Auswahl und die regionale Beschränkung der Narrative ergeben sich aus meiner eigenen fachlichen Expertise und aus den 18 Jahren Lebenszeit, die ich in 1 Die in dieser Arbeitshilfe vorgestellten Narrative besitzen eine umfängliche islam- und religionswissenschaftliche Forschungslage. Ihre pädagogische Didaktisierung für die gesellschaftspolitische Bildungsarbeit in modernen Migrationsgesellschaften steht hingegen ganz am Anfang. Auf die vorhandene Literatur wird bei der Besprechung der einzelnen Narrative verwiesen.
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Einleitung
den Ländern dieser Region verbringen durfte.2 Alle in dieser Arbeitshilfe vorgestellten Narrative werden bei ihrer Darstellung kritisch dekonstruiert, das heißt in ihre historischen Kontexte eingeordnet, einem Faktencheck unterzogen und sowohl in Bezug auf die Methodik ihrer traditionellen Erzählweise als auch in Bezug auf die dahinterstehenden Bildungskonzepte und gesellschaftspolitischen Absichten untersucht. Danach wird für jedes einzelne Narrativ eine Didaktisierung vorgeschlagen, also ein pädagogisches Anwendungsbeispiel für den Einsatz in den höheren Jahrgängen weiterführender oder berufsbildender Schulen, in Erwachsenenbildung, Studium oder beruflicher Aus-, Fort- und Weiterbildung gegeben. Auch dabei stehen die kritische Auseinandersetzung und Würdigung genauso im Fokus wie die Frage, was an den individuellen und gesellschaftlichen Selbsterzählungen der anderen für das eigene Zusammenleben in der deutschen Migrationsgesellschaft zu lernen sei. Vorab aber müssen einige Klärungen zur besseren Einordnung der vorzustellenden Narrative erfolgen.
Zum Begriff des Narrativ in dieser Studie In welchem Sinn findet der weitgespannte Begriff des Narrativ hier Verwendung? In dieser Arbeitshilfe geht es um traditionelle kollektive Selbsterzählungen, über die einzelne Personen oder Gruppen aus den genannten Herkunftsländern ihr eigenes soziales Verhalten deuten und ihren Spielraum für alternative Rollenmuster und Verhaltensweisen ausloten. Daher schwingen natürlich die klassischen Arbeiten von Paul Ricoeur3 und Louis Mink4 zur narrativen Identitätsbildung im Hintergrund mit. Da die vorgestellten Narrative aber immer ein framing durch die ›großen Erzählungen‹ ihrer Herkunftsländer erhalten, sind sie vor allem auch ein Teil der kulturellen Geschichtsschreibung, also der historical imagination dieser Länder. Diese Form einer narrativen Metahistory hat seit den 1970er Jahren der Historiker Hayden White5 am Beispiel der europäischen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts erforscht und dabei umfänglich auf die Gefahren hingewiesen, über solche Narrative in eine ideologische Geschichtssicht abzugleiten. Die bekannten engen Verbindungen vieler Historiker in den modernen arabischen Nationalstaaten zu dieser aus dem 19. Jahrhundert fortge2 Insofern stehen die ausgewählten Narrative pars pro toto für eine größere weltweite Perspektive. 3 Ricoeur, Paul (1988): Zeit und historische Erzählung (Zeit und Erzählung Band 1), Verlag Wilhelm Fink, München, 356 S. 4 Mink, Louis O. (1987): Historical Understanding, Cornell University Press, Ithaca (USA), 294 S. 5 White, Hayden (2014): Metahistory. The Historical Imagination in 19th-Century Europe (»40th Anniversary Edition« der Originalausgabe von 1973), John Hopkins University Press, Baltimore/USA, 448 S.
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Zum Begriff des Narrativ in dieser Studie
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führten europäischen Geschichtsschreibung legen es nahe, Haydens Forschung auch auf den kulturhistorischen frame der hier vorgestellten Narrative zu beziehen. Allerdings soll dies entlang der kritischen Weiterentwicklung von Haydens Thesen durch David Carr6 geschehen, der an solchen individuellen und kollektiven Selbsterzählungen die starke Wechselwirkung von ›erlebter Zeit‹ und ›erzählter Zeit‹ erforschte: Stories »are told in being lived and lived in being told«. Dies ist eine durchaus zweischneidige Einsicht, denn in der Weltsicht von Extremisten verschmilzt die ›erzählte Zeit‹ häufig mit der ›erlebten Zeit‹, sie führen dann ein Leben im Narrativ – nicht in der Realität. Carrs Forschungen erklären so unter anderem auch den Mechanismus, wie Extremisten ihre Verschwörungserzählungen mit der Wirklichkeit in Deckung zu bringen versuchen. Damit verbindet sich für uns die Aufgabe, eine Typologie von ambiguitätsoffenen Narrativen zu beschreiben, in denen die notwendige produktive Spannung zwischen der in ihnen ›erzählten Zeit‹ und der ›erlebten Zeit‹ erhalten bleibt. Nur unter dieser Bedingung können im Erzählen alternative Rollenmuster und soziale Verhaltensweisen erprobt und präsentiert werden, was der eigentliche Sinn der pädagogischen Arbeit mit Narrativen ist. Nur so können die hier vorgestellten Narrative auch sinnvoll didaktisiert werden, ohne dass es zu allzu unkritischen Selbsterzählungen oder gar zu extremistischen Umdeutungen kommt.
Narrative im arabischen chronotope Narrative sind als individuelle und gesellschaftliche Selbsterzählungen an einen historischen Deuterahmen gebunden, in dem sie entstanden sind und auf den sie sich zurückbeziehen. So hat Hayden White die narrative Struktur der europäischen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts als einen chronotope7 beschrieben, der sich selber als präzedenzlose Epoche und als die ›Mitte der Geschichte‹ wahrnahm. Nicht nur die Weltgeschichte wurde eurozentristisch mit kolonialen und imperialen Mustern erzählt, sondern auch die eigene europäische Vergangenheit wurde ›aus der Mitte‹, also auf das 19. Jahrhundert hingedeutet. Auf die Zukunft wurde fortschrittsoptimistisch, aber auch mit einer Besorgnis geblickt, die Oswald Spengler später als Angst vor dem ›Un-
6 Carr, David (1986b): Time, Narrative, and History, Indiana University Press, Bloomington USA, 189 S. 7 White, Hayden (1973): The »Nineteenth Century« as Chronotope, in: ders.: The Fiction of the Narrative. Essays on History, Literature, and Theory 1957–2007, John Hopkings University Press, Baltimore USA, S. 237–245.
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Einleitung
tergang des Abendlandes‹ beschrieb. Dieter Borchmeyer8 hat überzeugend dargelegt, wie in dieser Geschichtssicht des 19. Jahrhunderts auch die ältere deutsche Vergangenheit in historischen Rückprojektionen auf die entstehende deutsche Nation hingedeutet wurde und mit welchen Narrativen das ›Deutschsein‹ damals neu erzählt wurde. So geht auch hierzulande vieles von dem, was als ›typisch deutsch‹ gilt, auf die Geschichtssicht dieser Zeit zurück, die in gewisser Weise bis heute ein Sehnsuchtsort der bürgerlichen Mitte geblieben ist. Andererseits fand diese Geschichtssicht schon im 19. Jahrhundert eine missbräuchliche Verwendung. So hat Eckart Conze9 in seiner Analyse des wilhelminischen Kaiserreiches auf ein kulturelles Othering hingewiesen, mit dem von Anfang an bestimmte ethnische, politische und religiöse Gruppen aus dem ›Deutschsein‹ ausgeschlossen werden sollten. Als Beispiel mag die deutsche antisemitische Bewegung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gelten, die über pseudowissenschaftliche »Rasse«-Theorien und die dazu passenden Verschwörungserzählungen Judenhass schürte. Kulturelle Narrative, die im framing dieses chronotope des europäischen 19. Jahrhunderts stehen, müssen daher als Teil einer ideologischen Geschichtsschreibung kritisch analysiert und in ihren Absichten und Folgen sorgfältig dekonstruiert werden.10 Die Geschichtsschreibung der modernen arabischen Nationalstaaten imaginiert einen analogen ›arabischen‹ chronotope, auf den sich die hier beschriebenen Narrative der ›Beheimatung in religiöser Vielfalt‹ beziehen und dessen historical imagination genauso kritisch analysiert werden muss. Sein Zeitraum umfasst die arabischsprachigen Gebiete des osmanischen Reiches und setzt ab dem späteren 19. Jahrhundert ein, in dem in der Region auch die bürgerliche Emanzipation der Juden und Christen vollzogen wurde. Das Jahr 1918 hat mit der Auflösung des osmanischen Reiches für diesen Anfang eine besondere Bedeutung. Der chronotope erstreckt sich über die Jahrzehnte der arabischen Nationenwerdung bis in die 1950er Jahre hinein. Mit der Suez-Krise von 1956 wird vielerorts ein Überschreiten des Zenits verbunden. Durch die anschließende Expulsion arabischer Juden und vieler als »Ausländer« markierter Christen verlieren die arabischen Nationalstaaten zudem einen wichtigen Teil ihrer religiösen Diversität. Die militärische Niederlage im Sechs-Tage-Krieg von 1967 und die wirtschaftlichen und politischen Krisen zu Beginn der 1970er Jahre mar-
8 Borchmeyer, Dieter (2019): Was ist deutsch? Die Suche einer Nation nach sich selbst, 4. Auflage, Rowohlt-Verlag, Berlin, 1056 S. 9 Conze, Eckart (2020): Schatten des Kaiserreichs. Die Reichsgründung von 1871 und ihr schwieriges Erbe, dtv, München 287 S. 10 Auf das Problem einer heute weitgehend unkritischen Rezeption dieser Narrative in nationalradikalen Gruppen und Parteien in Deutschland kann hier nur hingewiesen werden, s. van der Velden (2023).
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Zum Begriff des Narrativ in dieser Studie
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kieren vielerorts das Ende der aya¯m zama¯n (arabisch für die ›guten alten Zeiten‹) des chronotope.
Arabisation statt islamisation Diese Arbeitshilfe ist keine historische Grundlagenarbeit, aber sie bemüht sich zur besseren Einordnung der hier vorgestellten Narrative um eine multiperspektivische Sicht auf die moderne arabische Geschichtsschreibung. Daher wird zum einen natürlich das Standardwerk »The Arab Awakening« des christlichen libanesischen Historikers George Habib Antonious11 von Ende der 1930er Jahre rezipiert, in dem auch die enge Verbindung der Historiker aus den Nachfolgestaaten des osmanischen Reiches zum chronotope der europäischen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts deutlich wird. Davor Beganovic spricht in diesem Kontext von »Spengler im Niemandsland«12. Eine weitere wichtige Quelle ist das seinerzeit einflussreiche Buch al-ta’assub wal-tasa¯muh bayn al˙˙ ˙ masihiyya wal-isla¯m (Zur Polemik und zur Toleranz zwischen Christentum und ˙ Islam) des ägyptischen Intellektuellen Muhammad al-Ghazza¯lı¯13 aus den 1950er ¯¯ ˙ Jahren, der den Muslimbrüdern nahestand und das Thema aus einer religiös gebundenen antikolonialistischen Perspektive anging. In der Sekundärliteratur stütze ich mich unter anderem auf die renommierten Arbeiten von Gudrun Krämer14 zum Verhältnis von Säkularität und religiös gebundener Kulturalität in den modernen arabischen Nationalstaaten. Bemerkenswert ist, dass die genannten Quellenschriften, so unterschiedlich sie in ihrer politischen Ausrichtung sein mögen, das Bewusstsein zu teilen scheinen, gemeinsam wichtige kulturpolitische Positionen als präzedenzlose Neuerungen zu definieren. In dieser Geschichtssicht des chronotope wurde das, was in den neu entstehenden Nationalstaaten als ›arabisch‹ zu gelten habe, als eine religionsübergreifende Größe verstanden. Die Staatsbürger galten als Wertegemeinschaft arabischsprachiger Muslime, Christen und Juden, deren para11 Antonius, George Habib (1938): The Arab Awakening. The Story of the Arab National Movement, Verlag J. B. Lippincott Co., Philadelphia / USA, 471 S. 12 Beganovic, Davor (2011): Postapokalypse im Land der »guten Bosnier«. Kulturkritik als Quelle des kulturellen Rassismus, in: Ferhadbegovic´, Sabina / Weiffen, Brigitte (Hg.): Bürgerkriege erzählen: zum Verlauf unziviler Konflikte, Konstanz University Press, Paderborn, S. 201–223, hier 204–207. 13 Arabische Publikation in Kairo ohne Jahreszahl, wahrscheinlich zweite Hälfte der 1950er Jahre, 279 S. 14 Krämer, Gudrun (2018): Piety, Politics, and Identity: Configurations of Secularity in Egypt, in: Künkler, Mirjam / Madeley, John / Shankar, Shylashri (Hg.): A Secular Age Beyond the West: Religion, Law and the State in Asia, the Middle East and North Africa, Cambridge University Press, S. 295–315.
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Einleitung
digmatischer Wahlspruch seit dem frühen 20. Jahrhundert wechselweise dem syrischen Politiker Sultan al-Atrash und dem Ägypter Saad Zaghloul zugeschreiben wurde: Al-dı¯n li’llah wa’l- watan li’l- g˘amiʿ (»Die Religion ist für Gott ˙ da – das Vaterland ist für alle da!«). Unter dem Motto ›arabisation statt islamisation‹ deutete der chronotope dabei große Teile der früheren arabischen Geschichte ›aus der Mitte‹, also auf sich selber hin und erzählte seine neue Vorstellung vom ›Arabischsein‹ in historisierenden Narrativen. So erhielten die bekannten Narrative der ›religiös toleranten arabischen Herrschaft in Andalusien‹ und der vom Propheten Muhammad persönlich mit den jüdischen Stämmen vereinbarten ›Charta von Medina‹ erst im framing des arabischen chronotope ihre heutige Bedeutung als grundlegende Selbsterzählungen des Zusammenlebens in religiöser Diversität. Als Rückprojektionen in die Zeit des entstehenden Islam oder der frühen arabischen Reiche gab der arabische chronotope diesen Narrativen aber auch eine moderne Lesart der historischen Ereignisse mit.15 So projizierte sich die Geschichtssicht, nun unter eigener arabischer Herrschaft in einer präzedenzlosen Epoche zu leben, die auch religiöse Toleranz und gesellschaftliche Teilhabe der religiösen Minderheiten praktizierte, auf ein angeblich ebenso präzedenzloses goldenes Mittelalter. Es wurde so ein tolerantes islamisches Mittelalter als Epochenbruch zu einer religiös intoleranten Spätantike imaginiert, übrigens durchaus im Einklang mit der zeitgenössischen westlichen Islamwissenschaft. Heute hingegen wird von führenden Islamwissenschaftlern wie Thomas Bauer16 die Sinnhaftigkeit einer solchen Epochalisierung des ›islamischen Mittelalters‹ grundsätzlich in Frage gestellt. Auch nach Meinung von Angelika Neuwirth17 zeigten der Prophet Muhammad und der frühe Islam mehr Kontinuität und Verbindungen zur byzantinischen, syrischen und persischen Spätantike als einen absichtsvollen Epochenbruch. Daher muss auch diese ›große Erzählung‹ des arabischen chronotope heute dekonstruiert und ein Stück weit korrigiert werden. Zu den Schatten der arabischen Nationenwerdung gehörte hingegen von Anfang an ein kulturelles Othering entlang kulturmorphologischer und herkunftsidentitärer Zuordnungen. So wurden zum Beispiel die Kurden im Irak, die
15 Als »Religionen« waren hierbei die Glaubensgemeinschaften der bereits in Andalusien zusammenlebenden Juden, Christen und Muslime im Blick. Unter den Bedingungen der Moderne ist aber auch das Zusammenleben mit Buddhisten, Hinduisten etc. sowie mit säkularen oder atheistischen Weltanschauungen zu organisieren. Dies ist bis heute in vielen arabischen Nationalstaaten ein Problempunkt. 16 Bauer, Thomas (2018): Warum es kein islamisches Mittelalter gab. Das Erbe der Antike und der Orient, Verlag C.H. Beck, München, 175 S. 17 Neuwirth, Angelika (2010): Der Koran als Text der Spätantike. Ein europäischer Zugang, Verlag der Weltreligionen, Berlin, 859 S.
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Zum Begriff des Narrativ in dieser Studie
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Nubier in Ägypten oder die nach 1921 zugewanderten »griechischen«18 Christen lange Zeit von einer gleichberechtigten kulturellen Teilhabe ausgeschlossen. Besonders dramatisch ist der Fall der einheimischen arabischen Juden, die im Zuge der kriegerischen Auseinandersetzungen mit dem modernen Staat Israel stereotyp als dessen politische Parteigänger verleumdet wurden. Darüber hinaus wurden sie durch eine ihnen zugeschriebene sophisticated otherness als wesenhaft ›kulturell Fremde‹ markiert und damit de facto um ihr gleichberechtigtes ›Arabischsein‹ enterbt. Auch diese Prozesse werden in der Folge beschrieben.
The Clash of Civilization Narratives Seit den 1980er Jahren werden die Kulturpolitik der arabischen Nationalstaaten und die Narrative des arabischen chronotope von ›islamistischen‹ Extremisten vehement bekämpft.19 Diese Gruppen tragen bis heute die alternative ›große Erzählung‹ eines globalisierten islamischen Überlebenskampfes gegen den säkularen, jüdischen oder christlichen Westen vor. Dabei wird zum Beispiel das in dieser Arbeitshilfe vorgestellte Narrativ der ›ersten Hidschra nach Äthiopien‹ – bis heute das Grundlagennarrativ für ein friedliches Zusammenleben von Christen und Muslimen in Äthiopien und Eritrea – umgedeutet und verbogen, bis im Sinne einer radikalisierten Selbsterzählung das Zusammenleben eines ›wahren‹ Muslim mit Christen unmöglich erscheint.20 Die Auseinandersetzung mit solchen extremistisch umgedeuteten Selbsterzählungen nimmt heute im Mainstream-Islam einen auch gesellschaftspolitisch wichtigen Platz ein, denn der religiöse maskierte Extremismus führt seinen Kampf gegen die politischen und religiösen Autoritäten der arabischen Nationalstaaten vor allem auch über Anschläge auf die religiösen Minderheiten dieser Länder. Strategisch ist dies durchaus geschickt, denn die kulturelle Teilhabe aller monotheistischen Religionsgemeinschaften gehört wie gesehen zur DNA der 18 Gemeint sind nicht die einheimischen Christen, sondern die Zuwanderungsbewegungen aufgrund der nach dem griechisch-türkischen Krieg von 1921/22 einsetzenden Vertreibungen und Umsiedelungen der christlichen Minderheiten in der Westtürkei sowie der türkischen Minderheiten in Griechenland und Bulgarien. 19 Dieser Prozess hat eine längere Vorgeschichte seit den 1960er Jahren, doch beginnt die hier beschriebene narrative Konkurrenz erst nach dem tödlichen Attentat auf den ägyptischen Präsidenten Anwar as-Sadat (1981) und nach der blutigen Niederschlagung des Aufstands der syrischen Muslim-Brüder in der Stadt Hama (1982) für die arabischen Mehrheitsgesellschaften relevant zu werden. 20 Van der Velden, Frank (2020): Zwei intersektionale Narrative zu Religion und Migration, in: Kulacatan, Meltem / Behr, Harry H. (Hg.): Migration, Religion, Gender und Bildung: Beiträge zu einem erweiterten Verständnis von Intersektionalität (Kultur und soziale Praxis), transcript-Verlag, S. 285–305.
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Einleitung
modernen arabischen Nationalstaaten. Dem entgegen setzen ›islamistische‹ Extremisten die ideologische und weitgehend unhistorische Geschichtssicht einer absoluten Muslim Supremacy, die sie aus der Lebenszeit des Propheten Muhammad und der ersten vier ›rechtgeleiteten‹ Kalifen ableiten wollen. Die oben erwähnten Verbindungen und Kontinuitäten des frühen Islam zu den Nachbarkulturen der Spätantike werden dabei durch eine absolute Bruchlinie ersetzt. Diese Verschwurbelung der historischen Fakten des 7. Jahrhunderts21 stellt byzantinisches Kaisertum und islamisches Kalifat sachlich unrichtig als unvereinbare Herrschaftsmodelle dar, die den angeblichen Antagonismus zwischen modernen westlichen und islamisch geprägten Gesellschaften präfigurierten. Eine wichtige Grenzmarke in diesem innerislamischen Clash of Civilization Narratives war im September 2014 die theologische Stellungnahme von 126 sunnitischen Gelehrten gegen Abu Bakr Al-Baghdadi, den selbsternannten Kalifen des so genannten ›Islamischen Staats‹ (IS). Hier wurde von maßgeblichen islamischen Autoritäten das zentrale Kalifats-Narrativ des IS theologisch und historisch dekonstruiert. Als alternatives Narrativ im arabischen chronotope erzählt heute die auf den Propheten Muhammad zurückgeführte »Charta von Medina« in wichtigen gesellschaftspolitischen Dokumenten von einer sachgemäßen kulturellen und gesellschaftlichen Teilhabe der religiösen Minderheiten. In der »Marrakesch-Deklaration« von 2016 und in der »Al-Azhar Declaration on Citizenship and Coexistence« aus dem Jahr 2017 läuft dies auf die Forderung religiös begründeter freiheitlicher Bürgerrechte in allen islamisch dominierten Staaten hinaus. Auch dieses Narrativ wird in der Arbeitshilfe ausführlich und kritisch behandelt.
Interreligiöse Alltagsroutinen als ›Gutmenschentum‹? Was folgt aus den Narrativen des arabischen chronotope und aus der andauernden Auseinandersetzung mit dem extremistischen Clash of Civilization Narratives für das alltägliche Zusammenleben? Wie nehmen sich Menschen in den untersuchten arabischen Nationalstaaten in Bezug auf ihre religiöse Diversität gegenseitig wahr, wie gehen sie miteinander um? Haben sie Routinen für ein wertschätzendes nachbarschaftliches Miteinander oder für eine kulturelle gesellschaftliche Teilhabe ausgebildet? Wie fließt dieses Miteinander dann wieder in die gesellschaftlichen und individuellen Selbsterzählungen, also in die Narrative ein? Diese Fragen werden in einem eigenen Kapitel aufgrund der Ergeb21 Siehe dagegen Höfert, Almut (2015): Kaisertum und Kalifat. Der imperiale Monotheismus im Früh- und Hochmittelalter, Campus-Verlag, Frankfurt am Main, 645 S.
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Sieben Narrative und ihre Didaktisierung
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nisse von leitfadengestützten Interviews behandelt, die ich mit syrischen Geflüchteten zwischen November 2015 und November 2016 in der Region Wiesbaden in arabischer Sprache geführt habe. Aber kann sich unter den Bedingungen solcher Interviews mehr abbilden als ein vorgebliches ›Gutmenschentum‹, das sich stets aus der Rolle des toleranten Nachbars oder Freundes erzählt? Immerhin konnten keine extremistischen Täter interviewt werden und alle Interviewpartner bedauerten, dass die religiöse Diversität ihrer Herkunftsländer in den aktuellen Krisenlandschaften akut bedroht wird. Doch ergaben sich dort, wo ihre Selbsterzählungen vom gewohnten plotting der Narrative des chronotope abwichen, wichtige Anhaltspunkte, um zwischen authentischen und sozial erwünschten Aussagen unterscheiden zu können. Und dies scheint mit Blick auf die pädagogische Begleitung und Gestaltung der Begegnungen zugewanderter Menschen untereinander, aber auch mit der deutschen Mehrheitsgesellschaft in Kitas, Schulen, Betrieben, in Studium oder Sportverein nicht ganz unterheblich zu sein.
Sieben Narrative und ihre Didaktisierung Im weiteren Verlauf dieser Arbeitshilfe werden zuerst fünf Narrative der ›Beheimatung in religiöser Vielfalt‹ dargestellt, welche aus der Sicht des arabischen chronotope erzählen. Das Narrativ der ¯ıd wahda (einige Hand) macht den chro˙ notope selber zum Gegenstand seiner Erzählung, entlang der für den ägyptischen Nationalstaat ikonischen Jahreszahlen 1919, 1952 und 2011. Zwei Narrative – die ›erste Hidschra der Muslime nach Äthiopien‹ und die ›Charta von Medina‹ – arbeiten mit einer historischen Rückprojektion in die Entstehungszeit des Islam. Die beiden Narrative des bila¯d al-Andalus (die Landschaften Andalusiens) und alhubbu dı¯nı¯ (die Liebe ist meine Religion) projizieren in die goldene Zeit des ›is˙ lamischen Mittelalters‹ zurück. Das sechste Narrativ stellt dem ›schönen Schein‹ bewusst ein traditionelles Verfolgungsnarrativ der christlichen Minderheit entgegen, damit in der Betrachtungsweise dieser Arbeitshilfe kein blinder Fleck entsteht. Dieses Narrativ ist bis heute über eine Erinnerungsstätte in Kairo für die kollektive Selbsterzählung der einheimischen koptischen Christen wichtig und arbeitet ebenfalls mit einer historischen Rückprojektion in das (in diesem Fall nicht so goldene) ›islamische Mittelalter‹. Das siebte Narrativ der ›Saints of Colour‹ nimmt als Kontrastfolie die deutsche Migrationsgesellschaft in den Blick und erzählt vom unterschiedlichen Umgang mit der ursprünglichen kulturellen Diversität des Christentums in Deutschland. Wer weiß heute noch, dass das Christentum in Deutschland in seinen Anfängen in römischer Zeit nordafrikanisch und Schwarz war? Es waren nubische Soldaten, die als Angehörige der römischen Legionen im 4. Jahrhundert den Limes an
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Einleitung
Rhein, Main und Donau bewachten und die als erste ihr koptisches Christentum zu uns brachten. Ihre Reliquien liegen bis heute in unseren großen Kirchen wie dem Magdeburger Dom, dem Bonner Münster, dem Xantener Dom, der romanischen St. Gereon-Kirche in Köln oder dem Verenamünster im schweizerischen Bad Zurzach. Noch die ottonische Geschichtsschreibung des 11. Jahrhunderts baut den Hl. Mauritius, einen Nubier, der im 3./4. Jahrhundert in der heutigen Schweiz lebte, an einer wichtigen Position unproblematisch in die narrative Identität des mittelalterlichen deutschen Reiches ein. In späteren Zeiten des deutschen imperialen Nationalismus im 19. Jahrhundert wurden solche Erinnerungen regelrecht aberzogen und sollten später unter der NS-Herrschaft durch eine rassifizierte völkische Sicht ersetzt werden. Heute stören afrikanische Heilige aus Deutschland die ›große Erzählung‹ autoritärer nationalradikaler Gruppen (AfD, PEGIDA etc.) von einer weiß gelesenen christlichen Nationalkultur als Abwehrbollwerk gegen die so genannte ›afrikanische Migration‹. Aber auch für die deutsche Mehrheitsgesellschaft bleibt der Blick auf das eigene lokale Christentum weitgehend selbstverständlich »weiß« und die ursprüngliche kulturelle Diversität des Christentums in Deutschland findet bisher kaum Eingang in unsere populären Wissensbestände. Wäre dies aber nicht eine Vorbedingung, um sich hernach mit den Narrativen kultureller und religiöser Diversität aus anderen Ländern und Kulturen zu beschäftigen? Kritische Sichtung der Narrative – sach- und fachbezogen Bei der Darstellung und anschließenden Didaktisierung der Narrative ist ein methodisches Vorgehen notwendig, um den beschriebenen Eigenheiten ihrer kulturellen Kontextualisierung und ihrer Einbettung in Selbst- und Geschichtssichten professionell zu begegnen. Daher wird in einem ersten Schritt jeweils das Narrativ erzählt und in den historischen Kontext der in ihm erzählten Zeit eingeordnet. Dabei müssen im Sinne der Inhaltsdomäne die Fakes and Facts dieser Narrative unterschieden und zugeordnet werden. Ihr Inhalt wird dabei kritisch dekonstruiert, denn nur so lässt sich ihre Botschaft glaubhaft bewahren. Im Sinne der pädagogischen Fachdomäne ist aber auch nach der Erzählzeit zu fragen: Für welchen Zweck und für welches Zielpublikum wurden diese Narrative traditionell erzählt? Wann und wo fanden diese Erzählungen statt und wie wurde das Erzählen organisiert? Welche Formen der (kollektiven) narrativen Identität sollten und sollen durch diese Narrative gestärkt werden? Gab oder gibt es in der Community Diskussionen oder Auseinandersetzungen darüber?
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Sieben Narrative und ihre Didaktisierung
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Didaktisierung Elementarisierung Grundsätzlich geht es bei einer Didaktisierung nicht darum, das Narrativ einfach nachzuerzählen oder nachzuspielen. Entscheidend ist vielmehr die Frage, welchen Lebensweltbezug es zu den eigenen Alltagserfahrungen religiöser Diversität besitzt. Was spricht zugewanderte Menschen noch heute und in unserer deutschen Migrationsgesellschaft so an, dass sie sich und ihre Community über dieses Narrativ erzählen? Welche eigenen Erfahrungen, Ängste und Hoffnungen werden darüber sichtbar? Wenn diese Punkte bestimmt sind, muss weitergefragt werden: Lässt das Narrativ Platz für eine dialogische Behandlung dieser existenziellen Bezüge und Gewissheiten? Zu welchen Bedingungen können ›die anderen‹, die nicht zur Community gehören, in diesen Dialog einsteigen? Und wie können dann gemeinsam anhand des Narrativs alternative soziale Verhaltensweisen für unsere Migrationsgesellschaft erprobt werden? Sind diese Punkte bestimmt, so kann das Narrativ, z. B. durch eine Gestaltungsaufgabe als Gruppenarbeit oder durch zusätzliches Material didaktisiert werden. Methoden und Materialien Jeder Gestaltung eines Narrativs sind daher zusätzliche Materialen, Gestaltungsaufträge, ein Infokasten und weiterführende Literatur beigegeben. Die dazu ausgewählten Methoden und Materialien nehmen wieder einen direkten Bezug zu den Ländern des Nahen Ostens und Nordafrikas. So wird zum Narrativ der ¯ıd wahda (einige Hand) mit Originalmaterial aus der ägyptischen Revolution von ˙ 2011 und zusätzlich mit der traditionellen Performance eines syrischen Geschichtenerzählers gearbeitet. Das Narrativ des bila¯d al-Andalus (die Landschaften Andalusiens) wird über einen kritischen ägyptischen Autorenfilm des Jahres 2012 didaktisiert. Für das Narrativ al-hubbu dı¯nı¯ (die Liebe ist meine ˙ Religion) kommt das bekannte ›Gleichnis vom Elefanten und den Blindgeborenen‹ zum Einsatz, allerdings in der weniger bekannten Auslegung des türkischen Sufi-Lehrers Mevlana Rumi aud dem 13. Jahrhundert. Das Narrativ der ›ersten Hidschra der Muslime nach Äthiopien‹ wird anhand eines Ausschnitts aus dem Film »The Message« des syrischen Regisseurs Moustapha Akkad von 1976 didaktisiert. Dem christlichen Verfolgungsnarrativ wird das 2017 in Sarajevo (Bosnien) entwickelte Projekt »Places of Suffering« zur Seite gestellt.
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Outcome-Orientierung Die ausgewählten didaktischen Beispiele richten sich nach den aktuellen Standards einer lebenswelt- und Outcome-orientierten Pädagogik, die einem kulturell diversen Publikum über repräsentative Methoden- und Materialbeispiele Anknüpfungspunkte geben will. Im Sinne einer modernen Kompetenzorientierung werden die didaktischen Beispiele daraufhin untersucht, welche interreligiös und interkulturell wichtigen Kompetenzen durch sie gefördert werden. Besonders wichtig sind hier die ästhetischen und anamnetischen Kompetenzen, welche die kulturelle und religiöse Vielfaltswahrnehmung stärken und die gemeinsam erlebte Geschichte erinnern. Kommunikative Kompetenzen stärken die Fähigkeit zu einem interreligiösen Begegnungslernen. Die Förderung der Neugier auf die Sicht des anderen und die Befähigung zur Perspektivübernahme gehören weiter zu den Grundlagen eines ambiguitätstoleranten Lernens. Steigt die Ambiguitätstoleranz, so eröffnet sich damit ein größerer Spielraum für die Erprobung alternativer sozialer und kultureller Verhaltensmuster, in dem auch gesellschaftlich relevante Handlungskompetenzen vermittelt und erworben werden können. Trigger-Warnung Nach Mirjam Schambeck22 ist im interreligiösen Lernen besonders auf die Stärkung zweier Kompetenzen zu achten: Die Kompetenz, eigenes und fremdes zu unterscheiden (Diversifikationskompetenz) und die Kompetenz, eigenes und fremdes miteinander in Beziehung zu setzen (Relationskompetenz). Dies weist auf einen letzten wichtigen Punkt: Wo eigenes und fremdes nicht in Beziehung gesetzt werden, herrscht häufig die fundamentalistische Weltsicht, dass ›die Anderen‹ für ›das Eigene‹ schädlich seien – also verhindert man die Begegnung. Wo hingegen eigenes und fremdes unterschiedslos zusammengeworfen werden, entsteht aber auch keine Begegnung, sondern eine Verletzung. Im interkulturellen Lernen ist diese Gefahr einer unlauteren Grenzüberschreitung, bei der mein Eigenes durch eine ›kulturelle Aneignung‹ (cultural appropriation) des anderen unkenntlich zu werden droht, hinlänglich bekannt. Genauso können auch (inter)religiöse Selbsterzählungen die anderen durch Fremdzuschreibungen und stereotype religiöse Markierungen verletzen – häufig ohne es zu wollen oder auch nur zu bemerken. Daher gehört zu jeder Besprechung und Didaktisierung eines Narrativs auch ein Trigger-Alarm, der auf mögliche Vulnerabilitäten hinweist. 22 Schambeck, Mirjam (2013): Interreligiöse Kompetenz. Basiswissen für Studium, Ausbildung und Beruf (UTB-Band 3856), Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 252 S.
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Ergebnisse: Narrative – eine Ressource zwischen Treasure und Trigger
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Ergebnisse: Narrative – eine Ressource zwischen Treasure und Trigger In der Region des Nahen Ostens und Nordafrikas ist seit den 1980er Jahren zwischen der bürgerlichen Mehrheitsgesellschaft und extremistischen Gruppierungen ein Clash of Civilization Narratives um die kulturelle Deutungshoheit des Zusammenlebens in religiöser Vielfalt entbrannt. Dies weist darauf hin, dass diese Gesellschaften auf dem Weg zu einem neuen kultur- und religionspolitischen Paradigma sind, in dem neben internationalen ›islamistischen‹ Netzwerkern und neben Globalisierungstendenzen der religiösen Minderheiten auch die stärker werdenden säkularen Milieus eine erhebliche Rolle spielen dürften.23 Alle Narrative, auch die in dieser Arbeitshilfe dargestellten gesellschaftlichen Selbsterzählungen des arabischen chronotope, müssen historisch kontextualisiert und kritisch dekonstruiert werden. Dadurch werden Anhaltspunkte deutlich, um in Selbsterzählungen zugewanderter Menschen aus dieser Region zwischen individuellen Positionierungen zur religiösen Diversität und sozial erwünschten Aussagen unterscheiden zu können. Individuelle Positionierungen sind regelmäßig dort zu erkennen, wo die Selbsterzählungen vom narrativen plotting des arabischen chronotope abweichen. Dabei darf die authentische Stimme von Opfererzählungen nicht ausgeblendet werden. Somit ist an dieser Stelle das Interview mit einem aus Mosul (Irak) geflüchteten Christen genauso unverzichtbar wie es weiter unten die Darstellung eines christlichen Verfolgungsnarrativs ist. Mit Blick auf die Erzähltheorie von Narrativen ist es entscheidend, den notwendigen Abstand zwischen ›erzählter Zeit‹ und ›erlebter Zeit‹ als eine produktive Spannung für die Erprobung alternativer Rollenmuster und sozialer Verhaltensweisen aufrecht zu erhalten. Im Clash of Civilization Narratives kann am Beispiel der ›ersten Hidschra nach Äthiopien‹ beschrieben werden, wie extremistische Umdeutungen diese Spannung gezielt kollabieren lassen, um dieses Narrativ in eine Verschwörungserzählung zu integrieren. Daraus lässt sich sowohl der Mechanismus des extremistischen Kaperns von Narrativen als auch eine Typologie ambiguitätstoleranter und extremistischer Selbsterzählungen ableiten. Der bis hierhin beschriebene Referenzrahmen zeigt die Bedingungen auf, unter denen Narrative der ›Beheimatung in religiöser Vielfalt‹ aus dem Nahen Osten und Nordafrika zu den narrativen Identitäten der europäischen und der deutschen Migrationsgesellschaft beitragen können. Aber auch ihr gesellschaftlicher Mehrwert kann so beschrieben werden: Als eines der beiden zen23 Blume, Michael (2017): Islam in der Krise. Eine Weltreligion zwischen Radikalisierung und stillem Rückzug. Patmos-Verlag, Ostfildern, 192 S.
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Einleitung
tralen Narrative im arabischen chronotope erzählt das Narrativ des bila¯d alAndalus (die Landschaften Andalusiens) eine moderne interreligiöse Utopie. Das Narrativ der ›Charta von Medina‹ erzählt hingegen von der Aushandlung einer sachgemäßen und fairen Rechtsordnung auf Augenhöhe zwischen religiös diversen Gemeinschaften. Das Narrativ der ¯ıd wahda (einige Hand) feiert die ˙ gemeinsame politische Aktion und die gegenseitige empathische Wahrnehmung religiös diverser Gruppen, während das Narrativ der ›ersten Hidschra nach Äthiopien‹ die Bedeutung der Erringung einer gemeinsamen Sprache für das religiös Trennende hervorhebt. Das Narrativ al-hubbu dı¯nı¯ (die Liebe ist meine ˙ Religion) stärkt die Vielfaltswahrnehmung und lehrt, die bleibende Unverfügbarkeit ›des Anderen‹ mit dem Herzen zu sehen, ein wichtiges typologisches Merkmal ambiguitätsoffener Narrative. Das christliche Verfolgungsnarrativ lehrt, authentische Opferstimmen zu hören und zu ertragen. Dabei werden Wege gemeinsamen Trauerns gesucht, ohne gegeneinander übergriffig zu werden oder (un)beteiligte Dritte zu diskriminieren. Alle diese Narrative entstammen dem kulturellen Fundus und der traditionellen Erzählung der Region des Nahen Ostens und Nordafrikas, doch ist ihre moderne Bedeutung eng mit der Entstehung des arabischen chronotope verbunden und wurde gleichzeitig durch die westlichen Islam- und Orientwissenschaften mit Europa relationiert. Am Beispiel des Narrativs des bila¯d al-Andalus (die Landschaften Andalusiens) ist die moderne Rezeptionsgeschichte seit dem Ende des 19. Jahrhunderts so zwischen ›Orient‹ und ›Okzident‹ verwoben, dass sie sowohl dorthin als auch hierhin gehört. Es ist also nicht abwegig, in diesen gesellschaftlichen Selbsterzählungen einen Beitrag zur narrativen Identität der deutschen Migrationsgesellschaft zu suchen und dessen Bedingungen zu bestimmen. Wichtig werden die hier beschriebenen Narrative der ›Beheimatung in religiöser Vielfalt‹ nicht zuletzt als notwendige Alternative zur identitären Weltsicht extremistischer Narrative. Dies gilt im Clash of Civilization Narratives nicht nur für die Auseinandersetzung mit so genannten ›islamistischen‹ oder dschihadistischen Gruppierungen. Häufig stimmen die Weltsichten antagonistischer Extremisten überein, so dass auch die Narrative autoritärer nationalradikaler Gruppen das gleiche Strickmuster besitzen und ebenfalls einen angeblich schicksalhaften Abwehrkampf gegen eine elitäre Weltverschwörung erzählen.24 Nur werden die Rollen anders vergeben, so dass hier die bedrohte ›deutsche Volksgemeinschaft‹ oder das aufgeklärte ›christliche Europa‹ angeblich in einem kulturellen Abwehrkampf gegen den ›archaischen und christenfeindlichen islamischen Orient‹ und gegen böswillige internationale Wirtschafts- und Finanz24 Ebner, Julia (2018): Wut. Was Islamisten und Rechtsextreme mit uns machen, WBG, Darmstadt, 336 S.
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Ergebnisse: Narrative – eine Ressource zwischen Treasure und Trigger
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eliten stehen, die eine ›Umvolkung‹ Deutschlands und Europas beabsichtigen. Ebenso sind ein latenter Antisemitismus und stereotype Fremdzuschreibungen auf beiden Seiten zu beobachten. Die Narrative der ›Beheimatung in religiöser Vielfalt‹ aus den Ländern des Nahen Ostens und Nordafrikas durchbrechen auch diese stereotypen Fremdzuschreibungen, die von autoritären Nationalradikalen vorgenommen werden. Genauso stereotyp sind im Übrigen die Eigenzuschreibungen von AfD, PEGIDA, Identitärer Bewegung und Co., die deutsche Identität als ausschließlich »weiß« lesen und dabei die ursprüngliche kulturelle Diversität des hiesigen Christentums ausblenden.25 Das abschließende Narrativ der »Saints of Colour« weist auf diesen weiteren blinden Fleck in der kulturellen Debatte der deutschen Migrationsgesellschaft hin. Damit eröffnet sich der für die Beschäftigung mit den Narrativen ›der Anderen‹ notwendige alternative Blick auf ›das Eigene‹.
25 Van der Velden, Frank (2021a): »Saints of Color«. Für eine neue Wahrnehmung der ersten Christ*innen in Deutschland, in: KatBl 3/2021, S. 223–227 und 232–236.
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Teil I – Das geschichtliche und gesellschaftliche Umfeld
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Der chronotope der arabischen Nationalstaaten
Eine präzedenzlose Phase der arabischen Moderne Die Zeit der Nationenwerdung, die in etwa die Jahre von 1918 bis 1967 umfasst, ist in der arabischen Welt als eine präzedenzlose Phase wahrgenommen und beschrieben worden.26 Mit der Auflösung des osmanischen Reiches schien etwas völlig Neues zu beginnen, das die 400jährge Hinterhofexistenz seiner arabischen Provinzen beendete. Die Hohe Pforte hatte über Jahrhunderte ihr politisches Augenmerk nach Europa ausgerichtet, und dabei nicht nur Eroberungskriege auf dem Balkan und bis vor Wien geführt, sondern auch regelmäßig mit europäischen Mächten wie Frankreich und England auf Augenhöhe verhandelt. Am Hofe wurde osmanisch gesprochen, Kunst und Kultur waren daher eher persisch beeinflusst. Arabisch wurde auf seine Bedeutung als Sprache des Koran und der Theologie der ersten islamischen Jahrhunderte limitiert, verlor aber seinen Rang als erste Sprache der Literatur und der Wissenschaften. Während die religiösen Loyalitäten der arabischen Muslime gegenüber der Hohen Pforte bis zur Auflösung des osmanischen Reiches weiterbestanden, verloren die arabischen Provinzen so doch zunehmend ihre gesellschaftliche und politische Teilhabe. Wenn man ein faires Geschichtsbild der osmanischen Phase sucht, so muss aber auch erwähnt werden, dass bereits Mitte des 19. Jahrhunderts im osmanischen Reich mit weitreichenden Reformen (tanz¯ıma¯t) der Anschluss an die ˙ weltweite ökonomische Entwicklung und an die westlichen Bildungssysteme gesucht wurde. Diesen Weg nahmen auch die syrischen und ägyptischen Provinzen des Reiches in zunehmender Selbständigkeit. Ägypten hatte sich bereits zur Mitte des 19. Jahrhunderts unter Ibrahim Pascha und dem späteren Khediven 26 Im Rahmen dieser Arbeitshilfe kann es nur eine sehr geraffte Darstellung der historischen Entwicklungen geben. Zur Situation der Christen in der Geschichte islamisch dominierter Herrschaftsgebiete kann auf die übergreifenden Studien von Robert B. Betts (1978) und Martin Tamcke (2008) verwiesen werden. Für einen lesbaren Überblick über die Zeitumstände ab dem Niedergang des osmanischen Reiches können die entsprechenden Kapitel bei Monika und Udo Tworuschka (2017) empfohlen werden.
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Ismael de facto eine politische Selbständigkeit von der Hohen Pforte erstritten. Auf dem heutigen Gebiet des Libanon und Teilen von Syrien entstand dagegen 1861 eine Selbstverwaltungszone (mutasarrifiyya). ˙ Die bürgerliche Emanzipation der religiösen Minderheiten Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts wurde dabei auch die bürgerliche Emanzipation der religiösen Minderheiten – Juden, Christen, Drusen – vollzogen. Ein Zensus zu Ende des 19. Jahrhunderts gab die Anzahl der Christen in den genannten Gebieten mit 7,33 % an.27 Wie in autokratischen Systemen allgemein üblich, hingen die Einhaltung der Rechtsordnung und die Gewährung gesellschaftlicher Teilhabe jedoch an der Privilegwirtschaft der lokalen Autoritäten. Bis zum 19. Jahrhundert wurden den einzelnen christlichen Kirchen im osmanischen Reich durch die Hohe Pforte daher europäische Schutzmächte zugeordnet – wohl weniger aus Interesse an Minderheitenrechten, sondern an Wirtschaft und Handel mit Europa. In der Regel war Russland für die orthodoxen Konfessionen zuständig, die Habsburger Monarchie für die mit Rom unierten Melkiten, Frankreich für die römischen Katholiken, Großbritannien und später Preußen für die Kirchen der Reformation. Durch ihre Kontakte zu den europäischen Handelsdelegationen in Pera (Istanbul) oder Aleppo, sowie durch eigenen Warenverkehr mit Europa war die Bildungsschicht der religiösen Minderheiten wirtschaftlich häufig gut gestellt, während ihr größerer Teil eine bäuerliche oder handwerkliche Existenz pflegte. Zusammenhängende christliche Siedlungsgebiete finden sich auch in der späteren Phase des osmanischen Reiches nicht nur in den Balkanprovinzen und auf den Mittelmeerinseln. Griechisch-orthodoxe Christen bestimmten das Bild in der Westtürkei mit dem Zentrum Smyrna (Izmir), armenische Christen siedelten im anatolischen Kilikien (in der heutigen Provinz Adana), aramäische Christen verschiedener Konfession siedelten im Grenzgebiet der heutigen Staaten Türkei, Iran, Irak und Syrien mit lokalen Zentren in Urfa, Edessa oder im Tur Abdin. Maronitische Christen und andere Konfessionen siedelten im Libanonund Antilibanongebirge; das Nildelta und Oberägypten sind bis heute das angestammte Siedlungsgebiet der koptischen Christen Ägyptens. Unter dem Strich ergibt sich so die Situation einer nicht einfachen, aber durchaus einflussreichen Nischenexistenz der religiösen Minderheiten.
27 Zu den statistischen Angaben vgl. Robert B. Betts (1978) 58–64. Nach diesen, später nie wieder evaluierten Zahlen, wurde die gesellschaftliche Teilhabe der Christen im Proporz bis weit ins 20. Jahrhundert festgeschrieben.
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Eine präzedenzlose Phase der arabischen Moderne
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Zeiten der Krise und des Zusammenbruchs (–1918) Die Krisen um den Zusammenbruch der Rechtsordnung des osmanischen Reiches bedeuteten auch die Auflösung dieses gewohnten Rahmens des Zusammenlebens. Krisenhaft wurde ebenfalls die Beziehung der arabischen Provinzen zum osmanischen Reich unter der Herrschaft der Jungtürken, speziell während des Ersten Weltkriegs. Cemal Pascha, der Gouverneur der syrischen Provinzen, unterdrückte die arabische Intelligentia und die von ihr propagierte arabische Einigungsbewegung brutal. Er befürchtete, dass diese Bewegung den britischen Lockangeboten erliegen würde, den haschemitischen Herrscher von Mekka und Medina, Sherif Hussein Ibn Ali, als König über ein eigenständiges arabisches Reich zu installieren. In dieses Szenario fügen sich die bekannten Genozide an armenischen und syrisch-aramäischen Christen zwischen 1905 und 1917 ein, die im Jahr 2016 den deutschen Bundestag zu einer Resolution veranlassten. Dahinter steht jedoch eine wesentlich größere Zwangsmigration von 1,5 Millionen Menschen aus Kleinasien – Juden, Christen und Muslime – die in den politischen Wirren zwischen 1860 und etwa 1930 in der Region eine neue Heimat finden mussten, weil sie dem osmanischen Reich und dem entstehenden türkischen Nationalstaat als politisch unzuverlässig galten. Nach 1918 siedelten sich in der mutasarrifiyya auf dem Gebiet des heutigen ˙ Syrien und Libanon, die als Ergebnis des Sykes-Piquet-Abkommens unter französischem Protektorat stand, viele vertriebene Christen an. Im Zuge dieser Entwicklung vervielfachte sich der christliche Bevölkerungsanteil von Aleppo kurzzeitig auf bis zu 51 %, und die von Frankreich gesteuerte Zuwanderung christlicher Flüchtling in den späteren Libanon sorgte auch dort mittelfristig für eine christliche Bevölkerungsmehrheit.
Versuche einer arabischen Staatengründung (1919–) Direkt nach dem Ersten Weltkrieg wurden aus den arabischen Provinzen mit Nachdruck zwei Projekte einer staatlichen Unabhängigkeit der Region betrieben. So brach eine ägyptische Delegation (wafd) unter Saad Zaghloul auf, um auf der Pariser Konferenz der Siegermächte des Ersten Weltkrieges im Jahr 1919 für die eigene nationale Selbständigkeit einzufordern. Die Briten wussten sowohl die pünktliche Ankunft dieser Delegation als auch die Sache selber zu verhindern. Das zweite Projekt war die erste freie arabische Staatsbildung in Damaskus im März 1920 unter Faisal (Ibn Hussein). Der syrische Nationalkongress rief ihn zum König aus, weitere Provinzen aus dem Gebiet des heutigen Irak und Jordanien schlossen sich an, doch scheiterte das Projekt nach vier Monaten an einer militärischen Intervention Frankreichs in der Schlacht von Maysalun. Beide
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Projekte, und das ist für unsere Betrachtung wichtig, wurden gleichmäßig von Muslimen, Christen und Juden der jeweiligen Provinzen betrieben. Faisals erstes Kabinett in Damaskus bestand gar zur Hälfte aus Muslimen und zur Hälfte aus Christen. Die politische Idee eines gemeinsamen arabischen Staates ließ sich am Ende des Ersten Weltkriegs also nicht realisieren. Bis Ende der 1930er Jahre bildeten sich stattdessen die Grenzen der bis heute bestehenden Nationalstaaten des Nahen Ostens heraus, auch wenn die politischen Formen zwischen ›Mandatsgebieten‹ – Syrien und Libanon auf französischer Seite, Palästina und Transjordanien auf britischer Seite – und nominell unabhängigen Staaten – Irak 1930 und Ägypten 1936 – noch längere Jahre vielfältig blieben. Anstelle eines einzigen Nationalstaats kam es so zu unterschiedlichen arabischen Nationalstaaten.
Arabische Nationenwerdung als religionsübergreifendes Projekt Die einigende kultuspolitische Idee der ersten beiden Projekte einer modernen arabischen Staatsgründung hingegen wurde von vielen der neu entstehenden arabischen Nationalstaaten in Nordafrika und im Nahen Orient übernommen. Syrien, Irak, Libanon, Jordanien, Ägypten und die Staaten Nordafrikas gaben sich in der Folge ein Verfassungs- und Strafrecht nach modernen europäischen Vorbildern28 und beschränkten die islamische Rechtsordnung (Scharia) weitgehend auf das Familien- und Erbrecht des muslimischen Bevölkerungsanteils. Die entsprechenden Regelungen für den christlichen oder jüdischen Bevölkerungsanteil bestimmten eigene Ordnungen. Den vertriebenen und geflüchteten Angehörigen der religiösen Minderheiten boten die entstehenden arabischen Nationalstaaten somit den rechtlichen Rahmen einer neuen gesellschaftlichen Teilhabe. Speziell Ägypten nahm viele dieser Menschen auf,29 und sowohl die ägyptische Unabhängigkeitsbewegung ab 1919 als auch die spätere Revolution von 1952 wurden maßgeblich von christlichen und jüdischen Intellektuellen der 28 Mathias Rohe (2016) 258.259.260. 29 Freiherr von Fircks (1896, S. 82–85) zählt bereits in seiner Erhebung »Ägypten 1894« – also noch vor den großen Wanderungsbewegungen – 8.000 Melkiten, 5.000 Maroniten, 2.000 syrisch-katholische Christen, 400 Armenier und eine ungenannte größere Zahl griechischorthodoxer Christen aus Kleinasien. Da Ägypten neben der Region des späteren Libanon und Syrien ab 1905 zu den wichtigsten Aufnahmestaaten der christlichen und jüdischen Vertriebenen des osmanischen Reiches gehörte, wuchs allein der ausländische christliche Bevölkerungsanteil in den Großstädten Kairo und Alexandrien bis zum Höhepunkt im Jahr 1940 auf 16–18 %. Diese Zahlen sind ohne Berücksichtigung der ägyptischen (koptischen) Christen, die nach dem Zensus von 1882 ca. 7 % der Bevölkerung Ägyptens bildeten (Robert B. Betts [1975] 59). Ihre angestammten Siedlungsgebiete lagen im Delta und am Oberlauf des Nils, für Kairo dürfte die Zahl in dieser Zeit geringer einzuschätzen sein.
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urbanen Milieus mitbestimmt.30 Das gleiche lässt sich in der Folge des SykesPiquet-Abkommens von 1916 für die spätere Entwicklung der Nationalstaaten Syrien, Irak und Libanon beschreiben. Auch zum Verständnis der bis in die 1970er Jahre auftauchenden panarabischen politischen Projekte ist es wichtig, dass sie eine die Religionen verbindende kulturelle ›arabische Identität‹ voraussetzten.
Historical Imagination: Moderne arabische Geschichtsschreibung Spenglers Kultur-Morphologie im Niemandsland Für die Entstehung und das Verständnis der Narrative, die im zweiten Teil dieser Arbeitshilfe beschrieben werden, ist die Frage wesentlich, von welcher Geschichtswahrnehmung der modernen arabischen Nationenwerdung sie erzählen. Hayden White31, der solche Fragen am Beispiel der Geschichtsschreibung Europas im 19. Jahrhundert erforschte, ging davon aus, dass die narrative Deutung der erlebten Zeit stets als eine historical imagination beschrieben werden müsse, welche die eigene erlebte Zeit durch emplotment in einen größeren weltgeschichtlichen Rahmen einordne. Auch die arabische Geschichtsschreibung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelte eine eigene historical imagination und orientierte sich dabei an der Idee eines arabischen ›Kulturkreises‹32, wie sie von europäischen Historikern Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt worden war. An dieser Stelle ist zuerst Oswald Spengler zu nennen, dessen Buch »Der Untergang des Abendlandes« zu Ende des Ersten Weltkriegs erschienen war, aber bereits 1926 auf Englisch übersetzt wurde.33 Spengler hatte unter lediglich acht von ihm rekonstruierten ›Hochkulturen‹ weltweit auch eine ›arabische‹ gezählt, zu der er die islamische, aber auch die christlich-orientalischen und die byzantinischen Religionen rechnete. Während er die Dekadenz und den Untergang dieses religionsübergreifenden arabischen ›Kulturkreises‹ in der Zeit des osmanischen Reichs beschrieb, erschien ihm zu Ende des Ersten Weltkriegs auch der eigene europäische ›Kulturkreis‹ akut von ›Dekadenz‹ und Untergang bedroht. Spengler betrachtete eine ›Hochkultur‹ als identitär beschreibbare Entität, die kulturelle Diversität als etwas fremdes und bedrohliches wahrnehmen und ab30 Monika und Udo Tworuschka (2017) 146f. 31 Hier ist insbesondere sein Hauptwerk »Metahistory« aus dem Jahr 1973 zu nennen (Hayden White 2014). 32 Eingeführt wurde dieser Begriff vom deutschen Historiker Leo Frobenius in einer Publikation aus dem Jahr 1898. 33 Oswald Spengler (1926).
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wehren muss. ›Dekadenz‹ bedeutet in diesem Kontext die Abweichung von dieser als ursprünglich gedachten kulturellen Homogenität, zum Beispiel im Verlauf von sekundär hinzutretenden Migrationsbewegungen. Dieser identitäre Kulturbegriff, der uns heute massiv problematisch erscheint, trug Elemente der »Rassen«-Lehre des 19. Jahrhunderts, stereotype Wahrnehmungen von Wesenseigenschaften und Verhaltensformen und insbesondere die Vorstellung einer einheitlichen Bildungssprache und Literatur zu einer essentialistischen Kultur-Morphologie zusammen.
George Habib Antonius: ›arabisation‹ statt ›islamisation‹ Spenglers Theorie wurde vielerorts für das eigene Geschichtsverständnis der Nachfolgestaaten des osmanischen Reiches bedeutsam.34 Auch einer der ersten modernen arabischen Nationalhistoriker, der libanesische Christ George Habib Antonius, übernahm 1938 Spenglers Idee eines religionsübergreifenden arabischen Kulturkreises weitgehend. Anders als europäische Historiker seiner Zeit hielt er die angenommene ›Dekadenz‹ des arabischen Kulturkreises aber für umkehrbar und entwickelte die historical imagination einer seit den osmanischen Eroberungen der Jahre 1516/17 kolonial unterdrückten ›arabischen Nation‹. Diese schlafe seit vier Jahrhunderten und erwache nun neu. Der Titel seines Buches Arab Awakening ist daher programmatisch und beschreibt eine präzedenzlose Neuformung der arabischen Geschichte unter den Bedingungen der Moderne. Wie aber definierte George Habib Antonius – angesichts der vielen entstehenden arabischen Nationalstaaten – die ursprüngliche kulturelle Homogenität einer arabischen Nation, und was bedeutete für ihn ›arabisch‹? Hier griff er wieder weitgehend auf Spenglers identitäre Kultur-Morphologie Kulturbegriff zurück: »It gradually came to mean a citizen of this extensive Arab world – not any inhabitant of it, but that great majority whose racial descent, even when it was not of pure Arab lineage, had become submerged in the tide of arabisation; whose manners and traditions had been shaped in an Arab mould; and, most decisive of all, whose mother tongue is Arabic. The term applies to Christians as well as to Moslems, and to the off-shoots of each of those creeds, the criterion being not islamisation, but the degree of arabisation.«35
34 So hat Davor Beganovic (2011, S. 204–207) darauf hingewiesen, welche problematische Rolle eine frühe serbokroatische Übersetzung von Spenglers Buch aus den Jahren 1936–1937 für die Ausformung der nationalistischen serbischen Geschichtssicht besessen hat. 35 George H. Antonius (1938) 18.
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Unter dem Motto »arabisation statt islamisation« wurden so neue Markierungen und Grenzen zwischen Menschen gezogen, die dem eigenen Kulturkreis ›zugehörig‹ oder ›fremd‹ seien. Auch wenn diese nicht entlang religiöser Grenzziehungen, sondern entlang von Sprachen, Sitten und »race«-Aspekten verliefen, muss dieses kulturmorphologische Konstrukt doch ebenfalls kritisch dekonstruiert werden.36
Was ist ›arabische‹ Herkunftsidentität? Die nationale arabische Bewegung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde von Intellektuellen wie George Habib Antonius aus den urbanen Milieus von Städten wie Damaskus, Aleppo, Beirut, Bagdad oder Basra, Alexandrien und Kairo getragen. Hier lebten traditionell sehr diverse Milieus zusammen, die in einem gemeinsamen Chauvinismus auf die beduinischen arabischen Stämme herabblickten, denen andererseits das ›reinste‹ arabische Blut zugeschrieben wurde. Jedoch waren die bedeutenden Kulturleistungen der mittelalterlichen arabischen Reiche nicht an die Beduinenzelte, sondern an Städte wie Damaskus, Bagdad oder Kairo gebunden. Daher war in der arabisation eines George Habib Antonius wenig Platz für die mancherorts in Europa zu beobachtende BeduinenRomantik.37 Wohl aus diesem Grund spielte der gleichwohl vorhandene »race«Aspekt bei Antonius nicht die allein entscheidende Rolle und wurde von ihm auf eine recht schwammige Teilhabe an »arabischem Blut« beschränkt. Stattdessen lassen sich seine kulturmorphologischen Grenzziehungen eher im Sinne einer arabischen Herkunftsidentität verstehen. Kulturelle Identität wurde somit in Form einer Entsprechung gefasst. ›Arabisch‹ ist nach dieser Vorstellung, wer solchen Menschen entspricht, die in einer bestimmten früheren Siedlungsphase im arabischen ›Kulturkreis‹ heimisch waren. Die Merkmale der kulturellen Entsprechung, aber damit eben auch die Kriterien für den Ausschluss von kultureller Teilhabe, wurden durch die gemeinsame arabische Sprache, sowie durch arabische »manners and traditions« definiert. Da diese Kategorien für die narrative Identitätsbildung wichtig werden, müssen sie sowohl in Bezug auf ihr
36 Allerdings prägten solche Eigen- und Fremdzuschreibungen auch die Vorstellung vom ›Deutschsein‹ seit dem 19. Jahrhundert und sind noch heute in weiten Teilen der deutschen Mehrheitsgesellschaft verbreitet; zur Kritik daran vgl. Yasemin Shooman (2014). Die kulturmorphologische Begründung einer Herkunftsidentität in der Nachfolge von Oswald Spengler ist besonders im autoritären nationalradikalen Spektrum beliebt, vgl. Felix Dirsch / David Engels (2022). 37 Man denke für die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg an »Die 7 Säulen der Weisheit« von T.E. Lawrence oder aus früherer Zeit an die Orientromane von Karl May.
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einheitsstiftendes Momentum als auch vor der Gefahr eines kulturellen Othering betrachtet werden.
Welche Sprache ist ›arabisch‹? Prägend war das Bewusstsein, über die gemeinsame arabische Sprache an einer Hochkultur zu partizipieren, die unter der 500jährigen osmanischen Kolonialherrschaft an den Rand gedrängt worden war – mit Ausnahme der religiösen Praxis und der theologischen Literatur. Was aber wäre unter einer gemeinsamen arabischen Sprache jenseits der länderspezifischen und recht unterschiedlichen Umgangssprachen zu verstehen? Nur auf den ersten Blick erscheint diese Frage seltsam. Doch vor dem Hintergrund der oben beschriebenen Zurückdrängung als Sprache der Wissenschaft und modernen Literatur im osmanischen Reich fand die bildungssprachliche Vermittlung der arabischen Hochsprache über Jahrhunderte vor allem innerhalb der theologischen Fachwissenschaften statt, während in der Koranschule (kutta¯b) vornehmlich das Memorieren, Rezitieren und Verstehen des Koran und ausgesuchter Traktate gelehrt wurde. Für den bildungssprachlichen Unterricht einer modernen arabischen Hochsprache in allgemeinbildenden Schulen, die ab dem späteren 19. Jahrhundert nach westlichem Vorbild gegründet wurden,38 mussten also sowohl die Philologie als auch die Didaktik aus ihren klassischen Quellen heraus eine moderne wissenschaftliche Ausrichtung erhalten. Dies geschah im internationalen Bezug zur westlichen Orientalistik des 19. Jahrhunderts, die zwar weitgehend an kolonialen Interessen orientiert war, aber trotzdem mit ihrer Wertschätzung der modernen Arabizität das kulturelle Selbstbewusstsein der ganzen Region stärkte. Zahlreiche verschollene Werke der klassischen arabischen Wissenschaftsliteratur, aber auch der islamischen Klassik – etwa der berühmte Korankommentar von al-Tabari – wurden in dieser Zeit ˙ wieder aufgefunden, von europäischen Orientalisten ediert und neu zugänglich gemacht. Die 1866 gegründete American University of Beirut oder die 1908 gegründete Cairo-University wurden alsbald zu wichtigen Zentren dieses Austausches. Auch die ältere arabische Sprachstufe des Koran wurde systematisch erforscht, und der Koran selber wurde 1923 in Ägypten in einer ersten wissenschaftlich orientierten Version, der King-Fouad-Edition, herausgegeben. Christlich-arabische Literatur der klassischen mittelalterlichen Epoche wurde – obwohl vorhanden – nicht gleichermaßen in den Kanon der entstehenden 38 George H. Antonius (1938, S. 35–60 und Kapitel V.7) hält den Einfluss dieser Schulen für entscheidend. Vgl. die Aufstellung für Ägypten aus dem Jahr 1894 bei Freiherr von Fircks (1896, S. 112–123).
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modernen Arabistik integriert. Die sprachliche Dimension einer ›arabischen‹ Herkunftsidentität wurde somit aus einer modernen Philologie und nicht religiös ›islamisch‹ begründet. Doch setzte die moderne arabische Philologie über ihre Referenzwerke aus der islamischen Tradition eine Form der ›Ergriffenheit‹ voraus, die dem islamischen Formenvorrat entstammte. Bis heute sehen viele Bildungskanones im arabischen Sprachunterricht Texte aus Koransuren verpflichtend vor – auch wenn christliche Kinder in der Klasse sind. Das beabsichtigte einheitsstiftende Momentum der arabischen Hochsprache konnte sich allerdings auch in einen Philologismus auswachsen, der andere Sprachen verdrängte und ihre bildungssprachliche Vermittlung diskriminierte. Als Beispiel mag Syrien gelten, wo größere Bevölkerungsanteile muttersprachlich Westarmenisch, Kurmandschi, Sorani, Turkomanisch, Tscherkessisch oder Neuwestaramäisch sprachen oder noch sprechen. In Ägypten konnte erst Mitte der 1990er Jahre in Assuan ein Museum für nubische Kultur eröffnet werden. Der Schulunterricht in anderen Herkunftssprachen findet bis heute in arabischen Ländern kaum statt.39
Was sind arabische »manners and traditions«? Das, was in der modernen Arabizität als »manners and traditions« zu gelten hatte, wurde nicht in Beduinenzelten, sondern in den urbanen Zentren des Kulturlands festgelegt.40 In der Summe handelte es sich dabei um den Spagat, eigene Sitten und Werte zu bewahren, sie aber gleichzeitig an die Kultur der westlichen Moderne heranzuführen. In Ägypten waren kulturelle Leuchtturmprojekte dieser Epoche einerseits der Bau des Suez-Kanals 1869, aber auch die Einrichtung eines Komitees zur Restaurierung der mamelukischen (1250–1517) Großmoscheen in Ägypten, die in der osmanischen Zeit lange Zeit dem Verfall anheimgestellt waren. Das Projekt erstreckte sich über Jahrzehnte und wurde ab dem Ende des 19. Jahrhunderts von christlichen deutschen (Julius Franz Pascha) und jüdischen ungarischen (Max Herz Pascha) Architekten geleitet.41 In seiner Bedeutung ist das Projekt vergleichbar mit dem kaiserlichen Renovierungsprojekt gotischer Dome im wilhelminischen Deutschland, und zeigt auch sonst eine enge Verbindung zu europäischer Wissenschaft und Architektur. Unweit der mittelalterlichen Altstadt von Kairo wurde Ende des 19. Jhs. mit der Anlage einer modernen Innenstadt nach europäischem Vorbild begonnen, die schon 1907, 39 Eine Ausnahme bietet die kurdische Selbstverwaltungszone im Irak nördlich des 38. Breitengrads. 40 Auch Muhammad selber war ja kein Beduine, sondern Bewohner der bedeutenden Handelsstätte Mekka und Jathrib (Medina) gewesen. 41 István Ormos (2009).
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also eher als Berlin, über eine elektrifizierte Straßenbahn zur Verbindung mit dem Villen-Vorort Heliopolis verfügte. Zwischen Alt- und Neustadt lagen im Ezbekiyya-Garten sowohl das Opernhaus, in dem zur Eröffnung des Suez-Kanals die bei Verdi zu diesem Anlass in Auftrag gegebene Oper Aida aufgeführt werden sollte, als auch Kioske, in denen die traditionelle arabische und ägyptische Musik mit westlichen konzertanten Instrumenten gespielt wurde – dort entstand der takht, der Mitte des 20. Jhs. durch berühmte Sänger wie Farid el-Atrash oder Umm Kalthoum weltweit bekannt wurde. Die urbanen Zentren dieser Zeit – nicht nur in Ägypten, sondern auch in Damaskus oder Beirut – atmeten eine säkulare Offenheit42 und eine religiöse Toleranz, die durch die Aufnahme vieler aus Kleinasien vor den Jungtürken geflüchteter Christen und Juden zusätzlich diversifiziert wurde. Die Staatsbürger verstanden sich als Wertegemeinschaft arabischsprachiger Muslime, Christen und Juden, deren paradigmatischer Wahlspruch wechselweise dem syrischen Politiker Sultan al-Atrash und dem Ägypter Saad Zaghloul zugeschreiben wurde: Al-dı¯n li’llah wa’l- watan li’l- g˘amiʿ ˙ (»Die Religion ist für Gott da – das Vaterland ist für alle da!«). In den urbanen Milieus von Bagdad über Damaskus, Beirut und Kairo bzw. Alexandrien bildete sich gleichzeitig ein gebildeter, sozial orientierter und dialogbereiter Reformislam aus. Ausgehend von Theologen wie al-Afghani, Muhammad Abduh und Rashid Reda wurden wesentliche Projekte, wie die unter Muhammad Abduh als Großmufti von Ägypten reformierte islamische Rechtsprechung oder die Öffnung theologischer Zeitschriften, wie al-mana¯r (der Leuchtturm) von Rashid Reda unternommen. Ihre Ideen finden sich anschließend in einer ganzen Generation von islamischen Theologen bis in die 1960er Jahre wieder, unter ihnen der Großscheich der al-Azhar-Universität Mahmoud Shaltout. Selbst Muhhammad al-Ghazzali, ein ägyptischer Intellektueller, der den Muslim-Brüdern nahestand, forderte in seinem Standardwerk »Fanatismus und Toleranz zwischen Christentum und Islam«43 aus einer antikolonialen Perspektive heraus das Ende der langen Geschichte von gegenseitigem Misstrauen und Vorbehalten zwischen Christen und Muslimen in Ägypten und das einige Engagement für die gemeinsame Nation.
Othering in der modernen arabischen Geschichtssicht Das einheitsstiftende Momentum einer modernen arabischen Geschichtssicht kannte jedoch auch eine Gegenbewegung von Fremdzuschreibungen, welche einzelne gesellschaftliche Gruppen aus der vollen kulturellen Teilhabe aus42 Gudrun Krämer (2018). 43 Muhammad al-Ghazza¯lı¯ (ca. 1955). ¯¯ ˙
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Othering in der modernen arabischen Geschichtssicht
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grenzten. Dies galt einerseits gegenüber ethnisch markierten Bevölkerungsgruppen wie den Kurden, deren kulturelles und politisches Selbstbestimmungsrecht bis heute ein schwieriges Thema in Syrien und im Irak ist. Andererseits wurden auch Bevölkerungsgruppen, die unbestreitbar als ›arabisch‹ galten, durch ein kulturalisierendes Othering diskriminiert. In Ägypten war nach dem Amtsantritt von König Fouad I. (1917) eine weitreichende migrationspolitische Entscheidung getroffen worden, welche die aus dem untergehenden osmanischen Reich geflüchteten Christen und Juden in zwei Gruppen teilte. Nur wer vor 1922 eingewandert war, wurde mit vollen Rechten in den entstehenden ägyptischen Nationalstaat integriert. Damit ergab sich eine Trennlinie zwischen einheimischen ägyptischen Muslimen, koptischen Christen, Juden und den bis 1922 naturalisierten Migranten einerseits, und den nach 1922 zugewanderten christlichen und jüdischen Migranten anderseits. Als nach der 1952er Revolution Präsident Gamal Abd el-Naser einen panarabischen Sozialismus einführte, gerieten gleichzeitig die aus dem osmanischen Reich eingewanderten religiösen Minderheiten politisch unter Druck. Arabisch sprechende Christen des byzantinischen Ritus in Ägypten galten nun aufgrund ihrer ausgezeichneten Beziehungen zu Griechenland als Parteigänger europäischer Kapitalisten und wurden als ›griechische Ausländer‹ markiert. Die Gründung des Staates Israel und insbesondere die Suez-Krise von 1956 setzten entsprechend sowohl die aus dem osmanischen Reich zugewanderten als auch die einheimischen ägyptischen Juden unter Druck.44 Gamal Abdel Nasser erließ company laws, die ihr privatwirtschaftlich investiertes Vermögen als ›ausländisches Kapital‹ markierten. Dies führte zu zahlreichen erzwungenen Geschäftsaufgaben und Verstaatlichungen, und letztlich zum Exodus vieler christlicher und jüdischer Einwanderer. In der Folge des Sechs-Tage-Kriegs im Juni 1967 wurden auch die verbliebenen einheimischen jüdischen Gemeinschaften in Syrien, Ägypten, Libanon und Jordanien weitgehend expatriiert. Die bis heute in arabischen Staaten zu beobachtende politische Idealisierung der 1950er und 1960er Jahre verdrängt so nicht nur die ökonomische Misswirtschaft und den Militarismus dieser Zeit. Verdrängt wird dabei auch, dass die neue Idee einer modernen ›arabischen‹ Kultur offensichtlich nicht ohne einen vorgestellten Antagonisten funktionierte, der einerseits als ›kolonialistisch‹ und andererseits als ›zionistisch‹ definiert wurde. Speziell der eigenen jüdischen Bevölkerungsgruppe wurde dabei eine sophisticated otherness45 unterstellt.
44 Siehe hierzu Joel Beinin (1998) 60–89. 45 Lajos Brons analysiert Fremdzuschreibungen im Sinne einer sophisticated otherness, welche den anderen wesenhaft als ›radikal anders‹ oder als ›minderwertig‹ definiert und damit seine grundsätzliche Inkompatibilität behauptet. Weitere Elemente dieser sophisticated otherness sind nicht der Vorwurf abweichender Verhaltensweisen, sondern der Vorwurf der »Unmoral«
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Der chronotope der arabischen Nationalstaaten
Dabei wurden die zugeschriebenen kulturellen und die vorhandenen religiösen Unterschiede essentialisiert. Der Vorwurf richtete sich dabei nicht direkt gegen den jüdischen Glauben oder gegen abweichendes Verhalten aufgrund religiöser Traditionen. Vielmehr wurden die bekannten antisemitischen Stereotypen einer ›weltweiten jüdischen Finanzelite‹, die angeblich nach der Weltherrschaft strebe, von einer sich intensivierenden politischen Propaganda ausgeschlachtet. Verschwörungserzählungen wie die »Protokolle der Weisen vom Zion« behaupteten die angebliche Irrationalität jüdischer Eliten, die sich eben auch in ihrem abweichenden religiösen Verhalten zeige. Nicht zuletzt durch die Übernahme der im europäischen Antisemitismus des 19. Jahrhundert erfundenen Idee einer jüdischen »Rasse« wurde der »race«-Aspekt zu einem stärkeren sozialen Differenzierungs- und Hierarchisierungskriterium als George Habib Antonius es vorhergesehen hatte. Die Idee der sophisticated otherness erklärt dabei plausibel, wie es einerseits gelingen konnte, Judentum und Christentum als ›himmlische Religionen‹ hochzuschätzen46 und andererseits so gut wie alle Juden und bestimmte arabische Christen als ›nicht zugehörig‹ zu markieren und kulturell zu expatriieren. Die verbleibenden religiösen Minderheiten versuchten, sich bis zu einer möglichst gleichberechtigten Teilhabe am Vaterland zu emanzipieren. Dies geschieht bis heute unter Bedingungen, die nur selten die rechtsstaatlichen Standards westlicher Demokratien aufweisen. Verweigerte gesellschaftliche Teilhabe und Rechtsunsicherheit sind dabei an der Tagesordnung. Trotzdem bilden die arabischen Christen und die anderen religiösen Minoritäten gemeinsam mit der muslimischen Bevölkerungsmehrheit das moralische Rückgrat der konservativ ausgerichteten nationalen Wertegemeinschaften. In vielen arabischen Staaten beschränkt sich die korporative Religionsfreiheit bis heute auf die monotheistischen Glaubensrichtungen, und bereits Angehörige der Bahai-Religion oder der Ahmadiyya gehören nicht überall zu den »erlaubten« Religionen. Gleiches gilt vielerorts gegenüber öffentlich gelebten libertinären oder atheistischen Lebensentwürfen, die ausgegrenzt und teilweise kriminalisiert werden. In ihren kulturellen Narrativen erzählen sich die arabischen Nationalstaaten so als Garanten einer gemäßigt religiosierten arabischen Kultur, die einerseits im Konzert mit den islamischen und christlichen religiösen Autoritäten ein ›Zuviel‹ an Säkularität verhindere, die auf der anderen Seite aber auch im steten Abwehrkampf gegen einen international agierenden ›islamistischen‹ Extremismus steht.
und »Irrationalität« aufgrund zugeschriebener Wesenseigenschaften, die notwendig zu diesen Verhaltensweisen führen müssen (Lajos Brons [2015] 70). 46 In der islamischen Theologie gelten diese monotheistischen Religionen gemeinsam als ahl el-kita¯b, als »Familie des Buches« (der Offenbarungsschriften).
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Die narrative Struktur des arabischen chronotope
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Die narrative Struktur des arabischen chronotope Zusammenfassend wird das spekulative Momentum der modernen arabischen Geschichtsschreibung deutlich, die von Bedingungen und Abgrenzungen ausgeht, welche die urbanen arabisch sprechenden Bildungsmilieus Anfang des 20. Jahrhunderts zuallererst herstellten. Dazu gehören die Formung einer modernen arabischen Bildungssprache, aber auch »race«-Aspekte und eine Wertegemeinschaft, die eine gewisse Form der Toleranz gegenüber allen monotheistischen Religionen pflegt. Auf der anderen Seite gewannen kulturalistische Ausgrenzungen gegenüber bestimmten Gruppen von orientalischen Christen und biologistische Vorstellungen eines modernen rassistischen Antisemitismus an Plausibilität und Akzeptanz. Seit den 1980er Jahren wurden zudem religiosierte Kulturalismen einerseits zur Abgrenzung gegenüber der säkularen westlichen Welt, wie andererseits zur Abwehr international agierender ›islamistischer‹ Extremisten entwickelt. Die historical imagination der arabischen Nationalstaaten deutet so die Zeit zwischen 1918 und 1967 als eine präzedenzlose Epoche der eigenen Geschichtsschreibung. Wie Hayden White es an der europäischen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts beschrieb, wurde auch hier die Vergangenheit nicht aus sich selber heraus, sondern »aus der Mitte« der eigenen erlebten Zeit und auf den eigenen, erlebten Raum des arabischen Nahen Ostens gedeutet. Besonders deutlich wird dies an den prägenden Narrativen, die im zweiten Teil dieser Arbeitshilfe beschrieben werden. So kann sich die Rede von der »religiösen Toleranz der arabischen Herrschaft« im Mittelalter zwar auf eine nicht unbedeutende Faktenlage stützen, die in der osmanischen Epoche aber kaum Beachtung fand. Zu der bis heute bedeutsamen ›großen Erzählung‹ wurde das Narrativ erst im frühen 20. Jahrhundert geformt, als es aus der Forschungsarbeit jüdischer europäischer Orientalisten in die moderne Selbsterzählung der ›arabischen‹ Kultur übernommen wurde. Man findet in diesem Narrativ daher bis heute genauso viel Exegese historischer Fakten wie historisierende Rückprojektionen moderner Ideale. Ganz ähnlich steht es um das Narrativ vom Islam als »Religion der Liebe«, das eine relecture sufischer Narrative des 13. Jahrhunderts unter den Bedingungen ihrer modernen Wiederaufnahme im 19./20. Jahrhundert voraussetzt.47 Durch diese rückprojizierenden narrativen Bezugnahmen wurde letztlich die ›arabische‹ Geschichte – durchaus in Kongruenz zur damals aktuellen westlichen Geschichtswissenschaft – neu epochalisiert: In einen ›frühmittelalterlichen‹ Neuansatz durch die Entstehung des Islam, in eine ›klassische‹ Epoche der arabischen islamischen Schulbildungen bis zum Mongoleneinfall (9.–13. Jhs.) 47 Beide Narrative werden im Anschluss behandelt.
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Der chronotope der arabischen Nationalstaaten
und in eine spätere Klassik, welche durch die osmanische Eroberung (1516–1517) über Jahrhunderte in die ›Dekadenz‹ und fast zur Agonie geführt habe. Erst die Rückbesinnung auf dieses ›islamische Mittelalter‹ im Arab Awakening gab der modernen arabischen Kultur ihre kollektive narrative Identität, wobei die klassischen Narrative einer modernen relecture unterworfen wurden, um sie zu einer ›großen Erzählung‹ zu formen. In der neuesten Geschichtswissenschaft steht allerdings gerade diese Epochalisierung in der Kritik. Die aktuelle Forschungslage zum Koran und zum frühen Islam zeigt mehr Kontinuität zur Spätantike als epochalen Neuansatz,48 und selbst der Begriff des ›islamischen Mittelalters‹ wird mit guten Gründen infrage gestellt.49 Somit scheint mir das Urteil von Hayden White, der am Beispiel der europäischen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts von solchen rückprojizierenden Narrativen und Epochalisierungen als einer ideological imagination sprach, auch für die arabische Geschichtsschreibung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zuzutreffen. In der geschilderten Form und in diesem Kontext rede ich im Anschluss an Hayden White von der arabischen Geschichtssicht auf den Zeitraum etwa zwischen 1918 und 1967 als einem arabischen chronotope50.
48 Hier sind besonders die Arbeiten von Angelika Neuwirth (2010) zu nennen, die sie programmatisch unter dem Titel »Der Koran als Text der Spätantike« veröffentlicht hat. 49 Siehe die programmatische Arbeit von Thomas Bauer (2018) »Warum es kein islamisches Mittelalter gibt«. 50 Hayden White (1973).
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Narrative für ein neues Paradigma?
Der extremistische Kampf gegen die Narrative des chronotope Seit den 1980er Jahren verüben in den arabischen Staaten militante extremistische Gruppierungen, die sich selber als ›islamisch‹ bezeichnen, bei ihrem Kampf gegen die präsidialen Herrschaftsstrukturen der einzelnen Länder immer wieder auch gezielte Anschläge auf die christlichen Minderheiten. Die Attentate zielen vor allem darauf ab, das beschriebene kultuspolitische Fundament der arabischen Nationalstaaten anzugreifen. Andererseits tritt bei diesen Gruppen ein ausgesprochener Hass auf religiöse Diversität ans Licht, der sich gegen die religiösen Minderheiten von Christen, Drusen und Juden, aber auch gegen innermuslimische Diversität, z. B. Sunniten, Schiiten oder Alawiten richtet. Dieser Kampf ist nicht zuletzt auch ein Kampf der Narrative um die kulturelle Deutungshoheit im arabischen chronotope. Schon in den 1980er und 1990er Jahren agierten die militanten Flügel der syrischen Muslim-Bruderschaft oder die ägyptische Gamʽa Isla¯mı¯yya dabei international und planten ihre Aktivitäten von Exilorten in Europa und der arabischen Halbinsel. Gruppierungen wie alQaida und der so genannte ›Islamische Staat‹ (IS) sind bereits von ihrem Selbstverständnis her globalisierte Akteure. Ihre Narrative setzen den arabischen Staaten daher die ›große Erzählung‹ einer weltweiten islamisation statt einer nationalstaatlich gebundenen arabisation entgegen. Wenn auch die einzelnen Narrative ›islamistischer‹, salafistischer und dschihadistischer Gruppen divergieren können, so lässt sich doch eine gemeinsame ›große Erzählung‹ rekonstruieren.51 Grundsätzlich wird die islamische Glaubensgemeinschaft der Umma in einem schicksalshaften Abwehrkampf gegen
51 Vor allem die antisemitischen Narrative sowie die Selbsterzählungen autoritärer Gruppen mit einem exklusivistischen islamischen Selbstverständnis sind dabei mittlerweile recht gut dokumentiert. Vgl. David Ranan (2018) 117–160 und Michael Blume (2019a) 33–98; Ruud Koopmans (2020) 138–154; Michael Blume (2017) 93–122; ders. 2019b. Weniger gut dokumentiert sind z. B. die Narrative intrareligiöser Konflikte.
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Narrative für ein neues Paradigma?
böse Mächte gesehen, der den militanten Einsatz des eigenen Lebens erfordert.52 Helden und Märtyrer sind die Bezugsgrößen für die eigenen Kämpfer, während die Präsidenten und die religiösen Würdenträger der arabischen Nationalstaaten dämonisiert werden. Es findet eine historisierende Rückprojektion in angeblich ›goldene Zeiten‹ statt,53 die idealerweise in der Generation der Prophetengefährten lokalisiert wird. Daher spielt zum Beispiel im so genannten ›Islamischen Staat‹ (IS) die Idee einer Wiedererrichtung des Kalifats der ersten vier ›rechtgeleiteten‹ Kalifen eine wichtige Rolle. Der wahre Glaube zeige sich angeblich in einer möglichst wortgetreuen Umsetzung von Vorschriften, die man aus dem 7. Jahrhundert zu rekonstruieren versucht. Aus der langen und reichhaltigen Epoche der islamischen Klassik interessieren vor allem solche Autoren, die in Zeiten apokalyptischer Gefährdungen zu Militanz und Widerstand aufgerufen haben. Dies erklärt die überdimensionierte Vorliebe für die radikalen Fatwas eines Ibn Taymiyya, der sich im späteren 13. Jahrhundert seinen Frust über die Zerstörung Bagdads durch die Mongolen von der Seele schrieb.
Es geht gegen staatliche und religiöse Autoritäten Ein besonderer Angriffspunkt ist die politische Nähe zwischen den politischen Machthabern und den religiösen Autoritäten in den meisten arabischen Nationalstaaten. Diese geht auf eine lange historische Tradition zurück und findet sich bereits in den spätantiken Gesellschaften des persischen Sassanidenreiches und des frühen arabischen Reiches. An der Seite der Präsidenten stehen die religiösen Autoritäten – unter ihnen die Repräsentanten der religiösen Minderheiten – heute immer auch in Gefahr, als politische Partei wahrgenommen zu werden. Von den Herrschenden wird andersherum der Dialog der Religionsgemeinschaften als ein politisches Mittel verstanden, um die nationale Geschlossenheit im gemeinsamen Kampf gegen den religiös begründeten Extremismus zu mobilisieren.54 Speziell nach dem 11. September 2001 wurde den christlichen Minderheiten zudem die Aufgabe zugewiesen, kulturelle Brückenbauer zur westlichen Welt zu sein und dort eine differenziertere Sicht auf den Islam zu vermitteln.55 52 Zum folgenden s. Olivier Roy (2017) 67–104. 53 Zum folgenden s. Raul Ceylan / Michael Kiefer (2013) 41–52. 54 Am deutlichsten hat diese Erwartungshaltung der ägyptische Präsident Hosni Mubarak ausgedrückt, als er die Sitzungsperioden des ägyptischen Parlaments in den Jahren 2003 und 2004 mit dem programmatischen Statement begann: »Wir Ägypter als Muslime und Christen … stehen gemeinsam gegen religiöse Extremisten«. 55 Die Beiruter Professorin Juliette Haddad hat die zahlreichen offiziellen Dialogdokumente dieser Zeit in zwei Bänden ediert, vgl. Juliette Haddad (2005 und 2007).
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Der extremistische Kampf gegen die Narrative des chronotope
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Auch gegenüber den demokratischen Bürgerprotesten der ›Arabellion‹ in den Jahren 2010 bis 2012 war die Haltung aller religiösen Autoritäten von großen Verlustängsten um den gesellschaftlichen Status Quo geprägt. In Ägypten riefen sowohl der koptische Papst Shenouda III. als auch Ahmad al-Tayyeb, der Groß˙ ˙ Scheich der Azhar-Universität, ihre Gläubigen zur Zurückhaltung auf. Auf dem Tahrir-Platz in Kairo waren einfache koptische und muslimische Geistliche präsent, nicht aber das höhere religiöse Establishment. Die obersten religiösen Autoritäten gaben der Revolution erst nach dem Erfolg ihren Segen und ließen damit ihre eigenen jungen Eliten, die auf dem Tahrir-Platz in extremen Situationen von Gefährdung und Infragestellung standen, mit ihren existenziellen Fragen allein.56 Und sie kehrten nach dem Militärputsch im Juli 2013 wieder in die gewohnten Kooperationsbezüge mit dem neuen Präsidenten Abdel Fatah alSisi zurück. Diese Problematik der politischen Nähe lässt sich genauso für die Christen im Irak unter der Herrschaft Saddam Husseins oder in Syrien unter Hafiz al-Assad beschreiben. In Syrien sieht nach wie vor die überwiegende Anzahl der christlichen Kirchenführer und der offiziellen muslimischen Vertreter keine Alternative zur Regierung des Präsidenten Bashar al-Assad. Für die christlichen Kirchen des Orients geht es dabei um eine unangenehme Alternative: Durch die »enge Verbindung von Autoritarismus, politischer Instabilität, terroristischen Bedrohungen und Migrationsdruck«57 in den arabischen Nationalstaaten entsteht eine äußerst labile Situation. Die problematische und teilweise erzwungene mésalliance mit den Diktatoren ermöglicht hier immerhin das Überleben der eigenen Kirchen. Für dschihadistische Milizen oder für den so genannten ›Islamischen Staat‹ (IS) sind die religiösen Minderheiten damit aber immer auch politische Gegner, die einer massiven antichristlichen Propaganda als Parteigänger der Präsidenten und angebliche ›Agenten des Westens‹ ausgesetzt werden. Auch die islamischen religiösen Autoritäten müssen aus gleichen Gründen die politische Feindschaft der islamistischen Extremisten fürchten. Damit verbunden ist die theologische Gegnerschaft. Hier gilt es, den religiös argumentierenden Extremisten die theologische Legitimation zu entziehen – also nachzuweisen, dass sie einen pervertierten und in diesem Sinne falschen Islam repräsentieren. Dafür spielt die theologische Verteidigung des gesellschaftspolitischen Zusammenlebens mit den religiösen Minderheiten im Rahmen des nationalstaatlichen Paradigmas wiederum eine wichtige Rolle – auch im Kampf um die Narrative. So verfasste Muhammad S. Tanta¯wı¯, der Großscheich der Azhar-Universität in ˙ ˙ ˙ 56 In das hier entstandene Vakuum drängten nicht zuletzt islamistische Netzwerker, vgl. Frank van der Velden (2014). 57 Volker Perthes (2017) 7.
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Narrative für ein neues Paradigma?
Ägypten, nach dem 11. September 2001 persönlich ein Buch zum Religionsdialog58 und organisierte mehrere internationale Konferenzen in Kairo zu Fragen der religiösen gesellschaftlichen Toleranz.59
Der Brief der 126 sunnitischen Gelehrten an Abu Bakr Al-Baghdadi Der beschriebene Kampf um die Narrative zwischen dem sunnitischen Mehrheitsislam in den arabischen Nationalstaaten und der Ideologie des so genannten ›Islamischen Staats‹ (IS) lässt sich an einem prominenten Beispiel aufzeigen: Dem Brief von 126 sunnitischen Gelehrten an Abu Bakr Al-Baghdadi, den selbsternannten Kalifen des IS, im September 2014.60 Die Thesen des Briefes greifen als zentralen Punkt der Auseinandersetzung das Kalifats-Narrativ des IS an. Nach dieser Erzählung schulden alle Muslime weltweit dem Kalifen unbedingte Treue und sind der Loyalität gegenüber ihren nationalen Regierungen befreit. These 23 des Briefes betont hingegen, dass Loyalität gegenüber dem eigenen Nationalstaat für Muslime durchaus erlaubt und geboten sei und dass dem IS zur Errichtung eines Kalifats schlichtweg der notwendige weltweite Konsens der Muslime fehle (These 22). Laut These 2 beruht die Forderung des IS nach einem Kalifat zudem auf einem falschen Verständnis von Sure Al-Aʽra¯f, 7:129.61 Damit wird ablehnt, dass der IS sein Kalifats-Narrativ durch eine vereinfachende und verfälschende übergeschichtliche Sichtweise auf Koran, Sunna und Scharia legitimiert.62 Der Brief fordert aus Sicht der sunnitischen Mehrheitsmeinung vielmehr eine innerislamische religiöse Deutungsvielfalt ein (These 4). Speziell wird die Vorstellung dekonstruiert, dass der selbst ernannte Kalif des IS mit dem ›Schwert‹ in der Hand einen in der Tradition Muhammads begründeten Auftrag ausführe.63 58 Muhammad S. Tanta¯wı¯ (2002). ˙ Islamic ˙ ˙ 59 »Tolerance in the Civilization – 16th General Conference of The Supreme Council for Islamic Affairs.« Cairo 2004. 60 Open Letter to Dr. Ibrahim Awwad Al-Badri, alias ›Abu Bakr Al-Baghdadi‹, to the fighters and followers of the self-declared ›Islamic State‹, 19. 09. 2014 (http://lettertobaghdadi.com, letzter Zugriff am 16. 08. 2022). 61 ›He said, »Perhaps your Lord will destroy your enemy and make you successors (yastakhlifakum) in the land, that He may observe how you shall act«.‹ (Al-Aʿraf, 7:129). Succession (istikhlaf) means that they have settled on the land in place of another people. It does not mean that they are the rulers of a particular political system. 62 Mehrfach fordert der Brief dazu eine hermeneutische Auslegung religiöser Texte – auch des Koran – und eine Kontextualisierung religiöser Rechtsvorschriften. Eine historische Hermeneutik sei seit der klassischen Epoche der islamischen Theologie zum Verständnis heiliger Texte und religiöser Weisungen unabdingbar (Thesen 1, 3 und 5). 63 »It is … forbidden to cite a portion of a verse from the Qur’an – or part of a verse – to derive a ruling without looking at everything that the Qur’an and Hadith teach related to that matter.
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Der extremistische Kampf gegen die Narrative des chronotope
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Der arabische Begriff der Umma hat eine doppelte, religionsgemeinschaftliche und zivilgesellschaftliche Bedeutung. Im Kalifats-Narrativ des IS wird der Begriff der Umma so gefasst, dass der islamischen Glaubensgemeinschaft nur solche Muslime im vollen Sinne angehören, die dem Kalifen des IS die Treue geschworen haben. Mainstream-Sunniten, Schiiten oder alternative muslimische Lebensentwürfe gelten als ›nicht zugehörig‹ oder ungläubig. Im Sinne der zivilgesellschaftlichen Umma wird der Begriff durch den IS unter Ausschluss von Juden und Christen, Säkularen, Atheisten und ›Materialisten‹ gefasst, denen eine gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe verweigert wird. These 22 des Briefes der sunnitischen Gelehrten betont hingegen, dass diese beiden Definitionen des IS auf einem falschen Verständnis der Umma beruhen. Innermuslimische Diversität sei grundsätzlich legitim. Die religiösen Minderheiten haben nicht nur ein Existenzrecht in islamisch geprägten Gesellschaften, sondern sie sind vor Konversionszwang und Vertreibung zu schützen (Thesen 10, 11, 13 und 24).64
Die »Charta von Medina« als alternatives Narrativ Im Anschluss an den Brief der 126 sunnitischen Gelehrten wird heute in den arabischen Nationalstaaten ein alternatives Narrativ beworben, das ganz im chronotope der nationalstaatlichen Geschichtssicht verbleibt. Auch dieses Narrativ der »Charta von Medina« arbeitet mit einer historisierenden Rückprojektion in die ›goldene Zeit‹ der ersten Muslime. Der Prophet Mohammed soll selber im Jahr nach der Hidschra mit den jüdischen Stämmen der Stadt Medina diesen Vertrag geschlossen haben. Im Sinne eines code civil begründete diese Vereinbarung die weitgehend gleichberechtigte Teilhabe von jüdischen und muslimischen Gruppen am regionalen Gemeinwesen der Stadt Medina. Dies dient heute manchem arabischen Nationalstaat als Ansporn. So wurde 2016 in der »Marrakesch-Deklaration«65 und 2017 in der »Al-Azhar Declaration on Citizenship Example: Abu Muhammad Al-Adnani said: ›God bless Prophet Muhammad who was sent with the sword as a mercy to all worlds.‹ Now God sent the Prophet Muhammad as a mercy to all worlds: ›We did not send you, except as a mercy to all the worlds.‹ (Al-Anbiya’, 22: 107). However, the phrase, ›sent with the sword‹ is part of a Hadith that is specific to a certain time and place which have since expired« (These 1). 64 Der Brief exemplifiziert dies am Beispiel der Jesiden. Um ihren Schutz theologisch zu begründen, legt These 11 des Briefes fest, es sei obligatorisch (sic!), Jesiden als ahl al-kita¯b (›Schriftbesitzer‹) – und damit als Monotheisten gleichen Ranges mit Christen und Juden – zu definieren. Dies ist insofern bemerkenswert, als es zu dieser Frage in der sunnitischen Theologie keinen abgesicherten Idschmaʿ (Konsens der Gelehrten), sondern eine große und gut begründete Meinungsvielfalt gibt. 65 »Marrakesch-Deklaration«: (Marrakeschdeklaration.pdf (islam.de), letzter Zugriff am 16. 08. 2022).
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Narrative für ein neues Paradigma?
and Coexistence«66 gefordert, mit Bezug auf dieses Narrativ eine religiös begründete Charta für die Teilhabe der religiösen Minderheiten am Vaterland zu formulieren und darin einen verbindlichen Rechtsrahmen für allgemeine Bürgerrechte vorzusehen.67 Die »Charta von Medina« gehört heute zu den grundlegenden Narrativen im arabischen chronotope, die weiter unten in einem eigenen Kapitel dargestellt und kritisch auf ihre gesellschaftlichen Ressourcen und Risiken untersucht werden.
The Clash of Civilization Narratives: Versuch einer Typologisierung Der Kampf zwischen einer extremistischen Geschichtssicht und der Geschichtsschreibung des arabischen chronotope wird also vor allem auch über die Narrative ausgetragen. Einerseits steht dabei ein Kalifats-Narrativ gegen das Narrativ der »Charta von Medina«. Andererseits kann es zu erbitterten Auseinandersetzungen über die Deutehohheit von Narrativen kommen, die von beiden Seiten beansprucht werden. Am Beispiel der ›ersten Hidschra nach Äthiopien‹68 wird in der Arbeitshilfe eine solche Auseinandersetzung dargestellt. Anhand dieses Clash of Civilization Narratives sollen hier aber auch Beobachtungen für eine typologische Unterscheidung extremistischer und ambiguitätsoffener Selbsterzählungen gesammelt werden.
Erlebte Zeit – erzählte Zeit Narrative sind die Skript-books für Dialoge zwischen der ›erzählten Zeit‹ und der ›erlebten Zeit‹ eines Menschen oder eines Kollektivs. Schlüpft ein Mensch in eine Erzählerrolle, so hat er in ihr an beiden Zeiten teil. Damit ›schreibt‹ er automatisch ein vielfältiges Rollenskript, das sich zwischen ihm und den Hörern der Erzählung, aber auch zwischen ihm und seiner Rolle ausspannt – und zu den Rollen, die er im Erzählen den anderen handelnden Personen zuschreibt. Und er
66 »Al-Azhar Declaration on Citizenship and Coexistence«: (Al-Azhar Declaration on Citizen ship and Coexistence, letzter Zugriff am 16. 08. 2022). 67 Ähnliche Argumentationen fanden sich bereits 2007 in: »A Common Word between Us and You«. Brief von 138 islamischen Gelehrten an Papst Benedikt XVI (A Common Word Between Us and You | An Interfaith Initiative, letzter Zugriff am 16. 08. 2022). Da in allen diesen Dokumenten das Problem der negativen Religionsfreiheit aber weiterhin ausgespart wird – genauso wie das Zusammenleben mit nicht anerkannten Konfessionen oder mit säkularen und atheistischen Gruppen – stellt sich für diese Gruppen nach wie vor die Frage der Rechtssicherheit. 68 Vgl. Armina Omerika (2018) und Frank van der Velden (2020).
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The Clash of Civilization Narratives: Versuch einer Typologisierung
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erprobt darin seinen Spielraum für alternative Rollenmuster und soziale Verhaltensweisen. In welcher Beziehung stehen die Narrative zur ›erlebten Zeit‹ einzelner Personen, Gruppen, religiöser Gemeinschaften oder nationalstaatlicher Gesellschaften? Paul Ricoeur69 ging an dieser Frage noch von einem Begriff der ›natürlichen‹ Zeit aus, in welche die erlebte Zeit eines Menschen durch Narrative eingeschrieben wird. Louis Mink70 betonte die fiktionale Konstruktion der Narrative, mit denen Menschen ihre erlebte Zeit post festum deuten: »Stories are not lived but told«. Beide Forscher maßen den Narrativen aber eine hohe Bedeutung bei. Erst indem der Mensch auf Grundlage seiner erlebten Zeit Geschichten erzählt, sich also narrativ deutet, findet er seinen Platz in der von ihm erlebten Zeit und somit in der Geschichte. Es bleibt aber die Frage, ob diese Selbsterzählungen ein Produkt willkürlicher Fantasie sind und jede beliebige Form annehmen können, oder ob sie durch inhärente Muster oder Abläufe reguliert werden. David Carr stellte dem gegenüber grundsätzlich infrage, dass die ›erlebte Zeit‹ einen natürlichen Verlauf haben sollte, der erst nachträglich narrativ gedeutet würde.71 Seiner Meinung nach besteht vielmehr eine Wechselwirkung: Stories »are told in being lived and lived in being told«. Narrative finden sich also nicht erst auf Ebene der Erzählung ›erlebter Zeit‹ durch emplotments (= secondary narratives), sondern bereits die ›erlebte Zeit‹ selber hat eine narrative Struktur (= primary narratives) 72, weil wir Zeit nicht anders als eine Nacheinanderordnung und Priorisierung von Erlebtem und auf uns selber hin wahrnehmen können. Neuere neurophysiologische Untersuchungen scheinen dies zu bestätigen.73 Wenn aber die Narrative nicht einer festen Struktur ›erlebter Zeit‹ aufsitzen, sondern ›erlebte Zeit‹ genauso den Narrativen aufsitzt – weil sie ohne Anordnung und Priorisierung des Erlebten nicht als ›Zeit‹ erfahrbar ist – dann 69 Paul Ricoeur (1988). 70 Louis A. Mink (1987). 71 »The historian does not have to ›reinscribe‹ lived time into natural time by the act of narration, as Ricoeur says; lived time is already there before the historian comes along« (David Carr [2014] 209). 72 »Carr’s model of narrative challenges also White’s claim that narrativization of events is achieved through literary operations of emplotment. Carr neither rules out these operations nor denies their importance, but locates them in second-order narratives where they poetically configure the proto-narrative elements of lived reality. The second-order narrative such as novels, plays or dramas do not merely mimic or copy the first-order narratives, but they creatively re-describe the world of lived experiences and actions and provide us with narrative explanations of this reality. Narrative texts are not departures from the narrative operations in the life-world, but are rather its extension, sublimation and ›continuation by other means‹. Carr’s argument for continuity between narrative and the real world is thus at the same time a call for ›their community of form‹« (Arcadiusz Misztal [2020] 72). 73 Arcadiusz Misztal (2020) 62–64.
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Narrative für ein neues Paradigma?
besteht die folgende Wechselwirkung: Der Mensch handelt in der ›erlebten Zeit‹ anhand von narrativ vermittelten Rollenverständnissen, und andererseits produzieren seine Erzählungen nicht nur seine eigene Sicht auf die von ihm erlebte Zeit, sondern diese Narrative produzieren auch ›erlebte Zeit‹. Diese ist durchaus ›real‹, wenn sie sich auch in einem anderen ›Aggregatzustand‹ als die allgemein akzeptierte Wirklichkeit befindet.74 Wichtig ist an diesem Punkt das Bewusstsein, dass die eigenen individuellen und kollektiven Erzählungen eben nur den Aggregatzustand einer metahistory und nie eine objektiv gültige Weltgeschichte produzieren. Dafür muss in den Narrativen stets eine konstruktive Spannung zwischen der eigenen ›erzählten Zeit‹ und der ›erlebten Zeit‹ bestehen bleiben. Daher ist es selbstverständlich, dass narrative Konstruktionen von Realität von Individuum zu Individuum und von Kollektiv zu Kollektiv unterschiedlich sein können und müssen. Auch kulturelle Diversität spielt in ihren Setzungen und Priorisierungen eine nicht unerhebliche Rolle. ›Die Geschichte‹ ist über ihre narrative Grundstruktur damit auch immer auf einen Aushandlungsprozess zwischen den erzählenden Individuen und Kollektiven angewiesen. Darauf basiert letztlich jede Didaktisierung von Narrativen zur Erprobung alternativer Rollenmuster und sozialer Verhaltensweisen. Es bleibt aber eine gewisse Gefahr, dass in solchen Selbsterzählungen die notwendige konstruktive Spannung kollabiert und die ›erzählte Zeit‹ mit der ›erlebten Zeit‹ identisch gesetzt wird. Die Narrative werden dann nicht mehr als dialektisches Deuten und Konstruieren der ›erlebten Zeit‹, sondern als ein ursprüngliches Erzählmuster der Realität verstanden, dem die Individuen und die Kollektive ›von ihrem Wesen her‹ notwendig zu folgen haben. Über diesen gefährlichen Umschlagpunkt können Narrative leicht in extremistische Verschwörungserzählungen abgleiten. Vergisst der Erzähler, dass er erzählt, und dass seine Narrative letztlich nur eine metahistory repräsentieren, dann kollabiert seine Erzählerrolle. ›Erzählte Zeit‹ und ›erlebte Zeit‹ werden als deckungsgleich wahrgenommen. Es entsteht ein Leben im Narrativ, das sich jeder Infragestellung und jedem Aushandlungsprozess verweigert. In der kulturellen Differenzsemantik wird an diesem Punkt das politische Ausgleichen von Konflikten durch die Mystifizierung kultureller oder religiöser Akteure ersetzt. Vom eigenen ›Deutschsein‹ oder ›Arabischsein‹, vom ›Christsein‹ oder ›Muslimsein‹ wird dann über kulturelle oder ethnische Fremdzuschreibungen, über politisches
74 »Mink’s famous claim that ›stories are not lived but told‹ (Mink 1987, p. 60) overlooks the configurational character of lived reality and the fact that stories ›are told in being lived and lived in being told‹ (Carr 1986b, p. 61). It is not that we first live our lives and only then we share the stories of our actions with others. Narrative is intertwined with the course of our life: it makes sense of our actions and events by configuring them.« (Arcadiusz Misztal [2020] 72).
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The Clash of Civilization Narratives: Versuch einer Typologisierung
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oder religiöses Othering erzählt. Häufig sind dabei die heldische Überhöhung ›des Eigenen‹ und eine dämonische Überhöhung ›der Anderen‹ zu beobachten. Nicht nur bei ›extremistischen‹ Narrativen ist also Vorsicht geboten, denn hier liegt das Risiko-Potenzial aller Narrative, und leider bieten die Echokammern sozialer Netzwerke heute den passenden Theatersaal für solche kollabierten Rollendiskussionen. Deswegen sind immer zuerst eine kritische Sichtung im Sinne einer skrupulösen Unterscheidung von facts und fakes und eine kritische Dekonstruktion ihres Realitätsbezugs vonnöten. Nur so kann auch effektiv verhindert werden, dass extremistische Gruppierungen Narrative entern und umdeuten, um mit ihnen ihre eigenen Verschwörungsmythen zu bebildern.
Die Überschätzung der ›Kultur‹ in extremistischen Narrativen Im voranstehenden Kapitel sind bereits einige Elemente identitärer ›islamistischer‹ Narrative beschrieben worden. Unter dem Motto islamisation statt arabisation wurde und wird in ihnen der schicksalhafte Abwehrkampf einer Glaubensgemeinschaft erzählt, die sich sowohl gegen den säkularen globalisierten Westen als auch gegen die im chronotope beschriebene Geschichtssicht einer nationalstaatlichen arabischen Einheit von Muslimen, Christen und Juden richtet. Extremistische Narrative erzählen vielmehr die Geschichten von Gewalttaten, von Helden und Märtyrern entlang von essentialisierenden Wahrnehmungen der eigenen Religion und Kultur – und anhand von stereotypen Zuschreibungen und festen Feindbildern gegenüber den Kulturen und Religionen ›der Anderen‹. Der Bezug auf eine ›eigene‹ Kultur oder Religion hat im extremistischen Milieu dabei auch die Funktion, dem Assimilierungsdruck der säkularen liberalen Moderne einen ›höheren‹, und damit unverhandelbaren Identifikationsmarker entgegenzusetzen.75 Albrecht Koschorke beschrieb schon in einem Beitrag aus dem Jahr 2011, wie die Narrative extremistischer schiitischer und sunnitischer Gruppen in der Folge des Irak-Kriegs von 2003 durch eine Überschätzung des Kultur- und Religionsbegriffs geprägt waren. Er lehnt diese Überschätzung inhaltlich begründet ab, weist aber auf ihre Gefährlichkeit hin: »Wie die vorangegangene Diskussion zeigt, hat die Behauptung, ein Konflikt sei durch kulturelle oder religiöse Unterschiede verursacht, keinerlei analytischen Wert. Wohl aber hat sie unter Umständen gravierende praktische Folgen. Sie lenkt den Blick von 75 »Sich auf die ›eigene Kultur‹ zu berufen, heißt dann, ein Gegennarrativ gegen die empfundene Hegemonie einer säkularen (oder sich säkular glaubenden), urbanen, traditionsfeindlichen, pervasiven Moderne und den von ihr ausgeübten Assimilierungsdruck aufzurufen« (Albrecht Koschorke [2011] 50).
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Narrative für ein neues Paradigma?
sozialen und politischen Faktoren fort, verfestigt die Unversöhnlichkeit der Akteure und erhöht ihre Einsätze bis zu dem Punkt, an dem sie innerweltlich nicht mehr verrechenbar sind.«76
In diesem Sinne stehen Religion und Kultur häufig in der Gefahr ihrer Überschätzung. Albrecht Koschorke hält es andererseits aber sehr wohl für notwendig, die in kulturellen und religiösen Narrativen häufig aufscheinende Differenzsemantik ernst zu nehmen.77 Genauso wichtig ist die kritische Analyse, in welchen kulturellen Kontext, in welche Geschichtssicht und in welches pädagogische Setting die einzelnen Narrative traditionell eingepasst sind. Es ist dabei immer in Erinnerung zu halten, dass auch Narrative, die im arabischen chronotope erzählen, Teil einer historical imagination sind. In weitaus bedenklicherem Umfang gilt dies für die kulturalistischen Überhöhungen extremistischer Narrative. Einen Beitrag zur narrativen Identität unserer deutschen Migrationsgesellschaft können die in der Folge dargestellten Narrative des arabischen chronotope also nur unter der Bedingung einer kritischen Dekonstruktion ihrer kulturalistischen Betrachtungsweisen leisten.
Merkmale extremistischer Narrative Abschließend soll die Frage nach einer unterscheidenden Typologie extremistischer und ambiguitätsoffener Narrative gestellt werden, die Bezug auf ihre kulturellen und religiösen Differenzsemantiken nimmt. Dabei scheint es geradezu eine Aufgabe der Narrative gegnerischer extremistischer Gruppen zu sein, dass sie sich in ihrem essentialistischen Kultur- und Religionsverständnis, in ihren stereotypen Eigen- und Fremdzuschreibungen, und damit in ihrer engen Weltsicht immer wieder gegenseitig bestätigen. So sehr sich ›islamistische‹ und rechtsradikale Extremisten gegenseitig hassen mögen, so vergleichbar sind doch ihr Weltbild und die Typologie ihrer Narrative. Die einen sehen im Islam die Lösung und im ›ungläubigen‹ Westen das Böse, die anderen sehen im ›freien‹ Westen die Lösung und im Islam das Böse. Beide sehen sich in einem schicksalhaften Abwehrkampf gegen mächtige Staaten und internationale Wirtschaftsund Finanzeliten begriffen, die angeblich eine neue Weltordnung errichten wollen und dabei ihre Umma – also ihre Vorstellung der islamischen Religi-
76 Albrecht Koschorke (2011) 53. 77 Nach Meinung von Oliver Koschorke ist dazu notwendig, dass die Analyse »den Blick auf die Kartierung sozialer Konfliktfelder richtet, auf das cognitive mapping von Spannungslagen, und dabei auf Rückkopplungseffekte zwischen sozialen Spannungen und semantischen Beschreibungen aufmerksam macht« (Albrecht Koschorke [2011] 49).
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The Clash of Civilization Narratives: Versuch einer Typologisierung
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onsgemeinschaft – oder ihr Volk – damit sind dann nur die ethnisch Deutschstämmigen gemeint – vernichten wollen. Die Politologin Julia Ebner hat solche Übereinstimmungen in Funktion, Struktur und Inhalt bei Narrativen identitärer rechter und identitärer islamischer Gruppen beschrieben.78 Sie trägt dazu fünf wesentliche Elemente solcher Narrative extremistischer Gruppen zusammen: Einfachheit, Stimmigkeit, OpferRolle, Endkampf und emotionale Bindung. Einfachheit bedeutet die strikte Einteilung der Welt in Gut und Böse, in Schwarz und Weiß ohne Zwischentöne. Stimmigkeit bedeutet ein Weltbild, das sich immer wieder durch die Extremisten auf der ›anderen Seite‹ bestätigt sieht.79 Opfer-Rolle bedeutet, dass die eigenen Aktionen als Reaktionen auf eine lebensbedrohliche Gefährdung der eigenen Gruppe erzählt wird. Endkampf bedeutet, dass eine Versöhnung zur Lösung der angenommenen Gefährdungssituation ausgeschlossen wird. Im Extremfall wird die Apokalypse dem Kompromiss vorgezogen, weil der Kompromiss angeblich Identitätsverlust bedeute. Die emotionale Bindung erzählt die Wir-Gruppe als Engel und die Gegner als Dämonen. Andererseits steigen viele Menschen in ›große Erzählungen‹ extremistischer Gruppen ein – wie die angeblich drohende ›Islamisierung des Abendlands‹ oder die angebliche ›Bedrohung des Islam durch die westliche Unmoral‹ – ohne dabei die extremistische Deutung dieser Erzählungen komplett zu übernehmen. Narrative sind somit auch ein wichtiges Werkzeug, mit dem extremistische Gruppierungen eine Anschlussfähigkeit an ihr Zielpublikum – die ›besorgte Mehrheitsbevölkerung‹ bzw. die muslimische Bevölkerungsgruppe – suchen. Julia Ebner beschreibt auch hier fünf übereinstimmende Strategien, wie extremistische Gruppierungen solche Bindungen weiter zu stärken und zu radikalisieren versuchen: Vorhandene Ängste aufgreifen, die Adressaten verunsichern (die ›Wahrheit‹ sagen, die andere angeblich verschweigen), eine Verschiebung des Aussagbaren in Richtung auf Extreme, Opfer stilisieren und Opferrollen besetzen, klare Feindbilder schaffen.
78 »Den Extremismus studieren, ohne Geschichten zu studieren, ist, als würde man das Gehirn studieren, ohne die Neuronen zu studieren … Es ist das Narrativ, das alles miteinander verknüpft: Es fungiert als Bindeglied zwischen gewaltlosem und gewalttätigen Extremismus ebenso wie zwischen Rechtsextremismus und islamistischem Extremismus« (Julia Ebner [2018] 44). 79 Rechtsextreme und ›Islamisten‹ haben gemeinsam ein essentialistisches Bild von »dem Islam« als einer monolitihischen, unveränderlichen Religion, die einen strikten Regelgehorsam erfordert, gegen »den Westen« steht und irgendwie aus der Zeit gefallen scheint. Die Wertungen, die mit diesem Bild verbunden werden, sind natürlich absolut konträr.
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Verschwörungsmythen sind wie umgedrehte Religionen Es ist nicht selten, dass extremistische Narrative in Welterklärungsmustern zusammenlaufen, die eine pseudoreligiöse Deutungshoheit beanspruchen.80 Bei solchen Verschwörungserzählungen heißt es, böse Mächte beherrschten die Welt. Solche »Verschwörungsmythen funktionieren … wie umgedrehte Religionen,« analysierte Michael Blume, der Antisemitismus-Beauftragte der BWLandesregierung, in einem Interview aus dem Jahr 2020.81 Michael Blume weiter: »In einer ordentlichen Religion lerne ich, dass gute Mächte die Welt beherrschen, dass ich der Welt vertrauen kann und dass es am Ende gut wird. … Also es wird Welt-Vertrauen aufgebaut.« Bei Verschwörungsmythen ist das anders. Hier geht es um eine sinnstiftende Erzählung für eine verschworene Gemeinschaft, die in ihrer Selbsterzählung einen Abwehrkampf gegen angeblich weltbedrohende Aktivitäten führt.82 Ausgehend von der überzogenen Kulturalisierung ihrer Narrative, die Albrecht Koschorke beschrieben hat, lokalisieren sie ihre Gegner zumeist in ›Eliten‹ eines transkulturell und global agierenden Establishments. Antijüdische Vorurteile und antisemitische Stereotypen sind daher ein systemisch relevanter Sublayer aller Verschwörungsmythen, die ›international agierende Finanzeliten‹ für das Elend der Welt verantwortlich machen wollen.83
Merkmale ambiguitätstoleranter Narrative Alternative Narrative der ›Beheimatung in religiöser Vielfalt‹ – wie die im Anschluss dargestellten Beispiele – werden hingegen erzählt, um ambiguitätstolerante Rollen- und soziale Verhaltensmuster zu erproben. In ihnen bleibt die konstruktive Spannung zwischen ›erlebter Zeit‹ und ›erzählter Zeit‹ stets gewahrt. Auch an ihnen lassen sich fünf Merkmale beschreiben, die sie von extremisti-
80 Zur Kritik solcher Verschwörungsmythen, inklusiver neuester Erzählungen der »CoronaLüge«, s. Karl Hepfer (2021). 81 Roland Müller (2020). 82 »Beide Arten von Mythen, sowohl religiöse wie auch Verschwörungsmythen, stiften Sinn. Sie erklären mir, warum ich eigentlich auf der Welt bin. Der Verschwörungsgläubige geht davon aus, dass er im Kampf gegen das weltweite Böse ist. Außerdem stiften beide Arten von Mythen Gemeinschaft: Die Anhänger gehören zu einer Gruppe von Menschen, die ihren Glauben teilen. Die Verschwörungsmythen sind derzeit auch wieder so stark, weil sich die Menschen über das Internet ganz einfach untereinander vernetzen können« (Roland Müller [2020]). 83 »Das hat mit dem Antisemitismus zu tun: Das außerordentlich Gefährliche an ihm ist, dass er mit jedem anderen Verschwörungsmythos kombiniert werden kann. Seien es die Jesuiten, die Muslimbrüder oder, wie etwa in der NS-Zeit, die Roma und Sinti, die überwiegend Christen sind – ich kann jede Gruppe, gegen die ich Vorbehalte habe, als Teil dieser vermeintlichen jüdischen Weltverschwörung deuten« (Roland Müller [2020]).
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Aktuelle Herausforderungen für ein neues Paradigma religiöser Diversität
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schen Erzählweisen unterscheiden und gleichzeitig vor einer Vereinnahmung durch Verschwörungsmythen schützen: (1) Ambiguitätstolerante Narrative geben Raum für plurale Deutungen und Selbsterzählungen. Es gibt nicht nur ganz Gut und ganz Böse, sondern zwischen Gut und Böse liegt das ganze Leben. (2) Ambiguitätstolerante Narrative geben Raum für die Entwicklung einer Streitkultur. Sie befördern eine Differenzsemantik, die Aushandlungsprozesse auf Augenhöhe auch zwischen solchen Menschen anstößt, die es schwer miteinander haben. Sie erzählen vom guten Umgang mit manchmal auch konträren Lösungsvorschlägen. Stimmigkeit alleine ist weder ein Beweis für Wahrheit, und schon gar kein Nachweis für Problemlösungskompetenz. (3) Ambiguitätstolerante Narrative lassen eine Beheimatung zu. Sie nehmen die Ängste ihrer Zielgruppen ernst, eröffnen ihnen aber angstfreie Räume für ihre kollektiven Rollendiskussionen. Sie manipulieren ihr Zielpublikum nicht auf eine Verschwörungserzählung hin, indem sie ihre Ängste auch noch kultivieren. (4) Ambiguitätstolerante Narrative geben der Versöhnung Raum, versprechen aber keinen Rosengarten, sondern Aushandlungsprozesse. Sie halten die Möglichkeit offen, dass die anderen auch zum ›Wir‹ gehören können. Das ›Wir‹ ist eine umfassendere Kategorie, als sie durch Grenzen von Gender, von ethnischen, kulturellen oder religiösen Zuschreibungen gezogen werden kann. (5) Ambiguitätstolerante Narrative achten die Botschaft des berühmten ›Elefanten-Gleichnis‹. Wie im »Gleichnis vom Elefanten und den Blindgeborenen«84 halten sie daran fest, dass das Wesentliche, das jeder Einzelne zu erkennen und zu erwerben trachtet, letztlich unverfügbar ist und nicht durch sozial erwünschte Lösungen vorgegeben werden kann.
Aktuelle Herausforderungen für ein neues Paradigma religiöser Diversität Hinter dem beschriebenen Clash of Civilization Narratives in den Gesellschaften des Nahen Ostens und Nordafrikas steht letztlich die Suche nach einem neuen Paradigma des Zusammenlebens in religiöser Diversität. Da der arabische chronotope eine nationalstaatliche Perspektive voraussetzt, wird er durch die zunehmende Globalisierung unserer Welt automatisch in Frage gestellt. Diese Globalisierungstendenzen lassen sich abschließend an drei sehr unterschiedlichen Akteuren beschreiben, die jeweils zu sehr eigenen Bedingungen auf das Selbstverständnis der Menschen in den arabischen Nationalstaaten einwirken: internationale ›islamistische‹ Netzwerker, Säkularisierungstendenzen und welt84 Bei der Behandlung des Narrativs al-hubbu dı¯nı¯ (die Liebe ist meine Religion) wird dieses ˙ Gleichnis vorgestellt.
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Narrative für ein neues Paradigma?
weite Migrationsbewegungen. Diese aktuellen Herausforderungen sollen abschließend an jeweils einem Beispiel dargestellt werden.
Internationale ›islamistische‹ Netzwerker Zu den aktuellen Herausforderungen der arabischen Nationalstaaten durch extremistische Akteure gehören zum Beispiel die Aktivitäten der international agierenden Muslimbruderschaft. Präsident Mohammed Mursi, dessen Partei der ägyptischen Muslim-Bruderschaft die erste freie und demokratische Parlamentswahl in Ägypten im Jahr 2012 gewonnen hatte, stellte im knappen Jahr seiner Präsidentschaft bis zum Militärputsch vom Juli 2013 die religiöse Diversität Ägyptens nicht grundsätzlich in Frage85 und der nationale Ableger der Muslim-Bruderschaft distanzierte sich deutlich von extremistischen Positionen.86 Andererseits waren die Erwartungen, die von Vordenkern der MuslimBruderschaft, wie dem in Qatar lebenden ägyptischen Theologen Yusuf AlQaradawi, an das Zusammenleben in religiöser Diversität gestellt wurden, äußerst bedenklich. Yusuf Al-Qaradawi, einer der einflussreichsten Netzwerker der internationalen Muslim-Bruderschaft, verstand den Dialog der Religionen bereits 2002 in seiner Fatwa »Die Annäherung zwischen den Religionen«87 als Einladung (daʽwa) an die Christen, den Islam kennenzulernen und gemeinsam mit den Muslimen eine Allianz gegen den »Atheismus und Materialismus« zu bilden. Dazu zählte er in einem Atemzug auch die Freizügigkeit, Homosexualität, Abtreibung und die gleichgeschlechtliche Ehe. Er vermied hingegen auszudrücken, dass auch die Muslime das Christentum kennenlernen sollten. Explizit verbot er sogar die »Annäherung der Religionen« im Sinne des kritischen Dialogs über Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Glauben. Wo kritische Klärungen und eine vorbehaltlose Auseinandersetzung mit dem anderen ausgeschlossen werden, da kann es im Dialog aber nicht zu einer wirklichen Begegnung kommen, und so bleibt es häufig bei den stereotypen Wahrnehmungen und vorgefassten Urteilen übereinander.
85 Eine religiöse Duldungstoleranz ist eigentlich nie das Problem der Muslim-Bruderschaft, solange die religiösen Minderheiten eines Staates sich als Alliierte zeigen und selber keinen gesellschaftlichen Leitungsanspruch anmelden. 86 Nach dem Terroranschlag auf eine koptische Kirche in Alexandrien mit zahlreichen Todesopfern in der Neujahrsnacht 2011 flutete die Partei der ägyptischen Muslim-Bruderschaft die Stadt Kairo mit Plakaten, auf denen Solidaritätsaufrufen für die christlichen Mitbürger standen. 87 Das arabische Rechtsgutachten war mehrere Jahre über die Fatwa-Bank islamonline.net (eigener Zugriff am 30. 9. 2003) abrufbar und wurde in Auszügen und in deutscher Übersetzung auch auf dem Portal qantara.de veröffentlicht.
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Wie schnell solche Netzwerker der internationalen islamistischen Szene in die Lücken springen, die sich ihnen bieten, zeigte sich vor der Frage, wer nach dem Erfolg der ägyptischen Revolution im Februar 2011 die erste Freitagspredigt vor einer Million Menschen auf dem befreiten Tahrir-Platz halten solle. Aus den oben genannten Gründen kamen dafür weder der Groß-Mufti von Ägypten noch der Groß-Scheich der Azhar-Universität infrage. Stattdessen wurde in einer Nacht-und-Nebel-Aktion Yusuf el-Qaradawi aus seinem Exil in Qatar eingeflogen und hielt eine – übrigens sehr moderate und versöhnende – Freitagspredigt,88 mit der er sich gleichermaßen an die Muslime und die Kopten als einiges Staatsvolk Ägyptens wandte. Wie weit diese internationalen Verflechtungen reichen, zeigte sich als Yusuf Al-Qaradawi im August 2016 – also direkt nach dem gescheiterten Putschversuch gegen Präsident Erdog˘an – an einer Konferenz des Religionsrats der türkischen Diyanet teilnahm. Die Konferenz erstellte ein Gutachten zur Gülen-Bewegung,89 die von Präsident Erdog˘an für den Putschversuch verantwortlich gemacht wurde. Dabei wurde in den Abschnitten Nr. 7 und Nr. 12 des Gutachtens der interreligiöse Dialog als Teil eines »dunklen Projektes« zur Schwächung des Islam bezeichnet.90 Als Beispiel dienten die Begegnungen von Fethullah Gülen mit Würdenträgern der katholischen Kirche, unter anderem mit Papst Johannes Paul II.91 In der Konsequenz schloss das Gutachten unter Ziff. 12 auf S. 40 kategorisch aus, dass Nichtmuslimen der Zugang zum Paradies offenstehen könnte. In Ziff. 7 des Gutachtens werden die nichtmuslimischen Dialogpartner der Gülen-Bewegung zudem mit den »Feinden Gottes und der Muslime« in einem Atemzug genannt.92 Wohl gemerkt, Christen und andere Nichtmuslime werden in diesem Gutachten nicht per se verurteilt, aber sehr wohl diejenigen unter ihnen, die sich dem 88 Dokumentiert in: van der Velden (2014) 171–181. 89 Das Gutachten wurde von der Religionsbehörde selbst in mehreren Sprachen ins Internet gestellt (http://cibedo.de/wp-content/uploads/2017/10/%C3%9Cbersetzung_dini-istismar-h areketi_Langfassung.pdf, letzter Zugriff am 16. 08. 2022). 90 »Um das Interesse und die Unterstützung des Westens sicherzustellen (…), hat die GülenBewegung die trügerischen Schritte des interreligiösen Dialogs [dinlerarası diyalog] und des weichen Islam [ılımlı ˙Islam] eingeleitet; es lässt sich nicht verheimlichen, dass sie damit Teil dunkler Projekte ist, die mit geheimen Beziehungen und auf internationaler Ebene gegen die Muslime arbeiten« (S.39). 91 Natürlich, so das Gutachten weiter, sei es notwendig mit den Anhängern anderer Religionen im Frieden zu leben und im Namen der Menschlichkeit zu kooperieren. »Im Namen des interreligiösen Dialogs aber eine gemeinsame Einheit der Theologie oder Kultur aufzubauen, die letztlich ein politisches Ingenieurswesen [siyaset mühendislig˘i] ist, kann nicht zugestimmt werden« (S. 39). 92 »Aber in vielen Versen [des Korans] verbietet es Gott, sich von Muslimen abzuwenden und mit Ungläubigen, Nichtmuslimen und – deutlicher ausgedrückt – mit den Feinden Gottes und der Muslime Freundschaft zu schließen (Sure 3:28; Sure 4:139 & 144; Sure 5:51; Sure 60:1)« (S. 25).
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Islam mit ›unsauberen‹ Absichten des Dialogs nähern. Dahinter steht offensichtlich die Angst, eine Annäherung der Religionen müsse notwendig deren Vermischung bedeuten und werde von der christlichen Seite mit genau dieser Absicht geführt, um eine Schwächung der ›wahren Religion‹ des Islam herbeizuführen.93 Die aktuellen kulturpolitischen Ideen der Muslim-Bruderschaft sehen also durchaus ein befriedetes Nebeneinander der Religionsgemeinschaften vor, aber gleichzeitig wird den Christen eine sophisticated otherness (siehe oben) zugeschrieben. Man muss sich vor ihnen also hüten und vorsehen. Daher muss im Gespräch zwischen den Religionen jede Form einer substanziellen, ergebnisoffenen Begegnung verhindert werden. Eine solche ›islamistische‹ Interpretation des Religionsdialogs betrifft auch dessen Narrative. So wird in dieser Arbeitshilfe am Beispiel der ›ersten Hidschra nach Äthiopien‹ beschrieben, wie identitäre islamische Gruppen dieses wichtige Narrativ zu kapern versuchen, um es gegen seine ursprüngliche Aussage in eine Erzählung der Dialogverhinderung und Entgegenung umzuformen.
Säkularisierungstendenzen Der Religionswissenschaftlicher Michael Blume hat darauf hingewiesen, dass in der muslimischen Migration in Deutschland Tendenzen zur Religionskritik, Säkularisierung, zur Abkehr von der Religion und zu alternativen Sinnsuchen, bis hin zu Konversionen bemerkt werden können.94 Dies gilt zu eigenen Bedingungen auch für die Region des Nahen Ostens und Nordafrikas. Dort stellte in den Jahren 2016 und 2017 eine MENA-Jugendstudie der Friedrich-Ebert-Stiftung95, bei der insgesamt 9.000 junge Menschen im Alter von 16 bis 30 Jahren aus der Region des Nahen Ostens und Nordafrikas befragt wurden, diese Säkularisierungstendenzen differenziert dar. Viele Jugendliche und junge Erwachsene sind zu sozialem und gesellschaftlichem Engagement bereit, distanzieren sich aber von Parteipolitik. Dazu gehört auch die Distanzierung von religiösen Parteien. Religion wird als sehr wichtig erachtet, allerdings wird dies auf der Ebene
93 Die hinter dem Gutachten sichtbar werdende Theologie geht somit weit hinter das zurück, was aus Ankara zu diesem Thema in den vergangenen 30 Jahren zu hören gewesen war. Dies führte bis auf die Herbstvollversammlung 2017 der deutschen Bischöfe in Fulda zu Irritationen und Nachfragen. S. Pressegespräch zum Thema »Chancen und Grenzen des Dialogs: Zur Diskussion zwischen Kirche und Islam« am 26. 9. 2017 (https://www.dbk.de/fileadmin/re daktion/diverse_downloads/presse_2017/2017-157a-Herbst-VV-Pressegespraech-Statement -Bi.-Baetzing.pdf, letzter Zugriff am 16. 08. 2022). 94 Michael Blume (2017) 13–46. 95 Rachid Ouaissa (2017) 101–119.
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eines persönlichen Gottvertrauens, der Resilienz und der eigenen Spiritualität artikuliert. Insbesondere gilt dies für die gebildeteren Schichten. Die politische und ideologische Dimension von Religion wird dagegen weitgehend kritisch gesehen, kollektive religiöse Sozialutopien sind nach den Erfahrungen mit der Gewaltherrschaft des ›Islamischen Staats‹ (IS) offensichtlich stark aus der Mode gekommen. Auch wenn die Mehrheit der Befragten nach den Enttäuschungen der Arabellion nicht mehr kämpferisch für bürgerliche Freiheiten und Minderheitenrechte eintreten will, zeigt sich eine große Sehnsucht nach gesicherten Grundbedürfnissen, nach der Abwesenheit von Gewalt und nach einem friedlichen nachbarschaftlichen Zusammenleben. Rachid Ouaissa bilanziert: »Es kann festgehalten werden, dass Religion immer mehr zu einer individuellen Angelegenheit zu werden scheint … Bei den befragten Jugendlichen sind ein Rückgang der politischen Religiosität und eine Zunahme der sozialen Religiosität zu verzeichnen. Vielleicht erleben wir gerade den Beginn eines laizistischen Zeitalters in der arabischen Welt.«96 Für die kulturellen Narrative dieser jungen Generation würde dies bedeuten, dass sich die gewohnte Entgegensetzung einer vornehmlich säkularen westlichen Kultur gegen eine gemäßigt religiosierte Kultur des Nahen Ostens und Nordafrikas nicht mehr ungebrochen erzählen ließe.
Globalisierungstendenzen Die globalisierten Migrationsbewegungen der vergangenen ca. 150 Jahre haben auch dazu geführt, dass die christlichen Kirchen des Orients sich von einem regionalen Phänomen zu Weltkonfessionen entwickelt haben,97 die in ihre Aufnahmestaaten überwiegend gut integriert sind. Viele dieser nach Kanada, in die Vereinigten Staaten, Lateinamerika, Australien, aber auch ganz Europa migrierten Menschen erfahren sich außerhalb des Kontexts ihrer heimatlichen Städte und Dörfer zum ersten Mal bewusst als Mitglieder einer modernen, international agierenden Kirche. In den säkular geprägten westlichen Gesellschaften müssen flexible Lösungen für das an zahlreiche Regeln gebundene christlich-orthodoxe Leben gefunden werden. Speisegesetze und Fastenregeln, Partnerschaften und Heiratsregeln sind häufig nicht in der gleichen Form wie in den Herkunftsländern realisierbar. Dies führt nicht automatisch zum Glaubensverlust, sondern auch zu einer verantworteten kritischen Gläubigkeit.98
96 Rachid Ouaissa (2017) 119. 97 Wolfram Reiss (2001) 201–211. 98 Frank van der Velden (2021b).
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Für die religiösen Minderheiten des Nahen Orients birgt diese Migration einerseits zahlreiche Risiken, denn durch den Braindrain wandert gerade ihre bildungsorientierte Intelligenz ab, welche die anstehenden gesellschaftlichen Transformationsprozesse der arabischen Nationalstaaten hätte mitgestalten können. Teilweise droht in den aktuellen Bürgerkriegsszenarien zudem der Heimatverlust in den Herkunftsländern des Nahen Ostens. Andererseits ist das aus der westlichen Migration rücküberwiesene und reinvestierte Kapital in allen Staaten der Region ein wesentlicher Teil des Volkseinkommens. So wurden auch zahlreiche Neubauten und Renovierungen von Kirchen in Syrien und Ägypten seit den 1990er Jahren hauptsächlich mit Geldern aus der eigenen Migration finanziert. Migration steht hier zwischen Risiko und Ressource. Auch für die sunnitische Mehrheitskonfession der arabischen Muslime ist mittlerweile eine entsprechende Tendenz bemerkbar, die eigene westliche Diaspora als Ressource zu nutzen. Bereits 2010 versuchte der Groß-Scheich der Azhar-Universität, Ahmad al-Tayyeb, einen regelmäßigen Austausch von deut˙ ˙ schen und ägyptischen islamischen Fachwissenschaftlern zu initiieren und betreibt dies seit 2017 intensiv weiter.99 Offensichtlich kommt den islamischen theologischen Lehrstühlen an deutschen Universitäten in dieser Suchbewegung eine gewisse Bedeutung zu, gerade weil sich hier alternative Denkmuster jenseits der nationalstaatlichen Zwänge der arabischen Länder entwickeln lassen.100
Ein neues Paradigma religiöser Diversität? Entlang dieser beschriebenen Herausforderungen werden die Konturen von zwei neuen Paradigmen sichtbar, in denen die vorgestellten Narrative zukünftig erzählt werden müssen. Einerseits versuchen heute wichtige politische und islamische Autoritäten der arabischen Nationalstaaten, den arabischen chronotope durch eine Reform der Bürgerrechte zu erhalten und in ihm eine gleichberechtigtere gesellschaftliche Teilhabe der religiösen Minderheiten festzuschreiben. Andererseits versuchen international agierende ›islamistische‹ Player – ebenfalls im Namen des Islam – genau dies zu verhindern und wichtige Narrative zu 99 Zwar scheiterte er in den Wirren der ägyptischen Revolution und der anschließenden Regierung des Muslim-Bruders Mursi mit dem Versuch, in Kairo ein Informationszentrum zur westlichen Islamwissenschaft zu errichten. Aber in den Jahren 2016 und 2017 ließ er sich häufig auf Kongressen in Deutschland blicken und besuchte an der Universität Münster wiederholt auch das Institut für Islamische Theologie, vgl. Walter Kasper / Mouhanad Korchide (2017) 88f. 100 Zum Beispiel entwickelte Armina Omerika (2018) an der Goethe-Universität Frankfurt eine theologische Argumentation für die ambiguitätsoffene Übertragung des Narrativs der ›ersten Hidschra nach Äthiopien‹ auf die Situation der europäischen muslimischen Migration.
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Aktuelle Herausforderungen für ein neues Paradigma religiöser Diversität
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kapern. Und zum dritten lässt sich vor den eigenen Säkularisierungstendenzen, die auch das Ergebnis des Kampfes mit dem ›islamistischen‹ Extremismus sind, der eigene chronotope einer konservativen und gemäßigt religiösen Wertegesellschaft als Alternative zum säkularen Westen nicht mehr ungebrochen erzählen. Vor allem aber sind die Narrative der ›Beheimatung in religiöser Vielfalt‹ unter der Bedingung der globalisierten Migration längst über die Geschichtssicht des arabischen chronotope hinausgewachsen. Dabei sind auch die Ankunftsländer der aus dem Nahen Osten und Nordafrika migrierten Menschen grundsätzlichen gesellschaftlichen Veränderungsprozessen unterworfen. Nicht nur die christlichen Kirchen des Orients haben sich in diesem Kontext mittlerweile erfolgreich als international agierende Player neu aufgestellt. Auch der sunnitische Mehrheitsislam erhält aus seinen europäischen und amerikanischen Gemeinden wichtige Impulse für die Auseinandersetzung sowohl mit der säkularen Welt als auch mit den international agierenden ›islamistischen‹ Akteuren. In diesen weltweiten Migrationsgesellschaften wird es sich letztlich zeigen, ob die unten vorgestellten Narrative weitererzählt werden und so zu ihren narrativen Identitäten beitragen können.
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Alltagsroutinen religiöser Diversität
Nachbarschaftliche Ressourcen und Routinen Bis hierhin ist beschrieben worden, wie die Narrative des arabischen chronotope in einem Clash of Civilization Narratives mit den Selbsterzählungen extremistischer Akteure stehen und welche Eigenschaften diese beiden Formen annehmen. Was aber folgt daraus für die Erzählungen des praktischen Zusammenlebens? Welche eigenen Ressourcen zum interreligiösen diversity management benennen die Menschen in den Nachbarschaften und Vierteln der Städte in den untersuchten arabischen Nationalstaaten? Welche Alltagsroutinen haben sie ausgebildet, um der religiösen Vielfalt Heimat zu geben? Und was wurde oder wird daraus in den weiter oben beschriebenen Krisenlandschaften der vergangenen Jahrzehnte? Als Quelle zur Annäherung an diese Fragen dient einerseits eine Untersuchung von leitfadengestützten Interviews mit syrischen Geflüchteten, die zwischen November 2015 und November 2016 in der Region Wiesbaden geführt wurden.101 Andererseits arbeite ich in diesem Kapitel erfahrungsbasiert und beschreibe dabei das Alltagsleben in urbanen Zentren wie Kairo, Alexandrien, Damaskus, Aleppo oder Beirut seit Mitte der 1980er Jahre aus eigener Anschauung.102 Daher steht bei der Beschreibung der Alltagsroutinen in diesem Kapitel Syrien im Vordergrund, während die danach besprochenen sechs Narrative überwiegend Ägypten, und einmal Äthiopien als Beispielland nehmen. Sowohl bei den Alltagsroutinen als auch bei den Narrativen handelt es sich aber um regional übergreifende Phänomene.
101 Zur Auswertung dieser Interviews s. Frank van der Velden (2018a). 102 Vgl. Frank van der Velden (2014) (2018b).
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Alltagsroutinen religiöser Diversität
Eine Orientierung zur Begrifflichkeit In den fünf geführten qualitativen Interviews wurde über einen Leitfaden erfragt, welche Bekanntschaft des Interviewpartners mit Personen anderer Religionszugehörigkeit, konfessioneller Orientierung oder auch säkularer Einstellung im Herkunftsland bestand. Wie kamen diese Kontakte zustande, wie häufig waren sie, und wie gewöhnlich waren sie im eigenen sozialen Raum? Stammten die Kontakte aus dem familiären oder nachbarschaftlichen Umfeld, oder waren es Peergroup-Kontakte, z. B. aus der gemeinsamen Schul- oder Militärzeit, oder aus der beruflichen Karriere? Daran schloss sich die wichtige Frage an, wie diese Bekanntschaften und Beziehungen im Herkunftsland gepflegt wurden und wie dies im eigenen sozialen Umfeld ›ankam‹. Welche Verhaltensweisen waren üblich, galten also vom gesellschaftlichen und ethischen Konsens getragen, und wurden als ›zugehörig‹ empfunden? Wurde an dieser Stelle von gesellschaftlich anerkannten Routinen und automatisierten Abläufen erzählt? War es zum Beispiel üblich, den anderen zu ihren religiösen Jahresfesten zu gratulieren? Gab es im Trauerfall gegenseitige Kondolenzbesuche? Kam die Nachbarschaft religionsübergreifend zusammen, um einer Familie zur Kindsgeburt zu gratulieren? In einem weiteren Schritt wurde erfragt, ob hinter den gemeinsamen Routinen auch eine persönliche Orientierung über Gemeinsamkeiten und religionsübergreifend geteilte Werte stand. Und ob andersherum die Gesprächspartner auch über Unterschiede und Unvereinbarkeiten der Religionen orientiert waren und wie sie damit umgingen. Konnten die Interviewpartner also begründen, warum man bestimmte religiöse Festbräuche auch gemeinsam begehen konnte, oder warum man etwa bei öffentlichen Prozessionen der anderen als Zuschauer mit dabei sein durfte? Weiter wurde erfragt, welche emotionale Nähe oder welche Distanziertheit als ›Normalzustand‹ des Zusammenlebens erlebt wurden. Stand dabei die persönliche Wertschätzung des anderen oder die Frage gleichberechtigter kultureller Teilhabe im Vordergrund? Wie wurde argumentiert und wie verhielt man sich, wenn Personen aus dem eigenen Umfeld individuelle Entscheidungen in die Tat umgesetzt haben, z. B. bei einer religionsübergreifenden Partnerschaft und Ehe? Wie reagierten darauf die Familien und das soziale Umfeld? Welche religiösen Bräuche und Routinen blieben andersherum exklusiv und konnten und sollten nicht geteilt werden? Bis zu welcher Grenze wurde es akzeptiert, wenn dieser unterscheidende Teil des Glaubens öffentlich gezeigt wurde? Gab es z. B. die im Orient bei Christen sehr beliebten öffentlichen Prozessionen in der Karwoche und zu Ostern? Wie stand und steht es um die Sichtbarkeit der Kirchen in der eigenen Stadt oder im eigenen Viertel. In welcher Weise konnte dies zu Problemen führen und gab es dazu Lösungsstrategien?
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Nachbarschaftliche Ressourcen und Routinen
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Ressourcen sind keine Garantien Die so erfragten Alltagsroutinen sind wichtige Ressourcen für das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher religiöser und kultureller Zugehörigkeit. Sie bezeugen eine gegenseitige Empathiefähigkeit und Akzeptanz und stellen Handlungskompetenzen für Problemlösungen zur Verfügung. Sie sind aber natürlich keine Garantien für gelingendes Zusammenleben. Die Grundlage des Zusammenlebens hängt nicht in erster Linie an Empathie oder Antipathie, sondern vor allem am gemeinsamen Respekt vor einer Rechtsordnung, die für rechtliche Gleichstellung und für eine faire Geschäftsordnung sorgen soll. Man muss sich in einem Rechtsstaat nicht gegenseitig mögen, um gut miteinander auszukommen – sondern in erster Linie muss der Rechtsstaat funktionieren. Mit Blick auf die arabischen Nationalstaaten – die wenigsten sind funktionierende Demokratien – ist der Zustand der Rechtsstaatlichkeit fast überall prekär. Darunter leidet die Gesamtbevölkerung, aber natürlich gehören religiöse und ethnische Minderheiten bei schwieriger Rechtssicherheit zu den besonders vulnerablen Gruppen. Dies zeigt sich auch am Beispiel von Übergriffen auf Christen oder auf Kirchen, vor denen aus diesem Grund meist Polizeiposten stehen. Von der überwiegenden Mehrheit der islamischen Bevölkerung werden diese Übergriffe zeitnah bedauert und öffentlich als kriminelle oder terroristische Anschläge bezeichnet. Die Kritik der religiösen Minderheiten macht sich aber meist zurecht an der mangelnden Prävention sowie an der häufig unzulänglichen Strafverfolgung der Täter fest. Persönliche Wertschätzung und Vorbehalte gegenüber den religiösen Minderheiten des Landes finden sich in den unterschiedlichen Milieus der islamischen Mehrheitsgesellschaft in den arabischen Nationalstaaten dabei sehr ungleichmäßig verteilt. Dies gilt im Übrigen genauso für die Mehrheitsgesellschaft in Deutschland, wo sich ebenfalls sehr unterschiedliche Milieus in Bezug auf das Verhältnis zu Muslimen oder zur Religion des Islam finden.103 Und doch sind die nachbarschaftlichen Routinen, von denen in diesem Kapitel die Rede ist, viel mehr als die Aktionen einzelner ›Gutmenschen‹. Der gesellschaftliche Commonsense in den arabischen Nationalstaaten schätzt die religiösen Minderheiten aufgrund ihrer 2.000 Jahre alten Kulturgeschichte im Nahen Orient und aufgrund 103 Nach einer 2019 veröffentlichten Studie der Bertelsmann-Stiftung empfinden 52 % der Deutschen den Islam als Bedrohung. Die Zahlen sind seit der ersten Erhebung im Jahr 2013 recht konstant. Wenn man dazurechnet, dass etwa 6 % der Staatsbürger selber muslimischen Glaubens sind, bleiben nur noch 42 % der deutschen nicht-muslimischen Staatsbürger übrig, die dem Islam entweder indifferent oder empathisch gegenüberstehen. Trotzdem ist Deutschland nicht per se muslimfeindlich, und Muslime sind in Deutschland keine verfolgte Minderheit. Religiöse Toleranz weit verbreitet – aber der Islam wird nicht einbezogen: Ber telsmann Stiftung (bertelsmann-stiftung.de), (letzter Zugriff am 16. 08. 2022).
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Alltagsroutinen religiöser Diversität
ihrer beschriebenen Bedeutung für den arabischen chronotope als wichtige ethische und gesellschaftliche Akteure. Stärker noch als in Deutschland104 wird dem christlich-islamischen Dialog in der offiziellen Politik eine große Bedeutung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt zugeschrieben, um das gegenseitige Verständnis zu stärken und die alltäglichen Begegnungen zu ermutigen. Gerade dort, wo man indifferent zueinandersteht oder Vorbehalte gegeneinander hat, kann man aber trotzdem dankbar für gesellschaftliche Ressourcen und für gangbare Wege sein, um möglichst gut miteinander auszukommen. In diesem Sinne gehören die interreligiösen Alltagsroutinen zum guten gesellschaftlichen Anstand und werden mehrheitlich auch von solchen Menschen ›abgenickt‹ und mitgetragen, die sie aus persönlichen Gründen selber vielleicht nicht vollziehen mögen. Wir sollten bei der Bewertung des alltäglichen Zusammenlebens religiös diverser Gruppen in diesen Ländern daher zurückhaltend sein und vor allem keine doppelten Standards anlegen. Diesen Ländern pauschal ›Christenhass‹ zu unterstellen, ist genauso unrichtig wie in Deutschland pauschal von einem ›Muslimhass‹ zu reden. Die Bedeutung interreligiöser Alltagsroutinen in diesem nicht spannungsfreien Kontext soll an folgendem kurzen Beispiel aus den sozialen Netzwerken aufgezeigt werden.
Alltagsroutine ›Kondolenzbesuch‹ Zu den wichtigen gesellschaftlichen Pflichten in Ägypten gehört der Kondolenzbesuch, wenn Nachbarn, Freunde, Arbeitskollegen oder gar Familienangehörige verstorben sind. Kondoliert wird generell religionsübergreifend. Neben Besuchen im Trauerhaus ist vor allem die Teilnahme an der ʿAzza¯ genannten Trauerfeier wichtig, die an einem Abend der Trauerwoche entweder in einer Moschee oder in einem kirchlichen Gebäude veranstaltet wird. Man kondoliert und sitzt dann still bei Tee und Gebäck zusammen, wobei man entweder einer Koranrezitation oder christlichen Hymnen lauscht, und man geht danach still wieder nach Hause. Natürlich gibt es auch in Ägypten Menschen, die den Schritt in die Kultusgebäude der anderen aufgrund von Abneigungen oder Vorbehalten nicht machen wollen. Aber die gesellschaftliche Mehrheitsmeinung ist, dass man sich unabhängig von persönlichen Befindlichkeiten auf der ʿAzza¯ eines Nachbarn oder Arbeitskollegen etc. sehen lassen muss. Ein Erlebnis, wie es dieses Posting vom 17. November 2021 aus einer Freundesgruppe in den sozialen Netzwerken
104 Der ehemalige Bundesinnenminister Lothar de Maiziere sprach 2017 in diesem Zusammenhang von den Religionen als »Kitt der Gesellschaft«.
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Narrative Interviews zur religiösen Diversität in Syrien bis 2010
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schildert, wird dann aber doch als etwas sehr Besonderes wahrgenommen und erhielt entsprechend zahlreiche likes. Der arabische Text105 lautet: Wenn das Volk [von Ägypten] keine Lösung [für ein Problem] hat, dann liegt der Weg zum Verständnis nur bei unserem HERRN: Ein Scheich [muslimischer Würdenträger] macht einen Kondolenzbesuch bei einem christlichen Freund. Der Bruder des Verschiedenen forderte ihn auf, die Sure »Maryam« [Q 19] bei der ʿAzza¯ [christliche Trauerversammlung] zu rezitieren … Der Scheich ist Nezih Metwalli, Imam der NasrAl-Salam-Moschee … und die Trauerversammlung ist in Schubra [ein Stadtteil von Kairo] am Victoria-Platz. Und ich sag’ Dir zum Thema der »schwierigen Lage zwischen den Religionsgruppen«: DIESE »Religionsgruppe« bleibt [Dir immer so nahe wie] die Schwester Deiner Mutter!
An diesem kurzen Facebook-post lässt sich ablesen, wie genau der Autor die bestehenden gesellschaftlichen Probleme zwischen den Religionsgemeinschaften benennt. Dagegen positioniert er sich nicht als ›Gutmensch‹, sondern er mobilisiert das gesellschaftliche Selbstverständnis des ganzen ›ägyptischen Volkes‹, das er mit seiner wertschätzenden und dialogbereiten Haltung repräsentieren will. Er argumentiert dabei religiös kompetent aus der Geschichtssicht des arabischen chronotope heraus und benennt mit dem Text von Sure 19 »Maryam« die koranische Referenzstelle für eines der wichtigsten Narrative religiöser Diversität im arabischen chronotope.106 Wieder einmal sind es die Narrative, über die kulturelle und gesellschaftliche Teilhabe verhandelt wird.
Narrative Interviews zur religiösen Diversität in Syrien bis 2010 Syrien – eine religiös diverse Gesellschaft Welche Möglichkeiten haben Menschen aus Syrien, um in ihrem Herkunftsland Kompetenzen und Routinen für die Begegnung mit Angehörigen anderer Religion zu erwerben? Schaut man auf die Verteilung von Volks- und Sprachgruppen in Syrien, so lebten dort im Jahr 2010 auf einer Fläche von 185.180 km² (Deutschland: ca. 357.000 km²) insgesamt 22 Mio. Menschen, von denen seit dem 105 ﺷﻌﺐ ﻣﻠﻮﺵ ﺣﻞ ﻭﻻ ﺗﻔﺴﻴﺮ ﻏﻴﺮ ﻋﻨﺪ ﺭﺑﻨﺎ , ﻑ ﺻﺪﻳﻖ ﻣﺴﻴﺤﻰ,ﺍﻟﺸﻴﺦ ﺭﺍﺡ ﻳﻌﺰﻯ ﺃﺧﻮ ﺍﻟﻤﺘﻮﻓﻰ ﻃﻠﺐ ﻣﻨﻪ ﻳﻘﺮﺃ ﺳﻮﺭﺓ ﻣﺮﻳﻢ … ﻣﻴﺪﺍﻥ ﻓﻴﻜﺘﻮﺭﻳﺎ. . ﺇﻣﺎﻡ ﻣﺴﺠﺪ ﻧﺼﺮ ﺍﻹﺳﻼﻡ … ﻭﺍﻟﻌﺰﺍﺀ ﺑﺸﺒﺮﺍ,ﻑ ﺍﻟﻌﺰﺍﺀ … ﺍﻟﺸﻴﺦ ﺇﺳﻤﻪ ﻧﺰﻳﻪ ﻣﺘﻮﻟﻰ ,ﻭﺑﻘﻮﻟﻚ ﻓﺘﻨﻪ ﻃﺎﺋﻔﻴﻪ ﻃﺎﺋﻔﻴﻪ ﺩﻯ ﺗﺒﻘﻰ ﺧﺎﻟﺘﻚ Die deutsche Übersetzung und die in eckigen Klammern eingefügten Erklärungen stammen vom Autor. 106 Dieses Narrativ wird im Kapitel der »ersten Hidschra nach Äthiopien« ausführlich behandelt.
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Alltagsroutinen religiöser Diversität
Jahr 2011 mehr als 4,8 Mio. ins Ausland geflüchtet sind. Neben syrischen Arabern gehören dazu Kurden, Assyrer-Aramäer, Palästinenser, Turkmenen und zahlreiche irakische Flüchtlinge. Die Amtssprache ist Hocharabisch. Weitere Sprachen und Dialekte sind syrisches, palästinensisches und irakisches Arabisch, Assyrisch-Aramäisch, Neuwestaramäisch, Westarmenisch, verschiedene kurdische Dialekte (Kurmandschi, Sorani, Südkurdisch), Turkomanisch und Tscherkessisch. Entsprechend vielfältig sind die Religionszugehörigkeiten: 74 % der Bevölkerung sind sunnitische Muslime, etwa 15 % sind schiitische Muslime und syrische Aleviten, dazu in der Region des Antilibanongebirges Drusen, in Nordsyrien Jesiden, einige wenige Juden in Al-Qamishli und Aleppo. Etwa 10 % der syrischen Bevölkerung sind zudem Christen unterschiedlicher Kirchen und Konfessionen: Syrisch-orthodoxe Kirche (60 %), griechisch-orthodoxe Kirche, assyrische Kirche des Ostens, armenisch-apostolische Kirche, dazu die mit Rom unierten griechischkatholische (›Melkiten‹), syrisch-katholische und armenisch-katholische Kirche. Dazu kommen kleinere römisch-katholische und protestantische Gruppen. Die religiösen Minderheiten sind in dörflichen Gemeinschaften des Antilibanongebirges und in Nordsyrien vertreten, und in allen Großstädten des Landes finden sich religiös vielfältige Milieus. Das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Herkunft und religiöser Zugehörigkeit wird dabei nicht ausgeblendet, sondern ist Gegenstand eines regen gesellschaftlichen Diskurses, der von der öffentlichen Kulturpolitik bis zur nachbarschaftlichen Ebene reicht und als Teil der offiziellen Politik unter einem strikten nationalstaatlichen Paradigma erfolgt. Die folgenden vier Selbsterzählungen von Syrern, die bis zum Jahr 2016 nach Deutschland geflohen waren, sind eine gekürzte Fassung eines von mir 2018 veröffentlichten Beitrags.107 Alle personenbezogenen Daten und Namen wurden anonymisiert.
Die Selbsterzählung als toleranter Nachbar oder Freund Mit sichtlicher Freude und Stolz zeigt Firas, ein sunnitischer Muslim aus Damaskus, auf ein Bild auf dem Bildschirm seines Handys: »Den größten Weihnachtsbaum der Welt und die größte Weihnachtsmann-Parade der Welt gibt es jedes Jahr in Damaskus … über 3.000 Santas, und längst nicht alle davon sind Christen! … auch ich als Muslim gehe dahin und schaue mir das an!« Der Christbaum auf dem Foto ist tatsächlich beeindruckend. Aus meiner eigenen Studienzeit in Damaskus in den 1980er Jahren erinnere ich mich dunkel, dass es auch damals schon einen dezenten Weihnachtsschmuck und aufgestellte Na107 Frank van der Velden (2018a).
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delbäume aus dem Antilibanongebirge in der Hauptstadt Syriens gab. Und die Paraden der christlichen Pfadfinderschaften vor den großen Jahresfesten waren auch damals schon legendär. Also frage ich nicht, ob es sich wirklich um den größten Baum und die größte Parade der Welt handelt. Darauf angesprochen, ob ihm als Muslim die Teilnahme an einer Weihnachtsmann-Parade nicht religiös verboten (hara¯m) sei, zeigt er sich über religiöse Gemeinsamkeiten und geteilte Werte von Christen und Muslimen orientiert und verantwortet sein Verhalten situativ: »Warum soll ich mich nicht mitfreuen dürfen, wenn die Christen die Geburt Isa¯ Ibn Mariams (die koranische Bezeichnung für Jesus) feiern? – Also bin ich mitgegangen«. Firas erzählt weiter von gegenseitigen Gratulationen und Besuchen zu den islamischen und christlichen Hochfesten, zu Beerdigungen und Hochzeiten. Von christlichen Schulfreunden und selbstverständlicher guter Nachbarschaft. Man habe gegenseitig die religiöse Praxis des anderen geachtet und Rücksicht genommen. Er erzählt von Ritualen der gegenseitigen Wertschätzung und des solidarischen Handelns von Christen und Muslimen, wie ich sie auch aus anderen arabischen Ländern kenne. Firas will von seiner Empathie, Freundschaft und Annahme des anderen erzählen. Innerhalb seines muslimischen Umfelds soll dies nicht als eine besonders tolerante Haltung hervorstechen, sondern als alltägliche Normalität erscheinen. Dazu gehört auch der souveräne Umgang mit öffentlichen Weihnachtfeierlichkeiten in ihrer traditionellen, seit Jahrzehnten gepflegten Form. Er signalisiert: Wir hatten und haben belastbare Beziehungen miteinander. Die Vergangenheit wird in seiner Geschichte aber idealisiert, vorhandene Probleme und der politische Kontext des friedlichen Status Quo, der von einem totalitären System auf Kosten der Freiheit Andersdenkender errichtet wurde, werden ausgeblendet. Farid, ein sunnitischer Moslem aus Aleppo, beginnt seine Erzählung folgendermaßen: »Überall stehen Kirchen und Moscheen in direkter Nachbarschaft … wir hatten nie Probleme miteinander, bis aus dem Ausland der IS kam!« Emblematisch erscheint auf seinem Handy die Szenerie von entsprechenden Bauwerken im aleppiner Stadtteil Soulimaniya. Überhaupt: Kirche und Moschee gemeinsam in einem Bild einzufangen, scheint ihm und vielen unserer Interviewpartner ein besonderes Anliegen zu sein. Farid hat den Zusammenbruch der konfessionellen Vielfalt und Toleranz seiner Heimatstadt als einen Verlust erlebt. Er erzählt, wie das gewohnte friedliche Zusammenleben von auswärtigen religiösen Extremisten zerstört wurde. Seine Darstellung ist zum guten Teil zutreffend, wo sie auf die ersten beiden IrakKriege (1990 und 2003) und das Erstarken des so genannten »Islamischen Staates« (IS), auf die saudi-arabische Unterstützung des religiösen Extremismus und die Folgen der ausländischen militärischen Interventionen nach 2015 hinweist. Unredlich wird sie, wo die internen syrischen Probleme – die langjährige
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Gewaltherrschaft und die Unterdrückung der Opposition – ausgeblendet werden, die ebenfalls zum Kollaps dieses Zusammenlebens beigetragen haben. An dieser Stelle ist manche Erzählung gefährdet, in Verschwörungsnarrative abzugleiten. Farids Erzählung erklärt weiterhin nicht, warum auch Syrer und Iraker den kulturellen und religiösen Verfolgungswahn des IS oder der al-Nusra-Front mitgemacht und direkt oder indirekt von der Verfolgung ihrer christlichen oder jesidischen Nachbarn profitiert haben (siehe unten).
Die Selbsterzählung aus der Opferrolle Milad, ein irakischer Christ aus Mosul, zeigt mir ein Bild einer vom IS zerstörten Kirche seiner Heimatstadt. Die Bilder gingen im Juni 2015 unter der head-line »One of Mosul’s largest Christian churches is being destroyed and turned into a mosque for Islamic State jihadists« durch die Presse und durch die christlichen sozialen Netzwerke.108 Milad erzählt: »Was mich wirklich entsetzt hat war, dass meine Kirche nicht nur von den IS-Schergen zerstört worden ist, sondern auch von meinen Nachbarn …«. Er erzählt die eigene Geschichte als Teil einer langen Leidensgeschichte der eigenen Gemeinschaft seit den Genoziden an syrischen und armenischen Christen in der Türkei in den Jahren 1905 bis 1917. Dabei mischen sich auch für die aktuelle Zeit selbst erlebte und weitererzählte Geschehnisse, wie nach der Eroberung Mosuls durch den IS Christen von ihren Nachbarn vertrieben oder geschädigt worden seien.109 Auch Milad erinnert sich an lange Jahre einer friedlichen Konvivenz und einer gegenseitigen Wertschätzung von Menschen unterschiedlicher Religion, aber er habe sich nie darauf verlassen wollen, dass dies von Dauer sein könnte. Krieg und Auseinandersetzung zwischen den beteiligten Religionsgemeinschaften seien die erwartbare historische Konstante. Zeiten des Dialogs und der Verständigung seien dagegen temporär und trügerisch. Daher waren nach seiner Meinung die religiösen Minderheiten immer in Bedrängnis, und der Islam habe nun wiederum sein ›wahres Gesicht‹ gezeigt. Milad fühlt sich in dieser Situation gegenüber seinem eigenen Unglück hilf- und wehrlos. Halt geben ihm vor allem seine religiöse Überzeugung und die Zugehörigkeit zu einer Kirche, die sich als 108 Quelle: Images show ISIS desecrating church in Iraq | Al Arabiya English, letzter Zugriff am 16. 08. 2022). 109 Wie wird die Geschichte von Flüchtlingen erzählt? Father Douglas Bazi, ein chaldäischkatholischer Priester, erzählte im Netz-Interview am 20. 10. 2015: »In one instance, a Muslim man, who had lived with his Christian neighbor for 30 years, threatened to kill the latter, if he did not vacate his home immediately as he wanted his house.« In dieser Form wurden mir solche Geschichten regelmäßig weitererzählt, zum Beispiel im Oktober 2016 von christlichen Syrern während eines Treffens in Frankfurt.
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Schicksalsgemeinschaft versteht und ihm einen lebensnotwendigen Anker bietet. Milad gibt an, dass er kein Problem mit den Menschen, sondern mit Ideologien habe. So habe er in Syrien auch kein wirkliches Problem mit den Muslimen als Nachbarn, sondern mit ›dem Islam‹ gehabt, der seine Nachbarn ›verdorben‹ habe. Dabei will er keine Differenzierung zwischen ›dem Islam‹ und der extremistischen Ideologie des IS gelten lassen. Seine traumatische Belastung kann in manchen Momenten so bestimmend für Milad werden, dass er auf seiner eigenen Seite nur Opfer und auf der anderen Seite nur Täter sieht. Dann fällt es ihm schwer wahrzunehmen, dass im syrischen Bürgerkrieg vor allem auch Muslime zu Opfern des IS geworden sind oder dass in Assads Geheimdiensten auch Christen zu Tätern wurden. In der Situation des Erzählens des Erlebten und im Weitererzählen der erlittenen Verfolgung entsteht dabei eine narrative Identität, in der die eigene Opferrolle eine übermächtige Bedeutung für seine Selbstsicht einnimmt.
Die Selbsterzählung als rationaler Kritiker des religiösen Extremismus Mit Khaled, einem aus Raqqah (Nordsyrien) geflüchteten kurdischen Sunniten, betrachte ich ein Foto der im Krieg zerstörten Awis al-Qarni-Moschee in seiner Stadt. Die Renovierung dieser historischen schiitischen Moschee im Norden Syriens wurde im Jahr 2009 als grenzübergreifendes Projekt von der syrischen und iranischen Regierung gemeinsam finanziert. Die Moschee wurde im Oktober 2014 durch den IS gezielt zerstört. Khaled erzählt: »Ich habe es nie verstanden, warum sie um die Frage Krieg führen, ob Aisha den Ehrentitel Mutter der Gläubigen führen darf oder nicht!« Er erklärt dazu, dass der IS im syrischen Bürgerkrieg Slogans pro Aisha – der Lieblingsfrau des Propheten Muhammad – als Kampfparolen gegen den schiitischen Bevölkerungsteil Nordsyriens und des Iraks einsetzte.110 Khaled sieht in diesen, ihm unverständlichen religiösen Parolen ein Spiegelbild für das irrationale Verhalten, das im Bürgerkrieg bei fast allen kriegführenden Parteien zutage getreten sei.
110 Hintergrund dieser Erzählung ist der legendäre, Jahrzehnte dauernde Führungsstreit in der islamischen Gemeinschaft nach dem Tod des Propheten Muhammad, der in kriegerischen Konfrontationen zwischen der Partei seines Schwiegersohnes Ali und der Partei seiner engsten Gefährten, zu denen auch Muhammads jüngste Frau Aisha gehörte, ausgetragen wurde. Ali und seien Söhne kamen im Verlauf dieser Auseinandersetzung ums Leben. Während die Gemeinschaft der Sunniten bis heute Aishas ehrendes Andenken als Ehefrau des Propheten und Mutter seiner Kinder hochhält, steht für die Gemeinschaft der Schiiten ihre Gegnerschaft zu Ali im Vordergrund, die häufig als Verrat am Willen des Propheten gedeutet wird.
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Bestimmend für Khaled ist seine Sichtweise, als Kurde einer selbstbestimmten Volksgemeinschaft anzugehören, deren eigene Regeln und Traditionen ihn gegen einen religiösen Extremismus stark und kritikfähig gemacht haben. Obwohl er selber Muslim ist, erfüllen ihn viele religiöse Menschen in Syrien (auch Muslime) mit Vorbehalten, da sie nach seiner Meinung ihren Glauben irrational leben. Er zeigt in seiner Erzählung somit ein waches Problembewusstsein für die Grenzen der eigenen Toleranz sowie für das Versagen der gesellschaftlichen Regelungssysteme – und teilweise auch für sein persönliches Versagen als Teil dieser Regelungssysteme.
Selbsterzählungen zwischen Treasure und Trigger Welchen Mehrwert haben nun solche Selbsterzählungen für das Zusammenleben in unserer deutschen Migrationsgesellschaft? Fast alle unsere Gesprächspartner nahmen auf die Frage, wie sie es denn im Herkunftsland mit der religiösen Diversität gehalten hätten, die Rolle des toleranten Nachbars oder des guten Freundes von Menschen anderer Religionszugehörigkeit ein. Meist wollten sie dies nicht als ein persönliches ›Gutmenschentum‹ verstanden wissen, sondern sie gaben an, dass sie mit ihrem Verhalten die allgemeine soziale Erwartungshaltung ihres Herkunftslandes erfüllten – oder gerne auch noch besser erfüllt hätten. Die persönliche Rolle des Erzählers war somit häufig auf kollektive Selbsterzählungen hin geordnet, wie sie in den vorausgegangenen Kapiteln im Rahmen des arabischen chronotope dargestellt wurden. Häufig schwammen im Subtext dieser Erzählungen Botschaften an das Aufnahmeland mit, mit denen die geflüchteten Menschen signalisierten, dass sie die sozial erwünschte Bereitschaft zur Integration verstanden und akzeptierten. Es wurden aber auch persönliche Positionierungen und Erwartungen an das Aufnahmeland geäußert, die deutlich das framing des arabischen chronotope verließen. So kämpfte Khaled als Muslim in seiner Erzählung letztlich um die eigene religiöse Praxis, die er gegenüber dem Extremismus in den eigenen Reihen verteidigte und sparte dabei auch gegenüber den nationalstaatlichen Repräsentanten des chronotope nicht an Kritik. Er lehnte die essentialistische Sicht religiöser Praktiken auf beiden Seiten, der sunnitischen und schiitischen ab. Er äußerte Dankbarkeit, dass er in der säkular geprägten deutschen Gesellschaft einen rationalen Diskursrahmen vorfindet, in dem er seine Religion leben und gleichzeitig kritisch dekonstruieren kann. Seine Erzählung war somit auch eine deutliche Botschaft an das Aufnahmeland, in der er vor einer laschen Haltung gegenüber religiösen Extremisten hierzulande warnte. Milad begegnet in Deutschland nur selten Muslimen, zum Beispiel wenn er Lebensmittel in einem ›türkischen‹ Geschäft einkauft. Er erzählte, wie er
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Selbsterzählungen zwischen Treasure und Trigger
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Deutschland für die gute materielle Versorgung dankbar sei. Er sei aber auch enttäuscht, dass er hier gegen seine Erwartung keine europäische Entsprechung des arabischen chronotope in Form einer religiös bestimmten ›christlichen deutschen Gesellschaft‹ vorgefunden habe. Er fühlte sich als Christ in einer überwiegend säkularen Gesellschaft nicht so ›zugehörig‹ wahrgenommen wie erwartet und befürchtete nun, dass extremistische Muslime die hier herrschende Religionsfreiheit für eine stärkere Einflussnahme ausnutzen könnten. An diesem Punkt lässt mich die Unruhe nicht mehr los, dass der Muslim Khaled und der Christ Milad sich doch einiges zu sagen hätten, würden sie sich in einem offenen Gespräch begegnen wollen. An diesem Willen mangelt es indes bisher, und vielleicht auch an der gegenseitigen Sprachfähigkeit. Tatsächlich besteht hier eine nicht einfache Konstellation: Ihre beschriebenen Selbsterzählungen könnten ihr Zusammenleben in Deutschland durchaus bereichern und erleichtern. Sie können andererseits aber auch Erinnerungen des gesellschaftlichen Scheiterns wachrufen und dabei traumatisierte Menschen neu verletzen. So vermeidet auch Farid in Wiesbaden solche Begegnungen lieber. Er selber hatte sich im ersten Jahr in Deutschland religiöser orientiert als er in Syrien war. Er benötigte die Religion als Anker, um sich selber in der neuen Situation zurechtfinden zu können und seine Resilienz gegenüber den erlebten Traumata zu stärken. In Wiesbaden leben viele syrische Christen, die meisten seit Jahrzehnten, andere sind wie Milad gerade erst gekommen. Farid kennt noch keinen einzigen davon. Er hält sich lediglich an den Fotos der Vergangenheit fest. In mehreren Selbsterzählungen zeigte sich so zum Thema der ›Beheimatung in religiöser Vielfalt‹ nicht nur die Nachahmung eines sozial erwünschten Verhaltens, sondern auch die authentische Kundgabe eines seriösen Eigeninteresses. Trotzdem ist die Situation zugegebenermaßen schwierig. Wie können z. B. christliche Opfer einer religiös markierten Verfolgung durch den ›Islamischen Staat‹ (IS) im Aufnahmeland Menschen begegnen, die sie als ›zugehörig‹ zur Tätergruppe markieren, die aber häufig selber Opfer des IS geworden sind? Auch andersherum ist eine solche Begegnung alles andere als einfach. Die ausgewerteten Interviews zeigen, dass die Narrative der ›Beheimatung in religiöser Vielfalt‹ des arabischen chronotope in den zugewanderten Menschen noch aktiv sind, aber sie schaffen es meist (noch) nicht, diese als Ressource für Begegnungen in Deutschland zu nutzen. Und doch finden solche Begegnungen alltäglich und überall dort statt, wo zugewanderte und einheimische Kinder oder junge Erwachsene aus allen Milieus der Migrationsgesellschaft in unseren Kitas, Schulen, Sportvereinen oder sozialen Einrichtungen miteinander lernen, Fußball spielen oder anderweitig gemeinsam beschäftigt sind. Wer erinnert hier an die Ressourcen und Alltagsroutinen des interreligiösen Zusammenlebens in den Herkunftsländern? Wer hält hier die traditionellen Narrative am Leben, mit denen diese Begegnungen
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empowert werden können? Wie könnte ein pädagogischer Einsatz dieser Narrative gelingen, der ihren zwischen Treasure und Trigger oszillierenden Impact traumasensibel didaktisiert? Wie können sie letztlich damit auch die narrative Identität der deutschen Migrationsgesellschaft befruchten? Auch aus solchen Überlegungen heraus ist diese Arbeitshilfe entstanden.
Trigger-Alarm Es ist in diesem Kapitel unter anderem auch deutlich geworden, dass Selbsterzählungen religiöser Diversität eine Grenze haben, jenseits derer sie verletzend und übergriffig können. Andere Menschen, z. B. Opfer einer religiös markierten Verfolgung, können dadurch getriggert werden. Daher soll im Abschluss dieses und der folgenden Kapitel jeweils besonders auf solche Trigger-Punkte besonders hingewiesen werden, die beim Einsatz dieser Narrative im pädagogischen Bereich besonders berücksichtigt werden müssen: – Die Selbsterzählung als guter Nachbar oder Freund von Angehörigen anderer Religionen kann diejenigen triggern, die durch ihre Nachbarn oder Freunde religiös diskriminiert oder verfolgt wurden. – Islam-bashing als Teil christlicher Opfer-Erzählungen ist eine psychologisch verständliche Reaktion traumatisierter Menschen. Wenn es darüber hinaus zu einer gesellschaftspolitischen Agenda wird, ist es ein Trigger. – Eine idealisierende Überhöhung der Situation in Syrien vor 2010 blendet die zahlreichen internen Probleme aus, die das Land seit Jahrzehnten prägen. – Der stete Verweis auf die aus dem ›Ausland‹ importierten Probleme birgt die Gefahr, in Verschwörungstheorien, und dabei oft auch in antisemitische Stereotype abzugleiten.
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Teil II – Sieben Narrative und ihre Didaktisierung
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¯d ı wahda: Die ›einige Hand‹ von Kopten und Muslimen in den ˙ ägyptischen Revolutionen von 1952 und 2011
Darstellung und kritische Sichtung des Narrativs
Der Moderator Muhammad al-Ghiti zeigt die ›einige Hand‹. Quelle: https://www.youtube.com /watch?v=VUPa6GurqGA, Min 8:30 (letzter Zugriff am 18. 11. 2022).
Die Beziehung von Muslimen und koptischen Christen, deren Bevölkerungsanteil in Ägypten aktuell mit etwa 10 % angegeben wird, ist Gegenstand häufiger gesellschaftlicher Selbsterzählungen. Dabei soll in der Regel die Botschaft vermittelt werden, dass Kopten und Muslime als Bürger des Staatsvolkes füreinander einstehen und sich gemeinsam gegen extremistische Kräfte wehren, welche durch terroristische Anschläge, unter anderem auf die Christen des Landes und ihre Kirchen, den gesellschaftlichen Frieden gefährden. Eine ikonische Geste dafür ist die erhobene ›eine Hand‹ oder ›einige Hand‹ (ı¯d wahda). Das Narrativ ˙ der ¯ıd wahda gehört dabei bereits zur Gründungserzählung der ägyptischen ˙ Nation. Es ruft den gemeinsamen Kampf von koptischen, muslimischen und jüdischen Ägyptern in Erinnerung, die seit 1919 die nationale Souveränität gegen
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¯d ı wahda: Die ›einige Hand‹ von Kopten und Muslimen ˙
die britische Kolonialherrschaft erkämpften, die in der 1952er Revolution gegen die eigene Monarchie die Demokratie erstritten und die in der 2011er Revolution die Abdankung des Langzeitherrschers Mubarak erzwangen. Im Bild zeigt Muhammad al-Ghiti, Moderator des ägyptischen Satteliten-TV-Senders LTC, diese Geste im Jahr 2017 als Reaktion auf einen Terroranschlag des selbst ernannten ›Islamischen Staats‹ (IS) auf einen Bus mit koptischen Passagieren im Gouvernement al-Minya, bei dem am 26. Mai 2017 mindestens 29 Menschen starben. Der Moderator hält dabei einen Miniaturkoran und ein Kreuz in der Hand. Sein kritisches Magazin/Talk-Show Sah el-No¯m – zu deutsch etwa »Wach ˙ ˙ auf!« – beschäftigt sich regelmäßig mit aktuellen gesellschaftspolitischen und religiösen Themen.
Fakes and facts! Atheismus oder Konfessionsfreiheit gilt vielen Ägyptern bis heute als eine schwer verständliche individuelle Entscheidung. Ägypter sind von ihrem Selbstverständnis her Muslime und Kopten.111 Während der Arabellion 2011 schützten Muslime und Kopten sich auf dem zentralen Tahrir-Platz in Kairo gegenseitig zu ihren Gebetszeiten. Kreuz und Koran wurden gemeinsam symbolisch erhoben, Geistliche von beiden Seiten unterstützen die Revolutionäre. Und doch hatte die ägyptische Revolution im Jahr 2011 weder eine religiöse Agenda, noch verbindet sich mit der ¯ıd wahda ein explizit religiöses Narrativ. ˙ Der Text unter dem Video von Muhammad al-Ghiti lautet in freier Übersetzung: »Muslim und Christ, einige Hand … Wir leben unterm Himmel im einigen Land!« Im Vordergrund steht dabei die gemeinsame Teilhabe am einen Vaterland, häufig verbunden mit der Parole des entstehenden ägyptischen Nationalstaates von 1919: »Um die Religion kümmert sich Gott – wir kümmern uns gemeinsam um das Vaterland« (Al-dı¯n li’llah wa’l- watan li’l- g˘amiʿ). Das Nar˙ rativ drückt dabei die Überzeugung aus, dass religiöser Extremismus notwendig in die nationale Spaltung (fitna taifiya) führen müsse, während andererseits eine ˙ religionslose Gesellschaft nicht genügend Abwehrkräfte gegen Missstände wie Korruption und gewalttätige Unordnung (baltageia) aufweisen könne. Also liegt die gesuchte Lösung in einem Gesellschaftsvertrag zwischen religiösen Menschen und Gruppierungen, deren Religionen die Grundlagen dieses gemeinsamen Vertrags aber nicht durch ihre exklusiven Rechtsordnungen – etwa die Scharia
111 Die komplexe Lage der orientalischen Christen und die Vertreibung der arabischen Juden aus ihren Herkunftsländern wurden in den vorangehenden Kapiteln dieser Arbeitshilfe bereits ausführlich besprochen und werden auch in den folgenden Narrativen thematisiert.
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Darstellung und kritische Sichtung des Narrativs
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oder ein kirchliches Recht – bestimmen dürfen.112 Damit ist noch keine freiheitlich säkulare Gesellschaft, sondern eher eine auf religiösen Werten basierende Ordnung der politischen Partizipation ohne konfessionalistische Übergriffigkeiten gefordert. Die ägyptische Revolution auf dem Tahrir-Platz 2011 hatte daher keine explizit religiöse Agenda, aber die freiheitliche demokratische Neuordnung Ägyptens wurde nicht aus einer militant säkularen Weltsicht, sondern aus einer Wertegemeinschaft von glaubenden Menschen heraus gefordert. Die etablierten religiösen Autoritäten allerdings – also der Groß-Scheich der Azhar-Universität und der Patriarch der koptisch-orthodoxen Kirche – sprachen sich deutlich gegen die Proteste auf dem Tahrir-Platz aus und gaben der Revolution erst nach der Absetzung von Präsident Mubarak ihren Segen. Einfache Geistliche beider Religionen, welche die Protestierenden auf dem Tahrir-Platz unterstützt hatten, taten dies lange gegen die öffentlich geäußerte Meinung ihrer eigenen Religionsführer. Die Bürger auf dem Tahrir-Platz standen somit auch gegen politische, familiäre und religiöse Autoritäten und entwickelten dabei eine autonome ethische Positioniertheit.113 Diese neue Erfahrung einer kritischen Subjektwerdung lässt heute speziell die jüngere Generation mit Skepsis auf den gesellschaftlichen Einfluss religiöser Gemeinschaften oder gar religiöser Parteien blicken. Der Abwehrkampf gegen den so genannten ›Islamischen Staat‹, der auch Libyen und Ägypten mit Attentaten überzog, hat diesen Prozess nach der Arabellion noch beschleunigt.
Zielpublikum und Zweck der traditionellen Erzählung Das Narrativ der ¯ıd wahda entstammt so den politischen Aktivitäten demokra˙ tischer muslimischer, koptischer und jüdischer Milieus, die gemeinsam gegen die herrschenden Autoritäten in den gesellschaftlichen Umwälzungen der Jahre 1919, 1952 und 2011 protestierten. Daher ist es seit jeher an die Agitation im öffentlichen Raum gebunden. Ihr pädagogisches Setting ist also kein literarisches, sondern es wirkt durch seine Inszenierung in unterschiedlichen gesellschaftskritischen Erzähltraditionen. Wie am Beispiel von Muhammad al-Ghiti gezeigt, kann dies eine Brandrede aus Anlass des terroristischen Attentats gegen Kopten in al-Minia sein. Am Höhepunkt seiner Rede zeigt er die ¯ıd wahda und ˙ erzählt beschwörend von der nationalen Einheit in religiöser Diversität. Die religiöse Vielfalt Ägyptens wird von ihm als kultureller Reichtum und Ressource 112 Diese komplexe Situation wird bei der Behandlung des Narrativs der »Charta von Medina« weiter ausgeführt. 113 Frank van der Velden (2014) 166–172.
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¯d ı wahda: Die ›einige Hand‹ von Kopten und Muslimen ˙
– ja als Grundlage der modernen ägyptischen Gesellschaft – verstanden, die es zu verteidigen gilt. Als ikonische Geste wird die ¯ıd wahda heute vor allem auch mit dem Sieg der ˙ ägyptischen Revolution von 2011 und mit den Geschehnissen auf dem zentralen Tahrir -Platz in Kairo verbunden, auf dem sich teilweise mehr als 1 Million Menschen versammelten. Ya¯ el-Meda¯n, die inoffizielle Hymne der ägyptischen Revolution von 2011, redet den Tahrir-Platz als Allegorie der nationalen Einheit an und bedient sich dabei bereits in der ersten Strophe des traditionellen Narrativs der ¯ıd wahda: ˙
»Oh’ Platz, wo warst Du die ganze lange Zeit? / Mit Dir unser Singen, mit Dir unser Zaudern / wir flohen vor unserer Furcht, und sind dann doch standhaft geblieben. / Einige Hand (ı¯d wahda), Tag und Nacht / mit Dir ist nichts unmöglich / Die Stimme der ˙ Freiheit bringt uns zusammen: ›Es reicht!‹ / Unser Leben machte durch sie Sinn / Es gibt kein rückwärts … uns’re Stimme wurde hörbar, und der Traum: ›Es reicht!‹ blieb nicht mehr verboten. / Oh’ Platz, wo warst Du die ganze lange Zeit?«114
Der im Internet frei zugängliche Song (siehe Link) ist gut geeignet, um sich in das Narrativ der ¯ıd wahda und seine gesellschaftskritische Erzähltradition ein˙ zuhören. Genauso spannend wie Musik und Text sind übrigens die ausführenden Musiker und Songwriter. CairoKee ist eine junge ägyptische Kultband im Bereich einer engagierten Rhythm&Blues-Musik. Aida el-Ayoubi hingegen ist eine Ikone der neueren ägyptischen Musik, die in den 1980er Jahren als singer-songwriter ein internationaler arabischer Star wurde. Aida el-Ayoubi gilt heute nach einer spirituellen Neuorientierung als führende Sufi-Sängerin Ägyptens.
Didaktisches Beispiel: »Zwischen heute und dort« (Performance ¯ ti) des hakawa ˙ Vor der inflationären Verbreitung von Fernsehen und Internet waren die Kaffeehäuser der Nachbarschaften die Bühnen dieser gesellschaftskritischen Erzählungen, und der hakawa¯ti (Geschichtenerzähler) war ihr Performer. Diese ˙ Tradition der Erzähler, die sich in allen arabischen Ländern des Nahens Ostens fand, mutet heute auch in den modernen arabischen Nationalstaaten seltsam anachronistisch an. Tatsächlich erzählte der hakawa¯ti aber nicht nur Geschich˙ ten aus 1001er Nacht, sondern er griff bei seinen Aufführungen auch regelmäßig auf die lokalen kulturellen Narrative zurück und ermutigte sein Publikum, die traditionellen alltäglichen Routinen der Nachbarschaften (ar. ha¯ra) aufrecht˙ 114 Eigene Übersetzung aus dem arabischen Original: Amir Aid / Aida el-Ayoubi 2011 Cairokee ft Aida El Ayouby Ya El Medan – ﻛﺎﻳﺮﻭﻛﻲ ﻭ ﻋﺎﻳﺪﻩ ﺍﻻﻳﻮﺑﻲYouTube, (letzter Zugriff am 16. 08. 2022).
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Didaktisches Beispiel: »Zwischen heute und dort« (Performance des hakawa¯ti) ˙
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zuerhalten, in denen auch eine interreligiöse Etikette geübt wurde: das gegenseitige Gratulieren zu den religiösen Jahrfesten der anderen, die Teilnahme bei frohen und traurigen Familienangelegenheiten der anderen etc.115 Wichtige literarische Verarbeitungen dieses narrativen Settings finden sich zum Beispiel beim ägyptischen Literaturnobelpreisträger Naguib Mahfouz (Awla¯d ha¯retna116 ˙ »Die Kinder unseres Viertels« 1959) oder beim syrischen Schriftsteller Rafik Shami (»Sophia oder der Anfang aller Geschichten« 2015). Das Narrativ besitzt als Teil des gesellschaftlichen Diskurses so viel verändernde Kraft, dass große Erzähler wie Rafik Schami ihre Kunst heute im Exil ausüben müssen. Auch Naguib Mahfouz stand 1959 nach der Veröffentlichung von Awla¯d ha¯retna in ˙ Ägypten massiv unter Druck konservativ religiöser Kreise.117 Die traditionelle Erzählform des hakawa¯ti lässt die Hörer also nicht un˙ berührt, sondern fordert sie dazu auf, in die Erzählung einzutreten, eine Rolle zu übernehmen und damit die Geschichte zu ihrer Geschichte zu machen. In Deutschland ist diese Gattung des Erzählens vor allem über die Bücher eines der erfolgreichsten zeitgenössischen Autoren bekannt: Rafik Schami. Die 30 minütige Dokumentation »Rafik Schami – der Erzähler«118 des SWR-aus dem Jahr 2019 eignet sich gut zur Vorbereitung des didaktischen Beipiels. Der Film zeigt, wie bereits der junge Rafik Schami seine Erzählkunst von klassischen Stoffen aus »1001er Nacht« auf aktuelle Sujets übertrug, und wie dieser kritische Blick auf die Gesellschaft ihn letztlich ins Exil trieb. Mir bleibt im Film die Szene erinnerlich, als Rafik Schami nach seiner Flucht aus Damaskus in den 1960er Jahren an der deutschen Grenze vom Zoll kontrolliert wird und etwa ein Drittel seines Gepäcks zur Überraschung der Beamten aus vollgeschriebenen Kladden besteht – der Schatz seiner gesellschaftskritischen Erzählungen, der ihm als Fundus für Jahrzehnte literarischer Aktivität ausreichen wird. Rafik Schami konserviert in diesem Schatz den chronotope119 der arabischen Nationalstaaten in der Phase seines Entstehens und seiner Etablierung. In seinem Buch »Sophia oder der Anfang aller Geschichten« (2015), das bis in die Jetztzeit hineinreicht, kann er aktuelle Ereignisse, wie die Arabellion und die Fluchtmigration ab dem Jahr 2015 thematisieren, so dass das gesellschaftskritische Erzählen des hakawa¯ti immer noch ˙ zu funktionieren schein. Und doch: Rafik Schami hat dieses Genre des Erzählens literarisiert, mit der Folge, dass er heute auf seinen Lesungen meist vor einem älteren Publikum aus dem Bildungsbürgertum der deutschen Mehrheitskultur erzählt. 115 116 117 118
Siehe dazu das Kapitel »Alltagsroutinen interreligiöser Diversität«. Wörtl. »Die Kinder unserer Gassennachbarschaft« (Mahfouz 1994). In Ägypten konnte sein Buch erst 2006 verlegt werden. Vgl. hierzu: Sendung: Rafik Schami – Der Erzähler – Planet Schule – Schulfernsehen multimedial des SWR und des WDR (planet-schule.de), (letzter Zugriff am 16. 08. 2022). 119 Zu diesem Begriff siehe das Kapitel »Der chronotope der arabischen Nationalstaaten«.
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¯d ı wahda: Die ›einige Hand‹ von Kopten und Muslimen ˙
Material Als Material für das folgende didaktische Beispiel habe ich bewusst keine literarische Verarbeitung eines Narrativs durch Rafik Schami oder Naguib Mahfouz ausgewählt, sondern die Performance »Zwischen heute und dort« des in Berlin lebenden syrischen Schauspielers Bassam Dawood aus dem Jahr 2020, die im folgenden Beitrag als Video und als Skript dokumentiert wird. Wenn Bassam mit zweisprachigen Programmen (arabisch / deutsch) als hakawa¯ti (Erzähler) in ˙ Schulen, Jugendzentren oder Kitas vor einem gemischten Publikum von einheimischen und zugewanderten Menschen auftritt, wird dabei auch die gemeinsame Teilhabe von Christen und Muslimen am syrischen Vaterland thematisiert und die gleiche Botschaft des Narrativs der ¯ıd wahda transportiert. ˙ Die Performance beginnt mit der Erzählung einer Rahmengeschichte, welche in die Tradition des arabischen hakawa¯ti einführt und diese an ein bestimmtes ˙ Café in der Altstadt von Damaskus anbindet. In Sichtweite des Cafés liegt die berühmte Umayyaden-Moschee, auf deren weitläufigen Grund und Boden im Laufe der Jahrtausende alten Kulturgeschichte fast alle in Syrien aktiven Religionen ihre Kultbauten errichtet hatten: ein aramäischer Tempel für den Gott Hadad, ein römischer Jupiter-Tempel, eine christliche Kathedrale, eine jüdische Synagoge, schließlich eine Moschee. Die Gebäude repräsentieren die religiös diverse Geschichte Syriens. Dann wechselt die Erzählung in die Jetztzeit. In den Gassen des Viertels um das Café wachsen drei ›beste Freundinnen‹ auf: Salam, Salwa und die Christin Suzanne. Ihr vertrautes Miteinander und ihre erprobten interreligiösen Routinen werden durch die politischen Umwälzungen seit dem Jahr 2011 gefährdet, bis dass eine der Freundinnen – Salam – das Land verlassen muss. Salam hat im Arabischen die Doppelbedeutung als Mädchenname und als ›Friede‹: Mit ihr wird also der Friede aus Syrien vertrieben. Damit beginnt für das Mädchen Salam, das sich selber als areligiös bezeichnet, ein gefährdetes neues Leben auf der Flucht, im Schlauchboot nach Italien und weiter nach Schweden. Für die in Syrien verbliebene Muslimin Salwa und die Christin Suzanne bleibt die Aufgabe, ihre Freundschaft unter den schwierigen Bedingungen in Syrien zu bewahren. Die Geschichte endet letztlich mit offenen Fragen: Was wird die drei Freundinnen weiter verbinden? Welche Rolle spielt dabei die Erinnerung an die eigene Kultur und die eigenen Religionen, von denen Salam zwei Geschenke als ›Schätze‹ mit auf die Flucht nimmt?
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Didaktisches Beispiel: »Zwischen heute und dort« (Performance des hakawa¯ti) ˙
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Pädagogisches Setting Für das Erzählen im pädagogischen Handlungsfeld sind die gewohnten sozialen Routinen der vertrauten Lerngruppen oder der Schulgemeinschaft eine natürliche Umgebung, um über die Arbeit mit Narrativen Eigen- und Fremdwahrnehmungen zu diskutieren und neue emotionale und soziale Verhaltensmuster zu erproben. Das didaktische Beispiel eignet sich dabei sowohl für die höheren Jahrgänge weiterführender Schulen als auch für den Bereich der Erwachsenenbildung, speziell auch in gemischten Gruppen mit Menschen, die aus der Region des Nahen Ostens oder Nordafrikas zugewandert sind. Methodisch bieten sich dazu fächerübergreifende Projekte und Erzählwerkstätten an.120 Eine einfache didaktische Umsetzung im Rahmen einer Erzählwerkstatt kann nun darin bestehen, gemeinsam mit einer Lerngruppe den Mitschnitt dieser Performance im Internet zu betrachten oder – viel besser – Bassam Dawood selber zu einer Performance in die eigene Schule oder Bildungseinrichtung einzuladen. In beiden Fällen kann im Anschluss daran das offene Ende der Erzählung als Aufgabe für eine Fortschreibung der Geschichte mit alternativen Ausgängen genommen werden. So kann einzeln oder in Kleingruppen die Geschichte von Salwa und Suzanne in Damaskus weiter fortgeschrieben werden. Andere Kleingruppen können fortschreiben, was passieren würde, wenn Salam in Schweden in der Schule von ihren Freundinnen in Damaskus erzählt. Die Teilnehmenden der Lerngruppe sollten dies aus einer Rolle heraus tun, sei es dass sie in die Rolle einer der drei Protagonistinnen schlüpfen oder sei es, dass sie eine fiktive Person in die Geschichte einführen, aus deren Rolle sie erzählen – z. B. Familienangehörige von Salwa und Suzanne oder Mitschülerinnen und Mitschüler von Salam. Dadurch kann die Aufgabe mit einer Einladung zur eigenen ›Rollendiskussion‹ verbunden werden: wie würde ich in dieser Situation reagieren, bzw. wie erzähle ich mich selber in einer solchen Situation? Damit ist eine wichtige Bedingung der Arbeit mit Narrativen gewahrt, die niemals eine kritiklose Identifikation mit den Selbsterzählungen anderer intendiert. Vielmehr geht es immer um eine Arbeit an den eigenen Selbsterzählungen mit dem Ziel, dadurch neue emotionale und soziale Muster des eigenen Verhaltens zu erproben.
120 Vgl. PDF_Ausarbeitung der Methode _Technik_ Erzählen _erstellt am 14.11.08pdf_ (unikoeln.de) (letzter Zugriff am 02. 09. 2022).
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¯d ı wahda: Die ›einige Hand‹ von Kopten und Muslimen ˙
Alltagserfahrungen religiöser Diversität Das didaktische Beispiel thematisiert eine kultur- und religionsübergreifende Solidarität, die auch für schulische und außerschulische Lerngruppen in der deutschen Migrationsgesellschaft ein wichtiges Thema ist. Speziell für junge Menschen sind es existenzielle Entscheidungen, zu welcher Gruppe oder Community sie zugehörig sind oder als zugehörig ›gelesen‹ werden. Wie die wechselnden Communities sich in der Schule oder der Gesellschaft zueinander verhalten, ist das nächste große Thema, und an diesem didaktischen Beispiel lässt sich zeigen, wie man zum Thema religiöser Diversität im eigenen Alltag steht. Das Narrativ der ¯ıd wahda (eine / einige Hand) gibt dazu ein ermutigendes Beispiel ˙ aus der Region des Nahen Orients und Nordafrikas, und in diesem Sinne richtet sich die Aufgabe natürlich nicht nur an zugewanderte Menschen, sondern an die ganze Lerngruppe.
Selbsterzählungen von Zugehörigkeit und kultureller Diversität Bei Adoleszenten und jungen Erwachsenen ist aber zu beachten, dass in ihrer Alterskohorte das Thema der kulturellen ›Zugehörigkeit‹ eine ganz eigene Dynamik besitzt und dass andererseits ihre eigenen Formen der Selbsterzählung in kultureller und religiöser Diversität nicht unbedingt mit der ›antiquierten‹ Erzählform eines hakawa¯ti kompatibel sein müssen. So haben die jungen arabi˙ schen oder nordafrikanischen Communities in Deutschland und Europa, aber auch im Nahen Osten längst ihre eigenen Erzählformen entwickelt. Diese finden sich in graphic novels wie »Der Araber von morgen« von Riad Sattouf, aber auch in youtube-Formaten aktueller Influencer wie Anaïce (»Ah! Nice!«) Jokah oder Younes Jones. Zum Thema der ›Zugehörigkeit‹ zeigt sich hier zudem ein deutlicher Generationenumbruch. Während Riad Sattouf (Jahrgang 1978) in seinen graphic novels den Platz seiner binationalen Identität zwischen Frankreich und Syrien noch zu suchen scheint, behaupten die in den 1990er Jahren geborenen Jokah oder Jones bereits selbstbewusst eine diverse Transkulturalität als Normalfall der deutschen Migrationsgesellschaft.121 Vergleichbares gilt im Übrigen auch für die junge Generation im Nahen Osten und Nordafrika, die sich zum Beispiel in modernen graphic-novels wie »Metro« von Magdy el-Shafee (Ägypten
121 Ein klassisches Anschauungsbeispiel dieser Entwicklung ist ihre gemeinsame Performance »In der Weihnachtsbäckerei« von 2017: IN DER WEIHNACHTSBÄCKEREI REMIX (Offiziell) mit YOUNES JONES | Ah Nice – YouTube, (letzter Zugriff am 16. 08. 2022).
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Alltagserfahrungen religiöser Diversität
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2008)122 oder über Instagram-Videos selbst erzählt und dabei auf eine globalisierte Ästhetik setzt.
Neugier auf die Sicht des anderen: Perspektivenübernahmen Während sich die Formate ihrer Selbsterzählungen zunehmend globalisieren, bleibt es gleichwohl eine offene Frage, ob solche junge Erwachsene, die seit 2014 aus dem Nahen Osten und Nordafrika zugewandert sind, und junge deutsche Staatsbürger mit einer migrantischen Familiengeschichte aus der gleichen Region sich überhaupt als Mitglieder einer Community sehen wollen oder können. Die neu Zugewanderten fühlen sich mehrheitlich (noch) ihren Herkunftsländern zugehörig, die anderen sehen sich mehrheitlich als selbstverständlich ›deutsch‹ an.123 Diese Fragen der ›Zugehörigkeit‹ und was das ›Deutschsein‹ ausmacht, werden in allen Gruppen engagiert diskutiert.124 Die beteiligten Gruppen sind dabei offensichtlich auch untereinander sehr divers. Trotzdem werden sie von Teilen der deutschen Mehrheitsgesellschaft – nicht nur in den sozialen Netzwerken, sondern auch in der Politik – als uniform behandelt und mancherorts über stereotype Wahrnehmungen und problematische Fremdzuschreibungen ›gelesen‹.125 In dieser komplexen Situation kann das didaktische Beispiel nur dazu ermutigen, Vielfalt wahrzunehmen, Neugier auf die Sicht des anderen zu wecken 122 Zur ägyptischen graphic-novel »Metro« s. Mimi Kirk (2013). 123 Im Jahr 2014 gaben in einer Studie mit über 8.000 Teilnehmenden 77 % der befragten 16–15Jährigen an, Deutschland zu lieben und sich »deutsch zu fühlen«. 65 % der befragten 16–15Jährigen gab zudem an, dass es ihnen nicht wichtig sei, ob die anderen sie als Deutsche sähen oder nicht; vgl. Naika Foroutan et alii (2015) 48. 124 »Bei Jugendlichen stehen mit deutlichem Abstand offene, d. h. erlernbare bzw. erreichbare, Kriterien wie die deutsche Sprache zu sprechen (95,5 %) oder die deutsche Staatsangehörigkeit zu besitzen (76,4 %) an oberster Stelle. Nahezu ein Drittel der Jugendlichen erachten jedoch immer noch geschlossene, d. h. nicht erreichbare oder schwer erreichbare, Kriterien wie akzentfrei Deutsch zu sprechen (33,6 %) oder deutsche Vorfahren zu haben (31,4 %) für wichtig, um deutsch zu sein. Dem Verzicht auf das Kopftuch, das als Kriterium sowohl geschlossen als auch offen funktionieren kann, wird von einem Viertel der Jugendlichen Wichtigkeit zugesprochen (25,5 %). Alles in allem zeigt sich, dass Jugendliche ein deutlich offenes Verständnis vom Deutschsein haben« (Naika Foroutan et alii [2015] 50). 125 So werden zugewanderte muslimische Männer von identitären Nationalradikalen über stereotyp zugeschriebene Wesenseigenschaften als potenzielle Sexualstraftäter dämonisiert und dehumanisiert: Die Täter seien »in ihrer erdrückenden Mehrzahl junge Männer aus dem nordafrikanischen und orientalischen, kurz gesagt aus dem muslimischen Kulturkreis.« Ihre »Prägung durch den Islam und durch islamisch überlagerte vormoderne Stammeskulturen« verursache »Geringschätzung, ja Verachtung von Frauen, die als Besitz und Verfügungsmasse des Mannes oder der Sippe betrachtet werden.« So sei »›Sex als Mittel des Dschihad‹ allgegenwärtig« (Alice Weidel [2019] 116f).
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¯d ı wahda: Die ›einige Hand‹ von Kopten und Muslimen ˙
und Perspektivübernahmen anzuregen. Was können junge Geflüchtete aus dem Nahen Osten und Nordafrika noch mit den Erzähltraditionen und den Narrativen (ı¯d wahda) ihrer Elterngeneration verbinden? Wie verbindet die global˙ isierte Erzählkultur sozialer Netzwerke sie andererseits mit der kulturell und religiös diversen jungen Generation der deutschen Migrationsgesellschaft? Wie erzählen beide ihre Vorstellungen eines kulturell und religiös diversen Zusammenlebens? Welche Rolle spielt dabei Transkulturalität als Normalfall der Migrationsgesellschaft? Und wie können die einzelnen Menschen von der deutschen Mehrheitsgesellschaft in ihrer eigenen kulturellen Diversität und jenseits stereotyper Fremdzuschreibungen wahrgenommen werden?
Outcome: Stärkung von ästhetischer und anamnetischer Kompetenz Interreligiöses Lernen bedeutet auch, die Wahrnehmung und die Erinnerung kultureller Vielfalt zu stärken und sie in einem steten Dialog mit dem sozialen Umfeld zu halten. Der katholische Religionspädagoge Stephan Leimgruber, einer der Gründerväter des Interreligiösen Lernens, legt viel Wert darauf, dass interreligiöses Lernen zuerst eine Frage der differenzierten Wahrnehmung des anderen ist. Daran schließt er die Frage an, wie diese »ästhetische Kompetenz« mit der eigenen Lebensgeschichte, und mit der Lebensgeschichte und Lebensgegenwart anderer Menschen in Verbindung gebracht werden kann. Dies Fähigkeit nennt er »anamnetische Kompetenz«. »Anamnetische Kompetenz bedeutet die Fähigkeit zum religiösen Lernen durch Erinnerung. Hier werden das kulturelle Gedächtnis aktiviert und frühere Erkenntnisse und Erfahrungen ins Bewusstsein erhoben im Hinblick auf mögliche Korrekturen. Lernen durch Erinnerung und Vergegenwärtigung im Bewusstsein vermittelt der Religiosität Tiefe und Einwurzelung, eröffnet aber zugleich neue Zukunftshorizonte.«126
Das didaktische Beispiel des hakawa¯ti zielt auf diese ästhetische Kompetenz der ˙ Vielfaltswahrnehmung genauso wie auf die anamnetische Kompetenz. Die junge Generation in den arabischen Herkunftsländern, aber auch in der deutschen Migrationsgesellschaft, richtet ihre Wahrnehmung anhand einer globalisierten Ästhetik aus, die von ihnen kompetent hybridisiert wird. Wieviel Erinnerung und Vergegenwärtigung des kulturellen Gedächtnisses braucht es hier überhaupt noch? Wieviel Tiefe und Einwurzelung der eigenen hybriden Lebenspraxen geht andererseits verloren, wo dieses kulturelle Gedächtnis fehlt? Das kulturelle Gedächtnis, das mit dem Narrativ der ¯ıd wahda verbunden ist, bleibt jedenfalls im ˙ 126 Stephan Leimgruber (2012) 100f, Hervorhebung dort.
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Infokasten: Die ›Flucht der Heiligen Familie nach Ägypten‹
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Rahmen einer gemeinsamen Suchbewegung wichtig, um über die Generationen und kulturellen Prägungen hinweg miteinander gesellschaftskritisch erzählen zu können und gemeinsam handlungsfähig zu bleiben.
Trigger-Warnung Wie jedes Narrativ hat auch dieses seine Gefährdungen, durch die – häufig ohne böse Absicht oder ohne dies überhaupt zu bemerken – Beteiligte oder unbeteiligte Dritte verletzt werden können oder ihr ›Eigenes‹ in der Darstellung des Anderen nicht mehr wiedererkennen können. Daher ist bei den Planungen und Durchführungen dieses didaktischen Beispiels auch folgendes zu beachten: – Ist dieses Narrativ der ¯ıd wahda nicht anfällig für eine übergriffige Religio˙ sierung, weil nur Muslime und Christen in den Blick genommen werden und der Beitrag konfessionsfreier oder areligiöser Menschen zur ägyptischen Revolution ungenannt verbleibt? – Wird bei diesem Narrativ nicht zudem verdrängt, dass die ¯ıd wahda (einige ˙ Hand) bis in die 1950er Jahre auch Menschen jüdischer Religionszugehörigkeit umfasste?127 – Traditionelle Erzählformen, wie die des hakawa¯ti, sind nicht automatisch ˙ kompatibel mit den Formen der Selbsterzählung junger Menschen im Nahen Osten und Nordafrika. Hier ist die Diversität ihrer selbstgewählten ›Zugehörigkeiten‹ und Erzählformen zu beachten.
Infokasten: Die ›Flucht der Heiligen Familie nach Ägypten‹ Eine für den modernen ägyptischen Nationalstaat typische Ausformung des arabischen chronotope ist die Vorstellung einer nationalen Identität, die allegorisch als »ägyptische Persönlichkeit« (al-shakhsiyya al-misriyya)128 beschrieben wird. Gemäß dieser Idee hat ˙ Zeit den˙Angehörigen der drei großen monotheistischen Ägypten seit pharaonischer Religionen Zuflucht gewährt und führt dies nun unter den Bedingungen eines modernen Nationalstaats in einer religiös begründeten Toleranz (ar. tasa¯muh) weiter. ˙ In der Reihe dieser angenommenen ›monotheistischen DNA‹ Ägyptens – dazu wird der Glaube Echnatons an einen höchsten Gott genauso gezählt wie der Aufenthalt der Hebräer unter den biblischen (und koranischen) Patriarchen Josef und Moses – ragt die historisch äußerst unsichere ›Flucht der Heiligen Familie nach Ägypten‹ besonders heraus. Der biblischen Legende nach sollen Jesus, Maria und Josef auf der Flucht vor dem Kindermord des Herodes Zuflucht in Ägypten gesucht haben. Die koptische Kirche leitet aus einem kurzen Vermerk des Matthäus-Evangeliums (Mt 2,18) eine mehrjährige Reise der Heiligen Familie durch das ganze Land ab. 127 Siehe dazu das Kapitel zum Narrativ des bila¯d al-Andalus (die Landschaften Andalusiens). 128 Vgl. Gudrun Krämer (2018) 297f.
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¯d ı wahda: Die ›einige Hand‹ von Kopten und Muslimen ˙
Diese Tradition ist bereits seit der Spätantike gut belegt und wird von vielen Christen und Muslimen in Ägypten bis heute fest geglaubt. In diesem an touristischen Attraktionen ja nicht gerade armen Land wird auf der Seite des Egyptian Ministry of Tourism seit 1999 der Weg der Hl. Familie als touristisches Reiseziel beworben. Die im Folgenden zitierte Aktualisierung stammt aus dem Jahr 2019 und gibt die offizielle staatliche Sicht einer modernen Selbsterzählung wieder: »Because the Egyptian people are the essential product of this ›harmony in diversity‹, ›otherness‹ has become an integral component of their awareness. A basic constituent of their national and cultural identity. This characteristic has yielded one important result: Egypt was, and still is, the land of refuge in the widest sense of the word. A place of tolerance and dialogue for peoples, races, cultures and religions. On this land of Egypt, the first voice of proclaiming the oneness of god rang out in the 14th century B.C. through Akhnaton’s Monotheistic creed. Moses and Jesus lived in the same land. Later, Islam entered without conflict. The advent of the Holy Family to Egypt, seeking refuge, is an event of the utmost significance in our dear country’s long, long history. Moved by the spirit of prophecy, Hosea foresaw the flight from Bethlehem where there was no safe return of the holy refugees from their sanctuary in Egypt, where Jesus had found a place in the hearts of the Gentiles, when he uttered God’s words: ›Out of Egypt have I called my son‹. (HOSEA 11:1)«129 Der Stolz, den noch heute ägyptische Christen wie Muslime darüber empfinden, Asyl-Ort für die Heilige Familie gewesen zu sein, ist immerhin bemerkenswert. Auch hier ist es so, dass die Erinnerung daran erst in den 1880er Jahren neu erwachte. Einerseits steht diese Bewusstwerdung im Kontext der biblischen Archäologie und der damals einsetzenden »Heilig-Land-Reisen« europäischer Pilger. Andererseits beginnt in dieser Zeit eine stetig anwachsende Fluchtmigration christlicher und jüdischer Bevölkerungsteile aus dem sich auflösenden osmanischen Reich nach Ägypten. Die Integration dieser christlichen armenischen, syrischen und griechischen Migranten in den entstehenden modernen Nationalstaat ließ speziell in den Großstädten Kairo und Alexandrien bis in die 1960er Jahre eine neue religiöse und kulturelle Diversität entstehen. Auch deren Lebenserfahrungen und ihre durch den arabischen chronotope geweckten Hoffnungen spiegeln sich im Narrativ der ›Flucht der Heiligen Familie nach Ägypten‹ wieder.
129 Webside (2019) About – Holy Family in Egypt (letzter Zugriff am 16. 08. 2022).
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Bassam Dawood: Ein Abend mit Al-Hakawati (Skript)
ﺑﻴﻦ ﺍﻵﻥ ﻭﻫﻨﺎﻙ/ ﺃﻣﺴﻴﺔ ﺣﻜﻮﺍﺗﻲ »Zwischen heute und dort« Bassam Dawood130 ist ein syrischer Schauspieler, Geschichtenerzähler und Theaterregisseur. Im Jahr 2001 schloss er sein Studium am »Higher Institute for Dramatic Arts« in Damaskus ab und arbeitete im Anschluss als Schauspieler für viele Theater- und Fernsehproduktionen, sowie als Regieassistent und später als Theaterregisseur. Bassam bildete dabei viele Schauspieler am »Institute for Theater and Performing Arts« und am interaktiven Kindertheater des »Rafawid«-Projekts in Damaskus aus. Seit 2012 lebt er in Berlin und gehört dort zu den Gründern des »Syrian House of Tale«, wo syrische Erzählungen mit Deutschland und mit der Welt geteilt werden. Er selber performt mit seiner Kunstfigur »Abu Fakir« als Hakawati (Geschichtenerzähler) und bewahrt so bei Auftritten auf Festivals und Veranstaltungen in ganz Europa das authentische Erbe dieser traditionellen Erzählkunst. In Deutschland organisiert Bassam über das VivaceProjekt regelmäßige Theater-Workshops mit Kindern und jungen Erwachsenen. Er gehört weiterhin zum Gründungsteam von »Radio Souriali«, wo er als Programmmanager für Bildung und Theater, sowie als Moderator einer Sendung arbeitet, die solche Geschichten von Syrern sammelt und dokumentiert, die ansonsten von den Medien übersehen werden. Die zweisprachige Performance »Zwischen heute und dort« aus dem Jahr 2020 thematisiert das Zusammenleben von Christen und Muslimen in Syrien vor und während des seit 2011 andauernden Bürgerkriegs. Ein Mitschnitt der Performance ist auf dem Youtube-Kanal der Katholischen Erwachsenenbildung im Bistum Limburg zu sehen.
130 Der folgende Text ist eine deutsche Übersetzung des englischen Originals durch den Autor: Bassam Dawood – Barzakh (letzter Zugriff am 02. 09. 2022).
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Bassam Dawood: Ein Abend mit Al-Hakawati (Skript)
Video verfügbar unter: https://www.youtube.com/embed/C6LSxeT39zU?feature=oembed (letzter Zugriff am 18. 11. 2022).
Skript131 Übersetzung: Guten Abend
ﻣﺴﺎ ﺍﻟﺨﻴﺮ:ﺑﺴﺎﻡ
ﻣﻮﺟﻮﺩ ﺑﺒﺮﻟﻴﻦ ﻣﻦ ﺣﻮﺍﻟﻲ ﺍﻟﺴﺒﻊ ﺳﻨﻴﻦ، ﺃﻧﺎ ﺑﺴﺎﻡ ﺩﺍﻭﺩ ﻣﻤﺜﻞ ﻭﺣﻜﻮﺍﺗﻲ ﺳﻮﺭﻱ:ﺑﺴﺎﻡ Übersetzung: Mein Name ist Bassam Dawood, ich bin ein syrischer Schauspieler und Geschichtenerzähler, der seit fast sieben Jahren in Berlin lebt. ﻭﺍﻟﺤﻜﻮﺍﺗﻲ ﺷﻐﻠﺔ ﻛﺘﻴﺮ، ﻭﻳﻠﻲ ﻫﻮ ﺍﻻﺳﻢ ﺍﻟﺘﻘﻠﻴﺪﻱ ﺍﻟﺴﻮﺭﻱ ﻟﻠﺴﺘﻮﺭﻳﺘﻴﻠﺮ، ﺍﻟﻴﻮﻡ ﺡ ﺍﺣﻜﻴﻠﻜﻮﻥ ﻋﻦ ﺍﻟﺤﻜﻮﺍﺗﻲ:ﺑﺴﺎﻡ ﻭﺍﻛﻴﺪ ﺣﻜﻮﺍﺗﻲ، ﻭﻋﻨﺪﻭ ﻣﺨﺘﺎﺭ ﻭﺯﻋﻴﻢ ﻭﺳﻮﻕ ﻭﺣﻤﺎﻡ ﻭﻗﻬﻮﺓ، ﻣﻦ ﻭﻗﺖ ﻣﺎﻛﺎﻥ ﻛﻞ ﺣﻲ ﺑﺎﻟﻤﺪﻳﻨﺔ ﻣﺴﺘﻘﻞ،ﻗﺪﻳﻤﺔ Übersetzung: Heute erzählen wir euch von Al-Hakawati, das ist der traditionelle syrische Name für den Storyteller/ Geschichtenerzähler. Al-Hakawati ist eine sehr alte kulturelle Institution, von der Zeit her, als jeder Stadtteil unabhängig und eigenständig war, und in jedem Stadtviertel ein Anführer, ein Stadtviertelbürgermeister, ein Marktplatz, ein Hamam (orientalisches Bad), ein Café und natürlich ein Hakawati zu finden war. ﻫﻮ ﻛﺎﻥ ﺍﻟﺘﻠﻔﺰﻳﻮﻥ ﺗﺒﻊ ﻫﺪﻳﻚ، ﻭﻣﺼﺪﺭ ﺍﻟﻤﻌﻠﻮﻣﺎﺕ، ﻭﺍﻟﺜﻘﺎﻓﺔ، ﻭﺍﻟﺘﺴﻠﻴﺔ، ﺍﻟﺤﻜﻮﺍﺗﻲ ﻛﺎﻥ ﻫﻮ ﻭﺳﻴﻠﺔ ﺍﻟﺘﺮﻓﻴﻪ:ﺑﺴﺎﻡ ﻭﻭﻗﺘﻬﺎ ﻛﺎﻧﺖ ﺍﻟﻤﻨﻄﻘﺔ ﺍﺳﻤﻬﺎ ﺑﻼﺩ،ﺍﻷﻳﺎﻡ… ﻫﺎﻟﺤﻜﻲ ﺗﻘﺮﻳﺒﺎً ﺑﻨﻬﺎﻳﺎﺕ ﺍﻟﻘﺮﻥ ﺍﻟﺘﻤﻨﻄﻌﺶ ﻭﺍﻟﺘﺴﻄﻌﺶ ﻭﺑﺪﺍﻳﺔ ﺍﻟﻌﺸﺮﻳﻦ ﺍﻟﺸﺎﻡ 131 Die Veröffentlichung des Skripts erfolgt im Rahmen dieser Arbeitshilfe mit freundlicher Genehmigung von Bassam Dawood, der den arabischen Text und eine deutsche Übersetzung zur Verfügung gestellt hat. Die Übersetzung wurde für die Veröffentlichung vom Autor leicht überarbeitet. Alle Rechte einer weiteren Nutzung und Verbreitung, insbesondere der Aufführung liegen weiterhin exklusiv bei Bassam Dawood.
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Skript
Übersetzung: Al-Hakawati war ein Mittel der Unterhaltung, Zeitvertrieb, Kultur und sozusagen die Datenbank und Fernseher damaliger Zeiten. Wir sprechen ungefähr von der Zeit ab Ende des 19. Jahrhunderts und vom 20. Jahrhundert bis zum Anfang der 2000er Jahre; damals hieß diese geografische Region: die Levante. ﻑ ﻫﺎﻟﻄﻘﺲ ﻛﺎﻥ ﻳﺼﻴﺮ ﻣﺮﺓ، ﻭﺗﻔﻴﻖ ﻣﻦ ﺑﻜﻴﺮ ﻟﺘﻠﺤﻖ ﺷﻐﻠﻬﺎ، ﻭﻷﻧﻮ ﺍﻟﻨﺎﺱ ﻛﺎﻧﺖ ﺗﺸﺘﻐﻞ ﻃﻮﻝ ﺍﻟﻨﻬﺎﺭ:ﺑﺴﺎﻡ ﻭﺗﻨﻄﺮ ﺟﻴﺔ، ﺗﺠﻲ ﺍﻟﻨﺎﺱ ﻉ ﺍﻟﻘﻬﻮﺓ ﺗﺒﻊ ﺍﻟﺤﻲ، ﻛﻮﻥ ﺍﻟﺠﻤﻌﺔ ﻫﻮ ﻳﻮﻡ ﺍﻟﻌﻄﻠﺔ ﺑﺴﻮﺭﻳﺎ، ﻟﻴﻠﺔ ﺍﻟﺨﻤﻴﺲ،ﺑﺎﻻﺳﺒﻮﻉ ﻭﻻﺑﺲ ﻃﺮﺑﻮﺷﻮ، ﺣﺎﻣﻞ ﺑﺎﻳﺪﻭ ﻛﺘﺎﺏ ﻛﺒﻴﺮ ﻓﻴﻮ ﺍﻟﺤﻜﺎﻳﺎﺕ ﻳﻠﻲ ﺑﻴﺤﻜﻴﻬﺎ، ﻳﻠﻲ ﺑﻴﺠﻲ ﺑﻌﺪ ﺻﻼﺓ ﺍﻟﻌﺸﺎﺀ،ﺍﻟﺤﻜﻮﺍﺗﻲ ﻭﺣﺎﻣﻞ ﻋﺼﺎﻳﺘﻮ Übersetzung: Weil die Menschen den ganzen Tag über arbeiteten und jeden Tag frühmorgens aufstanden, um zur Arbeit zu gehen, fand dieses Ritual nur einmal in der Woche statt, jeden Donnerstagabend, da freitags in Syrien Wochenende ist. Die Bewohner der Nachbarschaft sammelten sich im Café des Stadtviertels und warteten auf den Hakawati, der immer erst nach dem Abendgebet ankommt. Er hält immer ein dickes Buch mit seinen Geschichten im Arm und trägt einen Tarbusch, also einen Fes, und eine Holzstange. ﻭﻳﻤﺜﻞ ﺍﻟﺤﻜﺎﻳﺔ ﻳﻠﻲ ﻋﻢ، ﺑﻴﻔﺘﺢ ﻛﺘﺎﺑﻮ ﻭﺑﺒﻠﺶ ﻳﺤﻜﻲ، ﻳﺠﻲ ﻳﻘﻌﺪ ﻋﻠﻰ ﻛﺮﺳﻲ ﻋﺎﻟﻲ ﻣﺤﻄﻮﻁ ﺑﺼﺪﺭ ﺍﻟﻘﻬﻮﺓ:ﺑﺴﺎﻡ ، ﻭﻣﺮﺓ ﻟﺮﺍﻳﺔ، ﻭﻣﺮﺓ ﻟﺮﻣﺢ، ﻭﺍﻟﻌﺼﺎﻳﺔ ﺑﺘﺘﺤﻮﻝ ﻣﺮﺓ ﻟﺴﻴﻒ، ﻭﻳﻨﻔﻌﻞ ﻣﺘﻞ ﺍﻧﻔﻌﺎﻻﺕ ﺃﺑﻄﺎﻝ ﺍﻟﺤﻜﺎﻳﺔ ﻭﻓﺮﺳﺎﻧﻬﺎ،ﻳﺤﻜﻴﻬﺎ ﺑﻴﺨﺒﻂ ﻓﻴﻬﺎ ﻉ ﺍﻷﺭﺽ ﻟﻴﺴﻜﺖ ﺍﻟﻨﺎﺱ ﺍﺫﺍ ﺣﺲ ﺍﻧﻮ ﻓﻲ ﻣﻴﻦ ﻋﻢ، ﺑﺲ ﺑﻠﺤﻈﺔ ﺑﺘﺮﺟﻊ ﻋﺼﺎﻳﺔ،ﻭﺑﺘﺘﺤﻮﻝ ﻟﻜﺘﻴﺮ ﺷﻐﻼﺕ ً ﻭﻣﻤﻜﻦ ﺑﻠﺤﻈﺔ ﻳﻠﻤﺴﻮﺍ ﺑﻄﺮﻑ ﺍﻟﻌﺼﺎﻳﺔ ﻟﻴﺴﻜﺘﻮ ﻧﻬﺎﺋﻴﺎ،ﻳﺤﻜﻲ ﻭﻣﻠﺘﻬﻲ ﻋﻨﻮ ﻭﻋﻦ ﺣﻜﺎﻳﺘﻮ Übersetzung: Er kommt und setzt sich in eine hohe Sitzecke, die speziell für ihn im Zentrum des Cafés eingerichtet wurde, er öffnet sein Buch und fängt an zu erzählen. Doch weit mehr als das war er auch der Schauspieler seiner Geschichte, und so drückte er die Emotionen der Helden mit seiner Körpersprache und mit Betonungen aus. Die Holzstange wurde mal zum Schwert, mal zum Speer und mal zur Flagge! Sie formt sich quasi zu den verschiedensten Objekten um, aber blitzschnell nimmt sie auch wieder die Rolle einer Holzstange an, wenn AlHakawati mächtig mit der Stange auf den Boden klopft, falls er merkt, dass jemand Lärm macht und unaufmerksam wird und die Menschen von der Geschichte ablenkt. Manchmal berührt er die Person sogar mit der Spitze seiner Holzstange, damit die Person endlich leise wird. ، ﻛﺎﻧﺖ ﺗﻤﻂ ﺍﻟﻘﺼﺔ ﺃﺣﻴﺎﻧ ًﺎ ﺳﻨﺔ، ﻭﻻ ﺷﻬﺮﻳﻦ، ﻭﻻ ﺗﻨﺘﻴﻦ، ﻣﺎﺗﻨﺘﻬﻲ ﺑﻠﻴﻠﺔ ﻭﺣﺪﺓ، ﻭﻛﺎﻧﺖ ﺍﻟﻘﺼﺺ ﺩﺍﺋﻤﺎً ﻃﻮﻳﻠﺔ:ﺑﺴﺎﻡ ﺗﺒﻊ ﺍﻟﻤﻴﺘﻦ ﻭﺗﻼﺗﻤﻴﺔ ﺣﻠﻘﺔ/ ﺍﻟﻄﻮﻳﻠﺔ/ ﻳﻌﻨﻲ ﻓﻴﻜﻮﻥ ﺗﻘﻮﻟﻮ ﻣﻦ ﻫﺪﻳﻚ ﺍﻻﻳﺎﻡ ﻛﺎﻧﺖ ﺑﺪﺍﻳﺎﺕ ﺍﻟﻤﺴﻠﺴﻼﺕ Übersetzung: Die Geschichten dauerten auch lange, sie endeten nicht in derselben Nacht, nicht mal in zwei Nächten oder zwei Monaten. Die Geschichten streckten sich manchmal über einen Zeitraum von einem Jahr hinaus, ihr könnt es euch so vorstellen, als wären diese Geschichten die heutigen TV-Serien, die 200 bis 300 Folgen haben.
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Bassam Dawood: Ein Abend mit Al-Hakawati (Skript)
ﻭﻳﻘﻮﻝ ﻟﻬﻮﻥ ﺧﻠﺼﺖ ﺣﻜﺎﻳﺘﻨﺎ، ﻭﻛﺎﻥ ﺍﻟﺤﻜﻮﺍﺗﻲ ﺩﺍﺋﻤﺎ ﻳﺘﻌﻤﺪ ﺍﻧﻮ ﻳﻘﻄﻊ ﺍﻟﺤﻜﺎﻳﺔ ﺑﻤﺤﻞ ﻛﺘﻴﺮ ﻣﺸﻮﻕ ﻭﺣﻤﺎﺳﻲ:ﺑﺴﺎﻡ ﻭﻳﺘﺮﻙ ﺍﻟﻨﺎﺱ ﻣﺘﻌﻠﻘﻴﻦ ﻭﻣﺘﻠﻬﻔﻴﻦ ﻟﻴﺠﻲ ﺍﻟﺨﻤﻴﺲ ﺍﻟﻘﺎﺩﻡ ﺣﺘﻰ ﻳﺴﻤﻌﻮﺍ ﻛﻤﺎﻟﺔ، ﺑﻜﻤﻠﻠﻜﻮﻥ ﺍﻻﺳﺒﻮﻉ ﺍﻟﺠﺎﻱ،ﻟﻠﻴﻮﻡ ﺍﻟﺤﻜﺎﻳﺔ Der Hakawati legte den Schluss des wöchentlichen Rituals mit Absicht in einen sehr aufregenden und ereifernden Teil der Geschichte und sagt dann: »Hier endet unsere Geschichte für heute, nächste Woche lesen wir daran weiter!« – und lässt eine große Menge an Menschen gespannt und sehnsüchtig bis zum nächsten Donnerstag zurück, damit sie den Rest der Geschichte hören. ﻭﻫﺎﻟﺸﻲ ﻣﺎﻳﻬﻮﻥ ﻋﻠﻰ ﺑﻌﺾ ﺍﻟﺸﺒﺎﺏ ﻳﻠﻲ ﻣﺘﺤﻤﺴﻴﻦ، ﻭﻛﺘﻴﺮ ﻣﺮﺍﺕ ﻛﺎﻥ ﻳﻘﻔﻞ ﺍﻟﺤﻜﺎﻳﺔ ﻭﺍﻟﺒﻄﻞ ﻭﺍﻗﻊ ﺑﺎﻷﺳﺮ:ﺑﺴﺎﻡ ﻷﻧﻮ ﻣﻮ ﻣﻌﻘﻮﻝ، ﻑ ﻛﺎﻧﻮ ﻣﺎﻳﺨﻠﻮﻩ ﻳﻄﻠﻊ ﻣﻦ ﺍﻟﻘﻬﻮﺓ ﻗﺒﻞ ﻣﺎﻳﻜﻤﻞ ﺍﻟﺤﻜﺎﻳﺔ ﻭﻳﻄﺎﻟﻊ ﺍﻟﺒﻄﻞ ﻣﻦ ﺍﻷﺳﺮ،ﻟﻠﺒﻄﻞ ﻭﺑﺤﺒﻮﻩ ﻳﺒﻘﻰ ﻣﺤﺒﻮﺱ ﺍﺳﺒﻮﻉ ﻛﺎﻣﻞ… ﻃﺒﻌ ًﺎ ﻫﺎﻟﺨﺪﻣﺔ ﻫﻲ ﺗﻜﻮﻥ ﻣﺘﺮﺍﻓﻘﺔ ﻣﻊ ﺑﻌﺾ ﺍﻟﻤﺼﺎﺭﻱ ﻳﻠﻲ ﻳﺠﻤﻌﻮﻫﺎ ﻣﻦ ﺑﻌﺾ ﻭﻳﻌﻄﻮﻫﺎ ﺍﻟﻮ ﻛﺮﻣﺎﻝ ﻳﺒﻘﻰ ﻭﻳﻜﻤﻞ ﻭﻳﻄﺎﻟﻊ ﺍﻟﺒﻄﻞ Übersetzung: Häufig beendete er die Erzählung an einem Punkt der Geschichte, wo der Held gefangen wurde, was einigen Männern unter den Zuschauern nicht gefällt, weil sie den Helden sehr mögen; so erlaubten sie dem Hakawati nicht das Café zu verlassen, bis er weitererzählt, wie der Held von der Gefangenschaft befreit wird. Die Hörerschaft kann es nicht eine Woche lang ertragen, dass ihr geliebter Held in Gefangenschaft sitzt. Natürlich bietet der Hakawati diesen Gefallen nur an, wenn die Menschen eine kleine Summe an Geld für den Hakawati sammeln, als Preis dafür, dass er bleibt und weitermacht und den Helden der Geschichte befreit. ﻭﻗﺮﺑﻮﻥ ﻣﻦ، ﻭﺍﺑﺘﻌﺎﺩ ﺍﻟﻨﺎﺱ ﻋﻦ ﺍﻻﺳﺘﻤﺎﻉ ﻭﺍﻟﻘﺮﺍﺀﺓ، ﻟﻸﺳﻒ ﻫﺎﻟﺘﻘﻠﻴﺪ ﻫﺎﺩ ﺑﻠﺶ ﻳﺨﺘﻔﻲ ﻣﻊ ﺩﺧﻮﻝ ﺍﻟﺘﻜﻨﻮﻟﻮﺟﻴﺎ:ﺑﺴﺎﻡ ﺃﻭ ﺧﻼﻝ ﺷﻬﺮ ﺭﻣﻀﺎﻥ، ﻭﺑﻘﻲ ﺑﺲ ﺗﻘﻠﻴﺪ ﻓﻠﻜﻠﻮﺭﻱ ﺑﺒﻌﺾ ﺍﻟﻘﻬﺎﻭﻱ،ﺍﻟﺸﺎﺷﺎﺕ ﻭﺍﻟﻤﺴﻠﺴﻼﺕ ﻭﺍﻷﻓﻼﻡ Übersetzung: Leider verschwand diese Tradition mit dem Zeitalter der Digitalisierung, wo Menschen sich vom Lesen und Hören entfernten, und sich den Bildschirmen, Serien und Fernsehsendungen annäherten. Diese Folklore besteht nur noch in den wenigsten Cafés oder wird nur während des Monats Ramadan, der Fastenmonat der Muslime, ausgelebt. ﺍﻟﻤﻮﺟﻮﺩﺓ، ﻫﻲ ﻗﻬﻮﺓ ﺍﻟﻨﻮﻓﺮﺓ، ﻭﻳﻤﻜﻦ ﺍﻟﻘﻬﻮﺓ ﺍﻟﻮﺣﻴﺪﺓ ﺍﻟﻠﻲ ﺑﻘﻴﺖ ﺗﻘﺪﻡ ﻫﺎﻟﺘﺮﺍﺙ، ﻭﻭﺣﺪﺓ ﻣﻦ ﻫﻲ ﺍﻟﻘﻬﺎﻭﻱ: ﺑﺴﺎﻡ ﺟﻤﺐ ﺍﻟﺠﺎﻣﻊ ﺍﻷﻣﻮﻱ،ﺑﺎﻟﺸﺎﻡ ﺍﻟﻘﺪﻳﻤﺔ Übersetzung: Eines dieser Cafés, womöglich auch das einzig verbliebene Café mit diesem Ritual, ist al-Nawfra Café in der Altstadt von Damaskus, ganz in der Nähe der Umayyaden-Moschee. ﺍﻟﻜﺘﺪﺭﺍﺋﻴﺔ ﺍﻟﻲ ﻛﺎﻧﺖ ﻣﻦ ﻗﺒﻞ ﻣﻌﺒﺪ ﺍﻻﻟﻪ ﺟﻮﺑﻴﺘﻴﺮ، ﺍﻟﺠﺎﻣﻊ ﺍﻷﻣﻮﻱ ﺍﻟﻠﻲ ﻛﺎﻥ ﻣﻦ ﻗﺒﻞ ﻛﺎﺗﺪﺭﺍﺋﻴﺔ ﺍﻟﻘﺪﻳﺲ ﻳﻮﺣﻨﺎ: ﺑﺴﺎﻡ ﻭﻗﺒﻠﻬﺎ ﻛﺎﻥ ﻣﻌﺒﺪ ﺣﺪﺩ ﺍﻵﺭﺍﻣﻲ ﺑﻌﻬﺪ ﺩﻭﻟﺔ ﺁﺭﺍﻡ،ﺑﺎﻟﻌﻬﺪ ﺍﻟﺮﻭﻣﺎﻧﻲ Übersetzung: Die Umayyaden-Moschee wurde in vorislamischer Zeit als eine Johannes dem Täufer geweihte, frühbyzantinische Kathedrale (Johannes-
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Skript
basilika) errichtet. Davor, bis zum späten 4. Jahrhundert n. Chr. war sie ein dem Gott Jupiter geweihter römischer Tempel, an dessen Ort noch mehrere Jahrhunderte zuvor bereits ein Hadad-Tempel gestanden hatte, eine aramäische Gottheit. ﻭﻃﺒﻌﺎ ﻓﻲ ﺭﻭﺍﻳﺔ ﻟﻜﻦ ﻣﺎﻛﺘﻴﺮ ﻣﺆﻛﺪﺓ ﺑﺘﺬﻛﺮ ﺍﻧﻮ ﺑﻘﺴﻢ ﻣﻦ ﺍﻟﻤﻌﺒﺪ ﻛﺎﻥ ﻓﻲ ﻛﻨﻴﺲ ﻳﻬﻮﺩﻱ ﻟﻔﺘﺮﺓ ﻣﻦ ﺍﻟﺰﻣﻦ ﺍﻳﺎﻡ: ﺑﺴﺎﻡ ﻟﻜﻦ ﻣﺎﻃﻮﻝ ﺍﻟﻜﻨﻴﺲ ﻭﺗﺤﻮﻝ ﺍﻟﻤﻌﺒﺪ ﺑﺎﻟﻜﺎﻣﻞ ﻟﻜﺎﺗﺪﺭﺍﺋﻴﺔ ﻭﻗﺖ ﺗﺤﻮﻟﺖ ﺭﻭﻣﺎ ﻟﻠﺪﻳﻦ ﺍﻟﻤﺴﻴﺤﻲ،ﺍﻟﺤﻜﻢ ﺍﻟﺮﻭﻣﺎﻧﻲ Übersetzung: Nach einigen nicht ausreichend belegten Quellen wird gesagt, dass innerhalb des Tempels auch eine Synagoge stand, als Syrien eine römische Provinz des römischen Reichs war. Die Synagoge blieb nicht lange, da der Tempel komplett zur Kathedrale umgebaut wurde, als das Christentum die römische Staatsreligion im römischen Reich ersetzte. ، ﺍﻟﻤﻬﻢ ﺍﻧﻮ ﻫﺎﺩ ﺍﻟﻤﻜﺎﻥ ﻓﻴﻜﻮﻥ ﺗﻼﻗﻮﺍ ﻓﻴﻪ ﺃﺣﺠﺎﺭ ﻭﻧﻘﻮﺵ ﻣﻦ ﻛﻞ ﺍﻟﺤﻀﺎﺭﺍﺕ ﻭﺍﻟﺪﻳﺎﻧﺎﺕ ﺍﻟﻠﻲ ﻣﺮﻗﺖ ﻋﻠﻴﻪ: ﺑﺴﺎﻡ ﻳﻠﻲ ﻓﻴﻬﻮﻥ ﻧﺎﺱ ﻣﻦ ﺩﻳﺎﻧﺎﺕ ﻭﺃﻋﺮﺍﻕ، ﻣﺘﻠﻬﺎ ﻣﺘﻞ ﺍﻟﻤﺪﻳﻨﺔ ﻭﺳﻜﺎﻧﻬﺎ،ﻧﻘﻮﺵ ﻭﺃﺣﺠﺎﺭ ﺗﺸﻜﻠﺖ ﻭﺗﺤﻮﻟﺖ ﻭﺗﻤﺎﺳﻜﺖ ﻛﻠﻴﺎﺗﻮﻥ ﻣﺘﺸﺎﺑﻜﻴﻦ ﻣﻊ ﺑﻌﺾ ﺑﺤﻴﺎﺓ ﻳﻮﻣﻴﺔ ﺻﺎﺧﺒﺔ ﻭﻧﺸﻴﻄﺔ،ﻣﺨﺘﻠﻔﺔ ﻭﻣﺘﻨﻮﻋﺔ Übersetzung: Wichtig ist, dass Ihr an diesem Ort Steine und Inschriften aus den ältesten und verschiedensten Kulturen und Religionen findet, die diesen Tempel seit seiner Entstehung begleiteten. Inschriften und Keilschriften, die seit ihrer Entstehung sich ausformen, miteinander verschmelzen und zusammenhalten, genauso wie die Stadt Damaskus und ihre Bewohner Mitglieder verschiedener Religionen und Ethnizitäten sind, aber täglich Hand in Hand einen dynamischen lauten Alltag miteinander erleben. ﻭﻛﺒﺮﺕ ﻭﻫﻲ ﻋﻢ ﺗﻠﻌﺐ ﻣﻊ ﻭﻻﺩ ﺟﻴﺮﺍﻧﻬﺎ، ﻭﻟﺪﺕ ﺑﺤﺎﺭﺍﺕ ﺍﻟﺸﺎﻡ ﺍﻟﻌﺘﻴﻘﺔ، ﻭﻣﻦ ﻫﺎﻟﻨﺎﺱ ﺻﺒﻴﺔ ﺍﺳﻤﻬﺎ ﺳﻼﻡ: ﺑﺴﺎﻡ ﻭﺣﻔﻈﺖ ﻛﻞ ﺩﺧﻼﺗﻬﺎ ﻭﺯﻭﺍﺭﻳﺒﻬﺎ،ﺑﻬﺎﻟﺤﺎﺭﺍﺕ Übersetzung: Zu diesen Bewohnern gehört ein Mädchen namens Salam, die in den edlen Gassen in Damaskus geboren ist. Gemeinsam mit allen Kindern der Nachbarschaft spielte Salam in allen möglichen Stadtteilen, bis dass sie jede Route und Ecke der Stadt auswendig kannte. ﻭﺻﺎﺭﻭﺍ، ﺑﻠﺸﺖ ﺍﻻﻟﻌﺎﺏ ﺗﺨﺘﻠﻒ ﻭﺗﻨﻘﺴﻢ ﻷﻟﻌﺎﺏ ﺻﺒﻴﺎﻥ ﻭﺍﻟﻌﺎﺏ ﺑﻨﺎﺕ، ﻭﻟﻤﺎ ﺑﻠﺸﻮﺍ ﻳﻜﺒﺮﻭﺍ ﻭﻻﺩ ﺍﻟﺤﺎﺭﺓ: ﺑﺴﺎﻡ ﻭﺑﻠﺸﺖ، ﻭﻣﻊ ﺍﻟﻮﻗﺖ ﻗﻞ ﺍﻟﻠﻌﺐ ﻭﻛﺘﺮ ﺍﻟﺤﻜﻲ،ﺍﻟﺒﻨﺎﺕ ﻳﺠﺘﻤﻌﻮﺍ ﺳﻮﺍ ﻛﻞ ﻣﺮﺓ ﺑﺒﻴﺖ ﻭﺣﺪﺓ ﻣﻨﻬﻮﻥ ﻟﻴﻠﻌﺒﻮﺍ ﻭﻳﺤﻜﻮﺍ ﻭﻛﻞ ﻭﺣﺪﺓ ﺗﺤﻜﻲ ﻟﺮﻓﻘﺎﺗﻬﺎ ﻫﻲ ﻣﻴﻦ ﺣﺎﺑﺔ ﻣﻦ ﻭﻻﺩ ﺍﻟﺠﻴﺮﺍﻥ،ﻗﺼﺺ ﺍﻟﺤﺐ ﺗﺎﺧﻮﺩ ﻣﻜﺎﻥ ﺃﻛﺘﺮ ﺑﺎﻟﺤﺪﻳﺚ Übersetzung: Als die Kinder erwachsen wurden, änderten sich ihre gemeinsamen Spiele; so trennten sich Jungen von Mädchen und spielten jeweils allein. Die Mädchen sammelten sich in einem ihrer Häuser, um gemeinsam zu spielen und zu reden, jedoch mit der Zeit spielten sie immer weniger und redeten eher mehr. Hauptthema sind Liebesgeschichten, und so erzählte jedes Mädchen träumerisch von einem Jungen aus der Nachbarschaft, in den sie verknallt ist.
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Bassam Dawood: Ein Abend mit Al-Hakawati (Skript)
ﻭﻷﻧﻮ ﺃﺳﻤﺎﺀﻫﻮﻥ ﺑﺘﺒﺪﺃ ﺑﺤﺮﻑ، ﺳﻼﻡ ﻭﺳﻮﺯﺍﻥ ﻭﺳﻠﻮﻯ ﻛﺎﻧﻮ ﺃﻛﺘﺮ ﺗﻼﺗﺔ ﺭﻓﻘﺔ ﻣﻊ ﺑﻌﺾ ﻣﻦ ﺑﻨﺎﺕ ﺍﻟﺤﺎﺭﺓ: ﺑﺴﺎﻡ ﺍﻟﺼﺒﺢ، ﻫﺎﻟﺸﻲ ﺧﻠﻰ ﺭﻓﻘﺘﻬﻮﻥ ﺗﻘﻮﻯ ﻭﻳﺼﻴﺮﻭﺍ ﻣﺎﻳﺘﻔﺎﺭﻗﻮﺍ، ﻛﺎﻧﻮ ﺑﺎﻟﻤﺪﺭﺳﺔ ﻣﻊ ﺑﻌﺾ ﺑﻨﻔﺲ ﺍﻟﺼﻒ،ﺍﻟﺴﻴﻦ ﻭﻳﻤﺮﻭﺍ ﺑﻄﺮﻳﻘﻮﻥ ﻳﺸﺘﺮﻭﺍ ﻛﺮﻭﺳﺎﻥ ﺟﺒﻨﺔ ﻣﻦ، ﻭﺍﻟﻀﻬﺮ ﻳﺮﺟﻌﻮﺍ ﻉ ﺍﻟﺤﺎﺭﺓ ﻣﻊ ﺑﻌﺾ،ﻳﺮﻭﺣﻮﺍ ﺳﻮﺍ ﻉ ﺍﻟﻤﺪﺭﺳﺔ ﻭﻳﻜﻤﻠﻮﺍ ﻣﺸﻲ ﻭﻫﻨﻦ ﻋﻢ ﻳﺤﻜﻮﺍ ﻭﻳﻀﺤﻜﻮﺍ،ﻣﺨﺒﺰ ﺍﻟﻘﻴﻤﺮﻳﺔ Übersetzung: Salam, Suzanne und Salwa waren von allen Mädchen der Nachbarschaft am engsten befreundet, ihre Namen fingen mit »S« an und sie gingen in der Schule alle in dieselbe Klasse, so stärkte sich ihre Freundschaft mit der Zeit, bis sie nicht mehr voneinander zu trennen waren. Morgens gehen sie gemeinsam in die Schule, mittags kehren sie gemeinsam nach Hause zurück, und auf dem Weg kaufen sie immer Käse-Croissants von einer Bäckerei in Al-Qemariyyah, sie laufen dann weiter, essen, lachen und reden gemeinsam. ﻭﻳﺴﺎﻋﺪﻭﺍ ﺑﻌﺾ ﺑﺸﻐﻞ، ﻭﺑﻔﺘﺮﺓ ﺍﻷﻋﻴﺎﺩ ﻛﺎﻧﻮ ﻳﺴﺘﻨﻔﺮﻭﺍ ﺳﻮﺍ ﻟﻴﺮﻭﺣﻮﺍ ﻉ ﺍﻟﺴﻮﻕ ﻣﻊ ﺑﻌﺾ ﺑﺸﺘﺮﻭﺍ ﺗﻴﺎﺏ ﺍﻟﻌﻴﺪ: ﺑﺴﺎﻡ ﺑﺲ ﻛﺎﻧﻮ، ﻭﺭﻏﻢ ﺍﺧﺘﻼﻑ ﺍﻟﻀﻴﺎﻓﺔ ﺑﻴﻦ ﺑﻴﺖ ﻭﺍﻟﺘﺎﻧﻲ،ﺍﻟﻀﻴﺎﻓﺔ ﻳﻠﻲ ﻻﺯﻡ ﺗﺘﻘﺪﻡ ﻟﻠﻀﻴﻮﻑ ﻳﻠﻲ ﺟﺎﻳﻴﻦ ﻳﻌﺎﻳﺪﻭ ﻳﺸﺘﻐﻠﻮﻫﻮﻥ ﺳﻮﺍ Übersetzung: Wenn die Feiertage sich nähern, gehen sie immer gemeinsam neue Kleidung für das Fest shoppen. Ebenso helfen sie sich gegenseitig beim Backen von Süßwaren, als Vorbereitung auf die vielen Besucher und Gäste an den Feiertagen. Auch wenn die Art der Bewirtung der Gäste (und die Rezepte) sich jeweils von Familie zu Familie unterscheiden, helfen sie sich immer gerne gegenseitig. ﻛﺎﻧﻮ ﺳﻼﻡ ﻭﺳﻠﻮﻯ ﻳﺮﻭﺣﻮﺍ ﻉ ﺑﻴﺖ ﺳﻮﺯﺍﻥ، ﻭﻋﻴﺪ ﺍﻟﻔﺼﺢ، ﻣﻴﻼﺩ ﺍﻟﺴﻴﺪ ﺍﻟﻤﺴﻴﺢ، ﻟﻤﺎ ﻳﺠﻲ ﻋﻴﺪ ﺍﻟﻤﻴﻼﺩ ﺍﻟﻤﺠﻴﺪ: ﺑﺴﺎﻡ ﻣﺸﺎﻥ ﻳﺴﺎﻋﺪﻭﻫﺎ ﻫﻲ ﻭﺍﻣﻬﺎ ﺑﺎﻟﻤﻌﻤﻮﻝ ﻭﺗﺰﻳﻴﻦ ﺷﺠﺮﺓ ﺍﻟﻤﻴﻼﺩ ﺃﻭ ﺗﻠﻮﻳﻦ ﺍﻟﺒﻴﺾ Übersetzung: An Weihnachten, Heiligabend und Ostern besuchen Salam und Salwa ihre Freundin Suzanne, damit die beiden Suzanne und ihrer Mutter beim Backen von Weihnachtskeksen helfen, den Weihnachtsbaum gemeinsam schmücken oder die Ostereier gemeinsam anmalen. ، ﻛﺎﻧﺖ ﺳﻮﺯﺍﻥ ﺗﺮﻭﺡ ﻣﺮﺓ ﻟﻌﻨﺪ ﺳﻼﻡ، ﻣﻮﻟﺪ ﺍﻟﻨﺒﻲ ﻣﺤﻤﺪ، ﻭﻟﻤﺎ ﻳﺼﻴﺮ ﻋﻴﺪ ﺍﻟﻔﻄﺮ ﻭ ﺍﻷﺿﺤﻰ ﺃﻭ ﺍﻟﻤﻮﻟﺪ ﺍﻟﻨﺒﻮﻱ: ﺑﺴﺎﻡ ﻛﺮﻣﺎﻝ ﺗﺴﺎﻋﺪﻫﻮﻥ ﺑﺘﺠﻬﻴﺰ ﺍﻟﻤﻌﻤﻮﻝ ﻭﺍﻷﻗﺮﺍﺹ،ﻭﻣﺮﺓ ﻟﻌﻨﺪ ﺳﻠﻮﻯ Übersetzung: Am Zuckerfest, Opferfest und Maulid al-Nabi (Geburtstag des Propheten Mohammad) geht Suzanne einmal zu Salam und einmal zu Salwa, um die speziellen Süßwaren dieser Feste zu backen und mitzuhelfen. ﺑﺲ ﻛﺎﻧﻮ، ﻛﻞ ﻭﺣﺪﺓ ﻋﻢ ﺗﺪﺭﺱ ﻓﺮﻉ ﻣﺨﺘﻠﻒ، ﻛﺎﻧﻮ ﺍﻟﺼﺒﺎﻳﺎ ﺑﺎﻟﺠﺎﻣﻌﺔ2011 ﻟﻤﺎ ﺑﺪﻳﺖ ﺍﻟﺜﻮﺭﺓ ﺑﺴﻮﺭﻳﺎ ﺳﻨﺔ: ﺑﺴﺎﻡ ﺑﺲ ﺍﻟﺒﻠﺪ ﺑﻠﺸﺖ ﺗﺘﻐﻴﺮ،ﻟﺴﺎﺗﻮﻥ ﻣﺤﺎﻓﻈﻴﻦ ﻋﻠﻰ ﻋﺎﺩﺍﺗﻮﻥ ﻣﺎﻏﻴﺮﻭﻫﺎ Übersetzung: Als die syrische Revolution im Jahr 2011 in Syrien ausgebrochen ist, waren die Mädchen schon Studentinnen an der Universität, ihre Studiengänge unterschieden sich, jedoch bewahrten sie die Rituale und Traditionen ihrer
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Skript
Freundschaft, die unverändert blieb; jedoch das Land um sie herum veränderte sich rapide. ﻫﻲ، ﻫﻲ ﻣﺎﻧﻬﺎ ﺛﻮﺭﺓ، ﺑﻠﺶ ﺍﻟﻨﻈﺎﻡ ﺍﻟﺤﺎﻛﻢ ﺑﺴﻮﺭﻳﺎ ﻳﺤﻜﻲ ﺑﺎﻻﻋﻼﻡ ﻋﻦ ﺍﻧﻮ ﻫﻲ ﺍﻟﺜﻮﺭﺓ ﻳﻠﻲ ﻃﻠﻊ ﻓﻴﻬﺎ ﺍﻟﺸﻌﺐ: ﺑﺴﺎﻡ ﺑﺪﻫﻮﻥ ﻳﺨﺮﺑﻮﺍ ﺳﻮﺭﻳﺎ ﻭﻳﺤﻮﻟﻮﻫﺎ، ﻭﺍﻟﻨﺎﺱ ﻳﻠﻲ ﻣﺸﺎﺭﻛﻴﻦ ﻓﻴﻬﺎ ﻫﻨﻦ ﺃﺷﺨﺎﺹ ﻣﺘﻄﺮﻓﻴﻦ،ﺣﺮﻛﺎﺕ ﻣﺘﻄﺮﻓﺔ ﺍﺭﻫﺎﺑﻴﺔ ﻟﺪﻭﻟﺔ ﺍﺳﻼﻣﻴﺔ Übersetzung: Das herrschende Regime in Syrien berichtete in den Medien, dass die Revolution mit all ihren Anhängern aus dem Volk überhaupt keine Revolution wäre, sondern eine terroristische extremistische Bewegung. Die Menschen, die an diesen Revolutionen teilnahmen, seien Extremisten, die Syrien zerstören und in einen islamischen Staat umwandeln wollten. ﻷﻧﻬﺎ ﻃﻮﻝ ﻋﻤﺮﻫﺎ ﺭﺑﻴﺎﻧﺔ ﺑﺒﻴﺖ ﺳﻼﻡ ﻭﺑﺘﻌﺮﻑ ﺍﻫﻠﻬﺎ ﻭﺍﺑﻮﻫﺎ، ﺍﺳﺘﻐﺮﺑﺖ ﺳﻮﺯﺍﻥ ﻛﺘﻴﺮ ﻣﻦ ﻫﺎﺩ ﺍﻟﻜﻼﻡ: ﺑﺴﺎﻡ ، ﻭﺳﻼﻡ ﻛﻤﺎﻥ ﻛﺎﻧﺖ ﻧﺎﺷﻄﺔ ﺑﺎﻟﺜﻮﺭﺓ، ﻭﺑﺘﻌﺮﻑ ﺍﻧﻮ ﻫﻮ ﻫﻠﻖ ﻣﻊ ﺍﻟﺜﻮﺭﺓ،ﺍﻟﻤﻌﺎﺭﺽ ﺍﻟﺴﻴﺎﺳﻲ ﻳﻠﻲ ﻛﺎﻥ ﻣﻌﺘﻘﻞ ﻣﻦ ﻗﺒﻞ ﻭﻻﺑﺪﻫﻮﻥ ﺩﻭﻟﺔ ﺍﺳﻼﻣﻴﺔ،ﻭﻫﻨﻦ ﺍﺑﺪﺍً ﻣﺎﻧﻬﻮﻥ ﻣﺘﻄﺮﻓﻴﻦ Übersetzung: Suzanne verwunderte sich über diese Berichterstattung, sie ist quasi in Salams Haus aufgewachsen und sie kennt ihre gesamte Familie, insbesondere ihren Vater, der schon früher einmal aufgrund seiner politischen Einstellung verhaftet worden war. Sie weiß, dass er die Revolution unterstützt: Ihre Freundin Salam selbst ist in der Revolution aktiv. Definitiv waren sie keine Extremisten, noch wollten sie einen islamischen Staat gründen. ﻫﻨﻦ ﺑﺪﻫﻮﻥ ﺣﺮﻳﺔ ﻟﻜﻞ ﺍﻟﻤﻮﺍﻃﻨﻴﻦ ﺍﻟﺴﻮﺭﻳﻴﻦ، ﺑﺎﻟﻌﻜﺲ ﻫﻨﻦ ﺑﺪﻫﻮﻥ ﺩﻭﻟﺔ ﺩﻳﻤﻘﺮﺍﻃﻴﺔ ﻣﻌﺘﺪﻟﺔ: ﺑﺴﺎﻡ Übersetzung: Ganz im Gegenteil wollten sie ein gerechtes demokratisches Land, sie sehnten sich nach Freiheit für das gesamte syrische Volk. ﻓﺴﺄﻟﺘﻮ ﺳﻮﺯﺍﻥ، ﻭﻛﺎﻥ ﺍﺑﻮﻫﺎ ﻟﺴﻼﻡ ﻋﻢ ﻳﺘﻔﺮﺝ ﻉ ﺍﻻﺧﺒﺎﺭ ﺑﺎﻟﺘﻠﻔﺰﻳﻮﻥ ﻭﻣﻌﺼﺐ، ﻭﻣﺮﺓ ﻛﺎﻧﻮ ﻋﻨﺪ ﺳﻼﻡ ﺑﺎﻟﺒﻴﺖ: ﺑﺴﺎﻡ ﺷﻮ ﺡ ﻳﺼﻴﺮ ﺑﺮﺃﻳﻮ؟ Übersetzung: Einmal waren sie bei Salam zuhause, ihr Vater schaute sich die Nachrichten des staatlichen Fernsehens mit Verzweiflung und Wut an. So fragte ihn Susan, was seiner Meinung nach geschehen wird? ﻭﺑﻠﺶ ﻳﺴﺘﺨﺪﻡ ﺍﻟﻌﻨﻒ ﺑﻘﻤﻊ، ﻷﻥ ﺍﻟﻨﻈﺎﻡ ﺑﻠﺶ ﻳﻠﻌﺐ ﺑﻜﺮﺕ ﺍﻟﻄﺎﺋﻔﻴﺔ ﺑﻘﻮﺓ، ﻑ ﻗﻠﻬﺎ ﺍﻻﺏ ﺍﻧﻮ ﻫﻮ ﺧﺎﻳﻒ ﻛﺘﻴﺮ: ﺑﺴﺎﻡ ﺑﻴﺼﻴﺮ، ﻭﺑﻴﺨﺴﺮ ﻛﻠﺸﻲ، ﻷﻥ ﺍﻻﻧﺴﺎﻥ ﻟﻤﺎ ﺑﺘﺘﻬﺪﺩ ﺣﻴﺎﺗﻮ، ﻭﻫﺎﺩ ﺍﻟﺸﻲ ﻣﻤﻜﻦ ﻳﺎﺧﻮﺩ ﺍﻟﺒﻠﺪ ﻟﻤﻜﺎﻥ ﺳﻴﺊ،ﺍﻟﻤﻈﺎﻫﺮﺍﺕ ﻭﻫﺎﻟﺸﻲ ﻣﻤﻜﻦ، ﺑﻴﺼﻴﺮ ﺑﺪﻭ ﻳﺪﺍﻓﻊ ﻋﻦ ﺣﺎﻟﻮ ﻭﻋﻦ ﺍﻫﻞ ﺑﻴﺘﻮ ﻣﻬﻤﺎ ﻛﻠﻔﻮ ﺍﻷﻣﺮ،ﺑﺸﻜﻞ ﻏﻴﺮ ﻭﺍﻋﻲ ﺍﺳﻴﺮ ﻟﺮﺩﺍﺕ ﺍﻟﻔﻌﻞ ﻑ ﻫﺎﺩ ﻣﻌﻨﺎﻩ ﺍﻧﻮ ﺍﻟﻌﻘﻞ ﺡ ﻳﻐﻴﺐ، ﻭﺑﺲ ﻳﻔﻮﺕ ﺍﻟﺴﻼﺡ ﺍﻟﻰ ﺃﻱ ﻣﻜﺎﻥ،ﻳﺨﻠﻲ ﻛﺘﻴﺮ ﻋﺎﻟﻢ ﺗﻠﺠﺄ ﻟﻠﺴﻼﺡ ﻟﺤﻤﺎﻳﺔ ﻧﻔﺴﻬﺎ ﻭﻳﺼﻴﺮ ﺍﻟﻌﻨﻒ ﻫﻮ ﺳﻴﺪ ﺍﻟﻤﻮﻗﻒ Übersetzung: Der Vater erwiderte, dass er große Ängste für die Zukunft hat, weil das Regime begonnen habe, ein Machtspiel mit den verschiedenen religiösen Gruppen im Land zu treiben und friedliche Demonstrationen mit Gewalt niederschlage. Dadurch wird sich das Land nur noch zum Schlimmeren entwickeln,
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Bassam Dawood: Ein Abend mit Al-Hakawati (Skript)
sagte er, denn wenn das Leben eines Menschen bedroht ist und er alles verliert, dann wird er unbedacht und spontan reagieren. Er wird sich selbst und seine Familie beschützen und verteidigen wollen, so viel es kosten mag. Diese Angst mag viele Menschen unter diesen Umständen bis zur bewaffneten Selbstverteidigung treiben, und wenn Waffen überall einfach zu haben sind, dann verschwinden die Vernunft und die Logik, und die Gewalt beherrscht das Feld. ﻭﺍﻋﺘﻘﻞ ﻣﺮﺓ ﺗﺎﻧﻴﺔ ﻟﻤﺪﺓ ﺳﺖ، ﻭﺗﻔﺎﻗﻤﺖ ﺍﻟﻘﺼﺺ ﻛﺘﻴﺮ، ﻭﻟﻸﺳﻒ ﻳﻠﻲ ﻛﺎﻥ ﺧﺎﻳﻒ ﻣﻨﻮ ﺍﺑﻮﻫﺎ ﻟﺴﻼﻡ ﺻﺎﺭ: ﺑﺴﺎﻡ ﻷﻥ ﺍﻟﺘﻬﺪﻳﺪ ﻳﻠﻲ ﺗﻮﺟﻬﻠﻮﺍ ﻗﺒﻞ ﻣﺎﻳﻄﻠﻊ ﻣﻦ، ﻃﻠﻊ ﺑﻌﺪﻫﺎ ﻭﻫﻮ ﺣﺎﺳﻢ ﺃﻣﺮﻭ ﺑﻀﺮﻭﺭﺓ ﺍﻧﻮ ﻳﺎﺧﻮﺩ ﻋﻴﻠﺘﻮ ﻭﻳﺴﺎﻓﺮ،ﺷﻬﻮﺭ ﻭﺍﻧﻤﺎ ﻋﻠﻰ ﺣﻴﺎﺓ ﺍﻟﻌﻴﻠﺔ ﻛﻠﻬﺎ،ﺍﻟﻤﻌﺘﻘﻞ ﻣﺎﺑﺲ ﻋﻠﻰ ﺣﻴﺎﺗﻮ ﻫﻮ Übersetzung: Leider ist das, was Salams Vater am meisten fürchtete, letztlich auch geschehen; die Lage verschärfte sich extrem, er wurde ein zweites Mal und für sechs Monate lang verhaftet. Danach verließ er das Gefängnis mit der festen Überzeugung, dass er mit seiner Familie unbedingt auswandern müsse. Denn die Drohung, die er erhielt, bevor er aus der Haft entlassen wurde, ging nicht nur gegen sein Leben, sondern gegen das Leben seiner gesamten Familie. ﻭﻣﻦ ﻫﻮﻧﻴﻚ ﺑﺪﻭ ﻳﻄﻠﻊ ﻉ ﺍﻟﺴﻮﻳﺪ، ﻭﺑﻈﺮﻑ ﺷﻬﺮ ﻛﺎﻥ ﻣﺼﻔﻲ ﺃﻣﻮﺭﻭ ﻭﺣﺎﺟﺰ ﻟﻌﻴﻠﺘﻮ ﺑﺎﻟﻄﻴﺎﺭﺓ ﻉ ﻣﺼﺮ: ﺑﺴﺎﻡ Übersetzung: Innerhalb eines Monats schloss er alle notwendigen Angelegenheiten in Syrien ab und flog gemeinsam mit seiner Familie nach Ägypten, von wo er nach Schweden weiterreisen wollte. ، ﻭﻛﻞ ﻭﺣﺪﺓ ﺟﺎﻳﺒﺘﻠﻬﺎ ﻫﺪﻳﺔ ﻭﺩﺍﻉ ﺻﻐﻴﺮﺓ، ﻗﺒﻞ ﺍﻟﺴﻔﺮ ﺍﺟﻮﺍ ﺳﻮﺯﺍﻥ ﻭﺳﻠﻮﻯ ﻟﻴﻮﺩﻋﻮﺍ ﺭﻓﻴﻘﺔ ﻋﻤﺮﻭﻥ ﺳﻼﻡ: ﺑﺴﺎﻡ ﺣﻄﺖ ﺳﻼﻡ ﺍﻟﻬﺪﻳﺘﻴﻦ ﺑﺠﺎﻛﻴﺘﻬﺎ ﻭﺭﻛﺒﺖ ﺍﻟﺴﻴﺎﺭﺓ ﻭﺳﺎﻓﺮﺕ Übersetzung: Vor der Reise besuchten Suzanne und Salwa ihre beste Freundin Salam, jede von den beiden brachte ein kleines Abschiedsgeschenk mit. Salam steckte die beiden Geschenke in ihre Jackentasche, stieg in das Auto ein und fuhr mit ihrer Familie ab. ﺭﻛﺒﻮﺍ ﺍﻟﻘﺎﺭﺏ ﻳﻠﻲ ﻣﺸﻲ، ﺑﻌﺪ ﻣﺎﻗﻌﺪﻭﺍ ﺑﻤﺼﺮ ﺣﻮﺍﻟﻲ ﺍﻟﺸﻬﺮﻳﻦ ﺻﺎﺭ ﻭﻗﺖ ﻃﻠﻌﺘﻮﻥ ﻟﻠﺴﻮﻳﺪ ﻋﻦ ﻃﺮﻳﻖ ﺍﻟﺒﺤﺮ: ﺑﺴﺎﻡ ﺧﻠﺖ ﺍﻟﻤﻮﺝ ﻳﻠﻌﺐ ﻓﻴﻪ ﻣﺘﻞ ﺍﻟﺮﻳﺸﺔ ﺑﺎﻟﻬﻮﺍ، ﻭﻣﺮﻕ ﺍﻟﻤﺮﻛﺐ ﺑﻌﺎﺻﻔﺔ ﺑﺤﺮﻳﺔ،ﻓﻴﻬﻮﻥ ﺑﺎﺗﺠﺎﻩ ﺍﻳﻄﺎﻟﻴﺎ Übersetzung: Nach einem zweimonatigen Aufenthalt in Ägypten war es Zeit, nach Schweden übers Meer mittels eines Schlauchbootes in Richtung Italien zu segeln. Das Boot kam in einen Sturm, die Wellen des Meeres spielten mit dem Boot, wie eine Feder in der Luft. ﺑﻬﺎﻟﻠﺤﻈﺔ ﻣﺪﺕ ﺳﻮﺯﺍﻥ، ﻛﺎﻧﻮ ﺍﻟﺮﻛﺎﺏ ﻣﺘﻤﺴﻜﻴﻦ ﺑﺒﻌﺾ ﻭﺧﺎﻳﻔﻴﻦ، ﻭﻫﻮ ﺍﻟﻤﺮﻛﺐ ﻋﻢ ﻳﻄﻴﺮ ﻣﻦ ﻣﻮﺟﺔ ﻟﻤﻮﺟﺔ: ﺑﺴﺎﻡ ﻭﺗﺸﺒﺜﺖ، ﻣﺴﻜﺘﻮﻥ ﺑﻘﻮﺓ،ﺍﻳﺪﻫﺎ ﻋﻠﻰ ﺟﻴﺒﺔ ﺟﺎﻛﻴﺘﻬﺎ ﻭﻣﺴﻜﺖ ﺍﻟﻬﺪﻳﺘﻴﻦ ﻳﻠﻲ ﻋﻄﻮﻫﺎ ﻳﺎﻫﻮﻥ ﺭﻓﻘﺎﺗﻬﺎ ﺳﻮﺯﺍﻥ ﻭﺳﻠﻮﻯ ﻭﻛﺄﻧﻬﻮﻥ ﻫﻨﻦ ﻃﻮﻕ ﺍﻷﻣﻞ ﻳﻠﻲ ﺑﻘﻴﺎﻥ ﺍﻟﻬﺎ ﺿﻤﻦ ﻛﻞ ﻫﺎﻟﺨﻮﻑ ﻳﻠﻲ ﻋﺎﻳﺸﺘﻮ،ﻓﻴﻬﻮﻥ Übersetzung: Als das Schlauchboot von einer Welle zur anderen geschleudert wurde, haben die Menschen sich gegenseitig aneinander festgehalten, ziellos und
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Skript
voller Angst. In diesem Augenblick steckte Salam eine Hand in ihre Jackentasche und hielt die beiden Geschenke ihrer Freundinnen Suzanne und Salwa in der Hand. Sie hielt sie ganz fest umklammert, als wären diese ihre letzte Hoffnung, diesen fürchterlichen Albtraum zu überleben. ﻭﻫﻮﻥ ﺧﻄﺮ ﻋﻠﻰ، ﻭﻧﺰﻟﻮ ﻣﻨﻬﻮﻥ ﻭﺣﺴﻮﺍ ﺍﻧﻮ ﺍﻧﻜﺘﺒﻠﻬﻮﻥ ﻋﻤﺮ ﺟﺪﻳﺪ، ﻭﺻﻞ ﺍﻟﻤﺮﻛﺐ ﺑﺎﻟﻨﻬﺎﻳﺔ ﻟﺸﺎﻃﺊ ﺍﻳﻄﺎﻟﻴﺎ: ﺑﺴﺎﻡ ﻭﺳﺄﻟﺘﻬﺎ ﻣﻤﻜﻦ ﺃﻋﺮﻑ ﺷﻮ ﻫﻨﻦ ﺍﻟﻬﺪﻳﺘﻴﻦ ؟،ﺑﺎﻟﻲ ﺳﺆﺍﻝ ﻭﺍﻧﺎ ﻋﻢ ﺍﺳﻤﻊ ﺍﻟﻘﺼﺔ ﻣﻦ ﺳﻼﻡ Übersetzung: Doch das Boot kam letztlich an der Küste Italiens an, die Menschen stiegen schnell aus, es fühlte sich wie ein Neuanfang des Lebens an. Hier kam mir eine Frage in den Sinn, als Salam mir ihre Geschichte persönlich erzählte, und schließlich fragte ich sie, was die beiden Geschenke waren. ﻫﻨﻦ ﺻﺎﺭﻭﺍ، ﻛﺘﺎﺑﻴﻦ ﺻﻐﺎﺭ ﻣﻮﺟﻮﺩﻳﻦ ﻣﻌﻲ ﻫﻠﻖ ﻭﻳﻦ ﻣﺎﺑﺮﻭﺡ، ﻭﺳﻮﺯﺍﻥ ﺍﻧﺠﻴﻞ، ﻗﺎﻟﺘﻠﻲ ﺳﻠﻮﻯ ﺟﺎﺑﺘﻠﻲ ﻗﺮﺁﻥ: ﺑﺴﺎﻡ ﺑﺲ ﻫﺪﻭﻝ، ﻭﻓﻴﻚ ﺗﻘﻮﻝ ﺍﻧﻲ ﺃﻗﺮﺏ ﻟﻼﻟﺤﺎﺩ ﻣﻨﻲ ﻟﻼﻳﻤﺎﻥ، ﺭﻏﻢ ﺍﻧﻲ ﻣﺎﻧﻲ ﻣﺘﺪﻳﻨﺔ، ﻭﺣﻴﺎﺗﻲ،ﺭﺍﺑﻂ ﻳﺮﺑﻄﻨﻲ ﺑﺮﻓﻘﺎﺗﻲ ﻷﻧﻬﻮﻥ ﻣﻦ ﺭﻓﻘﺎﺕ ﻋﻤﺮﻱ ﻳﻠﻲ ﻋﺸﺖ ﻣﻌﻬﻮﻥ ﺍﺣﻠﻰ ﺃﻳﺎﻡ ﺣﻴﺎﺗﻲ،ﺻﺎﺭ ﺍﻟﻬﻮﻥ ﻣﻜﺎﻧﺔ ﻣﺨﺘﻠﻔﺔ ﻋﻨﺪﻱ Übersetzung: Sie antwortete: Salwa schenkte mir einen kleinen Koran, Suzanne eine kleine Bibel, zwei kleine Bücher, die ich seitdem immer dabeihabe, egal wohin ich gehe. Sie sind eine Verbindung zwischen mir und meinen Freundinnen, und ein Band zu meinem eigenen Leben dort. Obwohl ich unreligiös bin, du kannst sogar sagen, dass ich dem Atheismus näher als dem Glauben bin; aber diese Geschenke, sie bedeuten mir unglaublich viel, weil sie von meinen allerbesten Freundinnen stammen, mit denen ich die schönste Zeit meines Lebens erlebt habe. ﻭﺑﻌﺒﻜﻮﻥ، ﻫﻲ ﺣﻜﺎﻳﺘﻲ ﺣﻜﻴﺘﻬﺎ/ ﺡ ﺍﻧﻬﻲ ﺣﻜﺎﻳﺘﻲ ﻭﻗﻮﻝ، ﻭﻣﺘﻞ ﻣﺎﻛﺎﻧﺖ ﺳﺘﻲ ﺗﻨﻬﻲ ﺍﻟﺤﻜﺎﻳﺔ ﻳﻠﻲ ﺗﺤﻜﻴﻠﻲ ﻳﺎﻫﺎ: ﺑﺴﺎﻡ / ﺧﻠﺼﺖ ﺍﻟﺤﺪﺗﻮﺗﺔ، ﻭﺗﻮﺗﺔ ﺗﻮﺗﺔ،ﺧﺒﻴﺘﻬﺎ Übersetzung: So wie meine Großmutter ihre Geschichten damals beendete, die sie mir erzählte, beende auch ich hier meine Geschichte und sage: Meine Geschichte habe ich erzählt, in euren Herzen habe ich sie versteckt. Tuta, Tuta, khilset el Hadtuta [Beerchen132, Beerchen, aus ist das Märchen].
132 Tuta bedeutet die Maulbeere, in vielen arabischen Landessprachen ein geläufiges Kosewort für kleine Kinder.
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¯ d al-Andalus: ›Die Landschaften Andalusiens‹ als bila interreligiöses Utopia des 20. Jahrhunderts
Darstellung und kritische Sichtung des Narrativs Eine bekannte muslimische Selbsterzählung ist das meist friedliche Zusammenleben von Juden, Christen und Muslimen unter islamischer Herrschaft in Andalusien ab dem 8. und bis zum 15. Jahrhundert. Die arabische Bezeichnung bila¯d al-Andalus (die Landschaften Andalusiens) ist zu einem festen Topos geworden, der bis heute von vielen Muslimen als historischer Nachweis für das Friedenspotenzial ›islamisch geprägter Gesellschaften‹133 herangezogen wird. In der Selbsterzählung heutiger Muslime wird damit ein positives Bild von der eigenen Beheimatung in religiöser Vielfalt verbunden, eine ideale Gesellschaft, die nicht religiös uniform ist, sondern religiös divers im Sinne eines Zusammenlebens von Angehörigen der monotheistischen Religionsgemeinschaften. Das Narrativ erzählt weiter von der friedensstiftenden Wirkung der Religion des Islam und von der Kompetenz islamisch geführter Gesellschaften, eine gerechte politische Ordnung zu garantieren.
Fakes and facts! Das Narrativ des bila¯d al-Andalus kann sich auf Ergebnisse zahlreicher Studien und Forschungen stützen, die ein differenziertes Bild der Epoche liefern: »Während der muslimischen Herrschaft konnten im al-Andalus acht aufeinander folgende Generationen von Juden in Frieden leben. Sie durften ein normales Zivilleben führen, solange sie die Kopfsteuer für Nichtmuslime entrichteten und sich an bestimmte Vorschriften hielten: Ihnen war beispielsweise 133 Im englischsprachigen Bereich hat sich dafür mittlerweile der Begriff ›islamicate societies‹ durchgesetzt, um die Vielfalt dieser gesellschaftlichen Erscheinungsformen auszudrücken. Der Begriff einer ›islamischen Gesellschaft‹ setzt eine Einheitlichkeit der Religion und der aus ihr abgeleiteten Gesellschaftsform voraus, die es in dieser Form nicht gab und nicht gibt.
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bila¯d al-Andalus: ›Die Landschaften Andalusiens‹ als interreligiöses Utopia
nur die Instandhaltung von Synagogen gestattet, kein Neubau, und Regierungsposten und Militärdienst blieben ihnen wie allen Nichtmuslimen verwehrt. Trotzdem stiegen manche Juden zu hohen Ämtern auf … Auch die Christen konnten ihr Leben im arabischen Spanien unbehelligt führen. Obwohl das Gesetz die öffentliche Ausübung jeder nichtmuslimischen Religion verbot, hielten sie nach wie vor ihre Prozessionen ab. … Sie behielten ihre Richter, Priester und Bischöfe, die Konzilien abhielten und manchmal staatliche Ämter bekleideten.«134 Das friedliche Zusammenleben im mittelalterlichen Andalusien hat also durchaus Rückhalt und Nachweis in der Geschichte. Wenig bekannt ist dabei, dass sich dieses Narrativ auf Studien europäischer, vor allem jüdischer Forscher und auf ihre Erfahrung einer diskriminierten Teilhabe an der europäischen Bildungs- und Wissensgesellschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts abstützt. Darauf weist speziell Mark R. Cohen, Professor für Jüdische Geschichte an der Princeton-University und einer der anerkanntesten Kenner der Materie, hin: »The idea stemmed in the first instance from disappointment felt by central European Jewish historians as Emancipation-era promises of political and cultural equality remained unfulfilled. They exploited the tolerance they ascribed to Islam to chastise their Christian neighbors for failing to rise to the standards set by non-Christian society hundreds of years earlier. The interfaith utopia was to a certain extent a myth; it ignored, or left unmentioned, the legal inferiority of the Jews and periodic outbursts of violence. Yet, when compared to the gloomier history of Jews in the medieval Ashkenazic world of Northern Europe and late medieval Spain, and the far more frequent and severe persecution in those regions, it contained a very large kernel of truth.«135
Die Erinnerung an das arabische Andalusien fand in der osmanischen Epoche kaum Beachtung und war in der muslimischen Wissensgesellschaft allgemein bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein wenig präsent. Das Narrativ wurde in der Zeit seiner Erforschung durch europäische jüdische Orientalisten daher auch nicht im Hinblick auf die Situation religiöser Minderheiten in modernen islamisch geprägten Gesellschaften ausformuliert, sondern im Hinblick auf ihre eigene Situation in den modernen europäischen Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts.
Zielpublikum und Zweck der traditionellen Erzählung Erst im 20. Jahrhundert und im Kontext des arabischen chronotope kommt es in den islamisch geprägten Gesellschaften zu einer Rückbesinnung auf das mittelalterliche Andalusien und zur Rezeption des Narrativs. Die historical imagi134 Monika und Udo Tworuschka (2017) 96f. 135 Mark R. Cohen (2013) 28.
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Darstellung und kritische Sichtung des Narrativs
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nation der arabischen Nationalstaaten deutete die Vergangenheit »aus der Mitte« der eigenen erlebten Zeit heraus und auf den eigenen, erlebten Raum des arabischen Nahen Ostens hin. Über dieses nationalstaatliche framing erhielt das Narrativ des bila¯d al-Andalus seine heutige Bedeutung als grundlegende Selbsterzählung des Zusammenlebens in religiöser Diversität. Es wurde dadurch eine goldene arabische Epoche in der vorosmanischen Zeit imaginiert, aus der sich ein Anspruch und ein Vorbildcharakter für das Zusammenleben der Religionsgemeinschaften in den arabischen Nationalstaaten ergaben. Gleichzeitig wurde damit eine antikolonialistische Perspektive verbunden, denn die Idee einer gerechten ›arabischen‹ und islamisch geprägten Herrschaftsgeschichte über eine religiös diverse Gesellschaft malte das perfekte Gegenbild einer von willkürlichen kolonialen Grenzziehungen bestimmten Gegenwart im Nahen Osten. Zum Verständnis dieses Narrativs ist es also wichtig, seine Bedeutung als moderne gesellschaftliche Utopie zu sehen. Man findet in ihm daher bis heute genauso viel Exegese historischer Fakten wie historisierende Rückprojektionen moderner Vorstellungen, die in der Folge dieses Kapitels kritisch dekonstruiert werden müssen. Für die differenzierte Darstellung des Narrativs sind weiterhin zwei Gesichtspunkte wichtig: Mark R. Cohen136 hat in zahlreichen Publikationen darauf hingewiesen, dass die Lage der jüdischen Gemeinden unter muslimischer Herrschaft aufgrund des Fehlens systematischer Pogrome und der stärkeren Teilhabe an der Wissens- und Bildungsgesellschaft wesentlich besser war im christlichen Europa, speziell seit der Kreuzzugszeit, also nach dem 11. Jahrhundert. Das bedeutet allerdings nicht, dass Juden und Christen im muslimisch beherrschten Andalusien gleichberechtigt gewesen wären. Sondersteuern, Bekleidungsvorschriften, Ämterverbote und Diskriminierungen waren auch dort an der Tagesordnung. Aber die Freiheit der Religionsausübung wurde im Allgemeinen toleriert und der Bestand der Gemeinden verblieb mit wenigen Ausnahmen – z.B. das Pogrom von Granada 1066 – ungefährdet. Das muslimische Andalusien kannte also keine Gleichberechtigung im Sinne einer modernen Gesellschaft, aber ein geschütztes Leben von Christen und Juden im Sinne einer Erlaubnistoleranz durch die herrschende muslimische Schicht. Daher muss die Art der Rezeption dieses Narrativs differenziert betrachtet werden. Wie gezeigt wurde es seit Beginn des 20. Jahrhunderts im arabischen Bildungsbürgertum neu erinnert und aktualisiert. Konsequent hätte dabei seine Transformation und Anpassung an die veränderten Bedingungen und Erfordernisse einer modernen Gesellschaft des 20. Jahrhunderts geschehen müssen – z. B. im Sinne einer gleichberechtigten politischen Teilhabe aller ethnischen und 136 Interreligiöse Utopie. Zustände wie im alten Andalusien (2010): Interview mit Mark R. Cohen, eingestellt am 7. 1. 2010 (https://de.qantara.de/node/7121, letzter Zugriff am 16. 08.2022).
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bila¯d al-Andalus: ›Die Landschaften Andalusiens‹ als interreligiöses Utopia
religiösen Gruppen. Dazu kam es, auch aufgrund der fehlenden demokratischen Stabilität der arabischen Nationalstaaten nur selten. Das Narrativ des bila¯d alAndalus diente dort vielmehr häufig zur narrativen Legitimation autoritär geführter Präsidialsysteme, in denen gesellschaftliche Teilhabe weiterhin als Privilegien vergeben wurde – ganz wie im historischen Andalusien zwischen dem 8. und 15. Jahrhundert.
Wie wird das Narrativ heute in Deutschland didaktisiert? Aktuelle Lehrmaterialien zum bila¯d al-Andalus im Geschichtsunterricht weiterführender Schulen in Deutschland thematisieren neben der Situation der Religionsgemeinschaften vor allem die weitgehende Teilhabe von Juden und Christen an der damaligen Bildungs- und Wissensgesellschaft. Ein gutes Beispiel findet sich in Kapitel 2 »Das islamische Weltreich im Mittelalter« der Dokumentation »Vielfalt des Islam« (SWR/WDR 2020).137 In den weiteren Kapiteln des Filmes wird als Kontrastfolie der steinige Weg der Türkei und Ägyptens zu einer modernen Bildungs- und Wissensgesellschaft beschrieben: »Im Mittelalter waren die islamischen Reiche kulturelle und wirtschaftliche Führungsmächte. Im spanischen Córdoba ist dieses goldene Zeitalter noch präsent. Heute stehen islamische Länder hinter westlichen zurück. Gesellschaftliche Verhältnisse und die Auslegung des Islam spielen dabei eine Rolle. In Ägypten ringt man darum, traditionsverhaftete Religion und zukunftsträchtige Bildung in Einklang zu bringen, in Istanbul wird die religiöse Elite an staatlichen Schulen ausgebildet.«138
Ein Teil der message ist also: Die islamisch geprägten Staaten bleiben bis heute hinter der offenen Bildungskultur Andalusiens zurück und bemühen sich mit hoffnungsvollen Projekten (und mit westlicher Hilfe), Anschluss an eine moderne Wissensgesellschaft zu finden, die allen ihren Bürgern gleichberechtigte Teilhabe gewährt. Die Länder des Nahen Ostens erscheinen somit – wie leider durchaus üblich – vor allem als Krisenlandschaften mit Entwicklungspotenzial. Der Film erwähnt nicht, dass es sich beim Narrativ des bila¯d al-Andalus ursprünglich um eine Geschichtskonstruktion handelt, welche die mangelnde kulturelle Teilhabe im europäischen 19. Jahrhundert beklagt. Das learning from history müsste also eine Aufgabe sein, die zumindest in eine doppelte Richtung gehen sollte: Wenn am Beispiel des bila¯d al-Andalus ein learning from history in 137 SWR / WDR-Dokumentation: Vielfalt des Islam. Wissen und Fortschritt (2020); Kap. 2 – Das islamische Weltreich im Mittelalter, Min. 3:05–7:42.: Sendung: Wissen und Fortschritt – Pla net Schule – Schulfernsehen multimedial des SWR und des WDR (planet-schule.de), (letzter Zugriff am 16. 08. 2022). 138 Zitat aus der Kurzvorstellung des Filmkapitels auf der genannten Website.
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Darstellung und kritische Sichtung des Narrativs
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den modernen islamisch geprägten Gesellschaften geschehen soll, dann sollte am Beispiel des gleichen Narrativs ein learning from history der deutschen Gesellschaft zum Thema der gleichberechtigten Teilhabe kultureller und religiöser Minderheiten an der eigenen Bildungs- und Wissensgesellschaft geschehen. Daher erscheint das pädagogische Setting der Dokumentation trotz ihrer differenzierten Darstellung der Faktenlage als unzureichend. Ein besseres Beispiel für eine alternative Perspektive findet sich im Kapitel »Zeiten des Lichts« im Lehrbuch Saphir (7./8. Klasse) für den Islamischen Religionsunterricht. Hier wird die muslimische Herrschaft in Andalusien im Sinne eines learning from history für einen Gesellschaftsentwurf in den europäischen Migrationsgesellschaften verstanden: »Und auch das ›goldene Zeitalter‹ Andalusiens, des muslimischen Spaniens, hatte seine hellen und dunklen Seiten. Als Zeiten des Lichts galten immer Epochen des Friedens und Wohlstands. Die Künste, die Wissenschaften und die Wirtschaft blühten dort, wo die Menschen gemeinsam etwas aufbauten. … Besonders im muslimischen Andalusien dachte man über neue Ideen nach. Die Stadt Toledo war im 12. Jahrhundert geprägt durch den friedlichen Austausch zwischen Juden, Christen und Muslimen … es ging um Ideen, die für die europäische Neuzeit eine wichtige Rolle spielen sollten.«139
Hiermit ist für die Schülerinnen und Schüler die Chance verbunden, den handelsüblichen Blick auf die Herkunftsländer vieler Mitschülerinnen und -schüler zu differenzieren und das Narrativ des bila¯d al-Andalus auf die eigene Lernumgebung zu beziehen. Weiter ist an dieser Stelle der differenzierte Blick von Saphir zu loben, der auf die hellen und dunklen Seiten des muslimischen Andalusiens hinweist. Die liberalen muslimischen Herrscher von Andalusien gerieten ab dem 11. Jahrhundert bekanntlich unter verstärkten Druck radikaler islamischer Kräfte aus Nordafrika. Dieser innermuslimische Bürgerkrieg wurde zu einer wichtigen Komponente für den Zerfall des Kalifats von Cordoba in 32 Kleinreiche. Trotzdem hätte man sich an dieser Stelle (für den Lehrerkommentar?) die Information gewünscht, dass Toledo zwar unter muslimischer Herrschaft zu einer offenen Wissensgesellschaft herangebildet wurde, ihre im Lehrbuch Saphir erwähnte kulturelle Blüte im 12. Jh. aber unter christlicher Herrschaft erlebte.140 Dieser Hinweis ist wichtig, um stereotype Zuordnungen zu vermeiden und stattdessen auf den Einzelfall zu sehen. So fand das erste antijüdische Pogrom auf 139 Saphir (2011) 150. 140 König Alfons VI. eroberte die Stadt bereits im Jahr 1085. Seine Nachfolger bis Alfons X. führten die von den muslimischen Herrschern etablierte religiöse Proporzgesellschaft für eine gewisse Zeit weiter fort. Und so erlangte auch das berühmte internationale Kollegium von jüdischen, christlichen und muslimischen Übersetzern in Toledo – früher sprach man von der »Übersetzerschule des Johannes von Toledo« – seine produktivste Phase unter christlicher Herrschaft.
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bila¯d al-Andalus: ›Die Landschaften Andalusiens‹ als interreligiöses Utopia
europäischem Boden im Jahre 1066 durch einen muslimischen Mob in Granada statt und der berühmte jüdische Gelehrte Maimonides wurde im 12. Jahrhundert nicht durch Christen, sondern durch die nordafrikanischen muslimischen Almohaden aus Spanien vertrieben.141 Diese notwendige Differenzierung darf allerdings nicht die sachlich korrekte Größenordnung verzerren, auf die Monika und Uwe Tworuschka zu Recht hinweisen: »Während der folgenden Reconquista eroberten christliche Heere die maurischen Gebiete zurück, bis 1492 die letzte muslimische Festung in Gibraltar fiel. Mit der Rückeroberung begann eine Zeit beispielloser Barbarei. Die christlichen Eroberer vernichteten alle arabischen Kulturwerte. Über eine Million Bücher wurden verbrannt, Tausende Juden und Muslime wurden fortgejagt, umgebracht oder zwangschristianisiert.«142
Didaktisches Beispiel: »Dare to dream!« (kritischer Autorenfilm aus Ägypten) Pädagogisches Setting Die kritische Sichtung des Narrativs des bila¯d al-Andalus stellt seine Didaktisierung vor die folgende Aufgabe: Wie können unsere kulturell und religiös diversen Lerngruppen anhand des Narrativs befähigt werden, den handelsüblichen Blick auf die Herkunftsländer und -kulturen vieler Mitschülerinnen und -schüler zu differenzieren? Wie kann über das Narrativ des bila¯d al-Andalus ein learning from history für diese Länder, aber auch für Europa und Deutschland geschehen? Und nicht zuletzt: Was nehmen wir für unsere deutsche Migrationsgesellschaft heute mit von der Sehnsucht jüdischer Forscher des 19. Jahrhunderts nach gleichberechtigter Teilhabe an der europäischen (und der deutschen) Bildungs- und Wissensgesellschaft, die sich in ihrem Narrativ des bila¯d alAndalus ausdrückte?
141 Mark R. Cohen (2005) 19ff, 184–186. 142 Monika und Udo Tworuschka (2017) 97.
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Didaktisches Beispiel: »Dare to dream!« (kritischer Autorenfilm aus Ägypten)
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Material Als Material für das didaktische Beispiel habe ich den siebenminütigen ägyptischen Kurzfilm »Dare to dream«143 ausgewählt, der 2012 von einem jungen Team muslimischer und koptischer144 Filmemacher gedreht wurde und im darauffolgenden Jahr zu den Gewinnern des vom Goethe-Institut ausgeschriebenen Filmwettbewerbs »Road to Germany« gehörte. Der arabischsprachige Film ist im Internet frei verfügbar (s. Link in der Anm.) und der Monolog der Hauptdarstellerin wird unten über eine deutsche Arbeitsübersetzung zugänglich gemacht. Der Film thematisiert anhand eines biographischen Interviews mit Magda Haroun, eine der letzten verbliebenen Jüdinnen in Kairo, das friedliche Zusammenleben ägyptischer Juden mit der muslimischen Mehrheitsgesellschaft in Ägypten bis in die 1950er Jahre, aber auch ihre Diskriminierung und Vertreibung in den 1960er Jahren. Im Film besucht Magda Haroun zum ersten Mal nach 40 Jahren wieder die geschlossene Haupt-Synagoge in Downtown Cairo und knüpft daran ihre Lebenserinnerungen und ihre Hoffnungen für ein friedliches gemeinsames Leben. Sie will sich trotz der Auswanderung fast aller ägyptischer Juden ihren Traum nicht verbieten lassen: Dare to dream! Magda Harouns Monolog (Arbeitsübersetzung) Mein Name ist Magda Haroun, geb. 1952, Mitglied der jüdischen Gemeinde Kairo. Nach meiner Schulzeit auf dem Lycée (christliche Privatschule) habe ich mich auf einer Fachschule eingeschrieben. Von Beruf bin ich Krankenschwester, ich habe zwei Töchter. [Als sie die Hauptsynagoge von Kairo betritt, erklingt das Shema Jisrael, das jüdische Glaubensbekenntnis.] Das letzte Mal war ich hier in dieser Synagoge in den 1960er Jahren; und dann das nächste Mal erst 30 Jahre später. Die ganze Zeit dazwischen war ich nicht mehr hier – bis heute. Das ist so schade, es überwältigt mich – diese Totenstille. Ich bin hier in der Stadtmitte aufgewachsen, wir haben zusammen mit Opa und Oma gelebt, die ganze Familie. Mitten in einer bunten Community, meine Schwester und ich haben die vielen Menschen geliebt. Mein Vater hat immer gesagt: »Wir lieben es zu lieben.« Ich weiß noch, wie meine Schwester Nadja und ich gemerkt haben, dass sich unsere Umwelt veränderte. Die Menschen um uns herum, die Juden, unsere 143 Dare to dream – Road to Germany Winning Project (2013): Dare to dream – Road to Germa ny Winning Project – YouTube (letzter Zugriff am 16. 08. 2022). 144 Etwa 10 % der Bevölkerung Ägyptens sind Christen, die sich überwiegend zur koptischorthodoxen Kirche bekennen.
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bila¯d al-Andalus: ›Die Landschaften Andalusiens‹ als interreligiöses Utopia
Familie, wurden eines Tages ›unsichtbar‹, sie wurden ängstlich, wir trafen sie nicht mehr. Wo waren sie hingegangen? Es passierte etwas mit uns, das wir nicht verstanden haben. Oder etwas, das uns niemand erklärte, weil sie an diese Wunde nicht rühren wollten. Sie blieben sprachlos aus Angst vor den Menschen … und sind einfach abgereist. In der Schule habe ich kaum gemerkt, dass ich anders bin … nur dass ich eben die einzige war, die samstags mit ihrem Opa in die Synagoge ging. Wir haben ansonsten nie einen Unterschied gefühlt. Nur einmal wurde ich in der Grundschule gemobbt, als eine Lehrerin in Gesellschaftskunde vor der Klasse sagte: »Die Juden, das sind dreckige Hunde«. Da bin ich nach der Schule zu meinem Vater gegangen und habe gesagt: »Ich will da nie wieder hin!« Mein Vater sagte darauf: »Schau, genauso wie Dir geht es den palästinensischen Kindern in Israel, die gerade ähnliches über die Araber zu hören bekommen.« Das erste Mal, dass ich in der Schule gemerkt habe, dass ich anders als der Rest der Menschen bin: Immer wenn meine muslimischen Mitschülerinnen im Religionsunterricht waren, und meine christlichen Mitschülerinnen aus der Klasse in ihren Religionsunterricht hinausgingen, mussten wir uns still in die ›naughty corner‹ setzen. So hieß das. Heute denke ich: Warum gibt es keinen gemeinsamen Religionsunterricht für alle Schüler? Ich wollte, dass meine Töchter als ägyptischen Musliminnen aufwachsen, damit sie unter dem Unterschied nicht leiden müssen. Meine kleinere Tochter Hannah kam eines Tages an und sagte: »Mama, ich liebe Dich nicht mehr, denn Du bist die letzte Jüdin«. An dem Tag habe ich sie heftig geschlagen. Als wir dann hinterher geredet haben, habe ich erfahren, dass Hannah in der Schule gemobbt wurde. Ihre Mitschülerinnen sagten: »Spielt nicht mit Hannah, sie ist die Tochter der letzten Jüdin!« Heute sind meine beiden Töchter stolz auf ihre Wurzeln. Israel hat für uns immer eine große Rolle in diesem Problem gespielt. Es war immer das Ziel der israelischen Politik, alle Juden nach Israel zu holen. Sie sagen: »Israel ist das Heimatland aller Juden« – Aber Israel ist nicht mein Land! Israel ist nicht mein Land. Warum ist diese Synagoge heute abgeschlossen? Das ist doch ein Schatz, der kulturelle Reichtum unseres Landes! Ich bin so begeistert von diesem Ort und von unseren kulturellen Schätzen. Aber heute kommt von uns doch keiner mehr zurück, wir leben überall auf der Welt … Das zeigt doch nur, dass nach wie vor eine Wunde in diesem Land geblieben ist, in dem ich geboren bin. … Diese Gräber stehen auf dem Friedhof der jüdischen Gemeinde aus dem 13. Jahrhundert. Wenn man sich den heutigen Zustand anschaut … schrecklich! Einen Teil meiner Aufgabe sehe ich darin, das Bild des Judentums in Ägypten zurecht zu rücken. Wir waren immer ein authentischer Teil unseres Landes, und solange es uns hier gibt, wollen wir weiterhin diese Rolle spielen.
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Alltagserfahrungen religiöser Diskriminierung
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Magda Haroun träumt davon, dass alle Menschen in Ägypten einander lieben, so wie es früher war. Das ist mein Traum, den ich träume … ich höre damit nicht auf, ich höre damit nicht auf … das verbiete ich mir. Dass es uns gemeinsam mit dieser Stadt gut geht. Wir wissen doch, wie wir uns miteinander sicher fühlen und vorankommen können. Ich höre nicht auf, davon zu träumen. Das verbiete ich mir … [Zum Abschluss, ab Min. 5:28 singt Muhammad Mounir eine Vertonung der »Karawane der Liebe« von IbnʿArabı¯ , s. dazu das Kapitel zum Narrativ al-hubbu ˙ dı¯nı¯: »Die Liebe ist meine Religion.«]
Alltagserfahrungen religiöser Diskriminierung Magda Harouns Traum stützt sich auf die kulturelle Matrix eines religiös toleranten und friedlichen Zusammenlebens, welches eine der wichtigsten Grundlagen des modernen ägyptischen Nationalstaats von 1919 und bis in die 1960er Jahre bildete – auch wenn die politischen Wirren der folgenden Jahrzehnte fast alle ägyptischen Juden zur Auswanderung gezwungen haben. Über die Generationen hinweg verbindet diese Matrix Magda Haroun mit den jungen ägyptischen Filmemachern, die anhand ihrer Lebensgeschichte den gleichen Traum weiterträumen. Diese Matrix wahrzunehmen und zu beschreiben erfordert von den Zuschauern allerdings einiges an Aufmerksamkeit und an interreligiöser Kompetenz. Im Allgemeinen lasse ich den Film in Fortbildungen oder im Hochschulunterricht ein erstes Mal unkommentiert laufen und stelle dann im Unterrichtsgespräch oder auf einem Arbeitsblatt die unten folgenden Fragen. Danach wird der Film ein zweites Mal gezeigt. Frage 1 an die Teilnehmenden: Welche Form von religiöser Markierung und religiös begründetem Alltagsrassismus oder strukturellem Rassismus kennen Sie aus eigener Erfahrung? Ich habe diesen Film mehrfach in Fortbildungen oder an der Universität eingesetzt. Häufig hat es dabei Tränen und Bedauern für die Lebensgeschichte der ägyptischen Jüdin Magda Haroun gegeben. Bei Teilnehmenden, die in Deutschland selber in einer religiösen oder kulturellen Minderheitensituation leben – speziell bei muslimischen Teilnehmenden – riefen Magda Harouns Positionierung und ihre Argumentation auch ein spontanes Wiedererkennen von eigenen Situationen und gewohnten Verhaltensmustern gegenüber der deutschen Mehrheitsgesellschaft hervor. Der Film löst also die Konfrontation mit eigenen Alltagserfahrungen aus.
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bila¯d al-Andalus: ›Die Landschaften Andalusiens‹ als interreligiöses Utopia
Frage (2) an die Teilnehmenden: Haben Sie beim zweiten Anschauen eine Änderung Ihrer eigenen Wahrnehmung bemerkt? Wie können Sie diese Änderung beschreiben? Beim zweiten Ansehen können die Teilnehmenden den Film im Allgemeinen wesentlich besser einordnen und nehmen die Intention von Magda Haroun und der jungen ägyptischen Filmemacher differenzierter wahr. Mit dem klassischen ›westlichen‹ Medium des kritischen Autorenfilms halten die Filmemacher ihrer eigenen Gesellschaft, die anhand des Narrativs des bila¯d al-Andalus ihre eigene religiöse Toleranz erzählt, einen Spiegel vor. Sie kritisieren die eigene Gesellschaft für den Verlust ihrer interreligiösen Utopie in Zeiten außenpolitischer Spannungen und undemokratischer Präsidialherrschaft. Sie stellen sich aber auch generationenverbindend an die Seite von Magda Haroun. Indem sie ihrer Vision Raum geben – und indem sie selber als interreligiöses Filmteam die Zusammenarbeit von christlichen und muslimischen Ägyptern abbilden, träumen sie Magda Harouns Traum letztlich weiter. Hier liegt der Grund, wieso dieser Film bei aller Kritik an der ägyptischen Gesellschaft so wenig belehrend wirkt. Indem sich das junge Filmteam letztlich in die ägyptische Erzählgemeinschaft hineinstellt, wird die Kritik des Filmes vom Zuschauer durch Perspektivenübernahme, und nicht durch Beschämung aufgenommen. Frage (3) an die Teilnehmenden: Von welcher Form des Zusammenlebens träumen Sie selber? Welche Vorstellung von »Dialog«, welches Konzept von Migrationsgesellschaft steht hinter Ihrem Traum? Eine differenzierte Betrachtung des Films ruft viel mehr als emotionale Betroffenheit hervor. Die ägyptische Jüdin Magda Haroun will nicht nur in ihrer OpferRolle wahrgenommen werden, und sie tritt nicht in erster Linie als Anklägerin auf. Sie hat nach wir vor einen Traum und sieht sich selbst als Ägypterin, die eine aktive Rolle bei der Gestaltung ihres Landes spielen will – und sie weiß die gesellschaftlichen Bedingungen dafür selbstbewusst zu formulieren. Die Teilnehmenden beginnen in der Folge, über ihre eigenen Träume zu reflektieren. Ich habe bisher an diesem Punkt auch keine übergriffigen Aneignungen von OpferRollen erlebt, welche z. B. die eigene Erfahrung von Rassismus mit der Shoah kurzgeschlossen hätten. Vielmehr wurden die eigenen Träume dialogisch offen diskutiert.
Neugier auf die Sicht des anderen: Perspektivenübernahmen Das um den Kurzfilm Dare to Dream gestaltete didaktische Beispiel stärkt das interreligiöse Lernen durch eine mehrfache Perspektivenübernahme. Sie erleichtert Teilnehmenden mit einem arabischen Kulturhintergrund die öffentliche
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Outcome: Einander Einblick gewähren statt einander belehren
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Auseinandersetzung mit der modernen Diskriminierungsgeschichte der arabischen Juden. Andererseits wird es Teilnehmenden aus der deutschen Mehrheitsgesellschaft erleichtert, den Kampf des interreligiösen ägyptischen Filmteams um den ›gemeinsamen Traum‹ als eine eigenständige Kulturleistung wahrzunehmen, die Menschen aus dem Nahen Osten und aus Nordafrika grundsätzlich zuzutrauen ist. Mit diesem Traum leben die jungen Filmemacher auch ihre eigene Utopie der Arabellion des Jahres 2012, in dem dieser Film produziert wurde. All dies verbindet sie auf erstaunliche Weise mit dem Traum von gleichberechtigter kultureller und gesellschaftlicher Teilhabe, den jüdische Forscher der europäischen Bildungs- und Wissensgesellschaft bereits im 19. Jahrhundert über das Narrativ des bila¯d al-Andalus ins Stammbuch schrieben. Vielleicht macht das Mut, sich gegenseitig in Deutschland die Türen der Synagogen, Kirchen und Moscheen zu öffnen,145 um einander die eigenen Träume und Utopien zu erzählen.
Outcome: Einander Einblick gewähren statt einander belehren Das didaktische Beispiel zeigt die vielen Dimensionen eines Begegnungslernens. Man schließt sich gegenseitig die Türen auf und gewährt Einblick: Ganz praktisch, wenn im Film dare to dream die Tür der Synagoge in Kairo aufgeht, aber auch im übertragenen Sinne, wenn man sich gegenseitig ehrlich zeigt, wie man es denn meint mit der religiösen Vielfalt. Unter der Bedingung, dass man sich nicht andauernd gegenseitig zu belehren meint, sondern von den eigenen Träumen spricht, wird es auch möglich sein, diese Träume in gemeinsamen Narrativen zu formulieren. Dies gelingt allerdings nur in der direkten Begegnung. Unsere deutsche Migrationsgesellschaft ist heute so kulturell und religiös vielfältig, dass der Umgang mit religiöser Diversität fast überall in der direkten Begegnung miteinander eingeübt werden kann. Ein interreligiöses Begegnungslernen will vor dieser Pluralität zu einem friedvollen, wertschätzenden und reflektierten Umgang miteinander anleiten – und Pluralität ist in ihrem Kern Differenz. Dies bedeutet, dass neben den Gemeinsamkeiten auch die Differenzen bewusst gemacht und zum Gegenstand des Lernens gemacht werden müssen. In diesem Sinne wird auch ein critical incident nicht automatisch als missglückte Begegnung gesehen. Der Film dare to dream hat gezeigt, dass unter bestimmten Bedingungen selbst eine so leidvolle Erfahrung wie die Geschichte der ägyptischen Juden zu einer gelingenden Begegnung von Juden, Christen und Muslimen 145 Clauß-Peter Sajak (2012) hat dazu zahlreiche Informationen und didaktische Anregungen zusammengestellt, die nicht nur für die Sakralraumpädagogik im schulischen Religionsunterricht geeignet sind.
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bila¯d al-Andalus: ›Die Landschaften Andalusiens‹ als interreligiöses Utopia
führen kann. Und wie gesehen richtet sich das interreligiöse Begegnungslernen nicht nur an die Fachleute in Sachen Religion. Vielmehr geht es darum, möglichst viele Menschen in einen Denkprozess einzuführen, der ihnen ihre eigene Position und die ihrer Mitmenschen bewusst macht. Dafür ist das Begegnungslernen unverzichtbar.
Trigger-Warnung Wie jede Methode hat auch dieses didaktische Beispiel seine Sollbruchstellen, wo das ›eigene‹ in der Sichtweise des ›anderen‹ unkenntlich zu werden droht. Diese müssen bei der Planung und Durchführung beachtet werden: – Wie kann die jüdische Seite in einer Lerngruppe angemessen repräsentiert werden, wenn es in ihr keine oder nur einzelne Juden gibt? – Wie ist damit umzugehen, wenn bei der Betrachtung des Films dare to dream Opfer-Rollen unsachgemäß angeeignet werden, speziell in Bezug auf die Shoah? – Was bedeutet es für die ägyptische community in Deutschland, wenn derart die Hand in die Wunde der Gesellschaft ihres Herkunftslandes gelegt wird? – Wo in diesem Traum kommen eigentlich konfessionsfreie Menschen oder Menschen mit einer nichtmonotheistischen Religion vor? – Wie reagieren Teilnehmende, welche bereits eine differenzierte Darstellung des Islam triggert, auf den Film dare to dream und welche Reaktion sollte darauf erfolgen?
Infokasten: Juden in Ägypten Wenn man von den Erzählungen der biblischen Bücher Genesis und Exodus (1. und 2. Buch Mose) über den Aufenthalt der Hebräer in Ägypten unter den Urvätern Joseph und Moses einmal absieht, dann stammt die erste historisch sichere Erwähnung einer jüdischen Geeinde in Ägypten bereits aus dem 7. Jahrhundert v. Chr. Jüdische Söldner kommen unter den Pharaonen der 26. Dynastie (Psammetich I, 663–609 v. Chr.) nach Ägypten und werden an der Südgrenze des Reiches in Assuan auf der Nil-Insel Elephantine angesiedelt. Später, im 4. Jahrhundert v. Chr., hat diese extrem weit von Jerusalem entfernte jüdische Kolonie sogar eine Besonderheit zu bieten: den einzigen jüdischen Tempel, den es jemals außerhalb von Jerusalem gegeben hat. Die archäologischen Funde auf der Insel Elephantine wurden in den 1990er Jahren von Grabungsleitern des Deutschen Archäologischen Instituts Kairo gesichert. Der biblische Prophet Jeremia (Jer 42–43) berichtet zudem, dass Teile der Einwohnerschaft Jerusalems im Jahr 585 v. Chr. vor den Babyloniern nach Ägypten flüchteten.
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Infokasten: Juden in Ägypten
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Ägypten hatte also sehr früh eine bedeutende jüdische Kolonie, und in späteren Zeiten bestand in der Residenzstadt Alexandrien am Mittelmeer die größte Gemeinde des hellenistischen Judentums überhaupt. Bereits im 3. Jahrhundert v. Chr. soll hier eine griechische Übersetzung der Thora durch ein Team von 70 Gelehrten (daher lat. Septuaginta) vorgenommen worden sein, welche in die berühmte Bibliothek von Alexandria eingestellt wurde. Im römischen Reich war Alexandrien eine von vier Städten mit mehr als einer Million Einwohnern. Möglicherweise bekannten sich in der Spätantike 20 % ihrer Bewohner zum Judentum. Unter ihnen der berühmte jüdische Philosoph Philo (ca. 15 v. Chr. bis 40 n. Chr.), der im Kontakt mit der klassischen griechischen Literatur eine neue Methode zur Auslegung der Thora entwickelte, die so genannte Allegorese. Philo gilt als einer der Vordenker des hellenistischen Judentums und als einer der brillantesten Intellektuellen seiner Zeit. In der Zeit der christlichen Staatskirche im römischen Reich (4.–7. Jahrhundert n. Chr.) wurden Juden in Ägypten benachteiligt und teilweise verfolgt, aber in den ersten drei Jahrhunderten der islamischen Herrschaft erlebte die Geschichte der Juden in Ägypten eine erneute Blütezeit. Im 9. Jahrhundert erwarb die jüdische Gemeinde ein Gebäude in der neuen Hauptstadt Alt-Kairo, das zur Synagoge umgebaut wurde und bis heute besteht. In einem Raum dieser Synagoge wurden über Jahrhunderte hinweg alte ThoraRollen, aber auch andere heilige und weniger heilige Schriften (z. B. Zaubersprüche) in hebräischer, aramäischer und arabischer Sprache abgelegt – und vergessen. Erst eine Renovierung im 19. Jahrhundert brachte diese ca. 200.000 Blätter wieder zutage, die heute als Kairoer Geniza-Texte weltbekannt sind und eine wichtige Quelle für unser Wissen über jüdische und allgemein religiöse Frömmigkeitsformen im Mittelalter und in der frühen Neuzeit sind. In der Zeit der Fatimiden (969–1169) kam es in Ägypten aber bereits zu Diskriminierungen von nicht-muslimischen Religionsgemeinschaften und zu Kleidervorschriften für Juden und Christen, auch wenn die Maßnahmen im Vergleich zum zeitgleichen Europa überwiegend moderat blieben. Der berühmte andalusische jüdische Wissenschaftler und Theologe Maimonides (1135–1204) aus Cordoba erlebte in Spanien unter der Dynastie der Almohaden Verfolgungen. Er floh nach Ägypten, wo er am Hof Sultan Saladins eine hohe Position einnahm. Maimonides blieb bis zu seinem Tod Leiter der sephardischen jüdischen Gemeinde in Kairo. Auch in den folgenden Jahrhunderten nahm Ägypten immer wieder jüdische Flüchtlinge aus Andalusien (Sepharden) auf, die durch die christliche Rückeroberung vertrieben wurden. Aber auch andere jüdische Richtungen, wie die Qaraiten, besaßen bedeutende Gemeinden in Ägypten. Die jüdische Gemeinschaft wuchs, so dass im 17. Jahrhundert bereits mehrere Synagogen in Bereich der mittelalterlichen Stadtmauern von Kairo bestanden. Zur Zeit der Nationalstaatwerdung nahm Ägypten zwischen 1870 und 1930 viele arabische und europäische Juden (und Christen) auf, die aus ihrer Heimat in der Türkei, den arabischen Nachbarstaaten oder in Ost-Europa vertrieben wurden. Diese Einwanderer prägten bald das Bild von Kairo und Alexandrien als modernen, Europa zugewandten Städten und zeugten von einer religiösen Toleranz, die bis in die Zeit des Präsidenten Gama¯l Abd el-Nasr, also bis in die 1950er Jahre reichte. Haim Nahum Effendi (1872–1960) war in dieser Zeit als Ober-Rabbiner der sephardischen Juden in Ägypten sehr angesehen. In seiner Zeit lebten in Ägypten 65.000 Juden, davon 40.000 allein in Kairo, das etwa ein Dutzend Synagogengemeinden zählte.146
146 Zahlen von 1947 nach Gudrun Krämer (1989); vgl. Joel Beinin (1998) 37ff (Kapitel »Millet, Minority, and Citizenship«).
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bila¯d al-Andalus: ›Die Landschaften Andalusiens‹ als interreligiöses Utopia
Die Krise des modernen ägyptischen Judentums beginnt nach dem Suez-Krieg von 1956. In der Folge sorgten Verstaatlichungen und company-laws des Präsidenten Gama¯l Abd el-Nasr für den Niedergang der ägyptischen Privatwirtschaft – und damit vieler jüdisch oder christlich geführter Familienunternehmen. Die politische Israel-Feindschaft tat ihr übriges, um antijüdische Ressentiments gegenüber der landeseigenen jüdischen Bevölkerung zu schüren. So verlässt ab den 1960er Jahren der überwiegende Teil der ägyptischen Juden das Land in Richtung USA, Südamerika oder Israel. Heute leben nur noch wenige vereinzelte Jüdinnen und Juden in Kairo. Von den bestehenden 10 Synagogen sind zwei touristisch zugänglich, aber in keiner finden mehr regelmäßige Gottesdienste statt.
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Die »Charta von Medina«: Blaupause für eine moderne Rechtsordnung?
Darstellung und kritische Sichtung des Narrativs Weit in die Geschichte zurück geht die so genannte ›Gemeindeordnung von Medina‹ oder ›Charta von Medina‹. Dieses Dokument schreibt eine einvernehmliche politische Neuordnung der religiös diversen Stadtgesellschaft von Yathrib (Medina) nach der Hidschra im Jahr 622 fest, als die eingesessenen jüdischen und polytheistischen Stämme der Stadt mit ihren neu zugewanderten Mitbewohnern aus der muslimischen Urgemeinde Mekkas zurechtkommen mussten. »Its clauses deal with tribal matters such as warfare, blood-wit, the ransoming of captives, and war expenditure.«147 Der Prophet Mohammed erscheint in diesem Dokument als Schlichter und Mediator der unterschiedlichen Clan-Interessen. Er löst damit einen bestehenden Konflikt auf der Grundlage von Sachkompetenz, Angemessenheit und gemeinsamer gesellschaftlicher Teilhabe – und wird durch den Erfolg der Maßnahme selber zu einer Art Friedensrichter der Stadt Medina. Die folgende deutsche Wiedergabe eines ausgewählten Teils dieser Gemeindeordnung geht auf die Übersetzung von Gernot Rotter148 zurück, die ich an wenigen markierten Stellen entlang der besseren englischen Version von Michael Lecker149 abgeändert habe: »Dies ist eine Urkunde von Muhammad, dem Propheten Gottes, über die Beziehungen ˙ von den gläubigen Muslimen von Quraish und Yathrib (Medina), jenen, die ihnen folgen, sich ihnen angeschlossen haben und zusammen mit ihnen kämpfen. Sie sind eine Gemeinde (Umma) in Unterscheidung zu den anderen Menschen. … Die gottesfürchtigen Gläubigen stellen sich gegen jeden, der ungerecht gegen sie handelt oder versucht, Unrecht, Sünde, Feindschaft und Verderbtheit unter die Gläubigen zu streuen … [lt. Lecker: Die Gläubigen sind für einander Alliierte (mawa¯lı¯) in Unterscheidung zu den anderen Menschen.] Die Juden, die uns folgen, genießen die gleiche Hilfe und Unter147 Michael Lecker (2012). 148 Vgl. Gernot Rotter (1999) 111–114.264. 149 Vgl. Michael Lecker (1994) 101–104.
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Die »Charta von Medina«: Blaupause für eine moderne Rechtsordnung?
stützung, solange sie die Gläubigen nicht ungerecht behandeln und andere gegen sie unterstützen. Der Friede der Gläubigen ist ein einziger … Die gottesfürchtigen Gläubigen stehen unter der besten und weisesten Rechtleitung [Gottes, Anm. d. Verf.]. Kein Ungläubiger aus Medina gewährt den Quraish Schutz für Güter oder Personen, noch setzt er sich für einen Quraishiten gegen einen Gläubigen ein. … Die Juden im Stamme ʽAuf bilden mit den Gläubigen eine Gemeinde. Den Juden ihre Religion und den Muslimen die ihre! Dies gilt für ihre Freunde wie für sie selbst, es sei denn einer hat unrecht oder sündhaft gehandelt; er bringt Unheil nur über sich und seine Familie. Dies gilt gleichermaßen für die Juden in den [anderen, Anm. d. Verf.] Stämmen … und ebenso für die engen Freunde der Juden. … Die Juden tragen ihre Unkosten und ebenso die Muslime die ihren. Sie helfen einander gegen jeden, der gegen die Leute dieser Urkunde kämpft. Zwischen ihnen herrscht echte Freundschaft und Treue ohne Verrat. … Immer wenn zwischen den Leuten dieser Urkunde etwas geschieht oder zwischen ihnen ein Streit entsteht, woraus Unheil zu befürchten ist, so ist dies Gott und Muhammad, ˙ seinem Gesandten, vorzulegen. Gott nimmt aus dieser Urkunde an, was am frömmsten und rechtschaffensten ist.«
Fakes and facts! Folgt man der Interpretation von Michael Lecker150, dann wird die Gemeindeordnung von Medina zwischen den mit Mohammed ausgewanderten Muslimen und einer Kerngruppe von acht einheimischen Clans oder Stammesgruppen geschlossen, die sich gegenseitig als »Gläubige« (mu’minı¯n) bezeichnen und zu einer einzigen politischen Einheit (Umma)151 verschmelzen. Dabei wird nicht ganz klar, welche Form von Religion in diesen acht nichtmuslimischen Stammesgruppen aus Medina vorherrschend war. Das Dokument redet an einer Stelle von einem Glauben an Gott, den jüngsten Tag und die Auferstehung,152 und an anderer Stelle von einzelnen jüdischen Mitgliedern dieser Stämme. Durch die Namensnennung der Clans im Text ist für Lecker aber deutlich, dass es sich dabei nicht um die bedeutendsten jüdischen Stämme Medinas gehandelt haben kann, die offensichtlich nicht Teil dieser Vereinbarung waren.
150 Michael Lecker (2012). 151 Das arabisch Wort umma ist hier nicht im späteren Sinne als Religionsgemeinschaft zu verstehen. 152 »Einem Gläubigen, der dem Inhalt dieser Urkunde zugestimmt hat und an Gott und den Letzten Tag glaubt, ist es nicht erlaubt, einem Übeltäter zu helfen oder ihm Zuflucht zu gewähren. Auf dem, der dies dennoch tut, liegen der Fluch und der Zorn Gottes am Tage der Auferstehung, und durch nichts kann er sich dadurch entschädigen« (Gernot Rotter [1999] 112).
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Darstellung und kritische Sichtung des Narrativs
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Zusätzlich zur Kerngruppe treten nur zwei weniger bedeutende jüdische Clans der Vereinbarung bei, und ihre besonderen Angelegenheiten – auch die religiösen – werden zum Gegenstand von 40 Klauseln der Gemeindeordnung. Ob auch diese Clans gleichberechtigt zur Umma gehörten, sieht Lecker skeptisch. Doch andersherum galten die an ihrem Beispiel vereinbarten religiösen Rechte und Freiheiten für alle Juden im Medina, in und außerhalb der Kerngruppe des Vertrages. Diese Freiheiten umfassen eine gleichberechtigte religiöse Selbstverwaltung (dı¯n) von Juden und Muslimen, sowie neben der Versicherung gegenseitiger echter Freundschaft, Hilfe und Treue auch eine umfassende finanzielle Selbstverwaltung, die offensichtlich keine Tribute und Sondersteuern für Nichtmuslime vorsah. Wie viele Forscher hält auch Glen W. Bowersock153 den Vertrag für eine historische Urkunde aus der Zeit Mohammeds, obwohl die Überlieferung des Textes erst mit Ibn Isha¯q im 8. Jahrhundert einsetzt. Das Original-Dokument ist also ˙ nicht erhalten, der Text gilt vielen Wissenschaftlern aber als vertrauenswürdig überliefert. Diese Form der Authentizität gilt allerdings nicht gleichermaßen für die beträchtliche Anzahl weiterer politisch relevanter Dokumente, die nach dem Diktat des Propheten Muhammad angefertigt worden sein sollen.154 Dies gibt einen wichtigen Hinweis für die Form des Textes. Anders als im Narrativ des bila¯d al-Andalus (die Landschaften Andalusiens) handelt es sich nicht um eine interreligiöse Utopie des 20. Jahrhunderts, sondern um eine jahrhundertelang tradierte Rechtsordnung der Stadt Medina.
Zielpublikum und Zweck der traditionellen Erzählung Analog zum Narrativ des bila¯d al-Andalus wurde auch die ›Charta von Medina‹ erst im chronotope der arabischen Nationalstaaten als Blaupause des gesellschaftlichen Zusammenlebens in religiöser und kultureller Diversität neu entdeckt. Ihre aktuelle Bedeutung als alternatives Narrativ zur ›großen KalifatsErzählung‹ des so genannten ›Islamischen Staats‹ (IS) ist in dieser Arbeitshilfe 153 Vgl. Glen Bowersock (2019) 89–99. Allerdings liebäugelt er mit Michael Leckers Theorie, der eine Verbindung der Hidschra von 622 mit der Expansionspolitik des byzantinischen Kaisers Heraclius annimmt. 154 In manchen Fällen – wie beim Brief Muhammads an den byzantinischen Kaiser Heraclius – wird sogar das angebliche Original-Dokument oder – wie beim berühmten Ashtiname Muhammads, das dem griechisch-orthodoxen Sinai-Kloster Unversehrtheit und Schutz zusichert – eine von osmanischen Herrschern beglaubigte Original-Kopie vorgelegt. Kein einziges dieser Dokumente ist in der Forschung unumstritten, denn ebenso systematisch wie im europäischen Mittelalter wurden auch im Orient Urkunden, die einen Rechts- und Besitzstatus nachweisen sollten, mit viel Geschick nachträglich angefertigt und zurückdatiert.
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Die »Charta von Medina«: Blaupause für eine moderne Rechtsordnung?
bereits ausführlich behandelt worden.155 So wurde 2016 in der »MarrakeschDeklaration«156 und 2017 in der »Al-Azhar Declaration on Citizenship and Coexistence«157 mit Bezug auf dieses Narrativ gefordert, einen verbindlichen Rechtsrahmen für allgemeine Bürgerrechte einzuführen, der unter Absehung jeder Form von Zwang kulturelle und religiöse Diskriminierungen verhindere.158 Beide Erklärungen zielen mit diesem Narrativ vor allem auf die Angehörigen der muslimischen, christlichen und jüdischen Religionsgemeinschaften, die ermutigt werden, sich an die langen Zeiten eines gedeihlichen interreligiösen Zusammenlebens zu erinnern und Hass und Fanatismus beiseite zu legen. Sie sollen dabei den Missbrauch erkennen, den extremistische Gewalttäter – wie z. B. der so genannte ›Islamische Staat‹ (IS) – mit der Religion des Islam betreiben. Die Marrakesch-Erklärung sieht in der Charta von Medina bereits die »Prinzipien einer verfassungsrechtlich-vertraglichen Bürgerschaft« verwirklicht, die in Bezug auf die öffentliche Ordnung mit der Charta der Vereinten Nationen und der UN-Menschenrechtserklärung in Einklang stehe. Sie fordert also eine Zusammenarbeit der Religionen auf Grundlage eines ›Gemeinsamen Wortes‹159, die über die Gewährung von Toleranz und Respekt hinausgeht und eine umfassende Rechtsordnung der religiösen Rechte und Freiheiten umfasst. So werden islamische Gelehrte aufgefordert, ein »Rechtskonzept der ›Bürgerschaft‹ zu entwickeln, welches die verschiedenen Gruppen inkludiert«. Die muslimischen Bildungscurricula sollen entsprechend angepasst, nicht aber durch säkulare Curricula ergänzt oder ersetzt werden. Politiker und Entscheidungsträger werden aufgerufen, »zwischen den Bürgern eine verfassungsvertragliche Beziehung zu etablieren« um »eine Festigung der Beziehungen und des Vertrauens der verschiedenen religiösen Gruppierungen innerhalb der islamischen Welt untereinander« zu erzielen. Eine solcherart religiös begründete Friedensagenda ist sicherlich eine gute und notwendige Sache, aber gerade durch ihre religiöse Begründung keine ausreichende Grundlage für eine säkulare Gesellschaftsordnung, in der nichtreligiöse oder atheistische Menschen zu eigenen Rechten auf Augenhöhe mit am 155 Siehe oben »Die ›Charta von Medina‹ als alternatives Narrativ« im Kapitel »Narrative für ein neues Paradigma?« 156 »Marrakesch-Deklaration«: (Marrakeschdeklaration.pdf (islam.de), letzter Zugriff am 16. 08. 2022). 157 »Al-Azhar Declaration on Citizenship and Coexistence«: (Al-Azhar Declaration on Citizen ship and Coexistence, letzter Zugriff am 16. 08. 2022). 158 Die relevanten Passagen der Marrakesch-Erklärung sind im Infokasten dieses Kapitels dokumentiert. 159 Man wird nicht fehlgehen in der Annahme, dass die im Februar 2019 in den Vereinigten Arabischen Emiraten gemeinsam unterzeichnete Erklärung von Papst Franziskus und dem Groß-Scheich der Azhar-Universität Kairo, Ahmad al-Tayyeb, genau in der Linie dieser ˙(2021) 550–553. ˙ Erwartungshaltung liegt, vgl. Michaela Quast-Neulinger
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Didaktisches Beispiel: Klartext zum Integrationsparadox?
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Tisch sitzen sollen.160 Säkulare Stimmen auch aus der arabischen Welt kritisieren daher an der Marrakesch-Erklärung, dass die Prinzipien eines Gemeinwesens im 21. Jahrhundert besser auf Grundlage eines freiheitlichen demokratischen Rechtsstaates und der allgemeinen Menschrechte verwirklicht werden sollten. Tatsächlich deutet der Rückgriff der Marrakesch-Erklärung auf die ›Charta von Medina‹ nicht in Richtung einer säkular begründeten Gesellschaft. Da das Problem der negativen Religionsfreiheit und das Zusammenleben mit nicht anerkannten Konfessionen oder mit säkularen und atheistischen Gruppen weiterhin ausgespart wird, stellt sich für diese Gruppen nach wie vor die Frage der Rechtssicherheit.
Didaktisches Beispiel: Klartext zum Integrationsparadox? Pädagogisches Setting Der besondere Clou des Narrativs der ›Charta von Medina‹ besteht wie gesehen darin, dass Angehörige unterschiedlicher Weltanschauungen – Muslime, Juden und Menschen mit einer nicht eindeutig zu klärenden, aber wohl monotheistischen Religionszugehörigkeit – sich gegenseitig als »Gläubige« (mu’minı¯n) bezeichnen und als Mitglieder einer einzigen politischen Einheit (umma) akzeptieren können, zwischen denen sachgemäße gesellschaftliche Aushandlungsprozesse auf Augenhöhe laufen. Für die Didaktisierung des Narrativs der ›Charta von Medina‹ soll dieser Punkt auf die kulturellen Aushandlungsprozesse in modernen Migrationsgesellschaften bezogen werden: Welche Bedingungen müssen im Aushandlungsprozess gegeben sein, um eine möglichst vollständige gegenseitige Akzeptanz und Augenhöhe jenseits kultureller und religiöser Zugehörigkeiten oder Zuschreibungen zu garantieren?
160 Diese Schwierigkeit der Marrakesch-Erklärung sieht auch der französische Intellektuelle Tareq Oubou, der aber trotzdem an der Charta von Medina festhält. Er argumentierte in einem Vortrag an der PTH St. Georgen am 27. 6. 2017, dass die Gemeindeordnung von Medina den jüdischen Stämmen der Stadt und der muslimischen Gruppierung jeweils ihre Glaubensüberzeugung und –praxis beließ. Sie blieben also zwei eigenständige Religionsgemeinschaften. Aber auf der Ebene des Gesellschaftsvertrages sei eine neue politische Einheit entstanden: »ils formaient une umma politique dans deux ummas spirituelles«. Diese neue Einheit erfordere heute nicht mehr notwendigerweise eine religiöse Begründung ihrer Werteordnung. Für das Leben von Muslimen in einem säkularen Staat bedeute dies eine Ermutigung, dass die Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens auch allein aus dem Bezugsrahmen der allgemeinen Menschen- und Bürgerrechte abgeleitet werden können, solange die Freiheit der Religion und ihre ungestörte Ausübung gewährleistet seien. Tareq Oubou spricht in diesem Sinne tatsächlich von einer proto-laicité des Gesellschaftsvertrags von Medina. Vgl. Frank van der Velden (2017) 136–138.
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Die »Charta von Medina«: Blaupause für eine moderne Rechtsordnung?
Material Als Material habe ich einen kurzen Film161 (15. Min) zum Thema der Integration muslimischer Zuwanderer in Deutschland aus der Sendung »Forum am Freitag« vom 19. 10. 2018 herausgesucht. Der Film portraitiert ein Streitgespräch zwischen zwei Migrationsforschern, dem deutsch-israelischen Psychologen palästinensischer Herkunft Ahmed Mansour162 und dem deutschen Soziologen und Politikwissenschaftler syrischer Herkunft Aladdin el-Mafaalani.163 Wer sitzt nach Meinung dieser beiden Forscher auf Augenhöhe mit am Tisch, wenn die Bedingungen der gesellschaftlichen Teilhabe ausgehandelt werden? Wer muss am ›Katzentisch‹ Platz nehmen? Und welche Bedeutung haben unterschiedliche kulturelle oder religiöse Identitäten für diese Fragen? Ein Arbeitsblatt formuliert als erste Aufgabenstellung: Schauen Sie den Film an und notieren Sie danach die wichtigsten Thesen und Argumente der beiden Diskutanten. Bei sorgfältiger Bearbeitung zeigt sich folgende Gegenüberstellung der Positionen:
161 https://www.zdf.de/kultur/forum-am-freitag/forum-am-freitag-vom-19-oktober-2018-100. html, (letzter Zugriff am 16. 08. 2022). 162 Ahmed Mansour (2018). 163 Aladdin el-Mafaalani (2018).
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Strategie: Wir müssen diese Menschen zurückgewinnen. Dafür ist eine Leit-Kultur notwendig. Dazu müssen wir in der Mitte der Gesellschaft diskutieren, um die Diskussion nicht den extremen Rechten zu überlassen.
Problem: Eine Gruppe zugewanderter Menschen achtet nicht unsere grundgesetzlich festgeschriebenen Werte.
Integrationsdebatte: Das Reden über Probleme (s. u.) wird tabuisiert.
Klare Kante gegen Illegalität ist genauso geboten wie Angebote zur Partizipation. Man darf nicht nur die Desintegrierten vor Augen haben, wenn man Konzepte für alle entwickeln will.
Angebote zur Partizipation vorab ermutigen die Integrationsverweigerer. Islam ist nicht das Problem, sondern das Islam-Verständnis. Hier ist klare Kante notwendig.
Wer am Tisch sitzt, will auch mitbestellen, was auf den Tisch kommt. Bevor jemand am Tisch sitzen kann, muss er folgende Punkte für sich geklärt haben: Patriarchale Strukturen (Problem Emanzipation der Frauen), Meinungsfreiheit (independente Personen, individuelle Rechte), historische Verantwortung Deutschlands (Problem Antisemitismus), Religionsfreiheit (Problem Apostasie). Wir ändern das, was früher als ›deutsch‹ galt. Diese Ansicht von Aladdin el-Mafaalani hält er für naiv und gefährlich.
Wir müssen stattdessen zu einer Streit-Kultur kommen (auf Augenhöhe). Das Gefühl von Spaltung kommt nicht aus der Desintegration sondern aus den neuen Verteilungsstreitigkeiten (die Zeichen gelungener Integration sind).
Mehr Menschen sitzen am Tisch und diskutieren, und das bedeutet, dass es auch mehr Grund zum Streiten gibt. Es gibt in der Diskussion keine Tabus, sondern eine Anschrei-Kultur (shit-storm etc.).
Aladdin el-Mafaalani Ahmed Mansour Integration bedeutet mehr Teilhabechancen und das kommt von Teilen Integration ist nicht das Zelebrieren von Unterschieden, sondern die und einen Teil haben, und das bedeutet, dass es nicht gemütlicher wird. Festlegung von Regeln.
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Die »Charta von Medina«: Blaupause für eine moderne Rechtsordnung?
Alltagserfahrungen der (mangelnden) Augenhöhe Als Ergebnis zeigen sich zwei sehr unterschiedliche Vorstellungen, unter welchen Bedingungen religiöse Diversität und gesellschaftliche Teilhabe in der deutschen Migrationsgesellschaft verhandelt werden sollten: 1. Bedeutet Integration ›Klartext‹ zu reden, also durch die Mehrheitsgesellschaft klare Regeln für alle aufzustellen und ihre Beachtung zu kontrollieren? (Ahmed Mansour) 2. Oder führt gelungene Integration natürlicherweise zu mehr Konflikten, weil immer mehr Menschen auf Augenhöhe mit am Tisch sitzen wollen und müssen, welche diese Regeln aushandeln? (das Integrationsparadox nach Aladdin elMafaalani) Beide Positionen werden den Teilnehmenden aus ihrem familiären Umfeld oder ihrer Peergroup bekannt sein und sie werden aus eigener Erfahrung Situationen benennen können, in denen ihnen selber eine der beiden Positionen richtig erschien oder sie an dieser zu zweifeln begannen. Diese persönlichen Erfahrungen lassen sich in einer Murmelgruppe gut austauschen. Es zeigt sich aber auch eine generelle Problematik solcher Diskussionen. Zum Thema der Augenhöhe gibt es sowohl in den islamisch geprägten Staaten des Nahen Ostens und Nordafrikas (siehe die Marrakesch-Erklärung) als auch in den Migrationsgesellschaften Europas offensichtlich sehr unterschiedliche und widerstreitende Meinungen. Es ist daher ganz schön schwierig, in einer Gruppe oder Gesellschaft darüber Konsens zu erzielen, wer unter welchen Bedingungen mit ›am Tisch sitzen‹ soll. Aus diesen Gründen lässt sich hier eine Einzel- oder Kleingruppenarbeit anschließen, die folgende Aufgabe stellt: Gibt es an Ihrer Institution / Schule / Universität / Arbeitsplatz etc. ein Konzept zur aktiven Gestaltung kultureller oder religiöser Diversität? Gibt es einen ›Tisch‹, an dem alle – auch Zugewanderte – auf Augenhöhe miteinander kommunizieren können? Falls nein: Diskutieren Sie, unter welchen Bedingungen ein solcher ›Tisch‹ eingerichtet werden könnte.
Outcome: Kommunikations- und Handlungskompetenzen stärken Das didaktische Beispiel stellt die Bedingungen heraus, unter denen auch die Religionen zu einer friedlichen Entwicklung der Migrationsgesellschaften beitragen können. Der Schweizer katholische Theologe Hans Küng hat dies seit den
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Outcome: Kommunikations- und Handlungskompetenzen stärken
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1990er Jahren in seinem Weltethos-Projekt164 erforscht. Alle Weltreligionen beinhalten nach seiner Meinung eine kompatible ethische Grundbotschaft, die von jeder Religion aus ihren eigenen Quellen abgeleitet werden kann. Diese entspricht der so genannten ›Goldenen Regel‹: »Handle stets so, wie Du von anderen behandelt werden willst!« Aus dieser Schnittmenge lässt sich eine gemeinsame Verantwortung aller glaubenden Menschen für Menschenrechte, Weltfrieden und die Bewahrung der Schöpfung ableiten. Die gemeinsame Verantwortung der Religionen lässt sich also letztlich auf eine gemeinsame theologische Begründung zurückführen. Diese Art der Begründung führt zu einem höheren Selbstverpflichtungscharakter der Religionen auf die gemeinsam formulierten ethischen Forderungen. Aus diesen Überlegungen hat Hans Küng schon 1990 die drei bekannten Thesen seines Weltethos-Projekts abgeleitet:165 1. Kein Frieden unter den Nationen ohne Frieden unter den Religionen 2. Kein Frieden unter den Religionen ohne Dialog zwischen den Religionen 3. Kein Dialog zwischen den Religionen ohne Grundlagenforschung. Als Wissenschaftler waren Hans Küng dabei zwei Punkte besonders wichtig. Erstens sollte dieser Dialog der Religionen nicht in Konkurrenz zur säkularen Welt geführt werden. Hans Küng verstand die säkular begründete Ethik, z. B. der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen, als Partnerin seines Projekt Weltethos. Die ethischen Inhalte und Forderungen ließen sich in vielen Punkten übereinstimmend mit dieser säkularen Ethik formulieren, sie wurden auf Seiten der Religionen nur anders begründet. Zweitens durfte nach Küngs Meinung der Dialog der Religionen nicht abgebrochen werden, wenn es untereinander zu Kritik und Infragestellungen kam. Tatsächlich liegt hier ein Problempunkt, denn aus dem gemeinsam formulierbaren Grundethos können die Religionen u. U. sehr unterschiedliche ethische Regeln und Weisungen ableiten. Man denke an Ehe- und Familienfragen oder an den Umgang mit der LGBTQI+-Community. In diesem Fall müssen die einzelnen Religionen nach Küngs Meinung ihre eigenen Grundlagen ehrlich transparent machen und in Bezug auf einen größeren Bewegungsspielraum erforschen. Küng schwebte auf diesen Punkten kein Dialog innerhalb der eigenen Komfortzone, sondern eine kritische Diskussion auf Augenhöhe vor.
164 Vgl. Was ist Weltethos? • Stiftung Weltethos für interkulturelle und interreligiöse Forschung, Bildung und Begegnung, (letzter Zugriff am 16. 08. 2022). 165 Hans Küng (1990).
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Die »Charta von Medina«: Blaupause für eine moderne Rechtsordnung?
Trigger-Warnung Wie immer zum Schluss eines Kapitels wird auch hier wieder nach den Grenzen der Maßnahme gefragt. Wo liegen die blinden Flecken und die Gefährdungspunkte? – Sind wirklich alle Gruppen auf Augenhöhe um den Tisch versammelt? – Was ist mit denjenigen, die nicht wahrgenommen werden (wollen), oder die keine Stimme haben? – Intersektionalität geht mit mehrfacher Betroffenheit von Diskriminierung einher (z. B. als Frau & als POC & LGBTQI+ etc.). Bei verstärkter Vulnerabilität garantiert die formale Augenhöhe allein noch keine gleichberechtigte Teilhabe. – Ein gutes Statement oder Leitbild für den Umgang mit religiöser Diversität garantiert noch nicht die Implementierung auf Augenhöhe. Wenn’s um die konkrete Umsetzung geht, fangen die Probleme erst an, die es zu lösen gilt.
Infokasten: Die Marrakesch-Erklärung und die »Charta von Medina« Im Januar 2016 gaben die in Marrakesch versammelten 200 muslimischen Gelehrten und Staatsmänner ein Votum über die Rechte religiöser Minderheiten in muslimisch dominierten Gemeinwesen ab. Dabei wurde ein direkter Bezug zur Gemeindeordnung von Medina hergestellt:166 »Wir erklären hiermit unsere treue Verpflichtung zu den in der Charta von Medina zum Ausdruck gebrachten Prinzipien, die eine Reihe von Regelungen in Form von Prinzipien einer verfassungsrechtlich-vertraglichen Bürgerschaft enthält, wie die Freizügigkeit, das Recht auf Eigentum, die gegenseitige Solidarität und Verteidigung wie auch die Prinzipien der Gerechtigkeit und Gleichheit vor dem Gesetz, und dass die Grundsätze der Charta von Medina eine geeignete Basis für nationale Verfassungen in Staaten mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit darstellen und dass die Charta der Vereinten Nationen sowie vergleichbare Dokumente wie die Universelle Erklärung der Menschenrechte mit der Charta von Medina inklusive ihrer Berücksichtigung für die öffentliche Ordnung im Einklang stehen. Wir merken weiterhin an, dass die tiefe Reflexion über die diversen Krisen, welche die Menschheit heimsuchen, die unausweichliche und dringende Notwendigkeit zur Zusammenarbeit aller Religionen unterstreicht. Wir bekräftigen hiermit, dass solch eine Zusammenarbeit auf der Grundlage eines ›Gemeinsamen Wortes‹ basieren muss, welches über gegenseitige Toleranz und Respekt hinauszugehen hat, um den vollumfassenden Schutz der Rechte und Freiheiten aller Religionen sicherstellen zu können sowie um religiösen Zwang, Vorurteile und Hochmut zu verhindern.« … 166 Zitiert nach der deutschen Übersetzung in: Marrakeschdeklaration.pdf (islam.de), (letzter Zugriff am 16. 08. 2022).
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Infokasten: Die Marrakesch-Erklärung und die »Charta von Medina«
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»Wir rufen die islamischen Gelehrten und Intellektuellen in aller Welt auf, ein Rechtskonzept der ›Bürgerschaft‹ zu entwickeln, welches die verschiedenen Gruppen inkludiert. Ein solches Rechtskonzept soll in der islamischen Tradition und auf den islamischen Prinzipien wurzeln sowie die globalen Veränderungen mitberücksichtigen; Wir drängen muslimische Bildungsinstitutionen und -autoritäten, eine couragierte Überprüfung der Bildungscurricula vorzunehmen, die sich ernsthaft und effektiv jedes Werk anschaut, das zu Aggression und Extremismus verleiten, zu Krieg und Chaos führen und die Zerstörung unserer gemeinsamen Gesellschaften zur Folge haben kann; Wir rufen die Politiker und Entscheidungsträger auf, die notwendigen politischen und gesetzgeberischen Schritte zu ergreifen, zwischen den Bürgern eine verfassungsvertragliche Beziehung zu etablieren sowie alle Ansätze und Initiativen zu unterstützen, die auf eine Festigung der Beziehungen und des Vertrauens der verschiedenen religiösen Gruppierungen innerhalb der islamischen Welt untereinander zielen; Wir rufen alle verständigen, künstlerischen und kreativen Mitglieder unserer Gesellschaften wie auch Organisationen der Zivilgesellschaft auf, eine breite Bewegung für den gerechten Umgang mit religiösen Minderheiten in muslimisch dominierten Ländern zu bilden und das Bewusstsein für die Rechte dieser Minderheiten zu fördern sowie zusammenzuarbeiten, um den Erfolg dieses Einsatzes sicherzustellen. Wir rufen die verschiedenen religiösen Institutionen, die an die gleichen nationalen Strukturen gebunden sind, auf, sich mit der allseitigen Existenz einer selektiven Amnesie auseinanderzusetzen, die die jahrhundertelange Erinnerung gemeinsamen und geteilten Zusammenlebens in einem gemeinsamen Land verhindert; wir rufen daher dazu auf, diese Vergangenheit wieder zu beleben, indem die Tradition des geselligen Miteinanders erneuert und das gegenseitige Vertrauen, das durch Akte des Terrors und der Aggression der Extremisten erschüttert wurde, wiederhergestellt wird; Wir rufen die Repräsentanten der verschiedenen Religionen, der religiösen Gruppen und Konfessionen auf, sich gegen religiösen Fanatismus, Herabwürdigung und Verunglimpfung dessen, was Menschen für heilig erachten, und sich ebenso gegen alle Reden des Hasses und Fanatismus zu stellen; Und schließlich bekräftigen wir, dass es gegen jede Moral verstößt, die Religion als Werkzeug der Aggression gegen die Rechte religiöser Minderheiten in muslimisch dominierten Ländern zu missbrauchen.«
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Die ›erste Hidschra‹ der Muslime nach Äthiopien
Zu den zentralen Narrativen, in denen Muslime ihre eigene Fluchterfahrung thematisieren, gehören die Hidschra (von arab. hag˘ara für aufgeben, sich trennen, sich lossagen) von Mekka nach Medina, die den Beginn der islamischen Zeitrechnung im Jahr 622 markiert, und die frühere erste Hidschra nach Äthiopien (Abessinien), die traditionell ins 5. Jahr der Offenbarung des Koran an den Propheten Mohammed (615) verortet wird.167 Sure 19 (Maryam) soll in diesem Kontext offenbart worden sein, als ein Text für die Christen in Äthiopien, die daraus die Form der Verehrung Jesu und Mariens im Islam kennenlernen sollten. Bis heute dient die gute Aufnahme, welche die ersten Muslime in Abessinien fanden, als Basis-Narrativ der Selbsterzählung der Vielvölkerstaaten Äthiopien und Eritrea. Die Überlieferung dieses Narrativs geht bis auf die Mitte des 8. Jahrhunderts und auf die sı¯ra168 des Ibn Isha¯q zurück, dessen Grunder˙ zählung in deutscher Übersetzung von Gernot Rotter rekonstruiert worden ist. In diesem Kapitel soll zuerst diese Grunderzählung behandelt werden. Danach wird auf zwei Motive der Forterzählung eingegangen, die das ursprüngliche Narrativ nicht unerheblich verändert haben.169 Eine dieser Veränderungen ist ein prominentes Beispiel für die verfälschende Umdeutung solcher Narrative in identitären ›islamistischen‹ Gruppierungen auch in Deutschland.
Darstellung und kritische Sichtung des Narrativs Während einer religiösen Verfolgung der ersten Muslime durch die ungläubigen Quraisch in Mekka beschließt Mohammed, eine Gruppe von 83 Männern mit ihren Familien ins Exil nach Äthiopien zu schicken, weil dort ein gerechter 167 Vgl. Armina Omerika (2018) 84. 168 Die sı¯ra ist ein Sammelbegriff für die in der islamischen Tradition zahlreich verfassten Lebensgeschichten des Propheten Muhammad, deren älteste literarische Fassung von Ibn Isha¯q im 8. Jh. geschrieben wurde; vgl. Gernot Rotter (1999) 65–71. ˙ dazu Frank van der Velden (2020) 300–302. 169 Vgl.
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Die ›erste Hidschra‹ der Muslime nach Äthiopien
(christlicher) König herrsche. Im Exil wird die Gemeinde durch nachgereiste Spione der Quraisch denunziert, worauf es zu einem Religionsgespräch am Hofe des christlichen Königs (der Negus, arab. an-nag˘a¯ˇs¯ı) kommt. Djaʿfar, der Anführer der Muslime, rezitiert dabei einen Abschnitt aus Sure 19 (Maryam).170 Der Text von Sure 19 (Maryam) enthält unter anderem eine Paraphrase der Vorgeschichte Johannes des Täufers und Jesu aus den ersten beiden Kapiteln des Lukas-Evangeliums, die im Koran natürlich mit einer unterscheidend koranischen Glaubensaussage erzählt wird. An dieser Stelle findet sich im Koran aber auch eine Schnittmengenbestimmung dessen, was Christen und Muslime gemeinsam über Jesus aussagen können. Ibn Isha¯q erzählt weiter, dass die beim ˙ Gespräch mit dem Negus anwesenden christlichen Theologen ihre Heiligen Schriften ausbreiten und während der Rezitation von Sure 19 (Maryam) wohl die ersten beiden Kapitel des Lukas-Evangeliums querlesen. Den guten Ausgang des ersten Gesprächs bestätigt die durch den Negus und seine Bischöfe geäußerte Wertschätzung: »Diese Offenbarung und die Offenbarung Jesu kommen aus der gleichen Nische!« Ein zweites Religionsgespräch bei Hofe soll die Glaubensaussagen beider Seiten zu Jesus inhaltlich weiter klären. Die Muslime geraten in Angst, weil sie um das unterschiedliche christliche Bekenntnis wissen und eine Ausweisung befürchten. Sie beschließen aber, Ihr Bekenntnis nicht zu verleugnen und bieten dem Negus und seinen Bischöfen eine Glaubensformel an, die aus koranischen Jesus-Titeln zusammengesetzt ist: »Wir sagen über ihn, was unser Prophet uns geoffenbart hat, nämlich dass er der Diener Gottes, sein Prophet, sein Geist und sein Wort ist, das Er der Jungfrau Maria eingegeben hatte.« Der Negus urteilt darauf, dass er sein christliches Bekenntnis in diesen Titeln vollständig respektiert sieht171 und gewährt den Geflüchteten dauerhaft ein ungefährdetes Asyl.
170 Wahrscheinlich sollen es die Verse Sure 19:1–30 gewesen sein. Nach der klassischen islamischen Auslegung sind zuerst die Verse 1 bis 33 dieser Sure, und erst später der hintere Teil von Sure 19 in zwei getrennten Offenbarungen entstanden, vgl. Mehdi Bazargan (2006) 40f. 171 Die von Djaʿfar dem Negus vorgetragene Formel »funktioniert solange, wie beide Parteien die Freiheit haben, die Aussagen in ihrem Sinne zu verstehen. Die christliche Lesart wäre: Diener Gottes (Jesus als Gottesknecht, wie in Jes Kap. 42–53), sein Prophet (Christus als Siegel der Prophetie, wie bei Tertullian [adv. Jud.] mit Verweis auf die Daniel-Visionen), sein Geist (›Der Geist des Herrn ruht auf mir …‹ sagt Jesus programmatisch von sich selbst in Lk 4 und mit Bezug auf Jes 61,6) und sein Wort (wie im Prolog des Johannes-Evangeliums, wo mit diesem Titel die Präexistenz des Logos und die Erlösungswirkung der Inkarnation ausgedrückt wird), das Er der Jungfrau Maria eingegeben hatte (die unbefleckte Empfängnis, wie in Mt 1 und Lk). Hiermit wird der Kern des christlichen Dogmas über zentrale Titel Jesu in der orientalischen Christologie äquivok benannt, wenn auch auf beiden Seiten unterschiedlich gedeutet.« (Frank van der Velden [2020] 298f).
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Darstellung und kritische Sichtung des Narrativs
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Fakes and facts! Die Flucht der ersten Muslime ins spätantike christliche Königreich von Aksum (Axum) wird bis heute von vielen Muslimen und Christen in islamisch geprägten Ländern als eine historische Begebenheit angenommen. Diese ›erste Hidschra nach Äthiopien‹ lässt sich mangels äthiopischer oder außerislamischer Quellen historisch allerdings nicht belegen. Das Jahr 615 fällt mit gewisser Wahrscheinlichkeit in die Regierungszeit von König Armah, der letzte König von Aksum, von dem spätantike Münzprägungen erhalten sind. Nach ihm erlebt das Reich von Aksum einen wirtschaftlichen und politischen Niedergang. In der islamischen Tradition wird dieser König meist als Ashama Ibn Abjar oder einfach mit seinem Titel an-nag˘a¯ˇs¯ı bezeichnet. Wenn die historische Gegebenheit auch nicht nachweisbar ist, so sind Religionsgespräche bei Hofe im Orient der Spätantike und des Mittelalters doch vielerorts nachweisbar. Gut dokumentiert sind die Gespräche des assyrischen Katholikos Timotheus (gest. 823), eines christlichen Kirchenführers am abbasidischen Kalifenhof in Bagdad.172 Legendenhaft und mit Wundererzählungen garniert sind die Gespräche des koptisch-christlichen Patriarchen Abram Syrus am fatimidischen Kalifenhof in Kairo des 10. Jahrhunderts.173 Solche Religionsgespräche bei Hofe waren wichtig zur kulturellen Repräsentation der christlichen Untertanen im arabischen Reich, die übrigens im Irak des 9. Jahrhunderts und im Ägypten des 10. Jahrhunderts noch die Bevölkerungsmehrheit gestellt haben dürften. Dort, wo diese Gespräche als akademische Disputation zwischen Theologen angelegt waren, konnte es je nach Tagesform der Diskutanten einen triumphierenden Gewinner und einen blamierten Verlierer geben. Dieses Setting beförderte leider nicht nur die Wissensbildung übereinander, sondern konnte auch einen eifersüchtigen Streit um die Wahrheit auslösen, der im Extremfall krisenhafte Situationen nach sich zog.174 Das Narrativ der ›ersten Hidschra nach Äthiopien‹ fällt hier insofern aus dem Rahmen, als es einen Dialog beschreibt, der im vollen Bewusstsein über die unvereinbaren Glaubensunterschiede geführt wird, aber trotzdem einen Weg 172 Martin Tamcke (2008) 102. 173 Siehe dazu in dieser Arbeitshilfe das Kapitel zum christlichen Verfolgungsnarrativ. 174 Michael Borgolte (2021) hat darauf hingewiesen, dass Religionsgespräche im europäischen Mittelalter– mit wenigen bekannten Ausnahmen, die er anführt – für den Fall einer realen Begegnung bewusst vermieden wurden, weil sie entweder unter dem verdeckten Ziel einer Missionierung geführt wurden oder sich in Form der damals üblichen apologetischen Streitgespräche (Dispute) kontraproduktiv auf den Religionsfrieden auswirken konnten. Überlieferungen ›gelungener‹ Religionsdialoge sind in dieser Zeit meist literarische Fiktionen, die mit Blick auf die eigene Glaubensgemeinschaft am Schreibtisch verfasst wurden. Zur Zielsetzung solcher idealer Dialoge des Religionsgesprächs im europäischen Mittelalter und bis zur Aufklärung vgl. Johannes Ev. Hafner (2001).
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Die ›erste Hidschra‹ der Muslime nach Äthiopien
findet, darüber nicht in Streit zu geraten, sondern daraus die Vision für einen neuen gemeinsamen Weg zu entwickeln. Das Verhalten der christlichen und muslimischen Repräsentanten am Hofe des Negus bildet dabei einen idealen friedenstiftenden Diskurs ab. Es gelingt sogar das Unwahrscheinliche, nämlich eine einvernehmliche Sprache für das Trennende und Unvereinbare zu finden, die im Rückgriff auf die Heiligen Schriften beider Religionen legitimiert wird. So kann das differente religiöse Selbstverständnis beider Gemeinschaften thematisiert werden und bestehen bleiben, ohne dass der eine über den anderen siegen muss. Dies eröffnet beiden Seiten die Möglichkeit, alternative Rollenmuster und soziale Verhaltensweisen zu erproben. Das Narrativ hat in der Überlieferung des Ibn Isha¯q also eine hidden agenda, ˙ die das sozial erwünschte Verhalten der Religionsgemeinschaften in einem gemeinsam bewohnten Staatswesen darstellt. Die Frage ist nun, ob es sich dabei tatsächlich um eine historische Begebenheit gehandelt hat, ober ob Ibn Isha¯q ˙ seine Wunschvorstellung für die eigene Zeit des 8. Jahrhunderts und für die eigene arabische Herrschaft in einem idealen Dialog für das Religionsgespräch zwischen Christen und Muslimen konstruiert hat, den er episodisch in die früheste Gründungszeit des Islams zurückprojizierte. Ich selber neige zu dieser Idee einer historischen Rückprojektion.175 Unbestritten dürfte jedoch sein, dass Ibn Isha¯q eine perfekte narrative Konstruktion überliefert, in der sich alle typologi˙ schen Elemente ambiguitätstoleranter Narrative finden.176 Sowohl aus seiner ›erlebten Zeit‹ des 8. Jahrhunderts, als auch aus unserer ›erlebten Zeit‹ des 21. Jahrhunderts ist es möglich, über dieses Narrativ in den ›erzählten Zeitraum‹ (Aksum im Jahr 615) einzusteigen und dabei kreative Ideen zu entwickeln, wie das Erringen einer gemeinsamen Sprache für das bleibend Unvereinbare zur Vision eines neuen Miteinanders in der Gegenwart führen könnte.
Zielpublikum und Zweck der traditionellen Erzählung Das Narrativ der ›ersten Hidschra nach Äthiopien‹ ist bis heute eine Basis-Erzählung für das gemeinsame Leben von Christen und Muslimen in den modernen Staaten von Eritrea und Äthiopien. Die traditionelle Erzählweise stellt dabei auf Grundlage der eigenen Heiligen Schriften die Gemeinsamkeiten im Bekenntnis von Muslimen und Christen im Sinne einer Bestimmung von Schnittmengen heraus. Weiterhin wird auf die guten Beispiele des Zusammenlebens aus früherer Zeit verwiesen, die mit der als historisch angenommenen ›ersten Hid175 Frank van der Velden (2011) 238ff. 176 Siehe dazu oben »Merkmale ambiguitätstoleranter Narrative« im Kapitel »Narrative für ein neues Paradigma?«
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Darstellung und kritische Sichtung des Narrativs
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schra nach Äthiopien‹ begonnen habe. Daraus ergebe sich auch für heute der Anspruch zu einem friedlichen und vertrauensvollen gesellschaftlichen Zusammenleben. Auf die Benennung der bestehenden Unterschiede im Bekenntnis wird dagegen meist verzichtet, der Anspruch des Narrativs, gemeinsam eine einvernehmliche Sprache für das religiös Trennende zu finden, wird somit nicht eingelöst.177 Konversion als Ergebnis des Dialogs? Die Scheu vor der Benennung des Trennenden liegt nicht zuletzt in schlechten Erfahrungen begründet, denn wenn auf diesem Weg Streit ausbrach, konnte der soziale Frieden nachhaltig gefährdet sein. Schon immer – und in allen Religionen – hat ein offener Dialog die Kritik solcher Kreise hervorgerufen, die darin die Überlegenheit und den exklusiven Wahrheitsanspruch ihrer eigenen Religionen gefährdet sahen. Daher wundert es nicht, dass identitäre religiöse Gruppen das Narrativ der ›ersten Hidschra nach Äthiopien‹ nicht auf sich beruhen ließen, sondern Fortschreibungen vornahmen, mit dem Ziel seine kreative Spannung kollabieren zu lassen. So findet sich in sekundären Traditionen das Motiv einer späteren heimlichen Konversion des christlichen Negus zum Islam. Historisch ist diese Konversion nicht nachweisbar, aber als Argument wird angeführt, dass laut muslimischer Überlieferung Muhammad das rituelle Totengebet für den Negus gesprochen haben soll, als ihn später in Medina die Nachricht von dessen Ableben erreichte. Muslimische Forterzählungen, speziell in populären Medien in Äthiopien, versuchen diesem Motiv historische Plausibilität zu verleihen, indem sie den Begräbnisort des Negus in der ältesten Moschee auf afrikanischem Boden – die Masjid as-Saha¯bah in Massawa/Eritrea – lokalisieren.178 ˙ ˙ ˙ Christliche Forterzählungen kennen dieses Motiv dagegen nicht, und historisch ist wenig nachweisbar. Aber literaturgeschichtlich ist die Legende der ›religiösen Konversion des Machthabers‹ ein häufiges Wandermotiv, das auch andersherum in christlichen Verfolgungs- und Errettungsnarrativen auftaucht. So
177 Zur Einordnung muss betont werden, dass diese Aufgabe in der wechselvollen Geschichte der Beziehung von Christentum und Islam bisher weder von der europäischen noch von der östlichen Theologie wirklich eingelöst wurde. Auch das Zweite Vatikanische Konzil (1962– 1965), das in der katholischen Kirche den Wendepunkt hin zu einem offenen Islamdialog beschreibt, nahm vor allem eine Schnittmengenbestimmung der Bekenntnisse vor und verschob die Suche nach einer gemeinsamen Sprache für das Trennende auf die Zukunft (Roman Siebenrock [2005] 660). Erst in neuester Zeit wird diese Aufgabe wieder energisch gemeinsam angegangen, z. B. im Bereich der komparativen Theologie, s. Mouhanad Khorchide / Klaus von Stosch (2018). 178 Vgl. Ethiopian Muslims | Ethiopia and Islam | 5 Amazing facts about Ethiopia and Islam || Bilal Ibn Rahab – YouTube (letzter Zugriff am 16. 08. 2022).
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Die ›erste Hidschra‹ der Muslime nach Äthiopien
berichten koptische Quellen179 von der heimlichen Konversion des fatimidischen Kalifen al-Muʿizz li-Dı¯n Allah (953–975 AD) zum Christentum nach einem Rettungswunder am Muqattam-Berg in der Nähe von Kairo.180 Und auch hier wird versucht, historische Plausibilität zu erzeugen, indem bis heute der angebliche Taufort in der spätantiken koptischen Merkurios-Kirche in Alt-Kairo gezeigt wird. Tatsächlich war al-Muʿizz li-Dı¯n Allah ein muslimischer Herrscher, welcher im Ägypten des 10. Jahrhunderts der koptisch-christlichen Bevölkerungsmehrheit weitgehende Religionsfreiheiten garantierte, aber einen historischen Nachweis für seine Konversion gibt es auch hier nicht. Anders als ihre fragliche historische Wahrscheinlichkeit ist die Funktion und Absicht der Forterzählung der ›ersten Hidschra nach Äthiopien‹ jedoch sehr eindeutig. Wenn der perfekte Ausgang eines Dialogs über das religiös Trennende in der Konversion des ›anderen‹ besteht, ist die Anstrengung zum Erringen einer gemeinsamen Sprache für das bleibend Unvereinbare unnötig, wenn nicht gar diesem Missionsziel schädlich. Diese Form einer autoritären identitären Fortschreibung schafft es somit mit einem einzigen Kunstgriff, das fein gesponnene narrative Geflecht der Grunderzählung kollabieren zu lassen.
The Clash of Civilization Narratives: Polemik, als Dialog getarnt Heute wird von identitären ›Islamisten‹ die ›große Erzählung‹ eines globalisierten islamischen Überlebenskampfes gegen den, je nach Sichtweise säkularen, ›jüdischen‹ oder ›christlichen‹ Westen vorgetragen. Dabei wird im Clash of Civilization Narratives auch die traditionelle Erzählung der ›ersten Hidschra nach Äthiopien‹ soweit umgedeutet, bis das gesellschaftliche Zusammenleben eines ›wahren‹ Muslim mit Christen nahezu unmöglich erscheint.181 Dazu wird ein weiteres Fortschreibungsmotiv benutzt, das in der Grundgeschichte nicht vorhanden ist, aber eine sehr populäre und traditionelle Verbreitung bis in den Film The Message des syrischen Regisseurs Moustapha Akkad gefunden hat (siehe unten): Die Muslime brechen bei der ersten Vorstellung vor dem Negus mit der Hofetikette, indem sie ihm die Proskynese – also die rituelle tiefe Verneigung – verweigern. Sie begründen diesen ›mangelnden Integrationswillen‹ mit ihrem unterscheidenden Glauben: Muslime verneigen sich nur vor Gott, nicht vor Menschen.
179 St. Mark Coptic Orthodox Church: The Coptic Synaxarium vol. I (1978) 173–177, vol. II (1976) 200–202. 180 Siehe unten das Kapitel zum christlichen Verfolgungsnarrativ. 181 Frank van der Velden (2020).
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The Clash of Civilization Narratives: Polemik, als Dialog getarnt
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Das Motiv einer aus Glaubensgründen verweigerten Proskynese ist in der Literaturgeschichte häufig belegt. Bereits im biblischen Buch Esther (Est 3,2) verweigert der Jude Mordechai dem persischen Würdenträger Haman aus religiösen Gründen die ihm zustehende Proskynese und bringt sich und sein Volk damit in allergrößte Schwierigkeiten, aus denen sie nur der feste Glaube an Gott selber rettet. In abgewandelter Form findet sich das Motiv der verweigerten Ehrerbietung auch bei Schillers Freiheitsheld Wilhelm Tell, der dem öffentlich aufgestellten Hut des Machthabers die Reverenz verweigert. Im Jahr 2016 erzählte die extremistische Bewegung Realität Islam die Situation der Muslime in Deutschland analog zur muslimischen Exilgemeinde des Jahres 615.182 Dabei wurde eine unmittelbare Bedrohung der muslimischen Gemeinschaft durch die deutsche Mehrheitsgesellschaft behauptet, zu deren Glaubensbekenntnissen und Verhaltensregeln daher ein absoluter Bruch vollzogen werden müsse. In dieser Logik wird das Narrativ der ›ersten Hidschra nach Äthiopien‹ so umgedeutet, dass erst die in der verweigerten Proskynese demonstrierte Glaubensstärke der Muslime den Negus so beeindruckt habe, dass er ihre kulturelle und religiöse Diversität akzeptierte. Auf Deutschland gewendet bedeute dies: Würde der eigene Glaube in Deutschland nur kompromisslos und konsequent genug gelebt, so werde die deutsche Mehrheitsgesellschaft dies letztlich respektieren müssen. Damit werden, anders als im Narrativ der Grunderzählung, der Negus in Äthiopien und die deutsche Mehrheitsgesellschaft als ein potenziell feindliches Gegenüber erzählt, dem der Freiraum für die eigene Religionsgemeinschaft durch täglich neu demonstrierte Stärke abgerungen werden muss. Als Ziel wird auch nicht mehr das dauerhafte gemeinsame Zusammenleben von Muslimen und Christen im »Gastland« (sic!), sondern die innere Emigration oder gar der reale Exodus aller europäischen Muslime in ein ›islamisches Land‹ ausgegeben. Am Beispiel der ›ersten Hidschra nach Äthiopien‹ lässt sich somit der Clash of Civilization Narratives darstellen, den extremistische Gruppen einerseits gegen den Mainstream-Islam und andererseits gegen die deutsche Migrationsgesellschaft führen. Extremistische Gruppen geraten in Panik, wo Narrative in der kreativen Spannung zwischen ›erlebter Zeit‹ und ›erzählter Zeit‹ den Raum für das Erproben neuer Rollenmuster und sozialer Verhaltensweisen geben. Besonders allergisch reagieren sie dort, wo für das bleibend Unvereinbare eine gemeinsame Sprache errungen wird, die zur Vision eines neuen Miteinanders führen könnte. Denn an dieser Stelle wird mit den wichtigsten typologischen 182 Vgl. Frank van der Velden (2020) 300–301. Die vier Videos sind auf dem youtube-Kanal von ›Realität Islam‹ zugänglich, #1 – Die Kraft einer redlichen Gemeinschaft – YouTube (letzter Zugriff am 7. 9. 2022). Die Organisation steht in Hessen aktuell unter Beobachtung durch den Verfassungsschutz (Jahresbericht des hessischen Landesamts für Verfassungsschutz 2020, S. 56f).
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Merkmalen extremistischer Narrative gebrochen: Der Einfachheit der Weltsicht, der Reklamierung der Opferrolle für die eigene Gruppe, der Konstruktion eines dämonisierten Gegners und der Vorbereitung auf den apokalyptischen Endkampf mit ihm.183 Die Verbiegung historischer Fakten und die Umdeutung traditioneller Erzählformen führt am Beispiel der ›ersten Hidschra nach Äthiopien‹ zu einer extremistischen Selbsterzählung. Während die Grunderzählung die Aushandlung kultureller und religiöser Differenzsemantiken thematisiert, behauptet die extremistische Weitererzählung, sich auf solche Prozesse nicht einlassen zu müssen. Stattdessen wird die eigene Identität in einem religiosierten Kulturalismus erzählt, der innerweltlich nicht mehr verhandelbar ist. Auch hier kollabiert die ›erlebte Zeit‹ zum Schaden der Narrativs (und der Realität) in die ›erzählte Zeit‹, in der nun keine Erprobung alternativer Rollenmuster und sozialer Verhaltensweisen mehr möglich ist.
Didaktisches Beispiel: Eine Geschäftsordnung zum guten Umgang mit bleibenden Differenzen Pädagogisches Setting Das Narrativ der ›ersten Hidschra nach Äthiopien‹ lässt sich sinnvoll in zwei Richtungen didaktisieren. In einer ersten Didaktisierung kann im Vertrauen auf die Gemeinsamkeiten im Glauben und auf die gemeinsam erlebte Geschichte (shared history) nach neuen Wegen im Miteinander gesucht werden, wobei das Trennende im Glauben zwar besprochen aber nicht problematisiert wird. Dies entspricht der bis heute in Äthiopien, Eritrea aber auch in den arabischen Nationalstaaten gepflegten Erzähltradition.
Material Als Material für den Einsatz in den oberen Jahrgangsstufen weiterführender Schulen wurde der bereits besprochene Film The Message ausgesucht, den der syrische Regisseur Moustapha Akkad 1977 mit Anthony Quinn in der Rolle des
183 Siehe oben »Merkmale extremistischer Narrative« im Kapitel »Narrative für ein neues Paradigma?«
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Alltagserfahrung »Erzähl’ mal von Deiner Religion!«
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Hamza gedreht hat. Gemeinsam wurde die Sequenz der ›ersten Hidschra nach Äthiopien‹184 betrachtet.
Alltagserfahrung »Erzähl’ mal von Deiner Religion!« Christiane Ritter und Mehmet Sevki Yavuz haben zu dieser Filmsequenz bereits vor einigen Jahren einen Unterrichtsansatz in der Form eines interreligiösen Teamteachings veröffentlicht,185 bei dem sie die Alltagserfahrungen der Schüler abfragen und einbinden:186 »Nachdem die Schülerinnen und Schüler die Sequenz angeschaut haben, bekommen sie die Möglichkeit, sich darüber auszutauschen. Es ließe sich im Unterricht fragen, ob sich die Schülerinnen und Schüler jemals in einer Situation befanden, in der sie es für notwendig erachtet haben, einer Person über ihre eigene Religion zu erzählen, und welche Erfahrungen sie damit gemacht haben.«
In Deutschland ist es eine häufige Erfahrung ›migrantisch‹ gelesener Menschen, dass sie Auskunft geben müssen, wie sie zu ihrer Kultur oder Religion stehen und manches Mal ist das dahinterstehende Interesse eher inquisitorisch als empathisch interessiert. Die Thematisierung eines solchen persönlichen Bezugs in der Lerngruppe ist daher kein Selbstläufer, sondern eine herausfordernde Aufgabe. Deshalb legen Ritter und Yavuz großen Wert auf eine vorsichtige Vorgehensweise: »Bereits die Verbalisierung des Gesehenen erfordert dabei Sorgfalt und Konzentration. Hier werden Gedanken und Emotionen deutlich und es stellt sich heraus, wie die Schülerinnen und Schüler den Dialog wahrnehmen, ob sie die Szene auf verschiedene Art deuten oder ob eine gemeinsame Vorstellung vorherrscht. Ein interreligiöser Dialog – wie in der Filmsequenz dargestellt – ist ein sensibles Thema, daher sollten die Schülerinnen und Schüler erfahren, wie sie solch einen Dialog selber führen können, und was sie dabei erwartet. Es fordert Präzisierung in der Wortwahl, Vorsicht beim Ausdruck und ein Gefühl für das Reden von Unterschieden und Gemeinsamkeiten.«
An diesem Punkt beginnt also ein vorsichtiges gegenseitiges Abtasten. Nur wenn es gelingt, das empathische Interesse gegenüber dem inquisitorischen Interesse stark zu machen, benennen die Schüler, was ihnen die bleibenden Eigenheiten und Unterschiede ihrer Kulturen und Religionen bedeuten und wie sie versuchen, diese im Alltag mit der Mehrheitsgesellschaft in Beziehung zu setzen. In 184 Das Video Muslims in Ethiopia – YouTube ist auf youtube.com unter der Kennung /watch? v=INrBZOaThIw verfügbar (letzter Zugriff am 16. 08. 2022). 185 Hier findet sich auch eine kurze kulturgeschichtliche Einordnung des Filmes: Christiane Ritter / Mehmet S. Yavuz (2013) 143–147. 186 Die folgenden Zitate stammen aus Christiane Ritter / Mehmet S. Yavuz (2013) 148f.
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diesem gelingenden Fall kommt es nicht zu einer triumphalistischen Deutung des Narrativs, und das im Film aufgenommene Motiv der verweigerten Proskynese ›triggert‹ niemanden. Voraussetzung dafür ist, dass das Lehrer-Team in seinen eigenen Gemeinsamkeiten und Unterschieden transparent bleibt und diese empathisch, respektvoll und handlungsorientiert miteinander kommuniziert.
Neugier auf die Sicht des anderen: Perspektivenübernahmen In einem zweiten Ansatz kann das Narrativ der ›ersten Hidschra nach Äthiopien‹ auf den zentralen Punkt seiner Grunderzählung didaktisiert werden, nämlich wie das Erringen einer gemeinsamen Sprache für das bleibend Unvereinbare und Trennende zur Vision eines neuen Miteinanders in der Gegenwart führen könnte. Diese herausfordernde Aufgabe ist wie dargestellt im Religionsdialog erst anfanghaft eingelöst worden. Vielleicht ist sie daher vorerst am besten im kollegialen Gespräch religiös gemischter Teams an Universitäten, Schulen und Bildungseinrichtungen etc. aufgehoben. Als Reader für ein solches Gespräch folgen zum Schluss dieses Abschnittes fünf kurze Texte, mit denen aktuelle christliche und muslimische Theologen dieses Thema am Beispiel von Jesus / Isa¯ Ibn Maryam aufgreifen. Im ersten Text legt der Tübinger katholische Theologe Karl-Josef Kuschel das Narrativ der ›ersten Hidschra nach Äthiopien‹ in seiner Bedeutung für das Zusammenleben von Christen und Muslimen aus. Im zweiten und dritten Text lassen sich der Bonner katholische Theologe Klaus von Stosch und der Münsteraner islamische Theologe Mouhanad Khorchide jeweils auf den ›Jesus des anderen‹ ein. Im vierten und fünften Text unternehmen der Frankfurter islamische Religionspädagoge Harry H. Behr und der evangelische Theologe Martin Bauschke eine kurze Annäherung an die Heilige Schrift des jeweils anderen.
Outcome: Stärkung von Diversifizierungs- und Relationierungskompetenz Interreligiöse Kompetenzen entwickeln sich häufig erst in der Begegnung und Auseinandersetzung miteinander. Die Freiburger Religionspädagogin Mirjam Schambeck benennt als eine wichtige interreligiöse Kompetenz die Befähigung, in solchen pluralen religiösen Begegnungen souverän zu sein. Sie sagt sinngemäß: Jemand, der mit dem Religionsplural angemessen gut umgehen kann, hat die Fähigkeit, eigenes und fremdes zu unterscheiden (Diversifikationskompe-
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Outcome: Stärkung von Diversifizierungs- und Relationierungskompetenz
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tenz) und zugleich eigenes und fremdes miteinander in Beziehung zu setzen (Relationskompetenz).187 Das Narrativ der ›ersten Hidschra nach Äthiopien‹ hat dieses Potenzial der In-Beziehung-Setzung und wendet sich damit an ein breites und diverses Zielpublikum fast aller Bildungs- und Altersstufen. Es ist in seiner Grunderzählung eine wirkmächtige Mut-mach-Geschichte, um im Zusammenleben auf die Kraft der vorhandenen Gemeinsamkeiten und der gemeinsam erlebten Geschichte zu vertrauen. Auf einer höheren Abstraktionsebene hat es das zusätzliche Potenzial, aus der Diversifikation des Trennenden im Glauben eine kreative Diskussion um dessen theologische Relationierung anzuregen. Auf einer dritten Ebene offenbart das Narrativ die Ängste und die Schwachstellen extremistischer Selbsterzählungen. Auf allen drei Ebenen kann das Narrativ der ›ersten Hidschra nach Äthiopien‹ einen wichtigen Beitrag zur narrativen Identität moderner Migrationsgesellschaften leisten.
Trigger-Warnung Auch hier soll wieder die Frage nach den Grenzen der Maßnahme gestellt werden. Wo liegen die Gefahrpunkte für eine übergriffige Interpretation des Narrativs, die im Religionsgespräch der heutigen Zeit zum Problem werden könnte? – Bereits beschrieben wurden ›toxische‹ Elemente aus dem Overlay der Rezeptionsgeschichte von Narrativen (z. B. der Triumph über den anderen, Konversionsdruck etc.). – Auch anders herum gilt: Die unter dem Overlay zutage tretende Blackbox des historischen Textes darf nicht vorschnell mit ›heutigen‹, sozial erwünschten Inhalten neu auffüllt werden. – Grundsätzlich darf die religiöse Relationierung (In-Beziehung-Setzen) zum Glauben des anderen nicht zu einer ›religiösen Aneignung‹ (vgl. cultural appropriation) werden. Dies wäre übergriffig. – Genauso darf die religiöse Diversifizierung der notwendig bestehenden Unterschiede nicht aufgegeben werden. Sonst entsteht eine Mischreligion (Synkretismus).
187 Mirjam Schambeck (2013) 161–174.
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Die ›erste Hidschra‹ der Muslime nach Äthiopien
Texte Text 1: Karl-Josef Kuschel »Weihnachten im Koran« (2012) 149 »Wenn Nichtchristen, wie die Muslime ein Grundbekenntnis zu Jesus abgeben wie dies, er sei für sie ›der Diener Gottes, sein Prophet, sein Geist und sein Wort, dass er der Jungfrau Maria eingegeben‹ habe, dann genügt dies diesem Christen [dem äthiopischen Negus, Anm. d. Verf.]. Genügt, um sie als Gäste in seinem Land zu beherbergen und zu schützen. Mehr verlangt er von ihnen nicht. Er presst sie nicht, urteilt sie nicht ab, verlangt nicht das Äußerste. Christen werden auf der Basis ihrer Heiligen Schriften weiter gehen in Sachen Christologie, werden von Jesus, dem Christus und Sohn Gottes, mehr sagen, andere Ausdrucksformen ihres Glaubens benutzen. … Auf äthiopischem Boden also hat sich in der Frühgeschichte von Christentum und Islam eine Begegnung ereignet, die auch heute noch nichts von ihrem Zauber und ihrer Wahrheit verloren hat, Historizität hin oder her. In muslimischer Überlieferung wird Äthiopien erinnert als ein Land, in dem sich eine Szene von universaler Bedeutung abgespielt hat. Eine Szene, deren Botschaft viele Christen und Muslime noch vor sich haben. Äthiopien könnte so zu einem Land exemplarischer Kommunikation, gegenseitigen Respektes und friedlicher Koexistenz von Christen und Muslimen werden.« Text 2: Klaus von Stosch »Jesus. Der andere Prophet?« (2018) 289–291 »Zunächst einmal erinnert mich der Koran in drastischer Klarheit an die großen Gefahren einer Vergöttlichung Jesu auf Kosten seiner Menschlichkeit. Wenn Jesus vom Menschen weggerückt wird und seine menschliche Natur nicht mehr in ihrer Integrität erkannt wird, zerstört das die christliche Erlösungsbotschaft. Der Verkünder des Korans legt den Finger in die Wunde einer Christologie, die die echte Menschheit und Menschlichkeit Jesu verdunkelt und so nicht mehr verständlich machen kann, wie wir durch die in Jesus Christus erwiesene Zuwendung Gottes erlöst werden können. Denn zur Erlösung muss Gott ganz auf der menschlichen Ebene präsent sein und sie von innen verwandeln … Ein zweiter innovativer und produktiver Zugang zur Christologie ergibt sich aus den koranischen Christustiteln. … Natürlich ist es bewegend, im Koran von Jesus als dem Christus, dem Wort Gottes und dem Gottesknecht zu hören. Aber noch aufregender sind die mir bisher unbekannten Titel, die mir neue Dimensionen der Wirklichkeit Jesu Christi vor Augen stellen. Vor Jesus als dem Sohn der Maria habe ich schon gesprochen. Noch viel ungewöhnlicher ist seine Kennzeichnung als Geist Gottes und als der Gott Nahestehende. Jesu Nähe zu Gott, seine unvermittelte Vertrautheit mit ihm und seine restlose Bezogenheit auf ihn, ist in der Tat auch aus christlicher Sicht ein entscheidender Schlüssel, um sich Jesu Lebensgeheimnis anzunähern. Wer mit Jesus zu tun bekommt, wird mit Gottes Geheimnis selbst konfrontiert, weil er Gott so nahe ist, dass ich an der Begegnung mit Gott nicht vorbeikomme, wenn ich mich Jesus Christus öffne und ihm vertraue.«
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Texte
Text 3: Mouhanad Khorchide »Jesus. Der andere Prophet?« (2018) 299f »Wir haben gesehen, dass der Koran an keiner Stelle das Christentum bzw. das Judentum kritisiert, sondern wenn, dann bestimmte Gruppierungen und bestimmte Positionen, ansonsten spart der Koran nicht mit Lob und Anerkennung dieser zwei Religionen. … Entgegen der weit verbreiteten Ansicht, der Verkünder des Korans betreibe antichristliche Polemik, haben wir gezeigt, dass durch die Bezeichnung Jesu als Diener Gottes im Koran ein christologischer Hoheitstitel aufgenommen wird. Zugleich erteilt der Koran jeder Form einer erlösenden Kraft ritueller Opfer eine Absage. … Eine der wichtigsten Erkenntisse aus unserer Forschung ist die Feststellung der Bereitschaft des Korans, einige der zentralen Ansatzpunkte für die Christologie zu bestätigen. Zugleich stellt er aber im selben Atemzug Warnschilder auf, die vor Fehlentwicklungen in der christlichen Theologie warnen und die unserer Ansicht nach von bleibender Bedeutung sind. … Indem der Koran selbst Jesus als Wort und Geist Gottes bezeichnet, gibt er Anlass dazu, in Jesus mehr als nur einen passiven Überbringer einer Botschaft zu sehen. Was allerdings der Koran unmissverständlich zurückweist, ist jede Form der Vergöttlichung Jesu. Durch unser Buch sollte klar geworden sein, dass der Verkünder des Korans damit aber nicht das Christentum als solches zurückweisen will. Denn offenkundig geht es dem Christentum ja gar nicht um eine Vergöttlichung Jesu, sondern um den Glauben, dass in Jesus Christus Gottes Wort erfahrbare Wirklichkeit werden will. Hier wird also nicht ein Mensch in göttliche Würde erhoben, sondern vielmehr wendet sich Gott umgekehrt dem Menschen zu – ein Gedanke, der immer wieder im Koran bezeugt wird, auch wenn der Islam andere Bilder und Wege in den Vordergrund rückt, um diese Zuwendung zu bezeugen. Daraus folgt aber lediglich eine produktive Verschiedenheit beider Religionen, nicht aber ein unversöhnlicher Gegensatz.« Text 4: Martin Bauschke »Jesus im Koran« (2001) 130 »Die christliche Theologie kommt auf Dauer nicht umhin, das Jesusbild des Korans als einen Sonderfall externer Christologie, genauer noch: als Sonderfall eines außerchristlichen und außerkirchlichen Jesus-Zeugnisses zu akzeptieren. Es besitzt unter bestimmten Voraussetzungen mit demselben Recht wie intern-christliche Christologien einen Anspruch darauf, theologisch legitim zu sein. Inwiefern ist die koranische Christologie ein ›Sonderfall‹? Einfach schon deshalb, weil sie die einzige Christologie außer den neutestamentlichen ist, die in der Heiligen Schrift einer Weltreligion fundiert ist. Dieser Sachverhalt ist zugleich schon ein Grund für die theologische Legitimität des koranischen Jesuszeugnisses – es sei denn, man wollte dem Koran als solchem jegliche Würde vom Rang einer Heiligen Schrift von vorneherein absprechen, wie das die längste Zeit der christlichen Theologiegeschichte über leider unbestritten der Fall war«. Text 5: Harry Harun Behr »Was einen Muslim an der Bibel reizt« (2005) 157 [Der muslimische Religionspädagoge Harry H. Behr wirbt für eine] »systematische Lektüre der Bibel durch Muslime, die der Bibel nicht primär unter der Maßgabe des Koran-Vorbehalts begegnen, sondern die sich auf einen empathischen Zugang einlassen, die versuchen, sich nicht nur in die Bibel einzulesen, sondern auch einzufühlen, um mehr über diejenigen ihrer Mitmenschen zu erfahren, für die die Bibel in der Mitte ihres Lebens steht. Es läuft wieder auf diesen simplen Punkt aus Sure 3:7 hinaus: aus dem Dafürhalten und Scheinwissen wirklich fundiertes Wissen zu machen, ein ›Zuhause‹, das auf dem Fundament des ›rechten‹ Lebens gebaut ist«.
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al-hubbu dı¯nı¯: »Die Liebe ist meine Religion« – ein sufisches ˙ Narrativ im modernen Islam
Darstellung und kritische Sichtung des Narrativs Noch einmal nach Andalusien führt das Narrativ al-hubbu dı¯nı¯ (die Liebe ist ˙ meine Religion), das ebenfalls ab dem späteren 19. Jahrhundert für den modernen Islam durch die Wiederbelebung alter sufischer Traditionen an Bedeutung gewann. Ein klassischer Text dieser Selbsterzählung ist zum Beispiel die Qaside (Gedicht) »Die Karawane der Liebe« von Ibn ʿArabı¯, der im Andalusien des 13. Jahrhunderts die literarischen Stoffe solcher sufischer Betrachtungen wob. Dieser Klassiker des Genres ist mehrfach vertont worden und wird heute zum Beispiel in Ägypten auch von populären Sängern wie Muhammad Mounir interpretiert.188 Es folgt ein Ausschnitt dieser Qaside aus der Schrift »Deuter der Sehnsüchte«: Aus dem »Deuter der Sehnsüchte« Teil einer Qası¯de von Ibn ʿArabı¯ ﻟﻘﺪ ﺻﺎﺭ ﻗﻠﺒﻰ ﻗﺎﺑ ًﻼ ﻛ َّﻞ ﺻﻮﺭ ٍﺓ ﻓﻤﺮﻋﻰ ﻟﻐﺰﻻ ٍﻥ ﻭﺩﻳ ٌﺮ ﻟﺮﻫـﺒﺎ ِﻥ ٍ ﻭﺑﻴ ٌﺖ ﻷﻭﺛﺎ ٍﻥ ﻭﻛـﻌــﺒـ ُﺔ ﻃـﺎﺋـ ﻒ ُ ﻭﺃﻟﻮﺍ ُﺡ ﺗﻮﺭﺍ ٍﺓ ﻭﻣﺼﺤ ﻒ ﻗﺮﺁ ِﻥ ﺃﺩﻳﻦ ﺑﺪﻳ ِﻦ ﺍﻟـﺤـ ِﺐ ﺃﻧﻰ ﺗﻮﺟـَّ َﻬـﺖ ﺭﻛﺎﺋﺒُ ُﻪ ﻓﺎﻟﺤـ ُﺐ ﺩﻳﻨﻰ ﻭﺇﻳﻤﺎﻧﻰ (Andalusien, 13. Jh.)
»Und so öffnet sich mein Herz für jedes Bild, das ihm begegnet. Es wird zur sich’ren Weide für Gazellen, zu einem Kloster für (christliche) Mönche; Zu einem Tempel für die Götterbilder; Und zur Kaaba für manchen, der sie umschreiten mag; Und zu den Tafeln der Torah und zur Abschrift des Koran; Ich folge achtsam der Glaubensminne, wohin immer ihre Reittiere sich wenden. Denn die Liebe ist meine Religion und mein Glaube.«189
188 Ein Hörbeispiel findet sich am Ende des Films »Dare to Dream«, der im Kapitel bila¯d alAndalus (die Landschaften Andalusiens) behandelt wird. 189 IbnʿArabı¯, turguma¯n al-Ashwa¯q (eigene Übersetzung aus dem arabischen Original).
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al-hubbu dı¯nı¯: »Die Liebe ist meine Religion« ˙
Fakes and facts! Ich habe kaum je einen Menschen kennengelernt, der sich selber oder seine Religion für intolerant gehalten hätte. Daher sind solche Selbsterzählungen, wie die von der eigenen Religion als einer »Religion der Liebe«, natürlich immer kritisch zu hinterfragen. Das gilt im Übrigen nicht nur vom Islam, sondern auch vom Christentum, der selbsterklärten Religion der Nächstenliebe. Beim Narrativ al-hubbu dı¯nı¯ (die Liebe ist meine Religion) ist dafür besonders die Bedingung ˙ seiner Rezeption in das moderne religiöse Denken zu beachten. Sufitum, wie es in der Zeit des Reformislam ab dem späteren 19. Jahrhundert gelebt und verstanden wurde, besaß und besitzt bis heute zwei sehr unterschiedliche Ausformungen. Zum Einen sind die traditionellen volkstümlichen Bruder- und Schwesterschaften der Sufis zu nennen, die meist in der sozialen Unter- und Mittelschicht angesiedelt sind. Ihr Dhikr (die Versammlung zur sufischen Meditation) lässt sich in Kairo bis heute bei den Jahresfesten (mu¯lid) an den Gräbern und Erinnerungsorten (masˇhad) verehrter Personen aus der Frühzeit der islamischen Geschichte beobachten. Besonders eindrucksvoll sind die Jahresfeste des Prophetenenkels Hussein im mittelalterlichen Altstadtviertel Gamaliya und das mu¯lid der Sayeda Zainab im gleichnamigen Stadtbezirk. Die zweite Form ist die moderne intellektuelle Beschäftigung mit der sufischen Tradition. Diese moderne Rezeption mittelalterlicher Sufis oder Mystiker wie Ibn ʿArabı¯ hatte zur Bedingung, dass viele ihrer Schriften ab dem 19. Jahrhundert entweder wiederentdeckt oder durch wissenschaftliche Editionen neu zugängig gemacht wurden. Der gebildete Mainstream in den islamisch geprägten Staaten der Region und in der Türkei, der ab dem späteren 19. Jahrhundert in die Moderne strebte, rezipierte diese sufischen Schriften und Ideen für die eigene Spiritualität und tauschte sich dabei auch mit europäischen Intellektuellen aus. Durch Übersetzungen wie von Annemarie Schimmel190 wurden diese Schriften ab den 1950er Jahren auch in der westlichen Welt populär gemacht. Am Beispiel Ägypten lässt sich gut zeigen, dass der Dhikr (die Versammlung zur sufischen Meditation) in manchen Salons der Bildungsbürgerschicht bis heute seinen festen Platz hat und Teil ihres spirituellen Selbstverständnisses ist. Einen wichtigen Platz in dieser modernen sufischen Rezeptionsgeschichte nimmt der indische Philosoph und islamische Theologe Muhammad Iqbal (1877–1938) ein. Er setzte sich unter anderem umfassend mit al-Gazali, Ibn ʿArabı¯ und Rumi auseinander und mit ihm wurde der Sufismus zum Gegenstand einer ernst zu nehmenden wissenschaftlichen Beschäftigung, wobei er sich mit dem sufischen Anspruch der mystischen Gotteserkenntnis auch durchaus kri190 Annemarie Schimmel (2018).
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Darstellung und kritische Sichtung des Narrativs
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tisch auseinandersetzen konnte. Bis heute ist er eine wichtige Inspiration für viele muslimische Theologen, unter anderem auch für den Münsteraner Professor für Islamische Theologie, Philosophie und Mystik Milad Karimi.191 Sufische Narrative finden sich auch in Muhammad Iqbals eigener Poesie wieder, und in der Übersetzung von Milad Karimi klingt sein Gedicht ʿaql wa-dı¯l (Verstand und Herz)192 wie eine poetische Übertragung von Rumis Auslegung des Gleichnisses vom ›Elefanten und den Blindgeborenen‹ (siehe unten).
Zielpublikum und Zweck der traditionellen Erzählung Andererseits lehnte ein Teil des akademisch und politisch geprägten Reformislams zu Beginn des 20. Jahrhunderts, namentlich Muhammad Abduh und Rashid Reda, sufische Narrative zugunsten einer liberalen rationalen Theologie ab.193 Said Qutb, der nicht nur in Kreisen der Muslim-Bruderschaft viel gelesen wird, lehnte den Sufismus ebenfalls ab, allerdings zugunsten einer Hinwendung zum Salafismus und zu einer militanten politischen Theologie. Interessanterweise kam die intellektuelle sufische Tradition in Ägypten aber auch in Konflikt mit einem politischen Vertreter des arabischen chronotope. Präsident Gama¯l ʿAbd el-Nasr ließ in den 1950er Jahren zahlreiche Tekken ˙ (sufische Schulen), speziell der aus der Türkei stammenden Bektashi-Tariqa schließen, die er für einen ›ausländischen‹ Einfluss auf den ägyptischen Islam verantwortlich machte. Die sufische Intelligenzia zog sich daraufhin weitgehend ins Private zurück. Als Standardargument der Gegner des Sufismus ist immer wieder zu hören, dass dessen Mystik einen illegitimen Sonderweg der Gotteserkenntns etabliere und fundamentale Glaubensregeln der islamischen Sunna relativiere. Den Sufis wird vorgeworfen, die islamische Glaubensgemeinschaft (Umma) elitär zu spalten. Häufig wird dabei übersehen, dass sufische Theologie sich nicht auf die Kreise eines Dhikr beschränkt, sondern dass viele Elemente, die heute selbstverständlich zum modernen Mainstream-Islam gehören, ursprünglich aus der Wiederaufnahme und Neuinterpretation sufischer Konzepte im 19. oder im 20. Jahrhundert stammen. In dieser Arbeitshilfe ist bereits beschrieben worden, wie im September 2014 der Brief von 126 sunnitischen Gelehrten an Abu Bakr AlBaghdadi, den selbsternannten Kalifen des so genannten ›Islamischen Staats‹
191 S. zum folgenden Milad Karimi (2021, 425–473) und Ali Ghandour (2018). 192 Milad Karimi (2021) 451f. 193 Obwohl Rashid Reda in frühen Jahren selber dem Sufitum nahestand.
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al-hubbu dı¯nı¯: »Die Liebe ist meine Religion« ˙
(IS), das Kalifats-Narrativ des IS dekonstruierte.194 Dabei wurde speziell die Vorstellung abgelehnt, dass der Prophet Muhammad mit dem ›Schwert‹ in der Hand in die Welt gesandt worden sei und dass der selbst ernannte Kalif diese Sendung nun weiterführe. These 1 des Briefes erklärte dies als eine fehlgeleitete Auslegung der Sunna und bezeichnete stattdessen die ›Barmherzigkeit‹ des Propheten als sein vorrangiges Sendungsziel und seine primäre Eigenschaft, wie der Koran ihn beschreibe.195 Dieses Bild des barmherzigen Muhammad, das bis heute auch den schulischen Bildungskanon in vielen arabischen Nationalstaaten bestimmt, geht letztlich auf eine sufische Vorstellung zurück. In sufischer Theologie gilt Muhammad als The Model Mystic, der in der tieferen Erkenntnisfähigkeit des Herzens gegenüber dem Verstand ganz von der göttlichen Barmherzigkeit durchstrahlt ist.196 Ein weiteres Beispiel: In der heutigen islamischen Theologie weit verbreitet ist die Unterscheidung des kleinen jiha¯d (Dschihad) – der militärischen Verteidigung zur Überwindung der Feinde des Glaubens – vom großen jiha¯d, der ›Anstrengung‹ auf dem Weg Gottes durch Selbstüberwindung. Auch diese spirituelle Fassung des großen jiha¯d hat eine enge Verbindung zu sufischem Gedankengut. So definierte Ibn ʿArabı¯ in seiner Erklärung sufischer Termini auch den Begriff der muja¯hada (Beharren, Kampf). Für IbnʿArabı¯ bedeutet der Begriff »die Bürde der Seele mit dem Verlangen des Körpers und dem Widerstreit der Leidenschaften in jedem Zustand.«197 In diesem Sinne legte er auch Sure 2:190–194 (»Kämpft auf dem Wege Gottes gegen die, die Euch bekämpfen …«) aus, eine der Kernstellen zur Frage der Bedingung einer Anwendung von Gewalt im Islam. Für Ibn ʿArabı¯ sind die zu bekämpfenden Feinde der Teufel und die machtvollen menschlichen Triebe; jiha¯d ist in diesem Sinne der mühevolle tägliche Einsatz des einzelnen Gläubigen, gegen seine eigenen Triebe und Begierden auf dem Weg des Glaubens zu bleiben. Die Militanz der Wortbedeutung der Verse wird somit metaphorisch gedeutet und spirituell interpretiert.
194 Open Letter to Dr. Ibrahim Awwad Al-Badri, alias ›Abu Bakr Al-Baghdadi‹, to the fighters and followers of the self-declared ›Islamic State‹, 19. 09. 2014 (http://lettertobaghdadi.com, letzter Zugriff am 16. 08. 2022). 195 »It is … forbidden to cite a portion of a verse from the Qur’an – or part of a verse – to derive a ruling without looking at everything that the Qur’an and Hadith teach related to that matter. Example: Abu Muhammad Al-Adnani said: ›God bless Prophet Muhammad who was sent with the sword as a mercy to all worlds.‹ Now God sent the Prophet Muhammad as a mercy to all worlds: ›We did not send you, except as a mercy to all the worlds.‹ (Al-Anbiya’, 22:107). However, the phrase, ›sent with the sword‹ is part of a Hadith that is specific to a certain time and place which have since expired« (These 1). 196 Zum Beitrag sufischer Narrative und speziell von IbnʿArabı¯ zum heutigen Muhammad-Bild, s. Tarif Khalidi (2009), hier besonders Kap. VI »The Model Mystic. Muhammad in Sufi Literature«, S. 151–174. 197 Muhyı¯ddı¯n IbnʿArabı¯ (2013) 321. ˙
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Darstellung und kritische Sichtung des Narrativs
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Die in sufischen Konzepten sichtbar werdende Ablehnung vereinfachter und verfälschender extremistischer Sichtweisen auf Koran, Sunna und Scharia förderte andererseits die moderne hermeneutische Auslegung religiöser Texte – auch des Koran – und die historische Kontextualisierung religiöser Rechtsvorschriften.198 So hat Milad Karimi auf den Einfluss hingewiesen, den IbnʿArabı¯ auf die Koranhermeneutik des Literaturwissenschaftlers Nasr Hamed Abu Zaid (gest. 2010) ausgeübt hat.199 Sufische Konzepte sind somit tief in das Selbstverständnis weiter Kreise islamisch geprägter Gesellschaft eingedrungen und funktionieren dort einerseits als gute Abgrenzungsmarken gegenüber extremistischen Deutungen und andererseits als Brücken für einen gebildeten Dialog mit der westlichen Welt.
Probleme der modernen Rezeption sufischer Narrative Wie immer, wenn mittelalterliche Texte in ein modernes Konzept religiöser Weltdeutung aufgenommen werden, besteht eine latente Gefahr, ihre historische Blackbox mit modernen, sozial erwünschten Inhalten aufzufüllen. So verband IbnʿArabı¯ mit seiner »Karawane der Liebe« zwar die Vorstellung, Gott in jedem Bild und an jedem Ort zu finden, also nicht nur in den Klöstern der Mönche, sondern zum Beispiel auch in den Tempeln polytheistischer Götterwelten. Es ist aber nicht überliefert, dass er seine mystische Schau mit einem realen interreligiösen Dialog verbunden hätte. Auch leitete er keine gesellschaftlichen Forderungen eines gleichberechtigten Miteinanders von Muslimen und Nichtmuslimen daraus ab, und er war auch nicht unbedingt ein Pazifist. Als Sultan alKa¯mil während des fünften Kreuzzugs in Damiette (Dumiat / Ägypten) im Jahre ˙ 1219 nicht nur den Hl. Franziskus traf, sondern aufgrund der misslichen militärischen Situation auch Verhandlungen mit den Kreuzfahrern führte und sogar die Rückgabe von Jerusalem anbot, war es unter anderem Ibn ʿArabı¯, der ihn darob schalt und ein stärkeres militärisches Engagement forderte. Wenn die Qaside von IbnʿArabı¯ hingegen heute von Sängern wie Muhammad Mounir intoniert wird, dann ist damit meist eine pazifistische gesellschaftspolitische Agenda verbunden, die auch eine gleichberechtigte Teilhabe von Christen und Juden an der modernen ägyptischen Gesellschaft fordert. Dabei wird – wie im Hörbeispiel – schon mal eine Textkürzung vorgenommen und die Zeile mit den Tempeln und Götterbildern ausgelassen. Diese Offenheit Ibn 198 Eine solche hermeneutische Auslegung kann zum Beispiel die militanten Verse des Koran kontextualisieren, also in ihrer Bedeutung auf den konkreten historischen Anlass der gewalttätigen Übergriffe zwischen den Mekkanern und Muhammads Gefolgsleuten in den 620er Jahren beschränken. 199 Milad Karimi (2021) 270, Anm. 39.
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ʿArabı¯s scheint Muhammad Mounir seinen Zuhörern im modernen Ägypten nun doch nicht zumuten zu wollen – wohl auch, um den sozial erwünschten guten Zweck nicht zu torpedieren. Die sufische Liebe in eine Empathie gegenüber nichtmuslimischen Mitbürgern und in eine tätige Nächstenliebe auslaufen zu lassen, ist somit eine moderne Ableitung. Ibn ʿArabı¯ oder Rumi ging es in der Liebe einzig um die stetige Sehnsucht nach der mystischen Vereinigung mit dem ›Geliebten‹, in dem sich letztlich Gott zu erkennen gibt. »Die Liebe ist an sich selbst reine Transzendenz, denn sie geht auf den anderen über, erfasst und durchdringt alles. Insofern kann die Liebe als Macht, als Macht der Erfüllung, der Vergebung, der Vervollkommnung begriffen werden. Ihre Macht liegt aber auch in ihrer Weisheit und in ihrer Heilung«.200
Didaktisches Beispiel: Rumis Auslegung des »Gleichnis vom Elefanten und den Blindgeborenen« Für die Didaktisierung des Narrativs al-hubbu dı¯nı¯ (die Liebe ist meine Religion) ˙ kommt das bekannte Gleichnis vom ›Elefanten und den Blindgeborenen‹ zum Einsatz, wobei auch die weniger bekannte Auslegung des türkischen Sufi-Lehrers Dschala¯l ad-Dı¯n Muhammad Ru¯mı¯ (13. Jahrhundert) eine Rolle spielt. Im türkisch- und im arabischsprachigen Bereich wird er ob seiner Bedeutung häufig einfach als Mevlana Rumi oder Mawla¯na Ru¯mı¯ (»unser verehrter Lehrer Rumi«) bezeichnet.
Material Als Material habe ich die Version des Gleichnisses vom ›Elefanten und den Blindgeborenen‹ ausgesucht, wie sie in einer Schrift des buddhistischen Palikanon201 überliefert ist. Das Gleichnis lasse ich zudem an der entscheidenden Stelle vorzeitig enden: »Einstmals lebte in Sa¯vatthí [eine Provinz von Indien] ein König. Der befahl einem Mann: ›Geh, lieber Mann, und wo du in Sa¯vatthí von Geburt Blinde findest, da lass sie alle an einem Platz zusammenkommen.‹ ›Jawohl, Majestät‹, antwortete der Mann dem König gehorsam, versammelte alle Blindgeborenen von Sa¯vatthí, begab sich zum König und meldete: ›Alle von Geburt Blinden aus Sa¯vatthí sind versammelt.‹ – ›Gut, dann lass den Blinden einen Elefanten vorführen.‹ – ›Jawohl, Majestät‹, sprach der Mann zum 200 Milad Karimi (2021) 348. 201 Es handelt sich um die Sammlung Khuddaka Nikaya, Udana (VI 4–6); die deutsche Übersetzung und das folgende Zitat stammen von Fritz Schäfer (1998).
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Didaktisches Beispiel
König und ließ den Blinden einen Elefanten vorführen: ›Das, ihr Blinden, ist ein Elefant.‹ Einigen der Blindgeborenen führte er den Kopf des Elefanten vor: ›Das ist ein Elefant, ihr Blinden‹, anderen ein Ohr: ›Das ist ein Elefant, ihr Blinden‹, anderen einen Stoßzahn: ›Das ist ein Elefant, ihr Blinden‹, anderen den Rüssel: ›Das ist ein Elefant, ihr Blinden‹, anderen den Rumpf: ›Das ist ein Elefant, ihr Blinden‹, anderen einen Fuß: ›Das ist ein Elefant, ihr Blinden‹, … anderen die Schwanzquaste: ›Das ist ein Elefant, ihr Blinden.‹ … Da begab sich der König zu den Blinden und sprach zu ihnen: ›Ihr habt einen Elefanten erlebt, ihr Blinden?‹ – ›So ist es, Majestät. Wir haben einen Elefanten erlebt.‹ – ›Nun sagt mir, ihr Blinden: Was ist denn ein Elefant?‹ Da antworteten die Blindgeborenen, die den Kopf zu fassen bekommen hatten: ›Ein Elefant, Majestät, ist wie ein Kessel‹; die das Ohr zu fassen bekommen hatten, antworteten: ›Ein Elefant, Majestät, ist wie ein großer Fächer‹; die einen Stoßzahn zu fassen bekommen hatten, antworteten: ›Ein Elefant, Majestät, ist wie ein hartes Rohr‹; ein anderer, der den Rüssel erwischt hatte, antwortete: ›Ein Elefant, Majestät, ist wie ein Ast‹; ein anderer, der an den Rumpf gekommen war, antwortete: ›Ein Elefant, Majestät, ist wie eine Vorratstonne‹; ein weiterer, der einen Fuß berührt hatte, antwortete: ›Ein Elefant, Majestät, ist wie ein Pfosten‹; … ein anderer, der die Schwanzquaste angefasst hatte, antwortete: ›Ein Elefant, Majestät, ist wie ein Besen.‹«
Die Blinden beginnen daraufhin zu streiten. Da sagte der weise König: » …« Rumi bietet in seiner Deutung des Gleichnisses (s. Infokasten am Ende des Kapitels) keine Lösung des Konflikts zwischen Wahrheit und Wahrnehmung an. Vielmehr führt er den Leser in dunkler Nacht ans Meer. Dort sehen die Augen nur den Schaum der Gischt, aber nicht das dunkle Meer. Rumi beschreibt so das sufische Paradox aller menschlichen Erkenntnis. Die Augen, das menschliche Erkenntnisorgan, sind verdunkelt, weil sie immer nur die Phänomene der Dinge (die Gischt), aber nicht die Dinge selber (das nächtliche Meer) erkennen können. Und doch ist der Sufi ›in klarem Wasser‹ (sufische Metapher für Erkenntnis), weil er in der Meditation mit dem ›Meeresauge‹ sieht und so den unendlich vielfältigen Erscheinungsformen des vor ihm liegenden Meeres nachspürt. Man sieht eben nur mit dem Herzen gut!
Pädagogisches Setting Die hier vorgeschlagene Didaktisierung des Beispiels erfolgt über ein Rollenspiel. Mit dem Eintritt des Rollenspielers in die Erzählung der Geschichte (story-telling) ist gleichzeitig sein Eintritt in die eigene Selbsterzählung, in die eigene Geschichte (history) verbunden. Wer erzählt, erzählt sich selbst. Im Rollenspiel geht es darum, offen zu werden für die unendlichen Möglichkeiten der Erzählung der eigenen Rolle, aber auch gegenüber den Rollen der anderen Personen. Ibn ʿArabı¯ spricht analog dazu von vielfältigen »Eröffnungen« (futuha¯t), die den ˙ suchenden Sufi immer auf den realen Gegenstand, bzw. die Person seiner Suche
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hinweisen. Die unendliche Vielfalt dieser Eröffnungen sorgt aber dafür, dass der Gegenstand, bzw. die Person selbst stets unverfügbar bleiben. Analog muss sich der Rollenspieler dieser Erkenntnis der Unverfügbarkeit, bzw. Transzendenz des Spiels und der anderen Personen im Spiel öffnen. Im Spiel kann er aber auch seinen Umgang damit und alternative soziale Verhaltensmuster erproben. Das folgende Rollenspiel eignet sich besonders für kulturell und religiös diverse Lerngruppen der oberen Jahrgänge weiterführender Schulen und ist von mir in diesem Rahmen häufig eingesetzt worden. Weitere Anwendungsmöglichkeiten bieten sich in der Erwachsenenbildung oder in der beruflichen Fort- und Weiterbildung. Das Gleichnis wird dabei bis zum Streit der Blinden erzählt, ohne dass die auslegende Antwort des Königs bekannt gegeben wird. Darauf erfolgt der Arbeitsauftrag: Tritt in die Geschichte ein, identifiziere dich mit dem weisen König und deute das Gleichnis aus dieser Perspektive. Inszeniere Deine eigene Geschichte als Ich-Erzählung aus der Rolle des Königs und beantworte dabei zwei Input-Fragen: (1) Was sagte der weise König? (2) Für was steht Deiner Meinung nach der ›Elefant‹?
Alltagserfahrungen persönlicher Unverfügbarkeit Der Text ist ein Klassiker und ein ziemlicher Selbstläufer. In der anschließenden Präsentation zeigen die Rollenspieler dabei viel von sich selber. Denn die ›Elefanten‹, die genannt werden, sind meist Ausdruck ihrer persönlichen Sehnsüchte: Liebe, Freiheit, Gerechtigkeit, ihre eigenen Grundwerte, vielleicht auch ihre Vorstellung von Gott. Der Elefant steht also für die folgende Frage im Raum: Was ist nicht erkennbar und verfügbar, und wir benötigen es doch dringend? Eine sehr persönliche Frage, die auch zur Erkenntnis führt, dass das, was jeder Einzelne zu erkennen und zu erwerben trachtet, letztlich unverfügbar ist und nicht durch sozial erwünschte Lösungen vorgegeben werden kann. Die Rollenspieler zeigen in ihrer Auslegung des Gleichnisses aber auch, wie sie ihre eigene Erkenntnisfähigkeit und die ihrer Mitspieler einschätzen, und wie sie beabsichtigen damit umzugehen. Dadurch kann das Gleichnis ein Gespür für das Anderssein eines jeden Dings und einer jeden Person vermitteln, deren Wahrheit sich ihrer Wahrnehmung immer ein Stückweit entzieht. Theologen und Philosophen reden an diesem Punkt gerne von Transzendenz. Hier heißt es also, offen zu werden für Vielfaltswahrnehmung und für die Unverfügbarkeit des anderen, und deswegen kann über dieses Gleichnis ein wichtiges typologisches Merkmal ambiguitätsoffener Narrative erarbeitet werden.202 202 Siehe das Kapitel »Narrative für ein neues Paradigma?«
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Alltagserfahrungen persönlicher Unverfügbarkeit
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Neugier auf die eigene Sicht aus anderer Perspektive (= Rollenspiel) Die Teilnehmenden gewähren im Rollenspiel spielerisch einen Einblick in ihre sozialen und emotionalen Ressourcen und lernen auch sich selber aus einer anderen (Rollen)perspektive kennen. Dadurch machen sie sich unter Umständen aber auch verletzlich, z. B. wenn sie in ihrer Präsentation stark von der gewohnten Selbsterzählung abweichen. Grundsätzlich soll die Übernahme einer Rolle dabei helfen, die Diskretion zu wahren und eine solche Bloßstellung zu verhindern. Rollenspiele sollen daher generell nur von Unterrichtenden angeboten werden sollten, die methodisch und didaktisch darin geschult sind.203 Andererseits funktionieren Rollenspiele nur, wenn es eine weitgehende Freiheit der Interpretation gibt. Auf zwei Gefahren soll an dieser Stelle kurz verwiesen werden. (1) Appellative Aufgaben oder Fragen zerstören das Rollenspiel: Welche Antwort solltest du als gläubiger Jude / Muslim / Christ etc. den streitenden Blinden geben? Diese Frage verweist auf einen angelernten Bildungs- und Verhaltenskanon, der im Spiel nur noch reproduziert wird, ohne dass der Spieler sich selber ausprobiert. (2) Ähnlich steht es um die heute öfter zu beobachtende Verwendung unseres Gleichnisses im Storytelling moderner Wirtschaftsunternehmen.204 Eine gute Marketing-Präsentation verstärkt die unterschiedliche individuelle Wahrnehmung der einzelnen Kunden (= die Blinden) positiv, so dass jeder überzeugt bleibt, die Wahrheit über das Produkt (= der Elefant) erkannt zu haben. Ein guter Marketing-Leiter weiß aber auch, dass seine Kunden nie das Gesamtbild eines komplexen Produktes verstehen werden. Unter Umständen ist auch er selber trotz seines Expertenwissens dazu nicht in der Lage. Kaufen sollen die ›Blinden‹ den ›Elefanten‹ aber trotzdem, weil sie sich auf sein Expertenwissen verlassen. Wenn aus dem weisen König so ein Marketing-Experte wird, dann wird der Elefant zur Ware. Er steht dann nicht mehr für unverfügbare, sondern für erwerbbare Sehnsüchte. Im Sinne des Gleichnisses steht der Elefant dann nicht mehr im Raum, sondern hängt als Trophäe an der Wand jedes Käufers – und das Narrativ ist tot.
203 Die Rolle arbeitet auf einer Folie zwischen dem eigenen Leben und dem Text und soll so die Rollenspieler vor einer ungeschützten Identifikation mit dem Text bewahren. Ein Überblick über die Methode und ihre Anwendungsbereiche findet sich in vielen Methodensammlungen, z. B. Rollenspiele (uni-koeln.de), (letzter Zugriff am 16. 08. 2022). 204 Ein gutes Beispiel dafür findet sich im Video des Kommunikationstrainers Albert Thiele (2015): Die blinden Männer und der Elefant – YouTube, (letzter Zugriff am 16. 08. 2022).
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Outcome: Lernen von der individuellen Erfahrung jedes einzelnen Das Rollenspiel kann mit einer abenteuerlichen Reise verglichen werden, auf der die Rollenspieler sich gegenseitig Einblick in ihren ›living narrative‹205 gewähren. Diese ›Schätze‹ beschenken die Lerngruppe sowohl mit alternativen sozialen Verhaltensmustern als auch mit der sufischen Weisheit, dass die Begrenztheit unserer Erkenntnis letztlich auf das Herz weist, das diese unendliche Vielfalt empathisch und ambiguitätstolerant deuten muss. Wie wichtig diese individuelle Erfahrung jedes einzelnen Menschen für die religiöse Bildung ist, hat John Hull, einer der Begründer der interreligiösen Pädagogik, bereits in den 1980er Jahren am Beispiel einer Grundschule in Birmingham/UK beschrieben. John Hull war dort Lehrer für religious education, die in Großbritannien übliche Form des gemeinsamen Religionsunterrichts für alle Schüler einer Klasse. Als Anglikaner stand er also vor einer Klasse von anglikanischen, aber auch von katholischen, jüdischen, muslimischen, buddhistischen etc. und natürlich von konfessionsfreien Schülern. Hier gewann er seine grundlegende Einsicht, dass learning religion in einer kulturell und religiös diversen Lerngruppe nicht genauso funktionieren kann wie in einer konfessionell getrennten Lerngruppe, die eine weitgehend übereinstimmende Glaubensüberzeugung zwischen Lehrenden und Lernenden voraussetzt. Häufig fand er sich stattdessen in der Rolle des erklärenden Experten wieder, der z. B. muslimischen Kindern erklärte, woran ihre buddhistischen Klassenkameraden glaubten et vice versa. Sein Fach hatte sich unter der Hand vom learning religion zum religionskundlichen hermeneutischen Unterricht gewandelt – zu einem learning about religion. Dabei war der größte Teil der persönlichen Glaubensansprache und der spirituellen Dimension verloren gegangen. John Hull wollte diese beiden wichtigen Elemente eines Religionsunterrichts zurückbringen, und dies schien nur unter der Bedingung möglich, dass die Schüler selber es taten. Jede religiöse Erfahrung und jede familiäre religiöse Tradition, die ein Kind in der Lerngruppe mitteilte, bezeichnete John Hull als ein Geschenk im doppelten Sinne: ein Geschenk des Kindes an die Gruppe, aber auch das Kind selber ist beschenkt, wenn es erfährt, dass seine religiöse Tradition in der Gruppe ernstgenommen und wertgeschätzt wird.206 In beiden Fällen gilt: Religion is a gift to the child! Und weil religion im Englischen auch die feste Glaubens- und Werteüberzeugung von Menschen bedeuten kann, die außerhalb von Religionsgemeinschaften leben, umfasst sein Konzept auch konfessionsfreie 205 Der Begriff bezeichnet die individuellen Persönlichkeitskonstruktionen durch Selbsterzählungen, die durch die täglichen Erfahrungen bestätigt und angepasst werden müssen. Den Begriff hat Elinor Ochs (2001) konzeptionell gefasst. 206 John Hull (2000).
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Infokasten: Klassische Auslegungen
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Menschen. Vom erklärenden Experten wurde John Hull so zum Moderator, der von und mit den religiösen Lebenspraktiken seiner Schüler lernte: learning from religion!
Trigger-Warnung Auch in diesem Beispiel sollen die Grenzen der Methode ausgelotet werden. – Sufische Narrative dürfen nicht zur esoterischen Weltverdrängung eingesetzt werden. – Sufische Narrative dürfen nicht zur Maskierung bestehender Probleme benutzt werden. Wie im Rollenspiel geht es auch hier um die Erprobung alternativer Möglichkeiten, zu erkennen und sich zu verhalten. – Das Rollenspiel ist der richtige Platz für eine ›Rollendiskussion‹ (s. o.), aber nicht für ein outing – und er ist auch kein Therapiezentrum. – Wo der Elefant zur ›Ware‹ gemacht wird, geschieht das gleiche mit den eigenen Sehnsüchten. Anstelle einer Rollendiskussion produziert das Gleichnis dann nur Kompetenzgerangel um die Deutehoheit.
Infokasten: Klassische Auslegungen des »Gleichnis vom Elefanten und den Blindgeborenen« Die älteste Auslegung des Gleichnisses entstammt der Tradition des Jainismus. Ein Weiser erklärt den Blindgeborenen, dass sie alle Recht haben. Denn jeder hat einen Teil des Elefanten richtig beschrieben. Es fehlt also nur noch, dass sie ihre unterschiedlichen Erfahrungen zusammenlegen, um dem, was ein Elefant ist, gemeinsam näher zu kommen. Die Lösung ist also sehr harmonisch und optimistisch, aber letztlich muss die Frage offenbleiben, ob der ›ganze Elefant‹ durch die Erfahrung einiger seiner Aspekte umfassend erkannt wurde. Von Buddha Gautama (6./5. Jh.v.Chr.) ist dagegen folgende Auslegung überliefert: »Keiner von euch hat Recht … Im Streit betrügt Ihr Euch selbst, denn Ihr habt alle nur einen Teil der Erkenntnis – was Ihr aber weder einsehen könnt noch wollt!«207 Buddha erzählt das Gleichnis eines Raja, der blindgeborene Männer versammelt hatte, damit sie einen Elefanten untersuchen. Die Männer beginnen zu kämpfen, was den Raja erheitert und der Buddha erklärt den Mönchen: »Daran nun eben hängen sie, die Pilger oder Geistlichen; da disputieren, streiten sie, als Menschen, die nur Teile seh’n.« Der Buddha ist also skeptisch, was die Erkenntnisfähigkeit der Blindgeborenen, und damit der Menschen allgemein, angeht.
207 Dieses und das folgende Zitat des Buddha Gautama stammen aus der Übersetzung von Fritz Schäfer (1998).
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al-hubbu dı¯nı¯: »Die Liebe ist meine Religion« ˙
Der muslimische Sufi-Lehrer Mevlana Rumi (13. Jh.) teilt diese Skepsis: Der Mensch kann die wahren Dinge nicht erkennen. Die Grenzen der individuellen Wahrnehmung verhindern unsere Wahrnehmung der wahren Dinge – wir nehmen immer nur Teilaspekte wahr. Rumi präsentiert in seiner Auslegung des Gleichnisses deswegen auch keine Lösung des Konflikts zwischen Wahrheit und Wahrnehmung. Vielmehr führt er den Leser in dunkler Nacht ans Meer (Buch III, Verse 1268–1277): »Das Sinnesauge ist ganz wie die Hand / denn die vermag das Ganze nicht zu fassen. Das Meeresaug ist eins, der Schaum das andre / verlass den Schaum, schau mit dem Meeresauge! Bei Tag und Nacht fliegt dieser Schaum vom Meer auf / du siehst den Schaum und nicht das Meer, wie seltsam! Wir prallen aufeinander, Booten gleich / getrübt ist unser Aug, doch klar das Wasser«208 Die menschlichen Augen sind für den Sufi-Meister verdunkelt, weil sie nur die Gischt, aber nicht das nächtliche Meer erkennen können. Und doch ist der Sufi »in klarem Wasser« (sufische Metapher für Erkenntnis), weil er in der sufischen Meditation mit dem ›Meeresauge‹ sehen kann. Man sieht eben nur mit dem Herzen gut!
208 Otto Höschle (2020) 534. Der Übersetzer merkt dazu an: »Meeresauge: das Auge der inneren Wirklichkeit. Schaum: die bloße Welt der Phänomene.«
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Ein christliches Verfolgungsnarrativ
Die Geschichte der Religionen ist zu jeder Zeit auch eine Geschichte ihrer polemischen Abgrenzung voneinander gewesen. Solche polemische Konkurrenz äußerte sich in gegenseitigen Verdächtigungen, Abneigungen oder bewussten Missverständnissen, und war von der Spätantike bis zur Neuzeit der problematische Teil des gewöhnlichen Umgangs miteinander, der im Übrigen von allen Seiten – Juden, Christen und Muslimen – gegeneinander gepflegt wurde.209 In diesem Kontext ist bereits ausführlich auf den Clash of Civilization Narratives extremistischer Selbsterzählungen hingewiesen worden. Viele Menschen, aus allen Religionen, Kulturen und Ethnien des Nahen Ostens und Nordafrikas sind in den aktuellen Krisenszenarien zu Opfern solcher Polemik geworden. Auf Seiten der religiösen Minderheiten äußern sich solche Erfahrungen der religiösen Unterdrückung und Verfolgung in traditionellen Verfolgungsnarrativen, die fest zu ihrer narrativen Identität gehören.210 Wer diese andere Seite der Selbsterzählungen religiöser Minderheiten nicht kennt, produziert blinde Flecken und wird kaum in der Lage sein, Trigger-Effekte einzuschätzen, die auch Narrative der ›Beheimatung in religiöser Vielfalt‹ bei Opfern religiös markierter Verfolgung auslösen können. Andererseits können auch Verfolgungsnarrative selber übergriffig werden und im Extremfall Verschwörungsmythen bedienen. Daher ist es im pädagogischen Alltag notwendig, sowohl alle Opfer empathisch zu stützen als auch die hier aufgezeigten Grenzüberschreitungen zu klären.
209 Die Geschichte dieser Polemiken ist gut dokumentiert, vgl. Simone Rosenkranz (2004), Rüdiger Braun (2004), Abu Isa al-Warraq (2002), Ludwig Hagemann (1999), Hartmut Bobzin (1996), Christine Schirrmacher (1992), Hava Lazarus-Yafeh (1992), Paul Khoury (1989), A. Peter Haymann (1985). 210 Vgl. Martin Mosebach (2018).
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Ein christliches Verfolgungsnarrativ
Darstellung und kritische Sichtung des Narrativs in zwei Versionen Die folgende wunderhafte Legende von einem Berg, der von Christen emporgebet worden sein soll, um eine Bedrückung durch Muslime abzuwenden, erzählten mir im Jahr 1988 syrische Christen als eine Begebenheit, die vor langer Zeit am Hausberg von Damaskus, dem Dschebel Qasioun, stattgefunden haben soll. Einige Jahre später fand ich dieselbe Geschichte bei der Lektüre des Reisetagebuches von Marco Polo, der das Wunder aber ›in den Bergen von Baudac‹ (Bagdad) ansiedelt. Entsprechend hoch war der Wiedererkennungswert, als mir Ende der 1990er Jahre – ich arbeitete in dieser Zeit in Kairo – koptisch-orthodoxe Christen das Wunder vom Muqattam-Berg erzählten, das sich bei Kairo im Jahre 979 zugetragen haben soll. Von diesen drei mir bekannten Versionen sind zwei veröffentlicht, nämlich die ›Bagdad-Version‹ im Reisetagebuch von Marco Polo aus dem Jahr 1296211 und die ›Kairo-Version‹ über eine Publikation der koptischorthodoxen Kirche in Ägypten aus dem Jahr 1994212, die aber auf Quellen zurückgeht, die bis ins 10. Jahrhundert reichen. Im Folgenden beschränke ich mich auf diese beiden Versionen und vermute, dass ähnliche Wunder von einigen weiteren Orten des Nahen Ostens und Nordafrikas berichtet werden.
Die Bagdad-Version Der Kern der Geschichte ist am einfachsten wohl in der ›Bagdad-Version‹ über das Tagebuch von Marco Polo zugänglich. Marco Polo erzählt sie als Konkurrenzgeschichte zwischen Islam und Christentum. Die »Sarazenen, die alle Christen hassen«, sind für ihn ein fester Topos seines Denkens, und so tritt zu Beginn seiner Geschichte ein ›Kalif‹ auf, der den Christen böses will. Marco Polos Erzählung hat im Anschluss daran folgende Elemente: Zum Beweis der Legitimität des christlichen Glaubens wird seitens eines muslimischen Herrschers (der ›Kalif‹) von den Christen des Landes ein Wunder gefordert, das die Naturgesetze außer Kraft setzen soll: Mit Bezug auf den Wortlaut des Evangeliums (Mt 17,20f)213 sollen das Gebet und der Glaube der 211 Marco Polo, Il Milione. Die Wunder der Welt, Kap 26 ff ›Das Wunder in den Bergen von Baudac‹ (1986) 36–41. 212 Bishop Father Mattaos (1994). 213 In dieser Perikope des Matthäus-Evangeliums sind die Jünger Jesu frustriert, weil sie einer schädlichen Macht (Dämon) nicht Herr werden können, die einen jungen Mann befallen hat. Sie bitten Jesus also, ihnen zu erklären, was sie falsch gemacht haben: »Er aber sprach zu ihnen: Wegen eures Kleinglaubens. Denn wahrlich, ich sage euch: Wenn ihr Glauben habt wie ein Senfkorn, so könnt ihr sagen zu diesem Berge: Heb dich dorthin!, so wird er sich heben; und euch wird nichts unmöglich sein« (Übers. nach der Lutherbibel).
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Darstellung und kritische Sichtung des Narrativs in zwei Versionen
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Christen in der Realität einen Berg versetzen, andernfalls drohen der Kirche Zwangs-Konversion, Exil oder Tod. Nach einer Zeit des Bußfastens wird dem christlichen Patriarchen eine Offenbarung zuteil: Nicht die Notabeln und Gelehrten, nicht die Priester, Mönche und Theologen der Kirche, sondern ein einfacher Handwerker aus dem Volke – ein Gerber, Ledernäher oder Schuhmacher – könne durch seinen festen Glauben an den Wortlaut der Bibel dieses Wunder vollbringen. Der Heilige wird gefunden, sein Lebenslauf ist ein Beispiel von Einfachheit, Bescheidenheit und heiligmäßigem Wandel. Als Beweis seiner festen Bibelgläubigkeit wird erwähnt, wie er sich selber mit einer Schusterahle ein Auge ausstach, als ihn dasselbe beim Anblick eines nackten Frauenbeins ›zur Sünde verführte‹ (vgl. Mt 5,27–29).214 Nach längerem Sträuben nimmt der Heilige die Aufgabe an. Am bestimmten Termin ziehen Muslime und Christen gemeinsam zum Berg hinaus. Das Wunder geschieht während des Gebets der Christen, die Muslime sind bestürzt und lassen die Christen fürderhin in Ruhe. Der böse ›Kalif‹ bekehrt sich aufgrund des Wunders zum christlichen Glauben, wenn auch nur heimlich: »Bei seinem Tod fand man ein Kreuz an seinem Hals. Er wurde deshalb nicht in den Gräbern der früheren Kalifen beigesetzt, sondern an einem anderen Ort«.
Die Kairo-Version Die Kairo-Version ist in einer durch den koptisch-orthodoxen Bischof F. Mattaos im Jahr 1994 in Ägypten publizierten Schrift zugänglich. Er greift dafür auf historische Quellen seit dem 10. Jahrhundert zurück. Allerdings lassen diese Quellen ein umfangreiches Textwachstum der Legende, ausgehend von einer Grunderzählung sichtbar werden. Bereits im 10. Jahrhundert erwähnt Anba Saweeris Ibn al-Muqaffaa, Bischof von Ashmunin, ein Zeitgenosse Patriarch Abram, des Syrers, das Wunder, an einem ungenannten Ort bei Kairo und von einem anonymen Schuhnäher vollbracht, in seiner »Geschichte der Patriarchen der ägyptischen Kirche«215. Insofern stimmt sie mit der von Marco Polo im 13. Jahrhundert erzählten Geschichte überein. Allerdings erzählt Anba Saweeris sie nicht als christlich-islamische Konfliktgeschichte. Anlass der Wunderprobe sei vielmehr ein missglücktes Re214 »27 Ihr habt gehört, dass gesagt ist (2. Mose 20,14): ›Du sollst nicht ehebrechen.‹ 28 Ich aber sage euch: Wer eine Frau ansieht, sie zu begehren, der hat schon mit ihr die Ehe gebrochen in seinem Herzen. 29 Wenn dich aber dein rechtes Auge verführt, so reiß es aus und wirf ’s von dir. Es ist besser für dich, dass eins deiner Glieder verderbe und nicht der ganze Leib in die Hölle geworfen werde« (Übers. nach der Lutherbibel). 215 Sawiris Ibn al-Muqaffa, Bischof vom Ashmonit, Tarih batarika al-kanisa al-masriya (arabisch), Nachdruck Kairo (1943) 91–100.
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Ein christliches Verfolgungsnarrativ
ligionsgespräch zwischen christlichen und jüdischen Theologen vor dem fatimidischen Kalifen al-Muʿizz li-Dı¯n Allah (953–975 AD) gewesen. Als die christlichen Theologen die jüdische Partei durch eine polemische Disputation dem Spott des Sultans ausliefern, sinnen diese auf Revanche und bringen den Sultan über den zum Islam konvertierten Juden Yakub Ibn Killis auf die Idee, die Christen mit ihrem Glauben auf die genannte Probe zu stellen. Spätere koptische Quellen bis hinein ins 17. Jahrhundert216 nehmen eine umfängliche Textfortschreibung vor. Sie siedeln das Wunder am Muqattam-Berg von Kairo an, wo heute eine bedeutende koptische Pilgerstätte mit einer gigantischen Höhlenkirche zu besuchen ist217 und identifizieren den namenlosen Wunderwirker mit dem Hl. Samaan, dem Schuhnäher. Weiter wird von nachträglichen Kompensationsleistungen des fatimidischen Kalifen berichtet, zu denen die Wiederrichtung der zerstörten St. Merkorios Abu-Seifein-Kirche in AltKairo gehörte, für die auch wirklich zwei Renovierungen im 10. und im 13. Jahrhundert belegt sind.218 Der Kalif ist in dieser Erzählung also ein ›guter Kalif‹, und auch hier wird seine heimliche Konversion zum Christentum behauptet.219 Um historische Plausibilität zu erzeugen, wird bis heute sein angeblicher Taufort in der St. Merkorios Abu Seifein-Kirche in Kairo gezeigt.
Fakes and facts der ›Bagdad-Version‹! Marco Polo ist auf seinen Reisen nie nach Kairo gekommen, aber auf dem Hinund Rückweg seiner 26jährigen Wanderschaft durch die Reiche des mongolischen Groß-Khans [1269–1295] auch nach Bagdad gelangt. Im Kap. 25 ›Die Eroberung von Baudac‹ vermerkt er richtig: »In Baudac [Bagdad] residiert der Kalif aller Sarazenen, so wie in Rom das Haupt der Christenheit residiert … Es steht fest, daß im Jahre 1255 [1258] nach Christi Geburt der Tartarenherrscher Alau [Hulagu], ein Bruder des jetzigen Kaisers, mit einem starken Heer gegen Baudac zog und es im Sturm bezwang … Nun sind er [der Kalif al-Mustaʿsim 1242–1258] ˙ 216 MS tarı¯h 18 (alte Zählung) = 44 (neue Zählung) der Bibliothek des Antoniusklosters ˙ vom 19. Amshir des Jahres 1414 AM (= 1698 AD). Im November 2002 gelang es (Ägypten) mir bei einem Besuch der Bibliothek des Antoniusklosters in der östlichen Wüste Ägyptens dieses unvollständige arabische Manuskript im Umfang von 18 Seiten bei 17 Zeilen pro Seite zu sichten. Es ist einem größeren Band von 307 Seiten mit weiteren historischen Berichten beigegeben, der mit der Katalognummer tarı¯h 18 (alte Zählung) = 44 (neue Zählung) bezeichnet ist. Als Datierung ist im Manuskript˙ selber der 19. Amshir des Jahres 1414 AM angegeben, dies entspricht dem Jahr 1698 unserer Zeitrechnung. 217 Martin Mosebach (2018) 227–235. 218 Vgl. Gawdat Gabra (1996) 129–132. 219 St. Mark Coptic Orthodox Church: The Coptic Synaxarium vol. I (1978) 173–177, vol. II (1976) 200–202.
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Darstellung und kritische Sichtung des Narrativs in zwei Versionen
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und die Seinen tot, und alles ist verloren. Er war der letzte Kalif, seither gibt es keinen mehr« [Anmerkungen in Klammern durch den Autor]. Zur Zeit der Reise von Marco Polo ist aber bereits die arabische Rückeroberung der von den Mongolen besetzten Gebiete in vollem Gange. Der ägyptische Sultan al-Za¯hir Baybars (Baybars der Prächtige) starb 1277 in der von ihm ˙ rückeroberten Stadt Damaskus, weite Gebiete Ost-Syriens und des heutigen Nord-Irak waren zu dieser Zeit wieder unter ägyptischer muslimischer Herrschaft. Marco Polo (Kap. 26), lässt das Wunder ›in dem Gebiet von Baudac und Mosul‹ im Jahre 1275, also noch zurzeit Baybars des Prächtigen stattfinden. Historisch nicht zutreffend ist allerdings seine folgende Datierung: »Es ist bekannt, dass 1275 nach Christi Geburt in Baudac ein Kalif regierte, der den Christen übel gesinnt war«.220 In diesem Jahr stand Bagdad noch unter mongolischer Herrschaft. Zu beachten ist, dass Marco Polo alles andere als ein objektiv beobachtender Chronist sein will. Als Geschäftsmann im Auftrag der großen Handelsmetropole Venedig ist er den Mongolen als potenziellen Geschäftspartnern gegenüber empathisch eingestellt. Öffnen sie ihm doch Handelswege bis nach Innerasien, welche ihm die muslimisch dominierten Reiche bis dato durch ihr Monopol verschlossen hatten. Daher äußert er selten positives über Muslime. Aber es ist zutreffend, dass der Schock der mongolischen Eroberung von Bagdad sowohl zu einer radikaleren militanten Ausrichtung innerhalb der islamischen Theologie führte (Ibn Taimiya), als auch das Zusammenleben von Christen und Muslimen nachhaltig negativ beeinflusste.221 Der Ton zwischen den Religionen wurde also rauer und weniger vertraut. Wenn Marco Polo 1295 das Narrativ auf dem Rückweg seiner Reise und in der Gegend von Bagdad von christlichen Informanten kennengelernt haben sollte, dann beinhaltete es jedenfalls bereits das Motiv einer heimlichen Konversion des muslimischen Machthabers. Denn er fähr fort: »Bei seinem Tod fand man ein Kreuz an seinem Hals. Er wurde deshalb nicht in den Gräbern der früheren Kalifen beigesetzt, sondern an einem anderen Ort«. Nun wurde al-Za¯hir Baybars, ˙ der wie gesagt kein Kalif, sondern Sultan war, nach seinem Tod nicht nach Kairo überführt, sondern in Damaskus beigesetzt. Möglicherweise trug dieses Detail zur ›Bagdad-Version‹ bei, es findet sich jedoch auch in den Textfortschreibungen der ›Kairo-Version‹.222 220 Sultan al-Za¯hir Baybars trug nie den Titel eines Kalifen, galt aber als Sachwalter der über˙ lebenden Nachkommen von al-Mustaʿsim, die er als Schattenkalifen in Kairo installierte. ˙ 221 Etliche mongolische Herrscher und Notablen waren zudem mit Christinnen aus den zahlreichen innerasiatischen Bistümern der Apostolischen Kirche des Ostens verheiratet. 222 Bei der Beschreibung des Narrativs der ›ersten Hidschra nach Äthiopien‹ wurde bereits darauf hingewiesen, dass die heimliche Konversion des Machthabers ein häufiges Wandermotiv in Legenden unterschiedlicher Religionen ist.
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Ein christliches Verfolgungsnarrativ
Zielpublikum und Zweck der Erzählung der ›Bagdad-Version‹ Das Narrativ der Bagdad-Version ist nicht als eine ambiguitätsoffene interreligiöse Erzählung konzipiert, sondern sie wird von einem Christen (Marco Polo) und für Christen (in Europa) erzählt, um den angeblichen Christen-Hass der »Sarazenen« und ihren ›verdienten Untergang‹ zu darzustellen. Solche Illustrationen von stereotypen Wahrnehmungen und triumphalen Überbietungen haben die religiösen Beziehungen zwischen Europa und dem Orient seit Jahrhunderten geprägt und betrafen zeitweise auch das Verhältnis von europäischen zu orientalischen Christen. Ökumenische, friedliche Ansichten und empathische Neugier waren positive Ausnahmen von der Regel. Ein weiteres Beispiel: Wenig ist über die legendäre Begegnung des Heiligen Franziskus von Assisi mit Sultan al-Ka¯mil vor 800 Jahren während des fünften Kreuzzugs in Damiette / Ägypten bekannt. Der Heilige und der Sultan sollen sich dort getroffen und unter Versicherung gegenseitiger Wertschätzung auch wieder friedlich getrennt haben. Die spätere europäische Rezeptionsgeschichte des Ereignisses von 1219 gab sich mit dem bloßen ›dass‹ des Treffens aber nicht zufrieden, sondern ließ sich auf den historisch am wenigsten sicheren Teil ein, nämlich Inhalt und Verlauf eines ›Religionsgesprächs‹ zwischen dem Heiligen und dem Sultan zu bestimmen. Über Jahrhunderte wurden dabei der Bekehrungseifer und die Martyriums-Sehnsucht des Hl. Franziskus in den Vordergrund gestellt. Durch sekundäre Motive, wie eine vom Heiligen angebotene Feuerprobe, entstanden wirkmächtige ›Bilder im Kopf‹, die den historisch äußerst unsicheren Verlauf des Ereignisses in einen sicher geglaubten exklusivistischen Triumphalismus konvertieren. In einem neu erschienenen Sammelband223 zeigen Martina Kreidler-Kros und Chiara Frugoni in ihren Beiträgen, wie diese Rezeptionsnarrative dem modernen Religionsgespräch auch zur Last werden können. Erst in neuester Zeit werden der Heilige und der Sultan »als Modelle präsentiert, wie die interkulturelle und interreligiöse Verständigung gelingen kann.«224
Fakes and facts der ›Kairo-Version‹! Der fatimidische Kalif al-Muʿizz li-Dı¯n Allah (953–975 AD) war ein muslimischer Herrscher, welcher im Ägypten des 10. Jahrhunderts der koptisch-christlichen Bevölkerungsmehrheit weitgehende Religionsfreiheiten garantierte. Seine koptischen Untertanen konnten als Gouverneur in den syrischen Provinzen (Quz223 Amir Dziri / Angelika Hilsebein et alii (2021). 224 Niklas Kuster (2021) 450.
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Darstellung und kritische Sichtung des Narrativs in zwei Versionen
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man Ibn Mina) oder als Steuerverwalter in Ägypten (Abu al-Yamn Yussuf) bis in höchste Ämter kommen. Und da der Kalif überwiegend in Nordafrika residierte und erst in den letzten drei Lebensjahren in seine neue Hauptstadt Kairo übersiedelte, dürfte die koptische Bevölkerungsmehrheit Ägyptens in seiner Regierungszeit eine gewisse Selbstverwaltung genossen haben.225 Bemerkenswert ist, dass al-Muʿizz li-Dı¯n Allah im Jahr 969 die berühmte al-Azhar-Universität gründen ließ, ein Ort weltoffener Bildung und gelehrter religiöser Disputationen. Seine neue Residenzstadt al-Qa¯hira (Kairo) sowie die südlich daran anschließende Wohn- und Handelsstadt al-Fusta¯t wurden von zeitgenössischen Autoren ˙ ˙ aus Europa und dem Orient als Horte der Prachtentfaltung im Palast-, Moscheeund Gartenbau sowie als Kulturhauptstädte von Weltrang beschrieben. Von daher mag auch das Interesse des Kalifen an Religionsgesprächen mit seinen jüdischen und christlichen Untertanen mehr als eine Legende sein. Historisch nachweisbares für die fromme Legende, oder außerchristliche Quellen für die angebliche Konversion des Machthabers gibt es nicht.
Zielpublikum und Zweck der Erzählung der ›Kairo-Version‹ Die Kairo-Version besitzt ein etwas anderes narratives Setting. Die über Anba Saweeris aus dem 10. Jahrhundert überlieferte älteste Version warnt in ihrem historischen Kontext nachdrücklich vor dem gesellschaftlichen Flurschaden, den unbedachte religiöse Dispute in der politischen Öffentlichkeit anrichten können. Das, was die akademische Arroganz auf Seiten beider Konfliktparteien einbrockt, müssen hinterher die einfachen Leute auslöffeln, die dazu kein Werkzeug haben außer ihrer Glaubenshoffnung. Hier wird der einfache Bibelglaube der koptischen Bevölkerung gegen die akademische Theologie gestellt, die als Teil amtskirchlicher koptischer Machtentfaltung fungierte – und das ist durchaus als Argument einer kircheninternen Sozialkritik zu verstehen. Das Narrativ der Kairo-Version ist ursprünglich also auch nicht als interreligiöse Erzählung konzipiert, sondern sie wird von koptischen Christen und für Christen erzählt, um intern vor den katastrophalen politischen Folgen einer machtorientierten Diskurskultur zu warnen, die top down initiiert wird und dabei eine religiös markierte Polemik und Diskriminierung gegen die eigenen Gläubigen in Kauf nimmt.226 225 Dies änderte sich nach dem Tod seines Sohnes al-Mansur (996). In der späteren Fatimidenzeit wurden unterscheidende Bekleidungsregeln für die Dhimmi-Bevölkerung angeordnet: Juden hatten gelbe, Christen hellblaue Kleidungsstücke zu tragen und mussten in Anwesenheit von Muslimen von ihren Reittieren steigen. 226 In der europäischen Geschichte finden sich später im 13. Jahrhundert ganz entsprechende kirchen- und gesellschaftskritische Stimmen, zum Beispiel in der Armutsbewegung des
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Ein christliches Verfolgungsnarrativ
Eigentlich ein hochaktuelles Thema, das in der Grunderzählung auch weitgehend ohne Islam-bashing auskommt. Dafür beinhaltet die Kairo-Version allerdings schon in der Grunderzählung ein deutliches antijüdisches Ressentiment: Damit al-Muʿizz li-Dı¯n Allah trotz der von ihm angeordneten Wunderprobe als ›guter Kalif‹ verstanden werden kann, müssen Juden als angebliche Verleumder der Christen und Verführer des Kalifen herhalten. An diesem Punkt wird ein antijüdisches Ressentiment des christlichen Orients deutlich, das sich seit späntantiker Zeit auch in anderen Kontexten findet.227 Antisemitismus hat im Nahen Osten und Nordafrika also auch eigenständige Wurzeln, aus denen im 19. und 20. Jahrhundert bei Christen wie Muslimen die Übernahme antijüdischer Verschwörungsmythen und antisemitischer »Rasse«-Theorien aus den europäischen Kolonialstaaten erwuchsen.
»Places of Suffering«: Eine Anregung aus Sarajevo/BiH Anders als bei den vorangegangenen Erzählungen soll das Verfolgungsnarrativ nicht didaktisiert werden. Wichtig ist dagegen, die genannten Trigger-Punkte der beiden Versionen zu erörtern. Grundsätzlich sind Verfolgungsnarrative eine legitime Form, um die traumatischen Diskriminierungserfahrungen einer Person oder einer Gruppe aus der Opferperspektive zu verarbeiten. Es liegt in der Natur der Sache, dass diese Form der narrativen Identitätsbildung für die Opfergruppe äußerst wichtig erscheint, aber nicht allen betroffenen Seiten gleichmäßig gefallen wird und auch nicht gefallen muss. Martin Mosebach hat diese Form der narrativen Identitätsbildung anhand der Geschichte der 21 jungen koptischen Märtyrer, die 2015 vom so genannten ›Islamischen Staat‹ (IS) am Strand der lybischen Stadt Sirte enthauptet wurden, geduldig protokolliert und in ihrer aktuellen Bedeutung für die koptische Kirche in Ägypten dargestellt.228 Problematisch ist allerdings, wenn es in der ›Kairo-Version‹ zu triumphalistischen Überbietungsmotiven wie der ›Konversion des Machthabers‹ kommt.229 Auch die ›Bagdad-Version‹ wird dort übergriffig, wo der Europäer Marco Polo stereotype Wahrnehmungen und Fremdzuschreibungen von Muslimen wiedergibt. Die ›Kairo-Version‹ hingegen ist dort differenzierter gestaltet, wo es die Ausdeutung der christlich-islamischen Begegnung betrifft, allerdings auf Kosten Hl. Franziskus von Assisi, genauso wie zeitgleich als literarisches Motiv im mittelhochdeutschen Parzival-Roman. 227 So stellt zum Beispiel die seit dem 10. Jahrhundert nachweisbare christliche ›Sergios-NestorLegende‹ den Koran als eine von Juden und christlichen Häretikern verfasste Verfälschung der Bibel dar; vgl. Frank van der Velden (2022). 228 Martin Mosebach (2018). 229 Vgl. Das Kapitel zum Narrativ der ›ersten Hidschra nach Äthiopien‹.
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»Places of Suffering«: Eine Anregung aus Sarajevo/BiH
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eines problematischen antijüdischen Ressentiments. Vor dieser Perspektive ist es eine wichtige Frage, wie zwischen Juden, Christen und Muslimen der Region die Probleme thematisiert werden können, die man miteinander hat, ohne gegeneinander übergriffig zu werden oder im Sidekick stereotype Wahrnehmungen und tradierte, speziell antisemitische Feindbilder zu befeuern. Das folgende couragierte Projekt liefert an diesem Punkt ein Beispiel für eine alternative Erinnerungskultur.
Das Projekt »Places of Suffering« Am 22. April 2017 berichtete die Zeitung Saravejo Times von der Initiative »Places of Suffering« des Interreligiösen Rates von Bosnien und Herzegovina, in dem sich die obersten religiösen Autoritäten des Landes zusammenfanden: Res ul-Ulema Husein Kavazovic´, der katholische Kardinal Vinko Puljic´ und der serbisch-orthodoxe Metropolit Hrisostom gemeinsam mit dem Leiter der jüdischen Gemeinschaft Sarajevo: »The Inter-religious Council in Bosnia and Herzegovina (MRV) will organize a tour to visit the places of the suffering of the Bosniaks, Serbs, Croats and Jewish Sites on Monday, 24th April. The aim of the visit will be necessity of respecting all victims regardless of their religious or national affiliation.« Die Republik Bosnien und Herzegovina ist nach wie vor durch die Traumata aus dem Krieg der 1990er Jahre geprägt. Wichtige politische Entscheidungen können laut Verfassung nur einmütig zwischen den drei großen Bevölkerungsgruppen – muslimische Bosniaken, orthodoxe serbische und katholische kroatische Bosnier – vereinbart werden. Empfindliche Themen der nationalen Identität, wie die Erinnerungskultur oder die Trauerarbeit für das im Krieg begangene Unrecht, sind auf Basis der politischen Fraktionen im Parlament aber kaum vereinbar und verbleiben häufig unbearbeitet. Bosnien leidet bis heute unter zu vielen alten Männern, die noch alte Rechnungen begleichen wollen und der jungen Generation damit ihre Zukunft verbauen. Die Mitglieder des Interreligiösen Rates wurden daher auch von Teilen der eigenen Religionsgemeinschaften ob des Projektes Places of Suffering kritisch angefragt. Viele Menschen begrüßten diese Initiative und nahmen an den Veranstaltungen des Projekt teil. Bei anderen war die Bereitschaft, diese schmerzhaften Erfahrungen dialogisch aufzunehmen oder gar sie aus der Perspektive des jeweils anderen zu betrachten, deutlich begrenzt. Hier nahmen die Religionsführer stellvertretend für ihre Gemeinschaften eine notwendige Haltung ein, bei der sie sich aber auf eine seit Jahrhunderten bestehende kulturelle Tradition abstützen konnten. Seit Beginn der arabischen Herrschaft und bis in die modernen Nachfolgestaaten des Osmanischen Reiches hinein, haben die obersten Repräsentanten der Religions-
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Ein christliches Verfolgungsnarrativ
gemeinschaften um der Staatsraison Willen die Verpflichtung, solchen idealen interreligiösen Diskursen gerade auch in schwierigen Situationen vorzustehen und so den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu repräsentieren. In diesem Kontext förderte das Projekt Places of Suffering einen bemerkenswerten interreligiösen Kompetenzerwerb. Einerseits setzte es an der schmerzhaftesten Alltagserfahrung des Bosnien-Krieges an – der gegenseitigen Verfolgung bis zum Tod. Andererseits versuchte es, die daran anknüpfende Trauer und Wut dialogisch aufzunehmen und auszuhalten. Damit war eine Perspektivenübernahme verbunden, insofern die Trauer der anderen mit der eigenen Trauer verbunden wurde – und so ein Stück weit zur eigenen Trauer wurde. Dies beförderte einen komplexen Prozess, der öffentlichen Widerspruch hervorrief, aber letztlich zu versöhnenden Begegnungen führte. Es ist vor dieser Perspektive zu bedauern, dass heute in der deutschen Migrationsgesellschaft christlich-orientalische Bischöfe im Allgemeinen nicht mit Verbandsvertretern arabischer Moschee-Gemeinden zusammentreffen. Überhaupt scheinen sich orientalische Christen und arabischstämmige Muslime in der europäischen Migration eher aus dem Weg zu gehen. Die gegenseitigen Probleme und Vorbehalte verbleiben so zumeist unbearbeitet.
Outcome: Opferstimmen achten, Verschwörungserzählungen meiden Verfolgungsnarrative führen in eine Sphäre, die der Opfergruppe existenziell wichtig ist, deren Formen und Erzählungen aber auch so unverfügbar sind, dass sie von außen oft schwer verständlich sind und befremdlich erscheinen können.230 Diese Opfernarrative religiöser Minderheiten im Nahen Osten und Nordafrika dürfen nicht übergangen werden, damit bei der Betrachtung der Narrative religiöser Vielfalt kein blinder Fleck entsteht. Verfolgungsnarrative weisen darauf hin, dass auch ambiguitätsoffene interreligiöse Selbsterzählungen die Angehörigen religiöser Minderheiten durch Fremdzuschreibungen und stereotype religiöse Markierungen verletzen können – häufig ohne es zu wollen oder auch nur zu bemerken. Sie sind daher ein wichtiges Korrektiv und halten dem ›schönen Schein‹ einer sozial erwünschten Geschichtsschreibung den Spiegel vor. So ist auch die Nagelprobe des arabischen chronotope letztlich nicht mit der gesellschaftlichen Selbsterzählung einer kulturellen Teilhabe der religiösen Minderheiten bestanden, sondern erst mit deren voller Rechtssicherheit und politischer Gleichberechtigung. 230 Diese Erfahrung zieht sich durch das ganze Buch von Martin Mosebach (2018), in dem er die Familien von 21 koptischen Märtyrern interviewt (siehe oben).
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Outcome: Opferstimmen achten, Verschwörungserzählungen meiden
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Vulnerabilitäten können aber auch durch Verfolgungsnarrative selber ausgelöst werden, wenn sie die Opfer auf der ›anderen Seite‹ nicht sehen wollen und somit Opferkonkurrenzen befördern. Schwierig wird es auch dort, wo Verfolgungsnarrative eine fundamentalistische Sicht der eigenen Religion befördern, diskriminierende Fremdzuschreibungen und pauschale Schuldzuweisungen gegenüber (un)beteiligten Dritten vornehmen, oder über die Dämonisierung der Täter-Gruppe in Verschwörungsmythen abgleiten. In diesem Kontext ist auch auf die Gefahr der Weiterverbreitung antisemitischer Stereotype hingewiesen worden. Gleiches gilt für den oft zu hörenden Vorwurf, die hier vorgestellten Narrative der ›Beheimatung in religiöser Diversität‹ seien nur ein vorgegebenes ›Gutmenschentum‹, mit dem eigentlich eine Augenwischerei betrieben werde. Gerade unter der Beteiligung der authentischen Stimme von Opfererzählungen hat sich in dieser Arbeitshilfe ein wesentlich differenziertes Bild dieser Narrative und ihrer Erzählungen gezeigt, in denen sehr wohl zwischen sozial erwünschten Aussagen und authentischen individuellen Positionierungen ihrer Erzählerinnen und Erzähler unterschieden werden kann. So stellt sich am Ende dieses Kapitels die nicht einfache aber lohnende Aufgabe, einerseits die authentischen Opferstimmen zu hören und ihre Erzählung ohne Relativierung zu ertragen, andererseits aber auch die genannten Trigger-Punkte zu thematisieren. Wenn eine zukünftige versöhnende Begegnung möglich sein soll, dann braucht es dazu auch Wege gemeinsamen Trauerns, ohne gegeneinander übergriffig zu werden und auf diesen wichtigen Punkt ist einiges aus einer Stadt wie Sarajevo zu lernen, wo der Islam seit Jahrhunderten zu Europa gehört.
Trigger-Warnung Auch zu Ende dieses Kapitel sollen noch einmal die erwähnten gefährlichen Trigger-Punkte des Narrativs aufgezählt werden: – Ohne authentische Opferstimmen zu hören, können die Narrative religiöser Diversität unglaubwürdig wirken und die Angehörigen von Opfergruppen triggern. – Andererseits besteht die Gefahr, dass über die Verfolgungsnarrative selber stereotype Wahrnehmungen, diskriminierende Fremdzuschreibungen, pauschale Schuldzuweisungen und Opferkonkurrenzen entstehen. – Toxische Overlays von Verfolgungsnarrativen können Verschwörungsmythen stützen und (un)beteiligte Dritte dämonisieren. – Antisemitismus ist im Nahen Osten und in Nordafrika nicht nur eine Übernahme europäischer »Rasse«-Theorien des 19./20. Jahrhunderts, sondern hat auch endemische Wurzeln.
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Ein christliches Verfolgungsnarrativ
– Verfolgungsnarrative sind wichtig für die narrative Identität von Opfergruppen, dürfen aber nicht alternative Erinnerungen (siehe oben das Projekt »Places of Suffering«) und eine zukünftige versöhnende Begegnung ausschließen.
Infokasten: Kopten in Ägypten und in Deutschland In Ägypten war es ein weiter Weg bis zur vollen rechtlichen Gleichstellung der jüdischen und christlichen Bevölkerungsanteile. Dieser reichte von der Orabi-Revolte 1882, die noch von anti-westlichen und anti-koptischen Slogans begleitet war, bis zur Delegationsreise (wafd) ägyptischer bürgerlicher Demokraten zur Pariser Konferenz der Siegermächte des Ersten Weltkriegs. Doch sah die 1919 gegründete Nation schließlich eine Beteiligung von Juden, Kopten und Muslimen als Bürger des einen watan (ar. Vaterland) vor. Der säkulare Begriff des watan wurde dabei dem Begriff der˙ umma (ar. Nation, vorwiegend islamische) vorgezogen˙ und sollte Muslime, Kopten und Juden als Bürger des einen Vaterland vereinen. Nach der ägyptischen Revolution von 1952 trat im Panarabismus des Präsidenten Gamal Abd el-Nasr die Idee einer Arabisierung der Nation hervor, die sprachlich durch den Begriff qawm (ar. Nation) ausgedrückt wurde. Die Idee der religiösen Diversität des watan / qawm blieb dabei zwar grundsätzlich bestehen, aber gleichzeitig ließ das ans ˙ Militär gebundene absolute Präsidialsystem keine freie demokratische Entwicklung des Landes mehr zu. Eine Gleichberechtigung der religiösen Minoritäten unter der Bedingung freiheitlicher Bürgerrechte war so nicht zu erreichen. Gleichzeitig bildeten die politischen Auseinandersetzungen um die Gründung des modernen Staates Israel, die Suez-Krise 1956 und die Anti-Israel-Politik der 1960er Jahre die Bühne für den Beginn vom Niedergang der religiösen Diversität des modernen Ägyptens. Es folgte eine Auswanderung fast aller Juden und vieler nicht-koptischer Christen, insbesondere der großen griechischen und armenischen Kommunitäten. Ägypten wurde zunehmend weniger divers (religiös wie kulturell) – und damit zunehmend ›islamischer‹. Seit den 1980er Jahren rückte auch in Ägypten die Bedrohung durch einen Extremismus in den Vordergrund, der sich selbst als islamisch definiert. Terroristische Anschläge nehmen neben der politischen Führung des Landes vor allem die christliche Bevölkerungsgruppe ins Visier, um diesen traditionellen Kitt des Nationalstaates aufzuweichen. Zu den blutigsten Anschlägen gegen Kopten in Ägypten gehörten das Attentat auf eine Kirche in Alexandrien in der Sylvesternacht 2011231 sowie im Jahr 2015 die erwähnte Enthauptung von 21 koptischen jungen Männern durch den IS im lybischen Sirte. Allein zwischen Dezember 2016 und April 2017 kam es in unterschiedlichen Städten Ägyptens zu vier großen Attentaten mit hunderten von Verletzten und Toten.232 Erst nach dem militärischen Sieg über den so genannten ›Islamischen Staat‹ (IS) beruhigte sich die Lage – und auch hier wieder auf Kosten der rigiden Einschränkung demokratischer Freiheiten durch den vom Militär gestützten Präsidenten al-Sissi.
231 Frank van der Velden (2018a) 190f. 232 Girgis Naiem (2018) 190f.
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Infokasten: Kopten in Ägypten und in Deutschland
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Die Bevölkerungsmehrheit und die politische Führung in Ägypten weisen die religiöse Selbstlegitimierung der extremistischen Gruppen mit Nachdruck zurück, sind ehrlich entsetzt über solche Attentate und verurteilen sie scharf. Bei solchen Gelegenheiten wird die gesellschaftliche Teilhabe aller religiösen Gruppen an der Nation fast rituell beschworen, und demonstrativ nehmen hohe Regierungsvertreter zu den großen christlichen Jahresfesten an den koptischen Festgottesdiensten teil. Auch wenn diese tätige Solidarität dafür hilfreich ist, dass heute in Ägypten vielerorts neue Kirchen gebaut werden und christliche Kinder in den staatlichen Schulen bereits seit langer Zeit koptischen Religionsunterricht erhalten, ist es bis zu sicheren und gleichberechtigten Lebensumständen der Kopten in Ägypten immer noch ein weiter Weg. Im Zuge der globalisierten Migrationsbewegungen hat die Entwicklung der koptischen Kirche zur Weltkonfession auch zu einer deutlichen Zunahme ihrer Präsenz in Deutschland geführt.233 In Deutschland gibt es (Stand 2021) mehr als 55 koptischorthodoxe Gemeinden mit ca. 15.000 eingetragenen Gemeindemitgliedern. Die größten Gemeinden in Düsseldorf und Frankfurt haben jeweils weit über 1000 Mitglieder. Die Gemeinden gliedern sich in zwei Diözesen (Nord / Süd), deren Bischöfe Anba Damian und Anba Michael auch den Klöstern in Höxter und Kröffelbach vorstehen. 40 koptische Priester stehen den Gemeinden vor, wobei vor Ort zusätzlich jeweils mehrere Diakone tätig sind. Wie in orthodoxen Kirchen üblich, sind koptische Weltpriester im Allgemeinen verheiratet, während Mönche und Mönchpriester ehelos leben. Eine theologische Ausbildungsfakultät für den Priesternachwuchs besteht in Kloster Kröffelbach. Im Jahr 2020 wurde in Frankfurt die erste Weihe eines koptischen Priesters der zweiten Einwanderergeneration gefeiert. Auch hier wächst eine Generation nach, die nicht nur deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, sondern besser deutsch als arabisch spricht und sich kulturell hier beheimatet fühlt.
233 Zu den Zahlen vgl. Frank van der Velden (2021b); weitere Informationen im Internet unter Kopten in Deutschland und Koptisch-Orthodoxe Kirche | PRO ORIENTE (pro-oriente.at) (letzte Zugriffe am 16. 08. 2022).
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Kontrastfolie Saints of Colour: Das afrikanische Erbe unseres Christentums aus römischer Zeit
(Eye-)Opener: Nubians at Hadrian’s Wall In der beliebten britischen Krimi-Serie »Endeavour Morse« eröffnet die zweite Folge (»Colours«) der fünften Staffel234 mit einer Diskussion im Debattier-Club der Universität Oxford zu Ende der 1960er Jahre. Die zu diskutierende These lautet: »Dieses Haus glaubt an ein Ende der Einwanderung und an die Repatriierung aller hier lebenden Einwanderer in die Länder ihrer Vorfahren«. In der anschließenden Diskussion argumentiert ein junger englischer Wissenschaftler schwarzer Hautfarbe folgendermaßen: »Wir sollten gut überlegen, wen wir als Einwanderer bezeichnen. Die schwarzen Menschen sind schon viel länger hier als die Angeln, die Sachsen, die Jüten, die Normannen, die Hugenotten. Lange bevor viele Ihrer Vorfahren dieses grüne, charmante Land betraten, waren es die Nubier, die auf dem Hadrianswall Wache standen. Und der nun vorliegende Antrag verlangt, dass alle hier lebenden Einwanderer in die Länder Ihrer Vorfahren zurückkehren sollen. Nun, wenn das der Fall ist, kann ich nur sagen: ›Gern nach Ihnen!‹«
Hiermit ist nicht nur die nationalradikal argumentierende Kontrahentin aus dem Felde geschlagen, die sichtlich stolz auf die vornehme ›normannische‹ Herkunft ist, sondern es wird ein wenig bekanntes Detail der westeuropäischen Geschichte aufgezeigt. Die römischen Legionen, welche ab Ende des 3. Jahrhundert n. Chr. den Hadrianswall in Nordengland, aber auch die Rheingrenze, den Limes und die Donau im heutigen Deutschland, Österreich und der Schweiz bewachten, waren in Ägypten ausgehoben worden. Genauer gesagt in Oberägypten, wo bereits seit pharaonischen Zeiten Nubier und Ägypter miteinander leben. Wie das ganze Land Ägypten war auch die nubische Bevölkerung in dieser Zeit bereits weitgehend christianisiert. 234 Das englische Original der BBC stammt aus dem Jahre 2018, die deutsche Fassung »Farben« aus der Serie »Der junge Inspektor Morse« wurde im Oktober 2021 vom ZDF ausgestrahlt. Das folgende Zitat wurde aus dieser deutschen Fassung übernommen.
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Kontrastfolie Saints of Colour: Das afrikanische Erbe unseres Christentums
Darstellung und kritische Sichtung des Narrativs
Quelle: Gottesdienstzettel der katholischen Pfarrei St. Bonifatius Wiesbaden (eigene Aufnahme).
Die ersten Christen hierzulande waren also People of Colour und Black. Mit den in Oberägypten ausgehobenen Truppen übersiedelten Ende des 3. Jahrhunderts viele nubische koptische Soldaten und ihre Familienangehörigen in die Gebiete der heutigen Schweiz, Deutschlands und teilweise Österreichs. Sie gehörten damit zu den ersten größeren und ortstabilen Kontingenten an Christen hierzulande. In den Christenverfolgungen der Kaiser Diokletian, Decius und Julian wurden zahlreiche dieser oberägyptischen Soldaten und ihre Angehörigen als Märtyrer hingerichtet, z. B. die besonders in der Schweiz verehrten Heiligen Mauritius und Verena. Aber auch in Deutschland stehen viele unserer großen Kirchen unter dem Patronat und auf den Gräbern dieser koptischen Märtyrer – so das Bonner Münster, die romanische Kirche St. Gereon in Köln, der Xantener Dom und viele weitere.235 Eine besondere Bedeutung erhält die Verehrung des nubischen Kopten Mauritius als Schutzpatron des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation – parallel zum Patronat des Erzengels Michael. Dabei steht der afrikanische Ritter 235 Zu den Verehrungsorten und den Besonderheiten der Hagiographie dieser koptischen Heiligen findet sich eine gut sortierte und gründlich fundierte Darstellung bei Beat Näf (2011) 78–123.
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Darstellung und kritische Sichtung des Narrativs
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Mauritius an einer zentralen Stelle der kulturellen Repräsentanz des Reiches, da auf ihn eines der wichtigsten Reichkleinodien zurückgeführt wird. Er soll die so genannte ›Heilige Lanze‹, mit der Jesus Christus am Kreuz durchbohrt wurde, besessen und mit an seinen Dienstort in der heutigen Schweiz gebracht haben. Mauritius wurde daher bereits von Karl dem Großen als Schutzpatron seiner Armeen angesehen. Im Besitz der Ottonen repräsentierte diese Reliquie späterhin die göttliche Billigung und Förderung ihrer militärischen Macht. Otto der Große ließ sie bei der Schlacht auf dem Lechfeld 955 seinen Armeen vorantragen, so dass sie bis heute als kulturelles Signet fest mit diesem Sieg über ›heidnische‹ Heere aus Osteuropa, und also mit dem Gründungsmythos eines christlichen Reiches in Deutschland verbunden ist. Dies führte ab dem 11. Jahrhundert zu einer aufblühenden Verehrung des Hl. Mauritius – und der koptischen Offiziers-Heiligen allgemein – im ganzen Reich. Die Verehrungsorte des Hl. Mauritius finden sich bis weit ins Baltikum hinein, z. B. in Tallinn und Riga. Und die Hauptkirche der ottonischen Dynasten, der Magdeburger Dom, wurde ihm und einer weiteren Ägypterin geweiht, der Hl. Katharina von Alexandrien. Die Kaiserchronik von 1066 findet nichts dabei, über diesen Bezug einen afrikanischen Offizier und Saint of Colour zum rolemodel christlichen Rittertums in Europa aufzubauen. Waren die Ottonen woke?
Fakes and facts! Es ist kritische Vorsicht geboten, bevor fromme Überlieferung als historisches Faktum behauptet wird. Nachweisbar ist aber, dass in der römischen Zeit viele der ersten Christen hierzulande nubische Kopten aus Oberägypten waren. Ende des dritten Jahrhunderts befahl der römische Kaiser Diokletian (von 284 bis 305) die Versetzung einer der drei ägyptischen Legionen, nämlich diejenige unter dem Oberbefehl des Mauritius (der Name bedeutet im Koptischen so viel wie Der Offizier aus dem Süden) nach Westeuropa. In dieser ›thebäischen‹ Legion dienten 6.600 überwiegend christliche Offiziere und Soldaten aus der oberägyptischen Thebais, der Region um die heutige Stadt Luxor. In den Christenverfolgungen der Kaiser Diokletian, Decius und Julian wurden zahlreiche dieser oberägyptischen Soldaten und ihre Angehörigen als Märtyrer hingerichtet, z. B. die besonders in der Schweiz verehrten Heiligen Mauritius und Verena. Die einzelnen Namen und Wundertaten der thebäischen Heiligen sind dabei schwer nachweisbar. Bereits der Name ›thebäische Legion‹ ist nicht die historische Bezeichnung der in Ägypten ausgehobenen Einheiten. Auch ist die Vorstellung – so will es die Legende – dass die ganze Legion sich in der Verfolgung glaubensfest bis zum letzten Mann dezimieren ließ, schwer plausibel zu machen. Die Chroniken aus römischer Zeit geben dazu nichts her. Plausibel ist aber, dass
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auch diese Kopten während der Christenverfolgungen des 3. und 4. Jahrhunderts in ihren Römerlagern an Rhein, Main, Limes und Donau unter Druck geraten mussten. Tatsächlich fand eine Grabung des Bonner Provinzialmuseums im Jahr 1933 unter der Krypta des Xantener Doms ein bis dahin ungeöffnetes Märtyrergrab aus der fraglichen Zeit. Auch der Xantener Dom steht unter dem Patronat eines thebäischen Heiligen, des Hl. Viktor.
Waren die Ottonen woke? Natürlich haben weder die ›Heilige Lanze‹236 noch ihre Zuschreibung an den Hl. Mauritius mit historischen Fakten zu tun und ebenso wenig kann von einer wokeness der ottonischen Geschichtsschreiber die Rede sein. Sie machten einfach kein Aufhebens um Hautfarben, »race«-Aspekte und kulturelle Fremdzuschreibungen, wenn es um die Fragen der Zugehörigkeit und Repräsentanz ging. Dies allerdings änderte sich im chronotope der von Hayden White237 analysierten europäischen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts. Dieter Borchmeyer238 hat beschrieben, wie in diesem Prozess auch die Idee des ›Deutschseins‹ neu definiert wurde, indem historische Rückprojektionen aus der deutschen Vergangenheit auf die entstehende deutsche Nation hingedeutet wurden. Was aber macht den heidnischen Cherusker239 Arminius, dem die preußischen Könige und Kaiser bis 1875 im Teutoburger Wald ein Nationaldenkmal errichten ließen, mehr oder weniger ›deutsch‹ als die christlichen Nubier Viktor von Xanten, Gereon von Köln, Verena von Bad Zurzach oder wie Mauritius, dem Otto d.Gr. den Magdeburger Dom errichten ließ? Eckart Conze240 hat in seiner Analyse des wilhelminischen Kaiserreiches darauf hingewiesen, dass die nationalen Narrative im späteren 19. Jahrhundert mit einem kulturellen Othering verbunden waren, welches bestimmte ethnische, politische und religiöse Gruppen aus dem ›Deutschsein‹ ausschließen wollte. Als 236 Das Exemplar der ›Heiligen Lanze‹, das bis heute in der Schatzkammer der Wiener Hofburg als Teil der Reichskleinodien gezeigt wird, ist wahrscheinlich eine karolingische FlügelLanze des 8. Jahrhunderts. 237 Hayden White (1973). 238 Dieter Borchmeyer (2019). 239 Erst Tacitus konstruiert in der »Germania« eine kulturelle Einheit ›germanischer‹ Stämme und stellt diese als positives Beispiel gegen die empfundene kulturelle Dekadenz der römischen Gesellschaft. Ob und inwieweit die von Tacitus beschriebenen sehr heterogenen Stammesverbände sich zu dieser frühen Zeit selber als kulturell zusammengehörig empfanden, ob sie sich als stabil gegen andere Stammesverbände abgegrenzte Großgruppe verstanden haben, ja ob sie sich überhaupt selber als ›Germanen‹ bezeichneten, wird in der Forschung überwiegend bezweifelt. 240 Eckart Conze (2020).
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Didaktisches Beispiel: Colours. Kulturelle Diversität im ›deutschen‹ Christentum
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Beispiel mag der deutsche Antisemitismus gelten, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Judenhass mit pseudowissenschaftlichen »Rasse«-Theorien begründen wollte. In dieser Bewegung wurde auch die Erinnerung an afrikanische Heilige aus ›Deutschland‹ ausgeblendet und bis zur NS-Herrschaft des 20. Jahrhunderts durch eine rassifizierte völkische Sicht des Deutschseins ersetzt. Noch heute stören die deutschen Saints of Colour die ›große Erzählung‹ autoritärer nationalradikaler Gruppen (AfD, PEGIDA etc.) von einer weiß gelesenen christlichen Nationalkultur als Abwehrbollwerk gegen die so genannte ›afrikanische Migration‹. An diesem Punkt wird der Hl. Mauritius wichtig für die gesellschaftliche Diskussion der Frage einer kulturellen Zugehörigkeit zu Deutschland, denn bis heute sehen Historiker aus dem nationalradikalen Spektrum die Schlacht auf dem Lechfeld241 und die Reichkleinodien242 als wichtige Faktoren einer deutschen Identitätsbildung. Für David Engels zum Beispiel bedeutet ›deutsch‹ sein auch in der Moderne – im Sinne der Herkunftsidentität – gewissermaßen eine kulturelle Teilhabe an dieser »ideologische[n] Situation der karolingisch-ottonischen Zeit.«243 Offensichtlich haben diese Historiker, dabei ein Amalgam von weißen Männern (und Frauen) vor Augen, denn die ottonische Zuschreibung der ›Heiligen Lanze‹ an den Nubier Mauritius bleibt dabei unerwähnt. Damit entfällt auch die Diskussion um seine kulturelle Zugehörigkeit.
Didaktisches Beispiel: Colours. Kulturelle Diversität im ›deutschen‹ Christentum Der chronotope des deutschen 19. Jahrhunderts bleibt bis heute ein Sehnsuchtsort der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Der Blick auf das eigene lokale Christentum bleibt weitgehend selbstverständlich ›weiß‹, seine ursprüngliche kulturelle Diversität findet bisher kaum Eingang in unsere populären Wissensbestände. Dies wäre aber nicht nur aufgrund der langen Missbrauchsgeschichte deutschnationaler Narrative seit dem 19. Jahrhundert geboten, sondern auch, weil die Saints of Colour die Frage einer kulturellen Zugehörigkeit zur deutschen Migrationsgesellschaft noch einmal anders stellen können. In diesem Sinne ist
241 Karlheinz Weißmann, Kuratoriumsmitglied der AfD-nahen Desiderius Erasmus-Stiftung, schreibt dem Gründungsmythos dieser Schlacht eine große Bedeutung zu: Auf dem Lechfeld habe sich im gemeinsamen Abwehrkampf der fränkischen, bayerischen, sächsischen, schwäbischen etc. Stämme die Idee einer gemeinsamen Identität entwickelt, die forthin als ›deutsch‹ bezeichnet wurde; vgl. Karlheinz Weißmann (2015) 46–49. 242 Karlheinz Weißmann (2015) 47. 243 David Engels (2018) 157.
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Kontrastfolie Saints of Colour: Das afrikanische Erbe unseres Christentums
ihr Narrativ eine notwendige ›einheimische‹ Ergänzung zu den oben dargestellten Narrativen religiöser Vielfalt aus dem Nahen Osten und Nordafrika.
Material Das didaktische Beispiel wurde im Jahr 2020 unter den Bedingungen der CoronaEpidemie entwickelt. Es bietet eine virtuelle Variante des interkulturellen Begegnungslernens an. Die Lerngruppe nimmt über eine Videokonferenz an der etwa 90 minütigen Lerneinheit teil, die aus Videos, Texten, interaktiven Kleingruppenarbeiten und persönlichen Reflexionsphasen besteht. Alle Materialien sind im Internet barrierefrei zugänglich und werden im Folgenden verlinkt. Ich habe diese Einheit zwischen 2020 und 2022 als Beispiel guter digitaler Lehre an verschiedenen Universitäten im Bereich der Ausbildung von Religionslehrerinnen und -lehrern durchgeführt.
Pädagogisches Setting Das didaktische Beispiel beginnt mit einer Betrachtung der kurzen Eingangssequenz (Teaser: 00:00–00:45 min.) der Dokumentation »Der Xantener Dom – Symbol des Widerstands«244 (WDR 2013). Bereits dieser Teaser stellt einen interessanten Bezug her: Der Dom zu Xanten steht unter dem Patronat des koptischen ›Thebäers‹ Viktor, der an dieser Stelle das Martyrium erlitten haben soll. In der Zeit des Nationalsozialismus nahm einer der aktivsten katholischen Widerstandskämpfer, Bischof Graf von Galen, in zwei seiner Predigten auf diesen Heiligen Bezug. Im Februar und September 1936 begründete der Bischof von Münster im Xantener Dom seinen eigenen Widerstand gegen die nicht von Gott gewollte Gewaltherrschaft Hitlers mit dem Widerstand des Hl. Viktor gegen die ›gottlose‹ Gewalt der römischen Imperatoren. Auf diesen Zusammenhang ist später noch zurückzukommen, aber zuerst lautet der Arbeitsauftrag: Achten Sie auf die Darstellung des Hl. Viktor. Welche kulturelle Herkunft wird ihm über den Schauspieler zugeschrieben? Tatsächlich ist der Schauspieler weiß. In einem zweiten Schritt unternehmen die Teilnehmenden einen digitalen Spaziergang durch den Magdeburger Dom245 auf der Suche nach den Saints of Colour. Der Arbeitsauftrag lautet hier: Finden Sie die Statue des Hl. Mauritius 244 Sendung: Symbol des Widerstandes – Planet Schule – Schulfernsehen multimedial des SWR und des WDR (planet-schule.de), (letzter Zugriff am 16. 08. 2022). 245 RUNDHERUM – Virtueller Dom zu Magdeburg St. Mauritius und Katharina (magdeburger dom.de), (letzter Zugriff am 16. 08. 2022).
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Didaktisches Beispiel: Colours. Kulturelle Diversität im ›deutschen‹ Christentum
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und der Hl. Katharina von Alexandrien (im Hochchor des Domes). Welche kulturelle Herkunft wird den Heiligen durch den Bildhauer zugeschrieben? Die beiden Statuen aus dem 13. Jahrhundert sind dabei sehr unterschiedlich, da einerseits der Hl. Mauritius als afrikanischer Ritter und andererseits die Hl. Katharina von Alexandrien als blonde, mitteleuropäische Edelfrau oder Königin dargestellt werden. Im Anschluss sollen sich die Teilnehmenden mit einem kurzen Video des Magdeburger Bischofs Gerhard Feige (03:34 min.) über die »Farben der Gotik« informieren.246 Der katholische Bischof von Magdeburg stellt dabei die Statue des Hl. Mauritius am Beispiel einer 3D-Rekonstruktion in ihrem Originalzustand vor. »Die um 1240 entstandene Mauritius-Skulptur gilt als eine der frühesten realistischen Darstellungen eines Schwarzafrikaners nördlich der Alpen.«247 Im Kontrast dazu wird die Hl. Katharina von Alexandrien, die als Nordafrikanerin natürlich ebenfalls Person of Colour war, im Dom als blonde Mitteleuropäerin dargestellt. Sie war zwar keine Nubierin sondern Mittelmeeranrainerin, entstammte also einem ganz anderen kulturellen Kontext als der Hl. Mauritius, hätte sich selber aber wohl eher wie die Damen der oberen gesellschaftlichen Schichten in Griechenland, Kleinasien oder Italien gezeichnet. Dies lässt sich mit einiger Bestimmtheit behaupten, denn aus der Zeit der Hl. Katharina sind in Nordägypten hunderte von Mumienportraits erhalten, welche Damen der besitzenden Schichten bereits zu Lebzeiten für ihre eigene Bestattung in Auftrag gaben. Wir wissen also recht gut, wie gebildete und sozial gut abgesicherte Frauen im Alexandrien des 3./4. Jahrhunderts abgebildet werden wollten (s. Titelgrafik). Es lässt sich an der Darstellung der Hl. Katharina im Magdeburger Dom also auch das in Mittelalter und Neuzeit in der europäischen Kunst durchaus gebräuchliche White-facing der Saints of Colour diskutieren. An dieser Stelle empfiehlt es sich, die Eindrücke der Teilnehmenden von beiden Statuen in einem kurzen Brainstorming abzufragen und eine Diskussion im Plenum oder in Kleingruppen anzuschließen: Was ändert sich für unsere kulturelle Vielfaltswahrnehmung des eigenen Christentums in Deutschland, wenn die ersten Christen hierzulande wie Viktor und Mauritius Schwarz waren? Und was ändert sich andererseits, wenn wir betrachten, dass der Widerstand von Bischof Graf von Galen gegen die nationalsozialistische Gewaltherrschaft im Jahr 1936 durch einen Saint of Colour empowert wurde? Für diese zweite Frage sollte die ganze Dokumentation »Der Xantener Dom – Symbol des Widerstands«248 (WDR 2013) (14:26 min.) angeschaut werden. Als ergänzendes Mate246 Video verfügbar unter: https://www.youtube.com/embed/XKc8qV9e1Ic?start=84&feature =oembed (letzter Zugriff am 18. 11. 2022). 247 Claudia Becker (2021a). 248 Sendung: Symbol des Widerstandes – Planet Schule – Schulfernsehen multimedial des SWR und des WDR (planet-schule.de), (letzter Zugriff am 16. 08. 2022).
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Kontrastfolie Saints of Colour: Das afrikanische Erbe unseres Christentums
rial stehen im Internet ein Arbeitsblatt und eine Lehrerinformation zum freien Download zur Verfügung,249 welche den Kampf um alternative geschichtsdeutende Narrative in der kleinen Stadt Xanten des Jahres 1936 dokumentieren und visualisieren: Ist Xanten die Stadt des ›Thebäers‹ Viktor, wie Bischof Graf von Galen es auf einem großen katholischen Happening im September 1936 formulierte? Oder ist Xanten in Anlehnung an den Nibelungenmythos die ›Siegfriedstadt‹, dessen ›Edelsitz‹ – unter großem Interesse nationalsozialistischer Ideologen – in dieser Zeit archäologisch nachgewiesen werden sollte? Das didaktische Beispiel endet mit einer Abschlussreflexion: Was sind Ihre ›Bilder im Kopf‹ zur kulturellen Diversität unseres lokalen Christentums und zur religiösen Vielfalt unserer Gesellschaft?
Alltagserfahrungen kultureller ›Zugehörigkeit‹ Das didaktische Beispiel und das Thema der Saints of Colour insgesamt wären ein wichtiger Beitrag für die deutsche Ausgabe eines Black History Month.250 Dazu gehört allerdings auch die Auseinandersetzung mit den problematischen Seiten ihrer Darstellung. Die promovierte Historikerin Claudia Becker veröffentlichte 2021 zwei längere Artikel in der Tagespresse über die Statue des Hl. Mauritius im Magdeburger Dom.251 Dabei legte sie den Skopus auf die Frage der kulturellen Repräsentanz Schwarzer Menschen in Deutschland zu unterschiedlichen Zeiten der Geschichte, denn ab der späteren kolonialen Epoche finden sich zahlreiche Darstellungen des Hl. Mauritius, die stereotype und teilweise rassistische Züge aufweisen. Besonders prominent wurde im Jahr 2020 die Auseinandersetzung um das Wappenschild der bayerischen Stadt Coburg, den so genannten »Coburger Mohr«. Bis heute streiten sich in Coburg Menschen, die dieses Wappen als verletzend empfinden, mit Verteidigern der Tradition.
249 Van der Velden (2021c). 250 Meret Weber und Elif Kücük schrieben dazu in DIE ZEIT vom 12. 02. 2022: »Im Februar wird in vielen Ländern der Welt der Black History Month gefeiert. Ausgehend von den USA wird vier Wochen lang der Geschichte und des Widerstands Schwarzer Menschen gedacht. Schwarze Geschichte in Deutschland zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass sehr wenig davon bekannt ist. In den Neunzigerjahren rief die Initiative für Schwarze Menschen in Deutschland den Monat auch hierzulande ins Leben.« Black History Month: Auch sie sind deutsche Geschichte | ze.tt (zeit.de), (letzter Zugriff am 16. 08. 2022). 251 Claudia Becker (2021a und 2021b). Die Artikel erschienen in der WELT AM SONNTAG (Nr. 14 vom 4. April 2021, S. 8) und in PRO – das christliche Medienmagazin (Nr. 3/2021, S. 16–18).
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Outcome: Erwerb von Ambiguitätstoleranz
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Neugier auf die Sicht des anderen: Entwicklung einer Streitkultur Immerhin verbindet sich mit dem Stadtwappen auch eine kulturpolitische Widerstandsgeschichte. Während die Nationalsozialisten den »Coburger Mohr« entfernen ließen, weil er nicht in eine ›deutsche‹ Stadt passe, reaktivierten die Stadtväter das traditionelle Wappen nach dem Zweiten Weltkrieg, weil sie auf diesen Punkt eine andere Meinung vertraten. Claudia Becker sieht in dieser Auseinandersetzung »auch ein Stück überraschender Gedenkkultur. Denn Mauritius zeigt, dass es neben all den unfassbaren Auswüchsen von Rassismus in der deutschen Geschichte auch das gab: die Verehrung eines Schwarzen, der durchweg mit positiven Eigenschaften verbunden wird, mit Heldenmut und Standhaftigkeit, mit Glaubensstärke, Mitleid und Opferbereitschaft«.252 Gerade an einem solchen verletzlichen und teilweise verletzenden Beispiel erweist sich die Ambiguitätstoleranz des Narrativs der Saints of Colour.253 Der Hl. Mauritius bietet selbst in einer hart geführten Diskussion wie in Coburg genug Raum für plurale Deutungen und Selbsterzählungen und für die Entwicklung einer Streitkultur. Seine Erzählung befördert eine Differenzsemantik, die Aushandlungsprozesse auf Augenhöhe auch zwischen solchen Menschen anstößt, die es schwer miteinander haben. Das Narrativ lässt eine Beheimatung aller am Streit beteiligten Personen und Gruppen zu. Es gibt der Versöhnung Raum, verspricht aber keinen Rosengarten, sondern ›Gartenarbeit‹. Und es gesteht allen Beteiligten zu, über Werte zu verfügen, die letztlich unverfügbar sind und nicht durch vorgegebene, sozial erwünschte Lösungen ersetzt werden können.
Outcome: Erwerb von Ambiguitätstoleranz Der Islamwissenschaftler Thomas Bauer hat die Erforschung von ›Ambiguitätstoleranz‹ als ein wichtiges kulturwissenschaftliches Ziel ausgegeben.254 Dabei geht es nicht darum, vorhandene kulturelle Unterschiede kleinzureden,255 son252 Claudia Becker (2021b) 17. 253 Siehe dazu oben die Typologisierung ambiguitätstoleranter Narrative im Kapitel »Narrative für ein neues Paradigma?« 254 »Ambiguitätstoleranz ist aber nicht nur Merkmal von Individuen, sondern auch von Kollektiven. Deshalb ist die Untersuchung von kultureller Ambiguität und der jeweils verschiedenen Ambiguitätstoleranz unterschiedlicher Kollektive auch ein Thema der Kulturwissenschaften« (Thomas Bauer [2016] 18). 255 »Dass Menschen eine bestimmte, kulturell unterschiedliche Einstellung zu Phänomenen der Ambiguität haben und eine unterschiedliche Praxis im Umgang mit ihr pflegen, ist ein ebenso universelles Phänomen wie unterschiedliche Gefühle, Einstellungen und Handlungen in Bereichen wie Familie, Fremdheit, Körper und Sex, Krankheit und Tod« (Thomas Bauer [2016] 18).
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dern die Vielfaltswahrnehmung zu stärken und gesellschaftliche Probleme möglichst auf Augenhöhe zu verhandeln. Damit verbunden ist eine generelle Skepsis gegenüber ›großen Erzählungen‹, wie sie in dieser Arbeitshilfe im chronotope der europäischen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts, aber auch im arabischen chronotope und im extremistischen Clash of Civilization Narratives beschrieben wurden.256 Eine solche problematische Zielvorgabe der eigenen Kulturgeschichte findet sich auch dort, wo die Darstellung der Kulturlandschaften des ›Orients‹ oder die Darstellung des Islam unter der Prämisse geführt werden, zu erklären und nachzuweisen, warum die ›orientalischen‹, afrikanischen oder islamischen Kulturen nicht so geworden sind wie die westlichen. Die Beobachtung der vorhandenen Unterschiede führt dann nicht selten in die kulturalistische Deutung, dass »der Islam«, »Afrika« oder »der Orient« von ihren Wesenseigenschaften her nicht kompatibel mit der Moderne und den freiheitlich demokratischen Rechtsordnungen seien. ›Islamischer Orient‹ und ›christlich‹ geprägtes Europa stehen dann dichotomisch gegeneinander. Das Narrativ der Saints of Colour trägt auch hier zum notwendigen Erwerb einer größeren Ambiguitätstoleranz zur Frage kultureller Zugehörigkeit und Repräsentanz im Rahmen der deutschen Migrationsgesellschaft bei. Immerhin ist Christentum hierzulande eine Ressource, die in ihren ersten Anfängen aus der ›nordafrikanischen Migration‹ erworben wurde. Bonifatius kam erst hunderte Jahre später.
Trigger-Warnung Wie jede Methode hat auch dieses didaktische Beispiel seine Sollbruchstellen, die in Planung und Durchführung beachtet werden müssen: – Auch dieser Beitrag hat nur ausgewählte Gruppen erinnert, die in Geschichte und Gegenwart durch kulturelles Othering als ›nicht deutsch‹ markiert wurden: Gleiches ließe sich über deutsche Sinti und Roma, über die deutsche asiatische Community im Hamburg des 19. Jahrhunderts und viele weitere Gruppen mehr berichten. – Die von mir gewählte Bezeichnung »Saints of Colour« ist eine willkürliche Zuschreibung aus heutiger Sicht und soll keine kulturelle Gruppenidentität in der Antike suggerieren. Dafür wissen wir schlichtweg zu wenig über die kulturelle Eigensicht dieser Gruppen.
256 »Da ein mentalitätsgeschichtlicher Ansatz das Denken, Fühlen und Handeln der Menschen in den Mittelpunkt des Interesses stellt, wird nicht versucht, eine durchgängige Geschichtserzählung zu bieten; eine solche würde immer in der Gefahr schweben, eine teleologische Geschichtsbetrachtung zu werden« (Thomas Bauer [2016] 19).
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Outcome: Erwerb von Ambiguitätstoleranz
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– Die Bezeichnung »Saints of Colour« beschränkt sich nicht auf die Gruppe der ›thebäischen‹ Heiligen, die in diesem Beitrag vorgestellt wurden. Natürlich siedelten hierzulande in der römischen Zeit zahlreiche weitere Menschen aus dem östlichen Mittelmeerraum, dem Nahen Osten und Nordafrika, die wir heute als People of Color bezeichnen würden. Ein bekanntes Beispiel ist die Hl. Afra, Schutzpatronin der Stadt und des Bistums Augsburg. – Natürlich gab es in der Antike hierzulande auch erste christliche Gemeinschaften außerhalb der römischen Legionen. So soll die Hl. Afra in Augsburg von einem durchreisenden spanischen Bischof und seinem Diakon zum Christentum bekehrt worden sein. Auch hier sind die Strukturen, die nach der so genannten Konstantinischen Wende ab dem Jahr 324 zum allmählichen Aufbau einer christlichen Reichskirche führten, nicht aus dem Nichts entstanden. Die thebäischen Heiligen bleiben allerdings die am besten definierte Gruppe von Christen hierzulande aus der Zeit der Glaubensverfolgungen des späteren 3. und des 4. Jahrhunderts.
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Literaturverzeichnis
Handschriften [St. Samaan the Tanner] MS tarı¯h 18 (alte Zählung) = 44 (neue Zählung) der Bibliothek des ˙ Antoniusklosters (Ägypten) vom 19. Amshir des Jahres 1414 AM (= 1698 AD).
Sekundärliteratur al-Ghazza¯lı¯, Muhammad: al-ta’assub wal-tasa¯muh bayn al-masihiyya wal-Isla¯m (ara¯¯ ˙ ˙˙ ˙ ˙ bisch), Cairo ohne Jahreszahl, wahrscheinlich zweite Hälfte der 50er Jahre des 20. Jhs., 279 S. al-Warraq, Abu Isa (2002): ›Against the Incarnation.‹ Early Muslim polemic against Christianity (ed. David Thomas), University of Cambridge Oriental Publications, 328 S. Antonius, George Habib (1938): The Arab Awakening. The Story of the Arab National Movement, Verlag J. B. Lippincott Co., Philadelphia / USA, 471 S. Bauer, Thomas (2016): Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams, 6. Auflage, Verlag der Weltreligionen (Insel), Berlin, 462 S. Bauer, Thomas (2018): Warum es kein islamisches Mittelalter gab. Das Erbe der Antike und der Orient, Verlag C.H. Beck, München, 175 S. Bauschke, Martin (2001): Jesus im Koran, Böhlau-Verlag, 210 S. Bazargan, Mehdi (2006): Und Jesus ist sein Prophet. Der Koran und die Christen, Verlag C.H.Beck., München, 108 S. Becker, Claudia (2021a): Art. »Schwarzer Heiliger. Der Heilige, der kein Mohr sein darf«, in: WELT AM SONNTAG (Nr. 14 vom 4. April 2021), S. 8. Becker, Claudia (2021b): Art. »Schwarzer Heiliger«, in: PRO – das christliche Medienmagazin (Nr. 3/2021), S. 16–18. Beganovic, Davor (2011): Postapokalypse im Land der »guten Bosnier«. Kulturkritik als Quelle des kulturellen Rassismus, in: Ferhadbegovic´, Sabina / Weiffen, Brigitte (Hg.): Bürgerkriege erzählen: zum Verlauf unziviler Konflikte, Konstanz University Press, Paderborn, S. 201–223, hier 204–207.
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